VON KANTS EINFLUSS AUF. DIE DEUTSCHE KULTUR

H. Cohen

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THE UNIVERSITY OF BRITISH COLUMBIA

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Kants Einfluß auf die deutſche Kultur.

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bei der

Marburger Univerſttäts-Feier des Geburtstages Sr. Majeſtät des Kaiſers und Königs am 17. März 1883

gehalten von

Dr Hermann Cohen

Profeſſor der Philoſophie.

Berlin

Ferd. Dümmlers Verlags buchhandlung Harrwitz und Goßmann

1883.

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Hochanſehnliche Feſtverſammlung!

Ein ehemaliger Lehrer unſerer Hochſchule, der durch die Kraft und die Innigkeit feiner philoſophiſchen Geſinnung über die Grenzen des Vaterlandes hinaus dem deutſchen Namen Ehre gemacht hat, Albert Lange hielt am 22. März 1862, damals noch Gymna— ſiallehrer in Duisburg, die Feſtrede bei der Schulfeier von Königs Geburtstag. „Wir feiern heute den Geburtstag unſeres Königes“, ſprach er. „Wir feiern heute dieſen Mann; wir freuen uns ſeiner Perſon, ſeines edlen Geſchlechtes, ſeiner Treue gegen das Volk, das er zu lenken berufen iſt. Allein, was dem heutigen Feſte ſeine Weihe giebt, das iſt nicht die Feier der ſterblichen Perſon . . . es iſt vielmehr die Idee ſtaatlicher Einheit ſelbſt, eine hohe, königliche Idee, die durch einen König wie Wilhelm J., den ritter— lichen Sproß des Hohenzollernſtammes, uns lebendig und würdig vor Augen geſtellt wird.“

In ſolcher geſchichtlichen Vorausſicht erfaßte dieſer heiße Patriot die perſönliche Bedeutung des Königs Wilhelm auf dem Throne Preußens. Und wie gewaltig hat ſich ſeit jenen einund— zwanzig Jahren die Miſſion dieſes Preußenkönigs erfüllt. Die Traumwünſche der Nation ſind unter der geſegneten Regierung dieſes Königs Wirklichkeit geworden. Die Idee der ſtaatlichen Einheit, ſie iſt in der Perſon dieſes Kaiſers verkörpert. War daher in den Tagen deutſcher politiſcher Sehnſucht ſeit dem Programm des November 1858 Hoffnung das Gefühl nationaler Patrioten an König Wilhelms Geburtstage, ſo iſt es heute treueſte Dank—

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barkeit, die am Kaiſertage uns erfüllt. Das ganze deutſche Volk blickt in Liebe und Verehrung nicht allein zu dem mächtigen Throne, den die Nation auf dem Felde der Ehre und des Ruhmes errichtet hat, ſondern beglückt zumal darüber, hinauf zu der Perſon dieſes allverehrten, allgeliebten Monarchen, der in Weisheit und Feſtigkeit, in Geradheit und Opferwilligkeit, in hingebender Arbeit und in unerſchütterlicher Treue gegen ſeinen Rathgeber wie gegen ſeine Grundſätze die Geſchicke des Reiches verwaltet. Das ganze deutſche Volk feiert mit dem preußiſchen Staate einmüthig des deutſchen Kaiſers Geburtstag als den Feſttag der Nation. Und wenn im Wandel irdiſchen Lebens die ſpäten Enkel dieſes Erſten Preußiſchen Kaiſers des Deutſchen Reiches an ihren Tagen die Huldigungen der Nation empfangen werden, ſo wird doch der Geburtstag unſeres Kaiſers aus dem Gemüthe des Volkes nicht verſchwinden.

Sind wir nun aber mit allen Ständen und Körperſchaften des Reiches in dieſem perſönlichen Gefühle der Verpflichtung ver— einigt, ſo mag es unſerer Hochſchule geziemen, in eine Betrachtung von der Geſchichte des deutſchen Geiſtes die Feſtesſtimmung zu ſammeln. An unſeres Fürſten Geburtstage mögen wir gern deſſen gedenken, was unter dem Walten preußiſcher Könige deutſche Helden und Denker, deutſche Forſcher und Künſtler der Nation und der Menſchheit geſchaffen haben. Und an dem Tage, an welchem vor nunmehr ſiebzig Jahren der Aufruf an das Volk ergangen war, möge es angemeſſen erſcheinen, an den deutſchen Genius und preußiſchen Lehrer hier zu erinnern, von deſſen per— ſönlichem Schüler jener Aufruf entworfen und verfaßt war. Von Kants Einfluß auf die deutſche Kultur ſei es mir ver— gönnt, heute vor Ihnen zu reden im Jubeljahr der Kant'ſchen Schrift, welche in ihrem Titel ſchon ebenſoſehr den ſachlichen Grundgedanken wie das reformatoriſche Bewußtſein des Autors ausſpricht: „der Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphyſik, die als Wiſſenſchaft wird auftreten können.“

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Man kann in der That an dieſem Titel über die hiſtoriſche Einwirkung Kants ſich orientiren. Nicht das etwa war Kants Abſicht, das Ende aller philoſophiſchen Unternehmungen herbei— zuführen, oder auch nur in die Formeln ſeiner Buchſprache den Geiſt künftigen Denkens zu bannen. Aber die methodiſche Ein— leitung, die Prolegomena wollte er zu einer jeden künftigen Meta— phyſik geſchrieben haben. In dieſem Anſpruch beſteht ſeine ge— ſchichtliche Miſſion. Der Anſpruch ſtützt ſich auf die Einſchrän— kung der Metaphyſik: „die als Wiſſenſchaft wird auftreten können.“ In dieſem Wort „als Wiſſenſchaft“ liegt das Unterſcheidende des Kantiſchen Syſtems: die Kantiſche Me— thode. Nicht der göttliche Wahnſinn ſoll fortan den Genius der Weisheit beſchwingen, nicht die ſtolze Reſignation scio me veram intelligere philosophiam das Wahrheits gefühl zum letzten Grunde der Gewißheit machen, ſondern Wiſſenſchaft ſoll die Metaphyſik werden, in den „ſtetigen Gang einer Wiſſenſchaft“ die Philoſophie gebracht werden. Dieſen ausnehmend hiſtoriſchen Sinn hat der Kantiſche Grundgedanke. Aus demſelben muß ſich daher auch ergeben, in welcher Richtung und Art, es iſt nicht bildlich gemeint, wenn ich ſage, in Bezug auf welche Geſchwindig— keit der hiſtoriſche Einfluß Kants zu verfolgen iſt.

Wiſſenſchaft war ſeit kaum hundertundfünfzig Jahren erſt die mathematiſche Naturwiſſenſchaft geworden: Newton’s Philosophiae Naturalis Principia Mathematica waren 1687 erſchienen, nach— dem 1638 Galilei's Discorsi in die Welt gegangen waren. In dieſen beiden Werken vorzugsweiſe iſt das Abſtractum der Wiſſen— ſchaft concret. Die Grundanſchauung der modernen Wiſſenſchaft, daß alle Dinge in geſetzmäßigen Bewegungsvorgängen beſtehen und als ſolche erſt erforſchbar ſind, nimmt ihren Ausgang von Galilei; und der damit verbundene Grundgedanke, daß alle Be— wegungsvorgänge einem einheitlichen Zuſammenhang angehören, in einem Weltſyſtem ihren Mittelpunkt haben, dieſer Gedanke

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Newtons iſt die hiſtoriſche Vorausſetzung Kants: das Weltſyſtem iſt die Dispoſition des Vernunft ſyſtems.

Kant verhält ſich zu jenen Erzeugern der Wiſſenſchaft, wie Philoſophie überhaupt zur Wiſſenſchaft ſich verhält; ähnlich wie die Poeſie zum Mythos. Der Mythos ſchafft naiv ſeine Bilder, als die Mittel ſeiner Auffaſſung der Dinge. Die Poeſie macht aus den Bilderdingen Sinnbilder und Gleich— niſſe. Der Dichter reflektirt mit dem Material der Mythen. So auch ſchafft die Wiſſenſchaft naiv mit der Naturkraft des Geiſtes, „in ihrem dunkeln Drange des rechten Weges ſich be— wußt.“ Nicht ſowohl den rechten Weg ſoll die Philoſophie die Wiſſenſchaft führen wollen, als vielmehr den dunkeln Drang ſelbſt zu einem rechten Wege erhellen. Der dunkle Drang iſt ſelbſt ein Problem, ſelbſt ein Naturvorgang, deſſen Geſetzlichkeit keine Pſychologie, und wäre ſie naturwiſſenſchaftlich vollendet, zu be— gründen vermag. Wie die Menſchheit überhaupt, ſo fängt jedes Kind mit dem Mythos an: die Freiheit des Gemüthes aber er— wirbt die Kultur in der Dichtung, in der Kunſt. So auch gelangt die menſchliche Vernunft, die Wiſſenſchaft, zu ihrem freien Selbſtbewußtſein, zu der Sicherheit ihres naturwüchſigen Thuns, zu der Klarheit über ihre Ziele, zur Erkenntniß ihrer Grenzen in der Philoſophie. Der Philoſophie iſt die Wiſſenſchaft gleichſam, was die Natur der Kunſt iſt.

Indeſſen die Philoſophie ſoll ſelbſt Wiſſenſchaft werden. Das kann ſie nur, ſofern ſie jenes Gleichniß wahr macht. Nicht die Natur als ſolche darf ihr Object ſein, ſondern die Naturwiſſen— ſchaft. Die Natur ſelbſt iſt der Vorwurf derer, die als ihren Syſtematiker Newton erkennen. Wie aber Natur wiſſenſchaft als ſolche möglich ſei, welche Bedingungen des Erkennens ſie vor— ausſetze, auf welchen Grundſätzen ſie beruhe, das ſind die Fragen, deren Beantwortung nach Kant die Philoſophie zur Wiſſenſchaft macht. Die Wiſſenſchaft als ſolche in ihrer Wirklichkeit anerkennen und die Bedingungen ihrer Möglichkeit erforſchen, das macht die

Philoſophie zur Wiſſenſchaft. Das iſt der Sinn des Titels „Pro— legomena zu einer jeden künftigen Metaphyſik, die als Wiſſenſchaft wird auftreten können.“ In dieſem Sinne haben von Anfang an in aller Stille viele Forſcher die Werke Kants als das uner— ſchütterliche Fundament aller künftigen Philoſophie verehrt, ſofern dieſe von dem Factum der Wiſſenſchaft ihren einzig fruchtbaren Ausgang nimmt und daſſelbe zu erklären zu ihrer wiſſenſchaft— lichen Sonderaufgabe macht.

Das hat Schiller in der bekannten Stelle ſeiner Briefe an Goethe von der Kantiſchen Philoſophie klar ausgeſprochen: „Es erſchreckt mich gar nicht, zu denken, daß das Geſetz der Ver— änderung, vor welchem kein menſchliches und kein göttliches Werk Gnade findet, auch die Form dieſer Philoſophie, ſowie jede andere, zerſtören wird; aber die Fundamente derſelben werden dies Schickſal nicht zu fürchten haben, denn ſo alt das Menſchengeſchlecht iſt und ſo lange es eine Vernunft giebt, hat man ſie ſtillſchweigend anerkannt und im Ganzen darnach ge— handelt“ 1). Und in bündigerer Weiſe noch hat der Göttinger Phyſiker Lichtenberg dieſen Grundzug der Kantiſchen Philoſophie bezeichnet: „Ich glaube, daß man durch ein aus der Phyſik gewähltes Paradigma auf Kantiſche Philoſophie hätte kommen können“ )).

In der That iſt die Kantiſche Philoſophie in ihrem theoreti— ſchen Theile zunächſt nichts anderes als die Legitimation jener phyſikaliſchen Exempel, der Nachweis ihres Erkenntnißwerthes im Zuſammenhang der auf Mathematik beruhenden Natur— wiſſenſchaft. Ein ſolcher Nachweis iſt die That des philo— ſophiſchen Genius. Darin allein hat ſich überall der philo— ſophiſche Genius bewieſen, in Platon und Descartes, in Leibniz und Kant, daß er die Frage geſtellt hat: Was iſt Wiſſenſchaft? Der philoſophiſche Vorzug Kants vor ſeinen Vorgängern läßt ſich demgemäß dahin beſtimmen: daß während Descartes und Leibniz zugleich an der Erzeugung der Wiſſen—

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ſchaft mitarbeiteten, ſeine Kraft geſammelt blieb auf jene einzige philoſophiſche Frage. Denn ſeit Newton war die Wiſſenſchaft eine gegliederte Wirklichkeit geworden.

Von dieſem Thatbeſtande aus muß man nun auch Kants Einfluß auf die mathematiſche Naturwiſſenſchaft verfolgen, aus dem hiſtoriſchen Geſichtspunkt: daß Kant ſelbſt New— tonianer war. Das waren und ſind die Forſcher auf jenem Gebiete alleſammt; wie ſehr ſie in neuen Methoden und an neuen Thatſachen ihre Erfindungskraft beweiſen, ſo bauen ſie doch auf den Grundlagen, welche theils naiv, theils mit unzulänglicher philoſophiſcher Neflerion Galilei, Kepler und Newton gelegt haben. Kant aber, als kritiſcher Philoſoph, prüfte jene Grund— lagen, erkannte in ihnen die allgemeinen Grundzüge des erken— nenden Bewußtſeins und beglaubigte ſie demgemäß als die geſicherten Vorausſetzungen der Wiſſenſchaft.

Daher find alle Newtonianer Kantianer. Und man darf behaupten, daß überall da Schwierigkeiten in den exacten Wiſſen⸗ ſchaften entſtehen, wo die Forſcher von den durch Kant beglau— bigten Principien derſelben abweichen. Von dieſen Schwierig— keiten haben die letzten Jahre manches belehrende Beiſpiel gebracht.

Es iſt charakteriſtiſch, daß in dem berühmten Raumproblema Gauß auf einen Gedanken zurückgreift, welchen Kant in ſeiner vorkritiſchen Periode hingeworfen hatte. Wenn man ferner Rie- mann's naturphiloſophiſchen Nachlaß lieſt, wird man es beklagen müſſen, daß dieſer Denker dem Einfluſſe Kants ſo loſe und ſo indirekt ſich geöffnet hat. In dem Gedanken aber, die Hypo— theſen der Wiſſenſchaft ausfindig zu machen, müſſen wir Geiſt von Kants Geiſte erkennen. Und wie in dieſer analyſirenden Methode der Grundlagen, ſo iſt auch die conſtructive Syſtematik aus dem Princip der Erhaltung der Kraft Newton-Kantiſche Schule obzwar ſich Spiritualiſten wie Materialiſten an der— jelben betheiligen. Aber jo wenig wie Secchi eine päpſtliche Stern— kunde einrichten konnte oder wollte, ſo wenig können Jene die Geiſter

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in das Aequivalent der Wärme einrechnen, oder Lichtmeſſungen denſelben anvertrauen.

An ſolchen Zeit- und geitungsfragen bemerkt auf einmal die allgemeine Kultur das intime Verhältniß, welches zwiſchen Philoſophie und mathematiſcher Naturwiſſenſchaft beſteht, und wie höchſt wünſchenswerth es ſei, daß die letztere daſſelbe hüte und pflege. Und ſo mögen wir vielleicht angeſichts ſolcher Symptome einer Philoſophie auf eigene Hand dem Gedanken Raum geben: daß Kants Einfluß nicht abgelaufen, und daß er nicht blos in dem Sinne hiſtoriſch ſein möchte, wie Platon und Descartes, Spinoza und Leibniz es unbeſtritten ſind; ſondern, wie Kant von dieſen ſeinen Vorgängern in dem hiſtoriſchen Momente ſich unterſcheidet, daß er Newtonianer ſein, auf das Factum einer Wiſſenſchaft ſich ſtützen konnte, ſo möchte ſein Ein— fluß in der Richtung dauernd bleiben: daß wir fortan aus ſeinen Dispoſitionen die Grundlagen und Erkenntnißbedingungen der Wiſſenſchaft ermitteln lernen.

Kant hat an dem, was ſeit kaum hundertundfünfzig Jahren als mathematiſche Naturwiſſenſchaft ſich aufgethan hatte, den neuen Begriff wiſſenſchaftlicher Wahrheit entdeckt. In der Bewährung dieſes Begriffs ſind alle mathematiſchen Naturforſcher Kantianer, wie die Ausbildung deſſelben den kritiſchen Philoſophen ausmacht. An den method iſchen, principiellen, ſyſtematiſchen Problemen des Natur— erkennens ſcheidet ſich der kritiſche Idealismus von allem Dogmatismus, ſowohl in der wiſſenſchaftlichen Specialforſchung wie in der philoſophiſchen Syſtematik. Wir zweifeln nicht, daß eine kommende Generation, die der Kämpfe um dieſe Fragen ent— hoben ſein wird, die wahrhafte, tiefe und durchgreifende Einwir— kung ſich klar legen wird, die heute nur derjenige zu überſchauen vermöchte, welcher eine Geſchichte der mathematiſchen Naturwiſſenſchaft in ſeinem Kopfe trägt; eine ſolche aber gehört einſtweilen in den Katalog der Deſiderate.

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Die mathematiſche Naturwiſſenſchaft trägt in der Sprache Kants a potiori den Namen Erfahrung. Neben ihr aber, und immer enger an ſie angeſchloſſen, baut ſich derjenige Theil der Erfahrung an, den wir beſchreibende Naturwiſſenſchaft zu nennen pflegen. Dieſem Bereiche gehört der Menſch ſelbſt an, daher denn auch mit den anthropologiſchen Fragen die Contro— verſen auf jenem Gebiete ſich verſchlingen. In der organiſchen Forſchung insbeſondere iſt der methodiſche Gedanke Kants noch immer nur das Schiboleth der Parteien. Während Johannes Müller auf den Kantiſchen Begriff des Organismus ſich beruft, glauben andererſeits Viele, daß Darwin in dem beſten logiſchen Motiv ſeines Deſcendenz-Gedankens etwas Neues gelehrt habe, was der Kantiſchen Idee der formalen Zweckmäßigkeit ſei es widerſtreite, ſei es dieſelbe überhole.

Dieſen Meinungen gegenüber kann man aus der Erſten denkwürdigen Unterredung, die Goethe mit Schiller geführt, dauernde Belehrung ſchöpfen. Von einer Sitzung der naturfor— ſchenden Geſellſchaft zufällig Beide zugleich herausgehend, kamen ſie in ein Geſpräch, in deſſen Verlauf Goethe dem Antipoden ſeine Metamorphoſe der Pflanze vortrug. „Als ich aber geendet, berichtet Goethe in den Tag- und Jahresheften, ſchüttelte er den Kopf und ſagte: „Das iſt keine Erfahrung, das iſt eine Idee.“ Ich ſtutzte, verdrießlich einigermaßen .. . ich nahm mich aber zu- ſammen und verſetzte: „Das kann mir ſehr lieb ſein, daß ich Ideen habe, ohne es zu wiſſen, und ſie ſogar mit Augen ſehe.“ Und nun entgegnete Schiller „als ein gebildeter Kantianer.“ ... Sätze wie folgender machten mich ganz unglücklich: „Wie kann jemals Erfahrung gegeben werden, die einer Idee angemeſſen ſein ſollte? Denn darin beſteht eben das Eigenthümliche der letztern, daß ihr niemals eine Erfahrung congruiren könne.“ Wenn er das für eine Idee hielt, was ich als Erfahrung ausſprach, ſo mußte doch zwiſchen beiden irgend etwas Vermittelndes, Bezügliches obwalten! Der erſte Schritt war jedoch gethan“).

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Dieſer Gedanke, daß ein „Vermittelndes, Bezügliches obwalten“ müſſe, enthält die Bedingung, unter der die ſtreitenden Schulen ſich verſöhnen werden. Dieſer Goethe'ſche Ausſpruch erklärt am beſten die durch die Ideen des Leibniziſchen Zeitalters von der Entſtehung der Organismen reichlich vorbereitete Kantiſche Anti— cipation.

Es iſt in jüngſter Zeit mit großem Nachdruck geſagt worden, daß Goethe den Begriff der mechaniſchen Cauſalität nicht gehabt habe. Wenn jedoch daraus gefolgert wird, daß Goethe überhaupt nicht Naturforſcher geweſen ſei, ſo darf nur an den ſchlichten Sinn jenes Begriffs erinnert werden, um jedes Aergerniß in dieſer Sache zu beſeitigen. Die mechaniſche Cauſalität iſt, von allen Unklarheiten ex machina befreit, diejenige Geſetz— mäßigkeit, welche in letzter Inſtanz auf den Principien der Mechanik beruht; das will ſagen, auf ſolchen Vorausſetzungen, welche ſich ausſchließlich auf die materiellen Bewegungsvor— gänge als ſolche beziehen, mit ausdrücklichem Abſehen von den— jenigen Eigenthümlichkeiten, welche das Organiſche von dem Phyſikaliſch⸗Materiellen unterſcheiden.

Der Anatom iſt nun zwar von der Einſicht durchdrungen, daß er mit der poſitiven Hülfe des Princips der virtuellen Geſchwindigkeiten die genaue Beſchreibung von dem Bau eines Naturkörpers nimmermehr zu leiſten vermöchte. Aber er ſtellt darum die Arbeit nicht ein, und ſagt nicht: die Morphologie ſei für die Mechanik zu concret; ſondern er ſagt: die Mechanik iſt für die Morphologie zu abſtract. Wo alſo die mechaniſchen Principien nach ihrem eigenen ſtrengen Begriffe ſich verſagen, da wäre es unwiſſenſchaftliche Licenz, die Grenzen ihrer Anwend— barkeit zu verrücken. Und doch verleugnen wir damit keineswegs ihre letzte Competenz; nur gilt es einzuſehen, daß ſie nicht überallhin als poſitive und zureichende Grundſätze uns regieren können. Das können ſie nur innerhalb der Abſtractionen materieller Bewegungsarten. Wo ſie jedoch als Grund—

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ſätze uns nicht beherrſchen wollen, da ſollen ſie, und nur ſie ſelbſt, als Ideen uns leiten, unſere Forſchung befruchten und zu der endlichen Mündung alles Naturerkennens, die ſie darſtellen, als dem Ideale hinleiten. Schiller hat daher Recht, die Metamorphoſe der Pflanze eine Idee zu nennen, im Unter— ſchiede von Kategorie und Grundſatz. Aber Goethe hat nicht minder treffend den nothwendigen Zuſammenhang betont, der zwiſchen Ideen, die er zu ſehen glaubte, und der Erfahrung in dem Begriffe der Natur obwalten müſſe.

„Das hat ſie nicht zuſammen gebettelt,

Sie hat's von Ewigkeit angezettelt;

Damit der ewige Meiſtermann Getroſt den Einſchlag werfen kann.“)

Es iſt wahrlich kein geringfügiges Symptom des Kantiſchen Einfluſſes in der Grundfrage der organiſchen Naturforſchung, daß der Entdecker der Pflanzenzelle Mathias Schleiden ſich als den Schüler desjenigen Mannes bekennt, den wir in der Auf— faſſung des Begriffs der Wiſſenſchaft als den Nachfolger Kants bezeichnen dürfen, Jacob Friedrich Fries.

Allgemeiner bekannt iſt die Einwirkung, welche die Phyſiologie in Ernſt Heinrich Weber und ganz beſonders in Johannes Müller von Kant erfahren hat. Und mit Dankbarkeit wird ſicherlich immerdar der univerſale Geiſt verehrt werden, welcher von den Verirrungen der romantiſchen Philoſophie ſich abgelöſt und kraft ſeines Wahrheitseifers zur echten Speculation der wiſſenſchaftlichen Erfahrung ſich hindurchgerungen hat.

Aber wie ſeine Schüler in der Anatomie und Phyſiologie der Sinnesorgane zu dem Geiſte Kants beſtimmter noch ſich be— kehrt haben möchten, ſo müſſen wir ſorgen, daß aus dieſer Vorhalle erkenntnißtheoretiſcher Kämpfe ebenſo die letzten Erinnerungen eines abenteuerlichen Apriorismus verſcheucht werden, wie nicht, minder, daß der Empirismus in ſeine Schranken verwieſen werde. Als eine Maxime der Forſchung iſt der Empirismus ein frucht—

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bares Prinzip, deſſen Widerpart ſchlechthin die ignava ratio iſt; als ein ſyſtematiſch philoſophiſcher Standpunkt dagegen hat er heute weniger noch eine hiſtoriſche Berechtigung, als in den Tagen Ernſt Platner's.

Es mahnt die Zeit, daß wir der Betrachtung derjenigen Einwirkungen uns zuwenden, welche Kant, ſeinem Primat der praktiſchen Vernunft zufolge, am angelegentlichſten erſtrebt haben mochte.

Im ganzen weiten Gebiete der ſogenannten Geiſteswiſſen— ſchaften dürfte es zunächſt der Stil ſein, durch welchen Kant auf uns gewirkt hat, mächtiger als Klopſtock und Leſſing, und breiter jedenfalls eingreifend als Winckelmann. Ich be— haupte kühnlich, daß weder Schiller, noch Plato ſelbſt, den Ausdruck am Gedanken gemeſſen, ſchöner als Kant ge— ſchrieben haben. Alle Form muß die Form ihres Stoffes ſein. Und nun prüfe man, ob Plato in den gewaltigſten Zügen des Sophiſtes oder des Theätet packender und ſchärfer zugleich die Kraft der Wiſſenſchaft dargeſtellt habe, als in den dornigſten Partien der Hauptwerke wie in ſeinen vielen anmuthigen Auf— ſätzen Kant dies gelungen ſcheint Ich könnte nicht zugeſtehen, daß Plato ergreifender die Macht der Tugend geſchildert habe, als der, welcher den Satz geſchrieben: „Pflicht, du erhabener großer Name.“ Auch im Phaedrus und Sympoſion iſt die mythen— freie logiſche Darſtellung der äſthetiſchen Grundgedanken keines— wegs feiner und treffender in Entwicklung und Ausdruck, als der Geſetzgeber der äſthetiſchen Urtheilskraft ſeine Normen anzupreiſen vermochte. Und warum will man nicht ſehen, mit welcher künſtleriſchen Ironie die „Vornehmen“ und die Sophiſten ſeiner Tage von Kant gezeichnet ſind?

Niemand von den Neueren hat, außer Kant, vor der Omni— praeſenz aller Standpunkte und Parteien eine ſolche Sache ge— führt, ſo daß in einem „Zwar“ des Vorderſatzes der Spiritualiſt feſtgehalten, und in einem „Aber“ des Nachſatzes der Empiriker

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angezogen wird, während in den Zwiſchenſätzen und dem adver- biellen Ornament alle jene vielnamigen Zwiſchenglieder vertheilt werden, die die Kluft der Weltanſichten zu überbrücken ſich be— mühen. Wer Kants Sätze langathmig findet, der prüfe ſich ſelbſt nur erſt, mit welchem Phlegma er die Entſcheidung der großen Fragen abzuwarten Geduld behält, und mit welchem eklektiſchen Wohlgefühl er jederzeit ſeine Sätzlein ins Trockene zu bringen befliſſen iſt. Kants Sätze ſind an überaus zahlreichen Stellen auffallend kurz: da nämlich wo der Leſer und der Lehrer bei einem gewonnenen Satze verweilen ſollen. In der That dürften in dieſer mächtigen Schriftenreihe nicht ſehr viele Perioden be— zeichnet werden können, die ſchwerfälliger und gedehnter wären, als es ſchließlich einem michelangelesquen Stile menſchen— möglich wird, ſeine Plane zu geſtalten.

Und bei allem Ringen welche claſſiſche Ruhe. Verſteht man doch unter der Claſſicität im Stil die Ruhe in der Bewegung der Gedanken. Die Gefaßtheit, die Sammlung und Ueberſchau der Ideen, währenddem ſie aufmarſchiren, und das Ahnenlaſſen leiſeſter Motive, verwandter wie gegneriſcher, die nicht hier zum Durchbruch, wohl aber zum Durchſcheinen kommen ſollen das iſt überall und zumal an den Hauptſtellen der Charakter der Kantiſchen Darſtellung. Wo indeſſen der Bau ſo groß und weit iſt „Kant unternahm, jagt W. Humboldt, und vollbrachte das größeſte Werk, das vielleicht je die philoſophirende Vernunft einem einzelnen Manne zu danken gehabt“) wo der Bau— plan ſo gewaltig iſt, da kann nicht Eleganz den Bauherrn ſpielen. Majeſtät iſt der Ausdruck, mit dem ein Nie buhr Kants Stil bezeichnet.“) „Wenn ich einige Seiten in Kants Schriften leſe, iſt es mir, als wenn ich in ein hell erleuchtetes Zimmer träte“, ſagt Goethe.

Darin beſteht die nächſte und unmittelbarſte Einwirkung Kants. Die Nation hat mit ihm in den Dingen, die die An— liegenheit Aller bilden, einen großen Schriftſteller empfangen.

Das war ſelbſt Leibniz nicht; wie denn überhaupt die großen Philoſophen des ſiebzehnten Jahrhunderts nicht als Schriftſteller im großen Stile gelten können. Descartes hat ſehr ſchön ge— ſchrieben; aber wie überaus wenig in eigentlicher Darſtellung. Auch Leibniz zeigt hinlänglich, daß ihm gegeben war, wie ein Genie zu ſchreiben. Aber in ſeiner univerſalen Arbeit hat er die erſtaunliche Contingenz ſeiner Gedanken nirgend zu einem ein— heitlichen Werke ſeiner Muſe gefaßt. Und obſchon in ihm ſelbſt die Urkraft des deutſchen Wortes brauſt, ſo ſind doch ſeine Haupt— werke entweder in dem kosmopolitiſchen Idiom des Latein, oder in dem franzöſiſchen Correspondenzſtil gedacht, der vollends in ſeinen Tagen zur Diplomatenſprache ſich aufſchwang. Zerſplittert, wie das Reich, iſt ſeines größten Mannes Schreibart. Und ſo mußte es ſeinen tüchtigen Anhängern verſagt bleiben, den Sprach— genius ihres Volkes zu erwecken. Die Beſten lauſchen der Fremde. Moſes Mendelsſohn, im Gefühl des Deutſchthums, auch der Vaterlandsliebe, ſo wunderlich es klingen mag, von keinem Ge— ringern wie Danzel) als ein ſtiliſtiſches Vorbild bezeichnet, ſchreibt doch auch nur in der Manier der Franzoſen und Eng— länder. Und Kant ſelbſt befleißigt ſich die Jahre ſeines Mannes— alters hindurch der franzöſiſch-engliſchen Eleganz, des gefälligen Witzes, der behaglichen Breite und der epigrammatiſchen Pointe. Erſt da er ſeines Lebens Summe zu ziehen ſich anſchickt, in ſeinem ſieben und fünfzigſten Lebensjahre, da nimmt auch ſein Stil das Gepräge des Genius und den Grundzug deutſcher Art an: die terminologiſch pünktliche und ſyſtematiſch überſchauende Gravität.

Wenn Leibniz mit aller ſeiner Sehnſucht nach Einheit und Einigkeit auch in ſeinem Stile die Spaltung des deutſchen Weſens in Staat und Kirche darſtellt, ſo preiſt Kant den Staat und das Zeitalter Friedrichs. Das Zeitalter Friedrichs nennt Kant ebenſo häufig das Zeitalter der Aufklärung. Und das ſoll nicht heißen, daß ein Wöllner ihm früher als zehn Jahre vor ſeinem Tode das Handwerk gelegt haben würde. Kant verſteht unter

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der Aufklärung die erweiterte Denkungsart. Dieje aber dürfte ſich hauptſächlich in zwei Intereſſen bezeugen.

Erſtlich muß innerhalb der Weltbegebenheiten das Treiben der Menſchenwelt als eine ganz beſondere Angelegenheit ausge— zeichnet, mit Beſchaulichkeit ſtudirt werden. Daraus entſteht das Weltgericht der Geſchichtsforſchung. Das Studium der Ge— ſchichte wurzelt ſchlechthin in dem Glauben, daß der Menſch nicht lediglich ein Primate, oder günſtigſten Falls ein Zweihänder ſei.

Aber unter der moraliſchen Determination könnte die Proſa des Hiſtorikers in engem Puritanismus befangen bleiben. So iſt es verſtändlich, daß die Einfalt des hiſtoriſchen Urtheils durch die Weite des äſthetiſchen Blicks vor Einſeitigkeit geſchützt wird. Das äſthetiſche Intereſſe iſt das zweite Symptom er— weiterter Denkungsart, das mit dem erſten ſich verbindet.

In dem Spiel der Künſte und Kunſtgebilde bietet ſich näm- lich dem Hiſtoriker ein Analogon zu der Mannigfaltigkeit natur⸗

geſchichtlicher Erſcheinungen und Geſetze. Die Mannigfaltigkeit der Kulturverſuche, welche die Völker zur Einrichtung ihrer Staaten, zur Verfaſſung ihrer religiöſen und ſittlichen Ideen im Wechſel der Zeitalter offenbaren, ſie ſtellen ſich unter dem Bilde äſthetiſcher Freiheit gleichwie naturgeſchichtliche Varietäten dar; und bleiben doch nichts deſtoweniger sub specie aeterni, in dem Reiche des Ewigen, Menſchlichen, Sittlichen.

Der mächtige Impuls, den Kant den hiſtoriſchen Studien vielfach gegeben hat, beruht alſo darauf, daß er uns eine Ethik und eine Aeſthetik geſchaffen hat; und zwar beide ver— bunden; nicht allein eine Ethik, ſondern mit ihr eine Aeſthetik, und nicht früher eine Aeſthetik, als bis vorher eine Ethik be— feſtigt war.

In der Verbindung beider über das Gebiet der Er— fahrung hinausliegender Intereſſen, an einem äſthetiſchen Geſetze neben dem Sittengeſetz, in dieſer Verbindung beſteht der deutſche Idealismus.

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Außerhalb Deutſchlands wurde die Ethik, ſoweit ſie nicht als triebartig reſpectirt wurde, in äſthetiſchen Enthuſiasmus ver— flüchtigt oder an die Kette der Theologie geſchmiedet. Das iſt deutſcher Idealismus in einer von nationaler Ueberhebung nachweisbar freien Beſtimmtheit: Zunächſt Selbſtändigkeit der Ethik, und zwar einer ſolchen, welche mit aller Energie des Ver— nunftglaubens, um dieſes ſchöne Wort nicht zu vermeiden der Vernunft huldigt, des Reich der Ideen bekennt. Zugleich aber, unabhängig von ihr, und doch innerlichſt mit ihr ver— bunden, ward der Begriff der Natur in der Kunſt zur ſchönen Natur erweitert. Auch im Aeſthetiſchen wird, wie Kants Ausdruck lautet, „hinausgeſehen“ auf ein Intelligibles, welches ähnlich und doch nicht gleich dem Sittlichen die natur— wiſſenſchaftliche Erfahrung begrenzt, nicht einſchränkt, ſondern erweitert.

Auch dieſe Erweiterung hat der deutſche Genius bereits in Leibniz angeſtrebt und ſeinen Nachfolgern in Pflege gegeben, für die wir nicht nur den großen Kunſtforſchern unter ihnen, ſondern auch den Popularphiloſophen nicht dankbar genug ſein können. Aber zu einem ewigen Beſitze wurde die äſthetiſche In— ſtanz erſt durch die Kantiſche Grundlegung. Und wenn an der perſönlichen Miſſion des „Alten vom Königsberge“ etwas räthſel— haft erſcheinen mag, ſo dürfte es dies ſein: daß der Mann, der noch Wieland neben Homer nennt, dieſe tiefſten Blicke in ein Gebiet zu thun vermochte, das ihm nicht vertraut war, wie das der Naturwiſſenſchaften. Das iſt die Logik der Methode. Das iſt die Urkraft des deutſchen Idealismus. |

Dieſe in ſelbſtändigen ethiſchen und äſthetiſchen Principien vereinigte Wirkung des Kantiſchen Idealismus hat ſich auf allen Gebieten der Geiſteswiſſenſchaften, wie nicht minder in den heißen Kämpfen des politiſchen Lebens bethätigt. Die Zeit gebricht, von dem Einfluß auf die Dichtung heute zu reden, die zur Claſſicität bei uns gediehen iſt unter dem Ringen mit den Kantiſchen

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Problemen, zu ihrer ſittlichen Rechtfertigung, wie zur Klärung ihrer eigenthümlichen Principien. Nicht nur bei Schiller iſt bekanntlich durch die philoſophiſche Reflexion die ſchöpferiſche Frei— heit beflügelt worden, ſondern auch bei Goethe, der überhaupt von Kant weit mehr geleſen, gewürdigt und angeeignet hat, als gemeinhin angenommen wird. Auch der edle Dichter des Prinz von Homburg hat dem Studium Kants obgelegen; es mag hier unerwogen bleiben, wie weit dieſer unſer größter Dramatiker nach Schiller auch für die Analyſe der Motive durch den Geiſt der Kritik gefördert wurde. Und Chamiſſo iſt vielleicht nicht minder als Naturforſcher wie als Dichter angezogen worden.

Auch von der breiten Einwirkung Kants auf die deutſche Theologie genüge der Satz Albrecht Ritſchl's als gültiges Zeugniß: „Deshalb hat die Fortbildung der Erkenntnißmethode der Ethik durch Kant zugleich die Bedeutung einer prak— tiſchen Wiederherſtellung des Proteſtantismus.““)

Wer möchte aber den Aufſchwung, den die cla ſſiſche Alter— thumswiſſenſchaft genommen hat, außer Zuſammenhang mit dem äſthetiſchen Idealismus ſetzen. War nun für die Fragen nach dem Weſen und Urſprung der Sprache der thesoretiſche Idealismus leitend, für die Erklärung und Kritik der Claſſiker das erweckte Schönheitsgefühl begeiſternd, ſo wirkte für die Re— conſtruction der Geſchichte, abgeſehen von der Methode der Kritik, der ethiſche Idealismus als regulative Idee, der Glaube an die Logik der Vorſehung.

Und in allen dieſen Richtungen der philologiſch-hiſtoriſchen Forſchung ſind die anerkannt Erſten geſchulte Kantianer. In der Begründung der Sprache W. v. Hum boldt; in der philologiſchen Kritik Gotfried Hermann; in der Geſchichte Niebuhr.

Der „Staatsmann von Perikleiſcher Hoheit“ wie Böckh Hum boldt genannt hat, iſt von ſeiner Jugend bis in ſein Alter Anhänger Kants geweſen, und zwar in allen ſeinen zır= beiten. „Von ſeiner politiſchen Erſtlingsſchrift an, ſagt ſein

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Biograph, bis zu der Schrift über Hermann und Dorothea, in ſeinen Briefen an Schiller, wie in ſeinen Gedichten, und in einem Theil ſogar ſeiner amtlichen Aufſätze“ ſei die Anlehnung an Kants Principien unverkennbar. „Vornehmlich ſpricht uns den Buchſtabe und der Geiſt Kants auch aus ſeinen linguiſtiſchen Arbeiten an.“ °) Humboldt hat die Verbindung von Poeſie und Philoſophie als den Charakter der Deutſchheit be— zeichnet. So hat er ſelbſt mit dem Schwunge ſeines äſthetiſchen Gemüthes die ſittlichen Motive des Idealismus vor romantiſchem Aeſtheticismus bewahrt und als Staatsmann hat er in den ſchwerſten Zeiten den Kulturberuf Preußens „durch wahre Auf— klärung und höhere Geiſtesbildung“ neu gegründet.

Auch Gotfried Hermann iſt von der Aeſthetik zu Kant geführt worden Mit Longin beſchäftigt, hört er, daß Kant über das Erhabene geſchrieben habe, und bemerkt alsbald, daß er, um die Kritik der Urtheilskraft verſtehen zu können, die der reinen und die der praktiſchen Vernunft bewältigt haben müſſe. Nach— dem er aber den Gehalt des Lehrgebäudes zu ſeinem Eigenthum erworben hatte, da begann er nicht etwa ſelbſt ſyſtematiſch zu philoſophiren, ſondern jenen für dasjenge Gebiet fruchtbar zu machen, zu dem ihn ſein Genius hintrieb.

Hermann hat, ſagt Otto Jahn von ihm: „indem er die künſtleriſche Auffaſſung der Sprache, der Rhythmen, und dadurch der antiken Poeſie, wie Winckelmann die der bildenden Kunſt, er— ſchloß, mittelbar weſentlich zu dem großen Bau unſerer Literatur mitgewirkt, und es iſt ein glücklicher Gedanke, der ihm zwiſchen Leſſing und Kant einen Platz anwies.“ 0) Und dieſer große Forſcher hat „mit unſäglichem Eifer“ Kants Werke ſtudirt, iſt, um die Wirkung des lebendigen Wortes zu erfahren, nach Jena zu Reinhold gezogen, von deſſen mehr populariſirendem Vortrage aber enttäuſcht, von Neuem an das ſelbſtändige Studium gegangen, und ſo „kehrte er als ein ausgebildeter, wenngleich freier Anhänger der Kantiſchen Philoſophie zurück, welche er An—

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fangs in Vorleſungen über Kants Kritik der Urtheilskraft (1795) und Logik (1798) vortrug.“ 10)

Und wie bei Humboldt, ſo blieb auch bei Hermann die Ueber— zeugung von der methodiſchen Wahrheit der Kantiſchen Philoſophie der Glaube ſeines Lebens. Daher hielt er „ſich bei feierlichen An— läſſen nicht zurück, Kant zu preiſen als den „Mann göttlichen Geiſtes“, der „wohlvorbereitet durch die übrigen Wiſſenſchaften hin— abzuſteigen wagte in das Dunkel des Gemüthes.“ Und mit welchem Eifer predigt er bei ſolchem Anlaß gegen die „modernen Sophiſten“, die „den Pelion auf den Oſſa thürmen.“ „Ihr ſehet, ruft er, bis wieweit Einige aus dieſer neueſten Philoſophen— heerde vorgegangen ſind: die weil ſie die mathematiſchen, phyſi— kaliſchen, naturgeſchichtlichen Wiſſenſchaften vernachläſſigt hatten, die Natur der Dinge ihren Meinungen anpaßten, und die Welt, die von ewiger Zeit unveränderlich daſteht, die haben fie, mirabile dietu, von Neuem geſchaffen, nach anderer Ordnung, nach anderen Geſetzen. Mit Recht belachen dies die fleißigen Forſcher der Natur.“ 12) Und auch als Charakter, als deutſcher Patriot, wie als Lehrer und Freund ſeiner Schüler hat er ſeinem Meiſter Ehre gemacht. „Auch auf ſeine ſittliche Ausbildung, ſagt Otto Jahn, dürfen wir unbedenklich der Kantiſchen Philoſophie eine be— deutende Wirkung zugeſtehen.“ 17)

Größer und tiefer noch an Kraft und Geſtaltung, und hoch und rein in ſittlicher Geſinnung ſteht Barthold Georg Nie— buhr da, der Schöpfer der kritiſchen Geſchichtswiſſen— ſchaft, den wir als Schüler Kants bezeichnen dürfen. Auch Niebuhr iſt von Reinhold, der inzwiſchen nach Kiel gegangen war, in die Kantiſche Philoſophie eingeführt worden. Aber auch er wird durch dieſe Vorleſungen zum ſelbſtändigen Studium Kants und durch daſſelbe zu ſeinen eigenen Arbeiten angeregt. „Ich bilde mir nicht ein, ſchreibt der mit achtzehn Jahren be— reits bekannte Gelehrte an ſeine Eltern, daß ich je eigentlicher kritiſcher Philoſoph werde. Nein, das darf ich nicht hoffen, weil

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ich nicht ein ganzes Leben darauf verwenden darf.“ 1) Aber er wolle wenigſtens „in den Sinn der kritiſchen Philoſophie einzu— dringen ſtreben.“ „Indeſſen iſt die Kritik der Vernunft, ſchreibt er vier Wochen ſpäter, 15) verhältnißmäßig nicht ſo überſchwer, und einige Capitel ſind mir recht ſehr verſtändlich, ungemein ein— dringend und wenn man ihn nur einmal verſteht, ſehr beſtimmt vorgekommen . .. Ich hänge den Kantiſchen Grundſätzen von ganzem Herzen an.“ Er bezeichnet die entſcheidende Eigen— thümlichkeit als „einen großen Vorzug der kritiſchen Philoſophie, die Anfangs am ſchwerſten iſt, und wenn man nur dieſen Anfang recht gefaßt hat, hernach immer leichter wird.“ Im Winter möchte er „zur Uebung eine Vorleſung über die Principien der kritiſchen Philoſophie für Freunde halten . .. Aber mein Beruf iſt zur Geſchichte und der will ich vielleicht meine einſt erworbenen philoſophiſchen Kenntniſſe dienſtbar machen.“ „Ich will die Grundſätze der Philoſophie zur Bearbeitung der Ge— ſchichte anwenden.“ 16) Er ſtudirt „Philoſophie und die von ihr abhängende Phyſik und Naturkunde, verbunden mit Mathe— matik und Aſtronomie“ und nicht minder Chemie. „Und doch wird Geſchichte mir immer lieber, ſo ſehr, daß eifrige Geſchichts— lektüre meinem Eifer in der Philoſophie ſchadet, dahin gegen feine Philoſophie der Neigung zur Geſchichte ſchaden kann.“ So empfindet und taxirt er richtig an ſich ſelbſt den Ein— fluß echter Philoſophie auf die wiſſenſchaftliche Forſchung aller Art. „Eine ſyſtematiſche Philoſophie als die Grundlage aller ſichern Ueberzeugungen, und alles ſcharfen Denkens; mehr aber noch überhaupt Methode im Denken, Schreiben und Ar— beiten ... ſind unnachläßliche Bedingungen für jeden, der öffentlich auftritt“ ſo ſchreibt er drei Jahre ſpäter. 17) Und als er im Jahre 1798 nach England und Schottland ging, da be— richtet er: „Kants Name iſt hier ſchon ſehr bekannt. . . Aber die Vorſtellungen von ſeiner Philoſophie ſind curios verworren, und ich müßte mich ſehr täuſchen oder ſie wird ſich hier nie

feſtſetzen“ ) Hier erkennt er, daß ſeines Freundes Ja co bi Lob für den philoſophiſchen Sinn der engliſchen Nation „ganz unpaſſend und in Unkunde gegründet“ ſei. „Meine Liebe für Jacobi iſt dieſelbe, aber meine Verehrung nicht mehr ſo unbeſchränkt, und ich fürchte daß ihn zum Muſter, ſtatt zum Gegenſtand einer lebhaften Be— wunderung und Liebe zu nehmen, gefährlich iſt.“ So ahnt er den nationalen Geiſt in Kant, der den deutſchen Idealismus vom engliſch-franzöſiſchen unterſcheidet, und erkennt die Gefahr, die Jacobi's Mißverſtändniß über den Fortgang der deutſchen Philoſophie gebracht hat. Auch läßt er in einem unmittelbar folgenden Briefe den Zuſammenhang erkennen, der zwiſchen Kant und dem nationalen Schriftſteller beſteht. „Die Engländer ſcheinen in der That gegenwärtig keinen einzigen großen Schriftſteller zu haben, einen ſolchen, auf deſſen Worte man mit Begierde harren und mit Liebe und Lebhaftigkeit bei ihnen verweilen könnte. . . . Philoſophie liegt gänzlich dar— nieder.“

Und bei dieſer Ueberzeugung von der Wahrheit der Kantiſchen Grundlagen iſt er bis in die Tage ſeiner weichſten Gefühle ver— blieben. „Die Ahnungen und Ausſichten haben ihre Wahrheit und tiefere Bedeutung doch nur durch und in der feſten ein— dringenden Beſchauung der Grenzen der Wiſſenſchaft: abgeſondert von ihr werden fie Träume und Luftbilder“ 19). Und welche Sittlichkeit entſprang aus dieſem Kriticismus!

Gemeinſam waren dieſen Kantianern zwei Züge, ein theore— tiſcher und ein ethiſcher. Alle drei ſchätzen die Mathematik als unerſetzliches Bildungsmittel zur Wiſſenſchaft. Von Her mann und Niebuhr wiſſen wir, daß ſie Mathematik bis in ihr Alter ſelbſt gepflegt haben. Und wie Humboldt ſie geſchätzt, hat er als Miniſter in einer Inſtruction gezeigt. Dieſe Thatſache aus der modernen Bildungsgeſchichte iſt um ſo belehrender, als ſie von der andern Seite ergänzt wird: ſowohl Gauß, wie Jacobi, wie Johannes Müller haben längere Zeit geſchwankt, ob ſie claſſiſche

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Philologie ſtudiren, beziehungsweiſe ob fie bei derſelben verbleiben ſollen.

Bezüglich der ethiſchen Gemeinſamkeit iſt von dieſen drei Kantianern zu ſagen: daß ſie als große und reine Idealiſten gelebt und gewirkt haben. Wer möchte je Niebuhr's „Lebens— nachrichten“ geleſen haben, ohne gerührt worden zu ſein von der Zartheit der Gefühle, die dieſen Heros bewegt haben, ohne er— griffen worden zu ſein von der ſtrengen Durchbildung, von der herben Hoheit ſeines Charakters, den Th. v. Schön als „engel— rein“ bezeichnet hat.

So hat Kant auf die Größten in derjenigen Wiſſenſchaft eingewirkt, auf die ſeine eigenen Arbeiten am wenigſten ſich er— ſtreckt hatten. Von der Alterthumswiſſenſchaft aber ging eine Be— lebung derjenigen Wiſſenſchaft aus, für welche Kant nicht blos die Vorbedingungen beſtimmt, ſondern auch die Anfangsgründe bearbeitet hat: der Rechtswiſſenſchaft. Der Grund für die Rechtslehre war in dem Zuſammenhang von Ideen nachgewieſen, welcher hiſtoriſch wie logiſch als die Grundlage des Rechtes gilt, dem Syſtem der Sittenlehre.

Aber in dieſem Verhältniß der Rechts- zur Sittenlehre lag hinwiederum die große Gefahr für die wiſſenſchaftliche Selbſtändig— keit der erſteren, nicht freilich in ihrer Exiſtenz, aber in ihrer Methode. Dieſe Gefahr bezeichnet das ſogenannte Naturrecht. Und doch muß es in der ſittlichen Natur des Menſchen gegründete, daher unwandelbare Prinzipien geben, die unter den hiſtoriſchen Verhältniſſen des poſitiven Rechtes immerdar zur Anwendung ringen werden. Es kann alſo die innere Selbſtändigkeit des poſitiven Rechtes nicht durch die gänzliche Verleugnung alles Naturrechts in jedem Sinne zu behaupten ſein. Sollte dem— nach die Rechtswiſſenſchaft von den Abenteuern des Naturrechts zu einer geſchichtlichen Erkenntniß des gewordenen Rechts ſich er— mannen, dabei aber den Halt an der ſittlichen Natur des Menſchen nicht verlieren, ſo war in zwiefacher Hinſicht die philoſophiſche

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Belehrung nothwendig. Erſtlich mußte theoretiſch eine methodiſche Einſicht gewonnen werden von dem Begriffe, auf dem das Natur— recht von Alters her beruht, dem Nothwendigen oder Aprioriſchen. Es mußte gelernt werden, daß das a priori niemals und nirgends eine Entlaſtung und Anticipation des empiriſchen Forſchungs— materials bedeuten dürfe, daß alſo die Thatſachen der Rechts— geſchichte als ſolche nach der Methode der philologiſch-hiſtoriſchen Forſchung zu ermitteln, auszulegen und ſyſtematiſch zu ordnen ſeien. Andererſeits war der in der Menſchheit nie verlorene, und im Zeitalter Leibnizens am wenigſten vergeſſene Gedanke zu methodiſcher Klarheit und Beſtimmtheit zu bringen: daß zu den immanenten Thatſachen der Rechtsgeſchichte ſelbſt diejenige Idee gehöre, welche den naturrechtlichen Grund aller Rechtsverfaſſung ausmacht: die Idee der Sittlichkeit, der EN. der Menschheit.

Auch hier konnte von Kant gelernt werden einmal die Methode bei der Erforſchung des poſitiven Rechts, und ſodann die Beſtimmtheit, in welcher der Zuſammenhang und der Unter— ſchied von Recht und Sittlichkeit feſtzuhalten ſei. Die eine Be— ziehung iſt eine abſtract logiſche, die andere eine mehr perſönlich ethiſche; die eine erfordert vorzugsweiſe den wiſſenſchaftlichen Kopf, die andere zugleich die warme, ganze ſittliche Perſönlichkeit.

Unter den Männern, welche dem Einfluſſe Kants ſich hin— gegeben, könnte auch Savigny genannt werden, der, wie aus ſeinen Briefen an Fries hervorgeht, nicht blos mit Kant ſich beſchäftigt, ſondern einen fundamentalen Punkt mit genialem Blick kritiſch berührt hat. 20) Diejenigen Rechtsgelehrten aber, welche neben Savigny als die hervorragendſten gelten, und von denen der eine ſogar vor Savigny die hiſtoriſche Schule begründet hat, haben ſich ihr ganzes Leben lang als Kantianer bekannt: Thi— baut, Hugo und Feuerbach.

Anton Friedrich Juſtus Thibaut war zuerſt mit ſeinem Bruder, dem ſpäteren dortigen Mathematiker nach Göttingen ge—

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gangen, im folgenden Jahre aber (1793) zog er nach Königs— berg. „Der Aufenthalt hier, ſagt der Herausgeber ſeines Juriſti— ſchen Nachlaßes, war entſcheidend für Thibaut's geiſtige Richtung, denn er wurde erſt Zuhörer von Kant, dann ſein eifriger Schüler, und endlich der treueſte Verehrer des großen Mannes, was er auch bis in ſeine ſpäteſten Tage ge— blieben iſt.“ 2!) Und auch bei ihm zeigt ſich der echte philo— ſophiſche Einfluß in der gründlichen Specialforſchung. Die kritiſche Philoſophie habe in wenigen Jahren das ganze Gebiet der Wiſſen— ſchaften bebaut, daher entſtänden die vielen Gegner: aus „dem vorſchnellen Anwenden kaum entdeckter Grundjäße”.??) Um die— ſem Fehler zu ſteuern, dringt er auf genaue hiſtoriſche Forſchung, aber zugleich und zu deren Nutzen ſelbſt auf Philoſophie. „Es laſſen ſich nicht, wie Montesquieu will, Geſetze durch Geſetze, Ge— ſchichte durch Geſchichte oder beide zugleich aus und durch ein— ander erklären.“ 23) „Ohne Philoſophie giebt es keine vollendete Geſchichte, ohne Geſchichte keine ſichere Anwendung der Philoſophie.“ 2) Das Letztere iſt richtig. Bei dem Vorderſatze möchte der Aus— druck „vollendet“ an Klarheit zu wünſchen übrig laſſen. Denn die Geſchichte hat doch ihr vollkommenes Eigenleben in der Naturkraft der menſchlichen Dinge und des Verkehrs der Völker. Es ſollte heißen: ohne Philoſophie giebt es keine begründete Geſchichte. Das iſt wirklich ſein Gedanke. Denn den zweideuti— gen Namen des Kantianers ablehnend, ſagt er: „Ich würde mich glücklich ſchätzen, wenn ich verdiente, ein denkender Anhänger des großen Mannes zu heißen, welcher ſelbſt ſeinen Gegnern ehr— würdig iſt.“ Und ſo genannt zu werden, verdient er dadurch, daß er die Frage der philoſophiſchen Auslegung des poſitiven Rechts in der Forderung fixirt hat: daß es eine praktiſche Ver— nunft giebt, „daß nichts in der Welt indifferent iſt, und daß in dem Menſchen kein herrſchendes Vermögen weder über noch neben der praktiſchen Vernunft exiſtirt.“ Thibaut fordert vornehmlich

deshalb die Philoſophie für die Rechtswiſſenſchaft, weil er kämpft um die Erkenntniß des Zuſammenhangs von Recht und Sittlichkeit.

Hugo dagegen hat mit ſchärferem Blick die theoretiſche Seite der kritiſchen Methode erfaßt. Auch er ging nach Göttingen, wo er Geſchichte bei Spittler, Philoſophie bei Feder hörte. Auch hat er eine Abhandlung, die niemals public irt worden iſt, über „Compenſation der Empfindungen“ damals geſchrieben. Nach Löſung einer Preisaufgabe ging er als Prinzen-Erzieher an den Deſſauer Hof, wo er mit dem Kriegsſchriftſteller General von Berenhorſt, mit Baſedow, Behriſch und Buttmann zuſammen war. In dieſer Zeit ſcheint er ſeine Kant-Studien abſolvirt zu haben. „Und er blieb, ſagt ein Schüler über ihn, für immer überzeugt, Kants Lehre enthalte in ihren Prinzipien ein für alle Mal die Wahrheit.“) Freilich „nur in den Principien“; ſonſt wäre er nimmermehr ein echter Kantianer. Die Ausführungen, die Kant ſelbſt macht, erklärt er einſichtig für „Illuſtrationen“. Aus dieſem Unterſchied erklärt ſich ſein lebendiges Verſtändniß des Kantiſchen a priori. Und ſomit befeſtigte ſich ſeine Gründlichkeit und Wahrhaftigkeit als hiſtoriſcher Rechtsgelehrter. „Wie hat man doch glauben können, eben der Schriftſteller, welcher Platons politiſchen Ideen mehr Gerechtigkeit widerfahren läßt als beinahe irgend Jemand (Kritik der reinen Vernunft S. 372), welcher es a priori unentſchieden läßt, ob Gütergleichheit oder ob Eigenthum in die Maxime aufgenommen werde (Berliniſche Monatsſchrift, Dezember 1796) halte alles das für Metaphyſik, was er zur Erläuterung „in zum Theil weitläuftige Anmerkungen bringt“ (S. Vorwort S. IV.)“ 26). Und in gleich klarer Einſicht ſpottet er anderwärts über die falſche Auffaſſung des a priori: „Wenn das a priori beweiſen heißt, . .. jo getraue ich mich jeden be- liebigen hiſtoriſchen Satz a priori zu beweiſen, z. B. das Re— präſentationsſyſtem auf dem deutſchen Reichstage, woran doch kein vernünftiger Menſch was Aprioriſches finden wird 27) Und ſelbſt gegen Reinhold weiß er zu ſagen: „Wodurch iſt der

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Theologie im 16. und im 18. Jahrhundert geholfen worden, durch Räſonnement a priori, durch ein Syſtem der natürlichen Religion, oder aber durch Geſchichte und Quellenſtudium? Wurden die Römer etwa deßwegen unſer unerreichbares Muſter in der Jurisprudenz, weil ſie einen richtigeren erſten Grundſatz des Natur— rechts hatten, als die andern Völker? Wem verdankt in neueren Zeiten das Studium mehr, den Gelehrten, welche ſehr viel alte Literatur damit verbanden, oder denen, welche von dem Grund— ſatze ausgingen: das Römiſche Recht ſei das bloße Naturrecht, und Alles laſſe ſich aus den Begriffen herausdemonſtriren?“ 28) In der Betonung des Rechts der Forſchung erkennen wir den Kantianer, der als ſolcher der Begründer der hiſtoriſchen Rechtsſchule geworden iſt.

Endlich haben wirden Begründer der Strafrechtswiſſen— ſchaft, Anſelm Feuerbach als Kantianerzu verzeichnen, obſchon auch er, wie Thibaut, gegen die verdächtige Bedeutung dieſes Aner— thums ſich verwahrt. „Möchten doch alle Interpreten dieſes großen Mannes, ſagt er von Kant, die Maximen beobachten welche Leſſing in ſeiner Dramaturgie in Beziehung auf A riſtoteles anempfiehlt.“?9) Als echter Anhänger Kants kämpft auch Feuerbach für die ſelbſtändige Forſchung innerhalb ſeiner Wiſſenſchaft. Dieſe Selbſtändigkeit erklärt und beſtimmt er genauer und klarer als Thibaut, auf den er ſich bezieht.“) Die poſitive Geſetzgebung und jeder Fortſchritt ihrer Verbeſſerung ſei zwar nichts Geringeres, als „Verſuch und Fortſchritt in der Darſtellung und Realiſirung des Vernunftgeſetzes der Ge— rechtig keit“.31) Aber um rechtliche Geltung zu erlangen, um das „Allgemeingültige“ zu einem „Allgemeingeltenden“ zu machen, muß das Poſitive erkannt werden als „Ausfluß eines höchſten Willens, der juridiſch als der Wille Aller beobachtet werden muß.“ „Als Menſch und philoſophiſcher Denker iſt der Bürger Richter über die Geſetze des Staates; aber als Bürger iſt er nur ihr Sklav.“ Hierin ſpricht der Schüler des Kantiſchen Staats—

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rechts, welches nicht verſtanden werden kann ohne genaueſtes Einvernehmen mit der ſyſtematiſchen Bedeutung ſeiner Termini.

So wahrt Feuerbach die Selbſtändigkeit der Rechts quellen, für deren hiſtoriſche Erforſchung er als ein begeiſterter Humaniſt auf das „idealiſche Reich des claſſiſchen Alterthums“ hinweiſt. So wahrt er denn auch die Selbſtändigkeit der recht— lichen Begriffe, in deren Bearbeitung und Erzeugung der Rechtsgelehrte nicht nur vom Philoſophen, ſondern auch vom Geſetzgeber unabhängig ſei. „Wenn nun alſo der Rechtsgelehrte, ſofern er das Recht wiſſenſchaftlich darſtellen ſoll, die rechtlichen Vorausſetzungen durch wiſſenſchaftliche Begriffe ſelbſt beſtimmen muß, wie iſt dieſes anders als dadurch möglich, daß er in die Grenzen der Wiſſenſchaft eingeht, in welcher jene Vorausſetzun gen und Begriffe ihren Sitz haben? Mathematiſche Vorausſetzungen muß er durch Hülfe der Mathematik, naturwiſſenſchaftliche durch die Naturwiſſenſchaft, hiſtoriſche durch die Geſchichte beſtimmen. Aber die allermeiſten und allerwichtigſten rechtlichen Voraus- ſetzungen haben ihren Sitz in der Philoſophie des Rechts: alſo muß der Rechtsgelehrte mit philoſophiſchem Geiſte in das Reich der philoſophiſchen Rechtslehre hinüber, um da die Objecte ſeiner Wiſſenſchaft zu erkennen, und ſodann als Logiker zu be— ſtimmen.“ Solche „Bedingungen ihrer Möglichkeit und Wirklich— keit“ bilden den allgemeinen Theil der Rechtswiſſenſchaft, auch im peinlichen Recht.

In dieſem allgemeinen Theil liegt der Reform-Charakter der Rechtswiſſenſchaft. „Es folgt nämlich, daß der Rechtsgelehrte als Bearbeiter ſeiner Wiſſenſchaft verpflichtet ſei, auch die Lücken der Geſetzgebung, die Theile der Rechtsſphäre, bis zu welchen das Poſitive nicht ausreicht, mit ſorgſamem Fleiße aufzuſpüren, und ſodann als ein Stellvertreter des Geſetzgebers zu beſtimmen, was von dieſem unbeſtimmt gelaſſen worden iſt. Und dieſes er— reicht er nur durch allgemeine Grundſätze, die, weil ſie

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weder aus der Geſetzgebung geſchöpft, noch durch fie gerechtfertigt werden können, rein philoſophiſch und inſofern höchſt all- gemein, aber freilich, weil nicht der Mund des Geſetzgebers ſie geheiligt hat, nicht abſolut geltend ſind, ſondern als Gegen— ſtände freier Unterſuchung, in Abſicht ihrer Wahrheit und praktiſchen Gültigkeit von jedem Denker in Anſpruch genommen werden dürfen.“ Der Rechtsgelehrte ſoll mehr ſein, als ein bloßer Rechtsgelehrter; er ſoll die Geſetzgebung vorbereiten: aber „wer iſt der Lehrer des Geſetzgebers?“ „Der empiriſche Rechts— gelehrte weiß nichts, als was da iſt, umbekümmert um das was da ſein ſoll.“ Alſo der Metaphyſiker? „Erfände er nur nicht ſeine Geſetze oft für Utopia. Alſo nur der Rechtsgelehrte, aber nur der philoſophiſche Rechtsgelehrte iſt zum Rathgeber für den Geſetzgeber des Staats berufen.“ 2) In ſolcher Anſicht iſt Anſelm Feuerbach zu dem Geſetzgeber des bayeriſchen Kriminal- rechts erwachſen. Und ſo ſehen wir auch bei dieſem Forſcher des Rechts und der Gerechtigkeit wiſſenſchaftliche Strenge und Tiefe mit ſittlichem Eifer verbunden.

Es darf nicht unſere Abſicht ſein, weder hier, noch liegt es überhaupt in unſerer Aufgabe, in der Charakteriſtik dieſer Be— ziehungen Vollſtändigkeit zu erſtreben. Möchte der flüchtige Blick, mit dem wir uns an die Gebiete verſchiedenſter Wiſſenſchaften herangewagt haben, den großen Goethe 'ſchen Satz beleuchten können: „daß kein Gelehrter ungeſtraft jene große philo— ſophiſche Bewegung, die durch Kant begonnen, von ſich abge— wieſen, ſich ihr widerſetzt, fie verachtet habe.““)

Indeſſen nicht allein der wiſſenſchaftlichen Erfahrung war Kants Genius gewidmet. „Zwei Dinge erfüllen das Gemüth mit immer neuer und zunehmender Bewunderung .. . Der beſtirnte Himmel über mir und das moraliſche Geſetz in mir.“ “) Man möchte denken, die Kritik der Erfahrung hätte allenfalls ein Menſchenalter noch auf ſich warten laſſen können. Aber die Grundlegung der Sittenlehre kam wie das Heilmittel vor der

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Wunde. Die Revolution der ſogenannten Menſchenrechte hatte dem deutſchen Humanitätsgeſchlecht die Wahrheit ſchmerzlich fühlbar gemacht: daß echtes Weltbürgerthum nur von dem feſten Grunde heiliger Vaterlandsliebe ſich aufſchwingen könne. Man hätte es aber ſchon bei Rouſſeau lernen ſollen, daß der nicht die Menſch— heit liebt, der ſein Volk nicht als ſein Volk liebt. Tel philo- sophe aime les Tartares, pour étre dispensé d'aimer ses voisins. |

Dieſe natürliche Liebe zu Volk und Vaterland war um jene Zeit durch den corſiſchen Frevler, den Verächter der „deutſchen Ideologen“ in Gewiſſensnoth getrieben worden. Doch nicht allein die Begeiſterung des ganzen Volkes war der Wiederhall der großen Lehre von der Pflicht; ſondern unter den Erſten und Edelſten, die an der Neugeſtaltung unſeres Staates gearbeitet haben, dürfen wir Schüler Kants anſprechen. Man glaubt jagen zu dürfen, daß jene Oſtpreußen ſämmtlich vom Kantiſchen Geiſte erzogen waren. Bekannt iſt die Begeiſterung des Oberpräſidenten von Schön für ſeinen Lehrer und deſſen Lehre. Aber es dürfte noch werthvoller befunden werden, daß der General von Boyen, der Schöpfer des preußiſchen Wehrgeſetzes, Kants perſönlicher Schüler geweſen iſt.

Es verſetzt in eine erbauliche Stimmung, die unmittelbare Einwirkung des Weltweiſen auf dieſen Kriegsmann zu gewahren. Es iſt, als ob ſich der Spruch Platons in jener großen Zeit hätte verwirklichen ſollen. In einer Abhandlung vom Jahre 1799 „über die militäriſchen Geſetze“ss) ſpricht der Kantiſche Geiſt nicht minder aus den ſchönen ſchlichten und markigen Sätzen, wie aus dem Inhalt und dem Grundgedanken, der eben kein anderer iſt, als: den Soldaten auch in den Strafen als „Ver— nünftiges Weſen“ zu behandeln. Freilich kann nicht durch „Vernunft— gründe“ allein der Todestrotz, das erſte Erforderniß eines guten Sol— daten bewirkt, alſo muß „Ehre in dem Buſen des Soldaten geweckt werden“ Schande muß der Gegenſtand der Furcht vor der

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Strafe ſein. Es iſt beachtenswerth, daß Boyen jo gut kantiſch iſt, die Ehre ſelbſt nur als eine pathologiſche Triebfeder zu denken. In dem Geſetze ſoll der gute Wille erzogen werden. „Dasjenige Heer wird die beſte Disciplin haben, welches die vollſtändigſte und menſchlichſte Geſetzgebung hat.“ Auch die vollſtändigſte iſt anzuſtreben; denn: „Je weniger man eigen— mächtig entſcheiden darf, deſto mehr hat man Zeit, über die Be— folgung der Geſetze zu wachen.“ „Ein Bataillon guter Men— ſchen nützt mehr, als ein Regiment falſtaffiſcher Rekruten.“ „Den Verfaſſer belebt das ſchöne Bewußtſein, daß ſeines Vaterlandes Heere zuerſt das Beiſpiel einer menſchlicheren Behandlung der Soldaten an Europa gaben und daß wir unter einem Könige leben, der für alles (mögliche) Gute, Gefühl und Kraft hat.“ Dieſes Mögliche ſtammt aus der Conſtruction der „möglichen Erfahrung.“ Unſer Kaiſer hat am 31. März 1871 das Andenken dieſes Edlen durch das Wort gefeiert, daß er „oft und lange verkannt worden“ ſei.

Endlich fügte es ein glückliches Geſchick, daß ein ſchlichter aber wiſſenſchaftlicher Mann durch Friedrich Wilhelm' II. Be— willigung nach Königsberg zu Kant geſchickt wurde, 6) dem für die Tradition der Kantiſchen Philoſophie eine große Rolle zufiel. Kieſewetter ward unter Scharnhorſt Profeſſor der Mathe— matik und Philoſophie an der Militairacademie, an welcher er zugleich mit dem ihm Kantiſch gleichgeſinnten Phyſiker Ernſt Gottfried Fiſcher zuſammen wirkte, der in mehreren Werken zur Mathematik wie zur mechaniſchen Naturlehre ein fruchtbares Verſtändniß Kants be— kundet. Zu deren Schülern nun gehörte der Kriegsgelehrte, der Scharnhorſt's wie Gneiſenau's nächſter Freund war, der General von Clauſewitz.

Es könnte einer Aufklärung zu bedürfen ſcheinen, daß jene preußiſche Schule mit ihrem heiligen Kriegsmuth an ihrem großen Lehrer darüber nicht irre wurde, daß dieſer die „elf Kegel“ vom ewigen Frieden auf einmal warf. Indeſſen jene großen Idealiſten an der Wende des Jahrhunderts hefteten ihren

Blick auf die Principien; für die Ausführung der Aufgaben, die der Tag, das Zeitalter und das Menſchenloos ſtellen, erzog ſie die Schule der Erfahrung, die zu nutzen die Principien ſie gelehrt hatten. Und bei einer genaueren Erwägung dürfte es vielleicht nicht gezwungen ſcheinen anzunehmen, daß aus jenem ſittlichen Ideale der wiſſenſchaftliche Grundgedanke von Clauſe— witz entſprungen ſei: den Krieg als einen Theil der Staats— kunſt darzuſtellen.

Man kann in der That in dem Werke „Vom Kriege“ nicht leſen, ohne bei allen methodiſchen Grundfragen von Kantiſchem Geiſte ſich angehaucht zu fühlen. In dem Abſchnitt mit der Ueberſchrift „Methodismus“ unterſcheidet Clauſewitz Geſetz, Grundſatz, Regel, Vorſchrift und Methode. Darauf folgt das Kapitel von der Kritik. „Derſelbe Geiſt analytiſcher Unter— ſuchung, welcher die Theorie ſchafft, ſoll auch das Geſchäft der Kritik leiten. . . Alle poſitiven Ergebniſſe der theoretiſchen Unter— ſuchung, alle Grundſätze, Regeln und Methoden ermangeln der Allgemeinheit und abſoluten Wahrheit um ſo mehr, je mehr ſie zur poſitiven Lehre werden. Sie ſind da, um ſich beim Gebrauch anzubieten, und dem Urtheil muß es immer überlaſſen bleiben, ob ſie angemeſſen ſind oder nicht. Solche Reſultate der Theorie darf die Kritik niemals als Geſetze und Normen zum Maßſtabe gebrauchen, ſondern nur als das, was ſie auch dem Handelnden ſein ſollten, als Anhalt für das Urtheil.“ s?“ Die Bedeutung von Clauſewitz als Kriegstheoretiker wird in die Befreiung des ſtrategiſchen Genius von dem Zwang der Formeln geſetzt; das will ſagen: in die Durchführung des Unterſchiedes vom be— ſtimmenden und reflectirenden Urtheil, oder auch von conſtitutivem Grundſatz und regulativer Maxime. Und wie aus der Kritik der Urtheilskraft ausgeſchrieben muthet der Satz an, mit dem Clauſewitz gegen die alte Anſicht auftritt: „Was das Genie thut, muß gerade die ſchönſte Regel ſein, und die Theorie kann nichts beſfres thun, als zu zeigen, wie und warum es ſo iſt.“

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In ſolcher Anſicht ſpricht der Schüler Kants, auch wenn wir nicht bei ihm leſen könnten, daß „jedes Syſtem, jedes Lehrgebäude die beſchränkende Natur einer Syntheſis hat.““

Ebenſo aber, wie dieſer Gelehrte überhaupt nach einer kritiſchen Theorie forſcht, „da der Wirbel der Meinungen, der ſich um keinen erſten Punkt drehte, dem menſchlichen Geiſte eine widerwärtige Erſcheinung ſei“, ſo hat er auch die „moraliſchen Größen“, die „moraliſchen Hauptpotenzen“ in die Theorie des Krieges eingeführt. „Es iſt doch eine armſelige Philoſophie, wenn man nach alter Art ſeine Regeln und Grundſätze diesſeit aller moraliſchen Größen abſchließt, und ſo wie dieſe erſcheinen, die Ausnahmen zu zählen anfängt, die man dadurch gewiſſer— maßen wiſſenſchaftlich conſtituirt, d. h. zur Regel macht. Wenn die Theorie der Kriegskunſt wirklich auch weiter Nichts thun könnte, als daß ſie an dieſe Gegenſtände erinnert, daß ſie die Noth— wendigkeit darthut, die moraliſchen Größen in ihrem ganzen Werth zu würdigen, und in die Rechnung mit aufzunehmen: ſo hätte ſie ihre Grenzen ſchon über dieſes Reich der Geiſter ausgedehnt, und durch die Feſtſtellung dieſer Geſichtspunkte Jeden im Voraus verurtheilt, der ſich blos mit dem phyſiſchen Ver— hältniß der Kräfte vor ihrem Richterſtuhl rechtfertigen wollte.“ 3°) So ſpricht der herrliche Denker, der in ſeinem kritiſchen Glauben an das „Reich der Geiſter“ an der Erhebung der Nation als einer der Führenden gearbeitet und gelitten hat. In der Vor— ausſicht eines neuen Krieges mit Frankreich hat er als ein Ver— mächtniß den Satz geſchrieben: „Wir aber, wir Deutſchen alle müſſen gefaßt ſein, dieſem Dämon zu begegnen, und dazu be— dürfen wir die Kraft eines edeln Selbſtgefühls, alſo neben der Treue gegen unſere Fürſten, gegen unſer Vaterland, auch die Treue gegen uns ſelbſt“ 4%.

Wir ſchließen unſere Betrachtung bei der Wiederkehr des Tages, an welchem unſer Kaiſer vor zwölf Jahren nach Berlin heimgekehrt iſt, mit dem Worte, welches neuerdings über den

Cohen, Kants Einfluß. 8 3

zu

edeln Clauſewitz geſprochen ward: „Heute wird die höhere wiſſen— ſchaftliche Anſchauung im Deutſchen Heere durch ihn beſtimmt; die Feldzüge von 1866 und 1870— 71 ſind in ſeinem Sinne gedacht und geführt worden “. 41)

Dieſe Erinnerungen aus der Geſchichte unſeres Heerweſens zeigen die innere Verbindung, die zwiſchen Wiſſenſchaft und Leben, und zwar nicht nur im techniſchen Sinne bei uns beſteht, und jo dürfen wir hoffen immerdar beſtehen wird. Es iſt die erſte Aufgabe unſerer Univerſitäten, daß ſie die Würde der Wiſſenſchaft heilig halten; daß ſie die Nation ermahnen, die ſelbſtändige wiſſenſchaftliche Forſchung als eine ſittliche Lebensbedingung zu achten und zu hüten. Wir wiſſen Königs Geburtstag nicht beſſer zu ehren, als indem wir die academiſche Jugend zu ernſter Arbeit aufrufen, und der geleiſteten an dieſem Tage Lob ſpenden. Daher ver⸗ künden wir am Kaiſertage unſere Preisaufgaben und erſtatten Bericht über die Erfolge derſelben.

Mögen dieſe Aufgaben unſere Commilitonen an ihre Pflichten als academiſche Bürger erinnern, in deren Erfüllung ſie ſich für ihre Pflichten als Staatsbürger rüſten.

In Pflichtgefühl und Dankbarkeit wollen wir Ale dieſen ſtaatlichen Weihetag feiern. In Ehrfurcht und Treue wollen wir unſere huldigenden Segenswünſche unſerem Kaiſer darbringen: daß das neue Lebensjahr Ihm vergönne, Freuden zu ernten in Seinem Kaiſerlichen Hauſe; daß auch fürderhin jedes Jahr in dem Kranze Seines reichgeſegneten Lebens als ein ruhm- und ehrenvolles verzeichnet werde in der Geſchichte Preußens und des Deutſchen Vaterlands. Möge es dem erhabenen Fürſten be— ſchieden ſein, zu idealen Aufgaben die Nation zu erziehen und zu der Achtung und Liebe von Wahrheit und Gerechtigkeit alleſammt

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zu einigen. Möge in Seinen Tagen der Spruch Boyen's ſich immer herrlicher für das ganze deutſche Volk erfüllen: „Der Preußen Loſung iſt die Drei Recht, Licht und Schwert“. Seine Majeſtät, unſer Allergnädigſter König, der Deutjche Kaiſer Wilhelm lebe hoch!

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Anmerkungen.

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1) Seite 7. Brief 21. vom 28. Oktober 1794.

2) Seite 7. Schriften. Bd. 9, S. 153.

) Seite 10. Tag- und Jahreshefte. Werke Ausg. Hempel. Bd. 27. S. 311 ff.

) Seite 12. Bedenken und Ergebung. Bd. 50, S. 60. „Endlich finden wir bei redlich fortgeſetzten Bemühungen, daß der Philoſoph wohl möchte Recht haben, welcher behauptet, daß keine Idee der Erfahrung völlig congruire, aber wohl zugiebt, daß Idee und Erfahrung analog ſein können, ja müſſen.“

5) Seite 14. Briefwechſel zwiſchen Schiller und W. v. Humboldt, zweite Ausg. 1876. S. 21.

6) Lebensnachrichten über Barthold Georg Niebuhr, 1838. Bd. I, S. 55; vgl. Bd. II, S. 386 über den Reſpect.

) Seite 15. Th. Wilh. Danzel, Geſammelte Aufſätze, heraus— gegeben von Otto Jahn 1855, S. 88. „Den Juden gab er ein Vaterland, den Anderen ſuchte er zu Gemüthe zu führen, was ein Vaterland überhaupt ſei. Der Gegenſtand ſeines lebhaften jüdiſchen Nationalgefühls hatte ſich ver— ändert, aber das Gefühl war daſſelbe geblieben und dieſes wünſchte er auch in den übrigen Deutſchen zu erwecken. M. Mendelsſohns WW. Bd. IV, 1, S. 262. So mögen 1757 Wenige geſprochen haben. Eine ähnliche Aeußerung Bd. V, S. 407.“

) Seite 18. Die chriſtliche Lehre von der Rechtfertigung und Ver— ſöhnung. 2. Aufl., Bd. I, S. 431.

) Seite 19. Wilhelm von Humboldt, Lebensbild und Charakteriſtik von R. Haym. S. 446.

10) Seite 19. Otto Jahn, Biographiſche Aufſätze. S. 105.

11) Seite 20. Ebenda S. 99.

12) Seite 20. Gotfried Hermann, zu ſeinem hundertjährigen Geburts— tage von H. Köchly 1874, S. 297 ff.

9 a

Seite 20. Seite 21.

vgl. Bd. II, ©. 32.

9 12 150 u 1 200 lichen S. 296, f.

9

Julius Guyet. Seite 25.

aa

Seite 21.

Seite 21. Seite 21.

Seite 22.

Seite 22. Seite 24.

Nachlaſſe dargeſtellt von Ernſt Ludwig Theodor Henke—

37

Otto Jahn, S. 101.

B. G. Niebuhr, Lebens nachrichten. Bd. J, ©. 42; Ebenda J, S. 47.

Ebenda S. 55; vgl. 60, 64, 65, 66, 68.

Ebenda S. 100.

Ebenda S. 222 ff.

Ebenda S. 417 über Baader; vgl. S. 401, 403.

Jacob Friedrich Fries. Aus ſeinem handſchrift—

1867,

„Ich werde nie vergeſſen, wie ſehr ich bei meiner allererſten Be— kanntſchaft bekümmert war, das Sittengeſetz in meinem Bewußtſein nicht zu finden; der Kummer iſt von mir gewichen, und es iſt noch die Einſicht hiuzugekommen, daß die Sache da gar nicht zu ſuchen ſei.“

Seite 25.

1798, 2. Aufl. 1817.

Thibaut's Juriſtiſcher Nachlaß, herausg. von Carl

Bd. I, XVIII; vgl. Preuß. Jahrb. 1880. Bd. 45. S. 474.

Verſuche über einzelne Theile der Theorie des Rechts. „Ueber den philoſ. Einfluß auf die Auslegung der

poſitiven Geſetze.“ S. 126.

28) Seite 25. Ebenda S. 136; vgl. S. 132, 135.

24) Seite 25. Ebenda S. 174.

25) Seite 26. O. Mejer, Preuß. Jahrb. 1879, Bd. 44. S. 475.

26) Seite 26 Hugo, Civiliſtiſches Magazin. Bd. III, S. 93.

27) Seite 26. Ebenda Bd. II, S. 230.

28) Seite 27. Ebenda Bd. I, S. 11.

20) Seite 27. Anſelm Feuerbach, Reviſion der Grundſätze und Grundbegriffe des poſitiven peinlichen Rechts. 1799, S. 35; vgl. S. 320.

30) Seite 27. Ebenda S. 79.

1) Seite 27. Philoſophie und Empirie in ihrem Verhältniß zur poſitiven Rechtswiſſenſchaft. Antrittsrede. Landshut 1804. S. 26 f.

32) Seite 29. Ebenda S. 30, 57 —58, 83—84, 88, 90, 92—94; vgl. Biographiſcher Nachlaß, herausgeg. von Ludwig Feuerbach, 2. Aufl., Bd. I, S. 51.

53) Seite 29. Ueber Winckelmann. Bd. 28, S. 220.

4) Seite 29. Beſchluß der Kritik der praktiſchen Vernunft.

35) Seite 30. Jahrbücher der preußiſchen Monarchie. 1799. Bd. III,

S. 118—125 ; vgl. Allgem. Deutſche Biographie.

1

Seite 31. wichtigſten Wahrheiten der kritiſchen Philoſophie.

Biographie XVI.

Joh. Gottfr. Chriſtian Kieſewetter, Darſtellung der

3. Ausgabe von Flittner;

) Seite 32. Hinterlaſſene Werke des Generals Carl von Clauſe— witz, Bd. J, S. 157.

38) Seite 33. Ebenda S. 116.

30) Ebenda Seite 211.

%) Seite 33. Carl Schwartz, Leben des Generals Carl von Clauſewitz und der Frau Marie von Clauſewitz, geb. Gräfin von Brühl, in Briefen, Aufſätzen, Tagebüchern und andern Schriftſtücken. 1878. Ferd. Dümmler, Bd. II, S. 417.

1) Seite 34. Oberſt von Meerheimb, Vortrag über „Carl von Clauſewitz“l. S. 16—23; vgl. Schwartz, Bd. II, 509.

Druck von J. H. Harrwitz' Nachfolger, Lindenſtr. 69.

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8 5 85 EZ N er N An ö In demſelben Verlage ſind ferner erschienen: | RE

| Cohen, Dr. Bermann, Die ſyſtematiſchen Begriffe i in Kants vorkritiſchen Schriften nach ihrem Verhältniß zum ee Idealismus. 1873. gr. 8°. geh. 1 Mark. 20 Pf.

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Cohen, Prof. Dr. Bermann, Kants Begründung der en. 1877. gr. 80. geh. 6 Mark.

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Cohen, Dr. Bermann, Kants Theorie der birth am. &

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. gr. 8e. geh. 5 Mark. 3 ** +7 = Cohen, Dr. Bermann, Die dichteriſche Phantaſte und der f a Mechanismus des Bewußtſeins. 1869. gr. 8. ge eh. > 3 x 2 Mark. | a

frage. 1880. gr. 80. geh. 50 Pf.