Mae BOHREN TUR TC.((b(õãé7Eẽᷣ¹q/Knͥu . ERILHLTTNER BLLARR INC HE LE SL WORTE BTCTV I 2 N e wie IMST | 00 I Js 2 22 SL KARL PATTERSON SCHMIDT ebe to CHICAGO NATURAL HISTORY MUSEUM en memory G. Franklin James White Schmidt 1 -I935 N 2 * 5 4 * U 3 > 2 5 2 * i 7 N U x * . 85 ee t B 8 17 ’ 2 0 1 N Er a 25 1 ] + i * 0 = Er * * 8 1 * ir 7 * 25 Hr N * 5 rs ko a - 5 2 00 55 4 5 j N 7 12 1 8 1 U N N F way a r 7 u * JE 3 f 1 a = - 1 P 1 2 2 * ‘ * 1 2 a ” a 2 1 E a * . er: . r = De A * 5 ; I Re e 3 . % 1 N * y . N r 1 N 9 * 4 . Ei . f N N 1 u = 1 5 * N 1 Ä 3 ) 7 . . ° L 2 1 5 * Y > > 05 1 j . = vers * 0 * ü “ 5 z a . 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IT Vorwort. eit ſechs Jahren ſchon deckt die kühle Erde Renthendorfs meinen unvergeßlichen Vater, der allzufrüh für ſeine Wiſſenſchaft, wie für alle, die ihn liebten und verehrten, die Augen ſchloß. Es iſt ein eigenes Geſchick, daß ſein thatkräftiges und arbeitſames Leben, während deſſen er vier Erdteile geſehen und durchforſcht hatte, an demſelben kleinen Orte im grünen Thüringerlande erloſch, an welchem er einſt geboren wurde. Erſt das fünfundfünfzigſte Jahr hatte er erreicht, als fein redegewandter Mund für immer verſtummte, und der fleißigen Hand die ſo meiſterlich geführte Feder entfiel. Noch trug er ſich mit größeren Plänen zu ver— ſchiedenen Werken, und es iſt tief zu beklagen, daß die hierfür von ihm geſammelten Vermerke allzu bruchſtückhaft ſind, als daß ein anderer, denn ihr Schreiber ſie zu einem Werke zu verweben vermöchte. Immerhin aber enthielten die von ihm hinterlaſſenen ſchriftlichen Aufzeichnungen noch manchen köſtlichen Schatz, und es erſchien mir als eine Ehrenpflicht gegen den Ver— faſſer ſowohl, wie gegen alle Freunde tiefinniger Naturbeobachtung und ſinniger Beſchreibung, ſolchen Nachlaß der leſenden Welt zugängig zu machen. Die nachfolgenden Blätter bilden das erſte derartige Buch und enthalten den wertvollſten Teil des Vermächtniſſes: Alfred Edmund Brehms einſt überall gern gehörte und vielgefeierte Vorträge, ſoweit er dieſelben überhaupt niedergeſchrieben hat. Ich denke damit eine nicht wenigen hoch— willkommene Gabe zu bieten, und glaube mich aller empfehlenden Worte enthalten zu können, denn dieſe Aufſätze ſprechen wohl hinlänglich für ſich ſelbſt, wie das auch aus den zahlreichen Bewerbungen ausländiſcher Buch— händler um das Ueberſetzungsrecht für dieſelben hervorgeht. Vermag gleich das geſchriebene Wort das geſprochene nur unvollkommen zu erſetzen, und mag auch der Vater, der ja ſtets frei ſprach, je nach dem Entgegenkommen ſeiner Hörerſchaft einſt häufig den gleichen Inhalt in anderer Form vor— getragen haben, hier kürzend, dort länger verweilend, — wer ihn gehört VI a Vorwort. hat, dem wird auch aus den nachfolgenden Blättern das Bild des Ent— ſchlafenen wieder erſtehen und ſeine markige Stimme entgegentönen, und jeder wird in ihnen nicht nur die ganze Eigenart des Verfaſſers des „Illuſtrierten Tierlebens“ und des „Lebens der Vögel“ wiederfinden, ſondern dieſen noch vielfach von neuen und anziehenden Seiten kennen lernen. Denn gerade in den Vorträgen meines Vaters zeigt ſich wie kaum irgend ſonſt in ſeinen Werken die Mannigfaltigkeit ſeiner Erlebniſſe und Erfahrungen, die Vielſeitigkeit ſeines Wiſſens, ſeine meiſterhafte Be— obachtungs- und Darſtellungsgabe, und nicht zum letzten die ſeinem tief dichteriſch beanlagten Gemüte eigene Art der Auffaſſung belebter und un— belebter Natur, wie auch ſeine ſinnige, herzerfreuende Laune. Deshalb ſende ich dieſe Blätter mit der frohen Zuverſicht hinaus in die Welt, daß ſie ihrem Verfaſſer neue Freunde zu den zahlloſen alten erwerben werden. Möchten ſie auch der Tierwelt, die er ſo warm liebte, ſo innig verſtand, weitere liebevolle und vorurteilsfreie Gönner gewinnen, und in jedem Hauſe, wo der Sinn für gutes Schrifttum und damit für das Schöne überhaupt gepflegt wird, auch für die Schönheit unſerer All— mutter Natur immer mehr Augen und Herzen öffnen, — damit wäre ihr höchſter und edelſter Zweck im Sinne ihres Verfaſſers erreicht! Nicht verſäumen will ich, an dieſer Stelle noch mit ganz beſonderem und aufrichtigem Danke das verſtändnisvolle Entgegenkommen der Verlags— buchhandlung wie der Künſtler unſeres Werkes hervorzuheben, welche es ſich angelegen ſein ließen, dasſelbe in jeder Beziehung würdig und gediegen auszuſtatten, und dabei weder Koſten noch Mühen ſcheuten. Und ſo wünſche ich dieſen Blättern Heil auf ihren Weg: möge ihnen überall ein frohes Willkommen entgegenklingen, und mögen ſie werter Beſitz da bleiben, wo ſie einmal freundlich aufgenommen wurden! Berlin, im September 1890. Dr. med. Borſt Brehm. Inhalt. Vorwort Lapplands Vogelberge Die Tundra und ihre Tierwelt Die ahafifhe Steppe und ihr Tierleben Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien Die innerafrikaniſche Steppe und ihre Tierwelt Der Urwald Innerafrikas und feine Tierwelt Wanderungen der Säugetiere Liebe und Ehe der Vögel Die Affen Karawanen und Wüſtenreiſen . Land und Leute zwiſchen den Stromſchnellen des Nil Eine Reife in Sibirien Die heidniſchen Oſtjaken Wanderhirten und Wanderherden der Steppe . Vollis- und Familienleben der Kiraifen Anſiedler und Verbannte in Sibirien Jorſcherfahrten auf der Donau Seite 117 145 175 198 220 251 285 318 342 373 397 423 449 Lapplands Vogelberge. ls der Weltenſchöpfer ſein Lieblingsgeſtirn die Erde juſt vollendet hatte und des gelungenen Werkes ſich freute, da gedachte der üble Teufel dies Werk zu vernichten. Damals noch nicht Himmels ver— wieſen, wohnte er unter den Erzengeln und in den Räumen, in denen die Seligen hauſen. Hinauf zu dem ſiebenten Himmel flog er, und einen gewal— tigen Stein ergriff er: den ſchleuderte er mit Macht hinab auf die in jugend— licher Schönheit prangende Erde. Aber zur rechten Zeit noch gewahrte der Schöpfer das ruchloſe Beginnen und ſandte einen der Erzengel ab, dem Unheil zu ſteuern. Der Engel flog ſchneller noch als der Stein zur Tiefe hernieder, und ihm gelang es, das Land zu ſichern. Donnernd ſtürzte der rieſige Stein in das Meer, daß hochauf die Wogen ziſchten und das benachbarte Land auf weithin überfluteten. Von dem gewaltigen Falle zertrümmerte die Schale des Steins, und Tauſende von Splittern ſanken zu feinen beiden Seiten in das Meer, teilweiſe in deſſen Tiefe: verſchwindend, teilweiſe noch über dasſelbe hervorragend: nackt und kahl, wie der Kern ſelber. Da erbarmte ſich Gott, und in ſeiner unendlichen Güte beſchloß er, auch dieſen öden Felsblock zu beleben. Aber die Frucht— erde war verſiegt in ſeiner Hand und nur noch ein weniges übrigge— blieben. Das reichte kaum hin, hier und dort ein Bröckchen auf den Stein zu legen.“ Alſo berichtet eine uralte Sage, welche unter den Lappen von Mund zu Munde geht. Der Stein, welchen der Teufel warf, iſt Skandinavien; die Schalentrümmer, welche zu beiden Seiten in das Meer fielen, ſind die Schären, welche in buntem Kranze die Halbinſel umgeben; die Riſſe und Sprünge, welche er erhielt, ſind die Fjorde und die Thäler des Inneren; die Brocken belebender Erde, welche aus der milden Schöpfer— Brehm, Vom Nordpol zum Aequator. 1 7. 2 Lapplands Vogelberge. hand auf ſie fielen, bilden das wenige fruchtbare Land, welches Skandi— navien beſitzt. Man muß ſelbſt in Skandinavien und insbeſondere in Norwegen geweſen ſein; man muß das Boot zwiſchen den Schären geſteuert, muß das Land vom äußerſten Süden bis zum höchſten Norden umſchifft haben, um die kindliche Sage in ihrer ganzen Tiefe und Bedeutſamkeit zu ver— ſtehen. Wunderbar in der That iſt das Land; wunderbar ſind ſeine Fjorde; noch wunderbarer iſt der Kranz von Inſeln und Schären ringsum. Skandinavien iſt ein Alpenland wie die Schweiz und Tirol, und doch von beiden unendlich weit verſchieden. Wie unſere Alpen hat es ſeine Hochgebirge, ſeine Gletſcher, ſeine Wildbäche, ſeine klaren, ſtillen Alpenſeen, die dunklen Fichten- und Föhrenwälder unten im Grunde, die lichtgrünen Birkenwaldungen in der Höhe, die weit ausgedehnten, hier zu Tundren gewandelten Moore auf den breiten Rücken der Berge, die Block— häuſer an den Gehängen und die Sennhütten in den höchſten Thälern. Und doch iſt alles ſo ganz anders als in den Alpenländern, und der Unterſchied wird jedem bemerklich, welcher das eine und das andere Land ſah. Das kommt daher, weil hier zwei große und erhabene Gebiete der Erde, das Hochgebirge und das Meer, in wunderbarer Weiſe ſich ver— einigen und verbinden. Das allgemeine Gepräge Skandinaviens iſt ernſt und heiter zugleich. Mit der Strenge paart ſich die Milde, mit dem Düſteren wechſelt das Heitere, mit dem Toten, Beängſtigenden einigt ſich das Lebendige und Erhebende. Schwarze Felsmaſſen bauen ſich ſenkrecht aus dem Meere auf, ſteigen unmittelbar aus den tiefeingeſchnittenen Fjorden empor, zerklüften und zerteilen ſich, türmen ſich ſchroff auf und neigen ſich drohend über, und auf ihren Häuptern lagern die eiſigen Maſſen, meilenweit ſich aus— dehnend, Landſchaften geradezu bedeckend, und bis auf die von ihnen ge— borenen Wildbäche alles Leben verſcheuchend: jene Wildbäche, welche überall ihre ſilbernen Bänder auf die dunklen Maſſen breiten und nicht bloß das Auge befriedigen, ſondern auch dem Ohre die erhabene Weiſe des Hochgebirges zurauſchen, welche in jeder Einſenkung zur Tiefe hernieder— brauſen, aus jeder Schlucht hervorbrechen oder in tollem Reigen von den Felſen ſtürzen, einen Waſſerfall nach dem andern bilden und an der jen— ſeitigen Bergwand den Widerhall erwecken. Dieſe rauſchenden Wild— wäſſer, welche in jeder Einſenkung thalabwärts eilen, die glänzenden Waſſerſtreifen, welche an jeder Felſenwand hängen, der rauchartig auf— ſteigende Waſſerdampf, welcher von den verſteckteſten Fällen erzählt, ſie Lapplands Vogelberge. 3 ſind es, welche Leben hervorrufen ſelbſt in der grauſigſten Wildnis, an Orten, wo ſonſt nur Felſen und Himmel dem Auge ſich bieten. Sie ſind ſo recht eigentlich Merkzeichen für das innere Land. Aber ſo hehr auch deſſen Schönheit iſt, ſo ſinnbeſtrickend und über— wältigend die Fjorde mit ihren Felſenwänden, Schluchten und Thälern, Vorgebirgen und Spitzen ſein mögen: eigenartiger ſind die Inſeln und Schären draußen im Meere, welche dem Lande vorliegen vom Süden bis zum Norden herauf, und ein Gewirr von Buchten, Sunden und Straßen hervorrufen, wie man es kaum noch einmal erſchauen kann auf der weiten Erde. Die großen Inſeln ſpiegeln mehr oder minder getreulich das feſte Land wider; die kleinen und die Schären bewahren ſich unter allen Um— ſtänden ihr eigenes Gepräge. Dieſes aber ändert ſich mehr oder weniger mit jedem Breitengrade, welchen man, nach Norden fahrend, überſchreitet. Ihnen, wie dem Meere, fehlt der Reichtum des Südens: ſie ſind jedoch keineswegs aller Schönheit bar und üben namentlich in den Stunden um Mitternacht, wenn die Hochſommerſonne niedrig und groß und blutrot über dem Geſichtskreiſe ſteht, und ihr gleichſam verſchleierter Glanz auf den eisbedeckten Bergesgipfeln und dem Meere widerſpiegelt, überwälti— genden Zauber aus. Weſentlich dazu tragen bei die überall zerſtreuten Gehöfte: Wohnungen aus Holz gezimmert, mit Brettern verſchlagen und mit Raſen gedeckt, prangend in ſeltſam blutroter Farbe, welche ſich lebhaft abhebt von dem grünen Raſendache darüber, dem ſchwarz erſcheinenden Dunkel der Bergwand daneben und dem Eisblau der Gletſcher im Hinter— grunde des Bildes. Nicht ohne Verwunderung nimmt der dem Lande noch fremde Süd— länder wahr, daß dieſe Höfe größer, ſtattlicher, geräumiger werden, je weiter nach Norden hin man vordringt, daß ſie, obgleich nicht mehr von Aeckern, höchſtens noch von kleinen Gärtchen eingehegt, durch Größe, Ge— räumigkeit und Ausſtattung die hüttenähnlichen Gebäude des ſüdlichen Skandinaviens bei weitem übertreffen, ja, daß die ſtattlichſten und groß— artigſten von ihnen vielleicht auf verhältnismäßig kleinen Inſeln liegen, auf denen nur Torf die Felſen bedeckt, und deren undankbarem Boden nicht einmal mehr ein kleines Gärtchen abgerungen werden kann. Das ſcheinbare Rätſel löſt ſich, wenn man ſich erinnert, daß in Norland und Finnland nicht das Land, ſondern das Meer der Acker iſt, welcher gepflügt wird; daß man nicht im Sommer ſäet und die Senſe ſchwingt, ſondern inmitten des Winters erntet, ohne geſäet zu haben; daß 4 Lapplands Vogelberge. gerade in denjenigen Monaten, in denen die lange Nacht unbeſtritten ihre Herrſchaft ausübt und anſtatt der Sonne nur der Mond leuchtet, anſtatt des Morgen- und Abendrotes nur das Nordlicht erglüht, der Menſch dort oben reichlichen Segen des Meeres einheimſt. Um die Zeit der herbſtlichen Tag- und Nachtgleiche rüſten ſich in allen Küſtenorten ganz Norwegens kräftige Männer, um die nordiſche Ernte zu bergen. Jede Stadt, jeder Flecken, jedes Dörfchen entſendet ein oder mehrere reichlich bemannte Schiffe hinauf zu den Inſeln und Schären jenſeits des Polarkreiſes, um in allen geeigneten Buchten für Monate Anker zu werfen und vom Schiffe, von den Gehöften aus den Ernteſegen zu bergen. Während des Hochſommers iſt das Land dort oben ſtill und menſchenleer; während des Winters wimmeln Buchten, Inſeln und Sunde von geſchäftigen Männern, und arbeitſame Menſchen— hände regen ſich Tag und Nacht. So geräumig auch die Gehöfte er— ſcheinen: ſie vermögen die Menge der hier zuſammengeſtrömten Leute nicht zu faſſen, und neben den Schiffen müſſen noch roh errichtete torf— bedachte Hütten am Strande notdürftige Unterkunft gewähren. Um die Zeit der Tiefſommerwende, wenn wir unſer Weihnachts-, die Normannen ihr Julfeſt feiern, regt ſich das Getriebe am lebendigſten. Schon ſeit Wochen ſpendet das Meer ſeinen Segen. Beherrſcht von dem mächtigſten Drange, welcher die lebenden Weſen erregt und bewegt, ge— leitet von dem unwiderſtehlichen Triebe, Samen zu ſtreuen für kommende Geſchlechter, erheben ſich aus den tiefſten Gründen des Meeres unſchätz— bare Scharen von Fiſchen, Kabeljaus, Schellfiſche und andere, ſteigen zu den oberen Waſſerſchichten empor, nähern ſich der Küſte, dringen ein in alle Straßen, Sunde und Fjorde und erfüllen die Oberfläche des Meeres auf viele Meilen hin mit ihrer Menge. So dicht ſchwimmen die nur von einem Gefühle beſeelten, gleichſam ſinnbethörten Fiſche, daß das Boot buchſtäblich zwiſchen ihnen ſich Bahn brechen muß, daß das Netz, überfüllt von ihrer Laſt, der Reckenkraft der fiſchenden Männer ſpottet— oder zerreißt, daß ein zwiſchen die aneinander gepreßten Fiſche ſenkrecht eingeſtoßenes Ruder einige Augenblicke lang in ſeiner Lage erhalten wird, bevor es ſich zur Seite neigt. So weit die Felſeninſeln freigewaſchen wurden von der toſenden Hochflut, von der mittleren Flutmarke an bis zum unteren Rande der ihre Gipfel überlagernden Torfſchicht, deckt den nackten Felſen ein ununterbrochener Ring von zerſpaltenen Fiſchen, welche hier zum Trocknen ausgelegt wurden, während darüber Gerüſte ſich er— heben, an denen man andere Fiſche zu gleichem Zwecke der ſcharfen und Lapplands Vogelberge. 5 dennoch dörrenden Luft preisgab. Wohl leert man Felſen und Gerüſte von Zeit zu Zeit, um die getrockneten Fiſche, zu Bündeln verpackt, in den für ſie beſtimmten Scheuern aufzuſpeichern, aber nur um Platz zu ſchaffen für die inzwiſchen wieder gefangenen und vorbereiteten. Monatelang währt das Getriebe, monatelang ein ununterbrochener Markt; monatelang tauſchen der Süden und der Norden ihre Schätze aus. Erſt in den Tagen, in denen um die Mittagszeit heller Schein im Süden der noch verborgenen Sonne vorausgeht, oder in denen dieſe ſelbſt einen kurzen Blick wirft auf das Land, endet allmählich der reiche Fang. Aus den Speichern hinab zu den Schiffen trägt man den getrockneten Stock⸗ oder Klippfiſch, füllt alle Räume vom Kiel bis zum Deck und rüſtet ſich zur Heimkehr oder zur Fahrt in alle Welt. Eins der Schiffe nach dem andern hißt ſeine braungeſäumten Segel und ſteuert davon. Stiller wird es im Norden, einſamer das Land, öde das Meer. Endlich, um die Frühlingstag- und Nachtgleiche, haben faſt alle fremden Schiffer die Ernteſtätte verlaſſen, und alle Fiſche wiederum nach dem tiefen Grunde des Meeres ſich zurückgezogen. Aber ſchon ſendet das Meer neue Kinder aus, um wiederum die Sunde, Buchten und Fjorde, und nicht ſie allein, ſondern auch die Schären und Inſeln zu beleben: und bald ſchauen Millionen von hellen Vogelaugen von denſelben, an deren Fuße jenes winterliche Getriebe herrſchte, hinab auf das Meer. g Es iſt ein tiefergreifender Zug des Lebens aller eigentlichen See— vögel, daß nur zweierlei Urſachen ſie bewegen können, das Land zu be— ſuchen: das freudige Gefühl der alllenzlich neu erwachenden Liebe und die düſtere Ahnung des nahenden Todes. Nicht der Winter mit ſeiner langen Nacht, ſeiner Kälte, ſeinen Stürmen treibt ſie dem Lande zu: ſie ſind gefeit gegen alle Unbill des hohen Nordens und gewohnt, ihre Geſchäfte auf oder unter den Wellen zu betreiben; auch nicht Furcht vor dem ihnen drohenden Zahne des Raubfiſches ſcheucht ſie auf das Land; ſie beſuchen dasſelbe, eine einſam im Meere gelegene Inſel zum Beiſpiel, wenn über— haupt, bloß gelegentlich und immer nur auf kurze Zeit, um ihr Gefieder einmal gründlicher zu durchfetten, als ſolches im Waſſer zu geſchehen pflegt. Wenn aber mit dem erſten Aufleuchten der Sonne in ihrem Herzen die Liebe ſich regt: dann ſtrebt alt und jung, und ob auch Tauſende von Seemeilen durchſchwommen und durchflogen werden müßten, der Stätte wieder zu, auf welcher ſie zuerſt das Licht der Welt erblickten. Und wenn inmitten des eiſigen Winters, nachdem jene Brutſtätten ſeit Monaten ver— ödet lagen, ein Seevogel den Tod im Herzen fühlt: dann eilt er, ſolange 6 Lapplands Vogelberge. ſeine Kräfte nicht verſagen, womöglich derſelben Stätte zu, um da zu ſterben, wo ſeine Wiege ſtand. Die alljährlichen Verſammlungen zahlloſer Vögel auf den Brutplätzen find es, welche dieſe monatelang in unbeſchreiblicher Weiſe beleben. Ver⸗ ſchieden, wie die Seevögel ſelbſt, ſind die Vereinigungen; verſchieden auch die Plätze oder, wie der Normanne ſagt, die Berge, welche ſie bevölkern. Während die einen nur ſolche Schären zu Brutplätzen wählen, welche eben über die Hochflutmarke ſich erheben und nicht mehr Pflanzen hervorbringen, als erforderlich werden, um das im ausgeworfenen Tange eingemuldete Neſt notdürftig auszukleiden, müſſen andere auch ſolche Eilande erkieſen, welche ſchroff und ſteil Hunderte von Metern über das Meer ſich erheben und entweder reich an Vorſprüngen, Geſimſen, Höhlen, Spalten und ſonſtigen Schlupfwinkeln ſind, oder von einer dicken Decke aus vertorften Pflan— zenreſten umhüllt werden. Jene niederen Schären pflegt der Normanne den auf ihnen mit beſonderer Vorliebe gehegten, wertvollſten oder, was dasſelbe, nutzbarſten aller Seevögel zu liebe Eiderholme, zu Deutſch „Eider— vogelhügel“ zu nennen, während er unter Vogelbergen gemeiniglich nur die ſteiler dem Meere entſteigenden, höheren, der Hauptſache nach von Alken oder von Möwen bewohnten Inſeln verſteht. So verlockend es für den beobachtenden Forſcher ſein muß, jeden einzelnen Brutvogel des Meeres genauer ins Auge zu faſſen und ausführ— licher zu ſchildern, ſo zwingend gebietet die Reichhaltigkeit der Bevölkerung hochnordiſcher Vogelberge und die Eigenart des Lebens der auf ihnen ſich verſammelnden Vögel Beſchränkung. Auch ich muß, der mir vergönnten Zeit Rechnung tragend, mir verſagen, eingehende Lebensbilder aller Berg— vögel zu zeichnen, glaube aber doch wohl verpflichtet zu ſein, wenigſtens die Lebensweiſe des einen und des andern flüchtig zu ſchildern, um einige hauptſächliche Züge des Lebens der Seevögel hervorzuheben. So ſchwer die Auswahl werden mag: einer von denen, welche alllenzlich zu denſelben Brutinſeln zurückkehren und fie und ihre Umgebung in wunderbarer Weiſe ſchmücken helfen, der Eidervogel, darf unter den erkorenen nicht fehlen. Drei Arten dieſer prachtvollen Enten bewohnen oder beſuchen Euro— pas Geſtade; eine von ihnen, der Eidervogel ſelbſt, allſommerlich ſelbſt die nordweſtlichen Inſeln Deutſchlands, insbeſondere Sylt. Ihr Gefieder iſt ein treues Spiegelbild des hochnordiſchen Meeres. Schwarz und rot, aſch— grau, eisgrün, weiß, braun und gelb ſind die Farben, welche auf ihnen ſich vereinigen. Der Eidervogel iſt der am wenigſten ſchöne unter ihnen, immerhin aber noch ein prächtiger Vogel. Nacken und Rücken, eine Binde Lapplands Vogelberge. 7 über den Flügeln, und ein Fleck an den Seiten des Unterkörpers ſind weiß, wie der Schaum der Wellen; Hals und Kropf auf weißem Grunde roſig überhaucht, als ob Mitternachtsſonnenglut haften geblieben wäre; ein Streifen auf den Wangen zartgrün wie das Eis der Gletſcher; Unterbruſt und Bauch, Flügel und Schwanz, Unterrücken und Bürzel aber ſchwarz wie die Tiefe des Meeres ſelber. Ein ſolches Prachtkleid kommt jedoch nur dem Männchen zu; das Weibchen kleidet ſich, wie alle Enten, in ein viel beſcheideneres und doch nicht minder anſprechendes Gewand, welches ich ein Hauskleid nennen möchte. Den vorherrſchend roſtfarbenen, bald mehr bald minder ins Braune ſpielenden Grund zeichnen Längs- und Querflecke, Linien und Schnörkel in ſolcher Zartheit und Mannigfaltig— keit, daß das Wort gebricht, um die Zeichnung entſprechend zu beſchreiben. Keine andere Entenart iſt in ſo vollgültigem Sinne Meeresbewohner, wie die Eiderente; keine watſchelt ſchwerfälliger am Lande dahin, keine fliegt minder gewandt, keine ſchwimmt raſcher, keine taucht geſchickter und tiefer als ſie. Bis fünfzig Meter ſinkt ſie der Nahrung halber unter die Oberfläche hinab, und bis fünf Minuten, eine außerordentlich lange Zeit, ſoll ſie unter Waſſer verweilen können. Vor Beginn der Brutzeit verläßt ſie die hohe See entweder gar nicht, oder nur in unmaßgebenden Ausnahme— fällen, mehr einer Laune als der Notwendigkeit folgend. Schon gegen Ausgang des Winters haben ſich die Schwärme, welche auch dieſe Art bildete, in einzelne Paare getrennt, und nur diejenigen Männchen, denen es nicht gelang, ein Weibchen zu erwerben, ſchwimmen noch in kleinen Trupps umher. Unter den Gatten des Paares herrſcht beiderſeitig be— glückende Eintracht. Nur ein Wille, unzweifelhaft der der Ente, iſt maß— gebend für beider Thun. Erhebt ſich die Ente vom Waſſerſpiegel, um fliegend einige hundert Meter zu durchmeſſen, ſo folgt ihr auch der Ent— vogel; taucht ſie hinab in die Tiefe, ſo verſchwindet unmittelbar ſpäter auch er; wohin ſie ſich auch wenden mag, er folgt ihr getreulich; was ſie beginnt, entſpricht ſeinen Wünſchen. Noch lebt das Paar draußen auf hoher See wenn auch nur da, wo deren Tiefe nicht über fünfzig Meter beträgt, und immer nur an ſolchen Stellen, wo Mies- und andere Muſcheln in reicher Menge die Felſen oder den Grund bedecken. Dieſe Weichtiere ſind es, welche die oft ausſchließliche Nahrung unſerer Enten bilden; ihret— halben tauchen ſie in die bedeutende Tiefe hinab; dieſe Muſcheln aber be— wahren ſie auch jederzeit vor dem Mangel, welcher ſo viele andere Enten zuweilen hart bedrückt. Im April, ſpäteſtens im Anfange des Mai, nähern ſich die Paare 8 Lapplands Vogelberge. mehr und mehr dem Schärengürtel und damit der Küſte. Im Herzen der Ente regen ſich Mutterſorgen, und ihnen ordnet ſie alle übrigen unter. Draußen auf hohem Meere war das Paar ſo ſcheu, daß es niemals An⸗ näherung eines Schiffes oder Bootes abwartete und den Menſchen, wie er auch auftreten mochte, mehr fürchtete, als jedes andere Geſchöpf: jetzt, in der Nähe der Inſeln, ändert ſich das Benehmen vollſtändig. Nur dem mütterlichen Drange gehorchend, ſchwimmt die Ente an eine der Brutinſeln heran; ohne auf den Menſchen ferner zu achten, watſchelt ſie auf das Land hinaus. Beſorgt auch jetzt noch folgt ihr der Entenvogel, nicht ohne ſein warnendes „Ahua, Ahua“ erſchallen zu laſſen, nicht ohne immer er- ſichtlicher zu zögern, zeitweilig zurückzubleiben, lange ſich zu beſinnen und dann erſt wieder vorwärts zu ſchwimmen. Die Ente achtet all deſſen nicht. Unbekümmert um die ganze Welt um ſie her, wandert ſie über die Inſel, um einen paſſenden Brutplatz zu ſuchen. Eigenwillig wie ſie iſt, begnügt ſie ſich keineswegs mit dem erſten beſten Tanghaufen, welchen die Hochflut an das Land warf, mit dem niederen Wacholderſtrauch, deſſen auf dem Boden hinrankendes Gezweige einen ſicheren Verſteckplatz bietet, mit der halbzerbrochenen Kiſte, welche der Beſitzer der Inſel als Schutzdach auf- ſtellte, mit dem Geniſt- und Reiſighaufen, den er, fie einladend, zuſam⸗ mentrug, nähert ſich auch furchtlos, als wenn ſie ein Haustier wäre, der Wohnung des Beſitzers, tritt in das Innere derſelben, durchmißt die Flur, beengt die Hausfrau in Küche und Gemach, erſieht, launenhaft und ſtarr— ſinnig, vielleicht gerade das Innere des Backofens zu ihrer Niſtſtelle und zwingt dadurch die Hausfrau, monatelang ihr Brot auf einer anderen Inſel zu backen. Mit erkennbarem Entſetzen folgt ihr der treue Enterich ſo weit als möglich: wenn ſie aber nach ſeiner Meinung alle Sicherung gänzlich aus den Augen ſetzte und ſich vermißt, mit dem Menſchen unter einem Dache zu wohnen, verſucht er nicht länger gegen ihre Laune anzu— kämpfen, ſondern läßt ſie einfach gewähren und fliegt zunächſt auf das ſichere Meer hinaus, hier mit Sehnſucht ihrer alltäglichen Beſuche harrend. Unſere Ente läßt ſich auch hierdurch nicht beirren, ſchleppt etwas Reiſig und Geniſt zuſammen, geſtattet gern, daß der Normanne ſie unterſtützt, ſchichtet die Neſtſtoffe, außer Reiſern namentlich auch Tange, zu einem Haufen, gräbt, mit den beiden Rudern arbeitend, eine Mulde aus, rundet dieſelbe unter beſtändigem Drehen mit der glatten Bruſt und beginnt nunmehr die eigentliche Ausfütterung zu beſchaffen und dem Neſte einzu— verleiben. Nur ihrer Brut denkend, rupft ſie ſich die unvergleichlich weichen Daunen von ihrer Bruſt, bildet aus ihnen einen Filz, welcher die ganze Lapplands Vogelberge. 9 Mulde bedeckt und auch noch an ihrem oberen Rande einen Kranz von ſolcher Dicke herſtellt, daß er beim Verlaſſen des Neſtes zu einer alle Kälte von den Eiern abhaltenden Decke verwendet werden kann. Noch ehe ſie die innere Auskleidung gänzlich vollendet hat, beginnt ſie ihre verhältnis— mäßig kleinen, glattſchaligen, ſchmutzig- oder graugrünen Eier zu legen, bis der aus ſechs bis acht, ſeltener weniger oder mehr Eiern beſtehende Satz vollzählig geworden iſt. Al Eiderenten. Auf dieſen Zeitpunkt hat der Normanne gewartet. Eigennutz war es, welcher ihn zum Gaſtfreunde des Vogels werden ließ. Der Gaſtfreund wandelt ſich jetzt zum Räuber. Rückſichtslos entnimmt er dem Neſte die Eier, ohne Bedenken auch die innere, aus den koſtbaren Daunen beſtehende Ausfütterung. Vierundzwanzig bis dreißig Neſter liefern ein Kilogramm an Daunen im Werte von mindeſtens dreißig Mark an Ort und Stelle: dieſe Zahlen erklären die Handlungsweiſe des Normannen beſſer als jede andere Auseinanderſetzung. 10 Lapplands Vogelberge. Traurigen Herzens ſieht die Ente ihre diesjährige Hoffnung vernichtet; beſtürzt und erſchreckt fliegt ſie aufs Meer hinaus zu dem ihrer harrenden Gatten. Ob dieſer ihr auch gegenwärtig noch ſeine Warnungen eindringlich wiederholt, vermag ich nicht zu ſagen; wohl aber kann ich verſichern, daß er ſie bald zu tröſten weiß. Noch regt ſich Frühlingsluſt und Frühlings— mut in beider Herzen: nur wenige Tage, und unſere Ente watſchelt, als wäre ihr nie etwas geſchehen, wiederum auf das Land hinaus, um ein zweites Neſt zu errichten. Wahrſcheinlich meidet ſie diesmal die frühere Stelle und begnügt ſich mit dem erſten beſten noch nicht vollſtändig be— ſetzten Tanghaufen. Wiederum ſchaufelt und rundet ſie eine Mulde, und wiederum beginnt ſie ſuchend im eigenen Gefieder zu neſteln, um die ihr unumgänglich notwendig ſcheinende Daunenauskleidung zu beſchaffen. Doch wie ſehr ſie ſich auch müht, wie lang ſie den Hals ſtreckt, in wie ver— wickelte Schlangenwindungen ſie ihn legt: ihr Vorrat iſt erſchöpft. Wann aber wäre eine Mutter, und liefe ſie in Entengeſtalt über die Erde, ratlos geweſen, wenn es ſich darum handelt, für ihre Kinder zu ſorgen? Auch unſere Ente iſt es nicht. Sie ſelbſt hat keine Daunen mehr, — ihr Gatte trägt ſolche noch unverſehrt auf Bruſt und Rücken. Jetzt muß er zur Stelle. Und wie ſehr er ſich vielleicht auch ſträubt; wie lebendig die Erinnerung an frühere Jahre in ihm werden mag: er iſt der Gatte und fie die Gattin, — das heißt, er gehorcht. Rückſichtslos neſtelt die beſorgte Mutter ihm im Gefieder, und binnen wenigen Stunden, mindeſtens binnen zwei Tagen, hat ſie ihn ebenſo kahl gerupft, als ſie ſelbſt iſt. Daß nach ſolcher Behandlung der Enterich, ſobald er kann, aufs hohe Meer hinaus— fliegt, fortan für einige Monate nur mit ſeinesgleichen verkehrt und ſich um die brütende Gattin und werdende Brut nicht im geringſten mehr kümmert, finde ich ſehr begreiflich. Und wenn man wirklich, wie es auf allen Brutinſeln der Fall, noch einen Enterich neben der brütenden Ente ſtehen ſehen ſollte, ſo meine ich, daß dies nur ein ſolcher ſein kann, welcher noch nicht gerupft wurde. Unſere Ente brütet nunmehr eifrig. Und jetzt erweiſt ſich ihr Haus— kleid als das einzig geeignete, ich möchte ſagen, einzig mögliche Gewand, welches ſie tragen kann. In dem das Neſt umgebenden Tange verſchwindet ſie vollſtändig, ſelbſt dem ſcharfen Falken- oder Seeadlerauge. Nicht bloß die allgemeine Färbung, auch jedes Pünktchen, jedes Strichelchen ſtimmt mit dem vertrockneten Tange derartig überein, daß der brütende Vogel, ſobald er ſeinen Hals niedergedrückt und die Flügel ein wenig gebreitet hat, von der Umgebung geradezu aufgenommen wird. Viele, viele Male Lapplands Vogelberge. 11 iſt es mir begegnet, daß ich, mit dem geübten Jäger- und Forſcherauge ſuchend, über Eiderholme ſchritt und auf eine vor meinen Füßen brütende Eiderente erſt dadurch aufmerkſam gemacht wurde, daß ſie abwehrend mir an den Stiefeln knabberte. Wer die Hingabe kennt, mit welcher Enten brüten, wird darüber, daß es möglich iſt, einer im Neſte ſitzenden Eider— ente ſo weit zu nahen, nicht ſich wundern: wohl aber erregt es billig auch das Erſtaunen des erfahrenen Forſchers, wenn er lernt, daß die Eiderente, ohne aufzufliegen, handliche Unterſuchung der Eier unter ihrer Bruſt ge— ſtattet, daß ſie im Brüten ſich nicht einmal dann ſtören läßt, wenn man ſie vom Neſte abhebt und wieder auf dasſelbe oder in geringer Entfernung davon auf den Boden ſetzt, um ſich das reizende Schauſpiel zu verſchaffen, ſie der Brut wieder zuwatſcheln zu ſehen. Die mütterliche Hingabe und Mutterſeligkeit der Eiderente erweiſt ſich jedoch noch anderweitig. Jede weibliche Eiderente und vielleicht jede Ente überhaupt, erſtrebt nicht bloß das Glück Kinder zu erzielen, ſondern will ihr Mutterauge auch über möglichſt viele Küchlein gleiten laſſen. Dies hat zur Folge, daß ſie ohne Bedenken andere, neben ihr brütende benach— teiligt, ſofern ſie dies vermag. So hingebend ſie brütet: einmal am Tage muß ſie das Neſt verlaſſen, um ſich mit Nahrung zu verſorgen, und das unter der ſich entwickelnden Bruthitze erheblich leidende Gefieder zu reinigen, einzufetten und neu zu ordnen. Einen mißtrauiſchen Blick auf die Nach— barinnen zur Rechten und zur Linken werfend, erhebt ſie ſich in den erſten Vormittagsſtunden, vielleicht ſchon ſeit langem vom nagenden Hunger gequält, tritt neben das Neſt und breitet mit dem Schnabel ſorgſam den umliegenden Kranz zu einer die Eier verhüllenden und ſchützenden Decke aus; dann fliegt ſie eilend auf das Meer hinaus, taucht wiederholt in die Tiefe hinab, füllt ſich haſtig Kropf und Speiſeröhre bis zum Schlunde herauf mit Muſcheln, badet, putzt und fettet ſich, kehrt zum Lande zurück und läuft nun, unterwegs noch beſtändig die Federn trocknend und glättend, dem Neſte wieder zu. Beide Nachbarinnen ſitzen anſcheinend ebenſo harmlos wie früher auf ihren Neſtern, und doch haben ſie, wenigſtens die eine, inzwiſchen ein Diebesſtück ausgeführt. Sobald jene abgeflogen war, hat ſich die eine erhoben, die Decke über den fremden Eiern gelüftet und mit den beiden Ruderfüßen eins, zwei, drei, vier Eier raſch in ihr eigenes Neſt gerollt, ſodann den Reſt ſorglich wieder bedeckt und ſich beglückt auf ihr unrechtmäßigerweiſe vermehrtes Gelege geſetzt. Wohl mag die heimkehrende Ente erkennen, welcher Streich ihr geſpielt wurde; merken aber läßt ſie ſich von dem, was in ihr vorgeht, nicht das geringſte, ſetzt ſich vielmehr 12 Lapplands Vogelberge. ruhig zum Brüten nieder und thut als dächte ſie: „Warte nur, Frau Nach— barin, auch du wirſt hinausfliegen auf das Meer, und dasſelbe, was du mir gethan, wird dir geſchehen.“ Thatſächlich wandern die Eier mehrerer nebeneinander ſtehender Eidervogelneſter beſtändig aus dem einen nach dem andern. Ob dann die eigenen oder fremde Kinder unter der glücklichen Mutterbruſt zum Leben reifen: der Eiderente ſcheint das gleichgültig zu ſein; — ſind es ja doch Kinder! Sechsundzwanzig Tage etwa brütet die Ente, bevor die Eier ge— zeitigt ſind. Der Normanne, welcher verſtändig zu Werke geht, läßt ſie diesmal gewähren und behelligt ſie nicht nur nicht, ſondern ſucht ſie nach Kräften zu unterſtützen, indem er ſoviel als möglich alle Feinde und Stören— friede überhaupt von dem Eilande abhält. Er kennt ſeine Enten, wenn auch nicht perſönlich, ſo doch ſoweit, daß er weiß, wann ungefähr dieſe oder jene ausgebrütet haben und mit ihrer Küchleinſchar den Weg nach dem ſicheren Meere antreten werden. Dieſer Weg bringt vielen unbeauf— ſichtigten jungen Eiderenten jähes Verderben. Nicht allein die auf den Inſeln brütenden oder ſie beſuchenden Falken, ſondern auch, und mehr noch, Kolkraben, Raub- und große Seemöwen belauern den erſten Aus— gang der Küchlein, überfallen ſie unterwegs und rauben das eine oder das andere. Dem ſucht der Schutzherr der Inſel in einer Weiſe vorzu— beugen, welche ebenfalls für das Gebaren der ſonſt ſo wilden und ſcheuen, während der Brutzeit aber zu förmlichen Hausvögeln gewordenen Eiderenten bezeichnend iſt. Gegen das Ende der Brutzeit hin begeht er allmorgendlich die Brutinſel, um den Müttern behilflich zu ſein und die zweite Daunenernte einzuheimſen. Auf ſeinem Rücken hängt ein Tragkorb, an dem einen Arm ein breiter Handkorb. So wandelt er von einem Neſte zum andern, hebt jede Eiderente auf und ſieht nach, ob die Küch— lein ausgeſchlüpft und ſchon hinlänglich trocken geworden ſind. Iſt letzteres der Fall, ſo packt er die ganze krabbelnde Geſellſchaft in ſeinen Handkorb, entkleidet mit geſchicktem Griffe das Neſt von ſeiner daunigen Ausfüllung, wirft dieſe in den Tragkorb und ſchreitet weiter. Vertrauensvoll wackelt die Ente hinter ihm, oder vielmehr hinter ihren piependen Jungen einher. Ein zweites, drittes, zehntes Neſt wird in derſelben Weiſe entleert, über— haupt damit fortgefahren, ſolange der Handkorb die Küchlein noch bergen kann, und eine Mutter nach der andern ſchließt ſich jetzt, mit den Lei— densgefährtinnen unterwegs ihre Meinung austauſchend, dem Gefolge an. Am Meere angekommen, kehrt der Mann den Korb um und ſchüttet damit die geſamte Küchleinſchar einfach auf das Waſſer. Sofort ſtürzen alle Lapplands Vogelberge. 13 Enten den piependen Jungen nach; lockend, rufend, alle Zärtlichkeit der Mutter entfaltend, ſchwimmen ſie unter die Herde, und jede ſucht ſo viele Küchlein als möglich hinter ſich zu ſcharen. Mit erſichtlichem Stolze ſchwimmt die eine dahin, ein langes Gefolge hinter ſich nachziehend; doch ſchon kreuzt eine zweite, minder beglückte, den wie eine Schleppe hinter ihr einherziehenden Schwarm und ſucht ſo viele Junge als ihr möglich, an ſich zu ketten, und wiederum kommt eine dritte herbei, in der Abſicht, zu eigenen Gunſten einige abſpenſtig zu machen. So ſchwimmen, ſchnatternd und rufend, gackernd und lodend, alle Mütter durcheinander, bis endlich jede einzelne ein Trüppchen Küchlein hinter ſich hat: ob die eigenen, ob die fremden, wer kann es wiſſen! Die betreffende Ente weiß es ſicherlich nicht; ihre Mutterluſt aber wird dadurch nicht beeinträchtigt: ſind es doch Kinder, welche hinter ihr einherſchwimmen! In jedem Falle folgt auch eine in ſolcher Weiſe zuſammengeraffte Schar ſchon in den erſten Stunden ihres Lebens der Mutter oder Pflege— mutter getreulich nach. Dieſe führt die Küchlein zunächſt auf ſolche Stellen, wo die Miesmuſcheln bis zum Stande der tiefſten Ebbe hinauf an den Felſen ſitzen, pflückt von denſelben, ſo viele ſie und ihre Familie bedarf, zerbricht die Gehäuſe der kleinſten und legt den Inhalt ihren Kindern vor. Letztere ſind vom erſten Tage ihres Lebens an befähigt zu ſchwimmen und zu tauchen, trotz ihrer Eltern, übertreffen dieſe ſogar in einer Beziehung, indem ſie ungleich gewandter auch auf dem Lande ſind und hier mit über— raſchendem Geſchick ſich zu bewegen verſtehen. Ermüden ſie in der Nähe einer Inſel, ſo führt ſie die Alte auf dieſelbe hinauf, und ſie rennen dann wie junge Rebhühner dahin, wiſſen ſich auch auf den erſten Warnungsruf hin durch einfaches Niederdrücken ſo vortrefflich zu verbergen, daß man ſie nur nach längerem Suchen aufzufinden vermag; ermüden ſie, wenn ſie ſich weiter von den Schären entfernt haben, ſo breitet die Alte ihre Flügel ein wenig und bietet ihnen dieſe und den Rücken zum Ruheſitze dar. Da ſie niemals Mangel leiden, wachſen ſie außerordentlich raſch heran und haben ſchon nach Verlauf von zwei Monaten beinahe die Größe, mindeſtens alle Fertigkeiten ihrer Mutter erlangt. Nunmehr findet ſich auch der Vater wieder bei ihnen ein, um fortan mit der Familie, meiſt noch mit vielen andern Familien vereinigt, unter Umſtänden zu Tauſen— den geſchart, den Winter zu verbringen. Der hohe von Jahr zu Jahr ſteigende Preis der unvergleichlichen Daunen erhebt die Eidervögel zu den wertvollſten aller Bergvögel. Tauſend Paare Eidervögel gelten für ein Beſitztum, mit welchem gerechnet wird. 14 Lapplands Vogelberge. Auf den meiſten Eiderholmen brüten jedoch mindeſtens drei- bis viertauſend Paare, und der glückliche Beſitzer noch zahlreicher beſuchter Brutſtellen erzielt durch die Vögel Einnahmen, um welche ihn mancher Gutsbeſitzer Deutſchlands beneiden könnte. Außer den Eidervögeln brüten aber auf den Holmen auch noch Auſternfiſcher und Teiſten, deren Eier ausgehoben, monatelang zu allerlei Nahrungsmitteln verwendet und auf weithin ver— ſendet werden. Zudem ſalzt man hier und da die Jungen für den Winter ein, und ſomit bilden die Holme auch ihrerſeits Aecker, welche reiche Ernte bringen, dementſprechend unter ſtrenger Aufſicht gehalten und durch beſondere Geſetze geſchützt werden. Ebenſo eigenartig als feſſelnd iſt das Schauſpiel, welches eine mit Eider- und anderen Seevögeln beſetzte Brutinſel gewährt. Eine mehr oder minder dichte Wolke von blendend weißen Möwen umhüllt das Eiland. Ohne Unterlaß kommen Trupps und Schwärme dieſer Brutvögel auf der Inſel an und fliegen wieder auf das Meer hinaus, beſuchen auch wohl die benachbarten Schären und werden unter Umſtänden den entſumpften zu grünen Raſenflächen umgewandelten Mooren vor den roten Blockhäuſern zu einem wunderbaren Schmucke. Mit gerechtem Stolze deutete ein Be— wohner der Lofoden auf mehrere Hundert von Sturmmöwen, welche dicht geſchart unmittelbar vor ſeinem Hauſe nach Kerbtieren ſuchten. „Unſer Land iſt zu arm, zu kalt und zu rauh,“ ſagte er, „als daß wir ebenſo wie Sie im Süden Hausgeflügel halten könnten. Unſere Tauben aber ſendet uns das Meer, und ich frage Sie, haben Sie wohl jemals ſchönere geſehen?“ Ich mußte die Frage verneinen; denn das Bild der blendend weißen und zartblaugrauen Möwen auf dem üppigen grünen Raſen in der großartigen Umgebung der nordiſchen Gebirgswelt war in der That überaus anziehend. Dieſe Möwen ſind es, welche vor allem die Brutholme auf weithin zur Geltung bringen und von anderen genau ebenſo aus— ſehenden Schären unterſcheiden laſſen. Von der übrigen gefiederten Be— völkerung bemerkt man wenig, obwohl ſie nach vielen Tauſenden zählt. Erſt wenn man in einem jener leichten, unübertrefflichen Boote des Landes von dem bewohnten Ufer ſtößt und dem Holme zurudert, ändert ſich das Stillleben der Vögel. Einige Auſternfiſcher, welche unmittelbar über der Flutmarke ihre Nahrung ſuchten, haben das Boot bemerkt und fliegen ihm eilig entgegen. Denn dieſe Vögel, welche keiner größeren Inſel, kaum einer Schäre fehlen, ſind die Sicherheits- und Wohlfahrtsbeamten der friedlich vereinigten Bergvögel. Neugieriger und regſamer als alle übrigen mir bekannten Strandvögel, ſelbſtbewußt, vorſichtig und bedacht— Lapplands Vogelberge. 15 ſam, vereinigen ſie alle Eigenſchaften, um ſie zu tonangebenden Gliedern gemiſchter Siedelungen zu erheben. Jedes neue, ungewohnte oder unge— wöhnliche Ereignis reizt ihre Wißbegier und bewegt ſie, eine genauere Unterſuchung anzuſtellen. So fliegen ſie jedem Boote entgegen, um— ſchwärmen es fünf bis ſechsmal in immer enger ſich ſchlingenden Kreiſen, ſchreien dabei ununterbrochen, ziehen dadurch andere ihrer Art herbei und erregen ſchon jetzt die Aufmerkſamkeit aller übrigen klugen Vögel der An— ſiedelung. Sobald ſie ſich von dem Vorhandenſein wirklicher Gefahr überzeugt haben, eilen ſie raſch zurück und teilen das Ergebnis ihrer Unterſuchungen in warnenden Tönen allen Bergvögeln mit, welche darauf achten wollen und in der That darauf achten. Einige Möwen beſchließen nun, ebenfalls durch eigenen Augenſchein ſich von der Urſache der Störung zu überzeugen. Ihrer fünf bis ſechs fliegen dem Boote entgegen, ſtellen ſich in der Luft nach Falkenart auf, ſtoßen vielleicht jetzt ſchon kühn auf die Eindringlinge herab und kehren ſchneller, als ſie gekommen, zum Holme zurück. Gerade als ob man ihnen mißtraue, erhebt ſich nunmehr die doppelte, drei-, vier-, zehnfache Anzahl, um genau ebenſo zu verfahren, wie die erſten Späher thaten. Schon ſchichtet ſich eine aus Vögeln be— ſtehende Wolke über dem Boote. Sie dichtet ſich mehr und mehr und wird immer bedrohlicher, da die Vögel nicht allein mit beſtändig ſteigen— der Kühnheit nach den Inſaſſen des Fahrzeuges ſtoßen, ſondern ſie auch mit Stoffen begaben, welche Geſicht und Kleidern nicht gerade zum Schmucke gereichen. In der Nähe der Brutinſel ſteigert ſich die Erregung zu ſcheinbar ſinnloſem Wirrwarr, das Geſchrei der einzelnen zu tauſend— fach wiederholtem, ſinnbethörendem Lärme. Noch ehe das Boot gelandet, ſind die zum Beſuche ihrer Weibchen zugegen geweſenen männlichen Eider— vögel dem Strande zugewatſchelt und ſchwimmen jetzt unter warnendem „ahua, ahua“ auf das Meer hinaus. Ihnen folgen Schopfſcharben oder Kormorane und Säger, wogegen Auſternfiſcher, Regenpfeifer, Teiſten, Eidervögel, Möwen und Seeſchwalben, ſowie die etwa vorhandenen Felſen— pieper und Bachſtelzen ſich nicht entſchließen können, das Eiland zu ver— laſſen. Aber die Laufvögel rennen, wie vom böſen Feinde getrieben, zahllos am Strande auf und ab; die Teiſten, welche geneigte Felsblöcke rutſchend erklimmt hatten, ducken ſich platt auf ihnen nieder und ſtarren harmlos verwundert den Fremdling an; die Eiderenten bereiten ſich vor, im geeigneten Augenblicke in ihrer Weiſe ſich unſichtbar zu machen. Das Boot landet. Man betritt den Holm. Tauſende von Stimmen kreiſchen gleichzeitig auf; die aus fliegenden Vögeln beſtehende Wolke ver— 16 Lapplands Vogelberge. dichtet ſich bis zur Undurchſichtigkeit; Hunderte von brütenden Möwen erheben ſich krächzend, um ſich mit den fliegenden zu vereinigen; Dutzende von Auſternfiſchern ſchreien laut, und das Gewirr der ſich bewegenden, der Lärm der kreiſchenden, rufenden Vögel wird ſo betäubend, daß man meint, des Blocksbergs Hexenwirrwarr mit leiblichen Sinnen wahrzunehmen. Hörſt du Stimmen in der Höhe, In der Ferne, in der Nähe? Ja, den ganzen Berg entlang Strömt ein wütender Zaubergeſang. Mephiſtos Worte werden zur Wahrheit. Das Lärmen und Brauſen, das Wirrſal der Geſtalten und Töne ermüdet alle Sinne; es ſchwirrt und flimmert vor den Augen, ſauſt und brauſt in den Ohren, daß man zuletzt weder Farbe noch Lärm mehr aufzufaſſen vermag und ſelbſt den meiſt ſehr eindringlichen Geruch nicht mehr empfindet. Wohin man ſich auch wenden mag: auf der ganzen Inſel umhüllt einen die erwähnte Wolke, wohin man ſchaut: nichts anderes ſieht man vor ſich als Vögel, und wenn Tauſende zur Ruhe ſich niederließen, haben andere Tauſende ſich erhoben, und ihre Sorge, ihre Angſt um die Brut läßt ſie die eigene Ohnmacht vergeſſen und ermutigt ſie zu zwar ungefährlicher, dem Vor— dringenden aber doch hinderlicher Abwehr. Weſentlich verſchieden von dem doch recht harmloſen Treiben auf den Eiderholmen iſt das Bild, welches eine mit Silber-, Herings- oder Mantelmöwen beſetzte Inſel zeigt. Auch ſie ſcharen ſich um zu brüten auf beſtimmten Inſeln, Hunderte von Paaren zu anderen Hunderten, ſo daß ſolche Inſel unter Umſtänden von drei- bis fünftauſend Paaren be— völkert werden kann. Die Inſel ſelbſt gewährt dem Auge ein ebenſo ſchönes und großartiges Schauſpiel, wie der Eiderholm. Die großen blendend weiß und hell oder dunkelgrau gefärbten Geſtalten heben ſich wundervoll ab von der ganzen Umgebung und ihre Bewegungen entbehren durchaus nicht der Anmut, welche alle Möwen auszeichnet. Aber ſie, die ſtarken, kräftigen und raubluſtigen Vögel, ſind zwar geſellige, nicht jedoch friedfertige Nachbarn. Kein Glied ſolcher Anſiedelung traut dem andern. Jedes einzelne Paar lebt für ſich, grenzt ſich ein beſtimmtes Brutgebiet ab, wie gering der Durchmeſſer desſelben auch ſein mag, duldet innerhalb dieſes Gebietes kein anderes Paar und verläßt das Neſt nie gleichzeitig, eilt auch, ſobald es durch einen gemeinſamen übermächtigen Feind aufge— ſtört wurde, ſo ſchnell als möglich zum Neſte zurück, um dieſes gegen die eigenen Artgenoſſen zu ſichern. Lapplands Bogelberge. 17 Minder geräuſchvoll aber keineswegs weniger großartig iſt das Leben auf den eigentlichen Vogelbergen, da wo Alken, Lummen und Lunde brüten und höchſtens hier und da eine oder die andere Möwe, eine oder die andere Scharbe dazwiſchen ſich eingeniſtet hat. Es wird genügen, wenn ich einen einzigen dieſer Berge zu ſchildern verſuche und zur Er— zählung übergehe. Im Norden der großen zur Lofodengruppe gehörigen Inſel liegen, einige dreihundert Meter von dem Strande entfernt, drei glockenförmige Felſeneilande, die Nyken, welche ſchroff und ſteil dem Meere entſteigen, ſich etwa hundert Meter über deſſen Spiegel erheben und ringsum von einem Kranze kleiner Schären umlagert werden. Einer dieſer Felſenkegel iſt ein Vogelberg, wie er in ſeiner Art großartiger kaum gedacht werden kann. Es war an einem wundervollen Sommertage, als wir uns anſchickten ihn zu beſuchen, das Meer glatt und ruhig wie ſelten, der Himmel klar und blau, die Luft warm und angenehm. Zdiſchen zahlloſe Schären hindurch ruderten kräftige Normannen unſer leichtes Boot. Wohin das Auge blickte, traf es auf Vögel. Faſt jeder Stein, welcher über die Meeresfläche empor— ragte, zeigte ſich belebt. Einzelne waren weiß übertüncht von dem Kote der Scharben, welche dort regelmäßig einige Stunden des Tages zubrachten, um zu ruhen. Reihenweiſe geordnet wie aufgeſtellte Soldaten ſaßen ſie zu zehn, zu zwanzig, zu Hunderten in den ſeltſamſten Stellungen, die langen Hälſe gedehnt und gereckt, die Flügel ausgebreitet, um jedem Teile ihres Leibes die Wohlthat der Beſonnung zu verſchaffen, mit ihnen fächelnd, als wollten ſie ſich gegenſeitig Kühlung zuwehen, aufmerkſamen Auges nach allen Seiten ſpähend; unter dumpfem Schreien ſtürzten ſie ſich bei unſerer Annäherung in plumper Weiſe in das Meer hinab, nun— mehr ſchwimmend und tauchend aller Annäherungsverſuche unſererſeits ſpottend. Andere Schären waren bedeckt von Möwen, immer von Hun— derten und Tauſenden einer und derſelben Art, ebenſo von männlichen Vögeln, welche von irgend einem Eiderholme hergekommen ſein mochten, um ſich nach Männerart zu unterhalten, dieweil die Weibchen dem Brut— geſchäfte oblagen. Um andere Felſeneilande hatten die blendenden Eider— enten, vielleicht bereits gerupfte Männchen, ſich geſchart und ſtellenweiſe einen Kranz gebildet, vergleichbar großen, weißen Waſſerroſen unſerer ſtillen Süßgewäſſer. In den nicht allzutiefen Sunden ſah man fiſchende Säger und Seetaucher, von denen der eine oder der andere dann und wann auch wohl ſeinen auf weithin gellenden Schrei zum beſten gab: einen Ruf, ſo lang ausgezogen und ſo vielfach vertönt, daß man ihn als Brehm, Vom Nordpol zum Aequator. 2 18 Lapplands Vogelberge. Geſang bezeichnen würde, wäre er nicht eine wilde Melodie, wie ſie nur ein Kind des Nordmeeres vortragen kann, welches dem Heulen und Brauſen winterlicher Stürme gelauſcht und von dem dröhnenden Wogenſchwalle gelernt und in ſich aufgenommen. Stolz wie ein Fürſt auf ſeinem Throne ſaß hier und da ein Seeadler, der Schrecken aller gefiederten Weſen des Meeres, vielleicht auch eine ganze Geſellſchaft beuteſatter Räuber dieſer Art; pfeilſchnell durcheilte ſein meilenweites Gebiet der Jagdfalke, wel— cher an einer der ſteilen Felſenwände ſeinen Horſt gegründet; gaukelnde Sturm: und Stummelmöwen, fiſchende Seeſchwalben zogen auf und nie— der; Auſternfiſcher begrüßten uns mit ihren trillernden Rufen; Alken und Lummen erſchienen und verſchwanden auf- und untertauchend rings um uns her. Unter ſolcher Geſellſchaft zogen wir weiter. Nachdem wir etwa zehn Seemeilen zurückgelegt hatten, gelangten wir in das Schwarmbereich der Nyken. Wohin wir unſere Blicke wandten, allüberall ſahen wir einige der zeitweiligen Bewohner des Berges, im Meere fiſchend, tauchend, durch unſer Boot erſchreckt auffliegend und ſo hart über dem Waſſer wegziehend, daß die brennendroten Ruderfüße den Saum der Wellen ſchlugen. Wir ſahen Schwärme von dreißig, fünfzig bis hundert Stück, ſahen ſolche überall von dem Berge herkommend oder demſelben zuſtrömend und konnten nicht im Zweifel bleiben, daß wir uns einer ſtark bevölkerten Brutanſiedelung näherten. Aber man hatte uns von Millionen brütender Vögel geſprochen, und von ſolchen Maſſen vermochten wir denn doch nichts zu entdecken. Endlich, nachdem wir einen vorſpringenden Felſen— kamm umrudert hatten, lag die Nyke vor uns. Im Meere ringsum traf das Auge auf ſchwarze, an dem Fuße des Berges auf weiße Punkte. Jene zeigten ſich ohne Ordnung und Regel, dieſe meiſt in Reihen oder ſcharf umgrenzten Trupps: es waren die ſchwimmenden, mit Kopf, Hals und Nacken über die Oberfläche emporragenden und die auf dem Berge ſitzenden, mit der weißen Bruſt dem Meere zugekehrten Alken, welche wir ſahen. Es waren ſicherlich viele Tauſende, keinesfalls aber Millionen. Nachdem wir auf der gegenüberliegenden Inſel gelandet und im Hauſe des Beſitzers der Nyke uns erquickt hatten, fuhren wir nach dieſer hinüber, ſprangen an einer von der Brandung nicht allzuarg umtobten Stelle auf den Fels und kletterten nun raſch bis zu der Torfhaube empor, welche die ganze Nyke bis auf wenige durchbrechende und zu Tage tretende Zacken, Vorſprünge und Winkel überdeckt. Hier fanden wir zunächſt, daß die Torfrinde überall mit Bruthöhlen, nach Art unſerer Kaninchenröhren NG: 1 N Y N GN Lapplands Vogelberge. Lapplands Vogelberge. 19 durchlöchert, daß nicht ein einziges tiſchgroßes Plätzchen auf dem ganzen Berge ohne die Mündung einer ſolchen Röhre geweſen war. In Schraubenlinien ſchritten wir, mehr kletternd als gehend, zum Gipfel des Berges empor. Unter unſeren Tritten zitterte die unterwühlte Torfſchicht. Und hervor aus allen Höhlen lugten, krochen, rutjchten, flogen mehr als taubengroße, oberſeits ſchieferfarbene, auf Bruſt und Bauch blendend weiße Vögel mit phantaſtiſchen Schnäbeln und Geſichtern, kurzen, ſchmalen, ſpitzigen Flügeln und ſtummelhaften Schwänzen. Aus allen Löchern erſchienen ſie, aus Ritzen und Spalten des Geſteines nicht minder. Wohin man blickte, nichts anderes mehr als Vögel ſah das Auge, und leiſes, dröhnendes Knarren, das vereinigte ſchwache Geſchrei derſelben traf das Ohr. Jeder Schritt weiter entlockte neue Scharen dem Bauche der Erde. Von dem Berge herab nach dem Meere begann es zu fliegen; von dem Meere nach dem Berge hinauf ſchwärmten bereits unzählbare Maſſen. Aus den Dutzenden waren Hunderte, aus den Hunderten Tauſende geworden, und Hunderttauſende entwuchſen fortwährend dem braungrünen Boden. Eine Wolke, nicht minder dicht wie jene über dem Holme, umhüllte uns, umhüllte den ganzen Berg, ſo daß dieſer zauber— haft wohl, aber doch den Sinnen noch begreiflich, zu einem rieſenhaften Bienenſtocke ſich wandelte, um welchen nicht minder rieſenhafte Bienen ſchwirrend und ſummend ſchwebten und gaukelten. Je weiter wir kamen, um ſo großartiger geſtaltete ſich das Schau— ſpiel. Der ganze Berg wurde lebendig. Hunderttauſende von Augen ſahen auf uns Eindringlinge herab. Aus allen Enden und Ecken, von allen Winkeln und Vorſprüngen her, aus allen Ritzen, Höhlen und Löchern wälzte es ſich hervor, zur Rechten, zur Linken, ober- und unterhalb, in der Luft wie auf dem Boden wimmelte es von Vögeln. Von den Wänden wie vom Gipfel des Berges herab ins Meer ſtürzten ſich ununterbrochen Tauſende in ſo dichtem Gedränge, daß ſie den Augen ein feſtes Dach vor— zutäuſchen vermochten. Tauſende kamen, Tauſende gingen, Tauſende ſaßen, Tauſende tänzelten unter Zuhilfenahme der Schwingen in wunderſamer Weiſe dahin; Hunderttauſende flogen, Hunderttauſende ſchwammen und tauchten, und neue Hunderttauſende harrten des auch ſie aufſcheuchenden Fußtrittes. Es wimmelte, ſchwirrte, rauſchte, tanzte, flog, kroch um uns herum, daß uns faſt die Sinne vergingen, daß das Auge den Dienſt ver— ſagte, daß die erprobte Fertigkeit ſelbſt den Schützen, welcher verſuchte, unter den Tauſenden aufs Geratewohl Beute zu gewinnen, im Stiche ließ. Betäubt, kaum unſerer ſelbſt noch bewußt, ſchritten wir weiter, bis wir 20 Lapplands Vogelberge. endlich den Gipfel erklommen hatten. Unſere Erwartung, dort oben endlich wieder zur Ruhe, zur Beſinnung, zur Betrachtung zu gelangen, erfüllte ſich zunächſt noch nicht. Auch hier wimmelte und ſchwirrte es, wie es weiter unten an den Wänden gewimmelt und geſchwirrt; auch hier umlagerte die aus Vögeln gebildete Wolke uns ſo dicht, daß wir das Meer unter uns nur wie im Dämmerlichte, unklar und unbeſtimmt vor uns liegen ſahen. Erſt ein Jagdfalkenpaar, welches in einer der benach— barten Felſenwände horſtete und das ungewohnte Getriebe geſehen haben mochte, veränderte plötzlich das wunderbare Schauſpiel. Vor uns hatten die Alken, Lummen und Lunde ſich nicht gefürchtet; beim Erſcheinen ihrer wohlbekannten und unabwendbaren Feinde aber ſtürzte die dichte Wolke wie auf den Befehl eines Zauberers mit einem Schlage herab auf das Meer, und klar und frei wurde der Blick. Zahlloſe dunkle Punkte, die Köpfe der im Meere ſchwimmenden Vögel, welche ſich deutlich von dem Waſſer abhoben, unterbrachen die blaugrüne Färbung der Wogen. Ihre Menge war ſo groß, daß wir von der Spitze des über hundert Meter hohen Berges aus nicht entdecken konnten, wo der Schwarm endete, nicht wahrzunehmen vermochten, wo das Meer frei war von Vögeln. Um nur einigermaßen zu ſchätzen, zu rechnen, nahm ich mir ein kleines Viereck ins Auge und begann die Punkte in ihm zu zählen. Es waren ihrer mehr als hundert. Ich ſetzte in Gedanken raſch ähnliche Vierecke aneinander und kam in die Tauſende. Aber ich hätte viele Tauſende ſolcher Vierecke bilden können und den von Vögeln bedeckten Raum noch nicht erſchöpft. Die Millionen, von denen man geſprochen, waren vorhanden. Nur auf Augen— blicke bot ſich das Bild ſcheinbarer Ruhe unſeren Blicken dar. Bald be— gannen die Vögel wieder aufwärts zu fliegen, und wie vorher entſtiegen Hunderttauſende zu gleicher Zeit dem flüſſigen Elemente, um zum Berge empor zu klettern; wie vorher bildete ſich die Wolke um ihn, wie vorher verwirrten ſich unſere Sinne. Unfähig noch zu ſehen, betäubt durch das unbeſchreibliche Geräuſch um mich her, warf ich mich auf den Boden nieder, und von allen Seiten herbei ſtrömten die Vögel. Aus den Höhlen hervor krochen noch immer neue, in ſie hinein ſolche, welche wir früher aufge— ſcheucht; um mich her ließen ſie ſich nieder; mit erheiterndem Staunen betrachteten ſie die fremde Geſtalt unter ſich; tänzelnden Ganges näherten ſie ſich mir bis auf ſo geringe Entfernung, daß ich nach ihnen zu greifen verſuchte. Die Schönheit, der Reiz des Lebens zeigte ſich in jeder Be— wegung der abſonderlichen Vögel. Mit Erſtaunen ſah ich, wie ſteif und kalt auch die beſten Abbildungen ſind; denn ich bemerkte eine Regſamkeit Lapplands Vogelberge. 21 und eine Lebhaftigkeit in den wunderſamen Geſtalten, welche ich ihnen nicht zugetraut hätte. Nicht einen Augenblick ſaßen ſie ruhig, bewegten mindeſtens Kopf und Hals fort und fort nach allen Seiten hin, und ihre Umriſſe gewannen wahrhaft künſtleriſche Linien. Es war, als ob die Harmloſigkeit, mit welcher ich mich ganz der Beobachtung hingab, durch unbeſchränktes Vertrauen von ihrer Seite vergolten werden ſollte. Ich verkehrte mit den Tauſenden um mich her, als ob ſie Haustiere wären; und die Millionen ſchenkten mir zuletzt nicht mehr Beachtung, als ob ich einer der ihrigen geweſen. Achtzehn Stunden verweilte ich auf dieſem Vogelberge, um das Leben der Alken kennen zu lernen. Als die Mitternachtsſonne groß und blutigrot am Himmel ſtand und ihr roſiges Licht auch auf die Wände unſeres Berges warf, trat die Ruhe ein, welche die Mitternacht auch im hohen Norden zu bringen pflegt. Das Meer um die Berge herum war leer geworden; alle die Vögel, welche bis dahin in ihm gefiſcht und getaucht, waren zum Berge aufgeflogen. Hier ſaßen ſie jetzt, wo ſie ein Plätzchen zum Sitzen fanden, in langen Reihen bei zehn, bei Hunderten, bei Tauſenden, bei Hundert— tauſenden, lange, blendendweiße Linien bildend, da alle ausnahmslos die Bruſt dem Meere zukehrten. Ihr „Arr“ und „Err“, welches trotz der Schwäche der einzelnen Stimmen unſere Ohren betäubt hatte, war ver— klungen, und nur die Brandung, welche ſich tief unten am Felſen brach, rauſchte und tönte nach wie vor zu uns herauf. Erſt als die Sonne ſich wiederum erhoben, begann das alte wirre Getriebe von neuem, und als wir endlich, heimkehrend, auf denſelben Wegen wie vorher aufwärts, ab— wärts ſtiegen, umhüllte uns nochmals die dichte Wolke der geſcheuchten Tiere. Nicht die Maſſenhaftigkeit des Auftretens allein iſt es, durch welche die Alken feſſeln; auch ihr Leben und Treiben bietet des Anziehenden viel. Ihre geſelligen Tugenden erreichen während der Brutzeit eine unvergleich— liche Höhe. Als vollendete Seevögel leben alle Alken bis zu jener Beginne ausſchließlich auf hoher See, dem ſtrengſten Winter, wie den wütendſten Stürmen gleichmütig trotzend. Auch in der langen Winternacht verlaſſen ſie nicht oder doch nur ſehr einzeln ihre nordiſche Heimat, ſtreifen viel— mehr in Scharen und Flügen von Hunderten und Tauſenden von einem Fiſchgrunde zum andern und wiſſen alle offenen Stellen zwiſchen dem Eiſe ebenſo ſicher zu finden, wie andere Nahrung verſprechende Orte außen auf hohem Meere. Wenn aber die Sonne wiederum ſich hebt, regt ſich in ihnen nur ein Gefühl: das der Liebe, nur eine Sehnſucht: ſo bald als möglich den Berg zu erreichen, auf welchem ihre eigene Wiege ſtand. Jetzt, 22 Lapplands Vogelberge. um die Oſterzeit etwa, ziehen alle, mehr ſchwimmend als fliegend, dem Berge zu. Nun aber gibt es auch unter den Alken mehr Männchen als Weibchen, und nicht jedes der erſteren iſt ſo glücklich, eine Gattin zu er— ringen. Unter anderen Vögeln führt dieſes Mißverhältnis zu ununter— brochenem Streite; unter den Lummen wird der Friede nicht geſtört. Die beklagenswerten Weſen, welche wir, in menſchliches Sein und in menſch— liche Sprache überſetzt, als Hageſtolze bezeichnen, wandern ebenſogut wie die glücklichen, unterwegs koſenden und tändelnden Paare dem Berge zu, fliegen mit ihnen zur Höhe hinauf und ziehen mit ihnen zur Jagd auf das benachbarte Meer hinaus. Die Paare beginnen, ſobald die Wit— terung es geſtattet, ihre alten Höhlen neu herzurichten, ſie auszuräumen, zu vertiefen, ihre Kammer zu vergrößern, erforderlichenfalls auch eine neue Brutſtätte auszugraben, und ſobald dies geſchehen, legt das Weibchen auf den nackten Boden der am hinteren Ende ausgewölbten Brutkammer ſein einziges, aber ſehr großes, kreiſelförmiges, buntgetüpfeltes Ei und beginnt nun abwechſelnd mit dem Männchen zu brüten. Für die armen Jung— geſellen bricht damit eine traurige Zeit an. Auch ſie würden unendlich gern Vaterſorgen auf ſich nehmen, wenn ſie nur die Gattin zu finden vermöchten, welche ihnen zu denſelben verhelfen wollte. Aber alle Weibchen ſind vergeben, und alles Werben iſt umſonſt. So entſchließen ſie ſich denn, ihren guten Willen wenigſtens inſofern zu bethätigen, daß ſie glücklichen Paaren zu Hausfreunden ſich aufdrängen. Wenn in den Stunden um Mitternacht im Neſte das Weibchen brütet und außen vor demſelben das Männchen ſitzt, geſellen ſie ſich letzterem, und wenn das Männchen die im Meere fiſchende Gattin ablöſt, halten ſie außen Wache, wie vorhin das rechtmäßige Männchen that. Wenn aber beide Eltern gleichzeitig ins Meer hinabfliegen, beeilen ſie ſich, wenigſtens einigen Lohn für ihre Treue zu ernten. Ohne Zögern rutſchen ſie in das Innere der Höhle und wärmen inzwiſchen das verlaſſene Ei. Sie die Armen, welche zur Eheloſigkeit verurteilt ſind, wollen mindeſtens ein wenig brüten! Dieſe ſelbſtloſe Hingebung hat eine Folge, um welche wir Menſchen die Alken beneiden könnten. Auf den Bergen, welche dieſe Vögel bewohnen, gibt es kein Waiſenkind. Sollte der Gatte eines Paares verunglücken, ſo bietet ſich der Witwe augenblicklich Erſatz, und ſollte der ſeltenere Fall ein— treten, daß beide Neſtinhaber, beide Eltern eines Jungen zu gleicher Zeit ihr Leben verlören, ſo ſind die gutmütigen Ueberzähligen ſofort bereit, das Ei vollends auszubrüten, das Junge zu erziehen. Letzteres unterſcheidet ſich weſentlich von dem der Enten und Möwen. Es iſt nicht Lapplands Bogelberge. 23 Neſtflüchter, ſondern Neſthocker. In dichtem graulichem Daunenkleide ent— ſchlüpft es der Eihülle, in welcher es zum Leben erwachte, muß aber nun noch wochenlang in ſeiner Höhle verweilen, bevor es im ſtande iſt, den erſten Ausflug zum Meere zu wagen. Dieſer Ausflug iſt, wie zahlloſe Leichen auf den Klippen am Fuße der Berge beweiſen, ſtets ein gewagtes und gefahrbringendes Unternehmen. Geführt von beiden Eltern, ängſtlich die noch ungeübten Beine, kaum minder beſorgt die eben erſt zur Ent— wickelung gelangten Schwingen gebrauchend, folgt das Junge ſeinen Er— zeugern, welche es nach und nach bergabwärts oder doch zu einer Stelle geleiten, von welcher aus der Abſprung in das Meer möglichſt gefahrlos erfolgen kann. Auf ſolchem Vorſprunge verharren beide Eltern und das Kind oft längere Zeit, bevor es erſteren gelingt, das letztere zum Sprunge zu vermögen. Der Vater wie die Mutter reden förmlich zu; das ſonſt wie alle Vogeljungen gehorſame Kind achtet nicht ihrer Zurufe. Der Vater entſchließt ſich vor den Augen des zögernden Sproſſen hinabzuſtürzen in das Meer; der unerfahrene Sprößling bleibt ſitzen. Neue Verſuche, neues Zureden, förmliches Drängen: da endlich wagt er den gewaltigen Sprung, ſtürzt wie ein fallender Stein tief in das Meer hinab, arbeitet ſich, unbe— wußt dem Triebe gehorchend, wieder zur Oberfläche empor, ſchaut um ſich, blickt über das unendliche Meer und — iſt ein Seevogel geworden, welcher fortan keine Gefahr mehr ſcheut. Wiederum verſchieden iſt das Leben und Treiben auf denjenigen Vogelbergen, welche von der Stummelmöwe zu Brutplätzen gewählt werden. Ein ſolcher Berg iſt das Vorgebirge Swärtholm, hoch oben im Norden zwiſchen dem Laxen- und Porſangerfjord unweit des Nordkap. Ich wußte wohl, wie die gedachten Möwen auf ihren Brutplätzen auftreten. Faber, der treffliche Kenner hochnordiſcher Vögel, hat es, wie gewöhnlich, mit wenigen Worten geſchildert: „Sie verbergen die Sonne, wenn ſie auffliegen, fie bedecken die Schären, wenn ſie ſitzen; ſie übertäuben das Donnern der Brandung, wenn ſie ſchreien; ſie färben die Felſen weiß, wenn ſie brüten.“ Ich glaubte, nachdem ich Eiderholme und Alkenberge geſehen, dem trefflichen Faber und zweifelte doch, wie jeder Naturforſcher muß, war daher aufs eifrigſte be— ſtrebt, Swärtholm zu beſuchen. Ein liebenswürdiger Normanne, der Führer des Poſtdampfſchiffes, welches mich trug, erfüllte, nachdem wir miteinander befreundet worden, gern meine Bitte, an dem Brutorte vorüberzufahren. So näherten wir uns denn in den Spätſtunden eines Abends dem Vor— gebirge. Schon in einer Entfernung von ſechs bis acht Seemeilen über— DA Lapplands Vogelberge. holten uns fortwährend Flüge von dreißig bis hundert, zuweilen auch zweihundert Stummelmöwen, welche ſämtlich dem Niſtplatze zuflogen. Je näher wir Swärtholm kamen, um ſo raſcher folgten ſich dieſe Flüge, und um ſo zahlreicher waren ſie. Endlich zeigte ſich dem Auge das Vorgebirge, eine faſt ſenkrecht in das Meer abfallende, von unzähligen Höhlen durch— brochene Felſenwand von etwa achthundert Meter Länge und anderthalb— Tordalken. bis zweihundert Meter Höhe. Aus weiter Ferne erſchien fie grau; mit Hilfe des Fernrohres konnte man eine unzählige Menge von weißen Pünktchen und Linien unterſcheiden. Es ſah aus, als ob eine rieſige Schiefertafel von einem ſcherzenden Rieſenkinde mit allerlei Zeichnungen bekritzelt worden wäre; es ſchien, als ob der ganze Felſen ſonderbares Ge— ſchmeide von Kettengewinden, Ringen und Sternen trüge. Aus den dunklen Gründen größerer oder kleinerer Höhlen leuchtete es weiß hervor; von durchlaufenden Abſätzen hob es ſich lebhafter und greller ab. Es waren die brütenden oder in den Neſtern ſitzenden Möwen, welche die Zeichnung 7 Lapplands Vogelberge. 25 hervorriefen, und als der Wahrheit entſprechend erwies ſich das Wort Fabers: „Sie bedecken die Felſen, wenn ſie ſitzen.“ Unſer Schiff ſchreckte, hart an dem Felſen dahinfahrend, einen Teil der Möwen auf, und nun geſtaltete ſich vor meinen Augen ein ähnliches Bild, wie ich es auf vielen Eiderholmen und anderen Möweninfeln ge: ſehen. Da donnerte der Hall eines von meinem Freunde gelöſten Ge— ſchützes gegen die Felſenwand. Wie wenn ein toſender Winterſturm durch die Luft zieht und ſchneeſchwangere Wolken aneinander ſchlägt, bis ſie, in Flocken zerteilt, ſich herniederſenken: ſo ſchneite es jetzt von oben leben— dige Vögel herunter. Man ſah weder den Berg noch den Himmel, ſondern nur ein Wirrſal ohnegleichen. Eine dichte Wolke verhüllte den ganzen Geſichtskreis, und erfüllt war das Wort: „Sie verbergen die Sonne, wenn ſie fliegen.“ Heftig blies der Nordwind, und wütend brandete das Eis— meer am Fuße der Klippe: aber lauter noch erklangen die kreiſchenden Schreie der Möwen, damit auch das letzte Wort Fabers bewahrheitet werde: „Sie übertäuben das Toſen der Brandung, wenn ſie ſchreien.“ Die Wolke ſenkte ſich endlich auf das Meer hernieder, die bisher von ihr umnebelten Umriſſe von Swärtholm traten wieder hervor, und ein neues Schauſpiel feſſelte die Blicke. An den Felſenwänden ſchienen noch eben— ſoviele Möwen zu ſitzen, als vorher, und Tauſende flogen noch ab und zu. Und als ein zweiter Donner neue Scharen aufjcheuchte, ſchneite es zum zweitenmale Vögel auf das Meer herab, und immer noch war die Wand bedeckt mit anderen Hunderttauſenden. Auf dem Meere aber, ſoweit wir es überſchauen konnten, lagen, leichten Schaumballen vergleichbar, die Möwen und ſchaukelten mit den Wogen auf und nieder. Wie ſoll ich dieſen herrlichen Anblick beſchreiben? Soll ich ſagen, daß das Meer Millionen und andere Millionen lichte Perlen in ſein dunkles Wellenkleid geflochten habe? Oder ſoll ich die Möwen mit Sternen und das Meer mit dem Himmelsgewölbe vergleichen? Ich weiß es nicht; aber ich weiß, daß ich auf dem Meere noch niemals Schöneres erſchaut habe. Und als wäre es noch nicht genug des Zaubers, goß plötzlich die auf kurze Zeit verhüllte Mitternachtsſonne ihr roſiges Licht über Vorgebirge und Meer und Vögel, beleuchtete alle Wellenkämme, als ob ein goldenes weitmaſchiges Netz über die See geworfen wäre, und ließ die ebenfalls roſig überſtrahlten blen— denden Möwen nur um ſo leuchtender erſcheinen. Da ſtanden wir ſprachlos im Schauen! Und wir, wie alle die Mitreiſenden, ſelbſt die Matroſen des Schiffes verharrten regungslos lange, lange Zeit im Innerſten er— griffen von dem wunderbaren Bilde vor uns, bis endlich einer das Still— 26 Lapplands Vogelberge. ſchweigen brach, und mehr, um an den tönenden Lauten der eigenen Stimme ſich ſelbſt wiederzufinden, als um dem inneren Gefühle Ausdruck zu geben, des Dichters Worte über die Lippen gleiten ließ: „Mitternachtsſonn' auf den Bergen lag Blutrot anzuſchauen. Es war nicht Nacht, es war nicht Tag, Es war ein eigenes Grauen.“ Die Tundra und ihre Tierwelt. ings um den Nordpol der Erde ſchlingt ſich ein breiter Gürtel un— wirtlichen Landes, eine Wüſtenei, welche nicht die Sonne, ſondern das Waſſer zu dem geſtempelt hat, was ſie iſt. Nach dem Pole zu geht dieſe Wüſtenei allmählich in eiſige Gefilde, nach Süden hin in halbverkrüppelte Waldungen über; zu Schnee- und Eisgefilden aber wird ſie ſelbſt, wenn der lange Winter in ihr einzieht, wogegen krüppelhafte Bäume nur in den tiefſten Thälern, auf den ſonnigſten Gehängen den Kampf um das Daſein wagen. Dieſes Gebiet iſt die Tundra. Es iſt ein eintöniges Bild, welches ich zu zeichnen verſuche, indem ich mich anſchicke, die Tundra zu ſchildern, ein Gemälde Grau in Grau, und dennoch nicht aller Schönheit bar; es iſt eine Einöde, um welche es ſich handelt, aber eine ſolche, in welcher trotzdem das monatelang ſchlum— mernde, gleichſam verbannte Leben zeitweilig in wunderſamer Fälle ſich regt. Unſere Sprache beſitzt keinen deckenden Ausdruck für das Wort Tundra, weil es in unſerem Vaterlande ſolches Gelände nicht gibt. Denn die Tundra iſt weder Heide noch Moor, weder Sumpf noch Bruch, weder Geeſt noch Dünenland, weder Moos noch Moraſt, an ſo vielen Stellen ſie auch an das eine oder andere dieſer Gebiete erinnern mag. „Moos— ſteppe“ hat man ſie zu nennen verſucht; der Ausdruck genügt aber nur dem, welcher den Begriff Steppe im weiteſten Sinne aufzufaſſen vermag. Meiner Anſicht nach ähnelt die Tundra am meiſten jenen Mooren, welche man auf breiten Sätteln unſerer Hochgebirge antrifft und — meidet; ſie unterſcheidet ſich in vielen und weſentlichen Stücken aber auch von dieſen verſumpften Flächen, weil ihr Gepräge in jeder Beziehung eigenartig iſt. Wenn man will, kann man ſie in Tief- und Hochtundra einteilen; die Unterſchiede zwiſchen dem Lande unter und über einhundert Meter un— 28 Die Tundra und ihre Tierwelt. bedingter Höhe ſind in der Tundra jedoch mehr ſcheinbar als wirklich vorhanden. Durch flache Wellenlinien begrenzt liegt die Tieftundra vor dem Auge; als flache Mulden ſenken die Thäler ſich ein, als flache Hügel er— weiſen ſich ſelbſt die von fern geſehen als Berge, ja förmliche Gebirge erſcheinenden Höhen, ſobald man ihrem Fuße ſich genähert hat. Flach— heit, Gleichförmigkeit, Ausdrucksloſigkeit herrſcht vor; ein gewiſſer Wechſel der Landſchaft, Abänderung einzelner ihrer Teile läßt ſich jedoch ebenſo— wenig in Abrede ſtellen. Tagelang die Tundra durchwandernd, wird man oft gefeſſelt durch niedliche, ſelbſt liebliche Kleinbilder; aber nur ſehr aus— nahmsweiſe prägt ſich ſolches Bild der Erinnerung ein, weil bei genauerer Prüfung das eine doch wiederum in allen weſentlichen Einzelheiten, durch ſeine Umgebung und Umrahmung, ſeine Umriſſe und Farben anderen, früher geſehenen allzuſehr gleicht, als daß man es feſthalten könnte. Un— geachtet ſolcher Einförmigkeit iſt jedoch das Gepräge der Tundra kein ein— heitliches und noch viel weniger ein großartiges, und ebendeshalb er— wärmt man ſich nicht an dieſem Gelände, gelangt man nicht zu jenem Hochgefühle, welches andere Landſchaften in uns wachrufen, vielleicht nicht einmal zum Vollgenuſſe der wirklichen Schönheiten, welche auch dieſer Einöde nicht abgeſprochen werden können. Ihren größten Schmuck erhält die Tundra vom Himmel, ihren größten Reiz durch das Waſſer. Ganz rein und heiter iſt der Himmel ſelten, obwohl auch hier die monatelang ununterbrochen ſcheinende Sonne heiß herabbrennen, drückend herniederſtrahlen kann auf die flachen Hügel und in die ſeichten Thäler. In der Regel blickt das Blau des Himmels— gewölbes nur an einzelnen Stellen durch lichtweiße, locker geſchichtete Wolken; dieſe aber verdichten ſich oft zu Haufenwolken, welche allmählich ringsum, auf allen Seiten des unermeßlich ſcheinenden Geſichtskreiſes auf— treten, fortwährend ſich ändern, verſchieben, neu geſtalten, entſtehen und vergehen, und deren wechſelvolle Beleuchtung dann das Auge ſo bezaubert, daß man die unter ihnen liegende Landſchaft faſt vergißt. Droht nach heißen Tagen Regen gewitterhafter Art, dunkelt der Himmel hier oder dort bis zum tiefſten Graublau, ſenken ſich dunſtſchwere Wolken unter die lichteren nieder, und ſtrahlt die Sonne doch noch rein und glänzend zwiſchen ihnen hindurch: ſo erſcheint die ſo öde, einförmige Landſchaft zauberiſch geſchmückt. Denn Licht und Schatten malen jetzt Hügelrücken und Thäler, und das ſonſt ermüdende Einerlei ihrer Farben gewinnt Wechſel und Leben. Und wenn um die Mitte der Hochſommernacht die Die Tundra und ihre Tierwelt. 29 Sonne groß und tiefrot am Himmel ſteht, wenn alle Wolken von unten her purpurn geſäumt werden, wenn Bergrücken, welche das leuchtende Geſtirn verdecken, eine auf weithin reichende, flammende Strahlenkrone tragen, wenn ein roſiger Dufthauch ſich über die braungrüne Landſchaft legt, wenn, mit einem Worte, der unbeſchreibliche Zauber der Mitternachts— ſonne die Seele umſtrickt: dann wandelt ſich dieſe Wüſte in ein wunder— reiches Gefilde, und wonnevoller Schauer erfaßt das Herz im Tief— innerſten. Wechſel und Leben bringen aber auch die Kleinodien der Tundra, zahlloſe Seen in das Gelände. Einzeln oder gruppenweiſe verteilt, neben— oder übereinander liegend, zu meilenweiten Waſſerbecken ſich ausdehnend und zu kleinen Teichen zuſammenſchrumpfend, erfüllen ſie die Mitte jedes Keſſels, ſchmücken ſie jedes Haupt-, ja faſt jedes Nebenthal, beleben ſie ſich im allerheiternden Sonnenſcheine und täuſchen ſie, ſo grau und farb— los ſie auch ſein mögen, von der Spitze eines Hügels aus geſehen, dem Auge nicht ſelten die Bläue tiefer Gebirgsſeen vor. Und wenn dann die Sonne auf ihren ſpiegelnden Wellen blitzt und flimmert, oder wenn um die Mitternachtszeit auch ſie von roſigem Hauche berührt werden, treten ſie als ſo lebendige Lichter aus dem ſie umgebenden Düſter hervor, daß das Auge gern auf ihnen weilen mag. Weit großartigere, wenn auch noch immer düſtere und eintönige Landſchaftsbilder rollt die Hochtrunda dem Blicke des Wanderers auf. Jedes wirkliche Gebirge ſchmückt ſich auch hier mit allen Reizen der Höhe. Die Berge ſteigen faſt immer ſteil empor, und die Ketten, welche ſie bilden, zeigen reich bewegte Linien; das ſchneeige Dach, welches ſie deckt, vereiſt überall, wo die Verhältniſſe es geſtatten, zu Gletſchern. Wirkliche Tundra bildet ſich nur da, wo das Waſſer nicht raſchen Abfluß findet; das ganze übrige Gelände ſcheint von dem der Tiefe ſo verſchieden zu ſein, daß nur die hier wie in der Höhe im weſentlichen gleiche Pflanzen— decke die Tundra verbürgt. Das unten in der Tiefe mit dicken Schichten abgeſtorbener Pflanzenreſte übertorfte Geröll tritt hier faſt überall zu Tage: endloſe aus rieſigen Blöcken zuſammengeſetzte Halden überlagern die Gehänge und erfüllen die Thäler; Geröll bildet den Untergrund weiter, beinah ebener Flächen, über welche der Fuß des Wanderers auch aus dem Grunde zögernd ſchreitet, als hier ſelbſt dem tiefblickenden Forſcher Rätſel aufgegeben werden hinſichtlich der Gewalten, welche die Blöcke über weite Flächen mit faſt unabänderlicher Gleichmäßigkeit verteilten. Da— zwiſchen aber ſickert und gleitet, rieſelt und flutet, ſtrömt und rauſcht, 30 Die Tundra und ihre Tierwelt. brauſt und donnert überall das Waſſer der Tiefe entgegen. Von den Gehängen herab rinnt es in tropfenden Fädchen, geſammelten Adern, murmelnden Bächlein; aus den Thoren der Gletſcher hervor bricht es in milchigen Bächen; in die Waſſerbecken ſtrömt es in trüben Flüßchen; den klärenden Seen entfließt es in kriſtallhellen Flüſſen: und wirbelnd und ſchäumend, ziſchend und tobend eilt es weiter thalabwärts, einen Sturz und Tobel an den anderen reihend, bis es die Tieftundra, einen Strom oder das Meer erreicht hat. Die Sonne aber übergießt auch dieſe ſo eigenartige Gebirgswelt, ſo oft ſie durch die Wolken bricht, mit ihren Zauberfarben, trennt und ſcheidet Berge und Thäler, beleuchtet jedes Schneefeld, bringt jeden Gletſcher, aber auch jede Schlucht zur Geltung und Wirkung, läßt jede Spitze, jeden Grat, jede Wand deutlich hervor— treten, jeden See als klares, freundlich blickendes Bergesauge ſtrahlen, legt in den Morgen- und Abendſtunden den blauen Duft der Ferne als zarten Schleier über den Hintergrund des Bildes und überflutet um Mitter— nacht mit ihren tiefſten Strahlen das Ganze, bis es förmlich aufleuchtet in roſigem Lichte. Gewiß, ſelbſt die Tundra iſt nicht aller Reize bar. An einzelnen, obſchon nur ſehr wenigen Stellen greift auch die Pflanzenwelt geſtaltend und verſchönernd ein. Fichten und Föhren blieben entweder im Süden zurück oder finden ſich nur in den geſchützteſten Thälern. Selbſt die hier und da noch auftretenden Föhren, welche aus— ſehen, als ob eine Rieſenfauſt ſie am Wipfel gepackt und ſchraubenförmig um und um gedreht habe, können in den höheren Lagen der Tundra nicht gedeihen. Auch die Birken, welche weiter vordringen als jene, kümmern und krüppeln, daß ſie greiſenhaften Zwergen gleichen. Einzig und allein die Lärche behauptet hier und da das Feld und wächſt zu wirklichen Bäumen empor; aber auch ſie kann nicht mehr als Charakterpflanze der Tundra bezeichnet werden. Als ſolche ſtellt ſich vor allen anderen die Zwergbirke dar. Sie, welche nur auf ganz beſonders günſtigem Boden Meterhöhe erreicht, herrſcht im weitaus größten Teile der Tundra ſo un— bedingt vor, daß die übrigen Sträuche und Sträuchlein nur als zwiſchen ſie eingeſprengt erſcheinen. Sie überzieht alle Strecken, auf denen ſie Wurzel faſſen kann, vom Ufer des Sees oder Fluſſes an bis zu den Gipfeln der Berge hinauf, mit einer mehr oder minder dichten Decke von ſo gleichmäßiger Höhe, daß weite Strecken ausſehen, als ob ſie oben mit einer Schere abgeſchnitten worden wären; ſie tritt nur da zurück, wo der Boden ſo vom Waſſer getränkt iſt, daß er zum Bruche, Sumpfe oder Moraſte wurde; ſie verkümmert einzig und allein da, wo fettiger, in der Die Tundra und ihre Tierwelt. Sal Sonne leicht erhärtender Lehm oder unfruchtbarer Kies die Höhen deckt; ſie ringt aber noch mit dem über alle Tiefen verbreiteten Waſſermooſe wie mit der alle Höhen deckenden Renntierflechte um die Herrſchaft. Viele Geviertkilometer neben- oder nacheinander werden ſo dicht von ihr über— ſponnen, um nicht zu ſagen überfilzt, daß nur das unvertilgliche Waſſer— moos neben, beziehentlich unter ihr ſein Anrecht auf den Boden noch zu behaupten wagt, wogegen an anderen, minder feuchten Stellen Zwerg— birke, Lorbeerweide und Rosmarinheide gemiſchte Beſtände bilden. Ebenſo miſchen ſich oft verſchiedene Beerengeſträuche, insbeſondere Moos-, Preißel-, Rauſch- und Sumpfheidelbeere ein. Wird der Boden, indem er unter die umgebenden Flächen ſich ein— ſenkt, ſehr naß, jo gelangt nach und nach das Waſſermoos zur Weber: macht, verdrängt allmählich die Zwergbirke gänzlich und bildet nun große, ſchwellende Polſter, welche infolge der raſchen Vertorfung ihrer abgeſtor— benen Wurzelteile fortwährend höher werden und ebenſo weiter ſich aus— breiten, bis endlich das Waſſer ihr ferneres Vordringen hemmt oder die Polſter zu kaupenartigen Hügeln zerreißt. Iſt die Einſenkung ſehr flach, ſo bildet das in ihr zuſammengeſtrömte Waſſer nur ausnahmsweiſe einen See oder Teich, meiſt nicht einmal einen Pfuhl, durchſickert vielmehr den Boden bis zu unbeſtimmter Tiefe und erſchafft ſo einen Moraſt, deſſen dünne, wenn auch zähe, aus den verwobenen Wurzeln des Riedgraſes be— ſtehende Decke gefahrlos nur das breithufige Ren zu beſchreiten wagen darf, obgleich ſie auch bei deſſen Schritten wie Gallerte ſchwankt und zittert oder unter den Kufen des von Renntieren gezogenen Schlittens tief ſich einſenkt. Neigt ſich die Einſattelung zu einer kurzen, nicht ausgehenden Mulde, fließt in ihr, und ſei es noch ſo langſam, ein Wäſſerchen, ſo geht ſolcher Moraſt unabänderlich in Sumpf und weiter unten in Bruch über. In erſterem gelangt das Ried, in letzterem die Wollweide, eine zweite Cha— rakterpflanze der Tundra, zu üppigem Wachstume. Obwohl nur im günſtigſten Falle Mannshöhe erreichend, bildet dieſe Pflanze doch Dickichte, welche im buchſtäblichen Sinne des Wortes undurchdringlich ſein können. Mehr noch als bei den Legföhren des Hochgebirges verſchlingen ſich ihre Aeſte und Wurzeln zu einem ſelbſt dem Auge unentwirrbaren Ganzen, welches man am richtigſten einen aus allen Beſtandteilen der Weide ver— wobenen Filz nennen möchte. Es hält den kräftigſten Arm zurück, welcher es bis zu Pfadbreite zur Seite drängen möchte, und bereitet dem Fuße ſo viele Hemmniſſe, daß auch der beharrlichſte Mann bald von dem Ver— 32 Die Tundra und ihre Tierwelt. ſuche, es zu durchdringen, abſteht und ſogar dann zurückkehrt, wenn der Boden nicht, wie gewöhnlich, Moraſt iſt oder eine kaum unterbrochene Reihe von verſumpften, ſchlammigen Lachen, deren Ergründlichkeit man ungern prüfen möchte, zwiſchen den Gebüſchen ſich einſenkt. Durchreiſt man die Tundra, ſo erkennt man, daß das ganze Gebiet in ununterbrochenem Wechſel und ewig ſich gleichbleibender Wiederholung die geſchilderten Einzelteile vor das Auge bringt. Einzig und allein da, wo ein großer, waſſerreicher Fluß die Tieftundra durchſtrömt, können die Verhältniſſe ſich ändern. Ein ſolcher Fluß lagert zeitweilig von ihm her— beigeſchleppte Sandmaſſen auf Bänken ab; der faſt beſtändig und meiſt heftig wehende Wind türmt dieſe allmählich am Ufer zu Dünen auf: und ein der Tundra fremder Boden iſt geſchaffen. Auf den Dünenhügeln erwächſt ſogar in Sibiriens Tundren die Lärche noch zu ſtattlichen Bäumen und kann dann, im Vereine mit Weiden- und Zwergerlengebüſchen zum Schmucke der Landſchaft werden. Ja, es kann ſogar geſchehen, daß ſie in der Nähe kleiner Seen zu Gruppen zuſammentritt und mit den letzt— genannten Gebüſchen Naturparke bildet, welche auch in reicheren und lebensvolleren Gegenden nicht unbeachtet bleiben würden, hier aber ſo außerordentlich wirken, daß ſie einen nachhaltigen Eindruck hinterlaſſen. Unter dem Schutze der Lärchen ſiedeln ſich überall da, wo dieſe auf Dünen wurzeln, auch andere hochſtämmige Pflanzen an; ſpitzblätterige Weiden, Ebereſchen, Faulbäume und Geißblattgebüſche z. B., und ebenſo entſprießen dem Sande mancherlei Blumen, welche man weit im Süden zurückgeblieben wähnte. Hier leuchtet dem überraſchten Südländer die rote Blütenpracht des Weiderichs entgegen; hier klammert die liebliche Heideroſe ihre dünnen Zweiglein dicht an die mütterliche Erde, ſie mit dieſen und ihren Blumen ſchmückend; hier lacht das freundliche Vergiß— meinnicht heimatlich entgegen; hier finden Nießwurz und Schnittlauch, Baldrian und Thymian, Nelke und Glockenblume, Vogelwicke und Alpen— erbſe, Hahnenfuß und Immortelle, Schaum-, Sperr-, Finger- und Blut⸗ kropfkraut und andere mehr noch eine Heimat in der Wüſte. Es gedeihen auf ſolchen Stellen viel mehr Pflanzen, als man erwarten konnte; aber freilich wird man auch beſcheiden in ſeinen Anſprüchen, wenn man tage— und wochenlang immer nur dieſelbe Armut um ſich her wahrnimmt, immer nur Zwergbirken und Wollweiden, Rosmarinheide und Riedgras, Renn— tierflechte und Waſſermoos um ſich ſieht, ſchon an verkümmerten, halb im Mooſe verſteckten, halb auf dem Boden dahinkriechenden Rauſch- und Preißelbeeren ſich erquickt und die Moltebeeren, welche die Moospolſter Die Tundra und ihre Tierwelt. 33 anmutig ſchmücken, als Blumen hinnehmen muß; wenn man tagelang über ſie hinweg, zwiſchen ihnen dahinſchreitet, immer auf Wechſel hoffend und immer ſich täuſchend. Jede bekannte Pflanze aus dem Süden erinnert an glücklichere Gegenden; man begrüßt ſie wie einen lieben Freund, deſſen Vorzüge man erſt erkannte, nachdem man fürchten gelernt, ihn zu verlieren. Das ſcheinbare Rätſel, weshalb alle die genannten und andere Wanderfalke und Lemminge. Pflanzen einzig und allein dem dürren Sande der Dünen entſprießen, iſt gelöſt, wenn man weiß, daß nur der zu Dünen gehäufte Sand von der monatelang ununterbrochen vom Himmel herabſtrahlenden Sonne ſo durch— wärmt zu werden vermag, daß jene Pflanzen überhaupt gedeihen können. In der ganzen übrigen Tundra iſt dies nicht der Fall. Moor und Sumpf, Moraſt und Bruch, ſelbſt die mehrere Meter tief mit Waſſer erfüllten Seen bilden nur eine dünne Sommerdecke des ewigen Winters, welcher in der Tundra ſeine ertötende wie erhaltende Macht offenbart. Wo man auch in die Tiefe des Bodens zu dringen ſuchen mag, überall ſtößt man, Brehm, Vom Nordpol zum Aequator. 3 34 Die Tundra und ihre Tierwelt. meiſt kaum einen Meter unter der Oberfläche der Erde, auf Eis oder doch gefrorenen Boden, und gegen hundert Meter tief ſoll man graben müſſen, bevor man die Eisrinde der Erde durchbrochen hat. Sie iſt es, welche höheren Pflanzen freudiges Gedeihen verwehrt und nur ſolchen zu leben geſtattet, welche an der dürren, im Sommer auftauenden Bodenſchicht ſich genügen laſſen. Erſt, wenn man gräbt, erkennt man die Tundra als das, was ſie iſt: als einen unermeßlichen und unwandelbaren Eiskeller, welcher ſeit Hunderttauſenden von Jahren beſtand und ebenſo lange Zeit beſtehen wird. Daß wenigſtens das erſtere nicht beſtritten werden kann, beweiſen uns die Reſte vorweltlicher Tiere, welche in ihm eingebettet und uns ſo erhalten wurden. Aus dem Eiſe der Tundra grub Adams im Jahre 1807 das rieſige Mammut, von deſſen Fleiſche die Hunde der Jakuten ſich geſättigt hatten, obgleich es vor vielen Jahrtauſenden lebte, ſeit un— beſtimmbar langer Zeit ſchon aufgehört hatte, zu ſein. Die eiſige Tundra hatte den Leichnam des Vorweltselefanten aufgenommen und durch die Jahrhunderttauſende getreulich bewahrt. Viele gleichartige und ſicherlich auch andere Tiere der Neuzeit hat ſie in ihrem Eiſe eingebettet. Auch ſie iſt nicht im ſtande geweſen, eine reichere Tierwelt zu ernähren, als ſie ſolche gegenwärtig beherbergt. Wiſent und Moſchusochſe durchzogen ſie in allen ihren Teilen noch lange nach der Zeit des Mammut; Rieſenhirſch und Elentier haben einſt ihr angehört. Heutzutage iſt ihre Tierwelt ebenſo arm, ebenſo eintönig wie ihre Pflanzenwelt, wie ſie ſelbſt. Doch gilt dies nur hinſichtlich der Arten, nicht aber der Einzelweſen. Denn auch ſie iſt, mindeſtens im Sommer, die Heimat zahlreicher Tiere. Erſt ſpät im Jahre bevölkert ſich die Tundra in erſichtlicher Weiſe. Von denjenigen Tierarten, welche ſie auch im Winter nicht verlaſſen, nimmt man um dieſe Zeit wenig wahr. Die aus dem Meere in ihre Flüſſe aufſteigenden Fiſche deckt das Eis, die in ihr überwinternden Säuge— tiere und Vögel verbirgt der Schnee, unter welchem ſie leben oder deſſen Färbung ſie tragen. Nicht früher, als er auf den ſüdlichen Gehängen zu ſchmelzen beginnt, regt ſich das tieriſche Leben. Zögernd nur halten die Sommergäſte ihren Einzug. Dem wilden Ren folgt der Wolf, den treibenden Schollen auf den Strömen das Heer der Sommervögel. Einzelne von dieſen verweilen auch jetzt noch unentſchieden in ſüdlicher gelegenen Gegenden, gebaren ſich, als ob ſie brüten wollten, verſchwinden plötzlich aus der Herberge am Wege, fliegen eilfertig der Tundra zu, erbauen unmittelbar nach ihrer Ankunft ihr Neſt, legen ihre Eier und brüten eifrig, als wollten ſie die Zeit einholen, welche ihre in ſüdlicheren Geländen Die Tundra und ihre Tierwelt. 35 — lebenden und brütenden Artgenoſſen vor ihnen voraus haben. In wenige Wochen drängt ſich ihr Sommerleben zuſammen. Treuinnig vereint, ge— paart für das ganze Leben oder doch den einen Sommer, kommen ſie an; das Herz erregt durch die allmächtige Liebe, ſingend oder doch jubelnd ſchreiten fie zum Neſtbaue; unabläſſig geben fie ſich ihren Elternpflichten hin, erbrüten, erziehen, unterrichten die Jungen, mauſern und wandern wieder in die Fremde hinaus. Die Anzahl der Arten, welche die Tundra als ihre Heimat anſehen müſſen, iſt gering, noch weit mehr aber die derjenigen, welche wir als Charaktertiere des Gebietes bezeichnen dürfen. Als ein ſolches möchte ich zuerſt den Eisfuchs angeſehen wiſſen. Ihn beherbergt die Tundra, ſo weit ſie ſich erſtreckt; ihm gewährt ſie mindeſtens im Süden neben unſerem Fuchſe und anderen Arten ſeiner Sippſchaft Unterhalt und Nahrung; er trägt auch ihre Farben: im Sommer ein Felſen-, im Winter ein Schnee— kleid: denn felſengrau oder graulichblau entſprießen die Haare ſeines überaus dichten Felles, und ſchneeweiß färben ſie ſich im Winter. Schlecht und recht nach anderer Füchſe Art ſchlägt er ſich durchs Leben, und doch iſt ſein Weſen und Gebaren gänzlich verſchieden von dem Auftreten und Treiben unſeres Reineke und ſeiner ihm ebenbürtigen Verwandtſchaft. Ihm thut man ſchwerlich unrecht, wenn man ihn als ausgeartetes Mit— glied einer ausgezeichneten, ungewöhnlich veranlagten, geiſt- und erfindungs— reichen Familie bezeichnet. Von der findigen Klugheit, berechnenden Liſt und nie verſagenden Geiſtesgegenwart ſeiner Sippſchaft bethätigt er kaum die Anfänge. Plumpdreiſt iſt ſein Auftreten, zudringlich ſein Weſen, un— klug ſein Gebaren. Als frecher Bettler, als unverſchämter Strolch, nicht aber als liſtiger, alle Umſtände wohl erwägender und alle ihm irgendwie möglichen Hilfsmittel nutzender Dieb oder Räuber tritt er auf. Unbeſorgt ſchaut er dem Jäger in das Feuerrohr; ungewarnt durch die ihm geltende, dicht über ſeinem Leibe dahinſauſende Kugel folgt er ſeinem furchtbarſten Feinde; unbedenklich dringt er in das Innere der Birkenrindenhütte des wandernden Renntierhirten; ſorgenlos naht er ſich des nachts dem im Freien ſchlafenden Menſchen, um von dieſem erbeutetes Wild zu ſtehlen oder ſinnlos nach einem entblößten Gliede desſelben zu ſchnappen. Mir ſelbſt iſt begegnet, daß ein Eisfuchs, nach welchem ich in der Dämmerung mehrere Male vergeblich ſchoß, wie ein Hund meinen Schritten folgte; mein alter Jagdfreund, Erik Swenſon vom Dovrefjelde, mußte erfahren, daß ihm ein ſolcher nachts die Wilddecke, auf welcher er ruhte, anfraß; und der alte Steller berichtet wahrheitsgetreu noch von ganz anderen 36 Die Tundra und ihre Tierwelt. Streichen des Tieres, von Streichen, welche jedermann für unmöglich erklären würde, wären ſie nicht durch übereinſtimmende Beobachtungen hinlänglich verbürgt. Wohl mag ungenügende Kenntnis des in der Tundra nur ſpärlich auftretenden Menſchen eine weſentliche Urſache des wunder— ſamen Gebarens dieſes Fuchſes ſein; der alleinige Grund aber iſt jene Unkenntnis nicht. Denn weder der Rotfuchs noch irgend ein anderes Säugetier der Tundra benimmt ſich ſo unklug wie jener; nicht einmal der Lemming kommt ihm in dieſer Beziehung gleich. Ein abſonderlicher Geſell iſt allerdings auch dieſer Bewohner unſeres Gebietes, gleichviel, um welche Art ſeiner Sippſchaft es ſich handeln mag. Ihn oder wenigſtens ſeine Spuren gewahrt man überall in der Tundra. Kreuz und quer durchziehen dieſe, zumal die von der Zwergbirke über— wucherten Stellen, ſchmale, in das Moos eingetretene, glatt und ſauber gehaltene Pfädchen, oft mehrere hundert Meter weit ſo ziemlich eine und dieſelbe Richtung verfolgend, oft nach rechts und links abſchweifend und erſt nach vielen Umwegen wieder zur Hauptſtraße zurückkehrend. In ihnen ſieht man von Zeit zu Zeit, in trockenen Sommern maſſenhaft, ein kleines, kurzſchwänziges, hamſterähnliches Tierchen behend dahinhuſchen und meiſt bald dem Auge entſchwinden. Dies iſt der Lemming, eine Wühlmaus von weniger als Ratten-, aber mehr als Mausgröße und buntem, aber unregelmäßig gezeichnetem, meiſt braunem, gelbem, grauem und ſchwarzem Felle. Zergliedert man das Tierchen, ſo bemerkt man nicht ohne Ver— wunderung, daß es ſozuſagen faſt ganz aus Fell und Eingeweiden beſteht. Seine Knochen und ſeine Muskeln ſind fein und zart, ſeine Eingeweide, zumal Verdauungs- und Fortpflanzungswerkzeuge, ungeheuerlich entwickelt. Aus dieſem Befund erklären ſich Lebenserſcheinungen, welche lange Zeit für rätſelhaft gegolten haben: faſt plötzliche und gleichſam unbegrenzte Vermehrung und großartige, anſcheinend geregelte Wanderungen des Tieres. Unter gewöhnlichen Verhältniſſen führt der Lemming ein ſehr behagliches Leben. Weder im Sommer noch im Winter leidet er an Nahrungsſorgen. Allerlei Pflanzenſtoffe, im Winter Moosſpitzen, Flechten und Rinde, bilden ſeine Nahrung, Höhlungen im Sommer, ein warmes, dickwandiges, weich ausgefüttertes Neſt mitten im Schnee im Winter ſeine Wohnung. Zwar dräuen von allen Seiten Gefahren: denn nicht allein die behaarten und gefiederten Räuber, ſondern ſogar die Renntiere verſchlingen Hunderte und Tauſende ſeines Geſchlechtes; dieſes aber mehrt ſich deſſenungeachtet ſtetig und erheblich, bis beſondere Umſtände eintreten und binnen weniger Wochen entſtandene Milliarden in wenigen Tagen vernichten. Zeitiger als gewöhn— Die Tundra und ihre Tierwelt. 37 lich erſcheint ein Frühling, und trockener als üblich herrſcht ein Sommer in der Tundra. Alle Jungen des erſten Wurfes ſämtlicher Lemmingweibchen gedeihen, um höchſtens ſechs Wochen ſpäter ſelbſt ihre Art zu vermehren. Die Eltern haben inzwiſchen ein zweites, drittes Geſchlecht geboren, und auch dieſes folgt ihrem Beiſpiele. Binnen drei Monaten wimmeln Höhen und Tiefen der Tundra ebenſo von Lemmingen, wie unter ähnlichen Um— ſtänden unſere Felder von Mäuſen. Wohin man ſich wendet, gewahrt man die geſchäftigen Tiere; Dutzende von ihnen erfaßt man mit einem einzigen Blicke, Tauſenden begegnet man im Laufe einer Stunde. Auf allen Pfädchen und Wegen rennen ſie dahin; in die Enge getrieben, ſetzen ſie ſich, belfernd, die Zähne wetzend, ſelbſt dem Menſchen gegenüber zur Wehre, gerade als ob ihre unendliche Anzahl jedem einzelnen trotzigen Uebermut verliehen habe. Aber die unendliche, noch immer ſich ſteigernde Menge wird ihnen zum Verderben. Ihrem gefräßigen Zahne bietet die arme Tundra bald nicht genügende Beſchäftigung mehr. Hungersnot nähert ſich, tritt vielleicht wirklich ein. Da rotten ſich die geängſtigten Tiere zu— ſammen und beginnen zu wandern. Zu Hunderten ſcharen ſich andere Hunderte, Tauſenden geſellen ſich andere Tauſende: die Trupps wachſen zu Haufen, die Haufen zu Heeren an. In beſtimmter Richtung ziehen dieſe dahin, erſt wohl ihren früher ausgetretenen Pfädchen folgend, ſpäter neue bahnend; in unabſehbaren, jeder Schätzung ſpottenden Reihen eilen ſie weiter; über die Felſen ſtürzen ſie ſich hinab in die Gewäſſer hinein. Tauſende erliegen dem Mangel, dem Hunger; über ihre Leichen hinweg ſtrömt das Heer der Nachzügler; Hunderttauſende ertrinken in den Ge— wäſſern, zerſchellen am Fuße der Felſen; die übrigen ſtürmen über ſie hinweg; andere Hunderte und Tauſende finden in dem Magen der ihnen folgenden Eis- und Rotfüchſe, Wölfe und Vielfraße, Rauchfußbuſſarde und Raben, Eulen und Raubmöwen ihr Grab: die übrigen laſſen ſich nicht beirren. Wohin dieſe wandern, wie ſie enden, vermag niemand zu ſagen; wohl aber weiß man, daß hinter ihnen die Tundra wie ausgeſtorben er— ſcheint, daß oft eine Reihe von Jahren vergeht, bevor die wenigen, welche zurückblieben und auch fernerhin gediehen, langſam ſich vermehrend, wiederum erſichtlich ihr heimatliches Gefilde bevölkern. Ein drittes Charaktertier der Tundra iſt das Ren. Wer dieſen an und für ſich unſchönen Hirſch nur in gefangenem Zuſtande, dem der Sklaverei, zu ſehen bekam, vermag ſich allerdings keinen Begriff zu machen von dem, was er iſt in ſeiner Freiheit. Hier lernt man das Ren ſchätzen, hier, in der Tundra, als ein Glied ſeiner Familie, welches dieſe nicht ſchändet, 38 Die Tundra und ihre Tierwelt. erkennen und würdigen. Der Tundra gehört es an mit Leib und Seele. Ueber die oft unabſehbaren Gletſcher, wie über die ſchlotternde Decke der unergründlichen Moräſte, über die Geröllhalden, wie über die verfilzten Wipfel der Zwergbirken oder durch die Moospolſter hinweg, über die Flüſſe, die Seen trägt oder rudert es ſein breithufiger, ſchaufelartiger, in unge— wöhnlicher Weiſe beweglicher, bei jedem Schritte kniſternder Fuß; im tiefſten Schnee ſchaufelt derſelbe ihm Nahrung bloß. Gegen die grimmige Kälte der langen Nordlandnacht ſchützt es ſein dichtes, den Pfeilen des Winters undurchdringliches Fell, gegen die Leiden des Hungers ſeine Wahlloſigkeit hinſichtlich der Nahrung, welche es genießt, gegen den Wolf, welcher un— unterbrochen an ſeinen Ferſen hängt, bis zu einem gewiſſen Grade wenig— ſtens Sinnesſchärfe und Wachſamkeit, Schnelligkeit und Ausdauer. Den Sommer verlebt es in den reinen Höhen der Hochtundra, da, wo auf den Halden in unmittelbarer Nähe der Gletſcher dem von der Renntierflechte oft auf weithin überſponnenen Boden auch ſaftige, leckere Alpenpflanzen entſprießen; im Winter zieht es in der Tieftundra von einem Hügelzuge zum anderen, die vom Winde bloßgelegten, ſchneearmen Stellen aufſuchend. Kurz vorher hat es mit dem vereckten Geweih ſeine volle Kraft erlangt, iſt im Vollgeſühle derſelben auf die Brunſt getreten und hat mit gleich— ſtarken und gleichgeſinnten Nebenbuhlern gekämpft auf Tod und Leben, gekämpft, daß vom Schalle der gegeneinander geſtoßenen Geweihe die ſtille Tundra widerhallte; jetzt zieht es, ermattet von Kampf und Liebes— rauſch, mit anderen ſeiner Art friedlich geſellt und zu ſtarken Rudeln vereinigt, durch ſein Gebiet, um den Kampf mit dem Winter zu beſtehen. Wohl ſteht das Ren an Schönheit und Adel weit hinter dem Hirſche zu— rück: wer es aber, unbedrängt durch Sklavenfeſſeln, in ſtarken geſchloſſenen Rudeln, die Hochberge ſchmückend, vom blauen Himmel oder der weißen Schneedecke wirkungsvoll abſtechend, in der heimatlichen Tundra ſieht, bekennt gern, daß es ebenfalls zu den ſtolzen Wildarten zählt und ein Weidmanns— herz ſchneller ſchlagen laſſen kann, als dasſelbe jemals vermuten mochte. Für die Tundra bezeichnende Erſcheinungen bietet aber auch die Klaſſe der Vögel. Wer die nordiſche Wüſte durchzogen hat, iſt wenigſtens einem von ihnen begegnet, dem Schneehuhne: „Im Sommer bunt vom Kopf zur Zeh', Im Winter weißer als der Schnee.“ Es iſt nicht das Schneehuhn unſerer Hochgebirge, welches ich meine, ſondern das neben ihm, dem auch hier auf den Gletſchergürtel beſchränkten Hochtundra. Die Tundra und ihre Tierwelt. 39 Gebirgsvogel vorkommende, aber ungleich häufigere Moorhuhn. Wo die Zwergbirke gedeiht, iſt es zu finden, und immer, namentlich aber, wenn die Nachtruhe eintritt in der Tundra, ob auch die Sonne vom Himmel ſtrahle, läßt es ſich ſehen. Niemals verläßt es ſeine Heimat gänzlich; höchſtens aus der Hochtundra, aber nur bis in die Tiefe hinab, drängt es der Winter. Munter und regſam, keck und ſelbſtbewußt, eiferſüchtig und ſtreitluſtig dem Nebenbuhler, zärtlich und hingebend der Gattin, den Kindern gegenüber tritt es auf. Sein Leben ähnelt dem unſeres Reb— huhnes; ſein Weſen und Gebaren wirkt jedoch ungleich höheren Reiz. Es verkörpert das Leben in der Oede. Sein herausfordernder Ruf durch— hallt die ſtille Sommernacht; ſeine Ketten beleben die von faſt allen übrigen Vögeln gemiedene winterliche Tundra; ſein Erſcheinen erfreut und entzückt den Forſcher wie den Weidmann. Während des Sommers geſellt ſich ihm faſt allerorten der Gol d— regenpfeifer. Auch er muß als getreues Kind der Tundra bezeichnet werden. Wie der behende Läufer zur Wüſte, wie das Flughuhn zur Steppe, das Steinhuhn zum Hochgebirge, die Lerche zum Getreidefelde, gehört er zur Tundra. Sein Kleid trägt, ſo bunt es auch erſcheinen mag, der Tundra Farben; ſein ſchwermütiger Ruf iſt der geeignetſte Stimmlaut dieſer Einöde. So gern man ihn bei uns zu Lande ſieht, ſo wenig freundlich begrüßt man ihn in der Tundra. Sein Ruf, welchen man bei Tage wie bei Nacht vernimmt, ſtimmt traurig wie ſie. Weit lieber lauſcht man den Stimmlauten eines anderen Sommer— gaſtes des Gebietes. Nicht die zarten Weiſen des Blaukehlchens, welches gerade hier zu den häufigſten Brutvögeln zählt und mit Recht der „hundert— züngige Sänger“ genannt wird, nicht die ſchallenden Lieder der bis zur Tundra vordringenden Wacholderdroſſel, nicht die kurzen Geſänge des Schnee- oder Sporenammers, nicht die gellenden Schreie des Wanderfalken oder Rauchfußbuſſards, nicht das jauchzende Bellen des Seeadlers oder das ähnliche Geſchrei der Schneeeule, nicht der ſchmetternde Trompetenlaut des Singſchwanes oder der klagende Hornton der Eisente ſind es, welche ich meine, ſondern der Paarungs- und Liebesruf des einen oder anderen Seetauchers: eine wilde, ungeregelte und gleichſam zügelloſe, aber dennoch klang- und tonreiche, hallende und ſchallende Nordlandsmelodie, vergleichbar dem tönenden Brauſen der Brandung, dem donnernden Rau— ſchen der zur Tiefe ſtürzenden Waſſerfälle. Wo immer ein fiſchreicher See ſich breitet und in ihm ein heimliches Plätzchen im Riede, dicht genug, um ein ſchwimmendes Neſt zu verſtecken, gefunden werden mag, wird man 40 Die Tundra und ihre Tierwelt. ihnen begegnen, dieſen Kindern der Tundra und des Meeres, diefen ernit- fröhlichen Fiſchern der ſtillen Süßgewäſſer und furchtloſen Tauchern der Meere des Nordens. Von letzteren kamen ſie herein in die Tundra, um zu brüten, und zu den Meeren führen ſie ihre Jungen, ſobald dieſe im ſtande ſind, das Meer zu beherrſchen wie ſie. Soweit die Tundra ſich erſtreckt, folgen ſie deren Gewäſſern; lieber noch aber als die weiten Binnenſeen ſind ihnen die kleinen Teiche auf den Küſtenbergen der Tundra, von denen aus ſie alltäglich unter wildjauchzendem Meeresgeſange hinab— ſtürzen können in die wogende, ihnen Nahrung ſpendende, heimiſche See. Dem Meere entſtammen auch noch andere Charaktervögel der Tundra. Mit wahrem Wohlgefallen folgt das Auge allen Bewegungen der Schma— rotzermöwe, mit Entzücken denen des Waſſertreters. Beide brüten ebenfalls in der Tundra: die eine auf freien mooſigen Mooren, der andere am Uferrande der heimlichſten, zwiſchen der Wollweide verborgenen Teiche und Lachen. Wenn man andere Möwen als die „Raben des Meeres“ bezeichnen will, darf man die Schmarotzermöwen „Falken der See“ be— nennen. Mit Fug und Recht führen fie die Namen „Raub-“ und „Schma⸗ rotzermöwen“; denn als tüchtige Räuber treten ſie auf, wenn ſie nicht ſchmarotzen können, und zu Schmarotzern werden ſie, wenn eigene Jagd ihnen keine Beute bringt. Falken gleich durchfliegen ſie im Sommer die Tundra, im Winter die Küſtengebiete der nordiſchen Meere; rüttelnd ſtellen ſie ſich über dem Boden wie über dem Waſſer auf, um Beute aufzufinden; gewandt und zierlich ſtoßen ſie herab, um ſie aufzunehmen, und behend und ſicher packen ſie das ins Auge gefaßte Opfer: aber dieſe ſo tüchtigen Räuber nehmen keinen Anſtand, unter Umſtänden frech zu betteln. Wehe der Möwe, dem Seevogel überhaupt, welcher angeſichts einer Schmarotzer— möwe Beute erhob! Pfeilſchnell jagt dieſe unter bellenden Rufen hinter dem glücklichen Räuber einher, wie ſpielend umgaukelt ſie ihn von allen Seiten, liſtig vereitelt ſie verſuchte Flucht, mutig bekämpft ſie jede Ab— wehr und unermüdlich, unabläſſig quält und peinigt fie ihn, bis er die gewonnene Beute ihr zuwirft, ſollte er eine ſolche auch wiederum aus ſeinem Schlunde hervorwürgen müſſen. Ihr Weſen und Treiben, ihre Gewandtheit und Behendigkeit, Kühnheit und Dreiſtigkeit, unermüdliche Wachſamkeit und unabwendbare Zudringlichkeit feſſeln ungemein; ſelbſt ihre Bettelei will Entſchuldigung finden: ſo anmutend iſt ihr Auftreten. Und doch iſt der Waſſertreter noch anziehender als ſie. Er iſt ein Strand— vogel, welcher die Eigenſchaften ſeiner Ordnung und die der Schwimm— vögel in ſich vereinigt und teils auf dem Lande, teils im Waſſer, ſelbſt Die Tundra und ihre Tierwelt. 41 im Meere lebt. Leicht und gefällig, an Zierlichkeit der Bewegung jeden anderen Schwimmvogel übertreffend, ſchwimmt er über die Wellen; eil— fertig und hurtig läuft er längs des Ufers dahin; mit der Schnelligkeit einer Sumpfſchnepfe ſtreicht er im Zickzackfluge durch die Luft. Vertrauens— voll und harmlos läßt er ſich in nächſter Nähe beobachten; ängſtlich be— ſorgt um ſeine Brut, verrät er meiſt ſelbſt ſein Neſt mit den vier birn— Schmarotzermöwen, Waſſertreter und Goldregenpfeifer. , förmigen Eiern, ſo ſorgſam er dieſes auch im Uferriede zu verſtecken pflegt. Vielleicht darf man ihn die anmutigſte Erſcheinung unter allen Vögeln der Tundra nennen. Bezeichnend für die Tundra ſind ferner die Raubvögel, bezeichnend mindeſtens die Art und Weiſe, wie ſie hier leben. Denn nur am ſüd— lichen Rande des Gebietes oder aber in der Hochtundra finden ſie Bäume oder Felſen, auf denen ſie ihren Horſt errichten können, müſſen ſich daher wohl oder übel entſchließen, auf dem Boden zu brüten. Zwiſchen dem rankenden Geäſt der Zwergbirken ſteht der Horſt der Sumpfeule, auf den „ 42 Die Tundra und ihre Tierwelt. Kronen ſelbſt der des Rauchfußbuſſards; auf dem nackten Boden liegen die Eier der Schneeeule wie des Wanderfalken, nur daß letzterer ſo viel als möglich wenigſtens den Rand einer Schlucht zum Niſtplatze wählt, faſt, als wolle er ſich ſelbſt täuſchen, indem er vergeblich ſtrebt, die ihm fehlende Höhe zu erſetzen. Daß ihm und ihnen allen die Unſicherheit des Horſtſtandes wohlbewußt iſt, beweiſen ſie durch ihr Gebaren angeſichts eines der Brut nahenden Menſchen. Von fern ſchon wird der Wanderer mit Mißtrauen beobachtet und mit lautem Geſchrei begrüßt; je näher er kommt, um ſo mehr ſteigert ſich die Angſt der beſorgten Eltern. Bisher kreiſten ſie in doppelter Schußweite über dem ſo ſelten ſich zeigenden, ge— fährlichen Feinde; jetzt aber ſtoßen ſie mutig auf ihn hernieder, fliegen ſo dicht an dem Haupte desſelben vorüber, daß man das ſcharfe Sauſen ihrer Schwingen deutlich vernimmt, zuweilen ſogar fürchten muß, that— ſächlich angegriffen zu werden. Die Jungen aber, ſchon von weitem als weiße Ballen erſichtlich, ducken ſich ängſtlich nieder und verharren bei An— näherung des, wenn nicht erkannten, ſo doch geahnten Feindes ſo regungs— los in der gewählten oder ſonſtwie, vielleicht durch Umfallen angenommenen Stellung, daß man ſie zeichnen kann, ohne fürchten zu müſſen, ſie würden durch eine einzige Bewegung ſtören: — ein reizendes Bild! Manche Tiere noch könnte ich aufzählen, erſchienen ſie mir not— wendig zur Kennzeichnung der Tundra. Bezeichnend für letztere iſt aber eines: die Mücke. Wer ſie als das bedeutſamſte aller Lebeweſen der Tundra betrachtet, dürfte kaum des Irrtums geziehen werden können. Sie ermöglicht nicht wenigen höheren Tieren, insbeſondere Vögeln und Fiſchen, zu leben; ſie zwingt andere wie den Menſchen, zeitweilig zu wandern; ſie iſt die alleinige Urſache, daß die Tundra im Sommer für geſittete Menſchen unbewohnbar wird. Ihr Auftreten überſteigt alle Be: griffe; ihre Macht beſiegt Menſch und Tier; die durch ſie verurſachte Qual ſpottet jeder Beſchreibung. Es iſt bekannt, daß die Eier aller Stechmücken in das Waſſer ge— legt werden, und daß die binnen weniger Tage jenen entkriechenden Larven bis zu ihrer Umwandlung im Waſſer leben. Hieraus erklärt ſich, daß die Tundra mehr als jedes andere Gebiet ihre Entwickelung, ihr maſſen— haftes Auftreten begünſtigt. Sobald die wiederum aufſteigende Sonne Schnee, Eis und die oberſte Kruſte der Erde ab- und aufgetaut hat, regt ſich das im Winter wohl gebundene, nicht aber vernichtete Leben der Mücken. Den im vereiſten Schlamme bewahrten, nicht aber zerſtörten Eiern entſchlüpfen Larven; ſie wandeln ſich binnen weniger Tage zu Die Tundra und ihre Tierwelt. 43 Puppen, die Puppen zu geflügelten Kerfen, und Geſchlechter folgen in kürzeſten Friſten Geſchlechtern. Noch vor der Hochſonnenwende beginnt, und bis zur Mitte des Auguſt währt die Schwarmzeit der fürchterlichen Tiere. Während dieſer ganzen Zeit ſind ſie zur Stelle, vorhanden in der Höhe wie in der Tiefe, auf den Bergen oder Hügeln wie in den Thälern, zwiſchen dem Zwergbirken- oder Wollweidengeſtrüpp wie an den Ufern der Flüſſe oder Seen. Jeder Grasſtengel, jeder Mooshalm, jeder Zweig, jeder Aſt, jedes Blättchen entſendet zu jeder Tageszeit Hunderte, Tauſende von ihnen. Die Stechmücken oder Moskitos der Gleicherländer, der Ur— waldungen und Sümpfe Südamerikas, Mittelafrikas, Indiens, der Sunda— inſeln, gefürchtet von allen Reiſenden, aber nicht ſchlimmer als unſere Tiere, ſchwärmen nur bei Nacht: die Mücken der Tundra fliegen zehn Wochen lang, und ſechs Wochen hindurch thatſächlich ſo gut als ununter— brochen. Sie bilden Schwärme, welche ausſehen wie dichter, ſchwärzlicher Rauch; ſie hüllen jedes Geſchöpf, welches ſich in ihr Bereich wagt, in Nebel ein; ſie erfüllen die Luft in ſolcher Menge, daß man kaum zu atmen wagt; ſie vereiteln jede Anſtrengung, ſie zu vertreiben; ſie wandeln den thatkräftigſten Mann zum willenloſen Schwächling, den Grimm desſelben zur Furcht, den ihnen geltenden Fluch zur ſtöhnenden Klage. Sobald man die Tundra betritt, tönt einem ihr Summen entgegen, vergleichbar bald dem Singen des Theekeſſels, bald wiederum dem Klingen eines ſchwingenden Metallſtäbchens, und wenige Augenblicke ſpäter iſt man umringt von Tauſenden und Abertauſenden. Ein von ihnen gebildeter oder aus ihnen beſtehender Strahlenkranz umſchwärmt Haupt und Schultern, Leib und Glieder, folgt, ſo ſchnell man ſich auch bewege, und iſt durch kein Mittel zu vertreiben. Bleibt man ſtehen, ſo verdichtet er ſich; geht man fürder, ſo zieht er ſich in die Länge; läuft man, ſo ſchnell man vermag, ſo dehnt er ſich zu einer langen Schleppe aus, ohne jedoch zu— rückzubleiben. Weht einem mäßiger Wind entgegen, ſo beſchleunigt er ſeinen Flug, um die Luftſtrömung zu überwinden; verſtärkt ſich der Wind, ſo ſtrengen ſich alle Glieder ſolchen Schwarmes aufs äußerſte an, um ihr Blutopfer ja nicht zu verlieren, und prallen dann wie prickelnde Hagel— körner an Haupt und Nacken. Ehe man noch ahnt, iſt man bedeckt vom Wirbel bis zur Sohle, bedeckt mit Mücken. In dichtem Gedränge, graue Kleider ſchwärzend, dunkle in eigenartiger Weiſe fleckend, ſetzen ſie ſich feſt, laufen langſam auf ihnen hin und wider und ſuchen nach einer nicht übermachten Stelle, um Blut zu ſaugen. Zu dem unbeſchützten Ge— ſichte, dem Halſe und Nacken, den bloßen Händen oder nur überſtrumpften 44 Die Tundra und ihre Tierwelt. Füßen find fie lautlos gekrochen, ohne daß man es fühlte, und einen Augenblick ſpäter ſenken ſie langſam ihren Stachel in die Tiefe der Haut und flößen den brennenden Gifttropfen in die Wunde. Ergrimmt ſchlägt man den Blutſauger zu Brei; aber während die ſtrafende Hand ſich be— wegt, ſitzen bereits drei, vier, zehn andere Mücken auf ihr, im Geſichte, im Nacken, an den Füßen, um ebenſo zu thun, wie die erſchlagenen thaten. Denn wenn einmal Blut gefloſſen, wenn auf einer und derſelben Stelle bereits mehrere Mücken ihren Tod gefunden, ſuchen alle übrigen gerade dieſe Stelle mit Vorliebe auf, und ob das Blachfeld nach und nach mit Tauſenden von Leichnamen ſich decke. Beſonders beliebte Angriffsſtellen ſind die Schläfen, die Stirn dicht unter dem Hutrande, der Nacken und die Handbeuge, überhaupt ſolche Stellen, auf denen ſie gegen Abwehr möglichſt geſchützt ſind. Gewinnt man es über ſich, ſie bei ihrer Blutarbeit zu beobachten, alſo nicht zu vertreiben, noch zu ſtören, ſo bemerkt man zunächſt, daß man weder ihr Aufſitzen, noch ihre Bewegungen zu fühlen vermag. Un— mittelbar nachdem ſie ſich geſetzt haben, beginnen ſie ihre Arbeit. Ge— mächlich laufen ſie auf der Haut dahin, ſorgfältig taſten ſie mit ihrem Rüſſel; plötzlich halten ſie ſtill, und mit überraſchender Leichtigkeit durch— bohren ſie die Haut. Während ſie ſaugen, heben ſie wohlgefällig, förmlich wohllüſtig, ein oder das andere Hinterbein und bewegen es langſam hin und her, um ſo entſchiedener, je mehr ihr glasheller Leib mit Blut ſich füllt. Sobald ſie einmal Blut gekoſtet haben, achten ſie auf nichts weiter, ſcheinen es auch kaum zu empfinden, wenn man ſie beläſtigt oder quält. Zieht man mit Hilfe einer feinen Greifzange den Rüſſel aus der Wunde, ſo taſten ſie einen Augenblick lang und bohren ihn an der alten oder an einer zweiten Stelle wieder ein; ſchneidet man den Rüſſel raſch mit einer ſcharfen Schere ab, ſo bleiben ſie in der Regel auch jetzt noch ſitzen, als ob ſie ſich beſinnen müßten, laſſen hierauf die vorderen Beine taſtend über den Rüſſelſtummel gleiten und bedürfen längerer Unterſuchungen, um ſich zu vergewiſſern, daß das Glied nicht mehr vorhanden iſt; ſchneidet man ihnen jählings ein Hinterbein ab, ſo ſaugen ſie fort, als ob nichts ge— ſchehen wäre, bewegen auch noch den Stummel; trägt man ihnen den blutgefüllten Hinterleib zur Hälfte ab, ſo verfahren ſie wie Münchhauſens Pferd am Brunnen, ziehen endlich aber doch den Rüſſel aus der Wunde, fliegen taumelnd davon und verenden binnen weniger Minuten. Sorgfältige Beobachtung ihres Thun und Treibens ſtellt als un— zweifelhaft feſt, daß ſie beim Auffinden ihres Opfers weniger durch das Die Tundra und ihre Tiermelt. 45 Geſicht, als durch den Geruch, richtiger vielleicht einen Sinn, welcher Ge— ruch und Empfindung in ſich vereinigt, geleitet und geführt werden. Mit Beſtimmtheit kann man wahrnehmen, daß ſie bei Annäherung eines Men— ſchen bis auf fünf Meter von ihren Ruheſitzen ſich erheben und ſodann, ohne zu zaudern oder zu irren, auf das Blutopfer zufliegen. Geht man über eine kahle Sandbank, welche von ihnen frei zu ſein pflegt, ſo kann man beobachten, wie ſie ſich um ihr Opfer ſammeln. Anſcheinend halb vom Winde getragen, halb mit eigener Kraft ſich bewegend, jedenfalls ziellos wandernd, ſchweben auch über ſolchem Gnadenorte beſtändig einige von ihnen dahin, und einzelne gelangen ſo in die Nähe des Beobachters. In demſelben Augenblicke endet ihre ſcheinbare Unthätigkeit. Jählings ändern ſie die Richtung ihres Fluges, und geradenwegs ſtürmen ſie auf den glücklich erkundeten Gegenſtand ihres Sehnens zu. Eine geſellt ſich zur anderen, und ehe fünf Minuten vergehen, umgibt wiederum ein Strahlenkranz den Märtyrer. Minder leicht finden fie ſich in verſchiedenen Luftſchichten zurecht. Als ich, auf hochgelegener Düne beobachtend, län— gere Zeit von Tauſenden verfolgt und gequält worden war, zog ich den mich einhüllenden Schwarm allmählich bis zu dem Rande des ſteilen Ab— hanges der Düne, ließ ihn hier ſich verdichten und ſprang plötzlich in die Tiefe hinab. Mit innigſter Befriedigung erfuhr ich, daß ich meine Quäl— geiſter wenigſtens zum größten Teile abgeſchüttelt hatte. Aber auf der Höhe der Düne ſchwärmten ſie, gleichſam verdutzt, durcheinander, über der Stelle, von welcher ich herabgeſprungen, noch längere Zeit eine dichte Wolke bildend. Einige Hunderte waren mir jedoch auch in die Tiefe gefolgt. Wenn der Naturforſcher auch weiß, daß nur die weiblichen Mücken Blut ſaugen, und daß dieſe ihre Thätigkeit unzweifelhaft mit der Fort— pflanzung zuſammenhängt, wahrſcheinlich die Reife der befruchteten Eier bedingt, überwältigt die durch die Dämonen der Tundra verurſachte Qual ſchließlich doch auch ihn, und wäre er der gleichmütigſte Weltweiſe unter der Sonne. Es iſt nicht der Schmerz, welcher die Stiche und mehr noch die ihnen folgenden Beulen mit ſich bringen, ſondern die fortwährende Beläſtigung, das ewig ſich wiederholende Ungemach, wodurch und worunter man leidet. Man erträgt den Schmerz, welchen die Stiche der Mücken bereiten, vielleicht, ohne zu klagen, ſelbſt im Anfange der Plage, erträgt ihn noch leichter ſpäter, wenn die Haut gegen das ihr fort und fort ein— geträufelte Gift allmählich abgeſtumpft wird; man iſt daher auch im ſtande, geraume Zeit Widerſtand zu leiſten; aber man muß zuletzt doch einge— ſtehen, daß man beſiegt und geſchlagen wurde durch die entſetzlichen Quäl— 46 Die Tundra und ihre Tierwelt. geiſter der Tundra. Und jo lähmen ihre an Zahl unſchätzbaren, allgegen- wärtigen, jederzeit kampffertigen Heere allgemach jeden Widerſtand. Ununter— brochen durch ſie beläſtigt, in jeder Handlung gehemmt, in jedem Genuſſe behindert, von jedem Gedanken abgelenkt, ermattet man nicht allein leiblich, ſondern erſchlafft endlich auch geiſtig. Der Fuß will dann nach kurzem Wege ſeinen Dienſt verſagen, der Geiſt keinen Eindruck in ſich aufnehmen; die Tundra wird zur Hölle und ihre Plage zu namenloſer Qual. Nicht der Winter und ſeine Stürme, nicht das Eis und ſeine Kälte, nicht die Armut, nicht die Unwirtlichkeit, ſondern die Mücken ſind der Fluch der Tundra! Während ihrer Schwarmzeit fliegen die Mücken faſt ununterbrochen, bei Sonnenſchein und ruhigem Wetter mit erſichtlichem Behagen, bei mäßigem Winde noch ſehr vergnüglich, bei geringer Wärme noch recht munter, vor drohendem Regen am ausgelaſſenſten, bei kühler Witterung kaum, bei kaltem Wetter gar nicht mehr. Auch heftiger Sturm bannt ſie in Gebüſche und Moos; ſobald er aber nachläßt, ſind ſie wiederum rege und thätig, und auf allen unter dem Winde liegenden Stellen, ſelbſt im Toben des Sturmes, angriffbereit. Eine Reifnacht fügt ihnen zwar merk— lichen Abbruch zu, räumt ſie jedoch nicht aus dem Wege; naßkalte Tage vermindern ihre Heere, darauffolgende Wärme ſtellt neu entpuppte Scharen ins Feld. Erſt die Herbſtnebel bringen ſie für das eine Jahr zur Ruhe. Ebenſo langſam als der Frühling eingezogen, ebenſo raſch kommt der Herbſt über die Tundra. Eine einzige kalte Nacht endet, meiſt ſchon im Auguſt, ſpäteſtens im September, ihr ſommerliches Leben. Die Beeren, welche noch in der Mitte des Auguſt kaum hoffen laſſen, daß ſie zur Reife gelangen werden, ſind zu Ende des Monats ſo ſaftig und ſüß geworden, als dies überhaupt möglich; einige naßkalte Nächte, welche die Berge be— reits mit leichter Schneedecke belegen, beſchleunigen ihre Reife mehr als die Sonne, welche ſchon jetzt tagelang in Wolken ſich hüllt. Die Blätter der Zwergbirke färben ihre Oberſeite blaß und dennoch leuchtend lackrot, ihre Unterſeite lebhaft gelb; alle übrigen Sträucher und Sträuchlein er— leiden eine ähnliche Verwandlung: und das düſtere Braungrün der Tundra geht über in ein fo lebhaftes Braunrot, daß ſelbſt die gelbgrüne Renntier— flechte nicht mehr zur Geltung kommt. Südwärts oder dem Meere zu fliegen die beſchwingten Sommergäſte, flußabwärts ſchwimmen die Fiſche der Tundra. Von den Bergen herab wandert das Ren, in ſeinem Ge— folge der Wolf zur Tiefe; zu den Bergen hinauf fliegt das jetzt zu Flügen von Tauſenden geſcharte Moorhuhn, um hier ſo lange zu weilen, bis der Winter es wieder in die Tieftundra hinabdrückt. Die Tundra und ihre Tierwelt. 47 Noch wenige Tage und dieſer Winter, von uns wie von den Wander: vögeln gefürchtet, von den menſchlichen Bewohnern der Tundra herbei— geſehnt, zieht ein in das unwirtliche Land, um länger, viel länger als Frühling, Sommer und Herbſt im Vereine in ihm ſeine Herrſchaft zu be— haupten. Tage- und wochenlang nacheinander fällt Schnee vom Himmel hernieder, bald leiſe rieſelnd, in ſcharfeckigen Kriſtallen, bald, vom raſendſten Sturme gepeitſcht, in großen Flocken. Berge und Thäler, Flüſſe und Seen verhüllen ſich allmählich mit dem einen und einzigen Winterkleide. Noch blitzt dann und wann um die Mittagszeit ein kurzer Sonnenblick auf der ſchneeigen Fläche wider; bald aber kündet ſelbſt bei klarem Wetter höchſtens ein bleicher Schein im Süden, daß dieſem der ſonnige Tag be— reits zur Hälfte vergangen. Die lange Winternacht iſt angebrochen. Mo— nate nacheinander flimmert nur der ſchwache Widerſchein der Sterne auf der Schneedecke, gibt einzig und allein der Mond noch Kunde von dem allbelebenden Geſtirn unſeres Weltenringes. Wenn aber die Sonne der Tundra gänzlich entſchwunden, geht ihr leuchtend und ſtrahlend eine andere auf: hoch oben im Norden flackert und kniſtert „Soweidud“, das Gottesfeuer, das flammende Nordlicht! Die afafifhe Steppe und ihr Tierleben. meſſene Gebiet, welches ſich über ganz Mittelaſien erſtreckt und im Süden Europas fortſetzt: die Steppe. Leicht mag es dem ober— flächlichen Beobachter erſcheinen, ſie zu kennzeichnen; ſchwierig dünkt ſolche Aufgabe dem, welcher tiefer zu blicken gewohnt iſt. Denn ſo unabänderlich einförmig, ſo gänzlich wechſellos, wie man gewöhnlich annimmt, iſt die Steppe nicht. Verſchiedenartig tritt auch ſie vor das Auge in der Zeit ihrer Blüte und in der Zeit ihres Welkens, im Sommer wie im Winter; erheblich verſchieden ſtellt ſie ſich ſelbſt zu jeder Jahreszeit dar in der Höhe und in der Tiefe, da wo ſich Gebirge in ihr auftürmen und Bäche, Flüſſe, Seen und Sümpfe in ihr einſenken. Eintönig wirkt ſie nur, weil ein und dasſelbe Bild tauſendfältig ſich wiederholt, weil das alltäglich wird, was das Auge beim einmaligen Schauen feſſeln und befriedigen müßte. Der Ruſſe bezeichnet mit dem Worte Steppe, welches wir ſeiner Sprache entlehnt haben, alle unter mittleren Breiten gelegenen waldloſen Landſchaften mit nutzbarer Pflanzendecke, gleichviel, ob es ſich um voll— ſtändige oder ſanftwellige Ebenen, um Hügelgelände oder Gebirge handelt, ob fette Schwarzerde ſtellenweiſe ertragsfähigen Landbau ermöglicht, oder ob magerer Boden einzig und allein dem Wanderhirten die Ausnutzung der ohne Zuthun des Menſchen auf ihm gewachſenen Pflanzen geſtattet. Dieſe Auffaſſung muß zutreffend erſcheinen; denn hier wie dort entſprießen dem Boden dieſelben Pflanzen; hier wie dort leben dieſelben Tiere; hier wie dort macht ſich der Wechſel der Jahreszeiten in annähernd derſelben Weiſe geltend. | Als waldloſes Gebiet muß die Steppe bezeichnet werden; gänzlich baumlos aber iſt ſie nicht. Denn breiteren und tiefer eingeſchnittenen 8 intönig wohl, aber auch im höchſten Grade eigenartig iſt das unge— Die aſiatiſche Steppe und ihr Tierleben. 49 Strom: oder Flußthälern mangeln weder höhere Geſträuche noch Bäume. Unter beſonders günſtigen Umſtänden erſtarken Weiden, weiße und Silber— pappeln zu hohen Bäumen, welche ſich zu einem geſchloſſenen Uferſaume vereinigen können, oder ſiedeln ſich Birken an und bilden Haine und Wäldchen, oder faſſen Kiefern auf ſandigen Dünen feſten Fuß und treten zu Beſtänden zuſammen, welche ſich zwar mit wirklichen Waldungen nicht vergleichen laſſen, aber doch immerhin in ähnlicher Weiſe geſchloſſen ſein können wie jene Uferſäume. Doch ſolche Stellen ſind Ausnahmen von der Regel, bilden gewiſſermaßen eine fremde Welt in der Steppe; ſie laſſen ſich vergleichen mit den Oaſen der Wüſte. Als unabſehbare, nur hier und da ſanftwellige Ebene kann die Steppe vor dem Auge liegen, als mannigfach bewegtes und daher wechſel— volles Gelände kann ſie an anderen Orten erſcheinen, zum Gebirge an einzelnen Stellen ſich auftürmen. In der Regel ſchließen Hügelketten von verſchiedener Höhe allſeitig den Geſichtskreis ab, und meiſt umgrenzen die Hügel eine Thalmulde, in welcher das Waſſer um den Ausweg verlegen zu ſein ſcheint, falls es ſolchen überhaupt findet. Aus längeren Quer— thälern der oft ſehr verzweigten Hügelketten fließt ein kleines Bächlein der tiefſten Stelle des Keſſelthales zu und endet in einem See, deſſen ſalziger Uferſaum dann von fernher leuchtet und ſchimmert, als ob der Winterſchnee auf ihm liegen geblieben wäre. Die Hügel erſcheinen, aus weiterer Ferne betrachtet, als hohe Gebirge; denn das Auge verliert den Maßſtab für richtige Schätzung auf dieſen ausgedehnten Strecken, und die Hügel täuſchen, wenn anſtehendes Geſtein zu Tage tritt und Kuppen und Kegel, Spitzen und Zacken auf ihren Gipfeln bildet, ſelbſt den geübten Blick. Uebrigens kommen, auch abgeſehen von den Hochgebirgen nahe der chineſiſchen Grenze, ſchon in der Kirgiſenſteppe wirkliche Gebirge vor, welche ſelbſt in der Nähe wenig einbüßen von dem großartigen Eindrucke, den ſie, dank der Zerriſſenheit ihrer Gipfel und Gehänge, von fernher machten. Je höher und je verzweigter die Gebirge, um ſo reichere Waſſer— adern ſenden ſie zur Tiefe, und um ſo größer ſind demgemäß auch die Seen in den tiefſten Niederungen, welche ein Fluß erreichte, ohne die letzte Mulde füllen und ihre Umhöhungen durchbrechen zu können, um ſo ausgedehnter die Salzſteppen um die ſtets ſalzigen, weil abflußloſen Seen. Abgeſehen hiervon bleibt ſich das Gepräge der Steppe gleich, ſo vielfach die Landſchaftsbilder auch wechſeln können. Man würde Unwahres behaupten, wenn man jagen wollte, daß die Steppe anmutiger und ſelbſt großartiger Landſchaften a entbehre. Brehm, Vom Nordpol zum Aequator. 50 Die aſiatiſche Steppe und ihr Tierleben. Die norddeutſche Heide iſt troſtloſer, ſogar unſere Mark eintöniger als ſie. Schon in der ſanftwelligen Ebene haftet das Auge gern an den Seen, welche alle tieferen Mulden füllen; im Hügelgelände oder zwiſchen höheren Gebirgen bilden die Waſſerbecken immer einen wahren Schmuck der Land— ſchaft. Dem See mangelt, wenn auch nicht unter allen Umſtänden, ſo doch in den meiſten Fällen freundlich begrünender Baumſchlag, ſelbſt lebendiges Buſchwerk; nicht ſelten liegt er ſogar vollſtändig nackt und kahl vor dem Auge: und doch ſchmückt er auch in dieſem Falle die Steppe. Denn der im Widerſcheine des Himmels blau erſcheinende Spiegel lacht freundlich entgegen, und die belebende Macht des Waſſers äußert ſich auch hier. Und wenn ein See vollends durch eine Bergkette am jenſeitigen Ufer begrenzt wird, wenn vielleicht, wie am Alakul, hohe Gebirge das Bild einrahmen und die Steppe ringsum ſcharf und maleriſch ſich abhebt von dem glitzernden Spiegel, den tiefdunklen Berggehängen und den ſchneeigen Gipfeln, wenn ſich der zarte Duft der Ferne auf Ebene und Gebirge legt und ſelbſt da beſondere Schönheiten vermuten läßt, wo keine zu finden ſind, bekennt man gern und freudig, daß auch die Steppe in ihrer Art zaubervolle Landſchaften in ſich ſchließt. Aber auch wenn man meilenweite Thäler durchzieht, oder über jene kaum unterbrochenen Ebenen ſchweift, welche nur durch ſanfte Wellen— linien am fernen Geſichtskreiſe begrenzt werden, wenn man immer nur das eine kaum veränderte Bild, dieſelbe Ausſicht nach Süden und Norden, Weſten und Oſten vor ſich hat, wenn inmitten der endlos ſcheinenden Weite das Gefühl der Einſamkeit und Verlaſſenheit ſich regt, bietet die Steppe landſchaftlich immer noch mehr als unſere Heide, weil die Pflanzen— welt dort eine ungleich reichere, buntere und wechſelvollere iſt, als hier. Nur da, einzig und allein da, wo rings um einen See die Salzſteppe ſich breitet, erſcheint die Landſchaft troſtlos arm und öde. Hier verkümmern alle Pflanzenarten der Steppe und kleines, dürftiges Salzkraut, verkrüp— pelter Heide vergleichbar, tritt an ihre Stelle, nur hier und da ein Büſch— chen bildend. Dazwiſchen aber liegt Salz in mehr oder minder dicker Schicht auf dem Boden, und die gefüllt geweſenen Lachen zwiſchen den kaupenartig erhöhten Salzpflanzenbüſchen gleichen mit Eiſe bedeckten Teichen. Das Salz überzieht das ganze Land und erhält den unter ihm liegenden Schlamm beſtändig feucht, haftet feſt an dem Boden und läßt ſich nur ſchwer von ihm ablöſen. Daher hebt auch der Wanderer, wie das über die Salzſteppe ſchreitende Pferd bei jedem Schritt große Ballen Salz und Schlamm aus dem Boden, als ob wäſſeriger Schnee denſelben decke; die Die aſiatiſche Steppe und ihr Tierleben. 51 Spur des Wagens drückt ſich in tiefem Geleiſe ein in die zähe Maſſe, und das rollende Rad malt zuweilen im Salze wie bei ſtrenger Kälte im Schnee. Solche Stellen erſcheinen allerdings unſäglich öde und traurig, alle übrigen ſind es nicht. Die Pflanzenwelt der Steppe iſt viel reicher an Arten, als man gewöhnlich annimmt, viel reicher, als ich als Laie es zu ſagen vermag. Auf ſchwarzerdigem Boden verdrängen Tſchi- und Thyrſagras im Verein mit der Spirſtaude ſtellenweiſe faſt alle übrigen Pflanzen; in den Lücken dazwiſchen aber entſproßt ebenſogut wie auf magerem Boden allerlei Blumenſchmuck der Erde, und überall da, wo die Steppe muldig ſich einſenkt, geht die Pflanzenwelt allmählich in die des Sumpfes über, und Ried und Rohr, welche hier vorherrſchend werden, geben ebenſo wie jene Gräſer einer ſehr mannigfachen Welt genügenden Raum zur Entwickelung. Aber die Zeit der Blüte iſt kurz, die des Welkens und Erſterbens lang in der Steppe. Vielleicht ſagt man nicht zu viel, wenn man behauptet, daß der Unterſchied aller vier Jahreszeiten nirgends greller hervortreten könne als in der Steppe, in welcher bunte Blumenpracht und wüſtenhafte Dürre, herbſtliche Anmut und winterliche Oede mit einander abwechſeln, in welcher die zerſtörende Macht ebenſo gewaltig auftritt wie die erzeugende, die Sonnenglut ebenſo vernichtend wirkt wie die Kälte, in welcher das durch die Hitze ertötete, durch raſende Stürme weggefegte Leben dennoch und gleichſam aufjauchzend wieder erwacht unter dem erſten Sonnenblicke des Frühlings, in welcher nicht einmal das verzehrende Feuer imſtande iſt, das gänzlich zu vertilgen, was Sonnenglut und Stürme noch übrig laſſen. Gewaltiger mag der Frühling auftreten in den Ländern unter dem Glei— chen, zauberhafter kann er nirgends wirken als in der Steppe, wo er, er allein dem Sommer, Herbſt und Winter widerſteht. Noch grünt die Steppe, wenn der Sommer in ſie einzieht; ihre volle Pracht aber iſt bereits entſchwunden. Wenige Pflanzen erlangen jetzt erſt ihre Entwickelung; auch ſie verwelken in den erſten Tagen dörren— der Glut, und das bunte Frühlingskleid geht über in Grau und Gelb. Noch widerſteht das ſaftig grüne Thyrſagras der Dürre; aber ſeine freien, langen, dicht behaarten Grannen haben ihr volles Wachstum bereits er— reicht und wogen im leiſeſten Luftzuge, überwerfen wie mit ſilbernem Schleier das Grün unter ihnen. Wenige Tage noch, und Gras und Grannen ſind ebenſo verdorrt wie das bereits vergilbte Tſchigras, welches im Frühjahre wie ſchoſſendes, jetzt wie der Sichel entgegenharrendes Ge— treide erſcheint. Die breiten Blätter des Rhabarbers liegen verdorrt am 52 Die aſiatiſche Steppe und ihr Tierleben. Boden; die Spirſtaude iſt bereits abgewelkt, der Garakanſtrauch entblät— tert, das Geißblatt wie die Zwergmandel herbſtlich dürr geworden; die Diſteln ſtehen im Samenſchmucke; nur die Wermut- und Beifußarten haben ihre graugrünen Blätter noch nicht verändert. Rein und glänzend ſtrahlt die Sonne hernieder auf das dürſtende Land; denn nur ſelten ſchichten ſich die das Gewölbe des Himmels maleriſch ſchmückenden Schäf— chenwolken dichter zuſammen, und wenn ſie ſich wirklich einmal gewitter— haft entladen, iſt der Niederſchlag kaum hinreichend, den jetzt bei jedem Windſtoße aufwirbelnden Staub zu löſchen. Die Tiere halten ſich noch auf ihren Sommerſtänden auf; aber der Geſang der Vögel iſt bereits verſtummt. Nur das kriechende Gewürm, unzählige Eidechſen und Schlan— gen, meiſt Vipern, befindet ſich wohl, und die Heuſchrecken ſchwärmen in unendlichen Scharen, beim Auffliegen Wolken bildend, durch die Steppe. Noch bevor der Sommer zu Ende gegangen, hat die Steppe ihr Herbſtkleid angelegt: ein verſchieden ſchattiertes Graugelb, ohne Wechſel, ohne Reiz. Alle leicht brüchigen Pflanzen liegen vom erſten Sturme ge— knickt am Boden; die nächſte Windsbraut fegt ſie in wirbelndem Tanze über die Steppe dahin. Mit ihren Aeſten und Zweigen aneinander hakend, ballen ſie ſich zu größeren Klumpen zuſammen und hüpfen und kugeln ſpukhaft vor dem raſenden Winde einher, halb verhüllt von dem in Wolken über dem Boden treibenden Staube. Oben am Himmel aber jagen dunkle oder ſchneeſchwangere Wolken mit ihnen um die Wette. Die Sommervögel des feſten Landes ſind längſt ſchon dem Süden zugezogen, die des Waſſers, maſſenhaft auf allen Seen verſammelt, rüſten ſich zum Aufbruche; die wanderfähigen Säugetiere ſtreifen in geſcharten Trupps von einem nahrungverſprechenden Orte zum anderen; die Winterſchläfer verſtopfen die Ausgänge ihrer Höhlen: Kriech- und Kerbtiere ziehen ſich in ihre Winterſchlupfwinkel zurück. Eine einzige Froſtnacht deckt alle Gewäſſer mit dünnem Eiſe; einige kalte Tage mehr legen die Feſſeln des Winters über Seen und Lachen, und nur die dem Froſte länger widerſtehenden Flüſſe und Bäche gewähren den Zugvögeln, welche bisher noch mit ihrer Abreiſe gezögert, notdürftige Herberge für die nächſten Tage. Leichte Nordweſtwinde treiben dunkles Gewölk über das Land, und kleinflockiger Schnee fällt rieſelnd hernieder. Die Gebirge haben ihre Schneedecke bereits über ſich geworfen; jetzt zieht auch die Tiefſteppe ihr Winterkleid an. Unwetter ahnend, verläßt der Wolf die Rohrdickichte und Spirkrauthorſte, welche ihm bisher ſichere Ver— ſtecke gewährten und umſchleicht verlangend die Dörfer und die Winter— Die aſiatiſche Steppe und ihr Tierleben. 53 lager des Wanderhirten, welcher jetzt die geſchützteſten und bisher noch nicht beweideten Stellen der Tiefſteppe aufſucht, um ſeine Herden ſo viel als möglich vor dem Mangel, der Not und dem Elende des Winters zu ſichern. Gegen den gierigen Wolf ergreift er, wie der angeſiedelte Koſak oder der Bauer, Mittel zur Abwehr, reitet in die Steppe hinaus, folgt der verräteriſchen Fährte des Räubers bis zu deſſen Notlager, treibt ihn auf und jagt, durch jauchzenden Zuruf ſein Roß ſpornend und das Raubtier ſchreckend, einen erſtarkten Baumaufſchlag mit dem Wurzelknollen am Ende als gewichtige Keule in der Rechten ſchwingend, hinter dem feigen Würger ſeiner Herdentiere dahin. Aufwirbelnder Schnee umſtiebt Wolf, Roß und Reiter, brennender Froſt rötet deſſen Antlitz, ohne daß er es achtet. Nach ein-, höchſtens zweiſtündiger Jagd vermag der Wolf, welcher zwanzig bis dreißig Kilometer durchmeſſen, nicht weiter zu laufen, wendet ſich um und ſtellt ſich ſeinem Verfolger. Die Zunge hängt ihm lang aus dem Halſe heraus, die mit Eis überzogenen Haarſpitzen des dampfenden Felles ſträuben ſich empor, die irrenden Augen ſpiegeln Todes— angſt wieder. Einen Augenblick nur zaudert das edle Roß, dann ſtürmt es, von dem Zuruf und der Knute des Reiters getrieben, zum letztenmale auf den gehaßten Feind ein. Hoch auf ſchwingt der Jäger ſeine vernich— tende Waffe, ſauſend ſtürzt ſie niederwärts und zuckend und röchelnd liegt der gefällte Wolf am Boden. Vom Hunger getrieben, wie er, wechſeln um dieſelbe Zeit Wildpferde und Antilopen ihre Stände, um das bedrohte Leben zu friſten; ſelbſt die an das Gebirge gebundenen Wildſchafe ſchweifen jetzt von einer Bergſeite zur anderen, und nur die Haſen und die un— erſchütterlichen Flug- und Fauſthühner halten feſt an ihrem Stande, jener von Halmen und Rinde, dieſe von Samen und Knoſpen dürftig ſich er- nährend. Viele Tage nacheinander währt der Schneefall; endlich legt ſich der Wind, welcher die Wolken herbeiführte: aber dunkel wie zuvor bleibt der Himmel. Der Wind ſpringt um und weht ſchärfer und immer ſtärker aus Oſten, Südoſten, Süden oder Südweſten her. Ueber der weißen Decke kräuſelt eine lichte Wolke, gebildet aus aufgewirbeltem Schnee; der Wind erſtarkt zum Sturme; die Wolke ſteigt bis zum Himmel empor; und ſinnbethörend, auch den wettergeſtählteſten Mann verwirrend, jedes Leben auf das äußerſte gefährdend, raſt der Buran oder Schneeſturm über die Steppe, eine Windsbraut, gefürchtet wie der Taifun, der gift— hauchende Samum. Zwei, drei Tage nacheinander, ununterbrochen in gleicher Stärke wütet ſolcher Sturm, und Menſch und Tier bannt er an dieſelbe Stelle. Der Menſch, welcher von ihm überfallen wird in der — 54 Die aſiatiſche Steppe und ihr Tierleben. weiten Steppe, iſt verloren, wenn nicht ein beſonderer Zufall ihn rettet; wer ſich, wenn der Buran dahinbrauſt, aus dem Hauſe wagt, kann im Dorfe, in der Steppenſtadt umkommen, wie es in der That nicht allzu ſelten geſchieht. Erſt mit Ablauf des Februars ſind Menſchen und Tiere ſo ziemlich vor ihm geſichert und atmen auf, ſo ſchwer auch jetzt noch der Winter über der Steppe laſtet. Die Sonne hebt ſich; ihre Strahlen fallen wärmer auf die ſüdlichen Gehänge der Berge und Hügel, und dunkle Flecken, welche tagtäglich ſich vergrößern, ob auch dann und wann friſch gefallener Schnee zeitweilig ſie Vferdeherde während eines Schneeſturms in der aſlatiſchen Steppe. decke, treten überall hervor: das erſte Wehen des Frühlings regt ſich. Aber langſam nur hält er ſeinen Einzug in das unter den Feſſeln des Winters verharrende Land. Erſt, wenn der belebenden Sonne auch die lauen Südwinde ſich geſellen, früheſtens im Anfange, meiſt erſt gegen die Mitte des Aprils, ſchwindet der Schnee raſch von den unteren Gehängen der Berge wie aus den tieferen, mit Schwarzerde erfüllten Thälern, und nur in Schluchten und ſteilwandigen Einſenkungen, hinter jäh abfallenden Hügeln und in dichtem Geſtrüpp bleiben faſt einen vollen Monat noch Schneewehen erſichtlich. Auf allen übrigen Stellen regt ſich das neu er— weckte Leben gewaltig. Begierig ſaugt die Erde die Feuchtigkeit ein, welche der ſchmelzende Schnee ihr ſpendete, und die beiden, nunmehr ver— Die aſiatiſche Steppe und ihr Tierleben. 55 einigten Zauberer, Sonne und Waſſer, üben ihre unwiderſtehliche Macht. Noch bevor jene Schneewehen, bevor die raſch vermorſchenden Eisſchollen auf den Seen geſchmolzen, treiben alle Zwiebelgewächſe, alle den Winter überdauernden Pflanzen überhaupt, Blätter und Blütenſtengel der Sonne entgegen. Zwiſchen den vergilbten Halmen der Gräſer, den dorrend er— grauten Stengeln aller nicht vom Herbſtſturme geknickten Kräuter ſchimmert das erſte Grün. Jetzt zündet der Anſiedler wie der Wanderhirt die dichteſten Horſte verſchiedener Pflanzen an, und das gefräßige Feuer ver— ſucht zu vernichten, was der Herbſtſturm noch verſchonte. Sobald es den Boden wenigſtens ſtellenweiſe gereinigt, regt ſich das Pflanzenleben nur um ſo mächtiger. Der anſcheinend pflanzenloſen Erde entſproſſen Blätter— und Zwiebelgewächſe; Knoſpen entwickeln, Blumen entfalten ſich, und in unbeſchreiblicher Pracht ſchmückt ſich die Steppe. Auf endlos weiten Strecken hin leuchten gelbe, dunkelrote, weiße, weiß und rot geſtreifte Tulpen dem Auge entgegen. Zwar nur einzeln, zu zweien, zu dreien vereinigt, ent— ſtiegen ſie dem Boden; aber ſie verbreiten ſich über die ganze Steppe und erblühen gleichzeitig in ſo großer Anzahl, daß der Blick auf ſie treffen muß, wohin er ſich auch wende. Unmittelbar nach ihnen ent— wickeln ſich auch die Lilien, und neue, noch beſtrickendere Farben erleben überall, wo dieſe lieblichen Kinder der Steppe die Bedingungen für ihr Gedeihen fanden, an den Gehängen wie in den tieferen Thälern, längs der Ufer aller Flüßchen wie im Sumpfe. Geſelliger und vielartiger als die Tulpen, treten ſie in viel wirkſamerer Menge hervor als jene; denn ſie beherrſchen weite Strecken vollſtändig und können unter Umſtänden ebenſo an ein mit Kornblumen überfülltes Roggenfeld wie an ein in voller Blüte ſtehendes Rapsfeld erinnern. In der Regel ſteht jede Art oder Spielart dicht gedrängt; hier und da entwachſen aber auch blaue und gelbe Lilien in buntem Gemiſch dem Boden, und die beiden Ergänzungs— farben gelangen dann zu wirkungsvoller Geltung — ein Anblick zum Entzücken. Zieren jetzt, unmittelbar nach dem Winter dieſe erſten Kinder des Frühlings die Steppe, ſo ſchmückt ſie der Himmel nicht minder. Gänz— lich rein von Gewölk erſcheint er im Frühlinge wohl nie, vielmehr ſtets bedeckt mit Wolken aller Arten, ſelbſt beim ſchönſten Wetter wenigſtens mit Schicht- und Schäfchenwolken, welche, mehr oder minder dicht gedrängt, über das ganze Gewölbe des Himmels ſich verbreiten und ringsum in den Grenzen des Geſichtskreiſes auf dem Boden zu lagern ſcheinen. Ver— dichten ſich aber dieſe Wolken, dunkelt der Himmel, und ſendet die Sonne 56 Die aſiatiſche Steppe und ihr Tierleben. nur hier und da ein Streiflicht auf die vom erſten Frühlingshauche durch— wärmte Steppe, ſo erleben in ihr Farben, welche man niemals für möglich erachtet hätte. Jeder Tag aber fügt jetzt neue Farben zu den alten. Mehr und mehr ſchwindet der gilbliche Schein, welchen auch im Frühlinge noch die vorjährigen Halme über die Steppe legen, und friſcher und lebendiger tritt das Frühlingskleid des bereits ſo reich geſchmückten Geländes hervor. Nach wenigen Wochen liegt die Steppe wie ein bunter Teppich, in welchem alle Schattierungen vom dunklen Grün bis zum lebendigen Grüngelb zur Geltung gelangen, vor dem Auge; denn das vorherrſchende Graugrün der Beifußpflanzen erhält jetzt durch beſonders hervorſtechende Kräuter und Zwerggebüſche dunklere und hellere Töne. Die Zwergmandel, welche allein oder gemeinſchaftlich mit dem Erbſenſtrauche und dem Geißblatt weite Strecken der Steppenniederungen überzieht, ſteht jetzt, ebenſo wie die beiden letztgenannten Geſtrüpparten in vollem Schmucke, und die pfirſichrot ſchimmernden, weil über und über mit Blüten bedeckten Zweige ſtechen lebhaft ab von dem Grün der Gras- und Krautarten wie von den Blüten des Garaken, ſelbſt von den zart roſenroten bis rötlichweißen des Geißblattes, welches an geeigneten Stellen dichte Horſte bildet und in voller Blüte ſtehend, alle übrigen Farben rings umher nur als den Grund erſcheinen läßt, von welchem ſeine Blätter leuchtend ſich abheben. Verſchiedene, für mich, als Nichtkundigen, namenloſe Kräuter und Pflanzen rufen die dunklen Schatten und die hellen Lichter hervor, und die ebenſo raſch verwelkenden wie entſtandenen Blätter anderer ſticken dem Teppich gelbgrüne oder goldgelbe Flecken ein. Aus weiter Ferne geſehen, einigen ſich freilich alle Farben zu einem faſt gleichmäßigen Graugrün; in der Nähe aber wirkt jede einzelne, wirken ſelbſt die zahlloſen Blumen, welche ſich jetzt ebenfalls erſchloſſen haben und überall wenigſtens einzeln, an den beſonders begünſtigten Stellen aber gruppenweiſe zuſammenſtehen und im Schatten der Geſtrüpppflanzen zu voller Pracht ſich entwickeln. Neben den unendlich mannigfaltigen Zwiebelgewächſen treten namentlich köſtliche Wickenarten, neben fremdartig erſcheinenden alte gute Bekannte aus unſeren Ziergärten hervor, und mehr und mehr Zauber umſtrickt die Sinne, ſo daß man zuletzt, ſich ſelbſt täuſchend, in einem unendlichen, ungepflegten Blumengarten zu wandeln meint. Mit dem pflanzlichen weckt der Fühling auch das tieriſche Leben der Steppe. Noch bevor die letzten Spuren des Winters gänzlich verſchwun— den, erſcheinen die im Herbſte entflohenen Wandervögel wieder in der \ | Steppenfee. ee eo — — e e Die aſiatiſche Steppe und ihr Tierleben. m Steppe, und wenn der Frühling erſt wirklich und wahrhaftig eingezogen, öffnen auch die Winterſchläfer ihre unterirdiſchen Kammern, in denen ſie die böſe Jahreszeit in todähnlicher Erſtarrung bewußtlos verbrachten, um ſich, wie die Wandervögel zu den Standvögeln, zu denjenigen Säugetieren zu geſellen, welche nicht einmal ſolchen Winter fürchteten, ihn wenigſtens wachend zu überſtehen wußten. Gleichzeitig mit ihnen feiern die Kerbtiere das Feſt ihrer Auferſtehung, indem auch ſie einem ſchützenden Verſtecke enteilen oder in letzter Verwandlung ſich entpuppen, und ebenſo entſteigen nunmehr Lurche und Kriechtiere, Fröſche, Eidechſen und Schlangen ihren winterlichen Zufluchtsorten, um ſchon im erſten Sonnenſtrahle die ihnen unentbehrliche, ſie zur Thätigkeit, zu vollem Leben treibende Wärme zu genießen und dem nur ſie leidlos beglückenden Sommer entgegenzuträumen. Jetzt wird es lebendig in der Steppe. Zwar nicht vielgeſtaltig, aber zahlreich und allverbreitet treten die ihr angehörigen Tiere auf. Man begegnet ihnen überall und vermißt ſie nirgends. Maſſenhaft wie die Antilopenherden der Steppen Innerafrikas, die Zebra- und Quagga— trupps der Karu Südafrikas, die unabſehbaren Büffelzüge der Prärien Nordamerikas durchſchwärmen weder die Säugetiere, noch in ebenſolchen Mengen wie am Meeresgeſtade und auf einzelnen Inſeln, in Afrikas Steppen oder in den Urwäldern der Gleicherländer die Vögel die Steppe in verſchiedene Landſchaftsbilder greifen aber auch ſie, die einen wie die anderen, beſtimmend ein, und das eigenartige Gepräge des Geländes helfen auch ſie geſtalten und vollenden: denn Charaktertiere, für Land und Verhältniſſe bezeichnende Arten, beſitzt oder beherbergt auch die Steppe. Zu Sammelpunkten des tieriſchen Lebens werden vor allen die Ge— wäſſer und zwar die großen Seen wie die kleinen lachenähnlichen oder teichartigen Waſſerbecken, die Flüſſe wie die Bäche. Früher noch, als man das Vorhandenſein eines Sees an den ſeine Ufer umgebenden, alle zeitweilig überſchwemmten oder beſtändig mit ſeichtem Waſſer überfluteten bedeckenden Rohrbeſtänden erkennt, verraten dem kundigen Auge Hunderte und Tauſende von Sumpf- und Schwimmvögeln das noch nicht erſichtlich gewordene Gewäſſer. In vielfach wechſelndem Fluge ſchweben und gleiten Fiſcher-, Sturm- und Bachmöwen über ſeinem Spiegel dahin, raſcher und unſteter fliegend betreiben über den Rohrbeſtänden und den von ihnen eingeſchloſſenen Waſſerflächen Seeſchwalben ihre Jagd, in hoher Luft ziehen Schreiadler ihre Kreiſe; Enten, Gänſe und Schwäne fliegen von einem Teile des Sees zum andern; Rohrweihen ſchaukeln ſich über den Rohr— beſtänden; ſelbſt Seeadler und Pelikane zeigen ſich dann und wann dem 58 Die aſiatiſche Steppe und ihr Tierleben. Auge. Ueber die an ſolchen Seen vereinigte Bewohnerſchaft, über die Anzahl der Arten und Einzelweſen vermag man aber erſt dann ſich zu unterrichten, wenn man am Ufer ſelbſt ſteht oder in die Rohrdickichte eindringt, welche ſie umſäumen. In der Salzſteppe tritt, wie leicht er— klärlich, auch das tieriſche Leben zurück. Eilenden Fluges ziehen die Waſſervögel über den unwirtlichen, mit Salz bedeckten Uferſaum hinweg, von einer Lache zur anderen ſich wendend, und einzig und allein die Lach- und Fiſchermöwen ruhen gern zeitweilig aus an den noch nicht ver— dunſteten, flachen, mit ſtark ſalzhaltigem Waſſer gefüllten Becken; einzig und allein die Höhlenente fiſcht in ihnen ſelbſt in Gemeinſchaft der reizen— den Säbelſchnäbler, welche gerade derartige Stellen mit beſonderer Vor— liebe aufſuchen und hier, zu Paaren oder kleinen Trupps vereinigt, emſig das ſalzige Waſſer durchſtöbern, den zarten Kopf mit dem feinen, nach aufwärts gebogenen Säbelſchnabel unermüdlich ſeitlich hin und her ſchwingend. Von anderen Vögeln habe ich hier immer nur wenige ge— ſehen: eine Schaf- oder Bachſtelze, einen Kiebitz, einen Regenpfeifer; alle übrigen meiden die ungaſtliche Oede um ſo lieber, als in ihrer unmittel— baren Nähe unendlich mehr verſprechende Sümpfe und heimliche Waſſer— flächen ſich finden. Unmittelbar am See ſelbſt winkt allen, welche er an ſich lockte, reiche Nahrung. Demgemäß ſiedeln ſich hier und auf ſeinem Waſſerſpiegel nicht allein Tauſende von Sumpf- und Waſſervögeln, ſondern auch alle die kleinen Sänger und Sperlingsvögel an, denen die trockenere Steppe die ihnen nötigen Lebensbedingungen nicht gewährt, und ſomit finden nicht allein die Fiſch-, ſondern auch alle übrigen Räuber ihr täg— liches Brot. Mit den Strandſeen Nordafrikas, an denen während des Winters die gefiederten Bewohner dreier Erdteile zu einem großartigen Stelldichein zuſammenſtrömen, mit den ſtehenden Gewäſſern der Gleicher— länder, in und an denen jederzeit viele Hunderttauſende von Vögeln ſich verſammeln, ſelbſt mit den Sumpfniederungen der Donautiefländer, in denen allſommerlich unendliche Scharen allerlei Kinder der Luft ſich ver— einigen, laſſen ſich die Steppenſeen allerdings nicht vergleichen; im Ver— hältniſſe zu ihrer Ausdehnung iſt die Anzahl der beſchwingten Anſiedler ſogar gering, unbedingt aber muß ſie immerhin als eine ſehr bedeutende bezeichnet werden, und ihre Eigenartigkeit bewahren ſich die Seen der Steppe auch in bezug auf die bevorzugten Wohnſtätten der Vögel. Alles lebt hier im Rohre: der Wolf wie das Wildſchwein, der Adler wie die Wildgans, der Weih wie der Schwan, der Rabe wie die Stock, Schnatter-, Kriech-Kolben oder Tauchente, die Droſſel wie die Grasmücke, Die aſiatiſche Steppe und ihr Tierleben. 59 die Rohrmeiſe wie der Sperling, die Rohrammer wie die Fettammer, der Laubſänger wie das Blaukehlchen, der Rötel- und Rotfußfalk wie der Kranich und Kiebitz, der Würger wie die Sumpfſchnepfe, der Star wie die Bach- und Schafſtelze, die Wachtel wie der Eisvogel, der Silber— und Löffelreiher wie die Scharbe und der Pelikan. Die Rohrdickichte ſind die wahren und eigentlichen Aufenthaltsorte und Zufluchtsſtätten für die Tierwelt: ſie erſetzen den Wald, welcher verſteckt und ſichert; ſie bilden die heimlichen Stätten der Liebe und des Familienglücks, der lauteſten Freuden wie der zarteſten Sorgen, die Brutplätze und Erziehungsorte der Jungen. Von den in den Rohrbeſtänden hauſenden Säugetieren nimmt man, vorausgeſetzt, daß man nicht zu Gewaltmaßregeln ſchreitet und mit Hilfe der Hunde die Dickichte durchſtöbert, meiſt nur die Spuren wahr; ein Bild der leicht beweglichen Vogelwelt aber ſtellt ſich dem geübten Auge des Forſchers jederzeit wenigſtens in ſeinen allgemeinen Zügen dar. Wenn man von der trockenen Steppe aus einem der Seen ſich nähert, verſchwinden zuletzt auch die allverbreiteten Lerchen, und ein oder der andere Regenpfeifer macht ſich bemerklich, ſei es, daß ſein klang— voller Ruf das Ohr trifft, ſei es, daß er ſelbſt in das Auge fällt, wenn er mit der Emſigkeit ſeines Geſchlechtes ruckweiſe über den Boden dahin: rennt, hier und dort ein Beutetierchen aufnehmend und dabei einen Augen— blick anhaltend, um unmittelbar darauf mit gleicher Eilfertigkeit weiter zu rennen. Noch bevor man an das Röhricht gelangt, wird die Lachmöwe, mit ihr auch wohl die Sturmmöwe, günſtigen Falles ſogar eine Fiſchermöwe ſichtbar; erſtere fliegt ſelbſt weit in die Steppe hinein, weidenden Herden zuſtrebend, denen ſie dann zum reizenden Schmucke wird, möge ſie in dicht geſcharter Menge eine Herde umſchweben, um die von den Weidetieren aufgeſcheuchten Kerbe im Fluge zu fangen, oder aber hinter der Herde einherlaufen, weißen Tauben vergleichbar, welche auf dem Felde ihrer Nahrung nachgehen. Dann bemerkt man auch wohl ſchon eine und die andere Wildgans, das Männchen der noch auf den Eiern ſitzenden Gattin, welches dieſe auf kurze Zeit verließ, um auf graſigen Stellen in der Nähe des Röhrichts zu weiden, ſolange ſolches noch möglich, ſolange treue Elternſorgen, von denen alle Ganſerte ihren Anteil auf ſich nehmen, es nicht bannt an die verſteckteſten Weiden in unmittelbarer Nähe des Sees, auf denen die vorſichtigen Eltern ihre graugrünlichgelben Küchlein anfäng— lich verborgen halten. Auf allen ſeicht überfluteten Stellen des Geſtades geht es lebhafter zu. An den Rändern ſolcher Lachen und Teiche treten auf wohlgewählten Kampfplätzen kleine Strandvögel, die Kampfläufer 60 Die aſiatiſche Steppe und ihr Tierleben. oder Streithähne, jetzt im vollſten ritterlichen Schmucke prangend, ein— ander gegenüber, ſenken den Kopf und richten den Schnabel wie eine eingelegte Lanze auf den weit ausgebreiteten, als Schild dienenden bunten Federkragen eines niemals fehlenden Gegners, nehmen eine ernſt heraus— fordernde und doch unwiderſtehlich erheiternde Stellung an, ſehen ſich noch einmal ſcharf in die Augen und rennen aufeinander los, gleichzeitig ſtoßend und den Stoß mit dem federnden Schilde auffangend. Keiner der edlen Recken wurde verletzt, keiner durch ſolchen Zweikampf auch nur behindert an viel weniger edlen Geſchäften; denn dieſem entging während des Anrennens die Fliege, welche ſoeben auf einem Halme ſich niederließ, jenem der Schwimmkäfer nicht, welcher auf dem Waſſerſpiegel einer kaum tiſchgroßen Lache dahintanzte, und eilig rennt der eine hier-, der andere dorthin, um die erſpähte Beute aufzunehmen und zu neuem Kampfe ſich zu ſtärken. Inzwiſchen aber ſtehen längſt andere kampfgerüſtet auf dem Plane, und nimmer ſcheint der Streit endigen zu wollen. Da ſchaukelt ein Rohrweih einher, und eilig verlaſſen die Helden den Kampfplatz, er— heben ſich zu dicht geſchloſſenem Fluge geſchart, fliegen eilig einem anderen Teiche zu und beginnen dort das alte Spiel von neuem. Der gefürchtete Weih ſchreckt auch alle übrigen Vögel der Lache. Rauſchend erheben ſich die ſchwächeren Enten und, mehr durch deren Flucht als durch den Raub— vogel beunruhigt, einen Augenblick ſpäter auch die kräftigeren Sippſchafts— genoſſen, ſtürmen unter pfeifenden Flügelſchlägen empor, umkreiſen die Lache einige Male und fallen truppweiſe wieder auf ihr ein; unter trillerndem Rufe ſteigt auch der Rotſchenkel, mit klangloſem, aber weit hörbarem Schrei die Sumpfſchnepfe, über welcher der Räuber allzudicht dahinſtrich, in die Lüfte; beide aber vergeſſen der Bedrohung, ſobald ſie die ſichernde Höhe erreicht haben, und ſcheinen nur noch der goldenen Frühlingszeit und der ſie jetzt beherrſchenden Liebesſeligkeit zu gedenken. Denn der Rotſchenkel ſenkt ſich plötzlich wieder tief hernieder gegen den Waſſerſpiegel, flattert und ſchwebt mit herabhängenden Fittichen nach vorn und unten, erhebt ſich unter beſtändigem Rufen von neuem und ſenkt ſich wiederum, bis ein Lockruf der bereits wieder ſitzenden Gattin ihn einladet, das ihr geltende Liebesſpiel abzubrechen und zu ihr zu eilen. Die Sumpf— ſchnepfe treibt es ähnlich wie er, indem ſie, nachdem ſie ihren Zickzackflug beendet und zu doppelter Turmhöhe emporgeſtiegen, urplötzlich ſich fallen läßt, den Schwanz dabei breitet, die biegſamen, ſchmalen und ſpitzigen Seitenfedern desſelben der hemmenden Luft preisgibt und dadurch jenen meckernden Laut erzeugt, welcher ihr den treffenden Namen Himmelsziege verſchafft Die aſiatiſche Steppe und ihr Tierleben. 61 hat. Nur ein Pärchen des überaus langbeinigen Stelzenläufers, welches in ſcheinbar vornehmer Abſonderung fern von dem übrigen Strand— gewimmel ſeinen Geſchäften nachging, ließ durch den Weih in dieſen nicht ſich ſtören, wohl weil es ſah, daß die mutigen Lachmöwen eilend herbei— kamen, um den Störenfried zu vertreiben, ſogar ein Wieſen- und ein Steppenweih gemeinſchaftlich ſich rüſteten, den ihnen ſo nah verwandten und doch bitter gehaßten Raubgeſellen zu bekämpfen. Ohne Zögern ſucht dieſer das Weite, und eine Minute ſpäter pfeift und trillert, ſchnarrt und ſchnattert es wiederum wie zuvor auf dem Gewäſſer; denn zu den alten Gäſten ſind neue gekommen, herbeigezogen durch die allen geſelligen Vögeln eigene Neugier ſowohl, wie durch die in derartigen Lachen jeder— zeit reich beſchickte Tafel. Gelangt man endlich an das Röhricht, ſo macht ſich auch das kleinere Geflügel dem Auge bemerklich und zwar in der Regel eher als das große, welches hier ſich verſteckt. Der Kranich, welcher auf den unzugänglichſten Stellen brütet, der Edelreiher, welcher am inneren Rande des Dickichts ſeinen Fiſchfang treibt, der Löffler, welcher auf den flachſten Stellen zwiſchen dem Rohrwalde ſeiner Nahrung nachgeht: ſie alle halten ſich ſo verborgen als möglich, und von der Rohrdommel, welche im allerdichteſten Geſtengel ſich aufhält, gibt nur das dumpfe Brummen Kunde. Dagegen gibt ſich die ganze kleine Welt, welcher ich vorher gedachte, faſt ohne Beſorgnis dem beobachtenden Blicke preis und ſingt und jubelt mit ihren lauteſten Tönen, Zutraulich treiben ſich die Schafſtelzen auf den wieſenartigen Grasplätzen umher, welche nach außen hin an das Röhricht grenzen, furchtlos klettert die ungemein zierliche Bartmeiſe an den Rohrhalmen ſelbſt auf und nieder, deren Spitzen hier das Kehlvögelchen, dort ein Würger ſchmückt; laut ſchallt das muntere und doch ſo wenig klangvolle Lied der Rohrſänger von allen Seiten her in das Ohr und mit Vergnügen lauſcht dieſes dem Schlage der ſchwarzkehligen Droſſel, dem lieblichen Geſange des Blau— kehlchens, Laub- und Gartenſängers, dem Rufe des Kududs. Auf den freien Lachen im Rohre aber ſchwimmt ſicherlich ein Pärchen Waſſer— hühner mit ſeinen Jungen und, wenn die Lache tiefer iſt, auch wohl ein Ohrenſteißfuß zwiſchen verſchiedenen Enten umher. Und wenn der Abend herannaht, finden ſich auch Rotfuß- und Rötelfalk, Star und Roſenſtar im Röhricht ein, um hier die Nacht zu verbringen, und des Schwatzens und Lärmens iſt nun kein Ende. Selbſt der Schreiadler, der Rabe und die Nebelkrähe erſcheinen hier als Nachtgäſte, und Scharbe und Pelikan ruhen wenigſtens an den inneren Rändern aus von ihrem Fiſchfange. 62 Die aſiatiſche Steppe und ihr Tierleben. Ueber dem Spiegel des Sees endlich fliegen und ſchweben die Möwen, rütteln die Seeſchwalben, jagen See- und Fiſchadler, und da, wo deſſen Tiefe nicht zu bedeutend, fiſchen Pelikane und Schwäne mit den gefräßigen Scharben und Steißfüßen um die Wette. Kaum minder reich als die Seen ſind auch die mit Bäumen und Büſchen umſäumten Flußthäler. Die Bäume tragen die Horſte der größeren und kleineren Räuber und dienen außerdem zu deren Ruheſitzen; von ihren Wipfeln herab tönt der klangvolle Ruf des Pirols, der Schlag der Droſſel, das Jauchzen des Spechtes, das Ruckſen der Ringel- und Hohltaube, aus dem dichten Unterholze aber der herrliche Schlag des Sproſſers in ſolcher Reinheit und Fülle, daß ſelbſt das verwöhnte Ohr des Kundigen mit Ent— zücken den ſeltenen Klängen lauſcht. Auf dem Spiegel des Stromes aber treiben ſich die verſchiedenſten Schwimmvögel umher wie auf der Waſſerfläche des Sees, und in dem Röhricht und Gebüſch der Ufer dieſelbe bunte Geſell— ſchaft wie in den Rohrwaldungen jenes; das Müllerchen klappert, Dornen— und Sperbergrasmücke laſſen ihre wohlbekannten Lieder vernehmen. Durchwandert man die waſſerloſen Strecken der Steppe, ſo ſtellt ſich ſofort eine andere Tierwelt dem Auge dar. Auch hier ſind es wiederum die Vögel, welche man zuerſt wahrnimmt und wahrnehmen muß. Mindeſtens ſechs, vielleicht acht Arten von Lerchen bewohnen die Steppe und rufen ſelbſt auf den ödeſten Stellen derſelben das Leben wach. Ununterbrochen tönt dem Wanderer hier Geſang an das Ohr; vom Boden her wie von der Spitze niederer Büſchchen herab klingt es einem entgegen; aus hoher Luft hernieder ſtrömen am Morgen wie am Abend die reichen Weiſen. Es iſt nur ein einziger Geſang, welchen man zu hören wähnt; denn die vielſtimmige Kalanderlerche nimmt ebenſo von unſerer Feld- wie von der ſibiriſchen Lerche an und verſchmilzt deren Strophen mit den ihrigen, erachtet ſelbſt einzelne Klänge der Mohren-, der Rötel-, der kurzzehigen Lerche nicht zu gering und vereinigt daher aller Lieder in dem ihrigen, ohne darum den Geſang der Verwandten zu übertönen, ſo laut, ſo gewaltig ſie die eigenen und die angenommenen Weiſen auch vorträgt. Wenn wir an einem Frühlingstage auf unſeren Fluren mit Entzücken unſeren Feldlerchen lauſchen, wenn wir ſehen, wie in unabläſſigem Wechſel einer der lieblichen Sänger nach dem anderen aufſteigt, um in begeiſtertem und begeiſterndem Geſange dem Frühlinge zum Herolde zu werden, ahnen wir ſchwerlich, daß die Steppe alles, was wir auf unſeren Feldern vernehmen können, hundertfältig zu überbieten vermag: und doch iſt dies gewiß und wahrhaftig der Fall. Denn ſie iſt die wahre und wirkliche Heimat der Lerchen; ein Pärchen Die aſiatiſche Steppe und ihr Tierleben. 63 einer und derſelben Art wohnt unmittelbar neben dem anderen, eine Art zwiſchen und unter den anderen, und die weite Steppe ſcheint kaum Raum zu haben für alle. Aber die Lerchen ſind nicht die einzigen Be— wohner ſolcher Stellen. Verhältnismäßig ebenſo häufig wie ſie ſind auch ihre ſchlimmſten Feinde, die ihr Liebſtes, ihre junge Brut, bedrohenden Weihen, Charaktervögel der Steppe. Welchen Teil der letzteren man auch betreten möge, einen oder den anderen dieſer Raubvögel, im Nor— den den Wieſen-, im Süden den Steppenweih, wird man ſicherlich wahr: nehmen, wenn er wiegenden und ſchwankenden Fluges, meiſt dicht über dem Boden dahinſchwebend, ſein Gebiet durcheilt; nicht ſelten ſieht man auch ihrer vier, ſechs, acht und mehr zu gleicher Zeit in einer weiten Niederung ihrer Jagd obliegen. Noch häufiger als ſie, jedoch nicht ganz ſo allgemein verbreitet, treten zwei andere, in ihrem Sein und Weſen faſt vollſtändig ſich gleichende, an Schönheit, Zierlichkeit der Geſtalt und Anmut der Bewegung miteinander wetteifernde Steppenkinder auf: der Rötel— und der Rotfußfalke. Wo nur immer Ruheplätze für dieſe reizenden Ge— ſchöpfe ſich finden; wo eine Telegraphenlinie die Steppe durchſchneidet, ein felſiger Hügel über die Ebene emporſteigt, ein Kirgiſengrabmal die— ſelbe überhöht, fehlen ſie gewiß nicht. Ebenſo verträglich als geſellig, neidlos auf des anderen Glück, obwohl ſie gleicher Beute nachſtreben, be— treiben ſie fleißig Jagd auf Kerbtiere aller Art, von der gefräßigen Wander— heuſchrecke an bis zum kleinen Käfer herab, ſitzen, ausruhend und ver— dauend, gleichwohl aber ſorgfältig Umſchau haltend, auf ihren Warten, erheben ſich, ſobald ſie eine Beute erſpähen, fliegen leicht und gewandt dahin, beginnen zu gleiten und halten ſich nunmehr, kaum bemerkbar rüttelnd, genau auf einer und derſelben Stelle, um von der Höhe aus die Beute ſicher ins Auge zu faſſen. Iſt dies geſchehen, ſo ſtürzen ſie wie ein fallender Stein zum Boden herab, ergreifen günſtigen Falles das Kerb— tier, zerreißen und verzehren es im Fluge, ſchwingen ſich wiederum zur Höhe empor und verfahren wie vorher. Nicht ſelten ſieht man ihrer zehn bis zwölf, beide Arten gemiſcht, über einer und derſelben Stelle jagen, und ihr wechſelvolles Treiben verfehlt dann nie, die Aufmerkſamkeit des Beobachters auf ſich zu lenken und zu feſſeln. Tagtäglich kann man ihnen begegnen, ſtundenlang ihnen zuſchauen, und immer von neuem wird man angemutet werden von dieſem ſpielenden Jagen: ſie gehören zum Bilde der Steppe wie der Salzſee, wie die Tulpe oder Lilie, wie das Zwerg— geſtrüpp oder das Tſchigras, wie die weiße Schäfchenwolke am Himmels— dome. Bezeichnend aber auch iſt der Roſenſtar, eine kaum weniger 64 Die aſiatiſche Steppe und ihr Tierleben. anſprechende Erſcheinung, unſeres lieben Haus- und Gartenfreundes farben— ſchöner Vertreter, der gefräßigen Heuſchrecken nicht minder eifriger und erfolgreicher Vertilger, der weidenden Herden getreueſter Freund, des Menſchen geachteter Gehilfe, weil der Feldfrucht unermüdlicher Beſchützer, ein in den Augen des Steppenbewohners geradezu heiliger Vogel; be— zeichnend ebenſo das Flughuhn, ein Mittelglied zwiſchen Huhn und Taube, deſſen Sippſchaft namentlich in der Wüſte ſich heimiſch gemacht hat, der Großtrappe und ſeine allerliebſten Verwandten, der Kragen- und Zwerg— trappe, letzterer ſchon aus dem Grunde der allgemeinſten Teilnahme wert, weil er vor wenigen Jahren erſt auch in Deutſchland und zwar in Thü— ringen eingewandert iſt und hier gegenwärtig ebenſogut wie in der Steppe zu einem unvergleichlichen Schmucke der Landſchaft wird, wenn er ſchwir— renden Fluges ſeine volle Schönheit offenbart. Und noch andere farben— ſchöne, ja wahrhaft prachtvolle Vögel ſind als Steppenbewohner zu nennen: der liebenswürdige Bienenfreſſer und die Blaurake, welche mit Falken und Tauben gemeinſchaftlich ſteil abfallende Uferwände bewohnen, die Weber— ammer und der Karmingimpel, welche im Tſchigraſe und Geſtrüpp her— bergen, und andere mehr. Selbſt die Schwalben fehlen nicht in einem Gebiete, in welchem feſtſtehende Wohnungen des Menſchen ſo ſelten ſind. Daß die Uferſchwalbe auch an allen ſteileren Seeufern ihre Neſtlöcher gräbt, erſcheint dem Kundigen nicht wunderſam; daß die Haus- und Fenſter— ſchwalben aber noch heutigestags von freilebenden zu halbgezähmten Vögeln werden, daß ſie noch gegenwärtig an dem Felſen ihre Neſter an— kleben und den Felſen verlaſſen, wenn ein Grabmal eines Kirgiſen er— richtet wird, um in dieſes überzuſiedeln, daß die Hausſchwalbe Gaſtfreund— ſchaft ſogar in der Jurte ſucht und ſolche findet, wenn der Kirgiſe hofft, ſo lange auf einer Stelle verweilen zu können, bis die Eier in dem am Kuppelringe der Jurte angeklebten Neſte gezeitigt und die Jungen flügge geworden ſind: das verdient wohl erwähnt zu werden. Auf denſelben Stellen, deren Vogelwelt ich eben nannte, haben ſich aber auch andere Tiere angeſiedelt. Abgeſehen von den läſtigen Mücken, Fliegen, Bremſen und Weſpen oder Immen überhaupt, bemerkt man nur wenige Kerbtierarten, ſie aber meiſt ſehr zahlreich und über alle Teile ſolcher Strecken verbreitet. Dasſelbe gilt für die Kriechtiere, von denen wir in den von uns durchreiſten Teilen der Steppe einige Eidechſen und mehrere Schlangen auffanden, unter letzteren vor allen anderen zwei Giftſchlangen, unſere Kreuzotter und die Halysviper. Beide treten zwar nicht in ſolcher Menge wie die Eidechſen, jedoch immerhin in ganz außergewöhnlicher An— Die aſiatiſche Steppe und ihr Tierleben. 65 zahl auf. Bei unſeren Ritten durch die Steppe beugte ſich tagtäglich mehrmals ein und der andere der uns begleitenden Kirgiſen mit gezücktem Meſſer vom Pferde herab, um den Kopf einer dieſer Schlangen mit ſcharfem Schnitte vom Rumpfe zu trennen, und als wir in Schlangen— berg, einem Bergſtädtchen im nördlichen Altai, erfahren wollten, ob der Ort ſeinen Namen mit Fug und Recht trage, kehrten die von uns aus— geſandten Leute nach wenig Stunden mit einer ſo reichen Beute zurück, daß die durch ſie gegebene Antwort auf unſere Frage uns im höchſten Grade überraſchen mußte und daß wir die Geſchichte des Urſprungs dieſes Namens, welche berichtet, daß man vor Anlegung des Städtchens Tauſende und andere Tauſende von Giftſchlangen zuſammentrug und verbrannte, nicht mehr in Zweifel ſtellen konnten. Lurche und kleine Säugetiere ſind viel ſeltener als Kriechtiere; von erſteren beobachteten wir nur eine Unkenart, von letzteren einige Mäuſe, einen Zieſel, zwei Blindmollarten und die niedliche Springmaus, welche unter dem Namen Pferdeſpringer bekannt ift. Zieſel und Springmaus ſind allerliebſte Erſcheinungen, und namentlich der erſtere belebt die Steppe oft in ſehr anſprechender Weiſe, da er an für ihn beſonders günſtigen Stellen gern geſellig lebt und dann, wie die ihm verwandten Murmeltiere, förmliche Siedelungen bildet. Hier ſieht man namentlich gegen Abend vor jedem Fallloche den Bewohner der Höhle ſitzen oder, bei Ankunft des Wagens, des Reiterzuges, eilig demſelben zuflüchten, raſch noch einmal neugierig ſich aufrichten und im rechten Augen— blicke blitzſchnell in der ſicheren Tiefe verſchwinden, aber nur, um wenige Minuten ſpäter wieder zum Vorſchein zu kommen, offenbar in der Abſicht, ſich zu überzeugen, ob die drohende Gefahr glücklich vorübergegangen ſein möge. Sein Gebaren iſt ein beſtändiges Schwanken zwiſchen Neugier und Furcht. Zu letzterer hat er auch guten Grund; denn wenn nicht der Menſch, ſo ſind doch Wolf und Fuchs, Kaiſer- und Schreiadler ihm fort— während auf den Ferſen und man darf ſicher darauf zählen, daß er da, wo man einen Kaiſeradler auf den Pfählen am Wege oder den Bäumen im Dorfe ſitzen ſieht, beſonders häufig auftritt. Viel ſeltener als ihn nimmt man die Springmaus, unbedingt das zierlichſte Säugetier der Steppe, wahr, aber nicht, weil ſie minder zahlreich vorhanden wäre, ſondern nur, weil ſie als Nachttier erſt nach Sonnenuntergang zum Vorſcheine kommt. Um dieſe Zeit und, begünſtigt vom Mondenſchein auch ſpäter, kann man gewahren, wie das reizende Geſchöpf vorſichtig ſeiner Höhle entſteigt, ſich reckt und dehnt und nunmehr, die zwerghaften Vorderfüßchen dicht an die Bruſt gedrückt, auf den langen Känguruhhinterbeinen wie auf Stelzen — Brehm, Vom Nordpol zum Aequator. 5 66 Die aſiatiſche Steppe und ihr Tierleben dahintrippelt, den ſchlanken, ſteil aufgerichteten Leib beim Gehen mit Hilfe des langen, zweizeilig behaarten Schwanzes im Gleichgewichte haltend. Unſtät, aber nicht allzu ſchnell läuft der Pferdeſpringer über den Boden dahin, hier und dort ein wenig raſtend, weil er von Zeit zu Zeit ſchnüffelt und mit den langen Schnurrhaaren taſtet, um für ihn brauchbare Nahrung ausfindig zu machen. Hier lieſt er ein Samenkorn auf, dort gräbt er eine Zwiebel aus; allein man ſagt ihm auch nach, daß er Aas angehe, ein Vogelneſt plündere, Eier und Junge der Erdniſter raube, ja ſogar auf kleinere Nager jage, und ich wage nicht, ihn hiervon freizuſprechen. Eingehende und genaue Beobachtung ſeines Freilebens iſt übrigens ſchwierig; denn ſeine Sinne ſind ſcharf und ſeine geiſtigen Fähigkeiten gering, Furchtſamkeit und Scheu daher ſeine hervorragenden Eigenſchaften. Sobald ſich in ihm bedenklich ſcheinender Nähe ein Menſch bewegt, ergreift er ſofort die Flucht, und vergeblich würde es ſein, ihm auf dieſer folgen zu wollen: kaum der Reiter holt ihn ein. In mächtigen Sätzen, die langen Hinterbeine kräftig ſchnellend, den langen Schwanz zu ſeiner vollen Länge ausgeſtreckt als Steuer benutzend, eilt er dahin; Satz folgt auf Satz, und ehe man noch recht geſehen, wie er begonnen, wohin er ſich ee iſt er im nächtlichen Dunkel verſchwunden. Andere Tierarten als in der Tiefſteppe treten im Steppen auf, falls dieſes, anſtatt ſanft abfallender Gehänge oder neben dieſen jäh zur Tiefe ſtürzende Felſenwände, trümmerbedeckte Halden, tief eingeriſſene, wilde Schluchten und zackige, pflanzenloſe Gipfel zeigt. In den engen, grünen Thälern, durch welche ein Bächlein fließt oder ſickert, weidet die Fuchsgans, ein ungemein zierlicher, ſchöner, lebhafter Vogel von kaum mehr als Entengröße, die Gans des mittelaſiatiſchen Hochgebirges; in den Felſen— niſchen ruckſt eine der Felſentaube und Stammmutter unſerer Haustaube naheſtehende Verwandte; von den Felsblöcken, auf denen Steinſchmätzer, Felſenammern und Felſengimpel ihr Weſen treiben, ſtrömt der weiche Geſang der Steindroſſel hernieder; die oberen Spitzen umſchweben die munteren Steindohlen, und über ihnen zieht bei Tage der Steinadler ſeine Kreiſe, ſchwebt unhörbar nachts der Uhu, beide beſtrebt, eines der ungemein häufigen Steinhühner oder wohl auch ein unvorſichtiges Murmeltier als Beute zu gewinnen. Allgemeinere Beachtung als ſie alle verdient jedoch der Archar der Kirgiſen, eines der rieſigen Wildſchafe, welche Mittelaſien beherbergt, dasſelbe Tier, welches ich in den Arkatbergen zu erlegen das Glück hatte. Nach den Berichten der von mir auf das ſorgfältigſte ausgeforſchten Die aſiatiſche Steppe und ihr Tierleben. 67 Kirgiſen lebt das ſtolze Tier nicht allein hier, ſondern auch in anderen nicht eben hohen Gebirgen der weſtſibiriſchen Steppen und zwar in Trupps von fünf bis fünfzehn Stücken, Böcke und Schafe bis zur Brunſtzeit in voneinander getrennten Geſellſchaften. Jeder einzelne Trupp behauptet ſeinen Stand, ſolange er nicht geſtört oder beunruhigt wird; geſchieht ſolches, ſo wechſelt er von einem Bergzuge zum anderen; niemals aber auf weithin. Gegen Sonnenuntergang ſteigt das Rudel unter Vorantritt des Leittieres zu den höchſten Bergſpitzen empor, um hier auf für andere gt 8 Archare. Tiere ſchwer erreichbaren oder unzugänglichen Stellen zu ſchlafen; nach Sonnenaufgang begibt ſich alt und jung in die Thäler hinab, um hier ſich zu äſen und an beſtimmt gewählten Quellen zu trinken; während der Mittagszeit lagern ſie ſich im Schatten der Felſenwände, welche freie Umſchau gewähren, ruhen und käuen wieder; gegen Abend ziehen ſie nochmals auf Aeſung hinab. Dies iſt ihr Tageslauf im Sommer wie im Winter. Sie freſſen alle Pflanzen, welche auch dem Hausſchafe be— hagen, zeigen ſich nötigenfalls ebenſo genügſam wie dieſes, leiden daher auch im Winter nur ſelten Mangel und erſtarken im Frühjahre bald wieder ſo, daß ſie fortan bis zum Herbſte wähleriſch nur die leckerſten Pflanzen 68 Die aſiatiſche Steppe und ihr Tierleben. annehmen. Ihr gewöhnlicher Lauf iſt ein raſcher, ungemein fördernder Trott, und ihn beſchleunigen ſie auch, wenn ſie aufgeſcheucht wurden, nur dann, wenn ein Reiter ihnen nachſetzt, zu einem weit ausgreifenden Trabe, welcher ſie dem Verfolger um ſo ſchneller entzieht, als ſie auf der Flucht ſtets den Felſen ſich zuwenden. Flüchtend halten ſie ſich in der Ebene wie im Gebirge faſt unabänderlich in einer Reihe, ſo daß eines dicht hinter dem anderen läuft, nehmen auch dieſelbe Ordnung baldmöglichſt wieder an, wenn ſie plötzlich überraſcht und zerſprengt wurden. Im Ge— felſe bewegen ſie ſich mit überraſchender Leichtigkeit, Gewandtheit und Sicherheit, gleichviel, ob ſie aufwärts oder abwärts ſteigen. Ohne ſich im geringſten anzuſtrengen, ohne auch nur ſich irgendwie zu beeilen, klettern ſie an faſt ſenkrechten Steilwegen auf und nieder, überſpringen ſie weite Klüfte, ſetzen ſie aus der Höhe zur Tiefe herab, als ob ſie Vögel wären und fliegen könnten. Sehen ſie ſich verfolgt, ſo bleiben ſie von Zeit zu Zeit ſtehen, erklettern eine höhere Felſenſpitze, um Umſchau zu halten, und ſetzen hierauf ihren Weg ſo ruhig fort, als ſpotteten ſie ihrer Verfolger. Das Bewußtſein ihrer Kraft und Kletterfertigkeit verleiht ihnen eine wahrhaft ſtolze Gemeſſenheit. Sie übereilen ſich nie, kommen aber auch nur dem im Verſteck auf ſie lauernden oder gedeckt anſchleichenden Schützen gegenüber in die Lage, dies bereuen zu müſſen. Die Schafe leben ſtets, die Böcke bis gegen die Brunſtzeit hin untereinander im Frieden. Letztere fällt in die zweite Hälfte des Oktober und währt faſt einen Monat lang. Mit Beginn dieſer Zeit überkommt die mutigen und ſtreitluſtigen Böcke die tiefſte Erregung. Die älteſten von ihnen nehmen einen beſtimmten Stand ein und vertreiben alle ſchwä— cheren von ihm. Mit gleichſtarken kämpfen ſie auf Tod und Leben, ſtellen ſich dem Gegner drohend gegenüber, erheben ſich auf die Hinterbeine, rennen gegeneinander los und ſtoßen mit den mächtigen Gehörnen zuſammen, daß das Gebirge dröhnend widerhallt. Zuweilen geſchieht es, daß beide ſich verfangen, d. h. ihre Gehörne ineinander verſchlingen, nicht wieder ſich löſen können und elendiglich zu Grunde gehen, ebenſo, daß einer den anderen durch gewaltigen Anprall in den Abgrund ſchleudert und der ab— gedrängte Bock in deſſen Tiefe zerſchellt. | In den letzten Tagen des April oder in den erſten des Mai bringt das Schaf ein einziges oder ein Pärchen Junge zur Welt. Dieſe Lämmer laufen, wie uns gefangene belehrten, ſchon wenige Stunden nach der Geburt mit der Alten davon und folgen ihr nach einigen Tagen auf allen Pfaden, welche ſie einſchlägt, mit der ihnen und ihrem ganzen Geſchlechte Die aſiatiſche Steppe und ihr Tierleben. 69 angeborenen Gewandtheit und Sicherheit nach. Droht ihnen ernſte Ge— fahr, ſo verſteckt ſie die Mutter im Gefelſe, wohl um den Feind von ihnen abzulenken, und kehrt, nachdem ſie ſolchem glücklich entgangen, zu ihnen zurück. Das platt auf den Boden gedrückte Junge verhält ſich mäuschenſtill, wird ſelbſt ſcheinbar zu einem Steine und entgeht ſo oft, jedoch keineswegs immer den Nachſtellungen ſeiner Feinde, am ſeltenſten denen des Steinadlers, welcher ein von dem Mutterſchafe unbeſchütztes Lamm ohne weiteres angreift und tötet. So geſchah es in den Arkat— bergen während unſerer Jagden. Gefangene Archarlämmer, welche wir von den Kirgiſen erhielten, waren allerliebſte Geſchöpfe und bewieſen dadurch, daß ſie ohne Umſtände das Euter ihnen zugeführter Ammen annahmen, daß man ſie ohne beſondere Schwierigkeit aufziehen können muß. Gelänge es, die ſtolzen Tiere in den Hausſtand überzuführen: man würde außerordentlich wertvolle Haustiere an ihnen gewinnen. An ſolches aber denkt der Kirgiſe nicht, vielmehr nur daran, wie er ein oder das andere Wildſchaf erlegen könne. Doch jagt auch er nicht gerade leiden— ſchaftlich auf das gewaltige Tier, und der Wolf bleibt daher, obgleich er nur im Winter bei tiefem Schnee einen oder den anderen Archar nieder— reißt, immer der gefährlichſte Feind desſelben. Ebenſo wie das Gebirge, weiſen auch die dürrſten, ödeſten Strecken der Steppe, welche ſelbſt im Frühlinge an die Wüſten oder Wüſtenſteppen Afrikas erinnern, beſondere, nur auf ihnen vorkommende Tiere auf. Auf ſolchen Strecken verſchwinden bis auf das niedrige Büſchelgras und den hier zu kleinen Sträuchlein verkümmerten Beifuß faſt alle übrigen Pflanzen, welche man ſonſt in der Hoch- und Tiefſteppe wahrnimmt; dagegen hat ſich gerade hier ein abſonderlicher Strauch angeſiedelt, welchen man anderwärts nicht bemerkt: der wegen ſeines überaus harten und ſpröden, der Axt ſpottenden Holzes bezeichnend benannte Widderſtrauch nämlich. Er wurzelt auf den wenigen Stellen der Wildnis, wo die Regen— güſſe mageren roten Lehm zuſammengeſchwemmt haben, bildet hier manch— mal ziemlich ausgedehnte Gebüſche und gibt unter ihnen auch anderen Pflanzen Schutz und Schatten, ſo daß die von ihm begrünten Stellen wie kleine Oaſen der Wüſte erſcheinen wollen. Mehr belebt, als die öde Steppe ringsum ſind dieſe Oaſen jedoch nicht; denn außer einem Würger, der Dorngrasmücke und einem Laubſänger ſieht man keinen Vogel und noch weniger ein Säugetier. Dagegen wohnen gerade in ſolcher Oede mehrere der beachtenswerteſten Steppentiere neben den über alle Gebiete derſelben verbreiteten: neben der kurzzehigen und Kalanderlerche die kohl— a I en, 70 Die aſiatiſche Steppe und ihr Tierleben. ſchwarze Mohrenlerche, ſo auffallend dies auch dem erſcheinen mag, welcher weiß, daß alle Bodenvögel auf ihrem Gefieder die Färbung des Grundes wiederſpiegeln, und welcher deshalb dieſe Lerche gerade auf der Schwarzerde zu finden erwartete, neben dem kleinen Regenpfeifer der Herdenkiebitz, neben dem Großtrappen der ſchlanke Kragentrappe, welchen die Kirgiſen Paßgängertrappe nennen, neben dem Flughuhn das Fauſt- oder Steppen: huhn — dasſelbe, welches vor einer Reihe von Jahren auch einmal maſſenhaft in Deutſchland einwanderte, auf Dünen und ſandigen Stellen ſich ſeßhaft machte und von uns mit Geſchoß und Schlinge, ſelbſt mit Gift ſo ungaſtlich empfangen und verfolgt wurde, daß es ſobald als möglich die grauſame Fremde verließ und vielleicht ſeiner Heimat wieder zuflog; hier hauſen ebenſo neben dem beſonders häufig auftretenden Zieſel die Steppenantilope und der Kulan, das flüchtige Wildpferd der Steppe. Ich will oder muß mich auf eine kurze Schilderung des letztgenannten beſchränken, um den mir gegönnten Zeitraum nicht allzuweit zu über— ſchreiten. Wenn Darwins Lehrſätze als richtig ſich erweiſen ſollten, dürfen wir in dem Kulan vielleicht den Stammvater unſeres, durch jahrtauſend— lange Zucht und Veredlung allmählich umgeſtalteten Pferdes ſehen, eine derartige Annahme befriedigt jedenfalls mehr als die ſchwankende und durch nichts unterſtützte Behauptung, daß der Stammvater unſeres edelſten Haustieres ausgeſtorben ſei, erſcheint mir ſogar glaublicher als die Mei: nung, welche in dem noch gegenwärtig die Steppen am Dnjepr frei durch— ſchweifenden Tarpan nicht ein verwildertes, ſondern ein wildes Pferd er— kennen will. Je beſtimmter und zweifelloſer die neuzeitlichen Forſchungen unſeren Hund, deſſen verſchiedene Raſſen man auch nicht annähernd richtig aufzuzählen vermag, als Nachkommen heute noch lebender Wolf- und Schakalarten erklären, um ſo mehr Boden gewinnt eine Schlußfolgerung wie die von mir angedeutete. Auch die endlich erkannte Stammmutter un— ſerer Hauskatze lebt heute noch in Afrika, die Stammmutter unſerer Ziege in Kleinaſien und auf Kreta; und wenn wir uns bisher über die Stamm— eltern unſeres Schafes und Rindes mit Beſtimmtheit noch nicht entſcheiden konnten, ſo habe ich andererſeits von drei verſchiedenen Seiten her, unter anderen von einem Kirgiſen, welcher das Tier ſelbſt gejagt zu haben verſichert, ſo übereinſtimmende Nachrichten über ein noch heutzutage in den inneren Steppen der Mongolei lebendes, alle Eigenſchaften eines wilden Tieres bekundenden Kameles erhalten, daß ich an der Wahrheit der mir gegebenen Mitteilungen nicht wohl zweifeln, ſondern höchſtens, wie bei dem — SZ SZ : > I> N N % 7 j Y 7 7, 2 7 2 A N (he Steppenhuhn. iſch Das afhat Die aſiatiſche Steppe und ihr Tierleben. il Tarpan, die Frage aufwerfen darf, ob dieſes Kamel der wildlebende Ahne des Haustieres der Kirgiſen oder nur ein wiederum verwilderter Sprößling desſelben ſein könne. Wenn ſich nun mehr und mehr der Schleier lüftet, welcher unſeren befragenden Augen die Wahrheit verbarg und noch verbirgt, wenn ein Stammvater unſerer Haustiere nach dem anderen erkannt und noch unter den lebenden Tieren gefunden wird: warum ſollte gerade der Urahne des Pferdes, deſſen Lebensbedingungen die weite, ungemeſſene Steppe in jeder Beziehung gewährleiſtet, ausge— ſtorben und bis auf die letzen Spuren vergangen ſein? Unter den heute noch lebenden Wildpferden der Alten Welt haben wir das Stammtier des Roſſes zu ſuchen, und unter ihnen hat keines mehr Anrecht auf die Ehre, der Stammvater des edlen Geſchöpfes zu ſein, als der Kulan. Wohl ſteht der Tarpan unſerem Roſſe näher als der Kulan; wenn es aber wirklich die Hykſos waren, welche den alten Aegyptern, deren ſteinerne Urkunden das Haustier zuerſt uns vorführen, das Pferd zubrachten, oder wenn die Aegypter ſelbſt und noch, vor den Zeiten der Hykſos, alſo min— deſtens dritthalbtauſend Jahre vor unſerer Zeitrechnung, es zähmten und zum Haustiere wandelten: in den Steppen am Dnjeper und Don fingen ſie ſicherlich das Stammtier nicht; denn näher, in den Steppen und Wüſten Kleinaſiens, Paläſtinas, Perſiens wie in einzelnen Niederungen Arabiens und Indiens hatten ſie ein heutzutage noch lebendes vielverſprechendes Wildpferd, eben unſeren Kulan. Wohl weicht dieſer in mancher Beziehung von unſerem Pferde ab, nicht aber mehr als der Windhund, der Pudel, der Neufundländer vom Wolfe oder einem ſonſtigen Urhunde eines Landes, nicht mehr als das Dächſel, der Pinſcher, der Seidenhund vom Schakal, nicht mehr als der Pony vom arabiſchen Roſſe, der belgiſch-franzöſiſche Karrengaul vom engliſchen Rennpferde. Uns erſcheinen die Unterſchiede zwiſchen dem Haustiere und dem von mir als wahrſcheinlichſten Stamm— vater angeſehenen Wildpferde ſehr bedeutend; Pferd und Kulan aber ſcheinen ſich als Kinder eines Blutes anzuſehen; denn eines ſucht die Geſellſchaft des anderen. Als wir am 3. Juni 1876 durch die zwiſchen dem Saiſanſee und dem Altai gelegene, öde, wüſtenhafte Steppe ritten, welche mir zu der vorhin gegebenen kurzen Schilderung als Vorbild gedient hat, begeg— neten wir im Laufe des Vormittags nicht weniger als fünfzehn Kulans, unter ihnen auch einer nur aus zwei Stücken beſtehenden Geſellſchaft, welche auf dem breiten Rücken eines nicht allzufernen Hügels weidete. Deutlich und ſcharf zeichneten ſich die beiden Geſtalten gegen den blauen 12 Die aſiatiſche Steppe und ihr Tierleben. Himmel ab, und mächtig regte ſich die Jagdluſt unter uns wie unter den uns begleitenden Kirgiſen. Eines der Tiere entfernte ſich bei unſerem Erſcheinen und trabte dem Gebirge zu; das andere blieb ſtehen, gebärdete ſich, als ob es mit ſich ſelbſt in Zwieſpalt geraten ſei, erhob einmal um das andere den Kopf und kam ſchließlich auf uns zugelaufen. Alle Büchſen wurden zur Hand genommen: die Kirgiſen bildeten langſam und vorſichtig einen weiten Halbkreis in der Abſicht, das auffallend unkluge, weil un— begreiflich ſorgloſe Wild im rechten Augenblicke uns zuzutreiben. Mehr und mehr, in Abſätzen zwar, aber doch ſtetig, näherte ſich uns der Ein— hufer; wir betrachteten ihn bereits als eine uns ſichere Beute. Da glitt ein Lächeln über das Geſicht des neben mir reitenden Kirgiſen: er hatte nicht allein den Beweggrund des anſcheinend ſo thörichten Handelns des Tieres, ſondern auch dieſes ſelbſt erkannt. Es war ein Kirgiſenpferd, welches auf uns zugelaufen kam, ein in ſeiner Färbung dem Kulan ähneln— der Schecken, welcher der Herde ſeines Herrn entlaufen, ſich vielleicht verirrt, mit Wildpferden zuſammengetroffen und, in Ermanglung beſſerer Geſellſchaft, bei jenen geblieben war, jetzt aber in den herannahenden Roſſen ſeinesgleichen erkannte und deshalb ſeine Freunde in der Not ver— ließ. In unmittelbare Nähe unſerer Kirgiſen gelangt, blieb er wiederum ſtehen, als ob er ſich nochmals beſinnen wolle, ob er ſeinen eben erſt vernarbten Rücken von neuem unter den wunddrückenden Sattel beugen ſolle; dem erſten Schritte zur Umkehr folgten aber auch die übrigen: ohne an Flucht zu denken, ließ er ſich einen Halfter umlegen und trabte wenige Minuten ſpäter ſo gleichmütig an der Seite des ihn leitenden kirgiſiſchen Reiters, als habe er niemals das freie Leben ſeiner Ahnen kennen ge— lernt. So war uns durch eigene Erfahrung die bereits vernommene That— ſache, daß Pferd und Kulan zuweilen ſich geſellen, beſtätigt worden. Der Kulan iſt ein wirklich ſtolzes, in jeder Beziehung feſſelndes Geſchöpf, voller Selbſtbewußtſein, Kraft und Uebermut. Neugierig ſtaunt er den Reiter an, welcher ihm ſich nähert; dann aber trabt er ſo läſſig dahin, als ob er den Verfolger verhöhnen wolle, und peitſcht, wie ſpielend, mit dem Schweife die Flanken. Spornt der Reiter ſein Roß zu vollem Laufe, ſo fällt er in einen ebenſo leichten wie fördernden Galopp, welcher ihn mit Windeseile über die Steppe trägt, und entſchwindet raſch dem Auge. Aber auch im vollſten Laufe hemmt er dann und wann plötzlich ſeine Schritte, bleibt einen Augenblick ſtehen, wirft ſich herum, um dem Verfolger das Geſicht zuzukehren, ſichert, wendet von neuem, wirft übermütig beide Hinterbeine in die Luft und ſprengt mit derſelben Leichtigkeit weiter Die aſiatiſche Steppe und ihr Tierleben. 73 wie vorher. Ein flüchtender Trupp ordnet ſich ſtets in einer Reihe, und es ſieht prachtvoll aus, wenn dieſe, wie auf einen Befehl des Anführers, plötzlich anhält, ſchwenkt und wiederum flüchtet. Wie bei allen Pferden ſteht jedem geſchloſſenen Trupp ein Hengſt als Führer und Leiter, aber auch als unbedingter Herr und Herrſcher vor. Er führt den Trupp zur Weide wie zur Flucht, wehrt mutig ihm nicht übermächtigen Räubern und duldet unter ſeinen Untergebenen keinen Streit, daher auch keinen Nebenbuhler, überhaupt keinen zweiten mannbaren Hengſt in der Herde. Daher ſieht man in jedem von ihm bevölkerten Gebiete Einſiedler, welche von keinem Trupp aufgenommen werden, die in heftigen und langwierigen Kämpfen beſiegten und vertriebenen Hengſte, welche bis zur nächſten Roßzeit einſam umherſchweifen müſſen. Im September nähern ſie ſich wiederum den Herden, aus denen der alte Hengſt jetzt die mannbar werdenden Junghengſte vertreibt, und ein grimmiger Kampf beginnt, ſo— bald ſie eines Gegners anſichtig geworden ſind. Stundenlang ſieht man ſie um dieſe Zeit auf der Spitze ſteiler Gebirgsrücken ſtehen; die weit— geöffneten Nüſtern ſind gegen den Wind gerichtet, das Auge blickt auf die Niederung vor ihnen. Sobald der Vertriebene einen anderen Hengſt wahr— nimmt, ſprengt er ihm in geſtrecktem Galopp entgegen und kämpft, Zähne und Hufe gebrauchend, mit ihm bis zur Erſchöpfung. Siegt er über einen Herdenführer, ſo tritt er in deſſen Rechte, und die Stuten folgen ihm wie früher dem Beſiegten. Auf die Zeit des Kampfes folgt die Zeit der Wanderungen; denn der böſe Winter treibt auch dieſe Herde jetzt von einer Stelle zur anderen, und erſt nachdem der Frühling wirklich einge— zogen iſt, kehrt der Trupp auf die alten Stände zurück. Hier bringt die Stute Ende Mai oder Anfang Juni ihr Fohlen zur Welt, ein dem Füllen des Pferdes in jeder Beziehung ähnelndes, anſcheinend zwar plumpes, aber ſehr behendes munteres Tierchen. Wir hatten das beſondere Glück, auch dieſes kennen zu lernen. Einen langgeſtreckten Hügel der erwähnten wüſtenhaften Steppe erklimmend, ſahen wir plötzlich in geringer Entfernung drei alte Kulans und ein offenbar erſt vor wenigen Tagen geborenes Füllen vor uns. Unſer ruſſiſcher Begleiter feuerte eine Kugel auf ſie ab, und dahin ſtürmten die Wildpferde, mit den feinen Hufen den Boden kaum berührend, ihre un— vergleichliche Behendigkeit wie ſpielend bethätigend, auch in erfichtlicher Weiſe zu gunſten des Füllens ihren Lauf hemmend; dahin ſtürmten auch in demſelben Augenblicke alle Kirgiſen und Koſaken unſeres Gefolges; dahin jagten, vom allgemeinen Taumel fortgeriſſen, unſere Diener; dahin 74 Die aſiatiſche Steppe und ihr Tierleben. ſtoben auch wir. Es war eine wilde Jagd! Immer noch mit ihren Kräften ſpielend, liefen die Wildpferde den fernen Bergen zu, während alle Reiter ihre Roſſe zwangen, die volle Kraft einzuſetzen, und die Bäuche der Tiere faſt den Boden ſtreiften. Jauchzendes Geſchrei der Kirgiſen, Stampfen ihrer im vollſten Laufe dahinſprengenden Roſſe, Wiehern unſerer langſamer laufenden, unter dem Zügel knirſchenden Reitpferde durchhallten, flatternde Mäntel und Kaftane, aufwirbelnder Staub erfüllten und belebten die Einöde. Weiter und weiter raſte die Jagd dahin. Da trennte ſich das Füllen von ſeinen älteren Genoſſen und blieb um etwas zurück; der Ab— ſtand zwiſchen ihm und der wiederholt ſorgende Blicke nach ihm werfenden Mutterſtute vergrößerte, der Raum zwiſchen ihm und den Reitern ver— ringerte ſich: noch wenige Minuten und es war gefangen. Widerſtandslos ergab es ſich ſeinen Verfolgern; von der Wildheit, dem kaum zu bezwingen— den Eigenſinn, dem niemals zu bändigenden, nicht ſelten in förmliche Tücke ausartenden Mutwillen älterer Tiere ſeiner Art war noch keine Spur wahrzunehmen. Harmlos ſchaute es uns an mit ſeinen großen, lebhaften Augen; anſcheinend mit Wohlbehagen ließ es ſich das zarte Fell ſtreicheln, ohne Widerſtreben an einer ihm angelegten Feſſel leiten; kindiſch ſorglos legte es ſich neben uns nieder, um nach der Hetzjagd, welche ihm gegolten, die ihm offenbar ſehr nötige Ruhe zu finden: es war ein rei— zendes, jedermann für ſich einnehmendes Geſchöpf! Wer ihm doch ſofort eine ſäugende Stute zur Amme, wer ihm Ruhe und Pflege hätte ver— ſchaffen können! Das eine wie das andere war unmöglich, das liebens— würdige Weſen daher auch bereits am zweiten Tage tot. Ein erwach— ſenes Wildpferd würden wir mit Jägerluſt erlegt haben: das junge Füllen ſterben zu ſehen, that uns wahrhaft leid. Vergeblich verſuchten wir eines der alten Tiere zu berücken; ver— geblich legten wir uns angeſichts der Mutterſtute neben dem angebundenen Füllen ins Verſteck; vergebens veranſtalteten wir Triebe: keiner von uns kam zum Schuſſe. Als Jäger ſchied ich mit Bedauern, als Forſcher mit höchſter Befriedigung aus der armſeligen Einöde: hatte ich doch in ihr das edelſte Säugetier der Steppe kennen gelernt. Wald. Wild und Weidwerk in Sibirien. er Eindruck der Gleichartigkeit und Eintönigkeit, welchen die Land— ſchaften Sibiriens hervorrufen, wird dadurch bedingt, daß drei unter ſich verſchiedene, in ſich mehr oder weniger übereinſtimmende Breiten— gürtel faſt allerorten zur Geltung gelangen. Jeder dieſer Gürtel bewahrt überall ſeine Eigenart, bringt ähnliche Bilder hundertfach vor das Auge, überſättigt und ſtumpft nach und nach die Empfänglichkeit in ſo hohem Grade ab, daß man beinahe unfähig wird, die Reize der einen oder anderen Landſchaft zu erkennen und zu würdigen. Daher ſpricht man ſelten mit Anerkennung, noch weniger mit Wärme von den Landſchaften des weiten Gebietes, obgleich jene beides verdienen; dementſprechend hat ſich all— mählich eine Auffaſſung Sibiriens in uns befeſtigt, welche der Wirklichkeit ebenſowenig entſpricht, als ſie verſuchter Belehrung zähen Widerſtand ent— gegenſetzt. Sibirien gilt als ſchauderhafte Eiswüſte ohne Leben, ohne Wechſel, ohne Reiz, als ein unter dem Fluche des Himmels oder doch un— glückſeliger Verbannter erſtarrtes Land. Man vergißt dabei vollſtändig, daß es ſich um ein reichliches Dritteil Aſiens handelt, daß ein Land, welches beinahe doppelt ſo groß als ganz Europa iſt, vom Ural bis zum Stillen Weltmeere und vom Eismeere bis in die Breite von Palermo ſich erſtreckt, unmöglich in ſo ausgedehntem Sinne gleichartig, in jedem ſeiner Teile dasſelbe ſein kann, faßt regelmäßig nur eines ſeiner Gebiete in das Auge und ſieht auch dieſes in falſchem Lichte. In That und Wahrheit iſt Sibirien wechſelvoller, als irgend jemand es bisher geſchildert hat. Auch in ihm unterbrechen oder begrenzen Gebirge die Ebenen, beleben ſtehende und fließende Gewäſſer dieſe wie jene, über— gießt die Sonne Berge und Thäler mit ſchimmerndem Lichte und farbigem 76 Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. Schmelze, ſchmücken hochgewipfelte Bäume und prachtvolle wie liebliche Blumen alle Gelände, leben glückliche, ihrer Heimat frohe Menſchen. Aber freilich, Wildniſſe gibt es noch heutigentags in Sibirien, welche, wie die ja wirklich vorhandene Eiswüſte, die Tundra, jener land— läufigen Auffaſſung gewiſſe Berechtigung verleihen. Solche ſind auch die zwiſchen der Tundra und der Steppe gelegenen Waldungen, welche den dritten Gürtel bilden. In ihnen wagte der Menſch noch immer nicht, feſten Fuß zu faſſen; an ihnen ging das Thun und Treiben der grenz— bewohnenden Siedler meiſt ſpurlos vorüber. Höhere Mächte walten und wirken noch ungebändigt in ihnen, um zu vernichten wie zu erziehen. Ihre Beſtände ſetzt der flammende Strahl aus Himmelshöhen in Brand und wirft der toſende Winterſturm zu Boden: ſie erwachſen und vergehen auch ohne Zuthun des Menſchen und dürfen daher Urwaldungen im vollſten Sinne des Wortes genannt werden. Geheimnisvoll ziehen ſie an, und un— freundlich ſtoßen ſie zurück; verlockend laden ſie den Jäger ein, und wider— ſtrebend hemmen ſie ſeine Schritte; reichen Gewinn verſprechen ſie dem begehr— lichen Kaufmanne, und auf die Zukunft erſt verweiſen ſie ſeine Wünſche. Zwiſchen Steppe und Tundra liegt der Waldgürtel Sibiriens. Hier und da greift er in dieſe oder jene hinaus, hier und da buchtet die eine oder andere in ihn ſich ein. An einzelnen Stellen der beiden waldloſen Gebiete kann wohl auch geſchloſſener Wald den der Steppe oder der Tundra eigenen Pflanzenarten das Anrecht auf den Boden ſtreitig machen; doch laſſen ſich derartige Einzelwaldungen faſt immer Inſeln im Meere vergleichen, denen ſcheinbar die Berechtigung des Daſeins fehlt. In der Steppe beſchränken ſie ſich auf die nach Norden abfallenden Gehänge der Gebirge und auf Flußthäler, in der Tundra auf die tiefſten Einſenkungen, erſcheinen daher hier wie dort bedeutungslos gegenüber den unermeſſenen Beſtänden des Waldgürtels, in denen nur hier und da ein Strom, ein See, ein Sumpf die ſonſt allſeitig ſich ausdehnende Baumwildnis unter— bricht, ein Brand Blößen ſchafft, der Menſch endlich, wenn auch nur am äußerſten Saume eine Lücke reißt. Länder nach unſeren Begriffen könnten Raum finden in einem einzigen dieſer Beſtände; Königreiche ſtehen an Ausdehnung hinter der Fläche zurück, welche ein ſolcher bedeckt. Wie das Innere der Waldungen beſchaffen iſt, vermag niemand zu ſagen, weil nicht einmal die aus ſolcher Wildnis den Hauptſtrömen zufließenden Ge— wäſſer hemmnisloſes Vordringen erlauben und ſelbſt die kühnſten Zobel— jäger nur einen Grenzgürtel von höchſtens einhundert Kilometer Breite kennen gelernt haben ſollen. a Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. 7 Der Eindruck, welchen Sibiriens Wälder auf den deutſchen Reiſenden ausüben, iſt im allgemeinen kein günſtiger. Angeſichts der endlos er— ſcheinenden Strecken, welche bewaldet ſind, ſtaunt man wohl, erwärmt ſich aber nicht oder doch nur in ſeltenen Fällen. Die ſchaffende, erzeugende, ergänzende Macht des Nordens ſcheint nicht ausreichend zu ſein, um den zerſtörenden Gewalten das Gleichgewicht zu halten. Greiſenhaftes Alter vereinigt ſich mit kindiſcher Jugend, ohne daß dieſe Verbindung erquicklich wirkt; unſchätzbarer Reichtum tritt im Bettlergewande vor das Auge; ab— geſtorbenes Leben ohne kräftiges Erkeimen verſcheucht freudiges Empfinden. Allüberall glaubt man harten Kampf um das Daſein wahrnehmen zu können; aber nirgends wird man wirklich gefeſſelt, waldheimlich angezogen; nirgends entſpricht das Innere der Wälder den Erwartungen, welche ihr Aeußeres erweckte. Die Großartigkeit der Urwälder niederer Breiten mangelt dieſen ſich ſelbſt überlaſſenen, ungepflegten Waldungen ganz und gar, und das in ihnen ſich regende Leben ſcheint dem Banne des Todes bereits anheimgefallen zu ſein. Wirklicher Hochwald, lebensfriſcher, regelmäßigem Wechſel unter— worfener Beſtand iſt ſelten, durch das Feuer zerſtörter weit häufiger. Früher oder ſpäter ſetzt ein Blitzſtrahl oder die ſträfliche Leichtfertigkeit des Sibiriers den Wald in Flammen. Begünſtigt durch Jahreszeit und Wetter wütet ein Waldbrand in kaum glaublicher Weiſe. Nicht ſtunden-, ſondern tage-, ſelbſt wochenlang währt die Zerſtörung. Auf dem mooſigen und torfigen Boden kriecht und ſchwelt die Flamme weiter; das maſſen— haft jenen bedeckende trockene und mulmige Fallholz gibt ihr Nahrung und Beſtändigkeit; verdorrte, bis zum Grunde niederhängende Zweige oder noch aufrecht ſtehende wipfeldürre Stämme leiten ſie zu den Kronen lebender Hochbäume empor. Unter brauſendem Kniſtern verfallen ihr die harzigen Nadeln, und eine rieſige Funkengarbe ſchießt zum Himmel auf. Der Hochbaum iſt binnen wenigen Minuten getötet, der Vernichtung ge— weiht; die von ihm ausſtrahlende Feuergarbe aber fällt in tauſend Funken nieder, und ringsum erwachſen neue Flammen der glühenden Saat. Solcherart mit jeder Minute weiteren Boden gewinnend, allſeitig ſich aus— dehnend, ſchreitet das Verderben unaufhaltſam vor; nach Verlauf einiger Stunden ſtehen Geviertmeilen des Waldes in Flammen. Qualmende Rauchwolken verdüſtern die Sonne auf Hunderte von Geviertwerſten; lang— ſam, aber dicht und immer dichter niederrieſelnde Aſche künden bei Tage, Widerſchein der feurigen Lohe am Himmel zur Nachtzeit fernab Woh— nenden ſolchen Brand; angſterfüllte Tiere tragen den Schrecken bis in das 78 Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. Innere der Ortſchaften. Bären erſcheinen unmittelbar nach größeren Wald— bränden in Gegenden, woſelbſt man ſie ſeit Jahren nicht mehr beobachtete; Wölfe wandern in bedrohlicher Menge, geſchart wie im Winter, durch das weite Land; Elche, Hirſche, Rehe, Renntiere ſuchen in fernab ge— legenen Wäldern neue Wohnſtätten; Eichhörnchen durcheilen, manchmal in unſchätzbaren Scharen, Wälder und waldloſe Strecken, Weiden und Felder, Dörfer und Städte. Wie viele der geängſtigten Tiere dem Feuer zum Opfer fallen, entzieht ſich jeder Mutmaßung; wohl aber hat man erfahren, daß vom Brande heimgeſuchte Waldungen viele Jahre nach ihrer Ver— nichtung noch nicht wieder beſiedelt waren, und daß geſchätzte Jagdtiere aus ſolchen Gegenden vollſtändig verſchwanden. Freilich erſtrecken ſich die Verwüſtungen durch Waldbrände viel weiter, als wir annehmen: im Jahre 1870 verheerte ein gegen vierzehn Tage währender Brand eine halbe Million Hektare gut beſtandener Wälder des Gouvernements von Tobolsk und verbreitete Rauchwolken und Aſchenregen bis in eine Entfernung von ſechzehnhundert Werſt vom Feuerherde. Noch viele Jahre nach dem Brande erſcheint der zerſtörte Waldesteil als ungeheure Trümmerſtätte; noch ein oder zwei Menſchenalter ſpäter läßt dieſe ſich erkennen und begrenzen. Die Flammen vernichteten wohl das Leben der Bäume, verzehrten aber nur diejenigen unter ihnen, welche zur Zeit des Brandes bereits verdorrt waren; die mehr angerußten als verkohlten Stämme jener bleiben daher ſtehen, und ſelbſt ihre Wipfel büßten bloß die Nadeln, Schößlinge und dürren Zweige ein. Mit dem Abſterben der Bäume aber beginnt ihre Vernichtung. Unabwendbar fallen ſie früher oder ſpäter dem Sturme anheim. Einer und der andere wird zu Boden geworfen, einer und der andere entaſtet, entwipfelt, im oberen Dritteile oder Vierteile abgebrochen. Kreuz und quer, in allen Richtungen durch-, in verſchiedenen Höhen übereinander, liegen nach geraumer Zeit Tauſende von Baumleichen am Grunde, welchen unzählige Baumtrümmer bereits früher bedeckten. Die einen ruhen auf ihren Wurzeln und Wipfel— äſten; die anderen lehnen an noch aufrechtſtehenden Stämmen; wieder andere liegen, zertrümmert ſchon, zwiſchen dem Geäſte und Gezweige ge— fallener Wipfel, ihre eigenen Kronen oft weit entfernt vom Stamme, die Aeſte ringsum zerſtreut, nach allen Seiten hin verweht. Die, welche dem Sturme noch Widerſtand leiſten, rufen in der Seele jedes Waldfreundes einen vielleicht noch kläglicheren Eindruck hervor, als jene, welche er fällte. Nackten, kahlen Maſtbäumen vergleichbar, ragen ſie empor. Wenige nur behalten längere Jahre nach dem Brande noch ihre Wipfel oder doch Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. 79 Wipfelteile; die entzweigten oder verwitterten Aeſte der Krone erhöhen jedoch eher den traurigen Eindruck, als ſie ihn ſchwächen. Nach und nach ſinken alle Kronen zum Boden hernieder, und nunmehr vermulmen auch die noch aufrechtſtehenden Stämme mehr und mehr. Spechte bearbeiten ſie an allen Seiten, meißeln in ſie ihre Niſthöhlen ein, zimmern meter— lange und bis zum Kern reichende Gruben aus, ſchaffen ſo der Feuchtig— keit günſtige Gelegenheit, einzudringen und leiſten der Vermoderung wei— teren Vorſchub. Im Laufe der Jahre vermorſcht auch der rieſigſte Stamm ſo vollſtändig, daß er zu einem gleichartigen Mulme wird und alle und jede Widerſtandsfähigkeit verliert, daß durch Menſchenhand bewirktes Rütteln ausreicht, ihn als geſtaltloſes Getrümmer zu fällen. Endlich ver— geht auch dieſes, und eine weite, nur hier und da durch Baumreſte unter— brochene Fläche liegt vor dem Auge. Inzwiſchen iſt jedoch auch hier neues Leben aus den Ruinen er— blüht. Schon einige Jahre nach dem Brande beginnt die verkohlte, durch Aſche und Mulm gedüngte Bodenfläche wiederum ſich zu bekrönen. Flechten und Mooſe, Farne und Heiden, vor allen aber verſchiedene Beergeſträuche überkleiden Boden und Baumtrümmer, gedeihen üppiger als irgend ſonſtwo und ziehen bald ebenſo verſchiedene Tiere an, als der Brand ſolche ver— ſcheuchte. Vom Winde herbeigeführte Birkenſamen keimen und treiben, und allgemach entſteht, zunächſt ausſchließlich durch ſie, ein ſo geſchloſſenes Dickicht, als ob es durch Menſchenhand bewirkter Ausſaat entſproſſen ſei. Nach einigen Jahren verhüllt junger Aufſchlag den unteren Teil des Leichenfeldes; nach Verlauf einer ferneren Friſt treten allmählich auch andere Waldbäume an die Stelle ihrer Vorfahren. Jeder Waldbrand verſchont einzelne Teile des von ihm ergriffenen Beſtandes, ſogar einzelne inmitten der Brandſtätte erwachſene Bäume und ermöglicht dadurch Wieder— beſamung der verheerten Strecken. Gewäſſer ſowohl wie tief eingeriſſene Schluchten ſetzen ihm Grenzen; ja, es geſchieht, daß die Flammen über letztere hinweggreifen und am jenſeitigen Ufer ihr Zerſtörungswerk fort— ſetzen, ohne die in der Tiefe der Schlucht ſtehenden Bäume zu gefährden. Aber auch einzelne Lärchen, welche vom Feuer ergriffen wurden, über— dauern den Brand. Wohl verkohlen die Flammen den Fuß ihrer Stämme; wohl verzehren ſie alle Nadeln: aber die Krone ſchlägt oft wieder aus, und der Baum friſtet, wenn auch kümmernd, noch längere Zeit ſein Daſein. Gegenüber den Verheerungen durch das Feuer erſcheinen die dem Menſchen zur Laſt fallenden Waldverwüſtungen unerheblich, ſo bedeutend fie in That und Wahrheit auch find. Von Walsdpflege hat der heutige 80 Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. Sibirier keinen Begriff. Ihm gilt der Wald als Eigentum des „lieben Herrgott“; was dieſer beſitzt, gehört aber auch dem Bauer: und er denkt, angeſichts des noch immer unendlichen Reichtums, gewiß nicht an Scho— nung, thut im Gegenteile, was ihm gutdünkt, was ſeiner Meinung nach der augenblickliche Bedarf erheiſcht. Jeder Sibirier ſchlägt und rodet, wie und wo es ihm gefällt, und jeder verwüſtet unendlich mehr, als er wirklich bedarf. Um einiger Zapfen willen fällt man Nadelbäume, gleichviel ob ſie im beſten Wachstum ſtehen oder nicht; um Bauholz zu gewinnen, ſchlägt man das Drei- und Vierfache von dem, was man braucht, und läßt das übrige achtlos liegen, oft ohne es auch nur als Brennholz zu verwenden. Schon gegenwärtig macht ſolches ſinnloſe Gebaren folgen— ſchwer ſich geltend. Alle Waldungen in der Nähe der Ortſchaften, hier und da ſelbſt der Straße, ſind abgewirtſchaftet und ſehen meiſt nicht viel beſſer aus als die durch Feuer zerſtörten, und noch immer geht die Ver— wüſtung ihren Gang. Erſt ſeit dem Jahre 1875 wirken in Weſtſibirien Forſtbeamte; aber auch ſie richten ihr Augenmerk mehr auf die Aus- als auf die Wiederanforſtung der Wälder. Letztere zeigen übrigens ſelbſt da, wo weder der Menſch noch das Feuer ſie heimſuchte, ein von den unſerigen weſentlich abweichendes Ge— präge: das der vollſten, uneingeſchränkteſten Urwüchſigkeit. Und nur aus— nahmsweiſe wirkt dieſe anziehend auf uns. Wohl feſſelt es anfänglich, alle Zuſtände des Werdens und Vergehens mit einem einzigen Blicke zu erfaſſen; bald aber tritt das Erſtorbene greller hervor als das Erkeimende, und dieſer Eindruck ſtimmt herab, anſtatt zu erheben. In ſolchen ur— wüchſigen Wäldern wechſelt dichter Beſtand mit kahlen Blößen, Hochwald mit Dickichten, alte, greiſenhafte Ueberſtänder mit kräftigem Nachwuchſe ab. Auch hier ſtehen und lehnen, hängen und liegen vermorſchende Bäume allüberall. Aus den Ueberreſten gefallener Stämme ſproſſen junge Schöß— linge auf; rieſige Baumleichen ſperren in Dickichten Wege und Stege. Weiden und Eſpen, neben der Birke die häufigſten Laubbäume aller weſt— ſibiriſchen Waldungen, zeigen ſich in untadelhafter Vollendung und ſehen manchmal aus, als ob ſie fortwährend gehindert würden, ſich zu vollem Wachstume zu erheben. Mehr als mannsdicke Stämme tragen wirre Kronen von wenig Umfang, aus denen von Jahr zu Jahr neue Zweige brechen, ohne daß es dieſen gelingt, zu Aeſten zu erſtarken; andere an— ſcheinend uralte Bäume treten nur in Buſchform auf; wieder andere ſind in ihrer Stammmitte gebrochen, zerſplittert und zerſchleißt, weiter oben verdreht, und der untere Teil hängt mit dem oberen nur noch durch die Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. 81 Schale zuſammen. Selten gewahrt man ein einheitliches Bild; faſt alles ſieht aus, als ob es verkommen wäre und mehr und mehr verderben müſſe. Doch gilt dieſe Schilderung nicht von allen Waldungen des weiten Gebietes; es treten im Gegenteile, zumal im Süden des Waldgürtels, Beſtände vor das Auge, an denen dieſes mit Befriedigung haftet. Lage und Oertlichkeit, Bodenbeſchaffenheit und ſonſtige Umſtände vereinigen ſich manchmal zu gedeihlicher Zuſammenwirkung. Dann ändert ſich mit freudi— gerem Wachstume der einzelnen Bäume auch die Zuſammenſetzung der Beſtände, und der faſt überall üppige Unterwuchs vervielfältigt ſich in ungeahnter Weiſe. Freilich begrüßt man jede neu auftretende Baum— oder Buſchart, welche die Artenarmut dieſer Waldungen mindert, mit be— ſonderer Freude: fehlen doch auch den reichſten Beſtänden noch immer viele Bäume, welche wir in Europa unter gleicher Breite ſelten ver— miſſen. Einförmig und eintönig, wie die Steppe, wie die Tundra, ſind auch die Wälder dieſes Landes. In den Stromthälern des Waldgürtels fällt die Gleichartigkeit der Beſtände vielleicht am meiſten auf. Hier herrſcht die Weide, an den Ufern wie auf den Inſeln oft ausgedehnte Auwaldungen bildend, ſo un— bedingt vor, daß andere Bäume kaum zur Geltung gelangen. Auf weite Strecken hin bildet ſie allein den Beſtand der Wälder des Thales, erhebt ſich auch an vielen Stellen zu ſtattlicher Höhe, gewinnt aber ſelbſt dann nur in Ausnahmsfällen an Ausdruck und Reiz. Denn der einzeln ſtehende Baum iſt nicht mehr, eher weniger maleriſch als die buſchartige Weiden— gruppe: ſeine Krone bleibt immer dünn und unregelmäßig, erſcheint nicht geſchloſſen, vielmehr durchſichtig, beinahe dürftig, und wird bei öfterer Wiederholung langweilig. Stehen die Bäume, wie gewöhnlich, dicht neben— einander, bilden ſie ein Dickicht, ſo verlieren ſie noch mehr als der einzeln ſtehende von ihrer Eigentümlichkeit, weil unter ſolchen Umſtänden alle Stämme wie Pfähle nebeneinander aufſteigen und alle Kronen zu einer geſchloſſenen, oben geradlinig abgedachten, an eine geſchorene Hecke erin— nernde Laubmaſſe verſchmelzen, in welcher der einzelne Baum gänzlich aufgeht. Als freundliche Zugaben ſolcher eintönigen Auwaldungen er— ſcheinen die eingeſprengten Pappelarten, im Süden die Silberpappel, im Norden die Eſpe, welche beide im ſtande ſind, die Weidenbeſtände zu beleben. Noch im Stromthale ſelbſt, jedoch immer nur auf Stellen, welche regelmäßig wiederkehrenden Ueberſchwemmungen nicht ausgeſetzt ſind, tritt neben den genannten Auwaldbäumen die Birke auf; ihre Beſtände bilden Brehm, Vom Nordpol zum Nequator, 6 82 Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. ſogar ziemlich regelmäßig zwiſchen den Au- und Nadelwäldern das ver— mittelnde Bindeglied. Aber die Birke erreicht nur im Süden des Wald— gürtels volle Größe und Ueppigkeit, fällt außerdem den Bränden ebenſo widerſtandslos zum Opfer wie der harzigſte Nadelbaum und iſt daher wenig geeignet, das Gepräge der Auwälder zu beeinfluſſen oder zu ver— ändern. Reine, mehr oder minder ungemiſchte Birkenwaldungen begrenzen den Waldgürtel im Süden und greifen manchmal weit in die Steppe hinaus, treten aber nur ausnahmsweiſe als dichte, geſchloſſene und ältere Beſtände auf und enttäuſchen, wenn man ſie betritt. Erſt die Nadelwälder, welche alle zwiſchen den Flußläufen belegenen Stellen bekleiden, feſſeln und befriedigen oft das Auge des Weſtländers. In ihnen bilden, falls die Tundra nicht bereits zur Geltung gelangte oder doch ſich bemerklich macht, Fichten und Föhren, Pichten und Arven, ſeltener Lärchen, den Hauptbeſtand, in welchen Eſpen und Weiden, hier und da wohl auch Ebereſchen und Traubenkirſchen eingeſprengt ſind und Birken oft in ebenſo großer Dichtigkeit auftreten wie in reinen Beſtänden dieſes begnügſamen Baumes. Pichte und Arve ſind die Charakterbäume aller weſtſibiriſchen Nadelwälder, beide meiſt auch in gleicher Weiſe durch Schön— heit und freudiges Wachstum ausgezeichnet. Namentlich die Pichte iſt ein herrlicher Baum. Unſerer Edeltanne nahe verwandt und ſie in allen oſt— ruſſiſchen und weſtſibiriſchen Waldungen vertretend, fällt ſie ſchon aus weiter Entfernung in das Auge, da ſie unter allen übrigen Nadelbäumen bedeutſam hervortritt. Von der Tanne wie von der Fichte unterſcheidet ſie der ſtolze Aufbau ihrer ſchlank kegelförmigen Krone und die reiche, weiche, friſch hellgrüne Benadelung ihrer Zweige. Faſt immer überragt ſie an Höhe die übrigen Bäume des Waldes, reckt ſogar meiſt das volle obere Dritteil ihres Wipfels über die Kronen dieſer empor und unterbricht ſo wirkungsvoll jede Firſtlinie der Waldungen, drückt daher einzelnen Teilen der letzteren ein durchaus eigenartiges Gepräge auf. Aber auch die Arve oder Zirbelkiefer, welche vorzugsweiſe im Süden des Waldgürtels gedeiht, jedoch bis hoch nach Norden hinauf noch vorkommt, hebt ihre runden, weichen, meiſt geſchloſſenen Wipfel vorteilhaft von denen der Fichten und Föhren ab und trägt nicht unweſentlich dazu bei, den Wald äußerlich zu zieren und anziehender erſcheinen zu laſſen, als er iſt. Fichten und Föhren fehlen keinem Teile des Waldgürtels, gedeihen jedoch keineswegs allerorten in gleicher Ueppigkeit wie in unſeren deutſchen Mittelgebirgen und ſinken gegen Norden hin raſch zu greiſenhaften Krüppeln herab. Auch die Lärche, als deren wahre Heimat Sibirien gelten darf, wächſt nur im Süden des Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. 83 Waldgürtels, zumal im Gebirge, zu ebenſo ſtattlicher Höhe empor wie bei uns zu Lande. Mit den erwähnten Arten iſt die Anzahl der in den Waldungen Weſtſibiriens regelmäßig auftretenden Bäume nahezu erſchöpft. Eichen und Buchen, Rüſtern und Eſchen, Linden und Ahorne, Tannen und Eiben, Hornbäume und Schwarzpappeln ſcheinen gänzlich zu fehlen. Dagegen finden ſich überall Gebüſche und Geſträuche in Hülle und Fülle. Selbſt im Norden iſt die Bodendecke der Waldungen überraſchend reich und üppig. Johannis- und Himbeeren gedeihen noch unter dem achtundfünf— zigſten, eine Geißblattart noch unter dem ſiebenundſechzigſten Grade; Wacholder, Weißerle, Wollweide, Rauſch- und Heidel-, Preißel- und Schollbeere nehmen nach Norden hin eher zu als ab, und ſelbſt an der Grenze der Tundra, welche ihre Zwergbirke und Rosmarinheide, ihre Mooſe und Moosbeere bis in das Innere der Wälder vorſchiebt, ſieht man den Boden noch überall dicht bedeckt, da die Mooſe um ſo üppiger zu gedeihen pflegen, je armſeliger die Wälder werden. Aber auch die Steppe trägt dazu bei, die Waldungen zu bereichern, indem ſie im Süden des Waldgürtels nicht allein den größeren Teil der ihr zugehörigen Ge— büſche und Geſträuche, ſondern auch verſchiedene Stauden und Blumen an die Wälder abtritt oder anſchließt. So werden hier einzelne Wald— teile zu Naturparken gewandelt, welche im Frühjahre und Vorſommer eine geradezu überraſchende Blütenpracht entfalten können. Als Beiſpiel eines mit allen Reizen dieſer Art prangenden Waldes darf die zwiſchen den Städten Schlangenberg und Salain im Krongute Altai belegene „Taiga“ gelten. In dem weiten Gelände, welches dieſer herrliche Wald bedeckt, rufen Längskämme und Rundberge, Thäler, Mul— den und Keſſel an und für ſich anmutenden Wechſel hervor. Ein Hügel baut ſich neben und über dem anderen auf, und die Firſtlinie des Waldes gelangt überall zur Geltung. Föhren und Pichten, Eſpen und Weiden, Ebereſchen und Traubenkirſchen bilden den Beſtand der Hochbäume, miſchen ſich in bunteſter Weiſe und verteilen Hell und Dunkel, Licht und Schatten; die ſanften Linien der Laubkronen werden durch die ſie überhöhenden Wipfelkegel der Pichten reizvoll unterbrochen. Erbſenbaum und Erbſen— ſtrauch, Schneeball und Geißblatt, Heideroſe und Johannisbeerbuſch ver— einigen ſich zum blütenreichen Unterwalde; mannshohe Doldengewächſe, zumal Schierling und Spierſtaude, Farne und Frauenhaargräſer, Ritter— ſporn und Fingerhut, Glockenblume und Nieswurz, alle in unerreichter Ueppigkeit aufſchießend, weben den bunten Bodenteppich; wilder Hopfen 84 Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. klettert und rankt von ihm aus zu den Hochbäumen empor. Es iſt, als ob die Kunſt des Landſchaftsgärtners verſtändnisvoll gewaltet, als ob Menſchenhand das ganze Landſchafts- und Waldbild geſchaffen habe. Im Süden zeigen die Waldungen ihre größte Pracht im Frühjahre, im Norden im Herbſte. Schon in den erſten Tagen des September ver— gilben hier die Blätter der Laubbäume, und um die Mitte des Monats iſt der nordſibiriſche Wald bunter als irgend einer der unſrigen. Vom dunkelſten Grün bis zum brennendſten Rot, durch Grün und Hellgrün, Hell- und Dunkelgelb, Blaß- und Lackrot ſind alle Farbenſchattierungen vertreten. Auf die dunklen Fichten und Pichten folgen Zirbelkiefern und Lärchen; an ſie reihen ſich die wenigen, noch nicht vergilbten Birken an. Alle Zwiſchenſtufen von Dunkel- zu Hellgrün und Grünlichgelb zeigen die Weißerlen; hellzinnoberrote Blätter tragen die Eſpen, lackrote die Eber— eſchen und Traubenkirſchen. Das bunte Gemiſch aller dieſer Farben des Waldes iſt ſo vollkommen und doch ſo maßvoll, daß es Sinn und Gemüt in hohem Grade befriedigt. Solcherart ſind die Bilder, welche die Waldungen Weſtſibiriens dem Auge des Reiſenden entrollen. Es handelt ſich jedoch bei allen, welche zu zeichnen verſucht wurden, immer nur um einen Saumgürtel von geringer Breite. Entſprechend der Beſchaffenheit aller dieſer Urwaldungen erſcheint es dem Weſtländer, mindeſtens im Sommer, gänzlich unmöglich, tiefer hinein— zudringen. An den Gehängen der Berge hemmen Halden und Dickichte, im Hügellande wie in der Ebene umgeſtürzte Bäume und verworrenes Geſtrüpp, in Keſſeln und Thälern ſtehende und fließende Gewäſſer, zumal Bäche und Sümpfe, den Fuß. Ausgedehntes Felsgetrümmer, durch- und übereinander gerollte und geſchichtete Blöcke und Steine bilden in allen Gebirgen Halden; Flechten überſpinnen, Mooſe überwuchern die Geſteins— maſſen und verhüllen trügeriſch die zahlreichen Spalten und Gruben zwi— ſchen ihnen; junger Aufſchlag wurzelt auf und zwiſchen dem älteren Be— ſtande, welcher im Laufe der Zeiten auch hier entſtand, und alte wie junge Bäume vermehren das Wagnis des Verſuches, ſolche Stellen zu über— ſchreiten. In der Tiefe des Landes ſind die Schwierigkeiten, welche alle Waldungen bieten, kaum geringer. Buchſtäblich undurchdringliche Dickichte, wie Urwälder der Gleicherländer ſolche aufweiſen, gibt es freilich nicht, Hemmniſſe aber demungeachtet in Menge. Die umgeſtürzten Stämme werden um ſo läſtiger, als die meiſten von ihnen nicht auf, ſondern in unbequemer Höhe über dem pfadloſen Wege liegen, alſo Schlagbäume im unangenehmſten Sinne des Wortes darſtellen. Manchmal iſt es möglich, Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. 85 über ſie hinwegzuklettern, oder unter ihnen durchzukriechen; ebenſo oft aber läßt ſich weder das eine noch das andere thun, und man wird zu Umwegen genötigt, welche um ſo unliebſamer ſind, als ſie, ohne beſtändige Zuhilfenahme des Kompaſſes, nur allzuleicht aus der beſtimmten Richtung und dann in die Irre führen. Auf wirkliche Blößen ſtößt man ſelten; verſucht man, auf ihnen weiterzuſchreiten, ſo belehren tiefe, mit Schlamm und Moder erfüllte Löcher und Pfuhle, daß auch hier die größte Vor— ſicht geboten iſt. Vertraut man einem der vielen Rinderpfade, welche im Süden des Waldgürtels von jedem Dorfe aus in den Wald führen und mehr oder minder tief in denſelben eindringen, ſo ſieht man ſich früher oder ſpäter doch wieder getäuſcht, weil man niemals beſtimmen oder auch nur erraten kann, wohin ſolche Wege einen bringen, weil. fie mit hundert anderen ſich kreuzen, durch Geſtrüpp, hohes, unbequeme Baumtrümmer verbergendes Gras, Moor und Sumpf ꝛc. laufen, kurz, weil fie eben keine für Menſchen begehbaren Wege ſind. So treten dem Eindringlinge zwar nicht überall unüberwindliche Hinderniſſe, aber doch allüberall und fort und fort ſo viele und ſo unangenehme Hemmniſſe entgegen, daß man auch da, wo die Mückenplage nicht unerträglich ſcheint, viel früher, als man beabſichtigte, zur Umkehr ſich entſchließt. Erſt im Winter, nachdem ſtrenger Froſt alle Gewäſſer, Moore und Sümpfe mit einer tragfähigen Decke be— legt, tiefer Schnee den größten Teil aller Unebenheiten ausgeglichen und ſich ſelbſt geſetzt, beziehentlich eine harte Eiskruſte erhalten hat, werden die Wälder den mit Schneeſchuhen ausgerüſteten Jägern und ihren wetter— geſtählten Hunden zugänglich; erſt dann darf ſelbſt der Eingeborene daran denken, in ihnen weitere Streifzüge zu unternehmen. Sibiriens Wälder ſind ſtumm und tot, „zum Verhungern tot“, wie Middendorf mit vollſtem Rechte ſich ausdrückt. Die in ihnen herrſchende Stille wird förmlich zur Qual. Sobald die Balzzeit des Birkhuhnes vor— über iſt, vernimmt man nur noch den Geſang des Krammetsvogels und der Schwarzkohldroſſel, das Lied der Grasmücke, des Leinfinken und Hakengimpels, die Weiſe des Laubvogels und den Ruf des Kuckucks, kaum irgendwo aber alle Stimmen zu gleicher Zeit. Das trillernde Rufen des Grün- und Rotſchenkels wird hier zum Geſange; das Geſchwätz der Elſter gewinnt an Reiz, ſelbſt das Krächzen der Nebelkrähe oder des Kolkraben wirkt erquicklich, der Lockruf eines Spechtes, einer Meiſe geradezu er— friſchend. Der Stille entſpricht die Oede der Wälder. Wer ſich der Hoff— nung hingeben wollte, in ihnen ein friſch fröhliches Jägerleben führen zu können, würde ſchmerzlich enttäuſcht werden. Unzweifelhaft bevölkern weit 86 Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. mehr Tiere, insbeſondere Säugetiere und Vögel, als wir vermuten können, alle zuſammenhängenden Waldungen des in das Auge gefaßten Gebietes: aber dieſe Tiere verteilen ſich ſo gleichmäßig über die unermeſſenen Flächen, unternehmen vielleicht auch ſo weite Wanderungen, daß man keinen rich— tigen Maßſtab für Schätzung ihrer Anzahl gewinnen kann. Meilenweite Strecken erſcheinen oder ſind, mindeſtens zeitweilig, ſo tierleer, ſo öde, daß der Forſcher wie der Jäger verzweifeln möchte, wenn er fort und fort ſeine Erwartungen vereitelt ſieht. Jegliche Aufenthaltskunde ſelbſt des erfahrenſten Beobachters läßt hier im Stiche. Gegenden, welche alle Be— dingniſſe zu gedeihlichem und behaglichem Leben einer Tierart in ſich ver— einigen, beherbergen dem Anſcheine nach nicht ein einziges Paar, nicht ein einziges zum Umherſchweifen geneigtes Männchen derſelben. Die Hoff— nung, beim Betreten ſolcher Waldesteile, welche fern von menſchlichen Niederlaſſungen, gewiſſermaßen außerhalb des menſchlichen Verkehrs liegen, endlich auf ſolche Tierarten zu ſtoßen, welche hier leben müſſen, erweiſt ſich ebenſo trügeriſch, wie die Vorausſetzung, daß man ihnen im tieferen Walde eher begegnen werde, als an den äußerſten Rändern; vom Men— ſchen beeinflußte, mehr oder minder veränderte, teilweiſe bebaute Strecken erſcheinen im Gegenteile oft mehr und mannigfaltiger belebt, als das Innere der Waldwildniſſe. Daß überall da, wo der Menſch feſte Siede— lungen gründete, Wald rodete, Weiden und Felder anlegte, nach und nach größere Mannigfaltigkeit der Tierarten entſteht, als auf dem weiten, von ihm noch nicht beeinflußten, in ihrer urſprünglichen Eintönigkeit verharrenden Geländen, läßt ſich einſehen, da ja gerade durch Urbarmachung des Bodens für viele Tiere erſt zuſagende Siedelplätze geſchaffen werden; daß einzelne Tierarten in der Nachbarſchaft des ſeßhaften Menſchen häufiger aufzu— treten ſcheinen als im unzugänglichen Walde, trotzdem der Menſch ſie dort unnachſichtlich verfolgt und hier kaum ernſtlich bedrohen kann, wird nur dann verſtändlich, wenn man annimmt, daß ſie ſich von anderswoher fort und fort erſetzen. Es müſſen alſo, wenigſtens zu beſtimmten Zeiten, Wan— derungen von mehr oder minder bedeutender Ausdehnung ſtattfinden und an ihnen die meiſten weſtſibiriſchen Tiere ſich beteiligen. In der That ſprechen alle bisher geſammelten Beobachtungen dafür, daß dem ſo iſt. Standtiere in dem uns geläufigen Sinne des Wortes ſcheinen einzig und allein die winterſchlafenden Höhlenbewohner und einzelne Gebirgs— tiere zu ſein, alle übrigen aber mehr oder weniger regelmäßig zu wan— dern. Während der Satz- und Niſtzeit vereinzeln ſich auch in Weſtſibirien alle Tierarten, welche während ihrer Fortpflanzungszeit nicht geſellig leben; Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. 87 ſpäter vereinigen ſich Eltern und Kinder mit ihren Artgenoſſen zu Trupps oder Flügen, welche nunmehr, zunächſt wohl hauptſächlich leichterer Er— nährung halber, vielleicht auch durch die Mückenplage gezwungen, gemein— ſchaftlich Streifzüge antreten. Futterreiche Oertlichkeiten feſſeln die zuerſt ankommenden Pflanzenfreſſer, halten auch ſpäter eintreffende feſt und ziehen endlich Feinde herbei. In dieſer Weiſe entvölkern ſich beſtimmte Waldes— teile und bevölkern ſich andere; ſo entſtehen Anſtauungen des beweglichen Stromes der Wanderer, welche um ſo bemerklicher oder auffälliger werden müſſen, je mehr ſie mit der gewohnten Oede und Leerheit der Wälder in Gegenſatz treten. Zu Sammelpunkten des tieriſchen Lebens werden vor— nehmlich ältere Brandſtellen, auf deren befruchtetem Boden wiederum Beerengeſträuche verſchiedener Art erwuchſen und zu üppigem Gedeihen gelangten. Hier halten im Herbſte nicht allein die ſibiriſchen Wildarten reiche Ernte, ſondern ſchmauſen auch, mit Behagen Beeren freſſend, Wölfe und Füchſe, Marder und Vielfraße, Zobel und Bären, welche zum größten Teile erſt durch die angeſammelten Pflanzenfreſſer herbeigelockt wurden. Solcherart vereinigte Tiere verbleiben offenbar geraume Zeit in einem gewiſſen Verbande. Die Pflanzenfreſſer ziehen, wie aufmerkſame Jäger beobachteten, mit unverkennbarer Stetigkeit den Beeren nach, und die Raubtiere heften ſich an ihre Sohlen. Dieſe Wanderungen erklären, daß in manchen Jahren beſtimmte Wälder von allerlei Jagdtieren erfüllt und in anderen gänzlich verlaſſen zu ſein ſcheinen. Mit Erſtaunen ſieht der Weſtländer, welcher im Spät— winter oder Vorfrühlinge in Weſtſibirien reiſt, drei- bis fünfhundert Birk— hähne, zu einem Fluge geſchart, von der durch Wälder führenden Land— ſtraße ſich erheben, und mit nicht geringerer Verwunderung erfährt er wenig ſpäter, daß dieſelben oder ähnliche, noch günſtigere Waldungen nur ſpärlich mit Birkwild bevölkert ſind; unmutig, weil fort und fort ver— geblich, ſpürt er im Sommer auf den geeignetſten Plätzen dem Haſel— huhne nach, und angenehm überraſcht, bemerkt er auf denſelben Orten im Herbſte das geſuchte Wild beinahe allerorten. Mit dieſen ſo eigentümlichen, durch die eintönige Gleichförmigkeit weiter Strecken Sibiriens bedingten Verhältniſſen muß der Jäger, welcher mit einiger Sicherheit Beute gewinnen will, wohl vertraut ſein, und den— noch iſt auch der geübteſte, erfahrenſte Weidmann in den unermeſſenen Wäldern immer und überall Sklave des Zufalls. Welchem Wilde er nach— ſtellen möge: niemals weiß er im voraus zu ſagen, wo er es finden wird. Geſtern überſchüttete die Jagdgöttin ihn mit Fülle, heute verſagt ſie ihm 88 Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. jede Huld. An Wild iſt kein Mangel; der Jäger aber, welcher vom Er— trage der Jagd leben wollte, würde verhungern. Ein Jägerleben, wie es unter anderen Breiten möglich, iſt in Weſtſibirien undenkbar; nicht einmal erheblichen Gewinn wirft die Waldjagd ab. Einzelne Tiere, z. B. den Biber, ſcheint man bereits ausgerottet zu haben; andere, namentlich der ſo hoch geſchätzte Zobel, ſind, aus den bevölkerten Gegenden wenigſtens, verſchwunden, in das Innere der Wälder zurückgedrängt worden. Auch in Sibirien klagt man überall, daß das Wild von Jahr zu Jahr ſeltener werde, und ſo viel ſteht feſt, daß man von Jahrzehnt zu Jahrzehnt weniger erbeutet. Der Menſch allein bewirkt dieſe Abnahme nicht; Waldbrände und dann und wann ausbrechende, verheerende Seuchen tragen wahr— ſcheinlich ebenſoviel, wenn nicht mehr, dazu bei, als er. Allerdings denkt kein Sibirier daran, daß zeitweilige Schonung des Wildes die erſte Be— dingung ſeiner Erhaltung iſt. Weidgerechtes Jagen kennt der dortige Jäger nicht, wohl aber die verſchiedenſten Mittel und Wege, möglichſt viele Tiere einer und derſelben Art zu vernichten. Büchſe und Gewehr ſpielen eine nebenſächliche, Falle und Netz, Selbſtſchuß und Gift die Hauptrolle in den Augen des Eingewanderten wie des Eingeborenen. Als Wild betrachtet der Sibirier jedes Tier, welches er nach deſſen Tode irgendwie benutzen kann, das Elch wie das Flattereichhorn, den Tiger wie das Wieſel, das Auerhuhn wie die Elſter. Was der Aber: glaube des einen Volkes verſchont, fällt einem anderen zur Beute: Tier- arten, deren Fleiſch die Ruſſen verſchmähen, ſind in den Augen der mon— goliſchen Völkerſchaften Leckerbiſſen. Oſtjaken und Samojeden ziehen Füchſe, Marder, Bären, Eulen, Schwäne, Gänſe und andere den Neſtern ent— nommene Tiere auf, behandeln ſie mit wahrer Zärtlichkeit, ſolange ſie jung ſind, pflegen ſie ſorgfältig, bis ihr Haar- oder Federkleid vollkommen entwickelt iſt, und ſchlachten ſie ſodann, um ſie zu verſpeiſen und ihr Fell zu verwerten. Die Anzahl der Felle, welche aus Sibirien auf dortige und europäiſche Märkte gelangen, geht in die Millionen; die Anzahl derer, welche im Lande bleiben, iſt zwar merklich geringer, immerhin aber ſehr bedeutend; die Menge des Haar- und namentlich des Federwildes, welches man im gefrorenen Zuſtande auf weithin verführt, berechnet ſich nach vielen Hunderttauſenden. Neben den Fellen der Säugetiere führt man gegenwärtig auch Vogelhäute aus, insbeſondere ſolche von Schwänen, Gänſen, Möwen, Steißfüßen und Elſtern, welche wie jene zu Muffen, Kragen und Hutverzierungen verwendet werden. Ein einziger Kaufmann in der unbedeutenden Stadt Tjukalinsk verhandelt alljährlich allein dreißig— Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. 89 tauſend Häute von Steißfüßen, zehntauſend von Schwänen und gegen hunderttauſend von Elſtern; in früheren Jahren verkaufte der Mann je— doch weit mehr. Daß der geſamte Fellhandel eine von Jahr zu Jahr zu— nehmende Verminderung der Tiere bewirken muß, iſt klar; daß einzig und allein die Unzugänglichkeit der Wald- und Waſſerwildniſſe gegen voll— ſtändige Vernichtung der betreffenden Tierarten einigen Schutz gewährt, Rennfiere zur Tränke ziehend. wird jedem verſtändlich, welcher die Schonungsloſigkeit ſibiriſcher Jäger kennen lernte. Obwohl aus dem Geſagten erhellt, daß der Begriff Wild ſolchen Jägern beinahe unbegrenzt erſcheint, verſteht man doch unter Jagdtieren eigentlich nur diejenigen Arten, welche auch bei uns zu Lande als Haar— und Federwild betrachtet werden oder betrachtet würden, wenn ſie in Deutſchland vorkämen. Soweit es den Waldgürtel betrifft, handelt es ſich um Maralhirſch und Rieſenreh, Elch und Ren, Wolf, Fuchs, Eisfuchs, 90 Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. Luchs und Bär, Schneehaſe, Eichhorn, Streifen- und Flugeichhorn, vor allem aber um die Marderarten, alſo Zobel, Edel- und Steinmarder, Iltis, Kolonok, Hermelin, Wieſel, Vielfraß und Fiſchotter, ſowie Auer-, Birk⸗ und Haſelhuhn, zu denen im Süden der dann und wann bis in unſer Gebiet ſich verlaufende Tiger, der die Gebirgswälder bewohnende Irbis, das ebenda auftretende Moſchustier und das Wildſchwein, im Norden das wenigſtens an den Waldrändern lebende Moorhuhn zu zählen ſind. Dieſe Tiere jagt jedermann, der eine oder andere Gebildete vielleicht ſogar in regelmäßiger, wenn auch nicht gerade weidmänniſcher Weiſe; den meiſten von ihnen ſtellt man auch ebenſo ſinnreiche als wirkſame Fallen. Unter den letzteren ſteht die allverbreitete Schlagfalle obenan. Ihre Einrichtung iſt folgende: Quer über freie Plätze des Waldes, insbeſondere ſolche, welche eine freie Ausſicht gewähren, wird ein niedriger und mög— lichſt wenig auffallender Zaun gezogen, in der Mitte aber ein Durchgang, wenn er länger iſt, auch wohl zwei bis drei Durchſchlupfpforten offen ge— laſſen. Jeder Durchlaß iſt ſeitlich durch zwei eingeſchlagene Pfähle begrenzt, welche oben ein Querjoch tragen, und den zwiſchen ihnen ſich bewegenden Fallhölzern, zwei nebeneinander liegenden, unter ſich verbundenen, langen und mäßig dicken Baumſtämmen, ihre Bahn anweiſen. Ein langer Hebel wird über das Querholz gelegt und hält die an ſeinem kurzen Arme angehängten Fallhölzer in der Schwebe, während ein vom langen Arme ausgehender Bindfaden mit dem Stellpflocke die Verbindung herſtellt. Letzterer iſt ein kurzes, an dem einen Ende gegabeltes, am anderen zugeſpitztes Zweigſtück und wird mit der Gabel gegen den einen gekerbten Pfahl, mit der Spitze gegen ein anderes längeres Pflöckchen geklemmt, welches ſeinerſeits mit dem entgegengeſetzten Ende im anderen Pfahle eine loſe Stütze findet. Beide Pflöcke erhalten ſich gegenſeitig in ihrer Lage, fallen aber bei dem leiſeſten Drucke nach unten oder oben auseinander. Wenn die Falle fängiſch ge— ſtellt worden iſt, belegt man die Stellhölzer mit vielen dürren und leichten Zweiglein, weniger in der Abſicht, ſie zu verdecken, als vielmehr eine größere Berührungsfläche zu ſchaffen. Tritt ein Tier, und ſei es ein kleiner Vogel, auf eines dieſer Hölzchen, ſo fallen beide Stellpflöckchen auseinander, und die Falle ſtürzt zuſammen, das Tier unter ihr erſchlagend. Stellt man auf Raubtiere, ſo legt man Köder unter die Stellhölzchen; alles andere Wild führt man durch den ablenkenden Querzaun der Falle zu. Da man in manchen Waldteilen alle Wechſel, Wege und freien Stellen mit Schlagfallen verſperrt und deren Hunderte und Tauſende aufſtellt, ent— ſchädigt oft reiche Beute den Jäger für die geringe Mühe, welche die Elch und Auerhühner. a . Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. 91 Herrichtung dieſer vortrefflichen Fangwerkzeuge erfordert. Waldhühner, Haſen, Eichhörnchen und Hermeline ſind die gewöhnlichen, Iltiſſe, Edel— marder und Zobel die ſelteneren Opfer der Schlagfallen. Vielfraße und Wölfe verlieren ebenfalls oft durch ſie ihr Leben, lernen ſie aber, ebenſo wie die Hunde, bald fürchten und meiden ſie dann ängſtlich, ſolange ſie fängiſch geſtellt ſind, wogegen beide keinen Anſtand nehmen, dem Jäger erſchla— genes Wild unter der Falle wegzuſtehlen oder anzufreſſen und zu ver— derben. Samojeden und Oſtjaken wenden neben der Schlagfalle mit Vor— liebe Selbſtſchüſſe an, welche ſie mit Bogen und Pfeil oder ſelbſtwirkender Armbruſt herzurichten verſtehen. Der den Selbſtſchuß verſendende Bogen iſt ſehr ſtark, der tötende Pfeil trefflich gearbeitet, das Mordwerkzeug da— her in hohem Grade gefährlich, auch für unachtſame Menſchen äußerſt bedrohlich. Sinnreiche Vorrichtungen erhalten den Bogen in Spannung, ihn und den Pfeil in richtiger Lage, ein aus Holz gefertigter Schnepper bringt erſteren zum Abſchnellen, ſobald eine quer über den Wechſel ge— ſpannte Schnur berührt wird. Um den Pfeil ſo zu richten, daß er das Herz des betreffenden Wildes durchbohrt, bedient man ſich eines der Größe des Tieres entſprechenden, ſäulenartigen, oben durchbohrten Zielholzes, welches, wenn es auf den Wechſel geſtellt wird, durch die oben eingebohrte Oeſe genau die Herzhöhe des laufenden Vierfüßlers anzeigt und eines Maßes, welches die wagrechte Entfernung des Herzens vom Schlüſſelbeine angibt, dem Jäger oder Zieler alſo die erforderliche Entfernung des Ziel— punktes von der Abzugsſchnur bezeichnet. Da alle Eingeborenen die ver— ſchiedenen Wildfährten genau kennen, ſtellen ſie den Selbſtſchuß nur dann vergeblich, wenn ein anderes, in der Größe weſentlich abweichendes Tier den Wechſel desjenigen einhält, welchem der Pfeil zugedacht war. Ge— wöhnlich ſtellt man auf Füchſe, mit nicht viel geringerem Erfolge aber auch auf Wölfe, ſelbſt Elche und Renntiere, wogegen die ſelbſtwirkende Armbruſt für kleineres Wild, namentlich Hermelin und Eichhörnchen be— ſtimmt iſt. Für beide legt man einen lockenden Köder, welcher nur er— langt werden kann, wenn das in Ausſicht genommene Tier mit dem Kopfe durch ein enges, am vorderen, bei geſtelltem Selbſtſchuſſe unteren Teile der Armbruſt angebrachtes Loch kriecht. Hierbei löſt es ein Stellhölzchen und wird durch einen breiten, meißelartigen, in beſtimmter Bahn feſtge— haltenen Pfeil, welchen die Armbruſt kräftig herniederſchnellt, erquetſcht. In neuerer Zeit gelangt neben dieſen urſprünglichen Jagdgeräten das Feuergewehr auch in der Hand der eingeborenen Völkerſchaften Weſt— 92 Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. ſibiriens mehr und mehr zur Geltung, ohne jedoch jene und Bogen und Pfeil zu verdrängen. Des teuren Pulvers und Bleies halber führt man mit Vorliebe kleinmündige, an und für ſich herzlich ſchlechte Luntenz, Stein- und Schlagſchloßbüchſen, gebraucht die mangelhaften Waffen aber mit bewerkenswertem Geſchicke. Eine vorn am Langſchafte befeſtigte Gabel, welche zum Auflegen dient, fehlt keiner Büchſe des Weſtſibiriers, wird auch von gebildeten Jägern des Landes regelmäßig benutzt, und iſt für Luntengewehre unerläßlich. Schrotflinten verwenden die Beamten und wohlhabenderen Einwohner der Städte, nicht aber die Eingeborenen, welche durch die Jagd erwerben wollen und das Pulver ſozuſagen kornweiſe abmeſſen. Sie füllen ein kleines Hörnlein mit dem teuren Kraute, ſchlingen Bleidraht von der Stärke des Durchmeſſers ihres Feuerrohres drei- oder mehrmals als Gürtel um den Leib und treten, jo ausgerüſtet, ihre Jagdzüge an. Der Bleidraht wird zur Herſtellung der Kugeln be— nutzt, aber nicht umgegoſſen, ſondern ſtückweiſe abgeknippen oder, einfacher noch, abgebiſſen, das derartig entſtandene bolzenartige Geſchoß ohne Pflaſter auf das Pulver geſetzt und die Büchſe ſo geladen. Freilich ſchießen alle eingeborenen Jäger nur im Notfalle auf weitere Entfernungen, bis zu mittleren Baumhöhen hinauf aber ſo ſicher, daß ſie das Auge des Zo— bels oder Eichhorns als Zielpunkt wählen und in der Regel auch treffen. Waldhühner werden allgemeiner gejagt als jedes andere Wild und zu vielen Hunderttauſenden gefangen und erlegt. Während der Balzzeit bleiben Auer- und Birkwild faſt überall unbehelligt. Weidmannsfreuden, wie ſolche wir genießen, wenn wir den balzenden Auerhahn anſpringen, erkauft man ſich, der Unzugänglichkeit der Waldungen halber, kaum oder nie; nicht einmal des balzenden Birkhahnes halber verläßt man in mai— licher Morgenfrühe das warme Lager: höchſtens das Haſelhuhn ſucht man durch Nachahmung ſeines Liebesrufes zu berücken. Wer ſollte auch bei zweifelhaftem Erfolge jo vieler Mühe und Unbequemlichkeit ſich unter: ziehen?! Im Herbſte und Winter erſt lohnt die Jagd, wie der Sibirier wünſcht oder erwartet; wenn die jungen Hähne ihr Gefieder wechſeln, wenn die Ketten ſich zu zahlreichen Scharen oder Heeren vereinigen, wenn letztere beerenſuchend durch die Wälder wandern, iſt die Zeit der Wald— huhnjagd gekommen. Wer Beſchwerden verſchiedenſter Art nicht ſcheut, zieht mit ſeinen Hunden, meiſt erbärmlichen Kläffern, dem wandernden Federwilde nach und kehrt in der Regel mit reicher Beute heim; wer auf Schneeſchuhen zu laufen gelernt hat, ſucht Auer- und Birkhuhn auch im Winter auf. Nach dem erſten reichlichen Schneefalle tritt eine Stockung Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. 93 der Wanderungen dieſes Wildes ein, und jeder Trupp wählt ſich nunmehr Aufenthaltsorte, welche wenigſtens für die nächſten Tage reichliche Nahrung verſprechen. Im Anfange des Winters gewähren die noch nicht abge— ernteten Preißelbeeren, ſpäter die Wacholderbeeren genügende Aeſung; nachdem beide aufgezehrt wurden, kommen zunächſt Lärchen- und endlich Fichten⸗ und Kiefernadeln, beziehentlich die unreifen Zapfen aller dieſer Nadelbäume, dem begnügſamen Wilde zu ſtatten. So lange als möglich ſetzt letzteres ſeine Wanderungen zu Fuße fort, durchmißt im Laufe eines Tages oft zehn bis zwölf Werſt, nähert ſich gelegentlich bewohnten Ort— ſchaften bis auf wenige hundert Schritte und hinterläßt beim Weiterwandern im friſch gefallenen Schnee ſo deutliche Spuren, daß der verfolgende Jäger es endlich erreichen muß. Wird es gezwungen, zur Aeſung der Nadeln überzugehen, ſo leitet es den Weidmann zunächſt durch ſeine Loſung, ſo— dann aber durch ſeine Schlafſtätten zur rechten Stelle. Abweichend von den Gewohnheiten ſeiner in Deutſchland hauſenden Artgenoſſen gräbt ſich das ſibiriſche Auer- und Birkwild mehr oder minder lange, meiſt bis zum Boden herabreichende Höhlen in den Schnee und verläßt dieſe Schlafräume am Morgen oder bei drohender Gefahr, indem es ſich mit Hilfe einiger Flügelſchläge erhebt und die über ihm liegende Schneedecke durchbricht; ſeine Nachtherbergen ſind daher nicht allein beſtimmt zu erkennen, ſondern laſſen auch einen richtigen Schluß auf die Nacht zu, in welcher ſie benutzt wurden, geben alſo erfahrenen Jägern treffliche Fingerzeige. Bei fort— dauerndem Schneefalle verweilt das Schwarzfederwild manchmal bis gegen Mittag in ſeinen Schlaflöchern und geſtattet auch, nachdem es gebäumt hat und während es äſt, genügende Annäherung des Schützen, da es ſich von den Hunden verbellen läßt und über der Beobachtung der unter dem Baume ſtehenden Köter das Herannahen des Jägers verſieht. Die erſte Bedingung für das Gelingen derartiger Folgejagden iſt, daß der Schnee nicht allein die meiſten Unebenheiten des Bodens ausgeglichen und den größten Teil der Hemniſſe beſeitigt, ſondern auch ſich ſo weit geſetzt hat, um den Schneeſchuhen genügenden Widerſtand zu leiſten, den Jäger zu tragen. Mit ungleich mehr Bequemlichkeit und regelmäßig beſſerem Erfolge führt die Birkhuhnjagd mit der Puppe, dem Bulban, zum Ziele. Um ſie auszuüben, begibt man ſich im Herbſte vor der Morgendämmerung in den Wald, verbirgt ſich in einer womöglich ſchon vorher aufgerichteten oder raſch zuſammengeſtellten Reiſerhütte, pflanzt den Bulban, einen ausge— ſtopften oder aus Holz und Werg gefertigten, mit ſchwarzem, an den ent— 94 Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. ſprechenden Stellen weißem und rotem Tuche überzogenen, dem lebenden täuſchend ähnlich nachgeahmten Puppenbirkhahn, mit Hilfe einer Stange ſo auf dem höchſten unter den benachbarten Bäumen auf, daß die Puppe mit dem Kopfe gegen den Wind gerichtet iſt, und läßt den umliegenden Wald durch Menſchen und Hunde abtreiben. Alle jungen oder doch noch nicht durch üble Erfahrungen gewitzigten Birkhühner, welche aufgeſcheucht wurden und den Bulban erblicken, fliegen dem vermeintlichen, allem An— ſcheine nach ſichernden Artgenoſſen zu und blocken auf demſelben Baume, auf welchem dieſer ſitzt, und der eingehüttete Jäger, welcher neben ſeiner kleinmündigen, wenig knallenden Büchſe manchmal auch ein Schrotgewehr führt, hat oft unter Dutzenden der bethörten Vögel die Auswahl. In Wäldern, welche im Laufe des Sommers noch nicht beunruhigt wurden, achtet das Birkwild den ſchwachen Knall der Erbſenbüchſe ſo wenig, daß die Gefährten eines getötet vom Baume herabſtürzenden Huhnes oft gar nicht wegfliegen, ſondern mit langen Hälſen dem gefallenen Genoſſen nach— ſchauen und ruhig abwarten, bis der Schütze wieder geladen hat und ein zweites, drittes Opfer fällt. Die Häufigkeit des Birkwildes läßt glaublich erſcheinen, daß einzelne Jäger im Laufe des Morgens zwanzig und mehr Birkhähne von einer einzigen Hütte aus zur Strecke bringen. Nicht minder ergiebig als die Birkhuhnlocke mit Hilfe der Puppe, und jeden Weidmann in hohem Grade feſſelnd und befriedigend iſt die Jagd auf Haſelhühner, wie man ſie in Sibirien betreiben kann. Vor— kehrungen irgend welcher Art ſind hierzu nicht vonnöten, nicht einmal ge— ſchulte Hunde, ſo gute Dienſte ſie auch leiſten, unbedingt erforderlich. Das Haſelhuhn iſt ſehr häufig in allen geeigneten Wäldern Weſtſibiriens, häu— figer vielleicht als Auer- und Birkhuhn, lebt aber ſo ſtill, daß man es ſelbſt dann oft überſieht, wenn es in Ketten die Waldungen bevölkert. Zu ſo zahlreichen Geſellſchaften wie ſeine Verwandten ſchart es ſich nie, durch— wandert auch nicht ſo bedeutende Strecken wie jene, verbreitet ſich dafür aber gleichmäßiger über die weiten Waldwildniſſe und kommt deshalb dem Jäger, welcher ſeine Lebensweiſe kennt, eher zum Schuß, als irgend ein anderes Waldhuhn. Während des Frühlings und Sommers ſcheint es dem Auge des unerfahrenen Jägers gänzlich entſchwunden zu ſein; im Herbſte bemerkt man es überall, ſelbſt an ſolchen Stellen, wo man es wenige Monate früher vergeblich ſuchte. Es liebt die Beeren nicht weniger als ſeine Verwandten und tritt ihnen zu Gefallen auch auf größeren Blößen auf, welche es im Frühjahr und Sommer zu meiden ſcheint. Aber ſelbſt hier weiß es den Blicken ſich zu entziehen. Es liegt weit feſter als Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. 95 Auer- und Birkhuhn, ſucht ſich ſo lange als möglich vor dem Ankömm— linge zu drücken, ohne dabei ängſtlich ſich zu verbergen, und ſteht nur dann auf, wenn ihm der Feind ſehr nahe auf den Leib rückt. Sein Auffliegen geſchieht ſo geräuſchlos, ſo wenig merklich, daß man es auch jetzt noch leicht überſehen oder überhören kann; jedes Rebhuhn, jede Mittelſchnepfe ſogar verurſacht mehr Lärm, als dieſes allerliebſte Geſchöpf, von welchem man einzig und allein beim Aufſtehen ein leiſes Schwirren vernimmt. Aufgeſcheucht fliegt es gewöhnlich, jedoch keineswegs immer, einem der nächſten Nadelbäume zu und läßt ſich hier auf dem erſten beſten Zweige nieder, bleibt aber auch hier ſo ſtill und ruhig ſitzen, daß es ebenſowenig auffällt, wie vorher auf dem Boden. Oft ſtrengt man ſich lange Zeit vergeblich an, es ausfindig zu machen, glaubt ſchließlich überzeugt ſein zu dürfen, daß es bereits heimlich auf und davon geflogen ſei, und wird dann durch ſein Abſtieben oder durch eine Bewegung, welche es ausführte, plötzlich und förmlich verblüffend belehrt, daß es ganz ungedeckt auf dem— ſelben Zweige, den man wiederholt abſuchte, geſeſſen hatte. Die allen Hühnern gemeinſame Fertigkeit, vor ſichtlichem Auge ſich zu verbergen, iſt bei ihm zu ſeltener Meiſterſchaft gediehen. Zu ſeinem Aufenthalte wählt es mit Vorliebe moorige oder mooſige, an Heidel- und Preißelbeerbüſchen reiche Stellen des Waldes, welche von alten abgeſtorbenen und jungen Bäumen umgeben ſind. Hier weiß es jede Deckung ſo geſchickt zu benutzen, daß man es gewöhnlich erſt dann wahrnimmt, wenn es, um zu ſichern, einem der abgeſtorbenen Baumrieſen zufliegt. Regt es ſich nicht, ſo wird es vor dem Auge zu einem Baumknorren; denn ſolchem ähnelt es täuſchend, weiß auch recht gut, daß es auf die Gleichfarbigkeit ſeines Gefieders und des von ihm gewählten Aufenthaltsortes ſich verlaſſen darf. Deſſenunge— achtet ſchaut es, ſo lange es irgendwie ſich frei zeigt, fort und fort beſorgt in die Runde und verläßt, wenn es Gefahr ahnt, den Hochſitz ebenſo ſtill, als es zu ihm aufgeſtiegen war. Seine Jagd gereicht dem Weidmann zu wahrem Vergnügen. Man darf es überall im Walde erwarten und weiß nie, wie es ſich zeigen wird, muß meiſt auf jedes Hilfsmittel verzichten, wird dafür aber auch durch ungeſchickte Weidgeſellen nicht beeinträchtigt und durch fortdauernde Spannung und freudige Erregung noch reicher belohnt, als durch das köſtliche Wildbret dieſes ſchmackhafteſten aller Hühner. Gegenüber der Bedeutung, welche den Waldhühnern in jagdlicher wie in volkswirtſchaftlicher Beziehung zugeſprochen werden muß, wollen Jagd und Nutzung des edelſten Haarwildes Weſtſibiriens unerheblich er— 96 Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. ſcheinen. Die vier Hirſcharten des Gebietes werden aus verſchiedenen, aber gleich ungenügenden Gründen weit weniger geachtet, als ſie verdienen, und wenn nicht in geradezu roher, ſo doch uns wenig zuſagender, ſelbſt anwidernder Weiſe ausgenutzt. Letzteres gilt insbeſondere rückſichtlich des Maralhirſches. Dieſes ſtolze und ſtattliche Tier, nach Auffaſſung einiger Forſcher ein großwüchſiger Edelhirſch, nach Anſicht anderer eine dem letzt— genannten zwar ſehr ähnliche, durch beträchtliche Größe des Leibes und Stärke der Geweihe aber wohl unterſchiedene Art der Familie, bewohnt alle Waldungen des Südens, mit Vorliebe Gebirgswälder, und tritt in ihnen wahrſcheinlich keineswegs ſo ſelten auf, als es, infolge der niemals raſten— den Jagdgier der eingeborenen wie eingewanderten Völkerſchaften, ſcheinen will. Beſagte Jagdgier bedroht den Maralhirſch aus einem höchſt eigen— tümlichen Grunde am heftigſten gerade in der Zeit, in welcher er der größten Schonung bedarf. Für alle nordaſiatiſchen Jäger handelt es ſich bei Erlegung dieſes Hirſches nicht um das Wildbret, nicht um die Decke, nicht um das vereckte und gefegte, ſondern einzig und allein um das ſproſſende, noch nicht vollſtändig vereckte und jedenfalls baſtige Geweih. Aus ihm bereiten chineſiſche Aerzte oder Quackſalber eine von reichen ab— gelebten Söhnen des Himmliſchen Reiches überaus geſuchte, mit ſchwerem Golde aufzuwiegende Arznei, offenbar ein Reizmittel beſtimmter Art, welches ſie durch kein anderes erſetzen zu können glauben. Am geſuchteſten ſind halb vereckte, noch reichlich mit Blut erfüllte Sechsender; für ſie zahlt man zwei- bis dreihundert Mark unſeres Geldes, während man vollſtändig ver— eckte, abgefegte Zwölf- und Vierzehnender für ſechs bis zwölf Mark kaufen kann. Nicht allein die Mongolen Nord- und Mittelaſiens, ſondern auch die Sibirier ruſſiſcher Abkunft beeifern ſich, die koſtbaren Geweihe zu er— beuten und verſenden dieſelben, wenn ſie einen Hirſch in der rechten Zeit erlegen, ſo eilig als möglich, insbeſondere mit der Poſt, nach Kiachta, von wo aus durch beſtimmte Händler alljährlich Tauſende nach China ein— geführt werden, ohne der Nachfrage zu genügen. Sibiriſche Bauern halten Maralhirſche einzig und allein zu dem Zwecke in Gefangenſchaft, um ihnen zur geeigneten Zeit die bluterfüllten Geweihe abſchneiden und ſie verkaufen zu können. Da nun bekanntlich jeder Hirſch während ſeines Geweihwechſels eng geſchloſſene Dickungen meidet, auch weniger achtſam iſt als ſonſt; da Spießer und Gabler ebenſowenig verſchont werden als Kronhirſche, erklärt es ſich, daß man den Beſtand des Wildes in empfindlicher Weiſe ſchädigt, und läßt ſich wohl annehmen, daß auch die Nachzucht weſentlich beein— trächtigt wird. Wildbret und Decke kommen bei dieſer Schlächterei nicht Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. 97 oder doch nur ausnahmsweiſe in Betracht: falls es einigermaßen erhebliche Mühe verurſacht, die erlegte Beute wegzuſchaffen, überläßt man ſie ohne Kummer den Wölfen und Füchſen. Wie der Maral- vom Edelhirſche iſt auch das ſibiriſche oder Rieſenreh von dem unſrigen durch Großwüchſigkeit und hohes, an den Roſenſtöcken ſchwach entwickeltes Geweih wohl zu unterſcheiden, ſeine Artſelbſtändigkeit jedoch noch Gegenſtand des Streites unter den Forſchern. Es bewohnt in Sibirien mit Vorliebe Waldſtrecken, welche vom ſtattgefundenen Brande ſich zu erholen beginnen, Beſtände, in denen die Pichte häufig vorkommt, Waldſäume und kleine Gehölze, ſteigt im Gebirge bis zu beträchtlichen Höhen, nicht ſelten über die Holzgrenze empor und tritt ebenſo auf die freie Steppe hinaus, dort dem Steinbocke und Wildſchafe, hier der Anti— lope zeitweilig ſich geſellend. Entſprechend der Eigenart des Landes unter— nimmt es mehr oder minder regelmäßig Wanderungen, auch ohne durch Waldbrände hierzu veranlaßt zu werden, durchmißt dabei weite Strecken und überſetzt ohne Bedenken breite Ströme. Unter Umſtänden erſcheint es in Gegenden, in denen man es ſeit Jahren nicht mehr be— merkte, ſiedelt ſich bleibend an und unternimmt von hier aus Streifzüge; für gewöhnlich hält es auf ſeinen Wanderzügen beſtimmte Straßen ein, wird hier und da wohl auch gezwungen, engbegrenzte Pfade zu wandeln. Felſige, ſteil abfallende Uferwände größerer Ströme nötigen es, die wenigen Ouerthäler und einzelnen Schluchten als Wechſel anzunehmen, und führen es dann oft in ſein Verderben, da man ſelten verabſäumt, derartige Päſſe durch Leitzäune zu verſperren und durch hinter letzteren angelegte Fallgruben zu gefährden. Wolf und Luchs bedrängen es zu jeder Jahreszeit, Ruſſen und Eingeborene Sibiriens nicht minder. Man jagt es, wie alles übrige Wild, ohne Schonung, benutzt jeden Umſtand und verſucht jede Liſt, um ſeiner habhaft zu werden. Bei Beginn der Schneeſchmelze, wenn kalte Nächte die oberſte Schneelage in eine dünne Eiskruſte verwandeln, zieht man in Begleitung leichter Hunde zu Pferde oder auf Schneeſchuhen zu ſeiner Jagd aus, hetzt es unter Lärm und Geſchrei und ermattet es um ſo eher, je härter die Eiskruſte iſt, je früher ſie ihm, welches beim Springen mit den ſchmalen Schalen die Kruſte durchbricht, die Läufe verwundet. Im Frühlinge lockt man die Ricke durch Nachahmung der Stimme des Kitzchens, während der Blattzeit den Bock durch getreue Wiedergabe des Meldelautes der Ricke, in der Zwiſchenzeit und ſpäter beide Geſchlechter durch künſtliche Sulzen herbei; im Herbſte ſtellt man Treibjagden an oder verfolgt die über Ströme ſchwimmenden Wanderrehe mit Hilfe von Booten und ſticht Brehm, Vom Nordpol zum Aequator. m 98 Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. ſie im Waſſer tot; im Vorwinter fährt man ſie zu Schlitten an und ſendet ihnen von dieſem aus die tötende Kugel zu. Einzig und allein das von unſeren heimiſchen Bubenjägern ſo vielfach geübte Schlingenſtellen wendet man nicht an, wahrſcheinlich aber auch nur deshalb, weil der Stellbogen beſſeren Erfolg verſpricht. Unter weſentlich günſtigeren Bedingungen beſteht das Elch den Kampf um das Daſein. Aufenthalt und Lebensweiſe, Stärke und Wehrhaftigkeit ſichern es vor vielen, wenn nicht den meiſten Nachſtellungen. Waldtier im vollſten Sinne des Wortes, im Sumpfe und Bruche ebenſo heimiſch wie im Dickichte oder Hochbeſtande, alle Hemmniſſe des Waldes wie des Mo— raſtes mit gleicher Leichtigkeit überwindend, durch ſeine Ernährungsweiſe auch vor winterlichem Mangel geſichert, entgeht es leichter als jedes andere Wild den Verfolgungen ſeitens des Menſchen und anderer bedrohlich auf— tretender Feinde. Als letztere bezeichnet man Wolf und Luchs, Bär und Vielfraß; es fragt ſich jedoch, ob alle dieſe Räuber ſeinen Beſtand weſentlich ſchädigen. Denn das ebenſo kräftige als wehrhafte Elch beſitzt in ſeinen ſcharfſchneidigen Schalen noch gefährlichere Waffen als in ſeinem Geweih und weiß beide zu gebrauchen. Einem Bären, welcher es zufällig über— raſcht und anſpringt, mag es erliegen; den einzelnen Wolf ſchlägt es un— zweifelhaft ſofort zu Boden; ſelbſt Kampf mit einer Meute dieſer ewig hungrigen Räuber dürfte es ſiegreich beſtehen; und was Luchs und Viel— fraß betrifft, ſo ſcheint es noch nicht erwieſen zu ſein, daß ſie ihm wirklich auf den Nacken ſpringen und ihm unverwehrt die Halsſchlagadern durch— beißen, wie man früher wohl behauptet hat. Nur den menſchlichen Waffen gegenüber verſagen die ſeinigen. Allein auch die Elchjagd iſt in den Waldungen Sibiriens ein mißliches Unterfangen und wird daher haupt— ſächlich von den Eingeborenen geübt. Während des Sommers iſt dem waſſerliebenden Wilde ſchwer beizukommen: es verbringt dann den größten Teil der Zeit im Sumpfe, über tags zwiſchen hohen Sumpfpflanzen in einem nur ihm zugänglichen Bette ruhend, des Nachts ſich äſend. Voll— ſaftige Waſſerpflanzen und deren Wurzeln munden ihm beſſer als das ſcharfſchneidige Riedgras: es zieht daher zur Aeſungszeit den tieferen Senken des Bruches zu, holt die Pflanzen auch aus dem Waſſer heraus, taucht dabei ſeinen ungeſchlachten Kopf bis zu den Wurzeln der eſelohr— artigen Gehöre in das ſchlammige Naß, erfüllt mit ihm gezwungenerweiſe ſeine Naſengänge und ſchleudert die eingedrungene Feuchtigkeit, ſo oft es den Kopf erhebt, unter lautem, weit hörbarem Schnauben aus Maul und Naſe. Erfindungsreiche Jäger haben auf die geſchilderte Ernährungsart Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. 99 des Elch ein beſonderes Jagdverfahren begründet. Man verhört das im allgemeinen ſehr vorſichtige Wild mehrere Nächte nacheinander, bringt über tags in aller Stille leichte, ſeicht gehende Boote zur Stelle und ru— dert bei Nacht, dem ſchnaubenden Geräuſche folgend, möglichſt lautlos an das ſich äſende Tier, deſſen Witterungs- und Vernehmungsvermögen durch ſein Auf- und Niedertauchen beeinträchtigt wird, heran, um ihm eine Kugel zuzuſenden. Die Helligkeit der nordiſchen Sommernächte erleichtert ſicheres Abkommen ebenſo, wie ſie genügende Annäherung erſchwert; die Jagd iſt aber infolgedeſſen ſo aufregend, daß ſie von eifrigen Weidgeſellen mit Leidenſchaft und meiſt auch mit gutem Erfolge betrieben wird. Mit Be— ginn des Froſtes verläßt das Elch die Sümpfe, weil hier die brüchige Eisdecke ſeine Bewegungen hindert, und nimmt in trockeneren Waldesteilen Stand, bis reichlich fallender Schnee es zum Umherſtreifen, beziehentlich zum Aufſuchen beſonders günſtiger Aufenthaltsorte zwingt. In dieſer Zeit zieht man die Jagd mit Hilfe gut geſchulter, vor allen Dingen äußerſt ruhiger Hunde, jeder anderen vor. Das Elch ſcheut bei ſeinen Streifereien auch Ortſchaften nicht, verrät ſich durch ſeine unverkennbaren Spuren und bringt durch ſie den Jäger bald in ſeine Nähe. Nunmehr ſchickt man die Hunde vor. Ihr Amt iſt, das Wild zwar fortwährend zu beſchäftigen, nicht aber zu verjagen. Daher dürfen ſie es nie von rückwärts angreifen, ihm überhaupt nicht zu nahe kommen, müſſen es vielmehr beſtändig bellend umſpringen und ſeine vollſte Aufmerkſamkeit auf ſich lenken. Sieht ſich das Elch in ſolcher Weiſe von vorn bedroht, ſo bleibt es nach kurzem Trollen ſtehen, betrachtet entrüſtet die Hunde, ſcheint ſich entſchließen zu wollen, ſie anzugreifen, gelangt aber nur in ſeltenen Fällen zur Ausführung eines endlich gefaßten Entſchluſſes und gewährt ſo dem Jäger Zeit, ſich zu nähern und aus geringer Entfernung einen ſicheren Schuß abzugeben. Wird ein kleiner Elchtrupp durch Hunde plötzlich überraſcht und in die Enge getrieben, ſo kann er derartig in Verblüffung geraten, daß es einem raſchen und gut ausgerüſteten Schützen gelingt, ihrer mehrere nacheinander zu erlegen. Werden alte erfahrene Elche im Winter bei tiefem Schneefalle längere Zeit verfolgt, ſo nehmen ſie den erſten befahrenen Weg an, welchen ſie kreuzen, und trollen auf ihm weiter, gleichviel, ob ſie die Richtung nach dem tieferen Walde oder einer Ortſchaft eingeſchlagen haben, gelangen daher nicht allzu ſelten bis in nächſte Nachbarſchaft der bewohnten Häuſer und ſchlagen ſich erſt dann wieder ſeitwärts in den Wald. Hartkruſtiger Schnee wird Elchen nicht minder gefährlich als Rehen; denn beſonders beherzte und gewandte Jäger greifen ſie unter ſolchen Umſtänden ſogar 100 Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. mit dem Sauſpieße an, da ſie, auf ihren Schneeſchuhen laufend, die Tiere bald einholen und ſo weit ermatten, daß ſie jene uralte Jagdwaffe gebrauchen können. Elchwildbret wird von Eingewanderten und Eingeborenen gerne gegeſſen, ſteht jedoch tief im Preiſe; die Decke dagegen findet zu ſechs bis acht Rubel willige Abnehmer und bietet dem Lohnjäger genügenden Erſatz für gehabte Mühen und Anſtrengungen. Das wilde Ren gehört zwar eigentlich der Tundra an, bewohnt jedoch auch den Waldgürtel in ſeiner ganzen Ausdehnung. Längs des Oſtab— hanges des Ural nimmt es ebenſowohl im tieferen Walde wie auf den Höhen des Gebirges Stand; die dortigen Jäger reden daher mit gewiſſer Betonung von Wald- und Bergtieren und ſcheinen geneigt zu ſein, dieſen wie jenen beſondere Eigenſchaften zuzuſprechen, obwohl ſie außer ſtande ſind, letztere zu bezeichnen. Bewohnte Ortſchaften ſcheut das Rentier we— niger als alles übrige Hirſchwild, was ſich vielleicht am beſten daraus erklärt, daß unter den in Freiheit geborenen alljährlich durch Schlitze im Gehör oder Brandmarken gezeichnete, alſo verwilderte, erlegt werden. Sie ver— laſſen wahrſcheinlich während der Brunſtzeit die Herden der Samojeden und Oſtjaken und wandern wohl ſo weit ſüdlich, bis ſie auf Wildlinge ihres Geſchlechtes ſtoßen und durch ſie an eine beſtimmte Oertlichkeit ge— feſſelt werden. Einmal der Dienſtbarkeit entronnen, nehmen ſie in kürzeſter Friſt alle Gewohnheiten der Wildlinge an. Als Jagdtiere ſpielen ſie unter den Waldleuten ebenſowenig wie das wilde Ren eine bedeutſame Rolle. Man erlegt Rentiere, wo, wie und wann man vermag; abgeſehen von einzelnen beſonders eifrigen Jägern ruſſiſcher Abkunft ſtellen ihnen jedoch nur die Eingeborenen mit Ausdauer und Leidenſchaft nach. Zu dem eßbaren Wilde zählen alle vernünftigen Menſchen auch den Haſen; nur Semiten und Ruſſen allein machen hiervon eine Ausnahme. Infolgedeſſen jagen den veränderlichen Haſen Weſtſibiriens einzig und allein gebildete und vorurteilsfreie Sibirier ruſſiſcher Abkunft und die über alle Speiſegeſetze erhabenen Eingeborenen des Nordens unſeres Gebietes. Denn auch das Fell des Schneehaſen hat, weil es ſtark härt, wenig Wert in den Augen der Jäger und wird vielleicht gerade deshalb von den heid— niſchen Völkerſchaften des Landes den Göttern als Opfer dargebracht. Ungeachtet der Gleichgültigkeit, mit welcher die Waldleute den von uns ſo geſchätzten Nager betrachten und beziehentlich gehen laſſen, iſt der Haſe nirgends häufig. Viele ſeines Geſchlechtes verlieren in den Schlagfallen, die Mehrzahl durch Wölfe, Füchſe und Luchſe ihr Leben, und auch der ſtrenge Winter, welcher oft zu weiten Wanderungen zwingt, ſchadet ihnen Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. 101 ſehr. Bedeutung irgend welcher Art darf man dieſem Wilde hier nicht zuſprechen. N Unter dem nicht eßbaren Haarwilde des Waldgürtels dürfte dem Wolfe inſofern die erſte Stelle gebühren, als er bitter gehaßt und allge— mein verfolgt wird. Zwar behauptet man, daß der von ihm dem Menſchen unmittelbar zugefügte Schaden nicht erheblich, mindeſtens nicht unerträglich ſei, verſäumt aber doch keine Gelegenheit, ſeiner habhaft zu werden. Be— gründet iſt, daß der Wolf in Weſtſibirien nur ausnahmsweiſe in zahlreichen Rotten auftritt und noch ſeltener einen Menſchen angreift, ebenſo unbe— ſtreitbar aber, daß er den Haustieren vielen Schaden zufügt, und letzterer einzig und allein dann wieder erheblich erſcheint, wenn man die bedeutenden Verluſte, welche die Herden der Wanderhirten der Steppe wie der Tundra durch Wölfe erleiden, in Betracht zieht. In welcher Häufigkeit letztere im Waldgürtel auftreten, entzieht ſich jeder Schätzung. Sie finden ſich überall und nirgends, überfallen heute die Herden eines Dorfes, in denen man ſie ſeit Jahren nicht mehr ſpürte, und fallen morgen wie geſtern in die Hürden eines anderen, verlaſſen plötzlich einzelne Gegenden und beſiedeln ſie ebenſo unvermutet wieder, ſpotten hier jeder Verfolgung und fordern dort kaum Abwehr heraus. Große, viel benutzte Straßen und an Weiden reiche Ortſchaften feſſeln ſie oder ziehen ſie an, weil ſie dort in dem Aaſe gefallener Pferde, hier in den ohne hinderliche Aufſicht umherwandernden, auch tief in die Wälder eindringenden Haustieren ihnen geradezu gebotene oder doch leicht zu erringende Beute gewinnen können; doch fehlen ſie auch ſolchen Waldesteilen nicht, welche außer allem menſchlichen Verkehre liegen. Zuweilen ſieht man ſie einzeln oder in kleinen Trupps bei hellem Tage in unmittelbarer Nähe der Ortſchaften; nicht ſelten durchlaufen ſie nachts Dörfer, ſogar Städte. Sie reißen in einer einzigen Nacht Dutzende von Schafen nieder, überfallen auch Pferde und Rinder, ſeltener dagegen Hunde, welche anderswo ihre bevorzugte Beute bilden, und verſchonen einzig und allein die tapferen Schweine, weil dieſe hier wie allerorten ſofort den Kampf mit ihnen aufnehmen und regelmäßig als Sieger aus ihm her— vorgehen. Wie die Ruſſen hegen auch die Sibirier den Aberglauben, daß die ſäugende Wölfin ängſtlich vermeide, in der Nähe ihres Gewölfes zu rauben, ſich aber furchtbar räche, wenn man ihr die Jungen nimmt, dem betreffen— den Jäger bis in ſein heimatliches Dorf folge und mit unbändiger Wut über alle Herdentiere des letzteren herfalle. Jeder Sibirier läßt aus Furcht vor ſolcher Rache ein von ihm aufgefundenes Gewölfe im Lager liegen, 102 Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. und nur einer oder der andere wagt es, den Wölflein die Achillesſehnen zu zerſchneiden, um ſolcherart ſie zu lähmen und bis zur Herbſtjagd an die Geburtsſtätte zu feffeln. Denn mit dem Erwachſen der Wölfe ſchwindet, wie man annimmt, die Liebe der Mutter, verringern ſich mindeſtens deren Rachegelüſte, und die Felle der Herbſtwölfe lohnen die kluge Vorſicht der pfiffigen Bauern noch außerdem. Wolfs jagd. Je nach Oertlichkeit und Gelegenheit wendet man die verſchiedenſten Mittel an, um des Wolfes habhaft zu werden. Wolfsgruben, Tellereiſen und Strychnin, außerdem die geſchilderten Stellbogen, thun gute Dienſte; Treibjagden dagegen ſind ſelten von Erfolg begleitet. Viel lieber verſucht man, den Wolf mit dem Schlitten anzufahren, oder ihn vom Schlitten aus zu erlegen, nachdem man ihn in ſinnreicher Weiſe herbeigelockt hat. Dies geſchieht in folgender Weiſe. Ein geräumiger Schlitten wird mit einem alten, ruhigen oder lebensmüden Pferde beſpannt und mit vier Jagdgenoſſen, dem Kutſcher, zwei Schützen und einem mäßig großen Ferkel befrachtet. Der Kutſcher, welcher einzig und allein ſeines Pferdes zu achten Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. 103 hat, nimmt den Bock ein; die Schützen ſitzen rückwärts, das in einem Sacke eingeſchloſſene Ferkel liegt zwiſchen beider Füßen im Schlitten. Auf feſt— gefahrener Bahn fährt die gemiſchte Geſellſchaft gegen Abend einem Waldes— teile zu, in welchem man im Laufe des Tages friſche Wolfsſpuren bemerkt hatte. Angeſichts der Fährte wirft einer der Schützen einen an langer Leine befeſtigten, locker mit Heu geſtopften Sack aus dem Schlitten und läßt denſelben nachſchleifen, während der andere inzwiſchen das Ferkel durch allerhand Quälereien zum Quieken veranlaßt. Iſegrim vernimmt die Klagelaute, vermutet wahrſcheinlich einen von der Bache verſprengten Friſchling zu hören, und nähert ſich ſtill und vorſichtig, d. h. möglichſt gedeckt der Straße, eräugt das hinter dem Schlitten herſchleifende Bündel, meint in ihm das quiekende Ferkel erkennen zu dürfen und entſchließt ſich nach längerem oder kürzerem Beſinnen, das geplagte Tier von ſeinen Leiden zu erlöſen. Mit mächtigem Satze ſpringt er auf die Bahn, und gierig trabt er hinter dem Schlitten einher. Was kümmern ihn die drohenden Geſtalten der in dieſem ſitzenden Männer?! Solche hat er oft genug aus nächſter Nähe betrachtet, vor ſolcher Augen geraubt. Näher und immer näher kommt er dem mit beſchleunigter Schnelligkeit fahrenden Schlitten; ärgere Mißhandlungen entlocken dem Ferkel lautere und klagendere Jammer— töne; bethörender wirken ſie auf den Räuber — noch ein einziger Sprung: da ſchießen zwei Feuerſtrahlen krachend hervor und röchelnd und zuckend liegt das Raubtier am Boden. Ebenſo tückiſch wie ſolche Jagd iſt die im Ural übliche Kreiszaun— falle. In geringer Entfernung vom Dorfe umzäunt man einen kreisrunden, etwa zwei Meter im Durchmeſſer haltenden Platz mit ſtarken, dicht neben— einander und tief in den Boden gerammten Pfählen und umgibt ſodann den ſolcherart gebildeten Kreis mit einem zweiten, ganz ähnlichen, welcher mit dem inneren überall den gleichen Abſtand, vierzig, höchſtens fünfzig Centimeter, einhalten muß. Zwei beſonders dicke Pfähle dienen einer in feſten Angeln gehenden, auf der anderen Seite mit Einſchnappriegel ver— ſehenen, aus einer ſtarken Bohle hergeſtellten Thüre als Pfoſten und ſind ſo gefalzt, daß die Thüre nur nach innen zu ſich öffnen kann, beim Drucke nach außen aber durch den Einſchnappriegel verſchloſſen werden muß. Beide Kreiszäune ſind oben zwar nicht dicht, wohl aber feſt eingedeckt. Eine Fallthüre in der Decke vermittelt den Zugang zum inneren Raume. Sobald man nun wahrnimmt, daß Wölfe dem Dorfe nächtliche Beſuche abſtatten, ſtellt man die Falle fängiſch, indem man in dem mittleren Raume eine lebende Ziege einſperrt und die in den Rundgang führende Thüre 104 Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. öffnet. Das jammernde Meckern der ihrer gewohnten Umgebung ent— rückten und geängſtigten Geiß lockt Iſegrim herbei. Er vertraut der auf— fälligen Stallung zwar keineswegs, vergißt aber über dem tollen Gebaren der durch ſein Erſcheinen aufs höchſte geängſtigten Ziege bald alle urſprüng— lich bethätigte Vorſicht und verſucht, der willkommenen Beute ſich zu be— mächtigen. Mehrere Male und mit beſtändig ſich ſteigernder Gier und Eile umkreiſt er den äußeren Zaun, windend und ſpürend, bald nahend, bald zurückweichend, betrachtet er die einzige Oeffnung, welche ihm ermöglicht, der Ziege auf den Leib zu rücken. Endlich meiſtert Leidenſchaft ſeine natürliche Schlauheit. Noch immer zögernd, aber doch ſtetig vorrückend, zwängt er Kopf und Leib durch den engen Eingang. Verzweiflungsvoll aufſchreiend drängt ſich die Ziege an die entgegengeſetzte Seite der in— neren Umzäunung. Ohne fernerhin noch zu überlegen, zu bedenken, folgt ihr der Räuber. Die Ziege läuft im Kreiſe herum; der Wolf thut das— ſelbe, nur mit dem Unterſchiede, daß er zwiſchen beiden Pfahlreihen ſich bewegen muß. Da hemmt die vorſtehende Thüre ſeine Schritte. Aber das Opfer iſt gerade jetzt ſo nahe, ſo ſicher zu erlangen: ſtürmiſch jagt er vorwärts; ſchnappend fällt der Riegel der von ihm weggedrängten, gegen das Gelände gepreßten Thüre in die für ihn beſtimmte Kerbe: und gefangen iſt der mißtrauiſche und vorſichtige Tölpel, — gefangen, ohne daß er im ſtande wäre, der verlockenden Beute näher zu kommen. Unfähig ſich umzudrehen, ingrimmig im tiefſten Herzen, läuft, trabt, jagt er vor— wärts, immer im Kreiſe herum, ruhelos eilend, um eine endloſe Strecke zu durchmeſſen. Die kluge Ziege erkennt bald genug die Sachlage und bleibt zuletzt, obſchon noch immer ſchreiend und zitternd, inmitten des In— nenraumes ſtehen; der Wolf ſieht endlich ebenfalls die Fruchtloſigkeit ſeines Kreislaufes ein, verſucht, ſeine Freiheit wieder zu gewinnen, reißt mit den Zähnen fußlange Späne aus dem Pfahlwerke, heult verhalten vor Wut und Angſt: alles vergeblich! Nach qualvoller Nacht dämmert endlich, end— lich ſein letzter Morgen. Im Dorfe beginnt es ſich zu regen: in das Hundegebell miſchen ſich Menſchenſtimmen. Dunkle, von kläffenden Hunden begleitete Männer nahen dem Schauplatze des Trauerſpiels. Regungslos, einem Leichnam vergleichbar, liegt der Wolf am Boden; kaum ein Blinzeln ſeiner Augen verrät, daß noch Leben in ihm iſt. Mit wütendem Bellen umdrängen die Hunde den Außenzaun: er bewegt ſich nicht; mit höhniſchem Willkomm begrüßen die Männer den Gefangenen: er rührt ſich nicht. Doch weder die Hunde noch die Männer laſſen ſich täuſchen. Jene ſtreben, zwiſchen dem Pfahlwerke durchdrängend, den Scheintoten zu packen, dieſe Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. 105 ihm die allgebrauchte Pferdefangſchlinge, den Arkan über den Kopf zu ſtreifen. Noch einmal ſpringt das Raubtier auf, noch einmal raſt es durch den Marterweg, heulend verſucht es zu ſchrecken, beißend abzuwehren: umſonſt — der furchtbaren Schlinge entgeht es nicht, und wenige Minuten ſpäter iſt es erdroſſelt. Der Fuchs wird überall vom Wolfe befehdet, gejagt, getötet, ge— freſſen, mindeſtens hart bedrängt, iſt daher auch in Sibirien nicht häufig; auszurotten aber vermochte ihn bisher weder ſein ihm ſo feindlich geſinnter Verwandter, noch der Menſch. Im öſtlichen Teile des Waldgürtels unter— nimmt er zeitweilig weite Wanderungen, entweder dem Haſen oder den Waldhühnern folgend; im Weſten ſcheinen hierauf bezügliche Beobachtungen noch nicht vermerkt worden zu ſein. Ueber von ihm verurſachten Schaden klagt man in Sibirien nicht, verfolgt ihn deſſenungeachtet aber ſehr eifrig, weil ſein Fell unter Ruſſen wie unter Eingeborenen gleich beliebt iſt, auch ſtets teuer, wenn durch beſonders geſchätzte Färbung ausgezeichnet, ſogar ungemein hoch bezahlt wird. Als Jagdtier ſtellt man demzufolge nur den Zobel höher als ihn. Jäger von Gewerbe unternehmen im Winter einzig und allein ſeinetwegen Jagden, welche ſie faſt ebenſo tief in die Waldungen führen, als die Zobeljäger in letztere eindringen; Oſtjaken und Samojeden ſtellen ihre Selbſtſchußbogen vorzugsweiſe auf ihn und laſſen ſich keine Mühe verdrießen, einen Bau aufzuſuchen, in welchem Junge liegen, um dieſe auszugraben und, nicht etwa zu töten, ſondern ſorgſam aufzuziehen und zärtlich zu pflegen, bis ſie groß und kräftig geworden ſind und mit dem erſten oder zweiten Winter ein Fell erhalten haben, welches den wunderlichen Tierpflegern mehr gilt, als das Leben des geliebten Pfleglings und letzteren rettungslos der erwür— genden Schlinge überliefert. Bedingungsweiſe darf auch der Eisfuchs zu den Tieren des Wald— gürtels gezählt werden; doch dringt er wohl nirgends in den Wald ſelbſt ein, ſondern folgt höchſtens im Winter dem Laufe der großen Ströme, um gelegentlich im Süden der Tundra, ſeines Heimatsgebietes, auf wan— dernde Haſen und Moorhühner zu jagen. Waldtier im ſtrengſten Sinne des Wortes dagegen iſt der Luchs. Er aber tritt auch in Sibirien überall nur einzeln auf und wird aller— orten ſelten erbeutet. Wahrſcheinlich verläßt er ſeine eigentlichen Aufent— haltsorte, die dichteſten Hochbeſtände des Inneren der Waldungen, bloß dann, wenn ihn Nahrungsmangel oder Liebesgefühle zu Wanderungen veranlaſſen und bis an den Saum der Wälder führen. Erfahrene Jäger 106 Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. des öſtlichen Ural behaupten, daß er mit dem Bären nicht allein dieſelben Wohngebiete teile, ſondern auch in der Nähe eines Winterlagers des Bären verharre, nachdem dieſer ſich zum Schlafen gelegt hat. Beſagte Jäger verſichern, daß die Vorliebe des Luchſes für die winterliche Schlafſtelle des Bären dieſe verrate, da man einfach dort, wo die meiſten Luchsſpuren ſich kreuzen, nachzuſuchen habe und des beſten Erfolges ſicher ſein dürfe, wenn man eine Kreisſpur antreffe, da ſie ſtets das Winterlager des Bären umgrenze. Die Gewohnheit des Luchſes, mit beinahe ängſtlicher Sorgfalt immer wieder in die alte Fährte zu treten, ſoll das Aufſuchen des Bären— lagers ſehr erleichtern. Erläuternd fügt man dieſen Angaben bei, daß der Luchs in Sibirien recht gern auch friſches Aas annehme, möglicher— weiſe alſo die Nachbarſchaft eines Bären aufſuche, um gelegentlich nach ihm von einem durch den Bären erbeuteten Wilde zu ſchmauſen. Freilich ſagt man dem Luchſe auch nach, daß er ſehr wohl im ſtande ſei, ohne Mithilfe eines ſo zweifelhaften Freundes größeres Wild zu bezwingen, daß er ins— beſondere Rentiere und Rehe eifrig verfolge und binnen kurzem über— wältige, betont aber regelmäßig, daß ſeine Jagd hauptſächlich kleinerem Wilde gelte, und nennt als ſolches Hafen, Erd- und Baumeichhörnchen, Auer-, Birk- und Haſelhühner, Mäuſe, junge Vögel verſchiedener Art und dergleichen mehr. Es liegt kein Grund vor, die letzterwähnten Angaben zu bezweifeln; ſie erklären auch befriedigend das ſeltene Vorkommen des Raub— tieres in allen dem Menſchen zugänglichen Grenzwäldern oder Waldrändern. Solange Eichhörnchen und Schwarzfederwild im Inneren der Wälder hauſen, hat der Luchs keine Veranlaſſung, die vom Menſchen nicht betretene Wildnis zu verlaſſen; wenn jene zu wandern beginnen, ſieht er ſich genötigt, zu folgen. Wie ſehr das Schwarzfederwild ihn fürchtet, erkennt man daraus, daß jeder balzende Auer- oder Birkhahn augenblicklich verſtummt, wenn ein Luchs ſich hören läßt. Luchsjagd gilt unter eingewanderten wie unter eingeborenen Sibiriern als hochedles Weidwerk. Die Seltenheit und Vorſicht, Gewandtheit und Wehrhaftigkeit der ſtolzen Katze begeiſtert jeden Weidgeſellen und Fell wie Wildbret des erlegten Raubtieres bringen nicht unerheblichen Gewinn. Erſteres wird von Weſtſibirien aus vorzugsweiſe nach China geſendet und hier gut bezahlt, letzteres nicht allein von den mongoliſchen Völkerſchaften, ſondern auch von den meiſten ruſſiſchen Anſiedlern des Landes als ſchmack— hafter Braten hoch geſchätzt. In den Schlagfallen fängt ſich der Luchs nur ausnahmsweiſe, wirft ſie aber oft ein, indem er längs der Schlagbäume dahinläuft und dabei auf den Stellhebel tritt; auch dem Selbſtſchußbogen Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. 1:07 fällt er felten zum Opfer, und die auf feine Fährte gelegten Tellereiſen ſoll er meiſt überſpringen: ſo bleibt dem Jäger bloß die Büchſe übrig. Erklärlicherweiſe jagt man nur im Winter, wenn der Schnee die Spur verrät und Verfolgung auf Schneeſchuhen geſtattet. Tapfere Hunde treiben das endlich erſpähte Raubwild zu Baume oder ſtellen es auf dem Boden, werden von ihm jedoch manchmal übel zugerichtet, wenn nicht getötet. Selbſt der Jäger läuft Gefahr, von dem in die Enge getriebenen, wütend ſich verteidigenden Luchſe Angriffe zu erleiden. Während die Wildkatze, welche der Luchs ebenſo unerbittlich verfolgt, wie der Wolf den Fuchs, dem Waldgürtel Weſtſibiriens fehlt, tritt hier, zwar nicht ſtändig, aber doch dann und wann die vollendetſte aller Katzen, der Tiger, neben erſterem auf. Zwei in den Jahren 1838 und 1848 bei Bäsk und Schlangenberg erlegte Tiger ſtehen ausgeſtopft im Muſeum von Barnaul; ein anderer, welcher anfangs der ſiebziger Jahre erlegt wurde, befindet ſich im Schulmuſeum zu Omsk; ein vierter ſetzte Ende der ſech— ziger Jahre die Bewohner des an der europäiſchen Grenze im Ural be— legenen Kreiſes Tſchelaba in Schrecken, griff, ohne gereizt zu ſein, einige Bauern an und wurde von dieſen nur dadurch zurückgeſchreckt, daß ihm einer der Leute ſeine rote Mütze entgegenwarf. In den Steppengebirgen Turkeſtans und im ganzen Süden von Oſtſibirien kommt das „Herrſcher— tier“, wie die Dauren den Tiger nennen, geeigneten Orts überall und ſtändig vor, und von beiden Seiten her mag er ſich öfter, als man feſt— ſtellen konnte, in den weſtlichen Waldgürtel verlaufen, vielleicht auch längere Zeit unbeobachtet hier aufhalten und unbemerkt wieder zurückziehen: ſein Erſcheinen geſchieht jedoch immerhin ſehr ſelten und ſo unregelmäßig, daß er unter dem Wilde unſeres Gebietes höchſtens genannt, nicht aber auf— gezählt werden darf. Anders verhält es ſich mit den geſchätzteſten aller Pelztiere, den ver— ſchiedenen Mardern. Ueber ihre Abnahme klagt man zwar mehr als über die Verminderung aller übrigen Jagdtiere, erbeutet die meiſten von ihnen aber noch regelmäßig, wenn nicht überall, ſo doch an einzelnen Orten des Gebietes. Einzig und allein der Zobel iſt in den letzten Jahrzehnten ſehr ſelten geworden. Alte Jäger des mittleren Ural erinnern ſich, in der Nähe der Stadt Tagilsk allwinterlich Zobel erbeutet zu haben; gegenwärtig fängt man in dieſer Breite des Gebirges nur dann und wann, immer äußerſt ſelten, einen verſprengten Marder dieſer Art. Ein großer Brand der Waldungen des mittleren öſtlichen Ural ſoll die ſo allgemein begehrten und verfolgten Pelztiere vertrieben haben. Dasſelbe behauptet man in 108 Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. den Walddörfern am unteren Ob, woſelbſt die Zobeljagd noch heutigen— tages betrieben wird und beiſpielsweiſe auf den Markt von Peliſaroff allwinterlich bis zwanzig Felle liefert. Merklich häufiger als der Zobel tritt in allen Waldungen Weſtſibiriens der Edelmarder auf. In dem allerdings ziemlich ausgedehnten Jagdgebiete der vorher genannten Stadt Tagilsk erbeutet man noch immer dreißig bis achtzig Felle gedachter Art in jedem Winter. Daß der Edelmarder weit mehr als der Zobel an das Eichhorn gebunden iſt, mit ihm erſcheint und verſchwindet, wird von er— fahrenen Jägern behauptet. Der raubgierige Geſell begnügt ſich jedoch keineswegs mit ſeinem Lieblingswilde, mordet vielmehr jedes Tier, welches er erlangen und überwältigen kann, und wird namentlich dem Auer: und Birkwilde ſehr gefährlich. Gelingt ihm ſchon im Sommer manch kühner Sprung auf einen der vorſichtigen Vögel, ſo erleichtert ihm im Winter die Gewohnheit des Schwarzfederwildes, in Schneehöhlen zu ſchlafen, ſeine Schliche und Kniffe noch erheblich. Faſt unhörbar von Aſt zu Aſt ſchwei— fend, nähert er ſich den eingegrabenen Vögeln bis auf Sprungweite und überfällt ſie von oben her, indem er mit mächtigem Satze auf die Decke des Schlafraumes ſtürzt, dieſe durchbricht und einen der Schläfer am Kragen gepackt hat, bevor dieſer zu flüchten im ſtande war. Der Stein— marder kommt ebenfalls noch überall in Höhenwäldern vor, iſt aber ſel— tener als ſein Sippſchaftsgenoſſe; Iltis, Hermelin und Wieſel ſind all— verbreitet und ſtellenweiſe ſehr häufig; der Nörz dagegen findet ſich wohl auf der weſtlichen, nicht aber auf der öſtlichen Seite des Ural und fehlt bereits den hier entſpringenden Zuflüſſen des Irtiſch und Ob, welche, wie letztere Ströme, den Fiſchotter in erheblicher Menge beherbergen; der Dachs wird in Weſtſibirien kaum erwähnt, der allverbreitete Vielfraß weniger als jeder andere Marder geachtet und mehr wegen ſeiner Diebereien an den in Schlagfallen gefangenen Tieren als ſeines Felles halber gejagt. Obwohl der Weſten Sibiriens als ausgeſchoſſenes Gebiet gilt, rüſten ſich doch auch hier alljährlich die Waldleute, um Zobel und andere Marder zu erbeuten. Einzelne Jäger unternehmen den Pelztieren zuliebe Streif— züge und Wanderungen, welche denen amerikaniſcher Pelzjäger nicht nach— ſtehen. Die Jagd gilt ſelbſtverſtändlich nicht den Mardern allein, vielmehr allem Wilde überhaupt; Marder und Eichhörnchen bilden aber das Ziel, welches man erſtrebt. Je nachdem die letzteren früher oder ſpäter ſich verfärben, beſchleunigt oder verzögert man den Aufbruch aus dem heimat— lichen Dorfe; denn man betrachtet die Umfärbung der genannten Nager als ein Vorzeichen des kommenden Winters und meint, von ihr aus auf Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. 109 deſſen früheren oder ſpäteren Eintritt und deſſen Strenge oder Milde ſchließen zu dürfen. In der geſchilderten Weiſe bewaffnet und ausgerüſtet, treten die Zobeljäger, nachdem der erſte Schnee gefallen iſt, in Geſellſchaften zu dreien bis fünfen ihre Waldreiſen an. Jeder von ihnen trägt außer Gewehr und Schießbedarf einen Sack auf dem Rücken, Schneeſchuhe und ein Beil über der Schulter, eine Peitſche im Gürtel. In dem Sacke birgt man die un— erläßlichſten Nahrungsmittel, Brot, Mehl, Speck, Salz und Ziegelthee, ſo— wie einige Gerätſchaften, insbeſondere eine Pfanne, Theekanne, Becher, Löffel und dergleichen mehr, ſeltener auch eine Flaſche Branntwein; die Peitſche dient, um die Eichhörnchen aufzutreiben und vor das Auge zu bringen. Vier bis ſechs Hunde, welche jedes deutſchen Weidmanns Auge beleidigen, begleiten die Jagdgenoſſen. Nach dem Stand der freilich oft tagelang verhüllten Sonne und bekannten Sternbildern ſich richtend, durchſtreifen die wetterfeſten Weid— geſellen tage- und wochenlang die unwirtlichen Wildniſſe, übernachten in ihnen und ernähren ſich und ihre Hunde hauptſächlich von dem Wildbrete der von ihnen erbeuteten Tiere, um ihre Vorräte ſo viel als möglich zu ſchonen. Die unſcheinbaren, aber klugen und umſichtigen Hunde nehmen nicht allein jede Wildfährte auf, ſondern eräugen auch mit Sicherheit die auf Bäumen verſteckten Marder und Eichhörnchen, verbellen ſie und halten ſie ſo lange feſt, bis der Jäger zur Stelle iſt. Dieſer naht mit der un— verwüſtlichen Ruhe aller Waldſchützen, legt ſeine lange Büchſe bedächtig auf einen Aſt oder nötigenfalls auf die am vorderen Laufende angebrachte Gabel, zielt lange und gibt endlich Feuer. Im Anfange der Jagdzeit geſtatten Eichhörnchen und ſelbſt Edelmarder, ausſchließlich mit den Hunden ſich beſchäftigend, Annäherung des Jägers bis auf wenige Meter Entfer— nung; bald aber werden ſie gewitzigt und erſchweren dem Schützen ruhiges und ſicheres Zielen. Gelingt es letzterem dennoch, die Kugel durch eines der Augen der Tiere zu jagen, ſo iſt er wohl zufrieden, weil er nicht allein ein unverſehrtes Fell erbeutet, ſondern auch den Bleibolzen noch einmal verwenden kann. Unmittelbar nachdem er des gefallenen Wildes ſich bemächtigt hat, ſtreift er es ab, bei Mardern und Eichhörnchen den Leib durch die Mundſpalte zwängend, bricht die Hirnſchale auf, um das Geſchoß wieder zu erlangen, und birgt ſodann Fell und Leib, jedes für ſich geſondert, in ſeinem Ruckſacke. Wenn die Eichhörnchen häufig ſind, iſt ſolche Jagd ebenſo ergiebig als unterhaltend. Jeder Jäger nutzt den kurzen Tag nach Kräften aus; 110 Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. ein Büchſenknall folgt raſch auf den anderen, und ein Beuteſtück geſellt ſich zu den übrigen. So viele Zeit auch das Laden des Gewehres er— fordert: das Abſtreifen der Beute geht um ſo raſcher vor ſich, und jeder Jäger leiſtet redlich das ſeine. Ohne zu ruhen, ohne zu eſſen oder auch nur zu rauchen, zieht die Jagdgeſellſchaft fürbaß. Die ſtöbernden Hunde zerſprengen und vereinigen abwechſelnd die Weidgeſellen; der ſcharfe Knall ihrer Büchſen und das muntere Bellen der Hunde wird für ſie zu er— quicklicher Unterhaltung. Einer zählt die Schüſſe und einer bewillkommt oder neidet das Glück des andern. Iſt dagegen der Winter beutearm, bringt auch oft wiederholtes Klatſchen mit der Peitſche kein Eichhorn vor das Auge, läßt ſich weder Zobel noch Edelmarder, weder Elch noch Ren— tier jpüren, jo ziehen Jäger und Hunde ſchweigſam und mißmutig durch den Wald, und Küchenmeiſter Schmalhans verdirbt die Laune vollends. Mit einbrechender Nacht denken unſere Jäger an Herrichtung des Lagers. Jeder von ihnen ſchaufelt unter einem alten dicken Fallbaume im Schnee eine mannslange und entſprechend breite Grube aus und zündet in ihr ein mächtiges Feuer an. Hierauf reinigt einer, möglichſt inmitten aller Gruben und im Schutze dichtkroniger Fichten oder Tannen, einen kreisrunden Platz vom Schnee; ein anderer ſchleppt Brennholz herbei; ein dritter entfacht auf jenem Platze ein noch mächtigeres Feuer; ein vierter ſchickt ſich an, das Abendbrot zu bereiten. So viele Eichhörnchen wurden doch erlegt, daß eine kräftige Fleiſchbrühe hergeſtellt werden kann, um den Mehlbrei oder die Brotſchnitten zu würzen. Man ißt, teilt redlich mit den Hunden, erquickt ſich an Thee und Dütenpfeifchen und beſpricht nach Jäger— weiſe die Erleb- und Ergebniſſe des Tages. Inzwiſchen hat das Feuer in den Gruben unterhalb den Schnee geſchmolzen, oberhalb den Fallbaum in Brand geſetzt und ſomit den Schlafraum wohl durchheizt. Sorgfältig kehrt jeder Jäger die am Boden der Grube noch glimmenden Kohlen an das eine Ende der Vertiefung, kriecht unter möglichſter Schonung der ſeitlichen Schneewälle in ſie hinein, ruft ſeine Hunde herbei, damit auch dieſe das warme Lager teilen, und ſchickt ſich zum Schlafen an. Freilich fällt von dem während der ganzen Nacht fortglimmenden Fallbaume eine und die andere Kohle auf Jäger und Hunde; aber ein ſibiriſcher Jägerpelz verträgt ebenſoviel, wie ein ſibiriſches Hundefell; der ſolcherart in Brand geſteckte Kloben heizt beſſer als ein viel größeres frei brennendes Feuer, durchwärmt die Grube, wie ein ſibiriſcher Ofen die Stube und ermöglicht überhaupt, daß Menſchen im Walde übernachten können. Ausgeruht und geſtärkt erhebt ſich beim Grauen des Morgens die Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. lila Geſellſchaft, nimmt ihr Frühſtück ein und zieht hierauf weiter. Erreicht man günſtige Jagdgründe, welche allwinterlich beſucht werden, ſo verweilt man hier nach Befinden längere oder kürzere Zeit. Hier und dort hat man in früheren Jahren eine noch aus Baumſtämmen hergerichtete Jagd— hütte erbaut, welche nunmehr wiederum eine Zeitlang als notdürftige Be— hauſung dient; in jedem Falle aber finden ſich hier ältere und neuere Schlagfallen, welche jetzt fängiſch geſtellt und allmorgendlich begangen werden. Beides erfordert viele Zeit, da die Fallen in ſehr weitem Umkreiſe auf— geſtellt werden; unſere Jagdgeſellſchaft verweilt daher manchmal eine Woche und darüber in einer beſtimmten Gegend des Waldes und jagt ſie gründ— lich ab, bevor ſie ihre weidliche Wanderung fortſetzt. In dieſer Weiſe jagend, verbringen manche Sibirier den größten Teil des Winters im Walde. Vor Antritt der Wanderung pflegt jeder Jäger mit einem Kaufmann Vertrag zu ſchließen. Er verpflichtet ſich, dem Händler alle von ihm erbeuteten Felle zu einem vereinbarten Durchſchnitts— preiſe abzulaſſen, der Kaufmann, die ihm überbrachte Ware ohne Aus— wahl abzunehmen. Hat der Jäger Glück, ſo gelingt es ihm noch heutiges— tags, jo viel zu erbeuten, daß er von dem Erxlöſe ſeiner Jagd leben kann, mindeſtens die Bedürfniſſe des Winters zu beſtreiten vermag; im allgemeinen aber lohnt auch dieſes Weidwerk die mit ihm verbundenen Mühſeligkeiten und Entbehrungen in keiner Weiſe, und nur ein jo außer: ordentlich anſpruchsloſer Menſch, wie der ſibiriſche Jäger zu ſein pflegt, iſt im ſtande, ſie erwerbsmäßig zu betreiben. Als ruhmvollſtes und ſchwierigſtes Weidwerk betrachtet der Weſtſibirier die Bärenjagd. Freund Petz iſt in unſerem Gebiete keineswegs das ge— mütliche Weſen, wie noch hier und da in Oſtſibirien, vielmehr, wie faſt allerorten, ein grober, ungeſchliffener Geſell, welcher zwar in der Regel vor dem Menſchen flieht, verwundet oder auch nur in die Enge getrieben aber mutig den Kampf aufnimmt und dann äußerſt gefährlich werden kann. Aller Verfolgung ungeachtet, iſt er noch in keinem Teile ausgerottet worden, eher vielmehr als häufig oder doch nicht ſelten zu bezeichnen; immer und überall aber wandelt er ſeine eigenen Wege und kreuzt nicht allzuoft die Pfade des Menſchen. Damit ſoll nicht geſagt ſein, daß er die Anſiede— lungen des letzteren ſcheue oder auch nur vermeide; denn er hält ſich oft in nicht erheblicher Entfernung von den Ortſchaften auf und überfällt zu— weilen Haustiere vor den Augen ihrer Beſitzer, zeigt ſich aber ſo unregel— mäßig, daß viele Sibirier ihn gar nicht von Angeſicht zu Angeſicht kennen gelernt haben, beziehentlich ihm nie im Walde begegnet ſind. Allem An— 12 Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. ſchein nach befindet er ſich während des ganzen Sommers auf der Wande— rung. Er durchſtreift die Wälder, ohne ſich hier an beſtimmte Straßen zu binden, ſteigt, je nach der Geſtaltung der Gebirge, mehr oder weniger regelmäßig betretene Pfade einhaltend, im Spätſommer zu den Höhen empor und kehrt mit Beginn des Winters zu niederen Lagen zurück, nimmt während der Reife des Getreides ſeinen Stand in Außenwaldungen, um in aller Bequemlichkeit benachbarte Felder zu beſtehlen, verläßt auch wohl zeitweilig den Wald gänzlich und beſucht angrenzende Steppen, zu— mal Gebirgswände, welche das Gepräge der Steppe tragen, hält ſich längere Zeit in einer Gegend auf und durchzieht, ohne an einer Stelle zu weilen, andere, immer und überall der augenblicklich ſich bietenden Gelegenheit, dieſe oder jene Lieblingsäſung zu erlangen, Rechnung tragend. In den meiſten Geländen iſt er entſchiedener Pflanzenfreſſer; hier und da wird er zum gefürchteten Raubtiere; an anderen Orten geht er Aas an. Im Früh— jahre nährt er ſich ſchlecht und recht, von allem, was er erlangen kann, lauert verſteckt und liſtig auf Herdentiere, welche weidend die Waldungen betreten, ſpringt ſie plötzlich an oder folgt ihnen mit überraſchender Schnellig— keit, ergreift ſie, reißt ſie zu Boden und bringt ſie um, frißt ſich an ihrem Fleiſche ſatt und vergräbt täppiſch den Reſt, um ſpäter noch eine Mahl— zeit zu halten, erſcheint auch wohl, zumal wenn Viehſeuchen wüten, auf den Ablagerungsplätzen der geſtorbenen Haustiere, um an deren Aaſe ſich gütlich zu thun, iſt ſogar auf Kirchhöfen als Leichenräuber angetroffen worden. Im Sommer fällt er plündernd in Roggen-, Weizen- und Hafer— felder ein, beraubt wilde Bienenſtöcke und Bienenſtände, gräbt Weſpen— und Hummelneſter aus, zerſtört der Puppen halber Ameiſenhaufen, rollt alte Fallbäume in der Abſicht um, darunter liegende Käfer, Maden und Larven zu erbeuten, zertrümmert ſelbſt mulmige Bäume, um die im ver— morſchenden Holze wohnenden Kerbtierlarven zu gewinnen. Im Herbſte äſt er ſich faſt ausſchließlich von Beeren aller Art, auch ſolchen, welche er erſt von Bäumen herabholen muß, wie beiſpielsweiſe die Früchte der Traubenkirſche, und mit Eintritt der Reife der Zirbelnüſſe geht er dieſer nach, erſteigt, um ſich ihrer zu bemächtigen, hohe Bäume, und bricht nicht allein deren Aeſte, ſondern ſelbſt deren Wipfel ab, ebenſo wie er Vorrats— häuſer, in denen man Zirbelnüſſe zeitweilig aufſpeichert, hartnäckig um— lungert oder verſucht, einen Zugang in das Innere der Speicherräume zu bahnen. Nebenbei betreibt er in jeder Jahreszeit Fiſchfang, und zwar nicht ſelten mit gutem Erfolge. Vor dem Menſchen flüchtet er regelmäßig, geht aber doch auch bisweilen ohne weiteres zum Angriffe über und ſcheut dann Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. 113 ſelbſt Uebermacht nicht. Je nach der Witterung legt er ſich früher oder ſpäter zum Winterſchlafe nieder. Zum Lager wählt er vorzugsweiſe eine geeignete Stelle unter einem alten, rieſenhaften Fallbaume, gräbt hier zu— nächſt eine ſeichte Grube aus, bedeckt deren Boden mit dünnen Nadelzweigen und einen halben Meter hoch mit Moos, polſtert mit letzterem auch die Seitenwände des Lagers aus, bedeckt ſie von außen mit Stamm- und Aſtſtücken, begibt ſich in das Innere und läßt ſich einſchneien. Ueberraſcht ihn der erſte Schneefall im Gebirge, ſo ſteigt er nicht immer in die Tiefe hinab, ſondern birgt ſich in einer Felſenhöhle, welche er ſo gut als möglich auskleidet, oder erweitert einen Murmeltierbau ſo viel als unbedingt er— forderlich iſt, und verbringt in ihm den Winter. Einmal in vollen Schlaf geſunken, liegt er im Lager oft ſo feſt, daß man ihn nur mit vieler An— ſtrengung auftreiben kann, beißt ärgerlich in Stangen, mit denen man ihn aufſtört, knurrt und brüllt und gibt erſt dann nach, wenn man zu Raketen oder Feuerbränden ſeine Zuflucht nimmt. Endlich ſtürmt er, falls er nicht verwundet wurde, wie ein aufgeſcheuchter Eber davon, entleert ſich und ſucht ſein Heil in ſchleunigſter Flucht. Die Bärin bringt, nach überein— ſtimmender Verſicherung aller kundigen Jäger, nur in jedem zweiten Winter Junge, und zwar während des tiefſten Schlafes, erwacht, wie man an— nimmt, nur kurz vor dem Gebären, leckt die Kleinen rein und trocken, legt ſie ans Geſäuge und ſchläft ſodann in Abſätzen weiter. Zu Ende des Mai oder im Juni ſucht ſie ihre früher geborenen, alſo zwei- oder ſelbſt vierjährigen Jungen, wieder auf und zwingt ſie, als Peſtun oder Kinder— wärter Dienſte zu thun. Obgleich man in Weſtſibirien das an und für ſich keineswegs un— ſchmackhafte Wildbret des Bären wenig achtet und Bärenſchinken mehr um einer Laune zu genügen, als um ſich ein leckeres Gericht zu verſchaffen, zubereitet und auftiſcht, bringt doch die Bärenjagd reichlichen Gewinn. Das Fell wird vornehmlich zu Schlittendecken benutzt, ſehr geſucht und teuer bezahlt; Zähne und Krallen gelten, nicht bloß unter Oſtjaken und Samo— jeden, ſondern ebenſo unter den weſtſibiriſchen Bauern, als Talisman wirkungsvoller Art; ſelbſt die Knochen finden hier und da Verwendung. Ein Reißzahn des im ehrlichen Kampfe erlegten Bären verleiht dem oſt— jakiſchen Jäger, ſeiner Meinung nach, übernatürliche Gaben, vor allem Mut, Kraft und Stärke, auch wohl Unverwundbarkeit; eine Klaue, ins— beſondere die vierte der rechten Vorderprante, welche dem Ringfinger ent— ſpricht, zwingt, ſo verſpricht der Glaube allen liebenden jungen Mädchen des Ural, jeden Jüngling, welchen das Mädchen mit ihr heimlich kratzte, Brehm, Vom Nordpol zum Aeqʒquator. 8 114 Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. zu inbrünftiger Gegenliebe: Zahn wie Kralle ſtehen daher hoch im Preiſe und feuern manch einen Jäger mehr noch, als erlittener Schaden, zur Jagd des gewaltigſten Raubtieres der Wälder an. Aber die Jagd iſt weder leicht noch gefahrlos. Von Fallen, welche Erfolg verſprechen, weiß man nicht zu berichten; es handelt ſich immer darum, den Bären aufzuſuchen und mit der Waffe in der Hand, unter Unterſtützung geübter Hunde, den Kampf mit ihm aufzunehmen. Während des Sommers beeinträchtigt die Unſtetigkeit des Raubtieres deſſen Jagd ſehr; im Winter iſt es eher mög— lich, ein Lager aufzufinden und in oder vor ihm den Schläfer zu erlegen. Der arme Bauer, welcher das Lager entdeckte, verkauft ſeinen Bären an irgend einen wohlhabenden Jäger; dieſer zieht mit ihm und den erforder— lichen Helfershelfern an einem günſtigen Tage zur Jagd aus, umſtellt mit ſicheren Schützen das Lager, läßt durch Treiber den Bären wecken und zu Schuſſe bringen und gibt aus möglichſt kurzer Entfernung ſeine Kugel ab. So werden weitaus die meiſten Bären erlegt; für ſichere Schützen iſt ſolche Jagd auch wenig gefährlich. Im Sommer und Herbſte ſucht man den ge— ſpürten oder geſehenen Bären mit Hilfe kleiner Hunde auf, ſtellt ihn durch dieſe, welche ihn von allen Seiten beſchäftigen, und ſendet ihm im ge— eigneten Augenblicke die Kugel zu, bedient ſich auch wohl, nach Art der mutigen Oſtjaken, des Bärenſpießes und läßt das Raubtier auflaufen, oder umwickelt den linken Arm mehrmals mit Birkenrinde, hält dieſen Panzer dem herbeikommenden Bären entgegen und ſtößt ihm, wenn er ſich in der Birkenrinde verbeißt, ein breites und langes Meſſer ins Herz. Bei dieſer wie bei jener Angriffsweiſe kommen freilich manchmal Unglücksfälle vor; einzelne Jäger erwerben ſich mit der Zeit aber ſo viel Kaltblütigkeit und Sicherheit, daß ſie Spieß wie Meſſer jeder anderen Waffe vorziehen. Ein Bauernmädchen des Dorfes Morſchowa im Ural, deſſen Ruf ſich über ganz Weſtſibirien verbreitet hat, ſoll mit dem Meſſer mehr als dreißig Bären erlegt haben. Von unerwünſchten Begegnungen mit Bären wird viel erzählt. Ein nur mit ſeiner Erbſenbüchſe bewaffneter Jäger ſieht im Walde einen großen Bären, wagt aber keinen Schuß auf ihn abzugeben, weil er ſich ſagen muß, daß ſein Geſchoß für ſolches Wild denn doch zu klein iſt. Er bleibt alſo ruhig ſtehen, um den Bären nicht zu reizen. Letzterer kommt auf ihn zu, erhebt ſich vor ihm, beſchnüffelt ihn im Geſichte und gibt ihm endlich einen Schlag, welcher ihn bewußtlos zu Boden ſtreckt. Hierauf entfernt er ſich eiligſt, gerade, als ob er eingeſehen, daß er einen loſen Streich ausgeübt habe. Zwei Schweden, Aberg und Erland, jagen im Zobel und Haſelhühner. Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. 115 Ural auf Haſelhühner, und erſterer nähert ſich einem Brombeergebüſche, aus welchem zu ſeiner nicht geringen Ueberraſchung anſtatt des erhofften Haſelhuhns ein mächtiger Bär aufſteht und ihn ohne weiteres annimmt. Einſehend, daß Flucht unmöglich, wirft Aberg ſein Schrotgewehr an die Wange, zielt auf das Auge des Bären, gibt Feuer, und iſt ſo glücklich, das Untier zu blenden. Wüthend vor Schmerz deckt der Bär das blutende Auge mit der Brante, brüllt laut auf und geht weiter auf den uner— ſchrockenen Schützen zu. Dieſer nimmt kaltblütig das andere Auge auf das Korn und ſchießt mit demſelben Erfolge wie das erſte Mal. Nunmehr erſt ruft er ſeinen Genoſſen zu Hilfe, und beide feuern abwechſelnd auf den geblendeten Bären, bis ſie ihn getötet haben. Die luſtigſte Geſchichte ereignete ſich in der Flur des Dorfes Tomski Sawod in der Gegend von Salair. Ein dortiger Bauer fährt mit einer Ladung Zirbelnüſſe durch den Wald, ohne zu bemerken, daß einem der Säcke Nüſſe entfallen. Ein Bär, welcher hinter dem Wagen den Wald durchwandert und den Weg kreuzt, findet einige dieſer Nüſſe, ſpürt den anderen nach und folgt, vom Fuhrmann nicht beachtet, dem Wagen nach. Der Bauer verläßt geraume Zeit ſpäter Pferd und Wagen, erſterem Still— ſtand gebietend, und geht ſeitwärts in den Wald, um einen dort aufge— ſtellten anderweitigen Sack mit Nüſſen herbeizuholen. Ehe er mit ſeiner Laſt zurückgekehrt iſt, hat der Bär, immer Nüſſe aufleſend, den Wagen erreicht und erklettert, um ſich nach Herzensluſt an ſeiner Lieblingsſpeiſe zu letzen. Mit nicht geringem Entſetzen ſieht der herbeikommende Fuhrmann, welcher Fahrgaſt ſich ihm aufgedrungen, wagt dieſem gegenüber nichts zu unternehmen und überläßt ihm Pferd und Wagen. Das Pferd, bereits ängſtlich geworden, blickt endlich rückwärts, erkennt den Bären und trabt mit dem Wagen davon, ſo ſchnell es vermag; die unerwünſchte Bewegung aber ſchreckt wiederum den Bären ab, vom Wagen herunterzuſpringen, zwingt ihn, ſich feſtzuhalten und geſtattet ihm nur, ſeinem mehr und mehr ſich ſteigernden Unmute durch lautes Brüllen Ausdruck zu geben. Erklär— licherweiſe bewirkt dieſes Brüllen nichts anderes als noch größere Be— ſchleunigung der Fahrt; und je mehr der Bär ſich fürchtet und tobt, je ſchneller eilt das Pferd dem Dorfe zu. In dieſem aber erwartet man bereits ſeit mehreren Stunden den Biſchof und ſteht in Feierkleidern vor den Thüren, um den hohen Herrn ſofort bei ſeinem Erſcheinen zu begrüßen, hat auch ſcharfäugige Knaben hoch oben im Glockenturme auf Ausguck ge— ſtellt und ſie beauftragt, bei Anſichtigwerden des Gefeierten mit allen Glocken zu läuten. Da wirbelt von fern eine Staubwolke auf; die Knaben ſchwingen 116 Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. die Glocken, Männer und Frauen ordnen ſich in Reihen, der Pope tritt mit dem Rauchfaſſe vor die Kirchenthüre, und Kind und Kegel bereitet ſich, den Fürſten der Kirche würdig zu empfangen. Und heran raſſelt der Wagen; mitten durch die feſtlich geſtimmten Dörfler jagen Roß und Kutſcher, erſteres ſtaubbedeckt, ſchwitzend und keuchend, letzterer brüllend und ſchnaufend, und erſt im Gehöfte des Fuhrmanns endet die tolle Fahrt. Anſtatt des ſo ſchönen ruſſiſchen Kirchengeſanges gellen Schreckensſchreie halb ohn— mächtiger Weiber durch die Luft, anſtatt der demütig ſich Neigenden ſieht man erſtaunte, entſetzte Männergeſichter; einzig und allein die Glocken tönen wie immer. Noch ehe ſie verklungen, hat man ſich gefaßt, geſammelt und bewaffnet, zieht Roß und Bären nach und erlegt letzteren, welcher alle Beſinnung verloren zu haben ſcheint, auf dem von ihm ſelbſt gewählten Throne. Wer das Weſen des Bären kennt, wird zugeſtehen müſſen, daß ſich alles ſo verhalten haben kann, wie geſchildert wurde, gleichwohl aber doch geneigt ſein, die erheiternde Erzählung in das Gebiet der Jagdgeſchichten zu verweiſen. Auch im Munde der ernſten und ehrlichen Waldleute ver— quicken ſich manchmal Dichtung und Wahrheit, wenn ſie erzählen von Wald, Wild und Weidwerk in Sibirien. Die innerafrikaniſche Hfeppe und ihre Tierwelt. er Norden Afrikas iſt Wüſte, muß Wüſte ſein und wird ewig Wüſte N bleiben. Gegenüber den ausgedehnten, von einer ſengenden Sonne durchglühten Ländermaſſen zwiſchen dem Roten und Atlantiſchen Meere, verlieren die erdumgürtenden Gewäſſer ihre Bedeutung, kommt das Rote Meer gar nicht in Betracht, erweiſt ſich das Mittelmeer als viel zu klein, iſt ſelbſt der Einfluß des Atlantiſchen Weltmeers nur auf einen ſchmalen Rand längs ſeiner Küſte beſchränkt; über ſo weiten und heißen Flächen muß jedes Wolkengebilde zerſtäuben, ohne die lechzende Erde zu befeuchten und zu befruchten. Erſt viel weiter im Süden, unfern des Gleichers, da, wo auf der einen Seite das Atlantiſche Weltmeer tief ſich einbuchtet, auf der anderen das Indiſche Weltmeer Afrikas Küſten beſpült, wo, um mich ſo auszudrücken, beide Meere über den Erdteil hinweg ſich die Hände reichen, ändern ſich die Verhältniſſe, indem hier alljährlich zu gewiſſen Zeiten unter Sturm und Blitz und Donner ſo ausgiebige Regenmaſſen herniederſtürzen, daß vor ihnen die Wüſte weichen und der lebendigeren Steppe Platz machen muß. Daher teilt ſich hier das rollende Jahr in zwei, voneinander weſentlich verſchiedene Zeiten: in die belebende und ertötende, die der Regen und jene der Dürre nämlich, wogegen in der Wüſte einzig und allein die zeit— weilig herrſchenden Winde von den anderswo wechſelnden Jahreszeiten Kunde bringen. Um die Steppe zu erklären, erſcheint mir eine flüchtige Schilderung ihrer Jahreszeiten unerläßlich zu ſein. Denn jedes Land ſpiegelt das Klima wider, welches in ihm herrſcht, und jedes Gebiet iſt nichts anderes als ein Ergebnis der ſtreitenden Gewalten ſeiner Jahreszeiten und kann nur verſtanden werden, wenn man dieſe und ihren Einfluß kennen ge— lernt hat. 118 Die innerafrikaniſche Steppe und ihre Tierwelt. Mit dem Aufhören der Regen beginnt im Innern Afrikas die er— tötende Zeit des Jahres oder der lange und furchtbare Winter, welcher durch ſeine Glut genau dasſelbe bewirkt, was der nordiſche Winter durch ſeine Kälte zuwege bringt. Noch bevor ſich der bis dahin oft bewölkte Himmel völlig geklärt hat, werfen einzelne der im Frühlinge ergrünten Bäume ihren Blätterſchmuck ab, und mit den fallenden Blättern verlaſſen auch die Wandervögel, welche während des Frühlings gebrütet haben, das herbſtende Land, um in anderen Gefilden ihres heimatlichen Erdteils Zu— flucht zu ſuchen. Die Halme der Brotfrüchte gilben noch vor dem Ende der Regen; die niederen Gräſer welken und dörren. Zeitweilig fließende Gewäſſer verſiegen, durch die Regen gefüllte Becken trocknen aus und zwingen nicht allein die in ihnen lebenden Kriechtiere und Lurche, ſondern ſelbſt die ihnen eigenen Fiſche, im feuchten Letten ſich einzugraben und hier ein Winterlager zu ſuchen. Kerbtiere und Pflanzen vertrauen ihren Samen der Erde an. Je mehr die Sonne ſcheinbar nach Norden ſich wendet, um ſo raſcher rückt der Winter heran. Der Herbſt beſchränkt ſich auf wenige Tage. Er bewirkt kein Verwelken und Abſterben der Blätter, kein Erglühen in Gelb und Rot, wie bei uns zu Lande, ſondern übt durch glühende Winde eine ſo vernichtende Gewalt, daß jene vertrocknen, wie gemähtes Gras im Strahle der Sonne, und teils noch grün zu Boden fallen, teils am Stiele zerſtieben, daß die Bäume, mit ſehr wenigen Ausnahmen, binnen kürzeſter Friſt ihr winterliches Ausſehen erhalten. Ueber den vor wenigen Tagen noch im Winde wogenden, mit hohem Graſe bewachſenen Flächen wirbelt jetzt Staub auf; in den teilweiſe oder gänzlich trocken gelegten Flußläufen und Waſſerbecken klafft der Boden in tiefen Spalten. Alles Angenehme ſchwindet, alles Unangenehme tritt bedrohlich hervor: Blätter und Blüten, Vögel und Schmetterlinge welkten, wanderten oder ſtarben; aber Dornen, Stacheln und Kletten blieben zurück, Schlangen, Skorpione und Taranteln feiern die Hochzeit ihres Lebens. Unſägliche Glut bei Tage, unerträgliche Schwüle bei Nacht ſind die Leiden dieſer Tage, und gegen das eine wie gegen das andere gibt es kein Mittel der Abwehr. Wer jene Tage nicht ſelbſt erlebt hat, an denen der Wärmemeſſer im Schatten bis auf fünfzig Grade Celſius ſteigt, während deren man fortwährend ſchwitzt, ohne eher als im kühlen Raume zum Bewußtſein davon zu gelangen, weil die Glut allen Schweiß verdunſten läßt, während deren eine Staubwolke nach der anderen zum Himmel aufwirbelt oder trockener Durſt bleiſchwer auf einem laſtet, ver— mag nicht, ſolche Leiden ſich auszumalen; wer jene Nächte, in denen man Die innerafrikaniſche Steppe und ihre Tierwelt. 119 ſich ſchlaflos auf dem Lager wälzt, weil die Schwüle verwehrt, zu ruhen und zu ſchlafen, nicht durchſeufzt hat, iſt außer ſtande, die Qual der Menſchen und Tiere in gleicher Weiſe bedrückenden Zeit nachzufühlen. Selbſt der Himmel ändert ſein bisher ſelten getrübtes Blau in fahlere Farben um; denn der eben erwähnte Dunſt verhüllt oft halbe Tage lang die Sonne, ohne ihr jedoch die Glut zu rauben: im Gegenteil, gerade wenn der Geſichtskreis mit ſolchen Dünſten umdichtet iſt, ſcheint die Schwüle noch zuzunehmen. Ohne irgend welche Erquickung für Geiſt und Leib reihen ſich die Tage aneinander. Kein kühlender Hauch aus Norden fächelt die Stirn, kein Blütenduft, kein Vogelgeſang, keine Zaubergemälde in leuchtenden Farben und tiefdunkeln Schatten, wie das überquellende Himmels— licht der Gleicherländer es ſonſt wohl hervorruft, erfriſcht die Seele: alles Lebendige, Farbige, Dichteriſche iſt verſchwunden, in todähnlichen Schlaf geſunken, — und dieſer iſt viel zu grauſenvoll, als daß er dichteriſche Gefühle wecken könnte. Menſch und Tiere welken, wie früher Gras und Blätter welkten, und mancher Menſch, manches Tier ſinkt für immer nieder, wie jene. Vergeblich ringt trotziger Mannesmut, von der Laſt dieſer Tage ſich zu befreien: in Seufzen und Klagen geht der feſteſte Wille unter. Jede Arbeit ermüdet, jede, auch die leichteſte Decke wird zu ſchwer; jede Bewe— gung ermattet, jede Verletzung wandelt ſich zur bösartigen Wunde. Doch ſelbſt dieſer Winter muß endlich dem Frühlinge weichen. Grauſenvoll aber iſt auch deſſen Wehen. Derſelbe Wind, welcher in der Wüſte zum Samum wird, regt als Herold des Lenzes ſeine Schwingen, wühlt in den Ritzen des Bodens, um ſogar aus ihnen noch Staub zu ent— nehmen, wirbelt letzteren in dichten Maſſen empor, baut aus ihm mauer— ähnliche Wolken auf und führt dieſe brauſend und heulend durch das Land, wirft ſie durch die Fenſtergitter der beſſeren Wohnungen in den Städten, wie durch die niederen Thüren der Hütte des Eingeborenen und fügt neue Unannehmlichkeiten zu den gewohnten Plagen. Er allein hat endlich die volle Herrſchaft errungen und übt ſie unumſchränkt, als wolle er alles ver— nichten, was bisher noch widerſtand; er aber iſt es auch, welcher weiter im Süden regenſchwangere Wolken zuſammenballt und dem verbrannten Gelände entgegenführt. Bald will es ſcheinen, als verlöre er mit der ſich mehrenden Stärke ſeine bedrückende Schwüle, als wehe er zuweilen nicht mehr glühend, ſondern friſch und erquickend. Es iſt keine Täuſchung: der Frühling rüſtet ſich zum Einzuge, und auf des Südſturmes Fittichen rauſchen die Wolken einher. Noch kurze Zeit, und ſie umdunkeln im Süden das Gewölbe des Himmels; noch wenige Tage, und zuckende Blitze er— 120 Die innerafrikaniſche Steppe und ihre Tierwelt. leuchten faſt allmählich die düſteren Schichten; noch einige Wochen, und ferner Donner kündet den belebenden Regen. Geſchäftig regt es ſich, wogt und flutet es, in und an allen Strömen, welche vom Süden her kommen. Noch haben ſie ſich kaum getrübt; aber ſie ſind lebendiger geworden: denn ſie ſteigen von jetzt an fortwährend und ſenden in allen tieferen Spalten und Riſſen ihrer verſchlammten Ufer— fläche das belebende Naß nach dem Innern des Landes. Und auch die Zugvögel ſind bereits wieder eingetroffen und mehren ſich von Tag zu Tage. In den oberen Nilländern erſchien der Storch, um wiederum Beſitz zu nehmen von den alten Neſtern auf den kegelförmigen Strohhütten der Ein— geborenen, erſchien mit ihm der heilige Ibis, um auch heute noch ſein vor Jahrtauſenden übernommenes Amt zu üben: Bote, Herold und Bürge zu ſein, daß der alte Nilgott wiederum ſeiner Gnade Born und ſeines Segens Füllhorn über die ihm unterthanen Länder ergießen werde. Endlich zieht das erſte Gewitter heran. Beengendere Schwüle als je liegt über dem toten, verbrannten Gelände. Unheimliche Stille be— ängſtigt Menſch und Tier. Jeder Geſang, faſt jeder Stimmlaut der Vögel iſt verſtummt; ſie ſelbſt haben ſich im dichteſten Gelaube der immergrünen Bäume geborgen. Aber auch das Leben im Lager des Wanderhirten, im Dorfe, in der Stadt, ſcheint zu erſterben. Beſorglich ſchleichen die ſonſt ſo lebhaften Hunde einem ſtillen, ſicheren Ruheorte oder Verſtecke zu; alle übrigen Haustiere gebärden ſich ängſtlich oder wild: die Roſſe müſſen gefeſſelt, die Rinder in ihre Umzäunung getrieben werden. In der Stadt ſchließt der Kaufmann ſeine Bude, der Handwerker ſeine Werk— ſtatt, der Regierungsbeamte ſeinen Diwan, denn jedermann ſucht Zu— flucht in ſeiner Behauſung. Und dennoch rührt ſich noch kein Lufthauch, vernimmt man noch kein Geflüſter in den Blättern der wenigen noch Blätter tragenden Bäume. Wohl aber ſieht man, wie das Gewitter ſich geſtaltet und naht. Im Süden ſchichtet ſich eine dunkle und gleichwohl flammende Wand zuſammen, vergleichbar der Feuerwolke über einer brennenden Stadt, einem meilenweit in Flammen ſtehenden Walde. Brandrot, Purpur, Dunkelrot und Braun, Fahlgelb, Grau, Tiefblau und Schwarz ſcheinen in ihr einen Farbenreigen zu führen, vermiſchen und ſondern ſich, gehen in dem Dunkel auf und treten wiederum grell hervor. Sie liegt auf der Erde und wächſt zu dem Himmel empor, ſie ſcheint ſtill zu ſtehen und raſt mit Sturmes— eile dahin, verengert von Minute zu Minute den Geſichtskreis mehr und mehr und hüllt alles Vorhandene in undurchdringlichen Schleier. Pfeifendes Die innerafrikaniſche Steppe und ihre Tierwelt. 21 und ſauſendes Geräuſch geht von ihr aus; auf dem Standpunkte des Beobachters aber iſt noch alles ton- und klanglos. Da brauſt plötzlich, kurz und heftig, ein Windſtoß dahin. Starke Bäume beugen ſich vor ihm wie ſchwache Gerten; die ſchlanken Palmen neigen ihre Kronen tief herab. Dem einen Stoße folgen in ſtetig be— ſchleunigter Folge andere; der Wind wächſt zum Sturme an, der Sturm ſteigert ſich zum Orkan, und dieſer wütet mit beiſpielloſer Gewalt. Sein Toben iſt ſo gewaltig, daß der Schall des ausgeſprochenen Wortes das Ohr des Sprechers nicht erreicht, daß jeder Laut übertönt und verſchlungen wird. Es rauſcht und brauſt, toſt und ſauſt, pfeift und heult, dröhnt und praſſelt in den Lüften, am Boden, in den Kronen der Bäume, als ob alle Elemente miteinander im Kampfe lägen, der Himmel einfallen, die Grund— feſten der Erde erſchüttert würden. Unwiderſtehlich trifft der gewaltige Sturm die Kronen der Bäume, reißt die Hälfte der Blätter aller noch be— laubten mit ſich fort, bricht mannsſtarke Stämme wie ſprödes Glas, be— mächtigt ſich der Krone ſelbſt, rollt, dreht und wirbelt ſie wie einen leichten Ball über ebene Flächen hinweg und gräbt ſie endlich mit den Aeſten, als der breiteſten Grundlage, nach unten, dem kläglich empor— ſtarrenden Bruchſtücke des Stammes nach oben, tief ein in lockere Erde oder Sand, um ſie ſo der vernichtenden Termite zu überliefern. Gierig wühlt er in allen Spalten und Ritzen der Erde, entnimmt ihren Staub, Sand und Kies, erhebt dieſe Stoffe bis in die Wolken und führt ſie mit ſolcher Gewalt mit ſich fort, daß ſie von harten Gegenſtänden mit ver— nehmlichem Prickeln und Knattern zurückprallen, verhüllt mit ihnen Himmel und Gelände und wandelt durch ſie den Tag zur düſteren Nacht, ſo daß der geängſtigte Menſch im Innern der ſtauberfüllten Wohnung Laternen an— zündet, um an der lebendigen Flamme gleichſam ſich ſelbſt wiederzufinden oder doch zu beruhigen. Doch das Toben der Windsbraut wird übertönt. Praſſelnde Donner— ſchläge dröhnen, mächtiger als ſie, und übertäuben ihr Heulen und Brauſen. Noch immer ſind die Staubwolken ſo dicht, daß man die Blitze nicht wahr— zunehmen vermag; bald aber miſcht ſich ein bisher noch nicht vernommenes Raſſeln unter das Wirrſal der Laute und Geräuſche, und damit beginnt die unnatürliche Nacht dämmernder Helligkeit zu weichen. Es iſt, als ob ſchwerer Hagel herniederſchlage, und gleichwohl ſind es nur Regentropfen, welche jetzt zu Boden fallen und den aufgewirbelten Staub und Sand mit ſich nehmen. Nunmehr wird man der Blitze gewahr. Einer folgt ſo un— mittelbar auf den anderen, daß man unwillkürlich die geblendeten Augen 122 Die innerafrikaniſche Steppe und ihre Tierwelt. ſchließt und nur noch an dem ohne Unterbrechung rollenden Donner das Wetter verfolgt. Der Regen wandelt ſich zum Wolkenbruche; von den Bergen rauſcht das Waſſer in Bächen hernieder; in den Niederungen ſammelt es ſich zu Seen; in den Thälern flutet es in Strömen dahin. Stundenlang währt der Niederſchlag; aber ſchon mit Beginn des Regens ermattet der Sturm, und friſcher kühlender Wind erquickt Menſchen, Tiere und Pflanzen. Allmählich verringern ſich die Blitze, ſchwächt ſich der Donner, wandelt ſich der Wolkenbruch wieder in Regen, dieſer endlich in ſanftes Rieſeln; der Himmel klärt ſich, die Wolken zerreißen und ſtrahlend bricht die Sonne zwiſchen ihnen hervor. Frohlockend verläßt die braune Jugend, nackt, wie ſie erſchaffen, Häuſer und Hütten, um ſich in den Gewäſſern des Frühlings zu baden; nicht minder beglückt entſteigen deren ſchlammigem Grunde Kriech— tiere, Lurche und Fiſche, und ſchon in der erſten Nacht nach dem Regen ertönt tauſendfach die helle und laute Stimme eines kleinen Froſches, von dem man vorher nichts wahrnehmen konnte, weil er, wie einzelne Krokodile, viele Schildkröten und alle Fiſche der zeitweilig trocken liegenden Seen in der Tiefe der Erde ein Winterlager geſucht hatte und durch den erſten Frühlingsregen ins Leben zurückgerufen wurde. 5 Allüberall regt ſich das erwachende Leben gewaltig. Gierig ſaugt die lechzende Erde die ihr geſpendete Feuchtigkeit ein; aber der Himmel öffnet nach Verlauf weniger Tage wiederum ſeine Schleuſen und erweckt durch das belebende Naß alle noch ſchlummernden Keime. Ein zweites Ge— witter ſprengt die Blattknoſpen aller einem Wechſel unterworfenen Bäume und entlockt dem Boden ſproſſende Gräſer; ein dritter Regenguß ruft Blüten und Blumen hervor und kleidet das ganze Gelände in ſaftiges Grün. Zauberhaft, wie er gekommen, wirkt und waltet der Frühling. Was bei uns der Friſt eines Monats bedarf, vollendet hier im Verlaufe einer Woche den Kreislauf ſeines Lebens; was in gemäßigten Gürteln nur langſam ſich entwickelt, entfaltet ſich hier in Tagen und Stunden. Binnen wenigen Wochen aber iſt der Frühling auch wieder vergangen und der kaum von ihm unterſchiedene Sommer eingetreten in den Reigen des Jahres, ebenſo raſch dieſem der kurze Herbſt gefolgt, ſo daß man, ſtreng genommen, nur von einer einzigen, Frühling, Sommer und Herbſt in ſich begreifenden Jahreszeit ſprechen darf. Und wieder ſteht der ertötende Winter vor der Thüre und verwehrt ununterbrochenes Entkeimen, Wachſen und Gedeihen, wie andere Gleicherländer, dank ihres größeren Waſſer— reichtums, es ermöglichen. Genügend aber iſt dennoch die Menge der hier fallenden Regen, um die ſtarre Wüſte zu verbannen und überall da, wo Die innerafrikaniſche Steppe und ihre Tierwelt. 123 ſie ſonſt herrſchen würde, einen mehr oder minder üppigen Pflanzenteppich über den Boden zu breiten oder, mit anderen Worten, anſtatt der Wüſte Steppe hervorzurufen. Ich gebrauche das Wort Steppe zur Bezeichnung von jenen, dem Inneren Afrikas eigenen Gefilden, welche der Araber „Chala“ oder zu Deutſch „friſche, grüne Pflanzen erzeugende Gelände“ nennt. Die Chala iſt freilich ebenſowenig der Steppe Südrußlands und Mittelaſiens, wie der Prairie Nordamerikas, den Pampas oder den Llanos Südamerikas gleich, aber doch der erſtgenannten in vieler Beziehung ſo ähnlich, daß ich kaum der Entſchuldigung bedarf, wenn ich ein uns bekannteres Wort dem unbe— kannten vorziehe. Die Steppe erſtreckt ſich über das ganze innere Afrika, von der Wüſte an bis zur Karru), von der Oſtküſte an bis zu der des Weſtens, umgibt alle dort liegenden Hochgebirge und ſchließt alle auf ihnen wie in den tiefer eingeſenkten und waſſerreicheren Niederungen ſich aus— dehnenden Urwaldungen in ſich ein, umfaßt alle Länder im Herzen Afrikas, beginnt wenige hundert Schritt jenſeits des letzten Hauſes der Städte, un— mittelbar hinter den letzten Häuſern der Dörfer, nimmt die Felder der Anſäſſigen in ſich auf und ernährt und erhält die Herden des Wander— hirten. Wo nach Süden hin die Wüſte endet, wo der Wald aufhört, wo ein Gebirge ſich verflacht, macht ſie ſich geltend; wo der Wald durch Feuer zerſtört wurde, bemächtigt zuerſt ſie ſich der Brandſtelle; wo der Menſch ein Dorf verließ, dringt ſie in deſſen Weichbild ein, um es binnen wenigen Jahren bis auf die letzten Spuren zu vernichten; wo der Ackerbauer ſeine Felder aufgab, drückt ſie dieſen in Jahresfriſt wiederum ihr Gepräge auf. Unfreundlich, eintönig und wechſellos erſcheint die Steppe dem, welcher ſie zum erſtenmal betritt. Eine weite, oft unabſehbare Ebene liegt vor dem Auge; nur ausnahmsweiſe erheben ſich aus ihr hier und da einzelne Berg— kegel, noch ſeltener einigen dieſe ſich zu Gebirgszügen. Oefter reihen ſich wellenförmig niedere Hügel an flach eingeſenkte Thäler; zuweilen ver— ſchlingen ſie ſich zu wunderſamen, netz- oder maſchenartig verlaufenden Höhenzügen, welche zwiſchen ſich eingetiefte Keſſel umſchließen oder um— geben, in denen während der Regenzeit Lachen, Teiche und Seen ent— ſtehen, wogegen während des Winters der lettige Boden durch Tauſende von Spalten zerklüftet wird. In den tiefſten und längſten Niederungen findet ſich an Stelle jener ſtehenden Gewäſſer ein „Chor“ oder Regenfluß, das iſt ein Waſſerbett, welches ebenfalls nur während des Frühlings ) Karru — ſüdafrikaniſche Steppe. 124 Die innerafrikaniſche Steppe und ihre Tierwelt. teilweiſe, unter beſonders günſtigen Umſtänden auch wohl und dann binnen wenigen Stunden bis zum Rande gefüllt wird und nunmehr nicht allein ſtrömt, ſondern wie eine bewegliche Mauer rauſchend und donnernd zur Tiefe brauſt, keineswegs immer aber in einen wirklichen Fluß mündet. Mit alleiniger Ausnahme ſolcher Waſſerbetten und Waſſerbecken deckt überall eine verhältnismäßig reiche Pflanzenwelt den Boden. Gräſer verſchieden— ſter Art, von niederen, auf dem Boden kriechenden Pflänzlein an bis zu über mannshohen getreideartigen Halmen bilden den Hauptbeſtandteil der Pflanzen der Steppe; Bäume und Sträucher, insbeſondere verſchiedene Mimoſen, Adanſonien, Dompalmen, Chriſtusdornen und andere verdichten ſich hier und da, zumal an den Ufern der erwähnten Gewäſſer zu Hainen oder Waldſäumen, ſind übrigens aber ſo ſpärlich zwiſchen den weite Flächen gleichmäßig überziehenden Gräſern eingeſprengt, daß ſie ſich nur an wenigen Stellen zu einem dünn beſtandenen Walde einen. Nirgends zeigen dieſe Bäume die Ueppigkeit des Wachstums wie in den wirklichen Stromthälern, welche den Segen des Frühlings bewahren durften, ſind vielmehr oft krüppelhaft, mindeſtens niedrig und ihre Kronen ſperrig und nur ausnahmsweiſe klettert eine Schlingpflanze zu ihren Wipfeln empor. Sie alle leiden unter der Strenge des langen glühenden Winters, welcher ihnen kaum geſtattet, das eigene Daſein zu friſten, und faſt alle Schma— rotzerpflanzen von ihnen abhält, wogegen die Gräſer in dem wenn auch kurzen, ſo doch waſſerreichen Frühlinge üppig aufſchießen, blühen und Samen reifen laſſen, ſomit alle Bedingungen zu fröhlichem Gedeihen aus— nützen. Gerade ſie aber tragen weſentlich dazu bei, der Steppe das Gepräge der Eintönigkeit aufzudrücken, denn ſie gleichen, ſo niedrig ſie ſind, viele Gegenſätze aus und wirken insbeſondere auch durch die Gleichmäßigkeit ihrer Färbung ermüdend. Nicht einmal der Menſch iſt im ſtande, Ab— wechſelung in dieſes ewige Einerlei zu bringen, weil ſeine Felder, welche er mitten im Graswalde anlegt, von fern geſehen, dieſem ſo gleichen, daß man Getreide und Gras nicht voneinander unterſcheiden kann, und die runden, kegelförmig bedachten Hütten, welche er mit ſchwachem Pfahlwerke ſtützt und mit Steppengras überkleidet, mindeſtens während der Zeit der Dürre ſo wenig von der umgebenden Fläche ſich abheben, daß man ſchon ſehr nahe gekommen ſein muß, wenn man ſie wahrnehmen ſoll. Einzig und allein die Jahreszeiten verändern das ſonſt ſo gleichmäßige Bild, ohne ihm jedoch viel von ſeiner Eintönigkeit zu nehmen. Unfreundlich iſt auch der Empfang, welchen die Steppe dem Wanderer bereitet. Auf hohen Kamelen ſitzend reitet man durch das Gefilde. Irgend Die innerafrikaniſche Steppe und ihre Tierwelt. 125 ein Wild verlockt zur Jagd und verleitet in den Graswald einzudringen. Da erfährt man, daß zwiſchen den anſcheinend ſo glatten Gräſern Pflanzen wachſen, welche ſich noch weit furchtbarer machen, als die Dornen der Mimoſen. Auf dem Boden wuchert die „Tarba“, deren Samenkapſeln ſo ſcharf ſind, daß ſie die Sohle leichter Reitſtiefeln durchſchneiden; über ihm erhebt ſich der „Eſſek“, deſſen Kletten ſich in alle Kleiderſtoffe faſt unlösbar einfilzen; noch etwas höher ſtrebt der „Askanit“ empor, unter den drei genannten die furchtbarſte Pflanze, weil ſeine feinen Stacheln bei der geringſten Berührung ſich löſen, durch alle Kleiderſtoffe dringend ſich in die Haut bohren und hier Eiterbeulen verurſachen, welche zwar an und für ſich ſehr klein ſind, ihrer außerordentlichen Menge halber jedoch überaus läſtig werden. Alle drei Pflanzen verwehren jeden längeren Aufenthalt, jedes weitere Vordringen im Graſe und werden zur Qual für Menſchen und Tiere, laſſen auch bald begreiflich erſcheinen, weshalb jeder Einge— borene eine feine Greifzange als eines ſeiner allerwichtigſten Werkzeuge fortwährend mit ſich führt, und daß, wie bei den Affen, der größte Liebes— dienſt, welchen einer dem anderen erzeigen kann, darin beſteht, ihm die feinen, kaum ſichtbaren, aber nadelſcharfen Stacheln aus der Haut zu ziehen. Daß auch die meiſten übrigen Pflanzen der Steppe, insbeſondere faſt ſämt— liche Bäume und Sträucher mit mehr oder weniger hinderlichen Dornen und Stacheln bedeckt ſind, nimmt denjenigen nicht wunder, welcher irgend— wo in Afrika ein Dickicht zu durchdringen verſuchte, oder nur einem Baume ſich näherte. Noch unangenehmere Erzeugniſſe der Steppe bringt die Nacht zur Geltung. Auch in ihr muß man oft mehrere Tage reiten, ohne in ein Dorf zu gelangen, und demgemäß im Freien lagern und nächtigen. Ein hierzu geeigneter, ſandiger, von jenen quälenden Pflanzen freier Platz am Wege, den man zieht, iſt endlich aufgefunden, das Reittier entbürdet und gefeſſelt, eine einfache Lagerſtatt errichtet, das heißt der Teppich über den Boden gebreitet, und ein mächtiges Feuer zum Schutze gegen Raubtiere angezündet worden. Die Sonne geht unter, die Nacht lagert, wenige Mi— nuten ſpäter, über der Ebene; das Feuer beleuchtet das Lager und ſeine Umgebung. Da wird es hier, wie im Lager ſelbſt, lebendig und rege. Angezogen durch die Strahlen der Flamme rennt und kriecht es heran, einzeln, ſelbander, zu zehn, zu hundert. Zunächſt erſcheinen rieſige Spinnen, welche mit ihren acht Beinen faſt ebenſoviel Raum überdecken, wie ein Mann mit ſeiner geſpreizten Hand; unmittelbar darauf, unter Umſtänden gleich— zeitig mit ihnen, finden Skorpione ſich ein. Die einen wie die anderen 126 Die innerafrikaniſche Steppe und ihre Tierwelt. laufen, beinahe unheimlich raſch, auf das Feuer zu, über Lagerteppiche und Decken hinweg, zwiſchen den zur einfachen Abendmahlzeit aufgeſtellten Tellern durch, kehren, ſobald ſie die ſtrahlende Wärme des Feuers zurück— treibt, wieder um, laſſen ſich nochmals von der Flamme anlocken und ver— mehren dadurch das bedrohliche Gewimmel; denn dieſe Spinnen ſind ihres gefährlichen oder doch ſehr ſchmerzhaften Biſſes halber kaum weniger ge— fürchtet, als die Skorpione, auch, wie dieſe zum Stechen, jederzeit zum Beißen bereit. Unmutig greift man zu dem zweiten Werkzeuge, welches einem der kundige Geleitsmann vor der Reiſe, als ebenfalls unentbehrlich, aufgedrungen, zu einer langſchenkeligen Feuerzange nämlich, packt ſo viele der ungebetenen Gäſte, als man erlangen kann, und wirft ſie ohne Gnade in das kniſternde Feuer. Dank der vereinigten Anſtrengungen aller Reiſe— genoſſen hat binnen kurzer Friſt der größte Teil des hölliſchen Gezüchtes ſeinen Tod in der Flamme gefunden; der Zuzug wird ſchwächer, und ſo viel als möglich ebenfalls und in gleicher Weiſe überwältigt: man atmet auf — aber zu früh! Wiederum neue und noch unheimlichere Gäſte nahen dem Feuer: Giftſchlangen, welche ebenſo wie jene Spinnentiere von dem Scheine der Flamme herbeigezogen werden. Der Naturforſcher erkennt in ihnen, mindeſtens in der am zahlreichſten ſich einſtellenden Art, höchſt be— achtens- und teilnahmswerte Tiere: denn es iſt die ſandgelbe Hornviper, die berühmte oder berüchtigte Ceraſtes der Alten, die auf vielen ägyptiſchen Denkmälern abgebildete Fi, dieſelbe Giftſchlange, durch deren Giftzähne Kleopatra ſich den Tod gab; der ermüdete Reiſende aber verwünſcht ſie in den Abgrund der Hölle. Das ganze Lager wird lebendig, ſobald ihr Name von einem der Reiſenden genannt wird; jeder greift, bei weitem raſcher und ängſtlicher als früher, zur Zange, ſchreitet, wenn er des Gift— wurmes anſichtig wird, vorſichtig an dieſen heran, packt ihn hinten im Genicke, kneipt die Zange feſt zuſammen, damit er nicht entrinne, wirft ihn mitten in das lodernde Feuer und verfolgt mit boshafter Freude ſeinen Untergang. An manchen Stellen der Steppe können dieſe Schlangen einen in gelinde Verzweiflung verſetzen. Dank ihres, dem Sande bis auf jedes Körnchen gleichenden Schuppenkleides und ihrer Gewohnheit, bei Tage oder während ihrer Ruheſtunden bis auf die kurzen, als Fühler dienenden Hör— ner in den Sand ſich einzuwühlen, ſucht man in den Tagesſtunden meiſt vergeblich nach ihnen; ſobald aber die Nacht hereinbricht und das Lager— feuer ſtrahlt, ſind ſie zur Stelle und ſchlängeln und züngeln um einen herum. Zuweilen erſcheinen ſie in erſchreckender Anzahl und halten den ermüdeten Reiſenden bis gegen Mitternacht wach; denn alle, welche im Die innerafrikaniſche Steppe und ihre Tierwelt. 127 Bereiche der Strahlen des Feuers geruht haben oder bei ihren nächtlichen Streifzügen in jenen gelangen, ſcheinen der Flamme zuzukriechen. Und wenn man endlich, ermüdet und ſchlaftrunken, die Zange aus der Hand und ſich ſelbſt zur Ruhe legt, weiß man nie, wieviel von ihnen in ſpäter Nacht noch über einen hinwegkriechen, erfährt aber nicht allzuſelten des Morgens beim Aufnehmen der Teppiche, daß ſolches der Fall geweſen, indem man eine oder ihrer mehrere unter den Falten des Teppichs verſteckt und beim Abheben desſelben in den Sand ſich eingraben ſieht. Gerade in der Steppe war es, wo ſich mir die damals noch von niemand geteilte Ueber— zeugung aufdrängte, daß, mit wenigen Ausnahmen, alle Giftſchlangen, mindeſtens alle Vipern und Lochottern Nachttiere ſind. Mit den bisher genannten ſind noch keineswegs alle beläſtigenden Tiere der Steppe aufgezählt. Eines von ihnen, zu den kleinſten aller zählend, erregt zwar nicht Beſorgnis für das Leben, wohl aber ſolche für das Eigentum des in der Steppe lebenden oder ſich aufhaltenden Menſchen. Dieſes Tier iſt die Termite, ein unſerer Ameiſe ähnlicher Kerf, welcher trotz ſeiner geringen Größe mehr Unheil anrichtet, als die gefräßige Heu— ſchrecke, deren Auftreten auch heute noch zur Plage werden kann, die empfindlicheren Schaden verurſacht, als eine verwüſtend in die Felder ein— fallende Elefantenherde. Denn ſie gehört zu den allgegenwärtigen und ununterbrochen ſchadenden Tieren. Was das Pflanzenreich erzeugt, verfällt ihrem ſcharfen Zahne, was der Kunſt- und Gewerbsfleiß des Menſchen aus ihm zugänglichen Stoffen ſchafft, nicht minder. Hoch über den Gras— wald der Steppe erheben ſich ihre kegelförmigen Erdbauten, auf dem Boden dahin wie an den Bäumen empor verlaufen ihre Gänge und Ver— bindungswege. Zur Nachtzeit oder im Dunkel beginnt und vollendet ſie ihr vernichtendes Werk. Zunächſt überzieht ſie den Stoff, welchen ſie in Angriff nimmt, mit einer alles Licht abhaltenden Erdkruſte, und nunmehr geht ſie an ihre Arbeit, deren Zweck und Ende ſtets Zerſtörung iſt. Alle am Boden liegenden oder an Erdwänden hängenden Gegenſtände ſind am meiſten gefährdet. Der achtloſe Reiſende legt, von der herrſchenden Schwüle bedrückt, eines ſeiner Kleidungsſtoffe neben ſich auf den ihm als Lagerſtätte dienenden Boden und findet am anderen Morgen, daß es ſieb— artig durchlöchert, unbrauchbar gemacht, mit einem Worte vernichtet iſt; der noch nicht mit dem Lande vertraute Naturforſcher birgt ſeine mühſam geſammelten Schätze in einer Kiſte, verſäumt aber, dieſe auf Steine und dergleichen Gegenſtände, welche den Boden der Kiſte von dem Erdboden entfernt halten, zu ſtellen, und ſieht ſich nach wenigen Tagen ſeiner 128 Die innerafrikaniſche Steppe und ihre Tierwelt. Sammlungen beraubt; der Jäger hängt ſein Gewehr an eine Lehmmauer und bemerkt zu ſeinem Aerger, daß zerſtörungsſüchtige Kerbtiere binnen kürzeſter Friſt Kolben und Läufe mit Hohlgängen überzogen und in den Kolben bereits tiefe Rillen genagt haben. Der Baum, welchen die Termite ſich auserſieht, iſt verloren, das Sparrwerk der Wohnung, in welchem ſie ſich eingeniſtet, der Vernichtung geweiht. Vom Boden bis zu den höchſten Zweigen hinauf leitet ſie an jenem ihre zum Verderben füh— renden Wege, durchfrißt Stamm, Aeſte und Zweige und gibt ihn dann dem erſten Sturme preis, welcher das ertötete und haltlos gewordene Waben— werk in alle Himmelsrichtungen zerſtäubt; an den Erdwandungen oder dem Pfahlwerke der Wohnungen ſteigt ſie empor, durchlöchert alles Holz— werk und bewirkt binnen kurzem den Einſturz der Behauſung; unter dem geſtampften Fußboden oder Eſtrich der beſſeren Häuſer gräbt ſie ſich tauſendfach verzweigte Gänge und bricht aus ihnen gelegentlich zu Mil— lionen hervor, um nunmehr oben verderbenbringend zu wirken. So und noch vielfach anders auftretend, wird ſie zu einer der ärgſten Plagen Innerafrikas, insbeſondere der Steppe. Böte dieſe nicht auch andere Erſcheinungen dar, wäre ſie nicht eines der reichſten Gebiete, eine der am zahlreichſten bewohnten und beſuchten Herbergen der Tierwelt Afrikas: der Naturforſcher würde ſie ebenſogern meiden wie der handeltreibende Reiſende, welcher nur ihre abſtoßenden, nicht aber auch ihre anziehenden und feſſelnden Seiten kennen lernt. Wer länger in ihr weilt und ſie wirklich durchforſcht, ſöhnt ſich mit ihr aus. Sie iſt reich und lebendig, unendlich reich, nicht arm wie die Wüſte, vielmehr eher dem Urwalde zu vergleichen, da auch in ihr eine vielartige und zahlreiche Tierwelt lebt, ja vorzugsweiſe ſie diejenigen Tiere beherbergt, welche wir als die für den Erdteil bezeichnenden anzuſehen pflegen. Einige von ihnen mögen nunmehr in flüchtig gezeichneten Bildern an uns vorüberziehen. Zu den merkwürdigſten Steppentieren zähle ich die Fiſche, welche in ihren nur zeitweilig waſſerhaltigen Fluß- und Seebecken gefunden werden. Schon Ariſtoteles erzählt von Fiſchen, welche ſich bei Verdunſtung ihrer Wohngewäſſer in den Schlamm eingraben, und bereits Seneca ſucht dieſe Angabe zu verdächtigen, indem er ſpottend rät, von nun an, anſtatt mit dem Hamen, mit Hacke und Schaufel zum Fiſchfange auszugehen. Ariſto— teles aber berichtet von Thatſachen, welche über jeden Spott erhaben ſind. Der in den Steppengewäſſern und Strömen des inneren Afrikas lebende Molchfiſch iſt ein aalartig gebautes, etwa meterlanges Tier, mit Die innerafrikaniſche Steppe und ihre Tierwelt. 129 langer in die des Schwanzes übergehender Rückenfloſſe, zwei ſchmalen, weit vorn eingeſetzten Bruſtfloſſen und zwei langen, weit hinten ſtehenden Bauchfloſſen, deſſen wichtigſte Merkmale darin beſtehen, daß außer den Kiemen auch zur Atmung befähigende Lungenſäcke vorhanden ſind. Das merkwürdige Zwittergeſchöpf zwiſchen Lurch und Fiſch hält ſich auch bei hohem Waſſerſtande mehr im Schlamme als im freien Waſſer auf und verbirgt ſich gern in Höhlen, welche er ſelbſt auszugraben ſcheint. Nimmt der Waſſerſtand bedrohlich ab, ſo wühlt er ſich tief in den Schlamm ein, rollt ſich aufs engſte zuſammen und bildet nun, offenbar durch häufiges Drehen, eine allſeitig geſchloſſene, innen mit dem eigenen Schleime aus— gekleidete, luftdichte Kapſel, in welcher er während des Winters regungs— los verharrt. Gräbt man ſolche Kapſel vorſichtig aus, und packt man ſie ſorgfältig ein, ſo kann man den Fiſch verſenden, ohne ihn zu gefährden, auch nach Belieben ins Leben zurückrufen, indem man ihn nebſt ſeiner Umhüllung in lauliches Waſſer legt. Während der erſten Einwirkung des belebenden Elements verhält er ſich ruhig, gleichſam noch ſchlaftrunken; ſchon nach Verlauf einer Stunde aber iſt er vollſtändig munter geworden, und einige Tage ſpäter auch lebhafte Raubſucht in ihm erwacht. Einige Monate lang verändert er nunmehr ſein Betragen nicht; um dieſelbe Zeit aber, in welcher er in Afrika zum Winterſchlafe ſich rüſtet, macht er auch in ſeinem Becken dazu Anſtalt, wird mindeſtens ſehr unruhig und ſondert auffallend viel Schleim ab. Gibt man ihm Gelegenheit, ſo gräbt er ſich ein, wenn nicht, überwindet er bald ſeinen Trieb und lebt und gedeiht auch fernerhin im freien Waſſer. Genau in derſelben Weiſe wie er überſtehen auch Welſe den Winter der Steppe, und ebenſo wie beide graben ſich alle in ihr lebenden Lurche, ja ſelbſt einige Kriechtiere, insbeſondere Waſſerſchildkröten und Krokodile, in den Schlamm ein, um winterſchlafend der vernichtenden Zeit zu trotzen. Alle landlebenden Kriechtiere dagegen regen ſich gerade während des glühenden Winters am lebhafteſten und tragen daher nicht wenig dazu bei, die öde Steppe zu beleben; denn ſie bewohnen letztere in ſtaunenswerter Anzahl. Neben den Vipern, deren ich vorhin gedachte, tritt noch eine andere Giftſchlange in der Steppe auf: die Aspis-, Spei- oder Uräus— ſchlange nämlich, eines der gefährlichſten Kriechtiere, welche es gibt. Ge— dachte Schlange, noch weit berühmter oder berüchtigter als die Hornviper, iſt dieſelbe, mit welcher Moſes vor Pharao gaukelte, wie heutigestags noch Schlangenbeſchwörer thun, dieſelbe, welche die alten Könige Aegyptens, in Gold nachgebildet, als Diadem auf dem Haupte trugen, um ihre un— Brehm, Vom Nordpol zum Aequator. 9 130 Die innerafrikaniſche Steppe und ihre Tierwelt. widerſtehliche Macht ſinnbildlich darzuſtellen, dieſelbe, deren ſie ſich bedien— ten, um Gerechtigkeitspflege an Verbrechern oder Rache an Feinden zu üben, dieſelbe, von welcher uns die alten Schriftſteller grauſige, und keines— wegs immer unwahre Erzählungen hinterlaſſen haben. Im Gegenſatze zu Kranichgeier und Aräusſchlange. anderen Giftſchlangen bei Tage thätig, ungereizt äußerſt harmlos aus— ſehend, ſehr beweglich, jähzornig und mutig, vereinigt die Aspis alle Eigen— ſchaften, welche eine Giftſchlange gefährlich machen. Ihrer, dem Sande wie dem vergilbten Graſe gleichenden Färbung halber meiſt ungeſehen, gleitet ſie, oft unheimlich raſch, durch den Graswald; ihrer furchtbaren Waffen ſich bewußt, bereitet ſie ſich zum Angriffe, ſowie ſie ſich bedroht wähnt. Sich zur Wehre ſtellend, richtet ſie das vordere Fünftel oder Die innerafrikaniſche Steppe und ihre Tierwelt. 131 Sechſtel ihres Leibes auf, breitet die Halsrippen aus, bildet dadurch ein Schild, über welchem der kleine Kopf mit den lebhaften, beinahe funkeln— den Augen liegt, heftet letztere ſcharf auf den Gegner und rüſtet ſich ſo zu dem blitzſchnell geführten, faſt ausnahmslos tödlichen Biſſe — einen ſchauerlich ſchönen Anblick gewährend, mit Bewunderung wie mit Schrecken Menſch und Tier erfüllend. Allgemein wird behauptet, daß ſie auch dann noch ſchädigen könne, wenn ſie nicht beiße, indem ſie Gift auf den An— greifer ſpeie oder ſchleudere, und in der That ſondern ihre ſehr ent— wickelten Drüſen den hölliſchen Saft in ſo erheblicher Menge ab, daß der— ſelbe in großen Tropfen am Ausgange der Röhre ihrer durchbohrten Gift— haken hervortritt. Kein Wunder, daß ſie der Eingeborene wie der Abend— länder bei weitem mehr fürchtet, als die träge Hornviper, welche ihn des Nachts im Lager heimſucht; erklärlich, daß letzterer ohne Beſinnen auf jede, auch die harmloſeſte Schlange feuert, welche ihm zu Geſichte kommt; be— greiflich, daß zuletzt jedes Raſcheln im Graſe oder Laube einen gelinden Schreck, mindeſtens achtſame Aufmerkſamkeit erregt. Solches Raſcheln aber wiederholt ſich in der Steppe fortwährend, da andere Schlangen, von der Hieroglyphenſchlange, einer bis ſechs Meter langen Rieſenſchlange, an bis zu kleinen harmloſen Nattern herab, nicht minder auftreten, als die Aspis, und außerdem ein zahlloſes Heer von Eidechſen aller Art allüberall zu finden iſt. Wer die Schlangen fürchtet, kann durch die Echſen mit der Klaſſe der Kriechtiere ausgeſöhnt werden; denn anziehendere Erſcheinungen, als dieſe behenden und farbenprächtigen Geſchöpfe, vermag die Steppe nicht aufzuweiſen. Ueber den Boden huſchen ſie dahin, an den Zweigen der Gebüſche und Bäume klettern ſie empor, von den Termitenhügeln wie von den Wohnungen blicken ſie hernieder, ſogar unter dem Sande bahnen ſie ſich ihre Wege. Einzelne Arten wetteifern an Farbenpracht und Schimmer mit den Kolibris; andere erfreuen durch die Schnelligkeit und Zierlichkeit ihrer Bewegungen; wiederum andere feſſeln durch Abſon— derlichkeit des Baues. Selbſt nachdem die gerade ſie beſonders belebende Sonne zu Rüſte gegangen iſt, und der größte Teil der beweglichen Ge— ſchöpfe Ruhe geſucht hat, wird der Beobachter noch durch ſie beſchäftigt; denn mit Beginn der Nacht rüſten ſich die Gekos, welche übertags ſtill und ruhig an Baumſtämmen oder Sparren klebten, zu ihrem Werke, rufen laut und wohlklingend, ähnlich, wie ihr Name es ausdrückt, und betreiben nunmehr, ohne jegliche Scheu vor dem Menſchen, ihre Jagd. Uralter Wahn verleumdet ſie und ſtellt ſie als überaus giftige Tiere dar; derſelbe Wahn ſpukt noch heutigestags in den Köpfen urteilsloſer Menſchen. Sie 132 Die innerafrikaniſche Steppe und ihre Tierwelt. ſind Nachttiere und als ſolche anders geſtaltet, als die bei Tage thätigen Glieder ihrer Klaſſe, insbeſondere aber dadurch ausgezeichnet, daß die Vorderglieder ihrer Finger und Zehen verbreiterte, kiſſenartige, unterſeits mit dicht aneinander ſtehenden Blättchen verſehene Ballen beſitzen, welche wie Saugnäpfe wirken und in ungewöhnlicher Weiſe zum Klettern befähigen. In dieſen Blätterkiſſen glaubte man giftausſcheidende Drüſen erkennen zu dürfen, ſo undenkbar dies auch von vornherein erſcheinen mußte. In That und Wahrheit ſind die Gekos ebenſo harmloſe als feſſelnde Tiere, erwer— ben ſich daher binnen kürzeſter Friſt die Zuneigung jedes unbefangenen Beobachters. Haustiere im beſten Sinne des Wortes, weil mit Eifer und Erfolg der Vertilgung von allerlei läſtigem Geziefer obliegend, beleben ſie des Nachts jeden Raum der aus Lehm wie aus Stroh aufgeführten Woh— nung, klettern mit faſt unfehlbarer Sicherheit, dank ihrer Blätterſcheiben, überall ſich anklebend, kopfoberſt oder kopfunterſt auf wage-wie auf ſenkrechten Flächen, necken und jagen ſich vergnüglich und erfreuen außerdem durch ihre klangvolle Stimme, verurſachen alſo nur Vergnügen und ſchaffen nur Nutzen: — welcher vernünftige Menſch ſollte ihnen zuletzt nicht gewogen werden? Aber freilich: Kriechtiere, gleichſam vom Fluche des Menſchen ge— troffene Geſchöpfe ſind und bleiben ſie, und mit dem leichtlebigen Volke der Vögel vermögen ſie nicht zu wetteifern. Daher darf man vielleicht ſagen, daß erſt das letztgenannte dem in der Steppe weilenden Menſchen freundlich entgegentritt und ihn mit den bisher in Betracht gezogenen Tieren ausſöhnt. Die Vogelwelt der Steppe iſt reich an Arten und tritt zahlreich auf. Vögel gelangen, wo man ſich auch befinden möge, ſicherlich zu Ge— ſicht oder Gehör. Aus dem dichteſten Halmenwalde tönt der laute Ruf einzelner Trappen, aus den Dickichten am Ufer der Gewäſſerbetten das Trompetengeſchmetter der Perlhühner oder das laute Geſchrei der Franko— linhühner hervor; von den Bäumen klingt das Ruckſen, Girren und Heulen der Tauben, das Jauchzen und Hämmern der Spechte, der voll— tönende Lockruf der Bartvögel, der einfache Geſang verſchiedener Weberfinken und einzelner droſſelartiger Sänger hernieder; auf hervorragenden Baumäſten oder ſonſtwie zu Warten geeigneten, erhabenen Gegenſtänden ſitzen, auf Beute lauernd, Schlangenbuſſarde, Singhabichte, Raken, Drongos und Bienenfreſſer; im Halmenwalde läuft, über ihm ſchwebt der Sekretär oder Kranichgeier, welchen die Eingeborenen Schickſalsvogel nennen; in höheren Luftſchichten tummeln ſich Schwalben und andere Flugjäger, in den höch— ſten kreiſen Adler und Geier. Kein Raum iſt unbewohnt, jedes Plätzchen beinahe bevölkert; und wenn unſer Winter ſeine Herrſchaft geltend macht, Die innerafrikaniſche Steppe und ihre Tierwelt. 133 ſendet auch er noch viele von unſeren Vögeln, namentlich Turmfalken und Weihen, Würger und Raken, Wachteln und Störche und andere in die Steppe, welche ihnen allen während der ſchlimmen und armen Jahreszeit zur gaſtlichen Herberge wird. Wirklich bezeichnend für die Steppe ſind wenige der in ihr lebenden Vögel, und ihr Gepräge iſt kaum einem einzigen von ihnen ſo ſcharf und verſtändlich aufgedrückt, daß man ihn ohne weiteres als Steppenvogel zu erkennen vermöchte, wie ſolches bei allen Wüſtenvögeln der Fall iſt. Deſſen— ungeachtet bemerkt der achtſame Beobachter, daß auch die Steppenvögel bis zu einem gewiſſen Grade ihre Heimat widerſpiegeln. Einem großen Raubvogel in Kranichgeſtalt, eben dem Sekretär oder Kranichgeier, einem in reiches und weiches, großfederiges Gefieder gehüllten, langſam und träge fliegenden Habicht, dem Schlangenſperber, einem halmengelben Nacht— ſchatten, wie einem, deſſen Schwingen zu Schmuckfedern geworden ſind, einem Perl- oder Frankolinhuhn, einem Trappen, oder endlich dem Strauß müſſen wir es wohl anſehen, daß er in die Steppe gehört, nur in ihr ſeine wahre Heimat haben kann. Die Steppe iſt zwar keineswegs farbenreicher als die Wüſte, gewährt aber bei weitem mehr Deckung und darf daher viel freier malen und zeichnen als letztere; gleichwohl findet man, daß auch ſie vorzugsweiſe zwei Farben verleiht: ein mehr oder weniger ſchattiertes Strohgelb und ein ſchwer zu beſtimmendes Graublau, welche auf dem Ge— fieder der Raubvögel wie auf dem der Hühner zur Geltung gelangen, ohne daß deshalb andere, dunklere, lebhaftere und leuchtendere Farben ausgeſchloſſen ſind. Die größere Freiheit in der Färbung und Zeichnung tritt auch, was mir bemerkenswert erſcheint, bei ſolchen Vögeln hervor, deren Geſchlecht oder Sippſchaft vorherrſchend der Wüſte zugehört. Verſucht man, einzelne Steppenvögel, in der Abſicht, das Gebiet ſelbſt zu kennzeichnen, ausführlicher zu ſchildern, ſo wird die Wahl ſchwierig, weil faſt jeder einzelne einer eingehenden Beſprechung nicht unwürdig ſcheint. Der mir gegönnte Raum fordert jedoch gebieteriſch Beſchränkung, und jo mag es genügen, wenn ich einen Vogel der höheren Luftſchichten, einen des Bodens und einen der Nacht erküre, um durch ſie einige weitere Striche zur Zeichnung des allgemeinen Bildes der Steppe auszuführen. Wer längere Zeit in der Steppe weilt, wird unmöglich einen großen Raubvogel überſehen können, deſſen Flugbild, infolge der ſchön geſchwun— genen Außenlinien der langen und ſpitzigen Fittiche und des auffallend kurzen Schwanzes von dem jedes anderen gefiederten Räubers abweicht, und deſſen Flug alles übertrifft, was fliegen heißt. Hoch über den Boden 134 Die innerafrikaniſche Steppe und ihre Tierwelt. dahin fliegt, ſchwebt, ſchwimmt, taumelt, gaukelt, tanzt, überſtürzt ſich der adlergroße Vogel, bald die Schwingen breitend und minutenlang ohne jegliche Bewegung in derſelben Lage haltend, bald heftig ſchlagend, bald über den Körper erhebend, bald drehend und wendend, bald ſie anziehend, ſo daß er tief zum Boden herniederſtürzen muß, bald wiederum ſo kräftig ſie biegend, daß er binnen wenigen Minuten in unſchätzbare Höhen emporſteigt. Nähert er ſich dem Boden, ſo treten die ſcharf voneinander abſtechenden Farben des ſammetſchwarzen Kopfes, Halſes, der Bruſt und des Bauches, der unterſeits ſilberweißen Schwingen und des hellkaſtanien— braunen Schwanzes grell hervor; überſtürzt er ſich, ſo machen ſich die leb— hafte, der des Schwanzes gleichende Färbung des Rückens und eine breite, lichte Flügelbinde geltend; nähert er ſich noch mehr, ſo vermag man wohl auch den korallroten Schnabel und die ebenſo gefärbten Zügel und Fänge wahrzunehmen. Fragt man einen auf die Tierwelt der Steppe achtenden Wanderhirten nach dem in jeder Beziehung auffallenden, durchaus abſon— derlichen Raubvogel, ſo antwortet durch ſeinen Mund das bedeutſame, geſtaltungskräftige Märchen. „Ihm,“ ſagt es, „verlieh die Gnade des Allbarmherzigen reiche Gaben, vor allem hohe Weisheit. Denn er iſt ein Arzt unter den Vögeln des Himmels, kundig der Krankheiten, welche die Geſchöpfe des Allerſchaffenden heimſuchen, und kundig der Kräuter und Wurzeln, jene zu heilen. Aus weit entlegenen Ländern ſiehſt du ihn Wurzeln herbeitragen; aber vergeblich wirſt du dich mühen, zu ergründen, wohin er gerufen worden, um mit ihnen Kranke zu heilen. Die Wirkung ſeiner Mittel iſt unfehlbar; ihr Genuß bringt Leben, ſie zu verſchmähen gibt dem Tode preis; ſie gleichen dem Hedjab, welchen des Gottgeſandten Hand geſchrieben, einem Gebote Mohammeds, den wir in Demut preiſen. Dem Armen vor dem Auge des Herrn, dem Adamsſohne, iſt nicht ver— boten, ihrer ſich zu bedienen. Sei achtſam, wo der Arztadler ſein Haus gründet, hüte dich, ſeine Eier zu verletzen, warte, bis die Federn ſeiner Kinder kein Blut mehr fließen laſſen: dann gehe ein zum Hauſe des Adlers und ſchädige eines ſeiner Kinder am Leibe. Alsbald wirſt du gewahren, daß der Vater gen Morgen fleugt, dahin, wohin du dich wendeſt im Gebet. Laſſe dich nicht verdrießen, bis er zurückkehrt, harre geduldig. Er wird erſcheinen mit einer Wurzel in ſeinen Händen; erſchrecke ihn, daß er ſelbe dir überlaſſe; ergreife ſie ohne Scheu: denn ſie kommt vom Herrn, in deſſen Hand das Leben ruht, und iſt frei von Zauberei; dann gehe hin und heile deine Kranken: ſie werden alle geneſen, ſo es ihnen alſo vom Allbarmherzigen beſtimmt iſt.“ Die innerafrikaniſche Steppe und ihre Tierwelt. 135 Der Vogel, deſſen Auftreten ſolche Dichtungsblüten hervorrief, iſt der Gaukler, wie wir, der „Himmelsaffe“, wie die Abeſſinier ihn nennen, ein Schlangenadler; die Wurzeln, welche das Märchen ihn herbeitragen läßt, ſind die Schlangen, welche er erhebt. Aeußerſt ſelten ſieht man ihn ruhen; für gewöhnlich fliegt er in der geſchilderten Weiſe, bis eine von ihm erſpähte Schlange ihn veranlaßt, brauſend herniederzuſtürzen und den Kampf mit ihr zu beginnen. Wie alle ſchlangenvertilgenden Raubvögel durch eine aus dicken Hornplatten beſtehende Panzerung ſeiner Fänge und ſehr dichtes Gefieder gegen den Giftzahn genügend geſchützt, ſcheut er auch vor dem gefährlichſten Giftwurme nicht zurück und wird ſo zu einem wahren Wohlthäter der Steppe. Aber nicht ſeine Thätigkeit, ſondern einzig und allein ſein wundervoller Flug iſt es, welcher ſeinen Ruhm unter allen Völkern ſeiner Heimat begründet hat. Als das gerade Gegenteil des Gauklers muß der an den Boden gekettete Strauß erſcheinen. Auch er iſt zum Helden des arabiſchen Mär— chens geworden; doch hat dieſes ihn nicht verherrlicht, ſondern eher in den Staub gezogen, indem es berichtet, daß er aus eitel Hochmut zur Sonne fliegen gewollt, von ihr elendiglich verbrannt worden und in ſeiner jetzigen Geſtalt zu Boden geſtürzt ſei. Uns dagegen bietet ſein Leben um ſo mehr einen dankbaren Stoff zur Betrachtung, als über dasſelbe, wie über den Rieſenvogel ſelbſt, bekanntlich noch immer falſche Anſchauungen herrſchen. Obwohl auch in den pflanzenreichſten Niederungen der afrikanischen und weſtaſiatiſchen Wüſten vorkommend, tritt der Strauß doch erſt in der nahrungsreichen Steppe häufig auf. Hier kreuzt man ſeine unverkennbare Fährte faſt tagtäglich; ihn ſelbſt aber bekommt man doch immer nur ſelten zu Geſicht. Er iſt hoch genug, um bequem über den ihn deckenden Gras— wald hinwegſehen zu können, fernſichtig und ſcheu, entzieht ſich daher meiſt ungeſehen der Wahrnehmung des nahenden Menſchen. Gelingt es, ihn von weitem zu beobachten, ſo erfährt man, daß er, außer der Brutzeit mindeſtens ein behagliches Leben zu führen liebt. In der Frühe und den Abendſtunden beſchäftigt ſich der Trupp, welcher ſich zuſammengefunden, mit der Weide; um die Mittagszeit liegen alle, ruhend und verdauend, am Boden, gehen vielleicht auch zur Tränke oder nehmen ein Bad, unter Umſtänden ſelbſt im Meere; ſpäter vergnügen ſie ſich mit wunderlichen Tänzen, indem ſie wie ſinnlos im Kreiſe umherſpringen und dabei mit den Flügelwedeln fächeln, als ob ſie zu fliegen verſuchen wollten; mit Sonnenuntergang begeben ſie ſich zur Ruhe, ohne jedoch auch jetzt noch ihre Sicherung zu vernachläſſigen. Bedroht ſie ein gefährlicher Feind, ſo 136 Die innerafrikaniſche Steppe und ihre Tierwelt. ſtürmen ſie in wilder Flucht davon und laſſen jenen bald hinter ſich; ſchleicht ein ſchwächeres Raubtier an ſie heran, ſo ſchlagen ſie es mit den ungemein kräftigen Beinen zu Boden. So fließt ihr Leben faſt unbehelligt dahin, vorausgeſetzt, daß es nicht an Nahrung mangelt. Von letzterer bedürfen ſie eine ſehr bedeutende Menge. Staunenswert iſt ihre Freß— luſt, nicht minder außerordentlich die Fähigkeit ihres Magens, die ver— ſchiedenartigſten Dinge maſſenhaft aufzunehmen und entweder zu verdauen oder doch ohne Schaden zu bewahren. Was die Pflanze bietet, vom Wurzelknollen an bis zur Frucht, verfällt dieſem ſprichwörtlich gewordenen Magen, was von kleineren Tieren, und zwar wirbeltragenden wie wirbel— loſen erlangt werden kann, nicht minder. Dabei aber hat es noch bei weitem nicht ſein Bewenden. Der Strauß ſchlingt hinab, was verſchlingbar iſt, Steine von Pfundſchwere, in Gefangenſchaft Ziegelbrocken, Werg, Lumpen, Meſſer, Schlüſſel und Schlüſſelbunde, Nägel, Glasſplitter und Scherben, Bleikugeln, Schellen und andere Dinge mehr; er kann zum Selbſtmörder werden, indem er ungelöſchten Kalk hinabwürgt: in dem Magen eines in Gefangenſchaft geſtorbenen Straußes fand man die aller— verſchiedenartigſten Gegenſtände im Geſamtgewichte von vier und ein viertel Kilogramm vor. Der gefräßige Vogel verſchluckt im Hühnerhofe junge Enten oder Hühner, als ob dieſe Auſtern wären, entmörtelt die Mauern, um mit dem losgebrochenen Mörtel ſeinen Magen zu füllen, verſchont überhaupt nichts, was verſchlingbar und nicht niet- und nagelfeſt iſt. Ent— ſprechend der von ihm verbrauchten Nahrungsmenge, welche übrigens keines— wegs im Mißverhältnis zu ſeiner Größe und Beweglichkeit ſteht, iſt auch ſein Durſt und ſein Aufenthalt daher ebenſo wie an nährende Pflanzen an Gewäſſer oder doch Quellen gebunden. Verſiegen beide, ſo iſt er ge— nötigt, auszuwandern, und bei ſolcher Gelegenheit legt er dann nicht ſelten weite Strecken zurück. Mit Eintritt des Frühlings erwacht im Herzen des Straußes der Paarungstrieb, und damit erleidet ſeine bisher geführte Lebensweiſe be— merkenswerte Aenderungen. Die Herden oder Trupps löſen ſich in klei— nere Verbände auf, und die erwachſenen Männchen beginnen langwährende Kämpfe um die Weibchen. Aufs höchſte erregt, und dies auch äußerlich durch ihre lebhaft geröteten Hälſe und Schenkel kundgebend, ſtellen ſich zwei Nebenbuhler einander gegenüber, wedeln mit den Flügeln, ſo daß die volle Pracht der zerzaſerten weißen Schwingen zum Vorſchein kommt, bewegen gleichzeitig die Hälſe in ſchwer zu beſchreibender Weiſe, indem ſie dieſelben bald vorn, bald ſeitwärts neigen, drehen und wenden, ſtoßen Die innerafrikaniſche Steppe und ihre Tierwelt. 137 tiefe und heiſere, bald an dumpfes Trommeln, bald an das Gebrüll des Löwen erinnernde Laute aus, ſtarren ſich gegenſeitig an, laſſen ſich auf ihre Fußwurzeln nieder und bewegen in dieſer Lage Hälſe und Flügel raſcher und anhaltender als vorher, ſpringen wiederum auf, laufen noch— mals gegeneinander, verſuchen endlich, den Gegner in raſchem Vorüber— eilen durch einen kräftigen Schlag mit ihrem Fuße zu ſchädigen, und reißen ihm, wenn der Angriff gelingt, mit dem ſcharfſchneidigen Zehen— nagel tiefe und lange Wunden in Leib und Schenkel. Der Sieger im Kampfe verfährt mit dem oder den errungenen Weibchen nicht anders, mißhandelt ſie überhaupt durch herriſches Benehmen wie durch Schläge aufs ſchändlichſte. Ob das Männchen nun ein oder mehrere Weibchen ſich geſellt, iſt zur Zeit noch nicht mit vollſter Sicherheit entſchieden; wohl aber glaubt man mit Beſtimmtheit annehmen zu dürfen, daß oft mehrere Weibchen in ein und dasſelbe Neſt legen, und hat man beobachtet, daß nicht die Straußin die Eier zeitigt, ſondern daß vorzugsweiſe das Männ— chen dieſe bebrütet und ebenſo die, nach acht Wochen etwa ausſchlüpfenden Jungen führt und erzieht. Bei dem einen wie bei dem anderen Ge— ſchäfte wird es allerdings vom Weibchen unterſtützt, übernimmt aber ſtets den Hauptanteil an der Arbeit und bethätigt auch bei Führung der Jungen größere Sorgſamkeit und Aengſtlichkeit als das Weibchen. Die Straußen— küchlein, welche beim Ausſchlüpfen die Größe mäßiger Haushühner haben, kommen in einem abſonderlichen Federkleide zur Welt, welches eher an den Stachelpelz eines Säugetieres, als an das Daunengefieder junger Vögel erinnert. Da ſie vom erſten Tage ihres Lebens an die Freßgier ihres Geſchlechtes zeigen, wachſen ſie raſch heran, wechſeln nach zwei bis drei Monaten ihr Gefieder, um zunächſt ein Kleid anzulegen, welches dem des Weibchens ähnelt, bedürfen jedoch mindeſtens dreier Jahre, bevor ſie vollſtändig ausgewachſen ſind, beziehentlich zur Fortpflanzung ſchreiten. Dies iſt, in knappeſter Form gegeben, das weſentlichſte aus der Lebensgeſchichte des Rieſenvogels der Steppe; alle hiermit im Widerſpruche ſtehenden Mitteilungen erweiſen ſich als Fabeln. Der Vogel der Nacht endlich, über welchen ich noch einige Worte ſagen möchte, iſt der Nachtſchatten oder Ziegenmelker, deſſen Geſchlecht auch bei uns zu Lande durch eine Art vertreten wird, gerade in der Steppe aber in mehreren und teilweiſe abſonderlich geſchmückten Arten auftritt. Mit dem Erſcheinen des erſten Sternes am Abendhimmel beginnen dieſe gemütlichſten oder anmutigſten aller Nachtvögel ihr reges Treiben. Ueber Tages ließ höchſtens der Zufall einen von ihnen entdecken und dann kaum 138 Die innerafrikaniſche Steppe und ihre Tierwelt. ahnen, in wie hohem Maße gerade dieſer Vogel befähigt iſt, die Steppe zu beleben; wenn aber die Nacht ſich herabſenkt, iſt ſicherlich mindeſtens einer von ihnen zur Stelle. Ebenſo vom Lagerfeuer angezogen wie Skor— pion und Viper, erſcheint der leichte Flieger in der Nähe des Uebernach— tenden, umgaukelt in vielfachen Wendungen Feuer und Lager, läßt ſich ab und zu in deſſen Nähe nieder und trägt auch wohl einige Strophen ſeines ſchnurrenden, an das Spinnen der Katze erinnernden Nachtgeſanges vor, verſchwindet im dämmernden Dunkel, um einige Minuten ſpäter wieder zu erſcheinen, und treibt es ſo bis zum Morgen. Beſonders eine Art der Familie feſſelt: der Fahnennachtſchatten oder „Vierflügelvogel“ der Steppenbewohner. Sein Schmuckzeichen beſteht in je einer, zwiſchen den Hand- und Armſchwingen hervorwachſenden, faſt genau einen halben Meter langen, bis gegen die Spitze hin fahnenloſen, hier aber mit breiter Fahne beſetzten Feder, welche alle übrigen Schwingen weit über— ragt. Fliegt und gaukelt nun dieſer Nachtſchatten, ſo glaubt man, eine Spukgeſtalt zu erblicken. Es ſieht aus, als ob der eine Vogel beſtändig von zwei anderen kleineren verfolgt würde, als ob er in zwei oder drei Vögel ſich zu teilen vermöge, als ob er in der That vier Flügel rege. Doch auch er verleugnet die Anmut ſeiner Sippſchaft nicht und wird daher bald zu einer ebenſo freundlichen Erſcheinung wie die übrigen Arten ſeiner Familie, welche manche, ſonſt wohl recht unbehagliche Nacht der Steppe in traulichſter Weiſe zu verkürzen wiſſen. Arten- und geſtaltenreich iſt auch die Klaſſe der Säugetiere in der Steppe. Ihre Pflanzenmenge ernährt nicht allein zahlloſe Scharen von Antilopen, welche ſo recht eigentlich als ihre Charaktertiere bezeichnet werden dürfen, ſondern ebenſo Wildbüffel und Wildſchweine, Zebrapferde und Wildeſel, Elefanten und Nashörner, die Serafe, welche wir „Giraffe“ zu nennen pflegen, und ein uns nur in ſeinen Grundzügen bekanntes Heer von Nagern. Einer ſo zahlreichen pflanzenfreſſenden Bevölkerung gegenüber wirken die vielen Raubtiere, welche in der Steppe leben, wahr— ſcheinlich in erſprießlicher Weiſe für dieſe ſelbſt; denn ohne ſolches Gegen— gewicht würden Wiederkäuer und Nager vielleicht derartig ſich ver— mehren, daß aller Pflanzenreichtum des Gebietes nicht ausreichen dürfte, um alle zu ernähren. Die Gleichartigkeit der nordafrikaniſchen Steppe und ihr, wenn auch geringer, ſo doch verhältnismäßig erheblicher Reichtum an ſtehenden und fließenden Gewäſſern verhindert Zuſammenrottungen von Antilopen, wie ſolche in der Karru Südafrikas beobachtet werden; dafür aber begegnet man den ſchlanken, ſchönäugigen Wiederkäuern allüberall, Die innerafrikaniſche Steppe und ihre Tierwelt. 139 einzeln, in kleinen Trupps und in namhaften Rudeln und gewahrt ſie im Winter annähernd auf denſelben Stellen wie im Sommer. Wildpferde und Wildeſel dagegen finden ſich nur auf dürren Höhen; die Serafe be— wohnt ausſchließlich die dünn beſtandenen, das Nashorn wiederum faſt nur die dichteſten Waldungen; der Elefant meidet weite Länderſtrecken gänzlich, und die böswilligen Büffel ſcheinen an feuchte Niederungen ge— bunden zu ſein. Ihnen geſellt ſich der Löwe ebenſo ſicher wie den zahmen Herden ihrer Unterfamilie, wogegen der liſtige Leopard wie der behende und im Laufe ausdauernde Gepard mehr den kleineren Antilopen folgen, Schakal- und Steppenwölfe vorzugsweiſe den Haſen jagen und Füchſe, Schleichkatzen und Stinkmarder mit Vorliebe kleineren Nagern und auf dem Boden lebenden Vögeln nachſtellen. Verſuche ich, auch aus der Anzahl der in der Steppe hauſenden Säugetiere einzelne zu eingehenderer Beſprechung herauszugreifen, ſo wider— ſtehe ich der Verlockung, Löwe oder Gepard, Hyäne oder Honigdachs, Zebra oder Wildpferd, Serafe oder Wildbüffel, Elefant oder Nashorn zu wählen, weil mir einige andere doch noch bezeichnender für das Gebiet ſelbſt zu ſein ſcheinen. Zu ihnen zähle ich in erſter Reihe Erdferkel und Schuppentiere als die altweltlichen Vertreter der in der Weſthälfte unſeres Wandelſternes am zahlreichſten vorkommenden Zahnarmen, einer Säuge— tierordnung, deren Blütezeit bereits viele Jahrhunderte hinter uns liegt. Beide genannten Tiere ſind, wenigſtens in Nordafrika, an die Steppe ge— bunden; denn nur in ihr bieten die vielen Ameiſen- und Termitenſiede— lungen ihnen genügende Nahrung. Wie alle Ameiſenfreſſer liegen ſie während des Tages beinahe zur Kugel zuſammengerollt, ſchlafend in tiefen, ſelbſtgegrabenen Bauen, deren Mündungsgänge man ebenſowohl inmitten weiter baumloſer Graswaldungen wie zwiſchen den ſpärlich ſtehenden Bäumen und Gebüſchen antrifft. Erſt nachdem die Nacht ihre Herrſchaft angetreten, ermuntern ſie ſich und gehen nun ſchwerfälligen Laufes, hum— pelnd und ſpringend, hauptſächlich mit den kräftigen Hinterbeinen ſich fördernd, auf die gewaltigen Grabenägel der Vorderglieder und den ge— wichtigen Schwanz ſich ſtützend, ihrer Nahrung nach, welche ausſchließlich in Kleingetier aller Art, vorzugsweiſe aber in den Puppen der Ameiſen und Termiten ſowie in Gewürm beſteht. Mit tiefgeſenkter, ununterbrochen bewegter Naſe und beſtändig ſchnobbernd, trotteln ſie fürbaß, folgen einer glücklich aufgefundenen Gangſtraße der Ameiſen oder Termiten bis zum Hauptbaue, öffnen hier ohne ſonderliche Beſchwerde einen Zugang für ihre geſtreckte Schnauze, ſtecken ſie in das gewühlte Loch, unterſuchen, mit 140 Die innerafrikaniſche Steppe und ihre Tierwelt. der Zunge taſtend, die in dasſelbe einmündenden Gänge der Kerbtiere, ſtrecken ihre fadenähnliche, klebrige Zunge ſo tief als möglich in einen der Hauptgänge, warten, bis ſie voller Ameiſen oder Termiten hängt und ziehen ſie ſodann ſamt den Kerfen in das enge Maul zurück, um jene zu verzehren. Dieſe Art und Weiſe, eine aus ſo kleinen Beſtandteilen be— ſtehende Mahlzeit einzunehmen, macht einen kläglichen Eindruck; demun— geachtet iſt ihre Zunge ein ebenſogut verwendbares Werkzeug wie ihre gewaltigen Grabenägel, und ſie ſchlagen ſich daher ſchlecht und recht durchs Leben. Auch ſind ſie keineswegs ſo hilflos, als es den Anſchein hat. Das ſchwache Schuppentier ſchützt allerdings ſein Harniſch, welcher ſelbſt einem Säbelhieb trefflich widerſteht, beſſer als die Bewaffnung ſeiner Füße; das Erdferkel dagegen weiß auch ſeine Nägel empfindlich zu gebrauchen und verſteht außerdem mit ſeinem kräftigen Schwanze ſo derbe, ſeitliche Schläge auszuteilen, daß es ſich einen nicht übermächtigen Gegner leicht vom Halſe ſchafft. Verſucht aber ein ſolcher, deſſen Kraft er fürchten muß, ihm zu nahen und bemerkt es ihn rechtzeitig, ſo gräbt es ſich eiligſt in den Boden ein und wirft dabei Sand und Staub mit ſolcher Kraft und in ſolcher Menge hinter ſich, daß es ſich in einen für jenen faſt undurch— dringlichen, weil verblendenden Schleier hüllt und in die ſichernde Tiefe gelangt, bevor der gefährliche Feind zum Angriffe übergehen konnte. Nur dem Menſchen und deſſen weitreichenden Waffen fällt es leicht zum Opfer; denn dieſer ſticht ihm, während es ſchläft, eine lange Lanze durch den Leib und tötet es im Innern ſeiner Höhle unfehlbar, wenn die Eingangs— röhre gerade und nicht allzulang iſt. So erfüllt er auch an dieſen Vor— weltstieren das Schickſal, früher oder ſpäter ausgeſtrichen zu werden im Buche der Lebendigen. Unter den Raubtieren der Steppe hat von jeher ein ihr eigener Hund am meiſten angezogen. Mittelglied zwiſchen den Hunden und den Hyänen, ſoweit es die Geſtalt und bis zu einem gewiſſen Grade auch die Zeichnung anlangt, iſt dieſes Tier, der Hyänenhund, auch äußerlich eine der beachtenswerteſten Erſcheinungen unſeres Gebietes, ſeinem Sein und Weſen nach aber wohl das feſſelndſte aller Raubtiere, welches die Steppe beherbergt. Abgeſehen von einzelnen Affen kenne ich kein Säugetier, welches ſo ſelbſt— bewußt, ſo übermütig, ſo thatendurſtig wäre wie dieſer Hund es iſt oder doch zu ſein ſcheint. Ihm iſt kein Ziel zu weit geſteckt, vor ſeinem Angriffe kein anderes Säugetier vollſtändig geſichert. Zu zahlreichen Meuten ge— ſchart durchzieht er beutegierig die weite Steppe. Verheerend fällt er in die Schafherden der Siedler und Wanderhirten; unabwendbar heftet er u) Die innerafrikaniſche Steppe und ihre Tierwelt. 141 ſich an die Sohlen der eilfertigſten und behendeſten Antilope; dreiſt drängt er ſich an den Menſchen heran; furchtlos vertreibt er, hauptſächlich wohl durch ſein lärmendes Auftreten, die Raubtiere des Gebietes, welches er heimſucht. Hinter der ſtärkſten und wehrhafteſten Antilope einher ſtürmt eine Meute dieſer Hunde kläffend, heulend, winſelnd und wiederum helle, gleichſam aufjauchzende Laute ausſtoßend. Die Antilope flüchtet, ſo ſchnell ihre Kräfte geſtatten; ihrer Fährte aber folgen die mordgierigen Hunde, ſchneiden alle Bogen, alle Widergänge ab, welche ſie auszuführen verſucht, —: N N N, AD 22 INTEL TER D TAN RE Hyänenhunde eine Säbelantilope verfolgend. nähern ſich ihr immer mehr und zwingen ſie endlich, ſich zu ſtellen. Ihrer Stärke und Wehrhaftigkeit ſich bewußt, gebraucht ſie ihre ſpitzigen Hörner mit Geſchick und Nachdruck; durchbohrt und zu Tode getroffen, ſtürzt viel— leicht auch ein und der andere Hund zu Boden: die übrigen aber hängen ihr dennoch bald am Halſe und Leibe und heulen laut auf, während ſie röchelnd verendet. Ohne des Menſchen zu achten, überfallen dieſe Hunde Haustiere aller Art, zerfleiſchen die kleineren mit der Blutgier der Marder und verſtümmeln die großen, welche ſie nicht bewältigen können; ihnen entgegentretende Haushunde erwarten ſie furchtlos, kämpfen mit ihnen auf Leben und Tod und werfen ſie zuletzt entſeelt auf den Boden. Gezähmt, dem Menſchen vollſtändig unterworfen, Geſchlechter hindurch abgerichtet 142 Die innerafrikaniſche Steppe und ihre Tierwelt. und gelehrt, würden ſie die ausgezeichnetſten Spürhunde der Erde ab— geben; leicht aber laſſen ſie ſich gewiß nicht unterjochen. Sie gewöhnen ſich an ihren Pfleger, legen ihm gegenüber auch wohl Hinneigung, ſelbſt eine gewiſſe Zärtlichkeit an den Tag, thun dies jedoch in ihrer Weiſe. Angerufen, erheben ſie ſich von ihrem Lager, ſpringen jauchzend auf und nieder, kämpfen vor Freude untereinander, ſtürzen ſich auf den ihnen nahenden Gebieter, jtürmen an ihm empor, verſuchen ihre unendliche Freude durch die ausgelaſſenſten Hundegebärden kundzugeben und wiſſen ſie zuletzt nicht anders auszudrücken, als daß ſie auch den geliebten Herrn beißen. Ungeſtümer Mutwillen, unbezähmbarer Drang zu beißen, kenn— zeichnet faſt jede ihrer Handlungen. Erregbar wie kaum ein anderes Ge— ſchöpf, bewegen ſie jedes Glied, zucken ſie mit jeder Fiber, ſobald ein neues Ereignis irgend welcher Art ſie feſſelt oder beſchäftigt; die queckſilberne Lebendigkeit ihres Geiſtes nimmt das Gepräge übertriebener Luſtigkeit an und erſcheint einen Augenblick ſpäter als Wildheit und Raubſucht. Dann beißen ſie, was ihnen in den Weg kommt, beißen ſie ohne alle Urſache, zu ihrer Beluſtigung, wahrſcheinlich ohne alle Bosheit. Sie ſind die wunderlichſten Geſchöpfe, welche die Steppe beherbergt. In den von mir beſonders in das Auge gefaßten Teilen der Steppe, alſo namentlich in den Ländern Kordofan, Sennaar und Taka, unterliegt das Leben der genannten und aller übrigen in Betracht kommenden Tiere, abgeſehen von den Einwirkungen der beiden Jahreszeiten, unheilvollen oder auch nur ſtörenden Einflüſſen bei weitem nicht in demſelben Maße wie im Süden Afrikas oder in den Steppen Mittelaſiens. Für diejenigen, welche nicht wandern oder Monate hindurch in todähnlichem Schlafe liegen, tritt mit dem Winter wohl Entbehrung, vielleicht ſelbſt herber Mangel, nicht aber Hungersnot oder Durſtesqual und infolge davon das verzweifelnde Streben ein, die verarmte Heimat zu verlaſſen und in ſinnloſer Flucht glück— lichere Gelände zu ſuchen. Auch die Tiere der nordafrikaniſchen Steppen wandern und reiſen; aber ſie flüchten nicht regellos wie diejenigen, welche andere Steppen bewohnen und ſie zu Hunderttauſenden verlaſſen, wenn drohendes Verderben ſie treibt. Von ſo ungeheuren Antilopenherden, wie ſie im Süden Afrikas ſich zuſammenrotten, weiß man, wie bereits be— merkt wurde, im Norden nichts zu erzählen. Alle geſellig lebenden Säuge— tiere und Vögel ſcharen ſich, wenn der Winter eintritt, und löſen ihre Verbände, wenn der Frühling naht; alle Zugvögel gehen und kommen ungefähr zur ſelben Zeit: dies jedoch geſchieht regelmäßig und in altge— wohnter Weiſe, nicht regellos und ohne ein beſtimmtes Ziel zu erſtreben. Die innerafrikaniſche Steppe und ihre Tierwelt. 143 Eine Macht aber gibt es dennoch, welche das Leben der Tiere auch dieſer Steppen beeinflußt: das Feuer. Alljährlich um die Zeit, in welcher die dunklen Wolken im Süden und die aus ihnen zuckenden Blitze das Nahen des Frühlings künden, und an Tagen, in denen der Südwind über die Steppe brauſt, wirft der in dieſer heimiſche Wanderhirt den Feuerbrand in den wogenden Graswald. Raſch und unaufhaltſam greift die Flamme um ſich. Auf weite Strecken breitet ſie ſich aus, und Qualm und Rauch eilt ihr voran; eine düſterrote Wolke kündet des Nachts ihr vernichtendes und doch gedeihliches Wirken. Nicht ſelten erreicht ſie den Urwald, züngelt an den dürr gewordenen Schlingpflanzen zu den Baumkronen hinauf und verzehrt deren noch übrig— gebliebene Blätter oder verkohlt die äußere Rinde der Stämme; zuweilen, obſchon ſeltener, umſchließt ſie auch feſtſtehende Dörfer und ſchleudert ihre zündenden Pfeile auf die ſtrohenen Hütten, welche ihr mit Gedankenſchnelle zum Opfer fallen. Obgleich nun ein Steppenbrand, trotz der Menge und Entzündlich— keit des Brennſtoffes, niemals zum Verderben des berittenen oder ihm durch Feuer entgegenwirkenden Menſchen und ebenſowenig der ſchnellfüßigen Säugetiere werden kann, regt er doch die ganze Tierwelt aufs höchſte auf, und treibt alles Lebende, welches der Graswald verſteckte, in die Flucht, ſteigert dieſe zuweilen auch wohl zum eiligſten Rennen, weil der ihn be— gleitende Schrecken mehr noch als der nach allen Seiten ſtetige Fortſchritt der Flammen die Flucht beſchleunigt. Antilopen, Wildpferde und Straußen ſtür— men, ſchneller noch als die Windsbraut, über die Ebene dahin; Gepard und Leopard folgen ihnen, miſchen ſich unter ſie, ohne jetzt an Beutegewinnung zu denken; der Hyänenhund vergißt ſeine Mordluſt; der Löwe wird von gleichem Schrecken erfüllt wie alle übrigen Säugetiere; nur diejenigen, welche Höhlen bewohnen, verbergen ſich ſchleunigſt in dem ſicheren Baue und laſſen das Flammenmeer über ſich hinwegfluten, ohne ihm zu erliegen. Alles kriechende und ſonſtwie an den Boden gekettete Getier dagegen leidet ſchwer. Wenige Schlangen, kaum die ſchnellen Eidechſen, vermögen dem eilenden Feuer ſich zu entwinden; Skorpionen, Taranteln und Tauſend— füße werden ſicher von ihm erreicht oder fallen, wie die aufgeſcheuchten, fliegenden Kerbtiere, Feinden zum Opfer, welche das Feuer herbeilockte, weil ſie ihm zu trotzen wiſſen. Sobald in der Steppe eine Rauchwolke zum Himmel ſteigt und mehr und mehr ſich vergrößert, eilen von allen Seiten Kriech- und Kerbtierräuber, insbeſondere Schlangenadler, Sing: habichte, Weihen, Turmfalken, Störche, Bienenfreſſer und Segler herbei, 144 Die innerafrikaniſche Steppe und ihre Tierwelt. um auf die vom Feuer aufgeſcheuchten und vor ihm flüchtenden Echſen, Schlangen, Skorpione, Spinnen, Käfer und Heuſchrecken zu jagen. Vor der Flammenlinie einher ſchreiten unbeſorgt die Kranichgeier und Störche, über ihr ſchweben, durch die Rauchwolken ſtoßen die leichtbeſchwingten Falken, Bienenfreſſer und Segler, und reiche Beute fällt dieſen wie jenen zu. Ihre Jagd währt, ſolange die Steppe brennt, und der Brand findet Nahrung, ſolange der Sturm ihn weiter trägt: erſt mit dem Erſterben des Windes erlöſchen die Flammen. So reinigt der Wanderhirt der Steppe ſein Weideland von Unkraut und Ungeziefer; derart bereitet er es vor zu neuem Wachstum. Befruch— tende Aſche bleibt auf dem Boden liegen; die belebenden Regen ver— miſchen ſie mit der Fruchterde, und neues, kräftiges Grün entſproßt dieſer nach dem erſten Gewitter. Mit ihm finden ſich alle durch das Feuer verſcheuchten Tiere wiederum auf den altgewohnten Aufenthaltsorten ein und genießen nunmehr, nach der Laſt und Qual des beendeten Winters und dem Schrecken der letztvergangenen Tage, mit Luſt und Behagen die Freuden des Daſeins. der Urwald Innerafrikas und feine Tierwelt. S o reich die afrikanische Steppe in Wirklichkeit iſt und namentlich dann erſcheint, wenn ſie mit der Wüſte verglichen wird: die volle Ueppigkeit des Pflanzenlebens der Gleicherländer zeigt ſie nirgends. Wohl ge— langt in ihr das belebende Waſſer allüberall zur Wirkung; dieſe aber währt viel zu kurze Zeit, als daß ſie nachhaltig ſein könnte. Mit dem Aufhören der Regen endet die treibende Kraft, und Glut und Dürre zerſtören, was jene geſchaffen. Daher können in der Steppe nur ſolche Pflanzen gedeihen, deren Lebenslauf binnen wenigen Wochen ſich erfüllt, nicht aber ſolche zur vollen Entwickelung gelangen, welche Jahrhunderte zu überdauern ver— mögen. Einzig und allein in Niederungen, welche von niemals verſiegenden Strömen durchzogen und ebenſowohl von deren Fluten wie von den Regen genügend getränkt werden, in denen Sonnenlicht und Waſſer, Wärme und Feuchtigkeit gemeinſchaftlich wirken, entwickelt, geſtaltet und erhält ſich die zaubervolle Fülle der Wendekreisländer. Hier erwuchſen Waldungen, welche an Herrlichkeit und Schönheit, Großartigkeit und Reichtum denen der be— günſtigteſten Länder niederer Breiten kaum nachſtehen, Urwälder im eigent— lichen Sinne des Wortes, welche ohne Zuthun des Menſchen entſtehen und vergehen, altern und ſich verjüngen, noch heutigestags nur ſich ſelbſt angehören und ein überaus reiches Tierleben ermöglichen. Von Süden her tragen die Frühlingsſtürme die regenſchwangeren Wolken über die nördlich des Gleichers gelegenen Länder Afrikas; daher treten dieſe Wälder nicht plötzlich vor das Auge des von Norden her kommenden Reiſenden, ſondern werden das, was ſie ſind, erſt allmählich, mehr und mehr, je weiter der letztere nach Süden hin vordringt. Je mehr man ſich dem Gleicher nähert, je flammender die Blitze leuchten, je lauter und ununterbrochener der Donner rollt, je rauſchender die Regen— Brehm, Vom Nordpol zum Wequator, 10 146 Der Urwald Innerafrikas und feine Tierwelt. güſſe herniederſtürzen, um ſo üppiger gedeihen alle Pflanzen, um ſo ge— ſtaltenreicher treten die Tiere auf; je bälder die Regenzeit beginnt, je länger ſie währt, um ſo größeren Zauber ſchafft ſie. Im genaueſten Einklange mit der zunehmenden Feuchtigkeit verbreitert und dichtet, erhöht und reckt ſich der Wald. Vom Ufer der Ströme aus bemächtigt der Pflanzenwuchs ſich des inneren Landes und vom dichtbewachſenen Boden an bis zu den höchſten Kronen empor aller Zwiſchenräume. Anderswo nur als Zwerge erſchaute Bäume erwachſen hier zu Rieſen; bekannte Arten werden zum Nährboden noch unbekannter Schmarotzer; und zwiſchen ihnen ringt eine bisher noch nicht geſehene Pflanzenwelt zum Lichte empor. Doch auch hier, mindeſtens im nördlichen Gürtel der Wälder, wirken Glut und Dürre des Winters noch immer ſo mächtig, daß ſie den Blätterſchmuck der Bäume zeitweilig vernichten und wenigſtens die meiſten von ihnen auf einige Wochen zu gänzlicher Ruhe verurteilen. Um jo vernehmlicher hallt dafür der Weckruf des Frühlings durch den ſchlummernden Wald; um ſo ge— waltiger regt ſich nach ſolcher Winterruhe das Leben, welches die erſten Regen der befruchtenden Jahreszeit hervorrufen. Ich will den Frühling jener Länder wählen, um deren Urwälder zu ſchildern, ſo gut ich dies vermag. Der Herold und Träger der Regen— wolken, der Südwind, muß noch im Kampfe mit den kühlenden Luft— ſtrömungen aus Norden liegen, wenn der Wald alle Herrlichkeit, in welcher er auftreten kann, offenbaren und kundgeben ſoll, und auf einer ſeiner Herzadern, auf einem Strome muß man in ihn eindringen, wenn man ſein reichſtes Leben kennen lernen will. Der in den Gebirgen von Habeſch entſprungene Asrakh oder „Blaue Nil“ mag dieſe Heerſtraße ſein; denn an ihr haften die köſtlichſten Bilder, welche mein langes Reiſeleben mir gewonnen hat, und ich vermag wohl auf ihr beſſerer Führer zu ſein, als auf manch anderen. Ob ich aber auch Dolmetſch des Waldes werde ſein können, jo wie ich es ſein möchte, bezweifle ich ſehr. Denn der Urwald iſt eine Welt voll Glanz und Schimmer und märchenhafter Pracht, ein Wunderreich, deſſen Schätze noch kein Menſch vollſtändig zu erkennen, viel weniger zu heben vermochte, eine Schatzkammer, welche unendlich mehr ſpendet, als man aufnehmen kann, ein Paradies, in welchem ſich die Schöpfung tagtäglich neu zu geſtalten ſcheint, ein Zauberkreis, welcher jedem, der in ihn eindringt, großartige und liebliche, ernſte und heitere, leuchtend helle und nächtig dunkle Bilder aufrollt, ein aus tauſend gleich— wertigen Einzelheiten beſtehendes, unendlich vielgeſtaltiges und dennoch ein— heitliches und einhelliges Ganze, welches jeder Schilderung ſpottet. Der Urwald Innerafrikas und feine Tierwelt. 47 Ein kleines, leichtes, erſt zum Reiſeboote umgewandeltes Fahrzeug, wie man es in Chartum, der am Zuſammenfluſſe beider Nilquellenſtröme gelegenen Hauptſtadt des Oſt-Sudan, eben findet, trägt uns den Fluten des hochgeſchwollenen Asrakh entgegen. Die Gärten der letzten Häuſer der Haupt— ſtadt entſchwinden, und die Steppe tritt bis an das Ufer des Stromes heran. Hie und da ſieht man noch ein Dorf oder einzelne meiſt recht freundlich unter Mimoſen gelegene, manchmal auch wohl mit Schlingpflanzen, welche ſich von gedachten Bäumen herabgeſenkt haben, begrünte und umſponnene Hütten, ſonſt aber ringsum nichts anderes als den wogenden Graswald und die wenigen aus ihm ſich erhebenden Bäume und Geſträuche der Steppe. Schon nach kurzer Fahrt aber bemächtigt ſich der Wald des Ufers, ſtreckt ſeine ſtachelbedeckten oder dornigen Aeſte ſogar noch über dasſelbe hinaus. Fortan fördert die Reiſe wenig. Der entgegenſtrömende Wind verwehrt zu ſegeln, der Wald zu treideln. Mit dem Bootshaken ziehen die Schiffsleute das Fahrzeug, Fuß um Fuß, Meter um Meter weiter ſtromaufwärts, und nur, wenn einer von ihnen in der dichten Heckenmauer des Uferſaumes eine Lücke erſpäht, auf welcher er fußen kann, ſtürzt er ſich, das Zugſeil zwiſchen den Zähnen, ſeinen ſterblichen Leib Muhſa, dem Schutzheiligen aller Schiffer, empfehlend und um Abwehr der hier häufigen Krokodile flehend, hinab in den Strom, ſchwimmt ſtrom— aufwärts bis zu der ins Auge gefaßten Stelle, ſchlingt das Seil um einen Baumſtamm und läßt ſeine Genoſſen das Fahrzeug bis dahin ziehen. So arbeiten die Leute vom frühen Morgen bis zum ſpäten Abende, und wenn der Tag endlich vorüber iſt, haben ſie den Reiſenden vielleicht um eine, höchſtens um zwei geographiſche Meilen gefördert. Gleichwohl fliehen die Tage dahin, ohne daß derjenige, welcher zu ſehen und zu hören gelernt hat, von Langweile geplagt wird. Dem Naturforſcher, wie jedem ſinnigen Beobachter überhaupt, bietet jeglicher Tag etwas Neues, dem Sammler reichen Stoff in jeder Beziehung. Noch ein und das andere Mal ſtößt man auf Spuren des Menſchen. Wer ihnen vom Ufer aus folgt, gelangt auf ſchmalem, durch dichtes Ge— büſch beiderſeitig eng begrenztem Wege zu den Wohnſtätten eines merk— würdigen Völkchens. Es ſind Haſſanie, welche hier hauſen. Da, wo die Bäume des Waldes weniger dicht ſtehen, und dieſer nicht ein drei- bis vierfaches Kronendach übereinander aufbaut, ſondern aus hochgewipfelten, ſchattigen Mimoſen, Kigelien, Tamarinden- und Affenbrotbäumen zuſammen— geſetzt iſt, wurden die allerliebſten zelt- oder budenartigen, von allen übrigen im Sudan üblichen Wohnungen abweichenden Hütten unſerer Leute errichtet. 148 Der Urwald Innerafrikas und feine Tierwelt. „Haſſanie“ bedeutet: die Nachkommen Haſſans, und Haſſan: der Schöne; und in der That, nicht umſonſt führt der Stamm dieſen Namen. Denn die Haſſanie ſind unbeſtritten die ſchönſten Menſchen, welche im unteren und mittleren Stromgebiete wohnen, und namentlich die Frauen übertreffen faſt alle übrigen Sudaner an Wohlgeſtalt des Leibes, Regelmäßigkeit der Geſichtsbildung und Helligkeit der Hautfarbe; Männer und Frauen be— wahren auch treu überaus ſeltſame Sitten, welche andere Menſchen freilich richtiger Unſitten nennen. Die Haſſanie ſind daher ebenſo berühmt als berüchtigt, werden ebenſo geſucht als gemieden, ebenſo geprieſen als be— ſpöttelt, ebenſo verherrlicht als geſchmäht. Den unbefangenen, nach Kenntnis und Kunde der Sitten und Gebräuche ſtrebenden Fremden ergötzen ſie aufs höchſte, wenn nicht ihrer Schönheit, ſo doch ihrer jeden ſchwer be— ſtechlichen Mann erheiternden Gefallſucht halber. Letztere tritt noch bei weitem weniger verhüllt entgegen als das Selbſtbewußtſein, welches Schön— heit verleiht: ſie wollen und müſſen gefallen. Erhaltung ihrer Schönheit iſt ihr höchſtes Streben und gilt ihnen mehr als jeglicher ſonſtige Gewinn. Um dem Sonnenbrande, welcher ihre hellbraune Haut dunkeln könnte, zu entgehen, hauſen ſie im Schatten des Waldes, begnügen ſich mit wenigen Ziegen, den einzigen Haustieren außer den Hunden, welche jener zu halten geſtattet, und verzichten auf den Reichtum, welchen zahlreiche Rinder- und Kamelherden ihren die Steppe durchwandernden Stammesverwandten ge— währen; um ihre Reize nicht zu ſchädigen, trachten ſie vor allem anderen danach, Sklavinnen zu erwerben, welche ihnen jede beſchwerliche Arbeit abnehmen müſſen; um Geſicht und Wangen zu zieren, ertragen ſie, ſchon als kleine Mädchen, heldenmütig die Schmerzen, welche die Mutter ihnen bereitet, indem ſie mit dem Meſſer drei tiefe, gleichlaufende, ſenkrechte Wunden in die Wangen ſchneidet, damit hier ebenſoviele dickwulſtige Narben entſtehen, oder indem fie mit einer Nadel Stirn, Schläfe- und Kinnhaut durchſticht, in die Wunden Indigopulver einreibt und fo blaue Zierſchnörkel hervorruft; um ihre blendendweißen, geradezu ſchimmernden Zähne nicht zu verderben, genießen ſie nur lauwarme Speiſen; um ihren äußerſt künſt— lichen, aus Hunderten feiner Zöpfchen beſtehenden, mit arabiſchem Gummi geſteiften und reich eingefetteten Haarputz möglichſt lange zu erhalten, ver— ſchmähen ſie jegliche andere Stütze des Kopfes, als ein ſchmales, halbmond— förmiges Holzgeſtell, auf welchem ſie beim Schlafen ihr Haupt ruhen laſſen; um ihrem Schönheitsſinn zu genügen, vielleicht auch, um von jedem Be— wohner oder Beſucher ihrer Niederlaſſung geſehen und bewundert werden zu können, erſannen ſie die eigentümliche Bauart ihrer Hütten. Der Urwald Innerafrikas und ſeine Tierwelt. 149 Letztere laſſen ſich vielleicht am beiten mit unſeren Marktbuden ver: gleichen. Ihr Boden, welcher aus dicht nebeneinander gelegten, unter— einander verbundenen, daumenſtarken Ruten beſteht, liegt auf einem Pfahl— gerüſte, welches ungefähr einen Meter über den Boden ſich erhebt und allem kriechenden Ungeziefer den Zugang zum Wohnraum erſchwert, auch gegen die Bodenfeuchtigkeit ſchützt; ihre Wände beſtehen aus Matten, ihr auf der offenen Nordſeite überhängendes Dach aus regendichtem Zeuge, welches aus Ziegenwolle gewebt wurde. Sauber geflochtene Matten aus Palmenblattſtreifen decken den beſchriebenen Fußboden; zierlich gearbeitete Flechtereien, Muſchelgehänge, waſſerdicht geflochtene Körbchen, Thongeſchirre und Trinkſchalen, aus der einen Hälfte des Flaſchenkürbis beſtehend, bunte, ebenfalls geflochtene Speiſeſchalen nebſt Deckeln und dergleichen Sachen ſchmücken die Wände. Jedes einzelne Gerät iſt ebenſo hübſch gearbeitet wie ſauber gehalten; Ordnung und Reinlichkeit der ganzen Hütte beſticht jedes Auge um ſo mehr, als beides ſo ſelten geſehen wird. In ſolcher Hütte verbringt und verträumt die Haſſanie den Tag. Aufs beſte geſchmückt, Haar und Haut mit wohlriechender Salbe gefettet, den Oberleib in ein langes, leicht gewebtes und daher durchſichtiges Tuch, den unteren Teil des Körpers in ein rockartig umgeſchlungenes Stück Zeug gehüllt, die Füße mit ſorgfältig gearbeiteten Sandalen bekleidet, Hals und Buſen mit Ketten und Amuletten, die Arme mit Spangen aus Bernſtein— ſtücken, einen Naſenflügel womöglich mit einem ſilbernen, vielleicht ſogar goldenen Ringe geziert, ſitzt ſie geborgen im Schatten und erfreut ſich ihrer Schönheit. Ihre kleine Hand beſchäftigt ſich mit Anfertigung einer Flechterei, eines ſonſtigen Hausgerätes oder Kleidungsſtückes, handhabt vielleicht auch nur die Zahnbürſte, eine an beiden Enden zerfaſerte, zum beſtimmten Zwecke vortrefflich geeignete Wurzel. Alle Arbeit, welche der Haushalt erfordert, nimmt ihr die Sklavin, alle Mühewaltung, welche die Beaufſichtigung und Nutzung der kleinen Herde beanſprucht, der dienſt— fertige, überaus gefällige Gatte ab. Wohldurchdachte, ſeltſame Eheverträge, wie ſie unter ihrem Stamme üblich ſind, und trotz aller Machtſprüche und Eingriffe der Beherrſcher des Landes fort und fort aufrecht erhalten werden, gewährleiſten ihr unerhörte Rechte. Sie iſt Herrin im unbeſchränkteſten Sinne des Wortes, Herrin auch ihres Gatten, mindeſtens ſo lange, als ihre Reize blühen; erſt wenn ſie verwelkt und alt wird, lernt auch ſie die Vergänglichkeit aller irdiſchen Herrlichkeit erkennen. Bis dahin thut ſie, einzig und allein durch von ihr ſelbſt zugeſtandene Grenzen ihrer Freiheit gehemmt, was zu thun ſie für gut befindet. Solange die Baumkronen 150 Der Urwald Innerafrikas und feine Tierwelt. um ihre Hütte nicht tiefſten Schatten gewähren, verläßt ſie ihre Behauſung nicht, heißt dafür aber jedermann, insbeſondere jeden Fremden, welcher bei ihr einſpricht, herzlich willkommen und wahrt, mit oder ohne Zuthun des Gatten, die Ehre des Stammes: beinahe ſchrankenloſe Gaſtlichkeit. Und dennoch beginnt erſt, wenn der Abend ſich herniederſenkt, ihr eigent— liches Leben. Noch bevor die Sonne zu Rüſte gegangen, regt und bewegt es ſich in der Niederlaſſung. Eine Freundin beſucht die andere; zu beiden geſellen ſich andere Frauen; Trommel und Zither locken die übrigen hinzu; und ſchlanke, bewegliche, ſchmieg- und biegſame Geſtalten ordnen ſich zum erheiternden Tanze. Zarte Hände tauchen die Trinkſchale in die bauchige, mit Meriſa oder Durrabier gefüllte Urne, um auch Männerherzen zu be— glücken. Alt und jung ſtrömt zuſammen und feiert um ſo freudiger das abendliche Feſt, da die Gegenwart fremder Beſucher es verherrlicht. Außer— ordentlich iſt die Gaſtlichkeit aller Sudaner, jo außerordentlich wie die der Haſſanie aber die keines anderen Stammes. Im Verlaufe der Reiſe trifft man noch einige Male Anſiedelungen dieſer Waldhirten, einige Male auch Dörfer anderer Sudaner; dann endlich, nach faſt monatelanger Fahrt, gelangt man in das Gebiet, welches man erreichen wollte. Auf beiden Ufern des Stromes hindert ununter— brochener Wald das ſpähende Auge, tiefer in das Land zu ſchweifen. In dieſer Gegend gibt es noch keine Siedelungen des Menſchen, weder Felder noch Dörfer, noch zeitweilig bewohnte Lager; in dieſen Waldungen hat das Echo den Schall der Axt noch nicht weiter getragen, weil der Menſch ſie noch nicht auszunutzen verſuchte: in ihnen hauſen, noch immer faſt unbehelligt, einzig und allein die Tiere der Wildnis. Undurchdringliche Hecken ſchließen ſie nach dem Strome zu ab und wehren jedem Verſuche, von ihm aus ihr Inneres zu betreten. Alle Schattierungen des Grün malen das bezaubernde, bald anheimelnde, bald völlig fremd erſcheinende Bild dieſer Wälder: lichtgrüne Mimoſen bilden den Grund, ſilbern glän— zende Palmwedel, dunkelgrüne Tamarindenkronen, hellgrüne Chriſtusdorn— gebüſche heben ſich lebhaft von ihm ab; unendlich verſchiedenartig geſtaltete Blätter wogen und zittern, vom Windhauche bewegt, ſchimmern und flim— mern, bald von der einen, bald von der anderen Seite ſich zeigend, vor dem ebenſo überſättigten wie geblendeten Auge, welches vergeblich ſich müht, das Blättergewirr zu erſchließen, dieſe Einzelheit des Ganzen von jener zu trennen. Meilenweit erſcheinen beide Ufer in derſelben Weiſe, gleich dicht bewaldet, gleich großartig beſäumt, gleich lückenlos und gleich undurchdringlich. Der Urwald Innerafrikas und feine Tierwelt. 181 Da bietet ſich endlich ein Pfad, vielleicht ſogar ein breiterer Weg, welcher in das Innere des Waldes zu führen ſcheint. Aber vergeblich ſpäht man auf ihm nach einem Abdrucke der Sohle des Menſchen. Er hat ihn nicht gebahnt: die Tiere des Waldes waren es, welche ihn bildeten. Eine Elefantenherde ſchritt durch das verfilzte Dickicht, um von der vaſſer— loſen Höhe des Ufers zum Strome zu gelangen. In langer Reihe einander folgend, durchbrachen die gewaltigen Tiere widerſtandslos das tauſendfach ineinander verſchlungene Unterholz und ließen einzig und allein durch die ſtärkſten Hochbäume von ihrem Wege ſich ablenken. Hinderliche Aeſte und Stämme von der Stärke eines Mannesſchenkels wurden von ihnen abge— brochen, entzweigt, entlaubt, bis auf die ungenießbaren Teile verzehrt und dann zur Seite geworfen, den Boden wuchernd bedeckende Gebüſche mit den Wurzeln ausgeriſſen, in gleicher Weiſe ausgenutzt und entfernt, Gras und Kraut niedergetreten und zerſtampft. Was die vorderſten übrig ließen, fiel den hinterſten zum Opfer, und ſo entſtand eine begehbare, meiſt tief in das Innere des Waldes ſich erſtreckende Straße. Andere Tiere ſorgten dafür, ſie noch beſſer auszutreten und in gangbarem Zuſtande zu erhalten. Auf ſolchem Wege dringt das zur Nachtzeit den Fluten des Stromes ent— ſteigende Nilpferd in den Wald ein, um in ihm zu weiden; ſeiner bedient ſich das Nashorn, um vom Walde aus zur Tränke zu gehen; auf ihm zieht der blindwütende Wildbüffel zu Thale und nach der Höhe zurück; auf ihm ſchreitet der Löwe durch ſein Gebiet; auf ihm kann man ihm oder dem Leoparden, der Hyäne und anderen Raubtieren des Waldes begegnen. Wir betreten ihn und dringen vor. Nach wenigen Schritten umgibt uns allſeitig der großartige Wald. Aber vergeblich erſcheint es auch hier, die Stamm- und Aſt-, Zweig- und Trieb⸗, Ranken- und Blättermaſſen entwirren zu wollen. Mauergleich ſchließt ſich der Wald auch zu beiden Seiten ſolches Weges ab. Ununter— brochen ſtarren dicht ineinander verfilzte, ſelbſt dem Blicke unzugängliche, den Boden allüberall bedeckende Gebüſche entgegen; nur durch ſie ver— drängt, ſproſſen zwiſchen ihnen allerlei Gräſer auf und bilden einen zweiten Unterwald im Unterwalde; unmittelbar über jenen recken hochſtämmigere Gebüſche und niedere Bäume die Zweige ihrer Kronen nach allen Seiten; über ihnen entfalten wiederum höhere Bäume ihre Wipfel; und über ſie endlich erheben ſich die Baumrieſen des Waldes. Weitaus die meiſten Buſcharten des Unterholzes ſind dicht mit Dornen, die über ſie empor— ragenden Mimoſen mit langen, harten und ſpitzigen Stacheln bewehrt, ſelbſt die Gräſer mit klettenartigen, ringsum fein beſtachelten Samenkapſeln wi 152 Der Urwald Innerafrikas und feine Tierwelt. oder häkchenbeſetzten Aehren ausgerüſtet, jo daß jeder Verſuch, vom Wege ab einzudringen, tauſend Hinderniſſen begegnet. Der erlegte Vogel, welcher im Herabfallen auf einem der nächſten Büſche hängen bleibt, geht dem Schützen verloren, weil dieſer, ohne Aufwand unverhältnismäßiger Mittel, nicht im ſtande iſt, bis zu jenem Buſche zu gelangen; das Wild, welches vor dem Auge des Jägers in einem Buſche ſich verbirgt, hat ſich gerettet, weil der Jäger es nicht mehr wahrzunehmen vermag: ein etwa drei Meter langes Krokodil, welches wir einmal im Walde aufſcheuchten, entging uns, weil es ſich in einem zufälligerweiſe einzeln ſtehenden Buſche unſeren Augen ſo vollſtändig zu entziehen wußte, daß wir nicht eine Schuppe von ihm erſpähen, alſo auch keinen Schuß abgeben konnten. Noch immer ſtrebt man vergeblich, die Fülle der Eindrücke zu be— wältigen, ein Bild von dem anderen zu trennen und zu erfaſſen, einen Baum vom Boden an bis zum Wipfel hinauf zu betrachten, die Blätter des einen von denen eines anderen zu unterſcheiden. Vom Strome aus war es möglich, einzelne der friſchgrünen Tamarinden von den ſie um— gebenden verſchiedenartigen Mimoſen zu ſondern, die prachtvolle, entfernt an unſere Ulmen erinnernde Kigelie zu erkennen, an einem den übrigen Wald überragenden Palmenwipfel ſich zu erfreuen: inmitten des Waldes verſchmelzen ſämtliche Einzelheiten zu einem einzigen, unzertrennlichen Ge— ſamtbilde. Alle Sinne werden in gleicher Weiſe in Anſpruch genommen. Aus demſelben Laubgewölbe, welches das Auge zu erſchließen ſucht, ſtrömen balſamiſche Düfte einzelner jetzt blühender Mimoſen hernieder, klingt ein Gewirr der verſchiedenartigſten Laute und Töne, vom Gegurgel der Meer— katzen oder dem Kreiſchen der Papageien an bis zum gegliederten Vogel— geſange und tönenden Summen der jene blühenden Bäume umſchwirren— den Kerbtiere hinauf, ununterbrochen in das Ohr; das Gefühl, mindeſtens die Empfindung wird nicht weniger, wenn auch nicht gerade in angenehmer Weiſe durch die unzähligen Dornen beanſprucht, und auch der Geſchmack kann ſich an einzelnen, vielleicht erreichbaren, freilich nur wenig oder nicht zuſagenden Früchten verſuchen. Endlich aber bietet ſich bei weiterem Vordringen ein einzelnes, be— ſtimmtes Bild. Gewaltig in ſeinem ganzen Baue, rieſenhaft ſelbſt in den feineren Aeſten noch, erhebt ſich ein Baum über die zahlloſen Pflanzen, welche ſeinen mächtigen Fuß umgrünen; wie ein Rieſe drängt er ſich her— vor, ſchafft er ſich Raum für Stamm und Wipfel. Es iſt der Elefant, der Dickhäuter unter den Bäumen, die Adanſonie oder Tabaldie der Ein— geborenen, der Boabab oder Affenbrotbaum. Staunend bleibt man ſtehen, Der Urwald Innerafrikas und feine Tierwelt. 153 um ihn zu betrachten; denn an ſolchen Anblick, wie er ihn bietet, muß ſich das Auge erſt gewöhnen, bevor es alle Einzelheiten des Ganzen zu erfaſſen vermag. Man denke ſich einen Baum, deſſen Stammumfang, in Mannshöhe gemeſſen, bis zwanzig Klafter erreichen kann, deſſen untere Hefte immer noch unſere ſtärkſten Baumſtämme an Dicke überbieten, deſſen Zweige ſtarken Aeſten gleichen und deſſen jüngſte Schößlinge in mehr als Daumendicke hervorſproſſen; man denke ſich, daß dieſer mächtige Pflanzen— rieſe bis zu ungefähr vierzig Meter Höhe ſich aufbaut und ſeine unteren Aeſte faſt bis zur Hälfte dieſes Maßes ausreckt, und man wird ſich den Eindruck vorſtellen können, welchen er auf den Beſchauer ausübt. Unter allen Bäumen der Urwälder dieſer Gegend verliert der Affenbrotbaum am früheſten ſeine Blätter und verharrt am längſten in ſeiner Winter— ruhe; während dieſer Zeit ſtrecken ſich alle Aeſte und Zweige kahl in die Luft hinaus, und hängen ſeine an langen, biegſamen Stielen befeſtigten Früchte, welche Zuckermelonen an Größe gleichen und zwiſchen den Samen mehliges, ſäuerlich ſchmeckendes Mark enthalten, von den meiſten Aeſten hernieder: ein Anblick, welcher dem Gedächtniſſe für alle Zeiten ſich ein— prägt. Wenn aber nach den erſten Frühlingsregen große, fünffach ge— ſpaltene Blätter hervorbrechen, ſich entwickeln und das Wunder dieſer Baumkrone vollenden helfen; wenn zwiſchen den Blättern die langgeſtielten Knoſpen weißer Blüten von Roſengröße ſich entfalten, wandelt ſich der unvergleichliche Rieſenbaum wie durch Zauberei zu einem ungeheuren Roſenſtocke von unbeſchreiblicher Pracht, und Bewunderung ergreift die Seele ſelbſt des nüchternſten Menſchen im Tiefinnerſten. Mit der Adanſonie kann ſich kein anderer Baum des Urwaldes meſſen; ihr gegenüber verliert ſelbſt die Dulebpalme, welche ihre Krone über alle ſie umgebenden Wipfel zu erheben pflegt, an Reiz und An— ziehungskraft. Und doch iſt ſie einer der herrlichſten Bäume Innerafrikas und eine der ſchönſten Palmen der Erde: ihr Stamm eine Säule, wie ſie kein Künſtler ſchöner erdenken könnte, ihre Krone ein Knauf, wie er zu ſolcher Säule paßt. Der ſenkrecht aufſteigende, über dem Boden verdickte Stamm verjüngt ſich in augenfälliger Weiſe bis zur unteren Hälfte ſeiner Höhe, beginnt hier ſich auszubauchen, verjüngt ſich nochmals und ſchwillt unter der Krone noch einmal an; dieſe ſelbſt beſteht aus breiten, kaum weniger als einen Geviertmeter umfaſſenden Fächerblättern, deren Stengel allſeitig in gerader Richtung vom Mittelpunkte abſtehen und daher die Krone in ausdrucksvollſter Weiſe geſtalten. Unter ihnen brechen die Fruchttrauben hervor und vermehren, da die Früchte die Größe eines 154 Der Urwald Innerafrikas und feine Tierwelt. Kinderkopfes erreichen, die Zierde, welche dieſe herrliche Krone nicht allein ihrem Stamm, ſondern dem ganzen Walde verleiht, noch weſentlich. An das Rieſenhafte klammert das Märchen ſich an, an und in ihm erlebt es, geſtaltet es ſich, gewinnt es Verſtändnis. Solcher Gedanke drängt ſich auf, wenn man, wie es oft der Fall, eine Adanſonie über— rankt und umſponnen ſieht von einer der Schlingpflanzen, welche in reicher Fülle auch dieſe Urwaldungen zieren und ſchmücken. Mir hat die Schling— pflanze ſtets als Sinnbild des arabiſchen Märchens erſcheinen wollen. Denn wie ſie keinen Nährboden zu bedürfen ſcheint und dennoch ihm ent— ſproßte, ihre hauptſächlichſte Nahrung aber dem Aether entnimmt; wie ſie ihre Ranken von Baum zu Baum windet, an jedem ſich feſtkettet und trotzdem weiter ſtrebt, bis ſie endlich auf einem Wipfel ſich entfaltet und den ſonſt blütenloſen mit leuchtenden und duftenden Blumen begabt: ſo ſcheint auch das Märchen, wie feſt es im Thatſächlichen wurzeln möge, nicht der Wirklichkeit entſtammt zu ſein, greift, um ſich zu ſtärken, bis in den Himmel hinauf und ſendet ſeine Dichtung durch die Welt, bis es ein Herz findet, welches durch dieſe erglüht. Wenn ich der Schlingpflanze ge— denke, meine ich nicht eine einzige Pflanzenart, ſondern umfaſſe mit dem einen Ausdrucke alle Gewächſe, welche hier in dichten Schraubenwindungen einen Stamm umſtricken, dort einen kahlen Wipfel umranken, an einer Stelle viele Bäume verketten, an einer anderen einen einzigen begrünen und be— kränzen, in dieſem Teile des Waldes als nackte Ranken Brücken von Aſt zu Aſt ſchlagen, in jenem den Weg ſperren helfen und ſonſt noch in hundertfach verſchiedener Weiſe, immer aber rankend und kletternd, auf— treten. Ihre Schönheit, der Reiz, welchen ſie auf den Nordländer aus— üben, läßt ſich empfinden, nicht aber beſchreiben; denn wie ſich der An— fang und das Ende einer Schlingpflanze oft nicht erkennen läßt, will ſich auch der Ausdruck nicht finden, welcher der Beginn oder der Schluß einer be— friedigenden Schilderung ſein müßte. Die Schlingpflanze iſt greifbar vor— handen und dennoch der Beobachtung entrückt; man verfolgt bewundernd den Pfad ihrer Ranken, ohne ergründen zu können, woher ſie kommen und wohin ſie gehen; man ſchwelgt im Anſchauen ihrer Blüten, ohne im ſtande zu ſein, ſie zu erlangen, oft ohne mehr als zu ahnen, daß ſie von ihr ſtammen. Sie erſt drückt dem Walde Siegel und Gepräge des Urwaldes auf. Und nicht bloß eigene Blüten entfaltet ſie, ſondern auch mit fremden weiß ſie ſich zu ſchmücken. Auf ihren Ranken ruhen mit Vorliebe ge— wiſſe Prachtvögel des Waldes und werden ihnen zu lebendigen Blumen, welche die eigenen Blüten an Reiz und Anziehungskraft noch bei weitem Der Urwald Innerafrikas und feine Tierwelt. 155 übertreffen. Zuweilen geſchieht es, daß ein blitzender Schein, vergleichbar einem von glatter und ſpiegelnder Fläche zurückgeworfenen Sonnenſtrahle, das ihren Ranken folgende Auge ſtreift und den Blick der Stelle zulenkt, von welcher er ausging. Der Schimmer iſt in der That nichts anderes als ein widergeſpiegelter Sonnenſtrahl, welcher das atlasglänzende Ge— fieder eines Glanzſtares trifft und bei jeder Bewegung des prachtvollen Vogels abgelenkt und bald nach oben, bald nach unten geworfen wird. Entzückt von der wundervollen Schönheit dieſes einen Vogels, möchte man ihn ſtudieren, jede ſeiner Lebensäußerungen belauſchen, würde man nur nicht fortwährend durch neue Erſcheinungen abgezogen. Denn auch hier verdrängt ein Bild unabläſſig das andere. Da wo einen Augenblick vor— her der Glanzſtar ſich zeigte, erſcheint vielleicht unmittelbar darauf ein nicht minder glänzender und ſchimmernder Goldkuckuck, ein an Pracht des Gefieders mit Kolibris wetteifernder Honigſauger, ein Paar reizender Bienenfreſſer, eine im lebhafteſten Gefieder prangende Rake, ein nicht minder ſchöner Lieſt, ein Paradiesſchnäpper, deſſen lang herabwallende mittleren Schwanzfedern dem kleinen Vogel zu überraſchender Zierde ge— reichen, ein Helmvogel, welcher bei jedem Flügelſchlage ſeine tief purpur— roten Schwingen entfaltet, ein Würger, deſſen leuchtend rote Bruſt jene Schwingen noch überbietet, ein abſonderlich geſtalteter Nashornvogel, ein Goldwebervogel, eine Wida, ein metalliſch glänzender Baumhopf, ein zier— licher Specht, eine blattgrüne Taube, ein Flug ebenſo gefärbter Papageien und manch anderer gefiederter Bewohner des Urwaldes mehr. Dieſer iſt eben eine beſonders bevorzugte Heimſtätte der Vögel, bietet vielen Hunderten und Tauſenden verſchiedener Arten von ihnen Herberge und Nahrung und bringt daher ſie fort und fort, viel eher und ungleich häufiger als alle übrigen Tiere, denen er Obdach gewährt, vor das Auge des Beobachters. Vögel bewohnen und beleben alle Teile, alle Kronen— ſchichten des Waldes, den Boden wie die höchſten Wipfel, die undurch— dringlichſten Gebüſche wie das blätterloſe Geäſt der Adanſonien. Zwiſchen den Gräſern und anderen Pflanzen, welche den Boden wuchernd bedecken, bahnen ſich Frankolin-, vielleicht auch Perlhühner ihre verſchlungenen, durch wiederkehrenden Gebrauch zuletzt wohl ausgetretenen Pfade; in den laubigen Räumen über dem Wurzelſtocke der Gebüſche haben ſich kleine Tauben, im ſperrigen Teile ihrer Wipfel verſchiedenartige Prachtvögel, insbeſondere Honigſauger und Schmuckfinken angeſiedelt; zu den am dichteſten verfilzten, gänzlich ineinander verflochtenen, undurchdringlich er— ſcheinenden Buſchkronen ſchwirren, abgeſchoſſenen Pfeilen vergleichbar, 156 Der Urwald Innerafrikas und feine Tierwelt. Familien von Mäuſevögeln heran, welche kriechend und ſich ſchmiegend, jede Lücke benutzend, durch jede Oeffnung ſich zwängend, ſie dennoch zu durchdringen und im Inneren auszubeuten verſtehen; an den über jene Gebüſche emporragenden Stämmen hängen und klettern, jeden Rinden— ſpalt unterſuchend, Baumhopfe, Meiſen und Spechte; auf den unterſten Zweigen der zweiten Wipfelſchicht ſitzen, fliegender Beute harrend, die liebenswürdigen Bienenfreſſer oder Raken, Paradiesſchnäpper und Drongos; auf den ſtärkeren Aeſten der dritten Schicht hüpfen tänzelnd Helmvögel entlang, ſchreiten würdevoll kleine Reiher auf und nieder, ſchlafen, an den Stamm geſchmiegt, Uhus und andere Eulen; im dichten Gelaube der höchſten Bäume treiben ſich Papageien und Bartvögel umher; auf ihren oberſten Wipfeläſten haben ſich Adler, Falken und Geier niedergelaſſen. Wohin man das Auge richten will: einen Vogel wird es erſpähen. Entſprechend ſolcher Allverbreitung und Allgegenwart treffen ununter— brochen die verſchiedenſten Vogelſtimmen das Ohr. Es lockt und ruft, piept und pfeift, flötet und zwitſchert, trillert und ſchmettert, ruckſt und girrt, gackert und knarrt, ſchreit und kräht, kreiſcht und krächzt, ſingt und ſchlägt auf allen Seiten, in der Höhe wie in der Tiefe, um die Mittags— zeit wie in den Früh- oder Abendſtunden. Hundertfach verſchiedene Stimmen erklingen gleichzeitig und durcheinander, vereinigen ſich oft zu einem an und für ſich großartigen Tonſpiel, oft auch wiederum zu einem ſinnberückenden Tonwirrſal, welches man vergeblich zu zergliedern ver— ſucht und erſt nach längerer Uebung in ſeine Einzelheiten zu zerlegen lernt. Mit Ausnahme der Droſſeln, Bülbüls und Buſchſänger, Baum— nachtigallen und Drongos gibt es wirkliche Sänger nicht, wohl aber an— ziehende Schwätzer und gemütliche Plauderer, vor allem jedoch unendlich viele Schreier, Kreiſcher, Krächzer und andere, mehr oder minder gellend ſich äußernde Lautgeber; das Stimmengetön des Urwaldes kann ſich da— her an Reiz und Wohlklang mit dem Frühlingsgeſange unſerer Wälder nicht im entfernteſten meſſen, zeichnet ſich dafür aber durch Abſonderlich— keit und Eigenartigkeit der einzelnen Stimmen aus. Wildtauben ruckſen, girren, heulen, lachen und rufen von den Wipfeln herab, wie aus den dichten Gebüſchen hervor; Frankolin- und Perlhühner ſchmettern laut dazwiſchen; Papageien kreiſchen dazu; Raben krächzen darein; Lärmvögel bemühen ſich, das ſonderbare Gurgeln einer Meerkatzenbande auf das getreueſte nach— zuahmen, während die Helmvögel Laute hervorbringen, welche wie die eines Bauchredners klingen; Bartvögel pfeifen laut in getragenem Tone, oder tragen gemeinſchaftlich einen ſchallenden, ſo verworrenen und den— Der Urwald Innerafrikas und feine Tierwelt. 157 noch jo ausdrucksvollen Geſang vor, daß man denſelben zu den bezeich— nendſten Naturlauten des Waldes zählen muß; die ſchimmernden Glanz— ſtare ſingen, indem ſie die wenigen rauhen, bald krächzenden, bald kreiſchenden, bald quietſchenden, bald knarrenden Laute, über welche ſie verfügen können, in endloſer Wiederholung aneinander reihen, miteinander verbinden, verſchmelzen, vertönen; der prachtvolle Schreiſeeadler, welcher an allen Waſſerläufen und Waſſerbecken des Waldes ſeßhaft iſt, bethätigt ſeinen Namen. Hoch auf der Spitze eines Baumwipfels ſitzt der „Abu Tok“ (Erzeuger des Stimmlautes „Tok“) der Eingeborenen, ein kleiner Nashornvogel, ruft ſein „Tok“ laut in die Wildnis hinaus und begleitet jeden Laut mit einer tiefen Neigung ſeines durch den unverhältnismäßig großen Schnabel beſchwerten Kopfes. Nur dieſen einen Laut hat er in ſeiner ungefügen Kehle, und mit ihm muß er dem umworbenen oder ver— bundenen Weibchen ebenſo verſtändlich ſeine Liebe erklären, wie die Nach— tigall die ihrige mit ihrem bezaubernden Liede. Das ſeine Bruſt ſchwellende Hochgefühl ringt nach Ausdruck. Raſcher und raſcher folgen ſich die einzelnen Rufe, ſchneller und ſchneller die dazu gehörigen Verneigungen, bis das ſchwere Haupt dieſelben nicht mehr begleiten kann, nach Ruhe verlangt und damit ein Satz des eigentümlichen Liebesliedes endet, um wenige Minuten ſpäter in gleicher Weiſe begonnen und ausgeführt zu werden. Aus dem unnahbaren Dickicht erſchallt die Stimme des Hage— daſch oder Waldibis, und gelinder Schauder erfaßt die Seele des Be— obachters. Es iſt ein Klagegeſang der jammervollſten Art, welchen dieſer Vogel zum beſten gibt; es klingt, als ob ein kleines Menſchenkind peinlich gequält, etwa über ſchwachem Feuer langſam geröſtet werden ſollte und laut aufſchriee unter aller Marter; denn langgezogene klägliche Laute wechſeln mit gellenden Schreien, jähes Aufkreiſchen mit erſterbendem Ge— wimmer. Aus höher gelegenen Teilen des Waldes, von dort her, wo letzterer kleine Blößen umſchließt, ſchmettern die weit hörbaren, metall— reichen Trompetentöne des Kronenkranichs hernieder, welcher mit ihnen ſeine zierlichen und lebhaften, zur Ehre des Weibchens ausgeführten Tänze an— feuern zu wollen ſcheint und Widerhall weckt im Walde wie in der Kehle aller gleich ihm mit ſchallenden Stimmen ausgerüſteten Vögel, ſo daß ſein Geſchrei Anſtoß zu neuem, gleichzeitigem Aufkreiſchen einer erheblichen Anzahl anderer Vögel wird. Auf ſolche Veranlaſſung hin probt faſt jeder ſtimmbegabte Vogel ſeine Kehle, und eine Flut der verſchiedenſten Laute übertönt für Augenblicke die Einzelſtimmen. Aber nicht allein ver— ſchiedene Arten der gefiederten Bewohner des Waldes wirken gemein— 158 Der Urwald Innerafrikas und ſeine Tierwelt. ſchaftlich an dem Tonſtücke, ſondern ſogar die verſchiedenen Geſchlechter einer Art vereinigen ſich, um den auf ſie kommenden Geſangsteil auszu— führen. Wie die erwähnten Bartvögel ſchreien auch die Droßlinge, die Lärmvögel, Frankolin- und Perlhühner ſtets zu gleicher Zeit zuſammen auf und bringen dadurch jene verworrenen Tonſätze zu ſtande, welche aus dem allgemeinen Stimmgewirr bezeichnend hervorſchallen. Einige Vogelarten, namentlich die Buſchwürger, aber verfahren anders, indem hier Männchen und Weibchen eines Paares je einen beſonderen Tonſatz aus— führen. Das Männchen der einen Art, welche ich kennen lernte, des Scharlachwürgers, ſingt eine kurze Strophe, welche an den verſchlungenen Pfiff unſeres Pirols erinnert, das einer anderen, des Flötenwürgers, trägt drei glockenreine Flötentöne vor, welche Terz, Grundton und Oktave treffen. Unmittelbar auf ſie folgt die Antwort des Weibchens, in beiden Fällen ein unangenehmes, ſchwer zu beſchreibendes Krächzen, ſo taktrichtig und ſicher, als wären die Vögel von einem Tonkünſtler unterrichtet worden. Zuweilen geſchieht es, daß das Weibchen beginnt und vier- bis ſechsmal kreiſcht, bevor es Antwort erhält; dann fällt das Männchen wieder ein, und beide wechſeln fortan mit gewohnter Regelmäßigkeit ab. Ich habe mich von dieſem Zuſammenwirken beider Geſchlechter durch Ver— ſuche überzeugt, insbeſondere bald das Männchen, bald das Weibchen erlegt und immer gefunden, daß dann nur noch das überlebende Geſchlecht ſich vernehmen ließ. Leider vermißt man auch in dieſen, anfangs feſſeln— den Tönen die Reichhaltigkeit und den Wechſel, in dem ganzen Stimmen— gewirr den Wohllaut und Einhall des Vogelgeſanges unſerer heimiſchen Wälder; eine großartige und markige Weiſe aber iſt es dennoch, welche der Urwald zu hören gibt, wenn in der Zeit des Frühlings alle die Hunderte und Tauſende der verſchiedenartigen Stimmen durcheinander klingen, Millionen von Kerbtieren die blühenden Bäume umſchwirren und dadurch ein lautes, tönendes Geſumm hervorrufen, zahlloſe Eidechſen und Schlangen im dürren Laube raſcheln und bald der gellende, aus der Höhe dennoch klangvoll niedertönende Adlerruf oder das Trompetengeſchmetter der Kronenkraniche und Perlhühner zeitweilig alle übrigen Stimmen über— bietet, gleich darauf in unmittelbarer Nähe des lauſchenden Ohres ein Buſchſänger ſein anſprechendes Liedchen vorträgt, und von neuem einer der tonangebenden Schreier anhebt, um in tauſend Kehlen Widerhall zu wecken. Wird man vertrauter im Urwalde, als man anfänglich zu hoffen wagte, ſo geſtattet dieſer anziehende Einblicke in den Haushalt der Tiere Der Urwald Innerafrikas und feine Tierwelt. 159 und wiederum zunächſt der Vögel. Noch herrſcht der Frühling und mit ihm die Liebe in aller Herzen. Sie ſingen und koſen, bauen an ihren Neſtern und brüten. Schon vom Boote aus kann man die Niſtanſiede— lungen einzelner Arten wahrnehmen. In genügender Höhe über der oberſten Flutmarke des Hochwaſſers, an einer ſenkrecht abfallenden Stelle der Uferwand, haben Bienenfreſſer ihre engen, aber tiefen, am inneren Ende backofenförmig erweiterten Brut— höhlen ausgegraben. Auf wenige Geviertmeter Fläche drängt ſich die Siedelung zuſammen, obgleich mindeſtens dreißig, gewöhnlich achtzig bis hundert Paare ſich vereinigten: der kreisrunde, drei, vier oder fünf Centi— meter im Durchmeſſer haltende Eingang einer Höhle ſteht höchſtens fünf— zehn Centimeter von dem einer anderen entfernt. Kaum begreift man, wie es möglich iſt, daß jedes Paar den Eingang zu ſeiner Höhle von anderen unterſcheidet; gleichwohl fliegen die leichtbeſchwingten gewandten Vögel, ſelbſt wenn ſie von ferne herbeieilen, ohne Zögern oder auch nur Beſinnen in die rechte Höhle: ihr unvergleichlich ſcharfes Auge, welches noch auf hundert Schritte Entfernung eine vorüberſummende Fliege wahr— nimmt, täuſcht ſie nie. Ihr reges, lebhaftes Treiben vor der Anſiedelung gewährt ein ungemein feſſelndes Schauſpiel. Alle Bäume oder Gebüſche der Umgebung ſind mit mindeſtens einem Paare der geſelligen ſchönen Vögel geziert; auf jedem zum Ausluge geeigneten Zweige ſitzt ein ver— bundenes Paar, und jeder Gatte desſelben nimmt zärtlich teil an allem, was den anderen betrifft. Vor den Niſthöhlen geht es zu, wie vor einem Bienenſtocke: einige ſchlüpfen ein, andere aus; dieſe kommen, jene gehen; viele umſchweben beſtändig die Eingänge zu ihren Bruträumen. Erſt mit Eintritt der Nacht, welche alle in den Höhlen verbringen, wird es ruhig und ſtill. An anderen Stellen des Ufers, wo Hochbäume über das Waſſer ſich neigen oder dieſes während ſeines höchſten Standes ſie umflutet, haben ſich Edelwebervögel angeſiedelt. Auch ſie brüten ſtets geſellig, erbauen aber frei ſchwebende, an den äußerſten Zweigſpitzen befeſtigte, ſehr künſtlich aus Halmen oder Faſern zuſammengeflochtene Neſter. Keine lüſterne Meer— katze, kein anderer eierraubender Feind, nicht einmal eine Schlange kann ſich, ohne Gefahr zu laufen, herab und ins Waſſer zu ſtürzen, ſo ange— brachten Neſtern nähern. Mindeſtens drei, in der Regel aber vierzig bis ſechzig Webervögel brüten auf einem und demſelben Baume, und ihre Neſter verleihen demſelben daher ein ſehr bezeichnendes Anſehen, geben ſogar der Landſchaft ein hervorſtechendes Gepräge. Abweichend von anderen Vögeln, 160 Der Urwald Innerafrikas und feine Tierwelt. bauen nicht die Weibchen, ſondern die Männchen, ſie aber mit ſo unge— zügeltem Eifer, daß ſie ſich auch dann zu ſchaffen machen, wenn dem wirklichen Bedürfniſſe bereits Genüge geſchehen iſt. Einen eben abge— biſſenen Halm oder eine ausgezaſerte Faſer im Schnabel herbeiſchleppend, kommen ſie angeflogen, hängen ſich mit den Füßen am Zweige oder dem Neſte ſelbſt feſt, erhalten ſich durch ſchwirrende Flügelſchläge in ihrer Lage und Stellung und verbauen unter beſtändigem Singen die zugebrachten Stoffe. Iſt ein Neſt bis auf den inneren Ausbau vollendet, ſo beginnen ſie ſofort mit dem Baue eines zweiten, dritten, reißen auch wohl bereits fertige wieder ein, um ihre Bauluſt zu befriedigen und fahren ſo fort, bis das inzwiſchen brütende Weibchen ihre Hilfe bei Erziehung der Jungen beanſprucht. Solche Geſchäftigkeit belebt die ganze Siedelung und die goldgelben, beweglichen, lebhaften, in den verſchiedenſten Stellungen hängenden und ſitzenden Vögel werden dem ohnehin durch die Neſter ge— zierten Baume zum größten Schmucke. Auf Mimoſen, welche gerade während der allgemeinen Brutzeit blätterlos daſtehen, haben Viehwebervögel für ihre, der unſeres Stares kaum gleichkommende Größe gewaltige Bauten errichtet. Ihre Neſter ſtehen in dem dichteſten Wipfelgezweige der gedachten, ſehr dornigen Mi— moſen und beſtehen äußerlich ausſchließlich aus dornigen Zweigen, welche ihnen ein kratzborſtiges Ausſehen geben, ſind oft über einen Meter lang, halb ſo hoch und breit und enthalten innen genügend geräumige Neſt— höhlen, zu denen der Größe unſerer Weber entſprechende, oft gewundene, anderen Tieren unzugängliche Röhren führen. Auch auf dieſen Bäumen und um dieſe Neſter herrſcht ein reges und lärmendes Getriebe. Im Inneren des Waldes ſelbſt ſtößt man, bei achtſamem Aufmerken, allüberall auf Neſter, ſo ſchwierig es auch zuweilen iſt, ſie zu erkennen. Kleine Finken z. B. erbauen ſolche, welche einem vom Winde zuſammen— getragenen Häufchen dürren Graſes zum Verwechſeln ähneln, innen aber eine weich und warm mit Federn ausgekleidete Niſtkammer haben; andere Vögel wählen Bauſtoffe, welche der Umgebung in ihrer Färbung täuſchend ähnlich ſind; wieder andere bauen überhaupt gar nicht, ſondern legen ihre erdfarbenen Eier ohne alle Unterlage auf den Boden. Alle Höhlungen in den Bäumen ſind jetzt bezogen worden, und Spechte, Bartvögel und Papageien beſtreben ſich, fortwährend neue zu zimmern oder doch auszu— weiten und zu Brutſtätten herzurichten, die Nashornvögel dagegen, zu weite Eingänge zu verkleiben. Gerade die letzteren zeichnen ſich durch ihr Brutge— ſchäft beſonders aus und verdienen daher an erſter Stelle erwähnt zu werden. Der Urwald Innerafrikas und ſeine Tierwelt. 161 Nachdem der Nashornvogel durch eifrige Werbung ein Weibchen an ſich gekettet hat, ſucht er mit dieſem nach einer paſſenden Höhlung, um in ihr zu brüten. Hat er ſolche gefunden, ſo erweitert er ſie mit ſeinem ungefügen Schnabel mühſelig genug, ſoweit dies erforderlich iſt. Dann ſchickt ſich das Weibchen zum Legen an, und nunmehr kleiben beide Gatten, das Weibchen von innen, das Männchen von außen arbeitend, den Ein— gang bis auf eine Spalte zu, welche eben weit genug iſt, um zu geſtatten, daß das Weibchen ſeinen Schnabel mit der Spitze hindurchzwängen kann. Abgeſchloſſen von der Außenwelt, in einer vollſtändigen Wochenſtube weilend, brütet das Weibchen ſodann, und dem Männchen liegt es ob, nicht allein die vermauerte Gattin, ſondern auch die ſpäter dem Ei ent— ſchlüpfenden, raſch heranwachſenden und ſehr viele Nahrung beanſpruchenden Jungen zu ernähren, bis dieſe vollſtändig flügge geworden ſind, die Mutter den Eingang von innen öffnet und die ganze Familie feiſt und wohlbe— fiedert in die Außenwelt tritt, um fortan den Gatten und Vater, welcher unter Arbeit und Sorge, um eine ſo zahlreiche Familie zu unterhalten, zum Geripp abmagerte, weiterer Mühewaltung zu entheben. Aehnliche Gatten- und Vatertreue beſtätigt auch der Schattenvogel, ein etwa rabengroßer, ſtorchähnlicher, ſtiller und nächtlich lebender Bewohner des Waldes, deſſen rieſenhafte Neſter zu den bemerkenswerteſten von allen zählen. Dieſe Neſter ſtehen gewöhnlich in geringer Höhe über dem Boden, in Stammzwieſeln oder auf ſtarken Aeſten der unteren Krone, welche die erforderliche Tragfähigkeit beſitzen; denn ſie übertreffen die größten Raub— vogelhorſte an Umfang und Gewicht, haben oft einen Querdurchmeſſer von anderthalb bis zwei Meter, bei nicht viel weniger Höhe, und beſtehen aus ziemlich dicken Aſtſtücken und Zweigen, welche mit Lehm verbunden oder förmlich vermauert werden. Wer nicht zufällig bemerkt, wie der Schatten— vogel aus- oder einſchlüpft, wird nicht auf den Gedanken kommen, daß ſie hohl find, vielmehr die Horſte großer Raubvögel in ihnen zu erkennen meinen, um ſo mehr, als nicht ſelten Adler und Uhus ihre Decke als Horſt— ſtätte benutzen. Wird man jedoch durch ihren wirklichen Erbauer eines Beſſeren belehrt und unterſucht man ſie genauer, ſo findet man, daß ſie im Inneren drei vollkommen getrennte, nur durch Schlupfgänge, alſo gleichſam Thüren verbundene Räume enthalten, welche ſich bei fortgeſetzter Beobachtung als Vorzimmer, Geſellſchafts- oder Speiſeſaal und Brut— gemach erweiſen. Letzteres, der hinterſte Raum, liegt etwas höher als die beiden vorderen Abteilungen, ſo daß im Falle der Not eingedrungenes Waſſer abfließen kann; der ganze Bau iſt aber ſo trefflich gearbeitet, daß ſelbſt Brehm, Vom Nordpol zum Aequator. 11 162 Der Urwald Innerafrikas und feine Tierwelt. heftige und lang anhaltende Regengüſſe jelten Schaden anrichten können. Im Brutraume liegen auf weichem Polſter aus Schilf und anderen Pflanzen— ſtoffen die drei bis fünf weißen Eier, welche die Gattin bebrütet; im mitt— leren Raume ſpeichert das Männchen währenddem allerlei Futterſtoffe, gefangene Fiſche, Fröſche, Eidechſen und ſonſtige Leckerbiſſen in reichlicher Menge auf, ſo daß die Gattin unter den ſtets vorhandenen Vorräten wählen kann und nur zuzulangen braucht, um ſich zu ſättigen; im vor: derſten Raume endlich ſteht oder hockt der Gatte, ſolange er nicht mit Erwerb der Beute beſchäftigt iſt, um Wache zu halten und der brütenden Gattin Geſellſchaft zu leiſten, bis die heranwachſenden Jungen beider Thätigkeit beanſpruchen. Schattenvogel und Adler oder Uhu ſind nicht das einzige Beiſpiel freundnachbarlichen Zuſammenwohnens verſchiedenartiger, in ihren Sitten und Gewohnheiten ungleicher Vögel. Auf den breiten, wagerecht vom Stamme abſtehenden Fächerblättern der herrlichen Dulebpalme ſteht der Horſt des ebenſo ſchnellen als raubluſtigen Zwergwanderfalken und das Neſt der Gineataube zuweilen ſo dicht nebeneinander, daß ein einziger Griff des Falken genügen würde, um eines der Nachbarskinder zu erbeuten. Dieſer Griff aber erfolgt nicht, weil der Falke gewohnt iſt, nur auf flie— gende Vögel zu ſtoßen, und ſo wachſen die Kinder der Taube ungefährdet neben den Sprößlingen des Raubvogels groß, und beide Nachbarn ſitzen nicht ſelten friedlich nebeneinander, jedes Paar neben ſeiner Brutſtätte. Noch eine andere Palme bot mir Gelegenheit, Vögel zu beobachten, deren Brutgeſchäft mich aufs höchſte überraſchen und feſſeln mußte. Eine einzelne Tompalme umflogen unter lebhaftem Geſchrei zwerghafte Segler, nahe Verwandte unſerer ſogenannten Turmſchwalbe, und lenkten dadurch meine Aufmerkſamkeit dem Baume zu. Bei genauerer Nachforſchung ſah ich, daß ſie ſich oft zwiſchen die Blätter der Palme begaben und entdeckte nunmehr in der Riefe an den Blattſtielen lichte Punkte, welche ich als die Neſter der Segler erkennen mußte. Ich erſtieg den Baum, bog eines der Blätter gegen mich heran und fand, daß je ein Neſt, deſſen weſentlichſten Teil Baumwolle bildete, in dem Winkel zwiſchen Stiel und Blatthälfte in der unter Seglern üblichen Weiſe mittels Speichel feſtgeleimt war. Aber die Neſtmulde erſchien mir ſo flach, daß ich mich wundern mußte, wie in ihr die beiden Eier liegen bleiben könnten, wenn das große Blatt im Winde bewegt werden ſollte. Und letzteres mußte beim leiſeſten Windhauche ge— ſchehen, geſchweige denn bei Stürmen, wie ſolche hier zu toben pflegen! Behutſam näherte ich meine Hand zwei Eiern, um ſie auszunehmen: da Der Urwald Innerafrikas und ſeine Tierwelt. 163 erfuhr ich mit Staunen, daß ſie von der Mutter im Neſte feſtgeleimt waren! Und als ich ausgeſchlüpfte, kleine, noch gänzlich unbehilfliche Junge näher unterſuchte, bemerkte ich mit geſteigerter Ueberraſchung, daß auch ſie in gleicher Weiſe im Neſte befeſtigt waren, um auch ſie gegen das Herab— fallen zu ſchützen. Während die Vögel durch ihre Allgegenwart, Schönheit, Lebhaftigkeit und Regſamkeit, wie durch ihren Geſang oder wenigſtens ihr Geſchrei fort— Meerkatzen. während die Aufmerkſamkeit des achtſamen Beobachters auf ſich lenken, bemerkt dieſer, abgeſehen noch von den ſehr zahlreich auftretenden Eidechſen und Schlangen oder den hie und da überaus häufigen Kerbtieren wenig von den übrigen Bewohnern des Urwaldes, insbeſondere von den in ihm hauſenden Säugetieren. Eine Meerkatzenbande kann man freilich nicht überſehen, weil die dieſen wie allen übrigen afrikaniſchen Affen eigene Lebendigkeit und Unſtetigkeit ſie ſicherlich bald auch vor das blödeſte Auge bringen, oder ihr fortwährendes Gegurgel das Ohr treffen muß; an den meiſten übrigen Säugetieren aber kann man auf wenige Meter Entfernung 164 Der Urwald Innerafrikas und feine Tierwelt. vorübergehen, ohne auch nur zu ahnen, daß ſolches der Fall iſt. Weitaus der größte Teil aller Urwaldſäugetiere regt und bewegt ſich erſt nach Sonnenuntergang und ſucht vor Anbruch des Tages ſein Lager wieder auf; aber auch diejenigen, welche in den Morgen- und Abendſtunden, an— geſichts der Sonne rege und thätig ſind, laſſen ſich keineswegs ſo leicht beobachten, als man vielleicht meinen möchte; denn ihnen kommt die Dich— tigkeit des Waldes vortrefflich zu ſtatten. „Haben Sie,“ fragte mich ein Europäer, mit welchem ich einſtmals im Urwalde jagte, „nicht den Leo— parden bemerkt, welcher vor wenig Minuten von mir weg und auf Sie zulief? Ich konnte nicht ſchießen, weil ich mein Gewehr nicht in Ordnung hatte; Sie aber müſſen ihn wahrgenommen haben.“ Es war nicht an dem: ich hatte von dem großen Tiere nicht das geringſte geſehen, ſo dicht war der Unterwuchs des Waldes geweſen. Wenn letzteres nicht der Fall iſt, macht ſich in der Regel ein anderer Umſtand geltend: die Gleich— farbigkeit des Säugetieres mit ſeiner Umgebung. Der grauliche Halbaffe, welcher hoch oben auf einem mit Flechten überſponnenen Aſte zuſammen— gekauert ſitzt und ſchläft, täuſcht dem Auge einen Knorren oder Auswuchs ſo deutlich und überzeugend vor, daß die tieriſche Geſtalt erſt dann zum Vorſchein kommt, wenn der gewitzigte Jäger ſein Fernglas hervorzieht und jenen Knorren ſcharf betrachtet; die Fledermaus, welche hoch oben frei in der Krone eines anderen Baumes hängt, gleicht ebenſo wie jener einem Auswuchſe, einem vergilbten Blatte; ſelbſt das bunte Fell des Leo— parden kann im Walde durch dürre Blätter und blühende Euphorbien ſo getreulich wiedergegeben ſein, daß ich ſelbſt einmal mit geſpannter und angeſchlagener Büchſe bis auf fünfzehn Schritte an einen Buſch, in welchen ſich ein Pardel geflüchtet hatte, herangehen mußte, bevor ich Tier und Umgebung zu unterſcheiden vermochte. Genau dasſelbe gilt für die im Walde lebenden Antilopen, gilt für alle Säugetiere überhaupt; und ſie wiſſen, daß dem ſo iſt. Nicht überall im Urwalde, aber hie und da und dann ſtets häufig, lebt eine kleine Antilope, das Buſchböckchen oder die Windſpielantilope. Sie iſt einer der anmutigſten aller Wiederkäuer, äußerſt zierlich gebaut, nicht größer als ein vor wenig Tagen geſetztes Rehkalb und fuchſig graubläulich von Farbe, bewohnt paarweiſe das dichteſte Unter— holz des Waldes, wählt zum Lager oder ſtändigen Aufenthaltsorte einen bis auf den Boden herab verzweigten, laubigen Buſch und tritt von hier ab ſchmale Pfade aus, welche in den verſchiedenſten Richtungen durch das Dickicht laufen. Ich habe das Tier oft erlegt; anfänglich aber erging es auch mir wie allen übrigen Reiſenden und Jägern, welche es kennen Der Urwald Innerafrikas und ſeine Tierwelt. 165 lernten: ich war außer ſtande, es zu ſehen, es ſei denn, daß es, bereits aufgeſcheucht, wie ein Pfeil an mir vorübergehuſcht wäre. „Sieh, Herr, dort vor dir, im nächſten Buſche ſteht ein Böckchen; dort unten in der Lücke zwiſchen den beiden dicht belaubten Zweigen ſteht es ja; ſiehſt du denn nichts?“ flüſterten meine eingeborenen Begleiter mir zu. Ich ſtrengte alle Sinne an, bohrte meine Blicke förmlich in den bezeichneten Buſch und — ſah nichts anderes als Zweige und Blätter; denn zu Zweigen wurden auch die zierlichen Läufe, zu einem dichtbelaubten Aſte Kopf und Leib des Böckchens. Doch das Jägerauge findet ſich zuletzt auch im Urwalde wieder. Wenn man einigermaßen mit den Sitten und Gewohnheiten der niedlichen Antilope vertraut geworden iſt, lernt man ebenſogut ſie aufzu— finden, wie der ſcharfſichtigſte Eingeborene. Ihr feines Gehör hat ihr den herannahenden Menſchen weit früher verraten, als dieſer eine Spur ihres Vorhandenſeins wahrzunehmen vermochte. Durch das Geräuſch der ſchweren Menſchentritte aufgeſchreckt, iſt ſie vom Lager aufgeſprungen, einige Schritte vorwärts gegangen und in eine Lücke getreten, von welcher aus ſie ſehen kann, was vorgeht. Wie ein in Erz gegoſſenes Bildnis, ſtarr und regungs— los, ohne auch nur eines der längſt ſchon eingeſtellten Gehöre fernerhin zu bewegen, ohne eines ihrer Lichter zu drehen, ſteht ſie da und lauſcht und äugt; der Lauf, welcher zum Vorwärtsſchreiten erhoben wurde, ver— bleibt in der angenommenen Lage, kein Zeichen verrät Leben. Jetzt iſt es Zeit für den Jäger, raſch das Gewehr zu heben, zu zielen, zu ſchießen: ein Augenblick ſpäter, und das ſchlaue Wild iſt mit einem einzigen weiten Bogenſatze in den benachbarten Buſch geſprungen und durch ihn gedeckt worden, oder hat ſich langſam niedergeduckt und ſo unmerklich davon— geſchlichen, daß kaum ein Blatt ſich regte, kaum ein Halm ſich rührte. In ſolcher Weiſe bringt der Urwald wechſelvolle Einzelbilder vor das Auge des Beobachters. Wer ſehen kann und zu ſuchen verſteht, er— ſchaut und findet in jedem Waldesteile und zu jeder Zeit mehr des Be⸗ achtenswerten, als er zu bewältigen vermag. Aber nicht an jedem Orte und nicht zu jeder Zeit kann man dasſelbe beobachten. Hier, wo der Frühling auf Wochen, der Sommer oder der Herbſt auf Tage zuſammen— ſchmilzt und der lange Winter, ebenſo wie in der Steppe, faſt unmittelbar nach dem Aufhören der Regen ſeine Herrſchaft antritt, drängt ſich das volle, reiche, allſeitig überquellende Pflanzen- und Tierleben auf kurze Friſt zuſammen. Sobald die Vögel ihr Brutgeſchäft beendet haben, beginnen ſie zu wandern und zu ſtreichen; ſobald die Säugetiere einen Teil des Waldes ausgenutzt zu haben glauben, ſuchen ſie einen anderen auf. Dem— 166 Der Urwald Innerafrikas und ſeine Tierwelt. gemäß kann und wird man an derſelben Stelle zu verſchiedenen Zeiten auch verſchiedenen Geſchöpfen begegnen oder doch weſentlich verſchiedene Bilder aus dem Tierleben wahrnehmen. So belebt ſich, um ein Beiſpiel zu geben, der Strom in demſelben Verhältniſſe, in welchem der Wald ſich entvölkert. Während der Stromfülle bemerkt man wenig von den Tieren, welche am und im Waſſer leben. Alle Inſeln liegen tief unter den Fluten be— graben, alle Uferränder ſind ebenfalls überſchwemmt und die ſonſt hier wie dort hauſenden Vögel infolgedeſſen verdrängt worden. Und wenn. wirklich einmal ein Krokodil ſeinen Kopf und einige Schuppen ſeines Rückens über die Oberfläche hebt, muß dies in geringer Entfernung vom Boote geſchehen, wenn man es überhaupt bemerken ſoll. Es bleiben alſo, ſtreng genommen, nur die ſtellenweiſe häufigen Nilpferde und die über dem Waſſer umherfliegenden Vögel, vielleicht auch noch einige Taucher übrig, um den erſichtlichen Beweis zu liefern, daß auch am und im Strome höhere Wirbel— tiere leben. Wenn aber nach Aufhören der Regen der Stromſpiegel ſich ſenkt und alle Inſeln, Sandbänke und Uferſäume frei hervortreten läßt, ändert ſich das Strombild auch in Beziehung auf die Tierwelt. Jetzt ziehen ſich die Nilpferde in die tiefſten Stellen des Gewäſſers zurück, ge— ſellen ſich hier, bilden Trupps von wechſelnder, bisweilen namhafter Stärke und machen ſich, da ſie jeder Atemzug zur Oberfläche emportreibt und jener auch unter weit hörbarem Schnauben geſchieht, ſehr bemerklich, treten wohl auch bereits übertages auf einzelne Inſeln oder Sandbänke heraus, um hier zu lagern oder im Sonnenſcheine ſich zu recken, und kommen dann ſchon in Entfernungen von einem Kilometer und darüber vor das Auge des Reiſenden; jetzt holen die Krokodile wahrhaft begierig nach, was ſie während der Stromfülle entbehren mußten: um die Mittagszeit ſtundenlang ſich zu ſonnen. Sie kriechen zu dieſem Zwecke bereits in den Vormittags— ſtunden auf flache, ſandige Inſeln heraus, fallen unter hörbarem plum— pendem Geräuſche ſchwer auf den Sand nieder, reißen den zähneſtarrenden Rachen weit auf und ſchlafen, zu zehn, zwanzig, dreißig auf einer einzigen Sandbank vereinigt und in den verſchiedenſten Richtungen, neben-, manch— mal ſelbſt übereinander gelagert, bis gegen Abend; jetzt bedecken Sand— bänke oder beide Ufer des Stromes und ſeine größeren Inſeln Vogelheere, welche durch ihre Maſſen einen mächtigen Eindruck hervorrufen. Denn um die gedachte Zeit haben die meiſten einheimiſchen Strand- und Schwimm— vögel ihr Brutgeſchäft beendet und finden ſich nunmehr mit ihren Jungen am Strome ein, um hier, bei reichlicher, mühelos zu erwerbender Nahrung Der Urwald Innerafrikas und feine Tierwelt. 167 zu mauſern; um dieſelbe Zeit haben ſich ihnen die nordiſchen Wandervögel geſellt, welche hier überwintern. Sie, die letztgenannten, bevölkern nun— mehr auch alle Teile des Urwaldes, gelangen hier aber bei weitem nicht ſo zur Geltung, wie am Strome, deſſen Uferſäume und Inſeln zudem von den größten, alſo am leichteſten ins Auge fallenden Zugvögeln beſetzt werden. Hier kann es geſchehen, daß der vorhandene Raum zu eng, die unzweifelhaft reichlich gebotene Nahrung zu knapp wird. Eine Folge davon iſt, daß jeder Raum beſetzt, ja überfüllt, jeder nahrungverſprechende Teil von tauſend Mitbewerbern beſucht, ſelbſt jeder Schlafplatz beſtritten wird. Drei Tage lang ſegelte ich bei gutem Winde und in einem trefflichen Boote ſtromaufwärts im Weißen Nile, und während dieſer langen und weiten Fahrt waren beide Ufer des Stromes ununterbrochen mit einem bunten und lebendigen, aus den verſchiedenſten Strand- und Schwimm— vögeln zuſammengeſetzten Bande geziert. Inmitten der Urwälder des Blauen Stromes kann man ein ähnliches Schauſpiel gewahren. Ausge— dehnte Sandbänke ſind hier von Grau- und Jungfernkranichen vollſtändig in Beſitz genommen worden, dienen den hier in der Winterherberge wei— lenden Fremdlingen jedoch nur als Ruhe-, Mauſer- und Schlafplätze, von denen aus ſie der Ernährung halber allmorgendlich in die Steppe hinaus— fliegen, und zu denen ſie bereits in den Vormittagsſtunden zurückkehren, um zu trinken und zu baden, ihr Gefieder zu putzen und endlich, von Krokodilen beſtändig bedroht, des Nachts zu ſchlafen. Ihnen geſellen ſich um die Mittagszeit regelmäßig einige Kronkraniche, welche jene ſtets in lebhafte Aufregung verſetzen, da ſie, wenn auch nicht beſſere, ſo doch bei weitem eifrigere Tänzer ſind, als die Kraniche ſelber, und bei ihrer Ankunft nie verfehlen, ihre Künſte zu üben und dadurch zu Wettſpielen anzureizen. Auf denſelben Bänken finden ſich oft auch Nimmerſatte ein, ſtorchähnliche, in weißem, roſig überhauchtem, auf den Flügeln brennend roſenrot ge— färbtem Gefieder prangende Vögel, welche dann die äußerſten Ränder des Eilandes oder die nebenliegenden ſeichten Stellen in Beſchlag nehmen, bei günſtiger Beleuchtung förmlich erglühen, jedenfalls lebhaft hervortreten, von den lichtgrauen Kranichen wundervoll abſtechen und ſo die ganze Um— gebung zieren und ſchmücken. Am Uferrande ſchreiten prachtvolle Rieſen— oder Sattelſtörche ſtolz einher, wandeln unſchöne, obgleich abſonderlich geſtaltete Marabus würdevoll auf und nieder, ſtehen ſchimmernde Klaff— ſchnabelſtörche in zahlreichen Geſellſchaften, waten Rieſen- und Silberreiher im Waſſer umher, um einen Fiſch zu erbeuten, ſtehen und lagern, ſchwim— men und tauchen, weiden und gründeln, ſchnattern und ſchwatzen Tauſende * 168 Der Urwald Innerafrikas und ſeine Tierwelt. von Sporen-, Nil- und Lappengänſen, Witwen- und Spießenten, Schlangen— halsvögeln, Ibiſſen, Brachvögeln, Ufer-, Strand- und Waſſerläufern und andere mehr, welche eben jenes bunte Vogelband zuſammenſetzen und dem Strome vielleicht noch zu größerem Schmucke gereichen, als die Nimmer— ſatte. Ueber dem Waſſerſpiegel aber fliegen, außer all den genannten, von denen beſtändig einzelne kommen oder gehen, Seeſchwalben und Möwen, Uferſchwalben und Bienenfreſſer auf und ab, und ziehen in höheren Luft— ſchichten die prachtvollen Seeadler ihre Kreiſe. Einzelne Arten dieſer in jeder Beziehung reichhaltigen gefiederten Strombevölkerung mußten den tiefſten Waſſerſtand abwarten, um zur Brut Krokodilwächter. ſchreiten zu können, weil es ihnen während der Stromfülle an Niſtplätzen, wie ſie ſolche ſich wünſchen, gänzlich mangelt. Zu ihnen zählt ein ebenſo ſchmucker und lebhaft gefärbter, als kluger und regſamer Laufvogel, der ſchon den Alten wohlbekannte Krokodilwächter oder Trochilus des Herodot, von welchem dieſer und nach ihm Plinius erzählt, daß er mit dem Krokodile in treuer Freundſchaft lebe. Die Erzählung der Alten iſt keine Fabel, wie man wohl glauben möchte, ſondern von mir als thatſächlich begründet erkannt worden. Der Krokodilwächter, deſſen Bild auf den altägyptiſchen Denkmälern oft dargeſtellt wurde und im hieroglyphiſchen Alphabet das U ausdrückt, lebt auch in Aegypten und Nubien, übt aber heutigestags erſt im Sudan zu Gunſten des Krokodiles das Wächteramt, infolgedeſſen er unter den alten Völkern berühmt wurde. Doch gilt ſein Dienſt nicht Der Urwald Innerafrikas und feine Tierwelt. 169 dem Krokodile allein, ſondern allen Tieren insgemein, welche ſeine Achtſam— keit ſich zu nutze machen wollen. Aufmerkſam und neugierig, erregbar und ſchreiluſtig, auch mit weitſchallender Stimme begabt, eignet er ſich vorzüglich zum Warner aller minder vorſichtigen Geſchöpfe. Seiner Wachſamkeit ent— geht weder das ſich nahende Raubtier, noch ein verdächtig erſcheinender Menſch; ſeine Aufmerkſamkeit wird ſogar durch jedes Segel- oder Ruder— boot gefeſſelt, und er verfehlt nie, ſeiner Erregung durch lautes Geſchrei Ausdruck zu geben. Hierdurch bringt er jedes ungewöhnliche Ereignis zu allgemeiner Kenntnis der dieſelben Plätze oder Aufenthaltsorte mit ihm teilenden Tiere, veranlaßt dieſe, ihrerſeits zu prüfen, ob Gefahr vorhanden iſt oder nicht, und bewirkt ſo in vielen Fällen die Flucht der von ihm ge— warnten. Hierin beſteht ſein Wächteramt. Sein Freundſchaftsverhältnis mit dem Krokodile iſt ſchwerlich ein gegenſeitiges; denn einem Krokodile Freundſchaft zuzutrauen, hieße doch wohl, ihm zu viel zuzumuten. Nicht weil das Kriechtier wohlwollende Gefühle gegen ihn hegt, ſondern weil er es genau kennt und vollkommen richtig beurteilt, behandelt er es, als ob es ein harmloſes Weſen wäre. Mit dem Ungeheuer vertraut von Jugend auf, Bewohner der Sandbänke, auf denen es zu ruhen pflegt, fortwährend um dasſelbe beſchäftigt, geht er mit ihm um, als ob er der Herr, jenes der Diener wäre. Ohne Umſtände betritt er den Rücken des ruhenden Ungetüms, ohne Beſorgnis nähert er ſich dem aufgeſperrten Rachen, um zu unterſuchen, ob hier etwa ein Egel ſich feſtgeſaugt haben oder zwiſchen den Zähnen ein Brocken ſtecken geblieben ſein ſollte, und ohne Bedenken nimmt er den einen wie den anderen weg. Das Krokodil läßt ſich alles dies ruhig gefallen, weil es, ſicherlich erfahrungsmäßig weiß, daß es dem fortwährend achtſamen, behenden und gewandten kleinen Schelme nicht bei— kommen kann. Sah ich den Krokodilwächter doch einmal mit einem Schrei— ſeeadler gleichzeitig von einem Fiſche ſpeiſen, welchen letztgenannter ge— fangen und auf eine Sandbank getragen hatte. Während der Adler, welcher mit beiden Fängen die Beute feſthielt oder auf ihr ſtand, einige Biſſen mit dem Schnabel losbrach, hielt ſich der Schmarotzer an des großen Herren Tafel in beſcheidener Entfernung; ſowie jener aber den Kopf hob, um zu kröpfen, lief er eiligſt herzu, nahm raſch einen vom Adler bereits gelöſten Biſſen und rannte, ſo ſchnell als er gekommen, auf die alte Stelle zurück, um hier den Raub zu verzehren. Nicht weniger überraſchend als ſolche ſelbſtbewußte Dreiſtigkeit iſt auch die Art und Weiſe, wie der Krokodil— wächter ſeine Eier vor unberufenen Blicken zu verbergen weiß. Lange hatte ich nach dem Neſte dieſes Vogels vergeblich geſucht. Wann ſeine 170 Der Urwald Innerafrikas und ſeine Tierwelt. Brutzeit eintrat, lehrte mich die Zergliederung der von mir erlegten Krokodil— wächter; daß er nur auf Sandbänken brüten konnte, bedurfte, wenn ich ſeine Lebensweiſe berückſichtigte, für mich keines Beweiſes. Umſonſt aber ſuchte ich ſeine Lieblingsplätze auf das genaueſte ab: ein Neſt vermochte ich nicht aufzufinden. Endlich bemerkte ich ein Paar, deſſen einer Gatte auf dem Boden ſaß, während der andere um ihn ſich zu ſchaffen machte, nahm das Fernglas vor das Auge und ging den ſitzenden Vogel beſtändig feſthaltend, geradeswegs auf ihn zu. Als ich in ſeine Nähe gekommen war, erhob er ſich, ſcharrte eiligſt Sand auf eine gewiſſe Stelle und lief nun, zwar unter üblichem Geſchrei, aber doch ohne alle Zeichen ſonſtiger Erregung mit dem anderen davon. Ich ließ mich nicht beirren, behielt die Stelle feſt im Auge und langte vor ihr an. Aber auch jetzt noch konnte ich das Neſt nicht entdecken, und erſt als ich eine geringfügige Unebenheit im Sande wahrnahm und hier nachgrub, fielen mir zwei, dem Sande täuſchend ähnlich gefärbte und gezeichnete Eier in die Hand. Hätte die Mutter mehr Zeit gehabt, als ich ihr ließ, ſo würde ich wahrſcheinlich auch die unbedeutende Unebenheit nicht mehr vorgefunden haben. Ein womöglich noch reicheres, jedenfalls mannigfaltigeres Tierleben als am Strome ſelbſt herrſcht um die angegebene Zeit am Ufer und auf dem Spiegel aller Seen und größeren Waſſerlachen inmitten des Waldes, welche entweder von den zuſammenſtrömenden Regengüſſen des Frühlings oder von den Hochfluten des Stromes gefüllt wurden. Ringsum vom Walde umgeben, nicht ſelten ſo dicht umhegt, daß es kaum oder doch nur unter den erheblichſten Schwierigkeiten möglich iſt, bis zu ihnen zu gelangen, innerhalb ihrer Ufer kaum minder reich bewachſen als außerhalb derſelben, ausgedehnte Rohr- und Riedhorſte umſchließend, Papyrus und Lotos noch heutigestages ernährend, bilden dieſe Regenſeen oder Fulat, wie die Ein— geborenen ſie nennen, ebenſo vorzügliche Aufenthaltsorte als Brutſtätten der verſchiedenartigſten Vögel und Tiere überhaupt. Ihre ſichernde Ab— gelegenheit ſagt ſelbſt dem Nilpferde in ſo hohem Grade zu, daß es ſie aufſucht, um in ihnen ſeine Jungen zur Welt zu bringen und ſie während ihrer erſten Kinderzeit, unbeſorgt um Nahrung, welche die Seen ſelbſt bieten, unbeläſtigt auch von gefährlichen Feinden, zu ſäugen, zu pflegen und zu erziehen; ihr dichter, üppiger Uferſaum wie ihre in Sumpf und Bruch übergehenden Buchten ziehen Wildſchweine und Wildbüffel herbei; ihre ſtillen Fluten dienen allen waſſerbedürftigeren Antilopen zu Trinkſtellen. Auf ihren Spiegeln verſammeln ſich Tauſende von Pelikanen, um vor dem Schlafen— gehen auf den benachbarten Hochbäumen noch einen ergiebigen Fiſchzug Der Urwald Innerafrikas und ſeine Tierwelt. 171 zu thun, auf ihnen tauchen während des ganzen Tages Schlangenhalsvögel auf und nieder, ſchwimmen alle hier vorkommenden Gänſe- und Entenarten, finden die aus dem Norden eingewanderten Waſſervögel eine in jeder Be— ziehung zuſagende Winterherberge; ihre Buchten und ſeichten Uferſtellen ge— ſtatten dem Rieſenreiher, wie dem kleinen, zierlichen Buſchreiher mühelos reiche Beute zu gewinnen; ihr ſaftig grüner Uferſaum gewährt zahlloſem Kleingeflügel, der über ihnen ſich erhebende Hochwald verſchiedenen auf Bäumen ruhenden und niſtenden Strand- und Waſſervögeln geſuchte und erwünſchte Herberge. Kein Wunder daher, daß es um ſolche Seen zeitweilig geradezu von Vögeln wimmelt, ſehr erklärlich, daß ſolcher Reichtum an Beute wiederum auch allerlei Feinde herbeizieht. Den kleineren Vögeln folgen Falken und Eulen, den großen Adler und Uhus, den Säugetieren Fuchs und Schakal, Pardel und Löwe nach. Zuweilen geſchieht es, daß ein von der Steppe hereinkommendes Heer der gefräßigen Wanderheuſchrecke auf den friſch— grünen Waldgürtel um ſolchen See fällt und ihn binnen wenigen Tagen gänzlich entlaubt oder doch zu entlauben droht. Dann vermehrt ſich die ſtets großartige Vögelverſammlung noch weſentlich. Von nah und fern erſcheinen Falken und Eulen, Raben und Raken, Frankolin- und Perlhühner, Störche und Ibiſſe, Teichhühner und Enten, um ſich an den Heuſchrecken zu ſättigen. Jeder Vogel, welcher jemals Kerbtiere frißt, nährt ſich zeit— weilig ausſchließlich von den zudringlichen Wandergäſten. Hunderte von Turm- und Rötelfalken, welche ſich gerade jetzt in der Winterherberge be— finden, ſtrömen über dem heimgeſuchten Walde zuſammen, ſtoßen, ſowie einige Heuſchrecken aufſchwärmen, auf ſie herab, ergreifen ſie und verzehren ſie raſch, ohne deshalb ihren Flug zu unterbrechen; Raben, Raken, Nashorn— vögel, Ibiſſe und Störche nehmen ſie von den Zweigen weg und ſchütteln dabei Hunderte ab, welche den unten lauernden Genoſſen und Perlhühnern und Enten zum Opfer fallen; Weihen und Singhabichte umgaukeln die Bäume, auf denen die „entlaubenden“ Kerfe bald die Stelle der früher vorhanden geweſenen Blätter einnehmen; ſelbſt ernſte Marabus und Sattel— ſtörche verſchmähen nicht, ſo geringe, aber freilich maſſenhaft vorhandene Beute aufzunehmen. Solches Getriebe belebt den ohnehin niemals toten Regenſee in anmutigſter Weiſe, und läßt ihn mehr als je als Vereinigungs— punkt der verſchiedenartigſten Tiere erkennen. An ſolchem Regenſee, für den ſammelnden Forſcher eine wahre Schatzkammer des Urwaldes, hatten wir mehrere Tage gejagt, beobachtet, geſammelt, in Bewunderung der großartigen Pflanzen- und einer ihr ent— ſprechenden Tierwelt geſchwelgt, mit Nilpferden uns geneckt, an Krokodilen 172 Der Urwald Innerafrikas und ſeine Tierwelt. unſere Feindſchaft bethätigt, mit einem Worte Jagd- und Forſchungsfreuden in reichſtem Maße genoſſen und darüber alles andere, ſelbſt die Zeit ver— geſſen, in welcher wir lebten. Als aber die Sonne ſich neigte und Gold unter das ſo vielfach verſchiedene Blattgrün des Waldes wob; als das Kreiſchen der Papageien verhallt war und nur noch der täumeriſche Geſang einer Droſſel zu uns herüberklang; als der Seeadler drüben am andern Ufer, welcher eben noch als wundervolle Blüte ſeines grünen Ruheſitzes erſchienen war, ſchlummermüde ſeinen weißen Kopf zwiſchen die Schultern zog; als ſelbſt das Gegurgel einer im nächſten hohen Mimoſenwipfel Schlaf— ſtätten ſuchenden Meerkatzenbande verſtummt war; als die Nacht hereinbrach dämmerungshell und freundlich, kühl und milde, klangreich und duftig wie immer in jetziger Zeit: da wollte aller Farbenreichtum, Glanz und Schimmer der heute und geſtern in unſere Seelen aufgenommenen Bilder erbleichen. Unaufhaltſam flogen unſere Gedanken der teuren Heimat zu, und Heimweh ergriff unſere Herzen im Tiefinnerſten; denn in der Heimat feierte man heute die Chriſtnacht. Wir hatten uns Punſch bereitet und unſere Pfeifen mit dem köſtlichſten Tabak der Erde gefüllt; unſer albaneſiſcher Begleiter ſang ſeine weichen, klangvollen Lieder; die Nacht umſchmeichelte Herz und Sinnen; aber die Gläſer blieben ungeleert; „die Wolken des Rauches nahmen die Wolken der Schwermut nicht mit ſich hinweg“; die Lieder weckten keinen Widerhall in uns, und die Nacht ſchmeichelte vergebens. Sie mußte uns unſer Chriſtgeſchenk bringen, und ſie brachte es! Die Nacht im Urwalde iſt immer erhaben, mag der Himmel über dieſem in flammenden Blitzen aufleuchten, der Donner in ihm widerhallen und Sturm in ihm toben, oder mögen an dem auf weithin dunkeln, ſtern— loſen Gewölbe ferne Sonnen ſtrahlen und weder Blatt noch Halm fich | regen. Wenige Minuten nach Sonnenuntergang umhüllt ſie den Wald. Was am Tage klar hervortrat, wird nunmehr vom Dunkel umſchleiert; was im Sonnenlichte in erfaßlichen Maßen erſchien, vergrößert ſich zum Rieſenhaften. Bekannte Bäume werden zu Trugbildern; die heckenartigen Gebüſche verdichten ſich zu dunkeln Mauern. Der tauſendſtimmige Lärm verſtummt allmählich und für Minuten tritt tiefe Stille ein. Dann beginnt es wiederum ſich zu regen, wird es lebendig auf dem Strome wie im Walde. Hunderte von Cikaden heben ein Klingen an, vergleichbar dem Geläute kleiner unrein geſtimmter Glöckchen, welches aus weiter Ferne ver— nommen wird; Tauſende erwachter Käfer, unter ihnen ſolche von ungewöhn— licher Größe, umſchwirren die blühenden Bäume und rufen ein tönendes Summen hervor: die rechte Begleitung zu jenem Geläute. Fröſche, welche Der Urwald Innerafrikas und ſeine Tierwelt. 173 nur einen einzigen, für ihre geringe Größe überraſchend lauten Ruf aus— ſtoßen, miſchen ſich darein, und ihre den Klängen eines langſam geſchlagenen chineſiſchen Gong vergleichbaren Stimmlaute hallen auf weithin durch den Wald. Eine große Eule begrüßt die Nacht mit dumpf heulendem Geſchrei; ein kleines Käuzchen antwortet mit gellendem Gelächter; ein Ziegenmelker ſpinnt eine und dieſelbe Strophe ſeines ſchnurrend röchelnden Geſanges ab. Vom Strome her erklingt der klägliche Ruf des Nachtvogels der Möwen— familie, eines Scherenſchnabels, welcher, hart über der Oberfläche des Waſſers dahinſtreichend, die Wellen zu durchpflügen begann; auf ſandigen Inſeln und Bänken ertönen der laute, etwas kreiſchende Schrei des Triel oder Dickfußes und tonreiche, klangvolle, geſangähnliche Triller eines Waſſer— läufers oder Regenpfeifers; über dem Röhricht und Geſchilfe des unfernen Regenſees krächzt ein Nachtreiher. Im Dickichte der Gebüſche oder um die Baumkronen leuchten Hunderte von Glühwürmern auf; im Strome zieht eines der rieſigen Krokodile, welches ſchon vor Sonnenuntergang die gegen— überliegende Sandbank verlaſſen und ſeinen ſonnendurchglühten Panzer in den lauen Fluten gekühlt hat, hart unter, zum Teil über der Oberfläche ſchwimmend, lange, im Mondenſchein ſilbern glänzende, im Sterngeflimmer wenigſtens glitzernde Streifen. Ueber die höchſten Baumkronen ſchweben lautloſen Fluges lichtgefärbte Uhus und Eulen; am Uferſaume entlang fliegen mit anmutigen Schwankungen langſchwänzige Nachtſchatten; zwiſchen den Kronen der Bäume beſchreiben Fledermäuſe ihre geknitterten Flug— bahnen; von einem Ufer zum anderen ziehen, manchmal in Scharen, Flug— hunde oder fruchtfreſſende Flattertiere. Und nunmehr iſt auch die Zeit gekommen, in welcher die übrigen Säugetiere des Waldes ſich ermuntern oder doch vernehmen laſſen. Ein Schakal beginnt ſeine wechſelvollen, bald kläglich erſcheinenden, bald erheiternden Weiſen und trägt ſie mit eben— ſoviel Ausdruck als Beharrlichkeit vor; ein Dutzend anderer ſeiner Art ſtimmt augenblicklich ein und ringt in edlem Wettſtreite um des Siegers Kranz; einige Hyänen ſcheinen nur auf dieſe unerreichbaren Vorſänger ge— wartet zu haben, um als vielſtimmiger Chor einzufallen, und heulen und lachen, jammern und jauchzen; ein Pardel grunzt, ein Löwe brüllt da— zwiſchen; ſelbſt das noch im Strome verweilende Nilpferd erhebt brummend ſeine armſelige Stimme. So redet und offenbart ſich die Nacht im Urwalde; ſo beſchäftigte ſie Ohr und Auge auch an jenem mir unvergeßlichen Tage. Käfer und Cikaden, Eulen und Ziegenmelker hatten begonnen: da ſchmetterten grelle, kräftige, dröhnende Laute durch den Wald, als ob Trompeten von un— 174 Der Urwald Innerafrikas und ſeine Tierwelt. kundigem Munde geblaſen würden. Augenblicklich verſtummten die Lieder unſeres Albaneſen, Geſchwätz und Geplauder unſerer Diener und Schiffer, und alle lauſchten wie wir. Noch einmal ſchmetterte und dröhnte es vom an— deren Ufer herüber. „Elfiuhl, el fiuhl!“ riefen die Eingeborenen; „Elefanten, Elefanten!“ jubelten auch wir. Es war das erſte Mal, daß wir die rieſigen Dickhäuter, auf deren Pfaden wir bisher faſt ſtets gewandelt, deren Spuren wir ſo oft verfolgt, vernahmen, belauſchten. Vom jenſeitigen Uferrande herab zum Waſſer ſtiegen gemächlich und ſicher rieſige, im Dämmerlichte der Nacht mit genügender Deutlichkeit wahrnehmbare Geſtalten, um im Strome zu trinken und zu baden. Einer nach dem andern tauchte ſeinen gelenkigen Rüſſel in das Waſſer, um ihn hier zu füllen und dann im weiten Maule oder über Schultern und Rücken zu entleeren, und einer nach dem andern ſtieg zuletzt in den Strom hinab, um in deſſen Fluten ſich zu erfriſchen. Und als ſei jenes ſchmetternde Getön nur ein Weckruf geweſen, ſo laut wurde es jetzt im Walde. Früher als je zuvor erhob der König der Wildnis ſeine Donnerſtimme; ein zweiter und dritter Löwe erwiderten den Königsgruß. Entſetzt ſchrieen die ſchlaftrunkenen Affen auf; angſterfüllt ſchreckten Antilopen. Dann reckte in unmittelbarer Nähe unſeres Bootes ein Nilpferd ſein ungeſchlachtes Haupt über die Oberfläche des Stromes und brummte, als wolle es verſuchen, mit dem Donnergebrüll des Löwen zu wetteifern; ein Leopard wagte ebenfalls, ſich hören zu laſſen; Schakale ſtimmten das wechſelvollſte Lied an, welches wir je von ihnen vernommen, die geſtreiften Hyänen heulten, die gefleckten erhoben ihr hölliſches, Mark und Bein erſchütterndes Gelächter, und unbekümmert um allen Aufruhr, welchen die Herolde und der König des Waldes herauf— beſchworen hatten, fuhren die Fröſche fort, ihren eintönigen Ruf, die Cikaden ihr klingendes Geläute hören zu laſſen. Dies war das „Hoſianna in der Höhe“, welches uns der Ur— wald ſang. Wanderungen der Säugetiere. anderluſt in dem uns verſtändlichen Sinne teilt mit uns kein anderes $ Tier, nicht einmal der Vogel, den wir um die göttliche Gabe der länderdurcheilenden, meerüberbrückenden Schwinge beneiden. Sor— genlos und frei wie der Wanderburſch, welcher auszieht, um fremder Länder Art und Sitte kennen zu lernen, wandert kein Tier; denn mehr noch als wir hängt es an der Scholle, feſter als menſchliches Heimweh binden es Gewohn— heit oder Trägheit an die Stätte ſeiner Geburt. Schickt es ſich an, dieſe Stätte zu verlaſſen, ſo gehorcht es zwingender Notwendigkeit, ſo thut es dies regelmäßig in der Abſicht, kommendem Elende zu entrinnen. Not und Elend aber iſt nur zu häufig das Geſchick, welches die freudloſe Fremde ihm bereitet, und ſo erfährt es kaum anderes als Wanderweh. Dies gilt für die wandernden Fiſche wie für die ziehenden Vögel, insbeſondere aber für diejenigen Säugetiere, welche zeitweilig Wanderungen unternehmen. Wenige unter ihnen thun dieſes mit derſelben Regelmäßig— keit, alle aber thun es aus denſelben Gründen wie Fiſche und Vögel. Sie wandern, um bereits fühlbar gewordenem oder doch drohendem Mangel ſich zu entziehen, und ihre Reiſen erſcheinen daher eher als eine Flucht vor dem Verderben als ein Beſtreben, glücklichere Gefilde zu erreichen. Ich möchte unter den Wanderungen der Säugetiere weder die Aus— flüge, welche zur Erweiterung des Verbreitungsgebietes führen, noch die ge— wöhnlichen Streifzüge, welche der Nahrung halber geſchehen, ſondern einzig und allein jene gemeinſchaftlichen Reiſen verſtanden wiſſen, welche einzelne Säugetiere in regelmäßiger oder unregelmäßiger Folge weit über die Grenzen ihres Heimatsgebietes hinaus, alſo in die Fremde oder zu Oert— lichkeiten gelangen laſſen, auf denen ſie eine ihnen fremdartige Lebensweiſe annehmen müſſen, die ſie, ebenſo wie die Fremde, wieder aufgeben, ſobald 176 Wanderungen der Säugetiere. ihnen dies möglich geworden iſt oder möglich erſcheint. Derartige Reiſen entſprechen noch am meiſten den regelmäßigen Wanderungen der Fiſche und Vögel, und Kenntnis derſelben fördert auch die Kunde, welche wir von jenen beſitzen. g Ausflüge über die Grenzen zeitweiliger Aufenthaltsorte hinaus werden von allen Säugetieren und zwar aus verſchiedenen Beweggründen unter— nommen. Einzelne, insbeſondere alte Männchen, ſind zum Umherſchweifen geneigter als die Weibchen und Jungen derſelben Art, verlaſſen daher oft ohne erkennbare Urſachen ein Wohngebiet, um ein anderes aufzuſuchen; jüngere Männchen geſellig lebender Arten werden von den älteſten Häup— tern des Verbandes geradezu vertrieben und zum Auswandern gezwungen; Mütter mit ihren Kindern durchſtreifen gern die Umgebungen des Geburts— ortes der letzteren; die verſchiedenen Geſchlechter wandern, um ſich zu finden und zu vereinigen. Gelegentlich ſolcher Ausflüge entdeckt das Tier irgendwo einen ihm beſonders zuſagenden Wohnort, ein nahrungsreiches Gebiet, ein ſchützendes Dickicht, eine zum Schlupfwinkel geeignete Höhlung, verbleibt hier längere oder kürzere Zeit und beſiedelt endlich das neue Kanaan. Erfahrene Jäger wiſſen, daß auch ein gänzlich ausgeſchoſſenes Revier früher oder ſpäter von außen her Zuzug erhält und unter gün— ſtigen Umſtänden von neuem bevölkert wird; und alle haben erfahren, daß ein Fuchs- oder Dachsbau, welcher nicht leicht zerſtört werden kann, immer und immer wieder Bewohner findet, ſo unnachſichtliche Verfolgung letztere auch erleiden mögen. Wie bei dem Wilde, auf deſſen Kommen und Gehen oder Erſcheinen und Verſchwinden Tauſende achten, verhält es ſich auch bei anderen Säugetieren, welche minder ſcharf beaufſichtigt werden. Un— unterbrochenes Aus- und Einwandern läßt ſich nicht in Abrede ſtellen. Gerade hierdurch erfolgt, falls nicht die Elemente es verhindern oder der tens und andere Feinde erfolgreich eingreifen, allmählich fortſchreitende Erweiterung des Verbreitungsgebietes einer beſtimmten Art. Unſere Vorfahren teilten ihre Behauſungen bis zu Ende der erſten Hälfte des vorigen Jahrhunderts mit der Hausratte und kannten [die Wanderratte nur vom Hörenſagen, wenn überhaupt. Erſtere war eine Ratte mit vielen, aber doch nicht allen Untugenden ihres Geſchlechtes. Sie bewohnte unſere Hausböden, fraß von unſerem Getreide, unſerem Speck, unſeren Vorräten überhaupt, zernagte Thüren, Dielen und Haus— geräte, polterte des Nachts geſpenſterhaft durch alte Schlöſſer und ſonſtige ſpukbegünſtigende Gebäude, verurſachte manchen Aerger, manchen Schreck, beſtärkte in manchem Gemüte Geſpenſterfurcht und Aberglauben: aber es Wanderungen der Säugetiere. 177 ließ ſich doch wenigſtens mit ihr leben, mindeſtens mit ihr auskommen. Eine tüchtige Hauskatze hielt ſie im Schach, ein geſchickter Kammerjäger wußte ihr zu begegnen. Da erſchien ihre furchtbarſte Feindin, und ihr Stern begann zu erbleichen. Im Jahre 1727 ſah man Scharen von Wanderratten, welche entweder geradeswegs von Indien oder von dort aus über Perſien gekommen ſein mußten, die Wolga überſchwimmen, und Eine Vildente verteidigt ihre Jungen gegen eine Wanderratte. bald erfuhr man, welche Heimſuchung Europa betreffen ſollte. Flüſſen und Kanälen folgend, gelangte die Wanderratte in Dörfer und Städte, nahm, dem Menſchen und der Hauskatze zum Trotz, unſere Wohnungen von unten her ein, erfüllte Keller und Gewölbe, ſtieg nach und nach bis zum Dachboden empor, vertrieb nach langen und unerbittlich geführten Kämpfen ihre Verwandte, machte ſich zur Herrin in unſerem eigenen Hauſe und zeigte uns tauſendfach, was eine Ratte vermag; denn ſie bekundete und bethätigte alle Untugenden ihrer Sippſchaft, ſpottete jeglicher An— ſtrengung von unſerer Seite, ſie zu vertreiben, und behauptete ſiegreich Brehm, Vom Nordpol zum Aequator. 12 178 Wanderungen der Säugetiere. das Feld, welches wir ihr mit Hilfe von Katze und Hund oder mittels Schlageiſen und Falle, Gift und Geſchoß bisher vergeblich ſtreitig zu machen ſuchten. Faſt zu derſelben Zeit, in welcher ſie über die Wolga ſchwamm, im Jahre 1732, erreichte ſie Europa noch auf einem zweiten Wege, indem ſie von Oſtindien aus zu Schiffe nach England reiſte. Nun— mehr begann ſie ihre Weltwanderung. In Oſtpreußen erſchien ſie bereits im Jahre 1750, in Paris drei Jahre ſpäter; Mitteldeutſchland eroberte ſie ſich um das Jahr 1780, ſetzte ſich hier jedoch, wie überall anderswo, zunächſt nur in den Städten feſt und nahm, gleichſam von dieſen aus, erſt nach und nach das flache Land ein. Ihr ſchwer erreichbare, d. h. nicht an Flüſſen gelegene Dörfer beſiedelte ſie erſt in den letzten Jahr— zehnten dieſes Jahrhunderts: in meiner Knabenzeit war ſie in meinem Heimatsdorfe noch unbekannt und die auch hier gegenwärtig von ihr ver: drängte Hausratte in unbeſtrittenem Beſitze der Oertlichkeiten, in denen jetzt ausſchließlich ſie gefunden wird. Zu manchen, einſamen Gehöften ge— langte ſie noch ſpäter, nicht vor der Mitte unſeres Jahrhunderts; aber noch immer ſetzt ſie ihren Siegeslauf fort. Nicht zufrieden, Europa ent— deckt und erobert zu haben, zog ſie, und zwar bereits zu Ende des vorigen Jahrhunderts, zu neuen Fahrten aus. In den von ihr bereits beſiedelten Häfen ſchwamm ſie vom Ufer aus nach den Schiffen, kletterte an Anker— ketten, Tauen und anderen, ihr paſſend erſcheinenden Leitern an Bord, bezog den dunklen, ſchützenden Raum, durchreiſte in den Fahrzeugen alle Meere, landete an allen Küſten und bevölkerte von ihnen aus alle Länder und Inſeln, ſoweit ſolche ihr erwählter Schutzherr oder gezwungener Er— nährer, der geſittete und in feſten Wohnungen hauſende Menſch, in Beſitz genommen. Gegen unſeren Willen haben wir ihr geholfen oder doch ihr es ermöglicht, die großartigſte Gebietserweiterung durchzuführen, welche jemals einem, dem Menſchen nicht unterthanen Säugetiere gelungen iſt. Ein anderes Beiſpiel für derartige Ausflüge bietet der Zieſel, ein im ganzen Oſten Europas und in Weſtſibirien häufiger, zur Familie der Eich— hörnchen und insbeſondere zur Unterfamilie der Murmeltiere zählender, ſchädlicher Nager von der Größe des Hamſters. Albertus Magnus hat ihn in der Nähe von Regensburg beobachtet, woſelbſt er gegenwärtig nicht mehr vorkommt, während er wiederum neuerdings in Schleſien eingewandert iſt. Vor vierzig oder fünfzig Jahren kannte man ihn hier nicht; Ende der vierziger oder Anfang der fünfziger Jahre aber erſchien er, ohne daß man ergründen konnte, woher er gekommen, und nunmehr drang er lang— ſam weiter nach Weſten vor. Auch ſeine Wanderungen begünſtigt mittelbar Wanderungen der Säugetiere. 179 der Menſch, da das Tier, wenn auch nicht an das bebaute Feld gebunden, doch in dieſem die zuſagendſten aller von ihm beſiedelten Wohnſitze findet. Genau dasſelbe gilt für mehrere Mäuſearten, welche mit der Um— wandlung des Bodens zu Feld ſich weiter verbreiten oder ihr Wohn— gebiet vergrößern. Anderſeits ſchmälert der Menſch auch wiederum zu— ſagende Wohnſitze verſchiedener Säugetiere durch Entwaldung, Entſumpfung und ſonſtige Umänderung gewiſſer Strecken und bewirkt dadurch, ſicherlich weit mehr als durch unmittelbare Verfolgung, Auswanderungen der früher auf jenen Strecken ſeßhaft geweſenen Tiere der erſten Klaſſe. Denn auch, für ſie, die Säugetiere, gilt das Grundgeſetz, daß nur geeignete Wohnſtätten trotz des willkürlich und meiſt roh und grauſam eingreifenden Menſchen früher oder ſpäter beſiedelt werden. Von ſolchen Ausflügen laſſen ſich die Streifzüge der Säugetiere, behufs zeitweiliger Verbeſſerung ihrer Lage, wohl unterſcheiden. Sie werden wahrſcheinlich, wenn nicht von allen Arten, ſo doch von einzelnen Gliedern aller Familien der Klaſſe unternommen, währen längere oder kürzere Zeit, führen in mehr oder minder entlegene Gebiete, können daher ſelbſt das Gepräge wirklicher Wanderungen annehmen, enden jedoch nach geraumer Friſt und bringen das wandernde Säugetier endlich wieder zu den urſprüng— lichen Wohnſitzen zurück. Die Abſicht oder die Hoffnung, beſſere Weide, beziehentlich Jagdgründe auszunutzen, eine zufällig ſich darbietende Gelegen— heit, das Leben behaglicher zu geſtalten, rechtzeitig wahrzunehmen, dürfte als ihre hauptſächlichſte Urſache hingeſtellt werden können. Solche Streif— züge finden ſtatt jahraus, jahrein, in allen Gürteln der Breite und Höhe, ſelbſt in Gefilden alſo, welche jederzeit weſentlich dieſelben Bedingungen zum Leben gewähren. Das Säugetier beginnt und vollendet ſie einzeln oder in Trupps, Geſellſchaften und Herden, je nachdem es ſonſt mit ſeines— gleichen zu leben gewohnt iſt, verfolgt dabei oft mit mehr oder weniger Regelmäßigkeit dieſelben Straßen, erſcheint auch wohl annähernd zu der— ſelben Zeit auf beſtimmten Stellen; immer aber ſind es zufällige Umſtände, welche es leiteten und führten. Wenn die Früchte der heiligen Feige und anderer die Tempel der Hindu umgebenden Bäume ihrer Reife ſich nähern, ſehen die Brahmanen, welche Tempel und Bäume pflegen, mit ſalbungsvoller Erbauung der An— kunft ihrer vierbeinigen Götter entgegen. Und nicht vergeblich: denn ſie erſcheinen gewiß und wahrhaftig, die zu Gottheiten erhobenen Weſen, Hulman und Bunder, zwei Affenarten, um die im frommen Wahne für ſie gepflanzten und behüteten Bäume ihrer leckeren Früchte zu entledigen 180 Wanderungen der Säugetiere. und außerdem in benachbarten Gärten und auf nahe gelegenen Feldern zu rauben und zu plündern, ſolange beides lohnt. Und ſie verſchwinden wieder, zur Betrübnis ihrer Verehrer, zur Freude aller übrigen Bewohner Indiens, deren Beſitztum ſie in rückſichtsloſer Weiſe ſchädigten, nachdem ſie hier wie dort in ihrer Weiſe geerntet haben. Wenn im Innern Afrikas die Körner des dortigen Nährgetreides, der Durra oder der Kafferhirſe, ſich härten, ſteigt unter Führung und Leitung eines in allen Lagen des Lebens erfahrenen und geprüften, würdigen und erfindungsreichen Pavians die Herde, welcher er mit dem gerechtfertigten Stolze eines Führers und Stammvaters vorſteht, von dem Gebirge hernieder, um zu unterſuchen, ob Vetter Menſch auch in dieſem Jahre ſo freundlich geweſen, das nährende Korn auszuſäen. Oder es naht gleichzeitig, unter nicht minder ausgezeich— neter Führung, die Meerkatzenbande dem Saume der Waldungen, um den rechten Zeitpunkt zu ergiebiger und ſoviel als möglich ungeſtörter Brand— ſchatzung des Feldes nicht zu verſäumen. Wenn in der Pflanzung des ſüdamerikaniſchen Landwirts die goldene Orange im dunkeln Laube glüht, finden ſich, oft von weither kommend, die Rollaffen ein, um die Frucht mit dem Beſitzer zu teilen. Auch andere Pflanzenfreſſer führt die Hoff— nung, den täglichen Bedarf mit leichterer Mühe zu erwerben, auf Oert— lichkeiten, in Gegenden und Gefilde, welche ſie ſonſt meiden; Kerbtierräuber ziehen den zeitweilig hier oder dort häufiger auftretenden Kerfen nach, und große Raubtiere folgen den pflanzenfreſſenden Arten ihrer Klaſſe, insbeſondere den Herden des Menſchen. Mit dem Wanderhirten der Steppen Afrikas geht der Löwe von Ort zu Ort; an die Sohlen der geſchlagenen, heimwärts flüchtenden Heere Napoleons hefteten ſich die ruſſiſchen Wölfe, den unglücklichen Flüchtlingen bis in das mittlere Deutſchland nachfolgend. Fiſchottern unternehmen Landreiſen, um von einem Flußgebiete in ein anderes zu gelangen; Luchſe und Wölfe durchſtreifen im Winter zuweilen auffallend weite Strecken. Durch derartige Reiſen tritt eine Veränderung oder Verſchiebung der Aufenthaltsorte ein; eine Wanderung im eigent— lichen Sinne des Wortes aber findet gleichwohl nicht ſtatt. Auch iſt es nur in Ausnahmefällen die Not, welche wir als treibende Urſache aller wirklichen Wanderungen anzunehmen haben, vielmehr ein augenblicklich zur Geltung kommendes Verlangen, welches derartige Streifzüge veranlaßt. Anders verhält es ſich mit denjenigen Säugetieren, welche jährlich, mehr oder weniger zu derſelben Zeit, ihren Aufenthaltsort verändern und unter Umſtänden ziemlich weit entlegene Gebiete aufſuchen, von denen aus ſie wiederum zu einer beſtimmten Zeit nach ihren früheren Wohnſitzen Wanderungen der Säugetiere. 181 zurückkehren. Sie wandern; denn fie ergreifen nicht eine zufällige Ge: legenheit, ſondern gehorchen bewußt oder unbewußt zwingender Notwen— digkeit. Grund und Urſache aller wirklichen Wanderungen der Säugetiere iſt in erſter Reihe ein beſtimmt ausgeſprochener, entſchieden ſich geltend machender Wechſel der Jahreszeiten. In Ländern eines ewigen Früh— lings finden eigentliche Wanderungen nicht ſtatt, weil die Notwendigkeit hierzu nicht vorliegt. Der Sommer muß dem Winter gegenüberſtehen, gleichviel, ob letzterer durch Froſt und Schnee oder durch Glut und Dürre regiere; der Mangel muß mit dem Ueberfluſſe wechſeln, wenn das träge Säugetier zum Reiſen, zum Wandern ſich entſchließen ſoll. In kleinem Maßſtabe beobachten wir Wanderungen bei allen Ge— birgstieren. Die Gemſe, der Steinbock, der Alpenhaſe, das Murmeltier wandern mit Beginn der Schneeſchmelze oder doch wenig ſpäter, über Halden und Gletſcher hinwegziehend, zu den Höhen empor, deren jetzt freigelegte Weidegründe reichliche und gedeihliche Nahrung verſprechen, und kehren nach tieferen Lagen des Gebirges zurück, bevor noch der Winter herannaht. Der Bär, von Hauſe aus Allesfreſſer, durch Gewohnheit Räuber, tritt, wenigſtens in den Gebirgen Sibiriens, zu derſelben Zeit eine ähnliche Wanderung an und beendet ſie ebenſo vor Eintritt des Winters; die verſchiedenen Wildkatzen und Wildhunde, welche im Gebirge leben, verfahren nicht anders. Ortsveränderungen ſolcher Art finden auch in den Gebirgen ſüdlicher, ſelbſt im heißen Gürtel belegener Länder ſtatt. In Indien wie in Afrika ſteigen gewiſſe Affenarten zu beſtimmten Zeiten und regelmäßig auf und nieder, ſuchen die Elefanten mit Eintritt des Sommers die Höhen, mit Eintritt des Winters die Tiefen auf; in den Anden Südamerikas flüchten die Guanakos vor dem Schnee in die Thäler, vor der ſommerlichen Glut auf die Rücken der Berge. Das Gebirge ſetzt allen dieſen Wanderungen ziemlich eng bemeſſene Grenzen. Es handelt ſich um Höhenunterſchiede von ein- bis dreitauſend Meter, um Entfer— nungen, welche im Verlaufe weniger Stunden, höchſtens weniger Tage zurückgelegt werden können. Bezeichnend für die Wanderungen iſt jedoch immer ihre Regelmäßigkeit, insbeſondere das genaue Einhalten der Zeit, in welcher ſie erfolgen, nicht minder bezeichnend die übereinſtimmende Wahl der Straßen, auf denen ſie geſchehen. Hügelland und Ebene, Meer und Luft gewähren weiteren Spielraum als das Gebirge, und deshalb laſſen ſich die dort lebenden oder zeitweilig ſich bewegenden Tiere leichter als die im Gebirge hauſenden auf ihren 182 Wanderungen der Säugetiere. Wanderungen verfolgen, beziehentlich als Wandertiere erkennen. In den Tundren Rußlands und Sibiriens tritt das Ren, welches in Skandinavien das Gebirge nicht verläßt, allherbſtlich weite Wanderungen an und kehrt erſt im folgenden Frühjahre nach ſeinen ſommerlichen Wohnſitzen zurück; annähernd um dieſelbe Zeit verläßt es Grönland und zieht, das Eis als Brücke über das Meer benutzend, nach dem Feſtlande von Amerika hin— über, verweilt hier während des ganzen Winters und ſucht erſt im April die Fjelds ſeiner heimatlichen Halbinſel wieder auf. Hier wie dort ſcheint die Sorge wegen des kommenden Winters nicht die einzige Urſache der Wanderung zu ſein, vielmehr gleichzeitig eine im hohen Norden ſehr fühl— bar werdende Plage einen weiteren Beweggrund zu bilden. Denn der kurze Sommer erweckt in jenen Breiten eine zwar an Arten arme, an Einzel— weſen aber unendlich reiche Kerbtierwelt, vor allen anderen eine unbe— ſchreibliche Menge von Stechmücken und Daſſelfliegen, welche nicht allein dem Menſchen, ſondern auch einem Ren das Leben verbittern. Ihnen zu entgehen, verläßt das Tier die moraſtige Tundra, über welcher während des kurzen Sommers ununterbrochen Wolken von Mücken ſchweben, und flüchtet auf die von der Plage minder hart heimgeſuchten Alpenhöhen der Gebirge ſeiner Heimat, welche dann in aller ihnen möglichen Fülle würzige Weide bieten. Vererbte Gewohnheit bewirkt, daß es nicht allein zu der— ſelben Zeit, ſondern auch auf denſelben Wegen wandert, ja förmliche Pfade oder Straßen austritt, welche, deutlich erkennbar, meilenweit durch die Tundra verlaufen und an beſtimmten Stellen Flüſſe und Ströme über— ſetzen. Mit Beginn der Wanderung ſcharen ſich die Renkühe mit ihren Kälbern in Rudel von zehn bis hundert Stück und ziehen den Spießhirſchen und Schmaltieren voraus, denen wiederum die alten Hirſche ſich anſchließen. Ein Trupp folgt unmittelbar hinter dem anderen, ſo daß der Beobachter Tauſende zählen kann, welche an ihm vorübergehen. Alle eilen unauf— haltſam vorwärts, ſchrecken weder vor Quergebirgen noch vor breiten Strömen zurück und gelangen erſt, nachdem ſie die Winterherberge er— reichten, allmählich zur Ruhe. Meuten von Wölfen, Bären und Vielfraße heften ſich an ihre Sohlen und legen ſo ebenfalls einen nicht geringen Teil des Weges zurück. Im Frühjahre, auf dem Rückzuge, wandern die Tiere zwar ungefähr in derſelben Ordnung, aber in viel kleineren Trupps, auch weit gemächlicher und langſamer und ebenſo nicht genau auf denſelben Pfaden, auf denen ſie gekommen waren. Noch weitere Strecken als die Renntiere legen die amerikaniſchen Wiſente oder Biſons, die „Büffel“ der Prärien, zurück. Wie weit dieſelben iſente. ikaniſche W̃ ameri E Wandernd Wanderungen der Säugetiere. 183 Tiere wandern, konnte allerdings noch nicht feſtgeſtellt werden; aber man iſt ihren auf der Wanderſchaft begriffenen Herden von Kanada an bis Mexiko, von Miſſouri bis zum Felſengebirge begegnet und darf wohl an— nehmen, daß eine und dieſelbe Herde ſehr bedeutende Strecken des zwiſchen den angegebenen Grenzen liegenden Landes durchzieht. Man hat dieſe Wiſente im Sommer zerſtreut auf den unendlichen Ebenen der Prärien und im Winter ebenda, aber zu vielen Tauſenden vereinigt, angetroffen; man hat geſehen, wie ſie wanderten, denn man hat ſie auf den von ihnen ausgetretenen Straßen, den ſogenannten „Büffelpfaden“, Hunderte von Meilen weit in mehr oder weniger gerade fortlaufender Richtung durch Ebenen wie über Gebirge verfolgt, indem man ihnen nachzog; man hat ſich durch den Augenſchein überzeugt, daß meilenbreite Ströme kein Hindernis, kaum ein Hemmnis für ſie bildeten, ſie ſich im Gegenteil, einer unauf— haltbaren Lawine gleich, in ſolche Gewäſſer ſtürzten und ſie mit ihrem dunklen Gewimmel förmlich erfüllten; man hat beobachtet, daß die Tiere ſich vereinigen und trennen, die Herden ſich vergrößern und verringern, daß alte, mürriſche, herrſchſüchtige und böswillige Bullen die Gemeinſchaft der übrigen Biſons meiden, vielleicht von den Herden ausgeſtoßen, und ſo, wahrſcheinlich erſt nach langwierigen Kämpfen, gezwungen wurden, bis zum nächſten Sommer einſiedleriſch leben zu müſſen; man hat erkundet, daß ſie im Winter bei reichlichem Schneefalle in Waldungen oder an Ab— hängen von Gebirgen Schutz ſuchten gegen die Unbill der Witterung. Schon vom Juli an beginnen ſie vom Norden aus nach dem Süden zu wandern. Schwache Geſellſchaften, welche bis dahin ein behagliches Sommerleben führten, ſchließen ſich anderen an und treten mit ihnen gemeinjchaftlich die Reiſe an; andere Trupps geſellen ſich der ſich bildenden Herde, und dieſe wächſt und mehrt ſich, je weiter ſie vordringt, bis endlich jene außer— ordentlichen Maſſen entſtanden ſind, welche nunmehr, wie von einem Geiſte beſeelt, wirken und handeln und bis gegen das Frühjahr hin vereinigt bleiben. Nachdem der Winter glücklich überſtanden iſt, löſen ſich, wahr— ſcheinlich genau in umgekehrter Weiſe, in welcher die Sammlung erfolgte, die Heere allmählich wiederum in Herden auf; auch dieſe verteilen ſich mehr und mehr, und ſchließlich bleiben nur noch Geſellſchaften übrig. Dieſe Auf— löſung geſchieht während der Rückwanderung. Auf der Hin- wie auf der Rückreiſe zieht in einer gewiſſen Entfernung, aber mehr oder weniger auf denſelben Pfaden eine Herde hinter der anderen dahin. Beſonders günſtige Oertlichkeiten, mit ſaftigem Graſe beſtandene Niederungen z. B. verurſachen jedoch zuweilen Anſtauungen des lebendigen Stromes. Unter ſolchen Um— 184 Wanderungen der Säugetiere. ſtänden vereinigen ſich geradezu unſchätzbare Scharen von Biſons, ver— weilen tagelang auf einer und derſelben Stelle und brechen erſt dann wiederum auf, wenn alles Gras abgeweidet worden iſt und der Hunger zur Weiterreiſe zwingt. Auch ihren Zügen folgen Wölfe und Bären nach, und über ihnen kreiſen, unheilkündend, Adler und Geier. Ebeuſo wie Nahrungsſorge kann auch Mangel an Trinkwaſſer zu regelmäßigen Wanderungen veranlaſſen. Wenn im Südoſten von Sibirien, insbeſondere in der hohen Gobiſteppe, der Winter herannaht, werden alle Säugetiere, welche nicht Winterſchläfer ſind, durch die eigentümlichen Ver— hältniſſe des gedachten Hochlandes gezwungen, in tiefer gelegenen Gegenden Unterhalt zu ſuchen. Der Winter tritt in dieſem Hochlande Mittelaſiens nicht ſtrenger auf als in den nördlich oder nordöſtlich davon gelegenen Gegenden, iſt aber meiſt ſchneelos und belegt alle Gewäſſer, welche der ohnehin äußerſt geringe Niederſchlag hervorrief und unterhält, mit einer dicken Eisdecke. Sobald nun letztere ſo ſtark wird, daß die in der Gobi hauſenden Tiere ſie nicht zerſchlagen können, ſehen ſie ſich zur Auswanderung gezwungen und ziehen dann nicht allein nach ſüdlichen, ſondern nach nörd— lichen Geländen, welch letztere nur den einen Vorzug haben, reich an Schnee zu ſein; denn dieſer erquickt die lechzende Zunge der Wandertiere leichter und bietet den ſchwachen Hufen weniger Widerſtand als das ſchwer ſchmelzende und zu zertrümmernde Eis. So nur erklärt es ſich, daß die Kropf— antilope, welche die hohe Gobi in zahlreicher Menge bevölkert, ein Land verläßt, welches, mit alleiniger Ausnahme des mangelnden Schnees, be— ziehentlich alſo des verwendbaren Waſſers, dasſelbe bietet wie die Winter— herberge. Nicht der Hunger, ſondern der Durſt treibt ſie in die Fremde. Mit Eintritt des Winters drängt ſich die ohnehin geſellig lebende Antilope in Herden zuſammen, welche viele Tauſende zählen, erfüllt alles tiefer liegende Land rings um ihre heimatliche Hochebene und ſchweift, in einer einzigen Nacht nicht ſelten zehn bis zwölf geographiſche Meilen zurücklegend, oft Hunderte von Meilen über die Grenzen ihres eigentlichen Heimgebietes hinaus. Der Beobachter, welcher ihr folgt, bemerkt dann ihre Spuren all— überall und in ſolcher Menge, daß es den Anſchein gewinnen will, als ob kurz vorher alles gewohnte Maß, jede übliche Anzahl bei weitem über— ſteigende Schafherden vorüber gezogen ſein müßten. Noch ehe die Wanderzeit der Kropfantilope beginnt, regt ſich der Kulan oder Dſchiggetai, mutmaßlich der Stammvater unſeres Pferdes und jedenfalls das ſchönſte, ſtolzeſte Wildpferd der Erde. Die Füllen vom letzten Sommer ſind bis zum Herbſt hin ſoweit erſtarkt, daß ſie eine weite, länger Wanderungen der Säugetiere. 185 währende Reiſe zu ertragen, ſchnelle Märſche auszuhalten und allen Wider— wärtigkeiten und Gefahren einer unſteten Lebensweiſe Trotz zu bieten ver— mögen. Auch die jungen Hengſte, welche das vierte Lebensjahr erfüllt haben, befinden ſich in ihrer Vollkraft, verlaſſen thatenluſtig bereits zu Ende des Septembers ihre Mutterherden und drängen vorwärts. In den alten Hengſten und Stuten endlich regt ſich der Paarungstrieb und damit Unruhe und Wanderluſt. So beginnt das flüchtige, unternehmende Tier ſeine alljähr— lichen Wanderungen bereits viel früher, als der Winter einzieht, ja ehe er ſich noch bemerklich macht; ſeine Reiſen entbehren daher anfänglich auch aller Stetigkeit und Regelmäßigkeit und nehmen mehr das Gepräge abenteuern— der Züge an. In der Abſicht, das bisher auf ihnen laſtende Joch abzu— ſchütteln, welches der Leithengſt und unbeſchränkte Gebieter einer Herde ihnen auferlegte, ſich ſelbſtändig zu machen und ihrerſeits ſich zum Allein— herrſcher aufzuwerfen, verließen die Junghengſte ihre Mutterherden und durchſtreifen nunmehr einzeln die ſandigen Steppen. Alle jüngeren, mann— bar gewordenen, und ebenſo manche der älteren Stuten ſcheinen von den— ſelben Gefühlen beſeelt zu ſein wie der thatendurſtige Junghengſt und verſuchen der Herrſchaft ihres bisherigen Tyrannen zu entrinnen und jenem ſich zu geſellen, um dann ſofort der Botmäßigkeit des jungen Strebers zu verfallen. Aber nicht ohne Kampf erwirbt ſich letzterer einen Stutentrupp, gibt der alte Herrſcher ſeine Rechte auf. Stundenlang ſteht der werbende Junghengſt auf der Spitze eines Hügels oder Bergrückens und blickt ſuchend über das Gefilde. Sein Auge durchirrt die Oede, ſeine gegen den Wind gerichteten Nüſtern ſind weit geöffnet, ſeine Ohren geſpitzt. Kampfbegierig, in geſtrecktem Galopp, ſprengt er jeder Herde, welche naht, jedem Gegner, welcher ſich zeigt, entgegen, und ein wütendes Ringen entbrennt um die Stuten, welche nur dem Sieger ſich geſellen. Solches Kämpfen und Streiten aber bringt Bewegung in die Herden, löſt ſie von dem Gebiete, auf welchem ſie den Sommer verbrachten, und leitet die nunmehr allmählich ſich regeln— den, weiten, fördernden und kaum unterbrochenen Wanderungen ein. Im Verlaufe derſelben, wenn auch nicht vor Beendigung der eben geſchilderten Kämpfe, ſammeln ſich die Kulantrupps ebenfalls zu immer zahlreicher werden— den Herden, bis endlich ſolche, welche mehr als tauſend Stück zählen, ge— meinſchaftlich nahrungsverſprechenden Gefilden zuwandern. Auch auf den Winterſtänden trennen ſich die Wildpferde nicht, ſind daher genötigt, ge— nügender Weide halber, fortwährend umherzuſtreifen. Dröhnend ſchallt der Hufſchlag ihrer vereinigten, in gewohnter Weiſe eilfertig dahinſprengenden Heere, und mehr als einmal ſchon hat er innerhalb des ruſſiſchen Reiches 186 Wanderungen der Säugetiere. die Koſaken der Grenzwachten unter die Waffen gerufen. Kein Wolf wagt es, ſolche Herden anzugreifen: denn die mutigen Hengſte wiſſen ihre Hufe ihm gegenüber ſo gut zu gebrauchen, daß er bald von jedem Angriffe ab— ſteht; höchſtens kranke und ermattete Wildpferde fallen ihm, welcher auch dieſen Wanderzügen folgt, dann und wann zum Opfer. Auch der Menſch richtet unter ihren Beſtänden nicht eben erheblichen Schaden an, weil ihre Vorſicht und Scheu eine Annäherung erſchwert. Trotzdem verhängt der Winter, wenn er beſonders ſchneereich iſt, ſchwere Leiden über ſie. Die ohnehin kärgliche Weide wird um ſo ſchneller verbraucht, je zahlreicher die Herden ſind, welche ſie beanſpruchen. Wahllos äſen die Tiere dann von allen Pflanzenſtoffen, welche ſie finden. Monatelang müſſen ſie mit entblätterten Schößlingen ihr Leben friſten. Feiſte und Rundung des Leibes ſchwinden, zuletzt gleichen ſie wandelnden Gerippen. Selbſt darbend, iſt die Mutter— ſtute nicht mehr im ſtande, das Füllen zu ernähren; denn das milchſpendende Euter verſiegt in der Zeit ſolcher Not. Manch eines, welches in ſo zarter Jugend die harte Koſt noch nicht zu vertragen im ſtande iſt, erliegt dem Mangel. Auch die alten Wildpferde leiden unter der Armut und Tücke des Winters. Tagelang anhaltende Schneeſtürme verwehen die Weide, lähmen ihnen den ſonſt ſo freudigen Mut und ſteigern die Dreiſtigkeit der Wölfe, welche, wenn ſie nicht bereits entkräftete Kulans niederreißen, ſelbſt die noch nicht ermatteten aufs äußerſte beläſtigen und quälen. Sobald aber die Umſtände ſich wieder zum Beſſern wenden, kehrt den wetterge— ſtählten, zähen, ausdauernden Geſchöpfen die alte Lebensfreudigkeit wieder, und ſobald der Schnee zu ſchmelzen beginnt, treten ſie ihre Rückwanderung an, erreichen nach etwa Monatsfriſt die Sommerſtände, trennen ſich hier in die Tabunen oder einzelnen Herden, erholen ſich bei der jetzt üppig emporſproſſenden würzigen Weide in überraſchend kurzer Zeit, runden und feiſten ſich und haben bald Not und Elend des Winters vergeſſen. So erhebliche Strecken alle bisher erwähnten Wanderſäugetiere durch— meſſen: mit denen, welche Robben und Wale zurücklegen, laſſen ſie ſich kaum vergleichen. Das Waſſer begünſtigt alle Bewegungen eines für das— ſelbe geſtalteten Tieres, bietet ihm im weſentlichen überall die gleichen Lebensbedingungen und dieſelben Annehmlichkeiten, geſtattet ihm daher, leichter, mühe- und gefahrloſer als jedes andere Wandertier weite Reiſen auszuführen. Gleichwohl ſetzt es einigermaßen in Erſtaunen, zu erfahren, daß viele Seeſäugetiere, insbeſondere die Wale, zu den wanderluſtigſten aller Geſchöpfe zählen, ja daß viele, vielleicht die meiſten von ihnen, ihr ganzes Leben auf der Wanderung verbringen. Streng genommen hat kein Wanderungen der Säugetiere. 187 Wal einen bleibenden Aufenthalt während des ganzen Jahres, zieht viel— mehr einzeln, paarweiſe, mit ſeinen Jungen oder zu mehr oder weniger zahlreichen Scharen, ſogenannten Schulen, geſellt, ununterbrochen von einer Gegend des Weltmeeres in die andere, manchmal in regelmäßiger Weiſe gewiſſe Lieblingsorte aufſuchend und zwar andere im Sommer als im Winter erwählend. Die Meere, in denen eine und dieſelbe Walart im Sommer _ und im Winter ſich aufhält, liegen oft weiter auseinander, als man ge— wöhnlich anzunehmen ſcheint; denn einige Wale durchwandern jährlich zwei— mal mehr als ein Viertel des Erdenrunds: man begegnet ihnen während des Sommers an den Eisbarren des nördlichen Eismeeres und im Winter nicht ſelten jenſeit des Gleichers. Geſellig in hohem Grade und ihren Jungen mit der zärtlichſten, aufopferndſten Liebe zugethan, verſammeln ſich namentlich die weiblichen Wale zu manchmal erſtaunlich zahlreichen Scharen und ziehen, unter Anführung einiger Männchen, auf beſtimmten Straßen und zu beſtimmten Zeiten durch das weite Meer, die einen auf hoher See, die anderen längs den Küſten ihren Weg verfolgend. Stürme und nicht rechtzeitiges Auftreten gewiſſer Beutetiere, deren Erſcheinen und Verſchwinden offenbar die hauptſächlichſte Urſache der Wanderungen iſt, können die Rich— tung ihres Zuges und ebenſo die Zeit ihres Auftretens einigermaßen be— einfluſſen; im allgemeinen aber geſchieht die Wanderung ſo regelmäßig, daß man an nordiſchen und ſüdlichen Küſten der Ankunft der Wale von beſtimmten Tagen an entgegenſieht und von dieſem Zeitpunkte an Wachen ausſtellt, um ſofort nach jener Ankunft die erſehnten Jagden auf ſie be— ginnen zu können. Durch irgend welche Merkmale, verſtümmelte Floſſen z. B., den Küſtenbewohnern bekannte und mehrmals vergeblich verfolgte Wale haben ſich viele Jahre nacheinander, genau zu derſelben Zeit und an denſelben Orten gezeigt, und Jagden auf dieſe ſo hohen Nutzen ab— werfenden, daher unerbittlich befehdeten Tiere werden hier und da mit der— ſelben Regelmäßigkeit abgehalten wie auf dem Feſtlande Haſenjagden, während man zu anderen Zeiten des Jahres vergeblich nach ihnen aus— ziehen würde. „Nach Heiligendreikönigstag,“ ſagt ſchon der alte Pontoppi— dan, „ſehen die Norweger von allen Bergen nach den Walfiſchen aus, welche ihnen durch die Heringe angezeigt werden.“ Zuerſt erſcheint der Springwal, drei bis vier, höchſtens vierzehn Tage ſpäter der Finnwal, ob— gleich der eine, wie es ſcheint, aus der Davisſtraße, der andere von Grön— land aufbricht. An den ſüdlichen Küſten der Faröerinſeln, und zwar vorzugs— weiſe im Qualben-⸗Fjord, zeigen ſich alljährlich um Michaeli drei bis ſechs Döglinge, heutzutage wie vor einhundertundneunzig Jahren. In einer 188 Wanderungen der Säugetiere. Bucht Schottlands fand ſich zwanzig Jahre nacheinander, immer zu der— ſelben Zeit, ein Finnwal ein, welcher unter dem Namen „Hollie Pyke“ allgemein bekannt war, jedes Jahr verfolgt und endlich erbeutet wurde. An den Küſten Islands wählen einzelne Walfiſche alljährlich dieſelben Buchten zu ihren zeitweiligen, ſtets in dieſelben Monate und Wochen des Jahres fallenden Aufenthalte, ſo daß die Küſtenbewohner ſie als Perſön— lichkeiten kennen gelernt und ebenfalls mit beſonderen Namen belegt haben. Gewiſſe, wohlbekannte Walmütter beſuchen ein Jahr um das andere die— ſelbe Bucht, um hier ihre Jungen zur Welt zu bringen, genießen Schonung, müſſen ihr Leben aber durch das ihrer Jungen, deren man ſich regelmäßig bemächtigt, teuer genug erkaufen. Aeußerſt ſelten nur geſchieht es, daß die wandernden Wale weder Zeit noch Straße einhalten; im allgemeinen ziehen ſie mit ſolcher Regelmäßigkeit durch das weite Weltmeer, als ob ſie ſich nach dem Stande der Geſtirne richteten und auf gebahnten, ſeitlich begrenzten Straßen bewegten. Kein anderes Säugetier wandert regel— mäßiger als ſie, deren Reiſen ſich geradezu mit dem Zuge der Vögel ver— gleichen laſſen. Wie die Wale unternehmen auch die Robben alljährlich mehr oder minder weite, im ganzen ebenfalls ſehr regelmäßige Wanderungen. Die— jenigen Arten, welche in Binnenmeeren leben, können dieſe freilich nicht verlaſſen, durchſtreifen dieſelben aber doch in alljährlich ſich wiederholender Folge oder ſteigen zu gewiſſen Zeiten in einmündenden Flüſſen empor; alle Arten dagegen, welche im Weltmeere hauſen, treten in jedem Herbſte und Frühling auf beſtimmten Straßen verlaufende und nach beſtimmten Gegenden oder Oertlichkeiten ſich richtende Reiſen an. Alle hochnordiſchen wie den Gewäſſern des Südpols angehörigen Robben werden ſchon durch das im Winter ſich ausbreitende Eis zum Wandern gezwungen und ziehen daher mit dieſem in gemäßigtere Breiten hinab oder mit dem ſchmelzenden Eiſe wiederum gegen die Pole hinauf. Sie aber ſowohl wie alle übrigen Arten ihrer Ordnung werden noch durch einen anderen, nicht minder wich— tigen Grund zu regelmäßigen Reiſen veranlaßt: ſie bedürfen des Feſtlandes oder doch wenigſtens großer, weit umgrenzter, feſtliegender Eisbarren, um ihre Jungen zur Welt zu bringen und ſo lange zu pflegen, bis dieſelben befähigt ſind, ihnen im Meere zu folgen, beziehentlich hier ſich ſelbſt zu er— halten. So erſcheinen denn alljährlich zu derſelben Zeit Tauſende und Hunderttauſende von Robben auf beſtimmten Eilanden oder Eisbänken, be— decken einzelne dieſer Geburtsſtätten ihres Geſchlechts mit ihren Leibern ſo vollſtändig, daß jedes geeignete Plätzchen in Beſitz genommen werden mußte, Wanderungen der Säugetiere. 189 um Raum für alle zu gewinnen, bringen ihre Jungen zur Welt, verweilen wochen-, ſelbſt monatelang auf dem Lande und Eiſe, ohne währenddem zu jagen, ins Meer hinabzuſteigen und Nahrung zu ſich zu nehmen, fäugen ihre Jungen auf, paaren ſich ſodann, löſen allmählich ihre großartigen Verſammlungen wieder auf, verteilen ſich über das weite Meer, um hier fortan in altgewohnter Weiſe zu leben, oder treten mit ihren noch weiterer Flughunde, einen Weeresarm überfliegend. Erziehung bedürftigen Jungen mehr oder minder weit ſich N Jagd— züge, beziehentlich andere Wanderungen an. a Von allen bisher genannten Wanderſäugetkeren zählt kein einziges zu den Winterſchläfern, welche, wohlgeſchützt, in tiefen und jorgfältig nad) außen hin verſchloſſenen Bauen in todähnlichem Schlafe die! ſchlimme Jahreszeit überſtehen, ſomit alſo nicht zum Verlaſſen ihres Wohngebietes gezwungen find. Gleichwohl gibt es auch unter, ihnen, mindeſtens unter denen, welche in den gemäßigten Gürteln leben, einzelne, welche während ihres Wachſeins wandern: Fledermäuſe nämlich. So mangelhaft der Fittich des Flattertieres, verglichen mit der Schwinge des Vogels, uns erſcheinen muß, ſo erheblich begünſtigt er Ortsveränderungen, befähigt daher zu 190 Wanderungen der Säugetiere. Reiſen, welche mit der Größe des ihn regenden Tieres außer allem Ver: hältnis ſtehen. Zudem kommt einer wanderluſtigen Fledermaus noch ein anderweitiger Umſtand zu ſtatten: ſie wird durch ihre Jungen nicht an eine beſtimmte Oertlichkeit gebunden; denn das Junge hängt ſich unmittel— bar nach ſeiner Geburt an die Bruſt der Mutter an und wird von ihr bis zu erreichter Selbſtändigkeit durch die Luft getragen. Dementſprechend gehört die Fledermaus zu den reiſefertigſten aller Säugetiere und macht unter Umſtänden von der ihr gewordenen Vergünſtigung umfaſſenden Ge— brauch. In der Regel ſind die Wanderungen, welche verſchiedene Fleder— mäuſe ausführen, allerdings als Streifzüge zu bezeichnen, welche be— zwecken, zeitweilig beſonders nahrungsreiche Gebiete auszunutzen; ſie können jedoch zu wirklichen Reifen werden und wenigſtens einzelne Arten in weit entlegene Länder führen, entbehren dann auch nicht der Regelmäßigkeit, welche die Wanderungen kennzeichnet. Die größten Flattertiere, welche wir Flughunde nennen, durchmeſſen allabendlich, den Früchten, ihrer Hauptnahrung, zu Gefallen, weite Strecken, ſcheuen ſich aber auch nicht, Meeresarme von zehn geographiſchen Meilen Breite zu überfliegen, müſſen ſogar von Südaſien nach Oſtafrika geflogen ſein oder denſelben Weg in umgekehrter Richtung zurückgelegt haben, da einzelne Arten in beiden Erd— teilen vorkommen; die eigentlichen Fledermäuſe leiſten mindeſtens dasſelbe. Dem in verſchiedenen Höhengürteln zu verſchiedenen Zeiten eintretenden Erwachen der Kerbtiere folgend, ſteigen ſie von der Tiefe zu Gebirgshöhen empor und im Herbſte umgekehrt wieder zur Tiefe hernieder; den viele Fliegen um ſich verſammelnden Viehherden der Wanderhirten Mittelafrikas ziehen ſie nach; aber ſie wandern auch vom Süden nach dem Norden und kehren von hier wieder dorthin zurück oder verfahren umgekehrt. So er— ſcheint die Umberfledermaus erſt mit Beginn der taghellen Nächte im Norden von Skandinavien und Rußland und verläßt dieſe Breiten, welche vielleicht als ihre Heimat gelten dürfen, bereits im Spätſommer wieder, um in unſeren mitteldeutſchen Gebirgen und in den Alpen zu überwintern; ſo ſieht man die Teichfledermaus während des Sommers regelmäßig in den norddeutſchen Ebenen, begegnet ihr aber um dieſe Zeit nur aus— nahmsweiſe in den Gebirgen Mitteldeutſchlands, deren Felſenhöhlen ſie zum Ueberwintern aufſucht. Daß auch andere in Deutſchland lebende Fledermausarten ähnliche Ortsveränderungen vornehmen, kann keinem Zweifel unterliegen. Mit den bisher gegebenen Beiſpielen, welche aus der Menge des vorliegenden Stoffes herausgegriffen wurden, habe ich Belege erbracht für Wanderungen der Säugetiere. 191 diejenigen Wanderungen der Säugetiere, welche wir, weil fie regelmäßig erfolgen, willkürliche nennen dürfen, damit aber meine Aufgabe noch keineswegs erfüllt. Hunger und Durſt, Armut und zeitweilige Unwirtlich— keit eines beſtimmten Wohngebietes treffen einzelne Säugetiere zuweilen ſo hart, daß ſie ſich, gleichſam verzweifelnd, entſchließen, Rettung in flucht— artiger Auswanderung zu ſuchen. Reichliche Nahrung und günſtige Witte— rung befördern die Vermehrung aller Tiere, die verſchiedener pflanzen— freſſenden Säugetiere aber in ſo außergewöhnlicher Weiſe, daß ſelbſt unter erſprießlichen Verhältniſſen das Wohngebiet ausgedehnt werden muß; er— folgt jedoch auf ein oder mehrere fette Jahre, unter Umſtänden auch bloß einige günſtige Monate, plötzlich ein Umſchlag, ſo überſteigt die Not bald alle Grenzen und raubt den betroffenen Tieren nicht allein die Möglichkeit, fernerhin ſich zu ernähren, ſondern auch alle Hoffnung, mindeſtens alle Beſinnung und Ueberlegung. Unter ſolchen Umſtänden verlaſſen bei uns zu Lande die Feld-, in Sibirien die Wurzelmäuſe ihre Geburtsſtätten und ziehen, zu maſſen— haften Scharen geſellt, in andere Gefilde, ſchrecken vor keinem Hemmniſſe zurück, ſcheuen das Waſſer ebenſowenig wie das ihnen unfreundliche Ge— birge, oder den ihnen unheimlichen Wald, kämpfen widerſtandslos mit Hunger und Elend und verfallen rettungslos Krankheiten und Seuchen, welche peſtartig unter ihnen wüten und Beſtände von Millionen auf wenige Hunderte verringern. Unter ſolchen Umſtänden rotten ſich in Sibirien die Eichhörnchen, welche in regelrechten Jahren höchſtens Ausflüge unter— nahmen, zu zahlreichen Heeren zuſammen, eilen in Trupps oder Geſell— ſchaften von Baum zu Baum, in geſchloſſenen Herden von einem Walde zum anderen, überſchwimmen Flüſſe und Ströme, dringen in Dörfer und Städte ein, verlieren zu Tauſenden ihr Leben und laſſen ſich auch durch erſichtliche Todesgefahr weder aufhalten noch zurückſcheuchen, noch auch von ihrem Wege abbringen. Die Sohlen ihrer Füße ſind abgelaufen und ſchrundig, die Nägel abgeſchliffen, die Haare des ſonſt ſo glatten Pelzes geſträubt und verwirrt; ihren Zügen folgen im Walde Luchſe und Zobel, im freien Felde Vielfraße, Füchſe und Wölfe, Adler, Falken, Eulen und Raben; unter ihren Heeren fordern peſtartige Seuchen mehr Opfer noch als Zähne und Klauen der Raubtiere, Geſchoſſe und Knüppel der Menſchen, und dennoch wandern ſie fort und fort, ſcheinbar ohne jegliche Hoffnung auf Rückkehr. Nach mündlichen Mitteilungen eines mir be— freundeten ſibiriſchen Jägers erſchien im Auguſt des Jahres 1869 ein ſolches Eichhornheer inmitten der im Ural gelegenen Stadt Tapilsk. Es 192 Wanderungen der Säugetiere. war nur ein Flügel des wandernden Hauptheeres, deſſen Mitte in einer Entfernung von ungefähr acht Kilometer weiter nördlich durch den Wald zog. Die Tiere folgten ſich einzeln oder in verſchieden ſtarken Geſell— ſchaften, aber ununterbrochen, zogen ebenſo dicht geſchart durch die Stadt wie durch den benachbarten Wald, benutzten die Straßen wie die Zäune und die Dächer der Gebäude als Pfade, erfüllten alle Höfe, drangen durch Fenſter und Thüren in das Innere der Häuſer ein, erregten einen förmlichen Aufruhr unter den Menſchen, einen noch ärgeren unter den Hunden, welche Tauſende von ihnen umbrachten und zuletzt eine bis dahin ungeahnte zügel- und ſchrankenloſe Mordluſt bethätigten, ſchienen aber nicht im geringſten wegen der zahlloſen Opfer, welche unter ihnen fielen, ſich zu ſorgen oder auch nur ſich um ſie zu bekümmern, überhaupt an nichts Anteil zu nehmen und ließen ſich durch kein Mittel aus ihrer Bahn bringen. Drei Tage lang währte der Durchzug vom frühen Morgen bis zum ſpäten Abend, und erſt nach Einbruch der Nacht trat jedesmal eine Unterbrechung des Stromes ein. Alle wanderten genau in derſelben Rich— tung, von Süden nach Norden, und die Nachfolgenden zogen auf den— ſelben Wegen dahin wie die Vorausgegangenen. Die rauſchende Tſchuſſo— weia bildete kein Hindernis; denn alle, welche an das Ufer des ſehr ſchnell ſtrömenden Gebirgsfluſſes gelangten, ſtürzten ſich ohne Beſinnen in die wirbelnden und ſchäumenden Fluten und ſchwammen, tief eingeſenkt, mit auf den Rücken zurückgelegtem Schwanze, ſo eilig als möglich zum jen— ſeitigen Ufer hinüber. Mein Gewährsmann, welcher den Zug mit fort— während ſich ſteigernder Aufmerkſamkeit und Teilnahme verfolgte, begab ſich in einem Boote mitten unter die den Fluß überſetzenden Scharen. Die ermüdeten Schwimmer, denen er ein Ruder zuſtreckte, benutzten dieſes, um an ihm auf das Boot zu klettern, blieben hier auch, anſcheinend ſehr ermattet, ruhig und vertrauensvoll ſitzen, kletterten ſodann, als das Boot neben einem größeren Fahrzeuge anlegte, auf letzteres und verweilten hier, ebenſo unbekümmert wie auf jenem, geraume Zeit, verließen es aber ſo— fort, nachdem es dem Ufer nahe gekommen war, ſprangen auf dieſes und ſetzten ihren Weg ſo gleichmütig fort, als habe es keine Unterbrechung für ſie gegeben. Dieſelben Urſachen müſſen es ſein, welche die Lemminge zu ihren ſeit Jahrhunderten beobachteten Wanderungen zwingen. Jahre nachein— ander gewähren ihnen die Gebirge der Tundren Skandinaviens, Nord— rußlands und des nördlichen Sibiriens behäbigen Aufenthalt und aus— reichende Nahrung: denn die breiten Rücken der Fjelds wie die weiten Wanderungen der Säugetiere. 193 Ebenen dazwiſchen, das Hügelland wie die Niederungen bieten Raum und Unterhalt für Millionen von ihnen; aber nicht in jedem Jahre erfreuen ſie ſich gewohnter Fülle für die ganze Zeit des Sommers. Folgt auf einen ſchneereichen, für ſie, welche unter der weißen Winterdecke ein ge— ſichertes Daſein führen, alſo günſtigen Winter ein zeitiges und warmes, längere Zeit ſich gleichbleibendes Frühjahr, ſo erleidet ihre erſtaunliche Fruchtbarkeit und Vermehrungsfähigkeit keinerlei irgendwie erhebliche Be— ſchränkung, und demgemäß wimmelt die Tundra buchſtäblich von ihnen. Ein ihre Anzahl ins Unberechenbare ſteigernder ſchöner und warmer Sommer beſchleunigt aber auch den Lebenslauf aller Nährpflanzen, und ehe er vergangen, ſind dieſe teilweiſe verdorrt, teilweiſe durch den ge— fräßigen Zahn der an und für ſich unerſättlichen Wühlmäuſe vernichtet worden; Mangel an Nahrung macht ſich geltend und jenes behagliche Leben nimmt ein Ende mit Schrecken. Ihr keckes, dreiſtes Weſen weicht allgemeiner Unruhe, und bald bemächtigt ſich ihrer ſinnloſe Angſt vor der Zukunft. Jetzt rotten ſie ſich und beginnen zu wandern. Derſelbe Trieb regt ſich gleichzeitig in vielen und überträgt ſich auf andere; dem einen geſellen ſich mehrere; aus Herden werden Heere; dieſe ordnen ſich in Reihen, und wie ein rieſelndes Gewäſſer ergießt ſich ein lebendiger Strom von den Höhen herab in die Niederungen. Alle eilen in beſtimmter, jedoch je nach Oertlichkeit und Gelegenheit vielfach wechſelnder Richtung ihres Weges dahin; allgemach bilden ſich lange Züge, in denen ein Lemming ſo dicht auf den anderen folgt, daß er mit ſeinem Kopfe auf dem Rücken des vorhergehenden zu ruhen ſcheint, und unter dem Getrippel der leichten Geſchöpfe graben ſich endlich tiefe, von weitem ſichtbare Pfädchen in den Moosteppich der Tundra. Je länger der Zug währt, um jo mehr ſteigert ſich die Eile der wandernden Lemminge. Gierig fallen ſie über alle Pflanzen auf und am Wege her und verſchlingen, was genießbar iſt; ihrer Menge gegenüber verarmt aber auch ein noch unbeweidetes Gebiet binnen wenigen Stunden, und wenn die vorderſten wirklich noch einige Nahrung finden, bleibt doch für die nachkommenden nichts mehr übrig: der Hunger mehrt ſich von Minute zu Minute und beſchleunigt gleichmäßig den Zug, läßt jegliches Hindernis als überwindlich, jede Gefahr als nichtig erſcheinen und treibt dadurch Millionen in den Tod. Ihnen entgegen— tretenden Menſchen laufen ſie zwiſchen den Beinen durch; Raben und an— deren übermächtigen und räuberiſchen Vögeln bieten ſie trotzig die Stirn; Heuſchober durchnagen, Berge und Felsblöcke überklettern, Flüſſe und Meeresarme, ſelbſt breite Seen oder Meeresbuchten und Fjorde über— Brehm, Vom Nordpol zum Aegquator. 13 194 Wanderungen der Säugetiere. ſchwimmen fie. Ein ähnliches Gefolge wie hinter den wandernden Eich: hörnchen trabt und fliegt hinter ihnen einher: Wölfe und Füchſe, Viel— fraße, Marder und Wieſel, Hunde der Lappen und Samojeden, Adler, Buſſarde und Schneeeulen, Kolkraben und Nebelkrähen feiſten ſich an den unzähligen Opfern, welche ſie dem wogenden Heere mühelos entnehmen, Möwen und allerlei Raubfiſche an denen, welche die Gewäſſer fordern; Seuchen und Krankheiten bleiben ebenſowenig aus und raffen vielleicht noch mehr von ihnen hin, als alle Feinde zuſammengenommen vertilgen können. Tauſende ihrer Leichen bleiben verfaulend am Wege liegen, Tauſende treiben die Wellen mit ſich fort: ob ihrer überhaupt übrig bleiben und ob dieſe ſpäter nach ihren wohnlichen Alphöhen zurückkehren, oder ob ſchließlich alle, alle, welche auszogen, auf der Wanderung zu Grunde gehen, vermag niemand zu beſtimmen; wohl aber kann ich ſagen, daß ich weite Strecken der lappländiſchen Tundra durchzogen habe, in denen faſt allerorten Gangſtraßen und ſonſtige Ueberbleibſel wandernder Lemmingheere, aber nicht ein einziges der Tiere ſelbſt mehr zu ſehen war. Derartige Strecken bleiben, wie man mir mitteilte, oft mehrere Jahre nacheinander, wie ich ſie geſehen, und bevölkern ſich erſt nach Ablauf langer Friſten allmählich wieder mit den kleinen, geſchäftigen Nagern. Was im Norden der Hunger bewirkt, verurſacht in dem reicheren Süden der quälende Durſt. Wenn unter der ſengenden Hitze des ſüd— afrikaniſchen Winters die brackigen Waſſertümpel, welche bis dahin Tiger— pferden, Antilopen, Büffeln, Straußen und anderen an den Boden ge— ketteten Steppentieren Labung gewährten, mehr und mehr verſiegen, ſammeln ſich um diejenigen, welche noch nicht vertrockneten, alle Tiere, denen die Steppe bisher ihre Lebensbedingungen gewährte, und ein reges, überaus lebendiges Treiben entwickelt und geſtaltet ſich um die noch waſſer— haltigen Lachen. Wenn aber auch ſie verdunſten, ſehen die Tiere, welche an ihnen zuſammenſtrömten, ſich gezwungen, auszuwandern, und dann kann es geſchehen, daß ſie von einer ähnlichen Verzweiflung erfaßt und beherrſcht werden wie die vorher geſchilderten Nager, in ähnlicher Weiſe wie Wildpferde und Kropfantilopen der mittelaſiatiſchen Steppen oder die Biſons der nordamerikaniſchen Prairien ſich ſcharen und geraden Weges Hunderte von Meilen durchlaufen, um der Not des Winters zu entrinnen. Die erſten, welche dem ungaſtlich gewordenen Lande den Rücken kehren, ſind auch hier die Wildpferde. Sorglos und ungezwungen ſtreiften bis zum Eintritte der Not die prachtvoll gezeichneten, kräftigen und ſchnellen, wilden und ſelbſtbewußten Kinder der Karru, Zebra, Quagga und Daum, eee spddonD gun ognvascs ‘agıajdaadıy Ts —c „ Wanderungen der Säugetiere. 195 durch ihr weites Gebiet, jede einzelne Herde unter Obhut und Führung eines alten, erfahrenen und kampfgeübten Hengſtes ihre eigenen Wege wählend. Da beginnen die Sorgen der Zeit des Winters. Eine Waſſerlache nach der anderen ſchwindet und immer zahlreicher werden die Herden, welche ſich um die bis zuletzt noch ergiebigen ſammeln. Die gemeinſame Not läßt ſelbſt die raufluſtigſten Hengſte Kampf und Streit vergeſſen. Anſtatt der wenig zahlreichen Tabunen bilden ſich Herden von mehreren hundert Stück, welche fortan gemeinſchaftlich handeln und endlich gemeinſam die winter— liche Gegend verlaſſen, noch bevor deren Mangel die Kräfte geſchwächt, den ſtörriſchen Willen gebrochen hat. Mit Begeiſterung ſchildern Reiſende das großartige Schauſpiel, welche ſolche wandernde Tigerpferdherde ge— währt. Auf weithin vor dem Auge des Beobachters erſtreckt ſich das ſandige Gelände, deſſen rotſchimmernder Grundton nur hie und da durch dunkle Flecken ſonnenverbrannten Graſes unterbrochen, welches nur ſpärlich durch einzelne Beſtände federblätteriger Mimoſen beſchattet und erſt in weiteſter Ferne durch ſcharfe Linien in blauem Dufte ſchwimmender Berge begrenzt wird. Inmitten ſolcher Landſchaft erhebt ſich eine Staubwolke und ſteigt, von keinem Lufthauche geſtört, wie eine Rauchſäule zum blauen Himmel auf. Näher und näher zieht dieſe Wolke heran; endlich werden in ihr ſich bewegende lebende Weſen auf Augenblicke ſichtbar. Vom Dunkel ſich löſend, treten lebhaft gefärbte und ſeltſam gezeichnete Tiere vor das Auge des Beſchauers; in dicht gedrängter Reihe, die Hälſe und Schweife erhoben, Nacken an Nacken mit abenteuerlich geſtalteten Gnus und Straußen, welche ihnen ſich angeſchloſſen, ſprengen ſie vorüber, einem anderen, viel— leicht weit entfernten Weideplage zueilend, und ehe der Beobachter noch recht zur Beſinnung gelangte, iſt das wilde Heer wiederum dem Auge entrückt, in der unabſehbaren Steppe dem Blicke entſchwunden. Nicht immer auf denſelben Pfaden, aber doch meiſt in gleicher Rich— tung ziehen auch die vom Winter vertriebenen Antilopen durch das weite Land. Keine von ihnen tritt zahlreicher und häufiger auf als der Spring— bock, eine der zierlichſten und ſchmuckſten Gazellen, welche wir kennen. Seine ungewöhnliche Schönheit und zaubervolle Beweglichkeit beſtrickt jeden, welcher ihn in der Freiheit beobachtet, wie er bald federnden Ganges da— hinſchreitet, bald ſtilleſtehend ſich äſt, bald in übermütigen Sprüngen ſich tummelt und dabei ſeine höchſte Zierde, einen mähnenartigen, bei ruhigem Gange in einer Längsfalte des Hinterrückens verborgenen, ſchneeweißen Haarbuſch entfaltet. Keine andere Antilope ſchart ſich, wenn die Not zum Wandern zwingt, zu ſo zahlreichen Heeren wie er. Vergeblich bemüht 196 Wanderungen der Säugetiere. ſich auch der wortreichſte Beſchreiber bei dem, welcher einen Spring— bockzug nicht mit eigenem Auge erſchaute, eine annähernd richtige Vor— ſtellung des wunderbaren Schauſpiels hervorzurufen. Seit Wochen ſchon zuſammengedrängt, vielleicht noch immer des erſten Regenguſſes harrend, entſchließt ſich der Springbock endlich dennoch zum Wandern. Hunderte ſeiner Art vereinigen ſich mit anderen Hunderten, Tauſende mit Tauſenden, je drohender der Mangel, je quälender der Durſt wird, je mehr der bereits XV, N TT zurückgelegte Weg ſich verlängert; aus den Scha— ren bilden ſich Herden, aus den Herden Heere, und den die Sonne ver— Springböcke. dunkelnden Heuſchrecken— ſchwärmen vergleichbar ziehen dieſe Heere dahin. In den Ebenen be— decken ſie ganze Geviertmeilen; in den Päſſen zwiſchen den Bergen drängen ſie ſich zu gepreßten Maſſen zuſammen, denen kein anderes Geſchöpf Widerſtand zu leiſten vermag; durch die Niederungen fluten fie wie ein ſeine Ufer überſchwemmender, alles mit ſich dahinwälzender Strom. Sinn— verwirrend, auch den nüchternſten Menſchen berauſchend und bethörend, wogt das Gewimmel vorüber, ſtunden-, zuweilen tagelang. Wie die ge— fräßigen Wanderheuſchrecken fallen die verſchmachtenden Tiere über Gras und Blätter, Getreide und andere Feldfrüchte her; wo ſie gezogen, bleibt Wanderungen der Säugetiere. 197 kein Halm übrig. Der Menſch, welcher ihnen gegenübertritt, wird im Nu zu Boden geworfen und durch die zwar leichten, aber in tauſendfacher Folge wiederkehrenden Huftritte ſo ſchwer verletzt, daß er froh ſein kann, wenn er mit dem Leben davonkommt; eine im Wege weidende Schafherde wird umzingelt, fortgeriſſen und auf Nimmerwiederſehen entführt; ein Löwe, welcher mühelos Beute zu erwerben gedachte, ſieht ſich gezwungen, das von ihm geſchlagene Opfer zu verlaſſen und mit dem Strome zu treiben. Unabläſſig drängen die hinterſten vorwärts, weichen die vorderſten langſam dem Drucke; beſtändig ſuchen die in der Mitte eingepferchten Scharen die Flügel zu erreichen und fortdauernd begegnen ſie dem zäheſten Widerſtande. Ueber der Staubwolke, welche die wandernden Maſſen er— regen, kreiſen die Geier; den Flügeln wie dem Nachtrabe des Heeres ſchließt ſich ein zahlreiches, aus den verſchiedenſten Raubtieren gebildetes Leichen— gefolge an; an Päſſen lauern Jäger und Schützen und entſenden Kugel auf Kugel in das Gewimmel. So ſchwärmen die gequälten Tiere durch viele Meilen, bis endlich der Frühling eintritt und ihre Heere auflöſt. Soll ich nach dieſem noch anderer unfreiwilligen Wanderungen ge— denken, ſolcher, wie ſie Eisfüchſe und Eisbären zuweilen auszuführen ge— zwungen werden, wenn eine Scholle, auf welcher ſie jagten, gelöſt und von den Meereswogen fortgeriſſen wird, bis ſie im günſtigſten Falle an einer Inſel landet? Ich meine nicht: denn ſolches Reiſen iſt nicht Wan— dern mehr, ſondern nur noch ein Treiben mit den Wellen. Liebe und Che der Vögel. nwiderſtehlich, als zwingendes Naturgeſetz, bewegt alle lebenden Weſen der Trieb, das andere Geſchlecht derſelben Art an ſich zu ‘9 feſſeln, ein zweites Sein mit dem eigenen zu einen, durch willen: loſe Hingabe gleiche Gefühle zu wecken und ſo das innigſte Band zu ſchließen, welches Weſen an Weſen, Leben an Leben kettet. Keine Macht iſt ſo gewaltig, daß ſie dieſes Geſetz aufheben könnte, kein Gebot ſo be— ſtimmend, daß es dasſelbe zu beeinfluſſen vermöchte. Unaufhaltſam beſeitigt es jedes Hemmnis und ſiegreich ringt es zum Ziele. Liebe nennen wir die allmächtige Gewalt, durch welche dieſes Geſetz regiert, wenn wir von ihrem Einfluſſe auf Menſchen ſprechen; als Trieb bezeichnen wir ſie, wenn wir von ihrer Wirkung auf Tiere reden. Ein Spiel mit Worten iſt es, welches wir treiben, nichts anderes: es ſei denn, daß wir beabſichtigen, erſterem Worte ausdrücklich die Bedeutung beizu— legen, daß jeder Naturtrieb im Menſchen durch dieſen ſelbſt veredelt, ver— ſittlicht werden ſoll. Fällt dieſe Vorausſetzung, ſo wird es ſchwer, zwiſchen der einen und dem anderen zu unterſcheiden. Menſch und Tier ſind demſelben Geſetze unterthan; aber das Tier unterwirft ſich ihm gehor— ſamer als jener. Es erwägt nicht, bedenkt nicht, ſondern gibt ſich wider— ſtandslos ſeinem Einfluſſe hin, während der Menſch nicht ſelten wähnt, demſelben ſich entziehen zu können. Derjenige freilich, welcher von vornherein die Zuſtändigkeit des kenſchen zum Tierreiche in Abrede zu ſtellen wagt, ſieht in dem Tiere nichts anderes als eine lebendige Maſchine, welche von außer ihr wirken— den Kräften bewegt und geleitet, zum Handeln angeregt, zum Werben um die Gunſt des anderen Geſchlechtes ſeiner Art veranlaßt, zum Jubelgeſang angetrieben, zum Kampfe mit Nebenbuhlern angereizt wird, und ſpricht Liebe und Ehe der Vögel. 199 ſolcher Maſchine erklärlicherweiſe jegliche Freiheit und Willkür, jeden Kampf ſich widerſtrebender Stimmungen, jedes Gemüts- und Verſtandesleben rundweg ab. Ohne ſich ſelbſt zu erheben, drückt er dadurch, daß er alle und jede geiſtige Thätigkeit oder doch alle geiſtige Freiheit ausſchließlich für ſich in Anſpruch nimmt, das Tier zu einem Aftergebilde ſeiner hohlen Eitelkeit herab, welches eher ein Schein- als ein wirkliches Leben führt und jeglicher Freude des Daſeins entbehren muß. Wir urteilen anders und jedenfalls richtiger, unzweifelhaft aber ge— rechter, wenn wir das Gegenteil annehmen; wir urteilen vielleicht nicht einmal zu ſcharf, wenn wir behaupten, daß derjenige, welcher dem Tiere Verſtand abſpricht, um ſeinen eigenen Sorge wachruft, oder daß der, welcher jegliches Gefühlsleben des Tieres leugnet, überhaupt nicht erkannt hat, was Gefühlsleben iſt. Wer unbefangen beobachtet, wird früher oder ſpäter zu der Erkenntnis gelangen müſſen, daß die geiſtige Thätigkeit aller tieri— ſchen Weſen, ſo verſchiedenartig ſie ſich auch äußern möge, auf denſelben Geſetzen beruht, und daß jedes Tier, innerhalb des ihm beſchiedenen Lebenskreiſes und unter denſelben Umſtänden, ähnlich denkt, fühlt und handelt wie das andere, nicht aber, im Gegenſatze zum Menſchen, nach ſogenannten höheren Geſetzen zu ganz beſtimmten Lebensäußerungen ver— anlaßt wird. Geſetze darf man die Urſachen der Handlungen der Tiere vielleicht nennen, dann aber nimmermehr vergeſſen, daß auch der Menſch denſelben unterworfen iſt. Sein Geiſt vermag wohl einzelne dieſer Natur— geſetze dienſtbar zu machen, andere zu beeinfluſſen, zeitweilig vielleicht ſogar zu umgehen, nimmermehr aber ſie zu brechen, zu vernichten. Ich will verſuchen, den Beweis für die Richtigkeit meiner Behaup— tungen zu erbringen, indem ich durch ein Beiſpiel erläutere, wie gleich— artig im weſentlichen die Lebensäußerungen des Menſchen und der Tiere ſein können; wie gleichmäßig zwingend das wichtigſte aller Naturgeſetze, welches Erhaltung der Art bezweckt oder zur Folge hat, auf jenen und dieſe einwirkt. Menſch und Vogel: welch weite Kluft liegt zwiſchen ihnen, zwiſchen beider Leben; wie groß ſind die Unterſchiede zwiſchen beider Thun und Handeln! Gibt es eine Macht, jene Kluft zu überbrücken; ſind Ver— hältniſſe denkbar, welche beide zu weſentlich gleichen Lebensäußerungen ver— anlaſſen können? Wir wollen dies unterſuchen. Rückhaltsloſer als der Menſch unterwerfen ſich die Vögel dem Wechſel der Jahreszeiten. „Sie ſäen nicht, ſie ernten nicht, ſie ſammeln nicht in ihre Scheuern“ und müſſen daher wohl oder übel jenen ſich an— bequemen, wenn ſie ernährt ſein, wenn ſie leben wollen. Daher erblühen 200 Liebe und Ehe der Vögel. ſie im Frühjahre, bringen im Sommer Frucht, bergen dieſe und ſich ſelbſt im Herbſte und ruhen im Winter wie die mütterliche Erde. Ihre Lebensäußerungen ſind an die verſchiedenen Abſchnitte des Jahres ge— bunden. In dieſer Beziehung beherrſcht ſie in der That ein eiſernes Geſetz, dem gegenüber jegliche Freiheit, jede Willkür undenkbar iſt. Wohin aber ſollte jene, ſollte dieſe führen als zu Mangel und Not, Gefährdung des eigenen Lebens und des ihrer Jungen? Sie beugen ſich alſo fügſam dieſem Geſetze und genießen nunmehr eine Freiheit, um welche wir Men— ſchen ſie beneiden könnten und beneiden würden, wären wir nicht im ſtande, uns dem Einfluſſe der Jahreszeiten mehr zu entziehen als ſie. Aber erblühen nicht auch wir im Frühlinge, und ruhen nicht auch wir im Winter? Und müſſen nicht auch wir eiſerner Notwendigkeit uns beugen? Sind die Vögel in gedachter Hinſicht gebunden, ſo bewahren ſie ſich doch in anderer Freiheit und Willkür, üben beide ſogar oft freudiger und ungehemmter als der Menſch. Kein Vogel entſagt freiwillig den Freuden der Liebe; nur ihrer wenige entziehen ſich den Banden der Ehe; jeder aber ſucht Liebe ſobald als möglich zu erlangen und zu genießen. Noch bevor er ſein Jugendkleid abgelegt hat, erkennt und würdigt er den Unterſchied der Geſchlechter; ſchon viel früher kämpft das junge Männchen, gleichſam in knabenhaftem Uebermute, mit ſeinesgleichen; ſobald es erwachſen iſt, wirbt es mit Glut und Beharrlichkeit um die Gunſt eines Weibchens ſeiner Art. Kein Vogel— männchen verdammt ſich ſelbſt zum Hageſtolze, kein Vogelweibchen ver— ſchließt würdiger Werbung ſein Herz. Um des Weibchens willen wandert jenes raſt- und ziellos über Land und Meer; eines würdigen Männchens halber vergißt dieſes erlittenen Schmerz, bedrückende Trauer, wie tief beide auch geweſen ſein mögen; des ihm am würdigſten ſcheinenden Werbers wegen bricht es vielleicht ſogar die Banden der Ehe. Jedes Vogelweibchen gelangt in den Beſitz eines Gatten; nicht jedem Vogelmännchen dagegen wird es leicht, eine Gattin zu erwerben. Denn auch unter Vögeln will ſo hohes Gut geſucht und erſtritten ſein. Durch— ſchnittlich gibt es mehr Männchen als Weibchen; viele ſind daher genötigt, das härteſte Mißgeſchick, welches ſie treffen kann, über ſich ergehen zu laſſen und, mindeſtens zeitweilig, unbeweibt zu leben. Für weitaus die meiſten Vögel iſt das Hageſtolzentum aber nichts anderes als eine Qual, welche von ſich abzuſchütteln ſie mit allen Kräften bemüht ſind. Sie Liebe und Ehe der Vögel. 201 ziehen daher auf Freiersfittichen durch das weite Land, ſpähen fleißig nach einer Gattin aus und werben dreiſt, wo ſie ſolche zu finden wähnen, gleichviel, ob es ſich um ein noch unbemanntes, bemanntes oder verwitwetes Weibchen handelt. Wären ihre Wanderungen erfolglos, ſo würden ſie wahrſcheinlich nicht ſo regelmäßig umherſtreichen, als ſie es thatſächlich thun. Werbend um die Gunſt der Weibchen, erſchöpfen die Männchen alle Mittel, welche ihnen die Natur verliehen hat. Jedwedes von ihnen bringt, je nach Art und Vermögen, ſeine hervorragendſten Gaben zur Geltung; jedes verſucht, von der beſtechendſten Seite ſich zu zeigen, alle ihm eigene Liebenswürdigkeit an den Tag zu legen, zu glänzen, andere ſeines Ge— ſchlechtes zu überbieten. Sein Verlangen ſteigert ſich mit der Hoffnung auf Gewährung; ſeine Liebe berauſcht es, verſetzt es in Verzückung. Je älter es iſt, um ſo auffallender pflegt es ſich zu gebärden, um ſo ſelbſt— bewußter aufzutreten, um ſo ſtürmiſcher nach der Minne Sold zu ringen. Das Sprichwort: „Alter ſchützt vor Thorheit nicht“, wird an ihm zu Schanden; denn das Alter verdammt es nur in den ſeltenſten Fällen zur Schwäche und Unfähigkeit, vermehrt im Gegenteil in der Regel alle ihm beſchiedenen Fähigkeiten und erhöht durch gereifte Erfahrung die Vollkraft, welcher es ſich erfreut. Kein Wunder daher, daß mindeſtens junge Vogel— weibchen ältere Männchen bevorzugen, erklärlich daß dieſe, wenn nicht feuriger, ſo doch zuverſichtlicher werben als jüngere. Die Mittel, durch welche ein Vogelmännchen ſeine Liebe erklärt und ſeine Werbung ausdrückt, ſind ſehr verſchiedenartige, ſtehen jedoch ſelbſt— verſtändlich ſtets im Einklange mit ſeinen hervorragendſten Begabungen. Das eine wirbt mit ſeinem Liede, das andere mit ſeiner Schwinge, dieſes mit dem Schnabel, jenes mit dem Fuße; eines bringt werbend alle Pracht ſeines Geſieders, ein anderes beſondere Schmuckzeichen, ein drittes ſonſt nie geübte Fertigkeiten zur Schau. Ernſte Vögel treiben Spiel und Scherz, würdevolle Narrenſtreiche; ſchweigſame werden geſchwätzig, ruhige beweg— lich, ſanftmütige ſtreitſüchtig, furchtſame kühn, vorſichtige ſorglos: kurz, faſt alle zeigen ſich von einer anderen Seite als ſonſt. Ihr ganzes Weſen erſcheint verändert, weil jede ihrer Bewegungen lebhafter, erregter iſt als ſonſt, weil ihr Gebaren von dem alltäglichen oft in jeder Beziehung ab— weicht, weil thatſächlich ein Rauſch ſie bemeiſtert, welcher alle Spannkraft ihres Seins erhebt und ſtärkt und keinerlei Ermattung merken läßt. Sie entäußern ſich des Schlafes, verringern ihn mindeſtens auf das kleinſte zuläſſige Maß, ohne zu erſchlaffen; ſie ſtrengen wachend alle Kräfte über— mäßig an, ohne zu ermüden. 202 Liebe und Ehe der Vögel. Alle ſtimmbegabten Vögel werben mit klar verſtändlichen Tönen, und ihr Geſang iſt nichts anderes als ein Flehen oder ein Jauchzen der Liebe. Unſeres Dichters Worte: „Willſt du nach den Nachtigallen fragen, Die mit ſeelenvoller Melodie Dich entzückten in des Lenzes Tagen — Nur ſolang ſie liebten, waren ſie!“ enthalten die volle Wahrheit; denn der Geſang der Nachtigall und aller übrigen Vögel, deren Lieder uns erfreuen, beginnt in der That mit dem erſten Regen der Liebe und endet, wenn der Liebesrauſch ver— flogen und durch andere Gefühle, zumal Sorgen, verdrängt worden iſt. Singend zieht der Vogel auf die Brautfahrt; durch Geſang kündet er dem Weibchen ſein Erſcheinen, ſeine Nähe; durch Geſang ladet er es ein, ihm ſich zu geſellen; im feurigſten Geſange drückt er ſein Entzücken aus, wenn er ein Weibchen gefunden; in Geſang kleidet er ſein Begehren, Verlangen, Sehnen und Hoffen; durch Geſang gibt er ſeine Stärke zu erkennen; im Geſange jauchzt er ſein Glück, ſeine Seligkeit zum Himmel; mit Geſang fordert er jedes andere Männchen ſeiner Art, welches ſich erdreiſten ſollte, dieſes Glück zu ſtören. Nur ſolange er vom Rauſche der Liebe begeiſtert wird, ſingt der Vogel mit vollem Feuer, in voller Stärke, und wenn er ſonſt noch ſingen ſollte, gilt ſein Lied ſicherlich nur der Erinnerung an jenen Rauſch, welcher ihn einſtmals beglückte. Wer behauptet, wie dies in Wirklichkeit geſchehen, daß der Vogel ohne alle und jede eigene Teil— nahme ſinge, zu der einen Zeit ſingen müſſe und nicht anders könne, und zu einer anderen Zeit weder ſingen könne noch dürfe, hat den Vogelgeſang nie verſtanden oder niemals verſtehen wollen, ſondern einzig und allein ſeiner Voreingenommenheit kläglichen Ausdruck geliehen. Man beobachte nur unbefangen, und man wird bald wahrnehmen müſſen, wie das Lied des Vogels, obgleich es im weſentlichen dasſelbe bleibt, jeder Gefühls— bewegung ſich anſchließt, wie es, je nach der ihn beherrſchenden Stim— mung, ruhig dahinſtrömt, ſich ſteigert, aufjauchzt und wieder ſich abſchwächt, und wie es Echo weckt in der Bruſt anderer Männchen. Wären jene Worte wahr, ſo würde und müßte jedes Männchen genau ebenſo ſingen wie ein anderes derſelben Art, das ihm gegebene Lied ableiern wie eine Spieldoſe die auf der in ihr ſich bewegenden Walze eingepflöckte Weiſe; keins könnte lernen, abändern, verbeſſern, nach der Meiſterſchaft ringen. Wir erfahren jedoch von all dem das gerade Gegenteil und ſind deshalb überzeugt, daß der Vogel mit vollſtem Bewußtſein ſingt, daß in ſeinem Liebe und Ehe der Vögel. 203 Geſange feine Seele ſich offenbart. Auch er iſt ein Dichter, welcher inner: halb der ihm möglichen Grenzen erfindet, geſtaltet und nach Ausdruck ringt; die Anregung hierzu aber iſt Liebe zum anderen Geſchlecht. Von ihr beherrſcht, ſingt, pfeift und murmelt der Heher, ſchwatzt die Elſter, wandelt der krächzende Rabe ſeine rauhen Laute zu ſanften und weichen Tönen um, läßt ſich der ſonſt ſchweigſame Steißfuß vernehmen, erhebt der Seetaucher ſeinen wilden und dennoch klangvollen Meeresgeſang, taucht die Rohrdommel ihren Schnabel ins Waſſer, um den einzigen ihr zu Gebote ſtehenden Schrei in dumpfes, weitſchallendes Brüllen zu verwan— deln. Gewiß ſingt der Vogel nur zu einer ganz beſtimmten Zeit, aber nicht deshalb, weil er zu einer anderen Zeit nicht ſingen kann, ſondern weil er dann keine Veranlaſſung zum Geſange mehr hat, weil er nicht ſingen will. Er ſchweigt, weil er nicht mehr liebt, nüchterner geſagt, ſo— bald ſeine Paarungszeit vorüber iſt. Die Richtigkeit dieſer Behauptung beweiſt ſchlagend der allbekannte Kuckuck. Dreiviertel des Jahres vergehen, ohne daß er ein einziges Mal ſeinen Ruf erſchallen läßt; da tritt der Früh— ling ein in den Reigen der Jahreszeiten, und nunmehr ruft er von der erſten Tagesſtunde an bis zu der letzten faſt ununterbrochen, ſolange ſeine Paarzeit währt. Aber er verſtummt früher im Süden als im Norden, früher in der Ebene als im Gebirge, durchaus entſprechend dem Brut— geſchäfte ſeiner Pflegeeltern, welche im Süden wie in der Ebene früher zum Neſtbaue ſchreiten und eher die Erziehung ihrer Jungen beendigen, als im Norden oder in der Höhe des Gebirges. Viele Vögel unterſtützen ihre durch Geſang oder doch eigenartige Stimmlaute ausgedrückte Werbung noch beſonders durch gefällige Be— wegungen, gleichviel ob dieſelben mit Hilfe der Schwingen oder mittels der Füße geſchehen, andere durch eigentümliche Stellungen, in denen ſie ſich zeigen oder vor dem Weibchen einherſtolzieren, andere wiederum durch abſonderliche Geräuſche, welche ſie hervorbringen. Während einzelne Falken und die Eulen ihr Verlangen, wenn nicht ausſchließlich ſo doch vorzugsweiſe durch laute Rufe ausdrücken, führen andere Raubvögel vor oder gemeinſchaftlich mit ihren Weibchen prachtvolle Flugſpiele auf, welche bald ein Reigen genannt werden dürfen, bald als Taumel bezeichnet werden müſſen. Adler, Buſſarde, Wander- und Rötel— oder Turmfalken umkreiſen einander ſtundenlang, ſchrauben ſich bis zu ungemeſſenen Höhen empor, üben, offenbar zu gegenſeitiger Luſt und Freude, alle Flugkünſte, deren ſie fähig ſind, ſtoßen von Zeit zu Zeit gellende Schreie aus, ſpiegeln ihr Gefieder im Sonnenlichte und ſchweben 204 Liebe und Ehe der Vögel. endlich langſam zu einer erhabenen Sitzſtelle herab, um hier weiter zu koſen. Milane, welche im weſentlichen ähnlich verfahren, laſſen ſich plötz— lich mit halb angezogenen Fittichen aus ſehr bedeutenden Höhen bis knapp über den Boden oder eine Waſſerfläche herabfallen, beginnen nunmehr, weit ſchneller als ſonſt, gewundene Linien zu beſchreiben, halten ſich eine Zeitlang rüttelnd auf einer und derſelben Stelle oder führen anderweitige wunderliche Bewegungen aus und erheben ſich dann langſam wiederum zu der vorigen Höhe. Feldweihen fliegen längere Zeit anſcheinend gleich— mütig hinter oder neben dem umworbenen Weibchen einher, beginnen ſo— dann dasſelbe zu umkreiſen, führen mit ihm ineinander ſich verſchlingende Ringlinien aus, erheben ſich plötzlich, ſteigen, das Weibchen verlaſſend, den Kopf nach oben gerichtet, faſt ſenkrecht zu bedeutenden Höhen empor, ſteigern währenddeſſen den ſonſt gemächlichen Flug zu unerwartet eilfertigem Dahineilen, überſtürzen ſich jählings, fallen mit beinahe angelegten Flügeln ſteil in die Tiefe hinab, kreiſen in ihr ein-, zwei- oder mehrmal, ſchwin— gen ſich wiederum empor und verfahren wie vorher, bis endlich auch das Weibchen ſich entſchließt, ihrem Beiſpiele zu folgen. Alle genannten über— bietet der im Innern Afrikas lebende Gaukler, ein Weih von Adlergröße und einer der am abſonderlichſten geſtalteten und ſich gebarenden Raub— vögel überhaupt. Sein wundervoller Flug iſt jederzeit geeignet, die Auf— merkſamkeit des Beobachters auf ſich zu lenken, wird aber während der Paarzeit zu einem unvergleichlichen Poſſenſpiele in der Luft, zu einer ſinn— berückenden Gaukelei, welche alle anderen Raubvögeln möglichen Flugkünſte in ſich zu vereinigen ſcheint. Aehnlich wie die werbenden Raubvögel gebaren ſich viele andere, auch ſolche, welche keineswegs zu den ausgezeichneten Fliegern zählen. Daß auch dieſe ihre Schwingen zu Hilfe nehmen, wenn ſie die Liebe eines Weibchens erringen oder ihren Gefühlen über glücklich errungenen Beſitz eines ſolchen Ausdruck geben wollen, erſcheint nach dem eben Mitgeteilten als ſelbſtverſtändlich. Eifrig ſingt die Schwalbe neben dem umworbenen oder erkorenen Weibchen ſitzend ihr allerliebſtes Liedchen; das in ihrem Innern lodernde Hochgefühl iſt jedoch viel zu mächtig, als daß ſie, die Fluggewandte, jo lange als der Geſang währt, auf einer und derſelben Stelle verweilen könnte: ſie fliegt daher auf, ſingt im Fluge weiter und umſchwebt und umkreiſt dabei das Weibchen, welches dem Männchen nachflog. Der Ziegenmelker ſitzt geraume Zeit der Länge nach auf einem Baumaſte, manchmal ziemlich weit von dem Weibchen entfernt, ſpinnt minutenlang ſeine ſchnurrende Strophe ab, erhebt ſich endlich, umfliegt in zierlichen Liebe und Ehe der Vögel. 205 Wendungen und mit den Flügeln klatſchend das Weibchen und ruft ihm dabei ein ſo zartes „Häit“ zu, daß man ſich verwundert, wie ſolche ſanften Laute in der rauhen Kehle überhaupt gebildet werden können. Der Bienen— freſſer, welchem ebenfalls nur eine klangloſe Stimme beſchieden iſt, weilt lange dicht an das Weibchen geſchmiegt auf ſeiner Warte, läßt kaum, oft wirklich nicht, einen Laut hören und ſcheint ſich zu begnügen, mit zärtlichen Blicken ſeiner ſchönen hochroten Augen zu ſprechen; dann aber erglüht auch er, regt jählings ſeine Schwingen, ſteigt hoch auf in die Luft, zieht hier einen Kreis, ſchreit dabei jauchzend auf und kehrt wieder zurück zu ſeinem Weibchen, welches inzwiſchen auf derſelben Stelle ſitzen geblieben iſt. Mitten im eifrigſten Liebesgeſange, möge er von uns Ruckſen, Girren oder Heulen genannt werden, bricht die Taube, gleichſam durch ſich ſelbſt begeiſtert, plötzlich ab, klatſcht einigemal ſcharf und laut mit den Flügeln, klettert hoch empor, breitet ſodann die Schwingen und ſchwebt langſam wieder auf einen Wipfel hernieder, um hier von neuem ſich hören zu laſſen. Baum- und Waſſerpieper, Dorngrasmücken und Gartenſänger ver— fahren genau ebenſo wie die Tauben; die Waldlaubſänger ſtürzen ſich, ohne ihren Geſang zu unterbrechen, von ihrem Hochſitze herab in die Tiefe und erheben ſich von ihr aus wiederum zu einem anderen Aſte, auf welchem ſie ihr Liedchen endigen, um es einige Augenblicke ſpäter von neuem zu beginnen und nochmals durch ſolches Flugſpiel zum Abſchluſſe zu bringen. Grünlinge, Zeiſige und Grauammer taumeln, von Liebe begeiſtert, in ſo wunderlicher Weiſe durch die Luft, als ob ſie ihrer Schwingen nicht mächtig wären; die Lerchen klettern, ihr Liebeslied ſingend, förmlich zum Himmel auf; der Girlitz gebärdet ſich, als ob er von einer Fledermaus gelernt habe. In demſelben Rauſche wie die Genannten befinden ſich alle Vögel, welche durch Tänze ihre Liebe kundgeben. Auch ſie verleugnen während des Tanzes ihre ſonſtigen Gewohnheiten und geraten zuletzt in förmliche Verzückung, welche ſie die Außenwelt mehr oder weniger vergeſſen läßt. Wenige Vögel tanzen ſtumm; die meiſten geben im Gegenteil abſonder— liche Stimmlaute, wie man ſie ſonſt nie zu hören bekommt, zum beſten, und entfalten gleichzeitig ihren vollen Schmuck, bringen damit meiſt ſogar einen Reigen zum Abſchluſſe. Beſonders eifrige Tänzer ſind die Scharrvögel oder Hühner im wei— teſten Umfange. Unſer Haushahn begnügt ſich, ſtolz einher zu ſchreiten, zu krähen und mit den Flügeln zu ſchlagen; ſchon ſeine Hofgenoſſen Pfau und Truthahn leiſten mehr, indem ſie balzen. Weit lebhaftere Tänzer als beide ſind faſt alle Rauhfußhühner und einzelne Faſanen. Wer in grauen— 206 Liebe und Ehe der Vögel. der Morgenſtunde den balzenden Auerhahn beobachtet, wer den kollernden und ſchleifenden Birkhahn belauſcht hat, wer in der Dämmernacht des nordiſchen Frühlings den Moorhahn auf Schneefeldern der Tundra tanzen ſah, wird mir beiſtimmen, wenn ich behaupte, daß eine ſolche Huldigung, wie dieſe Hähne ſie den Hennen darbringen, ebenſo unwiderſtehlich wirken muß wie die unſeres Pfaues, welcher ſeinen ſchönſten Schmuck zu einem Baldachin für ſein umworbenes Weibchen wandelt. Noch eigenartiger als ſie alle gebärden ſich die männlichen Satyrhühner oder Hornfaſanen, in Südoſtaſien lebende, prachtvolle, durch zwei hornartige, lebhaft gefärbte Hautröhren zu beiden Seiten des Oberkopfes und einen in den glühendſten Farben prangenden, dehnbaren Kehllappen ausgezeichnete Scharrvögel. Nachdem der Hahn die Henne mehrmals umkreiſt hat, ohne ihr dabei in erſichtlicher Weiſe Beachtung zu ſchenken, bleibt er auf einer beſtimmten Stelle ſtehen und beginnt ſich zu verneigen. Raſcher und raſcher folgen ſich die Verbeugungen, und langſam dehnen und recken ſich währenddem die Hörner, breitet und ſenkt ſich die Kehlhaut, bis beide dem liebestollen Vogel förmlich um den Kopf fliegen. Jetzt entfaltet und ſtreckt er die Schwingen, rundet und ſenkt er den Schwanz, ſinkt auf die eingebogenen Füße nieder und ſchleift unter Fauchen und Ziſchen die Fittiche auf dem Boden. Da plötzlich endet jegliche Bewegung. Tiefgeſenkt, das Gefieder geſträubt, Fittiche und Schwanz gegen den Boden gedrückt, geſchloſſenen Auges, hörbar atmend, verharrt er eine Weile regungslos in Verzückung. Blendender Glanz ſtrahlt von ſeinen voll entfalteten Schmuckzeichen aus. Jählings aber erhebt er ſich wieder, faucht und ziſcht, zittert, glättet ſein Gefieder, ſcharrt, wirft den Schwanz auf, ſchlägt mit den Flügeln, richtet ſich ruckweiſe zu ſeiner vollen Höhe auf, ſtürzt auf das Weibchen zu und erſcheint vor ihm, ſeinen wilden Lauf urplötzlich hemmend, in olympiſcher Herrlichkeit, bleibt noch einen Augenblick ſtehen, zittert, zuckt, ziſcht und läßt mit einemmal alle Pracht entſchwinden, glättet ſein Gefieder, zieht Hörner und Kehllappen ein und geht, als wäre nichts geſchehen, wiederum ſeinen Geſchäften nach. Zierlichen Schrittes, den Kopf ein wenig geſenkt, Flügel und Schwanz gebreitet, erſtere zitternd bewegend, ſich verneigend, nähernd und entfernend umtrippelt die Stelze ihr erkorenes Weibchen; wie ein leuchtendes Opfer— flämmchen erſcheint der Feuerfink auf der Spitze einer Aehre der Kaffer— hirſe, in welcher er ſamt ſeinem Weibchen Wohnung genommen, bläht ſein Prachtgefieder im Strahle der Sonne und dreht ſich, eifrig ſingend, auf dem gewählten Sitzplatze herum; zärtlich, wie Menſchenkinder, Mund N N) R \ \ \ IN 0 e NN 1 \ u ee Balzender Hornhahn. Liebe und Ehe der Vögel. 207 an Mund, Bruſt an Bruſt gedrückt, führen Tauber und Täubin gemeinſam einen langſamen Reigen; leidenſchaftlich, mit lebhaften Sprüngen, tanzen die Kraniche, nicht minder eifrig, ſogar angeſichts ſcheinbar bewundernder Zuſchauer, die prachtvollen Felſenhühner Mittelamerikas; ſelbſt der Kondor, ein Flugvogel erſten Ranges, welcher noch Tauſende von Metern über den höchſten Gipfeln der Anden durch den Aether zieht, und dem man keine andere Werbung als ſolche mittels der Schwingen zutrauen möchte, läßt ſich herbei ein Tänzchen zu wagen und dreht ſich, mit tiefgeſenktem, bis auf die Bruſt herabgebogenem Kopfe und zu voller Breite entfalteten Fittichen, unter eigentümlich trommelnd murmelnden Lauten, langſam trippelnd um das Weibchen. Wiederum andere Vögel erſetzen den Tanz durch ungeſtümes Auf— und Niederſpringen, Hin- und Herhüpfen im Gezweige und entfalten während— dem die ihnen eigene Pracht: ſo die Paradiesvögel, welche in den Morgen— ſtunden gemeinſchaftlich auf gewiſſen Bäumen ſich einfinden und hier zu Ehren der Weibchen unter gedachten Bewegungen und Zittern mit den Schwingen ihre wundervollen Schmuckfedern ausbreiten. Andere erbauen ſich ſogar beſondere laubenartige Gebäude, verzieren dieſelben mit allerlei farbigen, ſchimmernden und glitzernden Dingen und führen in ihnen Tänze aus. Einige Vögel endlich, welche weder durch ihre Stimme, noch durch Flug: oder Tanzkünſte glänzen können, bedienen ſich ihres Schnabels, um mit ihm eigenartige Geräuſche hervorzubringen. So werben alle Störche, indem ſie beide Hälften ihres Schnabels raſch gegeneinander ſchlagen und dadurch ein Geklapper hervorbringen, welches die ihnen fehlende Stimme erſetzt, ſo alle Spechte, indem ſie mit dem Schnabel ſo raſch gegen einen dürren Wipfel oder Aſt hämmern, daß das Holz in Schwingungen verſetzt wird und ein auf weithin im Walde widerhallendes Trommeln hervorruft. Obgleich nun das Weibchen eine ihm geltende Werbung oder Liebes— erklärung nicht eigentlich mit Sprödigkeit abweiſt, ſchenkt es doch nur im Notfalle wahllos dem erſten beſten Männchen Gehör. Anfänglich lauſcht es anſcheinend höchſt gleichgültig den zärtlichſten Liebesliedern, ſieht es gleich— mütig auf alle Flugſpiele und Tänze, welche ihm zu Ehren dargebracht werden, auf die Entfaltung aller Pracht, welche zu ſeiner Huldigung ge— ſchieht. Meiſt gebärdet es ſich, als gehe es aller Aufwand der berückenden Mittel des Männchens gar nichts an. Gemächlich, ſcheinbar durchaus un— bekümmert um deſſen Thun, geht es ſeinen Tagesgeſchäften, zumal dem Erwerbe ſeiner Nahrung nach. In vielen, jedoch keineswegs in allen 208 Liebe und Ehe der Vögel. Fällen läßt es ſich zwar durch den zu ſeiner Verherrlichung ſtrömenden Geſang, durch den zu ſeinem Preiſe ausgeführten Tanz herbeilocken, be— kundet jedoch durch keine Handlung, durch kein Zeichen willfähriges Ent— gegenkommen. Manche Vogelweibchen, insbeſondere die Hennen aller in Vielehigkeit lebenden Hühner, finden ſich nicht einmal auf den Balzplägen der Hähne ein, obgleich gerade ſie nichts weniger als ſpröde ſind und die balzenden Hähne nicht allzuſelten durch einladende Rufe zu höchſter Glut entflammen. Wird ein Männchen zudringlicher, als dem Weibchen genehm, ſo entzieht ſich dasſelbe jenem durch die Flucht. Dieſe mag vielleicht in den ſeltenſten Fällen ernſthaft gemeint ſein, wird aber gewöhnlich mit Auf— bietung von ſo viel Thatkraft und Beharrlichkeit fortgeſetzt, daß ſich nicht immer beſtimmen läßt, ob ſie ohne alle und jede Nebenabſicht oder nur zum Schein geſchieht. Bezweckt ſie nichts, ſo erzielt ſie doch eins: höchſte Steigerung des Verlangens, äußerſte Anſpannung aller Kräfte und Mittel des werbenden Männchens. Erregter als je, alle und jegliche Rückſichten verſchmähend, nur nach dem einen Ziele ringend, ſtürmt letzteres hinter dem flüchtenden Weibchen einher, als beabſichtige es, Gewähr ſeiner Werbung zu erzwingen; feuriger als jemals ſingt es, lebhafter als bisher balzt, tanzt und ſpielt es, führt es einen Flugreigen aus, ſowie das Weibchen eine Zwiſchenzeit der Ruhe eintreten läßt, und eifriger noch als früher nimmt es die Verfolgung wieder auf, wenn jenes die Flucht von neuem fortſetzt. | Wahrſcheinlich würde jedes Vogelweibchen willfähriger fein, als es in der Regel iſt, wäre das eine Männchen der einzige Bewerber. Infolge der durchſchnittlich vorhandenen Ueberzahl von Männchen aber hat wohl jedes Vogelweibchen das Glück der Wahlfreiheit. Mehrere Männchen, unter Umſtänden ſogar eine erhebliche Anzahl von ihnen, bringen ihm gleichzeitig ihre Huldigung dar und rechtfertigen ſomit ſein Ueberlegen und Küren. Willentlich oder unwillentlich gehorcht es dem Geſetze der Zuchtwahl; unter mehreren ſtrebt es das beſte, kräftigſte, geſündeſte, in jeder Beziehung aus— gezeichnetſte zu erkieſen: es darf wähleriſch ſein. Die Rückwirkung ſeines Auftretens und Gebarens auf die Männchen bethätigt ſich in maßloſer Eiferſucht, welche erklärlicherweiſe andauernde Kämpfe, auch ſolche auf Leben und Tod, zur Folge hat. Jeder Vogel, möge er uns ſo harmlos erſcheinen, als er wolle, iſt im Kampfe ums Liebchen ein Held, und jeder verſteht ſeine ihm verliehenen Waffen, den Schnabel wie die krallen- oder ſporenbewehrten Füße, beziehentlich die zuweilen ebenfalls mit hornigen Stacheln gewaffneten Flügel dem gleich ausgerüſteten Gegner ſo furchtbar 209 Liebe und Ehe der Vögel. Orr zu machen, daß das Ende des Kampfes in vielen Fällen der Tod des einen ft. Je nach Art und Stand des Vogels wird der Kampf in der Luft, auf der Erde, im Gezweige oder im Waſſer ausgefochten. ämpen i K Adler und = _ _ I männchen Kämpfende Buchfinken Falken bekämpfen ihre Gegner mit Klaue und Schnabel in der Luft. Prachtvolle Wendungen, wetteiferndes Aufſte ſſe, zum igen, um eine gew „ Angriffe förderſame Höhe zu gewinnen, pfeilſchnelle Vorſtöße, glänzende Abwehr, gegenſeitiges Verfolgen und mutiges Standhalten kennzeichnen * derartige Zweikämpfe. Wenn es einem der königlichen Recken gelingt, den Nebenbuhler zu packen, ſchlägt auch dieſer dem Gegner die Klauen in die 14 Brehm, Vom Nordpol zum Aequator. 210 Liebe und Ehe der Vögel. Bruſt, und beide ſtürzen nunmehr, unfähig, die Schwingen fürderhin ge— ſchickt zu gebrauchen, wirbelnd aus der Höhe hernieder. Auf dem Boden angelangt, wird das Ringen erklärlicherweiſe abgebrochen; ſobald aber der eine ſich erhebt, folgt ihm auch der andere, und wenige Minuten ſpäter beginnt der Zweikampf von neuem. Ermattet der eine, vielleicht infolge empfangener Wunden, ſo tritt er ſeinen Rückzug an, flieht auch wohl, ingrimmig verfolgt von dem Sieger, eilfertig und ohne noch irgend welchen Widerſtand zu verſuchen über die Grenzen des Reiches, welches das Weibchen ſich erwählt, hinaus und weit davon, gibt jedoch, allen erlittenen Niederlagen zum Trotze, den Streit nicht früher auf, als bis das Weibchen beſtimmt für den Sieger ſich entſchieden hat. Ein tödlicher Ausgang ſolcher Zweikämpfe kommt, wenn auch ſelten, ſo doch zuweilen vor; denn der Adler, deſſen Eiferſucht durch Liebe und Ehre gereizt wurde, kennt keine Gnade dem Beſiegten gegenüber und mordet den kampf- und flucht— unfähig gemordehen Gegner ohne Schonung. Töten doch ſogar Turm ſegler, anſcheinend äußerſt harmloſe Geſellen, ihren Nebenbuhler, indem ſie, ganz ebenſo wie Adler oder Falken kämpfend, demſelben ihre ſcharfen Krallen in die Bruſt ſchlagen und dieſe ſo zerfleiſchen, daß nicht allzuſelten der Tod des Verwundeten eintritt. Bei allen ſtimmbegabten Vögeln geht dem Kampfe eine förmliche Herausforderung voraus. Schon das Lied des Singvogels wird zur Waffe, mit welcher, wenn auch unblutig, gekämpft und geſiegt werden kann; der Paarungsruf, welcher ſo recht eigentlich die Werbung ausdrückt, entflammt ſtets zur Eiferſucht. Wer den Kuckucksruf nachzuahmen verſteht, lockt den ſonſt ſehr vorſichtigen Gauch bis auf den Baum, unter welchem er ſich angeſtellt hat; wer den verſchlungenen Pfiff des Pirols, das Ruckſen der Wild⸗, das Girren der Turteltauben, das Trommeln der Spechte, mit einem Worte den werbenden Sang oder Klang irgend eines Vogels täuſchend wiederzugeben im ſtande iſt, erzielt annähernd dasſelbe. Hat ſich ein Nebenbuhler eingefunden, ſo gibt er ſeine Ankunft zunächſt ebenfalls durch Rufen oder Singen kund; bald aber geht er zu Thätlichkeiten über, und nunmehr entbrennt zwiſchen ihm und feinem Gegner ein ebenſo heftiger Zweikampf wie zwiſchen den früher genannten. Im Tiefinnerſten ergrimmt, rufend, ſchreiend, kreiſchend, jagt einer hinter dem anderen einher, gleich— viel ob beider Weg durch höhere oder niedere Luftſchichten, durch Baum— wipfel oder Gebüſche führe, und wie bei Verfolgung des Weibchens reizt einer der Nebenbuhler den anderen noch während ſolcher Jagd durch heraus— fordernde Stimmlaute, ſelbſt Geſang, Entfaltung der Schmuckzeichen und Liebe und Ehe der Vögel. 211 ähnliche höhnende Gebärden zur höchſten Wut. Erreicht der Verfolger den vor ihm flüchtenden Gegner, ſo ſtößt er mit dem Schnabel nach ihm, daß die Federn ſtieben; läßt er von ihm ab, ſo wendet ſich der Verfolgte im Nu, um nunmehr ſeinerſeits zum Angriffe überzugehen; halten beide ſtand, ſo zauſen ſie ſich tüchtig, gleichviel ob in der Luft, im Gezweige oder auf dem Boden. Die endliche Entſcheidung des Kampfes führt auch unter ihnen das für einen von beiden ſich erklärende Weibchen herbei. Erdvögel kämpfen ſtets auf dem Boden, Schwimmvögel nur auf dem Waſſer. Wie ernſthaft Hühner ſtreiten, weiß jeder, welcher zwei Hähne miteinander ringen ſah. Auch bei ihren Zweikämpfen handelt es ſich um Tod und Leben, obſchon ein tödlicher Ausgang gewöhnlich nur dann vor— kommt, wenn die Roheit des Menſchen die natürlichen Waffen geſchärft, die Schutzmittel geſchwächt hat. Nebenbuhleriſch kämpfende Strauße ge— brauchen ebenfalls ihre kräftigen Beine und reißen, nach vorn ausſchlagend, mit ihren ſtarken und ſcharfen Zehennägeln dem Gegne tiefe Wunden in Bruſt, Leib und Schenkel; eiferſüchtig erregte Trappen bedienen ſich, nach— dem ſie vorher mit aufgeblaſenem Kehlſacke, verdrehten Flügeln und zum Rad geſchlagenem Schwanze unter knurrendem Fauchen lange Zeit ſich herausgefordert haben, ihres Schnabels mit erheblichem Nachdrucke; Strand— läufer und andere Strandvögel, insbeſondere die um alles und jedes, um das Weibchen wie um die Fliege, um Sonne und Licht wie um den Platz und Stand fechtenden Kampfſtrandläufer, rennen mit ihrem Schnabel wie mit eingelegter Lanze gegeneinander an und fangen die Stöße in ihren, bei den Kampfläufern zu einem förmlichen Schilde entwickelten Bruſtfedern auf; Teichhühner laufen auf der ſchwankenden Decke ſchwimmender Waſſer— pflanzen aufeinander los und prügeln ſich mit den Beinen gegenſeitig ab; Schwäne, Gänſe und Enten verfolgen einander ſo lange, bis es einem Kämpen gelingt, den anderen beim Schopfe zu packen und ſo lange unter das Waſſer zu tauchen, daß er Gefahr läuft, zu erſticken, mindeſtens viel- zu ſehr geſchwächt wird, um den Kampf ſofort wieder aufnehmen zu können; die Schwäne verwenden auch wohl wie Sporenflügler die am Buge des Flügels ſitzenden harten und ſpitzigen, aus Hornmaſſe beſtehen— den Dornen ihrer Fittiche, um damit empfindliche Schläge auszuteilen. Das Weibchen nimmt, ſo lange es ſich noch nicht für ein Männchen entſchieden hat, an ſolchen nebenbuhleriſchen Kämpfen keinerlei Anteil, ſcheint ſich nicht einmal für ſie zu erwärmen, beachtet ſie aber doch wohl mit voller Aufmerkſamkeit, da es ſich in der Regel für den Sieger erklärt, deſſen Bewerbungen mindeſtens ſich gefallen läßt. In welcher Weiſe ſeine 212 Liebe und Ehe der Vögel. Erklärung oder Entſcheidung erfolgt, weiß ich nicht zu ſagen, vermag ich nicht einmal zu vermuten. Noch während die geſchilderten Kämpfe fort— lodern, hat es gewählt, und von dieſem Augenblicke an gibt es ſich dem bevorzugten Männchen ohne Rückhalt hin, folgt ihm ebenſo oft, als es ihm vorangeht, nimmt mit erſichtlichem Vergnügen deſſen Liebeserklärungen an und erwidert mit ſelbſtvergeſſender Zärtlichkeit deſſen Liebkoſungen. Sehnſüchtig ruft es nach ihm, jubelnd begrüßt es dasſelbe, widerſtandslos fügt es ſich ſeinen Wünſchen oder Handlungen. Leib an Leib geſchmiegt ſitzen gepaarte Papageien nebeneinander, und ob ihrer Hunderte auf einem und demſelben Baume ſich niedergelaſſen haben ſollten; vollkommenſte Uebereinſtimmung macht ſich bemerklich zwiſchen beider Thun; nur ein Wille ſcheint beide zu beſeelen. Nimmt der Gatte Nahrung auf, ſo thut es auch die Gattin; ſucht jener ein anderes Plätzchen, ſo folgt ihm dieſe; ſchreit das Männchen auf, ſo ſtimmt das Weibchen ein. Liebkoſend neſtelt eines dem anderen im Gefieder, und willig bietet der leidende Teil dem handelnden Kopf und Nacken, um derartige Beweiſe der Zärtlichkeit zu empfangen. Wenn auch nicht immer in ſo erſichtlicher, ſo doch in ebenſo hingebender Weiſe empfängt und erwidert jedes Vogelweibchen ihm ge— ſpendete Liebkoſungen. Es kennt weder Stimmungen noch Launen, welche verletzen, weder Schmollen noch Zürnen, weder Schelten noch Keifen, weder Mißvergnügen noch Unzufriedenheit, ſondern nur Liebe, Zärtlichkeit und Hingebung, der Gatte aber nur Glück und Seligkeit im Bewußtſein des errungenen Beſitzes und das Verlangen, jene wie dieſe zu erhalten. Ebenſo wie er anordnet oder doch beſtimmt, fügt er ſich den Wünſchen des Weib— chens: wenn dieſes ſich erhebt, verläßt auch er ſeinen Sitzplatz; wenn es der Heimat entwandert, begleitet er es in die Fremde; wenn es ſich heim— wärts wendet, kehrt auch er zum Lande ſeiner Kindheit zurück. Kein Wunder daher, daß die Ehe der Vögel eine glückliche und untadelhafte iſt. Mögen die für die ganze Lebenszeit verbundenen Gatten altern: ihre Liebe altert nicht mit ihnen, ſondern bleibt ewig jung und ſchöpft in jedem Früh— jahre neues Oel, die Flamme zu nähren; die gegenſeitige Zärtlichkeit ver— mindert ſich auch während der längſten Ehe nicht. Getreulich übernehmen bei den notwendigen Geſchäften des Haushaltes zur Zeit des Neſtbaues, der Bebrütung der Eier und der Erziehung der Kinder beide Gatten ihren Anteil; mit Selbſtaufopferung unterſtützt das Männchen ſein Weibchen in allen Mühewaltungen, welche dieſem die Kinder verurſachen; mutig tritt er für deſſen Sicherheit ein; ohne Bedenken gibt es ſich augenſcheinlichen Gefahren, ſelbſt dem Tode preis, wenn es gilt, jenes zu retten. Kurz, Liebe und Ehe der Bögel. 213 beide teilen von dem Augenblicke ihrer Verbindung an gemeinſam Freud und Leid, und falls nicht beſondere Umſtände ſtörend eintreten, währt der ſo überaus innige Bund für die ganze Zeit ihres Lebens. Es mangelt nicht an Beobachtungen, welche letzteres beweiſen. Scharfblickende Forſcher, welche einzelne Vögel jahrelang nacheinander be— obachtet und zuletzt ſo genau kennen gelernt haben, daß ſie dieſelben mit anderen der nämlichen Art nicht verwechſeln konnten, ſind uns hierfür Bürgen geworden, und jeder von uns, welcher beſonders in das Auge fallenden Vögeln ſeine Aufmerkſamkeit zuwendet, muß zu demſelben Schluſſe gelangen. Ein Storchpaar auf dem Dache gibt dem Beſitzer des betreffen— den Hauſes ſo viele Gelegenheit, Männchen und Weibchen zu erkennen und von anderen Störchen und Störchinnen zu unterſcheiden, daß Irr— tum geradezu ausgeſchloſſen erſcheint: wer aber ſeine Störche beobachtet, wird erfahren, daß immer dasſelbe Paar zum Neſte zurückkehrt, ſolange beide Gatten leben. Und jeder Forſcher oder Jäger, welcher wandernde Vogelpaare ſcharf ins Auge faßt oder, wenn die Geſchlechtsunterſchiede äußerlich nicht wahrnehmbar ſind, erlegt, wird finden, daß die beiden wirklich Männchen und Weibchen ſind. Während meiner Reiſen in Afrika bin ich oft wandernden Vogelpaaren begegnet, welche auch hier in der die Vogel— ehe ſo vorteilhaft kennzeichnenden innigen Gemeinſchaft lebten, ebenſo un— zertrennlich waren als daheim am Horſte, alles gemeinſam thaten und wohl auch gemeinſam duldeten und litten. Die zuſammengehörigen Paare des Zwergadlers ließen ſich auch dann noch als Gatten erkennen, wenn ſie in Geſellſchaft anderer ihrer Art reiſten oder herbergten; die Sing— ſchwäne, welche ich am Menſaleſee in Aegypten beobachtete, erſchienen paar— weiſe und zogen paarweiſe wieder von dannen; alle übrigen in geſchloſſener Ehe lebenden Vögel, welche ich unterwegs antraf, beſtätigen dieſe Regel. Daß beide Gatten auch gemeinſchaftlich dulden und leiden, erfuhr ich, als ich an einer Lache Südnubiens ein Storchpaar antraf, welches aus dem Grunde meine ganze Aufmerkſamkeit auf ſich lenkte, weil es noch zu einer Zeit hier ſich aufhielt, in welcher alle Artgenoſſen ſchon längſt im tiefen Innern Afrikas Herberge genommen hatten. Um die Urſache ſeines Zurückbleibens zu erkennen, ließ ich es erlegen und fand, daß das Weibchen einen Flügelbruch erlitten hatte, welcher es an der Weiterreiſe verhinderte, daß alſo das kerngeſunde Männchen einzig und allein ihm zur Liebe und Geſellſchaft in einer Gegend zurückgeblieben war, welcher zur gedeihlichen Winterherberge alle Bedingungen fehlen. Den treuen und innigen Bund aller in geſchloſſener Ehe lebenden Vögel ſcheidet nur der Tod. 214 Liebe und Ehe der Vögel Dies iſt die Regel; aber auch ſie erleidet Ausnahmen. Selbſt unter den in Einehigkeit lebenden Vögeln kommt, obſchon ſelten, Untreue vor. So feſt die verbundenen Weibchen ihren Gatten die Treue zu bewahren pflegen, ſo wenig ſie nach anderen Männchen ſchielen oder gar einen Hausfreund annehmen, wenngleich ſolcher ihnen ſich aufdrängen ſollte: beſonders hervorragende Eigenſchaften eines fremden Männchens können doch unheilvollen Einfluß auf ſie ausüben. Ein Meiſterſänger derſelben Art, welcher im Geſange den Gatten bei weitem übertrifft, ein Adler, welcher das von einem Weibchen erkorene Adlermännchen in jeder oder doch in vieler Beziehung überbietet, kann das Glück einer Nachtigallen— wie einer Adlerehe empfindlich ſtören, dem Gatten vielleicht ſogar die Gattin abwendig machen. Hierfür ſprechen die Hageſtolze, welche auch vor und während der Brutzeit im Lande umherſtreichen, rückſichtslos in das Gebiet eines Paares eindringen und dreiſt um die Gunſt der Gattin desſelben werben, hierfür die eiferſüchtigen Kämpfe, welche zwiſchen dem rechtmäßigen Gatten und dem Eindringlinge ſofort beginnen und auch jetzt noch gewöhnlich ohne Zuthun des Weibchens ausgefochten werden; hierauf deutet, bis zu einem gewiſſen Maße wenigſtens, das Benehmen eines jählings zur Witwe gewordenen Weibchens, welches ſich nicht allein durch ſofort wieder geſchloſſenen Ehebund zu tröſten weiß, ſondern unter Umſtänden ſogar den Mörder ihres erſten Gatten ehelicht. Auf dem Dache des Ritterguts Ebenſee bei Erfurt brütete jahrelang ein Storch— paar, welches zwar in beſter Eintracht lebte, gleichwohl aber nicht ohne Anfechtungen blieb, weil es fort und fort von ſtreichenden und um Neſt und Gattin werbenden Eindringlingen zu leiden hatte. Eines Frühjahres erſchien ein Männchen in der Gegend, welches an Zudringlichkeit und Ausdauer alle bisher aufgetretenen Werber weit übertraf und den Haus— vater nötigte, ununterbrochen im Kampfe zu liegen oder doch auf der Wacht zu ſtehen. Als dieſer eines Tages, vielleicht ermüdet vom Kampfe, mit unter dem Flügel verborgenem Kopfe, anſcheinend ſchlafend, auf ſeinem Neſte ſitzt, ſtürzt ſich plötzlich der Eindringling aus hoher Luft auf ihn herab, durchbohrt ihn mit dem Schnabel und ſchleudert ihn entſeelt vom Dache herab. Und die Witwe? Sie treibt den ſchändlichen Meuchelmörder ihres Gatten nicht von ſich, nimmt ihn vielmehr ohne Beſinnen zum Ge— mahle an und brütet weiter, als ob nichts geſchehen wäre. Dieſer und die vorher erwähnten Umſtände ſprechen nicht zu gun— ſten der Vogelweibchen, werden aber, wie ich ſchon an dieſer Stelle her— vorheben will, durch Gegenbeweiſe ſo entkräftet, daß ſie nur als Aus— Liebe und Ehe der Vögel. 215 nahmen von der Regel gelten können, letztere alſo beſtätigen. Und wenn wirklich ſcheinbarer oder thatſächlicher Schuld der Weibchen ein Urteil ge— ſprochen werden ſoll, darf nicht vergeſſen werden, daß die Männchen, welche weit mehr Urſache als die minderzähligen Weibchen haben, eheliche Treue zu wahren, ſolcher ebenfalls vergeſſen können. Wer die mit entſchiedenem Unrechte als Sinnbilder aller denkbaren Tugenden hingeſtellten Tauben kennt, weiß, wie wenig ſie den Nachruhm verdienen, welchen Sage und Meinung der Alten auf uns vererbt haben. Ihre Zärtlichkeit iſt beſtechend, aber nicht echt; ihre Treue gegen Gattin und Kinder wird geprieſen, be— ſteht aber nicht die Probe. Ganz abgeſehen von ihrer Unväterlichkeit, laſſen ſich die Tauberte nur zu oft Vergehen gegen die unverbrüchlichen Geſetze der Ehe zu ſchulden kommen und benutzen nicht allzuſelten die Zeit, während welcher die Gattin brütet, um mit anderen Täubinnen zu liebeln. Die Entvögel handeln noch tadelnswerter, und die Rothähne treiben es nicht beſſer. Sobald die Enten feſt auf den Eiern ſitzen, ſchla— gen ſich die Eheherren der verſchiedenen Paare in Geſellſchaften zuſammen, vertreiben ſich untereinander beſtmöglich die Zeit, laſſen ihre Gattinnen unterdeſſen ſich plagen und mühen, auch alle Sorgen für die Nachkommen— ſchaft übernehmen, und finden ſich erſt dann wieder bei den Enten, viel— leicht nicht einmal bei ihren Gattinnen ein, wenn die Kinder groß und ſelbſtändig geworden ſind, alſo ihrer Hilfe nicht mehr bedürfen. Die Rot— hähne aber, und unſere Rebhähne wahrſcheinlich ebenſo, erſcheinen während der Paarzeit bei jedem anderen Hahne, welcher ſich meldet, um mit ihm einen Strauß auszufechten, werden daher von den Spaniern mit Hilfe zahmer Hähne ihrer Art oft bethört und getötet; ſie erſcheinen aber ſpäter, wenn die Hennen brüten und ſie zum Zweikampfe keine Neigung mehr haben, auch auf den Ruf der Henne, und zwar womöglich noch eiliger als früher. Doch, wie geſagt, ſie bilden Ausnahmen von der Regel und laſſen ſich mit den in Vielehigkeit lebenden Vögeln nicht im entfernteſten ver— gleichen. Man hat ſich vergeblich bemüht, die Vielehigkeit der Kuhvögel, Kuckucke, Faſanen, Wald- und Truthühner, Wachteln, Pfauen und Kampf— ſtrandläufer zu erklären, einen durchſchlagenden Grund jedoch nicht zu finden vermocht. Wenn man annimmt und ausſpricht, daß der Kuckuck und ſeine nächſten Verwandten nicht brüten, weil ſie ſtets gerüſtet ſein müßten, einem irgendwo auftretenden Raupenfraße zu ſteuern, daher weder in geſchloſſener Ehe leben, noch für die eigene Nachkommenſchaft Sorge tragen könnten, faſelt man wohl, erklärt man aber nicht, da ja auch die 216 Liebe und Ehe der Vögel. Kuhvögel ihre Brut fremder Pflege anvertrauen; und wenn man die Ver— mutung aufſtellt, daß die Natur bei einzelnen, vielfacher Verfolgung aus: geſetzten Hühnerarten durch die Vielehigkeit für zahlreichere Nachkommen— ſchaft habe ſorgen wollen, ſieht man nicht ein, warum derſelbe Zweck nicht auch ebenſo wie bei anderen Hühnern, welche in Einehigkeit leben und jenen an Fruchtbarkeit dennoch nicht nachſtehen, hätte erfüllt werden können. Indem ich den Ausdruck Vielehigkeit gebrauche, bin ich mir wohl bewußt, daß man gewöhnlich von Vielweiberei der Vögel zu ſprechen pflegt. Solche iſt mir unbekannt und meines Wiſſens durch unzweifelhaft richtige Beobachtungen in keinem Falle feſtgeſtellt worden. Denn das Begehren iſt gegenſeitig und das Verlangen bei den Weibchen nicht minder ſchranken— los als bei den Männchen. Das Kuckucksweibchen geſellt ſich heute zu dieſem, morgen zu jenem Männchen, beglückt ſogar im Laufe einer Stunde mehrere von ihnen durch ſeine Huld, und die Henne ergibt ſich wahllos dem einen wie dem anderen Hahne. Von einer Ehe iſt bei ihnen allen gar nicht mehr zu reden. Die Männchen bekümmern ſich nur zeitweilig um die Weibchen, und dieſe eben auch nicht mehr um die Männchen; jedes Geſchlecht geht ſeinen eigenen Weg, ſondert ſich außer der Paarzeit wohl auch von den anderen ab und nimmt keinen Anteil an deſſen Ge— ſchick. Maßloſes Verlangen und daher bis zum höchſten Grade geſteigerte Eiferſucht der Männchen, herrſchſüchtiges Fordern und demütiges Gewähren, tolles Werben und bereitwilliges Erhören und ſodann vollſtändige Gleich— gültigkeit gegeneinander ſind die bezeichnenden Merkmale des Umgangs beider Geſchlechter dieſer Vögel. Daher erklärt ſich auch, daß unter ihnen weit öfter als unter allen übrigen Vögeln Mißbündniſſe eingegangen und Blendlinge oder Baſtarde erzielt werden, welche ein klägliches Daſein führen und entweder kinderlos verkümmern oder durch Paarung mit einer der Stammarten wirklich erzielte Nachkommenſchaft wiederum zu jener zu— rückführen. Mißbündniſſe oder Miſchehen werden allerdings auch von an— deren, d. h. in Einehigkeit lebenden Vögeln geſchloſſen, gewiß aber nur dann, wenn der gänzliche Mangel eines Gatten derſelben Art ſie dazu treibt, wogegen bei jenen der Zufall, die verlockende Gelegenheit ebenſo oft maßgebend zu ſein ſcheint als ſolche Verlegenheit. Not aber, unbedingte Notwendigkeit, die bereits entſchlüpfte oder noch im Ei ſchlummernde Brut zu ſichern, dürfte es ſein, welches die Weibchen der in Einehigkeit lebenden Vögel zwingt, Witwentrauer ſchneller in ein neues Ehebündnis zu wandeln, als die Männchen den Verluſt einer Gattin verſchmerzen. Ob ihre Trauer wirklich geringer iſt als die eines Liebe und Ehe der Vögel. 217 Vogelwitwers, darf bezweifelt werden, ſo beſtimmt auch der Augenſchein für die Bejahung ſprechen möchte. Ebenſo wie jene Störchin in Ebenſee verfahren andere Vogelweibchen. Ein in unſerem Garten brütendes Elſternpaar ſollte von uns getötet werden, weil es uns für die in demſelben Garten wohnende zahlreich vertretene, von uns gehegte und gepflegte Singvogelſchar fürchten ließ. Morgens um ſieben Uhr wurde das Männchen erlegt: kaum zwei Stunden ſpäter hatte die Witwe einen anderen Gatten angenommen; eine Stunde ſpäter fiel dieſer zum Opfer: um elf Uhr war das Weibchen zum drittenmal gepaart. Der Vorgang würde ſich wiederholt haben, wäre das geängſtigte Weibchen mit ſeinem zuletzt gewonnenen Männchen nicht aus— gewandert. Mein Vater erlegte einſt im Frühlinge einen Rebhahn. Die Henne flog auf, ließ ſich bald wieder nieder, wurde unmittelbar darauf von einem anderen Hahne umworben und nahm dieſen ohne weiteres an. Tſchuſi-Schmidthofen fing vom Neſte eines Hausrotſchwanzes binnen acht Tagen nicht weniger als zwanzig Männchen weg und geſtattete der zwanzig— mal in Trauer verſetzten und ebenſo oft getröſteten Witwe erſt dann der Ehe Glück und Freuden. Das Gegenteil ſolches anſcheinenden Wankelmutes beobachten wir, wenn Vogelmännchen ihre Gattin verloren haben. Laut ſchreiend, beweg— lich klagend, ihre Trauer durch Stimme und Gebaren bekundend, um— fliegen ſie die Leiche des geliebten Weibchens, berühren ſie vielleicht mit dem Schnabel, als wollten ſie ſelbe bewegen, ſich aufzurichten und mit ihnen davonzufliegen, erheben von neuem herzinnige, auch dem Menſchen verſtändliche Klage, irren innerhalb ihres Gebietes von einem Orte zum anderen, verweilen rufend, lockend, jammernd auf dieſem, auf jenem Lieb— lingsplatze, verſchmähen Nahrung zu ſich zu nehmen, ſtürzen ſich erboſt auf andere Männchen ihrer Art, als beneideten ſie dieſelben um ihr Glück und beabſichtigten, ſie ihres eigenen Unglückes teilhaftig werden zu laſſen, finden weder Ruhe noch Raſt, beginnen ohne zu beenden und handeln ohne zu wiſſen, was ſie thun. So treiben ſie es Tage, ſelbſt Wochen nacheinander, und oft verweilen ſie am Unglücksorte, ſo lange ihnen dies möglich, ohne auch nur kurze Streifzüge behufs Erkundung eines anderen Weibchens anzutreten. Einzelne Arten, und keineswegs nur die ſo ſinnig „Unzertrennliche“ genannten Papageien, ſondern auch Finken und andere, ſelbſt Uhus, verlieren infolge eines ſo ſchweren Schickſalsſchlages alle Luſt und Freude am Leben, trauern ſtill für ſich und grämen ſich buchſtäblich ſo lange, bis der Tod ſie erlöſt. Wenn nicht die alleinige, ſo doch die Haupturſache ſo tiefinniger 218 Liebe und Ehe der Vögel. Trauer dürfte in der ſtets erheblichen Schwierigkeit, unter Umſtänden Un— möglichkeit, ein anderes Weibchen zu finden und zu erwerben, zu ſuchen und zu erkennen ſein. Dem Weibchen bleibt oft gar nicht Zeit zur Trauer; denn früher oder ſpäter, manchmal faſt augenblicklich, ſtellen ſich bei ihm neue Ehewerber ein und überhäufen es mit ſo viel Gunſt und Zärtlich— keit, daß es ſich wohl oder übel tröſten laſſen muß. Und wenn vollends Sorge um die Nachkommenſchaft das ohnehin ſo mütterliche Herz bewegt, ordnen ſich ihr wohl alle übrigen Gedanken unter, ſo daß nachhaltiger Kummer keine Macht gewinnen kann. Wird es auch ihm ſchwer, Erſatz zu finden, ſo drückt es ſein Leid nicht minder lebhaft aus als das Männ— chen. Aber es thut zuweilen noch mehr, indem es ungezwungen einem anderen Ehebunde entſagt. Eine Sperlingswitwe, welche mein Vater genau beobachtete, nahm, trotzdem ſie Eier zu bebrüten und ſpäter Junge groß— zuziehen hatte, keinen ihrer Bewerber an, ſondern blieb unbemannt und fütterte ihre anſpruchsvolle Kinderſchar mit unſäglicher Mühe allein auf. Eine andere, wahrhaft rührende Thatſache, welche Witwentrauer der Vögel beweiſt, verbürgt mir Eugen von Homeyer. Das Cheglück eines auf dem Hauſe dieſes bewährten Forſchers niſtenden Storchpaares fand durch einen jener abſcheulichen Schießjäger, welcher das Storchmännchen erlegte, ein jähes Ende. Die trauernde Witwe genügt, ohne einen an— deren Gatten zu wählen, ihren Mutterpflichten und tritt im Herbſte mit ihren Kindern und Artgenoſſen die Wanderung nach Afrika an. Im nächſten Frühjahre erſcheint ſie wieder auf dem alten Neſte, unbemannt wie ſie weggezogen. Sie wird viel umworben, weiſt jedoch alle Freier mit ingrimmig geführten Schnabelhieben ab; ſie beſſert eifrig am Horſte, thut dies aber nur, um ihr Hausrecht zu wahren. Im Herbſte zieht ſie wiederum mit anderen Störchen in die Fremde hinaus; im darauffolgen— den Frühjahre kehrt ſie wiederum zurück, und wiederum verfährt ſie wie früher. So treibt ſie es elf Jahre nacheinander. Im zwölften Jahre verſucht ein anderes Storchpaar gewaltſam in den Beſitz ihres Neſtes ſich zu ſetzen: ſie kämpft wacker um ihr Eigentum, kann ſich aber auch jetzt noch nicht entſchließen, dieſes Eigentum durch Eingehung einer zweiten Ehe zu ſichern. Das Neſt wird ihr geraubt, und ſie bleibt ehelos; die Räuber behaupten und verwerten den Horſt, und ſie läßt ſich nicht mehr ſehen, ſondern verbringt, wie ſich nachträglich herausſtellt, den ganzen Sommer einſam und allein in einer etwa fünfzehn Kilometer vom Neſte entfernten Gegend: kaum aber ſind jene abgezogen, ſo findet ſie ſich am Neſte ein, verweilt noch einige Tage, und tritt ſodann erſt ihre Reiſe an. Liebe und Ehe der Vögel. 219 Unter dem Namen Einſiedlerin wird dieſe Störchin in der ganzen Gegend bekannt; ihr Geſchick wie ihre Handlungsweiſe erwerben ihr freund— liche Teilnahme aller wohlwollenden Menſchen. Solches Thun und Handeln aber ſollte nichts anderes ſein als Regen und Bewegen einer von außen her getriebenen und geleiteten Maſchine? Alle die geſchilderten Aeußerungen eines warmen und lebendigen Gefühles ſollten ohne Bewußtſein geſchehen? Das glaube, wer es kann, verteidige, wer es will. Wir glauben und verteidigen das Gegenteil, und beneidens— wert erſcheint uns das bewußte Glück der Vogelliebe und Vogelehe. Die Affen. S eich Kemal el Din Demiri, ein gelehrter Araber, welcher um das Jahr 1405 unſerer Zeitrechnung zu Damaskus ſtarb, erzählt in dem von ihm verfaßten Buche „Heiat el Heiwan“ oder „Leben der Tiere“, auf einen Ausſpruch des Propheten ſich ſtützend, folgende wunder— ſame Geſchichte: „Lange bevor Mohammed, der Prophet und Geſandte Gottes des Allbarmherzigen, des Glaubens Licht entzündet hatte, viel früher noch, ehe Iſſa oder Jeſus von Nazareth gelebt und gelehrt, bewohnte die Stadt Aila am Roten Meere eine zahlreiche Bevölkerung jüdiſchen Glaubens. Sie aber beſtand aus Sündern und Ungerechten vor dem Auge des Herrn; denn ſie entheiligte fortdauernd den geweihten Tag des Allerbarmers, den Sabbat. Vergeblich warnten fromme und weiſe Männer die ſündigen Bewohner der gottloſen Stadt: dieſe frevelten nach wie vor an dem Ge— bote des Höchſten. Da verließen die Warner die Stätte des Unheils, ſchüttelten den Staub von ihren Füßen und beſchloſſen, anderswo Ellohim zu dienen. Heimweh aber und Sehnſucht nach ihren Angehörigen trieb ſie nach Verlauf dreier Tage zurück nach Aila. Hier bot ſich ihnen ein wunderbarer Anblick. Die Thore der Stadt waren verſchloſſen, die Zinnen der Mauern jedoch unbeſetzt, ſo daß jenen unverwehrt blieb, die Mauern zu überſteigen. Aber auch die Straßen und Plätze der unglückſeligen Stadt waren menſchenleer. Da, wo ſonſt das lebendige Getriebe gewogt und geflutet, wo Käufer und Verkäufer, Prieſter und Beamte, Handwerker und Fiſcher im bunten Gewimmel ſich bewegt, ſaßen und hockten, liefen und kletterten rieſige Paviane, und aus den Erkern und Fenſtern, von den Söllern und Dächern, woſelbſt einſt dunkeläugige Frauen geweilt, blickten Pavianinnen auf die Straßen hernieder. Und alle die rieſigen Die Affen. 221 Affen wie die ſchmucken Aeffinnen waren traurig und bejtürzt, ſchauten trübſelig auf die heimgekehrten Pilger, ſchmiegten ſich bittend und flehend an ſie und ſtöhnten klagend. Staunend und grübelnd betrachteten die frommen Waller das unheimliche Wunder, bis einem von ihnen der troſt— loſe Gedanke kam, daß Paviane und Pavianinnen vielleicht gar ihre früheren, nunmehr zu Tieren herabgeſetzten Verwandten ſein möchten. Um ſich zu vergewiſſern, ging der weiſe Mann ſtracks zu ſeinem Hauſe. In der Thüre desſelben ſaß ebenfalls ein Pavian; der aber ſenkte beim Erſcheinen des Gerechten ſchmerz- und ſchamvoll die Augen zu Boden. ‚Sage mir, bei Allah dem Allbarmherzigen, o Bavian‘, jo frug der Weiſe den Affen, „biſt du mein Schwiegerſohn Ibrahim?“ Und traurig antwortete der Pavian: ‚Ewa, ewa“ — ja, ich bin es. Da ſchwand dem Frommen jeglicher Zweifel, und er erkannte bekümmerten Herzens, daß ein ſchweres Strafgericht Gottes gewaltet, daß die ruchloſen Sabbatſchänder aus Menſchen zu Affen gewandelt worden waren.“ Scheich Kemal el Din wagt zwar an dieſem Wunder nicht zu zweifeln, kann aber als denkender Mann nicht umhin, die Meinung auszuſprechen, daß vielleicht doch früher als Juden Paviane gelebt haben dürften. Wir unſererſeits ſchließen uns, ſo hübſch erdacht und erzählt jene Geſchichte auch iſt, dieſer Auffaſſung um ſo eher an, als die Affen, mit denen es die frommen Eiferer Ailas zu thun gehabt haben konnten, alte gute Bekannte von uns ſind. Denn in Arabien hauſen einzig und allein Hamadryas- oder Mantelpaviane; ſie aber finden wir bereits auf ſehr alten ägyptiſchen Denkmälern vortrefflich abgebildet, und ihre Haartracht iſt es, welche den alten Aegyptern ſo auffallend erſchien, daß ſie dieſelbe als Vorbild wählten und ihren Sphinxen gaben, ebenſo wie ſie heutigestags noch als Muſter für den Haarputz der dunklen Schönen Oſt-Sudans dient. Der Mantelpavian nämlich ſpielt in der altägyptiſchen Götterlehre eine ſehr bedeutſame Rolle, wie wir dies unter anderem aus dem Werke des Hieroglyphenerklärers Horapollon erfahren. Dieſem zufolge wurde der Affe in den Tempeln gehalten und nach ſeinem Tode einbalſamiert. Er galt als Erfinder der Schrift und daher ebenſowohl als ein dem Urheber aller Wiſſenſchaft, Thot oder Merkur, geheiligtes Weſen, wie als naher Verwandter der ägyptiſchen Prieſter, wurde auch bei ſeinem feierlichen Einzuge in das Heiligtum jedesmal einer Prüfung unterworfen, indem ihm der Oberprieſter Schreibtafel, Tinte und Feder in die Hand drückte und ihn aufforderte, zu ſchreiben, damit man erkennen möge, ob er der Aufnahme würdig ſei oder nicht; von ihm behauptete man, daß er in 222 Die Affen. geheimnisvoller Beziehung zum Monde ſtehe, beziehentlich, daß letzterer einen ungewöhnlichen Einfluß auf ihn übe; ihm ſchrieb man endlich die Fähigkeit zu, die Zeit in ſo erſichtlicher Weiſe einzuteilen, daß Tris— megistus nach dem Beiſpiele und Vorbilde ſeines Thuns Waſſeruhren angefertigt haben ſoll, welche, wie er, Tag und Nacht in je zwölf gleiche Abſchnitte teilten. Somit danken mittelbar auch wir dieſem Affen nicht allein die Schrift, ſondern ebenſo unſere Einteilung der Zeit. Hulmans. Es iſt beachtenswert, daß die alten Aegypter wohl ihre und des Affen Verwandtſchaft für wahrſcheinlich erachten, nicht aber ihre Abſtam— mung von dem Affen als möglich erſcheinen laſſen. Einer derartigen Auffaſſung des Verwandtſchaftsgrades zwiſchen Menſch und Affe begegnen wir zuerſt bei den Indern. Unter ihnen herrſcht ſeit uralter Zeit und noch heutigestags der Glaube, daß menigftens einige Königsfamilien von einem in Indien heilig gehaltenen, in gewiſſem Sinne ſogar als Gottheit angeſehenen Schlankaffen, dem Hulman, abſtammen, und daß die Seelen abgeſchiedener Könige in den Leib dieſes Affen zurückkehren. Eine Die Affen. 223 der regierenden Familien rühmt ſich dieſer Abkunft durch die in ihren Titel aufgenommene Ehrenbezeichnung „geſchwänzte Rana“ in beſonders hervorragender Weiſe. Aehnliche Anſichten, wie die Inder ſie hegen, ſind in neuerer Zeit auch unter uns geltend gemacht worden, und die Affenfrage, wie ich kurz, jedoch wohl allgemein verſtändlich mich ausdrücken will, hat deshalb viel Staub aufgewirbelt. Wiſſenſchaftliche, für die Allgemeinheit zunächſt be— deutungsloſe Erörterungen haben ebenſo heiligen Zorn zu lodernden Flammen entfacht, wie ernſte Forſcher in zwei verſchiedene Lager verteilt und zu eifriger Verfechtung des Für und Wider begeiſtert. Wiſſenſchaftlicher Forſchung gänzlich fernſtehende Elemente haben den Kampf aufgenommen, ohne zu wiſſen, oder auch nur zu ahnen, um welches Ziel er eigentlich geführt wird, ihn ſogar in Schichten getragen, in denen er nur Unheil ſtiften kann und dadurch Verwirrung geſchaffen, welche ſich ſchwerlich ſo leicht löſen dürfte. Ueber die Affen zu reden, iſt nach all dem ein be— denkliches Unterfangen geworden, weil man, ſie behandelnd, fortwährend Gefahr läuft, entweder den geträumten Urahn herabzuſetzen, oder durch ihn den vermeintlichen Nachkommen zu beleidigen — ganz abgeſehen von unausbleiblichen Schmähungen erbärmlichſter Art, mit denen ungelittete, blindwütend gegen das Zeitbewußtſein kämpfende Eiferer jeden überſchütten, welcher das Wort Affe auszuſprechen wagt. Gleichwohl wird die Affen— frage zunächſt noch nicht von der Tagesordnung verſchwinden; denn dieſe Tiere, welche offenbar unſere nächſten Verwandten im Tierreiche darſtellen, ſind viel zu ſehr unſerer Teilnahme wert, als daß wir uns durch Hemm— niſſe, wie die erwähnten, abhalten laſſen ſollten, ſie und ihr Leben fernerhin zu erforſchen, mit uns ſelbſt und unſerem Thun und Treiben zu vergleichen, und damit nicht allein ihre Kunde, ſondern auch die des Menſchen zu fördern. Ein Beitrag hierzu ſoll das Folgende ſein. Mit kurzen, gedrängten Worten ein allgemeines Lebensbild — und auf ein ſolches will ich mich beſchränken — der ſo verſchiedenartigen Tiere zu geben, iſt ſchwierig. Sie bewohnen in etwa vier- jedenfalls erheblich mehr als dreihundert Arten alle Erdteile, mit alleiniger Ausnahme Auſtra— liens, insbeſondere die Länder zwiſchen den Wendekreiſen. In Amerika erſtreckt ſich ihr Verbreitungsgebiet vom 28. Grade ſüdlicher Breite bis zum Antillenmeere; in Afrika reicht es vom 35. Grade ſüdlicher Breite bis zur Meerenge von Gibraltar, in Aſien von den Sunda- bis zu den Japaniſchen Inſeln; in Europa beſchränkt ſich ihr Vorkommen auf den Felſen von Gibraltar, woſelbſt ſeit nicht nachweisbaren Zeiten, gegenwärtig 224 Die Affen. von der Beſatzung der Feſte gehegt und geſchont, ein aus mehr als zwanzig Stück beſtehender Trupp Magots oder Stummelmakaken ſein Daſein friſtet. Wälder und Felſengebirge, in denen ſie bis zu dritthalbtauſend Meter unbedingter Höhe emporſteigen, bilden ihren Aufenthalt. Hier wie dort hauſen ſie, wenige Arten ausgenommen, jahraus, jahrein, tragen aber dem Wechſel der Jahreszeiten inſofern Rechnung, als ſie im Walde den reifenden Früchten zuliebe mehr oder minder ausgedehnte Wanderungen unternehmen oder in den Gebirgen mit Beginn der warmen Jahreszeit aufwärts, mit Eintritt der kalten abwärts ſteigen; denn ſie lieben, obſchon man ſie ſelbſt in verſchneiten Gegenden noch antrifft, die Wärme ebenſo wie einen reichlich und mannigfaltig beſchickten Tiſch. Etwas zu beißen und zu knacken muß es da, wo ſie bleibend oder für längere Zeit ſich anſiedeln ſollen, jedenfalls geben, ſonſt wandern ſie aus. Waldungen in der Nähe menſchlicher Siedelungen erſcheinen ihnen als Paradieſe; der verbotene Baum in ihnen kümmert ſie nicht. Mais- und Zuckerrohrfelder, Obſt⸗, Bananen-, Piſang-, Melonenpflanzungen betrachten fie als ihnen erb⸗ und eigentümliche Weidegebiete; Ortſchaften, in denen frommer Wahn der Bevölkerung ſie ſchützt, gelten ihnen ebenfalls als recht angenehme Wohnſitze. Alle Affen, die ſogenannten Menſchenaffen vielleicht ausgenommen, leben in Banden von bisweilen ſehr erheblicher Stärke, denen ein altes Männchen als Führer vorſteht. Zu ſolcher Würde erhebt die wohl oder übel allſeitig anerkannte Befähigung des Inhabers: die ſtärkſten Arme und die längſten Zähne entſcheiden. Während bei Säugetieren, unter denen ein weibliches Mitglied die Führung übernimmt, jedes andere Zugehörige der Herde willig folgt, erzwingt der Leitaffe, als Selbſtherrſcher und Allein— gebieter der ſchlimmſten Art, unbedingten Gehorſam. Wer ſich nicht gut— willig unterordnen will, wird durch Biſſe, Kniffe und Püffe zur Pflicht geführt. Der Leitaffe verlangt ſklaviſche Unterwerfung von allen übrigen Affen und ebenſo von den Aeffinnen ſeiner Herde. Ritterliche Artigkeit gegen das ſchwächere Geſchlecht übt er nicht: „im Sturm erringt er der Minne Sold“. Seine Zucht iſt ſtreng, ſein Wille unbeugſam. Kein Affenjüngling darf ſich unterſtehen, mit einer Aeffin ſeiner Bande zu liebeln, keine Aeffin ſich erdreiſten, außer ihm einem anderen Affen Huld zu ge— währen. Er ſelbſt herrſcht unbeſchränkt über ſeinen Harem, und ſein Geſchlecht mehrt ſich gleich dem Abrahams, Iſaaks und Jakobs, wie der Sand am Meere. Wird die Herde zu zahlreich, ſo ſondert ſich unter Leitung eines inzwiſchen erſtarkten Mitaffen ein Trupp von ihr ab, um Die Affen. 225 eine eigene Gemeinſchaft zu bilden. Bis dahin wird jener allgemein ge— achtet und ebenſo geehrt als gefürchtet. Alte, geprüfte Affenmütter, wie junge, im Backfiſchalter ſtehende Aeffinnen beſtreben ſich, ihm zu ſchmeicheln, beeifern ſich namentlich, ihm die höchſte Gunſt, welche ein Affe dem anderen gewähren kann, fortwährend zu ſpenden, indem ſie mit größtem Ernſte ſich bemühen, ſein Haarkleid von allen nicht zu ihm gehörigen Dingen und Weſen zu ſäubern. Er ſeinerſeits läßt ſich ſolche Huldigung gefallen mit dem Anſtande eines Paſcha, dem ſeine Lieblingsſklavin die Füße kraut. Die Achtung, welche er ſich zu verſchaffen wußte, verleiht ihm Sicherheit und Würde im Auftreten, der Kampf, welchen er trotz alledem beſtändig zu beſtehen hat, Wachſamkeit, Mut und Selbſtbewußtſein, die Notwendig— keit, ſeine Herrſchaft zu erhalten, Umſicht, Liſt und Verſchlagenheit. In— dem er dieſe Eigenſchaften zunächſt wohl zum eigenen Beſten verwertet, nützt er aber auch der Geſamtheit, und ſeine ſchrankenloſe Herrſchaft erhält hierdurch Berechtigung und Beſtand. Von ihm regiert und gelenkt, führt die Bande, wie heftige Stürme auch in ihrem Inneren toben mögen, ein nach außen hin ſehr geſichertes und daher behagliches Leben. Alle Affen, mit Ausnahme der wenigen Nachtaffen, wirken bei Tage und ruhen bei Nacht. Erſt geraume Zeit, nachdem die Sonne aufgegangen, ermuntern ſie ſich vom Schlafe. Ihr erſtes Geſchäft iſt, ſich zu ſonnen und zu putzen. War die Nacht kalt und unbehaglich, ſo verſuchten ſie zwar dadurch, daß ſie ſich in Haufen zuſammendrängten, ja ſogar förm— liche Klumpen bildeten, ihre unerquickliche Lage zu verbeſſern, fröſteln am Morgen aber doch noch ſo, daß ihnen eine länger währende Beſonnung durchaus geboten erſcheint. Sobald der Nachttau abgetrocknet iſt, ver— laſſen ſie ihre Schlafplätze, klettern langſam zu den höchſten Spitzen der Baumwipfel oder Felſenzacken empor, erwählen einen den Sonnenſtrahlen zugänglichen Sitz und kehren nun, auf letzterem gemächlich ſich drehend und wendend, nach und nach alle Teile ihres Leibes der Sonne zu. Iſt der Pelz abgetrocknet und gehörig durchwärmt, ſo regt ſich das Verlangen, ihn gereinigt zu ſehen, und jeder gibt ſich nun dieſem Geſchäfte mit Eifer und Sorgfalt hin, oder verlangt und empfängt von einem ſeinesgleichen ſolches bezweckenden Liebesdienſt ebenſo, wie er ſtets geneigt iſt, ihn zu gewähren. Nachdem das Haarkleid gereinigt, nötigenfalls ſogar geſtrählt worden iſt, macht ſich die Sorge ums Frühſtück geltend. Sie iſt aus dem Grunde nicht beſchwerend, weil den Affen alles Genießbare mundet und das Tier— reich wie das Pflanzenreich zollen muß. Waldungen wie Berggelände Brehm, Vom Nordpol zum Aequator. 15 226 Die Affen. bieten Früchte, Blatt- und Blütenknoſpen, Vogelneſter mit Eiern oder junger Brut, Schnecken und Kerfe; Gärten Obſt und Gemüſe, Felder Getreide und Hülſenfrüchte. Hier wird eine reifende Aehre gebrochen, dort eine ſaftige Frucht gepflückt, in der Höhe ein Vogelneſt ausgeplündert, auf dem Boden ein Stein umgewendet, in der Siedelung ein Garten gebrandſchatzt oder ein Feld beraubt und überall etwas mitgenommen. Jeder einzelne Affe verwüſtet, falls er dazu Zeit hat, zehnmal mehr, als er verbraucht, und kann aus dieſem Grunde den Landwirt wie den Gärtner oder Obſtzüchter empfindlich ſchädigen. Bei Beginn des Raubzuges ſucht jeder für alle Fälle ſich zu ſichern und verzehrt faft ohne Wahl, was er erlangt, ſtopft auch, wenn er Backentaſchen beſitzt, zunächſt dieſe ſo voll, als irgend möglich; ſobald er aber dem erſten und dringendſten Bedürfniſſe genügt hat, wählt und mäkelt er in maßloſer Weiſe, indem er alles ge— pflückte Obſt, jede gebrochene Aehre erſt ſorgſam unterſucht, beriecht und beſchaut, bevor er genießt, in den meiſten Fällen aber das eine wie das andere achtlos wegwirft, um nach anderer Aeſung zu greifen und ebenſo zu verfahren wie vorher. „Wir ſäen, und die Affen ernten,“ klagten mir die Bewohner Oſt-Sudans mit vollſtem Rechte. Gegen derartige Diebe ſchützt weder Hag noch Mauer, weder Schloß noch Riegel: ſie überſteigen jene und öffnen dieſe; und was nicht gefreſſen werden kann, wird wenigſtens mitgenommen. Es iſt luſtig und leidvoll zugleich, ihnen zuzuſchauen; denn wie in ihrem Weſen überhaupt, paart ſich auch hier Dreiſtigkeit und Verſchlagenheit, Uebermut und Schlauheit, Genußſucht und Vorſicht, ebenſo freilich auch Liſt und Tücke, Frechheit und Böswilligkeit. Alle ihnen eigenen Kunſtfertigkeiten gelangen um ſo mehr zur Geltung, je gefährlicher das Unternehmen ſcheint. Es wird gelaufen, geklettert, geſprungen, im Notfalle auch geſchwommen, um jedes Hemmnis wegzuräumen, immer und unter allen Umſtänden aber die eigene Sicherung niemals außer acht gelaſſen. Der Leitaffe zieht ſtets voran, lockt, ruft, mahnt, warnt, zetert, ſchilt und ſtraft, je nach Befinden; die Herde folgt und gehorcht, ohne doch jemals ganz zu vertrauen. Bei Gefahr denkt jedes Mitglied der Bande zuerſt an die eigene Sicherung und findet ſich erſt ſpäter wieder bei dem Leit— affen ein; nur die Mütter, welche Kinder an der Bruſt oder auf dem Rücken tragen, machen hiervon eine Ausnahme, indem ſie um deren Schickſal beſorgter ſind, oder doch zu ſein ſcheinen, als um ihr eigenes. Bei gefahrloſen Unternehmungen wird während derſelben oft ge— raſtet, auch den Kindern Gelegenheit geboten, untereinander ſich zu ver— gnügen; unter gefahrdrohenden Umſtänden tritt erſt nach Beendigung des Die Affen. 227 Ausfluges eine länger oder kürzer währende Zeit der Ruhe und Erholung ein, wobei die Bande auch wohl, um beſſer der Verdauung zu pflegen, ein Mittagsſchläfchen hält. In den Nachmittagsſtunden tritt ſie einen neuen Raubzug an; gegen Sonnenuntergang begibt ſie ſich nach den ge— wohnten, gegen gefährliche Raubtiere möglichſt geſicherten Schlafplätzen, um hier, wenn auch freilich erſt nach langwierigem Zank und Zwieſpalt, Schelten und Keifen die wohlverdiente Ruhe zu ſuchen und zu finden. Abgeſehen von zeitweilig notwendigen oder erſprießlich ſcheinenden Wanderungen erleidet die eben geſchilderte Tagesordnung wenig Abände⸗ rungen. Die Fortpflanzung, welche bei anderen Tieren meiſt erhebliche Wandlungen der Lebensweiſe zur Folge hat, übt auf die Affen keinen weſentlichen Einfluß aus, da ſie an keine beſtimmte Zeit gebunden iſt, und die Affenmütter ihre Jungen ohnehin überall mit ſich herumſchleppen. Letztere, von denen die meiſten Arten gleichzeitig nur eins gebären, kommen zwar als wohlentwickelte Weſen, daher auch mit offenen Augen zur Welt, ſind aber nach unſeren Begriffen überaus häßliche und trotz verhältnis— mäßig weit vorgeſchrittener Entwickelung ziemlich hilfloſe Geſchöpfe. Häßlich erſcheinen ſie uns, weil ihre faltigen Geſichter mit den lebhaften Augen einen greiſenhaften Ausdruck haben und ihr noch ſpärliches Haarkleid die ohnehin ſehr bedeutende Länge ihrer Vorderglieder gleichſam noch verzerrt; als unbehilflich erweiſen ſie ſich, weil ſie von dieſen Gliedern keinen anderen Gebrauch zu machen wiſſen, als ſich an die Bruſt der Mutter zu heften. Hier hängen ſie, mit Armen und Händen den Hals, mit Beinen und Füßen die Weichen der Mutter umklammernd, wochenlang ohne erſichtlich mehr als den Kopf zu bewegen, geſtatten daher der Mutter, ohne irgendwie gewichtige Beläſtigung gewohnten Geſchäften nachzugehen und nach wie vor auf den halsbrechendſten Pfaden zu wandeln oder die kühnſten Sprünge auszuführen. Erſt nach Ablauf geraumer Zeit, ſelten früher als nach Monatsfriſt, beginnen ſie einzelne Bewegungen zu verſuchen, benehmen ſich dabei jedoch ſo ungeſchickt, daß ſie eher zum Mitleide als zum Lachen reizen. Dieſe Wechſelbälge aber werden, vielleicht gerade ihrer Hilfloſig— keit halber, von ihren Müttern mit ſolcher Zärtlichkeit betrachtet und be— handelt, daß der Ausdruck „Affenliebe“ durchaus richtig erſcheinen muß. Jede Affenmutter macht ſich beſtändig mit ihrem Sprößlinge zu ſchaffen. Bald leckt ſie ihn, bald reinigt ſie ſein Fell, bald legt ſie ihn an die Bruſt, bald nimmt ſie ihn in beide Hände, als wolle ſie an ſeinem An— blicke ſich weiden, bald ſchaukelt ſie ihn, als wolle ſie ihn einwiegen. Sieht ſie ſich beobachtet, ſo kehrt ſie ſich ab, als wolle ſie anderen Weſen 228 Die Affen. den Anblick ihres Lieblings mißgönnen. Iſt dieſer älter und beweglicher geworden, ſo erhält er zuweilen Erlaubnis, die Mutterbruſt verlaſſen und mit anderen ſeinesgleichen ſpielen zu dürfen, bleibt aber in ſtrenger Zucht und wird, wenn er nicht augenblicklich gehorcht, durch Püffe und Kniffe beſtraft. Selbſt auf die Nahrung erſtreckt ſich die Fürſorge der Mutter. So gierig dieſe ſonſt zu ſein pflegt: mit ihrem Sprößlinge teilt ſie jeden Biſſen, duldet aber auch nicht, daß jener durch haſtiges oder übermäßiges Freſſen ſich ſchade, und ſchreitet in ſolchem Falle mütterlich verſtändig ein. Doch kommt es ſelten hierzu oder zu empfindlicher Be— ſtrafung, denn das Affenjunge iſt ſo gehorſam, daß es manchem Menſchen— kinde als Vorbild aufgeſtellt werden könnte. Wahrhaft rührend gebärdet ſich die Mutter bei erſichtlichen Leiden, geradezu verzweifelnd beim Tode ihres Sprößlings. Stunden- und tagelang ſchleppt ſie die kleine Leiche mit ſich herum, verweigert fortan jede Nahrung, ſitzt anteillos auf einer und derſelben Stelle und härmt ſich oft buchſtäblich zu Tode. Das Affen— kind dagegen iſt ſo tiefen Gefühlen unzugänglich, auch beſſer bewahrt, als andere Tiere, falls es ſeine Mutter verliert. Denn das erſte beſte Mit— glied der Bande, gleichviel ob es männlichen oder weiblichen Geſchlechtes iſt, nimmt es in Pflege, ſtillt an ihm das allen Affen eigene heiße Ver— langen, zu bemuttern, hätſchelt es aufs wärmſte, gerät aber, des lieben Futters halber, leider oft in Zwieſpalt mit ſeinem beſſeren Selbſt, und läßt ein Pflegekind, welches ſich nicht bereits allein zu helfen weiß, er— bärmlich kümmern, vielleicht ſogar verkümmern. Ueber die Begabungen der Affen etwas allgemein Gültiges zu ſagen, iſt ſchwierig, falls nicht unmöglich, weil jene ebenſo verſchieden ſind als dieſe ſelbſt. Einzelne Züge ihrer Anlagen ſind freilich gemeinſame; weit— aus die meiſten Eigentümlichkeiten ihres Weſens weichen erheblich vonein— ander ab. Eine Anlage, welche bei dem einen kaum bemerkbar iſt, zeigt ſich bei dem anderen klar ausgeſprochen; ein Zug, welcher hier deutlich hervortritt, wird dort vergeblich geſucht. Wohl aber läßt ſich, wenn man die verſchiedenen Familien, Sippen und Arten vergleichend in Betracht zieht, eine geradezu überraſchende, weil von vornherein nicht vermutete Steigerung aller Begabungen und Anlagen wahrnehmen. Es iſt lehrreich, ſo zu verfahren. Als die am wenigſten entwickelten Glieder der Geſamtheit müſſen uns die Krallen- oder Eichhornaffen, in Süd- und Mittelamerika lebende, kleine, zierliche, höchſt übereinſtimmende Tiere erſcheinen. Sie haben zwar das regelrechte Gebiß der Hochtiere insgemein, tragen aber Die Affen. 229 nur an den Daumenzehen platte, an allen übrigen Zehen und den Fingern dagegen ſchmale, lange Krallennägel, welche alſo ihre Hände und Füße, mindeſtens die erſteren, auf die Stufe der Pfoten ſtellen. Dieſen äußer— lichen Merkmalen entſprechen ihre Begabungen. Das Affentum, möchte man ſagen, iſt in ihnen noch nicht zu voller Geltung gelangt. Wie durch Geſtalt und Färbung erinnern ſie auch durch ihre Haltung, ihr Auftreten, Weſen und Gebaren, ſelbſt durch ihre Stimme, an die Nager. Sie ſitzen ſelten aufrecht, wie andere Affen, höchſtens ſo wie Eichhörnchen, ſtehen vielmehr meiſt auf allen Vieren bei flacher Haltung ihres Leibes, klettern auch nicht, mit Händen und Füßen Zweige umklammernd, frei und leicht, wie ihre Ordnungsgenoſſen, ſondern, ihre Krallen einſchlagend, klebend, rutſchend, wenn auch keineswegs langſam oder unbehend, genau ſo, wie Nager thun. Gänzlich verſchieden von der aller hochſtehenden Affen, iſt ferner ihre Stimme, ein in hohen Tönen ſich bewegendes Pfeifen, welches bald an Vogelgezwitſcher, bald an das Piepen der Ratten und Mäuſe, am meiſten vielleicht an die Stimmlaute des Meerſchweinchens erinnert. Ausgeſprochen nagerhaft iſt ihr Gebaren. Sie bekunden dieſelbe Unruhe und Raſtloſigkeit, dieſelbe Neugier, Scheu und Aengſtlichkeit, dieſelbe Un— ſtetigkeit wie Eichhörnchen. Ihr Köpfchen verharrt nur auf Augenblicke in derſelben Stellung und Haltung, und die dunklen Augen richten ſich bald auf dieſen, bald auf jenen Gegenſtand, immer aber mit Haſt und offenbar mit wenig Verſtändnis, obſchon ſie klug in die Welt zu blicken ſcheinen. Alle Handlungen, welche ſie verrichten, zeugen von geringer Ueberlegung. Gleichſam willenlos folgen ſie den Eingebungen des Augen— blicks, vergeſſen das, was ſie eben beſchäftigte, ſobald ein neuer Gegen— ſtand ſie anregt, und zeigen ſich dementſprechend ebenſo wetterwendiſch, wenn es ſich um Aeußerungen ihres Behagens, wie um ſolche ihres Miß— fallens handelt. In dieſem Augenblicke wohlgelaunt, anſcheinend durchaus zufrieden mit ihrem Schickſale, glücklich vielleicht über ihnen von Freundes— hand geſpendete Liebkoſungen, grinſen ſie eine Sekunde ſpäter ihren Pfleger an, gebärden ſich ängſtlich, als ob es ihnen an Hals und Kragen ginge, fletſchen die Zähne und verſuchen zu beißen. Ebenſo reiz- und er— regbar wie Affen und Nager, ermangeln ſie doch der Eigenart, welche jeder höherſtehende Affe bekundet; denn der eine handelt genau wie der andere, gleichſam ohne Selbſtbewußtſein, immer aber kleinlich. Sie be— ſitzen alle Eigenſchaften eines Feiglings: die klägliche Stimme, die Un— willigkeit, in Unvermeidliches ſich zu fügen, die jammerhafte Hinnahme aller Ereigniſſe, die krankhafte Sucht, jede Handlung eines anderen Ge— 230 | Die Affen. ſchöpfes mißtrauiſch auf ſich zu beziehen, das Beſtreben, zu prahlen, wäh— rend ſie vermeintlicher oder wirklicher Gefahr aus dem Wege zu gehen trachten, die Unfähigkeit im Wollen wie im Vollbringen. Gerade, weil ſie ſo wenig Affe ſind, werden ſie von Frauen bevorzugt, von Männern mißachtet. Auf weſentlich höherer Stufe ſtehen die ebenfalls in Amerika hau— ſenden Breitnaſen- oder Neuweltsaffen, obgleich auch in ihnen der wirkliche Affe noch nicht recht zur Geltung gelangt. Ihr Gebiß zählt in jeder Kinnlade einen Backenzahn mehr als das der übrigen Hochtiere, daher nicht zwei- ſondern ſechs unddreißig Zähne; ihre Finger und Zehen tragen ſämtlich platte Nägel; der Leib erſcheint um ſo ſchmächtiger, als die Glieder regelmäßig ſehr lang ſind; der Schwanz dient bei vielen als kräftiges Greifwerkzeug. Bezeichnend für ſie iſt die Einſeitigkeit ihrer Entwickelung. Wie die Krallenaffen ausſchließlich Baumtiere, erſcheinen ſie uns ungeſchickt, ſogar tölpiſch, ſowie ſie dem Gezweige der Bäume ent— zogen werden. Ihr Gang auf dem Boden iſt äußerſt unbeholfen, un— ſicher und ſchwankend, am unbeholfenſten und ſchwankendſten bei denjenigen Arten, welche einen Wickelſchwanz beſitzen; aber auch ihr Klettern kommt dem der Altweltsaffen nicht im entfernteſten gleich. Denn Vermehrung der Bewegungswerkzeuge hat keineswegs immer Steigerung und noch weniger Vervielfältigung der Bewegung zur Folge, bedingt im Gegenteile oft Einſeitigkeit. Bei unſeren Affen iſt das letztere der Fall. Ihr Wickel— ſchwanz dient ihnen nicht als fünfte, ſondern als erſte Hand: zum Auf— hängen oder Befeſtigen des ganzen Leibes, zum Herbeiholen und Herbei— ziehen verſchiedener Gegenſtände, als Treppe, Hängematte und ſo weiter; aber er beſchleunigt und befreit ihre Bewegungen nicht, ſondern verlang— ſamt ſie höchſtens, indem er ſie ſichert. Dank ſeiner fortwährenden, ge— radezu ausnahmsloſen Verwendung läuft ſein Eigner niemals Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren und aus der ſichernden Höhe in die gefahr— drohende Tiefe zu ſtürzen, iſt dagegen aber auch nicht im ſtande, irgend welche freie oder gar kühne Bewegung auszuführen. Langſam ſendet er den Wickelſchwanz ſozuſagen jedem Schritte voraus, indem er ihn ſtets zuerſt und nicht ſelten vor ſich befeſtigt, und nunmehr erſt löſt er eine Hand, einen Fuß nach dem andern von dem Zweige ab, welche die eine wie der andere umklammerten. So bindet er ſich mehr an die Zweige, als er auf denſelben klettert, und dementſprechend denkt er gar nicht daran, jemals einen weiten, hinſichtlich ſeines Gelingens irgendwie zweifelhaften Sprung zu wagen. Dieſe unwandelbare Sicherung der eigenen werten Die Affen. 231 Perſönlichkeit drückt unſeren Affen nicht den Stempel der Bedachtſamkeit, ſondern der Langweiligkeit auf. Es iſt merkwürdig, wie genau alle übrigen Begabungen der Neuweltsaffen hiermit im Einklange ſtehen. Ihre Stimme iſt nicht ſo einſeitig wie die der Krallenaffen, immer aber un— angenehm, um nicht wiederum zu ſagen langweilig. Vom Gewinſel an bis zum Gebrüll durchläuft ſie die verſchiedenſten Abſtufungen; unter allen Umſtänden aber haftet ihr der Ausdruck des Kläglichen, Weltſchmerzlichen an, und das Gebaren der Tiere, wenn oder während ſie ſchreien, ſtraft ſolchen Aus- oder Eindruck nicht Lügen. Warm und goldig beſtrahlt die Morgenſonne nach kühler taureicher Nacht die Bäume des Urwaldes, und tauſendſtimmig ſchallt ihr aus Millionen Kehlen Gruß und Jubelruf ent— gegen: da rüſten ſich auch die Brüllaffen, ihren Dankeszoll darzubringen. Aber wie?! Auf die dürren Wipfeläſte eines Rieſenbaumes, welcher ſeine Krone hoch über andere erhebt, ſind ſie geklettert, haben ſich jedweder mit dem Wickelſchwanze gehörig verſichert und wärmen ſich behaglich in der Sonne. Da treibt auch ſie das Wohlgefühl, ihre Stimme zu erheben. Einer von ihnen, welcher, wie man ſagt, durch hohe, ſchrillende Stimme beſonders ſich auszeichnet und geradezu Vorſänger genannt wird, ſchaut ſtarr auf ſeine Genoſſen und hebt an; letztere blicken ebenſo regungs- und gedankenlos auf ihn und fallen ein, und ſchauerlich tönt es durch den Wald, bald grunzend, bald heulend, bald knurrend, bald röchelnd, als ob alle Tiere des Waldes in tödlichem Kampfe gegeneinander entbrannt ſeien. Einzelne Brülllaute beginnen das wunderliche Tonſtück; ſie werden heftiger und folgen ſich raſcher, je mehr die doch wohl vorhandene, wenn auch nicht erſichtliche Erregung des Sängers wächſt und auf andere Glieder ſeiner Genoſſenſchaft ſich überträgt; ſie verwandeln ſich ſodann in heulen— des Gebrüll, und ſie enden, wie ſie begonnen. Wirft man einen Blick auf die langbärtigen, überaus ernſthaften Sänger, ſo kann man ſich eines Lächelns kaum erwehren; der jeder Beſchreibung ſpottende Tonunfug aber, deſſen ſie ſich ſchuldig machen, wird bald ebenſo langweilig wie ihre ein— ſeitigen, eher kriechenden als kletternden Bewegungen. Was der eine thut, ahmt der andere gedankenlos nach; aber was er auch thue, wie er auch handeln möge, langweilig bleibt ſein Gebaren ſtets. Ihm durchaus ähnlich oder doch nicht weſentlich von ihm verſchieden betragen ſich alle Wickelſchwanzaffen, nur wenig anders, freier, ſelbſtändiger nämlich, be— nehmen ſich einzelne beſonders hervorragende Glieder der Familie, die Kapuzineraffen z. B. Im allgemeinen ſind ſie geiſtig ebenſo ſchwerfällig als leiblich, zwar meiſt ſehr ſanft, gutmütig, zutraulich, aber auch dumm, 232 Die Affen. grämlich, jammerhaft und einzelne von ihnen eigenſinnig, boshaft und tückiſch. Sie erheben ſich alſo wohl über die Krallenaffen, ſtehen aber hinter den Altweltsaffen weit zurück. Wahrſcheinlich thut man ihnen nicht Unrecht an, wenn man ihnen nachſagt, daß ſie wohl die ſchlechten, nicht aber auch die guten Seiten ihrer altweltlichen Vettern beſitzen. Ihre Sanftmut und Gutmütigkeit wiegt, ganz abgeſehen davon, daß ſie nicht allen Arten zugeſprochen werden darf, den alle gleichmäßig bedrückenden Mangel an Unternehmungsſinn, Keckheit, Munterkeit, Lebhaftigkeit und Entſchloſſenheit, Umſicht und Findigkeit, welche Eigenſchaften die Altweltsaffen ſo hoch ſtellen, nicht im entfernteſten auf, und ihr ewiges Gewinſel und Gejammer beeinträchtigt in unſeren Augen alle Begabungen, welche ihnen unter uns Freunde werben könnten. Wie die neuweltlichen Affen zerfallen auch die in der Alten Welt hauſenden Affen in zwei Gruppen, denen man vielleicht den Rang von Familien zugeſtehen darf, obgleich beider Gebiſſe im weſentlichen ſich ähneln. Wir nennen die einen Hunds-, die anderen Menſchenaffen, und dürfen wohl ſagen, daß jene uns das wahre Affentum kennen lehren, während dieſe bereits über dasſelbe ſich erheben. Für die erſteren ins— beſondere gilt, was ich eingangs ſagte. Zu ihnen zählen ebenſo ſchöne als häßliche, ebenſo anmutige als widerwärtige, ebenſo heitere als ernſt— hafte, ebenſo gutmütige als boshafte Affen. Eigentlich mißgebildete Ge— ſtalten gibt es nicht unter ihnen, da man auch den häßlichen oder uns doch ſo erſcheinenden Arten Ebenmäßigkeit der Geſtalt zuſprechen muß; in vieler Beziehung abſonderliche Geſellen aber weiſen ſie auf. Ihre haupt— ſächlichſten Merkmale liegen in der mehr oder weniger ſtark vortretenden, an die der Hunde erinnernden Schnauze, den verhältnismäßig kurzen Armen, dem ſtets vorhandenen, obſchon bei einzelnen bis zu einem Stummel verkümmerten Schwanze, den mehr oder minder entwickelten Geſäß— ſchwielen und den, wenigſtens bei den meiſten Arten vorkommenden Backen— taſchen. Das Gebiß enthält die regelmäßige Anzahl von zweiunddreißig, in geſchloſſenen Reihen ſtehenden Zähnen. Sie bewohnen alle drei Erd— teile der Alten Welt und treten in Afrika am zahlreichſten auf. Ihre Begabungen und Eigenſchaften ſtellen ſie hoch über Krallen— und Breitnaſenaffen. Sie gehen meiſt recht gut, obgleich einzelne von ihnen in uns erheiternder Weiſe eher humpeln als laufen, vermögen ohne Beſchwerde auf den Beinen allein zu ſtehen und dabei zu voller Höhe ſich aufzurichten, in dieſer Stellung auch mehr oder weniger leicht dahinzu— ſchreiten, klettern unter allen Umſtänden gut, obwohl nur die einen im Die Affen. 2833 Gezweige, die anderen dagegen im Gefelſe dieſe Kunſtfertigkeit bethätigen, ſchwimmen zum teil auch vortrefflich. Diejenigen, welche auf Bäumen leben, klettern fliegend, um mich ſo auszudrücken; denn ihre Künſteleien im Gezweige überſteigen jede Erwartung. Sätze von acht bis zehn Meter Sprungweite ſind kein unmögliches Unterfangen für ſie; von den Wipfel— äſten eines Baumes ſpringen ſie ebenſo tief auf niederere herab, beugen dieſelben durch den Stoß abwärts, geben ſich, in demſelben Augenblicke, welcher den Aſt zurückſchnellen läßt, einen wuchtigen Anſtoß, ſtrecken Schwanz und Hinterbeine lang von ſich, um mit ihnen zu ſteuern, und fliegen wie ein Pfeil durch die Luft. Ein Baumaſt, und ob er mit den gefährlichſten Dornen beſetzt wäre, iſt für ſie ein gebahnter Weg, eine Schlingpflanze Pfad oder Leiter, je nachdem ſelbe benutzt werden kann. Sie klettern vor- oder rückwärts, auf der Unter-, wie auf der Oberſeite eines Aſtes dahin, erfaſſen im Sprunge wie im Fallen ein dünnes Zweig— lein mit einer Hand, verharren, ſo angehängt, beliebig lange in jeder denkbaren Stellung, ſteigen ſodann gemächlich auf den Aſt und nunmehr ſo unbefangen weiter, als hätten ſie ſich auf ebenem Boden befunden. Fehlt die Hand den erſtrebten Zweig, ſo ergreift ihn, nicht minder ſicher, der Fuß; bricht der Aſt unter der jählings auf ihn fallenden Laſt, ſo er— faſſen ſie im Fallen einen zweiten, dritten, und brechen alle, ſo ſpringen ſie eben, gleichviel, um welche Höhen es ſich handelt, auf den Boden hernieder, um an dem nächſten beſten Stamme, an der erſten, ihnen ſich darbietenden Schlingpflanzenranke wieder zur Höhe emporzuklimmen. Mit dem kleben— den oder kriechenden Klettern ihrer neuweltlichen Verwandten verglichen, erſcheint und iſt das ihrige eine wahrhaft freie, feſſelloſe, jedes Hemmnis wegräumende Bewegung. Jene ſind Stümper, ſie vollendete Künſtler, jene Baumſklaven, fie Beherrſcher des Gezweiges. Ebenſo vervollkommt wie ihre Bewegungen iſt auch ihre Stimme. Von ihnen vernimmt man weder zwitſchernde noch pfeifende, weder kla— gende noch heulende, vielmehr, je nachdem ſie eines oder das andere ausdrücken wollen, ſehr verſchiedenartige, den Umſtänden angepaßte, auch uns verſtändliche Laute. Behagen oder Unbehagen, Verlangen oder Ge— nügen, Wohl- oder Uebelwollen, Liebe oder Haß, Gleichmut oder Zorn, Freude oder Schmerz, Vertrauen oder Mißtrauen, Hinneigung oder Ab— neigung, Zärtlichkeit oder Herbheit, Fügſamkeit oder Trotz, insbeſondere aber jählings ſich geltend machende Erregungen, wie Furcht, Schreck, Ent— ſetzen, finden genügenden Ausdruck, ſo beſchränkt auch immerhin noch die Stimmmittel ſein mögen. 234 Die Affen. Hand in Hand mit ſolchen Begabungen gehen die, welche wir geiſtige nennen. Man iſt berechtigt, hervorzuheben, daß die Hand, welche erſt unter ihnen zu voller Bedeutung gelangt, ihnen vor anderen Tieren er— hebliche Vorzüge gewährt, und ihre Leiſtungen teilweiſe größer erſcheinen läßt, als ſie thatſächlich ſind, ſie beiſpielsweiſe zu verſchiedenen Kunſt— ſtücken befähigt, welche einem Hunde oder einem anderen Tiere nie ge— lingen, wird ſie demungeachtet jedoch immer zu den klügſten Säugetieren zählen müſſen. Ein hoher Grad von Ueberlegung iſt ihnen nicht abzu— ſprechen. Ihr vortreffliches Gedächtnis bewahrt treulich die verſchieden— artigſten Eindrücke, und ihr wohlerwägender Verſtand geſtaltet letztere zu Erfahrungen, welche bei entſprechender Gelegenheit trefflich verwertet werden. Daher handeln ſie unverkennbar mit vollem Bewußtſein deſſen, was ſie thun, den Umſtänden gemäß, nicht als willenloſe Sklaven einer von außen her auf ſie einwirkenden Kraft, ſondern ſelbſtändig, frei und wechſelvoll, nehmen ſchlau und liſtig ihren Vorteil wahr und bedienen ſich jedes Hilfsmittels, welches ſie irgendwie benutzen zu können glauben. Sie unterſcheiden Urſache und Wirkung, verſuchen letztere zu erzielen oder zu vereiteln, indem ſie erſtere ſchaffen oder aus dem Wege räumen; ſie er— kennen nicht allein, was ihnen frommt oder ſchadet, ſondern ſie wiſſen auch, ob ſie recht oder unrecht handeln, gleichviel, ob ſie dabei den Stand— punkt des einzelnen lieben, oder den eines ihnen übermächtigen Weſens einnehmen. Nicht blinder Zufall, ſondern Erkenntnis der Erſprießlichkeit regelt und leitet ihr Thun, ordnet ſie dem Ermeſſen des Befähigteren unter, bewegt ſie, gemeinſchaftlich zu wirken und zu handeln, lehrt ſie, gemeinſam einzuſtehen für das Wohl und Wehe des einzelnen, Freud und Leid, Glück und Unglück, Sicherheit und Gefahr, Wohlbefinden und Not mit ihm zu teilen, mit anderen Worten einen auf Gegenſeitigkeit beruhen— den Verband zu bilden, unterweiſt ſie, ihnen von Hauſe aus nicht erb— und eigentümliche Kräfte und Mittel zu verwenden, drückt ihnen endlich Waffen in die Hand, welche die Natur der letzteren nicht verliehen. Leiden— ſchaften aller Art tragen freilich oft genug den Sieg über ihre Beſonnen— heit davon; gerade dieſe Leidenſchaften aber ſprechen wiederum für die Lebhaftigkeit ihrer Empfindungen oder was dasſelbe, für die Regſamkeit ihres Geiſtes. Sie ſind empfindſam wie Kinder, reizbar wie ſchwach— geiſtige Menſchen, daher äußerſt empfänglich für jede Art der Behand— lung, welche ihnen angethan werden kann: für entgegenkommende Liebe wie für abweiſenden Haß, für anſpornendes Lob wie für verletzenden Tadel, für befriedigende Schmeichelei wie für kränkenden Hohn, für Lieb— Die Affen. 935 koſungen wie für Züchtigungen. Deſſenungeachtet laſſen fie ſich nicht jo leicht behandeln, noch weniger leicht zu etwas abrichten, wie beiſpielsweiſe ein Hund oder ein anderes kluges Haustier; denn ſie ſind eigenwillig im hohen Grade und faſt ebenſo ſelbſtbewußt wie der Menſch. Mühelos lernen ſie, immer aber nur, wenn ſie wollen und keineswegs ſtets dann, wenn ſie ſollen; denn ihr Selbſtbewußtſein lehnt ſich auf gegen jede Unterordnung, welche ihnen nicht als für ſie ſelbſt erſprießlich erſcheint. Dabei ſind ſie ſich wohl bewußt, daß ſie nach Befinden beſtraft werden dürften, geben vielleicht Schon im voraus den Unannehmlichkeiten der zu erwartenden Strafe durch entſprechende Laute Ausdruck, verweigern aber dennoch die ihnen zugemutete Leiſtung, wogegen ſie ſolche willig, unter lebhaften Aeußerungen ihres Einverſtändniſſes verrichten, wenn ihnen dies gerade Vergnügen gewährt. Wer ihr Selbſtgefühl in Frage zu ſtellen wagt, braucht ſie nur zu beobachten, wenn ſie ein anderes Tier behan— deln. Sie betrachten ein ſolches, falls nicht Furcht vor deſſen Stärke und Gefährlichkeit ſie abſchreckt, ſtets nur als Spielzeug ihrer Launen, gleich— viel ob ſie es necken und foppen oder hätſcheln und zeitweilig mit Lieb— koſungen überhäufen. Einige Beiſpiele, welche ich ſelbſt verbürgen kann oder für hinlänglich verbürgt erachte, mögen die eben ausgeſprochenen Behauptungen erhärten. Als ich im Bogoslande reiſte, ſtieß ich beim erſten Ritt ins Gebirge auf eine zahlreiche Herde derſelben Mantelpaviane, deren Scheich Kemal el Din Demiri in ſeiner Erzählung gedenkt. Sie ſaßen, ihr wallendes Haar— kleid im Strahle der Sonne trocknend, maleriſch auf den oberſten Zacken einer Felſenwand, wurden von mir mit Büchſenkugeln begrüßt, traten deshalb einen geordneten Rückzug an und flüchteten. Meinen Weg in dem engen und vielfach gewundenen Felſenthale von Menſa fortſetzend, traf ich geraume Zeit ſpäter wiederum mit ihnen zuſammen und zwar im Thale ſelbſt, gerade als ſie ſich anſchickten, dasſelbe zu überſchreiten, um in dem Gefelſe der anderen Seite gegen ähnliche unliebſame Störungen Schutz zu ſuchen. Ein erheblicher Teil der Bande hatte ſeinen Uebergang bereits bewerkſtelligt; der größere Teil ſtand im Begriffe, dies zu thun. Unſere Hunde, ſchöne ſchlanke Windſpiele, gewohnt Hyänen und andere Raubtiere erfolgreich zu bekämpfen, ſtürzten ſich auf die Paviane, welche von fern geſehen eher Raubtieren als Affen gleichen, und trieben ſie ſchleunigſt rechts und links an den Felſenwänden empor. Aber nur die Weibchen flüchteten: die Männchen dagegen warfen ſich ſofort den Hunden entgegen, bildeten einen Kreis um ſie, brüllten, ſchlugen ingrimmig mit den Händen 236 Die Affen. gegen den Boden, riſſen die zähneſtarrenden Mäuler weit auf und blickten ihre Gegner ſo wütend und boshaft an, daß die ſonſt ſehr mutigen, kampf— geſtählten Tiere verdutzt zurückprallten und faſt ängſtlich bei uns Schutz ſuchten. Bevor es uns gelang, ſie wieder zum Kampfe anzufeuern, hatte ſich die Lage der Affen weſentlich verändert, denn als die Hunde von neuem gegen ſie anſtürmten, befand ſich beinahe die ganze Herde in Sicherheit. Ein noch zurückgebliebenes, etwa halbjähriges Junge kreiſchte, als es die Hunde auf ſich zueilen ſah, laut auf, erreichte jedoch noch vor ihnen einen Felsblock und ſuchte auf ihm Zuflucht und Rettung. Unſere Hunde ſtellten es kunſtgerecht, ſchnitten ihm dadurch den Weg zur Flucht ab und erweckten in uns die Hoffnung, es einfangen zu können. Doch es ſollte anders kommen. Stolz und würdevoll, ohne ſich im geringſten zu beeilen und ohne uns zu beachten, ſchritt ein uraltes Männchen, vom ſicheren Felſen zurückkehrend, auf das bedrängte Junge zu, trat, ohne irgendwie Furcht zu verraten, den Hunden entgegen, hielt ſie durch Blicke, Gebärden und allſeitig verſtändliche Laute in Achtung, erſtieg langſam den Felsblock, nahm das bedrohte Affenkind an ſeine Bruſt und trat, bevor wir ſelbſt zur Stelle ſein konnten, mit ihm den Rückweg an, ohne daß die erſichtlich verblüfften Hunde wagten, dieſen ihm zu verlegen. Während dieſer mutigen That der Selbſtaufopferung des Stammvaters wurden in dem dichten Geſtrüpp auf der Felswand, welcher die Affen ſich zugewendet hatten, Töne laut, wie ich ſie bis dahin von Pavianen niemals vernommen. Alt und jung, Männchen und Weibchen brüllten, kreiſchten, knurrten, brummten, bellten durcheinander, daß man hätte glauben können, ſie ſeien mit Leoparden oder ſonſtigen gefährlichen Raubtieren in Kampf geraten. Es war, wie ich ſpäter erkennen ſollte, das Feld- oder Kampfgeſchrei der Affen, welches ich hörte: ſie bezweckten damit offenbar, uns und die Hunde zu ſchrecken, vielleicht auch den thatluſtigen alten Recken, welcher ſich vor ihren Augen ſo erſichtlich in Gefahr begab, zu ermutigen. Einige Tage ſpäter ſollte ich erfahren, daß die ſelbſtbewußten Tiere es auch mit Menſchen aufnehmen. Beim Zurückkehren aus dem Bogos— lande ſtießen wir wiederum auf eine, vielleicht dieſelbe ſtarke Herde und eröffneten vom Thale aus gegen ſie mit ſieben Doppelbüchſen ein wirk— ſames Feuer. Unſere Schüſſe brachten unbeſchreibliche Wirkung hervor. Dasſelbe Schlachtgeſchrei, wie ich es früher gehört, ſchallte uns entgegen, und wie auf Befehl eines Feldherrn bereiteten ſich alle zum Streite. Während die kreiſchenden Weibchen mit den Jungen eiligſt flüchteten und über den Kamm der Felſen laufend, dem Bereiche unſerer Waffen ſich Mantelpaviane. Die Affen. 237 entzogen, traten die alten Männchen, wutfunkelnden Blickes, mit den Händen gegen den Boden ſchlagend, eher bellend als brüllend, auf vorſpringende Steine und Felszacken, überſchauten einige Augenblicke lang, fortwährend brummend, knurrend, ſchreiend und ſonſtige Laute ausſtoßend, die Tiefe, und begannen hierauf mit ſolchem Eifer und Geſchick Steine auf uns herab— zurollen, daß wir das Lebensgefährliche unſerer Stellung ſofort einſehen und flüchten mußten. Wäre es uns unmöglich geweſen, an den jenſeitigen Wänden des engen Thales emporzuklettern und ſo uns gegen die Geſchoſſe der Affen zu ſichern: wir wären regelrecht geſchlagen worden. Die klugen Tiere verfuhren bei ihrer Abwehr nicht allein planmäßig, ſondern han— delten auch in Uebereinſtimmung, gemeinſchaftlich nach einem Ziele ſtrebend und gemeinſam zur Erreichung desſelben ihre Kräfte einſetzend. Ein Mit— glied unſerer Geſellſchaft ſah, wie einer der Kämpen ſeinen Stein auf einen Baum ſchleppte, um ihn von hier aus deſto wirkſamer in die Tiefe zu ſchleudern; ich ſelbſt nahm wahr, wie ihrer zwei einen ſchweren Stein ins Rollen brachten. Zu ſolchen Mitteln der Abwehr greift kein anderes Tier als der hochſtehende Affe, ebenſowenig als irgend ein anderes Tiermännchen ſich Gefahren ausſetzt, um ein hilfloſes Junge ſeiner Art zu retten. Derartige Züge dürfen nicht verkannt und können nicht falſch beurteilt werden; denn ſie ſprechen für ſich ſelbſt lauter und beſſer als alle jene ſpitzfindigen Aus— einanderſetzungen derer, welche dem Tiere Verſtand Fund ſelbſtthätiges Handeln abſtreiten wollen. Wie genau die Hundsaffen Urſache und Wirkung erkennen und unter— ſcheiden, kann jeder wahrnehmen, welcher ſie vorurteilsfrei beobachtet. Sie öffnen Thüre und Fenſter, Schubladen, Kaſten und Schachteln, löſen Knoten und beſeitigen andere Hinderniſſe, nachdem ſie einmal geſehen haben, wie ſolches bewerkſtelligt werden muß; aber ſie erfinden auch Mittel, um ähn— liches zu erreichen. Ein Babuin, welchen ich pflegte und in die Familie aufnahm, bemächtigte ſich einer jungen Katze in der Abſicht, ſie als Hätſchel— kind zu warten und zu bemuttern, wurde von dem erſchreckten Pfleglinge gekratzt, unterſuchte aufmerkſam die Tatzen, drückte die Nägel hervor, be— ſah ſie von oben und unten wie von der Seite und biß ſie ab, um ferner— hin vor Verletzungen geſichert zu ſein. Derſelbe Pavian wurde von meinem Bruder oder mir wiederholt dadurch erſchreckt, daß wir vor ihm ein Häufchen Pulver auf den Boden ſchütteten und dasſelbe mittels eines Stückchens brennenden Schwammes entzündeten. Das plötzliche Aufblitzen des Pulvers verurſachte unſerem Babuin einen ſolchen Schreck, daß er 238 Die Affen. jedesmal laut aufſchrie und mit jo weitem Satze zurückſprang, als der ihn feſſelnde Strick zuließ. Einigemale nacheinander ſo erſchreckt, ſteuerte er erneuerten Beläſtigungen einfach dadurch, daß er den glimmenden Feuer— ſchwamm ſo lange mit der Hand klopfte, bis der Funke erſtickt war, und das Pulver ſelbſt auffraß. Anderſeits beſchwor er ſelbſt Schreck und Ent— ſetzen herauf. Wie alle Affen ohne jegliche Ausnahme, fürchtete er Kriech— tiere, vor allen anderen Schlangen, in maßloſer, für uns ergötzlicher Weiſe. Wir foppten ihn deshalb oft, indem wir eine lebende, tote oder ausgeſtopfte Schlange in eine breite Blechſchachtel ſteckten und dieſe ihm verſchloſſen reichten. Er kannte zuletzt Schachtel und Inhalt genau, war aber unfähig, ſeine Neugier zu bemeiſtern und öffnete jene jedesmal, um unmittelbar darauf kreiſchend zu flüchten. Nicht zufrieden, wirklich vorhandene Urſachen zu erkennen, ſuchte dieſer Affe in Fällen, welche ihm Unannehmlichkeiten zuzogen, nach vermeintlichen. Irgend etwas, irgend jemand mußte an erlittenem Ungemach die Schuld tragen. Dementſprechend wandte ſich ſein voller Ingrimm auf den erſten beſten, welcher ihm in Sicht kam. Wurde er beſtraft, ſo richtete ſich ſein Zorn nicht gegen ſeinen Pfleger und Gebieter, ſondern einzig und allein gegen denjenigen, welcher bei der Beſtrafung zugegen war: dieſer mußte die Urſache der ſchnöden Behandlung ſein, welche der ſonſt ſo gute Herr ihm angedeihen ließ. Er verdächtigte alſo, genau ebenſo, wie unkluge Menſchen in ähnlichen Fällen zu thun pflegen. Aeußerſt empfindlich gegen jede ihm angethane oder auch nur zuge— dachte Unbill, nicht minder gegen jede Neckerei oder Fopperei, konnte ge— dachter Babuin doch nie unterlaſſen, andere Tiere zu necken, zu ärgern und ſelbſt zu mißhandeln. Unſer alter grämlicher Dachshund hielt, be— haglich in der Sonne liegend, ſeinen Mittagsſchlaf. Der Babuin ſah dies, ſchlich ſich vorſichtig heran, blickte mit tückiſchem Blinzeln der kleinen Augen dem Hunde ins Geſicht, um ſich zu überzeugen, ob er auch wirklich ſchlafe, packte jählings den Schwanz des Schläfers und brachte ihn durch einen kräftigen Ruck aus der Traumwelt in die Wirklichkeit zurück. Ingrimmig verſuchte der Hund die erlittene Schmach zu rächen, indem er auf den Störenfried losfuhr. Dieſer aber entging, mit einem einzigen Satze über den anſtürmenden Hund hinweg, der drohenden Strafe, hatte im nächſten Augenblicke den Schwanz des Hundes wieder gepackt, den Däckel von neuem beleidigt und weidete ſich erſichtlich an der Ohnmacht des grämlichen Gegners, bis dieſer mit geſichertem, d. h. eingezogenem Schwanze, raſend vor Zorn und Aufregung, unfähig ſelbſt zu bellen, keuchend und geifernd das Weite Die Affen. 239 ſuchte und dem böſen Feinde das Feld überließ. Wäre der Pavian im ſtande geweſen, zu lachen: die Aehnlichkeit zwiſchen ſeinem und eines bos— haftigen Menſchen Thun würde vollſtändiger Uebereinſtimmung gewichen ſein. Mit allgemein verſtändlichem Spott und Hohn wurde der Beſiegte ohnehin überſchüttet. Er dagegen nahm jede Neckerei gewaltig übel, konnte ſchon durch das Gelächter eines Unbefugten in Zorn und Wut verſetzt werden und verſäumte gewiß nicht, bei erſter Gelegenheit, ob ſolche auch erſt nach Verlauf von Wochen gefunden werden mochte, ſich zu rächen. Aber freilich: er war Affe und fühlte ſich als ſolcher, betrachtete den Hund als ſo untergeordnetes Weſen, daß ſeine Anmaßung ebenſo verzeihlich, wie die jedes anderen Weſens, ſobald es ſich um ihn ſelbſt handelte, verwerflich und ſtrafbar erſchien. Von dieſem Selbſtgefühl oder richtiger dieſer Selbſtüberhebung, geben die Hundaffen jedem achtſamen Beobachter tagtäglich Beweiſe. Gedachter Babuin liebte, wie alle Affen, Pflege- oder Hätſchelkinder ungemein, ins— beſondere aber eine Meerkatze, welche denſelben Käfig mit ihm teilte, ihm auch außerhalb desſelben anvertraut werden durfte, weil ſie ſtets an ſeiner Seite, förmlich in ſeinem Banne war, in ſeinen Armen ſchlief und ihm ſklaviſch gehorchte. Er verlangte ſolchen Gehorſam und betrachtete ihn als etwas ganz Selbſtverſtändliches; unbedingte Unterwürfigkeit aber forderte er, wenn es ſich um die Mahlzeit handelte. Während die gutmütige und gehorſame Meerkatze widerſtandslos geſchehen ließ, daß ſeine Pflegemutter — denn unſer Babuin war weiblichen Geſchlechts — jeden guten Biſſen vor— weg nahm, gönnte ihr letztere nur das Allernotwendigſte und brach, wenn es dem Pflegekinde doch gelungen war, etwas beiſeite, beziehentlich in die Backentaſchen zu bringen, letztere einfach auf, um den Inhalt wieder zu leeren und für ſich zu verwenden. So groß die Anmaßung, ſo ungemeſſen die Selbſtüberhebung der Hundsaffen ſein mag, ſo gut oder ſo genau ſind ſie ſich bewußt, Unrecht gethan, eine ſtrafwürdige Handlung verübt zu haben. Hierfür bringt Schomburgk einen äußerſt lehrreichen Beleg bei. In der tierkundlichen Abteilung des Pflanzengartens zu Adelaide lebte in einem Käfige mit zwei jüngeren Artgenoſſen, dieſe ſelbſtverſtändlich beherrſchend und beknechtend, ein alter Hutaffe. Durch irgend welchen Zufall gereizt, überfällt derſelbe eines Tages plötzlich ſeinen Wärter und bringt ihm, eine Schlagader des Handgelenks durchbeißend, eine gefährliche Verwundung bei. Schomburgk verurteilte ihn deshalb zum Tode und beauftragt einen anderen Wärter, das Urteil mittels Pulver und Blei zu vollſtrecken. Die Affen ſind an 240 Die Affen. Feuerwaffen, welche vielfach gebraucht werden, um dem Garten ſchädliche Tiere zu töten, vollkommen gewöhnt, kennen zwar deren Wirkung, be— unruhigen ſich aber nicht im geringſten, wenn ſie in ihre unmittelbare Nähe gebracht werden. Auch jetzt, am nächſten Tage nach der Unthat des alten Tyrannen, bleiben die beiden jungen Affen beim Erſcheinen des mit der Hinrichtung ihres Genoſſen betrauten Wärters ruhig am Futter— troge ſitzen, der verurteilte Verbrecher dagegen flieht in größter Eile in ſeinen Schlafkäfig und läßt ſich durch keinerlei Lockung bewegen, denſelben zu verlaſſen. Man verſucht, ihn durch vorgeſetztes Futter zu ködern: er ſieht, was er vorher nie gethan, ſeine beiden unterjochten Genoſſen die leckere Koſt verzehren und wagt nicht, am Mahle teilzunehmen. Erſt Die Affen. 241 als der verderbendrohende Wärter ſich entfernt, ſchleicht er verſtohlen hinzu, nimmt raſch einige Brocken und flüchtet angſtvoll in ſein ſicheres Verſteck zurück. Es gelingt endlich, ihn zum zweitenmal herauszulocken und den Zugang ſeines Schlupfwinkels von außen zu verſchließen. Als er nun— mehr den Wärter mit der Todeswaffe wiederum auf den Käfig zuſchreiten ſieht, erkennt er, daß er verloren iſt. Wie wahnſinnig ſtürzt er ſich auf die Thüre des Schlafkäfigs, um ſie womöglich zu öffnen; als ihm dies nicht gelingt, ſtürmt er, alle Winkel und Lücken auf die Möglichkeit zum Entfliehen hin unterſuchend, durch den ganzen Käfig; und endlich, keine töglichfeit zur Flucht entdeckend, am ganzen Leibe zitternd und bebend, wirft er ſich verzweiflungsvoll auf den Boden und ergibt ſich willenlos in das Schickſal, welches ihn einen Augenblick ſpäter ereilt. Man wird zugeſtehen müſſen, daß kein einziges, anderen Ordnungen angehöriges Säugetier, nicht einmal der von uns ſeit Jahrtauſenden be— handelte, gelehrte, unterrichtete, ſtreng genommen, geſchaffene Hund, ähn— lich handelt, wie geſchildert, alſo, was dasſelbe, zu ähnlicher Hochgeiſtigkeit gelangt. Und dennoch liegt immerhin noch eine weite Kluft zwiſchen den Hunds- und den Menſchenaffen, von welch letzteren ich ſagte, daß ſie be— reits über das durchſchnittliche Affentum ſich erheben. Wir verſtehen unter Menſchenaffen diejenigen, welche in ihrer Geſtalt dem Menſchen am meiſten ähneln, von dieſem aber durch die ſtark hervor— tretenden Eckzähne, die verhältnismäßig langen Arme und kurzen Beine, den Bau der Hand, die bei einzelnen Arten vorkommenden Geſäßſchwielen und das Haarkleid auch äußerlich noch immer weſentlich ſich unterſcheiden. Sie bewohnen die Gleicherländer Aſiens und Afrikas, erſteres zahlreicher an Arten als dieſes, und zerfallen in drei Sippen, von denen die eine auf Afrika beſchränkt iſt. Jede dieſer Sippen umfaßt nur wenige Arten; doch ſcheint es, als ob uns gegenwärtig noch keineswegs alle bekannt ſeien. Auch die Menſchenaffen ſind, gemäß ihres Baues, auf Bäume an— gewieſen, aber ebenſowenig wie Schlankaffen, Meerkatzen und Makaken Baumſklaren, vielmehr ausgezeichnete Kletterer. Sie bewegen ſich jedoch im Gezweige wie auf dem Boden weſentlich anders als alle übrigen Affen. Beim Erklettern eines Baumes und namentlich eines glatten aſtloſen Stammes nehmen ſie dieſelbe Stellung an, wie ein Menſch, welcher Bäume beſteigt, fördern ſich aber, dank ihrer langen Arme und kurzen Beine, weit ſchneller als der geübteſte menſchliche Kletterer; im Geäſte angelangt, be— ſchämen ſie jeden Turner durch die Mannigfaltigkeit und Sicherheit ihrer Brehm, Vom Nordpol zum Aeqʒuator. 16 242 Die Affen. Bewegungen. Mit den weitausgreifenden Armen packen fie einen Aſt, mit den Füßen umklammern ſie einen gleichlaufenden, tieferen etwa zur Hälfte und laufen nunmehr auf ihm, den oberen Zweig als Geländer benutzend, ſo raſch dahin, daß ein unter ihnen gehender Mann ſich weidlich anſtrengen muß, wenn er mit ihnen gleichen Schritt halten will, wogegen ſie nicht die geringſte Anſtrengung kundgeben. An der Spitze des Aſtes angelangt, ergreifen ſie einen ihnen erreichbaren Aſt oder Zweig des benachbarten Baumes und ſetzen auf dieſem ihren Weg mit unverminderter Eile, jedoch ohne jegliche Haſt, in derſelben Weiſe fort. Beim Aufwärtsſteigen genügt ihnen der erſte beſte, unter ihrem Gewichte nicht brechende Zweig, welchen ſie erfaſſen können, um ſich mit der größten Leichtigkeit emporzuſchwingen, gleichviel, ob ſie den Zweig zuerſt nur mit einer Hand oder ſogleich mit beiden packen konnten; beim Niederſteigen hängen ſie ſich an beiden Armen auf und ſuchen mit den Füßen neuen Halt zu gewinnen. Bisweilen ſchaukeln ſie ſich, in der eben geſchilderten Stellung aufgehängt, minutenlang zu ihrem Vergnügen; manchmal laufen ſie mit Händen und Füßen einen Aſt faſſend, zur Abwechſelung an der unteren Seite desſelben dahin: kurz, jede denkbare Stellung und Bewegung im Gezweige wird von ihnen aus— geführt. Als geradezu unerreichbare Meiſter im Klettern erſcheinen die Langarmaffen oder Gibbons, Menſchenaffen mit ſo unverhältnismäßig langen Armen, daß ſie doppelt ſo weit klaftern können, als die Länge ihres in aufrechter Stellung gedachten Leibes beträgt. Mit unvergleichlicher Schnelligkeit und gleicher Sicherheit erklettern ſie einen Baumwipfel oder Bambusſtengel, verſetzen ihn oder einen geeigneten Zweig in Schwingungen und ſchnellen ſich ſodann beim Zurückprallen desſelben mit ſolcher Leich— tigkeit über Zwiſchenräume von acht bis zwölf Meter hinweg, daß es aus— ſieht, als flögen ſie wie abgeſchoſſene Pfeile oder abwärts ſtoßende Vögel. Auch ſie ſind im ſtande, noch im Sprunge die zuerſt beabſichtigte Richtung zu ändern und ihren Sprung jählings zu unterbrechen, indem ſie den erſten beſten Zweig ergreifen, an ihm ſich feſthängen, ſchaukeln, wiegen und ihn endlich erſteigen, ſei es, um fortan ein Weilchen zu ruhen, oder ſofort wiederum das alte Spiel zu beginnen. Nicht ſelten ſpringen ſie ſolcherart drei-, vier-, fünfmal nacheinander durch die Luft und laſſen dann faſt ver— geſſen, daß die Geſetze der Schwere auch für ſie maßgebend ſind. Ebenſo ausgezeichnet als ſie klettern, ebenſo ſchwerfällig gehen ſie. Andere Menſchen— affen ſind im ſtande, ohne ſonderliche Beſchwerde in aufrechter Stellung, alſo auf den Füßen allein, ein mehr oder minder bedeutendes Stück Weg ohne Unterbrechung zurückzulegen, fallen jedoch bei eiligem Laufe ſtets auf Die Affen. 243 alle Viere, hierbei auf die eingeſchlagenen Knöchel der Finger, hinten auf die äußeren Kanten der Füße ſich ſtützend, und den Leib zwiſchen den auf— geſtemmten Armen hindurch mühſam und ſchwerfällig vorwärts werfend; die Langarmaffen aber bewegen ſich nur im äußerſten Notfalle in dieſer Weiſe und dann mehr hüpfend als laufend, legen dagegen kürzere Strecken zurück, indem ſie ſich zu voller Höhe aufrichten und mit den bald weniger, bald weiter ausgebreiteten Armen im Gleichgewichte halten, die Daumen— zehen möglichſt ſpreizen und nunmehr mit kleinen, raſch aufeinanderfolgen— den Schritten kläglich dahintrippeln. Ihre Bewegungen müſſen daher als einſeitige bezeichnet werden; denn was ſie an Kletterfertigkeit vor anderen Menſchenaffen voraus haben, wiegt ihre Hilfloſigkeit auf dem Boden nicht auf. Höchſt beachtenswert iſt die Stimmbefähigung der Menſchenaffen. Wir finden nämlich, daß die beweglichſten und behendeſten Arten der Gruppe auch die lauteſte, die vielſeitiger entwickelten, obwohl minder eilfertigen Menſchen— affen dagegen die wechſelvollſte Stimme haben. Ich ſage nicht zu viel, wenn ich behaupte, daß ich niemals die Stimme eines Säugetieres, den Menſchen immer ausgenommen, gehört habe, welche volltönender und wohl— lautender in mein Ohr geklungen hätte als die der von mir in Gefangen— ſchaft beobachteten Langarmaffen. Zuerſt war ich erſtaunt, ſpäter entzückt von dieſen, aus tiefſter Bruſt gegebenen, mit vollſter Kraft ausgeſtoßenen, mir durchaus nicht unangenehmen, weil vollkommen reinen und abgerun— deten Tönen. Bei einer Art beginnt der ſchallende Ruf, welchen ich eher Geſang als Geſchrei nennen möchte, mit dem Grundtone E und ſteigt, die chromatiſche Tonleiter durchlaufend, in halben Tönen eine volle Oktave hinauf und hinab mit einem gellenden Laute endend, in welchem ſich alle Kraft des Tieres zu vereinigen ſcheint. Der Grundton bleibt immer hörbar und dient als Vorſchlag für jede folgende Note, welche beim Auf— ſteigen der Tonleiter ſtetig langſamer, beim Abſteigen derſelben raſcher und zuletzt ungemein raſch aufeinander folgen, ein wie allemal aber ebenſo regelmäßig als ſchnell vorgetragen werden. Einzelne Arten der Sippe ſollen minder reine Töne zu hören geben, alle aber ſo laut rufen, daß man ſie im Freien eine volle engliſche Meile weit deutlich vernehmen kann. Dieſelbe Wechſelbeziehung zwiſchen Bewegungsfähigkeit und Stimmbegabung bemerken wir bei anderen Menſchenaffen. Von dem langſam ſich be— wegenden, uns ſchwermütig erſcheinenden Orang-Utang hat man, ſoviel mir bekannt, nur einen ſtarken und tiefen Kehllaut vernommen; der muntere, bewegliche, geweckte Schimpanſe dagegen verſteht den wenigen Lauten, 244 Die Affen. über welche er verfügt, eine jo wechſelvolle Betonung zu geben und fie zu ſo verſtändlichem Ausdrucke zu verwenden, daß man verſucht wird, ihm Sprache zuzugeſtehen. Mit Worten ſpricht er freilich nicht, wohl aber mit Lauten, ſelbſt Silben, über deren ſich gleichbleibende Bedeutung dem Beobachter, welcher länger mit ihm verkehrte, kein Zweifel aufkommen kann. Andere ſeiner Sippe angehörige Menſchenaffen dürften ihm hierin nicht nachſtehen. Wer erfahren will, bis zu welcher Höhe die geiſtige Begabung eines Affen ſich zu erheben vermag, muß den Schimpanſe oder einen ſeiner nächſten Verwandten zur Beobachtung wählen und mit ihm längere Zeit innigen Umgang pflegen, wie ich gethan habe: er wird dann mit Ver— wunderung und Staunen, vielleicht auch gelindem Grauen erkennen, wie weit die Kluft, welche Menſch und Tier ſcheidet, ſich verringern kann. Auch die anderen Menſchenaffen ſind geiſtig hochbegabte Geſchöpfe; auch ſie übertreffen in dieſer Beziehung alle übrigen Affen; ihre Begabungen gelangen aber weder bei den Langarmaffen noch bei dem Orang-Utang zu ſo allgemein verſtändlichem Ausdrucke, ich möchte ſagen, zu derartig zwingender Geltung wie bei jenen. Sie, die Pongos — Gorilla, Tſchego und Schim— panſe — kann, darf man nicht mehr wie Tiere behandeln, muß vielmehr mit ihnen wie mit Menſchen verkehren, wenn man ihre Geiſtesgaben erkennen und abwägen will. Ihr Verſtand ſteht dem eines rohen, ungeſchulten, un— gebildeten Menſchen wenig nach. Sie ſind und bleiben Tiere; aber ſie handeln ſo menſchlich, daß man das Tier in ihnen vergeſſen möchte. Ich habe Jahre nacheinander Schimpanſen gepflegt, ſie genau und ſo viel als möglich vorurteilsfrei beobachtet, mit ihnen eifrig und innig verkehrt, ſie in meine Familie aufgenommen, zu Spielgenoſſen meiner Kinder erhoben, an meinem Tiſche mit mir ſpeiſen laſſen, ſie unterrichtet, gelehrt, förmlich erzogen, in Krankheiten abgewartet und auch in ihrer Todesſtunde nicht verlaſſen: ich darf daher glauben, ſie ebenſogut kennen gelernt zu haben als irgend ein anderer, und zu einem zutreffenden Urteile über ſie berechtigt zu ſein. Aus dieſen Gründen wähle ich den Schim— panſe zu dem Verſuche, darzulegen, wie weit die geiſtige Begabung eines Tieres reicht. Der Schimpanſe iſt nicht allein eines der klügſten aller Geſchöpfe, ſondern auch ein nachdenkliches und ſinniges Weſen. Jede ſeiner Hand— lungen geſchieht mit Bewußtſein und Ueberlegung. Er ahmt nach, aber mit Verſtändnis und Urteil: er läßt ſich belehren und lernt. Er erkennt ſich und ſeine Umgebung und iſt ſich ſeiner Stellung bewußt. Im Um— Die Affen. 245 gange mit Menſchen ordnet er ſich höherer Begabung unter; im Verkehre mit Tieren bethätigt er ein ähnliches Selbſtbewußtſein wie der Menſch. Was bei anderen Affen in dieſer Beziehung angedeutet iſt, erſcheint bei ihm klar ausgeſprochen. Er hält ſich für beſſer, für höherſtehend als andere Tiere, auch andere Affen; er würdigt auch den Menſchen genau nach ſeiner Bedeutung und behandelt daher Kinder weſentlich anders als Schimpanſe. Erwachſene: letztere achtet er, erſtere betrachtet er als ungefähr ebenbürtige Kameraden. Er bekundet Teilnahme für Tiere, mit denen er weder Freundſchaft ſchließen, noch andere Verbindungen anknüpfen kann, ebenſo für Gegenſtände, welche mit ſeinen natürlichen Bedürfniſſen nicht im Zu— ſammenhange ſtehen; denn er iſt nicht allein neugierig, ſondern förmlich wißbegierig: ein Gegenſtand, welcher ſeine Aufmerkſamkeit erregte, gewinnt an Wert in ſeinen Augen, wenn er demſelben eine Nutzung abgewonnen hat. Er verſteht Schlüſſe zu ziehen, von dem einen auf anderes zu folgern, 246 Die Affen. Erfahrungen auf neue Verhältniſſe zweckentſprechend zu übertragen, ift liſtig, ſogar verſchmitzt, hat witzige Einfälle und erlaubt ſich Späſſe, be— kundet Launen und Stimmungen, unterhält ſich in dieſer und langweilt ſich in jener Geſellſchaft, geht auf paſſende Scherze ein und weiſt un— paſſende von ſich, iſt eigenwillig, aber nicht ſtörriſch, gutmütig, aber nicht unſelbſtändig. Seine Gefühle drückt er aus wie ein Menſch. In heiterer Stimmung ſchmunzelt er vergnügt, in trüber zieht er ſein Geſicht in Falten, welche für ſich ſelbſt ſprechen, und erläutert dieſelben noch beſonders durch klägliche Laute, bei Kränkungen gebärdet er ſich wie ein Verzweifelter, verzerrt ſein Geſicht, kreiſcht, wirft ſich auf den Rücken, ſchlägt mit Händen und Füßen um ſich und rauft ſein Haar. Wohlwollende Zurufe erwidert er durch Laute, welche Befriedigung, übelwollende durch ſolche, welche Kummer ausdrücken. Er iſt rege und thätig vom Morgen bis zum ſpäten Abend, ſucht ununterbrochen Beſchäftigung und erſinnt ſich ſolche, wenn er mit gewohnten Uebungen und Handlungen zu Ende gekommen iſt, ſollte er auch nur mit den Händen klatſchend an ſeine Füße ſchlagen oder durch Klopfen auf hohlliegenden Brettern tönende, ihn ſichtlich erfreuende Geräuſche hervorrufen. Im Zimmer befaßt er ſich mit genaueſter Unter— ſuchung aller ihm auffallenden Gegenſtände, öffnet Schubladen und kramt deren Inhalt aus, ſieht nach dem Feuer, indem er die Ofenthüre öffnet und ſchließt, handhabt einen Schlüſſel in regelrechter Weiſe, ſtellt ſich vor den Spiegel und ergötzt ſich an dem Widerſpiele ſeiner eigenen Gebärden und Fratzen, gebraucht Beſen und Wiſchlappen, wie ihm gelehrt worden, hüllt ſich in Decken und Kleider und dergleichen mehr. Wie ſcharf er beobachtet, geht ſchlagend aus ſeiner faſt immer richtigen Beurteilung der Menſchen hervor. Er kennt und unterſcheidet nicht allein ſeine Freunde von anderen Leuten, ſondern auch wohlwollende von übel— wollenden Menſchen ſo ſcharf, daß der Wärter eines Schimpanſe überzeugt war, jeden Menſchen, welchen der Schimpanſe abſtieß, als Taugenichts oder Böſewicht bezeichnen zu dürfen. Ein vollendeter, aber feiner Heuchler, welcher mich und andere täuſchte, war dem einen Schimpanſe vom Anfange an ein Greuel, gerade als ob er den rothaarigen Schuft vom erſten Augen— blicke an erkannt gehabt hätte. Am liebſten verkehrt jeder Schimpanſe, mit welchem man ſich viel beſchäftigt, im Kreiſe einer Familie. Hier benimmt er ſich, als ob er ſich unter ſeinesgleichen fühle. Er achtet genau auf Sitte und Gewohnheit des Hauſes, merkt ſofort, ob er beobachtet wird oder nicht, und thut im erſteren Falle das, was er ſoll, im letzteren das, was ihm gerade behagt. Spielend leicht und mit wahrem Eifer, ganz im Die Affen. 247 Gegenſatze zu anderen Affen, lernt er, was ihm gelehrt wird, beiſpiels— weiſe aufrecht am Tiſche zu ſitzen, mit Löffel, Meſſer und Gabel Speiſe in den Mund zu führen, aus einem Glaſe oder einer Taſſe zu trinken, den Zucker in der Taſſe umzurühren, mit dem Nachbar anzuſtoßen, ſich des Mundtuches zu bedienen u. ſ. w.; ebenſo leicht gewöhnt er ſich an Kleidungsſtücke, Decken und Betten; ohne ſonderliche Mühe eignet er ſich endlich ein Verſtändnis der menſchlichen Sprache an, welches das eines wohlgezogenen Hundes bei weitem übertrifft, da er ſich nicht nach der Betonung, ſondern nach der Bedeutung der Worte richtet und beſtimmte Aufträge nicht minder richtig als Befehle zur Ausführung bringt. Aeußerſt empfänglich für jegliche Liebkoſung oder Schmeichelei und ſelbſt für ge— ſpendetes Lob, ebenſo empfindlich gegen unfreundliche Behandlung oder ſchon Tadel, iſt er auch lebhafter Dankbarkeit fähig und beweiſt dieſe, ohne hierzu beſonders abgerichtet worden zu ſein, durch Handſchlag und Kuß. Beſonders lebhafte Zuneigung legt er Kindern gegenüber an den Tag. An und für fi weder tückiſch noch bösartig, behandelt er Kinder, ſolange ſie ihn nicht reizen, ſtets äußerſt freundlich, kleine, noch unbehilf— liche Kindlein aber mit wahrhaft rührender Zärtlichkeit und Zartheit, wo— gegen er im Verkehr mit anderen ſeiner Art, anderen Affen und anderen Tieren nicht ſelten rauh und unfreundlich ſein kann. Ich hebe dieſen Charakterzug, welchen ich bei allen von mir gepflegten Schimpanſen wahr— genommen habe, namentlich deshalb hervor, weil er zu beweiſen ſcheint, daß der Schimpanſe auch im kleinſten Kinde den Menſchen erkennt und würdigt. Rührend gebärdet ſich ein kranker, ſchwer leidender Menſchenaffe. Kläglich bittend, wahrhaft menſchlich ſchaut er ſeinem Pfleger ins Geſicht, erkennt jede Hilfe oder doch Hilfsleiſtung mit warmem Danke und in dem Arzte bald ſeinen Wohlthäter, hält letzterem den Arm hin oder ſtreckt die Zunge heraus, ſobald dies gefordert wird, thut dasſelbe nach einigen Be— ſuchen des Arztes auch ganz von ſelbſt, nimmt Arzneien willig ein, läßt ſich ſogar wundärztliche Eingriffe gefallen, benimmt ſich, mit einem Worte, nicht viel anders als ein kranker und geduldiger Menſch. Je mehr ſein Ende ſich nähert, um ſo milder wird er, um ſo mehr verliert ſich das Tieriſche, um ſo heller treten die edleren Züge ſeines Weſens hervor. Der Schimpanſe, welchen ich am längſten pflegte und mit Hilfe eines verſtändigen, tierfreundlichen Wärters am ſorgfältigſten erzog, er— krankte an Lungenentzündung, zu welcher ſich Vereiterung der Lymphdrüſen des Halſes geſellte. Wundärztliche Behandlung der eiternden Drüſen er— 248 Die Affen. wies ſich als notwendig. Zwei mir und dem Schimpanſe befreundete Aerzte unternahmen es, die Geſchwulſt am Hals zu öffnen, um ſo mehr, als der Affe in ihr den Sitz ſeines Leidens zu erkennen vermeinte und die Hand des unterſuchenden Arztes fort und fort nach ihr hinleitete. Aber wie ſollte der notwendige Schnitt an der gefährlichen Stelle aus— geführt werden, ohne das Tier zu gefährden? Betäubende Mittel waren wegen der kranken Lunge ausgeſchloſſen, und der Verſuch, den Schimpanſe durch mehrere kräftige Männer feſthalten zu laſſen, ſcheiterte an deſſen hochgradiger Erregung und dem nachdrücklichen Widerſtande, welchen er leiſtete. Was Gewalt nicht zu erreichen vermochte, erzielte Ueberredung. Durch gütliches Zureden und Liebkoſungen ſeitens ſeines Wärters wieder beruhigt, geſtattete der Affe nochmalige Unterſuchung der eiternden Ge— ſchwulſt, und ohne mit einer Wimper zu zucken, Annäherung und Gebrauch des Meſſers, ſowie ohne zu klagen, anderweitige ſchmerzende Eingriffe des Arztes, insbeſondere die Nachhilfe bei Entleerung der geöffneten Geſchwulſt. Mit dieſer trat augenblickliche Befreiung von der bisher quälenden Atemnot ein; ein unverkennbarer Ausdruck der Erleichterung drückte ſich im Geſichte des Leidenden aus, und dankbar reichte er beiden Aerzten die Hand, beglückt umarmte er ſeinen Wärter, ohne zu der einen wie zu der anderen Hand— lung aufgefordert worden zu ſein! Leider vermochte die Beſeitigung des einen Leidens das Leben des Tieres nicht zu retten. Die Halswunde heilte, aber die Lungenentzündung griff um ſich und machte ſeinem Leben ein Ende. Er ſtarb bei vollem Be— wußtſein, ſanft und ruhig, nicht wie ein Tier, ſondern wie ein Menſch ſtirbt. Dies ſind Züge aus dem Betragen und Gebaren eines Menſchen— affen, welche weder mißverſtanden, noch bemäkelt werden können. Bedenkt man dazu, daß ſie alle nicht erwachſenen, ſondern im Kindesalter ſtehenden Menſchenaffen abgelauſcht werden konnten, ſo wird man dieſen Tieren unzweifelhaft eine ſehr hohe Stellung einräumen müſſen. Denn die von irgend einem unfähigen Beobachter aufgeſtellte, von Hunderten gedankenlos nachgeſprochene Behauptung, daß der Affe mit zunehmendem Alter an geiſtiger Begabung verliere, alſo gleichſam zurückgehe und verdumme, iſt eben nichts anderes als eine plumpe Lüge, welche jeder wirklich und un— befangen von ſeiner Jugend an bis zu ſeinem Alter beobachtete Affe widerlegt. Wenn wir von erwachſenen Menſchenaffen auch weiter nichts wüßten, als die beiden Thatſachen, daß ſie Bauten errichten, welche man eher Hütten als Neſter nennen muß, um in ihnen eine einzige Nacht zu verweilen, und daß ſie hohle Bäume als Trommeln verwenden und letztere Die Affen. 249 zu ihrem Vergnügen rühren, wäre dies doch genug, um dieſelben Schlüſſe zu ziehen, zu denen uns kindliche, von uns gepflegte Affen dieſer Gruppe führen, oder mit anderen Worten, um in ihnen die weitaus begabteſten, am höchſten ſtehenden Tiere und unſere allernächſten Verwandten zu erkennen. Und die Affenfrage? Nun, ich möchte glauben, ſie in dem Voraus— gegangenen bereits beantwortet zu haben, ſtehe aber nicht an, meiner Auf— faſſung derſelben noch beſonders Ausdruck zu geben. Jedermann wird zugeſtehen müſſen, daß der Menſch nicht Vertreter eines beſonderen Naturreichs, ſondern nur ein Glied des Tierreiches iſt, jeder Unbefangene demgemäß als die ihm ähnlichſten Weſen die Affen bezeichnen. Vergleicht man dieſe unter ſich und mit den Menſchen, ſo gelangt man, möge man ſich dagegen ſträuben oder nicht, zu der unum— ſtößlichen Ueberzeugung, daß der Unterſchied zwiſchen Krallen- und Menſchen— affen größer iſt als der, welcher zwiſchen letzteren und den Menſchen beſteht. Tierkundlich kann man daher Menſchen und Affen nicht einmal verſchiedenen Ordnungen der erſten Klaſſe des Tierreichs zuweiſen. Man hat dies freilich gethan, thut es wohl auch heute noch, indem man die Menſchen als Zwei, die Affen als Vierhänder bezeichnete, hat dabei jedoch von dem wichtigſten Merkmale für die Stellung eines Säugetieres, dem Gebiſſe, gänzlich ab— geſehen. Das Gebiß der Menſchen und Affen iſt aber ſo weſentlich gleich— artig gebildet, daß es die Zuſammenſtellung beider gebieteriſch verlangt. Zudem ſind auch die Bezeichnungen Zwei- und Vierhänder nicht haltbar; denn Menſchen und Affen unterſcheiden ſich wohl erheblich, aber nicht gegenſätzlich durch den Bau ihrer Hände und Füße; und letztere ſind daher ebenſogut Zweihänder als wir. Verfährt man bei Beſtimmung der Stellung der Menſchen und Affen nach den ſonſt ausnahmslos gehandhabten Ge— ſetzen, ſo ſieht man ſich gezwungen, beide in einer und derſelben Ordnung zu vereinigen. Ihr habe ich den Namen „Hochtiere“ gegeben. So unbeſtreitbar nun die Uebereinſtimmung der Ordnungsmerkmale aller Hochtiere iſt, ſo beſtimmt ſtellen ſich bei genaueſter Vergleichung der Menſchen und Affen Unterſchiede heraus, welche eine ſo innige Verſchmel— zung beider Gruppen, als neuerdings verſucht worden, unbedingt verbieten. Die Ebenmäßigkeit der Geſtalt, die verhältnismäßige Kürze der Arme, die Breite und innere Beweglichkeit der Hände, die Länge und Stärke der Beine, ſowie die Plattheit der Füße, die nackte Haut und nicht minder die geringe Entwickelung der Eckzähne ſind äußerliche Merkmale des Menſchen, welche nicht unterſchätzt werden dürfen, vielmehr gewichtig genug erſcheinen, um zwiſchen ihm und den Affen mindeſtens die Grenzen verſchiedener Fa— 250 Die Affen. milien, vielleicht verſchiedener Unterordnungen aufzurichten und feſtzuhalten. Zieht man außerdem die Anlagen des Menſchen gebührend in Erwägung, vergleicht man ſeine Bewegungen, ſeine gegliederte Sprache, ſeine geiſtigen Fähigkeiten mit den entſprechenden Begabungen der Affen, ſo wird man in Aufrechterhaltung jener Grenzen nur unterſtützt werden können. Blinde Anhänger der Umwandlungslehre, wie ſie Darwin begründet und andere weiter ausgebaut, überſpringen jene Grenzen freilich ohne alles und jedes Bedenken; ſie aber können für eine beſonnene Beurteilung der thatſächlich beſtehenden Verhältniſſe unmöglich maßgebend ſein. So be— friedigend, um nicht zu ſagen wahrſcheinlich, jene Lehre auch iſt, über die Bedeutung einer geiſtvollen Annahme hat ſie ſich noch nicht zu erheben vermocht; unwiderlegliche Beweiſe für die Richtigkeit dieſer Annahme hat ſie noch nicht erbringen können. Veränderlichkeit der Spielarten oder Raſſen läßt ſich erweiſen, ſogar bewirken; Umwandlung einer Art in die andere konnte noch in keinem Falle feſtgeſtellt werden. Solange aber letzteres nicht der Fall, ſo lange ſind wir berechtigt, Menſchen und Affen als ver— ſchiedenartige Weſen zu betrachten und die Abſtammung des einen von den anderen zu beſtreiten. Jeder Verſuch, einen gemeinſchaftlichen Urahn zu entdecken oder zu ergründen, jegliches Unterfangen, eine Ahnenreihe des Menſchen aufzuſtellen, ändert hieran nicht das Geringſte; denn wirkliche Naturwiſſenſchaft begnügt ſich nicht mit Erklärungen, ſondern verlangt Beweiſe, wenn ſie befriedigt ſein ſoll: ſie will nicht glauben, ſondern wiſſen. Und ſo mögen wir den Affen unbekümmert die Stellung einräumen, welche unbefangene Prüfung in der Reihe der Weſen ihnen anweiſt. Als die uns am meiſten ähnelnden Tiere oder unſere nächſten Verwandten im tierkundlichen Sinne dürfen wir ſie anerkennen; weitergehende Rechte müſſen wir ihnen verſagen. Vieles, was dem Menſchen eigen, wurde auch ihnen beſchieden; von wirklichem Menſchentume trennt ſie eine noch immerhin weite Kluft. Viel, aber bei weitem nicht aller Menſch iſt in ihnen ver— körpert wie vergeiſtigt. Karawanen und Wüftenreifen. m Saume der Wüſte, unter einer dichten Palmengruppe, ſteht ein kleines Zelt. Rings um dasſelbe liegen in bunter Reihe, aber wallartig geordnet, Kiſten und Ballen. Weiter nach außen ſtehen, hocken und ſitzen feſtlich gekleidete, d. h. friſch mit Hautſalbe eingefettete, nubiſche Knaben. | Im Innern des Zeltes befinden ſich Reiſende, welche mittels einer Nilbarke bis hierher gelangt ſind und beabſichtigen, einen weiten Bogen des von nun an klippen- und ſtromſchnellenreichen Niles abzuſchneiden, alſo die von letzterem teilweiſe umſchloſſene Wüſte zu durchziehen. Es iſt um die Mittagszeit. Die Sonne ſteht faſt ſenkrecht über dem Zelte, an dem wolkenloſen tiefblauen Himmel, und ihre ſengenden Strahlen werden durch die ſperrigen Wedel der Dattelpalmen kaum gehindert. Drückende Glut liegt auf der Ebene zwiſchen Strom und Wüſte, und die Luftſchichten über dem erhitzten Boden wogen und flimmern, daß jedes Bild ſich ver— zerrt und verſchleiert. Ein Reiterzug, von der Wüſte her kommend, taucht am Rande des Geſichtskreiſes auf und wendet ſich, ohne nach dem landeinwärts liegenden Dorfe einzulenken, geradeswegs dem Zelte zu. Dunkelbraune, ärmlich gekleidete, in lange und weite, eher graue als weiße Burnuſſe gehüllte Männer ſteigen, unter den Palmen angelangt, von ihren mageren, jedoch nicht unedlen Pferden. Einer von ihnen nähert ſich dem Zelte und tritt mit der Würde eines Königs in dasſelbe. Es iſt das Oberhaupt der Kamel— treiber (Scheich el Djemali), welchem wir, die Reiſenden, Botſchaft ge— ſandt, um uns durch ſeine Hilfe mit den erforderlichen Führern, Treibern und Kamelen zu verſehen. „Heil mit Euch,“ ſagt er beim Eintreten und legt grüßend ſeine Hand auf Mund, Stirne und Herz. 252 Karawanen und Wüſtenreiſen. „Mit dir, o Scheich, Heil, die Gnade Gottes und ſein Segen,“ iſt unſere Antwort. „Groß war mein Sehnen, euch zu ſehen, o Fremdlinge, und eure Wünſche zu vernehmen,“ verſichert er, nachdem er auf dem Polſter neben uns, und zwar zu unſerer Rechten, auf dem Ehrenplatze, ſich niedergelaſſen. „Möge Gott, der Erhabene, dein Sehnen vergelten, o Scheich, und dich ſegnen,“ erwidern wir ſeine Rede und befehlen unſeren Dienern, ihm, früher als uns ſelbſt noch, friſch angezündete Pfeifen und Kaffee zu reichen. Halbgeſchloſſenen Auges labt er ſeinen ſterblichen Leib durch den Kaffee, ſeine unſterbliche Seele durch die Pfeife; in dichte Wolken hüllt er ſein ausdrucksvolles Haupt. Faſt lautloſe Stille herrſcht im Zelte, welches der Wohlgeruch des köſtlichen Djebelitabaks durchduftet und leichter, unbeſchwerlicher Rauch durchzieht, bis wir endlich glauben, die beabſichtigten Verhandlungen beginnen zu dürfen, ohne uns der Unhöflichkeit ſchuldig zu machen. „Wie iſt dein Befinden, o Scheich?“ „Der Spender alles Guten ſei geprieſen! — wohl, dir zu dienen. Und wie ſteht es um dein Wohlſein?“ „Dem Herrn der Welt ſei Ruhm und Ehre; ich befinde mich ganz wohl. Groß war unſer Sehnen, dich zu ſehen, o Scheich!“ „Möge Gott, der Erbarmende, euer Sehnen vergelten und euch ſegnen! Ift euer Wohlbefinden zufriedenſtellend?“ „Allah und ſein Prophet, Gottes Gnade über ihn, ſeien geprieſen.“ „Amen, es ſei, wie du geſagt haſt.“ Neue Pfeifen erquicken die unſterbliche Seele; neue, faſt endloſe Höflichkeitsbezeigungen werden gegenſeitig ausgetauſcht; dann endlich ge— ſtattet die allſeitig bindende Gebräuchlichkeit, geſchäftliche Angelegenheiten zu behandeln. „O Scheich, ich will mit des Allerbarmenden Hilfe dieſe Wüſten— ſtrecke durchreiſen.“ „Möge Allah dir Geleit geben!“ „Biſt du im Beſitze von Trabern und Laſtkamelen?“ „Ich bin's! Befindeſt du dich wohl, mein Bruder?“ „Der Erhabene ſei gelobt: es iſt ſo. Wie viele Kamele kannſt du mir ſtellen?“ Anſtatt einer Antwort auf dieſe Frage entquellen nur zahlloſe Rauch— wolken dem Munde des Scheich, und erſt nach Wiederholung unſerer Worte Karawanen und Wüſtenreiſen. 253 legt der Mann für einige Augenblicke die Pfeife zur Seite und ſpricht würdevoll: „Herr, die Anzahl der Kamele der Beni Said kennt nur Allah; ein Sohn Adams hat ſie noch nie gezählt!“ „Nun wohl, ſo ſende mir fünfundzwanzig Tiere, darunter ſechs Traber. Außerdem bedarf ich zehn großer Schläuche.“ Der Scheich raucht von neuem, ohne zu reden. „Wirſt du ſie mir ſenden, die gewünſchten Tiere?“ wiederholten wir dringlicher. „Ich werde es thun, um dir zu dienen; allein ihre Beſitzer ſtellen hohe Preiſe.“ „Und welche?“ „Mindeſtens das Vierfache der üblichen Löhne und Mieten wird gefordert.“ „Aber Scheich, erſchließe dich Allah, der Erhabene: das ſind Forde— rungen, welche dir niemand bewilligen wird. Preiſe den Propheten!“ „Gott, der Allerhaltende, ſei geprieſen und ſein Geſandter geſegnet! Du irrſt, mein Freund: der Kaufmann, welcher dort oben lagert, hat mir das Doppelte geboten von dem, was ich verlange; nur meine Freundſchaft zu dir ließ mich ſo geringe Forderung ſtellen.“ Vergeblich ſcheint alles Feilſchen, vergeblich jede weitere Verhandlung. Friſche Pfeifen werden gebracht und geraucht, neue Höflichkeitsbezeigungen ausgetauſcht, der Name Allahs und ſeines Propheten auf beiden Seiten gemißbraucht, Wohl und Befinden gegenſeitig auf das genaueſte feſtgeſtellt, bis endlich die erlernte Sitte der angeborenen weicht und der abendländiſche Reiſende die Geduld verliert. „So wiſſe, Scheich, daß ich im Beſitze eines Geleitsbriefes des Khedive und ebenſo eines des Scheich Soliman bin; hier ſind beide, was forderſt du jetzt noch?“ „Aber Herr, wenn du einen Geleitsbrief ſeiner hohen Herrlichkeit be— ſitzeſt, warum forderſt du nicht das Haupt deines Sklaven? Es ſteht dir zu Dienſten, ihm zu Befehl. Deine Wünſche nehme ich auf meine Augen, auf mein Haupt. Du befiehlſt: dein Sklave wird gehorchen. Die Preiſe der Regierung kennſt du ja. Das Heil Allahs über dich; morgen ſende ich dir Männer, Tiere und Schläuche.“ Der Fremdling, welcher glauben wollte, daß mit dieſer Verhandlung alle Vorbereitungen zur Wüſtenreiſe beendigt ſeien, würde einer völligen Verkennung der Sitten und Gewohnheiten des Volkes ſich ſchuldig machen. Nicht am andern Morgen, wie verſprochen, erſcheinen die ge— 254 Karawanen und Wüſtenreiſen. mieteten Treiber und Tiere, ſondern erſt in den Nachmittagsſtunden finden ſie ſich allmählich ein, und nicht am nächſten Morgen, ſondern früheſtens um die Zeit des Nachmittagsgebetes des folgenden Tages kann an den Aufbruch gedacht werden. „Bukra inſchallah — morgen, ſo Gott will,“ iſt die Loſung, und ſie widerſteht jedem Machtgebote. In der That gibt es noch viel zu thun, vieles zu regeln, vieles zu ordnen, manches in ſtand zu ſetzen, bevor die Reiſe angetreten werden kann. Um das Zelt entwickelt und geſtaltet ſich ein buntes b Bild. Zwiſchen den Gepäckſtücken bewegt ſich die Schar der ausgedorrten Söhne der Wüſte. Wenig fördernde Geſchäftigkeit, aber unglaubliches Geſchrei und Gelärme bezeichnen ihr Thun und Treiben. Die wallartig geordneten Gepäckſtücke werden auseinandergezerrt, einzeln aufgehoben, gewogen, hin— ſichtlich des Gewichtes wie rückſichtlich ihres Umfanges geprüft, mit anderen verglichen, auserwählt und verworfen, zuſammengeſchleppt und wieder ge— trennt. Jeder Treiber verſucht den anderen zu überliſten, jeder für ſeine Tiere die leichteſte Ladung zu gewinnen; jeder einzelne ſtößt daher auf Widerſpruch der übrigen, und alle lärmen und toben, ſchreien und ſchel— ten, ſchwören und fluchen, bitten und verwünſchen. In Erwartung des Kommenden helfen gewöhnlich auch die Kamele getreulich mit, den Lärm zu verſtärken; und wenn ſie wirklich, anſtatt zu brüllen, zu ſtöhnen, zu brummen, zu klagen, einmal ſchweigen ſollten, ſo bedeutet dies nur ſo viel: unſere Zeit iſt noch nicht gekommen, aber ſie kommt! Gleichviel, ob it, ob ohne Kamelbegleitung: das Ohr des abendländiſchen Reiſenden wird gemartert, förmlich zerriſſen durch alle die verſchiedenen Stimmen, welche gleichzeitig ihm ſich aufdrängen. Lange Stunden nacheinander währt das Gewimmel, Gewirr und Getöſe; und wenn man ſich wegen der Ladung endlich zur Genüge oder zum Ueberdruſſe gezankt und geſtritten, iſt erſt das Vorſpiel zu Ende. Nach dem Friedensſchluſſe beginnt man, mitgebrachte Dattelbaſtfaſern zu Stricken und Seilen zu drehen; hierauf umſchnürt man in ſinnreicher Weiſe Kiſten und Ballen, bildet Oeſen und Oehre, um je zwei Gepäck— ſtücke auf dem Sattel des Tieres ebenſo raſch verbinden als löſen zu können, beſſert eiligſt noch bereits fertig mitgebrachte Tragnetze, beſtimmt, die kleineren Päcke in ſich aufzunehmen, notdürftig aus, und wendet ſich ſodann einer genauen Prüfung der verſchiedenen großen und kleinen Schläuche zu, um auch an ihnen noch zu arbeiten und zu flicken und end— lich ſie mit ſtinkendem, aus Koloquintenſamen bereitetem Teer äußerlich einzuſchmieren. Schließlich unterzieht man an der Sonne getrocknetes Karawanen und Wüſtenreiſen. 299 Fleiſch einer nochmaligen Beſichtigung, füllt einige Baſtſäcke mit Kafferhirſe oder Durra, andere mit Holzkohlen, einige auch wohl mit dem geſammelten Kamelmiſte, ſpült die Schläuche oberflächlich aus, verſieht auch ſie mit friſch dem Strome entnommenem Waſſer und beſchließt die langwierige Arbeit mit einem allſeitig wiederholten, aus tiefſter Bruſt hervorgeſtoßenen „El hamdu lillahi“ — Gott ſei Dank. Alle dieſe Vorbereitungen hat der Chabir oder Führer der Karawane zu leiten. Je nach deren Bedeutung nimmt er eine mehr oder minder hohe Stellung ein; unter allen Umſtänden aber muß er ſein, was ſein Titel beſagt: ein Kundiger — des Weges und der obwaltenden Verhältniſſe. Erprobte Erfahrung, Redlichkeit, Klugheit, Mut und Tapferkeit ſind Be— dingniſſe zu ſeinem ſchwierigen, nicht ſelten gefährlichen Amte. Er kennt die Wüſte wie der Schiffer das Meer, iſt kundig der Geſtirne, in jeder Oaſe, an jedem Brunnen der Reiſeſtrecke daheim, in dem Zelte jedes Beduinen- oder Wanderhirtenhäuptlings willkommen, verſteht allerlei Mittel gegen Beſchwerden und Gefahren des Rittes anzugeben, vermag Schlangen— biſſe und Skorpionenſtiche unſchädlich zu machen oder wenigſtens die Schmerzen der Verletzten zu lindern, führt die Waffen des Kriegers wie die des Jägers mit gleicher Geſchicklichkeit, bewegt das Wort des Propheten im Munde wie im Herzen, ſpricht die „Fatiha“ beim Aufbruche, vertritt Mueddin und Imam zu den vorgeſchriebenen Zeiten, iſt mit einem Worte das Haupt des vielgliederigen Körpers, welcher die Wüſte durchwandert. In ihren Einöden, wo nichts den Weg anzudeuten ſcheint, welchen andere Karawanen gezogen, wo der Wind hinter der Sohle des letzten Kameles die Fährten aller verwiſcht, gibt es für ihn von anderen Menſchen un— beachtete Zeichen, welche ihn den rechten Weg finden laſſen. Ihm leuchtet. wenn der trockene unheilverkündende Dunſt der Wüſte die ewigen Sterne verhüllt, der Stern ſeines Geiſtes: er prüft den Sand, mißt ſeine Wellen, verwertet deren Richtung, erſieht an einem Grashalm die Himmels— gegend. Jede Karawane überläßt ſich, jeder Reiſende ſein Geſchick ihm ohne Rückhalt. Uralte, teilweiſe höchſt eigenartige, niemals niedergeſchriebene und doch allbekannte Geſetze machen ihn verantwortlich für das Gelingen der Reiſe, für das Leben des einzelnen, inſofern nicht unabwendbare Schickungen des Schickſalſpendenden die eine oder den andern betreffen. Zur geſegneten Stunde, um die Zeit des Nachmittaggebetes, tritt der Führer vor Reiſende und Treiber, um zu verkünden, daß alles zum Aufbruche bereit ſei. Nach verſchiedenen Seiten hin ſtürmen die braunen Männer, um ihre Kamele einzufangen, herbeizuholen, zu ſatteln, zu be— 256 Karawanen und Wüſtenreiſen. laſten. Mit äußerſtem Widerſtreben gehorchen die ahnungsvollen Tiere, denen eine Reihe ſchwerer Tage in grellen Farben vor der Seele zu ſtehen ſcheint. Ihre Zeit iſt jetzt gekommen. Brüllend, kreiſchend, knurrend, ſtöhnend laſſen ſie ſich, durch unnachahmbare Gurgellaute ihrer Herren und einige gelinde Peitſchenhiebe aufgefordert, auf die zuſammengebogenen Beine nieder; brüllend fügen ſie ſich darein, die ihnen zugedachte Laſt auf den höckerigen Rücken zu nehmen; brüllend erheben ſie ſich wieder, nachdem ſie befrachtet wurden. Nicht wenige verſuchen durch Schlagen und Beißen der Bebürdung ſich zu erwehren, und es gehört in der That die unerſchöpfliche Geduld ihrer Treiber dazu, um ſo widerhaarige Geſchöpfe zu bändigen. Aber Geduld und Geſchick meiſtern ſelbſt Kamele. Sobald das ungebärdige Tier zum Niederlegen ſich bequemt, tritt einer der Treiber auf die zu— ſammengeknickten Vorderbeine und packt mit raſchem Griffe den Oberteil der zahnbewehrten Schnauze, ſo daß er durch einen Druck auf die Naſe dem Kamele den Atem zu benehmen vermag; zwei andere heben die gleich— gewichtige Laſt von beiden Seiten her auf den Tragſattel; ein vierter ſchiebt Haftpflöcke durch Oehre und Oeſen: und ſolcherart iſt das Laſttier befrachtet, ehe es noch recht zur Beſinnung gelangte. Sobald alle Trag— kamele bebürdet wurden, treten ſie ihre Wanderung an. Nunmehr bringt man auch die wohlgeſattelten Traber herbei. Jeder Reiter befeſtigt auf und an dem hohen, muldigen, über dem Höcker ſitzen— den Sattel die ihm unentbehrlichſten Reiſegerätſchaften und Waffen und ſchickt ſich an, ſein Reittier zu beſteigen. Für den Neuling wird dies in der Regel verhängnisvoll. Der Reiter muß mit kühnem Schwunge in den Sattel ſpringen, und das Kamel ſchnellt auf, ſowie er letzteren berührt. Ruckweiſe erhebt es ſich, zuerſt auf die Handgelenke, unmittelbar darauf auf die langen Hinterbeine, endlich vollends auf die Vorderbeine. Beim zweiten Rucke pflegt der Anfänger im Kamelreiten vom Verhängniſſe ereilt, d. h. aus dem Sattel geſchleudert zu werden, und küßt dann entweder die Mutter Erde oder fällt auf den Hals des Tieres und klammert ſich hier feſt. Das Kamel iſt viel zu übellaunig, als daß es ſolches Geſchehnis als Scherz oder Verſehen auffaſſen ſollte. Ein Schrei der Entrüſtung entringt ſich ſeinen unſchönen Lippen; dann raſt es mit dem an ſeinem Halſe hängenden, wenig beneidenswerten Menſchenkinde davon und ſchüttelt ſo lange, bis es des ungeſchickten Reiters ſamt ſeines Gepäckes ſich entledigt. Erſt nach geraumer Zeit gewöhnt ſich auch der Abendländer daran, durch rechtzeitiges und entſprechendes Vor- und Zurückbiegen des Oberkörpers beim Aufſpringen des Tieres feſt im Sattel ſitzen zu bleiben. Karawanen und Wüſtenreiſen. 2 Wir unſererſeits ſchwingen uns mit der Behendigkeit eines Einge— borenen in den Sattel, ſpornen durch Fuchteln mit der Peitſche unſer Reittier an, halten es mittels eines feinen Naſenzaumes gebührend im Zügel und eilen hinter dem Führer einher. Unſer Reitkamel, ein ſchlankes, leichtgebautes, hochbeiniges Tier, fällt augenblicklich in jenen gleichmäßigen, anhaltenden, weitausgreifenden und daher ungemein fördernden Trab, welcher ihm von früheſter Jugend an eingelernt wurde, es auch hoch über alle Laſtträger erhebt, und heftet ſich an die Sohlen ſeines Vorgängers. Weit vor ſich hin ſtrecken alle Tiere ihre kleinen Köpfe; leicht werfen ſie die langen Beine unter ſich hin; und hinter ihnen ſtieben Sand und kleine Steine durch die Luft. Die Burnuſſe der Reiter flattern im Winde; Waffen und Geräte klingen gegeneinander; anſpornende Zurufe werden laut; Reiſeluſt regt die Schwingen der Seele. Bald iſt die vorausgezogene Laſtkarawane überholt, bald jede Spur der letzten menſchlichen Anſiedelung verſchwunden: nach allen Seiten erſtreckt ſich, endlos ſcheinend, die Wüſte. Ringsum ſcharf begrenzt, bedeckt ſie, ein ungeheures eigenartiges Reich, den größten Teil Nordafrikas, vom Roten bis zum Atlantiſchen, vom Mittelmeere bis zur Steppe, Länder in ſich faſſend, fruchtbare Land— ſtriche umſchließend, tauſendfältig abwechſelnd und im weſentlichen doch immer und überall ſich gleichend, mindeſtens ähnelnd. Neun- bis zehnmal überbietet dieſes Wunderreich an Flächeninhalt unſer geſamtes Vaterland, drei- bis viermal das Mittelländiſche Meer. Kein Sterblicher hat es durch— forſcht, allörtlich durchwandert; aber jeder Erdgeborene, welcher es betrat und auf Strecken hin durchzog, iſt im tiefinnerſten Herzen ergriffen worden von ſeiner Größe und Erhabenheit, ſeinem Zauber, ſeinen Schrecken; jeder, auch der nüchternſte Abendländer, welcher in ihm weilte, hat die ſtrahlende Sonnenglut und ſengende Hitze ſeiner Tage, den himmliſchen Frieden und die märchenhaften Traumbilder ſeiner Nächte, die Gaukelei ſeiner glutzitternden Luft, die Furchtbarkeit ſeiner bergebewegenden Stürme der Seele unvertilgbar, unauslöſchlich eingeprägt, und manch einem mag es ergangen ſein, wie es den in ihm geborenen Söhnen ergeht: daß er ſpäter nach ihm ſich zurückſehnt, nur einmal noch einen Tag, eine Stunde in ihm atmen, dem leiblichen Auge die Bilder vorſpiegeln, in der Seele die „unausgeſprochenen Akkorde“ zittern laſſen möchte, welche es im Herzen des dichteriſch fühlenden Menſchen erbeben, erklingen läßt, — daß er Heim— weh fühlt nach der Wüſte. Sie iſt wirklich und wahrhaftig „El Bahhr bela maa“ — das Meer ohne Waſſer — ein Gegenſtück des Meeres. Sie iſt dieſem nicht unterthan Brehm, Vom Nordpol zum Aequator. 17 258 Karawanen und Wüſtenreiſen. wie die übrige Erde: in ihr erſtirbt die Macht des belebenden und er— haltenden Elements. „Waſſer umfänget ruhig das All“ — die Wüſte allein umfängt es nicht. Ueber die ganze Erde tragen die Winde des Meeres Geſandten, die Wolken: aber dieſe erſterben vor der Glut der Wüſte. Selten, daß man in ihr ein leichtes, kaum erſichtlich werdendes Dunſtgebilde, ſelten, daß man auf einem Pflanzenblatte in der Morgen— frühe den feuchten Hauch der Nacht wahrnimmt. Sind in ihr doch Morgen- und Abendrot nur ein Dunſthauch, welcher, kaum geboren, wieder verſchwindet. Allüberall, wo das Waſſer zur Herrſchaft gelangte, verwandelt es die Wüſte in Fruchtland, möge dasſelbe ſo dürftig ſein, wie es wolle, aber dieſe tritt ſcharf und ſtreng an der Grenze auf, welche jenem geſetzt ward. Wo die letzte, durch Menſchenwitz über den Stromſpiegel gehobene Welle des göttlichen Niles im Sande verläuft, macht ſie ſich geltend: der eine Fuß des Wanderers, welcher den Nilgebirgen zuſchreitet, ſteht im ſproſſenden Getreidefelde, der andere betritt die Wüſte. Denn der Sand für ſich allein iſt es nicht, welcher Wachstum der Pflanzen verwehrt, ſondern einzig und allein die ſtarre ſengende Glut, welche ihn durchſtrahlt. Da, wo er benetzt oder zeitweilig überrieſelt, wo er durchfeuchtet wird, legt ſich ſelbſt inmitten der Wüſte ein freundlich grüner Teppich über die ſonſt pflanzenleere Erde, entwachſen ihr ſogar Geſträuche und Bäume. Arm, unendlich arm iſt die Wüſte: tot aber iſt ſie nicht, mindeſtens nicht für diejenigen Menſchen, welche das Leben in ihr aufzuſuchen und aufzufinden wiſſen. Wer blöden Auges durch die Wüſte zieht, erſchaut freilich nichts anderes, als Sandebenen und Felſenkegel, kahle Niederungen und nackte Gebirge, überſieht vielleicht ſogar die ſpärlich hervorſproſſenden ſchilfartigen Gräſer und ſtrauchartigen Bäume der tieferen Einſenkungen, überſieht ebenſo die wenigen lebenden Weſen, welche ſich hier wie dort befinden; wer ſehen will, erſchaut unendlich mehr. Jenen blödſichtigen Menſchen iſt die Wüſte nichts anderes, als ein Reich der Angſt und der Schrecken; ſie laſſen ſich von der Glut des Tages ſo darniederdrücken, daß ihnen ſelbſt die wonnige Nacht keinen Troſt, keine Stärkung ſpenden kann; ſie reiten zagend in die Wüſte ein und verlaſſen ſie ſchaudernd; ſie haben bloß Empfindung für das Entſetzliche, bloß Gefühl für die Beſchwerden der Wüſtenreiſe: für das unendlich Erhabene der Wüſte iſt ihr Herz zu klein. Wer ſie wirklich kennen lernte, urteilt anders. Arm, nicht aber tot iſt die Wüſte. Schon ihre Bodenverhältniſſe wechſeln, obgleich ihr Gepräge ein weſentlich gleichartiges iſt, vielfach unter— einander ab. Auf weite Strecken hin iſt die Wüſte ein Felſenmeer mit Karawanen und Wüſtenreiſen. 259 abſonderlich geſtalteten Kegeln, jäh abſtürzenden Wänden und tief einge— riſſenen Schluchten, ſcharf gekanteten Graten und wunderlich getürmten Kuppen, welche der ſtetig wehende Wind bald mit Sand überdeckt, bald ausfüllt, bald wieder leert, immer aber bearbeitet, ſchleift, aushöhlt, ſchärft und zuſpitzt. Schwarze, in der Sonne glühende Sandſtein-, Granit- oder Syenitmaſſen, ſeltener Kalke und Schiefer, hier und da auch vulkaniſche Gebilde, bauen ſich zu ausdrucksvoll gezeichneten Höhenzügen auf; von der einen Seite her wehend, entblößt ſie der Wind von jeder Decke, treibt aber unausgeſetzt feinen Sand über ihre Wände hinweg, hüllt ſie, wenn er zum Sturme anwächſt, mit dieſem Sande förmlich in einen Schleier ein und läßt jenen erſt dann zur Ruhe kommen, wenn er ihn über die höchſten Gipfel hinweggetrieben hat, legt daher der anderen, vom Winde nicht getroffenen Seite der Gebirge goldgelbe, aus dem reinſten Rollſande beſtehende Schichten auf, welche meterhoch übereinander liegen, ewig in Bewegung ſind, fortwährend von oben nach unten ſich ſchieben, beſtändig von der einen Seite her erſetzt werden und als breite, von den dunklen Wänden lebhaft abſtechende, auf weithin ſichtbare, unter gewiſſer Beleuchtung geradezu ſchimmernde Bänder erſcheinen. Derartige Bergzüge dürfen dreiſt Kleinodien der Wüſte genannt werden. Wer den glühenden Süden nicht kennt, iſt außer ſtande, den wunderbaren Farbenreichtum, Glanz und Schimmer und ſomit unendlichen Reiz ſich vorzuſtellen, welchen das ſo überreichlich quellende Sonnenlicht auf dem ödeſten, wildeſten Gebirge ins Leben rufen kann. Das Gebirge der Wüſte iſt niemals mit freundlich grünendem Walde bedacht; höchſtens ſeine erhabenſten Gipfel geſtatten niedrigem Geſtrüpp, welches an den dort oben ſich niederſchlagenden Dünſten kärglich Genüge findet, ärmliches Wachstum; dem Gebirge fehlt das Flüſtern der Buchen, das Rauſchen der Föhren und Fichten, das an— heimelnde Murmeln, luſtige Schwatzen und hallende Brauſen des lebendigen Waſſers, welches unſerem Hochgebirge hier ſilberne Bänder auflegt, dort dieſe von grünen Pflanzen einrahmen, an einer anderen Stelle, über dem toſenden Sturz und Tobel, durch die Sonne in Negenbogenfarben ein: hüllen läßt; ihm fehlt die Eis- und Schneedecke, welche die Sonne im Früh- und Abendrot mit Purpur überhaucht oder um die Mittagszeit in blitzenden Schimmer kleidet; ihm fehlt das ſaftig friſche Grün der Matten, kurz aller Zauber, alle Lieblichkeit des nordiſchen Hochgebirges: und dennoch ſteht es dieſem kaum an Farbenpracht und ſicherlich nicht an Großartigkeit und Erhabenheit nach. In ihm gelangt jede einzelne Schicht, jede dieſer eigene Färbung zur Geltung und Wirkung. Und dennoch ſind es weniger 260 Karawanen und Wüſtenreiſen. dieſe oft ſehr lebhaft gefärbten, zuweilen grell voneinander abſtechenden Schichten, ſondern in viel höherem Grade die durch den ewig ſchleifenden Sand geſchaffenen, auffallend geſtalteten und ſchwungvoll gezeichneten Kegel, Spitzen, Zacken, Rillen, Riſſe, Schluchten der Wüſtengebirge, auf denen das Himmelslicht das wunderbarſte Farbenſpiel hervorzaubert. Es iſt ein ununterbrochenes Wechſeln zwiſchen Licht und Schatten, ein fortwährendes Entſtehen und Vergehen von Farben und Tönen, daß die Seele trunken wird im Schauen. Auch die Gebirge der Wüſte erglühen purpurn im erſten und letzten Sonnenſtrahle; auch über ſie haucht die Ferne ihren blauen, ätheriſchen Duft: auch ſie leben, denn ſie erleben im Lichte. An anderen Orten iſt die Wüſte auf weite Strecken hin eben oder wellenförmig ſanft bewegt. Meilenweit überdeckt ſie feinkörniger, gold— gelber Sand, in welchem Menſch und Tier einige Centimeter tief einſinken. Hier ſieht man oft keinen Grashalm, kein lebendiges Geſchöpf. Der blaue, durchaus gleichförmige Himmel legt ſich rings herum wie ein Dach auf dieſe goldene Fläche und trägt weſentlich dazu bei, ſolche Stellen dem Meere ähnlich werden zu laſſen. Denn auch ſie verwiſchen alsbald die ihnen eingedrückte Spur des Schiffes der Wüſte; auch in ihnen gibt es keinen erkennbaren Weg, kein Zeichen eines ſolchen: auch für ſie wurde der Kompaß erfunden. Wechſelvoller, jedoch nicht angenehmer ſind andere Stellen, auf denen lockerer, erdiger oder ſtaubiger Sand den Boden bildet und giftige Koloquintenkürbiſſe oder heilkräftige Sennah ernährt. Hier wechſeln langgeſtreckte, niedere Hügel mit flach eingeſenkten und ſchmalen Einbuchtungen ab, und der von fern her friſch erſcheinende Teppich ge— nannter Pflanzen überzieht die einen wie die anderen. Menſchen und Tiere meiden ſolche Strecken, weil der wandelnde Treiber wie das Kamel oft fußtief in das lockere Gefüge der Bodendecke einſinken. Wiederum andere Stellen ſind mit grobkörnigem Kieſe oder Flintſteinen, einzelne auch wohl mit ſtark eiſenhaltigen, ſandgefüllten Hohlkugeln bedeckt, welche ausſehen, als ob ſie von Menſchenhand gebildet worden wären, und deren Entſtehung mit Sicherheit noch nicht erklärt werden konnte. Zuweilen treten auf ſolchen Strecken, woſelbſt die Wüſtenſtraße in Geſtalt neben— einander verlaufender Kamelpfade feſt ſich einprägt, auch Tauſende von Quarzkriſtallen zu Tage, entweder einzeln oder in Druſen vereinigt und dann von Künſtlerhand gefaßten Brillantroſen gleichend. Mit ihnen treibt die Sonne offenbare Zauberei; denn ſolche Strecken glänzen, funkeln und blitzen, daß das geblendete Auge von ihnen ſich abwenden muß. In den tiefſten Niederungen endlich bildet ſtaubige Erde den Boden, und dann Karawanen und Wüſtenreiſen. 261 bekleidet ihn unfehlbar die riedgrasähnliche, aber ſehr harte, trockene, ſcharfſchneidige, ſchwarzgrüne Halfa, ſchirmförmige Mimoſen, vielleicht ſogar Tompalmen, als freundliche Bürgen des Lebens. Von dieſem allüberall ſich regenden Leben gibt aber auch die Tier— welt Kunde. Wer die Wüſte als tote Einöde auffaßt, irrt ebenſo wie der, welcher ſie als Heimat des Löwen anſieht. Sie iſt zu arm, als daß ſie Löwen ernähren könnte, aber reich genug, um Tauſenden von anderen Tieren Unterhalt zu gewähren. Und alle in ihr lebenden Tierarten er— ſcheinen im höchſten Grade beachtenswert; denn alle geben ſich in jeder Beziehung als ihre treuen Kinder zu erkennen. Mehr noch als durch ihr Kleid, welches ſtets der herrſchenden Boden— färbung auf das genaueſte ſich anpaßt, daher gewöhnlich ſandfarben iſt, zeichnen ſich die Wüſtentiere durch leichten und zierlichen Leibesbau, auf— fallend große, zu ungewöhnlicher Schärfe der Sinne befähigende Augen und Ohren und ebenſo anſpruchsloſes als ſelbſtbewußtes Weſen aus. Unſtet und flüchtig zu ſein iſt das Los aller in der Wüſte geborenen Geſchöpfe; denn dieſe iſt zu arm an Nahrung, als daß ſolche in genügender Menge und allezeit an einem Orte gefunden und ohne Mühſal erlangt werden könnte; aber die Wüſte verlieh ihren Kindern unvergleichliche Behendigkeit, unermüdliche Ausdauer, nie ermattende Beharrlichkeit, ſchärfte die Sinne, daß auch das wenige, was ſie zu bieten vermag, erſpäht werden könnte, ſpendete endlich ein ebenſo ſchützendes als bergendes, beim Angriffe wie bei der Flucht in gleicher Weiſe geeignetes Kleid, und machte ſo ihre Kinder geſchickt, ein vielleicht kärgliches, keineswegs aber freudloſes Leben zu führen. Dank des faſt allen Wüſtentieren eigenen, mit der Umgebung ver— ſchmelzenden, in ihr aufgehenden Kleides gewahrt der Reiſende, welcher nicht ein geübter Beobachter iſt, mindeſtens im Anfange der Wüſtenreiſe wenig von der ihn umgebenden Tierwelt. Die Wüſte erſcheint ſchon des— halb bei weitem ärmer, als ſie iſt, weil die meiſten in ihr lebenden Tiere erſt mit der Dämmerung des Abends ihre Ruhe- und Verſteckplätze ver— laſſen und zu leben beginnen; einzelne Wüſtentiere aber drängen ſich doch auch dem blöderen Auge förmlich auf. Wer die in mehreren Arten ver— tretenen Wüſtenlerchen, welche überall ſeinen Pfad kreuzen, nicht beachten will, trotzdem gerade ſie in höchſt beachtenswerter Weiſe die Uebereinſtimmung ihres Gefieders und des Bodens und ebenſo die unverhältnismäßig ent— wickelten Bewegungswerkzeuge zur Anſchauung bringen, wird unmöglich die Wüſtenhühner überſehen können, und wer achtlos an den in die Erde ein— 262 Karawanen und Wüſtenreiſen. gegrabenen Bauen der Springmäuſe vorüberreitet, wird doch durch eine un— fern des Weges ſich äſende Gazelle auf die Tierwelt hingelenkt werden müſſen. Auch die Antilope darf man ein urbildlich geſtaltetes Wüſtentier nennen. Obwohl durchaus ebenmäßig gebaut, erſcheinen doch Kopf und Gazellen im Schatten einer Wimoſe lagernd. Sinneswerkzeuge faſt zu groß und ihre Glieder allzuzart, beinahe ge— brechlich. Aber dieſer Kopf umfaßt in ſeiner Schädelhöhle ein Gehirn, welches zu einer unter Wiederkäuern ungewöhnlichen Klugheit und dem— gemäß auch zu geiſtiger Beweglichkeit befähigt, und dieſe Glieder ſind wie aus Stahl gebaut, ungemein kräftig und federnd, ſo daß ſie höchſte Be— Karawanen und Wüſtenreiſen. 263 weglichkeit und unermüdliche Ausdauer ermöglichen. Wer die Gazelle nur in der Gefangenſchaft, im engen Raume geſehen hat, iſt nicht im ſtande, zu beurteilen, wie ſie in der Wüſte auftritt. Welche Beweglichkeit, Ge— wandtheit und Geſchmeidigkeit, Zierlichkeit und Anmut entfaltet gerade ſie in ihrer Heimat! Wie ſehr verdient ſie, von dem Morgenländer und zumal dem Wüſtenbewohner als Sinnbild weiblicher Schönheit gewählt worden zu ſein! Auf ihr ſandfarbenes Gewand, wie auf ihre unvergleich— liche Beweglichkeit und Schnelligkeit vertrauend, äugt ſie mit den klaren Lichtern feſt, anſcheinend ſorglos auf Kamele und Reiter. Ohne durch die heranziehende Karawane ſich beunruhigt zu zeigen, äſt ſie ſich weiter. Von dem blütenbedeckten Mimoſenſtrauche nimmt ſie eine Knoſpe, einen ſaftigen Schößling, zwiſchen der ſchneidigen Halfa findet ſie ein zartes Hälmchen. Mehr und mehr nähert ſich ihr der Reiſezug. Sie erhebt den Kopf, lauſcht, wittert, äugt wiederum, ſchreitet einige Schritte vor und verfährt wie früher. Urplötzlich ſchnellen die federnden Läufe gegen den Boden, und dahin eilt ſie, ſo raſch, ſo behend, ſo gewandt, ſo anmutig, als ſei ihr die faſt unerreichbare Bewegung nur Spiel und Scherz. Ueber die ſandige Ebene jagt ſie mit der Schnelligkeit des Gedankens, über größere Steine oder Tamariskengebüſche ſpringt ſie mit flugähnlichen Sätzen. Erdfrei ſcheint ſie geworden zu ſein: ſo überraſchend ſchön iſt ihr Lauf; ein Gedicht der Wüſte ſcheint ſich in ihr verkörpert zu haben: ſo beſtrickend wirkt ihre un— vergleichliche Zierlichkeit und Schnelle. Wenige Minuten fortgeſetzten Laufes entrücken ſie jeder Gefahr, welche ihr von ſolchen Feinden drohen ſollte; denn vergebens müht ſich ſelbſt der beſte Traber, ihr nachzukommen; nicht einmal ein einzelner Windhund vermag ſie einzuholen. Bald mäßigt ſie ihre Eile; noch einige Augenblicke, und wiederum ſteht und äugt ſie wie früher. Neckluſtig, wie ſie iſt, läßt ſie den mordgierigen Reiter, welcher ſie ernſtlich zu verfolgen beginnt, herankommen, und vorſichtig ent— zieht ſie ſich zum zweiten-, drittenmal dem Bereiche ſeiner tödlichen Waffe, bis ſie endlich, erſchreckt, aller weiteren Gefahr mühelos entrinnt. Länger flüchtet ſie, und zarter erſcheinen Leib und Glieder, mehr und mehr ver— ſchwimmen die Umriſſe, verſchwindet ſie auf der ſandigen Fläche, und endlich verſchmilzt ſie gänzlich mit ihr, ſo daß es ſcheinen will, als habe ſie ſich aufgelöſt wie ein Dufthauch. Ihre Heimat hat ſie gedeckt und geborgen, zauberhaft dem Auge entrückt und überhaupt jeglicher Wahr— nehmung entzogen. Aber in demſelben Maße, wie ſie dem Auge ent— ſchwindet, erlebt ſie im Herzen. Denn auch der Abendländer muß nun— mehr verſtehen, warum die Gazelle in dem reichen Dichtergemüte des 264 Karawanen und Wüſtenreiſen. Morgenländers ſo köſtliche Blüten knoſpen ließ, warum letzterer das tieriſche Weſen ſo unendlich hoch ſtellt, warum er das Auge, welches ſein Herz erglühen ließ, mit dem der Gazelle vergleicht, warum er den Hals, um welchen ſeine Arme ſich ketten in trauter Liebesſtunde, den einer Gazelle nennt, warum der Wüſtenbewohner ſeiner beglückender Hoffnung frohen Gattin eine gezähmte Gazelle ins Zelt bringt, damit ſie an deren ſchönem Auge ſich erlabe und ſolche Schönheit auf das erhoffte Pfand der Ehe vererben möge, warum ſogar der fromme Sänger in der zierlichen Antilope ein ſinnlich wahrnehmbares Bild ſeiner Sehnſucht nach dem Erhabenen finden kann. Denn auch über ihn, den Weltentrückten, muß ein Hauch der Glut geweht haben, welche zu den feurigen Lobliedern dieſes Tieres die Worte läuterte und Verſe und Reime flüſſig werden ließ. Minder anmutig, keineswegs aber auch weniger überraſchend, treten andere Wüſtentiere auf. Zwiſchen ſpärlich aufſproſſender Halfa läuft ein zahlreiches Heer taubengroßer Vögel trippelnden Schrittes hin und wieder. Scharrend, mit dem Schnabel arbeitend, picken ſie nach Nahrung. Ohne Beſorgnis geſtatten ſie Annäherung des Reiters bis auf weniger als hundert Schritte. Ein ſcharfes Fernrohr läßt nicht allein jede ihrer Bewegungen, ſondern auch die hervorſtechendſten Farben ihres Gefieders erkennen. Mit geducktem Kopfe, eingezogenem Halſe und faſt wagerecht gehaltenem Leibe laufen ſie umher, um Sämereien, die wenigen Körner, welche die Wüſten— gräſer hervorbringen, friſch aufſproſſende Riſpen und Kerbtiere aufzunehmen. Einige ſichern mit vorgeſtrecktem Halſe von Zeit zu Zeit, andere dagegen paddeln ſorglos im Sande, putzen und federn ſich oder legen ſich halb auf den Bauch, halb auf die Seite, um ſich zu ſonnen. Man kann dies alles deutlich ſehen, ſie zählen, ſich vergewiſſern, daß ihrer mehr als fünfzig, kaum weniger als hundert ſind. Welchen Jäger der Wüſte ſollten ſie nicht zur Jagd verlocken?! Beuteſicher ſchiebt der noch unerfahrene Weidmann ſein Glas zuſammen, um dafür das Jagdgewehr zur Hand zu nehmen, und langſam reitet er näher an die bunte Schar heran. Da aber ver— ſchwinden die Vögel vor feinen Augen. Keiner von ihnen lief oder flog, hinweg, und dennoch läßt ſich keiner mehr wahrnehmen. Es iſt, als ob die Erde ſie verſchlungen habe. In der That haben ſie, auf die Gleich— farbigkeit des Bodens und ihres Gefieders bauend, der Erde ſich anvertraut, nämlich einfach ſich platt auf den Boden gedrückt. In demſelben Augen— blicke ſind ſie zu Steinen und Sandhäufchen geworden. Der noch ungeübte Jäger reitet an ſie heran, ohne ſie zu ſehen, und ſchrickt auf, wenn ſie urplötzlich ſich erheben, laut rufend und polternd auffliegen und brauſend, Karawanen und Wüſtenreiſen. 265 dahinſtürmen. Gelingt es ihm dennoch, einen der Vögel zu erlegen, ſo überraſcht ihn die ungewöhnliche Färbung und ſeltſame Zeichnung ihres Gefieders kaum weniger als ihr Gebaren. Die ſandfarbene, bald mehr ins Grauliche, bald mehr ins Hellgelbe ſpielende Färbung der Oberſeite wird unterbrochen und lebhaft geſchmückt durch breite Bänder, ſchmälere Streifen, zierliche Säume, durch Tüpfel, Flecke, Punkte, Strichelchen und Schmitzen, ſo daß man meinen möchte, ein ſolches Huhn müſſe auf weithin ſichtbar ſein; aber alles Farbengemiſch iſt nichts anderes als die getreueſte Wiedergabe der Färbung des Sandes ſelbſt, und jede dunkle, jede lichte Stelle, jedes Steinchen, jedes Sandkorn ſcheint wiedergegeben zu ſein auf dieſem Gefieder. Kein Wunder daher, daß es die Erde förmlich in ſich aufnimmt, anſcheinend ſogar die Geſtalt des Vogels verwiſcht und dieſen mindeſtens ebenſo ſichert, wie die kraftvolle, mit unvergleichlicher Eilfer— tigkeit begabte Schwinge. Und deshalb umrankt die arabiſche Dichtung Sein und Weſen auch dieſer Hühner mit blütenreichen Gedanken und blumigen Worten; denn ihre Schönheit beſticht das Auge, und ihre wunder— volle Eilfertigkeit ruft die Sehnſucht wach im Herzen des an die Scholle geketteten Menſchen. Alle übrigen Wüſtentiere tragen nicht minder deutlich das Gepräge der beſchriebenen zwei. In der Wüſte lebt ein Luchs, der Karakal: er iſt ſchlanker und hochbeiniger, langohriger und großäugiger als jeder andere, auch nicht geſtreift oder gefleckt, ſondern bis auf die ſchwarzen Ohrſpitzen, Augenſtreifen und Lippenflecke ſandfarben, je nach der Gegend, welche er bewohnt, heller oder dunkler, rötlicher oder lichter gefärbt; in der Wüſte wohnt ein Fuchs, der Fenek: er iſt der Zwerg der ganzen Hundefamilie, trägt ein iſabellfarbenes Kleid und beſitzt wahrhaft rieſige Ohren; die Wüſte erzeugt ein kleines Nagetier, die ſogenannte Springmaus: ſie iſt ein Häschen in zwerghafter Känguruhgeſtalt, mit außerordentlich hohen Beinen, ganz verkümmerten Vorderfüßen und mehr als leibeslangem, zwei— zeilig behaartem Schwanze, harmloſer und gutmütiger, aber auch eilfertiger und gewandter als jeder andere Nager. Dasſelbe Gepräge zeigen die Vögel, die Kriechtiere, ſelbſt die Kerfe; und es tritt hervor, wie wechſelvoll auch die Abänderungen in Geſtalt und Färbung ſein mögen. Macht ſich in oder neben dem Sandgelb eine andere Färbung geltend, zeigt das Haar-, Feder- oder Schuppenkleid ſonſt noch Schwarz oder Weiß, Aſchgrau oder Braun, Rot, Blau u. ſ. w., ſo tritt derartige, oft weſentlich zum Schmucke des Tieres gereichende Färbung doch immer nur an ſolchen Stellen auf, welche das von oben oder von der Seite her ſpähende Auge nicht wahr— 266 Karawanen und Wüſtenreiſen. zunehmen vermag. Türmt ſich aber mitten in der Wüſte ein Hochgebirge auf, ſo zeigt ſich deſſen wechſelvolles Gepräge auch in der Tierwelt, welche auf ihm lebt: auf den grauen Felſen der Hochgebirge Arabiens klettert der Wüſtenſteinbock, hauſt der Klippſchliefer, horſtet der Geieradler, be— völkert eine nicht unbedeutende Artenzahl von anderen Vögeln Spitzen und Klüfte, Wände und Thäler, wogegen von den dunklen Felsſtücken niederer Wüſten nur der tiefſchwarze Trauerſteinſchmätzer ſein ton- und klangreiches Lied herabſingt. So ſpricht ſich die Einhelligkeit der Wüſte in jedem ihrer Teile, jedem ihrer Geſchöpfe aus, und ſo erhöht ſie gerade hierdurch den Eindruck, welchen ſie auf jeden gedanken-, gefühl- und kraftvollen Menſchen vom erſten Tage an ausübt und mit jedem folgenden ſteigert. Vollkraft, Empfänglichkeit und Gefühl verlangt freilich die Wüſte von jedem Menſchen, welcher ſie erkennen, bis zu einem gewiſſen Grade in ihr heimiſch werden will. Wer Reiſebeſchwerden, wie ſie ſolche bereitet, nicht zu ertragen vermag, wer ihre Sonne fürchtet, vor ihrem Sande fih ſcheut, möge ſie meiden. Der Tag in der Wüſte iſt auch bei reinem Himmel, bei ruhig heiterer Luft, ja ſelbſt bei kühlendem Hauche aus Norden eine ſchwere Zeit. Faſt plötzlich, beinahe ohne Dämmerung, tritt er ſeine Herrſchaft an. Nur in der Nähe des Meeres oder großer, die Wüſte durchſtrömender Flüſſe ſäumt die Morgenröte ihm zum Gruße den öſtlichen Himmelsrand mit Purpur ein: inmitten weiter Sandebenen tritt mit dem erſten Rot im Oſten auch die Sonne hervor. Sie erhebt ſich über der Sandebene wie eine Feuerkugel, welche nach allen Seiten hin ihre Hülle ſprengen zu wollen ſcheint. Mit ihrem Erſcheinen iſt die Morgenfriſche dahin. Unmittelbar nach ihrem Aufgange ſendet ſie Glutſtrahlen hernieder, als ob ſie im Mittage ſtehe. Wenn ſchon der monatelang wehende, oft erquickend friſche Nord verwehren ſollte, daß ſich die von der Hitze ungleich ausgedehnten Luftſchichten zum ſcheinbaren See geſtalten: ſo viel Kühlung bringt er doch nicht mit ſich, daß auch das eigentümliche Zittern und Wogen der über dem Sande liegenden Luft verſchwinden könnte. In Lichtüberfülle flimmern Himmel und Erde; unbeſchreibliche Glut ſtrömt von der Sonne aus und prallt vom Sande nach oben zurück. Jede Stunde mehr ſteigert Licht und Glut, und gegen beide gibt es kein Ausweichen, kein Entrinnen. Die Karawane iſt mit dem erſten Sonnenſtrahle aufgebrochen und zieht lautlos dahin. Weitaus ſchreiten die Laſtkamele, federnden Ganges deren Treiber neben, hinter ihnen her; im vollen Trabe eilen die Reit— kamele, ihren Kräften entſprechend angetrieben, an jenen vorüber und Wüſtenkarawane. Karawanen und Wüſtenreiſen. 267 dem Reiſezuge voraus; bald verlieren deren Reiter den Laſtzug aus dem Geſichte. Vorwärts geht es mit ungeminderter Eile. Alle Knochen ſcheinen zu knacken unter den Stößen, welche die haſtenden Reittiere verurſachen. Sengend brennt die Sonne hernieder, ſtechend dringt ſie durch alle Kleider, ſo viele deren zum Schutze gegen ſie auch übereinander gehäuft werden mögen. Unter der dichten Hülle rieſelt der Schweiß über den ganzen Körper, unter der leichteren der Arme und Veine verdunſtet er, ſowie er auf die Haut tritt. Die Zunge klebt am Gaumen. Waſſer, Waſſer, Waſſer! iſt der einzige Gedanke deſſen, welcher ſolche Beſchwerden noch nicht zu ertragen gelernt hat. Aber das Waſſer iſt, anſtatt in eiſernen Behältern und Flaſchen, in den landesüblichen Schläuchen verfrachtet, Tage nacheinander in der vollen Glut und auf dem Rücken der Kamele ver— führt worden und daher mehr als lauwarm, übelriechend, dick, braun von Farbe und, weil durchdrungen von dem Leder- und Koloquintenteergeſchmack, auch übelſchmeckend, ekel- und ſelbſt brechenerregend. Solches Waſſer ge— währt keine Labung, ſondern verurſacht nur neue Beſchwerden, ſelbſt pein— liche Leibſchmerzen, macht daher die Begierde nach irgend welchem Ge— tränke nur noch brennender. Aber es läßt ſich ebenſowenig verbeſſern als erſetzen. Sein durchdringender Geſchmack und Geruch ſpotten aller Ver— ſuche, es in Geſtalt von Kaffee oder Thee oder mit Wein oder Branntwein vermiſcht zu genießen; unvermiſchter Wein oder Branntwein aber ver— mehren nur den brennenden Durſt und die erdrückende Hitze. Der Zu— ſtand des Reiſenden wird qualvoll, noch bevor die Sonne in Mittagshöhe ſteht, und die Qual nimmt in demſelben Maße zu, in welchem das Waſſer ſich verſchlechtert. Aber ſie muß ertragen werden und wird ertragen. Wenn auch der Abendländer an Schlauchwaſſer, wie geſchildert, ſich nie gewöhnt, an die anfänglich unerträglich ſcheinende Hitze gewöhnt er ſich bald, an die Beſchwerden des Rittes um ſo eher, je mehr er mit ſeinem Reittier zuſammenwächſt. In Zukunft wird er für reines Waſſer ſorgen und dann kaum noch über deſſen Wärme, gewiß nicht aber über die Be— ſchwerden des Rittes klagen. Behaglich ruhend, wenn auch durch die brüllenden Klagelieder der aufbrechenden Laſtkamele unſanft geweckt, läßt der im Lande eingelebte Reiſende die Laſtkarawane vorausziehen, erlabt Leib und Seele durch Kaffee und Tabak, beſteigt ſodann ſein Dromedar und jagt mit den Ge— noſſen ſo raſch dahin, als die Traber laufen wollen. Kein Wort wird gewechſelt, nur das Knirſchen des Sandes unter den federnden Hufballen, das laute Atemholen und dumpfe, kollernde Knurren der Kamele ver— 268 Karawanen und Wüſtenreiſen. nommen. In kurzer Friſt iſt der Laſtzug überholt und ein bedeutender Vorſprung gewonnen worden. Eine Gazelle äſt ſich unfern der Wege— richtung und gibt Hoffnung auf hier hoch willkommene Beute. In an— mutigen Sätzen tanzt der verkörperte Dichtergedanke der Wüſte vor den verfolgenden Reitern dahin, und hinter ihm traben mit weitausholenden Schritten die ſcharf angetriebenen keuchenden Kamele. Das Wild zeigt ſich ſorglos und geſtattet erwünſchte Annäherung; die Reiter thun, als ob ſie an ihm vorüberziehen wollten, zügeln ihre Tiere und reiten gemäch— licher; einer läßt ſich aus dem Sattel zu Boden gleiten, hält ſein Tier einen Augenblick lang an und entladet unter ſeinem Leibe die ſichere Büchſe. Im Nu iſt der Führer aus dem Sattel geſprungen, um das gefällte Wild zu ſichern; jauchzend ſchleppt er es herbei, geſchickt befeſtigt er es am Sattel und weiter geht die Reiſe. Gegen Mittag wird geraſtet. Iſt eine Niederung in der Nähe, ſo findet ſich in ihr wohl eine ſchirmförmige Mimoſe, deren dünnes Blätter— dach ſpärlichen Schatten bietet; erſtreckt ſich unabſehbar die ſandige Fläche vor den Reitern, ſo bilden vier in den Sand geſtoßene Lanzen und die zwiſchen ihnen ausgeſpannte Wolldecke ein dürftiges Schattendach. Aber glühend iſt der Sand, welcher zum Lager werden muß, heiß und drückend die Luft, welche man atmet: Mattigkeit und Schlaffheit bemächtigt ſich ſelbſt des Eingeborenen, um wie viel mehr des Nordländers. Man erſehnt Ruhe, ohne ſie zu finden, Erquickung, ohne ſie zu genießen. Von dem überquellenden Lichte und der flimmernden Luft geblendet, ſchließt man die Augen; von der ſengenden Hitze gequält, von dem brennendſten Durſte gepeinigt, wälzt man ſich ſchlaflos auf ſeinem Lager. Bleiern entſchleichen die Stunden. Der Laſtzug ſchwankt langſam vorüber und entſchwindet dem Auge in einem dunſtigen Luftſee, auf deſſen wogenden Wellenſchichten die Kamele zu ſchweben ſcheinen. Noch immer verweilt man in derſelben Lage, leidet man unter denſelben Beſchwerden. Die Sonne hat die Mittagshöhe längſt überſchritten; aber nach wie vor ſendet ſie ihre glühenden Strahlen mit gleicher Stärke hernieder. Endlich, in den Spätnachmittagsſtunden, bricht man von neuem auf. Und wiederum ein Ritt, daß die raſche Bewegung einen beinahe kühlenden Luftzug entgegenführt, bis die Laſtkarawane wieder in Sicht kommt und bald darauf erreicht wird. Singend ſchreiten die Kamelführer hinter ihren Tieren einher. Einer von ihnen trägt das Lied vor, die übrigen ſchließen jeden einzelnen Vers mit regelmäßig wieder— kehrendem Endreim. Karawanen und Wüſtenreiſen. 269 Wenn man das Mühſal erwägt, welches ein Kameltreiber auf Wüſten— reiſen zu erleiden hat, wundert man ſich freilich, daß man ihn ſingen hört. Vor Tagesanbruch belud er ſein Laſttier, nachdem er mit ihm einige Handvoll weichgekochter Durrahkörner, beider einzige Nahrung, geteilt hatte; während des ganzen langen Tages ſchritt er, ohne einen Biſſen mehr zu genießen, höchſtens an ſtinkendem Schlauchwaſſer zeitweilig ſich erlabend, hinter ſeinem Tiere einher; die Sonne ſengte ſeinen Scheitel, der glühende Sand verbrannte ſeine Sohlen, die heiße Luft trocknete ſeinen ſchweiß— triefenden Leib; ihm blieb keine Zeit, zu ruhen, zu raſten; er mußte viel— leicht noch einige ſeiner Tiere umladen, eines oder das andere, welches ihm durchgegangen, wieder einfangen: und dennoch ſingt er jetzt ſeine Lieder. Das wirkt die Nacht der Wüſte. Wenn die Sonne zur Rüſte geht, ſcheinen ſich die Glieder dieſer ausgedörrten Wüſtenkinder neu zu friſchen; denn auch ſie gleichen in allem und jedem ihrer erhabenen Mutter, der Wüſte. Mit ihr erglühen ſie um die Mittagszeit, mit ihr erblühen ſie zur Zeit der Nacht. Sobald die Sonne ſich neigt, ſpinnt ihre Dichtergabe goldene Träume noch im Wachen aus. Der Sänger preiſt waſſerreiche Brunnen, Palmengruppen um ſie her und dunkle Zelte unter ihnen; er grüßt ein braunes Mädchen in einem der Zelte, welches ihm den Gruß des Heiles ſpendet, rühmt ihre Schön— heit, vergleicht ihre Augen mit denen der Gazelle, ihren Mund mit einer Roſe, deren Blütendüfte als Worte in der Muſchel ſeines Ohres zu Perlen ſich reihen, verſchmäht des Sultans erſtgeborene Tochter ihrethalben und ſehnt die Stunde herbei, in welcher das Geſchick ihm geſtattet, das Zelt mit ihr zu teilen. Seine Genoſſen aber mahnen ihn, noch höhere Sehn— ſucht zu empfinden und richten deshalb fort und fort ſeine Gedanken auf den Propheten, „welcher unſere Sehnſucht, unſer Verlangen ſtillt“. So klingt es dem nordiſchen Fremdlinge entgegen, und auch ihm drängen ſich Lieder der Heimat über die Lippen. Und wenn dann der letzte roſige Dufthauch der geſchiedenen Sonne nachglüht, wenn die Nacht ihr Zaubergewand über die Wüſte breitet: dann will es ihm ſcheinen, als ſei das Schwerſte leicht geweſen, als habe er während des Tages Glut keinen Durſt, während des Nittes keine Beſchwerde gefühlt. Heiter ſpringt er aus dem Sattel, und während die Treiber ihre Kamele entlaſten und feſſeln, ebnet und häuft er Sand zu ſeinem Lager, breitet Teppich und Decke darüber und gibt ſich der erſehnten Ruhe mit Wonne hin. Auf wenige Schritte nur erhellt das kleine Feuer die Ebene. Ge— ſchäftig bewegen ſich in ſeiner Nähe die halbnackten dunklen Söhne der 270 Karawanen und Wüſtenreiſen. Wüſte. Die Flamme wirft zauberhafte Lichter auf ſie, welche im Halb— dunkel der Nacht zu Schatten werden: Ballen und Kiſten, Sättel und Geräte nehmen wunderſame Formen an; die außerhalb der Gepäckſtücke im weiten Kreiſe lagernden Kamele wandeln ſich zu Spukgeſtalten, wenn ihre Augen im Widerſcheine des Feuers düſter erglühen. Still und ſtiller wird es im Lager. Einer der Wüſtenſöhne nach dem andern verläßt die Kamele, mit denen er ſein ärmliches Nachtmahl geteilt, hüllt ſich in ſein langes Leibtuch, ſinkt auf den Boden nieder und verſchmilzt mit dem Sande. Das Feuerchen flackert noch einmal auf, verliert ſeinen Schein und erliſcht. Es iſt wirklich Nacht geworden im Lager. Wer ſie zu ſchildern vermöchte, die Nacht in der Wüſte: ein Dichter müßte er ſein von Gottes Gnaden. Wer wäre im ſtande, auch wenn er ſie ſelbſt erlebt, durchwacht, durchſchwelgt, durchträumt hat, ihre Schönheit zu beſchreiben! Nach des Tages Glut iſt ſie die milde, vergeltende, ver— ſöhnende Spenderin unſagbaren Wohl- und Hochgefühls, die Frieden und Freude bringende Zeit, welche der Mann herbeiſehnt, wie die Geliebte, die ihm das lange Harren vergilt. „Leila“, die ſternhelle Nacht der Wüſte, Leila iſt dem Araber mit Recht der Inbegriff alles Hohen und Herrlichen. Leila nennt er ſeine Tochter; mit den Worten: „meine ſternhelle Nacht“ ſchmeichelt er koſend feiner Geliebten; „Leila, o Leila“, fügt er feinen Gedichten als klingenden Endreim bei. Aber welch eine Nacht iſt es auch, die hier in der Wüſte, nach all des Tages Laſt und Beſchwerde, Sinn und Gemüt umſtrickt! In nie geahnter Reinheit und Helle leuchten die Geſtirne am dunklen Himmelsdome: das Licht der nächſten iſt fähig, ſchwache Schatten auf lichten Grund zu werfen. Mit vollen Zügen atmet der Menſch die reine, friſche, kühlende, erquickende Luft; mit Entzücken läßt er ſein Auge von einer Sonne zur andern ſchweifen. Mehr und mehr ſcheint das Licht der Sterne zu ihm ſich herabzuſenken; der Geiſt bricht die ihn an den Staub kettenden Feſſeln und hält Zwieſprache mit anderen Welten. Kein Laut, kein Geräuſch, nicht einmal das Zirpen einer Heuſchrecke unterbricht fernerhin ſein Sinnen und Denken. Die Groß— artigkeit und Erhabenheit der Wüſte wird ihm erſt jetzt erkennbar; ihr unſäglicher Frieden zieht ein in ſein Herz. Aber auch ſtolzes Selbſt— bewußtſein füllt ihm die Bruſt: hier inmitten der unendlichen Einöde, ſo allein, jeder menſchlichen Gemeinſchaft und Hilfe entrückt, nur auf ſich ſelbſt angewieſen, erſtarken Vertrauen, Mut und Hoffnung. Traumbilder voll unendlichen Reizes weben ſich vor wachem Auge und ſpinnen ſich lebendig und feſſelnd weiter fort, auch wenn die Sterne zu flimmern und Karawanen und Wüſtenreiſen. 271 zu zittern begannen, die Gedanken verſchwammen und die Augen ſich ſchloſſen. Nach leiblicher und geiſtiger Erquickung, wie die Nacht der Wüſte ſie bietet, trägt ſich die Beſchwerde des folgenden Tages leichter, ſo viele Ueberwindung es auch koſten mag, das ſtündlich mehr und mehr ſich ver— ſchlechternde Waſſer zu trinken. Wirkliche Ruhe, ungetrübtes Behagen bringt aber doch erſt der Aufenthalt am Wüſtenbrunnen. Fortwährend Eine Oaſe. bedroht von dem Mangel an den notwendigſten Lebensbedürfniſſen, iſt jede Wüſtenreiſe ein ruheloſes Drängen und Vorwärtseilen, entbehrt daher voll— ſtändig der Gemächlichkeit, mit welcher man gerne wandern mag. Ein Tag verläuft wie der andere; jede Nacht gleicht, mindeſtens in der günſtigen Jahreszeit, der vorhergegangenen. In der Oaſe, am Brunnen, wird der Tag zum Feſte, der Abend zur harmlos heiteren Feier, die Nacht zu wirklich erlabender Ruhezeit. Zur Entſtehung der Oaſe iſt eine becken- oder thalartige Eintiefung der Gegend notwendige Bedingung, weil ohne ſprudelnden Quell, mindeſtens DD Karawanen und Wüſtenreiſen. ohne künſtliche Brunnen, reicheres Pflanzenleben undenkbar iſt und Waſſer in der Wüſte einzig und allein im Hochgebirge oder in den tiefſten Niede— rungen gefunden wird. Wie in ſo mancher anderen Hinſicht das Meer des Sandes dem wogenden Weltmeer gegenüberſteht, ſo ſind auch ſeine Inſeln Gegenſtücke der Eilande der Waſſerwüſte, weil nicht über die um— gebende Fläche erhöht, ſondern in ſie eingeſenkt. Hier nur tritt entweder Waſſer als Quelle zu Tage oder findet ſich doch in geringer Tiefe unter der Oberfläche. Sein Reichtum wie ſeine Beſchaffenheit bedingen das Ge— präge der Oaſe. In den wenigſten Niederungen quillt reines, kühles Waſſer hervor. Die meiſten Quellen ſind ſalzig, eiſen- oder ſchwefelhaltig, ſehr häufig auch warm und deshalb vielleicht großenteils heilkräftig, keineswegs aber immer trinkbar oder der Fruchtbarkeit förderlich. Friſches Raſengrün ruft wohl keine einzige hervor. Aber nur unter beſonders günſtigen Umſtänden tritt das Waſſer überhaupt zu Tage; in den meiſten Fällen ſickert es in Felſenſpalten oder gegrabenen Schachten tropfenweiſe zuſammen, und muß mindeſtens zeitweilig künſtlich gehoben werden. Und auch da, wo es quillt, verrinnt es, wenn der Menſch nicht nachhilft, es ſammelt und berechnend verteilt, in der Regel wiederum nach kurzem Laufe im Sande. Gleichwohl ruft es unter allen Umſtänden erfriſchendes, in ſolcher Einöde doppelt willkommenes Leben wach. Um den fließenden Quell hatte, lange bevor der Menſch erſchien, um Beſitz zu nehmen, eine grüne Pflanzenſchar ſich angeſiedelt. Wer vermag es zu ſagen, wie ſie entſtand? Vielleicht war es der Sandſturm, welcher Samen ſtreute, die hart am Quell keimten, grünten, wuchſen, blühten und wiederum Samen trugen und ſo über das ganze Thal ſich verbreiteten. Von dem Menſchen wurden ſie ſicherlich nicht gepflanzt; denn die Mimoſen, welche ihren Hauptbeſtandteil bilden, ſieht man auch in bisher noch brunnenloſen Niederungen, einzeln, zu zehn, zwanzig, zu einem kleinen Haine vereinigt. Sie allein ſchon ſind hinreichend, um Leben wachzurufen in der Wüſte; ſie grünen, blühen und duften — und wie friſch, wie golden, wie balſamiſch! In ihrem freundlichen Schatten ruht die Gazelle; aus ihren Wipfeln erklingen die Lieder der wenigen gefiederten Sänger der Wüſte. Ihre ſaftigen Blätter inmitten der ſtarren Kalkmaſſen, ſchwarzen Granitkegel und des blendenden Sandes thun dem Auge wohl wie Maiengrün; ihre Blüten wie ihr Schatten erlaben die Seele. In größeren, waſſerreichen Oaſen hat der Menſch ihnen die Palme geſellt und damit der Wüſtenſiedelung neuen Zauber verliehen. Die Palme iſt hier alles in allem: die Königin der Bäume, die den Menſchen an den kleinen Karawanen und Wüſtenreiſen. 273 — Fleck Erde feſſelnde und erhaltende Fruchtſpenderin, die von der Sage um— rankte, vom Liede umklungene Nährpflanze, der Baum des Lebens. Was wäre die Oaſe ohne Palme?! Ein Zelt ohne Dach, ein Haus ohne Be— wohner, ein Brunnen ohne Waſſer, ein Gedicht ohne Worte, ein Geſang ohne Töne oder ein Gemälde ohne Farben! Ihre Früchte nähren den Wanderhirten oder ſeßhaften Siedler, wandeln ſich in ſeiner Hand zu Weizen oder Gerſte, befriedigen ſelbſt den ſteuerheiſchenden Abgeſandten ſeines Herrn und Gebieters; ihre Stämme, ihre Wedel, ihre ſchmalen Blätter liefern ihm Gebäude, Geräte, Matten, Körbe, Säcke, Seile und Stricke. Im Sande der Wüſte erſt würdigt man ihren vollen Wert, ihre ganze Bedeutung; im Sande der Wüſte wird ſie zum verſtändlichen Sinn— bilde der arabiſchen Dichtung, welche wie ſie oft unfruchtbarem Boden entſtammt, wie ſie kräftig, immer ſich gleich bleibend emporwächſt, der Höhe zuſtrebt und in ihr erſt ihre ſüßen Früchte bringt. Mimoſen und Palmen ſind die Charakterbäume aller Oaſen, fehlen alſo auch denen nicht, welche ſo viele Quellen oder Brunnen beſitzen, daß man Gärten und Felder anlegen konnte. Hier beſchränken ſie ſich, gleich— ſam auf Vorpoſten gegen den andringenden Wüſtenſand geſtellt, auf die äußere Umrandung der Wüſteninſeln, wogegen das Innere der letzteren anſpruchsvolleren, waſſerbedürftigeren Pflanzen eingeräumt wurde. In der Nähe der Quellen oder am Brunnen breiten ſich oft reizende Gärten aus, in denen man faſt alle Fruchtarten Nordafrikas anbaut. Hier klettert die Rebe, glüht die Orange im dunklen Laube, öffnet die Granate ihren roſigen Mund, breitet die Banane ihre Wedelblätter, rankt die Melone ſich durch die Gemüſebeete, vollenden Feigenkaktus und Oelbaum, vielleicht ſogar Feigen-, Aprikoſen- und Mandelbäume das Bild der Fruchtbarkeit. Weiter entfernt dehnen ſich Felder aus, auf denen mindeſtens Kafferhirſe, günſtigen Falles Weizen, ja ſelbſt Reis gebaut wird. In ſo reichen Oaſen hat der Menſch feſte Wohnſitze gegründet, wo— gegen er in den ärmeren Niederungen nur zeitweiliger, mehr oder weniger regelmäßig erſcheinender Gaſt ſein darf. Das Dorf oder Städtchen der Oaſe ähnelt im weſentlichen dem des benachbarten Fruchtlandes: denn es hat wie dieſes ſeine Moſchee, ſeine Kaufhallen und Kaffeehäuſer; die Menſchen aber ſind Kinder eines anderen Geiſtes als die Bauern oder Städtebewohner des Nil- oder Küſtenlandes. Obwohl meiſt verſchiedenen Stammes haben ſie doch einerlei Sitte und Gewohnheit angenommen. Die Wüſte hat ſie aus- und umgeprägt. Ihre hagere Geſtalt, die ſcharf ge— ſchnittenen Züge, die unter buſchigen Brauen liegenden blitzenden Augen Brehm, Vom Nordpol zum Aequator. 18 274 Karawanen und Wüſtenreiſen. laſſen auch ſie ſofort als Söhne der Wüſte erkennen; ihre Sitten und Gewohnheiten bezeichnen ſie noch ſchärfer als ſolche. Sie ſind anſpruchslos, ſtreb-, reg- und genügſam, gaſtfrei, offen, ehrlich und treu, aber auch ſelbſtbewußt, reizbar und jähzornig, zu Raub und anderer Gewaltthat geneigt, ähnlich den Beduinen, obwohl ſie dieſen weder im Guten noch im Böſen gleichkommen. Eine in ihrem Wohnorte einziehende Karawane iſt ihnen eine willkommene Erſcheinung, der Reiſende ihrer Anſicht nach aber zu Zoll und Abgabe verpflichtet. Von ſolchen Oaſen weit verſchiedene Raſtorte ſind die Niederungen, in denen ſich nur hie und da ein ſtets erſehnter Brunnen befindet. Die arabiſchen Wanderhirten, welche aus ihm ſchöpfen, ſind zufrieden, wenn er ihnen und ihren Herden für einige Monate oder auch nur Wochen notdürftig Trinkwaſſer gewährt; die hier raſtende Karawane darf froh ſein, wenn ſie ihren Bedarf im Laufe einiger Tage deckt. Gewöhnlich iſt der Brunnen ein tiefer Schacht, deſſen Wände eher Waſſer ausſchwitzen, als in rieſelnden Adern zur Tiefe ſenden. Einige Tompalmen erheben ſich zwiſchen den ſpärlich ſtehenden Mimoſen und Salikariengebüſchen im Um— kreiſe des Brunnens; einzelne Grashalme entſproſſen der dürren Erde. Unſagbar arme Menſchen ſind die Wanderhirten, welche hier ihre Zelte aufſchlagen, ſolange ihre ſchwachen Ziegenherden Nahrung finden; ihr „Kampf um das Daſein“ iſt nichts anderes als eine einzige Kette von Mühſal, Entbehrung und Not. Ein langes dunkles Tuch aus Ziegen— wolle, in ſeiner Mitte über ein einfaches Gerüſt gelegt, mit ſeinen beiden Enden an den Boden gepflöckt, hinten durch ein Stück aus demſelben Zeuge, vorn durch eine Matte aus Palmenblättern geſchloſſen, bildet ihr Zelt, die Brautgabe der Frau, an welcher ſie vom achten bis zum ſechzehnten Lebens— jahre ſammelte, ſpann und webte; aus einigen Matten, welche als Lager— ſtätten dienen, einer Granitplatte und dazu gehörigem Reibſtein zum Zer— kleinern des eingetauſchten Getreides, einer flachen Tonplatte zum Röſten der Fladen, zwei bauchigen Töpfen, einigen Lederſäcken und Schläuchen, einer Axt und mehreren Lanzen beſteht der ganze Hausrat; eine Herde von zwanzig Ziegen gilt als reicher Beſitz der Familie. Aber dieſe Leute ſind ebenſo brav als arm, ebenſo liebenswürdig als wohlgeſtaltet, ebenſo gut— mütig als ſchön, ebenſo freigebig als anſpruchslos, ebenſo gaſtfrei als ehrlich, ebenſo ſittenrein als gläubig. Uralte Bilder tauchen auf vor der Seele des Abendländers, welcher zum erſtenmal mit ihnen zuſammentrifft; bibliſche Geſtalten treten ihm lebend gegenüber und reden mit ihm in der ihm von der Kindheit her vertrauten Sprachweiſe. Tauſende von Jahren Karawanen und Wüſtenreiſen. 275 ſind über dieſe Wanderhirten der Wüſte hinweggegangen wie ein einziger Tag; heute noch denken, reden und handeln ſie, wie die bibliſchen Erz— väter dachten, redeten und handelten. Derſelbe Gruß, welchen Abraham ſpendete, klingt von ihren Lippen dem Fremdlinge entgegen; dieſelben Worte, welche Rebekka zum Knechte des Genannten ſprach, ſind mir ge— worden, als ich, gepeinigt vom brennendſten Durſte, am Brunnen der Bahiuda vom Kamele ſprang und von einem jungen, ſchönen, braunen Weibe zu trinken begehrte. Da ſtand ſie vor mir, die vor Jahrtauſenden geweſene Rebekka, leibhaftig, lebend und in unverwelklicher Jugend, eine andere als jene, von welcher die Schrift redet, und doch dieſelbe. Beim Eintreffen einer Karawane verſammelt ſich die ganze Bewohner— ſchaft ſolcher zeitweiligen Siedelung. Der Aelteſte tritt hervor aus ihrer Mitte und ſpendet den Gruß des Friedens; alle übrigen heißen die Fremd— linge willkommen. Dann bietet man das Köſtlichſte, welches dieſe begehren: friſches Waſſer, bietet alles, was man beſitzt, und bietet es mit würde— voller Freundlichkeit, die Gabe weder aufdrängend noch unwillig gewährend. Gierig ſchlürfen die Reiſenden in langen Zügen das erquickende Naß; ungeſtüm drängen ſich auch die Kamele zu der Tränkſtelle, obwohl ſie aus Erfahrung wiſſen könnten, daß ſie erſt entlaſtet, gefeſſelt und auf die Weide geſandt zu werden pflegen, bevor man ihnen geſtattet, nach vier— bis ſechstägiger Entſagung wiederum einmal ihren Durſt zu löſchen. Man ſpendet auch am Brunnen keinen überflüſſigen Tropfen, gibt ihnen daher zunächſt das etwa vorhandene Schlauchwaſſer zum beſten und tränkt ſie erſt, nachdem man alle Schläuche wieder gefüllt hat, mit mehr Rückſicht auf den vorhandenen Waſſervorrat als ihr Bedürfnis. Nur an reichlich waſſerhaltigen Brunnen ſtillt man ihr maßlos ſcheinendes Verlangen, und ſieht dann nicht ohne Heiterkeit, wie ſie ſchlürfen, ohne einmal dabei auf— zuſehen, und dann mit abſonderlichen, unſchönen, durch ihre Feſſeln be— dingten Sätzen der nicht minder erſehnten Weide zueilen, um ihrem augen— blicklich wie eine halbvolle Tonne polternden Magen auch Speiſe zu— zuführen. Für Reiſende und Lagerbewohner aber bricht ein wahrer Feſttag an. Erſtere finden friſches Waſſer, vielleicht ſogar Milch und Fleiſch zur Würzung der erſehnten Raſt und Ruhe; letztere heißen jede Unterbrechung ihres in guten Tagen gleichmäßig ſich abſpinnenden Lebens willkommen. Einer der Kamelführer hat im nächſten Zelte das beliebteſte Tonwerkzeug der Wüſtenbewohner, die Tambura oder fünfſaitige Zither, aufgefunden und verſteht es meiſterhaft, ſeinen einfachen Geſang zu begleiten. Der 276 Karawanen und Wüſtenreiſen. Klang lockt die Töchter des Lagers herbei, und ſchlanke, ſchöne Frauen und Mädchen drängen ſich fragend um die fremden Männer, heften ihre dunklen Augen auf ſie und ihre Habſeligkeiten, erkundigen ſich ungeziert nach dieſem und jenem. Wappne dein Herz, Fremder; dieſe Augen möchten es ſonſt in Brand ſetzen! Sie find ſchöner noch als die der Gazelle, aber auch die Lippen unter ihnen beſchämen die Korallen, die blendenden Zähne dazwiſchen die Perlen, welche du dieſen braunen Töchtern der Wüſte etwa reichen könnteſt! Und nunmehr will alles zu Klang und Dichtung werden. Um den Zitherſpieler ordnen ſich Gruppen zum Tanze, und derbe und weiche Hände begleiten taktſchlagend Zithertöne, Liedesworte und den ebenmäßig wogenden Tanz. Neue Geſtalten kommen, bekannt ge— wordene verſchwinden wieder: es iſt ein beſtändig wechſelndes Treiben, Drängen und Drehen rings um die Fremden, welche klug ſind, wenn ſie ſo harm- und vorausſetzungslos empfangen, als ihre Wirte ſpenden. Alle Beſchwerden der Wüſtenreiſe ſind vergeſſen, Sehnſucht und Verlangen ge— ſtillt; denn Waſſer, Waſſer ſprudelt in genügender Fülle und erſetzt alle Bedürfniſſe anderer Oertlichkeiten und Zeiten. Solche Raſt labt Leib und Seele. Geſtärkt und ermuntert ſetzt die Karawane ihre Reiſe fort; und wenn die Tage nichts Schlimmeres bringen als Sonnenbrand und Glut, Durſt und Ermattung, erreicht ſie ungeſchwächt auch den zweiten, dritten Brunnen und endlich das Ziel der Reiſe, die erſte Ortſchaft jenſeits der Wüſte. Doch leicht veränderlich, gleichwie die erdumgürtende Flut, iſt auch das Meer des Sandes. Auch in ihm toben Stürme, welche ſeine Schiffe brechen und verderbenbringende Wellen dahinrollen. In der Zeit, in welcher der monatelang wehende Nordwind mit ſüdlichen Luftſtrömungen im Kampfe liegt oder dieſen die Herrſchaft gänzlich abgetreten hat, ſieht der Reiſende urplötzlich den Sand lebendig werden, zu mächtigen, ebenſo hohen als dicken Säulen ſich geſtalten und auftürmen und dieſe nun bald langſamer, bald ſchneller über die Ebene wirbeln. Die Sonnenſtrahlen verleihen ihnen zeitweilig den blutigen Schimmer von Feuerflammen, wo— gegen ſie bald wiederum farblos, bald ſchauerlich dunkel erſcheinen; der ſie bewegende Sturmwind ſchwächt und verſtärkt ſie, trennt ſie und ver— einigt zwei oder mehrere von ihnen zu einer einzigen, bis zu den Wolken ragenden Sandhoſe. Wohl möchte der Abendländer Bewunderung des großartigen Schauſpiels laut werden laſſen; die ängſtlichen Blicke und Worte ſeiner Begleiter aber lähmen ihm die Zunge. Wehe der Karawane, welche von ſolchem raſenden Wirbelſturme erreicht wird: ſie darf froh Karawanen und Wüſtenreiſen. 277 ſein, wenn das Leben der Menſchen und Tiere erhalten bleibt! Und wenn ſie, die unabwendbaren Sendboten des Geſchickes, ohne Schaden zu bringen an dem Reiſezuge vorüberraſen: ungefährdet iſt letzterer doch nicht; denn jenen Sandhoſen folgt in der Regel der Samum oder Giftſturm nach. Keineswegs ſteigert ſich dieſer in der Wüſte unter allen Umſtänden gefürchtete Wind, welcher als Chamaſin durch Aegypten, als Sirokko bis nach Italien, als Föhn durch die Alpen, als Tauwind durch Nordeuropa brauſt, immer zum Sturme; nicht ſelten vielmehr weht er kaum bemerklich, und dennoch macht er manches Mannesherz erzittern. Wohl hat man faſt ſchrankenlos über ihn gefabelt: ſo viel aber entſpricht der Wahrheit, daß dieſer Wind unter Umſtänden jeder Karawane in hohem Grade gefährlich werden kann, daß ſeiner Wirkung die gebleichten Gerippe der Kamele und die vom Sande halb verſchütteten und ausgedörrten Mumien der Menſchen, welche man an jeder Wüſtenſtraße findet, zugeſchrieben werden müſſen. Denn nicht ſeine Stärke, ſondern ſeine Beſchaffenheit, ſeine elektriſche Spannung, bringt Leiden und Verderben über die das Sandmeer durch— wandernden Menſchen und Laſttiere. Mindeſtens einen, oft mehrere Tage vorher ahnt und weisſagt der Eingeborene wie der landeskundige Fremde den Sandſturm. Untrügliche Zeichen gehen ihm voraus. Die Luft wird ſchwül, ſchwer und läſtig; leichter, graulich oder rötlich erſcheinender Dunſt trübt den Himmel; kein Lufthauch regt ſich. Alle lebenden Weſen leiden erſichtlich unter der mehr und mehr ſich ſteigernden Schwüle: die Menſchen klagen und ſtöhnen; das Wild zeigt ſich ſcheuer als je; die Kamele werden unruhig und ſtörriſch, drängen ſich aneinander, bleiben ſtehen, legen ſich wohl auch auf den Boden nieder. Farblos geht die Sonne zur Rüſte. Kein Abendrot ſäumt den Himmel; jedes Licht geht in dem Dunſtmantel unter. Die Nacht bringt weder Kühlung noch Erquickung, eher Steigerung der Schwüle, Kraftloſig— keit und Unbehaglichkeit; trotz aller Mattigkeit flieht Schlaf das Auge. Sind Menſchen und Tiere noch im ſtande, ſich zu rühren, ſo raſtet man nicht, zieht im Gegenteile mit ängſtlicher Eile weiter, ſolange der Führer noch eines der Himmelslichter wahrnimmt. Allein der Dunſt wird zum trockenen Nebel und verhüllt ein Geſtirn nach dem anderen, auch Mond und Sonne, welche letzteren im günſtigſten Falle nur halb ſo groß als ſonſt, bleich und mit verſchwommenen Rändern erſcheinen. Zuweilen beginnt der Wind um Mitternacht ſeine Schwingen zu regen, gewöhnlicher um die Mittagszeit. Ohne Uhr vermag niemand dieſe Zeit zu beſtimmen; denn der Nebel iſt inzwiſchen ſo dicht geworden, daß 278 Karawanen und Wüſtenreiſen. er die Sonne vollſtändig verſchleiert und trübe Dämmerung über die Wüſte bringt, in welcher alle Gegenſtände bereits in kurzer Entfernung ver— ſchwimmen. Leiſe, kaum fühlbar regt ſich endlich die Luft. Es iſt kein Wehen, nur ein Hauchen, welches man wahrnimmt. Aber dieſer Lufthauch iſt glühend heiß, dringt wie eiſiger Wind durch Mark und Bein, ver— urſacht dumpfen Kopfſchmerz, erſchlafft und beängſtigt. Dem erſten Hauche folgt wahrnehmbareres Wehen, gleich glühend, gleich ertötend wie früher. Einzelne kurze Stöße brauſen heulend dahin. Jetzt iſt es höchſte Zeit, zu lagern. Dies zeigen auch die Kamele an. Keine Peitſche bringt ſie vorwärts. Angſterfüllt legen ſie ſich nieder, ſtrecken den Hals lang vor ſich, drücken ihn auf den Sand und ſchließen die Augen. Ihre Treiber entlaſten ſie eiligſt, erbauen raſch aus den Gepäckſtücken einen Wall, häufen alle Schläuche übereinander, um die dem Winde preisgegebene Oberfläche zu verringern, decken auch noch etwa vor— handene Matten über ſie, hüllen ſich, wie alle Mitreiſenden, ſo dicht als möglich in ihre Kleidtücher ein, feuchten den um das Haupt gewundenen Teil derſelben an und ſuchen hinter dem Gepäck Zuflucht und Schutz. Dies alles geſchieht mit Haſt und Eile; denn der Sandſturm läßt nun— mehr nicht lange auf ſich warten. Den einzelnen Stößen folgen anhaltendere; dieſe verſchmelzen mit— einander, und wenige Minuten ſpäter raſt der Sturm einher. Es brauſt und dröhnt, pfeift und heult in den Lüften, rauſcht und tobt in dem Sande des Bodens, kniſtert, knallt und kracht in dem Lager, wo die Bretter der Kiſten zerplatzen. Die herrſchende Schwüle nimmt fortwährend zu und ſteigert ſich bis zur Unerträglichkeit, entzieht dem in Schweiß gebadeten Leibe die Feuchtigkeit, verurſacht auf allen Schleimhäuten Riſſe, welche zu bluten beginnen, legt die nach Waſſer lechzende Zunge wie ein Stück Blei in den Mund, beſchleunigt den Pulsſchlag und krampft das Herz zuſammen, zerreißt endlich auch die Haut, in deren Ritzen der raſende Sturm ſofort feinen Sand wirft, und gebiert dadurch neue Qualen. Die Söhne der Wüſte beten und ächzen, der Abendländer ſtöhnt und klagt. In der Regel währt das ärgſte Toben des Sandſturms nicht lange, eine, zwei, drei Stunden nur, ſo wie bei uns zu Lande das Gewitter, dem er entſpricht. Mit ſeinem Ermatten legt ſich der Staub und klärt ſich die Luft, tritt auch wohl eine Gegenſtrömung aus Norden auf; die Karawane ordnet ſich wieder und zieht weiter. Währt der Samum aber einen halben oder ganzen Tag, dann kann es dem Reiſenden ergehen, wie es einem meiner Bekannten, dem Franzoſen Thibaut, erging, der, als er durch die Karawanen und Wüſtenreiſen. 279 nördliche Bahiuda zog, den letzten Brunnen verſiegt fand und mit faſt ge— leerten Schläuchen aufbrechen mußte, um den vier Tagreiſen entfernten Nil zu erreichen. Ueber ihn und ſeine angſtgehetzte Karawane, welche alles nicht dringend notwendige Gepäck am verſiegten Brunnen zurückgelaſſen hatte, brach der Giftſturm los. Die unglückliche Reiſegeſellſchaft lagerte, hoffte auf das Ende des Sturmes, harrte vergeblich, klagte, verzagte und verzweifelte. Einer von Thibauts Dienern ſprang raſend auf, überheulte den Sturm, tobte, wütete, ſtürzte endlich gebrochen auf ſeinen Herrn nieder, röchelte und ſtarb. Ein zweiter lag, vom Hitzſchlage getötet, als Leiche auf ſeiner Ruheſtätte, als der Sturm endlich ſchwieg; ein dritter blieb, nachdem man wieder aufgebrochen war und, um Tod und Leben ſpielend, dahineilte, hinter den übrigen zurück und verſchmachtete. Von den Kamelen ſtürzte die Hälfte. Thibaut erreichte mit den übriggebliebenen Leuten und Tieren den Nil; aber ſein kohlſchwarzes Haar war im Verlaufe zweier Tage weiß geworden. Von ſolchen Stürmen rühren die mumienhaften Leichen her, welche man an den Karawanenſtraßen findet. Der Sturm, welcher ſie getötet, begräbt ſie auch, indem er ſie mit Sand überſchüttet; letzterer entzieht dem Leichnam ſo raſch alle Feuchtigkeit, daß dieſer, anſtatt zu verweſen, eindorrt und zur Mumie wird. Ueber ſie wirft der eine Wind neuen Sand, von ihr entfernt ein anderer die bergende Decke. Dann ſtreckt der Leichnam eine Hand, einen Fuß, ſein Geſicht dem Reiſenden entgegen, und einer der Kameltreiber folgt der Mahnung des Toten, tritt zu ihm heran, wirft wiederum Sand über ihn und zieht weiter mit den Worten: „Schlafe, Knecht Gottes, ſchlafe im Frieden!“ Solche Stürme ſind es auch, welche in der Seele der Ueberlebenden Traumbilder der Fata Morgana wecken. Solange der Menſch mit voller, ungeſchwächter Kraft und mit geſunden Sinnen ſeines Weges zieht, ſtellt ſich ihm die Luftſpiegelung wohl als eines der beachtenswerteſten Natur— ſchauſpiele, nimmermehr aber als Fata Morgana dar. Während der heißen Jahreszeit entſteht in der Wüſte um die Mittagszeit, von neun Uhr vormittags bis drei Uhr nachmittags, tagtäglich das „Meer des Teufels“. Eine graue, ſeeartige, richtiger noch einer überſchwemmten Gegend ähnelnde Fläche geſtaltet ſich auf jeder pflanzenloſen Ebene in einer gewiſſen Ent— fernung vor dem oder um den Reiſenden, wogt und wellt, flimmert und ſchimmert, läßt alle thatſächlich vorhandenen Gegenſtände ſichtbar bleiben, erhebt ſie aber ſcheinbar bis zur Höhe ihrer oberen Schicht und ſpiegelt ſie nach unten wider. In der Ferne dahinziehende Kamele oder Pferde 280 Karawanen und Wüſtenreiſen. erſcheinen wie gemalte Engelein auf Wolken ſchwebend, und wenn man ihre Bewegungen unterſcheiden kann, ſieht es aus, als ob ſie jedes ihrer Beine auf ein Dunſtpolſter ſetzen wollten. Die Entfernung, in welcher die dem Auge zugekehrte Grenze der Erſcheinung liegt, bleibt immer die— ſelbe, ſolange der Beobachter nicht den Sehwinkel ändert, iſt daher für den Reiter eine andere als für den Fußgänger. Das ganze Wunder beruht auf dem bekannten Geſetze, daß ein Lichtſtrahl, welcher durch ein ungleiches — Mittel fällt, gebrochen wird, muß daher geſchehen, wenn die unterſten Luftſchichten durch Rückſtrahlung des erhitzten Sandes ungleich ausgedehnt werden. Kein Araber verhüllt beim Anblicke der Luftſpiegelung ſein Ge— ſicht, wie einbildungsvolle Reiſende ihren gläubigen Leſern vorgetäuſcht haben; keiner legt ſelbſt der von ihm gerne gebrauchten Bezeichnung „Meer des Teufels“ einen tieferen Sinn unter. Wenn aber als Folgen eines Sandſturmes Angſt, Entbehrung, Ermattung und Not heimſuchen und ſchwächen, und nunmehr die Luftſpiegelung ſich zeigt: dann kann ſie zur Fata Morgana werden, indem die krankhaft gereizte Einbildungskraft ſolche Bilder ſich geſtaltet, welche mit dem heißeſten Wunſche des Augen— blicks, der Sehnſucht nach Waſſer und Ruhe, im innigſten Einklange ſtehen. Auch mir, der ich die Luftſpiegelung hundertmal beobachtet habe, iſt ſie einmal zur Fata Morgana geworden. Dies geſchah, als ich nach vierund— zwanzigſtündigem, qualvollem Durſte das „Meer des Teufels“ vor mir flimmern und glitzern ſah. Da glaubte ich freilich auch den heiligen Nil— ſtrom und Boote mit geblähten Segeln, Palmenwälder und Haine, Gärten und Landhäuſer vor mir zu ſehen. Aber da, wo vor meinen krankhaften Sinnen ein Palmenwald grünte, ſah mein gleich mir verſchmachtender Ge— fährte Segelboote, und da, wo ich Gärten zu erkennen vermeinte, ſpiegelten ſich ſeiner Seele traumhafte Wälder vor. Und alle Trugbilder ver— ſchwanden, ſowie wir uns mit zufällig uns beſchertem Waſſer erquickt hatten, und nur der graue Nebelſee blieb immer noch ſichtbar. Das „Meer des Teufels“ breitet ſich wohl vor jedem Reiſenden aus, welcher eine Wüſtenſtrecke der Nilländer durchzieht; nicht jeder aber er— ſchaut eines der lebendigſten Bilder, welches die Wüſte geſtaltet. Am äußerſten Rande des Geſichtskreiſes, vielleicht von der Luftſpiegelung ge— hoben und duftig verſchleiert, tauchen Reiter auf, welche windesſchnelle, hirſchgliederige Roſſe zügeln, nähern ſich raſch und brauſen endlich, ihre bis dahin geichonten Reittiere zu vollem Laufe antreibend, gegen die Karawane heran. Ich bin ihnen ſtets gern begegnet, den hageren, ſtilvoll gekleideten Männern, denn ich habe auch in ihnen und ihren Roſſen die Karawanen und Wüſtenreiſen. 281 Einhelligkeit der Wüſte und ihrer Kinder zu erkennen geglaubt. Als ge— treuer Sohn der Wüſte iſt er mir erſchienen, der Beduine, als ihr und ſein Spiegelbild das Roß, welches er reitet. Denn auch er iſt ernſt und furchtbar wie der Tag, freundlich und milde wie die Nacht der Wüſte. Treu feinem gegebenen Worte, unverbrüchlich gehorſam dem Geſetze der Sitte und Gebräuchlichkeit ſeines Stammes, würdevoll in ſeinem Auftreten, erhaben in ſeiner Ausdrucksweiſe, unübertroffen im Entſagen, Entbehren, Beduinen. empfänglich wie kaum ein anderer Menſch für Mannesthaten, Ruhm und Ehre, nicht minder für das goldene Märchennetz, in welches ſeine ge— ſtaltungsreiche Dichtergabe ſo wunderbar prächtige Bilder einzuweben, ſo lieblich duftige Blüten einzuranken weiß, iſt er doch auch wieder liſtig und verſchlagen dem Feinde gegenüber, willenloſer Sklave ſeiner Gewohnheiten, würdelos in ſeinem Verlangen, niedrig und gemein in ſeinem Fordern, gierig im Genießen, maßlos in ſeiner Grauſamkeit, furchtbar in ſeiner Rache, heute als adeliger Gaſtfreund, morgen als drohend heiſchender Bettler, jetzt als ſtolzer Räuber und ein anderes Mal als erbärmlicher Dieb: kurz wechſelvoll und veränderlich wie die Wüſte ſelber tritt er dem Fremden 282 Karawanen und Wüſtenreiſen. entgegen. Sein Roß beſitzt dasſelbe kluge, feurige, ausdrucksvolle Auge, dieſelbe Stärke und Geſchmeidigkeit der mageren, faſt ſchwächlich erſcheinen— den Glieder, dieſelbe Ausdauer, dieſelbe Genügſamkeit, dasſelbe Weſen wie er; denn beide wurden in demſelben Zelte groß, beide ruhen und wohnen unter demſelben Dache. Das Tier iſt nicht der Sklave, ſondern der Genoſſe, der Freund des Menſchen, der Spielgefährte ſeiner Kinder. In der freien Wüſte ſtolz, mutig und ſelbſt wild, iſt es im Zelte fromm wie ein Lamm; und deshalb erſcheint es geradezu als unzertrennlicher Beſtandteil ſeines Herrn und Gebieters. In allen Wüſten, welche mindeſtens dem Namen nach unter der Herrſchaft des Khedive von Aegypten ſtehen, ſpielen die Beduinen heutzu— tage bei weitem nicht mehr die Rolle wie in früheren Zeiten oder gegen— wärtig noch in Arabien und in den Ländern Nordweſtafrikas. Zwiſchen ihnen und der ägyptiſchen Regierung ſind bindende Verträge abgeſchloſſen worden, welche jene verpflichten, Karawanen unangefochten durch ihr Gebiet ziehen zu laſſen. Raubanfälle inmitten der Wüſte zählen daher zu den ſeltenſten Ereigniſſen, und ein Zuſammentreffen mit Beduinen erregt auch aus dem Grunde wenig Beſorgniſſe, als die Söhne der Wüſte in der Regel die Beſitzer der gemieteten Kamele ſind; gleichwohl lieben es die an den alten Gewohnheiten hängenden wirklichen Herren der Wüſte wenigſtens den Schein einer gewiſſen Oberherrlichkeit zu wahren, und es iſt wohlgethan, vor Antritt der Wüſtenreiſe freies Geleit von irgend einem angeſehenen Häuptlinge zu fordern. Im Beſtitze eines ſolchen geſtaltet ſich ein Zuſammentreffen des Reiſenden mit den Söhnen der Wüſte un— gefähr folgendermaßen. Aus der Reiterſchar hervor ſprengt einer der ſonnverbrannten Männer und wendet ſich an den Führer oder den Ausrüſter der Karawane. „Heil mit dir, Fremder!“ „Mit dir das Heil Gottes, ſeine Gnade und ſeine Barmherzigkeit, o Häuptling!“ „Wohin ziehet ihr Männer?“ „Nach Belled-Aali, o Scheich.“ „Zieht ihr im Geleite?“ „Wir ziehen im Geleite Seiner Herrlichkeit des Khedive.“ „In keinem anderen?“ „Auch Scheich Soliman, Mahammed Cheir Allah, Ibn Sidi Ibrahim Aulad Aali hat uns Geleit und Frieden gegeben.“ „So ſeid willkommen und geſegnet!“ Karawanen und Wüſtenreiſen. 283 „Der Segenſpendende begnadige dich und deinen Vater, o Häuptling!“ „Habt ihr Bedürfniſſe? Meine Manen werden euch ſpenden. Im Wadi Ghitere ſtehen unſere Zelte, und ihr ſeid in ihnen willkommen, wenn ihr Raſt ſuchen wollt. Wenn nicht, ſo möge Allah euch glücklichen Weg verleihen.“ „Er wird mit uns ſein; denn er iſt gnädig.“ „Und Führer auf allen guten Wegen.“ „Amen, o Häuptling!“ Und dahin fliegt die Schar; Reiter und Roſſe verwachſen wieder in eins; die leichten Hufe der Tiere ſcheinen den Boden kaum zu berühren; die weißen Burnuſſe flattern im Winde, und in der Seele lebendig werden die Worte des Dichters: „Beduin', du ſelbſt auf deinem Roſſe, Biſt ein phantaſtiſches Gedicht.“ Solche Bilder zaubert die Wüſte vor das empfängliche Auge. Je mehr man mit ihr vertraut wird, um ſo geſtaltſamer treten ſie vor die Seele, um ſo wirkſamer mildern und ſchwächen ſie Mühſal und Beſchwerde. Deſſenungeachtet bringen doch erſt die letzten Stunden der Wüſtenreiſe die höchſten Wonnen. Wenn das erſte Palmendorf des bebauten Landes, wenn das Silberband des heiligen Stromes wiederum vor dem Auge liegt, ſind dieſe Stunden gekommen. Menſchen und Tiere eilen, als ob die erſehnte Wirklichkeit nur ein Traumbild ſei und im Nebel zerrinnen könne. Deut— licher und ſchärfer aber tritt das Reiſeziel hervor; man glaubt niemals friſchere Farben geſehen zu haben; man meint, daß es nirgendwo grünere Bäume und kühleres Waſſer geben könne. Mit letzter Kraft ſtreben die Kamele vorwärts, ihren ungeduldigen Reitern noch viel zu langſam. Da klingen dieſen freundliche Grüße entgegen. Das Dorf am Nile iſt er— reicht. Aus allen Hütten hervor drängen ſich, die Wanderer zu bewill— kommnen, Männer und Frauen, Greiſe und Kinder. Jeder beeifert ſich, hilfreiche Hand, labende Erquickung zu bieten. Zuerſt ſpendet man Waſſer, friſch im Strome geſchöpftes, köſtliches Waſſer; dann bringt man herbei, was man gerade beſitzt, um Leib und Seele zu laben. Um das errichtete Lager bewegen ſich neugierige Menſchen, frageeifrige Männer und Frauen, tanzluſtige Mädchen und Jünglinge. Tambura und Tarabuka, Zither und Trommel des Landes, laden zum Reigen; tanzende Mädchen erfreuen Fremde und Einheimiſche. Selbſt das Kreiſchen der Schöpfräder am Strome, vormals tauſendfach verwünſcht, wird heute zur klangvollen Weiſe. 284 Karawanen und Wüſtenreiſen. Der Abend bringt neue Genüſſe. Auf federndem, kühlem Ruhebette be— haglich gelagert, trinkt der Abendländer mit dem Eingeborenen um die Wette den Nektar des Landes, Palmwein oder Merieſa, und Zither- und Trommelſchall, taktmäßiges Stampfen und Händeklatſchen der tanzenden Jünglinge und Mädchen begleiten das überaus köſtliche Trinkgelage. End— lich fordert die weiterſchreitende Nacht ihre Rechte. Tambura und Tarabuka verſtummen, der Reigen endet. Einer der erquickten, ge- oder überſättigten Reiſenden nach dem anderen ſucht die Ruhe. Nur ein einziger von ihnen, ein Sohn Khahiras, der Mutter der Welt, vermochte noch immer nicht Schlaf zu finden. Vom verglimmenden Lagerfeuer her tönt zitternd die einfache Weiſe ſeines Liedes: „O holde Nacht, du thuſt mir wehe, Denn länger wirſt du, immer länger; Ob ich von dir auch Frieden flehe, Du machſt das Herz mir bang und bänger. O holde Nacht, wie lang, wie lange, Daß meine Augen die nicht ſahen, Nach der ich einzig nur verlange: O Nacht, laß ſie mich bald umfahen! O holde Nacht, du nahſt dich wieder, Vernimm, was ich dir anbefehle: Gieß deinen Frieden auf mich nieder, Schirm die Gebiet'rin meiner Seele.“ Aber auch dieſer Klang erſtirbt, und nur noch die Wellen des Stromes murmeln und flüſtern. Land und Leute zwiſchen den Stromſchnellen oͤes Nil. egypten und Nubien, unmittelbar aneinander grenzend, durch den ihnen gemeinſamen Strom verbunden, ſind weſentlich voneinander > verſchieden. Aegypten durchflutet der göttliche Nil in ruhigem Gange, Nubien durchrauſcht er in haſtiger Eile; über Aegyptenland verbreitet er auf weithin ſeinen Segen, in Nubien wird er gefeſſelt durch hohe, felſige Ufer; in Aegypten erreicht er die Wüſte, in Nubien die Wüſte ihn ſelber. Aegypten iſt ein Garten, welchen er in Jahrtauſende währender Arbeit ge— ſchaffen, Nubien eine Wüſte, welche er nicht zu beſiegen vermochte. Wohl hat auch dieſe Wüſte Oaſen wie jede andere; ihrer aber ſind wenige, und alle kaum in Betracht zu ziehen gegenüber dem in unwandelbarer Oede und Unfruchtbarkeit verharrenden Lande zu beiden Seiten des Stromes. Faſt überall in dem langen, gewundenen Thale, welches wir Nubien nennen, erheben ſich dunkle, glänzende Felſenmaſſen aus dem Strom— bette ſelbſt oder doch nur in geringer Entfernung vom Ufer, verwehren auf weite Strecken hin beinahe allen Pflanzen, ſich zu entwickeln, und em— pfangen nur durch die Wüſte im Oſten wie im Weſten einigen Schmuck in Geſtalt goldgelber Sandwogen, welche über ſie hinab zum Strome rollen. Glühend blitzt die Sonne hernieder von dem tiefblauen, kaum jemals be— wölkten Himmel, und viele Jahre nacheinander erfriſcht nicht ein einziger Regenguß das ausgedörrte Land. In dem tief eingeſchnittenen Felſenthale kämpfen die lebenſpendenden Wogen des befruchtenden Stromes vergeblich mit dem unempfänglichen Geſteine, an welchem ſie ſich hallend und brau— ſend, rauſchend und donnernd brechen, als könnten ſie zürnen, daß ihrer Freigebigkeit Undank, ihrer Milde Trotz geboten wird. Die Walſtatt, auf welcher dieſer Kampf ſtattfindet, iſt das Gebiet der Stromſchnellen des Nil. 286 Land und Leute zwiſchen den Stromfchnellen des Nil. Die wenigſten Reiſenden, welche das untere Nilthal durchziehen, lernen die Stromſchnellen ſeines mittleren Laufes kennen. Ein verhält— nismäßig geringer Bruchteil von ihnen überſchreitet den ſogenannten erſten Katarakt, unter Hunderten kaum einer den zweiten. Wadihalfa, ein un— mittelbar unter der zweiten Stromſchnellengruppe gelegenes Dorf, bildet das gewöhnliche Ziel der Nilreiſenden; weiter nach Süden hin treiben nur Forſchungsdrang, Jagdeifer oder Hoffnung auf Handelsgewinn. Von Wa— dihalfa aus beginnen die Schwierigkeiten einer Reiſe in das Innere Afrikas: kein Wunder daher, daß die große Menge in jenem Palmendorfe den Bug des Bootes wieder heimwärts kehrt. Wer aber jung und kräftig, willensſtark und unverzärtelt iſt, wird niemals bereuen, wenn er weiter nach Süden vordringt. In dem an landſchaftlichen Reizen armen Nil— thale bildet das Gebiet der Stromſchnellen eine eigenartige Welt für ſich. Großartige und anmutige, ernſte und heitere, unendlich öde und friſch lebendige Bilder wechſeln miteinander ab; aber es ſind Bilder der Wüſte, welche dieſe Landſchaft dem Auge bietet, und Vergeſſen des Gewohnten wird zur Vorbedingung, um ſie ſo zu würdigen, wie ſie verdienen. Wer nicht im ſtande iſt, die Wüſte zu begreifen, an ihrem Farbenreichtume ſich zu erſättigen, ihre Glut zu ertragen, an ihrer Nacht ſich zu erquicken, thut wohl, auch die Nilwüſte zu meiden; wer offenen Auges und empfäng— lichen Herzens das Gebiet der Stromſchnellen durchwandert, womöglich ſogar in gebrechlichem Boote den Kampf aufnimmt mit den ſchäumenden und tobenden Wogen, wird ſein ganzes Leben hindurch zehren an köſt— lichen Erinnerungen; denn nie und nimmer wird vor dem geiſtigen Auge das ergreifende Schauſpiel erbleichen, welches das leibliche Auge erſchaute, niemals der Seele die erhabene Weiſe verklingen, welche der Strom einſt dem Ohre geſungen. So wenigſtens ergeht es mir, der ich zu Lande und zu Waſſer das Felſenthal Nubien durchwandert, im Boote ſtromauf- oder ſtromabwärts mit den Wellen, wie mit Mangel und Not gekämpft, von der Spitze ſteiler Felſen wie vom Rücken des Kameles die Stromſchnellen überblickt habe. Es iſt gebräuchlich geworden, von drei Nilkatarakten zu reden. Jeder von ihnen beſteht aus einer Reihe von Stromſchnellen, welche innerhalb eines meilenlangen Landſtrichs die Schiffahrt in hohem Grade erſchweren und gefährden. Im erſten Katarakt gibt es allerdings nur eine einzige namhafte Stromſchnelle, im zweiten und dritten aber zuſammengenommen deren gegen dreißig, welche der nubiſche Schiffer mit beſonderen Namen bezeichnete. Waſſerfälle, welche ja auch jede Schiffahrt unmöglich machen Land und Leute zwiſchen den Stromſchnellen des Nil. 287 würden, ſind nicht vorhanden, finden ſich wenigſtens nicht in der Straße, auf welcher, abgeſehen von den durchgehenden Fahrzeugen, die eigens für die Stromſchnellen gebauten und ausgerüſteten Boote ſich bewegen. Wenn man, den Fluten des heiligen Stromes entgegenreiſend, die nordöſtlichſte Einengung der Ufer zwiſchen den „Bergen der Kette“ hinter ſich gelaſſen hat, ändert ſich jählings die Landſchaft. Aegypten oder das unterhalb gelegene breite, nach dem Meere hin zu einer unabſehbaren Ebene ſich erweiternde Stromthal liegt hinter dem Reiſenden, und die felſige Schwelle Nubiens baut ſich vor deſſen Auge auf. Der Gegen— ſatz iſt überraſchend. An Stelle des eintönigen Geländes tritt wechſel— volles. Wohl bietet auch die Landſchaft Aegyptens manches augen— erquickende, herzerfriſchende Bild; wohl ſchmückt auch ſie ſich, zumal in den Morgen- und Abendſtunden, mit dem wunderbaren Glanze der ſüd— lichen Beleuchtung: im großen und ganzen aber erſcheint ſie eintönig, weil man überall dasſelbe erſchaut, gleichviel, ob man den Blick an den Sand— ſtein- und Kalkfelſen der Thalgrenze haften oder über Strom und Felder ſchweifen läßt. Ein und dasſelbe Bild kehrt, kaum verändert, hundertfach wieder: Gebirge und Fruchtebenen, Uferwände und Inſeln des Stromes, Mimoſenhaine, Palmengruppen und Sykomorenbeſtände, Städte und Dörfer tragen im weſentlichen dasſelbe Gepräge. Angeſichts der Felſen— maſſen des erſten Katarakts, des letzten Riegels, welchen der zum Meere drängende Strom ſprengte, endet dieſes Aegypten und beginnt Nubien. Nicht mehr auf dem in majeſtätiſcher Ruhe dahinflutenden Strome treibt das Boot dahin, ſondern zwiſchen Felſenmaſſen und aus den Wogen ſich erhebenden Felſenkegeln erkämpft es ſich ſeine Bahn. Hoch auf ſteilabfallendem Vorſprunge des linken Ufers zeigt ſich ein erbärmliches und dennoch wirkungsvoll zur Geltung gelangendes ara— biſches Bauwerk, das Grabmal Scheich Muſas, des Schutzheiligen der erſten Stromſchnelle, ſodann die palmenreiche Inſel Elephantine und gleich darauf Aſſuan. Felſenmaſſen, aus deren Rinde die jahrtauſende— lange Arbeit der gegen ſie anſtürmenden Wogen zur Pharaonenzeit ein— gegrabene Schriftzeichen nicht zu vertilgen vermochte, ſperren die Fahr— ſtraße und zwingen das Boot zu vielfachen Windungen, bis es endlich in einer ſtillen Bucht, zu welcher aber doch das Toſen der Stromſchnelle klangvoll herniederhallt, einen geſicherten Landungsplatz findet. Es iſt altehrwürdiger Boden, auf welchem wir ſtehen. Durch die erwähnten Zeichen der heiligen Schrift des altägyptiſchen Volkes reden vergangene Jahrtauſende mit uns in verſtändlicher Sprache. „Ab“ oder 288 Land und Leute zwiſchen den Stromſchnellen des Nil. Elfenbeinſtätte, Elephantine, hieß die Stadt auf der gleichnamigen Inſel, welche geblieben iſt, während ſelbſt die Trümmer jener faſt vollſtändig verſchwanden, „Sun“, Syene, die Ortſchaft am rechten Stromufer, an deren Stelle das heutige Aſſuan liegt. Elephantine, der ſüdlichſte Hafen des alten Aegypten, in welchem die aus dem Innern Afrikas kommenden Waren, insbeſondere das ſchon damals hochgeſchätzte Elfenbein, aufge— ſtapelt wurden, war die Hauptſtadt des ſüdlichſten Nilkreiſes, Sun wohl nur ein Arbeiterdorf, als ſolches jedoch keineswegs von geringerer Bedeu— tung als Elephantine. Denn hier wurde von den älteſten Zeiten des ägyptiſchen Reiches an der „Mat“ oder „äthiopiſche Stein“ des Herodot, welchen man in der Nähe brach, an das Nilufer gebracht und auf die Schiffe verladen, welche ihn ſeinem Beſtimmungsorte zuführten; nach dieſem Orte erhielt der koſtbare Stein den Namen „Syenit“, welchen er heutiges— tags führt. Inſchriften, welche ſich auf Denkmälern aus der Zeit der älteſten Königsgeſchlechter Aegyptenlands finden, auf ſolchen, welche bis in das zweite und dritte Jahrtauſend vor unſerer Zeitrechnung hinüber— reichen, thun des Ortes Sun bereits mehrfach Erwähnung, und zahlloſe andere Hieroglyphen in den nahegelegenen Steinbrüchen ſelbſt bekunden die Bedeutung dieſes Arbeiterdorfes. Ueber nahezu zwei geographiſche Geviertmeilen der öſtlich vom Katarakt belegenen Wüſte erſtrecken ſich die Steinbrüche, in denen man jene mächtigen Werkſtücke löſte, welche als rieſige Rund- und Spitzſäulen, Geſimſe und Träger der Tempel uns mit ſtaunender Bewunderung erfüllen, mit denen man die Grabkammern der Pyramiden überdeckte, weil man ihnen vertrauen durfte, die über ihnen aufgetürmten ungeheuren Laſten zu tragen. „Ueberall,“ ſagt mein ge— lehrter Freund Dümichen, „ſehen wir hier, wie Menſchenhände gearbeitet, teils, um das wertvolle Geſtein von der Felswand zu löſen, teils, um durch bildliche Darſtellungen und Inſchriften dieſes oder jenes Geſchehnis zu verewigen; überall iſt hier der Stein zu einem Denkmal der Erinne— rung umgewandelt, und zahlreiche Inſchriften, nicht ſelten gerade an den höchſten Spitzen der Berge angebracht, Weihinſchriften zu Ehren der gött— lichen Dreiheit des erſten oberägyptiſchen Gaues, des Kataraktengottes Chnum-Ra und ſeiner beiden Genoſſinnen Sati und Anuke, wie Ver— herrlichungen einzelner Großthaten ägyptiſcher Könige und hoher Staats— diener bedecken weit und breit die Felſenwände. Auch dieſe Inſchriften gehen zum Teile bis in die älteſten Zeiten der Geſchichte zurück: und doch wie jung erſcheinen ſie im Vergleiche mit jener Arbeit, welche hier in nicht zu berechnenden Jahrtauſenden der ägyptiſche Sonnengott Ra mit Land und Leute zwischen den Stromſchnellen des Nil. 289 dem Geſteine vorgenommen. Ueberall nämlich ſind die Felſen da, wo ſie, noch nicht von Menſchenhand bearbeitet, unſeren Blicken entgegen— treten, an ihrer Oberfläche mit einer dunkelglänzenden Kruſte wie mit einem Schmelze überzogen, während die Bruchflächen des Syenites, denen wir mit Sicherheit zum Teil ein Alter von viertauſend Jahren beilegen dürfen, ebenſo wie die überall in den Steinbrüchen umherliegenden Blöcke, Der Tempel zu Philä. noch heute uns die dem Granite eigentümliche rote Färbung in ihrer vollen Friſche zeigen — zu jung noch, um jene Rinde der Zeit ange— nommen zu haben.“ Von jedem höheren Uferberge aus kann man einen Teil des Kata— rakts überblicken. Zwei Wüſten treten an den Nil heran und reichen ſich gleicſam in ihm durch Hunderte von kleinen Felſeninſeln die Hand. Jedes dieſer Eilande teilt den Strom und zwingt ihn, ſeine Fluten auf— zuſtauen; um ſo heftiger aber rauſcht er zwiſchen ihnen hindurch. Unab— läſſig anſtürmend gegen die Trümmer des von ihm vor Jahrhundert— tauſenden gebrochenen Felſendammes, ſcheint er jene wegräumen und ver— Brehm, Vom Nordpol zum Aequator. 19 290 Land und Leute zwiſchen den Stromſchnellen des Nil. nichten zu wollen und erzürnt zu ſein über den noch immer unbeſieglichen Widerſtand, ſo grollend klingt das Toſen ſeiner Gewäſſer zu dem Be— ſchauer hinauf und wird dieſem zu der rechten Begleitung des großartigen Schauſpiels vor und unter ihm. Ruhelos wie die ewig flutenden Wellen ſchweift das Auge durch das Felſenwirrſal; hundert Einzelbilder erſchaut es mit einem Blicke: und dennoch geſtaltet ſich aus ihnen allen endlich ein erhabenes, einheitliches Geſamtbild, in welchem die ſtarren glänzenden Felsmaſſen ſcharf ſich abheben von dem weißen Giſchte der ſie umziſchen— den Wogen, der beide begrenzenden goldgelben Wüſte ringsum und dem wolkenloſen, tiefdunkeln Himmel darüber. Beſonders reizvoll iſt der obere Teil der Stromſchnellen. Eine Kette von ſchwarzen Felſen, die natür— liche Grenzmauer zwiſchen Aegypten und Nubien, zieht ſich quer durch den Nil und ſchweift auf deſſen rechtem wie auf dem linken Ufer in weitem Bogen aus, vor dem Auge des Beſchauers einen ringsum geſchloſſenen, mit Felſendämmen umwallten Thalkeſſel bildend. Die Wälle beſtehen zum Teile aus ungetrennten Maſſen, zum Teile aber aus loſe übereinander— liegenden, wie von der Hand eines Rieſen aufgetürmten, runden, eige— ſtaltigen und eckigen Felsblöcken. Hier und da treten einzelne Teile der wunderſamen Umwallung vor und wiederum zurück; hier und da erheben ſie ſich inſelgleich aus dem alten Seebecken, welches ſie umgaben, bevor der gewaltige Strom freien Durchgang erzwang. Inmitten dieſer vormenſchlichen Trümmerſtätte liegt die grüne, palmenbeſtandene Inſel Philä mit ihrem herrlichen Tempel. Ich kenne kein erhabeneres Landſchaftsbild als dieſes. Rings umgeben von ſtarrem, tiefdunklem Gefelſe, ewig umtoſt von den gegen ſeine Grundfeſten an— kämpfenden Wellen, freundlich begrünt von fruchtſpendenden Palmen und duftenden Mimoſen, erſcheint der Tempel als ergreifendes Sinnbild in— neren Friedens in tobendem Streite. Ein gewaltiges Kampflied ſingt ihm der Strom, und Friedenszeichen ſpenden ihm die Palmen. Er iſt eine Stätte zur Verehrung der hehren Gottheit, welcher er geweiht war, wie es keine würdigere geben kann. In ſolcher Einſamkeit, in ſolcher Umgebung mußte der Geiſt der von den weiſeſten Prieſtern gebildeten Zöglinge Nah— rung und Leben empfangen, dem Erhabenen und Hohen ſich zuwenden, den Kern der ſinnig verhüllten bedeutungsvollen Lehren erkennen, das ver— ſchleierte Bild von Sais erſchauen. Unter der göttlichen Dreiheit, welcher der Tempel von Philä ge— weiht war, Iſis, Oſiris und Horus, ſtand Iſis obenan. „Iſis, die große Göttin, die Herrin des Himmels, die Herrin aller Götter und Göttinnen, Land und Leute zwiſchen den Stromſchnellen des Nil. 291 welche mit ihrem Sohne Horus und ihrem Bruder Oſiris in jeder Stadt verehrt wird, die erhabene, göttliche Mutter, die Gemahlin des Oſiris, ſie iſt die Herrin von Philä,“ lehren die Inſchriften im Tempel ſelbſt. In— ſchriften in allen Schreibarten, welche in den verſchiedenen Zeiträumen der ägyptiſchen Geſchichte im Gebrauche waren, erzählen uns aber auch von den Wandlungen, welche der Tempel im Laufe der Zeiten erlitten hat, bis endlich eingewanderte Araber die chriſtlichen Prieſter, welche den Dienern der Iſis gefolgt waren, aus dem Heiligtume vertrieben. Heutzutage liegt ein großer Teil von Philä in Trümmern. An Stelle feierlicher Geſänge der Prieſter vernimmt man nur noch das einfache Lied der Wüſtenlerche; aber die Wogen des Stromes rauſchen noch ihre ge— waltigen Weiſen, wie vor Jahrtauſenden. Die Inſel iſt verödet, der Frieden des Tempels ihr geblieben. Und trotz aller Wandelungen iſt die Inſel wie der Tempel noch immer das Kleinod des erſten Katarakts. Von hier an aufwärts iſt der Nil auf weithin felſenfrei, jedoch nicht mehr im ſtande, ſeinen Segen über die Ufer hinauszutragen. Mühſam verſucht der Menſch die ihm anderswo freiwillig gegebene Spende dem Strome abzuringen. Ein Schöpfrad neben dem andern hebt kreiſchend das belebende Naß auf die ſchmalen Feldſäume am Ufer. An den mei— ſten Stellen aber drängt ſich die Wüſte mit ihren Felſenwänden ſo dicht an das Ufer heran, daß kein Raum zum Felde oder Palmenwalde bleibt. Auf weite Strecken hin ſieht man hier einzig und allein verkrüppelte Unkrautpflanzen, zwiſchen denen der gelbe Flugſand fort und fort zur Tiefe rollt, als wolle er der Wüſte ſchon hier zum Siege über den gött— lichen Spender des Fruchtlandes verhelfen. Im Süden von Wadihalfa, dem ſüdlichſten Grenzdorfe des eben erwähnten Landſtrichs, toſt wiederum das zwiſchen Felſeninſeln einge— zwängte Waſſer des Stromes. Zahlloſe Steinmaſſen, Felſenkegel und Blöcke zwingen dieſen, ſich auszubreiten; ein Wirrſal von Fels und Waſſer, wie er es zum zweitenmal nicht aufweiſt, beirrt ſelbſt das Auge. Bei hohem Waſſerſtande übertönt das Gebrüll der wirbelnd zwiſchen den Felſen hinabeilenden Wogen den Klang der menſchlichen Stimme: es dröhnt und donnert, rauſcht und brauſt, tobt und ziſcht, daß die Felſen ſelbſt zu er— zittern ſcheinen. Oberhalb der hier ununterbrochen aneinandergereihten Schnellen und Tobel liegt der hoch aufgeſtaute Nil wie ein weiter ſtiller See vor dem Auge; doch dieſes freundliche, durch einige begrünte Inſeln gehobene Bild iſt eng umgrenzt. Weiter aufwärts wird das Strombett nochmals durch zahlloſe Felſeninſeln zerteilt; denn nunmehr beginnt das 292 Land und Leute zwiſchen den Stromſchnellen des Nil. „Batte el Hadjar“ oder Felſenthal der Schiffer, in welchem noch zehn namhafte Stromſchnellen liegen. Es iſt der ödeſte Landſtrich Nubiens und des ganzen Nilthals überhaupt. Gewöhnlich ſieht man nur Himmel und Waſſer, Felſen und Sand. Steil, mitunter faſt ſenkrecht, ſteigen die fel— ſigen Uferwände aus dem Strombette empor, und zwiſchen ihnen und den zahlloſen Inſeln inmitten wird der Nil ſo eingeengt, daß er zur Zeit ſeines Schwellens um zwölf bis achtzehn Meter höher ſteht, als während ſeines tiefſten Standes. Die Uferwände ſind ſo glatt, als ob ſie geſchliffen wären, und ſo glänzend, übertags auch ſo glühend, als ſeien ſie erſt vor wenig Tagen dem innerirdiſchen Feuer entſtiegen. Der ſegenſpendende Strom rauſcht faſt ſpurlos an ihnen vorüber; denn nur an äußerſt we— nigen Stellen kann er ſein göttliches Vorrecht zur Geltung bringen. Hier, in einſpringenden Buchten oder hinter Vorgebirgen, welche die heftige Strömung ablenken, ſenkt er ſeinen fruchtbaren Schlamm hernieder und führt ihm ſelbſt den Samen zu. Dann keimt und wächſt, grünt und blüht es auch in dieſer Wüſtenei. Auf allen Inſeln, in deren Felſen— ſpalten abgelagerter Schlamm haften blieb, in allen von der Strömung nicht getroffenen Buchten erheben ſich Weiden und einzelne Mimoſen, Bürgen des Lebens im Reiche des Todes. Wurzel auf Wurzel, Schöß— ling auf Schößling ſandte die erſte Weide aus, welche hier feſten Fuß faßte, und bald überkleidete ſie den kahlen Grund mit belebendem Grün. Während des niederen Waſſerſtandes treibt der nach und nach entſtandene Buſchwald neue Zweige; während der Nilſchwelle überfluten die Wogen Inſel und Wald. Höher und höher ſchwillt der Strom; heftiger und ſtärker drängen die Wogen: die Weiden beugen ſich ihnen, klammern ſich aber um ſo feſter zwiſchen den Felſen an. Monatelang begräbt ſie der Schwall bis auf einzelne Zweige, welche noch über die ſprudelnde und ziſchende Fläche des Waſſerſpiegels emporragen; ihre Wurzeln aber haften feſt, und mit neuem Lebensmute ſproſſen die Geſträuche, ſobald die Hoch— flut wiederum ſich verlaufen hat. An ſolchen Stellen der grauſigen Wild— nis bemerkt man auch tieriſches Leben, wie man es an anderen Stellen des Nilthales beobachtet. Im Weidichte hat ein und das andere Paar der lebhaften und ſchreiluſtigen Nilgans ſich angeſiedelt, auf dem Felſen daneben eine zierliche Bachſtelze Wohnung genommen; von den Uferwän— den hernieder klingt der Geſang der Blaumerle oder des Trauerſtein— ſchmätzers; um die blühenden Mimoſen macht ſich der erſte Tropenvogel, welchem man begegnet, ein prächtiger Honigſauger, zu ſchaffen; dann und wann ſtößt man auch wohl auf ein Volk kleiner, zierlicher Felshühnchen. Land und Leute zwiſchen den Stromſchnellen des Nil. 293 Alle die genannten und noch einige andere mehr bilden die ſpärliche tie— riſche Bevölkerung des Felſenthales, und nur während der Zugzeit geſellen ſich ihr oft ſehr zahlreich auftretende Vogelheere, welche dem Strome, ihrer Heerſtraße nach dem Innern Afrikas, folgen und dabei hier oder dort im Thale ausruhen von der Reiſe. Sie aber eilen ſo ſchnell als möglich von dannen, weil das Felſenthal nicht im ſtande ſein würde, ſie auch nur für einige Tage zu ernähren: begreift man doch oft kaum, wie jene ihr täg— liches Brot finden. Und dennoch ſind ſie nicht die einzigen Siedler in dieſer Waſſer— wüſte. Es gibt auch Menſchen, welche dieſelbe ihre Heimat nennen. In meilenweiten Abſtänden ſtößt man auf eine dürftige Strohhütte, in welcher ein Nubier mit ſeiner Familie ſein armſeliges Leben verbringt. Eine kleine, mit fruchtbarem Schlamme ausgefüllte Bucht zwiſchen den Felſen— wänden des Ufers, vielleicht ſogar nur ein letzteren angeklebtes Schlamm— beet bildet das kärgliche Beſitztum, welches er bewirtſchaftet. Im erſteren Falle iſt er ein Reicher, verglichen mit dem Armen, welcher nur über ein derartiges Beet verfügen kann. Mit Lebensgefahr ſchwimmt dieſer zu den vom Gebirge aus unerreichbaren Uferſtellen, an denen der fallende Strom Schlamm abſetzte, und beſamt die eben waſſerfrei gewordene Schicht mit Bohnen; einige Tage ſpäter, nachdem der Strom inzwiſchen etwas tiefer geſunken iſt, wiederholt er ſeinen Beſuch und die Ausſaat, und ſo fährt er fort, ſolange die Flut fällt. Daher ſieht man auf ſolchem mit der Stromſenke ſich ſtetig verbreiternden Felde Bohnen in allen Zu— ſtänden ihres Wachstums; und ebenſo nimmt man wahr, daß der genüg— ſame Landwirt gleichzeitig mit Ausſaat und Ernte beſchäftigt iſt. Unter den allergünſtigſten Umſtänden geſtattet eine tiefer einſpringende, mit Nil— ſchlamm ausgefüllte Bucht die Anlage eines Schöpfrades zur Bewäſſerung eines wenige Ar umfaſſenden Feldes, und der glückliche Beſitzer desſelben iſt dann im ftande, eine Kuh zu halten, alſo wenigſtens erträglich zu leben, obwohl er immer noch als ſo arm erachtet werden muß, daß ſelbſt die ägyptiſche Regierung nicht wagt, ihm Steuern aufzubürden. Solche Stellen aber ſind ſeltene Oaſen in dieſer grauſigen Wüſte. Der ſtromaufwärts ſegelnde Schiffer begrüßt jeden Strauch, einen Palmbaum mit erſichtlicher Freude, ein Bohnenfeld, vielleicht das Ziel tagelanger Hoffnung, mit Ju— bel, ein Schöpfrad mit Dank gegen den Allbarmherzigen. Denn nicht bloß die Furcht kann ſein mutiges Herz kennen lernen in dieſem Felſen— thale, ſondern auch bitterer Mangel vermag ihm ſchwere Heimſuchung zu bringen, ja ſogar die Gefahr, zu verhungern, ihm drohen, wenn er nicht für 294 Land und Leute zwiſchen den Stromſchnellen des Nil. donate mit Nahrung ſich verſorgte. Stromabwärts durchfliegt das glücklich geſteuerte Boot dieſes Land der Schrecken, oder doch der Oede und Ar— mut; ſtromaufwärts ſegelnd liegt es oft, wie feſtgebannt, ſtunden- und ſelbſt tagelang im Schutze eines Felsblockes unterhalb einer Stromſchnelle, und der auf günſtigen Wind harrende, in dem unabläſſig auf und nieder geſchaukelten Boote ſeekrank werdende Schiffer kann Meilen durchwandern und durchſchwimmen, ohne auf Menſchen und Felder zu ſtoßen. An ſeiner ſüdlichen Grenze geht das Felſenthal faſt unvermittelt in den fruchtbarſten Landſtrich Mittelnubiens über. Ein von zwei Wüſten eingeſchloſſenes, ſchmales Seebecken mit mehreren großen Inſeln inmitten des Stromes, welches der letztere mit ſeinem Schlamme ausfüllte, ebenſo wie er die Inſeln aus ſolchem aufbaute, nimmt den Wanderer auf. Zwar zeigt es noch immer nicht allen Reichtum der Gleicherländer, be— kundet aber doch deren Friſche und Lebendigkeit in einzelnen pflanzlichen und tieriſchen Erſcheinungen. Kaum unterbrochene Palmenwälder, in denen die köſtlichſten Datteln der Erde reifen, begrenzen gegen die noch wüſten— haften Steppen hin dieſe liebliche Oaſe, in welcher die Arbeit des Acker— bauers durch reiche Ernten belohnt wird; Chriſtusdornen und verſchiedene Mimoſen, welche man bisher noch nicht beobachtete, laſſen erkennen, daß man den Wendekreis überſchritten hat. Dem genannten Honigſauger ge— ſellen ſich andere Vögel des inneren Afrika. Im erſten Durrafelde, welches man ſchärfer ins Auge faßt, erfreut man ſich an dem ebenſo farbenſchönen, als beweglichen Feuerwebefinken, welcher hier zwiſchen den Stengeln Woh— nung genommen hat und von Zeit zu Zeit, einem leuchtenden Flämmchen vergleichbar, auf der Spitze eines Fruchtkolbens erſcheint, um von ſolchem Hochſitze aus ſein einfaches, ſchwirrendes und ſpinnendes Lied vorzutragen, und dadurch andere ſeiner Art zu gleichem Thun anzufeuern; in Spalten und Ritzen der Lehmhütten haben ſich andere Glieder ſeiner Familie, na— mentlich Stahl- und Blutfinken angeſiedelt, in den Gärten um die Häuſer Kaptauben ſeßhaft gemacht, auf den Sandbänken im Strome Scheren— ſchnäbel ihre ſeichten Niſtmulden eingegraben: — Nachtſeeſchwalben ab— ſonderlicher Art, welche erſt mit Beginn der Dämmerung zur Jagd aus— ziehen, nicht aber ſtoßtauchend fiſchen, ſondern dicht über dem Waſſerſpiegel dahinfliegend mit tief eingeſenktem Schnabel die Wellen durchpflügen, um kleine, in den oberſten Schichten ſchwimmende Beutetiere aufzunehmen. Allein auch dieſes anmutige Stück Erde iſt eng umgrenzt. Schon unterhalb der Trümmer des Tempels von Barkal tritt das noch immer öde und unfruchtbare Gebirge wiederum an den Strom heran und ver— Land und Leute zwiſchen den Stromſchnellen des Nil. 295 drängt ebenſo das Fruchtland wie die Wüſtenſteppe. Die letzte Strom— ſchnellengruppe liegt vor dem zu Berge ziehenden Reiſenden. So unſäg— lich arm wie das Felſenthal iſt das Gebiet der dritten Stromſchnelle nicht; gut bebaute, wenn auch ſchmale Feldſtreifen zu beiden Seiten und kleine fruchtbare Inſeln inmitten des Stromes verſcheuchen den Eindruck troſt— loſen Mangels, welchen jenes hervorruft. Die Felsmaſſen der Ufer ſind zerklüfteter als jene des Felſenthales und reich an ſogenannten Stein— meeren, jenen wirr und wild übereinander getürmten Hügeln und Wällen aus Blöcken und Rollſteinen, wie ſie gewaltige Ströme zurücklaſſen, wenn ſie ihr Bett tiefer eingraben in das von ihnen ausgewaſchene Thal. Zu beiden Seiten des Stromes, meiſt auf der Höhe der vorderen Berge des Ufers, ſieht man Blöcke von mehr als hundert Würfelmeter Inhalt, welche ſo loſe auf unverhältnismäßig kleiner Unterlage ruhen, daß ſie bei hef— tigem Winde ſchwanken und mit Hilfe von Hebeln durch die Kraft weniger Menſchen abgewälzt werden können. An vielen Stellen ſind dieſe Stein— meere ſo wunderſam zuſammengeſetzt, als ob müßige Laune rieſiger Ko— bolde gewaltet habe, um alle die Kegel und Pyramiden, Wälle und Mauern zu erbauen, welche im wirren Durcheinander die Uferberge krönen. Mehr aber noch als dieſe Bauten des Stromes verleihen alte Bauwerke von Menſchenhand der dritten Stromſchnellengruppe ein beſonderes Gepräge. Auf allen geeigneten Felsvorſprüngen der Ufer, insbeſondere aber auf größeren Felſeninſeln, erheben ſich Gebäude mit Umfaſſungsmauern, Türmen und zackigen Zinnen, wie ſolche anderswo im Nilthale nicht bemerkt wer— den. Es ſind Feſtungswerke früherer Tage, Burgen geweſener Häupt— linge der Anwohner des Stromes, welche errichtet wurden zu Schutz und Trutz, um Leben und Habe vor den feindlich andrängenden Nachbarſtämmen zu ſichern. Roh übereinander geſchichtete, meiſt ausſchließlich mit Nil— ſchlamm vermörtelte, unbehauene Steine bilden die Grundmauern und Wälle, dicke, gegenwärtig größtenteils verfallene oder verfallende Wände aus lufttrockenen Schlammziegeln den Oberbau gedachter Burgen, welche weniger durch ihre Bauart als durch die Kühnheit der Anlage feſſeln. Aus der Mitte des rauſchenden Stromes z. B. ſteigt ein nackter, tief— ſchwarzer, glänzender Felſen auf, deſſen Gipfel ſolche Feſte trägt. Wild umbrauſen die Wogen ſeinen Fuß, aber unerſchütterlich widerſteht er dem Schwalle, und ſicher trägt er das ihm anvertraute Schutzhaus des Men— ſchen. An ſeiner ſtromabwärts liegenden Seite hat er die Wellen be— ruhigt und dadurch, dank dem allbelebenden Strome, neuen Schmuck ge— wonnen. In dem ſtillen Waſſer lagerten ſich im Laufe der Zeiten frucht— 296 Land und Leute zwiſchen den Stromſchnellen des Nil. bare Schlammſchichten ab, und eine Inſel entſtieg allmählich den Fluten; der Menſch bemächtigte ſich des fruchtbaren Eilandes, pflanzte die Palme und legte Felder an; und ſo entſtand auf und hinter dem Felſen ein freundliches Bild der Sicherheit und Wohnlichkeit, welches gerade durch ſeinen Gegenſatz zu der umgebenden unruhigen und öden Waſſer- und Felſenwüſte ergreifend wirkt. An der ſüdlichen Grenze der dritten Stromſchnellengruppe beginnen die Steppen und Waldungen der Wendekreisländer Afrikas, in denen nur hier und da Felſen an den erſtarkten Strom und ſeine größeren Zuflüſſe herantreten. Ueber einhundert geographiſche Meilen weit durchfließen Abiad und Asrakh, der Weiße und Blaue Nil, fruchtbares, faſt ebenes Land; dann erſt finden ſich wiederum einige Stromſchnellen. Sie aber gehören nicht mehr zu dem Bilde, welches ich in ſeinen gröbſten Umriſſen zu zeichnen verſuchte: Nubien allein iſt das Land der Katarakte des Nil. Es mag dahingeſtellt bleiben, inwiefern und inwieweit der Nubier durch ſeine Heimat beeinflußt oder zu dem gemacht wurde, was er iſt: ſo viel aber kann nicht in Abrede geſtellt werden, daß er ſich von dem heutigen Aegypter, ſeinem Nachbar, ebenſo beſtimmt unterſcheidet, wie ſeine Heimat von der des Aegypters verſchieden iſt. Beide haben miteinander nichts gemein, weder Geſtalt noch Hautfarbe, weder Abſtammung noch Sprache, weder Sitte noch Gebräuchlichkeit, kaum ſelbſt den Glauben, ob— wohl der eine wie der andere heutzutage das Bekenntnis ablegt: „Es gibt nur einen Gott und keinen Propheten Gottes außer Mohammed.“ Die Aegypter von heute ſind Miſchlinge der alten Aegypter und der eingewanderten arabiſchen Horden aus Yemen und Hedjas, welche ſich den früheren Einwohnern des unteren Nilthales verquickten; die Nubier Abkömmlinge der „wilden Blemyer“, mit denen die Pharaonen des alten, mittleren und neuen Reiches, wie die ägyptiſchen Herrſcher der Ptolemäer fortdauernd und keineswegs immer ſiegreich kämpften. Jene reden die Sprache, in der Mohammeds „Offenbarungen“ niedergeſchrieben wurden, dieſe eine gegenwärtig in mehrere Zweige zerfallende Mundart des Alt— äthiopiſchen; jene pflegen ein uraltes Schrifttum, dieſe haben wohl nie ein ſolches gehabt, welches in ihrer eigenen Sprache wurzelte. Jene bekunden noch heute den Ernſt der alten Aegypter wie der Söhne der Wüſte, von denen ſie entſtammen, ſorgen ſich mit der allen Morgenländern inne— wohnenden Angſt während ihres ganzen Lebens um das Jenſeits und regeln nach ihren Träumen von demſelben Sitten und Gebräuche, dieſe haben ſich die heitere Lebensfreudigkeit der Aethiopier bewahrt und leben Land und Leute zwiſchen den Stromſchnellen des Nil. 297 wie Kinder in den Tag hinein, das ihnen Wohlthuende ohne Dank, das ihnen Schmerzliche mit lauter Klage entgegennehmend und das eine wie das andere unter dem Einfluſſe des Augenblickes leichtfertig vergeſſend. Auf beiden laſtet gleich ſchwer das Joch des Fremdherrſchers: der Aegypter aber trägt es ſtöhnend und grollend, der Nubier gleichmütig und ohne zu murren; jener iſt ein verbiſſener Sklave, dieſer ein williger Diener. Jeder Aegypter dünkt ſich hoch erhaben über den Nubier, hält ſich, ſeiner Abſtammung, Sprache und Sitte halber, für edler, als dieſer in ſeinen Augen es ſein ſoll, prahlt mit ſeiner Bildung, obgleich ſolche nur wenigen ſeines Volkes zugeſprochen werden darf, und ſucht den dunkelfarbigen Mann ebenſo unbedingt zu unterdrücken, als er ſelbſt widerſtandslos der über ihm laſtenden Knechtſchaft ſich fügt; der Nubier erkennt die leibliche Ueberlegenheit des Aegypters im allgemeinen, die geiſtige Bildung hervor— ragender Männer des Nachbarvolkes völlig an, ſcheint ſich kaum bewußt zu ſein, daß ihm eigene Bildung mangelt, iſt zwar auch geneigt, den minder Begabten oder weniger kräftigen Innerafrikaner zu unterjochen, ſtellt ſich aber ſelbſt mit dem erkauften Neger auf brüderlichen Fuß und ergibt ſich anſcheinend geduldig in das ihn bedrückende Verhängnis, nach— dem er vergeblich verſuchte, im Ringen mit der Uebermacht Sieger zu ſein. Er iſt noch heutigestags Naturmenſch mit jeder Faſer ſeines Weſens, während der Aegypter als trauriges Abbild eines verkommenen und mehr und mehr verkommenden Volkes erſcheint. Jener hat ſich auf dem unergiebigſten Boden der Erde noch immer eine gewiſſe Freiheit be— wahrt: dieſer iſt auf der reichſten Scholle zum Sklaven geworden, welcher ſchwerlich jemals wagen wird, ſeine Ketten abzuſchütteln, obwohl er noch immer ruhmredig von ſeiner großen Vergangenheit ſpricht. Und dennoch hätten die Nubier wohl ebenſoviel, wenn nicht mehr Recht, von den Großthaten der Väter zu berichten, ſie rühmend hervor— zuheben und an ihnen ſich zu ſtählen, als die heutigen Aegypter. Denn jener Vorfahren haben nicht allein mit den Pharaonen und Römern, ſon— dern auch mit Türken und Arabern, den Herrſchern und Beherrſchten des neuzeitlichen Aegyptens, wacker gekämpft und ſind denſelben nur deshalb unterlegen, weil ihnen die furchtbare Feuerwaffe fehlte. Noch lebten zur Zeit meiner erſten Reiſe in den Nillanden Augenzeugen jener Kämpfe, aus deren Munde mir dieſe Kunde wurde, ſo, wie ich ſie jetzt getreulich wieder erzählen will, um einem mannhaften, vielfach verkannten Volke wenigſtens in einer Beziehung gerecht zu werden. Die Begebenheiten, um welche es ſich handelt, fallen in die erſten Jahre des dritten Jahrzehnts unſeres Jahrhunderts. 298 Land und Leute zwiſchen den Stromſchnellen des Nil. Nachdem Mohammed -Aali, der ebenſo thatkräftige wie rückſichts— loſe, ſelbſt grauſame Begründer der heutzutage Aegypten regierenden Herrſcherfamilie, im März des Jahres 1811 die von ihm eingeladenen Häupter der Mamelucken treulos überfallen und niedergemetzelt hatte, ſchien ſeine Herrſchaft über das untere Nilland geſichert zu ſein. Aber noch war der ſtolze Kriegerſtand, deſſen Häuptlinge jener durch ſchändlichen Verrat und nichtswürdige Treuloſigkeit vernichtet hatte, nicht vollſtändig unter— jocht worden. Rachebrütend erwählten die Mamelucken neue Führer aus ihrer Mitte und zogen ſich zunächſt nach Nubien zurück, um hier ſich zu ſammeln, von hier aus den tückiſchen Feind aufs neue zu bekämpfen, mindeſtens zu bedrohen. Mohammed-Aali erkannte die Gefahr und ſäumte nicht, ihr zu begegnen. Sein Heer folgte den noch zerſtreuten Scharen der Mamelucken auf dem Fuße nach. Dieſe, zu ſchwach, um offene Feld— ſchlachten zu wagen, mußten ſich in Feſtungen werfen und fielen in ihnen, mit Todesverachtung verzweiflungsvoll kämpfend, bis auf den letzten Mann. Gleichzeitig mit ihnen wurden auch die Nubier beſiegt und, weil ſie den Siegern ſich fügten, zur Knechtſchaft verurteilt. Einzig und allein der tapfere Stamm der kampfgeübten Scheikier trat im Jahre 1820 den tür— kiſch⸗-ägyptiſchen Kriegern beim Dorfe Korti gegenüber, ein heldenmütiges, regelloſes Volk mit Lanze, Schwert und Schild ſiegverwöhnten, regelrecht eingeübten, mit Feuerwaffen ausgerüſteten Soldaten. Wie von altersher waren auch die Frauen mit ihren Kindern während der Schlacht zugegen, um durch gellende Schlachtrufe zum Kampfe anzufeuern, den kämpfenden Vätern ihre mit den Armen emporgehobenen Kinder zu zeigen und ſie ſo zu todesmutigem Vorgehen zu entflammen. Wohl ſtritten die Nubier ihrer Väter würdig; wohl drangen ſie bis zu den Tod und Verderben in ihre Reihen ſchleudernden Geſchützen vor; wohl hieben ſie mit ihren langen Schwertern auf die vermeintlichen Ungeheuer, tiefe Eindrücke der Schneide ihres Schwertes in den erzenen Röhren hinterlaſſend: aber die Aegypter ſiegten; — nicht ruhmvolle Tapferkeit, ſondern Uebermacht der Waffen entſchied. Unter ſchrillendem Wehegeſchrei der Weiber ergriffen die braunen Männer die Flucht. Jene aber erfaßte wilde Verzweiflung: rühmlichen Tod ſchmachvoller Knechtſchaft vorziehend, drückten ſie ihre Kinder an das Herz und ſtürzten ſich mit ihnen zu Hunderten in den vom Blute ihrer Gatten geröteten Strom. Den Fliehenden wehrten die Wüſten zu beiden Seiten des Stromes, Zufluchtsſtätten zu erreichen, und ſo blieb ihnen end— lich nichts anderes übrig, als ſich zu ergeben und den bisher ſtolz und aufrecht getragenen Nacken unter das Joch der Ueberwinder zu beugen. Land und Leute zwischen den Stromſchnellen des Nil. 299 Noch einmal nur loderte der alte Heldenmut in hellen Flammen auf. Einer der Häuptlinge, der gegenwärtig bereits von der Sage ver— herrlichte Melik el Nimmr, zu deutſch „Pardelkönig“, verſammelte ſein Volk zu Scheedi in Südnubien, weil ihm die Geißel des grauſamen Sie— gers unerträglich geworden war. Mißtrauiſch zog ihm Ismael Paſcha, des ägyptiſchen Herrſchers Sohn und ſeiner Krieger Heerführer, entgegen, und ehe noch Melik Nimmr ſeine Rüſtungen beendet, erſchien er, alle vor— handenen Boote benutzend, vor Scheedi, unerfüllbare Forderungen an Melik Nimmr ſtellend, um dieſen zu willenloſer Unterwürfigkeit zu zwingen. Melik Nimmr erkannte das ihm angedrohte Verderben und ermannte ſich zum Handeln. Während er Unterwürfigkeit heuchelte, eilten ſeine Send— boten von Hütte zu Hütte, um den überall unter der Aſche glimmenden Funken der Empörung zur lodernden Flamme zu ſchüren. Durch liſtige Vorſpiegelungen lockte er Ismael Paſcha von dem ſicheren Boote in ſeine ringsum von dichtem Dornenhag umſchloſſene geräumige, aber ſtroherne Königsbehauſung, um welche rieſige Strohhaufen aufgeſchichtet worden waren, nach des Pardelkönigs Verſicherung nur deshalb, um das vom Paſcha ebenfalls verlangte Kamelfutter zu liefern. Ein herrliches Feſt, wie Ismael nie geſchaut, will Melik Nimmr ſeinem Herrn und Gebieter geben; deshalb bittet er um Erlaubnis, auch alle Offiziere des Heeres der Aegypter einladen zu dürfen, und erhält die Genehmigung des Paſchas. Heerführer, Stab und Offiziere vereinigt das in der Königsbehauſung zugerichtete Gaſtmahl. Vor der dornigen Um— zäunung tönt die Tarabuka, die zum Reigen wie zum Kampfe anfeuernde Trommel des Landes: das junge, feſtlich geſalbte Volk übt ſich im fröh— lichen Tanze. Geſchleuderte Lanzen ſchwirren durch die Luft und werden bewunderungswürdig ſicher mit dem kleinen Schilde von dem gegenüber ſich bewegenden Mittänzer aufgefangen; lange Schwerter zweier im Kriegs— tanze ſich drehenden Kämpen bedrohen des Gegners Haupt und werden nicht minder geſchickt mit Schild und Klinge abgewehrt. Ismael ergötzt ſich weidlich an den ſchönen braunen Jünglingen, den anmutigen Bewe— gungen ihrer gelenkigen Glieder, der Kühnheit der Angriffe, der Sicher— heit der Abwehr. Mehr und mehr verdichtet ſich das Gewimmel vor der Feſthalle, mehr und mehr Schwerttänzer treten auf, heftiger und unge— ſtümer werden ihre Bewegungen, und gleichmäßig beſchleunigt ertönen die Trommeln. Da plötzlich nimmt die Tarabuka eine andere Weiſe an; hundertfach, in allen Teilen Scheedis klingt ſie wieder, in den Nachbar— dörfern hüben und drüben am Nile nicht minder. Gellendes, in den 300 Land und Leute zwiſchen den Stromſchnellen des Nil. höchſten Tönen der Frauenſtimme ſich bewegendes Geſchrei durchzittert die Luft; bis auf die Lenden nackte Weiber, Staub und Aſche in den fett— getränkten Haaren, Feuerbrände in den Händen tragend, ſtürzen herbei und ſchleudern die Brände in die Wandungen der Königshalle wie in die ſie umlagernden Strohhaufen. Eine ungeheure Flammengarbe lodert zum Himmel auf, und in die Flammen, aus denen Schreck- und Weheruf, Fluch und Klage erſchallen, fliegen zu Tauſend die todbringenden Lanzen der Kriegstänzer. Weder Ismael Paſcha, noch irgend einer ſeiner Feſt— genoſſen entgeht qualvollem Tode. Es iſt, als ob die Streiter des geknechteten Volkes dem Boden ent— wüchſen. Wer Waffen tragen kann, wendet ſich gegen die grauſamen Feinde; Weiber treten, ihr Geſchlecht vergeſſend, in die Reihen der Käm— pfer; Greiſe und Knaben ringen mit der Kraft und Ausdauer der Männer nach dem einen Ziele. Scheedi und Metamme werden in einer Nacht von allen Feinden befreit; nur wenige von den in fernen Dörfern liegenden Aegyptern entrinnen dem Blutbade und bringen dem zweiten in Kordofän weilenden Heerführer die grauſige Mär. Dieſer, Mohammed-Bei el Defterdar, von den Nubiern noch heutiges— tags „el Djelad“, der Henker, zubenannt, eilt mit der ganzen Macht ſeines Heeres nach Scheedi, ſchlägt die Nubier zum zweitenmal und opfert ſodann ſeiner unerſättlichen Rache mehr als die Hälfte der damaligen Bewohner des unglücklichen Landes. Dem Pardelkönige gelingt es, nach Habeſch zu entfliehen; ſeine Unterthanen aber müſſen ſich dem Fremd— herrſcher beugen, und ihre Kinder „wachſen“, um mich des Ausdruckes meines Gewährsmannes zu bedienen, „im Blute ihrer Väter auf“. Seit jenen Unglückstagen ſind die Nubier hörige Knechte ihrer Unterdrücker geblieben. Die Nubier oder, wie ſie ſich ſelbſt nennen, die Barabra ſind mittel— große, ſchlanke, ebenmäßig gebaute Leute mit verhältnismäßig kleinen, wohlgebildeten Händen und Füßen, meiſt angenehmen Geſichtern, denen die mandelförmigen Augen, die hohe, gerade oder gebogene, nur an den Flügeln etwas verbreiterte Naſe, der ſchmale Mund, die fleiſchigen Lippen, die gewölbte Stirne und das längliche Kinn ein anſprechendes Gepräge aufdrücken, feinen, leicht gekräuſelten, aber nicht wolligen Haaren und ver— ſchiedener, vom Erzbraun bis ins Dunkelbraune ſpielender Hautfärbung. Sie halten ſich gut, gehen leicht, gleichſam ſchwebend, bewegen ſich auch ſonſt gewandt und anmutig, unterſcheiden ſich daher ſehr zu ihrem Vor— teile von den Negern der oberen Nilländer, ſelbſt von den Fungis des Land und Leute zwiſchen den Stromſchnellen des Nil. 301 Oſtſudan. Die Männer ſcheren ihr Haupthaar entweder gänzlich oder bis auf einen Schopf am Scheitel und bekleiden den Kopf mit einem eng— anſchließenden weißen Mützchen, der Takhie, über welche an Feiertagen viel— leicht auch ein weißes Tuch turbanähnlich gewunden wird. Ein ſechs bis neun Meter langes Umſchlagetuch dient zur Bekleidung des Oberkörpers; kurze Beinkleider und Sandalen, an Feiertagen ein blaues oder weißes, talarähnliches Gewand bilden die übrigen Kleidungsſtücke, ein am linken Arm getragenes Dolchmeſſer und auf Reiſen die Lanze die Waffen, Leder— rollen, in denen Amulette enthalten ſein ſollen, und an Schnüren um den Hals gehängte Täſchchen den einzigen Zierat des Mannes. Die Frauen ordnen ihr Haar in Hunderte kleiner dünner Zöpfe und ſalben dieſe reich— lich mit Hammelfett, Butter oder Ricinusöl, verbreiten daher auf weithin einen für uns geradezu unerträglichen Geruch, tättowieren verſchiedene Teile ihres Geſichtes und Leibes mit Indigo, färben oft die Lippe blau und ſtets die Handteller rot, zieren den Hals mit Glasperlen, Bernſtein- und Karneolketten, Amuletttäſchchen und dergleichen, die Knöchel mit zinnernen, elfenbeinernen oder hörnernen, Ohrläppchen, Naſenflügel und Finger mit ſilbernen Ringen, ſchlagen an Stelle der Beinkleider einen bis zu den Knöcheln herabreichenden Schurz um die Lenden und werfen das Um— ſchlagetuch in maleriſchen Falten über Bruſt und Schultern. Knaben gehen bis ins ſechſte oder achte Jahr nackt, Mädchen tragen vom vierten Jahre an die ungemein kleidſame, aus feinen Lederſtreifen beſtehende, oft mit Glasperlen oder Muſcheln verzierte Troddelſchürze. Alle im Stromthale ſeßhaften Nubier hauſen in viereckigen, beziehent— lich mehr oder weniger würfeligen Gebäuden, welche entweder aus luft— trockenen Ziegeln errichtet und dann nach oben zu abgeſchrägt ſind, oder aber aus einem mit Stroh überkleideten leichten Holzgerüſt beſtehen, ge— wöhnlich bloß einen Wohnraum darſtellen, eine niedrige Thür und an Stelle der Fenſter oft nur Luftlöcher haben, auch die denkbar einfachſte Einrichtung zeigen. Ein erhöhtes, mit verflochtenen Lederſtreifen oder Baſtſtricken überſpanntes Lagergeſtell, das Aukareb, einfache Kiſten, vor— trefflich gearbeitete, ſelbſt waſſerdichte Körbe, Lederſchläuche, Urnen, zur Aufbewahrung des Waſſers, Durrabieres und Palmweines, Handmühlen oder Reibſteine zum Zerkleinern des Getreides, eiſerne oder thönerne, flach— muldige Platten zum Brotbacken, Kürbisſchalen, ein Beil, ein Bohrer, einige Hacken ꝛc. bilden den Hausrat, Matten, Vorhänge, Scheidewände und Lagerdecken die Einrichtungsgegenſtände, Mulden, flache geflochtene Teller und dazugehörige Deckel die nicht in jeder Hütte vorhandenen 302 Land und Leute zwiſchen den Stromſchnellen des Nil. Eßgeſchirre. Die Nahrung unſerer Leute beſteht vorwiegend, hier und da faſt ausſchließlich in Pflanzenſtoffen, Milch, Butter und Eiern. Das häufiger geriebene als gemahlene Getreide wird zu einem Teige verarbeitet und dieſer zu ſchliffigem Brote gebacken, letzteres aber entweder ohne alle Zuthaten oder mit Milch oder mit dickſchleimigen Brühen aus verſchiede— nen Pflanzen, günſtigſten Falles auch darunter gemiſchten Fleiſchfaſern aus vorher an der Sonne getrockneten Streifen, und vielem und ſcharfem Gewürz genoſſen. Begehrlicher als hinſichtlich der Speiſen zeigt ſich der Nubier, wenn es ſich ums Trinken handelt; denn jedes berauſchende Ge— tränk, ſei es heimiſchen oder fremden Urſprungs, findet an ihm jederzeit einen eifrigen Verehrer, um nicht zu ſagen übermäßigen Zecher. Sitten und Gewohnheiten der Bewohner des mittleren Nilthales bekunden gegenwärtig eine abſonderliche Verquickung von ererbten und an— genommenen Gebräuchlichkeiten. Schweigſam und leichtfertig fügt er ſich ebenſo willig in das ihm Fremde, wie er das urſprünglich Heimiſche zu vergeſſen ſcheint. Bekenner des Islam iſt er mehr dem Namen als der That nach; ſtrenges Feſthalten an Glaubensſatzungen kennt er ebenſo— wenig als Unduldſamkeit gegen Andersgläubige. Bevor er ins reifere Mannes- oder das Greiſenalter getreten, übt er die Gebote des Pro— pheten ſelten und wohl niemals mit dem Pflichteifer der arabiſchen oder türkiſchen Stämme. Er beſchneidet ſeine Knaben, verehelicht ſeine Töchter, behandelt ſeine Frauen und begräbt ſeine Toten, feiert auch ſeine Feſte nach den Geboten des Islam, glaubt jedoch vollſtändig genug zu thun, wenn er den äußerlichen Vorſchriften ſeines Glaubens nach— kommt. Geſang und Tanz, heitere Unterhaltungen, Scherze und Trink— gelage gefallen ihm beſſer als die Lehren und Gebote des Koran, auf mönchiſche Auslegung der letzteren zurückzuführende Glaubensübungen und Bußermahnungen oder aber das von anderen Mohammedanern für ſo heilig erachtete Faſten. Gleichwohl wird ihn niemand als willenloſen, wankelmütigen, un— ſelbſtändigen, unverläßlichen oder treuloſen, kurz ſchlechten Menſchen be— zeichnen können. Im unteren Nubien, wo er alljährlich mit Hunderten, in ſeinen Augen reichen und freigebigen Fremden verkehrt, wird er frei— lich oft zum unverſchämten, ja ſelbſt unerträglichen Bettler, und die Fremde, welche er aufſuchen muß, weil ſein armes Land ihn nicht ernähren kann, trägt auch nicht dazu bei, ihn zu veredeln: im allgemeinen aber darf man ihn mit Fug und Recht einen braven Geſellen nennen. Wohl vermißt man heutzutage an ihm oft die Willenskraft der Väter, keineswegs aber auch Land und Leute zwiſchen den Stromſchnellen des Nil. 303 deren Mut und Tapferkeit; wohl erſcheint er bei weitem ſanfter und gut— mütiger als der Aegypter, erweiſt ſich jedoch nicht minder verläßlich und ausdauernd als dieſer, wenn es ſich um ſchwierige oder gefahrdrohende Unternehmungen handelt. Sein armes, unergiebiges Land, an welchem er mit ganzer Seele hängt, deſſen er in der Fremde mit rührender An— hänglichkeit gedenkt, für welches er arbeitet, darbt und ſpart, da ſein ein— ziges Streben dahin geht, die Mannes- und Greiſenjahre in ihm zu ver— leben, legt ihm unabläſſigen Kampf um das Daſein auf und ſtählt ſeine leiblichen wie geiſtigen Kräfte; der toſende Strom, mit welchem er nicht minder beharrlich kämpft, wie mit dem felſenſtarrenden Lande, weckt und erhält in ihm Mut und Selbſtvertrauen, ebenſo wie er kühle Würdigung der Gefahr in ihm erzeugte und befeſtigte. Dank der ſo erworbenen Eigenſchaften wird der Nubier zum treuen Diener, verläßlichen Reiſe— begleiter, wanderluſtigen Djellabi oder Kaufmann und vor allem zum unter— nehmenden, unerſchrockenen Schiffer. Faſt gewinnt es den Anſchein, als ob die Eltern ihre Söhne von früheſter Jugend an auf alle Dienſte, welche ſie ſpäter als Erwachſene leiſten, regelrecht vorbereiteten. Wie in Aegypten, werden in Nubien die Kinder des armen Mannes kaum erzogen, höchſtens zur Arbeit angehalten, richtiger vielleicht, nach Maßgabe ihrer Kräfte ausgenutzt. So klein der Knabe: einen Dienſt muß er leiſten, ein Aemtchen verwalten; ſo ſchwach das Mädchen: der Mutter muß es helfen bei allen Verrichtungen, welche den Frauen des Landes obliegen. Aber während man in Aegyten den Kindern kaum Erholung gönnt, begünſtigt man in Nubien fröhliches Spiel der Kleinen nach Möglichkeit. In Aegyten wird der Knabe zum Knechte, das Mädchen zur Sklavin dieſes Knechtes, ohne daß es eine freudige Kindheit durchlebte, in Nubien ſind mehr als Halberwachſene oft noch immer Kinder in Sein und Weſen. Daher erſcheinen uns jene unnatürlich ernſt wie ihre Väter, dieſe heiter wie ihre Mütter. Ein allge— mein beliebtes Kinderſpiel wird jeder Reiſende kennen lernen und mit Wohlgefallen beobachten, weil ſich hier Gewandtheit und Anmut der Be— wegung, Ausdauer und Unternehmungsmut vereinigt, wie kaum anders— wo: ich meine das in der ganzen Welt gebräuchliche „Haſchen“ oder „Fliehen und Verfolgen“. Nach geſchehener Arbeit vereinigen ſich Knaben und Mädchen. Jene laſſen das Schöpfrad, deſſen Zugochſen ſie antreiben mußten vom frühen Morgen bis die Sonne zum Untergange ſich neigt, das Feld, in welchem ſie dem Vater behilflich waren, das junge Kamel, welches ſie traben lehrten, dieſe das jüngere Geſchwiſter, welches ſie eher 304 Land und Leute zwiſchen den Stromſchnellen des Nil. ſchleppten als trugen, den Brotteig, deſſen Gärung ſie zu überwachen hatten, den Reibſtein, an welchem ſie ihre jungen Kräfte übten: und alle eilen zum Ufer des Stromes. Die Knaben gehen nackt, die Mädchen ſind einzig und allein mit der Troddelſchürze bekleidet. Lachend und plaudernd Me — Nubiſche Kinder beim Spiel. zieht die Geſellſchaft dahin; wie dunkle Ameiſen wimmelt es im gold— gelben Sande, zwiſchen und auf den ſchwarzen Felſen. Bunt durchein— ander gemiſcht ordnen ſich die Verfolger, welche den Flüchtling zu; fangen haben. Letzterer, dem einiger Vorſprung gegönnt wird, gibt das Zeichen zum Beginnen der Jagd, und alle heften ſich an ſeine Ferſen. Wie eine Gazelle läuft er über die ſandige Ebene den nächſten Felſen zu und wie Land und Leute zwiſchen den Stromſchnellen des Nil. 305 folgende Windhunde jagt die lärmende Rotte hinter ihm drein; einer Gemſe vergleichbar klettert er an den Felſen empor, und nicht minder gewandt ſtrebt die gelenkige Geſellſchaft der Spielgenoſſen nach der Höhe; wie ein erſchreckter Biber ſtürzt er ſich in den Strom, um tauchend ſich zu bergen, ſchwimmend zu entrinnen: aber auch in das naſſe Element folgen ihm die beherzten Mitſpieler, Knaben wie Mädchen, ſtrampelnd wie ſchwimmende Hunde, rufend und ſchreiend, ſchwatzend, lachend und kichernd wie ſich treibende, ſchnatternde Enten. Lange ſchwankt das Zünglein der Wage, und gar nicht ſelten geſchieht es, daß der breite Nilſtrom über— ſchwommen wird, bevor der kühne Vorſpieler in die Hände ſeiner Kame— raden fällt. Die Eltern der munteren Schar aber ſtehen zuſchauend am Ufer und freuen ſich über die Gewandtheit, den Mut und die Ausdauer ihres Nachwuchſes, und auch der Europäer muß zugeſtehen, daß er nirgends lebensfrohere, munterere Weſen geſehen hat, als dieſe ſchlanken, ſchönen, duftigbraunen, glänzenden Kinder. Aus den in ſolcher Weiſe ſpielenden Knaben werden die Männer, welche es wagen, zwiſchen den Stromſchnellen Schiffahrt zu treiben, im Boote über die thalab eilenden, hier und da förmlich jagenden, wirbelnden, kochenden und brauſenden Wogen zu ſteuern, dieſen ſogar entgegenzuſegeln, die Männer, welche zu vielen ihrer Schwimmfahrten nicht einmal des Bootes bedürfen, ſondern dreiſt auf kleinen, erbärmlichen, aus Durraſtengeln zu— ſammengefügten Flößen oder luftdichten, aufgeblaſenen Schläuchen tage— lang währende Reiſen unternehmen. So klar und feſt ſchauen dieſe nu— biſchen Schiffer und Schwimmer der Gefahr in das Auge, daß ihnen die Wellen des Stromes weder Märchen noch Sagen in das Ohr geflüſtert haben. Sie kennen weder Nixen noch andere Waſſergeiſter, weder gute noch böſe Genien, und ihre Schutzheiligen, deren Hilfe ſie vor und wäh— rend gefährlicher Fahrten zu erflehen pflegen, wehren nur der Macht des Geſchickes, nicht aber dem böſen Willen tückiſcher Geiſter. Die Sage iſt ſtumm geblieben in den Stromſchnellen, im „Bauche der Felſen“ wie in den Stürzen und Strudeln der „Mutter der Steine“, der „Erſchüttern— den“, des „Kamelhalſes“, der „Koralle“ und wie die Namen der Schnellen ſonſt noch lauten, obwohl das ganze Gebiet die herrlichſten Wohnſitze für Märchengeſtalten in ſich faßt, und der es befahrende Schiffer nur zu oft zum Glauben an die Wirkſamkeit menſchenfeindlicher Geiſter verleitet werden mag. f Die Stromſchnellen werden thalab bei hohem und mittlerem, berg— wärts bei mittlerem und niederem Waſſerſtande befahren. Während des Brehm, Vom Nordpol zum Aequator. 20 306 Land und Leute zwiſchen den Stromſchnellen des Nil. tiefſten Nilſtandes würde wohl jedes zu Thal ziehende Boot zerſchellt wer— den, während der Nilſchwelle ſelbſt das größte Segel nicht ausreichen, ein größeres Fahrzeug aufwärts zu treiben. Zur Zeit der Nilſenke müſſen Hunderte von Menſchen aufgeboten werden, um eine mittelgroße Barke der alles vermögenden Regierung zu Berge zu ziehen; zur Zeit der Nil— fälle würden ſie auf den wenigen, nicht überfluteten Felſeneilanden zu beiden Seiten der in Frage kommenden Fahrſtraßen kaum oder nicht Raum finden, um fußen zu können. Die volle Nilſchwelle eignet ſich am beiten für die Thalfahrt, mittelhoher Waſſerſtand auch aus dem Grunde am meiſten für die Bergfahrt, weil die um dieſe Zeit bereits regelrecht wehen— den Nordwinde eine verläßliche Segelkraft gewähren. Alle Boote, welche einzig und allein für den Dienſt im Gebiete der Stromſchnellen beſtimmt ſind, unterſcheiden ſich durch ihre geringe Größe wie durch ihre Bauart, durch Takelung und Geſtalt des Segels weſentlich von den übrigen Nilfahrzeugen. Der Rumpf enthält nur wenige Rippen und die Planken werden durch ſchief eingeſchlagene, die Schmalſeiten ver— bindende Nägel zuſammengehalten; das Segel iſt nicht dreieckig, ſondern rautenförmig, auch an zwei Rahen befeſtigt, derart, daß durch die untere derſelben mehr oder weniger Leinwand aufgewickelt oder dem Winde preis— gegeben werden kann. Bauart und Takelung erweiſen ſich als durchaus zweckentſprechend. Die geringe Größe, zumal Länge des Bootes geſtattet jähe Wendungen auszuführen; die Zuſammenheftung ſeiner Planken ver— leiht dem Schiffskörper federnde Bieg- und Schmiegſamkeit, welche bei dem häufigen Auffahren zu ſtatten kommt; der je nach der Stärke des Windes wie der Strömung zu regelnde Segeldruck endlich ermöglicht annähernd gleich nachhaltige Beſiegung des ſo vielfach wechſelnden Widerſtandes. Deſſenungeachtet fährt man im Stromſchnellengebiete weder ſtromauf- noch ſtromabwärts allein, vielmehr ſtets in Geſellſchaft, um ſich gegenſeitig und rechtzeitig unterſtützen zu können. Unmittelbar nach dem Abſegeln vom Befrachtungsorte oder während der Nacht eingenommenen Ruheplatze gewährt eine zu Berge ziehende Boot— flotte ein hübſches, anſprechendes Bild. Alle Fahrſtraßen des Stromes weiſen Segel auf; man ſieht deren oft zwanzig und mehr zwiſchen den dunklen Felſen dahinſchwimmen. Anfänglich halten noch alle Fahrzeuge ziemlich gleiche Abſtände ein; bald aber verändern Strömung und Segel— druck die zuerſt innegehaltene Ordnung. Ein und das andere Schifflein bleibt mehr und mehr zurück, ein und das andere läßt den Hauptteil der Flotte hinter ſich, und ſchon nach Verlauf einer Stunde liegt eine weite Land und Leute zwiſchen den Stromſchnellen des Nil. 307 Strecke zwiſchen dem vorderſten und dem hinterſten Boot. Doch fördert die Fahrt, ſelbſt bei heftigem und ſtetigem Winde, weit weniger, als es den Anſchein hat. Wohl brechen ſich die Wogen rauſchend am Buge des Fahrzeuges; dieſes aber hat mit einem ſo heftigen Gefälle zu kämpfen, daß es trotz alledem nur langſam vorwärts kommt. Es gilt als Kunſt— ſtück, hier ſo zu ſteuern, daß das Schifflein möglichſt wenig Biegungen zu beſchreiben hat und dennoch den unter Waſſer liegenden Felsblöcken aus— weicht; denn jede Wendung macht eine Veränderung in der Stellung des ungefügen Segels notwendig, und jeder Aufprall des Schiffsbodens verurſacht einen Leck. Schiffsführer und Schiffsleute haben daher un— unterbrochen zu thun. Trotzdem beginnt ihre eigentliche Arbeit erſt an— geſichts einer der zahlloſen Stromſchnellen, welche überwunden werden ſollen. Das bisher nur teilweiſe entfaltete Segel wird gänzlich aufge— rollt und dem Winde dargeboten; die Barke jagt wie ein kräftiges Dampf— Ihiff durch das Felſengewirr und erreicht den unter faſt allen Waſſer— ſtürzen kreiſenden Wirbel. Alle Schiffsleute ſtehen an den ausgelegten Rudern und bereitgehaltenen Tauen, um nach Erfordernis einzugreifen, wenn das Boot, wie vorausſichtlich geſchehen muß, von dem Wirbel ge— faßt und im Kreiſe umhergetrieben wird. Auf Befehl des Schiffers tauchen auf dieſer Seite die Ruder ins Waſſer, ſtoßen auf jener lange Stangen auf die Felſen, um das Fahrzeug von letzteren abzuhalten; verkleinert oder vergrößert, dreht oder wendet ſich das von den erfahrenſten Matroſen gehandhabte Segel. Ein-, zwei- ſechs-, zehnmal verſucht man vergeblich, den Wirbel zu durchſchneiden; endlich gelingt dies doch, und das Boot erreicht das untere Ende des Waſſerſturzes. Hier aber ſteht es wie feſt— gebannt: Segel- und Wogendruck halten ſich im Gleichgewichte. Der Wind verſtärkt ſich und das Fahrzeug rückt um einen, um mehrere Meter vor; der Segeldruck verſchwächt ſich und die Wogen werfen es an die alte Stelle zurück. Nochmals beginnt es ſeinen Kampf mit Strudel und Wellen, und nochmals wird es durch letztere beſiegt. Jetzt gilt es, das glücklich errungene Ziel feſtzuhalten. Einer der Schiffsleute packt das Tau mit den Zähnen, wirft ſich inmitten des ärgſten Wogenſchwalles in den Strom und verſucht ſchwimmend, das ſchwere Tau nach ſich ſchleppend, einen oberhalb des Schiffes über den toſenden Wogen emporragenden Felsblock zu erreichen. Die Wellen ſchleudern ihn zurück, bedecken, über— ſchütten ihn; er aber wiederholt ſeine Anſtrengungen, bis er einſehen muß, daß ſeine Kräfte den gewaltigeren des Stromes unterliegen und er auf ſeinen Wink am Taue ſelbſt zum Boote zurückgezogen wird. Noch einmal 308 Land und Leute zwifchen den Stromſchnellen des Nil. ſpielen, vernichtungsmächtig, Strudel und Wellen mit dem ihnen gegen— über ſo zerbrechlichen Gebäude; noch einmal treibt es der Wind beiden zum Trotze vorwärts. Da hört man plötzlich einen beängſtigenden Krach; der Steuermann verläßt in demſelben Augenblicke ſeinen Platz und fliegt in hohem Bogen durch die Luft, in den Strom: das Boot iſt auf einen unter den Wellen verborgenen Felſen gefahren. Eiligſt bemächtigt ſich einer der Schiffsleute des Steuers; unverzüglich wirft ein zweiter dem im Strudel treibenden Steuermanne einen aufgeblaſenen, an einem Seile befeſtigten Schlauch zu, und ohne jegliche Zögerung ſtürzen ſich die übri— gen, Hammer, Meißel und Werg in den Händen haltend, in den Schiffs— raum hinab, um den beſtimmt zu findenden Leck ſofort zu verſtopfen. Der Mann am Steuer wahrt, ſoviel ihm möglich, das Fahrzeug vor neuem Unheil; der gebadete Steuermann entſteigt mit einem mehr geſtöhnten als gebeteten „El hamdi lillahi“ — Gott ſei Dank — den trüben Fluten; die übrigen hämmern und ſtopfen und wehren dem eindringenden Waſſer; einer opfert ſogar ſein Hemde, um einen Leck zu dichten, welcher bereits alles vorhandene Werg in ſich aufnahm. Und abermals ſegelt das Boot durch Strudel und Wellen, ſchwankend, ächzend, knarrend wie ein See— ſchiff im Sturme; abermals erreicht es die Stromſchnelle, und abermals wird es feſtgehalten durch Wind und Wogen. Zwei Schiffsleute ſpringen gleichzeitig in den Strom, arbeiten mit Anſtrengung aller Kräfte gegen deſſen Wogen, erreichen glücklich das erſehnte Felsſtück, umſchlingen es mit dem einen Ende des Taues und winken den übrigen, das Boot heranzu— ziehen. Dies geſchieht; an den Felſen angekettet liegt das Boot, inmitten des heftigſten Wogenſchwalles ſo bedeutend und ununterbrochen auf und nieder ſchwankend, daß es Seekrankheit verurſachen kann und thatſächlich verurſacht. Ein zweites Boot nähert ſich und bittet um Unterftüßung. Ihm wirft man vermittelſt des aufgeblaſenen Schlauches ein Tau zu und erſpart ihm ſo Zeit und Arbeit. Bald liegt es, wenig ſpäter ein drittes, viertes unter demſelben Felſen, und alle tanzen gemeinſchaftlich auf und nieder. Nun aber iſt die vereinigte Schiffsmannſchaft zahlreich und ſtark genug, um die Ueberfahrt vollends bewerkſtelligen zu können. Doppelt ſo viele Matroſen als jedes Fahrzeug führt, beſetzen alle nötigen Poſten des einen; die übrigen ſchwimmen, waten und klettern, Taue nach ſich ziehend, zu einer Felſeninſel oberhalb der Stromſchnelle und ſchleppen eines der Boote nach dem anderen, ihre Kraft mit dem Segeldrucke ver— einend, über das rauſchende Gefälle der Stromſchnelle hinauf. Hier und da und dann und wann genügt wohl auch der Segeldruck allein, um das— Land und Leute zwiſchen den Stromſchnellen des Nil. 309 ſelbe zu erreichen; unter ſo günſtigen Umſtänden aber gefährdet nach— laſſender Wind nicht ſelten Fahrzeug und Bemannung. Oft muß ein Boot mitten im Wogengebrauſe ſtunden- und ſelbſt tagelang liegen bleiben und günſtigen Wind abwarten. Dann kann man wohl auch an jedem Felſenzacken ein Schifflein hängen ſehen, ohne daß eines im ſtande wäre, dem anderen Hilfe zu bringen. Mehrere Male bin ich genötigt geweſen, das nächtliche Lager auf einem der ſchwarzen Felſen aufſchlagen zu müſſen, weil die heftige Be— wegung des in der Stromſchnelle auf und nieder ſchaukelnden Bootes den Schlaf verhinderte. Schwerlich kann man ſich eine abſonderlichere Schlaf— ſtätte denken, als ſolche es iſt. Der Grund, auf welchem man ruht, ſcheint zu erzittern vor den anſtürmenden Fluten; das Brauſen und Rauſchen, Ziſchen und Toben, Dröhnen und Donnern der Wogen übertäubt jeden anderen Hall: wortlos ſitzt oder liegt man auf ſeinem Teppich inmitten der Genoſſen. Wie vorüberziehender Nebel ſprüht bei jedem Windſtoße feiner Dunſtregen über das Felſeneiland. Das belebende Lagerfeuer wirft wunderſame Lichter auf das Geſtein und die dunklen, in allen vorſprin— genden Ecken und Kanten ſchäumenden Gewäſſer, laſſen aber die im Schatten liegenden Wirbel und Waſſerſtürze noch grauſiger erſcheinen, als ſie ſind. Zuweilen möchte man meinen, daß ſie hundert Rachen öffneten, um das arme Menſchenkind zwiſchen ihnen zu verſchlingen. Doch deſſen Vertrauen iſt feſt wie der Grund, auf welchen es ſich bettete. Mag der gewaltige Strom donnern, die Brandung toſen und ſchäumen, wie ſie wollen: man ruht ſicher auf Felſen, welche beiden Jahrtauſende hin— durch Trotz boten. Aber wenn das Tau riſſe und das rettende Boot an den nächſten Felſen geſchleudert und hier zerſchellt würde? Dann wird ein anderes erſcheinen, um die Schiffbrüchigen an das Ufer zu bringen! Man iſt im ſtande, zu ſchlafen, ruhig zu ſchlafen, trotz ſolcher und ähnlicher Ge— danken und trotz des ununterbrochenen Dröhnens; denn Gefahr gibt Mut und Mut Vertrauen, und für das betäubte Ohr wird der Donner der Wogen zuletzt zum Schlafgeſange. Am nächſten Morgen aber, welch ein Erwachen! Im Oſten erglüht der Himmel im duftigſten Rot; die alten Felſenrieſen ſchlagen einen Purpurmantel um ihre Schultern und er— glänzen ſodann in blitzendem Lichte, als beſtänden ſie aus geglättetem Stahle. Licht und Schatten weben auf den ſchwarzen Felſenmaſſen und in den mit goldgelbem Sande erfüllten Schluchten das wunderbare, unbe— ſchreiblich herrliche Farbengewand der Wüſte; Tauſende und aber Tauſende von Waſſerperlen glänzen und flimmern dazwiſchen; und der Strom 310 Land und Leute zwiſchen den Stromſchnellen des Nil. rauſcht ſeine gewaltige, ewig gleiche und ewig verſchiedene Weiſe dazu. Solch Schauſpiel, ſolche Melodie füllt jedes Mannesherz mit Befriedi— gung und mit Entzücken. Wahrhaft andächtig verbringt man den Mor— gen auf ſeiner großartigen Schauſtätte; denn erſt mit den Vormittags— ſtunden erhebt ſich der regelmäßig nach Süden ſtrömende Segelwind. Mit ihm beginnen wiederum Arbeit und Gefahr, Mühe und Kampf, Wagnis und Sorge: und ſo ſchwindet ein Tag nach dem anderen, bleibt Strom— ſchnelle nach Stromſchnelle hinter dem Schiffer. Die Reiſe zu Berge iſt gefahrvoll und zeitraubend, die Fahrt zu Thale ein Wageſtück ohnegleichen, weil ein tolldreiſtes Jagen durch Flut und Schnelle, Strudel und Wirbel, Waſſerſtürze und Felſenengen, ein mutwilliges Spiel mit dem eigenen Leben. Thalfahrten durch das Gebiet aller Stromſchnellen werden nur auf ſolchen Booten unternommen, welche im Sudan gezimmert wurden und für das untere Stromthal beſtimmt ſind. Etwa zehn vom Hundert zer— ſchellen auf der Reiſe; daß nicht verhältnismäßig ebenſoviel Matroſen verunglücken als Schiffe, erklärt ſich einzig und allein durch die unüber— treffliche Schwimmfertigkeit der nubiſchen Schiffer, welche nicht einmal dann immer ertrinken, wenn ſie von den Wogen gegen einen Felſen ge— ſchleudert wurden, für gewöhnlich aber wie Enten mit den Wellen treiben und ſchließlich doch wiederum das feſte Land gewinnen. Ich will verſuchen, einige Bilder ſolcher Thalfahrt ſo treu als mög— lich wiederzugeben. Sechs neuerbaute Boote aus ſchwerem, im Waſſer ſinkendem Mi— moſenholze, geſchätzt und geſucht in Aegypten, liegen an der ſüdlichen Grenze der dritten Stromſchnellengruppe, angepflöckt am Ufer des Stromes; die zu ihnen gehörige Mannſchaft ruht auf ſandigen Stellen zwiſchen ſchwarzen Felsblöcken, woſelbſt ſie die Nacht verbracht hat. Es iſt noch früh am Morgen und ſtill im Lager; der Strom allein redet ſeine raus ſchende Sprache in der Oede. Der aufdämmernde Tag weckt die Schläfer; einer nach dem anderen ſteigt zum Strome hernieder und verrichtet die geſetzlichen Waſchungen zum Gebete des Frührots. Nachdem das „Vorge— ſchriebene“ und „Hinzugefügte“ des Gebetes geſprochen worden iſt, erquickt ſich allmänniglich an einem kargen Imbiſſe; hierauf eilt alt und jung zu einem Scheich- oder Heiligengrabe, deſſen weiße Kuppel zwiſchen licht— grünen Mimoſen aus einem dunklen Thale hervorſchimmert, um hier, unter Vorantritt des älteſten Reis oder Schiffsführers, welcher die Stelle des Imam vertritt, ein beſonderes Gebet um glückliche Fahrt zu verrichten. Land und Leute zwiſchen den Stromſchnellen des Nil. 311 Zu den Booten zurückgekehrt, wirft man ſchließlich noch, uralter heidniſcher Sitte folgend, einige Datteln, gleichſam als Opfergabe, in den Strom. Nunmehr endlich befehligt jeder Schiffsführer ſeine Mannſchaft auf ihre Poſten. „Löſt das Haftſeil! Rudert, ihr Männer, rudert, rudert im Namen Gottes, des Allbarmherzigen!“ hallt ſein Befehl. Hierauf beginnt er, ſingend den ewig wiederkehrenden Nachklang eines Gedichtes anzu— ſtimmen; einer der Ruderer nimmt die Weiſe auf und ſingt eine der Strophen des Liedes nach der anderen; alle übrigen begleiten ihn mit den taktmäßig vorgetragenen Worten: „Hilf uns, hilf uns, o Mohammed, hilf uns, Gottgeſandter und Prophet.“ Langſam bewegt ſich die Barke der Mitte des Stromes zu, raſcher und immer raſcher gleitet fie ſtromabwärts; nach wenigen Minuten eilt ſie, ihren Gang noch mehr beſchleunigend, zwiſchen den Felſeninſeln ober— halb der Stromſchnelle hindurch. „O Said, gib uns Freude,“ fleht der Reis, während die Matroſen noch immer ſingen wie vorher. Schneller und ſchneller tauchen die Ruder in die trübe Flut; über die braunen, ge— ſtern erſt friſch geſalbten Leiber der bis auf die Lenden nackten Schiffer rieſelt der Schweiß hernieder; jeder Muskel iſt angeſpannt und in Thätig— keit. Lob und Tadel, Schmeichelworte und Verwünſchungen, Bitten und Drohungen, Segenswünſche und Verfluchungen wechſeln im Munde des Reis, je nachdem das Boot mehr oder minder ſeinen Wünſchen ent— ſprechend dahinrauſcht. Die mit aller Kraft geführten Ruderſchläge be— ſchleunigen, obwohl ſie nur zum Lenken beſtimmt ſind, den ohnehin un— gemein ſchnellen Lauf des Fahrzeuges und vermehren die Gefahr manchmal ebenſo, als ſie ihr zu ſteuern ſuchen; der Reis erſcheint daher entſchuldigt, wenn er alle ihm zu Gebote ſtehenden Mittel anwendet, um ſeine Leute anzufeuern. „Legt euch auf die Ruder, arbeitet, arbeitet, meine Söhne; zeigt eure Kraft, ihr Enkel und Nachkommen von Helden; beweiſt euern Mut, ihr Tapferen; bethätigt eure Stärke, ihr Recken; preiſt den Pro— pheten, ihr Gläubigen! O der Merieſa, o der ſimbilduftenden Mädchen von Dongola, o der Märchen in Kairo: alles wird euer ſein! Backbord ſage ich, ihr Hunde, Hundeſöhne, Hundeenkel, Urenkel und Nachkommen von Hunden, ihr Chriſten, ihr Heiden, ihr Juden, ihr Kaffern, ihr Feuer— anbeter! Ah, ihr Spitzbuben, ihr Schelme, ihr Diebe, ihr Gauner, ihr Strolche: wollt ihr wohl rudern! Erſtes Ruder, Steuerbord, hängen denn Weiber an dir? Drittes Ruder, Backbord, ſchleudere die Schwächlinge ins Waſſer, welche dich führen wollen! Recht ſo, vortrefflich, ausgezeichnet, ihr kräftigen, gelenkigen, behenden Jünglinge; Gott ſegne euch, ihr Braven, 312 Land und Leute zwiſchen den Stromſchnellen des Nil. und gebe euren Vätern Freude, euren Kindern Heil und Segen! Beſſer, beſſer, noch beſſer, ihr Memmen, ihr Kraft- und Saftloſen, ihr Elenden, Erbärmlichen — verdamme euch Allah in ſeinem gerechten Zorne, ihr, 7 If, v 10% Eine Fahrt durch die Stromſchnellen des Nil. ihr — — Hilf uns, hilf uns, o Mohammed!“ So entquillt es ununter— brochen dem Munde des Befehlshabers, und alles wird mit dem größten Ernſte geſagt, geſprochen, geſchrieen, geſtöhnt und durch entſprechende Hand-, Fuß- und Hauptbewegungen noch beſonders bekräftigt und verſtärkt. Land und Leute zwiſchen den Stromſchnellen des Nil. 313 Das Boot lenkt in den oberen Anfang der Stromſchnelle ein. Die Felſen zu beiden Seiten ſcheinen ſich im Wirbel zu drehen; der donnernde Schwall des Waſſers überflutet Bord und Deck und übertönt jeglichen Befehl. Unaufhaltſam wird das gebrechliche Fahrzeug einer Felſenecke zugeſchleudert — Furcht, Angſt, Entſetzen prägen ſich in allen Geſichtern aus — da liegt die gefährliche Stelle bereits hinter dem Stern des Bootes: die von dem Felſen zurückſchäumenden Fluten haben auch das gefährdete Schifflein zurückgeworfen; nur zwei Ruder ſind am Geſtein zerſplittert wie ſchwaches Glas. Ihr Verluſt hindert die rechte Leitung der Barke, und ohne noch länger dem Steuer zu gehorchen, treibt ſie einem wirklichen Waſſerſturze zu. Ein allgemeiner Schrei, Entſetzen und Verzweiflung aus— drückend; ein Wink des mit zitternden Knieen am Steuer ſtehenden Reis: und alle werfen ſich platt auf das Deck und verſuchen, hier krampfhaft ſich feſtzuhalten; ein betäubender Krach und allſeitige Ueberflutung durch ziſchende, gurgelnde Wogen; einen Augenblick lang nichts anderes als Waſſer, ſodann ein förmliches Aufſpringen des Bootes: auch der Sturz und mit ihm Todesgefahren find überwunden. „EI hamdi lillahi“ — Gott ſei Dank — ringt ſich aus jeder Bruſt hervor; dann eilen einige in den Raum hinab, um entſtandene Lecke zu ſuchen und zu verſtopfen, an— dere legen neue Ruder auf: es geht weiter. Hinter dem erſten jagt ein zweites Boot durch die gefährliche Schnelle. Mit ungeſtümer, fort und fort beſchleunigter Haſt arbeiten die Ruderer: da ſtürzen plötzlich alle zu Boden, und einer fliegt in hohem Bogen vom Ruder hinweg durch die Luft und in den Strom hinab. Er ſcheint ver— loren, in der toſenden Tiefe begraben zu ſein; aber nein, inmitten des kreiſenden und ſchäumenden Wirbels unterhalb der Schnelle taucht, wäh— rend die Genoſſen ratlos die Hände ringen, der unvergleichliche Schwimmer wieder auf, und als ein drittes Boot an dem zweiten, auf einem Fels— blocke ſitzenden, vorübergejagt und in den Wirbel gelangt iſt, erhaſcht er eines der Ruder und ſchwingt ſich gewandt an Bord: er iſt gerettet. Auch das vierte Boot eilt herbei; flehende Gebärden der geſcheiterten Beman— nung des zweiten rufen um Hilfe: ein Aufzeigen zum Himmel iſt die be— redte Antwort. In der That, menſchliche Hilfe kann jenen nicht werden, denn kein Fahrzeug iſt hier in der Gewalt des Menſchen; der Strom ſelbſt muß helfen, wenn er nicht zerſtören will: und er hilft. Heftiger werden die Schwankungen des vorn und hinten in die Wogen tauchen— den und von ihnen wieder gehobenen Bootes, und plötzlich wirbelt und jagt es wiederum durch Strudel und Strömung. Einige Schiffer rudern, 314 Land und Leute zwiſchen den Stromſchnellen des Nil. andere ſchöpfen Waſſer, wie zwei im Boote reiſende Weiber, wieder an— dere hämmern, nageln und kalfatern im Raume. Zur Hälfte mit Waſſer gefüllt, kaum noch über der Oberfläche ſich haltend, erreicht es das Ufer und wird ausgeladen: aber die Hälfte der Ladung, aus arabiſchem Gummi beſtehend, iſt verloren und klagend, jammernd, weinend, auf die mit den Männern reiſenden Weiber fluchend, zerrauft der Eigentümer, ein unbe— mittelter Kaufmann, ſeinen Bart. Die beiden Weiber haben alles ver— ſchuldet: wie könnten auch ſie, welche den erſten Menſchen im Paradieſe bereits ins Verderben geſtürzt haben, gläubigen Muslimin jemals Heil und Segen bringen! Wehe, wehe über die Weiber und ihr geſamtes Ge— ſchlecht! Die Barke wird am nächſten Tage ausgebeſſert, neu kalfatert und beladen; ſodann ſchwimmt ſie mit den übrigen den nächſten Strom— ſchnellen zu, durcheilt ſie ohne weitere Schädigung und erreicht wie ſie das fruchtbare, felſenfreie Stromthal Mittelnubiens, welches alle Schiffer gaſt— lich empfängt und aufnimmt. Vergeſſen iſt alsbald jegliche Sorge, welche vorher gequält hatte: wie Kinder lachen und ſcherzen die braunen Männer wieder, und mit Behagen ſchlürfen ſie Palmwein und Merieſa. Viel zu raſch für ihre Wünſche führt der Strom die Boote durch das glückliche Land. Wiederum ſchüttet die Wüſte goldgelbe Sandmaſſen über die Felſen des Stromufers; wiederum beengen, zerteilen, ſtauen felſige Eilande das Bett des Nil: die Schiffe ſind in die zweite Stromſchnellengruppe einge— treten. Einer der gefährlichen Waſſerläufe, einer der gefürchteten Strudel oder Wirbel, eine der ſorgenbringenden Engen und Krümmungen nach der anderen bleiben zurück, nachdem ſie glücklich durchfahren wurden; nur die letzten und wildeſten Stromſchnellen trennen die Schiffer noch von dem Palmendorfe Wadihalfa und dem von hier aber nur noch einmal, unterhalb Philä, von Felſen durchſetzten, übrigens aber gefahrloſen unteren Stromthale. Alle Boote ſuchen oberhalb der in der That furchtbaren Stromſchnellen Gaskol, Moedjana, Abu-Sir und Hambol eine ruhige Bucht auf; alle Schiffer lagern hier bis zum nächſten Morgen, um ſich für die Arbeit, Anſtrengung, Angſt und Sorge des kommenden Tages zu ſtärken. Auf federnden Lagergeſtellen geben ſich auch die Abendländer erquicklicher Ruhe hin. 8 Die Nacht zieht ihren Schleier über das wilde Land. Im Felſen— thale donnern die abſtürzenden Wogen; in der ſtillen Bucht ſpiegeln ſich die Sterne wider; am Strande duften blühende Mimoſen. Da tritt ein uralter, zwiſchen den Stromſchnellen geborener und ergrauter Reis zu Land und Leute zwiſchen den Stromſchnellen des Nil. 315 den Abendländern. Sein blendendweißer Bart umrahmt das würdige Antlitz; ſein weites Obergewand mahnt an den Talar eines Prieſters. „Söhne der Fremde, Männer des Frankenlandes,“ ſo beginnt er zu reden, „Schweres habt ihr mit uns überſtanden, Schwereres ſteht euch bevor. Ich bin im Lande geboren; ſiebzig Jahre hat die Sonne mein Haupt beſchienen; endlich hat ſie mein Haar gebleicht: ich bin ein alter Mann — ihr könntet meine Kinder ſein. So achtet der Stimme des Warners und laßt ab von eurem Vorſatze, uns morgen zu begleiten. Unwiſſend geht ihr der Gefahr entgegen; ich aber kenne ſie. Hättet ihr, gleich mir, jene Felſen geſehen, welche den Wogen die Thore ſchließen, hättet ihr ver— nommen, wie ich, wie dieſe Wogen zürnend und dröhnend Ein- und Durch— laß begehren, wie ſie Felſen überfluten und brüllend zur Tiefe ſtürzen; bedächtet ihr, daß einzig und allein die Gnade Gottes, den wir bewun— dern und erheben, unſer armſeliges Schifflein führen kann: ihr würdet mir nachgeben. Würde nicht Kummer das Herz eurer Mutter brechen, wenn die Barmherzigkeit des Allerbarmers uns verließe? — Ihr wollt nicht abſtehen? So möge des Allgnädigen Gnade über uns allen hier walten!“ | Vor Sonnenaufgang wird es lebendig am Strande. Inbrünſtiger als je zuvor ſprechen die Schiffer das Gebet des Frührots. Ernſte, des Stromes kundige Steuerleute, junge, gliederkräftige und waghalſige Ru— derer bieten dem Alten ihre Dienſte an. Bedachtſam wählt er die er— fahrenſten Steuerleute, die kräftigſten Ruderer aus ihrer Mitte; dreifach bemannt er das Steuer, dann mahnt er zum Aufbruche. „Männer und Söhne des Landes, Kinder des Stromes, betet die Fatiha,“ befiehlt er. Und alle ſprechen die Worte der erſten Sure des Korans: „Lob und Preis dem Weltenherrn, dem Allerbarmer, der da herrſchet am Tage des Ge— richtes. Dir wollen wir dienen, zu dir wollen wir flehen, daß du uns führeſt den rechten Weg, den Weg derer, die deiner Gnade ſich freuen, nicht aber den Weg derer, über welche du zürneſt, und nicht den Weg der Irrenden!“ „Amen, meine Söhne; im Namen des Allerbarmers! Löſet das Haftſeil und Hand an die Ruder.“ Mit gleichmäßigem Schlage fallen dieſe in das Waſſer. Langſam treibt der aufgeſtaute Strom das Boot der erſten Schnelle zu, und wiederum jagt es, nachdem es dieſelbe erreicht hat, weder dem Steuer noch den Rudern gehorchend, in allen Fugen knarrend und ächzend durch ſich überſtürzende Wogen und kochenden Giſcht, durch Strudel und Wirbel, Engen und jählings ſich wendende Straßen, von den Wellen um— 316 Land und Leute zwiſchen den Stromſchnellen des Nil. ſpült und überſchüttet, auf Armeslänge an Felſenkanten vorüber und dicht über umwirbelte Felszacken hinweg einer zweiten Schnelle zu. Von der Höhe des Abſturzes aus blickt das Auge mit Entſetzen zu einer, in An— betracht der furchtbaren Waſſergewalt grauſigen Tiefe hernieder, und ge— rade vor dem unteren Ausgange der Schnelle erhebt ſich ein runder Fels— block, welchen ſchäumende Wellen umgeben, als ob ein von weißen Locken umwalltes Rieſenhaupt aus dem Waſſer aufgetaucht wäre. Einem abge— ſchnellten Pfeile vergleichbar ſchießt das gebrechliche, hier unlenkbare Ge— bäude dieſem Rieſenhaupte entgegen. „Im Namen des Allbarmherzigen rudert, rudert ihr Männer, ihr gewaltigen, tapferen, kühnen Männer, ihr Kinder des Stromes,“ ſtöhnt der Reis; „Backbord, Backbord das Steuer mit aller Kraft.“ Aber Ruder wie Steuer verſagen. Zwar nicht der Felsblock gefährdet das Fahrzeug, aber eine enge, in ein Felſenwirrſal führende, ſteuerbords vom Felſen abzweigende Straße nimmt es auf, und vergeblich ſuchen aller Augen nach einem Auswege aus jenem Wirrſal. Schon verlaſſen die Schiffer die Ruder, um ſich ihrer letzten Bekleidungs— ſtücke zu entledigen und nach dem vorausſichtlichen Scheitern des Bootes im Schwimmen nicht behindert zu werden: da lenkt ein furchtbarer Krach aller Blicke wieder nach rückwärts: Jenes Felſenhaupt hat das nachfolgende längere, minder lenkſame Boot als Opfer empfangen und trägt es frei— ſchwebend über den darunter ziſchenden Fluten. Das vermehrt das Ent— ſetzen. Alle Schiffer ſehen die Bemannung jenes Boots als verloren an, und alle bereiten ſich vor zum Sprunge in die Tiefe. Da zittert hell und klar die Greiſenſtimme des Stromesalten über das wirbelnd treibende Fahrzeug. „Seid ihr denn toll, ſeid ihr von Gott verlaſſen, ihr Kinder der Heiden! Arbeitet, arbeitet, ihr Knaben, ihr Männer, ihr Helden, ihr Recken, ihr Gläubigen! In der Hand des Allmächtigen ruht alle Kraft und Stärke; ihm ſei die Ehre, an die Ruder alſo, ihr Heldenſöhne!“ Und er ſelbſt tritt an das Steuer und führt das verirrte Boot binnen weniger Minuten vom „Wege der Irrenden“ auf den „rechten Weg“ zurück. Eines der Boote nach dem anderen erſcheint im freien Waſſer; aber nicht alle Fahrzeuge entrannen dem Verderben. Noch immer und wohl bis zur nächſtjährigen Nilſchwelle trägt das Rieſenhaupt ſeine Laſt, und jenes Unglücksboot, welches die Weiber führte, zerſchellte in tauſend Trümmer ſchon an der oberſten Schnelle. Mit der glücklich geretteten Mannſchaft beten die Schiffer wie vor der Abfahrt: „Lob und Preis dem Weltenherrn!“ Vor dem palmenbeſchatteten Dorfe Wadihalfa liegen die geretteten Boote nebeneinander; am Strande ſelbſt lagern um lodernde Feuer in Land und Leute zwiſchen den Stromſchnellen des Nil. 37 maleriſchen Gruppen die Schiffer. Wölbige Urnen, gefüllt mit Merieſa, laden zum Zechen ein; in anderen Gefäßen derſelben Art brodelt das Fleiſch geſchlachteter Schafe, unter Aufſicht raſch herbeigekommener, mit Ricinusöl geſalbter, für Europäer unnahbarer Frauen und Mädchen. Zitherklänge und Trommelſchläge bezeichnen den Beginn der „Phantaſie“, des Feſtes, des Schmauſes, des Gelages. Unſägliches Wohlſein beglückt alle Schiffer; genußfreudiges Behagen drückt ſich in Miene und Bewegung aus. Endlich aber fordert die nach dem heutigen, ſchweren und ſorgen— bringenden Werke unausbleibliche Ermüdung ihre Rechte. Dem ſchlaff— werdenden Arme entſinkt die Tarabuka, der ermattenden Hand die Tam— bura, und alle die bis vor wenig Augenblicken ſo lauten Stimmen ſchweigen. Dafür beginnt nunmehr die Nacht zu reden. Von oben hallt der Donner der Stromſchnellen hernieder; in den Palmenkronen, mit deren Wedeln der Nachtwind ſpielt, hebt ein Geflüſter an; am flachen Strande brechen ſich klangvoll plätſchernd die Wellen. Und Wogendonner und Wellenſpiel, Windesrauſchen und Palmengeflüſter weben den köſtlichen Schlummergeſang, welcher alle hinüberwiegt in das lichtvolle Reich gol— denen Traumes. Eine Reife in Sibirien. ie volksbelebten Straßen St. Petersburgs, die goldſtrahlenden Kuppeln 6 Moskaus lagen hinter uns, die Türme Niſchni-Nowgorods am jen: ſeitigen Ufer der Oka vor uns. Dankerfüllt waren wir aus den beiden Hauptſtädten des ruſſiſchen Reiches geſchieden. Von Sr. Majeſtät, unſerem ruhmreichen Kaiſer, in Berlin huldvoll verabſchiedet, vom auswär— tigen Amte Deutſchlands warm empfohlen, von dem deutſchen Botſchafter in St. Petersburg aufs freundlichſte empfangen, hatten wir in Rußland wohl eine gute Aufnahme erhofft, eine ſolche aber gefunden, welche unſere kühnſten Erwartungen bei weitem übertreffen mußte. Se. Majeſtät, der Zar, hatte geruht, uns Audienz zu bewilligen, Großfürſten und Großfürſtinnen des kaiſerlichen Hauſes hatten die Gnade gehabt, uns zu empfangen; der Reichskanzler, die betreffenden Miniſter und hohen Staatsbeamten Ruß— lands waren uns ſämtlich mit jener zuvorkommenden Liebenswürdigkeit und opferbereiten Willfährigkeit entgegengekommen, welche allen gebildeten Ruſſen mit Recht nachgerühmt wird; die beſten Empfehlungen, deren Gewichtigkeit uns erſt ſpäter erkennbar werden ſollte, begleiteten uns. Bis Niſchni-Nowgorod hatten uns die Verkehrsmittel der Neuzeit ge— fördert; fortan ſollten wir erfahren, wie man im ruſſiſchen Reiche Ent— fernungen von Tauſenden von Kilometern oder Werſten durchmißt — durch— mißt im Winter wie im Sommer, des Nachts wie am Tage, im grollenden Unwetter wie im lachenden Sonnenſcheine, im klatſchenden Regen oder eiſigem Schneeſturme wie bei ſtäubender Dürre, im Schlitten wie im Wagen. Vor uns ſtand der rieſige und maſſige, in allen Fugen verklammerte, durch weit auslegende Streben gegen das Umfallen, durch ein Verdeck gegen Schnee und Regen geſchützte Reiſeſchlitten, und das Glöcklein erklang im Krummholze des Dreiſpanns. Eine Reife in Sibirien. 319 Auf der kryſtallnen Dede der Wolga begannen wir am 19. März die hier raſch fördernde, aber doch nicht ungehinderte Fahrt. Tauwetter hatte uns begleitet von Deutſchland nach Rußland, Tauwetter uns aus Petersburg und Moskau vertrieben, Tauwetter blieb unſer beſtändiger Gefährte, als wären wir Boten des Frühlings. Mit Waſſer gefüllte Löcher im Eiſe, an die gähnende Tiefe unter uns bedrohlich mahnend, durch— näßten Pferde, Schlitten und uns, oder nötigten zu unliebſamen Umwegen, welche des knarrenden und dröhnenden Eiſes halber gefährlicher erſchienen, als ſie waren, machten auch Kutſcher und Poſtmeiſter ſo beſorgt, daß wir ſchon nach kurzer Fahrt die glatte Eisfläche mit der bisher noch nicht be— fahrenen Sommerſtraße vertauſchen mußten. Sie, die Straße, auf welcher nicht allein Tauſende und andere Tauſende von Frachtwagen, ſondern ebenſo— viele von Verbannten dem gefürchteten Sibirien zuziehen, für letztere eine Seufzerſtraße, wurde auch uns zu einer ſolchen. Meterhoch lag der noch lockere, aber bereits waſſergeſättigte Schnee auf ihr; rechts und links rannen und rauſchten Bächlein überall da, wo ſie rinnen und rauſchen konnten; in beklagenswerter Weiſe quälten ſich die jetzt in langer Reihe vor einander geſpannten Pferde, um feſten Fuß zu faſſen: ſprungweiſe ver— ſuchten ſie, die Spuren der ihnen vorausgegangenen zu erreichen, und bis an die Bruſt ſanken fie bei jedem Fehlſprunge ein in den Schnee, in das eiſige Waſſer. Hinterher polterte der Schlitten, in allen Fugen krachend, wenn er mit jähem Sprunge aus der Höhe herab in die Tiefe geſchleudert wurde; ſtundenlang blieb er zuweilen, der unglaublichſten Anſtrengungen der Pferde ſpottend, in einem Loche ſitzen, und wehmütig faſt klagte der rätſelhaften Faldine Gabe, das wölfeſcheuchende Glöcklein. Vergeblich mahnte, bat, beſchwor, krächzte, kreiſchte, ſchrie, brüllte, fluchte und peitſchte der Kutſcher; in den meiſten Fällen gelang es erſt durch fremde Hilfe, wieder flott zu werden. Qualvoll dehnten ſich die Stunden, zu vier- und fünffacher Länge die Wegſtrecken. Vom Schlitten aus nach rechts und links zu ſchauen, verlohnte ſich kaum der Mühe, denn reizlos und öde liegt das flache Land vor dem Auge; nur in den Dörfern bot ſich manches, Erbauliches und Beſchauliches, aber auch bloß dem, welcher beobachten wollte und konnte. Noch hielt hier der Winter die Leute zurück in ihren kleinen, zierlich an— gelegten, meiſt aber arg verliederten Blockhäuſern; nur bepelzte Knäblein liefen barfüßig durch den wäſſerigen Schnee und kotigen Schmutz, welchen ältere Knaben und Mädchen mit Hilfe von Stelzen zu überwinden ſtrebten; nur alte, weißbärtige Bettler umlungerten Poſthäuſer und Schenken, Bettler 320 Eine Reiſe in Sibirien. aber, welche jeder Maler ebenſo entzückend gefunden haben müßte, wie ich ſie fand, Bettler, welche, wenn ſie eine Gabe heiſchend das Haupt ent— blößten, im Ehrenſchmucke ihrer Glatze und ihres lang herabwallenden Bartes, im jetzt erſt erſichtlich werdenden Schmutze ihres Leibes und in der Zerlumptheit ihrer Kleidung, als ſo ausgezeichnete Ur- und Vorbil— der weltverachtender Heiligen erſchienen, daß ich nie umhin konnte, ihnen immer und immer wieder zu ſpenden, bloß um als Dankeszoll ein drei: bis neunmaliges Bekreuzen hervorzurufen, — ein Kreuzſchlagen, ſo aus— drucks⸗ und überzeugungsvoll, wie es je ein wirklicher Heiliger ausgeübt haben kann. Auch die Tierwelt trat in den Dörfern mehr hervor, als auf den Fel— dern, und ſelbſt in den Wäldern, welche wir durchzogen. Draußen hielt der Winter noch alles tieriſche Leben gefeſſelt, war noch alles ſtill und tot, bemerkten wir außer der Nebelkrähe und dem Goldammer faſt keinen Vogel, im Schnee kaum die Spuren eines Säugetieres; in den Dörfern bewill— kommneten uns wenigſtens die reizenden Dohlen, der Blockhausdächer an— mutigſter Schmuck, die Kolkraben, bei uns zu Lande ſcheue Gebirgs- und Waldbewohner, hier des Dörflers vertrauensſelige Genoſſen, Elſtern und andere Vögel mehr, ganz abgeſehen von den Haustieren, unter denen vor allen die frei umherlaufenden Schweine unſere Beachtung auf ſich zu ziehen wußten. Nach viertägiger ununterbrochener Fahrt, ohne erquicklichen Schlaf, ohne ſtärkende Ruhe, ohne genügende Nahrung, an allen Gliedern wie zerſchlagen, erreichten wir, nachdem wir zu Fuße die vielfach geborſtene Eisdecke der Wolga überſchritten, Kaſan, die alte Hauptſtadt der Tataren, deren ſechzig Türme uns ſchon geſtern freundlich entgegengeleuchtet hatten. Ich glaubte mich zurückverſetzt in das Morgenland. Von den Minarets und den hier und da hervortretenden ſpitzdachigen Holztürmen herab klang mir wiederum in arabiſchen Lauten der Ruf zum Gebete entgegen, zu welchem der Islam ſeine Bekenner fordert; zwiſchen turbantragenden Männern huſchten, ängſtlich vor dieſen ſich verſchleiernd, neugierig vor uns ſich enthüllend, ſchwarzäugige Frauen dahin, der zierlichen und durch— läſſigen Safranſchuhe halber beſorglich die übertrauften Stege längs der Häuſer ſuchend; im Gewühle des Bazars trieb ſich zwanglos alt und jung umher: alles ganz ebenſo wie im Morgenlande. Nur die vielen pomphaften Kirchen, unter denen die des Kloſters der „nicht von Menſchen— händen gefertigten ſchwarzen Gottesmutter von Kaſan“ durch Lage und Bauart hervortritt, wollten zu dieſem morgenländiſchen Bilde nicht paſſen, Eine Reife in Sibirien. 321 ſo wenig ſich auch verkennen ließ, daß hierzulande Chriſten und Mo— hammedaner einträchtiglich miteinander leben. Mit leichteren Schlitten, auf womöglich noch grundloſeren Wegen zogen wir weiter, Perm, dem Ural entgegen. Durch tatariſche und ruſſiſche Dörfer und die ſie umgebenden Fluren, durch weitausgedehnte Wälder führt die Straße. Die tatariſchen Dörfer ſtechen meiſt vorteilhaft von den ruſſiſchen ab und machen ſich nicht allein durch das Fehlen der als unrein geltenden Schweine, ſondern, und mehr noch, durch den ſtets wohl— gepflegten, mit hohen Bäumen beſtandenen Friedhof kenntlich; denn der Tatar ehrt die Ruheſtätte ſeiner Toten, der Ruſſe höchſtens die ſeiner Heiligen. Die Wälder ſind, obſchon forſtlich eingeteilt, doch nichts anderes als Urwälder, welche erwachſen und gedeihen, altern und vergehen ohne Zuthun des Menſchen: ſie liegen viel zu weit ab von ſchiffbaren Flüſſen, als daß ſie ſich jetzt ſchon verwerten ließen. Zwei große Flüſſe, die Wjätka und Kama, kreuzen unſere Straße. Noch hält jene der Winter in ſtarren Banden; aber der heranwehende Frühling beginnt bereits die eiſige Decke zu löſen. Waſſer überflutet die Uferränder und zwingt die Pferde der Frachtfuhrleute, welche die über ſolche Stellen geſchlagenen Notbrücken verſchmähen, ſchwimmend den hinter ihnen wie ein Boot treibenden Schlitten durch das Waſſer zu ziehen. Schon vor Perm müſſen wir den Schlitten mit dem Reiſewagen vertauſchen, und in ihm rollen wir dem Europa und Aſien trennenden Ural zu. Ueber langgeſtreckte, ſanfte, aber mehr und mehr anſteigende Hügelreihen zieht ſich die Straße. Das Gepräge der Landſchaft ändert ſich; zwar nicht großartige, aber doch hübſche Gebirgsbilder ſtellen ſich dem Auge dar. Kleine Wäldchen mit dazwiſchen liegenden Feldern und Wieſen erinnern an die Vorberge der Alpen Steiermarks. Die meiſten Wälder ſind arm und dürftig, denen der Mark vergleichbar, andere reicher und bunt, auch auf weithin geſchloſſen. Dort werden ſie von niedrigen Kiefern und Birken gebildet, hier von beiden Bäumen mit dazwiſchen eingeſprengten Linden, Eſpen, Schwarz- und Weißpappeln, über deren runde Kronen die cypreſſenartigen Wipfel der herrlichen Pichta oder ſibiriſchen Tanne wie Kerzen emporragen. Die Dörfer ſind durchſchnittlich größer, die Häuſer ſtattlicher als in den bisher durchreiſten Gegenden, die Wege aber über alle Begriffe ſchlecht. „Mit müder Qual“ ſchleichen Tauſende von Frachtwagen auf oder richtiger in tiefkotigen Geleiſen dahin, langſam und verdrießlich auch wir, bis wir endlich nach dreitägiger Fahrt die Waſſerſcheide der beiden großen Stromgebiete der Wolga und des Ob erreichen und durch einen Denkſtein, Brehm, Vom Nordpol zum Aequator, 21 322 Eine Reife in Sibirien. auf deſſen Weſtſeite das Wort „Europa“, auf deſſen Oſtſeite das Wort „Aſien“ eingegraben iſt, erfahren, daß wir die Grenze des heimatlichen Erdteils über— ſchritten haben. Unter dem Klange der Gläſer gedenken wir der fernen Lieben. Das freundliche Jekatarinburg mit ſeinen Goldſchmelzen und Stein— ſchleifereien darf uns trotz der Gaſtlichkeit ſeiner Bewohner nur kurze Zeit feſſeln; denn mächtiger und eindringlicher regt ſich der Frühling, und weicher und morſcher wird das Eis der Flüſſe und Ströme, welches bis nach dem fernen Omsk uns noch als Brücke dienen ſoll. Raſtlos eilen wir weiter durch die Gefilde des' aſiatiſchen Teiles des Permſchen Gou— vernements, bis wir deſſen Grenze und damit Weſtſibirien erreichen. Hier, im erſten Poſthauſe, erwartet uns der Kreishauptmann von Tjumen, um uns im Namen des Statthalters zu begrüßen und durch ſeinen Kreis zu geleiten; in der Hauptſtadt desſelben finden wir das Haus eines reichen Mannes zu unſerem Empfange bereit. Fortan lernen wir erkennen, was ruſſiſche Gaſtlichkeit bedeutet. Auch bisher hatte man uns allerorten gaſtlich empfangen, gaſtlich bewirtet; von jetzt an ſind überall die höchſten Beamten des Kreiſes, der Provinz, zu unſeren Gunſten rege und thätig, die vornehmſten Häuſer zu unſerer Aufnahme geöffnet. Wie Fürſten hat man uns behandelt, bloß weil wir wiſſenſchaftliche Zwecke verfolgten. So dankbar wir dies auch anerkennen, warm genug zu danken vermögen wir nicht, denn dazu fehlen die Worte. Hinter oder jenſeits Tjumen, woſelbſt wir drei Tage verweilten, um die Gefängniſſe der Verbannten, die Lederfabriken und andere Sehens— würdigkeiten der erſten ſibiriſchen Stadt in Augenſchein zu nehmen, zeigten uns die Bauern, wie ſie ſogar die Flüſſe zu bemeiſtern wiſſen. Der kommende Frühling hatte auch das Eis der Pyſchma gelöſt und die Schollen begannen ſich in Bewegung zu ſetzen; wir aber ſollten vorher noch den Fluß überſchreiten. Unſerer harrend ſtand die Bewohnerſchaft des Dorfes Romanoffskoye entblößten Hauptes vor der Pyſchma; unſerer harrend mußte auch dieſe ſich gedulden, bevor ſie ihre kryſtallenen Feſſeln abſchütteln durfte. Mit ebenſoviel Geſchick als Kühnheit hatte man eine Not: und Hilfsbrücke über den teilweiſe bereits eisfreien Fluß geſchlagen, ein größeres Boot als mittlere Unterlage benutzend, die des Abgangs ver— dächtigen Eisflöze oberhalb und neben dieſer Brücke aber mit ſtarken Tauen und Stricken feſtgebunden. Geſchäftige Hände entſchirrten die für die heutige Fahrt erforderlichen Fünfgeſpanne, packten Achſen und Speichen, griffen handfeſt zu und führten einen Wagen nach dem anderen über die ſchwankende, wellenförmig ſich biegende, knarrende und ächzende Brücke. Eine Reife in Sibirien. 323 Sie hatte ihren Zweck erfüllt; drüben ging's luſtig weiter durch Waſſer und Schnee, Schlamm und Kot, über Knüppeldämme und Eis. Minder lenkſam erwies ſich der Tobol, welchen wir am Karfreitage, den 14. April, und dem erſten eigentlichen Frühlingstage, überſchreiten wollten. Auch hier hatte man alle erforderlichen Vorkehrungen getroffen, um uns überzuſetzen, ſogar einen unſerer Wagen bereits ausgeſpannt und auf die Eisdecke gerollt, als dieſe krachend ſich teilte und zu ſchleunigſtem Rückzuge nötigte. Fröhlich waren die Glöcklein im Krummholze erklungen, als wir Jalutdroffsk verlaſſen, traurig läuteten ſie uns wieder nach dieſer Kreisſtadt zurück, und erſt am Oſtertage konnten wir den großen Fluß mit Hilfe einer Fähre überſchreiten. So ging es weiter; vor oder hinter uns warfen die Flüſſe ihre Winterdecken ab; nur der gefürchtete Irtyſch lag noch erſtarrt und ſicher unter uns, und ſo erreichten wir Omsk, die Hauptſtadt Weſtſibiriens, nach mehr als monatlicher Reiſe ohne weitere Zwiſchenfälle. Nachdem wir in Omsk geſehen, was zu ſehen war: die Straßen und Häuſer, das Kadettenhaus, Muſeum, Krankenhaus, das Kriegergefängnis und anderes mehr, fuhren wir auf der längs des rechten Irtyſchufers ſich dahinziehenden, die Dörfer der ſogenannten Koſakenlinie verbindenden Straße nach Semipalatinsk weiter. Schon zwiſchen Jalutoroffsk und Omsk hatten wir eine Steppe, die von Iſchim, durchreiſt: jetzt umgab ſie uns von allen Seiten, und allnächtlich faſt röteten die Flammen ihres in Brand geſteckten vorjährigen Graſes und Krautes den Himmel. Längs des Irtyſch zogen die Wandervögel dahin, unmittelbar hinter dem nordwärts treibenden Eiſe her; die Waſſervögel erfüllten alle Altwäſſer und Steppenſeen mit ihrer Menge; verſchiedene Lerchenarten trieben ſich in ſtarken Flügen am Wege umher; die niedlichen Falken der Steppe hatten ihre Sommer— ſtände bereits wieder bezogen, der Frühling war zur Wahrheit geworden. In Semipalatinsk hatten wir das Glück, in dem Gouverneur, General v. Poltoratski, einen warmen Freund und Beförderer unſerer Be— ſtrebungen, in ſeiner Gemahlin die liebenswürdigſte Wirtin zu finden, welche wir überhaupt hätten finden können. Nicht zufrieden damit, uns in Semipalatinsk die gaſtlichſte Aufnahme bereitet zu haben, beſchloß der General, uns in der anſprechendſten Weiſe mit dem Hauptteile der Be— völkerung ſeines Gebietes, den Kirgiſen, bekannt zu machen, und veran— ſtaltete zu dieſem Zwecke eine großartige Jagd auf Archare, Wildſchafe, deren Größe die unſerer Hausſchafe faſt um das Doppelte übertrifft. Am 3. Mai brachen wir zu dieſer Jagd auf, überſetzten den Irtyſch 324 Eine Reife in Sibirien. und fuhren auf der Poſtſtraße nach Taſchkent in die Kirgiſenſteppe hinein. Nach ſechzehnſtündiger Fahrt hatten wir das Jagdgebiet, ein felſiges Steppengebirge, erreicht; bald darauf ſtanden wir vor dem unſeretwegen errichteten Aul oder Jurtenlager, freundlich begrüßt von der uns geſtern vorausgeeilten Frau Generalin, herzlich auch von einigen zwanzig kirgiſi— ſchen Sultanen, Gemeindevorſtehern und deren zahlreichem Gefolge. An den drei folgenden Tagen ging es hoch her in den Arkatbergen. Für die ſtets nach Feſtlichkeiten verlangenden Kirgiſen waren Feiertage angebrochen, für uns nicht minder. Das Thal und die Berge wurden laut unter dem Hufſchlage der achtzig oder mehr Reiter, welche an den beiden nächſten Tagen zur Jagd hinauszogen; die Sonne blitzte, ſo oft ſie ſich zeigte, auf bunte, fremdartige Gewänder herab, welche bisher unter Pelzen verhüllt geweſen waren; lebendiges Gewimmel erfüllte Berge und Thalſchluchten. Mit ihren beſten Rennpferden, ihren wertvollſten Paß— gängern, gezähmten Steinadlern, Windhunden und Kamelen, mit Zither— ſpielern und Stegreifdichtern, Ringkämpfern und ſonſtigen Recken waren ſie erſchienen, die einſt ſo gefürchteten Kirgiſen, deren Name nichts anderes als Räuber bedeutet, heute die gefügigſten, getreueſten und zufriedenſten Unterthanen des ruſſiſchen Reiches. In Gruppen und Haufen ſaßen ſie beiſammen, einzeln und in Scharen ſprengten ſie hin und her, in Luſt und Uebermut ihre Roſſe tummelnd; mit regſter Aufmerkſamkeit folgten ſie dem Ringkampfe, mit Begeiſterung den von Knaben gerittenen Renn— pferden; mit Geſchick und Verſtändnis leiteten ſie die Jagd; mit Entzücken lauſchten ſie auf die Worte des Stegreifdichters, welcher die Jagd beſang. Ein Kirgiſe hatte ſchon vor unſerer Ankunft einen Archar erlegt; mir führte das Jagdglück einen zweiten vor die ſichere Büchſe. Dieſes Jagd— glück war es, welches den Stegreifdichter begeiſterte. Seine Verſe waren zwar nicht beſonders inhaltreich und tief gedacht, jedoch immerhin ſo eigen— artig, daß ich ſie aufzeichnete, um die erſte Probe kirgiſiſcher Dichtung zu ſammeln. Während der Mann ſang, überſetzte ein Dolmetſch ins Ruſſiſche, der General ins Deutſche, und als der Sänger geendet, hatte auch ich ſeine Worte eilſchriftlich zu Papier gebracht. „Sprich nur, rote Zunge, ſprich ſo lange du noch Leben haſt; denn nach dem Tode wirſt du ſtumm ſein. Sprich nur, rote Zunge, die mir Gott gegeben, nach dem Tode wirſt du ſchweigen. Worte wie jetzt dir entklingen, nach dem Tode werden ſie dich nicht verlaſſen. x N (\ Eine Reiſe in Sibirien. 325 ae Leute, ragend wie die Berge, ſeh' ich vor mir; ihnen will ich Wahr— heit ſagen. Berge, Felſen glaube ich vor mir zu ſehen; mit dem Rennpferd mag ich ſie vergleichen. Sie, die größer ſind als Boote, wie ein Dampfſchiff auf des Irtyſch Wellen. Seh ich doch in Dir, o Herrſcher, nach des Kaiſers Majeſtät, den höchſten, einem Berge zu vergleichen, wertvoll wie ein Rennpferd, das im Paß geht. Eine Mutter war es, die mich hat geboren; meine Zunge aber hat mir Gott gegeben. Wenn vor dir ich jetzt nicht rede, zu wem ſonſt ſoll ich wohl ſprechen? Vollſte Freiheit habe ich zu reden, ebenſo als ob zu meinem Volk ich ſpräche. Glück Dir, Herr, und Heil und Segen Deinen Gäften, unter denen hochgeſtellte Leute, ob ſie jetzt auch auf der Seite liegen. Jeder Gaſt des Generals iſt auch der unſere, unſrer Freund— ſchaft ſicher. Gott nur gab mir meine Zunge; mag ſie weiter reden. In den Bergen ſahn wir Jäger, Schützen, Treiber; doch nur mit einem war das Glück. Wie des höchſten Berges Spitze über alle andern ragt, ſo überhob es dieſen über alle; denn er ſchoß dem Archar wohlgezielt zwei Kugeln in den Leib und brachte ihn zur Jurte. Aller Jäger Wunſch war, Beute zu gewinnen; doch nur einer ſah den Wunſch erfüllt: Uns zur Freude, auch zur Freude Dir, o hohe Frau, zu welcher jetzt ich rede. Alles Volk iſt hoch erfreut, nicht bloß die Männer, Dich allhier zu ſehen, zu begrüßen; alles Volk wünſcht Dir nur Freude, tauſend Jahre Leben und Geſundheit. Laß es Dir gefallen, nimm die Huldigung entgegen! Ob Du gleich viel beſſer Volk geſehen; treuer aber hat Dir keines Gruß und Gaſtlich— keit geſpendet. Möge Gott Dich ſegnen, ſegnen auch Dein Haus und Deine Kinder! Viel zu wenig Worte mag ich finden, Dich zu preiſen; aber meine Zunge hat mir Gott gegeben: Und ſie ſprach, die rote Zunge, was im Herzen keimte.“ Wir verließen die Arkatberge und bald darauf auch das Verwaltungs— 326 Eine Reiſe in Sibirien. gebiet unſeres Gaſtfreundes, von welchem wir uns auf dem Jagdplatze getrennt hatten, wurden in Sergiopol, der erſten Stadt Turkeſtans, von Oberſt Friedrichs empfangen und im Namen des Generalgouverneurs dieſer großen Provinz begrüßt und zogen nunmehr in ſeiner Geſellſchaft unſeres Weges weiter. Kirgiſenhäupter gaben uns das Ehrengeleite und ſtellten uns Zugpferde, welche freilich vorher noch niemals als ſolche benutzt worden waren und anfänglich ſtets wie toll mit dem ſchweren Wagen davonjagten; Kirgiſenſultane erwieſen uns Gaſtfreundſchaft, ſorgten unterwegs für Obdach und Nahrung, ſtellten Jurten auf an allen Orten, wo wir raſten wollten oder ruhen ſollten; Kirgiſen fingen für unſere Sammlungen Schlangen und anderes kriechendes Getier, warfen zu Gunſten dieſer Sammlungen Netze in den Steppenſeen aus und folgten uns auf unſeren Jagdzügen wie treue Hunde. So durchreiſten wir die jetzt im vollſten Frühlingsſchmucke prangende Steppe, verweilten jagend und ſammelnd am Alakul oder „bunten See“, zogen durch blühende Thäler und über lachende Berge der im Alatau, einem der großartigſten Steppengebirge, gelegenen Koſaken— ſtaniza Lepſa zu, durchſtreiften die Umgegend der Anſiedelung, ein kleines Paradies, in welchem Milch und Honig fließt, erklommen die Hochberge, erlabten uns hier an rauſchenden Gebirgswäſſern, grünen Alpenſeen und köſtlichen Fernſichten und wandten uns ſodann, in nordößſtlicher Richtung weiterreiſend, der chineſiſchen Grenze zu, um auf dem kürzeſten und be— quemſten Wege durch einen Teil des himmliſchen Reiches nach dem Altai zu gelangen. N In Bakti, dem letzten ruſſiſchen Grenzpoſten, ward uns die Kunde, daß Seine Unausſprechlichkeit, der Dſchandſun Djun, Oberſtatthalter der Provinz Tarabagatai, uns auch von ſeiten Chinas begrüßen wolle und zu einem Gaſtmahle eingeladen habe. Um dieſem Wunſche des hohen Mandarin nachzukommen, ritten wir am 21. Mai nach der Hauptſtadt beſagter Provinz, Tſchukutſchak oder Tſchautſchak, hinüber. Der Reiterzug, welcher ſich durch die ſommerlich glühende Steppe bewegte, war zahlreicher und glänzender als je zuvor. Teils um in dem vom Aufruhr heimgeſuchten Lande die nötige Sicherheit zu genießen, teils um vor Seiner Herrlichkeit würdig, um nicht zu ſagen pomphaft, auftreten zu können, hatten die uns begleitenden Herren außer den uns unter Führung unſeres neuen Geleitgebers, Major Tichanoff, aus Sachan ent— gegengekommenen dreißig Koſaken und unſeren alten kirgiſiſchen Freunden noch eine halbe Sotnie Koſaken aus Batki aufgeboten, und ſomit erdröhnte die bisher ſo öde Steppe unter den Hufſchlägen eines kleinen Heeres. Alle Eine Reiſe in Sibirien. 327 unſere Kirgiſen ritten heute in Feierkleidern, und ihre ſchwarzen, blauen, gelben und roten, mit Silber- und Goldtreſſen beſetzten Kaftane wett— eiferten an Glanz und Schimmer mit den Uniformen der uns begleitenden ruſſiſchen Offiziere. An der neuerdings vereinbarten Grenze erwartete uns ein chineſiſcher Krieger höheren Ranges, um uns zu begrüßen, kehrte hierauf um und jagte, ſo ſchnell ſein Roß ihn tragen wollte, wiederum zurück, um ſeinem Gebieter unſere Ankunft zu melden. Ueber Trümmer— haufen ſtolperten, zwiſchen halbeingefallenen und halbfertigen Gebäuden, aber auch zwiſchen blühenden Gärten dahin ſchritten die Hufe unſerer Pferde, als wir die Stadt erreicht hatten; fratzenhafte Mongolengeſichter grinſten uns entgegen, Frauen von geradezu abſchreckender Häßlichkeit be— leidigten mein Schönheitsgefühl in empfindlichſter Weiſe. Vor dem Wohn— gebäude des Statthalters ſammelte ſich der Zug; Erlaubnis zum Eintreten begehrend hielten wir vor der breiten Pforte. Ihr gegenüber erhob ſich eine künſtlich zuſammengeſetzte Mauer, in der Mitte ein wunderſames Tierbild zeigend; rechts und links davon lagen chineſiſche Marterwerkzeuge am Boden. Ein Hausbeamter bat, einzutreten, bedeutete aber gleichzeitig den Koſaken und Kirgiſen draußen zu bleiben. Der Statthalter empfing uns in ſeinem Wohn-, Geſchäfts- und Gerichtsraume mit größter Feierlichkeit. Alle Würde eines hohen Mandarin bewahrend, mit der Rede kargend und nur einzelne abgebrochene Laute ausſtoßend, welche jedoch ſtets von einem heiter grinſenden Lächeln begleitet wurden, reichte er uns die Hand und lud zum Niederſitzen an der mit Thee und unzähligen kleinen Schüſſeln beſchickten, wunderliche Genüſſe aufweiſenden Frühſtückstafel ein: „und wir erhoben die Hände zum lecker bereiteten Mahle“. Reis, verſchiedene in Oel eingemachte und getrocknete Früchte, pergamentdünne Scheibchen Schweine— fleiſch, gedörrte Garnelenſchwänze nebſt einer Menge unkenntlicher oder doch unbeſtimmbarer Leckereien und Süßigkeiten bildeten die Speiſen, trefflicher Thee und abſcheulich fuſeliger Reisbranntwein von weingeiſtartiger Stärke die Getränke. Nach der Mahlzeit, welche infolge eines vorſichtigerweiſe ſchon vorher eingenommenen reichlichen und zweifelloſen Imbiſſes für mich wenigſtens unſchädlich ablief, wurden Waſſerpfeifen gereicht und ſodann verſchiedene denkbare und undenkbare Gegenſtände dieſes und des Neben— raumes beſichtigt: Landſchafts- und Tierbilder, von der Regierung ge— ſandte Belobungsſchreiben, das große, mit erheiternder Sorglichkeit in bunte Seidenſtoffe gekünſtelt eingehüllte Staatsſiegel, abſonderliche Pfeile von einer Bedeutſamkeit, wie ſolche nur ein chineſiſches Gehirn ihnen bei— legen konnte, Erzeugniſſe europäiſcher Betriebſamkeit und dergleichen mehr. 328 Eine Reife in Sibirien. Ueberaus gemeſſen und unausſprechlich würdevoll bewegte fih die Unter: haltung. Unſere Anreden wurden aus dem Franzöſiſchen ins Ruſſiſche, aus dem Ruſſiſchen ins Kirgiſiſche, aus dem Kirgiſiſchen ins Chineſiſche überſetzt, und die Antworten auf dem rückwärtigen Wege uns übermittelt; kein Wunder daher, daß die Geſpräche den Ton der größten Feierlichkeit annahmen. Nach dem Frühſtücke traten chineſiſche Pfeilſchützen an, um uns ihre kriegeriſche Tugend und Geſchicklichkeit zu zeigen; hierauf führte uns der Dſchandſun allerhöchſtſelbſt in ſeinen Gemüſegarten, um uns deſſen Erzeugniſſe koſten zu laſſen; endlich verabſchiedete er uns, und wir ritten nunmehr durch die Straßen und Märkte der Stadt, fanden im Hauſe eines Tataren Gaſtfreundſchaft und ein vortreffliches, durch die Gegenwart der bildſchönen jungen, zu unſerer Ehre in das Männergemach berufenen Frau noch beſonders gewürztes Mahl und verließen hierauf gegen Sonnenuntergang den auch geſchichtlich merkwürdigen Ort. Tſchukutſchak iſt dieſelbe Stadt, welche im Jahre 1867 nach lang— wieriger Belagerung den Dunganen, einem mongoliſchen, aber dem Islam ergebenen, gegen die chineſiſche Oberherrſchaft in beſtändigem Aufruhr ſtehenden Volksſtamme in die Hände fiel, mit Mann und Maus vernichtet und der Erde gleichgemacht wurde. Von den dreißigtauſend Einwohnern, welche Tſchukutſchak kurz vorher gezählt haben ſoll, war über ein Drittel geflohen, der Reſt aber, durch wieder— holt abgeſchlagene Stürme ſicher gemacht, zu ſeinem Verderben geblieben. Als den Dunganen der letzte Sturm gelang, hauſten ſie mit derſelben Grauſamkeit und Unmenſchlichkeit, welche die Chineſen ihnen gegenüber bethätigt hatten. Was nicht dem Schwerte verfiel, wurde vom Feuer ver— nichtet. Als unſer bisheriger Reiſebegleiter, Oberſt Friedrichs, vierzehn Tage ſpäter die Stätte beſuchte, auf welcher Tſchukutſchak geſtanden, kräuſelte keine Rauchwolke mehr die verkohlten Firſte. Wölfe und Hunde, die Bäuche geſchwellt vom Fraße an menſchlichen Leibern, ſchlichen beuteſatt vor ihm davon oder ließen ſich in ihrem eklen Mahle nicht ſtören und nagten weiter an dem Gebein ihrer früheren Gebieter; Adler, Milane, Raben und Krähen teilten mit ihnen den Schmaus. Wo man Raum hatte ſchaffen müſſen, waren die Leichen auf Haufen geworfen worden, Dutzende, Hunderte übereinander; in den übrigen Stadtteilen, in den Straßen, Hof— räumen, Häuſern lagen ſie einzeln, zu zweien, zu zehn, Gatte und Gattin, Urahne, Großmutter, Mutter und Kind, Familien und nach Rettung ge— flüchtete Nachbarn nebeneinander, die Stirnen zerklafft von Schwerthieben, die Geſichter zerfetzt, verbrannt, die Glieder vom Zahne der Hunde und Eine Reiſe in Sibirien. 329 Wölfe benagt, zerriſſen, die Leiber ohne Köpfe, ohne Hände. Was die tollſte Einbildung an Greueln erſinnen konnte, fand das entſetzt umher— irrende Auge hier verwirklicht. Heutzutage zählt Tſchukutſchak höchſtens tauſend Einwohner; heutzu— tage ſteht die neuaufgebaute, zinnengekrönte Feſtung thatſächlich unter dem Schutze des kleinen ruſſiſchen Piketts in Bakti; denn daß die Dunganen noch immer nicht die Waffen niedergelegt haben, noch immer nicht beſiegt worden ſind, bewies uns der vor wenig Tagen erfolgte Ausmarſch eines chineſiſchen Heeres in das Thal des Emil, in welches jene wiederum ein— zubrechen drohten. Unter Führung des Major Tichanoff und ſeiner dreißig Koſaken durch— zogen wir dieſes Thal, ohne einen Dunganen zu Geſicht zu bekommen, ohne auf tagelangen Wanderungen Menſchen zu begegnen. Der Emil fließt, vom Saur herkommend, zwiſchen dem Tarabagatai und Semistau, zwei in ſpitzigem Winkel zuſammenſtoßenden Hochgebirgsketten dahin, von beiden Seiten her zahlloſe Bächlein in ſich aufnehmend. Die Bewäſſerungskunſt der Chineſen hatte, alle Waſſeradern benutzend, aus dem ganzen Thale einen fruchtbaren Garten geſchaffen, als die Dunganen hereinbrachen und dieſen Garten verwüſteten und ihn der Steppe, welcher jene ihn entrungen, wieder übergaben. Wohl durchritten wir in der Nähe der Stadt noch kleine Dörfer; ſtießen auch auf einen Aul der Kalmücken, dann aber nur noch auf die Trümmer früheren Beſitzes und Wohlſtandes, früherer Betrieb— ſamkeit des Menſchen. Ueber die Felder hat die Natur ſelbſt mit milder Hand einen Schleier gebreitet, aber die noch nicht dem Sturme, dem Wetter erlegenen Trümmer der Dörfer klagen zum Himmel. Beſucht man ſolche Dörfer, ſo treten die Greuel vergangener Tage mit erſchreckender Klarheit vor das Auge. Zwiſchen verödeten Mauern, deren Dächer verbrannt und deren Giebel halb oder gänzlich eingefallen ſind, auf dem modernden Schutt, aus welchem geile Giftpilze aufſchießen, Reſte von chineſiſchem Porzellan und halbverkohlte, deshalb auch erhaltene Einrichtungsgegen— ſtände umherliegen, ſtößt man überall auf menſchliches Gebein, zertrüm— merte Schädel, vom Zahne der Raubtiere zerſplitterte Knochen, vermiſcht mit einzelnen Teilen des Gerippes der Haustiere, insbeſondere des Hundes. Die Schädel zeigen noch heute die Spuren der ſcharfen Klingen, welche ſie zertrümmerten. Die Menſchen verfielen der Wut der mordenden Feinde, und die Hunde teilten das Schickſal ihrer Herren, zu deren Schutze ſie jenen ſich geſtellt haben mochten; die übrigen Haustiere aber wurden weg— getrieben, geraubt wie alles wertvolle Beſitztum der Erſchlagenen, die 330 Eine Reiſe in Sibirien. augenblicklich wertloſen Gegenſtände endlich zerſtückelt und verbrannt. Bloß zwei halbwilde Haustiere ſind den Trümmern noch geblieben: die Schwalbe und der Sperling; an Stelle der übrigen haben ſich die Vögel der Ruinen eingefunden und eingeniſtet. Wir zogen unbehelligt durch das verödete Thal. Kein Dungane ließ ſich blicken; denn hinter unſeren dreißig Koſaken ſtand das große mächtige Rußland. Als wir wiederum auf Menſchen ſtießen, fanden wir, daß es ruſſiſche Kirgiſen waren, welche hier, in China, ihre Herden weideten, ihre Felder bebauten, und für einen ihrer Toten ein Grabmal errichteten. Vom Thale des Emil aus überſtiegen wir den Tarabagatai an einer der niedrigſten Stellen des Gebirgskammes, ſtiegen dann auf die von ihm, dem Saur, Manrak, Terſerik, Mustau und Urkaſchar umgebene, unge— fähr ſechzehnhundert Meter über dem Meere liegende, faſt ebene Hochfläche Tſchilikti hinab, überquerten ſie, mehrere ungemein große Kurgane oder Grabhügel der Eingeborenen berührend, und ſuchten uns dann in dem unendlich zerriſſenen Manrakgebirge ſchlangenartig ſich windende Thäler, um nach der Ebene von Saiſan und dem erſt ſeit vier Jahren beſtehenden Grenzpoſten gleichen Namens, einem freundlichen Städtchen, zu gelangen. Hier, hart an der chineſiſch-ruſſiſchen Grenze umgab uns ſeit Lepſa wiederum einmal europäiſche Bequemlichkeit und Behaglichkeit. In den Geſellſchaften, denen wir beiwohnten, verkehrte man wie in St. Petersburg oder Berlin: man unterhielt ſich, ſpielte, ſang und tanzte im engeren Familienkreiſe wie in einem öffentlichen Garten. Köſtlich ſchlagende Sproſſer begleiteten Tänze und Geſänge: man vergaß, wo man ſich befand. Ich benutzte die Zeit unſeres Aufenthalts zu einer Jagd auf Ullare, Hochgebirgshühner in Rebhuhngeſtalt, aber von der Größe des Auerhuhns, und lernte dabei nicht allein die Wildheit des Manrakgebirges, ſondern auch das Hirten- und Herdenleben ärmerer Kirgiſen von einer für mich neuen Seite kennen, kehrte daher in hohem Grade befriedigt von meinem erfolgreichen Ausfluge zurück. Am Nachmittage des 31. Mai beſtiegen wir unſere Reiſewagen wieder und rollten dem ſchwarzen Irtyſch zu, um ein uns vom General Poltoratski im Altaigebirge gegebenes Stelldichein nicht zu verfehlen. Durch reiches Steppenland, über kohlſchwarze Erde, ſpäter durch trockenere Hochſteppen ging die raſche Fahrt bis zum Strome, deſſen hochgehende Wellen uns am nächſten Tage dem Saiſanſee zuführten. So langweilig uns bisher alle Flüſſe und Ströme Sibiriens erſchienen waren, der ſchwarze Irtyſch war es nicht; denn köſtliche Fernſichten auf zwei gewaltige Hochgebirge, Saur Eine Reiſe in Sibirien. 831 und Altai und die damit zuſammenhängenden Ketten, entzückten, ein friſch grüner Uferſaum mit Vogelſang und heiterem Vogelleben erquickten das Auge. Ein raſch ausgeworfenes Netz förderte in reicher Menge köſtliche Fiſche ans Licht und bewies uns, daß der Strom ebenſo reich als ſchön iſt. Nachdem wir am 2. Juni den flachen und trüben, überaus fiſchreichen, aber nur durch die von ihm aus ſich bietenden Fernſichten anziehenden See überfahren hatten, durchzogen wir am nächſten Tage den ödeſten Teil der Steppe, welcher uns bisher zu Geſicht gekommen, lernten aber gerade hier drei der bemerkenswerteſten Steppentiere kennen: den Kulan, ein Wildpferd, die Steppenantilope und das Fauſthuhn. Vom erſtgenannten wurde durch unſere Kirgiſen ein Füllen gefangen, vom letzteren ein Stück erlegt. Abends raſteten wir in den Vorbergen des Altai, am nächſten Tage trafen wir am beſtimmten Orte mit den früheren Gaſtfreunden zu— ſammen und ritten fortan unter ihrem Geleite weiter. Es war eine köſtliche Reiſe, ob auch Sturm, Schnee und Regen nur allzuoft uns umtobten und die freundliche Jurte, hier mit uns wandernd, dann einen guten Teil ihrer Behaglichkeit verlor, ob auch Wildwäſſer unſere Pfade ſperrten und zur rauſchenden Tiefe jach abſtürzende Gehänge ſie zu Wegen wandelten, wie ſie bei uns zu Lande wohl der Gemsjäger, nicht aber der Reiter zieht. Ein ruſſiſcher Gouverneur reiſt nicht wie andere Sterbliche, am allerwenigſten dann, wenn er durch unbewohnte Gegenden ſeinen Weg nimmt. Mit ihm ziehen die Kreishauptleute und die unter dieſen ſtehenden Amtsvorſteher, Gemeindeälteſten und Gemeindeſchreiber, die vornehmen und angeſehenen Männer der ganzen Gegend, welche er zu beſuchen gedenkt, ein Trupp Koſaken und deren Offiziere, bis zum Oberſten hinauf, die eigenen und die Diener der Geleitgebenden ꝛc. Und wenn es ſich nun vollends, wie in unſerem Falle, um teilweiſe fremdes Land handelt, wenn es gilt, mit kirgiſiſchen Gemeinden Beratungen zu pflegen, vermehrt ſich der Troß ins Unendliche. Dann müſſen nicht allein Jurten und Zelte mitgeführt werden, wie ſonſt bei Reiſen in der Steppe, ſondern gleich ganze Schafherden dem wandernden Heere vorausgehen, um die Hunderte ernähren zu können in der Wildnis. Seitdem wir den Saiſanſee verlaſſen hatten, befanden wir uns wiederum in China, und eine Reihe von Tagen hatten wir zu reiſen, bevor wir hoffen durften, in den jetzt nur in den tieferen Thälern beſiedelten Teilen des Gebirges wiederum auf Menſchen zu ſtoßen. Mit uns aber reiſten anfänglich mehr als zweihundert Menſchen, meiſt Kirgiſen, welche berufen worden waren, um einen kaiſerlichen Befehl be— 332 Eine Reiſe in Sibirien. treffs Aufhebung ihrer Weiderechte im kaiſerlichen Krongute Altai entgegen: zunehmen und ſich über ihre infolgedeſſen zu verändernden Wanderungen zu einigen; aber auch nachdem die Beratungen vorüber waren, zählte unſer Reiſezug noch immer über hundert Pferde und ſechzig Reiter. Am frühen Morgen wurden die Jurten uns Männern über dem Kopfe abgebrochen. und dem Zuge vorausgeſandt; dann folgten wir in kleineren oder größeren Geſellſchaften, langſam reitend, bis uns auch die Damen, des Generals liebenswürdige Gemahlin und holde Tochter, wieder eingeholt hatten, früh— ſtückten an hierzu als paſſend ſich erweiſenden Stellen, ließen die letzten Packpferde an uns vorüberziehen, folgten ihnen nach, überholten ſie wieder, trafen meiſt ſchon mit den zuallererſt aufgebrochenen, täglich ſich ver: ringernden Schafen am Halteplatze ein und hatten ſomit Gelegenheit, all— abendlich das bunte Bild des Lagerlebens vor unſeren Augen ſich geſtalten zu ſehen. Herrliche, friſch grüne, frühlingsduftige Thäler nahmen uns auf; hohe, ſteil aufſteigende, auf weithin noch mit Schnee bedeckte Berge gewährten uns Fernblicke ins Hochgebirge hinein, auf die durchzogene Steppe hinab, bis zum Saur und Tarabagatai hinüber, bis wir endlich den Markakul, dieſe Perle unter den Gebirgsſeen des Altai, vor uns liegen ſahen und damit ins Hochgebirge ſelbſt eingetreten waren. Drei Tage lang zogen wir, durch Weg und Wetter behindert, durch eine an den Gouverneur gelangte chineſiſche Geſandtſchaft aufgehalten, längs des Sees dahin, dann aber ritten wir durch wirklich geſchloſſene Wälder, über ſchwer zu erklimmende Päſſe bergauf, bergab, der ruſſiſchen Grenze entgegen und auf halsbrechenden Wegen in das blühende Thal der Buchtarma hernieder, um in der neugegründeten Koſakenanſiedelung Altaiskaja-Staniza wiederum einmal ruſſiſche Gaſtlichkeit und Behaglichkeit zu genießen, zu raſten und zu ruhen. | Von den Offizieren der Staniza reichlich beſchenkt mit allerlei Er— zeugniſſen der Umgegend, ſetzten wir am 12. Juni die Reiſe fort. Hell und freundlich lachte die Sonne vom reinen Himmel herab auf die groß— artige, heute zum erſtenmal unverſchleierte Landſchaft. Unabſehbare park— artige Thäler, eingerahmt durch ſchroff ſich auftürmende, ſchneebedeckte, heute mit zauberiſchen Farben übergoſſene Hochgebirge, herrliche Bäume auf den Wieſen, blühende Gebüſche an den Gehängen, unendlich mannig— faltiger, über alle Beſchreibung köſtlicher Schmuck der im lang entbehrten Sonnenlichte gleichſam aufjauchzenden Blumen, friſch erblühte Heideroſen aller Farben dazwiſchen, Kuckucksruf und Vogelgeſang aus allen Kehlen, kirgiſiſche Auls in den breiteren Thälern am Fuße der Berge und ruſſiſche, Eine Reife in Sibirien. 338 grün umbuſchte Dörfer, weidende Herden, fruchtbare Felder, rauſchende Bäche und zackige Felsmaſſen, milde Luft und würziger Frühlingsduft um— ſchmeichelten die Sinne während der ganzen Fahrt. Bald überſchritten wir die Grenzen des kaiſerlichen Gutes Altai — eines Gutes, welches an Größe nur wenig hinter Frankreich zurückſteht! Nach einer Tagesfahrt 1 N Du) Ä 0 Kaiſeradler, Murmeltier und Zieſel. erreichten wir das Bergſtädtchen Serianoffsk mit ſeinen Silbergruben. Nachdem wir hier, freundlich empfangen wie immer und überall, alle Werke beſichtigt, wandten wir uns wiederum dem Irtyſch zu, ließen uns von ſeinen zwiſchen hohen und maleriſchen Felſenbergen raſch dahinflutenden Wogen an Buchtarminsk vorüber und nach Uſtkamenogorsk treiben und zogen von hier aus wiederum zu Wagen durch das zukunftreiche Kaiſergut. 334 Eine Reiſe in Sibirien. An die anmutigen Gelände der Vorberge ſchließen ſich ſteppenartige Ebenen an; mit dem beſiedelten Lande wechſeln ausgedehnte, breite Wälder ab. Große, reiche Dörfer, wertvolle, fruchtbare, in kohlſchwarzer Ackererde an— gelegte Felder, ſchön gebaute, ihres Wohlſtandes bewußte Männer, ſchöne, in maleriſche Tracht gekleidete Frauen, kindiſch neugierige und kindlich gutmütige Menſchen, treffliche, leiſtungsfähige, unermüdliche Pferde, kräftige, wohlgeſtaltete Rinder in großen Herden weideſatt die Dörfer umlagernd, unendliche Wagenkarawanen, auf guten Wegen Erz und Kohlen verführend, Murmeltiere an den Berggehängen, Zieſel in den Ebenen, Kaiſeradler auf den Merkpfählen am Wege, reizende Zwergmöwen an den Gewäſſern und Ortſchaften beleben die Gegend, welche die Straße durchſchneidet. Wie im Fluge eilten wir durch das Land, wie im Fluge beſuchten wir das mit Fug und Recht Schlangenberg benannte Hüttenſtädtchen; kurze Raſt nur gönnten wir uns in dem Hauptorte des Gutes, der Kreisſtadt Barnaul. Dann ging es weiter nach dem Bergſtädtchen Salair, nach der großen Gouvernementsſtadt Tomsk. Schon vor Barnaul hatten wir den Ob erreicht, bei Barnaul ihn über— ſchritten; in Tomsk ſchifften wir uns ein, um ihn zu befahren. Sechsund— zwanzighundert Werft, faſt vierhundert geographiſche Meilen ſchwammen wir, nachdem wir durch den Tom in ihn gelangt, abwärts auf dieſem Rieſen— ſtrome, welcher ein größeres Stromgebiet beſitzt als alle Ströme Weſteuropas zuſammengenommen, mehr und mehr dem Norden uns nähernd; vier Tage und Nächte trug uns das mit den zum höchſten Waſſerſtande angeſchwollenen Fluten zu Thal faſt doppelt ſo ſchnell als ſtromaufwärts eilende Dampfſchiff dem Eismeer zu; elf volle Tage und Nächte brauchten wir, um die Strecke von der Einmündung des Irtyſch bis zum Ausfluſſe der Schtſchutſchja zurückzulegen, obgleich wir nur in Samarowo und Bereoſoff einige Stunden raſteten, und die beiden Tage, welche wir in Obdorsk, dem letzten ruſſiſchen Dorfe am Strome, verbrachten, in jene Rechnung nicht eingeſchloſſen ſind. Gewaltig, überaus großartig iſt dieſer Strom, ſo einförmig, ſo öde er auch genannt werden mag. In einem Thale, deſſen Breite von zehn bis dreißig Kilometer wechſelt, ſtrömt er dahin, mit unzähligen Armen zahlloſe Inſeln umſchließend, zu oft unabſehbaren ſeeartigen Flächen ſich breitend, nahe ſeiner Mündung bis zu durchſchnittlich achtundzwanzig Meter Höhe das Bett ſeines meilen— breiten Hauptarmes füllend. Kaum durch Lichtungen unterbrochene Urwälder, bis in deren Innerſtes noch nicht einmal der eingeborene Menſch vorgedrungen, bekleiden das Gelände ſeiner wirklichen Ufer; Weidenwaldungen in allen Zuſtänden des Wachstums dieſer Baumart decken die ewig durch die um— Eine Reiſe in Sibirien. 335 geſtaltenden Fluten benagten, ihnen verfallenden und von ihnen wiederum neu aufgebauten Inſeln. Aermer und ärmer wird das Land, ärmer und dürftiger werden dieſe Wälder, liederlicher auch die Dörfer, je weiter man ſtromabwärts kommt, obgleich der Strom je näher ſeiner Mündung, je reichlicher ſpendet, was das arme Land verſagt. Schon bald unter Tomsk, unterhalb Tobolsk, lohnt die Erde die Arbeit des ackerbauenden Menſchen nicht mehr; weiter abwärts hört auch die Viehzucht allmählich auf, aber reiche Beute gewährt hier der von unſchätzbaren Heeren köſtlicher Fiſche wimmelnde Strom, reiche Jagdbeute auch der Urwald längs ſeiner beiden Ufer. An Stelle des Bauern tritt der Fiſcher und Jäger, an Stelle des Viehzüchters der Renntierhirt. Seltener und ſeltener werden die ruſſiſchen Anſiedelungen, häufiger die Wohnſitze der Oſtjaken, bis endlich nur noch die beweglichen kegelförmigen Birkenrindenhütten, hier „Tſchum“ genannt, und dazwiſchen höchſtens überaus ärmliche Blockhäuſer, die zeitweiligen Wohnſitze der ruſſiſchen Fiſcher, von dem Daſein des Menſchen Kunde geben. Wir hatten beſchloſſen, auch eine Tundra oder Moosſteppe zu durch— wandern und deshalb das zwiſchen dem Ob und dem Kariſchen Meerbuſen gelegene Land der Samojedenhalbinſel ins Auge gefaßt, um ſo mehr, als in dieſem von Europäern kaum noch betretenen Teile der großen, als breiter, baumloſer Gürtel um den Pol ſich ſchlingenden Wüſtenei auch eine für den Handel wichtige Frage zu löſen war. Behufs dieſer Reiſe mieteten wir in Obdorsk und weiter unten am Strome mehrere Leute, Ruſſen, Syrjänen, Oſtjaken und Samojeden, und traten am 15. Juli unſere Fahrt an. Auf den nördlichen Höhen des Ural, welcher hier als wirkliches Ge— birge ſeinem Gepräge nach ſogar als Hochgebirge ſich zeigt, entſpringen nahe bei einander drei Flüſſe: die Uſſa, welche der Petſchora, die Bodarata, welche dem Kariſchen Meerbuſen, und die Schtſchutſchja, welche dem Ob zu— ſtrömt. Das Gebiet der letztgenannten beiden war es, welches wir be— reiſen wollten. Wie das Land beſchaffen ſei, wie es uns ergehen würde, ob wir auf Renntiere hoffen dürften oder den Weg zu Fuße zurücklegen müßten, wußte uns niemand zu ſagen. Bis zur Mündung der Schtſchutſchja reiſten wir noch in gewohnter Weiſe, bei jeder oſtjakiſchen Anſiedelung unſere gemieteten Ruderer ab— lohnend und neue annehmend; auf dem Schtſchutſchja ſelbſt traten unſere eigenen Leute in Thätigkeit. Acht Tage lang fuhren wir langſam dem Fluſſe entgegen, jeder ſeiner zahlloſen Schlangenwindungen getreulich folgend, immer in der überaus eintönigen, ja ertötend langweiligen Tundra dahin, 336 Eine Reiſe in Sibirien. bald dem Ural uns nähernd, bald wieder von ihm uns entfernend. Acht Tage lang ſahen wir keinen Menſchen, ſondern nur die Spuren desſelben, ſeine auf Schlitten gepackten für den Winter nötigen Schätze und ſeine Grabſtätten. Unwegſame Sümpfe zu beiden Seiten des Fluſſes hemmten jeden weiteren Ausflug, Milliarden blutgieriger Mücken quälten uns unab— läſſig. Am ſiebenten Tage der Fahrt ſahen wir einen Hund — für uns wie für unſere Leute ein Ereignis; am achten Tage trafen wir auf einen bewohnten Tſchum und in ihm den einzigen Menſchen, welcher uns über das vor uns liegende Land Auskunft geben konnte. Ihn nahmen wir als Führer mit, und mit ihm traten wir drei Tage ſpäter eine Wanderung an, welche ebenſo beſchwerlich als gefährlich werden ſollte. Neun volle Tagereiſen von uns entfernt, auf dem Weideplatze Saddabei im Ural, ſollten ſich Renntiere befinden; an der Schtſchutſchja war zur Zeit kein einziges aufzutreiben. Es blieb uns daher nichts anderes übrig, als die Reiſe zu Fuße zu beginnen und alle Beſchwerlichkeiten und Unannehmlichkeiten einer ſolchen Wanderung durch ein unwegſames, nahrungsloſes, mückenerfülltes, menſchenfeindliches und, was das Schlimmſte, unbekanntes Gebiet auf uns zu nehmen. Umſichtig, erſt nach langen Beratungen unter uns und mit den Ein— geborenen wurden die Vorbereitungen bewerkſtelligt, ſorgfältig die Laſten abgewogen, welche jeder auf ſeinen Rücken laden ſollte; denn drohend ſtand das Geſpenſt des Hungers vor uns. Wohl wußten wir, daß nur der Wanderhirt, nicht aber der Jäger imſtande iſt, ſein Leben zu friſten in der Tundra, wohl kannten wir erfahrungsmäßig alle die Mühſeligkeiten, welche der pfadloſe Weg, die Qualen, welche das Heer der Mücken bereitet, die Wetterwendigkeit des Himmels, die Unwirtlichkeit der Tundra über— haupt, und trafen danach unſere, Vorkehrungen: gegen das aber, was wir nicht kannten, nicht ahnen konnten, und was uns dennoch traf, uns vorzuſehen, ihm vorzubeugen, war unmöglich. Umkehren wollten wir nicht: hätten wir vorausſehen können, was uns begegnen ſollte, wir hätten es doch wohl gethan. In kurze Pelze gehüllt, ſchwer belaſtet, außer dem durch gewichtigen Schießbedarf beſchwerten Ruckſack noch Gewehr und Reiſetäſchchen über der Schulter brachen wir am 29. Juli auf, unſer Boot der Obhut zweier Leute überlaſſend. Mühſelig, keuchend unter der unſerem Rücken aufge— bürdeten Laſt, ununterbrochen Tag und Nacht gequält von den Mücken, ſchritten wir durch die Tundra nach ſtündiger, halbſtündiger Wanderung, zuletzt nach je tauſend Schritten Ruhe heiſchend und wegen der Mücken Eine Reiſe in Sibirien. 337 kaum ſie findend. Zahlloſe Hügel überftiegen, ebenſo viele Thäler über: ſchritten, kaum weniger Sümpfe, Moräſte und Brüche durchwateten wir; an Hunderten namenloſer Seen gingen wir vorüber; Brüche und Flüßchen mußten wir kreuzen. Unfreundlicher, als es geſchah, konnte die Tundra uns nicht wohl empfangen. Feinen Regen peitſchte der Wind uns ins Geſicht; in den durchnäßten Pelzen legten wir uns auf den regengetränkten Boden nieder, ohne Obdach über, ohne wärmendes Feuer neben uns, auch jetzt noch immer unabläſſig gequält von den Mücken. Doch die Sonne trocknete die Kleider wieder, brachte neuen Mut und neue Kraft: es ging vorwärts. Eine freudige Nachricht ſtärkt mehr als Sonne und Schlaf. Unſere Leute entdecken zwei Tſchum; unſere Ferngläſer zeigen uns deutlich ſie umgebende Rentiere. Beglückt im innerſten Herzen ſehen wir uns bereits behaglich hingeſtreckt auf das einzige und allein hier mögliche Gefährt, den Schlitten, ſehen wir vor uns das dieſen Schlitten raſch bewegende abſonderliche Hirſchgeſpann. Wir erreichen die Tſchum, die Rentiere: ein grauenvoller Anblick verletzt das Auge. Unter der geweihten Herde wütet der Milzbrand, die fürchterlichſte, auch für Menſchen gefährlichſte aller Viehſeuchen, der unerbittlichſte, ohne Wahl und ohne Gnade vernichtende Todesengel, deſſen verderbenbringendem Würgen der Menſch ohnmächtig gegenüberſteht, welcher hierzulande Völkerſchaften verarmen macht und unter den Menſchen ebenſo unrettbar Opfer fordert wie unter den Tieren. Sechsundſiebzig tote Rentiere zähle ich in unmittelbarer Nähe des Tſchum; wohin das Auge ſich wendet, trifft es auf Leichen, auf gefallene, in den letzten Zuckungen liegende Hirſche, Tiere und Kälber. Andere kommen, den Tod im Herzen, zu den bereits zur Abfahrt gerüſteten Schlitten herbeigelaufen, als hofften ſie in der Nähe der Menſchen Hilfe, Rettung zu finden, laſſen ſich von hier nicht vertreiben, bleiben mit glotzenden Augen und übereinandergekreuzten Vorderläufen eine, zwei Minuten lang ſtehen, wanken hin und her, ſtöhnen und fallen um; weißer, blaſiger Schleim tritt ihnen vor Maul und Naſe — noch einige Zuckungen, und ein Leichnam mehr liegt am Boden. Säugende Muttertiere mit ihren Kälbern trennen ſich von der Herde; die Mütter verenden unter gleichen Erſcheinungen, die Kälber betrachten neugierig und verwundert die ab— ſonderlich ſich gebärdenden Mütter, oder äſen ſich unbeſorgt neben dem Sterbelager ihrer Erzeugerinnen, kehren dann zu ihnen zurück, finden anſtatt der liebevollen Ernährerin einen Leichnam, beſchnuppern dieſen, prallen erſchreckt zurück, eilen weg, irren blöckend umher, beriechen dieſes, Brehm, Vom Nordpol zum Aequator. 22 338 Eine Reiſe in Sibirien. nähern ſich jenem Alttiere, werden von allen vertrieben, blöken und ſuchen weiter, bis ſie finden, was ſie nicht geſucht: den Tod durch einen Pfeil— ſchuß von der Hand ihres Beſitzers, welcher wenigſtens ihr Fell zu retten ſucht. Der Tod hauſt unter den alten wie unter den jungen Rentieren mit gleicher Unerbittlichkeit: die ſtärkſten, ſtattlichſten Hirſche verfallen dem Würgengel ebenſo ſicher, wie die Sprößlinge ihres und des anderen Geſchlechtes. Zwiſchen den ſterbenden und verendeten Tieren aber wandeln und haſten die Menſchen, der Herdenbeſitzer Schungei und ſeine Angehörigen und Knechte, um in ſinnloſer Gier zu retten, was möglich. Obwohl nicht unkundig der furchtbaren Gefahr, welcher ſie ſich ausſetzen, wenn auch nur der geringſte Teil eines Bluttropfens, ein Stäubchen des blaſigen Schaumes mit ihrem Blute ſich vermiſcht, obſchon vertraut mit der That— ſache, daß bereits Hunderte ihres Volkes unter entſetzlichen Schmerzen der unheilvollen Seuche erlegen, arbeiten ſie doch mit allen Kräften, um die vergifteten Tiere zu entfellen. Ein Beilſchlag endet die Qualen der ſterbenden Hirſche, ein Pfeilſchuß das Leben der Kälber, und einige Minuten ſpäter liegt das Fell, welches noch nach Wochen anſteckend wirken kann, bei den übrigen, tauchen die blutigen Hände den vom Leibe der Kälber losgelöſten Biſſen in das in der Bruſthöhle des erlegten Tieres ſich ſammelnde Blut, um ihn roh zu verſchlingen. Schindersknechten gleichen die Männer, ſcheußlichen Hexen die Frauen, im Aaſe wühlenden, blutbeſchmierten, bluttriefenden Hyänen die einen wie die anderen; achtlos des über ihrem Haupte ſchwebenden, nicht an einem Roßhaare, ſondern an einer Spinnwebe aufgehängten, toddrohenden Schwertes zerren und wühlen ſie weiter, unterſtützt ſogar ſchon durch ihre Kinder, vom halb— erwachſenen Knaben an bis zu dem von Blut triefenden, kaum dem Säuglingsalter entwachſenen Mädchen herab. Die Tſchum werden verrückt und auf einem benachbarten Hügel wieder aufgeſchlagen; die unglückliche Herde, welche, zweitauſend Köpfe ſtark, vom Ural aufgebrochen und auf zweihundert zuſammengeſchmolzen iſt, welche die ganze von ihr beſchrittene Straße durch aus ihrer Mitte gefallene Tiere bezeichnet hatte, ſammelt ſich von neuem um die Tſchum; am anderen Morgen aber liegen wiederum vierzig Leichname in der Nähe des nächtlichen Ruheplatzes. Wir kannten die Gefahr, welche das milzbrandige Tier auch dem Menſchen bereiten kann; aber wir kannten ſie doch nicht in ihrem ganzen Umfange. Deshalb kauften wir neue, dem Anſcheine nach noch geſunde S Rentierſchlitten. 3 1 N en Eine Reiſe in Sibirien. 339 Rentiere, beſpannten mit ihnen drei Schlitten, beluden dieſelben mit unſerem Gepäck und zogen, nebenher ſchreitend, erleichtert weiter. Ren— tierfleiſch zu genießen, wie wir gehofft, worauf wir gerechnet, verbot die furchtbare Seuche; ſorgender und ängſtlicher ſpähten wir daher von jetzt an in die Runde, um Kleinwild ausfindig zu machen, ein Moraſthuhn, eine Doppelſchnepfe, einen Goldregenpfeifer, eine Ente zu erlegen. Unſere geringen Vorräte jo viel als möglich ſchonend, hockten wir, falls die ge— ringſte aller Dianen dienenden Nymphen uns hold geweſen war, um das mühſam genährte Feuer, je männiglich ein ſo unbedeutendes Gewild am Spieße bratend, ſo gut es eben gehen wollte. Wirklich zu ſättigen aber vermochten wir uns nicht mehr. Wir erreichten, nachdem wir die von Schungei gezogene Todesſtraße gekreuzt, das erſte Ziel, die Bodarata; wir hatten das unnennbare Glück, noch einmal Tſchum aufzufinden, noch einmal auf Rentiere zu ſtoßen; wir zogen mit deren Hilfe dem Meere zu und mußten umkehren, ohne unſeren Fuß auf den Strand geſetzt zu haben. Vor uns lag nicht allein ein unwegſamer Moraſt, ſondern wiederum ein unabſehbarer Haufen von Rentierleichen; wir ſtanden noch einmal vor der Straße, auf welcher Schungei heimwärts geflüchtet war, und unſer neuer Bekannter, der Hirt Sanda, wagte nicht, dieſe Straße zu kreuzen. Denn auch unter ſeiner Herde mähete der Schnitter Tod; auch ſein und, noch ungleich mehr, ſeines Nachbarhirten Haus hatte das Verderben heimgeſucht. Der Mann, welcher bisher mit ihm gewandert, geweidet, hatte von einem milzkranken feiſten Rentierhirſche gegeſſen, welchen er kurz vor dem Tode noch raſch geſchlachtet, und er hatte dieſen Frevel mit dem eigenen und dem Leben ſeiner Familienglieder zahlen müſſen. Drei— mal hatte Hirt Sanda ſeinen Tſchum verrückt und dreimal je ein Grab zwiſchen den Leichen der gefallenen Rentiere gegraben. Zuerſt waren zwei Kinder, dann der Knecht des leichtſinnigen Mannes, am dritten Tage er ſelbſt geſtorben und begraben worden. Ein Kind war noch krank und ſtöhnte unter entſetzlichen Schmerzen, als wir die Reiſe nach dem Meere antraten; ſein Stöhnen war verſtummt, als wir zurückkehrten zum Tſchum; denn das vierte Grab hatte dazwiſchen das fünfte Opfer aufgenommen. Und noch ſollte es nicht das letzte ſein. Einer unſerer Leute, der Oſtjake Hadt, ein williger, ewig heiterer, uns lieb und wert gewordener Mann, klagte und wand ſich ſeit vorgeſtern unter entſetzlichen, mehr und mehr ſich ſteigernden Schmerzen; klagte namentlich auch über zunehmendes Kältegefühl. Wir hatten ihn auf einen 340 Eine Reife in Sibirien. Rentierſchlitten gelagert, als wir dem Tſchum des Hirten zugewandert waren; wir ſchafften ihn in derſelben Weiſe fort, als der Tſchum zum fünftenmal verrückt wurde. Unter und zwiſchen uns lag er klagend und wimmernd am Feuer. Von Zeit zu Zeit erhob er ſich, entblößte ſeinen Leib und ließ die Wärme des Feuers dagegen ſtrahlen. Ebenſo brachte er ſeine erſtarrenden Füße gegen die Flammen; daß dieſe die Sohlen ver— ſengten, ſchien er nicht zu achten. Endlich ſchliefen wir ein, er wohl auch; als wir jedoch am andern Morgen erwachten, war ſeine Ruheſtätte leer. Draußen aber, vor dem Tſchum, an einen Schlitten gelehnt, das Antlitz der Sonne zugekehrt, deren wärmende Strahlen er geſucht, ſaß er ruhig und ſtill, ohne zu ſtöhnen oder zu ächzen. Hadt war tot. Wir begruben ihn wenige Stunden ſpäter nach Sitte und Gebrauch ſeines Volkes. Er war ein ehrlicher „Heide“ geweſen und ſollte deshalb auch nach heidniſcher Weiſe beſtattet werden. Unſere „rechtgläubigen“ Be— gleiter weigerten ſich, dies zu thun; unſere „heidniſchen“ Gefährten ver— richteten daher das zwar nicht chriſtliche, aber doch menſchwürdige Werk nun mit unſerer Hilfe. Im fünften Grabe lag das ſechſte Opfer. Sollte das Grab das letzte geweſen ſein? Unwillkürlich legte ich mir dieſe Frage vor; denn unheimlich wurde es mir und wohl uns allen in dieſem Geleite des Todes. Zu unſerem Glücke war Hadts Grab das letzte auf dieſem Wege. Ernſt, ſehr ernſt geſtimmt, bedrängt noch durch den immer fühl— barer werdenden Mangel zogen wir weiter, der Schtſchutſchja wiederum entgegen. Sanda ernährte notdürftig unſere Leute, unſere Jagdkunſt in kärglicher Weiſe uns ſelber. Als es uns gelang, an einem einzigen Vor— mittage eine Familie von Gänſen zu erbeuten und dazu noch Hühner und Schnepfen und Regenpfeifer zu erlegen, feierten wir ein Feſt; denn wir waren einmal imſtande zu eſſen, ohne mit den Biſſen zu kargen. Ohne die Hilfe unſeres Wirtes aber würde es uns doch kaum möglich geweſen ſein, uns durchzuhelfen. Wir erreichten die Schtſchutſchja, wir langten, von allen Vorräten faſt entblößt, wiederum auf unſerem Boote an und ſchwelgten hier, nach vierzehn Tagen zum erſtenmal wieder in zwar ſehr beſchwerlichen, für uns jedoch unendlichen Genüſſen. Von der Tundra nahmen wir Abſchied für immer. Ein Schamane freilich, welchen wir weiter oben am Ob mit Fiſchen beſchäftigt fanden, und baten, uns eine Probe ſeiner Kunſt und Weisheit abzulegen, verkündete uns, nachdem er durch den dumpfen Klang ſeiner Eine Reife in Sibirien. 341 Trommel Jam aul, den ihm befreundeten Boten der Götter, herbei- gerufen, als Botſchaft der Himmliſchen, daß wir ſchon im nächſten Jahre wiederum in das unwirtliche Land, welches wir ſoeben verlaſſen, zurück— kehren, dann aber dahin uns wenden würden, wo Schtſchutſchja, Bodarata und Uſſa ihren Lauf beginnen. Denn zwei Kaiſer würden uns belohnen, unſere „Aelteſten“ mit unſeren Schriften zufrieden ſein und uns von neuem ausſenden. Auf dieſer Reiſe aber werde fernerhin kein weiterer Unfall uns treffen. So habe ſich der Götterbote, nur ihm vernehmbar, geäußert. Der letzte Teil ſeiner Weisſagung iſt eingetroffen. Langſam zwar, aber ohne Unfall oder ſtörende Zwiſchenfälle fuhren wir dreiundzwanzig Tage lang Ob aufwärts, drei Tage mit einem nach langem Harren glücklich erreichten Dampfſchiffe den Wellen des Irtiſch entgegen. Ohne Unfall, wenn auch nicht ohne Hemmniſſe, überſchritten wir den Ural; raſch glitten wir im bequemen Dampfer die Kama hinab; langſamer trug uns das Schiff die Wolga hinauf. In Niſhnij Nowgorod, in Moskau, in Peters— burg wurden wir freundlich empfangen wie das erſte Mal, in der Heimat freudig begrüßt. Unſere „Aelteſten“ ſcheinen auch mit unſeren Schriften zufrieden zu ſein: — zur Tundra zurück aber ziehen wir, ziehe ich wenig— ſtens, nicht wieder. Die heioͤniſchen Oftjaken. eicht und mühelos iſt gegenwärtig, und wohl noch auf Jahrhunderte hinaus, der Kampf um das Daſein, welches der Menſch in Sibirien zu beſtehen hat, leicht und mühelos namentlich in den von der Natur überreich begabten Gefilden im Süden des Landes, nicht allzu hart und ſchwer aber auch in jenen Gegenden, welche wir als eine eiſige Wüſte, als unwirtliche Einöde zu betrachten gewohnt ſind, als letztere ſogar dann noch zu erkennen wähnen, wenn wir, widerſtrebend reiſend, ſie durcheilen. Wohl tritt im hohen Norden Weſtſibiriens das Klima dem Menſchen rauh und ſtreng entgegen; wohl weigert ſich hier die in geringer Tiefe unter ihrer Oberfläche für ewig erſtarrte Erde nährende Frucht zu bringen, der Himmel, die Sonne, das jener anvertraute brotſpendende Korn zur Reife zu treiben; aber auch hier ſchüttet die Natur gütig ihr Füllhorn aus, und was das Land verſagt, gewährt das Waſſer. In unſeren Augen mag der in jenen gern von uns gemiedenen Breiten ſeit Jahrhunderten anſäſſige Menſch arm und elend erſcheinen: in That und Wahrheit iſt er weder das eine noch das andere. Auch er gewinnt ſich ſeine Bedürfniſſe; auch er umgibt ſein Daſein mit ihn befriedigenden Reizen, denn ſeine Heimat ſchenkt ihm mehr, als er zum Leben bedarf. Wohl kämpft auch er mit mehr oder minder Bewußtſein um „ein menſchenwürdiges Daſein“, nicht aber mit ausgeſprochenem oder verbiſſenem Groll gegen Glücklichere, denn er ſelbſt iſt glücklicher, als wir glauben, weil er beſcheidener, genügſamer, zufriedener iſt, als wir es ſind, weil er das, was wir Leidenſchaft nennen, ſtreng genommen gar nicht kennt, weil er die Freuden, welche ihm blühen, mit Kindesluſt hinnimmt und die Leiden, welche ihn heimſuchen, mit zwar vielleicht tief empfundenem, aber auch leicht vergeſſenem Kindesſchmerz erträgt. Auch an ſein Lager tritt die ſchwarze Sorge; er aber weiſt ſie Die heidniſchen Oſtjaken. 343 von ſich, ſobald er nur das Dämmerlicht der Freude wieder zu gewahren meint, und er vergißt der Heimſuchung, ſobald das ſonnige Glück ihm wieder lächelt. Auch er rühmt ſich des Reichtums und klagt über die Armut; aber er ſieht ſeinen Reichtum ſchwinden, ohne zu verzweifeln, und ſeine Armut in Wohlſtand ſich wandeln, ohne die Beſinnung zu verlieren. Er iſt, obſchon erwachſen, ein Kind in ſeinem Denken und Fühlen, Thun und Handeln: er iſt glücklicher als wir. Der Oſtjake, mit welchem wir am unteren Ob vorzugsweiſe verkehrt haben, mit welchem wir am häufigſten zuſammengekommen ſind und welchen wir beſſer kennen gelernt zu haben glauben, gehört dem finniſchen Stamme an und teilt mit einem anderen Zweige dieſes Stammes, dem der Samo— jeden, denſelben Glauben, mit faſt allen Finnen im engeren Sinne, alſo auch mit dem Lappen, annähernd dieſelben Sitten und Gewohnheiten, dieſelbe Lebensart, dieſelbe Lebensweiſe: er iſt Rentierhirt und Fiſcher, Jäger und Vogelſteller wie der Samojede, wie der Lappe. Abgeſehen von ſeinem Glauben, vielleicht auch ſeiner Sprache, ähnelt er dieſem wohl noch mehr als jenem; denn er iſt anſäſſiger Siedler und Wanderhirt, während der Samojede, ſelbſt wenn er Fiſchfang treibt, mindeſtens in dem von uns bereiſten Teile Sibiriens, nur ausnahmsweiſe ſeine bewegliche Hütte mit dem feſtſtehenden Blockhauſe vertauſcht. Es mag ſein, daß der Stamm der Oſtjaken in früheren Zeiten zahl— reicher geweſen iſt als gegenwärtig; ein Volk nach unſeren Begriffen aber hat er wohl nie gebildet. In einzelnen Teilen des von ihm beſiedelten oder wenigſtens von ihm durchwanderten Gebietes ſoll die Einwohnerzahl ſtetig abnehmen, in anderen dagegen in geringem Grade ſich vermehren; von erheblichem Belang ſcheint weder die Zu- noch die Abnahme zu ſein. Man rechnet hoch, wenn man den Geſamtbeſtand unſerer Leute auf fünfzigtauſend Köpfe anſchlägt: in dem ganzen, großen Amtsgebiete von Obdorsk, welches ſich vom 65. Grade nördlicher Breite bis zum Nordende der Samojedenhalbinſel und vom Ural bis zum oberen Chaßfluſſe erſtreckt, leben, uns gewordenen amtlichen Angaben zufolge, gegenwärtig nicht mehr als fünftauſenddreihundertzweiundachtzig männliche Oſtjaken, unter denen es nicht mehr als eintauſenddreihundertſechsundſiebzig arbeitsfähige oder, was dasſelbe, ſteuerpflichtige Männer gibt. Nehmen wir an, daß die An— zahl der Frauen und Mädchen ebenſo groß iſt, ſo beziffert ſich die volle Anzahl noch immer nicht auf elftauſend, und die obige Schätzung erſcheint deshalb gewiß nicht zu niedrig, eher zu hoch gegriffen, mag man auch immerhin feſthalten, daß ſich das Wohngebiet unſerer Leute am Ob hinauf 344 Die heidniſchen Oſtjaken. bis in die Gegend von Surgut, am Irtyſch hinauf bis in die Nähe von Tobolsk erſtreckt. Alle am Irtyſch und oberen, beziehentlich mittleren Ob hauſenden Oſtjaken. Oſtjaken wohnen in feſtſtehenden, ſehr einfachen, aber den ruſſiſchen ähn⸗ lichen Blockhäuſern, und nur hier und da, immer ſehr einzeln, trifft man zwiſchen dieſen bereits eine höhere Geſittungsſtufe anzeigenden feſtſtehenden Wohnungen auch einmal auf ein Birkenrindenzelt, Tſchum genannt, wo— gegen dieſes am unteren Ob, insbeſondere zwiſchen Obdorsk und der Die heidniſchen Oſtjaken. . 345 Mündung des Stromes, unbedingt vorherrſcht und, wie erklärlich, die alleinige Behauſung des wandernden Rentierhirten iſt. Faſt, wenn auch nicht vollſtändig, im Einklange damit ſteht, daß die in feſtſtehenden Dörfern lebenden Oſtjaken der rechtgläubigen Kirche angehören, beziehentlich, da ſie ſich haben taufen laſſen, derſelben zugezählt werden, wogegen die noch im Tſchum hauſenden ihrem uralten, keineswegs dichteriſchen Aufſchwungs und noch weniger ſittlichen Gehaltes entbehrenden, von den ruſſiſchen Prieſtern und ihren Anhängern und Nachbetern als blindes Heidentum bezeichneten Glauben noch gegenwärtig treu geblieben ſind und dieſen Glauben mit weit mehr Innerlichkeit und Ueberzeugung bekennen, als jene ihr ſogenanntes Chriſtentum, welches, vorurteilsfrei aufgefaßt, ſo wie es ſich bemerklich macht, weit richtiger als hirnloſer Götzendienſt, denn als veredelter Erſatz jenes aus Kindesgemüt entſprungenen und in kindlicher Weiſe ſich äußernden Glaubens erſcheint. Mit der Annahme des Blockhauſes und des Chriſten— tums geht ebenſo Hand in Hand, daß die im mittleren Ob- und unteren Irtyſchgebiete hauſenden Oſtjaken nicht allein ihre Kleidung bis zu einem gewiſſen Grade mit der des benachbarten ruſſiſchen Fiſchers vertauſcht, ſondern im Umgange mit dieſem auch viel von ſeinen Sitten und Ge— wohnheiten angenommen, von den ihrigen dagegen verloren, zum Teil auch die Reinheit ihres Stammes eingebüßt und eigentlich nichts weiter behalten haben, als die unveräußerlichen Merkmale, die Sprache und alle durch ſie bewahrten Eigentümlichkeiten, ſowie vielleicht noch die dem ganzen Volke gemeinſame Geſchicklichkeit, Anſtelligkeit und — harmloſe Gutmütig— keit. Aber in keinem Falle darf man ſich zu der Behauptung verſteigen, daß mit der höheren Geſittung auch die Sittlichkeit, mit dem Chriſtentum auch die Reinheit der Sitten zugenommen habe; und in jedem Falle be— friedigt es mehr, die heidniſchen Oſtjaken kennen zu lernen und mit einem noch urſprünglichen Volke in nähere Berührung zu treten, als mit dem— jenigen Teile desſelben ſich zu beſchäftigen, welches nur noch als Schatten erſcheinen kann von dem, was jenes war und heutigestags noch iſt. Ich beſchränke meine Mitteilungen daher auf die Oſtjaken, welche noch gegenwärtig gläubig aufblicken zur Gottheit Ohrt, welche noch heutiges— tags in Vielweiberei leben, wenn ihr Vermögen dies geſtattet, noch heutigestags ihre Toten genau in derſelben Weiſe begraben, wie ihre Väter dies gethan; denn meine Darſtellung kann nichts verlieren, wenn ſie jene ausläßt, vielmehr nur an Einheitlichkeit gewinnen, wenn ſie aus— ſchließlich mit dieſen ſich beſchäftigt. Von einem oſtjakiſchen Stammesgepräge iſt ſchwer zu reden, dasſelbe 346 Die heidniſchen Oſtjaken. zu beſchreiben noch ſchwieriger. Ich habe wiederholt verſucht, dies zu thun, immer aber einſehen müſſen, wie mißlich es iſt, ein Geſicht mit Worten ſchildern und vollends die für das Auge unverkennbaren Merk— male eines Stammes mit Hilfe der Feder ausdrücken zu wollen. Die Leute ſind hinſichtlich ihrer Geſichtsbildung, der Färbung ihrer Haut, ihres Haares und ihrer Augen ungemein verſchieden; ihre Raſſenangehörigkeit, alſo ihr Mongolentum, iſt keineswegs immer ſo leicht wahrzunehmen, vielmehr oft ſehr verſteckt; und wenn man wirklich einmal glaubt, beſtimmte, durchſchnittlich gültige Merkmale feſtgeſtellt zu haben, wird man durch eine Anzahl anderer Angehörigen des Stammes belehrt, daß denſelben keines— falls eine unbedingte, vielmehr höchſtens eine beziehentliche Gültigkeit zu— geſprochen werden darf. Verſuche ich, alles zuſammenzufaſſen, was ich den von uns beobachteten Oſtjaken abgeſehen und aufgezeichnet, ſo vermag ich nur folgendes zu ſagen: Die Oſtjaken ſind mittelgroß, durchſchnittlich ſchlank gebaut, ihre Hände, Füße und Glieder überhaupt verhältnismäßig, erſtere vielleicht eher groß als klein, die Waden faſt immer dünn; ihre Geſichtsbildung ſteht gewiſſermaßen zwiſchen der anderer Mongolen und der nordamerikaniſcher Indianer in der Mitte: denn die braunen Augen ſind zwar klein, allein durchaus nicht auffallend, wenn auch ſtets merklich ſchief geſchlitzt, die Backenknochen nicht weſentlich vorgedrängt, die unteren Teile des Geſichtes gegen das ſtets ſchmale und ſpitzige Kinn zu aber ſo zuſammengedrückt, daß das ganze Geſicht winkelig erſcheint und, da auch die Lippen ſcharf geſchnitten ſind, bei vielen, zumal bei Kindern oder Frauen, zu einem wahren Katzengeſichte wird, obgleich die Naſe im ganzen wenig, bei vielen faſt gar nicht abgeplattet iſt. Das reiche, ſchlichte, aber nicht ſtraffe Haar iſt gewöhnlich ſchwarz oder tiefbraun, ſeltener lichtbraun und noch ſeltener blond gefärbt, der Bart ſchwach, jedoch nur infolge der Gewohnheit junger Stutzer, denſelben ſich auszurupfen; die Augenbrauen ſtark, oft buſchig. Die Hautfarbe endlich ſteht an Weiße der eines viel in friſcher Luft, Wind und Wetter ſich bewegenden Europäers kaum nach, und der gelbliche Schein, welchen ſie in der Regel zeigt, kann ſich faſt gänzlich verwiſchen. Wenn das oben Geſagte als für die meiſten Oſtjaken gültig bezeichnet werden darf, ſoll damit doch nicht ausgedrückt ſein, daß man bei genauer Betrachtung unſerer Leute über ihre Raſſenangehörigkeit jemals in Zweifel bleiben könne. Einzelne von ihnen ſtellen ſich ſelbſt dem flüchtigſten Blicke als vollendete Mongolen dar: ſie ſind kleinwüchſig, ihre braunen lebhaften Augen ſchief geſtellt und lang geſchlitzt, die Backenknochen ſtark hervor— Die heidniſchen Oſtjaken. 347 gedrängt, die ſtraffen Haare tief ſchwarz und alle regelmäßig entblößten Teile ihres Leibes entſchieden kupferrot oder lederbraun gefärbt. Ueber die Sprache der Oſtjaken vermag ich kein Urteil zu fällen, kann daher nur ſagen, daß ſie in zwei, auch dem Ohre des Fremden deutlich erkennbare Mundarten zerfällt, von denen die am mittleren Ob herrſchende ſehr wohllautend, wenn auch etwas gedehnt und ſingend klingt, wogegen die am unteren Ob gebräuchliche, wohl infolge der hier allgemein üblichen Gewohnheit aller Oſtjaken, ſich mit Vorliebe des weicheren Sa— mojediſch zu bedienen, in raſcherem Fluſſe, obwohl noch immer mit deut— licher Abgrenzung der Silben geſprochen wird. Während die chriſtlichen Oſtjaken, wie bereits bemerkt, die Tracht der Ruſſen nachahmen und die Frauen nur dadurch von denen der ruſſi— ſchen Fiſcher abweichen, daß ſie ihre Kleider an vielen Stellen mit bunten Glasperlen verzieren, auch beſondere, der Stola eines katholiſchen Geiſt— lichen ähnliche, über und über mit ſolchen Perlen geſchmückte ſchleifenartige Bänder tragen, verwenden die heidniſchen Stammesangehörigen unſeres Völkchens ausſchließlich die Decke und die Haut des Rentieres zu ihrer Kleidung und gebrauchen Felle anderer Tiere nur ausnahmsweiſe zum beſonderen Schmucke der Rentier- oder, wie die Ruſſen ſagen, der Hirſch— pelze. Die Kleidung beſteht aus einem bis über die Kniee herabreichenden, bei den Männern nur auf der Bruſt, bei den Frauen auf der ganzen Vorderſeite geſchlitzten und im letzteren Falle durch Lederriemen zuſammen— gehaltenen, eng anliegenden Pelze mit gleich anhängender oder doch dazu— gehöriger Kapuze und angenähten Fauſthandſchuhen, Lederhoſen, welche bis unter das Knie herabreichen, und Lederſtrümpfen, welche oberhalb des Knies befeſtigt werden. Der Pelz iſt bei Frauen vorn längs des Schlitzes mit Säumen, welche aus verſchiedenfarbigen, kleinen viereckigen, kurz— haarigen Pelzſtückchen mühſam zuſammengeſetzt wurden, unten auch regel— mäßig mit einem breiten Beſatze aus Hundepelz, bei Männern mindeſtens mit letzterem verziert, auch ſtets mit der Kapuze verſehen; die Lederſtrümpfe beſtehen, wenn ſie hübſch ſein ſollen, aus ſehr vielen verſchiedenfarbigen, geſchmackvoll zuſammengeſetzten Streifen aus dem Felle der Läufe des Rentieres und einem plumpen, über den Fußteil halb geſchnürten, halb an ihm feſtgenähten Schuh. Ein breiter, meiſt mit metallenen Knöpfen beſetzter Ledergurt, an welchem das Meſſer hängt, ſchnürt den Pelz des Mannes zuſammen; ein buntes, mit langen Franſen beſetztes Kopftuch, welches im Sommer anſtatt der Kapuze getragen wird, fällt über den Pelz der Frau herab. Ein Hemd kennt man nicht; dagegen trägt die Frau 348 Die heidniſchen Oſtjaken. einen Gürtel, welchen wiederum wir nicht kennen. Um ſich zu ſchmücken, ſteckt die Oſtjakin ſo viele einfache Meſſing-, im allergünſtigſten Falle Silber— ringe an alle Handfinger, als die inneren Glieder derſelben zu tragen vermögen, panzert daher förmlich dieſen Teil ihrer Hand, hängt ſich außer— dem eine mehr oder minder reiche Kette aus Glasperlen um den Hals und ſehr ſchwere, aus Glasperlen, Drahtwindungen und Metallknöpfen zuſammengeſetzte quaſtenartige Ohrgehänge mehr über als in die Ohren, und flicht endlich ihr Haar in zwei bis auf die Mitte der Wade herab— fallende, aus Wollenſchnüren ſtrickartig gedrehte Zopfhülſen ein. Dasſelbe thut auch der oſtjakiſche Stutzer, zum Beweiſe, daß alle Gecken der Erde ſich gleichen, wogegen der Mann für gewöhnlich ſein Haar lang, aber loſe trägt. Einfacher noch als die Kleidung, aber ebenſo zweckmäßig wie die zwar wenig kleidſame, aber für den Sommer wie für den Winter gleich geeignete Tracht iſt die Wohnung des Oſtjaken, der Tſchum, die kegel— förmige, mit Birkenrinde umkleidete bewegliche Hütte des Fiſchers wie des Wanderhirten. Zwanzig bis dreißig dünne, geglättete, oben und unten zugeſpitzte, vier bis ſechs Meter lange Stangen, von denen zwei gegen das obere Ende hin mittels eines kurzen Strickes vereinigt werden und allen übrigen als Stützpunkt dienen, bilden, nach dem Augenmaße, aber ſehr genau im Kreiſe aufgeſtellt, das Gerüſt, fünf bis acht nach dem Mantel des Kegels geſchnittene, aus kleinen Stücken vorher gekochter und dadurch geſchmeidig gemachter Birkenrinde zuſammengeſetzte Tafeln die äußere Um— kleidung des Gerüſtes, eine vom Winde abgekehrte, mit einer anderen Rindentafel verſchließbare Oeffnung die Thüre der Hütte, deren Kegelſpitze ſtets unbedeckt bleibt, um dem Rauche freien Abzug zu geſtatten. Von der Thüre an in gerader Richtung zur entgegengeſetzten Seite des Tſchum verläuft ein Gang, in deſſen Mitte das Feuer angezündet wird; über ihm befindet ſich, aus zwei wagerecht an die äußeren angebundenen Stangen hergeſtellt, ein Trockengerüſt, an welchem auch der Kochkeſſel aufgehängt wird. Rechts und links von dem Gange decken Bretter oder wenigſtens Matten den Boden und dienen als Laufſtege, ſowie als Abſchluß der Lager— ſtätten, deren Kopfende gegen die Wand ſich richtet. Aus Riedgrasbündeln gefertigte Matten, langhaarige, weiche Rentierfelle und mit Rentier— haaren oder getrocknetem Waſſermooſe geſtopfte Kiſſen ſtellen die Lager— ſtätten, Pelze die Decken her; ein Mückenzelt, unter welches im Sommer die ganze Familie kriecht, ſchützt die Schlafenden wirkſamer, als das im Eingange des Tſchum beſtändig brennende, mit Weidenmulm unterhaltene Die heidniſchen Oſtjaken. 349 Schmauchfeuer gegen die geflügelten Quälgeiſter. Ein Koch-, ein Thee— und ein Trinkkeſſel, Mulden, Lederſäcke zur Aufbewahrung des Mehles und hartgebackenen Schwarzbrotes, kleine verſchließbare Truhen zur Unter— bringung der wertvollſten Habſeligkeiten, insbeſondere auch des Thee— geſchirrs, ein Beil, ein Bohrer, Lederſchaber, ein muldenartiges Nähkäſtchen, Bogen, Armbruſt oder Gewehr, Schneeſchuhe, ſowie verſchiedene Fang— werkzeuge vollenden den Hausrat; die Stelle des in den Hütten der chriſt— lichen Oſtjaken ſelten fehlenden Heiligenbildes vertritt ein Hausgötze. Gegen den Winter, ſeine Kälte und ſeine Stürme ſucht man den Tſchum durch eine außen übergebreitete, aus dem Leder abgetragener Pelze zuſammengenähte Decke, oder, und beſſer, dadurch zu ſchützen, daß man einen zweiten Mantel aus Birkenrindentafeln über den erſten breitet. Iſt der Tſchumbeſitzer Fiſcher, ſo ſieht man außen vor dem Tſchum Trockengerüſte zum Aufhängen der Netze und ſolche zum Dörren der Fiſche, ſehr ſauber gearbeitete, ungemein leichte und kunſtvolle Reuſen, mehrere unübertreffliche kleine Boote und ſonſtige Fiſchereigeräte; iſt er auch Jäger, allerlei Fangwerkzeuge, Stellbogen und als Selbſtſchüſſe wirkende Arm— brüſte z. B.; iſt der Tſchumwirt Rentierhirt, mehrere ſorgſam gearbeitete Schlitten nebſt dazu gehörigem Geſchirr und ein auch für ihn unentbehr— liches Boot. Jeder Oſtjake iſt des Fiſchfangs kundig, faſt jeder auch Jäger oder Fallenſteller, nicht jeder aber Wanderhirt. Rentiere beſitzen, bedeutet unter unſerem Völkchen ebenſoviel als wohlhabend, viele Rentiere ſein eigen nennen, nicht weniger als reich ſein; einzig und allein von der Fiſcherei leben zu müſſen, das Gegenteil. Pferde und Rinder, obſchon in ſehr ge— ringer Anzahl, ſieht man zwar auch in einzelnen oſtjakiſchen Niederlaſſungen, aber nur in denen des mittleren Stromgebietes, Schafe und vielleicht ſogar eine Katze werden hier ebenfalls dann und wann gehalten: die eigent— lichen Haustiere der Oſtjaken aber ſind Rentier und Hund. Ohne ſie, zumal ohne Rentiere, vermeint der wohlhabende Mann nicht leben zu können; und ſie allein ermöglichen ihm thatſächlich das, was er Freude des Daſeins nennt. Wie ſich der Beduine, der Wanderhirt Innerafrikas, erhaben dünkt über den Stammesgenoſſen, welcher das Feld bebaut, wie der Kirgiſe faſt verachtend auf den herabblickt, welcher der Scholle zu ent— ringen ſtrebt, was ſie gewähren kann: ſo greift auch der Rentierbeſitzer, ſelbſt der Rentierhirt nur dann zu Netz und Angel, wenn er für ſeinen eigenen Bedarf Fiſche gewinnen will, wogegen der Fiſcher nicht allein für ſich ſelbſt, ſondern als Knecht auch für andere das Netz auswirft und die 350 Die heidniſchen Oſtjaken. Reuſe ſtellt. Nach der Anzahl der Rentiere ſchätzt der Oſtjake den Beſitz eines Menſchen, in den Rentieren ſieht er ſeinen Reichtum, ſein Glück. Daher verliert er nicht allein dieſes wie jenen, wenn die würgende Seuche ſeine Herden vernichtet, ſondern noch weit mehr: Anſehen und Rang, Selbſtbewußtſein und Zuverſicht, ja es iſt nicht zu viel geſagt, ſogar ſeinen Glauben, ſeine Sitten und Gewohnheiten, ſich ſelbſt. „Solange die Seuche unſere Herden noch nicht heimſuchte,“ ſagte uns der Gemeindevorſteher Mamru, der verſtändigſte Oſtjake, welchen wir kennen gelernt haben, „lebten wir freudig und waren wir reich; ſeitdem wir ſie verlieren, werden wir allgemach zu armen Fiſchern: wir können ohne Rentiere nicht beſtehen, ohne ſie nicht leben!“ Arme Oſtjaken! — mit dieſen Worten iſt euer Geſchick ausgeſprochen. Schon gegenwärtig ſind die einſt nach Hundert— tauſenden zählenden Rentiere auf fünfzigtauſend zuſammengeſchmolzen, und nach wie vor, alljährlich faſt, wütet der Würgengel unter den geweih— tragenden Herden. Was wird die Folge ſein? Die ruſſiſchen Popen werden mehr und mehr Chriſten, die ruſſiſchen Fiſcher mehr und mehr Knechte gewinnen: Oſtjaken aber wird es nur dem Namen nach noch geben, und dies in nicht allzuferner Zeit. Das nordaſiatiſche Rentier iſt ein von dem lappländiſchen weſentlich verſchiedenes Geſchöpf, weil nicht allein größer und ſtattlicher, ſondern ein Haustier im beſten Sinne des Wortes. Wir alle glaubten es zu kennen; denn wir hatten es in Lappland genau, ſorgfältig, mit dem Auge des Naturforſchers beobachtet: aber wir mußten uns in Sibirien eingeſtehen, daß wir dennoch bisher nur ein ſehr unvollſtändiges Bild des abſonder— lichſten aller Haustiere gewonnen hatten. Dort, in Lappland, hatten wir nur einen ewig widerſtrebenden, mit erſichtlichem Unwillen unter das Joch des kleinen Mannes ſich beugenden, ſcheinbar unabläſſig auf Wieder— erlangung der Freiheit bedachten Hirſch kennen gelernt; hier, in Sibirien, trat uns ein folgſames, williges, an dem Menſchen hängendes, ihm ver— trauendes Tier entgegen. Freilich weiß der Oſtjake auch vortrefflich mit ihm umzugehen. Er behandelt es zwar nicht mit der Zärtlichkeit, mit welcher er den Hund hätſchelt, aber im ganzen doch auch nicht unfreundlich und nur ſehr ausnahmsweiſe derb oder roh. Abweichend von dem Lappen verzichtet er darauf, es zu melken, ſpannt es dafür aber viel regelmäßiger ein als dieſer; denn es muß ihn und ſeine Familie, den Tſchum ſamt Zubehör und alle übrigen auf der Wanderung zu bewegenden Laſten im Sommer wie im Winter von einer Stelle zur anderen befördern, wogegen der Lappe nur im Winter es zum Ziehen benutzt. Von dem getöteten Die heidniſchen Oſtjaken. 351 Rentiere verwendet er wie der Lappe alle Teile, mit alleiniger Ausnahme der Gedärme und des Magens. Das Fleiſch dient ihm zur Nahrung, die Knochen und Geweihe liefern allerlei Gerätſchaften, die Sehnen Zwirn zum Nähen ſeiner Kleider, Haut und Decke dieſe ſelbſt, und was er ſonſt noch aus Leder fertigt; ſelbſt die Schalen finden Verwendung. Mit dem Rentiere fährt der Oſtjake, auf feinem leichten Schlitten ſitzend, im Sommer wie im Winter von Ort zu Ort, mit ihm zur Brautſchau, zu Feſtlichkeiten, zur Jagd, zum Begräbnis ſeiner Freunde; mit ihm führt er ſeine Toten zur letzten Ruheſtätte: das Rentier ſchlachtet und verſpeiſt er, um ſeine Gäſte und ſeine Toten zu ehren; in ſeine Felle hüllt er die letzteren wie ſich ſelbſt. Gewiß, er kann ohne das Rentier nicht beſtehen, nicht leben. Kaum minder wichtig als ſeine geweihtragende Herde iſt ihm ſein zweites Haustier, der Hund. Ihn beſitzt, ihn hegt und pflegt nicht allein der Wanderhirt, ſondern jeder Oſtjake überhaupt, der Fiſcher ebenſogut wie der Jäger, der ſeßhafte wie der umherſchweifende Mann. Der oſt— jakiſche Hund gehört zwei verſchiedenen, hauptſächlich jedoch nur hinſichtlich der Größe voneinander abweichenden Raſſen an. Ob unſere Liebhaber ihn ſchön finden würden, vermag ich nicht zu ſagen; ich meinesteils muß ihn ſchon aus dem Grunde für ſchön erklären, weil er, mit alleiniger Ausnahme der Färbung, noch alle Merkmale wilder Hunde beſitzt. Am meiſten kommt er mit unſerem Spitz überein, iſt aber gewöhnlich größer als dieſer, nicht ſelten ſo groß, daß er kaum oder nur wenig hinter dem Wolfe zurückſteht; auch ſein ſchlankerer Bau zeichnet ihn vor dem Spitze aus. Der Kopf iſt geſtreckt, die Schnauze mittellang, der Hals kurz, der Leib lang, die Gliederung ſchlank, der Schwanz mittellang, das erzfarbene Auge ſchief geſchlitzt, das kurze, ſpitzige Ohr aufrecht geſtellt, das Fell außerordentlich dicht und lang, aus entſchiedenem Woll- und Grannenhaar zuſammengeſetzt, die Färbung verſchieden, vorherrſchend reinweiß oder weiß mit tiefſchwarzer, gewöhnlich höchſt regelmäßiger Abzeichnung an beiden Seiten des Kopfes, einſchließlich der Ohren, auf dem Rücken und an den Seiten, ſonſt auch wolfs-, mäuſe- oder fahlgrau, gewäſſert und gewellt, nicht aber geſtreift. Die ſchwachbuſchige Fahne wird ſtets hängend oder geſtreckt, niemals gerollt getragen und die Aehnlichkeit mit einem Wild— hunde dadurch weſentlich vermehrt. Der ſtetige und innige Umgang mit dem Menſchen hat den Oſtjaken— hund zu einem überaus gutmütigen Tiere gewandelt. Er iſt wachſam, aber nicht biſſig, mutig, aber nicht ſtreitſüchtig, treu und eifrig, aber nicht fremdenfeindlich und hitzig; mißtrauiſch, wenn auch nicht gerade unfreund— 352 Die heidniſchen Oſtjaken. lich, dem Fremdling entgegeneilend, nähert er ſich ihm vertrauensvoll, ſobald er ihn mit ſeinem Herrn reden hört oder in den Tſchum eintreten ſieht. In keiner Weiſe verwöhnt, gibt er ſich, ſo gern er auch den Platz im Tſchum mit ſeinem Herrn oder ſeiner Herrin teilt, doch, ohne Miß— behagen zu bekunden, Wind und Wetter preis, wirft ſich ohne Bedenken in das kalte Waſſer des Stromes und ſchwimmt ſchnurgerade über breite Arme desſelben oder trabt, ohne zu klagen, beim Zuge durch die Tundra unter dem Schlitten dahin, an welchem er angefeſſelt wurde, und ob der Weg auch durch Sumpf oder Moraſt, durch Zwergbirkengeſtrüpp oder Waſſer führe. Klug und verſchmitzt, findig und erfinderiſch, geſchickt und behend, weiß er ſich ſein Leben behaglich zu geſtalten und in allen Lagen desſelben zu helfen. Im Tſchum liegt er entſagungsvoll neben ihm ſonſt erwünſchter Speiſe: außerhalb der Hütte ſeines Herrn wird er zum ge— näſchigen und dreiſten Diebe; im Zwergbirkengeſtrüpp der Tundra trabt er gleichmütig unter dem Schlitten einher: im glatten Moraſte oder auf ſonſtigem guten Wege aber ſtellt er ſich, alle viere voreinander, auf die Schlittenkufen und läßt ſich fahren; auf der Jagd begleitet er ſeinen Herrn als treuer und nützlicher Gehilfe: dem Fremdling aber ſchnappt er die von ihm erſpürte, von jenem erlegte Beute vor den Augen weg und ver— zehrt dieſelbe eilfertig mit einer ſo harmloſen Behaglichkeit, daß man dem Schelme doch nicht böſe ſein kann; beim Hirtendienſte erweiſt er ſich als aller Eigenheiten und Unarten des Rentiers kundig, auch willig: aber niemals iſt er ſo verläſſig wie unſer Schäferhund, geſtattet ſich im Gegen— teile eigenes Urteil und leiſtet ſeine Dienſte nur dann ohne Weigerung, wenn ihm dies unbedingt nötig zu ſein ſcheint. Der Hund des Oſtjaken wird als Spielkamerad, als Wächter des Tſchum, als Hüter der Herden und als Zugtier verwendet, jedoch auch nach ſeinem Tode noch benutzt. Vor den Schlitten ſpannt man ihn nur im Winter, legt ihm dann aber ein ſo ungeſchicktes Geſchirr auf, daß er, wenn er angeſtrengt wurde, ſchon nach wenig Jahren lendenlahm umher— hinkt. Nach dem Tode muß er ſein treffliches Fell hergeben; ja viele Oſtjaken halten offenbar nur deshalb eine ſo unverhältnismäßig große Anzahl von Hunden, um jederzeit im Winter über deren Felle verfügen zu können. Zu gleichem oder ähnlichem Zwecke dienen wohl auch verſchiedene dem Neſte entnommene Säugetiere und Vögel, insbeſondere Füchſe, Bären, Eulen, Krähen, Kraniche, Schwäne 2c., welche man im oder vor dem Tſchum des Fiſchers wie des Wanderhirten angekettet ſieht. Solange Die heidniſchen Oſtjaken. 353 ſolche Tiere jung ſind, behandelt man ſie freundlich und pflegt ſie ſorg— fältig; ſobald ſie erwachſen und gut von Fell oder Federn ſind, wirft man das Todeslos über ſie, verſpeiſt, was gegeſſen werden kann, und verwendet außerdem Fell und Federn, verwertet namentlich das erſtere zu oft erſtaunlich hohen Preiſen. Der Hund fügt ſich hier wie überall dem Willen des Menſchen; aber der Menſch muß ſich dem Bedürfniſſe des Rentieres fügen. Dieſe Bedürfniſſe, nicht der Wille oder die Laune des Hirten, beſtimmen das Wanderleben des umherſchweifenden Oſtjaken, ebenſo wie das Kommen und Gehen der Fiſche das Thun und Treiben des ſeßhaften Stammes— genoſſen mindeſtens weſentlich beeinfluſſen. Die Wanderungen der Ren— tierhirten und ihrer Herden geſchehen faſt aus derſelben Urſache und bewegen ſich in ähnlicher Richtung wie die des Kirgiſen, unterſcheiden ſich von letzteren aber hauptſächlich dadurch, daß ſie auch im Winter nicht unter— brochen, ja um dieſe Zeit eher geſteigert, d. h. unſteter und wechſelvoller werden. Mit Beginn der Schneeſchmelze zieht der oſtjakiſche Wanderhirt langſam dem Gebirge zu; mit Beginn der Mückenplage ſteigt er an den Wänden der Berge aufwärts, oder mindeſtens zu den Rücken der Hügel— züge empor; mit dem Aufhören der Qual, welche freilich auch die freien Höhen nicht gänzlich verſchont, kehrt er allmählich wieder in die Tieftundra zurück, um hier, womöglich in der Nähe ſeines heimatlichen Stromes, den Winter zu verbringen. Dies iſt der Kreislauf, welchen er in dem einen wie in jedem Jahre zurücklegt, falls nicht das Unglück über ihn herein— bricht, die entſetzliche Seuche ihn heimſucht. Noch bevor der kurze Sommer einzieht in ſeine unwirtliche Heimat, noch bevor das erſte Wehen des Frühlings ſich regt, in einer Zeit, in welcher die ſtarke Eisdecke noch unerſchüttert liegt auf dem gewaltigen Strome, ſeinen Zuflüſſen und allen den unzähligen Seen der Tundra, bringen die Rentiere ihre Kälber; es gilt deshalb mehr als je, einen Platz aufzuſuchen, welcher auch jetzt den Alttieren wie den Kälbern gedeih— liche Weide bietet. Zu dieſem Zwecke wandert unſer Hirt nicht den tiefſten Thälern, ſondern im Gegenteile den Höhen zu, von deren Kämmen der tobende Winterſturm ſo viel als möglich den Schnee wegwehte, und ſchlägt hier ſeinen Tſchum an der geeignetſten Stelle auf. Tage-, wochenlang verweilt er hier, bis die freigelegte Rentierflechte ringsum überall auf— gezehrt worden iſt und auch der breite Huf des Ren, welcher den Schnee wegräumt, um zu der von dieſem bedeckten Weide zu gelangen, ſeine Dienſte verſagen will. Dann erſt bricht er von neuem auf und wendet ſich einer Brehm, Vom Nordpol zum Aeqʒquator. 23 354 Die heidniſchen Oſtjaken. unfernen Stelle zu, welche ähnliche Vorzüge beſitzt wie die erſte. Auch ſie verläßt er nicht früher, als er wiederum Weidemangel verſpürt; denn noch erfreut er ſich einer Zeit, welche er die gute nennen darf. Die Herden weiden jetzt in dicht geſchloſſenen Trupps; unter den Hirſchen, deren Ge— weihe eben erſt zu ſproſſen begonnen haben, herrſcht tiefſter Friede; die Kälber werden von den ſorgſamen Alttieren nicht aus den Augen gelaſſen: die Herde zerſtreut ſich weder, noch entfernt ſie ſich weiter aus der Nähe des Tſchum, als der laute Hirtenruf tönt, welcher ſie gegen Sonnenunter— gang zurückruft. Des Nachts zwar umſchleicht ſie der gierige Wolf, welchen der Winter vom Gebirge herabtrieb in die Tieftundra; aber die mutigen Hunde halten ſcharfe Wacht und wehren dem feigen Räuber: unſer Hirte ſorgt ſich daher ebenſowenig um den Wolf, wie um den Winter, welchen er, wie alle hochnordiſchen Völker, als die beſte Jahreszeit betrachtet. Auch werden die noch ſehr kurzen Tage raſch länger und die Nächte immer kürzer; die Gefahren für ſeine wehrloſen Herdentiere alſo geringer. Der Strom wirft ſeine winterliche Decke ab; mit den in den Steppen des Südens erwärmten Fluten ſtrömen laue Winde durch das Land; ein Hügel— rücken nach dem anderen wird ſchneefrei, und hier wie im Thale, wo die jungen Knoſpen üppig ſchwellen, finden die wetterharten Tiere reiche Weide: die Tieftundra iſt zu einem Paradieſe geworden in den Augen unſeres Hirten. Doch nur kurze Zeit währt ſein und ſeiner Herdentiere behag— liches Leben. Die raſch ſich hebende und immer länger, immer wärmer ſtrahlende Sonne ſchmilzt auch in den flächeren Thälern den Schnee, auf den breiten Seen das Eis, taut ſelbſt die Oberfläche der gefrorenen Erde auf und ruft neben den erſten, harmloſen Kindern des Frühlings Milliarden quälender Mücken, zudringlicher Bremſen, deren Larven erſt vor wenig Wochen aus den Naſenhöhlen der Rentiere geſchneuzt wurden, zum Leben wach. Nunmehr beginnt die Wanderung wirklich; jetzt zieht der Hirte, in kurzen Tagemärſchen zwar, aber doch eilig, dem Gebirge zu. Sobald der Nachttau trocken geworden iſt auf Mooſen, Flechten, Gräſern und jungen Blättern der Zwerggeſträuche, brechen die Frauen den Tſchum ab, welchen ſie geſtern erſt errichtet, und bepacken die Schlitten, welche ſie um dieſelbe Zeit entlaſtet hatten. Währenddeſſen jagt der Hirte auf ſeinem leichten, mit vier kräftigen Hirſchen beſpannten Schlitten der zerſtreut ſich äſenden oder weideſatt in Gruppen gelagerten Herde zu, treibt die Tiere zuſammen und nach der Lagerſtelle, auf welcher ſeine Familien— genoſſen bereits zum Empfange gerüſtet ſind. Ein dünnes Seil, welches die Rentiere nur ſelten zu überſpringen wagen, in den Händen haltend, Die heidniſchen Oſtjaken. 355 bilden ſie einen Kreis um die Herde; der Hirt begibt ſich, die Fangſchlinge in der Rechten, mitten unter die Tiere, wirft den erwählten Hirſchen faſt unfehlbar die Schlinge um Hals oder Geweihe, feſſelt ſie, ſchirrt und ſpannt ſie ein, befiehlt, daß alle übrigen entlaſſen werden, beſteigt wiederum ſeinen Schlitten und fährt in der Wegrichtung davon. Alle übrigen Schlitten, gelenkt von den Mitgliedern der Familie, folgen ihm in langer Reihe nach; auch die geſamte freie Herde ſetzt ſich, blökend oder grunzend und bei jedem Schritte kniſternd, in Bewegung; die Hunde endlich umſpringen, beſtändig bellend und die zum Umherſchweifen geneigten Tiere zuſammen— haltend, den ganzen Zug, können es aber doch nicht hindern, daß einzelne Rentiere ſeitwärts abſchweifen und zurückbleiben. Mehr und mehr breitet ſich die Herde aus; maleriſch ſchmückt ſie alle Höhen umher; von beſonders beliebter Aeſung feſtgehalten, verweilt ſie truppweiſe hier und da; von den Kälbern gedrängt, genügen die Alttiere ihren Mutterpflichten, thun ſich auch wohl aus Gefälligkeit gegen das milchſatt ſich lagernde Kalb neben dieſem nieder, bis der Adlerblick des Hirten den ganzen Unfug wahrnimmt, er ſeitlich ausbiegt, in weitem Bogen die Säumlinge umfährt und durch das Machtwort ſeiner Stimme oder die jetzt ihre Mithilfe für geboten erachtenden Hunde den im ſcharfen Trabe vorausgezogenen Ge— noſſen nachtreibt. Neues, allgemeines Grunzen, lauteres Bellen der Hunde: und dahin wogt die wieder geſchloſſene Schar; ein wahrer Wald von Geweihen drängt ſich vorwärts und etwas wie Weidmannsluſt regt ſich im Herzen des fremdländiſchen Zuſchauers. Die Sonne neigt ſich; die Zugtiere ächzen und ſtöhnen mit lang aus dem Halſe hängender Zunge: es wird Zeit, ihnen Ruhe zu gönnen. In geringer Entfernung, neben einem der zahlloſen Seen, hebt ſich ein flach gewölbter Hügel; ihm wendet der Hirte ſich zu; auf der Höhe des— ſelben bringt er ſein geweihtragendes Geſpann zum Stehen. Ein und der andere Schlitten langt dort an; die freie Herde erſcheint ebenfalls, begibt ſich jedoch ſofort auf die Weide, und die entſchirrten Zugtiere folgen nach. Die Frauen wählen eine geeignete Stelle zur Errichtung des Tſchum, ſtellen die Stangen im Kreiſe auf und umkleiden ſie mit dem rindenen Mantel; der Hirt aber geht mit ſeiner zum Gebrauche fertigen Wurfleine unter die Herde, wählt ſich kundigen Auges einen jungen, feiſten Hirſch und wirft ihm die Schlinge über Geweih und Hals. Vergeblich verſucht der Renhirſch ſich zu befreien; näher und näher kommt ihm der Jäger und widerſtandslos folgt er dieſem bis in die Nähe des inzwiſchen auf— 356 Die heidniſchen Oſtjaken. geſtellten Tſchum. Ein Beilhieb auf den Hinterkopf wirft das Opfer zu Boden, ein Meſſerſtich ins Herz endet ſein Leben. Zwei Minuten ſpäter iſt das Tier bereits entfellt, aufgebrochen und kunſtfertig ausgeweidet; eine Im Tſchum. Minute darauf tauchen alle raſch verſammelten Familienglieder die in Streifen zerſchnittene Leber in das in der Bruſthöhle zuſammengefloſſene Blut, und das „blutige Mahl“ beginnt. Im Kreiſe um den noch lebens— warmen Hirſch hockend, ſchneidet ſich jeder der Schmauſenden Rippen oder Stücke von den Rücken- und Schenkelmuskeln ab; die Lippen röten ſich, Die heidniſchen Oſtjaken. 357 als ob ſie ſchlecht geſchminkt wären; ein und der andere Blutstropfen fließt an ihnen herab über Kinn und Bruſt; die Hände färben ſich eben— falls, beſchmieren, triefend vom Blute, auch Naſe und Wangen, und blutige Geſichter ſtarren dem verwunderten Fremdling entgegen. Von der Mutter Bruſt löſt ſich der Säugling, um ebenfalls am Mahle teilzunehmen, und freudig jauchzt er auf, als ihm die ſorgende Mutter, nachdem er bereits ein Stück Leber hinabgewürgt und ſich dabei Geſicht und Hände und was er ſonſt erreichen kann, blutigrot gefärbt hat, auch noch einen Mark— knochen zerſchlägt und zum Ausſaugen hinreicht. Die Hunde aber ſitzen im Kreiſe hinter den Eſſenden und ſchnappen die abgenagten Knochen auf, welche dieſe ihnen zuſchleudern. Geſättigt erhebt ſich einer nach dem anderen vom Mahle, wiſcht ſich die blutige Hand am Mooſe ab, reinigt das Meſſer in gleicher Weiſe und begibt ſich ſodann in den Tſchum, um hier behaglich zu ruhen. Die Hausfrau aber füllt den Kochkeſſel mit Waſſer, legt ſodann ſo viel Fleiſch des halb aufgegeſſenen Tieres in den Keſſel, als dieſer faſſen kann, und zündet Feuer an, um den Nachtimbiß zu bereiten. Währenddeſſen hat der Hirt ſein Obergewand abgeworfen und flüchtig, jedoch nie erfolglos durchſucht, ſich ſelbſt aber ſo dem Feuer genähert, daß die Flamme mit voller Wirkung gegen den nackten Oberleib ſtrahlen kann. Er fühlt ſich höchſt behaglich und denkt an neuen Genuß. Ein wunderlicher Kauz, welcher in ſeiner Geſellſchaft dem Gebirge zuzieht, ein Deutſcher ſeines Herkommens, vielleicht ſogar ein Mitglied der Bremer Forſchungsreiſe nach Weſtſibirien, hat ihm nicht allein Tabak, ein wahr— haft entſetzliches Kraut allerdings, aber ein ſehr kräftiges Kraut, ſon— dern auch einen großen Bogen Papier, eine ganze Kölniſche Zeitung, ge— ſchenkt. Von dieſer reißt er bedächtig ein viereckiges Stück ab, dreht es zu einer kleinen, ſpitzigen Tüte zuſammen, füllt dieſe mit dem Tabak, knickt ſie in der Mitte und das Pfeifchen iſt fertig, brennt auch einen Augenblick ſpäter trefflich und riecht ſo vorzüglich, daß ſeine Gattin die Nüſtern weitet und nach demſelben Genuſſe verlangt, auch ihren Wunſch ſofort erfüllt ſieht. Reihum wandert das Pfeifchen, und jedes Familien— glied erfreut ſich der Labung. Doch im Topfe beginnt es zu brodeln; die Abendkoſt iſt fertig ge— worden und alle „erheben die Hände zum lecker bereiteten Mahle“. Dann tritt der Hirt vor die Thür des Tſchum, ſtößt mit langgezogenen Lauten einen weitſchallenden Ruf aus, verſammelt durch ihn für heute zum letzten— mal die unruhige Herde und kehrt befriedigt in den Tſchum zurück. 358 2 Die heidniſchen Oſtjaken. Hier hat unterdeſſen die Frau das Mückenzelt aufgeſchlagen und iſt nur noch beſchäftigt, den unteren Rand desſelben unter die Decken zu ſtopfen. Die bis zur Vollendung dieſer Arbeit erforderliche Zeit füllt der auf ſein Lager harrende Mann damit aus, daß er einen der Hunde ergreift und wie ein kleines Kind wartet, was ſich der Hund ſeinerſeits mit dem Be— wußtſein gefallen läßt, daß ihm hohe Ehre widerfahren. Dann kriecht der Mann halbnackend unter das Mückenzelt, der fünfzehnjährige Sohn folgt ſeinem Beiſpiele, deſſen kleine, etwa dreizehnjährige Frau thut des— gleichen, die ſorgende Mutter bringt auch die Kindlein, den noch in der Wiege liegenden Säugling inbegriffen, in Sicherheit, legt noch einmal Mulm auf das Schmauchfeuer am Eingange des Tſchum, ſchließt deſſen Thür und begibt ſich zu den übrigen Familiengliedern. Wenige Minuten ſpäter verkündet lautes Schnarchen, daß alle den Schlaf der Gerechten gefunden haben. Am nächſten Morgen beginnt derſelbe Tageslauf, und ſo geht es weiter, bis die Höhen des Gebirges längeres Raſten und Verweilen auf einer und derſelben Stelle geſtatten. Der oben ſehr zeitig fallende Schnee mahnt bereits im Auguſt zur Rückkehr, und wiederum führt die Wande— rung, jetzt nur langſamer und gemächlicher, Hirt und Herden nach der Tiefe zurück. Mit dem Schwinden des Eiſes beginnt auch die Thätigkeit der Fiſcher am Strome. Viele oſtjakiſche Fiſcher arbeiten im Solde oder doch in Gemeinſchaft der Ruſſen, andere verhandeln nur einen Teil des Ueber— ſchuſſes ihres Fanges an dieſe und fiſchen auf eigene Rechnung. Un— mittelbar nach dem Eisgange ſtellen jene ihre Tſchum neben den Fiſcher— hütten der Ruſſen auf, oder beziehen dieſe ihre hart am Strome gelegenen Sommeranſiedelungen, Blockhäuſer einfachſter Bauart. Da, wo ein Fluß in den Strom mündet, ſperrt man ihn, beziehentlich die Mündung eines Armes, durch einen Zaun, welcher nur einen Durchgang enthält; bei tieferem Waſſerſtande ſtellt man Reuſen und legt man Grundangeln; außerdem fiſcht man nur mit dem Zugnetze und Schleppnetze. Rege Thätigkeit herrſcht auf allen Fiſchplätzen, wenn es guten Fang gibt. Ueber der Oeffnung des Zaunes hocken auf ſchwankendem Gerüſt Halberwachſene, eher Knaben als Männer, und ſehen ſcharf in die trüben Fluten unter ihnen, um zu erfahren, ob Fiſche einlaufen in das von ihnen gehaltene, den Durchgang ſchließende hamenartige Netz, heben dasſelbe von Zeit zu Zeit mit der gefangenen Beute auf und entleeren ſeinen In— halt in ihre kleinen Boote. Die Männer fiſchen auf einer Sandbank ge— Die heidniſchen Oſtjaken. 359 meinſchaftlich mit dem Zugnetze, oder auf ſeichteren Stellen des Stromes mit dem Schleppnetze. Nachmittags oder gegen Abend kehren die Fiſcher heim und teilen jeder Haushaltung von der Beute zu. Am nächſten Morgen beginnt die Wirkſamkeit der Frauen. Einzeln oder in Gruppen hocken ſie um große Fiſchhaufen, jede mit einem Brett und dem ſcharfen Meſſer ausgerüſtet, um die Fiſche zu entſchuppen, auszunehmen, zu teilen, einzukerben und auf lange, dünne Stöcke zu ſpießen, welche dann auf den Trockengerüſten zum Dörren aufgehängt werden. Geſchickt und ſicher ge— führte Schnitte öffnen die Bauchhöhle des Fiſches und trennen ſeine ſeit— lichen Muskeln von der Wirbelſäule, einige Handgriffe mehr Leber und übrige Eingeweide von Kopf und Geripp und den wertvolleren Seiten— teilen des Leibes. Eine Leber nach der anderen gleitet über die ſchlürfenden Lippen; denn die Frauen ſind noch nüchtern und nehmen als Vorſpeiſe den Leckerbiſſen zu ſich. Regt ſich der Magen doch noch, ſo wird ein Fiſch entſchuppt, ausgenommen und in lange Streifen geteilt, das Ende eines ſolchen in das ausſickernde Blut getaucht, alſo gewürzt, in den Mund ge— ſteckt und mit raſchem, von unten her hart an der Naſenſpitze vorbei— gehendem Schnitte ein mundrechter Biſſen nach dem anderen abgetrennt. Die ſich um die arbeitenden Mütter einfindenden Kinder erhalten, je nach ihrer Größe, Lebern oder Muskelſtreifen; vierjährige führen auch das Meſſer beim Biſſenzerteilen bereits ebenſo geſchickt wie die Alten, welche ſtets, alſo auch Rentierfleiſchſtreifen, in dieſer Weiſe ſich mundrecht machen. Bald glänzen die Geſichter der Mütter wie der Kinder von Fiſchblut und Leberthran, die Hände von anklebenden Fiſchſchuppen. Sind alle Fiſche entſchuppt, zerteilt und zum Trocknen aufgehängt, ſo erhalten auch die Hunde, welche lüſtern, aber nicht zudringlich, neben den Frauen ſaßen, ihren Anteil; die Fiſchſchuppen nämlich, welche zunächſt auf ein Gras— bündel geworfen wurden, und begierig wühlen die ſchwarzen Schnauzen in ſolchem Bündel. Die Morgenarbeit iſt vorüber, eine kurze Erholung verdient. Die Mütter nehmen ihre Kinder auf den Schoß, reichen den Säuglingen die Bruſt und gehen ſodann zu einer nicht allein den Kleinen, ſondern auch ihnen ſelbſt unabweislich nötigen Beſchäftigung über: Jagd auf Schmarotzer. Ein Kind nach dem anderen legt ſein Haupt in den Schoß der Mutter, zuletzt dieſe ſelbſt das ihrige in den Schoß ihrer älteſten Tochter, oder einer Gegendienſte erhoffenden Freundin, und als ergiebig erweiſt ſich die Jagd. Daß das gefangene Wild, wenn auch vielleicht nicht verſpeiſt, ſo doch beſtimmt zwiſchen die Lippen genommen 360 Die heidniſchen Oſtjaken. und durch einen Biß getötet wird, iſt einem Naturforſcher, welcher Affen beobachtet hat, nichts Neues und beſtätigt dem, welcher in Dar— wins Lehrſätzen mehr ſieht, als bloße Annahmen, daß „Atavismus“, ein Zurückkehren zu der Urväter Gewohnheiten, nicht in Abrede geſtellt werden kann. Die Sonne neigt ſich; mit neuem, reichem Segen kommen die Männer, Jünglinge und Knaben angefahren. Rohe Fiſche haben ſie gegeſſen nach Bedarf; jetzt verlangt ihre Seele nach warmen Speiſen. Ein großer dampfender Keſſel mit gekochten Fiſchen, köſtlichen Renken, der Lachſe nächſten Verwandten, wird ihnen vorgeſetzt; in Fiſchfett geſchüttetes, von ihm ganz durchdrungenes Brot bildet die Zukoſt; mit dem kalten Waſſer auf das Feuer geſetzter, längere Zeit gekochter Ziegelthee beſchließt das Mahl. „Als aber die Begier nach Speiſe und Trank geſtillt iſt“, ver— langt auch der Geiſt ſeine Nahrung, und deshalb iſt der Künſtler hoch— willkommen, welcher jetzt die von ihm ſelbſt gearbeitete Harfe oder Zither herbeibringt, um zu ſpielen, ſei es um eines der ureigentümlichen, unbe— ſchreiblichen Lieder, ſei es um die Bewegungen der in abſonderlichem Tanze ſich hebenden und ſenkenden, einen Arm um den anderen werfend ſtreckenden und wieder an den Leib ziehenden Frauen zu begleiten. Bis das Mückenzelt bereitet worden iſt, währt ſolche Fröhlichkeit; dann ver— ſchwindet auch hier jung und alt unter deſſen Falten. Der Sommer iſt vorüber, auf den kurzen Herbſt folgt der Winter. Mit dem Zuge der Vögel beginnt neue Thätigkeit, mit dem Winter neues, nein das volle, wahre Leben der Oſtjaken. Den abziehenden Sommer— gäſten ſtellt man das verräteriſche Netz, ein in künſtlich hergeſtellten Lich— tungen des dichten Weidenwaldes der Ufer, auf erkundeten Flugſtraßen zwiſchen zwei größeren Waſſerflächen ausgeſpanntes großes, leicht beweg— liches Klebenetz, in welches nicht allein Enten, ſondern auch Gänſe, Schwäne, Kraniche fliegen, willkommene Beute ihres Fleiſches, ihrer Federn halber, da alle Vogelarten nicht bloß eine weſentliche Nahrung der Oſtjaken, ſondern aller Bewohner des Stromthales überhaupt bilden. Gleichzeitig mit dem Vogelſteller zieht auch der Wanderhirt aus zur Jagd und ſtellt in der Tundra ſeine Schlagfallen auf Rot- und Eisfuchs, im Walde mit dem anſäſſigen Stammesgenoſſen gemeinſam ähnliche Fangwerkzeuge, Stell— bogen und ſelbſtwirkende Armbrüſte auf Wölfe und Füchſe, Zobel und Hermelin, Vielfraße und Eichhörnchen. Iſt Schnee gefallen, ſo ſchnallt ſich der geübtere Jäger die Schneeſchuhe an die Füße, die Schneebrille vor die Augen und begibt ſich mit den flinken Hunden in den Wald, in Die heidniſchen Oſtjaken. 361 die Tundra, um den Bären im Lager aufzuſuchen, der Fährte des Luchſes zu folgen, dem jetzt behinderten Elch und wilden Rentiere auf der wohl ihn, nicht aber jene tragenden Schneedecke nachzujagen. Er hat nie ge— logen, nie beim Bärenzahne falſch geſchworen, nie ein Unrecht begangen, und der Bär iſt deshalb ohnmächtig ihm gegenüber, das Elch, das Ren nicht ſchnellläufig genug, ihm zu entrinnen. Mit dem erlegten Bären zieht er frohlockend ein in das Dorf, in den Tſchum, Nachbarn und Freunde umſtehen ihn jubelnd, bis auch ihn die allgemeine Freude an— ſteckt, er ſich ſtill davonſchleicht, vermummt und verlarvt und ſodann den Bärentanz beginnt — wunderſame, Bewegungen ausführend, welche die des Bären in allen Lagen ſeines Lebens wiedergeben und verſinn— lichen ſollen. Reiche Beute an Fellen birgt bald die Hütte des Fiſchers, noch reichere der Tſchum des Hirten, da dieſer auch alle Decken der im Laufe des Jahres von ihm geſchlachteten Rentiere aufgeſpeichert hat. Jetzt gilt es, ſie loszuſchlagen. Fern und nah rüſtet ſich auf den Jahrmarkt, welcher alljährlich in der zweiten Hälfte des Januar in Obdorsk, dem letzten ruſſiſchen Dorfe und wichtigſten Handelsplatze des unteren Ob, abgehalten und von Einheimiſchen und Fremden beſucht wird, währenddeſſen der ruſſiſche Regierungsbeamte die Steuern erhebt von Oſtjaken und Samo— jeden, etwaige Streitigkeiten ſchlichtet und ſonſtwie Gericht hält, während— deſſen die ruſſiſchen Kaufleute auf Käufer und Verkäufer, die unredlichen unter ihnen mit den ſpitzbübiſchen Syrjänen auf leichtſinnige Trunkenbolde, die Popen endlich auf zu bekehrende Heiden Jagd machen, währenddeſſen unter Oſtjaken und Samojeden Verabredungen aller Art getroffen, Hoch— zeiten geſtiftet, Feinde verſöhnt, Freunde gewonnen, mit den Ruſſen Ver— träge geſchloſſen, Schulden bezahlt und neue gemacht werden. In langen Reihen erſcheinen, von allen Seiten herbeikommend, die rentierbeſpannten Schlitten, und rings um den Marktflecken erwächſt ein Tſchum nach dem anderen, jeder einzelne umgeben von ſchwer bepackten Schlitten mit dem ver— äußerlichen Erwerbe des Jahres. Allmorgendlich zieht der Tſchumbeſitzer mit ſeiner Lieblingsfrau im vollſten Putze den Marktbuden zu, um Felle zu verkaufen, Waren zu erwerben. Man handelt, man feilſcht, man ver— ſucht zu betrügen, und der noch heutzutage wirkende Merkur bethätigt ſeine Macht nicht allein als Gott der Kaufleute, ſondern auch der Diebe. Branntwein, deſſen Ausſchank und Verkauf zwar von Regierungs wegen ſtreng verboten, der aber nicht allein bei jedem Kaufmann, ſondern faſt in jedem Hauſe von Obdorsk zu haben iſt, umnebelt die Sinne, raubt 362 Die heidniſchen Oſtjaken. den Verſtand des Oſtjaken wie des Samojeden und macht beide ärmer noch, als die entſetzlichen Rentierſeuchen. Branntwein weckt alle Leiden— ſchaften des ſonſt leidenſchaftsloſen, gutmütigen und harmloſen Oſtjaken und wandelt den friedfertigen, gegen jedermann freundlichen, ehrlichen Ge— ſellen zu einem wütenden, ſinnloſen Tiere um. Nach Branntwein lechzt der Mann, nach Branntwein die Frau; Branntwein gießt der Vater dem lüſternen Knaben, die Mutter der verlangenden Tochter in den Schlund, wenn beide beginnen, dem verderblichen Gifte zu widerſtreben. Um Brannt— wein verſchleudert der Oſtjake ſeine mühſelig erworbenen Schätze, ſeine ganze Habe, um Branntwein verdingt er ſich als Sklave oder doch als Knecht, um Branntwein verkauft er ſeine Seele, verleugnet er den Glauben ſeiner Väter. Branntwein gehört als unerläßliche Bedingung zum Ab— ſchluſſe jedes Geſchäftes, auch des der Bekehrung zur rechtgläubigen Kirche. Mit Hilfe des Branntweins erlangt der unredliche Käufer zuletzt alle Felle des Oſtjaken, und ledig derſelben, mit leerem Beutel und wüſtem Haupte kehrt der mit ſtolzen Hoffnungen nach Obdorsk gezogene, betrogene, um nicht zu jagen ausgeplünderte Mann heim in feinen Tſchum. Er bereut feine Thorheit, ſeine Schwäche, faßt die beiten Vorſätze, beruhigt ſich dabei und denkt bald nur noch daran, wie vortrefflich er ſich mit ſeinen Stammes— genoſſen unterhalten hat. Mit ihnen hatte er erſt getrunken; dann hatten ſich Männer und Weiber geküßt, dann die Männer ihre Frauen geprügelt, dann gegenſeitig ihre Kraft erprobt, ſogar die ſcharfen Meſſer blitzenden Auges gezogen und mit dem Tode ſich bedroht; aber kein Blut war ge— floſſen: man hatte wiederum ſich verſöhnt, die von den erlittenen Schlägen und dem Branntwein betäubten Weiber zärtlich vom Boden aufgehoben und durch andere hilfreiche Frauen reinigen laſſen; man hatte zur Feier der Verſöhnung eine wichtige Verabredung getroffen, der Tochter einen Bräutigam, dem Sohne eine kleine Braut gewählt; man hatte ſogar eine Witwe wieder verheiratet und bei dieſer Gelegenheit nochmals getrunken: kurz, man hatte ſich köſtlich unterhalten. Daß der Regierungsbeamte alle beſinnungslos Berauſchten ſchließlich hatte einſperren laſſen, daß alles, alles Geld den Weg alles Vergänglichen gewandelt, war freilich unan— genehm, recht unangenehm geweſen: indeſſen das Gefängnis hatte ſich zuletzt doch wieder geöffnet, der Verluſt des Geldes war verſchmerzt und nur die goldene Erinnerung, an welcher man ein volles Jahr zu zehren, und die alle Teile ehrende Verlobung waren als unveräußerlicher Gewinn der herrlichen Feſttage geblieben. Bräutigam und Braut waren ebenfalls auf dem Jahrmarkte ge— Die heidniſchen Oſtjaken. 363 weſen, hatten ſo tapfer mitgetrunken, als ſie vermochten, ſich dabei kennen gelernt, und der Bräutigam war mit ſeinen Eltern einverſtanden, das junge Mädchen zu ſeiner Gattin zu wählen, richtiger vielleicht als Gattin zu erhalten. Denn die Beſtimmung der Eltern, nicht aber der Wille der Brautleute ſchließt eine oſtjakiſche Ehe. Auf Wunſch und Willen des Bräutigams nimmt man vielleicht Rückſicht, geſtattet einem verſprechenden Knaben wohl auch, ſeine Augen auf eine der Töchter ſeines Volkes zu werfen, ſendet den Freiwerber aber nur in dem Falle zum Vater des Mädchens, wenn die eigenen Verhältniſſe mit denen des künftigen Schwähers übereinſtimmen. Die Jungfrau wird nicht befragt, und das ſchon aus dem Grunde, weil ſie, wenn man ſie verlobt, noch viel zu jung iſt, als daß ſie mit Verſtändnis über ihre Zukunft entſcheiden könnte. Hat doch auch ihr zukünftiger Gatte ſein fünfzehntes Jahr noch nicht erreicht, wenn der Freiwerber um ſie, die Zwölfjährige, anhält. In unſerem Falle hatte die allſeitige Jahrmarktsfreude den Gang der Verhandlungen weſent— lich beſchleunigt. Der Freiwerber hatte ohne weiteres das Jawort er— erhalten; dann waren ſogleich die oft langwierigen Verhandlungen be— gonnen und, dank des ſonſt als böſer Dämon ſich erweiſenden, in dieſem Falle aber förderlichen Branntweins, raſch zu Ende geführt worden. Man hatte ſich dahin geeinigt, daß Sandor, der junge Bräutigam, als Braut— geld für Malla, das bräutliche Kind, ſechzig Rentiere, zwanzig Felle des weißen und zehn des roten Fuchſes, ein Stück buntes Tuch und ver— ſchiedene Kleinigkeiten, Ringe, Knöpfe, Glasperlen, Kopftücher und der— gleichen mehr zu zahlen habe. Das war wenig, weit weniger, als der kaum leiſtungsfähigere Gemeindevorſteher Mamru für ſeine Gattin ge— zahlt hatte; denn ſein Brautgeld hatte beſtanden in hundertundfünfzig Rentieren, ſechzig Fellen des Eis- und zwanzig des Rotfuchſes, einem großen Stücke Kleidertuch, mehreren Kopftüchern und den üblichen Kleinig— keiten. Aber damals waren auch beſſere Zeiten geweſen, und Mamru konnte ein Brautgeld im Werte von mehr als tauſend Silberrubeln wohl zahlen für ſeine ebenſo ſtattliche als reiche, guter Familie entſtam— mende Frau. Das Brautgeld iſt bezahlt; die Vermählung der jungen Leute findet ſtatt. Im Tſchum des Brautvaters ſtellen die Verwandten der Familie ſich ein, um der Braut Geſchenke zu bringen und aus der für jedermann zur Schau geſtellten Gift des Bräutigams ſolche entgegenzunehmen. Man kleidet die Braut in Feſtgewänder und rüſtet ſie und ſich zur Fahrt nach dem Tſchum des Bräutigams oder doch dem des Brautvaters. Vorher 364 Die heidniſchen Oſtjaken. hat man tapfer geſchmauſt von dem Fleiſche der friſch geſchlachteten Ren— tiere nach üblicher Weiſe. Gekocht wurden heute nur einige unter dem Eiſe gefangene Fiſche; das Fleiſch der getöteten Rentiere aß man roh, und wenn eines zu erkalten begann, empfing ein zweites den Todesſtoß. Die Braut weint, wie ſcheidenden Bräuten zukommt, will den Tſchum, in welchem ſie aufgewachſen, nicht verlaſſen und läßt ſich erſt nach tröſtender Zuſprache aller hierzu bereit finden. Ein Gebet vor dem Hausgötzen erfleht den Segen Ohrts, des Himmliſchen, deſſen Zeichen Sornidud, das Gottesfeuer, in unſeren Augen nur das kniſternde Nordlicht, in ver— gangener Nacht blutrot am Himmel ſtand. Die ſcheidende Tochter be— gleitet die Mutter, um ihr helfend zur Seite zu ſtehen, auch in der Braut— nacht in ihrer Nähe zu verweilen. Mit der Tochter beſteigt ſie den Schlitten, die geſamte zur Hochzeit eingeladene Sippe die ihrigen, und dahin, in feſtlichem Gepränge, unter dem Geläute der Glöckchen, welche heute alle Rentiere an ihren reichſten Geſchirren tragen, geht die hochzeit— liche Fahrt. Im Tſchum des Vaters erwartet der Bräutigam die vor dem Schwiegervater und den Schwägern ihres zukünftigen Gatten heute wie immer mit dem Kopftuche das Geſicht züchtig ſich verhüllende Braut. Ein neues Feſt nimmt ſeinen Anfang, und erſt ſpät in der Nacht trennen ſich die Gäſte, denen ſich auch die Verwandten des Bräutigams zugeſellt hatten. Am nächſten Tage aber bringt die Mutter die junge Frau in den Tſchum des Brautvaters zurück. Doch ſchon einen Tag ſpäter erſcheinen hier alle Sippen des Bräutigams, um ſie wiederum für dieſen zurückzufordern. Nochmals erfüllt Feſtjubel die niederen Wände der Hütte; dann ſcheidet die Braut für immer aus dieſen und teilt, fortan mit ihrem Gatten allein oder mit dieſem und ſeinen Eltern und Geſchwiſtern, oder ſpäter mit einer zweiten Frau ihres Mannes den Tſchum, zu welchem man ſie auch bei der zweiten Fahrt mit feſtlichem Gepränge zurückgeführt hatte. Armer Leute Söhne zahlen als Brautgeld höchſtens zehn Rentiere, Fiſcherſöhne nicht einmal dieſe, ſondern nur die nötigſten Einrichtungs— gegenſtände des Tſchum und teilen dieſen oft mit mehreren Familien; zu einem Feſt- und Freudentage wird aber auch ihre Hochzeit und dabei ge— geſſen und geſchmauſt, ſoviel das geringe Vermögen zuläßt. Arme Oſtjaken leben in Einweibigkeit, reiche aber betrachten es als ein Recht des Wohlſtandes, zwei oder mehrere Frauen zu ehelichen. Doch wahrt ſich auch dann noch die Erſtgeworbene Vorrechte den anderen gegen— über, und dieſe erſcheinen mehr als ihre Dienerinnen, denn als gleich— Die heidniſchen Oſtjaken. 365 berechtigt mit ihr. Nur wenn ihr Kinder verſagt ſein ſollten, mag es anders ſein; denn Kinderloſigkeit gilt als eine Schmach für den Mann, und eine kinderloſe Frau iſt auch im Tſchum eine beklagenswerte Un— glückliche. Die Eltern ſind ſtolz auf ihre Kinder und behandeln ſie mit warmer Zärtlichkeit. Mit unverkennbarem Glück in Blick und Gebärde legt die junge Mutter ihr Erſtgeborenes an ihre Bruſt, oder auf das weiche Waſſer— moos in der niedlichen, unten mit zerſtückeltem Weidenmulm und ge— ſchabten Holzfaſern ausgebetteten Wiege aus Birkenrinde; ſorglich ſchnürt ſie die Decken zu beiden Seiten der Wiege zuſammen und bedachtſam umhüllt ſie das Kopfende des kleinen Bettleins mit dem an ihm ange— brachten Mückenvorhange; aber ihre Reinlichkeitsliebe läßt viel zu wünſchen übrig. Solange das Kindlein noch klein und unbeholfen iſt, wäſcht und reinigt ſie es allerdings, wenn ſie glaubt, daß beides unerläßlich ſei; wenn es erſt größer geworden, wäſcht ſie nur einmal täglich Geſicht und Hände, eine Handvoll geſchabter Faſern aus dem Holze der Weiden als Schwamm, eine andere, trockene als Handtuch verwendend, ſieht dann aber ohne jegliche Erregung zu, wenn das kleine Weſen, welches jeder— zeit Gelegenheit findet, ſich zu beſchmutzen, in einer uns faſt undenk— baren Unſauberkeit einhergeht. Erſt wenn der junge Oſtjake ſich ſelbſt zu helfen vermag, endet allmählich ſolcher Mißſtand; kaum einer aber hält es auch dann für nötig, nach jeder Mahlzeit ſich zu waſchen, und ob dieſelbe eine blutige geweſen ſein möge. Die Kinder ihrerſeits hängen ebenſo zärtlich und treu an ihren Eltern, wie dieſe an ihnen, ſind auch in anerkennenswerter Weiſe folgſam und dem Willen ihrer Erzeuger unter— than. Ehrfurcht gegen die Eltern iſt das erſte und vornehmſte Gebot der Oſtjaken, Ehrfurcht gegen die Gottheit wohl erſt das zweite. Als wir Mamru, dem erwähnten Gemeindevorſteher, den Rat erteilten, ſeine Kinder in der ruſſiſchen Sprache und Schrift unterrichten zu laſſen, erwiderte er uns, daß er den Nutzen einer ſolchen Kenntnis wohl einſehe, jedoch fürchten müſſe, daß ſeine Kinder dann vergeſſen könnten, Vater und Mutter zu ehren und damit das wichtigſte Gebot des Glaubens verletzen möchten, und daß er aus dieſem Grunde zur Befolgung unſeres Rates ſich nicht zu entſchließen vermöge. Dies mag der Grund ſein, weshalb kein einziger Oſtjake, welcher noch dem Glauben ſeiner Väter anhängt, in dieſer Be— ziehung mehr erlernt als ſein Zeichen, einen ihn und andere verpflichtenden Krikelkrakel, auf Papier zu zeichnen, in Holz oder in das Fell der Ren— tiere einzuſchneiden. Und doch lernt er, als höchſt anſtelliger und ge— 366 Die heidniſchen Ditjafen. geſchickter Menſch, was ihm gelehrt wird, ſo raſch und leicht, daß er in dem frühreifen Alter, in welchem er verheiratet wird, alles verſteht, was zur Begründung und Erhaltung eines Haushaltes erforderlich iſt. Nur in Glaubensſachen ſcheint er ſich gern des eigenen Urteils zu begeben und, wenige ausgenommen, gerade deshalb dem Schamanen, welcher ſich an— maßt, davon mehr, als er zu wiſſen, unverdiente Ehrerbietung zu zollen. Wir unſererſeits vermögen in ſolchem Schamanen, welcher unter den Oſtjaken, wie unter anderen mongoliſchen Völkerſchaften Sibiriens, die Rechte eines Prieſters beanſprucht, eben nur einen Betrüger zu er- kennen. Das einzige Mitglied der ſauberen Brüderſchaft, mit welchem wir zuſammentrafen, ein getaufter Samojede, trug das Zeichen des Chriſten— tums auf ſeiner Bruſt, war ſogar, wie das Gerücht wiſſen wollte, Diakon in einer Kirche der Rechtgläubigen geweſen, that aber trotzdem ſeine Dienſte als Schamane unter den heidniſchen Oſtjaken. Aus kundigem Munde bin ich nachträglich belehrt worden, daß er keine Ausnahme, ſondern die Regel bildete; denn alle Schamanen, welche Herr von Middendorf, mein Ge— währsmann, während ſeinen langjährigen Reiſen in Sibirien kennen lernte, waren Chriſten. Daß der Schamane, welchen wir kennen lernten, ſeiner Meinung nach wenigſtens, auch in uns Gläubige fand, habe ich bereits in meinem Reiſeberichte erwähnt, was er uns weisſagte ebenfalls, eine Schilderung der uns gegebenen Vorſtellung ſelbſt aber für meine heutigen Mitteilungen mir vorbehalten; denn in den Rahmen dieſer gehört auch ein ſolches Bild. Anfänglich Branntwein als Stolgebühr begehrend, dann aber mit dem Verſprechen eines Geſchenkes ſich zufrieden erklärend, zog er ſich in einen Tſchum zurück, mit dem Bedeuten, daß er uns rufen laſſen werde, wenn alle Vorbereitungen beendet ſein würden. Zu letzteren ſchienen auch dumpfe Trommelſchläge zu gehören, welche wir nach geraumer Zeit ver— nahmen; von anderen Vorkehrungen erkundeten wir nichts. Auf geſchehene Meldung traten wir in den Tſchum. Der ganze Raum der Birkenrindenhütte iſt mit Menſchen angefüllt, welche ſo viel als möglich gegen die Wände gedrückt, rings im Kreiſe ſitzen; unter Oſtjaken und Samojeden, welche mit Weib und Kind erſchienen ſind, befinden ſich auch Ruſſen mit ihren Frauen und Sprößlingen. Auf erhöhtem Sitze, links vom Eingange, hat ſich Widli, der Schamane, nieder— gelaſſen; ihm zur Rechten hockt kauernd auf dem Boden ein Oſtjake, zur Zeit ein Jünger des Meiſters. Widli trägt ein braunes Obergewand und darüber ein beſchmutztes, urſprünglich weiß geweſenes, mit Goldtreſſen Die heidniſchen Oſtjaken. 367 dürftig beſetztes talarähnliches Kleid; in ſeiner Linken hält er die kleine, tamburinartige Trommel, ſo daß ſie ſein Geſicht beſchattet, in ſeiner Rechten den Schlegel dazu; ſein Haupt iſt unbedeckt, das rundgeſchorene Haar friſch geſtrählt. In der Mitte des Tſchum brennt ein Feuer und wirft, von Zeit zu Zeit hell auflodernd, grelle Streiflichter auf die bunte Geſellſchaft, in deren Mitte auf für uns freigehaltenen Plätzen auch wir uns niederlaſſen. Ein dreimal wiederholtes, langgedehntes, wie viel— ſtimmiger Geſang klingendes Geſchrei, eingeleitet durch einige Schläge auf der Trommel, begrüßt uns beim Eintreten und bezeichnet den Beginn der Handlung. f „Damit ihr ſeht, daß ich ein Mann der Wahrheit bin,“ läßt ſich der Meiſter vernehmen, „werde ich jetzt den mir vertrauten Boten des Rates der Himmliſchen beſchwören, unter uns zu erſcheinen und mir mit— zuteilen, was die Götter über eure Zukunft beſchloſſen haben. Ihr ſelbſt werdet dann ſpäter zu erkennen vermögen, ob ich Wahrheit geſprochen habe, oder nicht.“ Nach dieſer Anſprache, welche durch zweier Dolmetſcher Mund uns übermittelt wird, bearbeitet der Liebling der Götter das Kalb, ich wollte ſagen das Rentierfell ſeiner Trommel mit raſchen Schlägen, welche ſich zwar in einem gewiſſen Takte, nicht aber auch in beſtimmter Anzahl folgen, und begleitet ſie mit einem Geſange, welcher, nach ſamojediſcher Art halb ſprechend, oder richtiger brummend, halb ſingend vorgetragen, von dem Jünger, welchen wir den Küſter nennen, auch ſtets getreulich wiederholt wird. Dabei hält der Meiſter die Trommel ſo, daß ſie ſein Geſicht in Schatten hüllt, ſchließt auch die Augen, um durch nichts von innerlichem Schauen abgezogen zu werden; der Küſter dagegen raucht auch während des Geſanges, wie er vorher gethan, und ſpuckt zur Abwechslung dazwiſchen aus, wie er dies früher auch gethan. Drei langſame, beſtimmte Schläge enden Trommeln und Geſang. „Ich habe jetzt,“ ſagt der Meiſter mit Würde, „Jamaul, den Boten der Himmliſchen, beſchworen, unter uns zu erſcheinen, vermag jedoch nicht zu beſtimmen, wieviel Zeit vergehen kann, bevor er, der vielleicht ferne von uns weilt, zur Stelle ſein wird.“ Und wiederum ſchlägt er die Trommel, ſingt er beſchwörend, endet er Geſang und Begleitung wie früher. „Zwei Kaiſer ſehe ich vor mir; ſie werden euch ein Schriftſtück ſenden,“ ſpricht der Götterbote durch feinen Mund. Jamaul hat alſo die Freundlichkeit gehabt, im Tſchum zu erſcheinen 368 Die heidniſchen Oſtjaken. und ſeinem Lieblinge zu willfahren. Es folgen nunmehr, ſtets durch be— ſchwörenden Trommelſchlag und Geſang eingeleitet, die einzelnen Sätze der Götterbotſchaft, wie folgt: „Noch einmal, im nächſten Sommer, werdet ihr denſelben Weg ziehen wie in dieſem Jahre.“ „Dann werdet ihr die Gipfel des Ural beſuchen, da wo die Flüſſe Uſſa, Bodaratta und Schtſchutſchja ihren Lauf beginnen.“ „Auf dieſer Reiſe wird euch etwas geſchehen, ob Gutes, ob Böſes, vermag ich nicht zu ſagen.“ „An der Bodaratta iſt nichts zu erzielen, weil es dort an Holz und Weide fehlt; hier aber kann etwas ausgerichtet werden.“ „Eurem Vorgeſetzten werdet ihr Rechnung abzulegen haben; er wird ſie prüfen und mit euch zufrieden ſein.“ „Auch vor drei Aelteſten eures Stammes werdet ihr euch zu ver— antworten haben; ſie werden eure Schriften ebenfalls prüfen und dann über die neue Reiſe ihre Beſtimmung treffen.“ „Eure Reiſe wird fortan glücklich, ohne jeden Unfall verlaufen, ihr werdet eure Lieben zu Hauſe im beſten Wohlſein antreffen.“ „Wenn auch die jetzt noch an der Bodaratta weilenden Ruſſen das— ſelbe ausſagen wie ihr, werden zwei Kaiſer euch belohnen.“ „Ich ſehe kein Geſicht mehr vor mir.“ Die Handlung iſt zu Ende; auf den Bergen des Ural liegt das letzte Dämmern der Mitternacht. Alle verlaſſen den Tſchum, aus den Mienen der Ruſſen ſpricht dieſelbe Gläubigkeit, wie aus den Geſichtern der Oſtjaken und Samojeden. Wir aber fordern den Schamanen auf, uns auf unſer Boot zu begleiten, löſen ihm und ſeinem Jünger durch Branntwein die Zunge und legen ihm dann allerlei Kreuz- und Quer— fragen vor, auch ſolche der ſpitzfindigſten Art. Er beantwortet alle, ohne Ausnahme, ohne durch irgend eine in Verlegenheit zu geraten, ohne zu zögern, ohne auch nur ſich zu beſinnen; er beantwortet ſie überzeugungs— voll und überzeugend, klar und beſtimmt, kurz und bündig, ſo daß wir jetzt noch zweifelloſer als früher erkennen lernen, welch ſchlauen Geſellen wir vor uns haben. Er ſchildert uns, wie ſchon in ſeiner Knabenzeit der Geiſt über ihn gekommen ſei und ihn ſo lange gequält habe, bis er eines Schamanen Jünger geworden; wie er ſich mehr und mehr mit Jamaul, dem Götterboten, welcher ihm erſcheint als ein freundlicher Mann, auf ſchnellem Pferde reitend und einen Stab in der Hand tragend, befreundet habe; wie Die heidniſchen Oſtjaken. 369 Jamaul ihm zu Hilfe eile und nötigenfalls der Himmliſchen Hilfe herbei— rufe, wenn er, der Schamane, mit böſen Dämonen zu kämpfen habe, oft mehrere Tage nacheinander; wie der Götterbote ſtets die wahre unver— Ein Begräbnis bei den Oftjaken. fälſchte Botſchaft der Himmliſchen ihm mitteilen müſſe, weil er ſonſt alle Schläge, welche die Trommel zum Tönen bringen, als ſchmerzhafte Streiche fühle; wie Jamaul auch heute, nur ihm ſichtbar, hinter ihm im Tſchum geſeſſen und ihm die uns geſagten Worte ins Ohr geflüſtert habe; wie er, der Schamane, durch ſeine Kunſt oder die ihm verliehene Gnade, welche Brehm, Vom Nordpol zum Aequator. 24 370 Die heidniſchen Oſtjaken. auch ſein Uebertritt zum Chriſtentum nicht zu ſchwächen vermocht, Ver— borgenes erkunden, Geſtohlenes ausfindig machen, Krankheiten erkennen, Tod oder Geneſung Erkrankter vorausſehen, die Schatten Geſtorbener wahrnehmen und bannen, viel Böſes verüben und viel Böſes verhindern könne, aber nur Gutes thue aus Furcht vor den Himmliſchen; er gibt uns ein ausführliches und klares, wenn auch nicht ganz richtiges Bild des Glaubens der Oſtjaken und Samojeden; er verſichert, daß alle ſeines Volkes wie die Oſtjaken ihn in allerlei Nöten beſuchen, um Rat fragen, ſich durch ihn die Zukunft enthüllen laſſen und, ohne zu zweifeln, ihm vertrauen, an ihn glauben. Letzteres iſt nicht der Fall. Die große Menge des Volkes mag in den Schamanen einen Wiſſenden, vielleicht auch einen Vermittler zwiſchen dem Menſchen und der Gottheit und möglicherweiſe ebenſo einen geheimnis— voll Mächtigen erblicken; ſeinen Worten und Werken aber glauben viele ebenſowenig, als andere Völker ihren Prieſtern. Der wirkliche Glaube des Volkes iſt einfacher und kindlicher, als dem Schamanen recht ſein mag. Es geht auch hier wie anderswo: der Prieſter oder der, welcher ſich als ſolcher gebart, bevölkert den Himmel mit Göttern und Räten und Dienern der Gottheit; das Volk aber weiß nichts vom himmliſchen Hofſtaate. | Nach feinem Glauben thront in den Himmeln Ohrt, deſſen Name ſo viel wie „Ende der Welt“ bedeutet. Er iſt ein allmächtiger Geiſt, welcher nur dem Tode gegenüber keine Macht hat, dem Menſchen wohl— wollend zugeneigt. Geber des Guten, Spender der Rentiere, Fiſche und Pelztiere, Hinderer des Böſen und Rächer der Lüge, ſtreng nur dann, wenn ihm Verſprochenes nicht gehalten wird. Ihm feiert man Feſte, ihm opfert und zu ihm betet man; ſeiner gedenkt der Flehende, welcher ſich vor ein heiliges Bild ſtellt. Das Bild, Longch genannt, kann aus Holz geſchnitzt, oder ein Tuchbündel, ein Stein, ein Fell oder ſonſtiger Gegen— ſtand ſein: Kräfte beſitzt, Schutz gewährt, ein Fetiſch iſt es nicht. Ver— ſammelt man ſich vor einem Longch, bringt man einen ſolchen vor den Tſchum, ſtellt man ihm eine Schüſſel mit Fiſchen oder Rentierfleiſch oder ſonſtige Opfer vor, legt man Wertgegenſtände vor ihm nieder, packt man ſie in ſein Inneres ſelbſt: man blickt dabei immer zum Himmel auf und gedenkt opfernd wie im Gebete der Gottheit. Böſe Geiſter wohnen im Himmel wie auf Erden; aber Ohrt iſt mächtiger, als ſie alle; nur der Tod iſt mächtiger als er. Ein ewiges Leben nach dem Tode gibt es nicht, eine Auferſtehung ebenſowenig; aber der Tote wandelt noch ferner Die heidniſchen Oſtjaken. 371 als Schatten auf Erden umher, und der Schatten hat noch immer Macht, Gutes und Böſes zu thun. Stirbt ein Oſtjake, ſo beginnt unmittelbar nach ſeinem Tode das Schattenleben des Geweſenen; daher ſchreitet man unverzüglich zu ſeiner Beerdigung. Schon vor ſeinem Tode hatten ſich alle Freunde des Schei— denden verſammelt; ſofort nach dem Ableben zündet man im Tſchum, in welchem die Leiche liegt, ein Feuer an und unterhält es, bis man zur Grabſtätte aufbricht. Ein Schamane wird gerufen, um den Toten zu fragen, auf welchem Friedhofe er beerdigt ſein will. Dies geſchieht, indem man den Ort nennt und das Haupt der Leiche zu erheben verſucht. Iſt der Tote einverſtanden, ſo läßt er zu, daß ſein Haupt erhoben werde; im entgegengeſetzten Falle würden drei Männer dies nicht vermögen. Dann muß die Frage wiederholt werden, bis der Tote einwilligt. Nunmehr ſendet man kundige Leute zur Stelle, um das Grab zu bereiten; denn dieſe Arbeit erfordert oft mehrere Tage. Die Grabſtätten liegen ſtets in der Tundra, auf erhabenen Stellen, gewöhnlich auf dem Rücken langgeſtreckter Hügel; die Gräber ſind mehr oder minder kunſtvoll zuſammengefügte Truhen, welche über dem Boden aufgeſtellt werden. In Ermangelung feſter Bohlen zu ihrer Herſtellung zerſchneidet man ein Boot und bettet in dieſes den Leichnam; nur ſehr arme Leute tiefen eine ſeichte Grube im Boden aus und begraben in ihr einen Toten. Der Leichnam wird nicht gewaſchen, aber mit Feierkleidern angethan und ſein Haar geſtrählt, ſein Geſicht ſodann mit einem Tuche verdeckt. Alle übrigbleibenden Kleider fallen den Armen zu. Einen fremden Toten berührt man nicht mit den Händen, einen geliebten Verwandten aber wohl, küßt ihm ſelbſt mit Thränen im Auge das erſtarrte Antlitz. Auf einem Schlitten, in einem Boote, unter Geleit aller verſammelten Verwandten und Freunde bringt man den Leichnam zum Friedhofe. In die Truhe oder in das Grab legt man ein Rentierfell, auf welchem der Tote ruhen ſoll, ihm zu Häupten und zu beiden Seiten Tabak, Pfeife und allerlei Gerät, welches er im Leben gebrauchte. Dann unterfängt man den Leichnam mit Stricken, trägt ihn zur Truhe, bettet ihn auf ſein Lager und verdeckt ihm zum letztenmal ſein Geſicht, breitet ein Stück Birkenrinde über die Oeffnung der Truhe, welche bei Reichen vorher vielleicht auch mit koſtbaren Fellen und Tuchſtoffen überdeckt wurde, legt auf die Birkenrindentafel den eigentlichen Deckel der Grabkiſte oder wenig— ſtens ſchwere Baumſtämme dicht aneinander und auf dieſe, um und unter 372 Die heidniſchen Oſtjaken. die Truhe alle diejenigen Gerätſchaften, welche in ihr ſelbſt nicht Platz fanden, nachdem man ſie vorher zerſchlagen oder irgendwie für Lebende unbrauchbar, nach oſtjakiſcher Anſicht zu Schatten von dem, was fie waren, gemacht hat. Währenddeſſen hat man in der Nähe des Grabes auch ein Feuer angezündet und eins oder mehrere Rentiere geſchlachtet, deren Fleiſch jetzt von den Grableuten roh und gekocht genoſſen wird. Nach dem Leichenmahle ſpießt man die Schädel der geſchlachteten Rentiere auf Pfähle, umwickelt ſie oder naheſtehende Bäume auch mit deren Geſchirr, hängt die Glöcklein, welche ſie bei feſtlichen Gelegenheiten und ſo auch heute trugen, an den oberen Jochen der Grabtruhe ſelbſt auf, zerſchlägt endlich den Schlitten, ſtürzt ihn in der Nähe des Grabes um und gibt dieſem damit ſeinen letzten Schmuck. Dann zieht man heimwärts. Die Klage verſtummt, und das Leben fordert wiederum ſeine alltäglichen Rechte. Im Schatten der Nacht aber beginnt der Schatten des Toten, aus— gerüſtet mit den zu Schatten gewandelten Werkzeugen, ſein geheimnisvolles Schattenleben. Was er gethan, als er noch unter den Lebenden wandelte, thut er auch ferner. Unſichtbar für alle, weidet er ſeine Rentiere, treibt er ſein Boot durch die Wellen, ſchnallt er ſich die Schneeſchuhe an die Füße, ſpannt er den Bogen, ſtellt er das Netz, erlegt er die Schatten ge— weſenen Wildes, fängt er die Schatten geweſener Fiſche. Im Schatten der Nacht tritt er in den Tſchum ſeines Gatten, ſeiner Familie, fügt er ſeinen Nachgelaſſenen Gutes und Böſes zu. Sein Lohn iſt, ſeinem eigenen Fleiſch und Blut Wohlthaten zu erzeigen; ſeine Strafe beſteht darin, ſeinen Angehörigen fortdauernd Böſes zufügen zu müſſen. Dies find Grundzüge des Glaubens der Oſtjaken, welche die recht: gläubigen Chriſten als Heiden anſehen und verachten. Gerechte Würdigung der ehrlichen Menſchen mit Kindesgemüt aber kann zu dem Wunſche ver— leiten: möchten ſie immerdar Heiden, oder doch das bleiben, was ſie ſind. Wanderhirten und Wanderherden der Steppe. o reich die mittelaſiatiſche Steppe auch iſt, ſo bunt ſie namentlich dem erſcheint, welcher ſie im Frühjahre betritt, ſo vieles fruchtbare Land 8 ſie umſchließt: Seßhaftigkeit, Wohnen und Hangen auf und an einer und derſelben Scholle geſtattet ſie nur in ihren begünſtigtſten Teilen. Ziehen und Wandern, Kommen und Gehen, Erſcheinen und Verſchwinden verlangt ſie von faſt allen ihren Kindern, verlangt ſie von den Menſchen wie von den Tieren, welche in ihr leben und hauſen. Einzelne Teile von ihr mag ſich der Ackerbauer gefügig, unterthänig machen; auf einzelnen Stellen mag er Dörfer und Städte gründen: im großen Ganzen wird er die Steppe immer und allezeit dem wandernden Hirten, welcher ſich allen Verhältniſſen anzuſchmiegen weiß, überlaſſen müſſen. Unter den Wanderhirten der Steppe ſtehen die Kirgiſen obenan, ebenſowohl was ihre Anzahl als was ihre Geſittung anlangt. Ihr Weide— oder Wohngebiet erſtreckt ſich vom Don und der Wolga bis zum Thian— ſchangebirge und vom mittleren Irtyſch bis ſüdlich des Balkaſchſees, ja faſt bis Chiwa und Buchara; ihr Volk teilt ſich in Horden und Stämme, in Steppen⸗ und Berghirten, iſt aber ein und dasſelbe in Abſtammung und Sprache, in Glauben, Sitten und Gewohnheiten, ſo verſchieden die ein— zelnen Stämme auch erſcheinen mögen. In der Orenburger Steppe weidet und wandert die kleinere oder jüngſte Horde, in den Steppen zwiſchen Wolga und Uralfluß, beziehentlich in den Gouvernements Turgai und Ural, ein von ihr abgetrennter Zweig, welcher ſich die Bukaiſche Horde nennt; in den Steppen und Gebirgen des Irtyſch- und Balkaſchgebietes hauſt und zieht die mittlere oder ältere Horde, jenſeits des Fluſſes Illi endlich, bis gegen Buchara und Chiwa hin, ſind die wechſelnden Wohn— ſtätten der Bergkirgiſen zu ſuchen, welche ſich als die große oder älteſte Horde bezeichnen. Kirgis oder Kirgiſe nennt ſich übrigens kein einziger 374 Wanderhirten und Wanderherden der Steppe. Zweig des ganzen Volkes; denn Kirgis iſt ein Schmähwort, welches ſo viel als „Räuber“ bedeutet; der eigentliche Name unſerer Leute iſt Kaiſak oder Kaſak, wie wir es leſen würden, „Koſak“, obgleich ſelbſt die Ruſſen unter der Bezeichnung Koſaken gegenwärtig ganz andere Leute verſtehen als unſere Steppenbewohner. Die Kirgiſen, wie ich ſie trotzdem nennen werde, ſtellen einen der türkiſchen Stämme dar, über deſſen Raſſenangehörigkeit man verſchiedener Meinung ſein kann. Viele, wenn nicht die meiſten Reiſenden ſehen in ihnen echte Mongolen, während andere, und wohl mit mehr Recht, ſie als ein Miſchlingsvolk betrachten, welches zwar in der einen oder anderen Beziehung an Mongolen erinnert, im ganzen aber mehr Merkmale der Indogermanen aufweiſt und den Turkmenen am meiſten ähnelt. Die von mir geſehenen Kirgiſen, ſämtlich Angehörige der mittleren Horde, ſind mittelgroße oder kleine, wohlgebaute Leute mit zwar nicht ſchönem, aber doch auch nicht mongoliſch fratzenhaftem Geſicht, zierlichen Händen und Füßen, klarer oder durchſichtig hellbrauner, etwas ins Gelbliche ſchimmern— der Hautfärbung, braunen Augen und ſchwarzen Haaren. Die Backen— knochen treten ſelten ſo weit vor, und das Kinn verſchmälert ſich nur aus— nahmsweiſe ſo, daß das Geſicht winkelig oder zum Katzengeſichte wird; das mittelgroße Auge iſt in der Regel in der Mitte am meiſten gewölbt und am äußeren Augenwinkel wagerecht vorgezogen, alſo zwar mandel— förmig, aber nicht ſchief geſchlitzt, die Naſe meiſt gerade, ſeltener gebogen, der Mund mäßig und meiſt ſcharf geſchnitten, der Bart dünn, jedoch nicht eigentlich ſchwach. Echt mongoliſche Geſichtszüge werden freilich auch, und zwar hauptſächlich bei Frauen und Kindern ärmerer Leute wahrgenommen; ebenſowenig aber, als ich wirklich ſchöne Kirgiſinnen geſehen habe, ſind mir ſo fratzenhafte Geſichter vorgekommen, wie unter anderen, unzweifel— haften Mongolen. Das Gepräge eines Miſchlingsvolkes macht ſich jeden— falls in höherem Maße geltend, als das einer beſtimmten, ſcharf ausge— prägten Raſſe. Ich habe Männer geſehen, welche man, hätte man über ihre Stammesangehörigkeit nichts gewußt, unbedingt zu den edleren Indo— germanen gezählt haben würde, und ich habe andere kennen gelernt, denen ich den mongoliſchen Schnitt ihres Geſichtes beim beſten Willen nicht ab— ſprechen konnte. Die Angehörigen alter Familien ſind durchgehends Leute, welche alle weſentlichen Merkmale der Indogermanen beſitzen, die Männer niederer Ab- und geringer Herkunft ſolche, welche wenigſtens in gewiſſen Einzelheiten an die Mongolen erinnern, ihnen ſogar oft faſt vollſtändig gleichen. Die Macht des Islam, welcher dem zum Bekenner der Lehre des Wanderhirten und Wanderherden der Steppe. 375 Heils gewordenen Sklaven Stammesrechte gewährt, mag im Verlaufe der Zeit aus vielen heidniſchen Mongolen Kirgiſen gewonnen und das Stammes— gepräge der letzteren dadurch nicht allein beeinflußt, ſondern geradezu ge— ſchädigt haben. Obgleich in ihren Grundzügen türkiſch, iſt die Kleidung der Kirgiſen doch durchaus nicht geeignet, ihre Geſtalt in das vorteilhafteſte Licht zu ſtellen. Im Winter zumal verdecken Pelzmützen, Pelze und dickſchäftige Stiefel alle Einzelheiten der Geſtalt, und auch im Sommer gelangt dieſe nicht zur Geltung. Der ärmere Kirgiſe trägt außer ſeinem Pelze und der unentbehrlichen Pelzmütze nur noch Hemd, Kaftan und weite Bein— kleider, der vornehme und reiche dagegen, ebenſo wie der Morgenländer, viele Kleidungsſtücke übereinander; dieſer wie jener aber ſteckt, mit allei— niger Ausnahme des Pelzes, alle den unteren Teil des Leibes umhüllenden Kleider in weite Hoſen, um beim Reiten nicht gehindert zu werden, nimmt ſich aber gerade dadurch um ſo ſpaßhafter aus, je reicher gekleidet er iſt. Man liebt dunkle Farben mehr als helle und lebhafte, ohne dieſe jedoch zu verſchmähen, gefällt ſich aber im bunten Schmuck von Stickereien und Treſſenbeſatz. Am Gürtel trägt faſt jeder Kirgiſe ein zierliches, durch Eiſen⸗ oder Silberbeſchlag reich verziertes Täſchchen und ein ebenſo ge: ſchmücktes Meſſer, außerdem aber, abgeſehen von dem unerläßlichen Siegel— ringe, keinen Schmuck, es ſei denn, daß der Kaiſer ſolchen in Geſtalt einer Denkmünze verliehen habe. Ueber die Kleidung der Frauen vermag ich wenig zu ſagen, einmal, weil beſcheidene Zurückhaltung mir verbot, nach mehr zu fragen, als ich ſehen konnte, und dann, weil ich die Frauen reicher und vornehmer Kir— giſen überhaupt nicht, andere nicht im Feiergewande zu ſehen bekam. Außer dem Pelz, den Stiefeln und Schuhen, welche denen der Männer durchaus gleichen, tragen die Frauen Beinkleider, welche ſich ebenfalls wenig von denen der Männer unterſcheiden, ein Hemd, darüber ein kutten— ähnliches Obergewand, welches bis über das Knie herabfällt und in der titte zuſammengehalten wird, auf dem Haupte aber entweder ein turban— artig gewundenes Tuch oder eine nonnenhafte Kapuze, welche über Kopf, Hals, Schultern und Bruſt herabreicht. Männer- wie Frauenkleider find, mit alleiniger Ausnahme der ſtets zierlichen Reiterſtiefel und Schuhe, plump gearbeitet; für beide bezeichnend, und offenbar im vollſten Einklange mit den Anforderungen des Klimas, ſind unmäßig lange, weit über die Hände herabfallende und dieſe faſt jederzeit verhüllende Aermel der Obergewänder. 376 Wanderhirten und Wanderherden der Steppe. Das durch freie Weide zahlreicher und anſpruchsvoller Herdentiere bedingte Wanderleben der Kirgiſen erfordert eine Behauſung, welche leicht errichtet, ohne ſonderliche Umſtände an dem einen Orte abgebrochen, an dem anderen wieder aufgebaut werden kann und dennoch gegen die Rauhig— keit und Unfreundlichkeit des Klimas genügenden Schutz gewährt. Dieſen Anforderungen entſpricht die Jurte beſſer als jede Wanderwohnung, und man ſagt nicht zu viel, wenn man ſie für das vollkommenſte aller Zelte erklärt. Jahrtauſendlange Erfahrung hat ſie nach und nach zu dem ge— macht, was ſie iſt: zu einer in ihrer Art unübertrefflichen Behauſung des wandernden Hirten, eines wandernden Menſchen überhaupt. Leicht von Gewicht und leicht beweglich, waſſerdicht und warm, gegen jeden Sturm verſchließbar und jeder Art von Lüftung, jedem Sonnenblicke erſchließ— bar, behaglich und bequem, einfach und dennoch reichen inneren wie äußeren Schmuck geſtattend, vereinigt ſie in ſich ſo viele vortreffliche Eigenſchaften, daß man ſie, je länger je mehr, ſchätzen lernt, ſie, je länger man in ihr lebt, um ſo wohnlicher findet. Sie beſteht aus beweglichem, zuſammenfüg— barem und ſpreizbarem Gitterwerk, welches die unteren ſenkrechten Ring— wände des Gerüſtes, und einem Kuppelringe, der die oberſte Wölbung dar— ſtellt, aus zwiſchen beiden eingefügten Sparren und einer in erſteres ein— geſetzten Thür, luftigen Matten aus Tſchigras, großen, entſprechend ge— ſchnittenen und in höchſt ſinnreicher Weiſe aufgelegten Filzplatten oder Filztafeln, welche mit den Matten die äußere Umkleidung des ganzen Ge— rüſtes, ſowie endlich Filzteppichen, welche die Decke des Bodens bilden; ſie wird, mit alleiniger Ausnahme der ineinander eingezapften Thürgewände und der am oberen Ende in Löcher des Kuppelringes einzuſteckenden Sparren, einzig und ausſchließlich durch Stricke und Bänder zuſammengehalten und iſt daher ebenſo leicht teil- und zerlegbar, wie ſie infolge ihres kreisrunden Querſchnittes und kuppelförmigen Längsſchnittes ſelbſt heftigen Stürmen und Unwettern überhaupt Widerſtand leiſtet. Ihre Aufſtellung erfordert kaum mehr als eine halbe Stunde, ihr Abbruch noch weniger, ihre Be— förderung von einer Stelle zur anderen die Kraft eines einzigen Kameles; ihre Herſtellung und Ausſchmückung aber beanſprucht viele Zeit und alle Geſchicklichkeit der Hausfrau, welcher die Hauptarbeit bei der Anfertigung wie die alleinige Mühewaltung der Aufſtellung zukommt. Die Jurte bildet einen wichtigen Teil des beweglichen Beſitzes eines Kirgiſen. Reiche Leute nennen deren ſechs bis acht ihr eigen, verwenden aber mehr Geld auf die Ausſchmückung der einzelnen, als auf Herſtellung vieler Jurten, weil ſie nicht nach der Häupterzahl ihrer Herden, ſondern Wanderhirten und Wanderherden der Steppe. 377 nach der Anzahl ihrer Jurten eingeſchätzt und beſteuert werden. Der Vornehme prunkt allerdings auch mit ſeiner Jurte, indem er ſie ſo reich als möglich ausſtatten, aus dem wertvollſten Filz herſtellen und außen und innen mit allerlei Zierat aus bunten Tuchſtücken beſetzen läßt; mehr aber gilt ihm der Beſitz von koſtbaren Teppichen und ſeidenen, kunſtvoll genähten und geſtickten Decken, mit denen er bei Feſtlichkeiten das Innere des wohnlichen Raumes ſchmückt. Solche Teppiche vererben ſich vom Vater auf den Sohn und werden dem Beſitze von ungeprägtem Silber nicht nachgeſtellt. Gleichwohl ſchätzt und wägt man das Vermögen unſeres Wander— hirten nicht nach ſolchen nebenſächlichen Dingen, ſondern einzig und allein nach ſeinen Herden. Auch der ärmſte Jurtenherr muß, um überhaupt leben, den Kampf um das Daſein aufnehmen zu können, zahlreiche Herden— tiere beſitzen; denn das Vieh, welches er weidet, iſt für ihn die alleinige Lebensbedingung: einzig und allein ſeine Haustiere ſichern ihn vor dem Verderben. Die Herden des Reichen zählen nach Tauſenden und aber Tauſenden von Häuptern, die des Armen wenigſtens nach Hunderten; aber der Reichſte kann verarmen, wenn ausbrechende Seuchen ſeine Herden be— fallen, und der Arme kann verhungern, wenn allgemeines Viehſterben die ſeinigen heimſucht. Weit um ſich greifende Seuchen vernichten den Wohlſtand ganzer Stämme, opfern Tauſende von Menſchen buchſtäblich dem Hungertode. Kein Wunder daher, daß ſich alles Denken und Trachten des Kirgiſen auf das regſte mit ſeinen Herden verknüpft, daß ſeine Sitten und Gewohnheiten mit dieſer innigen Verbindung des Menſchen und des Tieres im Einklange ſtehen, daß der Menſch abhängig wird von dem Tiere. Nicht das nützlichſte, das edelſte und geachtetſte aller Haustiere des Kirgiſen iſt das Pferd, in den Augen ſeines Beſitzers nicht allein der Inbegriff alles Hausgetieres, ſondern auch unbeſchränkter Schönheit, der Maßſtab, nach welchem gerechnet, nach welchem Reichtum und Armut be— ſtimmt wird. Anſtatt des Wortes „Pferd“ gebraucht der Kirgiſe einfach das Wort „Haustier“, anſtatt der Worte „links und rechts“ die Ausdrücke: „Die Seite, auf welcher man zu Pferde ſteigt“ und „die Seite, auf welcher man die Knute trägt.“ Das Pferd iſt der Stolz des Jünglings wie der Jungfrau, des Mannes wie des Greiſes, der Frau wie der Greiſin; man rühmt, man ſchmäht den Reiter, wenn man ſein Pferd lobt oder tadelt: der Schlag, welchen man einem Pferde gibt, welches man nicht ſelbſt reitet, gilt nicht dieſem, ſondern ſeinem Reiter, ſeinem Beſitzer. Ein großer Teil aller kirgiſiſchen Lieder und Geſänge beſchäftigt ſich 378 Wanderhirten und Wanderherden der Steppe. mit dem Pferde; es dient zu Vergleichen mit Menſchen, zur Schätzung des Wertes der Männer und Frauen, wie zur Bezeichnung menſchlicher Schönheit. „Braut, o Braut, du liebes Bräutchen, Du der dunklen Stute Füllen!“ ruft der Sänger der Braut zu, welche in die Jurte des Bräutigams geführt wird; „Sagt, der weißen Flocken Spiel, wo iſt es? Unſer Füllen-Schäkerſpiel, wo iſt es? Wenn der Schwäher mir auch noch ſo hold iſt, Wie der Vater iſt er nicht, o wißt es!“ antwortet die Braut den Jünglingen, welche ihr den „Dſchar-Dſchar“, das Troſtlied der „ſcheidenden Jungfrau“, ſingen, mit den Worten „Füllen— Schäkerſpiel“ der Zeit ihrer erſten Liebe gedenkend. In Pferdeshäuptern wird der Reichtum des Beſitzenden ausgedrückt; in Pferdeswert berechnet und bezahlt man das Brautgeld; hundert Stuten gleich wertet man die Jungfrau, welche man als Siegespreis des beſten Wettrenners ausſetzt; Pferde ſchenkt man ſich gegenſeitig; mit Pferden jühnt man Totſchlag oder Mord, im Kampfe zerbrochene Glieder oder ein ausgeſchlagenes Auge, Verbrechen oder Vergehen: hundert Pferde löſen den Totſchläger oder Mörder eines Mannes, fünfzig den eines Weibes, dreißig den eines Kindes aus Bann und Acht; in Pferden zahlt man das Strafgeld, welches von den Stammesgenoſſen auferlegt wird für Schädigung an Leib und Beſitztum des anderen; um des Pferdes willen wird ſelbſt ein angeſehener Mann zum Diebe. Das Pferd trägt den Liebenden zur Geliebten, den Bräutigam zur Braut, den Helden zum Kampfe, Sattel und Kleider des Verſtorbenen von einem Lagerplatze zum anderen; das Pferd trägt den Mann wie die Frau, den Greis wie das in ſeinem Sattel feſtgebundene Kind oder den jugendlichen Reiter, welcher zum erſtenmal frei im Sattel ſitzt, von einer Jurte zur anderen. Nach dem Werte des Pferdes ſchätzt der reiche Beſitzer ſeine Herden; ohne Pferd iſt der Kirgiſe dasſelbe, was bei uns ein heimatloſer Mann, ohne Pferd erachtet er ſelbſt ſich als den Aermſten unter der Sonne. Der Kirgiſe hat die Lebensweiſe und Lebensart des Pferdes genau erforſcht, kennt ſeine Sitten und Gewohnheiten, ſeine Vorzüge und Fehler, ſeine Tugenden und Untugenden, weiß, was ihm frommt und was ihm ſchadet, mutet ihm zwar zeitweiſe Unglaubliches zu, übernimmt es ohne Wanderhirten und Wanderherden der Steppe. 379 Not aber nie, behandelt es zwar nicht mit der zärtlichen Rückſicht des Arabers, aber auch niemals mit der Rückſichtsloſigkeit anderer Völkerſchaften. Von einer ſo verſtändnisvollen, vorbedachten Zucht des edlen Tieres, wie ſie Araber und Perſer, Deutſche und Engländer betreiben, bemerkt man nichts; gleichwohl ſorgt auch er fortwährend für Veredelung der bei ihm beliebten Schläge, indem er immer nur die beſten Hengſte den Stuten zugeſellt, die anderen aber verſchneidet. Leider ſieht er bei Auswahl der Zuchthengſte einzig und allein auf deren Geſtalt, nicht aber auch auf deren Färbung, und die Folgen davon ſind viele recht häßlich ausſehende, weil unregelmäßig und ungleich gefärbte Nachkommen. Die Abrichtung des Pferdes läßt viel zu wünſchen übrig; denn unſer Wanderhirt iſt viel zu reich an Pferden, als daß dies anders ſein könnte. Auch wir müſſen das kirgiſiſche Pferd als ein gefälliges, anmutiges Geſchöpf bezeichnen, obſchon es unſeren Anforderungen an Schönheit keineswegs in allen Stücken entſpricht. Es iſt ein höchſtens mittelgroßes, ſchlank gebautes Tier, mit nicht unſchönem, obſchon etwas großem, deutlich ramsnaſigem und durch die hervortretenden Unterkieferäſte merklich ver— dicktem Kopf, mittellangem, kräftigem Halſe, geſtrecktem Leibe, feinem Glie— derbau und weichem Haar. Seine Augen ſind groß und feurig, ſeine Ohren eher groß als klein, aber wohlgeſtaltet. Mähne und Schweif fein— und langhaarig, auch ſtets reich, die Schweifhaare ſo üppig entwickelt, daß ſie auf dem Boden ſchleifen, die Beine gut gebaut, vielleicht etwas zu ſchmächtig, die Hufe meiſt ſteil, aber oft etwas zu hoch. Helle Farben herrſchen vor, viele und oft recht häßliche Schecken beleidigen das Auge. Am häufigſten ſieht man Braune, Hellbraune, Füchſe, Falben und Iſa— bellen, am ſeltenſten Dunkelbraune oder Rappen, nur einzeln Schimmel. Mähne und Schweif zieren alle lichtfarbenen Pferde aus dem Grunde ganz ungemein, weil ſie entweder ſchwarz oder aber merklich lichter als das Körperhaar gefärbt zu ſein pflegen. Hohes Lob verdient der Charakter dieſes Tieres. Das kirgiſiſche Pferd iſt feurig und doch ungemein gutmütig, mutig allen ihm bekannten Gefahren gegenüber und nur dann ängſtlich, ſcheu und ſchreckhaft, wenn es Ungewohntes für den erſten Augenblick in Verwirrung ſetzt; es iſt ehrgeizig und leiſtungsfroh, aber ebenſo folg- wie lenkſam, willig, arbeitsluſtig und ungemein ausdauernd, immer aber nur als Reitpferd zu gebrauchen und erſt nach längerer Gewöhnung als Zugtier zu verwenden; als ſolches auch ſtets viel weniger leiſtungsfähig, denn als Reittier. Als beſonders unan— genehm erſchien mir ſeine, freilich mehr den Kirgiſen, als es ſelbſt be— 380 Wanderhirten und Wanderherden der Steppe. laſtende Unſitte, unterwegs ſtets freſſen oder doch naſchen und ſolches Ge— lüſte ſelbſt in den ſchwierigſten Lagen, beim Durchwaten ſteiniger und tobender Gebirgsbäche, oder beim Erklettern jäher Felſenwände befriedigen zu wollen. Begnügſam iſt es ebenſowenig, wie irgend ein anderes, an freie Weide gewöhntes Haustier der Steppe, im Umgange mit ſeines— gleichen aber, ſolange die allmächtige Liebe nicht in das Spiel kommt, ebenſo verträglich, wie ſeinem Herrn gegenüber gehorſam und unterthänig. Arme Kirgiſen beſitzen nur ſo viele Pferde, als ſie zum Reiten aller Familienmitglieder und zur Züchtung des erforderlichen Beſtandes bedürfen, reiche und vornehme Steppenbewohner dagegen deren vier-, fünf-, ja, wie ich von verſchiedenen Seiten verſichert worden bin, ſogar zehn- bis zwölf— tauſend, welche dann in beſonderen Herden und auf verſchiedenen Stellen weiden und ſehr erklärlicherweiſe glücklicher gedeihen, als die des Armen. Jede einzelne Herde beſteht aus mindeſtens fünfzehn und aus höchſtens fünfzig Häuptern, im letzteren Falle aus einem, in vollſter Manneskraft ſtehenden Hengſte, neun Mutterſtuten und ebenſovielen Jungfüllen, acht zwei-, ſechs bis acht drei- und fünf bis ſechs vierjährigen Fohlen, nebſt einigen älteren Tieren oder Wallachen. Der Hengſt iſt unbedingter Herr und Gebieter, Führer, Leiter und Beſchützer der Herde, läßt ſich vom Wolfe kein Füllen rauben, ſondern tritt dem feigen Räuber mutig und erfolgreich entgegen und ſchlägt ihn, falls er ſich ſtellt, mit den Vorder— hufen zu Boden; er duldet aber auch keinen Nebenbuhler und vertreibt daher unerbittlich alle mannbar werdenden Hengſte aus ſeiner Herde; er verjagt ebenſo, ſobald er die Führerſchaft übernommen, ſeine eigene Mutter und ſpäter ſeine eigenen Töchter. Dieſe ſtolze Eigenwilligkeit des Tieres nötigt, zumal während der Paarungszeit, den Hirten zur größten Wachſamkeit, ſoll er die vertriebenen, nach anderen Sultanen ſuchenden Stuten oder die ausgewieſenen, nach eigener Selbſtändigkeit ſtrebenden Hengſte nicht verlieren. Erſt im fünften Lebensjahre nimmt die junge Stute den Hengſt an; im nächſten Frühjahre, gewöhnlich im März, bringt ſie ihr erſtes Füllen zur Welt. Auch jetzt noch trennt man ſie nicht von der Herde, bringt ſie vielmehr erſt im Mai nebſt ihrem Füllen in die Nähe der Jurten, um ſie von dieſer Zeit ab vier Monate lang zu melken und den berühmten Kumys oder Milchwein zu gewinnen. Im Herbſte läßt man Mutter und Kind zu der Herde zurückkehren. Beide werden ohne Anſtand auf- und angenommen und genießen die ihnen wiedergeſchenkte Freiheit in vollen Zügen. Das nützlichſte und demgemäß das wichtigſte Haustier unſerer Wan— Wanderhirten und Wanderherden der Steppe. 381 derhirten, das Schaf, iſt ein ſehr großes, wohlgebautes, nur durch den Fetthöcker auf dem Hinterrücken zuweilen geradezu verunziertes Geſchöpf. Der ſtämmige Leib ruht auf hohen, aber kräftigen Beinen; der Kopf iſt klein, die Naſe ſchmal und ramſig, das Ohr hängend oder aufgerichtet, das Gehörn ſchwach, das Fell hart, aber dicht, das Euter ſehr, der Fett— ſteiß oft ſo ungeheuerlich entwickelt, daß das Tier ihn nicht mehr zu tragen vermag, ſondern mit eingeknickten Beinen auf dem Boden nachſchleppen muß, falls der Hirt dem armen Laſtträger nicht zu Hilfe kommt, indem er unter dem Schwanze einen kleinen zweiräderigen Wagen anbringt und dieſen mit dem Fettbuckel beladet. Bei Vermiſchungen kirgiſiſcher Widder und fettſteißloſer Schafe gewinnen die Nachkommen im zweiten oder dritten Geſchlechte dieſes abſonderliche Anhängſel, bei fortgeſetzter Paarung glatt— ſchwänziger Widder mit Fettſteißſchafen findet das Umgekehrte ſtatt. Wenn auch das Weſen des kirgiſiſchen Schafes dem des unſerigen in allen Hauptzügen gleicht, läßt ſich doch nicht verkennen, daß das freie Leben in der Steppe, die großen Wanderungen, welche es zu unternehmen und die Schwierigkeiten, welche es dabei zu überwinden gezwungen iſt, ſeine leiblichen und geiſtigen Fähigkeiten in ungleich höherem Grade als bei unſerem Hausſchafe entwickelt haben. Doch bildet auch in der Steppe die kluge Ziege des geiſtloſen Schafes Leiterin und Führerin, und es er— ſcheint daher mehr recht als billig, wenn ich zunächſt auch ihrer gedenke. Die kirgiſiſche Ziege iſt mittelgroß, ſtämmig und wohlgebaut, ihr Leib kräftig, der Hals kurz, der Kopf klein, der Gliederbau im beſten Ver— hältniſſe zum Leibe ſtehend, das Auge groß und lebhaft, der Blick aus— drucksvoll, das aufrechtſtehende Ohr ſpitzig, das Gehörn verhältnismäßig ſchwach, entweder einfach nach hinten und außen oder halb um ſeine Achſe gedreht, die Behaarung reichlich, zumal was Bart und Schwanzſpitze an— langt, das Stirnhaar verlängert und gekräuſelt, die vorherrſchende Färbung ſchön rein weiß mit ſchwarzer Abzeichnung. Schafe und Ziegen werden von den Kirgiſen genau in derſelben Weiſe behandelt, auch ſtets in denſelben Herden zuſammen geweidet. Arme Kirgiſen eines Aul bilden gemeinſchaftlich eine Herde, Reiche, deren Vieh— ſtand nach vielen Tauſenden zählt, deren mehrere. Der Schafhirt, in der Regel ein älterer Knabe, reitet auf einem Ochſen neben ſeiner Herde ein— her, weiß denſelben aber ſo trefflich zu zügeln und in Trab zu ſetzen, daß er auch die flüchtigſte Ziege einholt. Als wir, von einem Jagdausfluge zurückkehrend, einem Schafhirten begegneten, ſprengte dieſer zu ſeinem Ver— gnügen wohl eine Viertelſtunde lang neben unſeren, im ſcharfen Trabe 382 Wanderhirten und Wanderherden der Steppe. durch die Steppe eilenden Pferden einher, ohne daß ſein abſonderliches Reittier Ermüdung gezeigt hätte. Nur die Schafhirten der tatariſchen Herdenbeſitzer reiten ſtets auf Pferden. Bei bedenklichen Uebergängen rau— ſchender Gebirgswäſſer oder im Gebirge übernehmen die Ziegen die Führung der Herde, und hier, wie überall, folgen die Schafe blindlings ihnen nach. Da man nur an den günſtigſten Stellen Heu ſammelt und auf— ſchobert, verhindert man die Herbſtgeburten der Schafe und Ziegen; die Geburt der Lämmer und Zicklein fällt daher ſtets in das Frühjahr, welches dem Jungvieh das raſcheſte Wachstum und beſte Gedeihen ermöglicht. Neugeborene Lämmer und Zicklein werden in den erſten Tagen ihres Lebens in der Jurte aufgenommen und gewöhnen ſich bald ſo an dieſelbe, daß ſie den wohnlichen Raum nur unter kläglichem Blöken verlaſſen, wenn beſondere Umſtände dies erfordern. Später kommen ſie in den neben der Winterwohnung bereiteten Stall, in der freien Steppe eine einfache Grube im Boden, über welche der kalte Wind faſt unfühlbar hinwegſtreicht, end— lich an die Haftſeile, Kögön genannt, welche vor jeder Jurte zwiſchen ſtarken, in den Boden getriebenen Pflöcken ausgeſpannt werden. Sobald ſie zu weiden beginnen, treibt man ſie in beſonderen Herden in die freie Steppe hinaus und nur gegen Abend zur Jurte zurück. So gewöhnen ſie ſich von Kindheit an an das freie Leben in der Steppe, an Wind und Wetter, Sturm und Regen. Im Vergleiche zu den Pferden, Schafen und Ziegen ſpielt das Rind eine ſehr untergeordnete Rolle. Man bemerkt zwar in der Nähe jedes Aul auch eine Herde dieſer Tiere; dieſelbe ſteht jedoch in keinem Verhält— niſſe zur Menge der Schafe und Ziegen. Das Rind iſt zwar größer und beſſer geſtaltet als das der ruſſiſchen und ſibiriſchen Bauern, ſteht aber ſchon hinter dem chineſiſchen weit zurück und kann ſich auch nicht im ent— fernteſten mit einer hervorragenden Raſſe des weſtlichen Europa meſſen. Es iſt mittelgroß und fleiſchig, ſein Fell kurz- und glatthaarig, ſein Ge— hörn lang und geſchweift, die vorherrſchende Färbung ein ſchönes, geſät— tigtes Rotbraun. Man weidet das Tier in ziemlich großen Herden, läßt es jedoch ohne alle Aufſicht ſein Futter ſuchen und lockt die milchenden Kühe einzig und allein durch ihre bei der Jurte angebundenen oder gehüteten Kälber zurück, wogegen die Ochſen nach freiem Belieben oft mehrere Tage lang nicht zum Aul kommen. Wenn auch wohl jeder größere Aul, ſo beſitzt doch nicht jeder Kir— giſe Kamele, und ſelbſt der reichſte von ihnen ſelten mehr als fünfzig Wanderhirten und Wanderherden der Steppe. 383 Häupter. Denn das Kamel gilt mit Recht als das hinfälligſte aller Haus— tiere des Wanderhirten der genannten Steppen: ſeine eigentliche Heimat liegt ſüdlicher und öſtlicher. In den von uns durchreiſten Steppen züchtet man nur das zweihöckerige Kamel oder Trampeltier, in den ſüdlich des Balkaſchſees gelegenen, wie in Mittelaſien dagegen mit Vorliebe das Dromedar, kreuzt dieſes hier auch wohl mit jenem und bringt dann eigen— tümliche Blendlinge hervor, deren zwei Höcker faſt zu einem verſchmelzen. Das Trampeltier der mittleren Steppen gehört einer der leichteren Raſſen an, iſt daher keineswegs ſo maſſig und ſchwerfällig gebaut wie diejenigen Stücke, welche wir in unſeren Tiergärten zu ſehen bekommen, aber ebenſo dicht wie letztere behaart. Gleichwohl verträgt es die Kälte des Winters viel weniger als jedes andere Haustier der Kirgiſen, ver— langt, um niederzuknieen oder um zu ruhen, eine Filzdecke, auf welcher es ſich lagert, erkältet ſich aber auch dann noch leicht und geht infolge— deſſen oft zu Grunde. Während der Härung muß es in Filzdecken ein— gehüllt, im Sommer gegen Mücken- und Bremſenſtiche geſchützt werden, ſoll es dieſen nicht erliegen: kurz, es bildet einen Gegenſtand ewiger Sorge und eignet ſich daher nicht für den armen Mann, welchen jeder Verluſt mit dreifacher Härte trifft. Mit dem Dromedar teilt es Genügſamkeit und Anſpruchsloſigkeit, was das Futter anlangt; ihm gleicht es auch in ſeiner blinden, ſelbſt den ſonſt geliebten Herrn gefährdenden Wut während der Brunſtzeit; von ihm aber unterſcheidet es ſich im übrigen Laufe des Jahres, ſehr zu ſeinem Vorteile, durch ſeine Willigkeit und Frömmigkeit. Mir, der ich jahrelang mit Dromedaren umgegangen bin, fielen dieſe treff— lichen Eigenſchaften ganz beſonders auf: ich wurde faſt irre an ſeinem Geſchlecht. Ohne Widerſtreben läßt ſich das Trampeltier einfangen, zwar nicht gänzlich ohne Murren, aber doch ohne das abſcheuliche, nervenerſchüt— ternde Brüllen des Dromedars, kniet es nieder, wenn es beladen werden ſoll, und ſelbſt im Trabe ſchleppt es klaglos leichtere Laſten, dreißig bis vierzig Kilometer im Laufe eines Tages zurücklegend; wenn die Laſt rutſcht, hält es von ſelbſt im Laufe an. Unter dem Reiter kann es fünfzig bis ſechzig Kilometer in einem Tage zurücklegen; mit vierhundert Kilogramm Laſt auf dem Rücken, welche es zu einem langſamen, aber weit ausgrei— fenden Schritte zwingt, wenigſtens die Hälfte dieſer Strecke. Es weidet faſt ſtets in der Nähe der Jurten, gemeinſchaftlich mit allen Artgenoſſen des Aul und gilt in den Augen des Kirgiſen gewiſſermaßen als heiliges Tier. Der Hund endlich, das am mindeſten geachtete Haustier der Kirgiſen, iſt regelmäßig ein großes, jedoch nicht immer ein ſchönes Tier, ſo beſtimmt 384 Wanderhirten und Wanderherden der Steppe. und zu ſeinem Vorteile er ſich auch unterfcheidet von den häßlichen Kötern, welche man ſonſt in Sibirien und Turkeſtan zu ſehen bekommt. Der Kopf iſt zwar geſtreckt, aber plump, die Gliederung mehr die eines Wind— hundes als die eines Schäferhundes, die Behaarung lang und wollig, die Rute lang behangen, die Färbung ſehr verſchieden. MN, — — F Kirgiſen mit Trampeltieren. Aeußerſt wachſam und mutig, dem Wolfe ein achtunggebietender Gegner, dem ſchwächeren Herdenvieh ein ſelbſtbewußter und achtſamer Be— ſchützer, dem Fremden ein mißtrauiſcher Wächter, dem Herrn ein treuer Sklave, dem Erwachſenen ein ungeſelliger Sonderling, dem Kinde ein williger Spielkamerad, vereinigt auch er viele Tugenden ſeines Geſchlechtes und fehlt daher keiner Jurte, mindeſtens keinem Aul. Wanderhirten und Wanderherden der Steppe. 385 Um die Ausnutzung und demgemäß auch um ſorgſame Abwartung der Herden dreht ſich das ganze Leben der Kirgiſen. Erſtere bildet die Hauptaufgabe der Frauen, letztere die wichtigſte Arbeit der Männer. Mit Ausnahme der Knochen, welche achtlos weggeworfen werden, nutzt man jeden Teil des Leibes aller Herdentiere, ebenſo wie man alles und jedes weibliche Vieh milkt, ſolange man kann. Die Menge der pflanzlichen Nahrung eines Kirgiſen iſt verſchwindend klein im Vergleiche zur tieriſchen: Milch und Fleiſch bilden unter allen Umſtänden ſeine Speiſen, beiden zu— gemengte Pflanzenſtoffe immer nur die Zukoſt. Brot, im eigentlichen Sinne des Wortes, genießt er faſt gar nicht, und ſelbſt die kleinen Mehlteig— klümpchen, welche man dem Gebäcke zuzählen könnte, ſind im Fett geſotten, nicht aber gebacken. Auch Mehl und Reis, letzterer nur in der Jurte des Reichen ein häufigeres Gericht, dienen immer nur dazu, in das ewige Einerlei der Milch- und Fleiſchſpeiſen Abwechſelung zu bringen. Kein Wunder daher, daß ihm der Hungertod droht, ihn nur zu häufig auch wirklich ereilt, wenn allgemeines Viehſterben ihn im Inneren der Steppe heimſucht. Reiche Kirgiſen ſondern die Milch der Ziegen und Schafe von jenen der Kühe wie der Stuten und Kamele; arme Leute vermiſchen die Milch aller Herdentiere in demſelben Gefäße und gewinnen daher auch nur die Erzeugniſſe der Schafmilch aus dem Euter ihrer Nutztiere, wogegen jene auch höhere Genüſſe ſich verſchaffen können. Aus der Milch der Ziegen und Schafe, welche man ſtets in einen und denſelben Eimer milkt und in demſelben Lederſchlauche ſammelt, bereitet man nicht allein verſchiedene Gerichte, welche mit oder ohne Zuſatz von Mehl dargeſtellt und ſofort ge— geſſen werden, ſondern ebenſo Butter, kleine, ſauer oder bitter und ſandig ſchmeckende, einen europäiſchen Gaumen anwidernde Käſe und den auch nach unſerer Anſicht höchſt ſchmackhaften gelben Quark, welcher wie der Käſe für den Winter aufbewahrt und dann in Waſſer aufgelöſt als Suppe genoſſen wird, aus der Kuhmilch dagegen hauptſächlich Sauermilch und nur ausnahmsweiſe Quark, Käſe und Butter, aus Stuten- und Kamel— milch endlich Kumys, den oft beſchriebenen, durch viertägige Gärung unter fleißigem Schütteln und Schlagen gewonnenen Milchwein, das hochgeachtete und in der That wohlſchmeckende Feſtgetränk aller wohlhabenden Kirgiſen, in welchem ſie ſich berauſchen. Während des Sommers nährt ſich auch der reiche Kirgiſe faſt aus— ſchließlich von Milchſpeiſen, denn während dieſer Zeit ſchlachtet er nur bei Feſtlichkeiten und ſonſtwie wichtigen Ereigniſſen eines ſeiner Herdentiere. Brehm, Vom Nordpol zum Aequator. 25 386 Wanderhirten und Wanderherden der Steppe. Mit Beginn des Winters dagegen fallen Schafe und Ziegen, Pferde und Rinder, ſelbſt Kamele dem Schlachtmeſſer anheim. Als das edelſte Fleiſch betrachtet man das des Pferdes, zumal das der Stuten, als das ſchlechteſte und unedelſte das des Rindes. Schaffleiſch nimmt den zweiten Rang nach dem Roßfleiſche ein, Kamelfleiſch gilt als heilkräftig für die Seele, Ziegen— fleiſch als Merkmal der Armut, einem Gaſte vorgeſetzt, als Zeichen der Geringſchätzung. An dem getöteten Roſſe ſchätzt man das Kreuz, am Schafe das Bruſtſtück am höchſten; einen Leckerbiſſen erſten Ranges findet man in dem Bauchfett junger Pferde, ſalzt es daher, füllt es in Därme, räu— chert die Fettwürſte und ſetzt ſie geehrten Gäſten mit ebenſoviel Bewußt— ſein vor, wie Kumys. Neben den Nahrungsſtoffen verwendet der Kirgiſe auch faſt alle Nutz— ſtoffe des tieriſchen Leibes der von ihm gezüchteten Arten. Aus der Wolle der Schafe bereitet er ſich die ihm unumgänglich nötigen Filze; die Wolle des Kameles verarbeitet er zu Geſpinſten und Geweben: in die flaumen— weiche Unterwolle bettet die Mutter ihr neugeborenes Kindlein. Das lange Haar der Ziegen wird zum Franſenbeſatze der Teppiche und Tücher, zu Quaſten oder Stricken benutzt, das kurze Wollhaar geſponnen und zu Jurtenbändern gewebt, das Mähnen- und Schweifhaar der Pferde endlich zu hochgewerteten Leit- und Jurtenſtricken geflochten. Das Fell der Schafe liefert die gewöhnlichen Winterpelze, das Fell der Lämmer wie der Zicklein koſtbare Zierpelze, die in Flocken abgeſtoßene Wolle ſehr gute Watte zum Verdichten einzelner Kleider, die Haut aller Herdentiere endlich Leder ver— ſchiedener Art. Gegen das ihm überflüſſige oder von ihm nicht geſchätzte Fett der Herdentiere, gegen die von ihm verkauften Schafe, Rinder und Pferde tauſcht er ſich verſchiedene Waren des Weltmarktes ein; aus dem Erlöſe des von ihm verhandelten Viehes deckt er ſeine Steuern und Ab— gaben, kauft er ſich das ungemünzte Silber, mit welchem er gerne prahlt, das Eiſen, welches er verarbeitet, die Teppiche, Kleider- und Seidenſtoffe, mit denen er ſich ſelbſt und ſeine Jurte ſchmückt. Das Vieh iſt und bleibt die alleinige Nahrungs- und Erwerbsquelle unſeres Wanderhirten: das wenige Land, welches er gelegentlich pflügt, beſät, bewäſſert und aberntet, kommt den Herdentieren gegenüber kaum in Betracht. Nicht der freie Wille des Menſchen, ſondern die Notwendigkeit, den Bedürfniſſen der Herden gerecht zu werden, beſtimmt Aufenthalt und Lebensweiſe der Kirgiſen, zwingt ſie, heute hierhin, morgen dorthin zu wandern, an einem Orte zu verweilen und von ihm zu ſcheiden. Dem— gemäß iſt das Wandern unſerer Leute durchaus nicht ein zielloſes Umher— Kirgifen mit der Herde auf dem Zuge ins Gebirge. 27 5 ; 4 ' U 1 25 = Wanderhirten und Wanderherden der Steppe. 387 ſchweifen in der weiten Steppe, ſondern ein wohlüberlegtes Verändern des Ortes, je nach der Jahreszeit wie nach der Art des zu weidenden Viehes. Planloſes Umherirren erlaubt die Steppe weder im Winter noch im Sommer, weder im Herbſte noch im Frühlinge; ſolches würde die Herden im Winter den furchtbaren Stürmen preisgeben, im Sommer der Gefahr des Verdurſtens ausſetzen, im Frühjahre ſie vielleicht mit Ueber— fluß verſorgen und ſchon im Herbſte ihre Nahrung, mehr als erwünſcht und nötig, ſchmälern. Daher beginnt der Kirgiſe ſeine Wanderung von der Tiefebene aus, ſteigt langſam zur Höhe, ſelbſt zum Hochgebirge empor und kehrt langſam zur Tiefe wieder zurück. Die verſchiedenen Herden haben jedoch auch verſchiedene Bedürfniſſe: Schafe und Ziegen lieben harte, duf— tende Kräuter, wie ſie die Salzſteppe hervorbringt, die Pferde am meiſten das freie Gebirgskraut, zumal ſolches, welches zwiſchen Felſentrümmern hervorſproßt, während die Rinder am liebſten auf weichem Wieſenteppich graſen und die Kamele wiederum neben den harten Salzſteppenpflanzen Diſteln und Dornen als unentbehrliche Beſtandteile ihrer Nahrung anzu— ſehen ſcheinen. Reiche Leute, welche aus allen einzelnen Herdentieren be— ſondere Herden bilden können, laſſen daher dieſe jede für ſich wandern und weiden, und nur die Aermeren ziehen mit all ihrem Vieh von einem Orte zum anderen. Endlich beeinflußt auch der Menſch den Menſchen. Zwar nicht durch Grenz- oder Markſteine, wohl aber durch uralte Uebereinkunft ſind ſelbſt in der freien Steppe Beſitzrechte und Grenzen des Beſitzes feſt— geſtellt worden: jeder Stamm, jede Stammesabteilung, jede Gemeinde, jede Aulgenoſſenſchaft erhebt und behauptet Anrecht auf den von den Alt— vordern beweideten Boden und duldet auf ihm keine fremde Herde, keinen fremden Hirten, greift wohl ſelbſt zu den Waffen und kämpft in blutiger Fehde mit jedem Eindringlinge, ſelbſt mit dem Genoſſen des eigenen Stammes. So erklärt es ſich, daß der Wanderhirt nicht allein auf be— ſtimmten Wegen, ſondern auch in einem genau begrenzten Gebiete umher— zieht. Seine Wege können unter Umſtänden die eines anderen kreuzen, werden aber niemals dieſelben ſein, welche dieſer einſchlägt; denn jeder ehrt die Rechte des anderen und wird durch ſeine Stammesgenoſſen zur Achtung derſelben gezwungen. Seßhaftigkeit, nach unſeren Begriffen, erlangt der Kirgiſe erſt im Grabe, eine Heimat aber hat er wohl. Im weiteren Sinne iſt dieſe das Gebiet, welches er durchwandert, in weitaus den meiſten Fällen die Nie— derung und das Thal eines Flüßchens oder Bächleins, im engeren Sinne das Winterlager, von welchem er auszieht und zu welchem er immer wieder 388 Wanderhirten und Wanderherden der Steppe. zurückkehrt. In der Nähe dieſes Winterlagers ruhen, wenn nicht alle, ſo doch die meiſten ſeiner Toten; in ihm ſteht unter Umſtänden ſogar eine feſte Wohnung; hierher ſendet die Regierung ihre Boten, wenn ſie die ihm auferlegte Steuer erheben oder ihn einſchätzen, die Häupter feiner Fami— lienglieder oder ſeines Viehes zählen laſſen will; hier verlebt er zwar nicht die ſchönſte, aber doch die meiſte Zeit ſeines Daſeins; hier erleidet und überſteht der im allgemeinen heitere und ſorgloſe Mann ſeine ſchwerſten und ernſteſten Sorgen. Nicht die Winterwohnung ſelbſt, wohl aber das Winterlager iſt genau beſtimmt. Bedingungen für ſeine Wahl ſind, daß das Thal, in welchem das Lager aufgeſchlagen wurde oder werden ſoll, möglichſt geſchützt ſei vor den kalten, alles ertötenden Nord- und Oſtwinden, daß man die Jurten auf der Sonnenſeite errichten, feſtſtehende Häuſer hier ohne Schwierigkeit erbauen könne, daß das nötige Waſſer niemals fehle und daß man die erforderliche Weide für das Vieh in der Nähe des Lagers finde. Alle dieſe Bedingungen erfüllt am beſten ein Flußthal, welches das in ihm rinnende Gewäſſer tief eingeſchnitten hat in das umgebende Land, in welchem während der Sommermonate das Gras nicht verdorrt, ſo daß zu jeder paſſenden Zeit Heu gewonnen werden kann und doch noch für den Winter Futter übrigbleibt, und welches womöglich auch außer dem ſonſt zur Feuerung dienenden Miſte noch Brennſtoff liefert in den die Flußufer umſäumenden Weidengebüſchen und Schwarzpappeln. Daher wendet man die Wahl auch nur dann auf andere Stellen, wenn es ſich darum handelt, ein gewiſſes, im Sommer wegen mangelnden Waſſers gemiedenes Gebiet, beiſpielsweiſe eine Salzſteppe, auszunutzen, ſobald der jetzt den Boden deckende Schnee für Vieh und Menſchen das Waſſer erſetzen kann. Iſt die Winterwohnung eine feſtſtehende, ſo ſtellt ſie ſtets eine wahr— haft erbärmliche, dumpfe, feuchte und dunkle Hütte dar, die ſo leicht gebaut wurde, daß man gleich von vornherein auf den Schnee rechnete, welcher ihre Wände und Decke verdichtet und gegen das Wetter ſchützt. Dieſe Wände beſtehen nur ausnahmsweiſe aus übereinander geblockten Baumſtämmen, häufiger aus rohen Steinmauern, am häufigſten aus Weiden— geflecht oder nebeneinander geſtellten Rohrbündeln, Dach und Decke immer aus Röhricht. Nebenan befindet ſich ein ebenſo gebauter Stall für das Jungvieh, in einiger Entfernung davon eine Umfriedigung für die älteren Herdentiere. lit Beginn des Winters bezieht der Kirgiſe ſolche Winterwohnung, falls er nicht, wie wohl die Regel, auch jetzt noch die ungleich behaglichere Wanderhirten und Wanderherden der Steppe. 389 Jurte ihr vorzieht. Für die Erwärmung der einen wie der anderen hat er ſchon im vorhergehenden Frühjahre Sorge getragen, indem er, oder vielmehr ſeine Frau, welcher überhaupt alle unangenehmen und ſchwierigen Arbeiten zufallen, den Miſt der Herdentiere mit etwas Stroh vermiſchte und zu viereckigen Kuchen formte, die ſodann auf Haufen geſchichtet und in der Sonne getrocknet wurden. Alles Gras in der Umgegend iſt ſorgfältig geſchont worden, um den Herden in möglichſter Nähe der Woh— nung oder Jurten die nötigſte Nahrung zu bieten; das Heu hat man auf weiter entlegenen Stellen gemäht und hierher gebracht. Iſt der Winter ein guter, d. h. ein ſchneearmer, jo findet das Vieh auch jetzt noch ge— nügende Nahrung, iſt er ein ſtrenger, ſo vereitelt er oft alle Vorkeh— rungen, welche der Herdenbeſitzer treffen konnte, und fordert mehr Häupter ſeiner Weidetiere, als der vermehrende Frühling ſchenkte. Daher erlebt in einem guten Winter die heitere Freude auch in der dunklen Hütte des Wanderhirten, während in einem ſchweren Winter, welcher die Herdentiere zu wandelnden Gerippen ſchwächt, mit dem Kummer die ſchwarze Sorge einzieht auch in die freundliche Jurte; daher herrſcht dort wie hier ent— weder behäbiger Wohlſtand oder bitterer Mangel während der gefürchteten Zeit des Jahres. Erſt gegen Ende April, in manchen Jahren nicht vor Ende des Mai, verläßt dieſer Hirt mit dem letzten Teile ſeiner Herden das Winter— lager und beginnt zu wandern. Die von eigenen Hirten behüteten Pferde— herden haben ihren Kreisgang bereits angetreten, um das Kleinvieh nicht zu ſtören. Nicht von den munteren Füllen, welche vor wenig Wochen mit den erſten Zicklein geboren wurden, wird ſolches befürchtet, wohl aber von allen Junghengſten und Jungſtuten, welche in dieſem Frühlinge in das Alter der Mannbarkeit treten. Jene umſpringen zwar in neckiſchem Ueber: mute die ganze Herde, verlaſſen jedoch die währenddeſſen ruhig weidenden und nur dann und wann ihnen nachblickenden Mutterſtuten nicht; die mannbar werdenden Jungpferde aber verurſachen fortwährend Unruhe und erfordern die größte Achtſamkeit der jetzt verdoppelten Hirten. Bald käm— pfen die Junghengſte mit dem älteren, würdigen und herrſchſüchtigen Führer der Herde; bald drängen die Jungſtuten, ſeines eigenen Blutes Sprößlinge, ſich an den Vater und nötigen ihn, ſie durch Biſſe zu vertreiben; bald verſucht dieſes oder jenes Jungpferd zu entfliehen und ſtürmt mit gegen den Wind gerichtetem Haupte, mit weit geöffneten Nüſtern in die Steppe hinaus. Augenblicklich aber ſetzt jetzt der Hirt ſein Reitpferd in Galopp und hinter dem Flüchtling her jagt auch er in raſender Eile über Stock 390 Wanderhirten und Wanderherden der Steppe. und Stein, über Berg und Thal. In ſeiner Rechten hält er den langen | Hirtenſtock mit der am entgegengeſetzten Ende angebrachten Fangſchlinge; näher und näher kommt er der flüchtenden Jungſtute, ſchon ſchwebt die gefürchtete Schlinge über deren Haupte: da ſchwenkt ſie plötzlich ſeitlich ab, wirft beide Hinterbeine, gleichſam neckend oder höhnend, hochauf in die Luft, ſtürmt mit erneuerter Schnelligkeit dahin; und weiter geht die wilde Jagd, bis es dem Hirten endlich doch gelingt, die Flüchtige einzuholen und, an der Schlinge gefeſſelt, langſam zur Herde zurückzu— führen. So unterhaltend ſolches Schauſpiel für den unbeteiligten Zuſchauer, vielleicht auch für den Pferdehirten ſelber ſein mag, den ruhigen und gleich— mäßigen Gang des Kleinviehes würde das wilde Jagen oft beeinträchtigen, und deshalb läßt man die Pferde nicht gern mit dieſem ziehen. Schafe und Ziegen würden auch, nicht allein ihrer, durch den böſen Winter ver— urſachten Entkräftung, ſondern ebenſo der noch nicht genügend erſtarkten Lämmer und Zicklein halber, nicht imſtande ſein, ebenſo weite Wege zurück— zulegen, wie die Pferde; Sonderung beider Herden iſt daher auch aus dieſer Rückſicht geboten. Der Kleinvieh hütende Kirgiſe wandert anfänglich täglich nur eine kurze Strecke, einen „Schafweg“ weit, verweilt auch überall, wo es Weide gibt, ſo lange, als ſein Vieh begierig frißt. Bei der Wanderung eröffnet die Schafherde mit ihrem auf ſeinem Reitochſen ſitzenden, gegen jedes Wetter geſtählten Hirten den Zug. Die Schafe gehen mit ziemlich raſchen Schritten ihres Weges fort, bald enger ſich ſcharend, bald verteilend, hier und da im Laufe anhaltend, um eine beſonders leckere Pflanze gründlich abzuweiden, immer aber freſſend, mindeſtens naſchend; der Hirt begleitet ſie, auf ſeinem ebenfalls ununterbrochen graſenden Reittiere ſitzend. Der Herde der Mutterſchafe und Mutterziegen folgt die der Lämmer und Zicklein, jedoch in einem ſo weiten Abſtande, daß die Jungen von den Alten nichts zu ſehen und zu hören bekommen. Die Hammelherde zieht, falls ſie über— haupt noch vorhanden oder bereits wieder neu gebildet worden iſt, auf anderen Wegen dahin. Nach Abzug aller Herden brechen die Frauen die Jurte ab, beladen mit ihr und dem wenigen Hausrate die Kamele oder Laſtochſen, ſteigen mit Kind und Kegel zu Pferde und reiten langſam dem milchenden Kleinvieh nach, holen es um die Mittagszeit ein, melken und ziehen mit der geſammelten, in Lederſchläuchen aufbewahrten Milch weiter, um vor Sonnenuntergang die Jurte wieder aufzuſtellen. So treibt man es einen und alle Tage. Bringt der Frühling friſches Grün, ſo verweilt man erſt tage-, ſpäter wochenlang auf einer und derſelben Stelle, bis 1 Wanderhirten und Wanderherden der Steppe. 391 um fie her die Weide ſpärlich geworden iſt; dann zieht man weiter. Er: weckt der mehr und mehr fortſchreitende Frühling auch die noch in der Puppe ſchlafenden Kerbtiere zu vollem Leben; erfüllen unſchätzbare Schwärme von Mücken, nebſt Fliegen, Bremſen und anderen Quälgeiſtern die Luft, ſo wendet man ſich, falls es irgend möglich, dem Gebirge zu und ſteigt in ihm nach und nach bis zu den höchſten Matten dicht unter der Schnee— grenze empor. Für den ohne jegliche Hilfe des Hundes treibenden Hirten war es ſchon in der Ebene nicht immer leicht, die Herde zu leiten; im Gebirge aber wird es ihm oft unendlich ſchwer, ſeinen „Schafweg“ zurück— zulegen, und oft iſt es ihm ohne Hilfe anderer, auf Pferden ſitzender Reiter gar nicht möglich, einzelne Hemmniſſe zu überwinden. Solange es ſich um feſte Pfade handelt, kann der Weg ſtetig fortgeſetzt werden, gleichviel ob er ſich über blumige Matten ſchlängelt oder über Gehänge und Schroffen führt. Die den Schafen vorausgehenden Ziegen betrachten ein jenen vielleicht bedenklich erſcheinendes Gelände einige Zeit lang mit erwägenden Blicken, ſchreiten dann, einen zweckmäßigen Weg wählend, be— ſtimmt und ſicher voran und die Schafe folgen getreulich nach. Anders ge— ſtaltet ſich die Sache, wenn anſtatt eines murmelnden Bächleins ein breites und tobendes Wildwaſſer den Weg ſperrt und überſchritten werden muß. Angeſichts des den Schafen entſchieden feindlichen Elements ſtutzen ſelbſt die geweckten, in verſchiedene Lagen leicht ſich fügenden Ziegen; die Schafe aber prallen ängſtlich zurück, erklettern wohl auch benachbarte Felſen, als ob ſie ſich retten müßten. Vergeblich durchreitet der Hirt die rauſchende Flut; vergeblich treibt er, von drüben wieder zurückgekehrt, die unwillige Herde an ihrem Ufer zuſammen. Laut aufblökend geben die Schafe ihre Angſt zu erkennen, bedenklich meckern die Ziegen, bis dem Hirten die Ge— duld ausgeht. Einen Augenblick lang ſchwebt die verhängnisvolle Schlinge über dem Haupte eines der Schafe; im nächſten Augenblicke fühlt dieſes ſich am Halſe gepackt, an den Sattel geriſſen, eine Viertelminute ſpäter in das brauſende Waſſer geſchleudert. Jetzt muß es arbeiten mit eigener Kraft. Satzweiſe ſchwimmend, mehr ſpringend als rudernd, ſtrebt es von einem über das Waſſer emporragenden Felſenblocke zum anderen, wird, noch bevor es den feſten Grund erreichte, vom Wirbel gepackt und wider— ſtandslos fortgeriſſen, ſtrampelt, zappelt, ſpringt und rudert von neuem, wird noch ein- und das andere Mal weggeſchwemmt und erreicht endlich, mehr durch die ausgeſtandene Angſt als durch die aufgewandte Anſtrengung erſchöpft, das jenſeitige Ufer. An allen Gliedern zitternd, verſichert es ſich, ob es auch wirklich das feſte Land unter ſich habe, ſchüttelt ſein naſſes Es 392 Wanderhirten und Wanderherden der Steppe. Vließ, blickt blöden Auges noch einmal zurück und — beginnt nunmehr ſofort gierig zu freſſen, um ſich für die erlittene Unbill ſo viel als möglich zu entſchädigen. Währenddeſſen überſchwimmen die übrigen Glieder, eines nach dem anderen, entweder freiwillig oder gezwungen, den Wildbach, bis die ganze Geſellſchaft drüben wieder ſich geſammelt hat und die Reiſe fortgeſetzt werden kann. Solcherart klimmt der Wanderhirt im Gebirge empor. Beginnt es kalt zu werden in den Hochthälern, mahnt vielleicht ſchon Schneefall an den kommenden Winter, ſo wandert Hirt und Herde niederwärts, jetzt ſo viel als möglich die ſchattigen Schluchten aufſuchend, bis endlich die Tiefebene wieder erreicht und in der Nähe des Winterlagers der Kreislauf vollendet iſt. So geſchieht es in einem wie in allen Jahren. Alle Haustiere der Kirgiſen gewöhnen ſich ungemein ſchnell ein in den verſchiedenen Gegenden, in denen ſie weiden, wie auch die Oertlichkeit ſein möge; alle kennen ſchon nach ein- oder zweimaligem Weidegange auf einem neuen Gebiete den Platz, auf welchem ſie geweidet werden, genau und finden ihn ſelbſt ohne Hirten mit Sicherheit auf, kommen auch ohne deſſen Zuthun an die Jurten, um ſich hier melken zu laſſen. Ein Reiz- und Lockmittel beſteht freilich darin, daß man allen milchenden Müttern vom Mai ab ihre Jungen vorenthält und in der Nähe des Aul weiden läßt, alſo Sehnſucht erweckt in den Herzen der Mütter. So kann das Melk⸗ geſchäft ſtets zu derſelben Zeit vorgenommen werden und die Jurtenherrin den Tag ſich einteilen, ihre Arbeiten regeln. Mit alleiniger Ausnahme der Stuten, welche ſtets von Männern ge— molken werden und deren mindeſtens zwei, nicht ſelten deren drei während— deſſen in Atem halten, wird das Melken des Viehes immer durch die Frauen beſorgt. Am frühen Morgen hat man Kälber, Lämmer und Zicklein unter ſtrenger Aufſicht ein wenig ſaugen laſſen, ſodann von ihren Müttern getrennt und alt und jung auf die Weide getrieben. Um Mittag bringt man wohl die Mütter, nicht aber die Jungen zur Jurte, gegen Abend wiederum zu— nächſt die erſteren, um ſie zu melken. Mit Hilfe der Hunde, welche nur hier Dienſte leiſten, hält man die ganze Herde auf einem möglichſt be— ſchränkten Raume zuſammen und beginnt ſodann die Arbeit. Die Frauen und Dienerinnen einer Jurte oder die Nachbarinnen eines Aul erſcheinen mit Melkgefäßen in den Händen, packen mit unfehlbarem Griffe ein Schaf, ein zweites, drittes und ſchleppen es zum Haftſeile, legen ihnen eine aus dem Seile gebildete Schlinge um den Hals und zwingen ſo die Tiere, in zwei mit den Köpfen nach einwärts, mit dem Euter nach auswärts ge— kehrten Reihen ſtehen zu bleiben. So feſſelt man in wenig Minuten Wanderhirten und Wanderherden der Steppe. 393 dreißig bis vierzig Häupter, Schafe und Ziegen nebeneinander, und bildet ſo einen ſogenannten Kögön. Sobald die Tiere die Schlinge fühlen, ſtehen ſie, gewitzigt durch frühere Erfahrungen, mäuschenſtill und laſſen alles ruhig über ſich ergehen. Die Frauen beginnen, einander gegenüber hockend, IN — NN IN 22 N WAA Kirgiſen-Aul. an einem, wenn viele Schafe gefeſſelt wurden, auch wohl an beiden Enden der Doppelreihe, faſſen die kurzen Zitzen des Euters mit Daumen und Zeigefinger und entleeren die Milch mit raſchen Strichen. Fließt die Quelle nicht reichlich, ſo erſchüttern ſie mit einem von der Linken geführten Fauſtſchlage das Euter, genau ebenſo, wie die ſaugenden Jungen zu thun 394 Wanderhirten und Wanderherden der Steppe. pflegen, und erſt, wenn auch dieſes Mittel nicht mehr anſchlägt, gehen ſie zum nächſten Stücke über. Die Männer der Jurte oder des Aul, welche vielleicht beim Einfangen und Zuſammenſchnüren des Kleinviehes geholfen haben, ſitzen während des Melkens in allerlei, uns unmöglichen, ja faſt undenkbaren Stellungen nebenbei und gewähren ihrer „roten Zunge“ vollſte Freiheit; ein und das andere Knäblein unternimmt wohl auch auf dieſem oder jenem Schafe ſeine erſten Verſuche im Reiten, falls er nicht vorzieht, die Schultern ſeiner Erzeugerin hierzu zu benutzen. Letztere läßt ſich durch derartige Heldenthaten ihres Sproſſen ebenſowenig beirren, wie durch ſonſtige kleine Zwiſchenfälle. Ob ſie auf trockenem Boden oder in friſchem Schafmiſte kauert, ob ſolcher beim Melken in das aus Pappelholz gehöhlte Gefäß fällt, ficht ſie wenig an, denn das Gefäß iſt ohnehin ebenſo ſchmutzig wie die melkende Hand, und Schafmiſt iſt wohl in unſeren blöden Augen, nicht aber in denen des korangläubigen Kirgiſen ein unreiner Stoff. End— lich iſt das letzte Stück gemolken, und die Erlöſung der ſo lange ge— feſſelten, in Ermangelung einer beſſer zuſagenden Beſchäftigung wieder— käuenden Tiere kann geſchehen: ein raſcher Zug an einem Ende des Haftſeiles, alle Schlingen löſen ſich, und alle Schafe und Ziegen ſind frei. Ein allgemeines, faſt einſtimmiges Blöken und Meckern iſt der erſte Ausdruck des frohen Gefühls der wiedererlangten Freiheit; ein kurzes, in raſcher Folge wiederholtes Schütteln wirft auch den letzten Gedanken an die unwürdige Knechtſchaft ab; dann aber laufen alle ſo ſchnell als möglich davon, in der Ebene ſo weit von der Jurte weg, als Hirt und Herde ge— ſtatten, im Gebirge ſo raſch als ſie können den Bergen zu, als vermöchten ſie nur hier die Luft der Freiheit zu atmen. In That und Wahrheit ſtreben ſie, nur mehr ſo bald als möglich mit ihren Jungen vereinigt zu werden. Während des ganzen langen Tages haben ſie ihrer entbehrt: jetzt müſſen, aller Erfahrung gemäß, die geliebten Sproſſen erſcheinen. Beſtändig blökend laufen die Schafe umher, ſehnſüchtig meckernd ſchauen ſelbſt die verſtändigen Ziegen in die Runde, als wollten ſie erforſchen, ob die erwartete Schar bereits unterwegs ſei, wenigſtens in weiter Ferne ſichtbar werde. Mehr und mehr verſtärkt ſich das Blöken; denn jede neu erlöſte Reihe erregt alle in der Nähe des Aul überhaupt verſammelten Schafe und Ziegen; aber auch die von Minute zu Minute wachſende Un— geduld der Mütter gibt Grund und Anlaß zu kläglichem, faſt ſtöhnendem Blöken. Je länger die Zeit währt, um ſo unruhiger gebaren ſich die muttertreuen Tiere. Ziel- und zwecklos irren ſie hin und her, beſchnuppern jedes Hälmchen am Wege, pflücken aber kaum ein einziges ab, richten die Wanderhirten und Wanderherden der Steppe. 395 Köpfe erwartungsvoll, freudig auf und ſenken ſie enttäuſcht und traurig wieder zum Boden herab, blöken von neuem und blöken wieder. Die Un— ruhe ſteigert ſich nach und nach faſt bis zur Sinnloſigkeit, das Geblök zu einem förmlichen Gebrüll. Da ertönen von fernher ſchwache und hohe Blöklaute. Sie entgehen dem aufmerkſamen Ohre der Mütter nicht. Ein aus allen Kehlen gleich— zeitig erſchallendes Blöken und Meckern iſt die Antwort: die ganze, durch das lange Harren aufs höchſte geſteigerte Mutterſehnſucht preßt ſich in einen einzigen Schrei zuſammen. Und aus der Ferne heran, von den Bergen hernieder, den Jurten zu ſtürmen die nach der Mutter verlangenden Lämmer und Zicklein: die größten und kräftigſten voran, die jüngſten und ſchwächlichſten hinterdrein, alle aber eilend, in Sätzen ſpringend, vom auf— wirbelnden Staube halb verhüllt, zu einer um ſo mehr ſich verlängernden Reihe ſich dehnend, je näher ſie dem Ziele kommen. Ein dem Anſcheine nach unlösbares Gewimmel entſteht, Alte und Junge, endlich vereinigt, rennen ziellos durcheinander, im Vorübergehen flüchtig ſich berührend, um durch einen zweiten Sinn ſich zu vergewiſſern, ob die Zuſammengehörigen ſich gefunden; und die einen wie die anderen laufen weiter, wenn dies nicht der Fall iſt, Lämmer und Zicklein gewöhnlich erſt, nachdem ſie ein Stoß oder Fußtritt ſeitens des Muttertieres ihres Irrtums belehrt hat. Allmählich aber löſt ſich der dichte Knäuel; denn nach und nach, in viel geringerer Zeit, als man glauben möchte, hat jede Mutter ihr Kind, jedes Kind die Mutter gefunden, kniet letzteres bereits ſaugend unter dem Bauche ſeiner Erzeugerin, begierig die ihm noch beſchiedene Milch dem Euter ent— ziehend. Und wenn das Blöken auch jetzt noch nicht verſtummt, ſo drücken die Laute nunmehr doch nur noch die entſchiedenſte Befriedigung aus. Allein nur kurze Zeit währt dieſer allſeitig beglückende Zuſtand. Jedes vorher ſchon faſt ausgemolkene Euter iſt bald erſchöpft, und trotz aller Stöße der ſaugenden Jungen fließt die nährende Quelle nicht mehr. Aber noch will die Mutter, will das Junge, das Pärchen der Kinder das Glück des Zuſammenſeins genießen. Nach allen Seiten hin breitet die gemiſchte Herde ſich aus; die gefügige Alte klettert den munteren Jungen nach, wenn dieſe nach Art ihres Geſchlechtes der nächſten Höhe zuſtreben, oder ſieht anſcheinend voller Befriedigung zu, wenn ein Böcklein im neckiſchen Zweikampfe ſeine Kraft an der eines anderen gleich alten verſucht. Maleriſch ſchmückt die bunte Herde den Umkreis der Jurten; das anmutigſte Bild friedlichen und behaglichen Herdenlebens entrollt ſich dem Auge deſſen, welcher Sinn und Verſtändnis hat für ſolches Treiben. 396 Wanderhirten und Wanderherden der Steppe. Auch die Melkerinnen gönnen ſich jetzt eine kurze Ruhe, nehmen ihre Kinder auf den Schoß und genügen ihren Mutterpflichten oder Mutter— wünſchen; bald aber wartet ihrer neue Arbeit. Brummend melden ſich die heimgekehrten Kühe, um auch ihrerſeits der Mutterfreuden teilhaftig zu werden, und eilig erheben ſich die fleißigen Frauen, bringen die vorher angebundenen Kälber zu den Kühen, laſſen ſie ein wenig ſaugen, reißen ſie dann vom Euter los, melken dieſes aus und geſtatten nunmehr erſt den ſaugluſtigen Kälbern volle Freiheit. Währenddeſſen haben Hirten und Hunde die Kleinviehherde wieder zuſammengetrieben, und alt und jung, Männer und Frauen, Knaben und Mädchen vereinigen ſich jetzt, um die Lämmer zu fangen und ſie an feſten, nicht würgenden Schlingen, welche an einem Haftſeile vor den Jurten angereiht ſind, für die Nacht zu feſſeln, ſo daß die Alten nicht imſtande ſind, ihnen das Euter zu bieten. Ohne Blöken und Lärmen geht die letzterwähnte Arbeit nicht von ſtatten, und in das Blöken und Meckern miſcht ſich das Schreien und Heulen der wiederum nach der Mutter Schoße verlangenden Kinder, das Brüllen der Kühe, das Bellen der Hunde. Nur die bereits gefeſſelten Lämmer und Zicklein fügen ſich gelaſſen in das Unvermeidliche. Einzelne Böckchen ver— ſuchen zwar auch jetzt noch im ſpielenden Zweikampfe ihre ſproſſenden Hörnchen, ermüden aber bald und legen ſich dem eben bekämpften Gegner friedlich geſtimmt gegenüber; noch ehe die Reihe vollendet iſt, liegt be— reits der größere Teil der Jungen auf den zuſammengeknickten Beinen und gibt ſich der Ruhe hin. Ein und das andere Mutterſchaf, eine und die andere Ziege beſucht die Reihe, beſchnuppert die Jungen, bis ſie das ihrige gefunden, kehrt aber wieder zur Herde zurück, nachdem es oder ſie ſich überzeugt, daß es unmöglich iſt, neben dem Sprößling zu ruhen. Die Sonne iſt ſeit geraumer Zeit aus dem Geſichtskreiſe geſchwunden, die Dämmerung beinah ſchon dem Dunkel gewichen. Es wird ſtiller vor und ſtiller in den Jurten. Menſchen und Tiere haben die Ruhe geſucht und gefunden; nur die Hunde beginnen jetzt unter Leitung und Führung eines wachenden Hirten ihre Rundgänge und Streifzüge; aber auch ſie bellen bloß dann, wenn ſie wirklich Anlaß dazu haben, wenn es gilt, einen herbeiſchleichenden Wolf oder anderen Dieb zu ſcheuchen. Eine zwar kühle, aber würzige, tauige Sommernacht ſinkt auf die Steppe hernieder, und erquicklicher Schlummer läßt jetzt, in der reichſten und ſchönſten Zeit des Lebens, Hirten und Herden auch die letzte Erinnerung an die Unbilden des Winters vergeſſen. Volks- und Familienleben der Kirgifen. edroht und verfolgt von der ſtrafenden Gerechtigkeit flohen vier Diebe die Wohnſtätten ehrlicher Menſchen und ſuchten in der weiten Steppe Zuflucht und Verſteck. Auf der Flucht geſellten ſich ihnen zwei Bettlerinnen, ausgeſtoßen wie ſie aus den Wohnſitzen fleißiger Menſchen. Die Diebe fanden Gefallen an den Bettlerinnen und ehelichten ſie, je zwei von ihnen der Bettlerinnen eine. Den menſchlichen und göttlichen Ge— ſetzen widerſprechenden Bündniſſen entſproßten ſehr viele Kinder; die Kinder erzeugten ein zahlreiches Volk, und dieſes erfüllte die bisher menſchenleere Steppe. Aber es blieb ſeinem Urſprunge getreu, diebiſch wie ſeine Väter, bettelhaft wie ſeine Mütter, ohne Glauben, ohne Sitte, wie ſeine Eltern beide. Gedachtes Volk iſt das der Kirgiſen, deren Name nichts anderes als „Räuber“ bedeutet. Alſo erträumt ſich ein tatariſcher, glaubensſtarker Dichter den Ur— ſprung, alſo beſchreibt er das Weſen des ſtammverwandten Volkes, welches mit ihm dieſelbe Sprache ſpricht, zu demſelben Gotte, nach denſelben Satzungen desſelben Propheten betet wie er; alſo ſpricht er ſich aus, einzig und allein deshalb, weil die Kirgiſen in Glaubensſachen nicht ſo ſklaviſch am Worte hängen, nicht ſo kleinlich denken wie er. Es iſt die uralte und ewig neue Geſchichte, die unter allen Völkern wiederkehrende Schmach, welche obige Worte bethätigen, die fromme Lüge, vor deren Abſcheulichkeit noch keine Glaubensgenoſſenſchaft zurückgeſchreckt iſt, um Andersdenkende zu ſchwächen. Der Reiſende, welcher unter Kirgiſen ſich bewegt, der Fremdling, welcher unter dem leichten Dache ihrer Jurten Gaſtlichkeit ſucht und findet, der Gelehrte, welcher ihre Sitten und Gewohnheiten zu erforſchen ſtrebt, der Beamte, welcher als Wächter des Geſetzes, oder als Vertreter der 398 Volks- und Familienleben der Kirgiſen. ſtaatlichen Gewalt überhaupt unter ihnen lebt, jedermann mit einem Worte, welcher längere Zeit mit ihnen verkehrt, urteilt, falls er nicht befangen ſein will, durchaus anders als jener Tatar. Es gab eine Zeit, in welcher die Kirgiſen insgemein ihren Namen bethätigten, aber dieſe Zeit iſt, wenigſtens für viele Zweige der verſchie— denen Horden, vorüber. Ein Nachhall der Geſinnungen, Heldenfahrten und Räuberthaten der Väter mag in jedes Kirgiſen Bruſt erklingen; im großen ganzen aber hat ſich das Reitervolk der Steppe den Geſetzen ſeiner jetzigen Beherrſcher gefügt und lebt gegenwärtig ebenſo unter ſich wie mit den Nachbarn in Frieden, achtet das Recht des Eigentums und raubt und ſtiehlt nicht öfter und mehr als andere Völker, eher ſeltener und weniger. Unter der ruſſiſchen Herrſchaft lebt der Kirgiſe von heute unter ſo be— friedigenden Verhältniſſen, daß ſeine Stammesgenoſſen jenſeits der Grenze neidvoll auf die ruſſiſchen Unterthanen blicken. Unter dem Schutze ihrer Regierung genießen dieſe Ruhe und Frieden, Sicherheit des Eigentums und Glaubensfreiheit, ſind vom Kriegsdienſte faſt gänzlich befreit und werden in einer Weiſe beſteuert, welche man in jeder Beziehung billig nennen muß, haben das Recht, ſich eigene Gemeindevorſteher zu wählen und erfreuen ſich anderer Freiheiten mehr, welche nicht einmal die Ruſſen bisher erlangen konnten. Leider denken letztere faſt insgeſamt nicht ſo ver— nünftig wie die Regierung und beengen, bedrücken, übervorteilen die Kir— giſen, wann und wie immer ſie vermögen. Doch ſind ſie nicht imſtande geweſen, die Sitten, Gebräuche und Gewohnheiten des Volkes irgendwie zu beeinfluſſen. Die Kirgiſen ſind ein echtes Reitervolk und ohne Pferde kaum denk— bar: ſie wachſen mit den Füllen auf und leben mit dem Roſſe bis zu ihrem Tode. Zwar iſt der Kirgiſe keineswegs einzig und allein im Sattel des Pferdes heimiſch, weiß vielmehr jedes Tier, welches ihn tragen kann, rei— tend ſich dienſtbar zu machen: das Pferd aber bleibt immer und unter allen Umſtänden ſein Träger und liebſter Genoſſe. Auf ſeinem Sattel ſitzend, verrichtet er alle Geſchäfte, und das Pferd allein gilt als das eines Mannes einzig würdige Reittier. Männer und Frauen reiten in derſelben Weiſe, nicht wenige Frauen auch mit demſelben Geſchick wie die Männer. Die Haltung des Reiters iſt eine läſſige, möglichſt bequeme, für das Auge des Beobachters nicht gerade anſprechende. Der Kirgiſe reitet in kurz geſchnallten Steigbügeln, ohne Schenkelſchluß, nur mit den Knieen den vorderen Rand des Sattels berührend und daher frei im Gleichge— gewichte ſich haltend; er erhebt ſich, wenn er das Pferd traben läßt, in Volks- und Familienleben der Kirgiſen. 399 den Steigbügeln, ſtellt ſich oft geradezu in ihnen auf und beugt dann den Kopf ſo weit nach vorne hernieder, daß dieſer beinahe den Hals des Pferdes berührt; er hält ſich gerade, wenn er das Pferd, wie üblich, im Schritt oder Galopp gehen läßt. Den Zügel faßt er mit vollem Fauſtgriffe; die an der Riemenſchleife gehaltene Knute führt er mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger. Gar nicht ſelten ſtürzt er aus dem Sattel, denn er achtet wenig auf Weg und Steg und überläßt es dem Pferde, ſolchen ſich zu ſuchen; iſt er jedoch achtſam, ſo reitet er jeden Weg, welchen ein Einhufer überhaupt betreten kann, ohne alles Bedenken ebenſo, wie er ſich nicht be— ſinnt, das wildeſte, unbändigſte Pferd zu beſteigen. Schwierige Wege kennt er nicht; Weg bedeutet für ihn überhaupt nur Durchmeſſen einer be— ſtimmten Strecke; was zwiſchen dem Anfange und Ende dieſer Strecke liegt, iſt ihm vollſtändig gleichgültig. Solange er im Sattel ſitzt, mutet er ſeinem Reittiere das Unglaublichſte zu, ſprengt im Galopp bergauf oder bergab, über feſten Boden oder durch Sumpf, Moraſt und Waſſer, klettert ſchwindellos und ohne alle ihn beim Gehen wohl beſchleichende Furcht an Wänden empor, welche jeder andere Reiter als durchaus unzugänglich erachten würde, und blickt vom Sattel aus kühn in Abgründe zur Seite des von ihm Weg genannten Ziegenpfades, auf welchem den gebirgskundigen Fußgänger ein Fröſteln überkommen will. Sobald er abgeſtiegen iſt, hält er alle durch lange Erfahrung gewonnenen Regeln behufs Schonung eines angeſtrengten Pferdes feſt und behandelt jetzt ſein Roß ebenſo ſorgſam, als beim Reiten rückſichtslos. Bei feſtlichen Gelegenheiten führt er zum Vergnügen niemals fehlender Zuſchauer allerlei Kunſtſtücke im Sattel aus, ſtellt ſich in den über letzteren gekreuzten Steigbügeln auf und ſprengt ſtehend davon, hält ſich mit den Händen am Sattel oder in den Steig— bügeln feſt und reckt die Beine in die Luft, hängt ſich an einer Seite des Sattels auf und verſucht einen Gegenſtand vom Boden aufzunehmen, ſcheint jedoch die Waffenſpiele ſeiner türkiſchen Verwandten nicht zu üben. Dagegen erachtet er das Wettrennen als das höchſte aller Vergnügungen und verherrlicht durch ein ſolches jede Feſtlichkeit. Zum Wettrennen, „Baika“ genannt, werden in der Regel nur die edelſten Pferde und unter ihnen wiederum nur Paßgänger zugelaſſen. Die zu durchreitenden Strecken ſind ſehr bedeutend, nie unter zwanzig, nicht ſelten bis vierzig Kilometer lang: man reitet nach einem beſtimmten Punkte der Steppe, einem bekannten Hügel, einem Grabmale z. B. und kehrt auf demſelben Wege zurück, den man gekommen. Knaben von ſieben, acht, höchſtens zehn Jahren ſitzen im Sattel und lenken die Roſſe mit be— 400 Volks- und Familienleben der Kirgijen. merkenswertem Geſchick. Den zurückkehrenden Pferden reitet man langſam entgegen; dem Paßgänger, welcher die meiſte Ausſicht hat, zu gewinnen, leiſtet man eine Hilfe, „Guturma“ genannt, indem man ſich an ſeine Seite drängt, ihm das reitende Kind abnimmt, ſodann Zügel, Steigbügel, Mähne und Schweif zu fallen ſucht, und ihn zwiſchen den friſchen Pferden mehr zum Ziele ſchleift als leitet. Die Preiſe, welche ausgeſetzt werden, be— ſtehen in ſehr verſchiedenen Dingen, werden aber ſämtlich nach Pferdes— wert berechnet. Zwei- bis dreitauſend Rubel Silber als erſter Preis ſind nichts Seltenes: reiche Familien ſetzen bis einhundert Pferde aus. Auch junge Mädchen gelten als Siegespreis, derart, daß der Gewinnende ſie ehelichen kann, ohne das übliche Brautgeld zu entrichten. Während die wettlaufenden Pferde unterwegs ſind, üben gewöhnlich auch Menſchen ihre leiblichen Kräfte. Zwei Männer entkleiden ſich ihrer Obergewänder, entblößen Schultern und Oberkörper und ringen. Der Angriff geſchieht in ſehr verſchiedener Weiſe. Beide Kämpen packen ſich, beugen ſich tief hinab und gegeneinander, drehen ſich, einer den anderen fortwährend beobachtend, im Kreiſe und ſuchen jedem wirklichen wie jedem Scheinangriffe zu begegnen, bis plötzlich einer ſeine vollſte Kraft aufbietet und den anderen, falls derſelbe ſich nicht vorgeſehen, ringend zu Boden wirft. Andere gehen ſofort zum Angriffe über, finden aber ſo kräftigen Widerſtand, daß beide Männer lange Zeit ringen müſſen, bevor es einem gelingt, den Gegner zu bewältigen. Die Zuſchauer feuern an, ſpenden Lob und Tadel, ermuntern und verhöhnen, wetten gleichzeitig unter ſich und geraten um ſo mehr in Aufregung, je mehr die Wage nach beiden Seiten hin ſchwankt. Endlich liegt der eine, ausgelacht von der ganzen Geſellſchaft, beſchämt und gedemütigt, auch wohl im innerſten Herzen erbittert, am Boden; Ge— ſchrei aus allen Kehlen erfüllt die Luft, Zeugſtücke, und wären es auch nur Kattunfetzen, werden zerriſſen und verteilt, um die Wetten auszu— gleichen; Vorwürfe wechſeln mit Kundgebungen des Beifalls, und das Kampfſpiel hat ein Ende, falls nicht der Beſiegte urplötzlich ſeinem In— grimm Genüge zu leiſten ſucht und nochmals über den Gegner herfällt. Ohne Lärm, Geſchrei und Gezänk endet das Ringen niemals; zu Thät— lichkeiten aber kommt es ebenſowenig. Unter die ritterlichen Uebungen der Kirgiſen muß auch die Jagd gezählt werden. Dem aufgeſpürten Wolfe folgt der kirgiſiſche Jäger mit ſolchem Eifer und ſolcher Ausdauer, daß er es wenig achtet, wenn ihn die bei ſcharfem Reiten doppelt fühlbar werdende Kälte ernſtlich gefährdet, d. h. er ſich Geſicht und Hände erfriert, und wenn ſein Pferd unter ihm Volks- und Familienleben der Kirgiſen. 401 nicht verſagt, ſchmettert er zuletzt ſicherlich die gewichtige Keule auf das Haupt des Räubers hinab. Noch mehr als ſolche Hetze liebt er die Jagd mit Adler und Windhund. Wie ſeine Vorfahren verſteht er den Stein— adler zu zähmen und abzutragen, zieht, ihn auf der ſtark beſchuheten Hand FU EEE WNVNIIII Jagd mit dem Adler. tragend, und dieſe auf ein am Sattel befeſtigtes Holzgeſtell ſtützend, zu günſtig gelegenen, weite Umſchau ermöglichenden Höhen empor und läßt durch ſeine Genoſſen die vor ſeinem Auge liegende Steppe abſuchen. Die Jagd gilt dem Wolfe wie dem Fuchſe, ſolange der Adler noch nicht hin— länglich geübt, neben dem Murmeltiere nur dem letztgenannten. Einer Brehm, Vom Nordpol zum Aequator. 26 402 Volks- und Familienleben der Kirgiſen. beſonderen Abrichtung des Raubvogels bedarf es nicht; alles, was gelehrt und gelernt werden muß, beſteht darin, daß der Adler, welcher in frühe— ſter Jugend dem Neſte entnommen und von dem Jäger ſelbſt geäſt wurde, auf den Ruf zu ſeinem Herrn zurückkehrt: ererbte Gewohnheit thut das übrige. Sobald die Jagdgenoſſen einen Fuchs aufgetrieben haben, ent— häubt und entfeſſelt der Jäger den Stoßvogel und wirft ihn in die Luft. Der Adler breitet ſeine Fittiche, beginnt zu kreiſen, ſteigt in Schrauben— linien höher und höher, erblickt den eilend laufenden, weil gehetzten Fuchs, fliegt ihm nach, ſtürzt ſich mit halb eingezogenen Flügeln und weit vor— geſtreckten Fängen ſchief auf ihn hernieder und ſchlägt ihm die Fänge in den Leib; der Fuchs ſeinerſeits dreht wütend den Kopf, um den Feind mit ſeinem ſcharfen Gebiſſe zu packen, und der Adler iſt verloren, wenn ſolches gelingt. In faſt jedem der ebenſo ſtarken als kühnen Raubvögel aber lebt das ererbte Gefühl der ihm ſolcherart drohenden Gefahr und ebenſo die Geſchicklichkeit, ihr zu begegnen. In demſelben Augenblicke, in welchem der Fuchs ſich wendet, löſt der Adler die Fänge, und einen Augen— blick ſpäter umklammern ſie das Geſicht des Opfers. Jauchzender Zuruf des heranſprengenden geliebten Herrn ermuntert zur Standhaftigkeit, und wenige Minuten ſpäter liegt der Fuchs, gefällt von dem zur Hilfe ge— kommenen Jäger, verendend am Boden. Mancher Adler freilich büßt beim erſten Verſuche ſeine Kühnheit mit dem Leben; gelingt ihm aber der erſte Angriff, ſo eignet er ſich bald ſolche Fertigkeit an, daß er auch auf den Wolf geworfen werden kann. Dieſem gegenüber benimmt er ſich vom Anfange an, wenn auch genau nach denſelben Regeln, ſo doch merklich vorſichtiger; ſchon die Größe des Raubwildes läßt ihn erkennen, daß er es mit einem noch ungleich gefährlicheren Geſellen zu thun hat. Doch auch ihn lernt er bewältigen, und ebenſo hoch wie der ſeines Herrn ſteigt ſein eigener Ruhm unter allem Volk, und mit dem Ruhme ſein Preis. Ein Adler, welcher den Fuchs ſchlägt, wird mit dreißig bis vierzig Rubel, einer, welcher den Wolf zu beſiegen weiß, mit dem Doppelten und Drei— fachen bezahlt, falls er ſeinem Herrn überhaupt feil iſt. Mit zwei Adlern kann man nicht jagen, weil einer den anderen ſtören würde; iſt doch der eine oft ſo jagdeifrig, daß er dem Jäger die Hilfe in hohem Grade er— ſchwert oder ſich, wenn das Raubtier unter ihm erlegen, gutwillig von ihm nicht löſen laſſen will. Gilt es ſchon bei der Jagd mit dem Adler alle Reiterſtücke zu bes thätigen, ſo iſt dies doch noch mehr der Fall, wenn der Kirgiſe mit ſeinen Windhunden auf Antilopen auszieht. Wie Pfeile ſtürmen die ziemlich 8 f Wildfhaf eiben au im Tr Kirgiſen be Volks- und Familienleben der Kirgiſen. 403 langhaarigen Hunde dahin, wenn ſie der geſuchten Wiederkäuer anſichtig geworden ſind, und über Stock und Stein jagen die Reiter ihnen nach, bis ſie mit ihnen das flüchtige Wild eingeholt haben. Wer bei ſolchem Ritte ſtürzt, erntet nur ein halb mitleidiges, halb ſpöttiſches Lächeln, und an ihm vorüber ſtürmt weiter die wilde Jagd. Auch bei Treibjagden im Gebirge verlaſſen die Kirgiſen ihre Pferde nicht: es ſah prächtig aus, als im Arkatgebirge die Treiber, welche uns die Wildſchafe zu Schuß bringen wollten, ihren halsbrecheriſchen Ritt be— gannen. Hier und da, auf den höchſten Spitzen wie in den Einſenkungen, Thälern und Schluchten zwiſchen ihnen, erſchien und verſchwand einer der Reiter nach dem anderen, bald klar und ſcharf gegen das Gewölk ſich ab— zeichnend, bald wiederum zwiſchen den Blöcken ſich verlierend, in dem Ge— ſtein der Halden gleichſam aufgehend. Keiner ſtieg vom Pferde, keiner beſann ſich auch nur einen Augenblick, irgend welchen Weg einzuſchlagen; es war ihnen leichter, im Gebirge zu reiten, als zu gehen. Mit der Kühnheit paart ſich die Ausdauer des Jägers. Nicht allein auf dem Rücken des Pferdes, ſondern auch im Anſchleichen und Belauern des Wildes bethätigt er eine rühmenswerte Beharrlichkeit. Daß er tage— lang einer Fährte folgt, will, bei ſeiner Luſt zu reiten, wenig beſagen; mit der Luntenbüchſe, welche er noch ebenſo häufig führt wie das Stein— ſchloßgewehr, in der Hand kriecht er wie eine anſchleichende Katze halbe Werſt weit auf dem Boden dahin, lauert er ſtundenlang im Sturm und Wetter auf ein Wild, bis er zum Schuſſe gekommen. Niemals ſchießt er weit und niemals ohne die Büchſe auf die an ihr befeſtigte Gabel zu legen; aber er zielt ſicher und weiß ſeine Kugel auf die rechte Stelle zu ſenden. So ausdauernd und unermüdlich als Reiter, Jäger und Hirt der Kirgiſe iſt, ſo ungern übernimmt er anderweitige Beſchäftigungen. Auch er bebaut das Feld, aber in höchſt liederlicher Weiſe und niemals mehr, als unbedingt erforderlich. Die Arbeit auf der Scholle dünkt ihm un— rühmlich wie jede andere Thätigkeit, welche nicht mit der Viehzucht und der Ausnutzung der Herdentiere zuſammenhängt. Er bethätigt ein außer— ordentliches Geſchick, das Waſſer zur Ueberrieſelung des Landes zu ver— wenden, beſitzt ein höchſt geübtes Auge für die Oertlichkeit und weiß, auch ohne Meßtiſch und Waſſerwage zu benutzen, wie er die Waſſergräben zu ziehen hat; allein nur ſolange er noch Knabe iſt, läßt er ſich zu ſolchen Arbeiten willig finden, und hat er es erſt einmal zu Beſitz gebracht, rührt er weder Hacke noch Schaufel mehr an. Noch weniger liebt er, irgend 404 Volks⸗ und Familienleben der Kirgiſen. ein Handwerk zu treiben. Er verſteht Leder zu bereiten und allerlei Riemen⸗ und Sattelwerk daraus zu fertigen, dasſelbe auch mit Eiſen— oder Silberſchmuck ſehr zierlich auszuputzen, ſelbſt Meſſer und Waffen zu ſchmieden, und alle ihm nötigen Geräte überhaupt herzuſtellen, übt ſolche Arbeit jedoch niemals mit Freude, ſondern ſtets mit Widerſtreben aus. Und doch iſt er kein fauler und leichtfertiger, ſondern ein fleißiger und zuverläſſiger Arbeiter, und wer ſeine geſchickte Hand gewonnen, hat ſelten Urſache, mit ihm unzufrieden zu ſein. Viel höher als leibliche, ſchätzt er geiſtige Arbeit. Sein reger und lebhafter Geiſt verlangt Beſchäftigung; er liebt daher nicht bloß leichte, ſondern auch ernſte Unterhaltung aller Art, vielleicht hauptſächlich auch aus dem Grunde, um Abwechſelung in das Einerlei des Tages- und Jahreslaufes zu bringen. Daher gefällt er ſich in Geſprächen mit an— deren ſeines Stammes und kann durch ſeine Redſeligkeit, welche nicht ſelten zur Schwatzhaftigkeit wird, dem Fremden geradezu läſtig werden. Mit dieſer Geſprächigkeit hängt rege Wißbegier, welche freilich ebenſo oft in Neugier ausartet, auf das innigſte zuſammen; denn die „rote Zunge“ will und darf nicht feiern. Was der Wind durch die Steppe trägt, nimmt das geſpannte Ohr des Kirgiſen auf und kleidet die „rote Zunge“ in Worte. Wird irgendwo etwas verhandelt, was ein Kirgiſe verſtehen oder nicht verſtehen kann, wird, meine ich, in einer ihm verſtändlichen Sprache geredet, ſo nimmt er keinen Anſtand, berufen oder nicht, bis an die Jurte ſich heranzudrängen und das zum Lauſchen geſpitzte Ohr an die Wand derſelben zu drücken, um keine Silbe zu verlieren. Ein Ereignis, welches über das Alltägliche auch nur um Haaresbreite hinausgeht, ein Geſchehnis überhaupt, eine Mitteilung, eine Erzählung für ſich behalten, ein Geheim— nis bewahren zu ſollen, iſt für den Kirgiſen ein Ding der Unmöglichkeit. Schweigt denn das edle Roß, auf welchem er die Steppe durchfliegt, wenn es etwas gewahrt, an dem es Anteil nimmt, die Ziege, das Schaf, wenn es mit ſeinesgleichen zuſammenkommt; ſchweigt denn die Lerche, wenn ſie über den Boden der Steppe ſich hebt? Und der Herr der Steppe ſollte ſchweigen? Nimmermehr! „Sprich nur, rote Zunge, ſprich, ſolange du noch Leben haſt; denn nach dem Tode wirſt du ſchweigen.“ Unerſchöpflich fließt der inhaltreichen Rede Strom über die Lippen des Kirgiſen. Nie— mals reiten ihrer zwei ſtumm nebeneinander her, und ob die Reiſe tagelang währe; ſtets, ununterbrochen haben ſie miteinander zu ſchwatzen, ſich gegen— ſeitig Mitteilungen zu machen. Gewöhnlich genügt es ihnen noch gar nicht, ſelbander zu reiten; es müſſen ihrer dreie, viere ſein, welche gemeinſchaftlich Volks- und Familienleben der Kirgiſen. 405 des Weges dahinziehen, ſolange dieſer es ihnen geſtattet. Dieſe Art zu reiten iſt ſo tief bei ihnen eingewurzelt, daß ihre Pferde ganz von ſelbſt ſich aneinander drängen, daß der Europäer ſie zügeln muß, um ſolches zu verhindern. In einer mit Kirgiſen erfüllten Jurte ſummt es wie ein Bienenſchwarm, weil jeder zu Worte kommen will und alles thut, um die Rede an ſich zu reißen. Eine gute Folge ſolcher unter Männern unerhörten Redſeligkeit iſt die Fertigkeit der Kirgiſen, ihre Sprache zu handhaben. Hierin ſcheinen ſich alle gleich zu ſein, die Reichen wie die Armen, die Vornehmen wie die Geringen, die Gebildeten wie die Ungebildeten. Ihre tonreiche und klangvolle, aber harte Sprache, bekanntlich nicht viel mehr als eine Mundart der tatariſchen, iſt ungemein ausdrucksvoll. Jedes Wort, dies fühlt auch der mit ihr nicht vertraute Fremde heraus, wird vollſtändig ausgeſprochen, jede Silbe richtig betont, ſo daß man meint, nach dem Klange beurteilen zu können, um was es ſich handelt. Die Redeweiſe iſt ſehr lebhaft, der Tonfall des Redeſatzes dem Inhalte entſprechend, Rede und Redepauſe genau abgemeſſen, ſo daß ein Geſpräch etwas abgebrochen klingt, obſchon der Fluß der Rede keinen Augenblick lang ſtockt. Ein für ſich ſelbſt ſprechender Geſichtsausdruck und lebhafte Handbewegungen erläutern die Worte noch anderweitig. Feſſelt ein Gegenſtand in beſonderer Weiſe, ſo ſteigert ſich die Lebendigkeit der Redenden bis zur Hitze, ſo daß man zu glauben verſucht werden kann, auf Worte möchten Thätlichkeiten folgen. Doch endet auch das hitzigſte Wortgefecht regelmäßig in Ruhe und Frieden. Daß unter ſolchen Leuten der Barde zur Geltung gelangt, iſt be— greiflich. Jeder, welcher ſich vor den übrigen durch Redegewandtheit aus— zeichnet, erwirbt ſich Ehre und Anſehen. Ein Sänger, ein Gelegenheits— dichter darf bei keinem Feſte fehlen. Seine Geſtaltungsgabe braucht nicht eben hervorragend zu ſein: die Rede muß nur ohne Unterbrechung fließen und in ein beſtimmtes, jedem geläufiges Versmaß ſich fügen, um ihn zum Dichter zu ſtempeln. Doch verfügt jeder kirgiſiſche Barde immerhin über einen nicht eben kärglichen Schatz von dichteriſchen Gedanken, welche in Worte zu kleiden ihm nicht ſchwer fällt. Das Hirten- und Wanderleben, ſo gleichförmig es im ganzen verfließen mag, hat ſeine Reize, ſeine tönen— den Saiten, welche nur angeſchlagen zu werden brauchen, um im Herzen der Hörer Befriedigung zu wecken. Viele Sagen und Ueberlieferungen, welche in allen lebendig ſind, bieten jederzeit geeigneten Stoff zur Aus— füllung von Gedankenlücken; und ſo kann die Rede des Barden fluten wie ein ruhiger Strom, deſſen Quellen niemals verſiegen: er braucht bloß 406 Volks- und Familienleben der Kirgifen. ein beſtimmtes Versmaß feſtzuhalten, um Dichter zu ſein und zu bleiben. Auch dieſes Feſthalten wird ihm erleichtert; denn jeder Barde begleitet ſeine Rede mit der dreiſaitigen kirgiſiſchen Zither und verbindet die ein— zelnen Sätze durch Zwiſchenſpiele, welche ſo lange währen, bis der neue Vers in die rechte Form gegoſſen wurde. Je raſcher, je gewandter dies geſchieht, um ſo höher ſteigt der Ruhm des Sängers. Regt ſich aber vollends im Herzen einer Frau dichteriſcher Drang, ſo iſt ſolche Frau allgemeinſter Bewunderung ſicher, und läßt ſie ſich herbei, mit einem Manne im Zwiegeſange zu wetteifern, ſo erhebt ſie die begeiſterte Menge über alle anderen ihres Geſchlechtes. Ungleich weniger als die Dichtung begünſtigt die weite Steppe regel— rechten Unterricht. Daraus erklärt ſich zur Genüge, daß die Kenntnis der Schrift unter den Kirgiſen ebenſo ſelten, wie das Schrifttum gering iſt. Nur die Söhne der Reichſten und Vornehmſten des Volkes erhalten Unterricht im Leſen und Schreiben. In den beiden von der Regierung gegründeten Schulen in Uſtkamenegorsk und Saiſan werden allerdings auch, in erſterer Stadt ſogar ausſchließlich kirgiſiſche Knaben unterrichtet, allein die Wirkſamkeit beider Anſtalten erſtreckt ſich nicht bis in die innere Steppe. Hier lernt der Knabe leſen und ſchreiben, wenn der Zufall will, daß er mit einem Molla zuſammenkommt, welcher ebenſo Luſt zum Lehren, als der Knabe Trieb zum Lernen bethätigt. Auch dann beſchränkt ſich der Unterricht auf die einfachſten Kenntniſſe: arabiſche Schriftzeichen leſen und nachbilden zu können. Der Inhalt des vornehmſten, wenn nicht aus— ſchließlichen Lehrbuches, des Koran, erſchließt ſich in der Regel nicht ein— mal dem Mollah ſelbſt; er lieſt die Suren, ohne deren Bedeutung zu verſtehen. Ich habe nur einen einzigen Kirgiſen, und zwar einen Sultan kennen gelernt, welcher Arabiſch verſtand; alle übrigen, welche ſich durch ihre Kenntnis der Worte der Schrift über andere ihres Volkes erhoben und als getreue Anhänger des Islam regelmäßig die fünf vorgeſchriebenen Gebete ausübten, verſtanden im günſtigſten Falle den Inhalt der Worte des Rufes zum Gebete und der erſten Sure des Koran; alles übrige ſprachen ſie zwar mit dem allen Mohammedanern anerzogenen Ernſte, aber ohne Verſtändnis nach. Und dennoch habe ich mich tiefen Eindrucks nicht erwehren können, wenn inmitten der weiten Steppe, wo kein Minaret zum Himmel ſtieg, ein der heiligen Worte Kundiger als Mueddin oder Rufer zum Gebete ſeine Stimme erhob und die Gläubigen in langen Reihen hinter dem Iman oder Vorbeter knieten und ihre Stirnen im Gebete auf den Boden drückten, wie das Geſetz des Propheten es vorſchreibt. Volks- und Familienleben der Kirgiſen. 407 Das Bewußtſein der Kraft und Gewandtheit, der Geſchicklichkeit im Reiten, Jagen, der dichteriſchen Begabung und Regſamkeit des Geiſtes überhaupt, das Gefühl der Selbſtändigkeit und Freiheit, welches die weite Steppe hervorruft, verleiht dem Auftreten des Kirgiſen Sicherheit und Würde. Der Eindruck, welchen er auf den unbefangenen Beobachter macht, iſt daher ein ſehr günſtiger, und dieſer Eindruck ſteigert ſich um ſo mehr, je genauer man unſeren Steppenbewohner kennen lernt. So iſt es mir er— gangen, ſo urteilen die Ruſſen, welche jahrelang mit Kirgiſen verkehrt haben, ſo namentlich die Beamten der Regierung, ſo andere Reiſende, welche unter ihnen gelebt haben. Man ſagt ſchwerlich zu viel, wenn man behauptet, daß der Kirgiſe ſehr viele gute und ſehr wenige ſchlechte Eigen— ſchaften beſitzt, oder doch dem Beobachter gegenüber kundgibt. Geweckten Geiſtes, klug, lebhaft, verſtändig, ſoweit es ſich um ihm bekannte Dinge handelt, gutmütig, dienſtfertig und zum Helfen bereit, artig und zuvor— kommend, gaſtlich und barmherzig ſtellt er ſich als ein in ſeiner Art vor— trefflicher Menſch dar, deſſen Schattenſeiten man um ſo leichter überſieht, je unbefangener man ihm gegenübertritt. Er iſt höflich, ohne knechtiſch zu ſein, behandelt den über ihm Stehenden mit Achtung, aber nicht kriechend, den ihm Untergebenen freundlich, aber nicht geringſchätzig. Auf ihm geſtellte Fragen antwortet er meiſt erſt nach kurzem Beſinnen, dann aber ruhig und klar, und ſeine ſcharf betonte Sprachweiſe verleiht ſeiner Antwort den Ausdruck der Beſtimmtheit. Er iſt gefällig nach allen Seiten hin, thut aber mehr aus Ehrgeiz, als aus Hoffnung auf Gewinn, mehr in der Abſicht, Lob und Beifall, als in der Vorausſetzung, Geld und Geldeswert zu ernten. Der Gemeindevorſteher Tamar Bey Metikoff, welcher uns faſt einen Monat lang das Ehrengeleit gab, war der ge— fälligſte, höflichſte, zuvorkommendſte Menſch unter der Sonne, ſtets bereit, jeden unſerer Wünſche zu erfüllen, unermüdlich in unſeren Dienſten oder zu unſeren Gunſten, und dies alles nur in der Hoffnung oder dem Be— ſtreben, unſere und des Generalgouverneurs Zufriedenheit zu erwerben. Dies ſagte er uns mit klaren Worten, als wir verſuchten, ihm Geſchenke aufzudringen. Im Einklange mit ſolchem Ehrgeize ſteht, daß der Vornehme auf ſeine Abkunft und Familie ſtolz iſt, ſich ferner Ahnen rühmt und unter Umſtänden ſeinen Stammbaum bis zu Chingis-Chan zurückführt, daß er nur ebenbürtig ſich vermählt und keinen Makel an ſeiner Ehre duldet, keine dieſe Ehre kränkende Beleidigung verzeiht. Hiermit im Einklange ſteht aber auch eine Eitelkeit, wie man ſie bei ihm kaum erwarten möchte. 408 Volks⸗ und Familienleben der Kirgiſen. Nicht allein Anſehen und Reichtum, Würde und Rang, ſondern ebenſo Jugend und Schönheit ſind in ſeinen Augen Gaben, welche er hoch achtet. Doch unterſcheidet er ſich von einzelnen ſchönen und jungen Herren unſeres Volkes weſentlich dadurch, daß er niemals zum Gecken ausartet. Er rühmt ſich der ihm vom Geſchick wie von der Natur verliehenen Gaben offen und ohne Hehl; ſolches Rühmen aber ſteht ihm natürlich und wird nicht durch abſichtlich ſich hervordrängende Beſcheidenheit verzerrt. Soweit ſeine Mittel geſtatten, kleidet er ſich reich, verziert Rock und Beinkleider mit Treſſen, die Pelzmütze mit der Uhufeder: zum Narren aber ſinkt er nicht herab. Daß die Frauen mehr noch als die Männer ihre Reize ins hellſte Licht zu ſetzen ſuchen, erſcheint ſelbſtverſtändlich; und es hat mich daher auch durchaus nicht gewundert, zu erfahren, daß ſie mit dem Safte einer Wurzel ihren Wangen ein ebenſo zartes und duftiges, als haltbares Rot auflegen, zu deutſch: ſich ſchminken. Entſprechend dem Wunſche zu gefallen, fügt ſich der Kirgiſe willig in die Sitten und Gebräuche ſeines Volkes. Seine Bildung und Geſit— tung bethätigt er hauptſächlich dadurch, daß er die aus unbeſtimmbarer Zeit auf ihn überkommene und durch den Islam weſentlich beeinflußte Gebräuchlichkeit ſtreng befolgt. Dies bedingt Förmlichkeit und Umſtänd— lichkeit im gegenſeitigen Verkehre, zügelt aber auch jede Selbſtüberhebung und verbannt jede Unanſtändigkeit, beinahe jede Ungeſchicklichkeit aus der Geſellſchaft; denn jeder weiß, wie er ſich zu benehmen hat, um nicht an— zuſtoßen, oder auch nur im beſonderen Grade unangenehm aufzufallen. Schon die gegenſeitige Begrüßung geſchieht in einer ſehr förmlichen, von allen feſtgehaltenen, alſo offenbar genau beſtimmten Weiſe. Wenn zwei Kirgiſentrupps zuſammenkommen, vergeht ſtets geraume Zeit, bevor jeder dem anderen ſeinen Gruß geſpendet hat. Gegenſeitig und gleich— zeitig legen ſie ihre Rechte auf die Herzgegend, die linke gegen die rechte Hand des anderen, worauf beide die rechte zurückziehen und mit der linken vereinigen, ſo daß jetzt alle vier Hände auf einen Augenblick ſich berühren. Gleichzeitig mit der Umarmung ſprechen beide das arabiſche Wort „Aman“ (Friede) aus, wogegen fie vor dem Umfaſſen ſich den Gruß aller Mo— hammedaner „Salam alsik“ oder „alsikum“ (Heil ſei mit dir oder euch) zu ſpenden, und beziehentlich durch „Alsikum el ſaläm“ zu erwidern pflegen. In dieſer Weiſe begrüßt einer alle und jeder den anderen; beide ſich be— gegnenden Haufen bilden daher zwei Reihen und einer nach dem anderen läuft, um der jetzt noch gebannten „roten Zunge“ baldmöglichſt volle Freiheit zu gewähren, raſch längs ſolcher Reihe dahin. Das kürzere Ver— Volks- und Familienleben der Kirgiſen. 409 fahren, welches jedoch nur bei ſehr zahlreichen Verſammlungen angewendet wird, beſteht darin, ſich nur die Hände entgegenzuſtrecken und dieſe zu— ſammenzuſchlagen. Beſuchen ſich Kirgiſen im Aul, ſo findet vor der Begrüßung noch eine andere Förmlichkeit ſtatt. Angeſichts der Jurten zügeln die Ankömm— linge ihre Roſſe, laſſen ſie im Schritt gehen und halten endlich ſtill. Auf dieſes Zeichen hin kommt man ihnen vom Aul aus entgegen, begrüßt ſie und geleitet ſie nunmehr zu den Jurten, welche die Frauen inzwiſchen durch Ausbreiten der wertvolleren Teppiche geſchmückt haben. Fremde, im Aul noch unbekannte Gäſte, müſſen ſich vor der Begrüßung einem Verhöre nach Namen, Stand und Herkunft unterwerfen; aufgenommen und gaſtlich bewirtet werden ſie aber unter allen Umſtänden: denn Gaſt— freundſchaft übt der Kirgiſe gegen jedermann, ohne Unterſchied des Standes oder Glaubens, obſchon er Vornehme ſtets bevorzugt. Der Gaſt tritt mit dem üblichen Gruße ins Innere der Jurte, zieht an der Thüre ſeine Schuhe aus, behält aber ſelbſtverſtändlich die weichen Reiterſtiefel an und ſetzt ſich, wenn er dem Wirt an Anſehen gleichſteht, auf dem Ehren— platze nieder, während der Geringere dem Vornehmen gegenüber ſich be— ſcheiden zurückhält und in knieender Stellung auf den Teppich niederläßt. Zu Ehren eines angeſehenen Gaſtes läßt der Wirt ein Schaf ſchlachten, vorher aber vor oder in die Jurte bringen, damit der Gaſt es ſegne. Auf dieſes Zeichen hin kommen alle Nachbarn herbei, um an dem leckeren Mahle teilzunehmen. Kopf und Bruſtſtück des Hammels werden am Spieße gebraten, die zerſtückelten Fleiſchſtücke in einem Keſſel gekocht, Kreuz, Rippen, Schulterblätter und Schenkel, nachdem ſie gar gekocht, dem Gaſte in einer Mulde vorgeſetzt. Der Gaſt wäſcht ſich die Hände, ſchneidet das Fleiſch von den Knochen, taucht es in die ſtark geſalzene Brühe und ſagt zu dem Wirte, welcher ſich bisher nicht neben ihm niederließ: „Nur durch den Wirt erlangt das Fleiſch Schmackhaftigkeit; ſetzet Euch;“ der Wirt aber erwidert: „Viel Dank, viel Dank; eſſet nur,“ und willfahrt dem Gaſte zunächſt noch nicht. Dieſer aber ſchneidet ein Stück von den falſchen Rippen ab, ruft den Wirt herbei und ſteckt ihm den Biſſen in den Mund; hierauf ſchneidet er ein anderes Stück, legt es auf eine Mulde und reicht es der Hausfrau. Nunmehr endlich ſetzt ſich der Wirt an die Seite des Gaſtes; aber auch jetzt noch verteilt nicht er, ſondern jener die Speiſen an die Teilnehmer am Mahle. Der Gaſt ſchneidet das Fleiſch in mund— rechte Stücke, miſcht ſie mit Fett, taucht je drei Biſſen in die Brühe und ſteckt ſie einem der Schmauſenden nach dem anderen in den Mund. Be— 410 Volks- und Familienleben der Kirgiſen. leidigung des Gebers würde es ſein, wollte der Empfänger die Gabe nicht ſogleich herunterſchlucken, möge er auch, falls die Biſſen groß ſind, dabei ſo ſchrecklich würgen, daß ſein Geſicht blau unterläuft, und der Hilfe der Nachbarn, welche dem alſo Bedrängten zur Erleichterung des Schlingens mit der Fauſt auf den Rücken ſchlagen, dringend benötigen. Dagegen darf der Geber auch niemals mehr als drei Biſſen reichen; denn über— ſchreitet er dieſe Anzahl, ſtopft er einem gleichzeitig fünf Fleiſchſtücke in den Mund, und erſtickt der zum ſchleunigſten Hinabwürgen verurteilte Mann infolge der allzugroßen Gabe, ſo muß er dies mit hundert Pferden an die Familie des Erſtickten büßen, wogegen er frei ausgeht, wenn einer der Schmauſenden an drei ihm gereichten Biſſen zu Grunde geht. Nach— dem das Fleiſch verzehrt, reicht der Gaſt die Schale mit der Brühe um— her und jeder der Tiſchgenoſſen trinkt von ihr nach Bedarf oder Ver— langen. Zum Schluſſe der Mahlzeit, jedoch nicht bevor ſich jeder die Hände gewaſchen, wird von einem wohlhabenden Wirte, falls die Stuten noch Milch geben, ſtets Kumys gereicht, und zwar immer und unabänderlich mit erſichtlicher Ehrfurcht vor dem beliebteſten Getränk des Kirgiſen. Wer bisher noch nicht am Mahle teilnahm, kommt jetzt herbei, um an dieſem Nektar ſich zu laben. Man trinkt bis zur Berauſchung; denn der Kirgiſe leiſtet im Trinken ſeines überaus geſchätzten Milchweines ebenſoviel, als im Eſſen und iſt in dieſer Beziehung nichts weniger als anſpruchslos oder mäßig. Noch weit umſtändlicher, als bei einfachen Beſuchen ſind die Ge— bräuche, welche bei allen wichtigen Familienereigniſſen geübt werden, ins— beſondere Hochzeits- und Begräbnisfeierlichkeiten. Bei den einen tritt mit der Freude auch der Scherz, bei den anderen mit der Trauer auch die Ehrfurcht vor den Toten in ihre vollen Rechte. Brautwerbung und Hoch— zeit, Begräbnis und Erinnerungsfeier an den Verſtorbenen geben zu einer wahren Kette von Feſtlichkeiten Veranlaſſung. Wie bei allen Mohammedanern wirbt der Vater für ſeinen Sohn, und wie unter allen Bekennern des Islam zahlt er an den zukünftigen Schwäher ein Brautgeld von ſehr verſchiedener, oft bedeutender Höhe. Ein Brautwerber, welcher ſich dadurch als ſolcher zu erkennen gibt, daß er ein Hoſenbein über, das andere im Stiefel trägt, erſcheint in der Jurte, in welcher eine Tochter der Mannbarkeit entgegenblüht, und trägt im Namen des Vaters eines heiratsluſtigen Jünglings ſein Anliegen vor. Iſt der Brautvater einverſtanden, ſo verlangt er die großen Werber, d. h. den Auftraggeber ſelbſt, die Gemeindeälteſten und Vornehmſten aus Volks- und Familienleben der Kirgiſen. 411 deſſen Aul, um mit ihnen zu verhandeln. Sie erſcheinen und halten, wie üblich, vor dem Aul ihre Roſſe an. Ein Abgeſandter des Braut— vaters reitet ihnen entgegen, begrüßt ſie feierlich und förmlich und geleitet ſie nach der für ſie beſtimmten und geſchmückten Feſtjurte, woſelbſt ſie zunächſt mit Kumys bewirtet werden. Um zu ihrer Unterhaltung beizu— tragen, erſcheint ein Barde und hebt ſeinen Geſang an. Reiche Beifall— ſpenden lohnen, großartige Verſprechungen feuern ihn zu weiterem Ge— ſang an. Man preiſt die Tiefe ſeiner Gedanken, die Vollendung ſeines Vortrages; man verſpricht ihm ein Pferd, eine Jamba oder vier Pfund ungemünztes Silber als Sangeslohn. Abwehrend betont der Hausherr das einzig und allein ihm zuſtehende Recht, den Sänger zu lohnen; aber nur um ſo beſtimmter verſprechen die Gäſte: denn jeder weiß, daß der Gaſtgeber die Erfüllung ihrer Verſprechen nicht geſtatten würde. Nachdem der Sänger geendet, beginnt eine lebhafte Unterhaltung zwiſchen dem Wirte, ſeinen Nachbarn und Gäſten; man ſpricht über die verſchiedenſten Dinge, nur nicht über die Urſache und den Zweck des Kommens, bricht endlich auf und reitet wieder heim. Am anderen Morgen erwidert der Brautvater und ſein Gefolge den Beſuch, wird von dem zukünftigen Schwäher ebenſo begrüßt und ebenſo bewirtet, verlangt endlich, die Mutter des Jünglings zu ſehen. Sofort begibt man ſich gemeinſchaftlich in die Jurte der Hausfrau und begrüßt ſie hier ebenſo feierlich als artig. Unmittelbar darauf bringt der Braut— vater das gebratene Bruſtſtück eines Schafes herbei, ſchneidet Stücke zur Bewirtung der Gäſte ab und begleitet das Zerlegen des am höchſten ge— ſchätzten Teiles eines Schafes mit den Worten: „Dieſe Schafbruſt ſei mir ein Pfand, daß unſer Vorhaben zu gutem Ende gelangen möge,“ reicht ſodann ſeinen Gäſten die leckeren Biſſen und eröffnet damit die Verhand— lungen über die Höhe des „Kalüm“ oder Brautgeldes. Als Einheit der Rechnung gilt eine Stute von drei bis fünf Jahren; ein Paßgänger oder ein Kamel wird fünf Stuten gleich gerechnet; ſechs oder ſieben Schafe oder Ziegen haben den Wert einer Stute. Der Brautvater verlangt als Brautgeld eine Gift von 77 Stuten, läßt jedoch mit ſich handeln und geht, je nach ſeinem und des Schwähers Vermögen, zuerſt auf 57, ſodann auf 47, 37, 27, ſind beide unbemittelt, auch noch weiter herab, bis man ſich geeinigt hat. Sobald die Verhand— lungen beendigt ſind, erklärt der Brautvater das Verlöbnis für geſchloſſen, erhebt ſich, um heimzukehren und läßt ein Geſchenk in oder vor der Jurte zurück. Der Vater des Bräutigams aber ſendet, falls er irgend kann, 412 Volks- und Familienleben der Kirgiſen. mit dem abziehenden Schwäher die Hälfte des Kalüm zu deſſen Jurte und zahlt auch die andere Hälfte ſo raſch als möglich ab. Vierzehn Tage nach Entrichtung des Kalüm darf der Bräutigam zum erſtenmal die ihm geworbene Braut beſuchen. Unter möglichſt zahlreicher Begleitung ihm befreundeter Altersgenoſſen und Führung eines mit allen Gebräuchen wohlvertrauten älteren Freundes ſeiner Familie bricht er auf, reitet bis in die Nähe des Aul ſeiner Braut, ſteigt hier vom Pferde, ſchlägt ein kleines Zelt auf und zieht ſich in dasſelbe zurück, oder verbirgt ſich anderweitig. Seine Begleiter aber ziehen weiter, begeben ſich, nachdem man ſie feierlich bewillkommt, in den Aul und verteilen unter munteren Scherzreden allerlei kleine Geſchenke, Ringe, Halsbänder, Leckereien, Band und buntes Zeug unter die ſich herandrängenden Frauen und Kinder. In Gemeinſchaft ihrer Altersgenoſſen beiderlei Geſchlechtes be— treten ſie die Feſtjurte. Der Wirt bietet Speiſe und Getränk, zuerſt eine Schafbruſt, welche er mit den bereits erwähnten Worten zerſchneidet, ſo— dann „Meibaur“, in Fett geſchmorte, kleine Stücke von Herz, Leber und Nieren des Schafes, ſtellt das Gericht vor dem würdigen Alten hin und dieſer verfährt nach Gewohnheit und Recht des Gaſtes, ſchmiert aber dem erſten Jünglinge, welchen er mit einigen Biſſen bedenkt, während er dieſe ihm in den Mund ſtopft, zugleich auch die fettige Brühe ins Geſicht. Damit gibt er das Zeichen zum Beginn jugendlichen Scherzes, in welchem fortan Jünglinge, Jungfrauen und junge Frauen wetteifern. Ein ſehr beliebter Scherz der Mädchen beſteht darin, die Kleider der Jünglinge mit raſchen Stichen an den Teppichen, auf welchen ſie ſitzen, feſtzunähen. Nach der Mahlzeit gönnt man den jugendlichen Gäſten eine kurze Erholung, aber nur, um ihnen Zeit zu laſſen, ihre Gedanken zu ſammeln. Dann fordern die Mädchen und Frauen die Jünglinge zum Wettgeſange auf, weiſen ihnen den Ehrenplatz an, ſetzen ſich ihnen gegenüber, und eine von ihnen beginnt mit ihrem Geſange. Iſt der von ihr angeſungene Jüngling nicht ſchlagfertig, ſo ergeht es ihm übel. Zwickend und kneipend fällt die luſtige Schar über ihn her, vertreibt ihn aus der Jurte und überliefert ihn den jungen Männern des Aul, welche vor der Jurte auf Opfer lauern. Ein Waſſergefäß wird über dem beklagenswerten Stümper ausgegoſſen und er dann, gebadet und beſchämt, in die Jurte zurückge— führt, um einer weiteren Prüfung unterworfen zu werden. Wenn er auch dieſe nicht beſteht, verfällt er der Strafe, als Weib verkleidet und ſo an den Pranger geſtellt zu werden. Wehe ihm, wenn er ſich empfindlich zeigt: er würde einen qualvollen Tag erleben. Heute führt der Scherz Volks- und Familienleben der Kirgiſen. 413 die unbedingte Herrſchaft und duldet keinen Murrkopf. Wer dem Gewalt⸗ herrſcher am beſten zu begegnen weiß, iſt der Held des Tages, wer ſich ihm nicht gewachſen zeigt, das allgemeine Opferlamm. Während dieſer Scherzſpiele ſitzt die Braut im hinteren Teile der Jurte, durch einen Vorhang verborgen, ohne ſich zu zeigen. Dieſe Ver— einſamung benutzen die jungen Leute des Aul, um ſie, während der Wett— geſang die Freunde des Bräutigams in Atem hält, zu ſtehlen, d. h. durch eine zwiſchen den aufgedeckten Filzen der Jurte geſchaffene Lücke ins Freie zu ziehen, auf ein Roß zu heben, mit der nicht Widerſtrebenden der Jurte eines Verwandten zuzueilen und hier ſie den bereits harrenden älteren Frauen zu übergeben. Iſt der Raub gelungen, ſo fordert der Räuber die Jünglinge auf, die Braut zu ſuchen und ſie aus den Händen der Frauen zu löſen. Eilends bricht die ganze Geſellſchaft auf und bittet die Hüterinnen der Geraubten, dieſe ihnen zurückzugeben. So ſchön geſetzt ihre Worte aber auch ſind: die Bitte wird abgeſchlagen. In der eines Teiles ihrer Filzdecke entkleideten Jurte ſitzt die Braut vor aller Augen; ein gewaltſames Vorgehen aber iſt unmöglich und die Jünglinge beginnen daher in Güte zu unterhandeln. Die Frauen verlangen neun verſchiedene, von den Jünglingen ſelbſt zubereitete Speiſen, laſſen ſich endlich jedoch herbei, anſtatt der Gerichte neun Geſchenke anzunehmen, und liefern nun— mehr endlich die Braut unter der Bedingung aus, daß ſie nach ihres Vaters Jurte zurückgebracht werde. Inzwiſchen ſitzt der Träutigam wartend in ſeinem Zelte. Ganz allein war er freilich nicht; denn einige junge Frauen hatten ſich ſchon beim Erſcheinen ſeiner Genoſſen aufgemacht, um ihn zu ſuchen, ihn na— türlich auch gefunden und waren von ihm mit ehrfurchtsvollem Gruße, „Taſchim“ genannt, empfangen worden. Der Jüngling hatte vor ihnen ſo tief ſich verneigt, daß er mit ſeinen Fingerſpitzen den Boden berührte, ſich ſodann langſam erhoben und die Hände am Schienbeine emporgleiten laſſen, bis er zu voller Höhe ſich aufgerichtet; die Frauen hatten ſolche Huldigung angenommen, ihm Geſellſchaft geleiſtet, Speiſe und Trank ge— reicht und durch Scherzreden die Zeit verkürzt, nicht aber geſtattet, daß er das Zelt verlaſſe. Erſt auf vieles Bitten und nicht vor Sonnenunter— gang wurde ihm die Erlaubnis, im Aul und vor der Jurte der Braut ein kleines Lied ſingen zu dürfen. Er beſteigt ſein Roß, reitet in den Aul, begrüßt mit Geſang deſſen Bewohner, wendet ſich zur Jurte der Erwählten und klagt ihr im ſelbſterdachten oder erborgten Liede ſein Sehnen, ſein Leid: 414 Volks- und Familienleben der Kirgiſen. „O Mädchen, du brachteſt mir Leiden und Kummer, Dreimal ſchon kam ich vergeblich zu dir, Du wollteſt nicht wach ſein, zu tief war dein Schlummer, Wollteſt nicht hören, nicht aufſehn zu mir. Doch ſpät in der Nacht, wenn zur Ruh' die Kamele Eng an die härene Feſſel man reiht, Dann wird ſich erlaben die lechzende Seele, Dann wird ſich wenden mein Sehnen, mein Leid. Seh' dir ich ins Auge, wird wieder mir kommen, Was ich verloren, der Mut und die Luſt, Die Kraft der Seele, die du mir genommen, Mit Wunſch und Sehnen erfüllend die Bruſt. Ich werde dich bitten, mir Kumys zu reichen, Als wäre ich durſtig und trocken mein Mund, Du läßt dich erbitten, du läßt dich erweichen Und machſt mir das dürſtende Herze geſund. Und ſollte mein Werben dir nicht gefallen, Mein Singen dir willkommen nicht ſein, So kehr' ich zurück mit den Freunden allen, Sie ſollen mir helfen, um dich zu frei'n.“ Ohne in die Jurte einzutreten, kehrt er wieder nach ſeinem Zelte zurück. Da erſcheint in dieſem eine alte Frau und verſpricht, ihn zur Braut zu geleiten, falls er ſie beſchenke. Willfährig öffnet er ſeine Hand und beide machen fi auf den Weg. Aber nicht ohne Hemmniſſe erreichen ſie das erſehnte Ziel. Eine andere Frau legt ihm die Gabel, mit welcher der Firſtenring der Jurte erhoben wird, quer über den Weg; ſolchen Schlagbaum zu überſchreiten würde ein übles Vorzeichen ſein: denn wer die Gabel gelegt, muß ſie auch wieder wegnehmen. Ein Geſchenk entfernt das Hindernis; aber wenige Schritt weiter ſperrt ein zweites den Weg. Eine anſcheinend tote Frau liegt auf ihm; doch eine zweite Gabe ruft die Tote ins Leben zurück und macht den Weg frei bis in die Nähe der Jurten. Dort ſteht eine Geſtalt und knurrt wie ein Hund. Sollte es heißen, daß die Hunde den Bräutigam angeknurrt? Nimmermehr! Ein drittes Geſchenk ſchließt den knurrenden Mund, und der Vielgeprüfte ge— langt fernerhin unangefochten bis zur Jurte. Hier halten zwei Frauen die Thür zu; aber auch ſie widerſtehen einem Geſchenke nicht; im Innern der Jurte halten zwei Frauen den Vorhang feſt; auf dem bräutlichen Lager ruht eine jüngere Schweſter der Braut: er löſt ſich von allen; die Jurte entleert ſich; die Alte legt die Hände des Bräutigams in die der Braut und entfernt ſich ebenfalls: endlich, endlich ſind beide vereinigt und allein. Unter Aufſicht der hilfreichen Alten, „Djenke“ genannt, beſucht der Volks- und Familienleben der Kirgiſen. 415 Bräutigam zu wiederholten Malen die Braut, ohne ſich dabei auch den Eltern des Mädchens vorzuſtellen, bis endlich der Reſt des Kalüm bezahlt iſt. Jetzt ſendet er den Werber zu dem Brautvater, um anfragen zu laſſen, ob er die Braut nunmehr in ſeine Jurte führen dürfe. Die Frage wird bejaht, und er erſcheint wiederum mit großem Gefolge und vielen Geſchenken vor dem Aul, ſchlägt in angemeſſener Entfernung wiederum ſein Zelt auf, empfängt in ihm wiederum Frauenbeſuch, verbringt die Nacht allein im Zelte und ſendet von ihm aus am anderen Morgen alle zu einer Jurte erforderlichen, von ihm zu liefernden Holzteile in den Aul. Daraufhin verſammeln ſich alle Bewohnerinnen der Jurte, um die von der Braut zu beſchaffenden Filze flugs zuſammenzunähen, ſoweit dies noch nötig, und nunmehr beginnt man mit der Aufſtellung der neuen Jurte. Der beliebteſten Frau des Aul wird die Ehre zu teil, den Firſten— ring emporzuheben und bis zur Einfügung der Sparren zu halten; die übrigen Frauen beſchäftigen ſich gemeinſchaftlich mit der Aufſtellung und Bekleidung des Gerüſtes. Während der Aufſtellung der Jurte findet der Bräutigam ſich ein; man bringt nunmehr auch die Braut herbei und fordert beide auf, von verſchiedenen Seiten her der neuen Wohnung zuzu— ſchreiten, um die große Frage zu löſen, wer die Herrſchaft in der Jurte führen ſoll. Die Herrſchaft wird demjenigen Teile werden, welcher die Jurte zuerſt erreicht. Eines der vom Bräutigam mitgebrachten Schafe iſt geſchlachtet, eine Mahlzeit bereitet worden, um in der neuen Jurte verzehrt zu werden. Während des Mahles umwickelt der junge Jurtenherr einen Beinknochen mit weißem Zeug und wirft ihn, ohne aufzublicken, durch die obere Oeff— nung ins Freie. Gelingt der Wurf, ſo iſt dies ein Zeichen, daß der Rauch aus dieſer Jurte gerade aufſteigen werde zum Himmel, was Glück und Segen bedeutet für die Jurte und ihre Bewohner. Nach dem zum Willkommen gereichten Imbiſſe begeben ſich die Gäſte in die Jurte des Brautvaters, woſelbſt ein zweites Mahl ihrer wartet. Für die in der neuen Jurte zurückbleibenden jungen Leute aber trägt die Brautmutter Speiſe auf; und reichlich und freigebig muß ſie ſpenden, will ſie nicht erleben, daß das junge Volk die Jurte über den Häuptern der Schmauſenden abbricht und, zur Strafe der Kargheit, die verſchiedenen Teile des leichten Gebäudes in alle Richtungen der Windroſe entführt und in der weiten Steppe hinwirft. Nicht einmal die reichlich gefüllte Schüſſel iſt vor dem Uebermute der ausgelaſſenen Hochzeitsgäſte ſicher: einer ent— reißt ſie der Wirtin und reitet mit ihr davon; andere verſuchen, die Beute 416 Volks- und Familienleben der Kirgiſen. ihm abzujagen, und ſo währt das neckiſche Spiel fort, bis man zu fürchten beginnt, daß das Gericht erkalten möge. Am nächſten Morgen verlangt der Brautvater zum erſtenmal den Bräutigam zu ſehen, ladet ihn in ſeine Jurte ein, begrüßt ihn warm, a 1 INN N N 0 N \\ IN il N "Wi N N 10 l 1 | rühmt fein Ausſehen und feine Begabungen, wünſcht ihm Glück zum Ehe: ſtande und überreicht ihm ſchließlich allerlei Geſchenke, gleichſam eine Mit— gift der Braut. Dies geſchieht vor allen Hochzeitsgenoſſen, welche ſchon vor dem Eintreten des Bräutigams in der Jurte verſammelt wurden. Zuletzt betritt dieſe auch die reichgeſchmückte Braut. Befindet ſich ein Volks- und Familienleben der Kirgiſen. 417 Molla im Aul, oder kann ein ſolcher herbeigeſchafft werden, ſo ſpricht er den Segen über das junge Paar. Und nunmehr ſingt man der Braut das Scheidelied, „Dſchar dſchar“ genannt, und ſie erwidert mit thränenden Augen jeden Vers, jede Strophe desſelben mit der Klage der Scheidenden. Der Wechſelgeſang verſtummt; Kamele werden herbeigeführt, um die Jurte und alle Brautgeſchenke, reichgeſchmückte Roſſe, um Braut und Brautmutter nach dem Aul des Bräutigams zu tragen. Der junge Ehe— mann reitet dem hochzeitlichen Zuge voran und treibt mit den ihm helfenden Genoſſen die Kamele zum ſchnellſten Laufe an, um Zeit zu gewinnen, die Jurte unter denſelben Förmlichkeiten, welche beim erſten Aufrichten beobachtet wurden, in ſeinem Aul aufzuſtellen. Die Braut aber reitet, nachdem ſie unter Thränen Abſchied genommen vom Vater, den Verwandten und Ge— ſpielinnen, der Jurte und den Herdentieren, dicht verſchleiert in einem ſie vollkommen verhüllenden, von den ſie begleitenden Reitern getragenen Vorhange dahin, bis ſie die Jurte, in welcher ſie fernerhin als Herrin walten ſoll, erreicht hat. Der Schwiegervater, welcher inzwiſchen die Mit— gift beſchaut, gerühmt oder getadelt hat, ruft ſie bald nach ihrer Ankunft in ſeine Jurte, und ſie betritt dieſe mit drei ſo tiefen Verbeugungen, daß ſie ſich mit den Händen auf den Knieen ſtützen muß, um anzudeuten, daß ſie dem Schwiegervater und der Schwiegermutter ebenſo gehorſam ſein werde, wie ihrem Herrn und Gebieter. Ihr Geſicht bleibt während dieſes Grußes verhüllt, wie fortan vor dem Vater und dem Bruder ihres Gatten und ein Jahr lang vor jedem Fremden. Später verſchleiert ſie ſich nur noch vor dem älteſten Bruder ihres Gatten, vor niemand weiter, vor jenem auch nur deshalb, weil ſie von ihm geehelicht werden müßte, wenn ihr Gatte ſterben ſollte, und ſie im Herzen des Schwagers etwaige böſe Gelüſte weder erwecken noch nähren will. Bei einer zweiten Verheiratung wirbt der Kirgiſe für ſich ſelbſt, ohne beſondere Förmlichkeiten. Heiratet er noch bei Lebzeiten ſeiner erſten Gattin eine zweite Frau, und läßt er ſie mit der erſten in einer und der— ſelben Jurte wohnen, wie dies bei nicht ſehr wohlhabenden Leuten meiſt geſchieht, ſo ſpielt ſie eine klägliche Rolle. Denn die erſte Frau behauptet ihre Rechte, bannt die zweite auf einen beſtimmten Platz der Jurte und geſtattet ſelbſt dem Jurtenherrn nur beſchränkte Eherechte zu üben. Die Frau ſteht in hoher Achtung bei den Kirgiſen: „Wir ſchätzen unſere Frauen, wie wir einen Paßgänger ſchätzen, beide ſind preislos,“ ſagte mir mein kirgiſiſcher Freund Altibei. Die Männer ſcheiden ſich ſelten von ihren Brehm, Vom Nordpol zum Aequator. On 418 Volks- und Familienleben der Kirgiſen. Frauen, und dieſe entlaufen noch viel ſeltener ihren Männern; doch durch— bricht auch in der Steppe die Liebe zuweilen die Schranken, welche Sitte und Herkommen gezogen haben. Entführungen kommen ebenfalls vor, und es gilt keineswegs als Schande; ein Mädchen, deſſen Vater zu hohe An— ſprüche erhebt, zu rauben, gereicht dem Räuber wie dem Opfer, in vielen Augen wenigſtens, eher zum Ruhme als zur Schmach. Das neugeborene Kind des Kirgiſen wird unmittelbar, nachdem es das Licht der Welt erblickt, und ebenſo vierzig Tage lang nacheinander in ſtark geſalzenem Waſſer gebadet, nach Ablauf der vierzig Tage aber nicht mehr gewaſchen. Anfänglich bettet man den Säugling in eine reichlich mit flaumenweicher Kamelwolle gefüllte Wiege, ſo daß er vollſtändig von der weichen und wärmehaltenden Wolle umhüllt iſt und ſelbſt im ſtrengſten Winter nicht unter der Kälte zu leiden hat; ſpäter bekleidet man ihn mit einem wollenen Hemdchen, welches die Mutter alle drei Tage etwa über das Feuer hält, um es von den in jeder kirgiſiſchen Jurte heimiſchen Schmarotzern zu befreien, niemals aber mit einem anderen wechſelt, ſo— lange es noch zuſammenhält. Im Winter fügt die treue Pflegerin Strümpfe hinzu, und ſobald das Kindchen laufen kann, erhält es die Kleidung der Erwachſenen. Beide Eltern lieben ihre Kinder ungemein, behandeln ſie ſtets mit größter Zärtlichkeit und ſchlagen ſie nie, gefallen ſich aber in der Unſitte, ihnen, ſobald ſie zu ſprechen beginnen, allerlei häßliche und unſchickliche Worte zu lehren, welche dann, wenn ſie von den ahnungsloſen Lippen des Kindes kommen, nie verfehlen, allgemeine Heiterkeit zu erregen. Das jeweilige Alter des Kindes bezeichnet man mit dem Namen eines Tieres: das Kind kann alſo „eine Maus, ein Murmeltier, ein Schaf, ein Pferd alt“ ſein. Hat der Knabe das Alter von vier Jahren erreicht, ſo ſetzt man ihn zum erſtenmal auf den Rücken eines ungefähr gleich alten Pferdes, welches reich geſchirrt und mit einem in den Familien forterbenden Kinder— ſattel belegt wurde. Die beglückten Eltern verſprechen dem zum erſten— mal den ſchützenden Armen der Mutter entrinnenden, ſelbſtändig auf— tretenden kleinen Reiter allerlei ſchöne Dinge, rufen hierauf einen Diener oder willigen Freund herbei, übergeben ihm Roß und Reiterlein und beauftragen ihn, von einer befreundeten Jurte zur anderen zu ziehen, um das frohe Ereignis zur Kunde der Sippe und Freunde zu bringen. Wo das Knäblein erſcheint, wird es freundlich begrüßt, mit Lob über— häuft und mit Leckereien beſchenkt. Ein Feſt in der väterlichen Jurte verherrlicht den großen, in aller Augen wichtigen Tag. Volks- und Familienleben der Kirgifen. 419 Mit dem ſiebenten Jahre ungefähr beginnt der Unterricht des Kindes in allem, was ihm zu wiſſen not thut. Der Knabe, welcher inzwiſchen ein tüchtiger Reiter geworden, lernt mit den weidenden Herdentieren um— zugehen, das Mädchen ſie melken und alle übrigen Geſchäfte der Hausfrau verrichten; der Sohn reicher Eltern wird von einem Molla oder doch einem des Leſens und Schreibens kundigen Manne in die Schule genommen und ſpäter in den Geſetzen des Glaubens unterwieſen. Noch vor Ablauf des zwölften Jahres iſt ſein Unterricht zu Ende und er ſelbſt reif für das Leben. Mehr noch als die Lebenden ehrt der Kirgiſe die Toten und deren Gedenken. Jede Familie iſt zu den größten Opfern bereit, um für ein durch den Tod ihr entriſſenes Familienglied eine großartige Leichen- und Erinnerungsfeier auszurichten; jeder, auch der ärmſte, ſucht das Grab eines von ihm geſchiedenen Lieben zu ſchmücken, ſo gut er es vermag, jeder würde es für eine Schmach erachten, einem Toten überhaupt nicht vollſte Ehre zu erweiſen. Alles dieſes iſt allgemeiner Gebrauch bei den Mohammedanern; die beim Tode wie beim Begräbnis eines Kirgiſen üblichen Feierlichkeiten weichen jedoch weſentlich von denen anderer Gläubigen ab und verdienen daher eingehende Beſprechung. Wenn ein Kirgiſe die Sterbeſtunde herannahen fühlt, läßt er ſeine Freunde um ſich verſammeln, damit dieſe dafür ſorgen, daß ſeine Seele ins Paradies gelange. Fromme Kirgiſen, welche den Tod erwarten, laſſen ſich ſchon lange vor jener Stunde aus dem Koran vorleſen, ob auch der Sinn der ihnen ins Ohr klingenden Worte für ſie unverſtändlich ſein möge. Nach Gebrauch der Gläubigen verſammeln ſich die Freunde um das Sterbe— lager eines der Ihrigen und rufen ihm den erſten Satz des Glaubens— bekenntniſſes aller Anhänger des Propheten: „Nur einen Gott gibt es,“ ſo lange zu, bis er mit dem zweiten antwortet: „und Mohammed iſt ſein Prophet“. Sobald dieſe Worte den Lippen eines Sterbenden entfließen, öffnet Munkir, der prüfende Engel, die Pforten des Paradieſes, und des— halb rufen alle, welche fie vernahmen, die Worte aus: „El hamdu lillahi,“ — dem Herrn ſei Dank! Sobald ein Jurtenbeſitzer ſeine Augen für immer geſchloſſen hat, ſendet man zunächſt nach allen vier Seiten der Windroſe Boten aus, um allen Verwandten und Freunden Kunde zu geben, und dieſe Boten reiten, je nach Anſehen und Rang des Toten, zwanzig bis hundert Werſt weit in die Steppe hinaus, von Aul zu Aul, und ein Verwandter in dieſem kündet es dem nächſten in jenem Aul. Während die Trauerboten reiten, 420 Volks⸗ und Familienleben der Kirgiſen. wird die Leiche gewaſchen und in das „Lailach“ gehüllt, welches letztere jeder Kirgiſe ſchon bei Lebzeiten ſich erwarb und unter ſeinen Wertgegenſtänden bewahrte. Nachdem man dieſe gebotene Pflicht erfüllt, trägt man den Leichnam aus der Jurte hinaus und legt ihn einſtweilen auf einem halb geſpreizten Jurtengitter nieder. Der herbeigerufene Molla erſcheint und ſpricht den Segen über den Toten; ſodann erhebt man die Leiche mit dem Gitter, befeſtigt letzteres auf dem Sattel eines Kameles und ſetzt ſich unter Begleitung der inzwiſchen bereits herangeſtrömten nächſtwohnenden Verwandten in Bewegung, um den oft weit entfernten Friedhof rechtzeitig zu erreichen. Unmittelbar nach Eintritt des Todes beginnen die Frauen die Toten— klage. Die nächſte Verwandte hebt den Trauergeſang an und läßt ihres Herzens Kummer in mehr oder minder tief empfundenen Worten aus— ſtrömen; die übrigen fallen am Ende jedes Satzes oder Verſes gleichzeitig ein; und eine nach der anderen kleidet ihre Gedanken in Worte, ſo gut ſie vermag. Mehr und mehr ſteigert ſich die Klage, bis zu dem Augen— blicke, in welchem das Kamel mit ſeiner Laſt ſich erhebt, und wie die Worte und Laute drückt auch das Gebaren der Frauen immer mehr ſich ſteigernden Schmerz aus, bis ſie ſchließlich ſich das Haar zerraufen und das Geſicht blutig kratzen. Erſt wenn der Leichenzug, an welchem die Frauen nicht teilnehmen, dem Auge entſchwindet, verſtummen allgemach Worte und Thränen. Dem Leichenzuge voraus ſind auf raſchen Pferden einige Männer geritten, um das Grab zu bereiten. Dieſes iſt eine höchſtens bis zur Bruſthöhe eines Mannes reichende Vertiefung, welche auf einer Seite, in der Richtung nach Mekka hin, in ein Gewölbe übergeht, dazu beſtimmt, das Haupt und den Oberleib des Toten aufzunehmen. Nach geſchehener Beerdigung wird das Grab mit Blöcken, Brettern, Nöhrbündeln oder Steinen bedeckt, jedoch nicht mit Erde ausgefüllt, ſondern ſolche höchſtens als Hügel über die Decke geſchichtet und mit Fahnen und dergleichen ver— ziert, falls man nicht einen kuppelartigen Bau aus Holz oder Lehmſteinen über dem Grabe errichtet. Auf das Grab eines Kindes legt man ſeine Wiege. Vor dem Grabe ſegnet der Molla die Leiche zum letztenmal ein; an der Aufſchichtung des Hügels nehmen alle Anteil. Aber noch iſt die Leichenfeier nicht beendet. In dem Augenblicke, in welchem ein Jurtenherr ſeinen letzten Seufzer verhauchte, ſtellt man neben der Jurte eine weiße Fahne auf und beläßt ſie ein ganzes Jahr lang an derſelben Stelle. An jedem Tage dieſes Volks⸗ und Familienleben der Kirgijen. 421 Jahres verſammeln ſich hier die Frauen, um die Klage zu erneuern. Möglichſt gleichzeitig bringt man auch das Lieblingspferd des Verſtorbenen herbei und ſchneidet ihm ſeinen langen Haarſchweif zur Hälfte ab. Von dieſem Augenblick an wird das Roß von niemand mehr geritten; es heißt „verwitwet“. Sieben Tage nach dem Tode finden alle Verwandten und Freunde, auch die, welche fern von hier weiden und wohnen, in der Jurte ſich ein, halten gemeinſchaftlich ein Leichenmahl, verteilen einige Kleider des Toten an die Armen und beraten über das fernere Geſchick der Nach— gelaſſenen, wie über Verwaltung des Nachlaſſes. Dann überläßt man die Hinterbliebenen wiederum ſich ſelbſt und ihrem Leide. Stirbt eine Frau, ſo werden faſt dieſelben Gebräuche beobachtet wie bei dem Tode eines Mannes, nur daß ſelbſtverſtändlich Frauen die Leiche waſchen und bekleiden. Aber auch in dieſem Falle bleiben ſie während der Beerdigung im Aul, um hier die Totenklage zu erheben. Das Reit— pferd der Geſchiedenen wird ebenfalls ſeiner Schweifzier beraubt, eine Trauerfahne aber nicht aufgepflanzt. Wenn der Aul verlegt wird, bringt ein zu ſolchem Ehrendienſte er— wählter Jüngling das verwitwete Pferd herbei, legt ihm den Sattel ſeines geweſenen Gebieters in verkehrter Richtung auf den Rücken, belaſtet es mit den Kleidern des Verſtorbenen und führt es am Zügel dem Ziele zu, in der Rechten die Lanze mit der Trauerfahne tragend. Sobald die Jurte wieder errichtet wurde, entſattelt er das Pferd und bringt die Lanze an ihre alte Stelle. Am Jahrestage des Todes aber erſcheinen wiederum alle geladenen Verwandten und Freunde in der verwaiſten Jurte. Nachdem man die noch immer in Trauerkleider gehüllten Frauen begrüßt und nochmals zu tröſten verſucht hat, bringt man das verwitwete Pferd herbei, ſattelt und belaſtet es wie beim Umzuge des Aul und führt es ſodann dem Molla vor, damit er es ſegne. Dies geſchieht; zwei Männer nähern ſich ihm, faſſen es am Zügel, entſatteln es, werfen es zu Boden und ſtoßen ihm den Stahl in das Herz. Sein Fleiſch dient den armen Feſtgenoſſen zum Mahle, ſeine Haut wird dem Molla zum Lohne. Unmittelbar nach dem Tode des Pferdes übergibt man die Lanze dem würdigſten Verwandten; er nimmt ſie, ſpricht einige Worte, bricht ihren Schaft in Stücke und wirft dieſe in das Feuer. Jetzt brauſen die Pferde heran, um im Wettlaufe ihre Schnelligkeit zu beweiſen; die jungen Reiter, welche ſie leiten und zügeln, ſtürmen auf das gegebene Zeichen mit ihnen davon und verſchwinden in der Steppe. 422 Volks- und Familienleben der Kirgiſen. An die Stelle des Molla tritt der Sänger, um noch einmal des Toten zu gedenken, aber auch die Lebenden zu feiern und ihr Herz zu erfreuen. Vom Haupte der Frauen verſchwindet der eigentümliche Kopfputz, welcher als Zeichen der Trauer diente, und ſie ſchmücken ſich mit feſtlichen Ge— wändern. Nach dem reichen Mahle kreiſt die Schale mit dem berau— ſchenden Milchwein; mit den Klängen der Zither vereint ſich das Jauchzen der Freude. Die Trauer iſt zu Ende; das Leben tritt wieder ein in ſeine Rechte. Anſteoͤler und Verbannte in Sibirien. Ser in Sibirien nur ein großes Gefängnis ſieht, irrt ſich ebenſo wie derjenige, welcher das ganze Land mit einer einzigen un— ermeßlichen Eiswüſte vergleicht. Wohl ſendet Rußland alljährlich Tauſende von Verbrechern oder Straffälligen überhaupt nach Sibirien; wohl wandern dieſe, ſolange ſie unterwegs ſind, von einem Gefangen— hauſe zum anderen; wohl ſind diejenigen unter ihnen, welche ſchwere Ver— brechen an Leib und Leben, Beſitz und Eigentum zu büßen haben, ſo— lange ſie gezwungen in Sibirien weilen, unfrei: nur der geringſte Teil aller Verbrecher aber befindet ſich, ſolange ſeine Strafzeit währt, in wirklicher Haft, und jeder iſt im ſtande, durch ſeine Führung dieſe Haft zu mildern, ſogar von ihr ſich zu befreien, alſo Wohlthaten zu genießen, wie ſolche den Inſaſſen unſerer Zuchthäuſer und Gefängniſſe nicht zu teil werden können. Ausgedehnte Strecken des ungeheuren Gebietes, welches dem ruſſiſchen Zepter unterworfen wurde, weite Länder nach unſeren Be— griffen, ſind übrigens niemals Verbannungsorte geweſen und werden wohl für immer verfchont bleiben vor gezwungen wandernden Zuzüglern, welche größere Unannehmlichkeiten, um nicht zu ſagen Leiden, unter die ſeßhafte Bevölkerung bringen, als ſie ſelbſt ſolche zu erdulden haben. Auf den— ſelben Wegen, welche früher nur ſeufzend zurückgelegt wurden, ziehen heut— zutage freie Menſchen, Beſſerung ihres Loſes erhoffend und erſtrebend, dem fernen Oſten zu. Den gezwungenen Anſiedlern geſellen ſich freiwillige, ſelbſt in ſolchen Gegenden und Landſtrichen, welche lange Zeit verrufen und gefürchtet waren wie die unwirtlichſten Gefilde der Erde. Eine neue Zeit bricht an für Sibirien; denn an die Stelle verblendender Furcht tritt allgemach erleuchtende Erkenntnis, auch in ſolchen Bevölkerungsſchichten, welche jener zugänglicher ſind als dieſer. 424 Anſiedler und Verbannte in Sibirien. Die uns geläufigen Schilderungen Sibiriens entſtammen weitaus zum größten Teile dem Munde oder der Feder gebildeter Verbannter, rühren alſo von Leuten her, welche der angeſeſſene Sibirier „Unglückliche“ nennt und als ſolche behandelt. Gedachte Schilderungen ſind zum geringſten Teile wohl unwahr, unrichtig aber in den meiſten Fällen trotz alledem. Denn Unglück trübt Auge und Seele und raubt die Unbefangenheit, welche einzig und allein die Grundlage iſt jeder gerechten Würdigung der Ver— hältniſſe. Letztere aber ſind beſſer, unverhältnismäßig beſſer, als wir glauben wollen, viel beſſer ſogar als in mehr als einer Gebirgsgegend unſeres Vaterlandes; denn leicht iſt in Sibirien der Kampf, welchen der Menſch zu beſtehen hat um das Daſein. Darben im zunächſtliegenden Sinne des Wortes, Entbehren des Notwendigſten zur Nahrung und Not— durft des Leibes ſind hier faſt ungekannte Leiden, treffen mindeſtens nur denjenigen, welchem Krankheit und ſonſtiges Unglück die Arbeitsfähigkeit lähmte. Verglichen mit dem Schickſale, gegen welches mancher arme deutſche Gebirgsbewohner ankämpft zeit ſeines Lebens, ohne jemals als Sieger aus dem Kampfe hervorzugehen, erſcheint in vielen Fällen ſelbſt das Los des nach Sibirien verbannten Sträflings als ein beneidenswertes. Darben, Entbehren bedrückt gegenwärtig nur das geiſtige, nicht aber das leibliche Sein des in Sibirien hauſenden Menſchen: wer nur der Scholle lebt, dem ſpendet ſie mehr, als er bedarf, und wer ihr, der Ernährenden, untreu wurde und irgendwelche andere landesübliche Thätigkeit wählte, dem bringt ſeiner Hände redliche Arbeit ſicherlich ebenſoviel Gewinn wie die Scholle. So ſtellen ſich gegenwärtig die Verhältniſſe dar, wenn man ſie mit unbe— fangenem Auge betrachtet. Ich habe mich ehrlich beſtrebt, ein unbefangenes Urteil über die Lebensverhältniſſe der Menſchen in den von uns durchreiſten Teilen Sibiriens zu gewinnen. Ich bin hinabgeſtiegen in die Tiefen des Elends und habe mich geſonnt auf den Höhen wunſchloſen Glückes; ich habe mit Mördern, Straßenräubern, Brandſtiftern, Dieben, Betrügern, Gaunern, Strolchen und Lumpen, Aufrührern und Verſchwörern wie mit Fiſchern und Jägern, Hirten und Bauern, Kaufleuten und Gewerbetreibenden, Beamten und Richtern, mit Gebildeten und Ungebildeten, Reichen und Armen, Herren und Knechten, zufriedenen und unzufriedenen, begehrenden und begnüg— ſamen Menſchen verkehrt, um meine Wahrnehmungen beſtätigen, meine Beobachtungen erweitern, meine Schlußfolgerungen prüfen, irrtümliche Auf— faſſungen berichtigen zu laſſen; ich habe Sicherheitsbeamte gebeten, mir von dem Loſe der Verbannten zu erzählen, und Verbannte ſelbſt nach Anſiedler und Verbannte in Sibirien. 425 dieſem Loſe befragt; ich habe die Verbrecher in ihren Gefängniſſen auf— geſucht und ſie außerhalb derſelben beobachtet; ich habe mit Bauern, Ge— werbetreibenden und Anſiedlern überhaupt Zwieſprach gepflogen, wo und wann immer ich konnte, und die Auskunft, welche ich von dieſen Leuten empfing, verglichen mit den eingehenden Mitteilungen, welche mir von Verwaltungsbeamten wurden: ich darf glauben, ſo gut unterrichtet worden zu ſein, als dies bei der Eile und Kürze unſerer Reiſe überhaupt möglich war. Jedenfalls habe ich ſo viel Stoff geſammelt, daß ich mich einzig und allein auf meine eigenen Forſchungen beſchränken darf, indem ich mich anſchicke, ein flüchtig gezeichnetes Lebensbild der Verbannten Sibiriens zu geben. Frei von Irrtümern wird meine Schilderung nicht ſein, im allge— meinen aber wird man ihr gerechte Würdigung der Verhältniſſe nicht ab— ſprechen können. Abgeſehen von Beamten der Regierung, Soldaten und unternehmen— den Gewerbetreibenden, namentlich Kaufleuten, beſtand der Zuzug, welchen Sibirien von Rußland aus empfing, bis zum Jahre 1861 ausschließlich aus unfreiwilligen Einwanderern: Leibeigenen des Kaiſers, welche in die Bergwerke des Zaren, und Verbrechern, welche, zum Teil wenigſtens, in die Bergwerke des Staates geſchickt wurden. Mit Aufhebung der Leib— eigenſchaft, welche tiefergehende Umwälzung der geſellſchaftlichen Zuſtände im Gefolge hatte, als man annahm und gegenwärtig noch erkennt oder glaubt, verſiegte der Zuzug der erſtgenannten mit einem Schlage. Millionen Menſchen wurden frei durch das Wort ihres milden, großherzigen Herrſchers; Tauſende von ihnen verließen deſſen Bergwerke und wandten ſich der frucht— ſpendenden Scholle zu, welche ihre Angehörigen bis jetzt bebaut hatten, ſo daß jene Bergwerke von Stund an verödeten und bis zum heutigen Tage noch unter den Folgen leiden. Aber das große Kaiſer- oder Kron— gut Altai gewann gleichzeitig ein neues Element, welches ihm bisher ge— fehlt hatte, freie Bauern, ohne erblichen Landbeſitz zwar, aber doch unbe— hinderte Bebauer des reichen Landes, an Stelle ſeiner bisherigen An— ſiedler. Die Aufhebung der Leibeigenſchaft änderte jedoch auch die Ver— hältniſſe derjenigen Länderſtrecken Sibiriens, welche bisher vornehmlich durch Sträflinge beſiedelt worden waren, indem es fortan auch hier möglich wurde, einen freien Bauernſtand zu bilden. Hier aber erweiſt ſich der noch fortdauernde Zuzug eher hemmend als fördernd; denn der größere Teil der Sträflinge, welche zur Anſiedlung in bereits bevölkerten Teilen des Landes verwieſen werden, bringt fortdauernd Unruhe unter die ſeß— hafte Bewohnerſchaft und hindert ein ebenſo freudiges Aufblühen der 426 Anſiedler und Verbannte in Sibirien. Siedelungen wie im Krongute Altai, welches nach wie vor von Ver— bannten verſchont geblieben iſt und verſchont bleiben wird, ſolange es ſich im Beſitz des Kaiſers befindet. Dagegen wandern hier gegenwärtig freiwillig Siedelluſtige ein, und die Bevölkerung hebt ſich auch aus dieſem Grunde raſcher, als im übrigen Sibirien. Es iſt ein prachtvolles Stück Erde, dieſes Krongut Altai, und ein wunderſames Landgut auch inſofern, als es das größte ſein dürfte, welches irgendwo gefunden werden mag. Denn ſein Flächeninhalt beträgt in runder Zahl viermalhunderttauſend Geviertwerſt oder annähernd achttauſend geographiſche Geviertmeilen. Es ſchließt in ſich Gebirge und Ebenen, Berg- und Hügelgelände; es liegt zwiſchen ſchiffbaren Strömen und be— ſitzt Flüſſe, welche ohne ſonderliche Anſtrengung ſchiffbar gemacht werden könnten; es enthält noch immer große, nutzbare Wälder und auch ſonſt unendlichen Reichtum über wie unter der Erde. Nicht weniger als acht— hundertunddreißig verſchiedene Erzlagerſtätten ſind bekannt geworden inner— halb ſeiner Grenzen, ungerechnet noch anderweitiger zweihundertundſiebzig Fundſtellen, welche noch niemals unterſucht wurden. Man wandelt im Krongute Altai buchſtäblich auf Silber und Gold; denn güldiſches Silber— erz, neben Blei, Kupfer und Eiſen, durchzieht in mehr oder minder reichen, großenteils aber bauwürdigen Adern die Berge, und Goldſand führen die von ihnen herabſtrömenden Flüſſe. Ein Steinkohlenflötz von noch unum— grenzter Ausdehnung, in welchem man ſtellenweiſe eine Mächtigkeit von ſechs bis acht Metern feſtſtellen konnte, unterlagert außerdem einen ſo ausgedehnten Teil des ganzen Gutes, daß man, von der zu Tage tretenden Zuſammenſetzung der Geſteinsmaſſen folgernd, die Annahme für berechtigt hält, im ganzen Norden des Krongutes auf oder über einem einzigen Kohlenbecken zu ſtehen. Und dennoch dürfte der wahre Reichtum des Krongutes Altai nicht in ſeinen unterirdiſchen Schätzen, ſondern in der fetten und fruchtbaren Schwarzerde zu ſuchen ſein, welche Berggehänge und Ebenen überlagert, und da, wo ſie zuſammengeſchwemmt wurde, in den Flußthälern und Niederungen, eine bis anderthalb Meter mächtige Decke bildet. Anmutige, zum Teil großartige Gebirgsgegenden wechſeln ab mit lieblichen Hügelgeländen und ſanftwelligen Ebenen, wie ſie der Landwirt allen übrigen bevorzugt, ſteppenartige Landſchaften mit fruchtbaren, von einem Bächlein, Flüßchen oder Fluſſe durchſtrömten Niederungen, Wal— dungen mit üppig ſchoſſenden Hoch- und Niederbäumen mit hain- oder parkähnlichen Holzungen. Ein zwar nicht mildes, aber doch keineswegs unerträgliches Klima hindert nirgends gedeihlichen Anbau des überaus Anſiedler und Verbannte in Sibirien. 427 fruchtbaren, großenteils noch jungfräulichen Bodens. Vier Monate heißer, faſt wechſelloſer Sommer, vier Monate ſtrenger, beſtändiger Winter, zwei Monate naßkalter, unbeſtändiger Frühling und ebenſoviele gleichgearteter Herbſt runden das Jahr, und wenn auch die Durchſchnittswärme der beſſeren Hälfte dieſes Jahres nicht ausreicht, die Traube zu zeitigen, iſt ſie doch genügend, jede unſerer nord- und mitteldeutſchen Getreidearten zur Reife zu bringen, und in allen ſüdlichen Teilen des Krongutes ſchon ſo bedeutend, um den Anbau der Melone zu geſtatten. So iſt das Land beſchaffen, welches ſeit mehr als zwei Menſchen— altern verſchont blieb von ausgewieſenen Verbrechern und gegenwärtig Anſiedler beherbergt, wie man ſie, maßvoll ſich beſchränkend, dem ganzen übrigen, nicht minder reichen und fruchtbaren Süden Sibiriens wünſchen möchte. Mit unſeren erbeingeſeſſenen Bauern laſſen ſie ſich freilich nicht vergleichen, dieſe Landwirte des Krongutes Altai; dem gewöhnlichen ruſſi— ſchen Bauer gegenüber aber halten ſie jeden Vergleich aus. Man merkt ihnen an, daß ihre Väter und Großväter Leibeigene des größten, er— habenſten Herrn des Reiches, nicht aber Halbſklaven eines machtloſen und deshalb maßloſe Unterwürfigkeit verlangenden Gebieters waren; man ſieht bei jeder Gelegenheit, daß der Mangel an erblichem Landbeſitz ſie in keiner Weiſe gehindert hat, wohlhabend zu werden, d. h. mehr zu erwerben, als ſie gebraucht haben und noch gegenwärtig brauchen. Das Los der Bewohner des Altai war von der Zeit an, in welcher das Krongut für Eigentum des Kaiſers erklärt wurde, ein verhältnismäßig günſtiges, um nicht zu ſagen glückliches. Bis zur Aufhebung der Leib— eigenſchaft waren ſie ſamt und ſonders beim Bergbaue bedienſtet oder wenigſtens mittelbar für denſelben thätig. Diejenigen, welche nicht in den Gruben arbeiteten, waren beſchäftigt mit Fällen und Verkohlen des Holzes, andere mit der Zufuhr der Kohlen zu den Schmelzhütten, wiederum andere mit Verfrachtung der Erze. Mit der Zunahme der Bevölkerung minderte ſich die Laſt der ihnen auferlegten Frondienſte. In den fünfziger Jahren konnte man bereits über ſo viele Kräfte verfügen, daß ſich die Arbeit für den Herrn, den Kaiſer, auf einen Monat im Jahre beſchränkte, allerdings unter Maßgabe, daß jeder Fronarbeiter auch ein Pferd zu ſtellen hatte. Die Strecke, welche der Arbeiter mit letzterem zurücklegen mußte, wurde je nach deren Länge berechnet. Als Entſchädigung für Abweſenheit von Haus und Hof empfing jeder Fronarbeiter 7542 Kopeken für die Zeit ſeiner Arbeit. Außer dieſer kaum nennenswerten Löhnung hatte aber jeder Bergmann das Recht, von des Kaiſers Lande ſo viel zu bebauen, 428 Anſiedler und Verbannte in Sibirien. als er konnte, dasſelbe zu beſtellen, wie er wollte, ebenſo in des Kaiſers Waldungen ſo viel Holz zu ſchlagen, als er zum Aufbaue ſeiner Be— hauſung und zur Feuerung brauchte, ohne daß er mit irgend welcher Ab— gabe oder Steuer belaſtet wurde. Die Anzahl der von einem Dorfe zu ſtellenden Arbeiter richtete ſich nach der Seelenzahl; die Verteilung der Fronlaſt auf die einzelnen Wirte geſchah durch die Gemeindeglieder ſelbſt. Minder leicht war die Arbeit der Bergleute. Sie wurden anſtatt der anderswo zu ſtellenden Soldaten in den Dörfern und Städten des Krongutes ausgehoben, in jeder Beziehung wie Soldaten behandelt und erſt nach fünfundzwanzigjähriger Dienſtzeit befreit. Man teilte ſie in zwei Klaſſen ein: in die eigentlichen Bergleute, welche zu regelmäßigen Schichten anfuhren, und in Bergarbeiter, welche alljährlich eine beſtimmte, ihnen aufgetragene Leiſtung in einer ihnen freigeſtellten Zeit auszuführen hatten. Letztere dienten als Kohlenbrenner, Holzfäller, Ziegelſtreicher, Fuhrleute und dergleichen und empfingen ein für allemal alljährlich vierzehn Rubel an Löhnung. Hatten ſie die ihnen aufgetragene Arbeit geleiſtet, ſo waren ſie frei für den Reſt des Jahres und durften thun und treiben, was ſie wollten. Die Grubenarbeiter dagegen waren jahraus, jahrein zum Dienſte verpflichtet. Sie fuhren eine Woche lang bei Tage, die nächſtfolgende bei Nacht zu zwölfſtündiger Schicht an und waren in jeder dritten Woche dienſtfrei. Je nach ſeiner Fähigkeit empfing jeder Bergmann zur Beſtrei— tung ſeiner mit Geld zu zahlenden Bedürfniſſe jährlich ſechs bis zwölf Rubel an Löhnung, außerdem aber monatlich zwei Pud Mehl für ſeine eigene, ebenſoviel für die Ernährung ſeiner Frau, ein Pud für jedes ſeiner Kinder. Land zu bebauen, Vieh zu züchten und zu halten, ſoviel er ver— mochte, war ihm auch geſtattet. Jeder ſeiner Söhne wurde gezwungen, vom ſiebenten bis zum zwölften Jahre die Schule zu beſuchen; von dieſer Zeit an bis zum achtzehnten Lebensjahre wurde er als Bergjunge beſchäftigt und zuerſt mit einem, ſpäter mit zwei Rubeln jährlich gelöhnt. Mit ſei— nem achtzehnten Jahre begann ſein Dienſt in der Grube. Am 1. März 1861, dem Tage der Befreiung aller Leibeigenen des ruſſiſchen Reiches, zählte man im Krongute Altai 145639 männliche Seelen, von denen 25267 als Gruben- und Hüttenarbeiter thätig waren. Die einen wie die anderen wurden zwar nicht an einem Tage, aber doch in— nerhalb zweier Jahre von ihren bisherigen Verpflichtungen entbunden. Nicht weniger als 12626 von ihnen verließen die Bergwerke, kehrten in ihre heimatlichen Dörfer zurück und wurden Bauern; die übrigen blieben als freie Arbeiter dem Bergbaue erhalten. Anſiedler und Verbannte in Sibirien. 499 Ich glaube nicht zu irren, wenn ich die mehr als ſonſtwo in Weſt— ſibirien geregelten Verhältniſſe des Krongutes Altai einzig und allein auf die Vergangenheit desſelben zurückführe. Die Eltern und Vorfahren der heutigen Bewohner des Kaiſergutes haben ſich trotz ihrer Unfreiheit nie— mals bedrückt gefühlt. Sie waren Leibeigene, aber ſolche des Herrn und Heimkehrende Bergleute in Altai. Beherrſchers des ungeheuren Landes, in welchem die Wiege ihrer Väter geſtanden. Sie waren gezwungen zu arbeiten für ihren Herrn, und ihre Söhne faſt ein Menſchenalter hindurch dem Dienſte des Herrn zu ſtellen: aber dieſer Herr war der Kaiſer, ein der Gottheit vergleichbares Weſen in ihren Augen. Dafür ernährte ſie der Kaiſer, befreite ſie von allen Verpflichtungen anderer Staatsbürger, geſtattete ihnen, ſeinem Lande abzu— 430 Anſiedler und Verbannte in Sibirien. ringen, was dasſelbe zu geben vermochte, hinderte das Aufblühen ihres Wohlſtandes in keiner Weiſe, ſchützte ſie, ſo viel als möglich, vor Be— drückungen ungerechter Beamter und wurde noch außerdem Wohlthäter an ihren Kindern, indem er wenigſtens einen Teil derſelben zwang, Schulen zu beſuchen. Die Beamten, denen ſie unterſtellt waren, überragten in— folge ihrer Bildung die meiſten Kronbedienſteten bei weitem; faſt alle hatten in Deutſchland ſtudiert, waren zu nicht geringem Teile ſogar deutſcher Herkunft und brachten, wenn auch nicht immer deutſche Geſittung, ſo doch erweiterte Anſchauungen in das Land, in welchem ſie im Namen des Kaiſers die Herrſchaft führten. Noch heutigestags iſt Barnaul, die Hauptſtadt des Krongutes, ein Brennpunkt der Bildung, wie Sibirien keinen zweiten aufzuweiſen hat; zur Zeit der Blüte des Bergbaues war es unbeſtritten die geiſtige Hauptſtadt von ganz Nord- und Mittelaſien, und das von hier ausgehende Licht ſtrahlte um ſo heller, als es in allen Bergorten Sammelpunkte fand, welche es weiter verbreiten halfen. So nahm das Krongut von jeher eine bevorzugte Stellung ein unter den Ge— bieten Sibiriens. Es war vielleicht niemals die Abſicht der Verwaltung des Krongutes, den Bauernſtand zu fördern; bis zur Aufhebung der Leibeigenſchaft wenigſtens ſah man in dieſem nur einen notwendigen Behelf zu Gunſten des Bergbaues. Dieſe Zeiten haben ſich geändert. Seit dem Tage, welcher Leibeigene zu freien Menſchen wandelte, iſt der Bergbau ebenſo ſtetig zurückgegangen, als ſich der Landbau gehoben hat. Man hat ſich noch nicht entſchließen wollen, den alten Schlendrian aufzugeben, muß dies aber mit ſo hohen Summen bezahlen, daß der Reingewinn der Berg— werke zu einem unbedeutenden geworden iſt. Freigabe des Bergbaues an thatkräftige Unternehmer, vielleicht das einzige durchſchlagende Mittel zur Beſſerung der gegenwärtigen Verhältniſſe, iſt zwar in Erörterung gezogen worden, aber noch weit davon entfernt, eine Thatſache zu werden; Frei— gabe des Grundes und Bodens, ſoweit der Pflug in ihn dringt, war von jeher üblich und iſt gewiſſermaßen zum Gewohnheitsrechte geworden. Zwar beſitzt, wie ſchon angedeutet, im Krongute niemand das Land, welches er bebaut, nicht einmal den Grund und Boden, welchen ſein Haus bedeckt; allein, was dem Kaiſer eigen iſt, gehört nach des Bauern Anſicht auch dem „lieben Herrgott“ zu, und letzterer gewährt jedem Gläubigen gern, es zu benutzen. In That und Wahrheit erhebt die Verwaltung des Kron— gutes von jedem zu Acker umgewandelten Hektar vierzig Kopeken jährlich an Pacht; allzuſtreng aber verfährt ſie nicht, und der Bauer ſeinerſeits Anſiedler und Verbannte in Sibirien. 431 fühlt erſt recht nicht die Verpflichtung, es allzugenau zu nehmen. So be— wirtſchaftet thatſächlich jeder Bauer ſo viel Land, als er kann, und wählt ſich dasſelbe, wo er will. Man gewährt dem heutigen Bauer des Krongutes nicht mehr als Recht, wenn man ihn als einen wohlgeſtalten, aufgeweckten, geſchickten, an— ſtelligen, gelehrigen, gaſtfreien, gutmütigen und barmherzigen Menſchen be— zeichnet; man ſagt auch nicht zu viel, wenn man ihm Wohlſtand und aus dieſem hervorgegangenes Selbſtgefühl, ſogar einen gewiſſen Sinn für Freiheit nachrühmt. Sein Auftreten iſt ein freieres, minder demütiges als das des ruſſiſchen Bauern. Er iſt höflich und zuvorkommend, unterthänig und daher leicht lenkſam; nicht aber knechtiſch, kriechend und unterwürfig, macht alſo einen keineswegs ungünſtigen Eindruck auf den Fremden. Aber auch er beſitzt alle die Eigenſchaften, welche wir bezeichnend „Bauernmucken“ nennen, in hohem Grade und noch mehrere dazu, welche dazu angethan ſind, den erſten günſtigen Eindruck zu ſchwächen. Ungeachtet er mehr Ge— legenheit gehabt hat als jeder andere Sibirier ſeines Standes, ſich zu bilden, liebt er die Schule durchaus nicht. Er iſt ſtrenggläubig und im ſtande, für die Kirche hinzugeben, was er beſitzt, ſieht jedoch in der Schule nur eine Anſtalt, welche den Menſchen verdirbt, anſtatt ihn zu bilden. Ein— gedenk früherer Zuſtände, welche allerdings überaus mangelhaft waren, in bleibender Erinnerung an die alten, ausgedienten Soldaten, welche zu ſeiner Väter Zeiten das Schulzepter führten und ſich nicht entblödeten, die ihnen anvertrauten Schüler nach Schnaps zu ſchicken, im Rauſche auch wohl unnötigerweiſe zu mißhandeln, iſt er ungemein mißtrauiſch gegen alles, was mit der Schule in Verbindung ſteht, hängt außerdem nach Bauernart innig am Alten und gefällt ſich in der Meinung, daß mehr Wiſſen, als er ſelbſt beſitzt, ſeinen Kindern nur zum Schaden gereichen könne, läßt ſich auch von dieſer Meinung ſo leicht nicht abbringen. Sein Bildungsſtand iſt alſo ein ſehr niedriger. Ausnahmsweiſe nur übt er die Kunſt des Schreibens, und unter allen Umſtänden ſieht er in Büchern gänzlich unnötige Dinge. Um ſo treuer hängt er an dem Aberglauben, welchen ſeine Kirche ſtützt und fördert. Die Namen der Monate kennt er meiſt nicht, die Namen der Heiligen und ihre Feiertage weiß jeder an den Fingern herzuzählen. Gott und die Heiligen, Erzengel und Teufel, Tod, Himmel und Hölle beſchäftigen ihn mehr als alles übrige. Man kann ihn keineswegs begnügſam nennen, wohl aber behaupten, daß er unverbeſſerlich zufrieden iſt. Mehr als er zum Leben braucht, wünſcht er nicht, arbeitet daher auch nur ebenſoviel, als er unbedingt muß. Aber weder 433 Anſiedler und Verbannte in Sibirien. ſein Gehöft, noch das Feld, welches er das ſeinige nennt, kann ihm groß genug, weder ſeine Familie noch ſein Viehſtand zu zahlreich ſein. „Wie geht es euch hier?“ fragte ich einen Gemeindeälteſten, welchen wir unterwegs aufgeladen hatten, durch den Mund des Dolmetſchers. „„Gott erträgt noch unſere Sünden,““ war die Antwort. „Sind eure Weiber gut, euch treu, hold und gewärtig?“ „„Es gibt gute und ſchlechte.““ „Gehorchen euch eure Kinder, machen ſie euch Ba, „„Wir haben über fie nicht zu klagen.““ „Iſt das Land, welches ihr bebaut, ergiebig, bringt es euch reich— liche Ernte?“ „„Wenn wir das zehnfache Korn ernten, ſind wir ſchon zufrieden. „Gedeiht euer Vieh?“ „„Wir ſind zufrieden. „Wieviel Pferde beſitzeſt du?“ „„Zweiunddreißig; es können wohl auch fünfunddreißig ſein. „Und wieviel von dieſen brauchſt du zu deiner Arbeit?“ „„Acht, zehn, zuweilen auch zwölf.““ „So züchteſt du die übrigen, um ſie zu verkaufen?“ „„Ich verkaufe wohl auch einmal eines von ihnen.““ „Und was thuſt du mit den übrigen?“ „„Nitſchewo.““ „Wieviel Rinder und Schafe beſitzeſt du?“ „„Das weiß ich nicht. Um die Rinder, Schafe und Schweine küm— mert ſich nur meine Frau.“ „Haſt du viele Steuern zu zahlen.“ „„Ich bin zufrieden.““ „Haſt du über etwas zu klagen?“ „„Ich bin zufrieden.““ N „Du haſt alſo über gar nichts Klage zu führen, und alles iſt dir recht?“ „„Nein, nicht alles; eine Klage habe ich wohl.““ „Und welche?“ „„Es wird unbequem im Lande!““ „Unbequem, was ſoll das heißen?“ „„Nun ja, es wird zu eng für uns. „Zu eng, wiefern?“ „„O, die Dörfer ſchießen überall aus dem Boden hervor wie Pilze. ul LIEL 4% J. ud Anſiedler und Verbannte in Sibirien. 433 Man kann ſich nicht mehr rühren, weiß nicht mehr, wo man ſein Feld anlegen ſoll. Wäre ich nicht zu alt, ich wäre ſchon ausgewandert.““ „Die Dörfer ſchießen wie Pilze aus dem Boden? Wo denn? Ich ſehe ja keine. Wie weit entfernt iſt denn das nächſte Dorf von dem deinigen?“ „„Fünfzehn Werſt. So ſpricht, ſo denkt, ſo urteilt der Bauer im Krongute. Das weite Land iſt ihm nicht geräumig genug, und doch würde der zwanzigſte Teil von dem, über welches er nach Belieben verfügt, ihm genügen, wollte er es nur bebauen. Denn das Land iſt ſo ergiebig, daß es jede, auch die geringſte Mühe reichlich lohnt. Verſagt es aber wirklich einmal, fällt die Ernte gegen alles Erwarten nicht aus wie gewöhnlich, kehrt anſtatt des Ueberfluſſes der Mangel bei ihm ein, ſo betrachtet er dies nicht etwa als die natürliche Folge ſeiner Faulheit, ſondern als eine Schickung Gottes, als eine von letzterem ihm auferlegte Strafe für ſeine Sünden. In That und Wahrheit befindet er ſich trotz ſeiner Sünden und der ſie treffenden Strafen ganz wohl und hätte eher Urſache, von einer Be— lohnung der erſteren zu reden. Denn nicht der Mangel, ſondern der Ueberfluß bedrückt ihn. Regierungsſeitig werden jedem Bauern fünfzehn Hektar des beſten Landes, in der Regel nach eigener Wahl, für jede männliche Seele ſeiner Familie angewieſen; da jedoch von den einmal— hunderttauſend Geviertwerſt des Krongutes bis zum Jahre 1876 nur zwei— hundertundvierunddreißigtauſend beſiedelt waren, kommt es noch heute nicht darauf an, ob ſich jeder Bauer mehr anmaßt, als ihm gebührt, oder ob er ſich begnügt mit dem, was Rechtens iſt. Einzelne Familien nutzen nicht weniger als zwölf- bis fünfzehnhundert Hektar nach ihrer Weiſe aus, und ihnen iſt es allerdings gleichgültig, ob ſie die benötigten Pferde oder deren zwanzig, dreißig mehr ernähren. In Wirklichkeit geſchieht es nicht ſelten, daß überflüſſige Haustiere den Bauern des Krongutes von einer ſchweren Sorge befreien: derjenigen nämlich, den ihm gewordenen über— reichen Segen, welchen er infolge der äußerſt mangelhaften Verkehrsmittel nicht zu Gelde machen kann, zu verwerten. In einem Lande, in deſſen Hauptſtadt unter gewöhnlichen Verhältniſſen das Pud oder ſechzehn Kilo— gramm Roggenmehl nicht mehr als etwa fünfzig, das Pud Weizenmehl nicht über achtzig Pfennig, das Pud Ochſenfleiſch im Winter höchſtens 1,20 Mark, ein Schaf vier, ein vom Euter entwöhntes Kalb zehn, ein Schwein acht, ein treffliches Pferd ſelten über hundert Mark unſeres Geldes wertet, drückt jede gute Ernte die üblichen Preiſe ſo herab, daß der überreiche Brehm, Vom Nordpol zum Aequator. 28 UM 434 Anſiedler und Verbannte in Sibirien. Segen zur Laſt wird. Wenn der Bauer des Krongutes für hundert Kilo— gramm Getreide nicht mehr als 1,2 Mark unſeres Geldes erlöſen kann, wird ihm, welcher ohnehin nicht mehr arbeitet, als er eben muß, der Flegel in der Hand allzuſchwer, und der Segen nach ſeinen beſchränkten Begriffen zum Fluche. Dieſe heutzutage beſtehenden Verhältniſſe erklären die meiſten Un— tugenden, wie viele Tugenden unſeres Anſiedlers: ſeine Trägheit, feine ge— radezu laſterhafte Zufriedenheit, wie ſeine Gleichgültigkeit gegen ihn tref— fenden Verluſt, ſeine Freigebigkeit gegen Bedürftige, ſeine Barmherzigkeit gegen Unglückliche. Sie erklären ebenſo die allen Sibiriern innewohnende Sucht, die Bewohnerzahl eines Ortes zu ſteigern. Das weite Land iſt menſchenhungrig, um mich ſo auszudrücken. Daher blickt noch heute jeder Sibirier mit Stolz auf eine zahlreiche Familie; daher gibt es in ganz Sibirien kein Findelhaus. Wozu auch letzteres? Jedes Weib, welches ein von ihr geborenes Kind nicht ernähren zu können glaubt, oder dasſelbe los ſein will, findet willige, freudige Abnehmer des kleinen Weſens. „Gib's her,“ ſagt der Bauer zu der treuloſen Mutter, „gib's her, ich will es aufziehen;“ und fein Geſicht iſt dabei jo freundlich, als ob ihm eben ein Füllen geboren worden wäre. In früheren Zeiten, als die Be— völkerung noch weſentlich geringer war als gegenwärtig, verheiratete man faſt noch unreife oder kaum gereifte Kinder, um ihnen ſo bald als möglich Elternfreuden erblühen zu laſſen und hilfreiche Hände zu gewinnen; gegenwärtig verehelichen ſich die Jünglinge meiſt erſt mit Beginn des achtzehnten Jahres; aber noch immer nicht ſelten mit älteren, baldigſten Kinderſegen verſprechenden Frauenzimmern, deren Nachſtellungen auf hei— ratsfähige Jünglinge die Eltern des Bräutigams nicht allein dulden, ſon— dern ſogar begünſtigen. Damit auch die Romantik nicht fehle, will ich erwähnen, daß Ent— führungen junger Mädchen durch liebeglühende Jünglinge und heimliche Trauungen nichts Seltenes ſind unter den Bauern des Altai. Dieſe Ent— führungen aber geſchehen weitaus in den meiſten Fällen unter Zuſtimmung aller Beteiligten, alſo auch der beiderſeitigen Eltern, um — die ſonſt bei Hochzeiten übliche Bewirtung aller Angehörigen des Dorfes durch ein einfaches Gericht, aber viel, ſehr viel Branntwein zu erſparen! Selbſt— verſtändlich überſpringt die Liebe auch im Krongute allerlei Hemmniſſe, insbeſondere die mangelnde Einwilligung der Eltern. Das Mädchen iſt, wie jedes andere auf dem Erdenrund, bald von dem entführungsluſtigen Jünglinge gewonnen, ein heiliger Diener der Kirche gegen außerordentliche Anſiedler und Verbannte in Sibirien. 435 Stolgebühr jederzeit ebenfalls gefunden: aber die erzürnten Eltern laſſen ſich nicht ſo leicht verſöhnen. Die Mutter verflucht ihre Tochter, der Vater ſeinen Sohn; beide ſchwören bei allen Heiligen, die ungeratenen Kinder niemals wiederſehen zu wollen: „Und der Himmel, voller Huld, Hört auch dieſes mit Geduld.“ Zwar nicht von oben herab kommt endlich Wandelung des ſtarren Sinnes, wohl aber beugt dieſen zuletzt ein Zaubermittel ohnegleichen: Schnaps genannt unter den Stämmen, welche die deutſche, Wuttki unter denen, welche Rußlands heilige Erde bewohnen. Sobald der Schwieger— vater trinkt, hat der junge Ehemann gewonnen; denn die Frau Schwieger— mutter trinkt mit, und der fuſelige Nektar erweicht auch ihr ſtarres Herz. Kommen dann, wie zufällig, noch einige Freunde hinzu, um tapfer mit— zuhelfen beim Trunke der Verſöhnung, ſo werden ſie nicht zurückgewieſen; denn die Koſten der Bewirtung ſind immer noch weit geringer, als wenn das ganze Dorf, inbrünſtiglich trinkend, den Segen des Himmels herab— gefleht hätte auf das neuverbundene Paar. Wer wollte nach dieſem noch leugnen, daß die Liebe, die reine, heilige Liebe, ſelbſt einen Bauernknaben des Altai erfinderiſch macht. Heiratsgut empfängt das bräutliche Mädchen des Krongutes nicht; ihre Mutter verlangt im Gegenteil ein Geſchenk von ſeiten des Bräu— tigams und heiſcht dasſelbe unter Umſtänden mit Ungeſtüm, unter Heulen und Schreien, nach Weiberart. Nur wenn beſondere Umſtände eintreten, wenn z. B. am Morgen nach der Hochzeit die Gäſte das Brauthemd, welches ſie zu ſehen wünſchten, nicht ihren Erwartungen entſprechend fanden, geſchieht wohl auch einmal das Gegenteil. Der verſtändige und erfahrene Schwiegervater bedient ſich in ſolchem Falle des bewährten Zaubermittels, bringt eine erfreuliche Anzahl vorſichtigerweiſe bereit ge— ſtellter Flaſchen herbei, verſpricht dem erzürnten, mindeſtens betretenen Schwiegerſohn ein Füllen, einen Ochſen, einige Ferkel und dergleichen: die Seelen beruhigen ſich, und die Verſöhnung wird geſchloſſen. Warum auch ſollte der Bräutigam ewig zürnen? Anderen iſt es nicht beſſer ergangen, und die Zukunft wird vieles ausgleichen. Vaterfreuden erblühen manchmal auch unter nicht regelmäßigen Umſtänden; Vaterfreu— den aber bleiben, trotz alledem. Denn Hausſtandsſorgen kennt auch das ärmſte Pärchen nicht, wenn es nur ſeine Hände rühren will; man hilft ihm gern mit dieſem und jenem, und wenn der grundgütige Himmel einige 436 Anfiedler und Verbannte in Sibirien. Jahre hindurch ſich mäßigt im Herabſchütten des Segens, wenn Getreide und Vieh einigermaßen im Preiſe bleiben, ſchmücken ſicherlich nach einigen Jahren Theekanne und Taſſen einen Ecktiſch, ſeidene Decken das große zweiſchläfrige Bett, ſchimmernde Heiligenbilder die hintere Ecke zur rechten Hand, und über alle Beſchreibung erhabene bildliche Darſtellungen von Löwen-, Tiger-, Bären-, Wolf-, Elefanten-, Hirſch- und Krokodil— jagden die Wände der keinem beſſeren Bauernhauſe fehlenden, rein und ſauber gehaltenen „guten Stube“. Eine kaum von der geſchilderten abweichende Häuslichkeit winkt auch allen Verbannten, welche nach Sibirien „verſchickt?“ werden, den einen früher, den anderen ſpäter, falls ſie ſolche Häuslichkeit erringen wollen, geraume Zeit leben und einigermaßen vom Glücke begünſtigt werden. Ich habe in Sibirien über die Verbannung und die Verbannten andere An— ſichten gewonnen, als ich ſie hatte, bevor ich das Land betrat, bemerke jedoch im voraus, daß ich nicht zu denen gehöre, welche einem Mörder, Räuber, Brandſtifter, Diebe oder ſonſtigen Schurken wärmere Teilnahme ſchenken, als einem fleißigen Familienvater, welcher ſich im Schweiße ſeines Antlitzes beſtrebt, eine vielleicht zahlreiche Familie ehrlich und redlich durch— zubringen, und daß ich mich zu der Höhe der Anſchauung, welche jede Strafe herabzudrücken, jede Haft zu mildern ſtrebt, bisher noch nicht habe aufſchwingen können. Alljährlich werden durchſchnittlich fünfzehntauſend Menſchen aus Ruß— land „verſchickt“, wie der unter den Deutſchruſſen übliche Ausdruck lautet. Schwere Verbrecher werden auf Lebenszeit, minder ſchwere auf eine Reihe von Jahren verbannt. Ueber Härten und Mängel des ruſſiſchen Straf— geſetzbuches mich auszuſprechen, liegt nicht in meiner Aufgabe; für allzu— große Härte desſelben ſpricht der Umſtand nicht, daß dieſes Strafgeſetzbuch die Todesſtrafe nur für die ſchwerſten und ſeltenſten aller Verbrechen kennt; eine entſchiedene Härte des Strafverfahrens iſt darin zu finden, daß diejenigen Verbannten, welche wegen politiſcher Vergehen verurteilt wurden, unterwegs und oft auch in Sibirien ebenſo behandelt werden, wie gemeine Verbrecher. Der zur Verbannung Verurteilte wird zunächſt vom Gefängniſſe der Kreisſtadt nach dem der Gouvernementsſtadt abgeſchoben und ſodann auf der Eiſenbahn oder auf gewöhnlichen Bauernwagen nach Niſchni-Nowgorod, Kaſan oder Perm befördert. Ob man noch heutigestags unterwegs auf Fußmärſchen die Verbrecher zu zwei und zwei an eine lange Kette ſchmiedet und ſie dergeſtalt zwingt, die Kette während der Reiſe zu tragen, Anſiedler und Verbannte in Sibirien. 437 weiß ich nicht: geſehen habe ich dies nie und bin auch der feſten Ueber— zeugung, daß die allbekannte Milde des verſtorbenen Kaiſers dieſes alte barbariſche Verfahren nimmermehr geſtattet haben würde. In den er— wähnten Städten und ebenſo in Tjumen und Tomsk befinden ſich ge— räumige Sammelgefängniſſe, unterwegs an allen durch eine gleichlaufende Eiſenbahn nicht verödeten Straßen minder geräumige Gebäude, zur ſicheren Verwahrung der nächtigenden Verbannten. Soweit es irgend zuläſſig, werden dieſe nicht gezwungen, zu Fuße zu gehen, vielmehr mittels der Eiſenbahn, der erwähnten Wagen und regelmäßig verkehrender Dampf— ſchiffe ihrem Ziele zugeführt: ſo von Niſchni-Nowgorod oder Kaſan aus bis Perm, von Tjumen aus auf Thura, Tobolsk, Irtyſch, ob und Tom bis Tomsk. Die Gefängniſſe ſind einfache, jedoch genügend reinliche, die mit ihnen zuſammenhängenden, aber doch hinlänglich getrennten Kranken— häuſer muſterhaft gehaltene Gebäude, die Flußfahrzeuge ungemein lange, zweiſtöckige Boote, welche man am treffendſten als rieſige, ſchwimmende Gebauer bezeichnen dürfte, da das ganze obere Stockwerk über dem Deck in der Mitte nach Art eines Vogelbauers vergittert iſt. Jedes dieſer Boote, welches durch ein Dampfſchiff geſchleppt wird, gewährt ſechshundert Perſonen notdürftigen Raum und enthält außerdem eine große Küche, ein Krankengelaß, eine kleine Apotheke und je einen Unterkunftsraum für die begleitenden Soldaten und die Schiffsmannſchaft. Zwiſchen Perm und Tjumen ſind Wagen im Gange, welche ebenfalls Vogelbauern ähneln und zur Aufnahme der gefährlichſten Verbrecher dienen. Jeder Verbannte empfängt von der Regierung einen Mantel aus ſchwerem grauem Wollzeuge, welchem auf der Rückenmitte ein verſchoben viereckiges Stück Tuch von verſchiedener Farbe, je nach der Schwere der Strafe, aufgeheftet wurde, um die begleitenden Soldaten, ſo weit als erforderlich, über letztere zu unterrichten. Behufs Beſchaffung der Zehrung werden jedem unterwegs täglich zehn, einem beſſeren Ständen entſtammenden „Unglücklichen“ täglich fünfzehn, bei längerem Verweilen in den Gefäng— niſſen aber nur ſieben und beziehentlich fünfzehn Kopeken ausgehändigt. Dieſe Summe iſt ſo reich bemeſſen, daß bei einigermaßen wirtſchaftlicher Verwendung alle erforderlichen Lebensmittel beſchafft werden können, ob— gleich tagtäglich, außer der Faſtenzeit wenigſtens, drei viertel Pfund Fleiſch ge— reicht werden. Begleiten Frau und Kinder einen Verurteilten, ſo erhalten dieſe je dieſelbe Summe. Nebenverdienſt iſt geſtattet; erarbeitetes oder er— betteltes Geld fließt, wenn auch wohl nicht immer ungeſchmälert, in die Taſche, auch wohl in Geſtalt von Wuttki durch die Kehle des Sträflings. 438 Anſiedler und Verbannte in Sibirien. Ich ſagte, daß jeder von dieſen Weib und Kind mit ſich in die Verbannung nehmen darf, und füge dem hinzu, daß dies in der Regel auch geſchieht. Verurteilung zu harter Strafe infolge eines ſchweren Ver— brechens iſt auch in Rußland ein Eheſcheidungsgrund; es ſteht alſo jeder Ehefrau frei, ihrem Gatten in die Verbannung zu folgen, oder in der Heimat zu bleiben. Selbſt die Kinder, welche das vierzehnte Jahr erreicht haben, ſind berechtigt, ſelbſt zu entſcheiden, ob ſie mit ihren, Sibirien zu— ziehenden Eltern Rußland verlaſſen wollen, oder nicht. Aber die Re— gierung ſieht es gern, wenn Weib und Kind dem Sträflinge folgen, und befördert dies in jeder Weiſe, beſchäftigt ſich auch ernſtlich mit der Frage, inwiefern die Beſchwerden und Unannehmlichkeiten der Reiſe thunlichſt gemildert werden können. 5 Daß letztere unter allen Umſtänden drückend iſt, darf nicht in Abrede geſtellt werden; ſo unnennbar ſchrecklich aber, als uns geſchildert wurde, iſt die Reiſe der Verbannten nicht. Nur die allerſchwerſten Verbrecher werden in Ketten ihrem Beſtimmungsorte zugeführt; die übrigen genießen mehr Freiheit als unſere Sträflinge. Am drückendſten iſt die Reiſe auf den Dampfſchiffen oder den von ihnen geſchleppten Booten. Hier werden alle Verbannten und deren Angehörige zuſammengepfercht, und die Folgen davon ſind Ausſchreitungen aller, auch ſolche nicht zu ſchildernder Art ſeitens der verworfenſten Sträflinge, denen nicht oder doch nur in ſeltenen Fällen, genügend Einhalt gethan wird oder gethan werden kann. Der ſchlauere Dieb beſtiehlt den Stümper im verrufenen Gewerbe, der Gewaltthätige meiſtert den Schwächeren, trennt die Sohlen von den Stiefeln des Schlafenden, um ſich dort vermuteter Banknoten zu bemächtigen; der Unverbeſſerliche macht die Vorſätze des Reuigen wankend oder verdirbt den, welcher noch Hoffnung auf Beſſerung gab, vollſtändig. Zwar werden ſchon gegenwärtig Verbrecher und Verbrecherinnen unterwegs geſchieden; aber die Familienglieder bleiben bei ihrem Haupte, und Weib und Töchter eines Verbannten ſind während der Reiſe immer gefährdet, ſo viel man auch dieſem Uebelſtande zu ſteuern verſucht. Dagegen kürzt das Dampf— ſchiff die Reiſe auch wiederum um das Zehnfache und entzieht die noch nicht gänzlich Verwahrloſten, oder die nicht verurteilten Verbannten um ſo eher unheilvollen Einflüſſen. Beſchwerlicher zwar, nicht gänzlich verdorbene Verurteilte jedoch trotz alledem minder bedrückend, iſt die Reiſe über Land. Ein ruſſiſcher Bauernwagen auf ruſſiſchen Wegen und gefahren von ruſſiſchen, wo irgend möglich im Galopp dahinraſenden Pferden iſt freilich ein Marterwerkzeug nach unſeren Begriffen, nicht aber nach denen ge— Auf dem Wege nach Sibirien. „ Anſiedler und Verbannte in Sibirien. 439 meiner Ruſſen, welche von Jugend an eines beſſeren Gefährtes und beſſerer Wege entwöhnt wurden. Allerdings muß ſich der Verbannte etwas mehr zuſammendrängen auf ſolchem, mit ſechs bis acht Leuten befrachteten Wagen, als der Bauer zu thun pflegt, wenn er mit ſeiner Familie dahin fährt; der Kutſcher oder begleitende Soldat hat es aber nicht im geringſten leichter als der Verbannte, mit alleiniger Ausnahme des ſchweren Ver— brechers, deſſen Ketten gerade bei ſolcher Fahrt unheimlich klirren. Ein gebildeter Familie entſtammender Sträfling, zumal ein wegen politiſcher Vergehen verurteilter Verbannter, ſchreit freilich auf unter der Qual ſolcher Reiſe und iſt ſeiner innigſten Ueberzeugung nach vollkommen berechtigt, ſie in den allerſchwärzeſten Farben zu ſchildern; unter Berückſichtigung der örtlichen Verhältniſſe und landesüblichen Gewohnheiten verliert die unfrei— willige Wanderung aber wenigſtens den Fluch der Grauſamkeit, mit welchem ſie belaſtet wurde. Und was endlich die Fußreiſen anlangt, ſo finden dieſelben zuerſt niemals im Winter ſtatt, betreffen nur kräftige, gehfähige Männer, erſtrecken ſich nicht über vierzig Werſt täglich und werden an jedem dritten Tage durch einen Raſttag in einem der am Wege liegenden Gefängniſſe unterbrochen. Die begleitenden Soldaten gehen auch zu Fuße, müſſen beſtändig auf die Verbrecher achten, ſind ver— antwortlich für ſie und ſtrengen ihre Kräfte ſicherlich mehr an, wie dieſe; denn ebenſoviel als der Mörder an ſeinen Ketten zu ſchleppen, hat der Soldat an ſeinen Waffen, ſeinem Gepäck und Schießbedarf zu tragen. Er aber iſt ein unbeſcholtener Diener des Staates, und jener ein Aus— würfling der Menſchheit! Ungerecht iſt und bleibt, daß ein höheren Ständen entſtammender, wegen eines gemeinen Verbrechens verurteilter Verbannter, falls er noch über eigene oder fremde Mittel verfügen kann, anders behandelt wird als der dasſelbe Verbrechen büßende gemeine Mann, daß man ihm geſtattet, in Begleitung zweier, für Hin- und Rückreiſe von ihm zu lohnender Koſaken, nach eigenem Belieben und mit aller Bequemlichkeit ſeinem Ver— bannungsorte zuzuwandern. Ebenſo unumwunden, als jeder unbefangene Ruſſe oder Sibirier dieſe Ungerechtigkeit zugeſteht, ſtellt der Beamte wie der Verbannte ſelber Grauſamkeit ſeitens der Begleitmannſchaften oder ſonſtwie mit Ueber— wachung und Unterſtellung der Verbannten betrauten Leute niederen und höheren Ranges in Abrede. Es kommt vor, daß ſich auflehnende Ver— bannte unterwegs erſchoſſen oder ſonſtwie für immer unſchädlich gemacht werden; doch gehören derartige Geſchehniſſe zu den größten Seltenheiten 440 Anſiedler und Verbannte in Sibirien. und ſind regelmäßig durch die Notwendigkeit gebotene Maßregeln, welche nur dann ergriffen werden, wenn alle übrigen ſich als vergeblich erwieſen haben. Der Ruſſe iſt nicht grauſam wie der Spanier, Türke, Grieche oder Südſlave, vielmehr, aus falſchverſtandenem Barmherzigkeitsgefühl und Trägheit, eher zu mild und nachſichtig als zu ſtreng und hart: er ſtrengt auch Tiere und Menſchen vielleicht auf das äußerſte an, quält ſie aber nicht, in der Abſicht, an ihrer Qual ſich zu weiden. Schon in der allen Verbannten beigelegten, allgemein üblichen Bezeichnung „Unglückliche“ be— gründet ſich ein tiefes Gefühl des Volkes, und dieſem Gefühle der Barmherzig— keit trägt jedermann, alſo auch der Soldat oder Sicherheitsbeamte, der Ge— fängnisaufſeher und Gefangenwärter, Rechnung. Daß durch einen oder mehrere unverbeſſerliche Böſewichter auch einmal fromme Lammsgeduld zu hellloderndem Zorne entfacht werden kann, iſt erklärlich; daß erbärm— liche Schreiberſeelen an den Verbannungsorten ſich ſelbſt das Unglück zoll— pflichtig machen, um zu mehr Geld zu gelangen, als der Staat ihnen an Gehalt zuſpricht, iſt mir von Verbannten mitgeteilt worden; daß die nach der letzten polniſchen Erhebung zur Verbannung verurteilten Empörer von den ſie begleitenden ruſſiſchen Soldaten härter als andere Verbannte, ſelbſt mit unerbittlicher Strenge behandelt wurden, hat mir ein geweſener Hängegendarm, welcher mir ſeine Lebensgeſchichte durch Vermittelung eines Deutſchruſſen erzählen mußte, geklagt. Für ſolche Ausſchreitungen die heutige Regierung verantwortlich zu machen, wie noch fortwährend ge— ſchieht, ihr ununterbrochen Barbarei vorzuwerfen, beſtändig von der Knute zu reden, welche ſchon ſeit Jahren abgeſchafft worden iſt, unſere öſtlichen Nachbarn überhaupt als unverbeſſerliche Barbaren hinzuſtellen, iſt einfach ſinnlos, weil unwahr nach jeder Richtung hin. Alle heutzutage beſtehenden Geſetze, Verordnungen und Einrichtungen ſprechen dafür, daß die Regierung in wohlwollendſter Weiſe für das Los der Verbannten Sorge trägt und ſo viel als möglich beſtrebt iſt, deren Schickſal zu mildern, auch jedem Gelegenheit gibt, es früher oder ſpäter zu beſſern. Verbannte mit ungerechtfertigter Härte zu behandeln, iſt ſtreng verboten und wird ernſtlich beſtraft; ihnen etwas unrechtmäßigerweiſe zu entziehen, gilt als ſchweres Vergehen. Ueberall und unbedingt herrſcht das Beſtreben, die Strafe zu mildern, falls dies irgendwie zuläſſig, und den Sträfling der menſchlichen Geſellſchaft zurückzugeben, falls dies möglich. Aber man hilft nur dem, welcher es verdient, nicht aber dem, welcher Beſſerung heuchelt. Denn man erzieht in Sibirien keine Heuchler, wie in unſeren Gefängniſſen. Die bei uns nur zu häufig bemerkbare, wider— Anſiedler und Verbannte in Sibirien. 441 wärtige Sucht, aus Sträflingen Frömmler zu bilden, kennen die Ruſſen nicht, weil es ſich in ihren Augen von ſelbſt verſteht, daß jeder die Kirche und die „lieben Heiligen“ ehrt und achtet, ſeine Zeit faſtet und überhaupt das wenige thut, was die in äußerlichen Formen ſich bewegende Kirche verlangt. Dafür greift man das Uebel an der richtigen Stelle an und erzielt Erfolge, um welche wir die Ruſſen beneiden könnten, oder richtiger, beneiden müſſen. Von den fünfzehntauſend Verbannten werden alljährlich kaum tauſend an die Bergwerke eingeliefert, die übrigen auf verſchiedene Gouvernements verteilt oder, wie man ſich auszudrücken pflegt, zur Anſiedelung verwieſen. In den größeren Gefängniſſen trennte man nicht allein Männer und Weiber, ſondern auch Chriſten, Mohammedaner und Juden; bei der An— ſiedelung nimmt man ebenfalls Rückſicht auf den Glauben. Sobald der zu leichterer Strafe verurteilte Verbrecher das ihm vorgeſchriebene Ziel erreicht hat, erhält er von Regierungs wegen einen Aufenthaltsſchein als letzte Gabe und darf von nun an unbehindert jedes rechtliche Gewerbe ausüben, nicht aber ohne Genehmigung der Behörde den ihm angewieſenen Kreis oder ſelbſt das betreffende Dorf verlaſſen, ſteht daher auch fort— während unter polizeilicher Aufſicht. Um den Grund der Verbannung, über ſein früheres Leben wird er nicht, mindeſtens nicht in übelwollender Ab— ſicht befragt, denn „im Hauſe des Gehenkten ſpricht man nicht vom Henker“. Die Bevölkerung, unter welcher er lebt, zählte auch einmal oder zählt noch zu den Unglücklichen oder ſtammt von ſolchen ab; die wenigen freien An— ſiedler fügen ſich den Sitten oder Gewohnheiten der übrigen Sibirier. Man hilft dem „Unglücklichen“ in gerechtfertigter und kaum zu rechtfer— tigender Weiſe. Schon in den Sammelgefängniſſen richtet man Werk— ſtätten ein, um fleißigen, arbeitsluſtigen Verbannten ſelbſt hier Gelegen— heit zum Erwerbe zu geben; außerdem ſucht man durch Schulen der Verderbnis des werdenden Geſchlechtes zu ſteuern, oder nimmt ſich der von Verbrechern zurückgelaſſenen Waiſen mit einer ſolchen Aufopferung von Zeit und Geld, mit ſo tief inniger Menſchlichkeit an, daß nur ein ab— ſichtlich Blinder dieſe Lichtblicke nicht ſehen, nur ein böswillig Stummer davon nicht reden wollen kann. Im Gefängniſſe von Tjumen beſuchten wir die Gefängnisſchule, in welcher ein junger Pope Chriſten-, Juden— und Tatarenkindern Unterricht erteilte, und ein gutes Geſicht war es, welches dieſer langlockige und bärtige, obſchon noch jugendliche Pope, ein wahrer Chriſtuskopf, uns zeigte. Juden- und Tatarenknaben mußten freilich ebenſogut wie die Chriſtenkinder ihren Katechismus der rechtgläubigen 442 Anſiedler und Verbannte in Sibirien. Kirche leſen und herſagen, und eine ſtille Hoffnung, dieſen oder jenen der erſteren dem Chriſtentume zu gewinnen, mag wohl auch in des Popen Bruſt erlebt ſein: aber welchen Schaden hätte Katechismus oder Pope bringen können gegenüber dem erſtrebten Nutzen? Die Knaben lernten im Katechismus ruſſiſch leſen und lernten ſchreiben und rechnen dazu: das war ja doch die Hauptſache. In demſelben Tjumen beſuchten wir die von einer reichen Frau geſtiftete, erbaute, größtenteils unterhaltene und geleitete Waiſenanſtalt, für hinterlaſſene Kinder unterwegs oder im Ge— fängniſſe der Stadt verſtorbener Verbannter beſtimmt: eine Muſteranſtalt im umfaſſenden Sinne des Wortes mit fröhlichen Kindergeſichtern, ſchönen Schul- und Schlafzimmern, Werkſtätten, Spielplätzen, einem kleinen Theater und Zubehör, und lernten in ihr ein Werk der Barmherzigkeit kennen, welchem niemand vollſte Achtung verſagen kann. Aber wir ſollten noch mehr erfahren. In Tjumen, in Omsk, Tobolsk und nicht bloß in den Städten, ſondern in den beiden betreffenden Gouvernements lebten wir unter, ver— kehrten wir fortwährend mit Verbannten, zumeiſt mit leichteren Verbrechern, Dieben, Betrügern, Gaunern, Strolchen und Lumpen, auch mit aufrühreri— ſchen Polen und ſonſtigen Empörern. Der Bankdirektor, welcher uns freund— lich aufnahm, war ein zu zwölfjähriger Verbannung verurteilter polniſcher Rebell; der Tiſchler aber, welcher uns Kiſten fertigte, hatte die Poſt be— raubt, der Kutſcher, welcher uns fuhr, einen ſchweren Diebſtahl ſich zu ſchulden kommen laſſen, der Kellner, welcher uns bediente, einen Gaſt im Wirts— hauſe beſtohlen, der freundliche Mann aus Riga, welcher uns ſo treulich half beim Ueberſetzen des Irtyſch, eine Urkunde gefälſcht, Goldmacher, unſer Leibjude in Obdorsk, ruſſiſche Mägdelein in türkiſche Haremät ver: kauft, das Mädchen, welches unſer Zimmer reinigte, ihr Kind umgebracht, der Apotheker in Omsk ſich, wie man ſagte, nicht ohne Abſicht in Giften vergriffen u. ſ. w. Wir ſahen zuletzt jedermann auf das Verbrechen oder Vergehen an, welches er begangen haben mochte, und brauchten uns nur bei einem Polizeimeiſter zu erkundigen nach irgend einem der würdigen Männer, einſchließlich einzelner Kaufleute, Notare, Photographen, Schau— ſpieler, um von Falſchmünzerei, Unterſchlagung, Betrug u. ſ. w. zu hören. Und doch erwarben ſich alle dieſe Leute ihr tägliches Brot, auch wohl mehr, und gar manchen, welcher verſchwiegen ſein wollte, hätte man ungeſtraft nicht fragen dürfen nach ſeiner Vergangenheit, weil er mit dieſer vollſtändig gebrochen. Daß ein Verbannter, ein geweſener Verbrecher ſolches kann, dankt Anſiedler und Verbannte in Sibirien. 443 er einzig und allein ſeinen Mitbürgern und der Regierung, welche die redliche Abſicht, ein neues Leben zu beginnen, nach Kräften fördert. Man gibt dem, welcher Arbeit verlangt, ſolche ohne Mißtrauen, nimmt ihn ohne Sorge in Dienſt, verwendet den früheren Dieb als Knecht, Kutſcher, Koch, die Kindsmörderin als Kinderwärterin, den ſeine Strafe abbüßenden Handwerker, falls man ſeiner benötigt. Und man verſichert, dies in den allerſeltenſten Fällen bereut zu haben. So wird aus manch einem Ver— brecher allgemach ein der menſchlichen Geſellſchaft zurückgegebener, ihr nicht mehr gefährlicher Staatsbürger, und der Fluch der Sünde reicht nicht bis ins vierte, ſondern kaum bis ins zweite Glied. Was bei uns ſo gut als nicht, in Sibirien iſt es möglich: aus einem Verbrecher einen ehrlichen Menſchen zu wandeln. Daß dies nicht immer geſchieht, daß es in Ruß— land ſo gut wie bei uns Unverbeſſerliche gibt, wird von keinem Sibirier geleugnet; daß der von ſeiner Gemeinde abgeſchobene Strolch in Sibirien viel häufiger zum Verbrecher wird, als der beſtrafte Verbrecher in frühere Sünden zurückfällt, iſt eine beachtenswerte Thatſache. Während die bisher ins Auge gefaßte Klaſſe von Verbannten thun und treiben kann, was ſie will und darf, werden die ſchweren Verbrecher in den Bergwerken zur Arbeit gezwungen. Ueber Nertſchinsk, woſelbſt viertauſend dieſer Unglücklichen arbeiten, kaum ſich mindernd, ebenſowenig auch weſentlich ſich vermehrend, habe ich durch den jetzigen Berghauptmann des Krongutes, General von Eichwald, die genaueſten Nachrichten er— halten, über die Verbrecher ſelbſt, kurz zuſammengefaßt, das Folgende: Alle zu den Bergwerken verurteilten Verbannten werden mit Ketten an den Füßen eingeliefert und müſſen in ihren Feſſeln dieſelben Arbeiten verrichten wie andere, freie Bergleute. Der verſtändige Berggeſchworene, unter deſſen Befehl und Aufſicht ſie ſtehen, behandelt ſie ſchon aus dem Grunde gut, um ſein und ſeiner Familienglieder Leben zu ſichern; denn er verfügt nicht über ſo viele Kräfte, als er zur Bezwingung eines aus— brechenden Aufruhrs bedürfen würde. Das Verbrechen des Sträflings iſt ihm bekannt; er fragt denſelben alſo nicht um ſeine Vergangenheit. Nach geraumer Zeit ſchüttet der größte Teil der Verbrecher aus freien Stücken ihm gegenüber ſein Herz aus und bittet um Milderung der Strafe. Auch ihm durfte ſeine Familie folgen, oder er wird nicht gehindert, ſolche ſich zu gründen. Hängt er ſolchergeſtalt noch mit der Menſchheit zuſam— men, ſo ſtellt ſich oft, ſehr oft, Reue bei ihm ein, mit ihr aber auch Hoff— nung, und der Hoffnung folgt das Beſtreben, das Geſchehene vergeſſen zu machen. Er arbeitet ein, zwei Jahre in Ketten, führt ſich gut und 444 Anſiedler und Verbannte in Sibirien. erweckt Vertrauen. Sein Vorgeſetzter läßt ihm die Ketten abnehmen. Er bleibt ſeinen Vorſätzen getreu, arbeitet fleißig weiter, beginnt für die Familie zu ſorgen. Sie hält ihn feſt in der anfänglich unſäglich ge— fürchteten Fremde; dieſe erweiſt ſich beſſer als ihr Ruf: er beginnt zu— frieden zu werden. Jetzt iſt der rechte Augenblick gekommen, ihn der Menſchheit zurückzugeben. Der Beamte verweiſt ihn zur Anſiedelung. Jahre ſind vergangen ſeit ſeiner Uebelthat; ſie ſteht vor ſeiner Seele wie ein böſer Traum. Vor ſich ſieht er ein werdendes Bauerngut, hinter ſich die Ketten. Der Heimat iſt er entfremdet worden; mit der Fremde hat er ſich ausgeſöhnt. Er wird Bauer, arbeitet, erwirbt, ſtirbt als gebeſſerter Menſch. Mit dieſem Augenblicke endet die Unfreiheit ſeiner Kinder, und freie Bürger Sibiriens bebauen fortan das ihnen von der Regierung geſchenkte Stück Erde. Das iſt keine Erfindung, ſondern Wirklichkeit. Aber freilich, nicht jeder Verbrecher fügt ſich in ſein Schickſal. Mit dieſem und der ganzen Menſchheit grollend, unzufrieden mit allem und jedem, überdrüſſig der Arbeit, vielleicht auch vom Heimweh gepeinigt, mindeſtens nach Freiheit verlangend, findet der eine den andern, und beide oder mehrere ſinnen auf Flucht. Wochen-, monate-, jahrelang lauern ſie auf den günſtigen Augenblick; der eine erzählt dem anderen genau und wiederholt ſeine ganze Lebensgeſchichte, ſchildert ihm bis zu den gering— fügigſten Einzelheiten ſein heimatliches Dorf, die Gegend, das Haus ſeiner Kindheit, nennt ihm alle Verwandtennamen, die aller Dorfbewohner, die Nachbardörfer, die nächſten Städte, vergißt nichts und prägt alles tief ein in des anderen Gedächtnis; denn er will mit dieſem Namen und Her— kunft tauſchen, um im Falle des Ergriffenwerdens ſeine Erkennung zu er— ſchweren. Der andere thut desgleichen. Ein Schmied wird beſtochen, gewonnen, zur Flucht überredet, nötigenfalls ein brauchbares Werkzeug zum Zertrümmern der Feſſeln gefunden, geraubt. Der Frühling iſt zur Wahrheit geworden, der Tag der Flucht gekommen, das Entſpringen, die Möglichkeit, ungeſehen und für einige Stunden unbemerkt zu entkommen, nach den beſtehenden Einrichtungen in den Bergwerken leicht, ſehr leicht. Haben die Flüchtlinge erſt die Wälder erreicht, ſo ſind ſie vor dem Wieder— einfangen, wenn auch nicht immer vor Gefahr geſchützt. Denn dem ein— geborenen Tunguſen oder Jakuten, welcher jagend die Wälder durchzieht, ſticht manchmal ein Pelz, welcher beſſer iſt, als der ſeinige, verlockend ins Auge und ſeine ſichere Kugel endet um dieſes Pelzes willen ein Menſchen— leben ohne Gewiſſensbiſſe. Abgeſehen von ſolchem Zuſammentreffen, ſtößt der Flüchtling kaum auf Hinderniſſe. Jeder Sibirier hilft, aus ange— Anſiedler und Verbannte in Sibirien. 445 borener Gutmütigkeit oder falſch angewendeter Barmherzigkeit, vielleicht auch aus Furcht oder Trägheit, dem Flüchtlinge eher, als er ſeinem Be— ginnen zu ſteuern ſucht. In allen oder doch vielen an der Straße ge— legenen Dörfern ſtellen die Bauern reihum einen großen Topf mit Milch, legen ſie ein ſchweres Stück Brot, vielleicht auch etwas Fleiſch hinter ein | N 1 005 0 m a HI; a e ? 2 Flucht eines Verbannten. geöffnetes Fenſter, in der Abſicht, die nachts durch das Dorf wandernden Flüchtlinge mit Nahrung zu verſorgen und dadurch vom Stehlen abzu— halten. Solange der Flüchtling nur das ihm freiwillig Gebotene nimmt, ſolange er bittend oder bettelnd heiſcht, ſich aber jedes unberechtigten Ein— griffes enthält, weder ſtiehlt noch raubt, drückt ſelbſt der Gemeindevorſteher ein Auge zu, wenn des Nachts unbekannte Leute durch das Dorf wandern, 446 Anſiedler und Verbannte in Sibirien. die den Unglücklichen beſtimmte Nahrung fich zueignen, in der ſtets warmen, regelmäßig abgeſondert gelegenen Badeſtube Nachtruhe ſuchen und finden. Und wenn ein „Unglücklicher“ am hellen Tage betteln ſollte: verraten wird man ihn nicht; und wenn derſelbe „Unglückliche“ einen Pferdezaum ſich erbitten ſollte, — verweigern wird man ihm auch dieſen nicht, falls man ihn übrig hat. Was er mit dem Zaume bezweckt, weiß man wohl. Draußen vor dem Dorfe weiden die Pferde, trotz aller Wölfe und Bären, ohne jegliche Aufſicht. Unter ſie begibt ſich der Flüchtling, wirft einem tüchtigen Hengſt den Zaum über den Kopf, ſchwingt ſich auf den breiten Rücken und trabt behaglich davon. „Nikolai Alexandrowitſch,“ meldet jemand dem Beſitzer des Pferdes, „ſoeben iſt ein Unglücklicher mit deinem beſten Rappen davongeſprengt; auf dem Wege nach Romanowskaja ritt er davon: ſoll man ihm nach: reiten?“ „„Nitſchewo,““ antwortet Nikolai, „„Pferdchen wird ſchon wieder kommen. Es wird ein Unglücklicher geweſen ſein. Laſſe ihn reiten!““ Pferdchen kommt auch ſicherlich wieder; denn auf der Weide hinter Romanowskaja hat der Unglückliche es mit einem anderen vertauſcht und reitet auf ihm weiter, während der Rappe gleichmütig auf wohlbekanntem Wege heimwärts trabt. So, unterſtützt und gefördert, gelangen neunzig von hundert Ver— bannten bis Tjumen, Perm, ſogar bis Kaſan. Wären ſie beſſer be— wandert, hätten ſie einen Begriff von Erdkunde, zögen ſie nicht ſtets auf derſelben Straße, welche ſie von Rußland her gewandert, der Heimat zu, ſie würden, wenn nicht in den meiſten, ſo doch in ſehr vielen Fällen ihr Ziel erreichen. In Tjumen, Perm und Kaſan aber fängt man faſt alle Flüchtlinge wieder ein. Und wenn auch derjenige, welcher mit einem zweiten ſeinen Namen tauſchte, nicht aus ſeiner Rolle fällt, oder ein an— derer auf jede ihm vorgelegte Frage nur die eine Antwort gibt: „Ich weiß nicht“: vor dem endlich erfolgenden Richterſpruche, wiederum nach Sibirien zu wandern, und vor Rutenſtreichen, welche jedem ergriffenen Flüchtlinge zugemeſſen werden, rettet ihn weder Namenstauſch, noch hart— näckiges Nichtswiſſen. Er tritt denſelben Weg, den er als Sträfling ge— zogen, zum zweitenmal an, um vielleicht bald nach ſeiner Ankunft am Beſtimmungsorte einen zweiten Fluchtverſuch zu unternehmen. Manch ein Verbannter ſoll, wie uns erzählt wurde, vier-, fünf-, ſogar ſechsmal un— freiwillig durch den größten Teil Sibiriens gewandert ſein. Raſcher als derartige unverbeſſerliche Flüchtlinge pflegen diejenigen Anſiedler und Verbannte in Sibirien. 447 ihre Laufbahn zu beenden, welche unterwegs ſich verleiten laſſen, zu ſtehlen oder ſonſt ein Verbrechen zu begehen. In ſolchem Falle wandelt ſich die Gleichmütigkeit des angeſeſſenen Bauern in rachſüchtigen Zorn. Zur Ver— folgung des Verbrechers einigen ſich alle Beſitzenden, und dieſer iſt ver— loren, wenn nicht ein beſonderer Zufall ihn rettet. Wird er ergriffen, ſo rettet ihn nichts von qualvollem Tode. Dann wird eine Leiche ge— funden, an welcher man Anzeichen eines gewaltſamen Todes nicht bemerkt. tan begräbt dieſe Leiche, zeigt die Aufhebung und Beerdigung pflicht— ſchuldigſt der Behörde an, dieſe berichtet weiter an den Gouverneur, letzterer an den Generalgouverneur: — der grimmiger Volkswut zum Opfer gefallene Verbrecher aber iſt verweſt, bevor der Kreisarzt zur Stelle gekommen ſein könnte, ſelbſt wenn er hätte kommen wollen. Wen die Rache ereilte, weiß man nicht. So, nicht aber auf Befehl der Regierung, verſchwindet heutzutage ein Verbannter, über deſſen Ende niemand etwas mitzuteilen weiß, keine Behörde Auskunft zu geben vermag. Jeder Verbannte aber, welcher Sibirien betritt, weiß, was ihm bevorſteht, wenn er als Flüchtling ſtiehlt oder ſonſt ein Verbrechen begeht. Und deshalb lebt man hier, unter Tauſenden von Verbrechern, ebenſo ſicher als irgend— wo anders, ſicherer vielleicht als in unſeren durch den Auswurf der Menſch— heit verpeſteten Großſtädten. Ich bin bemüht geweſen, ein treues Bild der Verhältniſſe zu geben, wie ſie gegenwärtig ſind, oder im Jahr 1876 waren. Es iſt nicht meine Abſicht geweſen, zu mildern oder zu beſchönigen. Verbannung nach Si— birien bleibt nach wie vor eine Strafe, eine ſchwere Strafe. Dieſe trifft um ſo härter, je gebildeter der Verbannte iſt und wird in den Augen eines gebildeten Menſchen immerdar als entſetzlich erſcheinen. Verbannung nach Sibirien ſoll aber auch nichts anderes ſein als Strafe und ſoll den Gebildeten härter treffen als den Ungebildeten. Ueber die Berechtigung eines ſolchen Grundſatzes läßt ſich ſtreiten, dieſelbe läßt ſich jedoch nicht gänzlich in Abrede ſtellen. Ueber das Los des Verbannten in Sibirien aber läßt ſich nur dann ein gerechtes Urteil fällen, wenn man dasſelbe mit dem Schickſale unſerer Verbrecher vergleicht. Was wird aus den Unglücklichen, welche unſere Gefängniſſe be— völkern? Was wird aus deren Familien, deren Gatten, deren Kindern? Welches Los winkt jenen, wenn ſie ihre Strafe verbüßt haben; welches Geſchick ſteht letzteren in Ausſicht? Die Antworten auf dieſe Fragen vermag jeder, welcher unſere Straf— anſtalten kennt, zu geben. 448 Anſiedler und Verbannte in Sibirien. Vergleicht man mit dem unſeren Verbrechern jederzeit drohenden Schickſale unbefangen und ehrlich das Los der Verbannten in Sibirien, ſo kann das Ergebnis ſolchen Vergleiches nicht zweifelhaft ſein. Jeder wirkliche Menſchenfreund wird einſtimmen müſſen in den Wunſch, welcher mir ſchon im fernen Oſten gekommen iſt und mich nicht wieder ver— laſſen hat: „Hätten wir doch ein Sibirien: es wäre beſſer für unſere Verbrecher und für uns ſelber!“ N Forſcherfahrten auf der Donau. ngarn war von jeher und iſt und bleibt ein Ziel der Sehnſucht [ deutſcher Vogelkundiger. Günſtiger gelegen als irgend ein anderes Land Europas, zwiſchen Nordſee und Schwarzem Meere, Oſtſee und Mittelmeere, der großen nordoſteuropäiſchen Ebene und den Alpen ſich er— ſtreckend, Norden und Süden, Steppen und Gebirge, Wälder, Ströme und Sümpfe in ſich vereinigend, bietet es ſeßhaften wie wandernden und ziehen— den Vögeln gleich erhebliche Vorteile und Annehmlichkeiten und weiſt daher einen Vogelreichtum auf wie kaum ein, vielleicht kein anderes Land unſeres Erdteils. Begeiſterte Schilderungen dieſes Reichtums, der Feder unſerer hervorragendſten Forſcher und Meiſter entfloſſen, tragen nicht wenig dazu bei, jene, ich möchte ſagen angeborene Sehnſucht aller Vogelkundigen Deutſchlands zu mehren und zu verſtärken. Aber ſonderbar: — das ſchöne, reiche Land liegt uns ſo nahe und wird dennoch ſo ſelten von uns Deutſchen beſucht. Auch ich hatte nur ſeine Hauptſtadt und ſonſt noch das geſehen, was man von einem Eiſenbahnwagen aus ſehen kann; ich teilte daher im vollſten Maße die Sehnſucht, von welcher ich eben ſprach. Sie ſollte erfüllt werden, aber nur, um brennender wieder aufzuleben. „Niemand wandelt ungeſtraft unter Palmen,“ und kein Vogelkundiger verlebt, ohne ſpäter ſehnſüchtig Wiederkehr zu verlangen, Maientage in der Fruskagora. „Wollen Sie mich,“ frug mich mein gnädiger Gönner, Kronprinz Rudolf, „zu Adlerjagden nach Südungarn begleiten? Ich habe beſtimmte Nachrichten von vielleicht zwanzig Adlerhorſten und glaube, daß wir alle viel lernen können werden, wenn wir ſie beſuchen und dabei fleißig be— obachten.“ Zwanzig Adlerhorſte! Man muß jahrelang an die öde Scholle Norddeutſchlands gebannt geweſen ſein, muß freudige Ereigniſſe ähnlicher Brehm, Vom Nordpol zum Aequator. 29 450 Forſcherfahrten auf der Donau. Art aus dem Wanderleben eines Vogelkundigen ſich vergegenwärtigen können, wie ich gebannt geweſen bin und mich zu erinnern vermag, um die Freude zu würdigen, mit welcher ich zuſagte. Zwanzig Adlerhorſte in nicht allzugroßer Entfernung von Wien, in geringer von Peſt: ich müßte nicht meines Vaters Namen führen, wäre ich gleichgültig geblieben! Zu Stunden kürzten ſich die Tage unter allerlei Vorbereitungen, und zu Wochen wollten ſie ſich verlängern unter der Ungeduld, mit welcher ich die Abreiſe herbeiwünſchte. Es war eine kleine, aber heitere, hoffnungsvolle, weidwerksfreudige und ſtrebſame Reiſegeſellſchaft, welche am zweiten Oſterfeiertage des Jahres 1878 von Wien aufbrach. Außer unſerem hohen Jagdherrn und ſeinem erlauchten Schwager befanden ſich nur Oberſthofmeiſter Graf Bombelles, Eugen von Homeyer und ich als Jagdgenoſſen auf dem ſchnellen und behaglichen Schiffe, welches uns einen Tag ſpäter von Peſt aus der Mündung der „blonden“ Donau entgegentrug. Lenzduftig übergoſſen von der Morgenſonne lag die ſtolze Kaiſerburg in Ofen vor uns; im erſten Grün des jungen Jahres prangten die Gärten des Blorberges, als wir in früher Morgenſtunde von Ungarns Hauptſtadt Abſchied nahmen. Mit einer Fahrt auf dem Rheine, der oberen und, wie man ſagt, auch der unteren Donau, läßt ſich die Strecke, welche wir jetzt durcheilten, nicht vergleichen. Wenige Kilometer unterhalb der Schweſterſtädte ver— flachen die Ufer; raſch ſinken zumal die Berge der rechten Stromſeite zu ausdruckloſem Gehügel herab, und nur die blauüberduftete Ferne zeigt dem Auge noch ſanft bewegte Linien mäßig hoher Züge. Am linken Ufer breitet fi) die weite Ebene. Unabſehbar, ohne Wechſel, gleichförmig, eintönig liegt ſie vor den ſchweifenden Blicken; kaum daß eines der großen reichen Dörfer letztere zu feſſeln vermag. Hier und da lehnt ein Hirt in Schäfertracht auf ſeinem gewichtigen Stabe; aber nicht das fromme Volk der wolligen Schafe iſt ſeiner Obhut anvertraut, ſondern grunzende Borſten— träger umdrängen den ſonnengebräunten Mann oder liegen reihenweiſe um ihn her, behaglicher Ruhe ſich freuend. Um die durch Hochfluten ge— füllten Lachen gaukelt der Kiebitz; über die weiten Flächen ſchwankt der Kornweih; vor den in ſteil abfallenden Wänden eingegrabenen Niſthöhlen ſchweben Uferſchwalben auf und nieder; auf den Schindeldächern der zahl— loſen Schiffsmühlen ſchreiten, ſchwanzwippend, zierliche Bachſtelzen einher; vom Strome ſtehen polternd Enten und Scharben auf; über ſeinem Spiegel kreiſen und fliegen Milane und Nebelkrähen. So etwa iſt das Bild dieſer Gegend beſchaffen. Forſcherfahrten auf der Donau. 451 Bald aber ändert ſich die Landſchaft. Noch mehr verflacht ſich die Ebene, welche der Strom einſt gebildet und jetzt durchfurcht. Auf weiten, noch nicht eingedeichten Flächen, welche jede Hochflut der Ueberſchwemmung ausſetzt, teilt er ſich in zahl-, meiſt auch namenloſe Arme. Ueppig auf— geſchoſſener Wald bedeckt deren Ufer und die Inſeln dazwiſchen; dichte Uferſäume wehren dem Auge jeden Einblick in das Innere dieſes Au— waldes, welcher auf meilenweite Strecken ringsum den Geſichtskreis ab— ſchließt. Bei aller Eintönigkeit gleichwohl wechſelvolle Bilder entſtehen und vergehen, geſtalten, verſchieben und löſen ſich auf, je nachdem das Schiff mit dem Strome wendet. Weiden, Weiß-, Silber- und Schwarz— pappeln, Ulmen und Eichen, erſtere in überwiegender Menge, letztere oft ſpärlich eingeſprengt, bilden den Beſtand. Den dichten, faſt ausſchließlich aus Weiden beſtehenden Uferſaum überhöhen ältere Bäume derſelben Art; tiefer im Inneren der oft weit in das Land einſpringenden Waldungen erheben rieſige Silber- und Schwarzpappeln ihre ausdrucksvollen Kronen, recken alte knorrige Eichen dürre Wipfelzweige in die Luft. Vom ſproſſenden Weidenſchößlinge an bis zum abſterbenden Baumrieſen umfaßt ein einziger Blick alle Stufen des Baumlebens: erlebende, entkeimende, erſtarkende, in der Fülle des Wachstums ſtrotzende, wipfeldürre, vom himmliſchen oder irdiſchen Feuer gefällte und halb verkohlte, auf dem Boden liegende, ver— morſchende und vermodernde Bäume. Dazwiſchen glitzert fließendes oder ſtehendes Waſſer hervor; darüber wölbt ſich der Himmel. Aus heimlichem Dunkel tönt der Schlag der Nachtigall, des Finken, der Geſang der lieder— reichen Singdroſſel, gellt der Schrei des Falken oder Adlers, jauchzt der Specht, krächzt der Rabe, kreiſcht der Reiher. Dann und wann reißt eine Lichtung, ein noch nicht wieder überwucherter Schlag, eine Lücke durch den Wald und geſtattet einen Blick auf die ferne Landſchaft dahinter; auf die weite Ebene des rechten Ufers und den ſie begrenzenden Hügelſaum, auf endlos ſcheinende Felder, auf ein Kirchdorf, eine Stadt. Im Sommer, wenn das Blattgrün weſentlich dieſelbe Färbung zeigt, im Spätherbſte, Winter und Vorfrühlinge, wenn die Bäume unbelaubt ſind, mag dieſe Uferlandſchaft ermüdend wirken; jetzt erſcheint fie zwar gleichförmig, aber nicht reizlos; denn alle die Weiden- und Pappelarten ſtehen gegenwärtig im jugendlichen Blätterkleide, meiſt auch im Schmucke der Blütenkätzchen, und laſſen die Waldungen, hier und da wenigſtens, förmlich bunt erſcheinen. Nur an wenigen Stellen iſt ſolcher Wald zugänglich, weil im großen Ganzen nichts anderes als ein ungeheurer Bruch. Verſucht man, bald auf trockenen Pfaden, bald auf Waſſerſtraßen und Gewäſſern anderer Art vor— 492 Forſcherfahrten auf der Donau. dringend, in das Innere zu gelangen, ſo erreicht man früher oder ſpäter eine Wildnis, wie Deutſchland keine ähnliche aufzuweiſen hat. Auf den am höchſten über dem Stromſpiegel gelegenen Stellen, da wo fetter, teil— weiſe ſchlammiger Boden ſich findet, wird man noch am erſten an deutſche Auwaldungen erinnert. Hier ſtellen Maiblümchen einen ſaftig grünen, durch die weißen, duftigen Glöckchen wunderherrlich verzierten Teppich dar, welcher auf weite Strecken hin den Boden deckt; aber ſchon hier wuchern geilwüchſige Neſſeln und Brombeeren in ſolcher Fülle auf, verſchlingen verſchiedene kletternde Rankengewächſe ganze Waldesteile ſo vollſtändig, daß dem Fuße faſt unüberwindliche Hemm- und Hinderniſſe entgegentreten. Auf anderen Stellen aber wird der Wald thatſächlich zum Bruche, aus und über welchem ſich die Rieſenbäume erheben. Mächtige Stämme, vom Alter, vom Sturm, vom Blitze, vom leichtſinnig entzündeten Feuer des Hirten gefällt, liegen vermorſchend im Waſſer, oft ſchon zum Nährboden jüngeren, üppig aufgeſchoſſenen Buſchwerkes geworden; andere, noch weniger von Verweſung ergriffen, ſperren Weg und Steg. Abgefallenes Holz, von dicken Aeſten an bis zu den ſchwächſten Zweigen herab, iſt vom Winde zuſammengeſchwemmt worden und ſtellt ſchwimmende Inſeln und vor— ſpringende Zungen dar, welche dem kleinen Boote oft nicht geringere Hin— derniſſe bereiten wie dem watenden Fuße. Aehnliche Schwemminſeln, aus Rohr und Schilf beſtehend, bilden auf weithin eine ſchlotternde Decke freierer Waſſerflächen. Erhöhte Schlammbänke, auf denen Weiden- und Pappelarten den geeigneten Boden für ihre Samen fanden, ſtellen un— durchdringliche Dickichte her und machen ſelbſt den Rohrwaldungen, welche geographiſche Geviertmeilen bedecken können, den von ihnen bewachſenen Grund ſtreitig; Zwergweiden, jugendfriſche und greiſenhafte Forſte in einem darſtellend, treten tiefer in den Rohrwaldungen als dunklere Flecke hervor. Was der düſtere Wald mit ſeinen Brüchen und Dickichten, was das Röhricht bergen mag, bleibt dem ſuchenden Auge des Forſchers größten— teils verborgen; denn nur die Säume dieſer Waldwildniſſe vermag er zu durchſpähen, nur auf breiter Waſſerſtraße ſich zu bewegen. Auf ſolchem Gebiete begannen wir die Jagden, welche in erſter Reihe den Beherrſchern der Lüfte gelten ſollten. Sie, die Adler, kamen uns am erſten Reiſetage allerdings noch nicht vor das Gewehr, nicht einmal zu Geſicht; dafür aber beſuchten wir die altberühmte Reiherinſel Adony und hatten Gelegenheit genug, das Leben ihrer Brutvögel zu beobachten. Seit zwei Menſchenaltern horſten auf den Hochbäumen dieſes Eilandes, unter den weit länger angeſeſſenen Saatkrähen, Reiher und Scharben oder Kor— Forſcherfahrten auf der Donau. 453 morane, und wenn auch die letztgenannten ſeit Beginn der ſechziger Jahre erheblich abgenommen haben, ſind ſie doch noch nicht gänzlich verſchwunden. Vor vierzig Jahren horſteten hier, nach Landbecks Schätzung, etwa tauſend Paare Nacht-, zweihundertundfünfzig Paare Fiſch-, fünfzig Paare Seiden— reiher und hundert Paare Kormorane; heutzutage bilden die Saatkrähen wiederum bei weitem den Hauptbeſtand mit fünfzehnhundert bis zwei— tauſend Paaren; die Fiſchreiher aber ſind bis auf etwa anderthalbhundert, die Nachtreiher bis auf dreißig oder vierzig Paare zuſammengeſchmolzen, die Seidenreiher gänzlich verſchwunden, und nur die Kormorane haben ſich in annähernd derſelben Anzahl wie früher erhalten. Gleichwohl klang uns wenigſtens noch ein Nachhall des früheren Lebens in die Ohren, als wir die Inſel betraten, und hier und da bietet der Wald ſogar wohl noch ziemlich genau das alte Bild. Scheinbar in beſter Eintracht leben auf ſolchem gemiſchten Reiher— ſtande die verſchiedenen Vögel zuſammen, und dennoch herrſcht weder Frieden noch Freundſchaft unter ihnen. Der eine bedrängt und unter— ſtützt, brandſchatzt und ernährt den anderen. In den Siedelungen der Saatkrähen finden ſich die Reiher ein, um der eigenen Arbeit des Neſt— baues ſich zu entziehen; jene ſchleppen die Reiſer herbei und bauen die Neſter auf, dieſe, zunächſt die Reiher, vertreiben die Raben vom Neſte, um letzteres, mindeſtens deſſen Bauſtoffe, gewaltſam in Beſitz zu nehmen; die Scharben endlich machen wiederum den Reihern die geſtohlene Beute ſtreitig und werfen ſich ſchließlich zu Gewaltherrſchern in dem gemiſchten Brutſtaate auf. Aber auch ſie, die Diebe und Räuber, werden beſtohlen und beraubt; denn Krähen und Milane, welche letztere ſolchen Siedelungen ſelten fehlen, ernähren ſich und ihre Junge zu nicht geringem Teile von den Fiſchen, welche Reiher und Scharben zur Atzung ihrer Weibchen und Jungen herbeitragen. Die erſte Begegnung der verſchiedenartigen Brut— vögel iſt feindlich. Heftige, langwierige Kämpfe werden ausgefochten, und der zehnmal Beſiegte erneuert zum elftenmal den Streit, bevor er in das Unvermeidliche ſich fügt. Mit der Zeit aber beſſern ſich die Verhält— niſſe in demſelben Maße, wie die einzelnen Glieder des Verbandes er— kennen, daß aus dem Zuſammenleben doch auch Vorteile erwachſen, und daß für friedliche Nachbarn Raum genug vorhanden iſt. Kämpfe und Streitigkeiten enden allerdings niemals gänzlich; aber der erbitterte Krieg der einen Art gegen die andere weicht allgemach mindeſtens erträglichen Zu— ſtänden. Man gewöhnt ſich aneinander und nützt die Leiſtungsfähigkeit des Gegners ſo viel als möglich. Ja, es kann geſchehen, daß der Beraubte 454 Forſcherfahrten auf der Donau. ſchließlich dem Räuber folgt, wenn dieſer ſich veranlaßt ſieht, ſeinen Brutplatz an einer anderen Stelle aufzuſchlagen. Der Anblick eines gemiſchten Reiherſtandes iſt im hohen Grade feſſelnd. „Wechſelvolleres, Anziehenderes, Schöneres,“ ſchildert Baldamus, „gibt es ſchwerlich, als dieſe ungariſchen Sümpfe mit ihrer Vogelwelt, welche ebenſoſehr durch die Anzahl der Einzelweſen wie durch die Ver— ſchiedenheit in Geſtalt und Farben ausgezeichnet iſt. Man ſehe ſich nur die hervorſtechendſten dieſer Sumpfbewohner in einer Sammlung an und denke ſie ſich dann ſtehend, ſchreitend, laufend, kletternd, fliegend, kurz lebend, und man wird zugeben müſſen, daß ſolches Vogelleben ein wunder— bar anziehendes iſt.“ Dieſe Schilderung iſt ſelbſt dann noch richtig, wenn man ſie auf die verarmte Inſel Adony bezieht. So zuſammengeſchmolzen die einſt ſehr reiche Bevölkerung auch iſt, noch immer handelt es ſich um Tauſende und andere Tauſende. Auf weite Strecken des Waldes hin trägt jeder Hochbaum Horſte, mancher deren zwanzig bis dreißig, und um ſie wie auf ihnen regt und bewegt ſich das lärmende Volk der verſchieden— artigen Siedler. Auf den Horſten ſitzen brütend die Weibchen der Saat— krähen, Fiſch- und Nachtreiher und Scharben, und lugen mit ihren dunklen, ſchwefelgelben, blutroten und ſeegrünen Augen auf den Störenfried herab, welcher ihr Heiligtum betritt; auf den höchſten Aeſten der Rieſenbäume hocken und klettern, über ihnen flattern, fliegen und ſchweben die ſchwar— zen, brauen, grauen, einfarbigen und bunten, glanzloſen und ſchimmern— den Vogelgeſtalten; über ihnen ziehen Milane ihre Kreiſe; an den Stäm— men hängen und arbeiten die Spechte; in den Blüten eines Birnbaumes ſuchen glatte geſchmeidige Grasmücken, im Wipfel der bereits belaubten Traubenkirſchenbäume Finken und Waldlaubſänger ihr tägliches Brot. Der an einzelnen Stellen ſo wunderherrliche Maiblümchenteppich am Boden iſt auf weite Strecken hin übertüncht und beſchmutzt vom Geſchmeiße der Vögel, verunziert durch zerbrochene Eier oder deren Schalen und aus den Neſtern herabgefallene, verweſende Fiſche. Der erſte Schuß aus dem Gewehre unſeres Jagdherrn ruft unbe— ſchreiblichen Wirrwarr hervor. Kreiſchend erheben ſich die erſchreckten Reiher, unter ſinnbethörendem Krächzen die Krähen; unwillig knarrend verlaſſen auch die Scharben ihre Horſte. Eine Wolke von Vögeln bildet ſich über dem Walde, ſchwebt hierhin und dorthin, auf und nieder, über— ſchattet, ſich dichtend, die Wipfel und löſt ſich in einzelne Teile auf, welche zögernd zu den eben verlaſſenen Horſten herniederſinken, ſie zeitweilig förmlich umhüllen und dann wiederum mit der Hauptmaſſe ſich einigen. Forſcherfahrten eur der Donau. 455 Jeder einzelne ſchreit, knarrt, krächzt und kreiſcht, daß die Ohren gellen; jeder flieht, und jeder wird durch die Sorge um Horſt und Eier wieder herbeigezogen. Der ganze Wald gerät in Aufruhr; unbekümmert um dieſen, um das wüſte Gelärm aber ſchmettert der Fink ſeinen Früh— lingsgruß durch den Wald, jauchzt ein Specht, ſchlagen Nachtigallen ihre herrlichen Weiſen, offenbaren ſich Dichterſeelen unter Dieben und Räubern. Reich mit Beute beladen, kehren wir nach vier- bis fünfſtündiger Jagd zu dem wohnlichen Schiffe, unſerem gemütlichen Heim, zurück, um während deſſen Weiterfahrt unſere gewonnenen Schätze wiſſenſchaftlich zu verwerten. Stundenlang fahren wir durch Auwaldungen, wie ich ſie ge— ſchildert, dann und wann auch an größeren oder kleineren Ortſchaften, Städten und Dörfern, vorüber, bis die zunehmende Dunkelheit Halt ge— bietet. In der Dämmerfrühe des nächſten Morgens erreichen wir Apatin. Böllerſchüſſe, Muſik und freudige Zurufe begrüßen den geliebten Thron— erben. Allerlei Volk drängt ſich um das Dampfboot; eingeborene Jagd— gehilfen, Horſtſucher, Baumſteiger, Abbälger kommen an Bord; mehr als ein Dutzend kleine Kähne, „Czikeln“ genannt, werden aufgeladen. Dann wendet der Dampfer, um wieder ſtromaufwärts zu fahren und uns in der Nähe eines breiten Stromarmes abzuſetzen. Auf letzterem dringen wir zum erſtenmal in die naſſen Auenwälder ein. Dem größeren Boote, welches uns trägt, folgen alle die kleinen, welche wir in Apatin aufge— laden, ſo, wie Küchlein der Mutterente nachziehen. Heute gilt aller Jagd dem Seeadler, welcher in dieſen Wäldern ſo häufig brütet, daß im Um— kreiſe einer Geviertmeile nicht weniger als fünf Horſte erkundet werden konnten. Mit Weidmannsheil trennen wir uns, um dieſen Horſten in verſchiedener Richtung uns zuzuwenden. Ich kannte den kühnen und raubfähigen, wenn auch unedlen Raub— vogel von früher her recht gut, denn ich hatte ihn in Norwegen und Lappland wie in Sibirien und in Aegypten oft geſehen, jedoch noch nie— mals an ſeinem Horſte beobachtet; die Gelegenheit, letzteres zu können, war mir daher hochwillkommen. Seinem Namen entſprechend, bewohnt er mit Vorliebe die Seeküſten, außerdem die Ufer größerer fiſchreicher Seen und Ströme. Vertreibt ihn der Winter aus ſeinem Gehege, ſo wandert er ſo weit nach Süden hinab, als er eben muß, um auch in den kalten Mo— naten ſein Leben friſten zu können. In Ungarn iſt er der häufigſte aller größeren Raubvögel, verläßt auch das Land im Winter nicht und unter— nimmt nur in ſeinen jüngeren Jahren, vor ſeiner Mannbarkeit, weitere Streifzüge, gleichſam als wolle er ſich in der Fremde verſuchen. Während 456 Forſcherfahrten auf der Donau, des Frühjahres ſieht man daher in unſerem Jagdgebiete ausſchließlich alte, ausgefärbte oder, was dasſelbe ſagen will, erwachſene, fortpflanzungsfähige Seeadler, wogegen im Herbſte und Winter, neben den wenige Monate früher ihrem Horſte entflogenen Jungen, auch zugewanderte Seeadler die Uferwälder der Donau beleben. Solange dieſe nicht mit Eis bedeckt iſt, wird es ihnen nicht ſchwer, ſich zu ernähren; denn ſie jagen im Waſſer nicht minder geſchickt, vielleicht geſchickter, als auf dem Lande, kreiſen über der Flut, bis ſie einen Fiſch erſpähen, ſtürzen ſich wie ein Wetterſtrahl auf ihn herab, verſchwinden, ihm nachtauchend, zuweilen förmlich unter den Wellen, arbeiten ſich mit Hilfe ihrer mächtigen Schwingen aber raſch wieder empor, tragen die Beute, welcher ſie die unwiderſtehlichen Fänge durch den Schuppenpanzer ſchlugen, einem ruhigen Platze zu und verzehren ſie hier in aller Gemächlichkeit. Ebenſo finden ſie ſich, da man ihre Räu— bereien in Ungarn nicht ſo ſtreng verdammt wie bei uns zu Lande, ihnen überhaupt unverdiente Nachſicht zu teil werden läßt, regelmäßig in der Forſcherfahrten auf der Donau. 8 457 Nähe der Fiſcherhütten ein und lungern hier, oft in nächſter Nachbarſchaft derſelben, auf Bäumen ſitzend, bis der Fiſcher ihnen die in ſeinem Hälter abgeſtandenen Fiſche zuwirft oder ſonſt etwas für ſie abfällt. Wie der Fiſcher ſorgt auch der ungariſche, ſerbiſche und ſlavoniſche Bauer für ſie, indem er gefallene Tiere nicht verſcharrt, ſondern frei auf das Feld wirft Saatkrähen. und es unſeren Adlern und den Geiern oder Hunden und Wölfen über— läßt, das Aas wegzuräumen. Entzieht die Eisdecke dem Seeadler ſeine gewöhnliche Beute, und findet er zufällig auch kein Aas, ſo leidet er den— noch nicht Mangel; denn, wie der edlere und kühnere Steinadler, jagt er auf alles Wild, welches er überwältigen zu können glaubt. Er ſchlägt den Fuchs wie den Haſen, den Igel wie die Ratte, den Tauchvogel wie die Wildgans, nimmt der Seehundsmutter das ſäugende Junge weg, geht 458 Forſcherfahrten auf der Donau. in blinder Raubgier ſo weit, daß er ſeine mächtigen Fänge in den Rücken von Delphinen oder Stören klammert und dafür von den einen wie von den anderen in die Tiefe gezogen und, bevor es ihm gelingt, die Klauen wieder zu löſen, ertränkt wird, greift unter Umſtänden ſogar den Menſchen an. So kann es ihm kaum jemals fehlen, und, wenn er vollends nicht regelmäßig verfolgt wird, führt er ein geradezu beneidenswertes Leben. Bis gegen die Brutzeit hin lebt der Seeadler mit ſeinesgleichen im Frieden; gegen Eintritt der erſteren regt ſich auch in ſeinem Herzen, in den meiſten Fällen wohl durch Eiferſucht hervorgerufen, Kampfluſt und Streitſucht. Um des Weibchens wie um des Horſtes willen ficht er er— bittert mit anderen ſeiner Art. Wohl währt die einmal geſchloſſene Ehe eines Adlerpaares ſo lange, als einer der Gatten lebt, aber nur dann ſo lange, wenn der Adler imſtande iſt, die Adlerin gegen die Werbungen anderer ſeines Geſchlechtes zu ſchützen und ſeinen eigenen Horſt ſich zu er— halten. Begehrlich richter ein mannbar gewordenes, ſeiner Vollkraft be— wußtes Adlermännchen Auge und Sinn auf des anderen Weibchen und Horſt, und beide ſind dieſem verloren, ihm gewonnen, wenn es ihm ge— lingt, jenen zu beſiegen. Der rechtmäßige Gatte kämpft daher auf Tod und Leben mit jedem Eindringlinge, welcher das eheliche und häusliche Glück zu ſtören trachtet. In hoher Luft wird der Kampf begonnen und oft erſt am Boden ausgefochten. Mit Schnabel und Fang ſtößt bald dieſer, bald jener auf den Gegner herab, bis es dem einen gelingt, den anderen zu packen, und er ſofort wiederum des letzteren Krallen in ſeinem Leibe fühlt. Als wirrer Federballen ſtürzen dann beide aus hoher Luft herab in die Tiefe, entweder ins Waſſer oder aufs feſte Land, entkrallen ſich gegenſeitig, aber nur, um ſofort einen neuen Kampf auszufechten. Wie erboſte Hähne balgen ſich die edlen Recken, wenn ſie auf dem Boden weiter kämpfen, und zurückgelaſſene Federn und Blut bezeichnen die Wal— ſtatt, wie ſie den Ernſt der Kämpfe bezeugen. Das Weibchen kreiſt über den beiden Kämpfern oder ſieht von einem Hochſitze aus dem Streite, an— ſcheinend gleichmütig zu, liebkoſt den Sieger jedoch jedesmal, wenn er nach beendetem Kampfe zu ihm zurückkehrt, gleichviel ob dieſer Sieger der an— vermählte Gatte oder der Eindringling iſt. Wehe dem erſteren, wenn das Kriegsglück dem letzteren hold bleibt! In den Augen einer Adlerin ge— bührt nur dem Starken die Krone. Nach ſiegreich zurückgeſchlagenen Anfechtungen und Kämpfen ſolcher Art, welche keinem Adlermännchen erſpart bleiben und in Ungarn all— jährlich ſich wiederholen dürften, bezieht das Paar, vorausſichtlich das Forſcherfahrten auf der Donau. 459 längſtverbundene, den alten Horſt und beginnt bereits im Februar mit der Ausbeſſerung desſelben. Die dazu erforderlichen Stoffe leſen beide Gatten vom Boden ab oder fiſchen ſie aus dem Waſſer heraus, brechen ſie wohl auch von den Bäumen ab und tragen ſie in den Fängen, manchmal von weither zum Horſte, um ſie hier ſo kunſtgerecht zu verbauen, als ein Adler vermag. Da ſolcher Aufbau alljährlich ſtattfindet, wächſt der Horſt nach und nach zu beträchtlicher Höhe heran, und man erkennt ſchon an dieſer ſein Alter, ebenſo wie man von letzterem auf die Dauer einer Adlerehe ſchließen darf; denn die älteſten Horſte haben auch die älteſten Adlerpaare inne. Der Horſt ſteht nicht immer in den Wipfelzweigen, in allen Fällen aber hoch über dem Boden, mehr oder minder nahe am Stamme und ſtets auf ſtarken Aeſten, welche das ſchwere und immer ſchwerer werdende Ge— bäude zu tragen vermögen. Knüppel oder ſchwächere Zweige, alle ſperrig durch- und übereinander gelegt, bilden Unter- wie Oberbau und gewähren vielen Feldſperlingspaaren, welche ſich dreiſt und zuverſichtlich in die Nähe des Gewaltigen drängen, geeignete Höhlungen für Neſter und Schlupf— winkel. Zu Ende des Februar oder im Anfange des März legt das Weib— chen ſeine zwei, höchſtens drei Eier in die flache Neſtmulde und beginnt nunmehr eifrig zu brüten. Der Adler verſorgt die ſolcherart beſchäftigte Gattin mit Atzung, entfernt ſich, beuteſuchend, aber auch jetzt noch ungern weit und ſitzt, wenn er für das Weibchen und für ſich ſelbſt geſorgt, als treuer und aufmerkſamer Wächter in der Nähe des Horſtes auf einem be— ſtimmten Baume, welcher ebenſo als Warte- wie als Ruhe- und Schlaf: platz dient. Nach etwa vierwöchentlicher Brutzeit entſchlüpfen die Jungen, anfänglich weißen Wollklumpen, aus deren äußerer Umhüllung ein ſchwarzer Schnabel, dunkle Augen und bereits recht ſcharfkrallige Fänge hervor— ragen oder hervorlugen, vergleichbare, ebenſo niedliche als in früheſter Jugend ſchon ſelbſtbewußte Geſchöpfe. Nunmehr gibt's Arbeit genug für Vater und Mutter. Beide wechſeln miteinander ab, um auf Beute aus— zuziehen und die Jungen zu bewachen; aber nur die Mutter übernimmt ihre Pflege. Wohl thut auch der Vater redlich das ſeinige, um ſie erziehen zu helfen; aber einzig und allein die Mutter iſt imſtande, ihnen jene Dienſte zu leiſten, welche ich Ammendienſte nennen möchte. Würde ſie ihnen in den erſten Kindheitstagen entriſſen: ſie müßten ebenſo verküm— mern wie junge Säugetiere, denen man ihre Erzeugerin geraubt hat. Mit der eigenen Bruſt deckt die Adlermutter ſie gegen Froſt und Regen; aus dem eigenen Kropfe ſpendet ſie ihnen erwärmte, erweichte, vorverdaute 460 Forſcherfahrten auf der Donau. Atzung. Solche Ammenpflichten zu üben, verſteht der Adlervater nicht; wohl aber übernimmt er, wenn die jungen Adler größer geworden, etwa halb erwachſen und in dieſer Zeit ihrer Mutter beraubt worden ſind, un— weigerlich die alleinige Sorge um ihre Erziehung und atzt ſie, vielleicht unter aufopferndſter Mühe, vollends auf. Sie, die Jungen, wachſen raſch heran. In der dritten Woche ihres Lebens deckt ſich ihre Oberſeite mit Federn; gegen Ende des Mai ſind ſie ausgewachſen und flügge. Nun— mehr verlaſſen ſie ihren Horſt, um unter Führung ihrer Eltern für ihr Gewerbe ſich vorzubereiten. Dies iſt, mit flüchtigen Strichen gezeichnet, das Lebensbild des Adlers, welchem in den nächſten Tagen unſere Jagden galten. Nicht weniger als neunzehn beſetzte Horſte wurden von uns beſucht und mit wechſelndem Glücke' bejagt. Manchmal zu Fuße, manchmal im kleinen Boote, manch— mal ſpringend und watend, manchmal kriechend und ſchleichend, verſuchten wir, ungeſehen und ungehört, den Horſtbäumen uns zu nähern; erwartungs— voll hockten wir ſtundenlang in raſch errichteten Laubhütten unter ihnen und ſchauten geſpannt nach den Adlern aus, welche, durch uns oder andere verſcheucht, in hoher Luft ihre Kreiſe zogen und gar nicht wieder zum Horſte zurückkehren wollten, aber doch zurückkehren und günſtigſten Falles uns zum Opfer fallen mußten. Eine Beobachtung reihte ſich an die andere, und dieſe Adlerjagden gewannen infolgedeſſen unnennbaren Reiz für uns alle. Außer Adlern und anderen Raubvögeln, welche nebenbei erbeutet wurden, waren oder erſchienen die ſo viel verſprechenden Waldungen arm an gefiederten Bewohnern. Freilich war es noch früh im Jahre und der Zug der Wandervögel noch im vollen Gange; freilich vermochten wir kaum mehr, als den Saum der Waldungen zu durchforſchen. Allein auch die Anzahl der Vögel, welche zurückgekommen und in jenen Säumen angeſiedelt ſein mußten, entſprach nicht unſeren Erwartungen. Und dennoch beklagten wir eines noch mehr als dieſe Armut in unſeren Augen: den Mangel an guten Sängern. Wohl jauchzte die Singdroſſel ihre reichen Lieder in den frühlingsduftigen Wald hinaus; wohl ſchlug hier und da auch eine Nachti— gall; wohl ſchmetterte der Fink uns allüberall ſeinen Lenzgruß entgegen; wohl probte auch ſchon eine Grasmücke ihre Kehle; aber weder der eine noch die anderen waren imſtande, unſeren geſchärften Ohren zu genügen. Wir vermochten in allen, welche ſangen oder ſchlugen, immer nur Stümper, nicht aber Meiſter zu erkennen. Und ſo wollte es uns zuletzt beinahe ſcheinen, als gehöre der genannte Geſang gar nicht in dieſe ernſten Wäl— Forſcherfahrten auf der Donau. 461 der, und ſeien Adler- und Falkenſchrei, Uhu- und Waldkauzgeheul, Rohr— huhn- und Seeſchwalbengeknarr, Reihergekreiſche und Spechtgelächter, Kuckucksruf und Hohltaubenrukſer die zu ihnen paſſende Melodie und da— neben höchſtens noch der im Röhricht und Schilfe hauſende Rohrſänger, Seeadlerhorſt. welcher den größten Teil ſeines verworrenen Liedes den Fröſchen abge— lauſcht, der einzig berechtigte Singvogel. Der vierte Jagdtag galt dem einige Meilen vom Donauufer ent— fernten Keskender Walde. Eine weite, erſt in ziemlicher Ferne von Höhen— zügen begrenzte Ebene nahm uns auf, als wir die Auwälder verlaſſen 462 Forſcherfahrten auf der Donau. hatten; durch trefflich bebaute Felder der großen, muſterhaft bewirtſchafteten Herrſchaft Bellye führte uns der Weg, den wir mit raſchen Pferden wie im Fluge zurücklegten. Hier und da ſumpfige Wieſen mit Teichen und Waſſergräben, ein hainartiges Wäldchen, ein großes, von knorrigen Eichen umſtandenes Wirtſchaftsgebäude, ein Weiler, ein Dorf, ſonſt nur baum— loſe Felder: dies war das Gepräge der Gegend, welche wir durcheilten. Von den Feldern ſtiegen ſingend zahlloſe Lerchen auf; auf den Straßen trippelten zierliche Bachſtelzen umher; auf den Hecken am Wege ſaßen Würger und Grauammer; in den Kronen der Eichen lärmten und ſangen dort niſtende Dohlen und Stare; über den Weihern zogen fiſchende Fluß— adler ihre Kreiſe und tummelten ſich niedliche Seeſchwalben im Zickzack— fluge; im Sumpfe trieb ſich der Kiebitz umher: von anderen Vögeln be— merkten wir wenig. Auch der Keskender Wald, welchen wir nach zwei— ſtündiger Fahrt erreichten, ein wohlgepflegter Forſt, war trotz ſeines ge— miſchten Beſtandes arm an Arten; in dieſem Walde aber horſteten Schrei— und Fiſchadler, Schlangen- und Mäuſebuſſarde, Falken und Eulen und vor allem Waldſtörche in überraſchender Anzahl, und unſere Jagd fiel daher über alle Erwartung glänzend aus. Und doch kannten die Forſt— leute, welche erſt vor wenig Tagen von dem in Ausſicht ſtehenden Beſuche unſeres hohen Jagdherrn Kunde erhalten, den Wald nach Horſten durch— ſtreift und ſie auf einer raſch angefertigten Karte verzeichnet hatten, keines— wegs alle in dieſem einen Walde horſtenden Raubvögel und Schwarz— ſtörche. „Es ſind Zuſtände wie im Paradieſe,“ bemerkt Kronprinz Ru— dolf, und bezeichnet mit dieſen wenigen Worten das Verhältnis, welches zwiſchen den Menſchen und Tieren Ungarns beſteht, klar und treffend. Wie der Morgenländer kennt auch der Ungar glücklicherweiſe jene Mord— ſucht nicht, welche die außerordentliche Scheu der Tiere und ebenſo die ſo ſchmerzlich fühlbare Tierarmut Weſteuropas bewirkten: er gönnt ſelbſt dem Raubvogel, welcher auf ſeinem Beſitztume ſich anſiedelte, gern eine Heim— ſtätte und greift nicht fortwährend roh und grauſam ein in die tieriſche Welt, welche um ihn her lebt und webt. Nicht einmal der ſchnöde Eigen— nutz, welcher gegenwärtig alljährlich Räuberfahrten habſüchtiger Feder— händler nach den Sümpfen der unteren Donau veranlaßt, und um der Schmuckfedern willen Hunderttauſende von friſchfröhlichen, teilnahmswerten Vogelleben opfert, hat den Magyaren bewegen können, von ſeiner alten guten Sitte abzuweichen. Mag auch Gleichgültigkeit gegen die ihn um— gebende Tierwelt ihren Anteil haben an der Gaſtlichkeit, welche er übt: die Gaſtlichkeit iſt thatſächlich noch vorhanden und der Verfolgungsſucht Forſcherfahrten auf der Donau. 463 noch nicht gewichen. Vertrauensvoll finden ſich die Tiere, zumal die Vögel, in unmittelbarer Nähe des Menſchen ein; unbekümmert um deſſen Treiben geſtalten ſie ſich das ihrige. Der Adler horſtet am Waldwege, der Kolk— rabe im Feldhölzchen; der Waldſtorch zeigt ſich kaum ſcheuer als der ge— heiligte Hausſtorch; das Wild ſteht nicht vom Lager auf, wenn der Wagen auf Schußweite an ihm vorüberfährt. Es ſind wirklich Zuſtände wie im Paradieſe. Paradieſiſche Zuſtände ſollten wir übrigens auch außerhalb des Kes— kender Waldes kennen lernen. Nachdem wir letzteren nach verſchiedenen Seiten hin durchſtreift, über zwanzig Schlangen- und Fiſchadler- ſowie Schwarzſtorchhorſte beſucht und bejagt, an einem uns gebotenen trefflichen Frühſtück und noch mehr an den köſtlichen Weinen der Umgegend uns ge— ſtärkt und erquickt hatten, traten wir, zur Eile gemahnt durch drohendes Gewittergewölk, unſere Rückreiſe nach dem Schiffe an, auch jetzt noch jagend und ſammelnd, ſoviel Zeit und Gelegenheit geſtatteten. Der Weg, auf welchem wir dahinfuhren, war ein anderer als der, welcher uns zum Walde geführt hatte, eine recht gute Hochſtraße nämlich, welche verſchiedene Dörfer verband. Mehrere der letzteren hatten wir hinter uns, als wir von neuem zwiſchen Häuſer einbogen. An den Gebäuden war nichts Ab— ſonderliches zu ſehen, an den Bewohnern dagegen mehr, als ich mir je— mals hätte träumen laſſen. Die Bevölkerung des Dorfes Dalyok be— ſteht faſt ausſchließlich aus Schokazen oder katholiſchen Serben, welche zur Zeit der Türkenherrſchaft von der Balkaninſel hierher gewandert, beziehent— lich von den Türken hierher geſchleppt worden ſein ſollen. Es ſind ſchöne, ſchlanke Menſchen, dieſe Schokazen, die Männer groß und kräftig, die Frauen den Männern mindeſtens ebenbürtig, äußerſt wohlgebaut und, wie es ſcheint, auch ziemlich hübſch. Ueber erſteres konnten wir ein Urteil fällen; hinſichtlich des letzteren mußte die Phantaſie einigermaßen nach— helfen. Denn die Schokazinnen tragen eine Gewandung, wie ſie gegen— wärtig innerhalb Europas Grenzen ſchwerlich ſonſt noch vorkommen dürfte: eine Tracht, welche unſer hoher Jagdherr, findig und bezeichnend wie immer, mythologiſch nannte. Wenn ich ſage, daß Kopf und Geſicht großen— teils in eigenartig, jedoch nicht unmaleriſch gewundene und geknotete Tücher eingehüllt ſind und der Rock durch zwei buntfarbige, ſchürzen— artige, nicht miteinander verbundene Tuchſtücke vertreten wird, darf ich im übrigen reger Einbildungskraft vollſte Freiheit geſtatten, ohne be— fürchten zu müſſen, daß ſie ſo leicht dennoch vorhandene Grenzen über— ſchreiten werde. Ich meinesteils wurde lebhaft an ein Lager arabiſcher 464 Forſcherfahrten auf der Donau. Wanderhirten erinnert, welches ich einſtmals in den Urwäldern Inner— afrikas betreten hatte. Unter ſtrömendem Regen erreichen wir mit Eintritt der Dunkelheit unſer gemütliches Schiff. Regneriſch iſt auch der folgende Morgen, trübe der ganze Tag, verhältnismäßig unergiebig die Jagd. Dies alles treibt zur Weiterreiſe, ſo dankbar wir auch der in der Herrſchaft Bellye ver— lebten Tage gedenken, und ſo lohnend es wahrſcheinlich geweſen ſein würde, gerade hier noch einige Tage zu beobachten und zu ſammeln. Mit warmen, wohlverdienten Dankesworten verabſchiedete ſich unſer Jagdherr von den erzherzoglichen Beamten der Herrſchaft; noch einen Blick auf die Wälder, welche uns ſo viel geboten, und wiederum rauſcht unſer ſchnelles Schiff donauabwärts. Nach wenigen Stunden erreichen wir Draueck, die Mün— dung der Drau, welche fortan die Richtung des Donaubettes zu beſtimmen ſcheint. Eines der großartigſten Strombilder, welches ich je geſehen, liegt vor dem Auge. Eine weite Waſſerfläche breitet ſich aus; nach Süden hin begrenzen ſie lachende Hügel, nach allen übrigen Seiten Auwälder, wie wir bisher ſie geſehen. Weder der Lauf des Hauptſtromes, noch das Bett des Zufluſſes läßt ſich verfolgen; die ganze ungeheure Waſſerfläche gleicht einem ringsumſchloſſenen See, deſſen Ufer nur an der erwähnten Hügel— kette deutlich hervortreten; denn zwiſchen dem Grün der Wälder hindurch ſieht man da, wo Lücken Einblick geſtatten, wiederum Waſſer, Dickicht und Röhricht, letzteres, den meilenweiten Sumpf Hullo überkleidend, in end— los ſcheinender Ausdehnung. Rieſige Baumſtämme, von dem einen wie von dem anderen Strome herbeigeführt und nur teilweiſe überflutet, nehmen phantaſtiſche Formen an; es will ſcheinen, als reckten ſagenhafte Tiere der Vorwelt ihre beſchuppten Leiber über die dunklen Fluten empor. Denn dunkel, faſt ſchwarz flutet die „blonde“ Donau dahin, während unſer Schiff das Draueck durcheilt. Grauſchwarz und ſchwarzblau hängen Ge— witterwolken am Himmel, anſcheinend auch zwiſchen dem hundertfach ſchat— tierten Grün der Wälder und über den gleichmäßig fahlgelben Rohrflächen; Blitze beleuchten grell das ganze Bild; der Regen rauſcht praſſelnd her— nieder, der Donner rollt dazwiſchen, der Sturm heult in den Wipfeln der alten Hochbäume, wühlt die Waſſerfläche auf und krönt die dunklen Wellen— kämme mit grauweißem Giſcht; unten, im Südoſten, aber bricht die Sonne durch das ſchwarze Gewölk, ſäumt es mit Purpur und Gold, erhellt und erleuchtet es, daß die tiefen Schatten noch ſchärfer hervortreten, und ſtrahlt flimmernd auf den bunten Hügeln nieder, welche in weiteſter Geſichtsferne zu einem Gebirge aufſteigen. Dort unten, dort drüben, liegen auch Weiler Forſcherfahrten auf der Donau. 465 und Dörfer; hier oben unterbricht höchſtens eine kegelförmige, rohrgedeckte Fiſcherhütte die Urſprünglichkeit des großartigen, in ſeiner Wildheit und der augenblicklichen Beleuchtung und Bewegung unnennbar erhabenen Bildes. Auffallend iſt die Vogelarmut, überhaupt die Oede der ausgedehnten Waſſerflächen. Keine Möwe ſchwebt über dem Spiegel der Donau, keine Seeſchwalbe fliegt im Zickzackfluge auf und nieder; höchſtens einzelne Enten— männchen erheben ſich vom Strome. Dazu dann und wann ein Fiſch-z, ein Flug Nachtreiher, ein Seeadler und einige Milane, Nebelkrähen und Raben, vielleicht noch ein Trupp Kiebitze, und die Aufzählung der Vögel, welche man gewöhnlich ſieht, iſt erſchöpft. Vom folgenden Tage an durchſtreifen wir jagend und beobachtend ein wundervolles Gebiet. Die Blauen Berge, vor und auf denen geſtern während der Gewitternacht heller, goldiger Sonnenſchein lag, ſind die Höhen der Fruskagora, eines waldigen Mittelgebirges der köſtlichſten Art. Graf Rudolf Chotek hat in der umſichtigſten Weiſe alles zu würdigem Empfange unſeres hohen Jagdherrn vor- und damit uns allen unvergeßliche Tage bereitet. Von dem Dorfe Cerewié aus, oberhalb deſſen unſer Dampfſchiff liegt, durchfahren wir tagtäglich die Schluchten, erklimmen wir fahrend, reitend, gehend die Höhen des Gebirges, um an jedem Abende beglückt und erhoben heimwärts zu ziehen. Die goldene Maienzeit labt Herz und Seele, und unſer Wirt iſt ſo unerſchöpflich in ſeiner Aufmerk— ſamkeit, Zuvorkommenheit, Liebenswürdigkeit und Güte, daß uns die in der Fruskagora verlebten Tage a den gehaltreichſten und ſchönſten der ganzen Reiſe werden. Die Gegend, welche wir tagtäglich durchſtreifen, iſt ſehr anmutig. In der Nähe des Dorfes breiten ſich Felder aus; über dieſen beginnt der Gürtel der Weinberge, welcher bis zu dem Waldſaume reicht; in den Thälern und Schluchten dazwiſchen blühen und duften jetzt zahlloſe Obſt— bäume, denen die ganze Gegend einen ungemein freundlichen Anblick ver— dankt; an den Hängen am Wege, welcher in der Regel den Thälern folgt, wuchert dichtes Gebüſch und erquickt das Auge eine um ſo reichere Blüten— pracht, als es den Thälern auch an murmelnden Bächlein oder doch tropfen— den Wäſſerlein nicht mangelt. Von den erſten Höhen aus bietet ſich dem Auge ein überraſchend ſchönes Bild der Landſchaft. Unten im Vor— dergrunde baut ſich das Dorf Cerewis maleriſch auf; dann folgt die breite Donau mit ihren Auwaldungen am anderen Ufer; hinter ihr und ihnen breitet ſich, endlos erſcheinend, die ungariſche Tiefebene aus und zeigt Brehm, Vom Nordpol zum Aequator. 30 [9] 466 Forſcherfahrten auf der Donau. dem Beſchauer ihre Felder und Wieſen, Wälder und Sümpfe, Dörfer und Marktflecken in der unſicheren, wechſelvollen und gerade deshalb ſo feſſeln— den Beleuchtung; nach Oſten hin endlich haften die Blicke an der Feſte Peterwardein. Von den Feldern ſteigen ſingende Lerchen auf; aus den Büſchen tönt hundertfältig der Schlag der Nachtigall; von den Weinbergen klingt der muntere Geſang des Steinrötels hernieder; in hoher Luft ziehen zwei Geier- und drei Adlerarten ihre weiten Kreiſe. Nach kurzem Weiterwege ſchwinden Strom, Dörfer und Felder, und irgend eines der heimlichen Waldthäler des Gebirges nimmt uns auf. Steil fallen von beiden Seiten die Bergwände zu ihm ab; zwar nicht beſonders hoher, aber dichter Wald deckt ſie wie ihre Rücken und Grate. Eichen und Linden, Ulmen und Ahorne bilden auf weite Strecken hin, Rotbuchen und Hornbäume an anderen Stellen den Beſtand; dichte, nie— dere Gebüſche, in denen ein Nachtigallenpaar neben dem anderen hauſt, umſäumen die Ränder. Nicht großartige Fernblicke lohnen den Wanderer, welcher die höchſten Rücken erklimmt und nach Norden hin Ungarn, im Süden Serbien vor ſich liegen ſieht; aber heimliches Waldesdunkel um— ſchmeichelt ihm Herz und Sinne. Von dem Hauptkamme, welcher höchſtens bis zu neunhundert Meter unbedingter Höhe aufſteigen mag, zweigen ſich in mehr oder weniger ſenkrechter Richtung nach beiden Seiten viele Ketten ab, welche, von dieſer oder jener Seite betrachtet, oft einen entzückenden Anblick gewähren. Sie fallen zu Thälern ab oder umſchließen Keſſel, deren Wände bis jetzt noch Abfuhr gefällten Holzes verwehren und daher in urwüchſiger Waldespracht prangen. Rieſenhafte, gerade aufgeſchoſſene, bis zum weit aufgelegten Wipfel glattſtämmige Buchen erheben ſich aus moderndem Laube, in welches der Fuß des Jägers bis zu den Knieen einſinkt; knorrige Eichen recken ihre Wipfelzacken in die Luft, als ob ſie alle Raubvögel einladen wollten, auf ihnen den Horſt zu gründen; wölbige Linden bilden ſtreckenweiſe ein ſo geſchloſſenes Blätterdach, daß der Sonnen— ſtrahl nur als vielfach gebrochener Widerſchein zum Boden herabzittert. Singdroſſel und Amſel, Pirol und Rotkehlchen, Edelfink und Waldlaub— vogel ſind neben der allerorts angeſeſſenen Nachtigall die Sänger dieſes Waldes; der Kuckuck ruft ſeinen Frühlingsgruß von Berg zu Berg; Schwarz- und Grünſpecht, Kleiber und Meiſen, Ringel- und Hohltauben laſſen ſich vernehmen. Unſere Jagden galten hier hauptſächlich dem größten europäiſchen Raubvogel, dem Kuttengeier, deſſen nördlichſte Brutgebietsgrenze die Frus— kagora zu bilden ſcheint. Ihm hatte ſich neuerdings, wohl herbeigezogen Forſcherfahrten auf der Donau. 467 durch die unglücklichen Opfer des Krieges in Serbien, der zweite große Geier Europas geſellt, und beide brüteten hier unter erklärtem Schutze des tierkundigen und tierfreundlichen Grundherrn. Ich kannte beide Geier— arten von meinen früheren Reiſen her; es war mir jedoch trotzdem hoch— erfreulich, ſie an ihren Brutplätzen zu beobachten und den Mitteilungen der Jagdgenoſſen wie Graf Choteks zu lauſchen; denn auch bei dieſen Jagden war Erforſchung des tieriſchen Lebens der Hauptzweck, welcher von uns in das Auge gefaßt wurde. Und wiederum reihte ſich eine Be— obachtung an die andere, und manche, uns allen noch dunkle Seite des Lebens der beiden Rieſenvögel wurde durch unſere Forſchungen erhellt und erklärt. Der Kuttengeier, deſſen Verbreitungsgebiet nicht allein die drei ſüd— lichen Halbinſeln Europas, ſondern auch Weſt- und Mittelaſien bis Indien und China in ſich begreift, iſt Standvogel in der Fruskagora, unternimmt aber nach der Brutzeit gern weitere Ausflüge, welche ihn regelmäßig bis in das nördliche Ungarn, nicht allzuſelten auch bis Mähren, Böhmen und Schleſien führen. Gewaltige Flugwerkzeuge ſetzen ihn inſtand, derartige Ausflüge ohne jegliche Beſchwerde zu unternehmen. Nicht an Eier oder hilfsbedürftige Junge gekettet, erhebt er ſich in den erſten Vormittags— ſtunden von dem Baume, welcher ihm Nachtruhe gewährte, ſteigt in Schraubenwindungen zu Höhen empor, in denen er dem unbewaffneten Menſchenauge entſchwindet, überſchaut von hier aus mit ſeinem unver— gleichlich ſcharfen, beweglichen, für verſchiedene Entfernungen einſtellbaren Auge überaus weite Flächen mit bewunderungswürdiger Sicherheit, er— kennt ſelbſt ein kleines Aas noch, und läßt ſich, ſobald er ſolches ent— deckte, aus der Höhe herab, um es zu verzehren und zu verdauen, mindeſtens vorläufig im Kropfe aufzuſpeichern, worauf er den Rückweg zur altgewohnten Stelle antritt oder ſeine zielloſe Wanderung fort— ſetzt. Ebenſo wie er das unter ihm liegende, vielleicht viele geographiſche Geviertmeilen umfaſſende, ſeinem Auge jedoch vollkommen erſchloſſene Ge— lände abſucht, achtet er auch auf das Gebaren, zumal auf die Bewe— gungen anderer ſeiner Art oder großer aasfreſſender Raubvögel überhaupt, um aus deren Handlungen Vorteil zu ziehen. So nur erklärt ſich das plötzliche und gleichzeitige Erſcheinen mehrerer, ſelbſt vieler Geier auf einem größeren Aaſe, und auch in ſolchen Gegenden, in denen ſie nicht anſäſſig ſind. Nicht ihr an und für ſich ſtumpfer Geruch, ſondern ihr Geſicht leitet ſie bei ihren Raubzügen. Einer fliegt dem anderen nach, wenn er ſieht, daß dieſer Beute erſpähte, und die Schnelligkeit ſeines 468 Forſcherfahrten auf der Donau. Fluges ift jo bedeutend, daß er in der Regel noch rechtzeitig beim Schmauſe eintreffen kann, wenn er ſieht, daß der Entdecker der Beute, noch ſchwankend, über letzterer ſeine Kreiſe zieht. Zögern darf er freilich nicht; denn nicht umſonſt heißt er, heißt jener Geier: die Gier ſeines Geſchlechtes ſpottet jeder Beſchreibung. Wenige Minuten genügen drei oder vier Geiern, um den Leichnam eines Hundes oder Schafes bis auf unerhebliche Reſte in den Kröpfen zu bergen; die Mahlzeit verläuft alſo mit beinahe unbegreif— licher Schnelligkeit, und wer zu ſpät kommt, hat das Nachſehen. Für die Geier der Fruskagora bot die Umgegend übrigens auch außer einem Schmauſe an einem größeren Aaſe manches für Kropf und Magen erwünſchte Tier; denn in den Verdauungswerkzeugen der von uns erlegten und zergliederten Geier fanden wir die Ueberreſte von Zieſeln und großen Eidechſen, welche von jenen ſchwerlich bereits verendet ge— funden, vielmehr aller Wahrſcheinlichkeit nach ergriffen und getötet worden waren. Entſprechend der nördlichen Lage der Fruskagora und der geord— neten, für Geier alſo wenig günſtigen Zuſtände des umliegenden Landes, ſaßen die Kuttengeier während unſeres Aufenthaltes noch brütend auf den Eiern, wogegen die weiter unten im Süden hauſenden Paare derſelben Art unzweifelhaft bereits Junge haben mußten. Ihre Horſte ſtanden auf den höchſten Bäumen des Waldes, die meiſten wohl im oberen Dritteil der Höhe der Bergwände. Viele waren Graf Chotek und deſſen Jägerei wohl— bekannt, weil ſie ſeit mindeſtens zwanzig Jahren regelmäßig zur Brutſtätte eines, vielleicht desſelben Paares gedient, alljährlich neue Zufuhr an Bauſtoffen und daher zuletzt eine gewaltige Ausdehnung erhalten hatten; andere ſchienen jüngeren Urſprungs, die einen wie die anderen aber von den Geiern ſelbſt errichtet zu ſein. In den älteſten und größten hätte ſich wohl ein erwachſener Mann niederlegen können, ohne mit Kopf oder Füßen den Rand erheblich zu überragen. Unter dieſen Horſten ſaßen wir beobachtend und lauernd, das Leben und Weben des Waldes belauſchend und die durch unſere Ankunft ver— ſcheuchten Geier erwartend, um ihnen einen ſicheren Schrot- oder Kugel— ſchuß beizubringen. Vier Tage nacheinander zogen wir allmorgendlich in den herrlichen Wald hinaus, und an keinem Tage kehrten wir beutelos zum Strome zurück. Nicht weniger als acht große Geier, mehrere Adler und zahlreiches Kleingeflügel der verſchiedenſten Art fielen uns zur Beute, und reichhaltige, uns alle feſſelnde Beobachtungen würzten und vergeiſtigten unſere Jagden. Wenn aber der letzte Sonnenſtrahl verglomm, ſammelte ſich Forſcherfahrten auf der Donau. 469 der jüngere Teil der Bewohnerſchaft des Dorfes um unſer Schiff. Geige und Dudelſack einigten ſich zu wunderſamer, obſchon höchſt einfacher Weiſe, und Burſchen und Mädchen ſchwangen ſich, dem hohen Gaſte zu Ehren, im volkstümlichen, ebenmäßig wogenden Reigen. Nachdem wir auch am anderen Ufer der Donau mit Erfolg gejagt hatten, ſchieden wir endlich am fünften Tage nach unſerer Ankunft in Cerewie von unſerem aufopferungsvollen Wirte, dem Grundherrn, und ſchwammen donauabwärts weiter. Nach dreiviertelſtündiger Fahrt erreichen wir Peter— wardein, die kleine, jetzt veraltete, aber ſchmucke und maleriſch gelegene Feſtung, anderthalb Stunden ſpäter Karlowitz, in deſſen Nähe wir über— nachten. Am anderen Morgen gelangen wir nach Kovil, dem Endziele unſerer Fahrt. In der Nähe dieſes großen Dorfes liegen rings von Feldern umgebene Waldungen, in denen die Eiche zwar vorherrſcht, deren Unterwuchs aber ein ſo dichter iſt, daß, trotz der vielen Ortſchaften ringsum, Wolf und Wildkatze in ihnen ein zwar bedrohendes, jedoch kaum bedrohtes Daſein führen können. Kein Wunder daher, daß auch Raubvögel aller Art, ins— beſondere See-, Kaiſer-, Schrei- und Zwergadler, Schlangenbuſſarde, Mi: lane, Habichte, Uhus und andere Eulen, ſie zu Horſtplätzen gewählt haben, und daß ſie ebenſo allerlei Kleingeflügel in Menge beherbergen. Ihnen zogen, im voraus reicher Beute ſicher, unſer hoher Jagdherr und ſein erlauchter Schwager zu, während Eugen von Homeyer und ich unſer Jagdglück in einem oberhalb des Dorfes gelegenen, durch das gegenwärtig herrſchende Hochwaſſer zu einem weiten See gewandelten Sumpfe verſuchen. In dieſem Sumpfe herrſcht, obwohl kaum mehr als der geringſte Teil ſeiner gefiederten Bewohnerſchaft eingetroffen ſein kann, der Zug der Vögel vielmehr noch in vollem Gange iſt, überraſchend reiches und viel— geſtaltiges Leben. In faſt ununterbrochener Folge ziehen ſtarke Flüge der Trauerſeeſchwalbe den Fluten des Stromes entgegen, manchmal zu dicht— gedrängten Schwärmen ſich ſammelnd, manchmal wiederum beinahe über die ganze Breite der überſchwemmenden Donau ſich verteilend; offenbar noch nach Horſtplätzen ſuchend, wandern Hunderte von Sichlern oder dunklen Ibiſſen, fliegend die übliche Keilform bildend, ſtromauf und ſtromab, der nahen Theiß zuſtrebend oder von ihr herkommend; mit dem Fiſchfange ſich beſchäftigend, ſchreiten auf allen ihnen zugänglichen Stellen der weiten Waſſerfläche Purpur-, Fiſch- und Rallenreiher hin und wider; lange Rohrſtengel zum Horſte tragend, befliegen Rohrweihen die altge— wohnten Straßen; wiederum gepaarte Enten, deren Weibchen durch die 470 Forſcherfahrten auf der Donau. Hochflut ihrer Eier beraubt wurden, ſtehen beim Erſcheinen unſerer kleinen, flachen Boote polternd vom Waſſer auf, wogegen Steißfüße und Taucher— hähnchen in ſeiner Tiefe Zuflucht ſuchen: kurz, kein einziger Teil der weiten Fläche iſt unbevölkert, unbelebt. Ein des unter Waſſer ſtehenden Waldes und der in dieſem verlaufenden Wege kundiger Förſter erwartet uns in einem inſelgleich das überſchwemmte Land überragenden Hauſe und wird uns zum Führer in einer Waldwildnis, welche die früher beſuchten aus dem Grunde noch weit hinter ſich zurückläßt, weil das Hochwaſſer zu ſtets vorhandenen Hinderniſſen neue gehäuft hat. An viele, ſonſt wohl in be— trächtlicher Höhe über dem Boden ſich reckende Zweige ſtreifend, oft vor wegeſperrenden Aeſten uns bückend, verſuchen wir, auf den breiteren Waſſer— ſtraßen uns zwiſchen halb oder gänzlich niedergeſtürzten Bäumen, ſchwim— menden Klötzen und Treibhölzern einen Pfad zu bahnen und in das Innere des Waldes vorzudringen. Auf Weidenköpfen brütende Stockenten, deren Neſter bis jetzt noch durch das Hochwaſſer verſchont blieben, laſſen ſich durch unſer Erſcheinen nicht ſtören, bleiben vielmehr unbeweglich auf ihren Eiern ſitzen, ſelbſt wenn wir in kaum mehr als Meterweite an ihnen vorübergleiten. Ohrenſteißfüße, welche das freiere Waſſer aufgeſucht haben, ſchwimmen, als ſie unſerer anſichtig werden, ſeitwärts ins grüne Dickicht der bis an die Kronen im Waſſer ſtehenden Bäume, vorherrſchend Weiden; Bachſtelzen laufen von einem Treibholzſtücke aufs andere; Buntſpechte und Kleiber hängen ſich dicht über der Waſſerfläche an die Stämme, um in gewohnter Weiſe nach Nahrung zu ſpähen. Ein Bild aus dem Vogel— leben verdrängt das andere; jedes aber erſcheint ungewöhnlich, weil es die obwaltenden Verhältniſſe weſentlich verändert haben. Um zu einem See— adlerhorſte zu gelangen, müſſen wir eine weite Strecke durchwaten, um einen Kolkrabenhorſt zu beſuchen, weite Umwege machen. Regelrechtes Jagen iſt unter ſolchen Umſtänden nicht möglich, unſere Jagd jedoch trotz— dem ergiebig und lohnend. Mir ſelbſt bereitete dieſer Ausflug die Freude, einen der hervorragendſten gefiederten Baukünſtler Europas, die Beutel— meiſe, an ihrem Neſte arbeiten zu ſehen, überhaupt zum erſtenmal in ihrem Thun und Treiben zu beobachten. Der folgende Tag vereinigt die ganze Jagdgeſellſchaft in einem der erwähnten Feldgehölze. Ein ungariſcher Förſter hat ein großartiges Wolfstreiben veranſtaltet, jedoch ſo wenig geſchickt eingerichtet, daß Freund Iſegrim ungeſehen und unbemerkt davonſchleichen kann. Die ausſichtloſe Jagd wird daher bald abgebrochen und die wenige, uns noch übrige Zeit lohnenderer Beobachtung der Vogelwelt des Waldes gewidmet. Forſcherfahrten auf der Donau. 471 Noch im Laufe des Nachmittags verlaſſen wir Kovil, erreichen gegen Sonnenuntergang wiederum Peterwardein, fahren in den erſten Nacht— ſtunden an der Fruskagora vorüber, verlaſſen am anderen Tage nur noch einmal das Schiff, um in dem Rohrſumpfe Hullo zu jagen und zu beobachten, bekommen hier auch den bisher vergeblich geſuchten Edelreiher zu Geſicht, müſſen jedoch der ablaufenden Zeit Rechnung tragen und weiter eilen, um den nach Wien abgehenden Schnellzug nicht zu verſäumen. Dankbar der letztvergangenen Tage gedenkend und gleichwohl den eiligen Flug ihrer Stunden beklagend, fahren wir an allen den Auwaldungen, welche uns ſo vieles geboten, vorüber, und mit dem heißen Wunſche, wiederzukehren und auf längere Zeit ihm uns zu widmen, nehmen wir für diesmal Abſchied von dem reichen und eigenartigen Lande. 4 ug Bi 8 un, 2 Ir RIEF FAN AT La) A A 10 Ei r e 8 3 ad er lee, 175 er a DRM AR