rien rin eh ara zer urteiinh- nr Le 2 ureren.eg a 77 or EL A IE Opeennteg : I er Se « ELLIT IE ETUI a5 wur ef ea) HA DEL IE ET EL EP ee EL Te Pre | uK er VORTRÄGE ÜBER DESZENDENZTHEORIE GEHALTEN AN DER UNIVERSITÄT ZU FREIBURG IM BREISGAU VON AUGUST WEISMANN. MIT 3 FARBIGEN TAFELN UND 131 TEXTFIGUREN. ZWEITE VERBESSERTE AUFLAGE. E ZSERSTER BAND. : === on ne VERLAG VON GUSTAV FISCHER IN JENA 1904. » FL y RK Dd \ fe > u u Alle Rechte vorbehalten. - = OH 366 W42 /904 Wenn ein arbeitsfreudiges Leben sich seinem Ende zuneigt, so regt sich wohl der Wunsch, die Hauptergebnisse desselben zu einem abgerundeten und in sich harmonischen Bild zusammenzufassen und gewissermaßen als ein Vermächtnis den nach uns Kommenden zu hinter- lassen. — Das: ist der Hauptgrund, der mich zur Veröffentlichung dieser Vorträge veranlaßte. Es kam dazu, daß mein vor einem Jahrzehnt veröffentlichter Versuch einer Vererbungstheorie nebst den darauf ge- gründeten weiteren Folgerungen eine ganze Literatur von „Wider- legungen“ und — was noch besser war — eine große Zahl neuer Tat- sachen hervorgerufen hatte, die auf den ersten Blick wenigstens mit jener Theorie in Widerspruch zu stehen schienen. Da ich das Wesent- liche derselben heute noch für ebensogut begründet halte, wie damals, als ich sie zuerst aufstellte, so mußte mir daran liegen, zu zeigen, wie sie mit den neuen Tatsachen sich vereinigen lasse. Es handelte sich dabei keineswegs nur um diese Vererbungs- theorie selbst, die mir gewissermaßen nur Mittel zu einem höheren Zweck gewesen war, ein Unterbau zum Verständnis der Umwandlungen der Lebensformen im Laufe der Zeiten: denn die Erscheinungen der Vererbung stehen. wie alle Funktionen des Einzellebens, in genauestem Zusammenhang mit der Gesamtentwicklung des Lebens auf unserer Erde; sie bilden geradezu die Wurzel derselben, den Nährboden, aus welchem alle ihre zahllosen Aste und Zweige in letzter Instanz sich her- leiten. So sollten also die Erscheinungen des Einzellebens, vor allem die der Fortpflanzung und der Vererbung, im Zusammenhang mit der Deszendenzhypothese betrachtet, die- letztere durch die ersteren be- leuchtet und unserem Verständnis näher gebracht werden. Wenn ich nun hier versuche, die Ansichten, wie sie sich mir während vier Jahrzehnten auf Grundlage des von großen Vorgängern Überlieferten aus den Ergebnissen eigener Arbeit und der zahlreicher Mitstrebenden herangebildet haben, zusammenzufassen und zu einem in sich abgerundeten Bild zu gestalten, so tue ich es nicht, weil ich dieses Bild für vollendet und der Verbesserung unfähig hielte. sondern weil ich seine Grundzüge wenigstens für richtig halte, und weil ich, gegenüber einem seit Jahren schon mein Schaffen belastenden Augen- leiden, unsicher bin, wie lange mir noch Zeit und Kraft gegönnt sein werden, um an seiner Verbesserung weiter zu arbeiten. Noch stehen wir mitten in einer Hochflut der Forschung, welche gerade in bezug auf das Entwicklungsproblem rastlos neue Tatsachen zusammenträgt. Jede heute sich darbietende Theorie muß darauf gefaßt sein, sich bald IV Vorwort. schon neuen Tatsachen gegenübergestellt zu sehen, welche sie zu einem mehr oder weniger eingreifenden Umbau ihrer Konstruktionen zwingt. Wieviel oder wie wenig von ihr den Tatsachen der Zukunft gegenüber standhalten wird, vermag niemand im voraus zu sagen. Das wird aber noch lange so bleiben und darf uns — wie ich glaube — nicht abhalten, unsere Überzeugungen nach bestem Ver- mögen auszugestalten und scharf und bestimmt hinzustellen, denn nur - bestimmt begrenzte Vorstellungen sind widerleebar und können, wenn sie irrig sind, verbessert, wenn falsch, verworfen werden; in beidem aber liegt der Fortschritt. Das vorliegende Buch ist aus „Vorlesungen“ hervorgegangen, die an der hiesigen Universität frei gehalten wurden. Nachdem ich zuerst 1567 in meiner Antrittsrede für die damals noch heftig bekämpfte Deszendenzlehre eingetreten war, kam es doch erst sieben Jahre später versuchsweise zu einer ersten kurzen Sommer-Vorlesung über Deszen- ddenztheorie, die einfach darauf ausging, den Darwınschen Ansichten Verbreitung zu verschaffen. Erst allmählich im Laufe der Jahre führten eigene und fremde Untersuchungen und Gedankenreihen dazu, dem Darwınschen Gebäude Neues hinzuzufügen und einen weiteren Ausbau desselben zu versuchen, und dementsprechend wandelten sich diese „Vor- lesungen“, welche vom Jahr 1580 an ziemlich regelmäßig in jedem Jahr gehalten wurden, allmählich um, entsprechend dem augenblicklichen Stand meiner eigenen Erkenntnis, gewissermaßen als ein Abbild meines Entwicklungsganges. Es ist viel Neues in den zwei letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts in die biologische Wissenschaft eingedrungen: NÄGELIS Gedanken vom „Idioplasma“, der gestaltbestimmenden Substanz, Rouxs „Kampf der Teile“, die Erkenntnis von der Existenz einer besonderen Vererbungssubstanz, dem Keimplasma, seiner Verlegung in die Chromo- somen und seiner Kontinuität durch die Generationen hindurch; die potentielle Unsterblichkeit der Einzelligen und der Keimzellen im Gegen- satz zu dem natürlichen Tod der höheren Lebewesen, ferner Sinn und Bedeutung der: mitotischen Kernteilung und Entdeckung der Zentro- sphäre, des wunderbaren Teilungsapparates der Zelle, der uns mit einem Schlag um ein ganzes Stockwerk tiefer in das unergründliche Bergwerk vitaler Kleinstruktur hineinblicken ließ; dann die weitere Klärung unserer Vorstellungen über Befruchtung und die Auseinanderlegung des in ihr vereinigten zweifachen Vorganges der Fortpflanzung und der Vermischung (Amphimixis); im Anschluß daran die Tatsachen der Reifungserschei- nungen, zuerst der weiblichen, dann auch der männlichen Keimzelle und ihre Bedeutung als Reduktion der Vererbungseinheiten; alles dieses und manches andere hat uns (diese Zeit gebracht, und zuletzt dann noch die Überwindung des LAmarckschen Prinzips und die konsequente Durch- führung des Selektionsprinzips durch Übertragung desselben auf die in- zwischen erschlossenen letzten Lebenselemente der Keimsubstanz. Der Wortlaut dieser „Vorträge* hat sich erst beim Niederschreiben derselben gebildet. Wenn aber auch die Form insoweit neu ist, so bin ich doch im großen und ganzen demselben Gedankengang gefolgt, wie in den mündlichen Vorträgen der letzten Jahre. Daß ich die Form des Vortrages für das Buch beibehielt, geschah nicht bloß der größeren Lebendigkeit der Darstellung halber, sondern noch aus manchen anderen Gründen, von welchen die größere Freiheit in der Auswahl des Stoffes und die Beschränkung der Zitate auf ein Minimum nicht die letzten Vorwort. V sind. Daß jede persönlich geschärfte Polemik dabei wegfallen durfte, wird dem Buche nicht zum Nachteil gereichen, wenn auch sachliche Meinungskämpfe keineswegs fehlen und hoffentlich einiges zur Klärung der streitigen Fragen beitragen werden. Ich habe mich bemüht, so viel von den Forschungen und Schriften Anderer bis in die jüngste Zeit hinein in die Darstellung hineinzuziehen, als es mir möglich schien, ohne die Darstellung schwerfällig zu machen: ich wollte ein Buch zum Lesen. nicht ein solches zum Nachschlagen geben. Wenn schließlich gefragt wird, für wen denn das Buch geschrieben sei, so kann ich kaum etwas anderes darauf antworten, als: „für den, den es interessiert“. (sehalten wurden die Vorträge vor einem Zuhörerkreis, der größtenteils aus Studierenden der Medizin und der Naturwissen- schaften, aber immer auch aus einigen der anderen Fakultäten bestand: zuweilen befanden sich zu meiner Freude auch Kollegen anderer Fächer darunter. Ich habe in der Darstellung möglichst wenig Spezialkennt- nisse vorausgesetzt und sollte denken, daß, wer das Buch nicht bloß durehblättert, sondern liest, sich auch in die schwierigeren Fragen der späteren Vorträge ohne Mühe hineinlesen wird. Es sollte mich freuen, wenn es dem Buch gelänge, meinen theo- retischen Anschauungen in den Kreisen der Forscher größeren Eingang zu verschaffen, und ich habe deshalb den betreffenden Abschnitten eine größere Ausdehnung gegeben, als je in den mündlichen Vorträgen ge- schehen ist. Trotz so vielfachen Widerspruchs muß ich sie in ihren Grundlagen für richtig halten, vor allem die Annahme von „bestimmen- den“ Lebenseinheiten, Determinanten und ihrer Zusammenordnung zu Iden; an der Determinantenlehre aber hängt dann weiterhin auch «lie Germinalselektion, und ohne diese bleibt der große (redanke der Leitung des Umwandlungsganges der Lebensformen durch Auslese unter Verwerfung des Unzweckmäßigen und Bevor- zugung des Besseren nach meiner Überzeugung ein Torso, ein Baum ohne Wurzel. Nur von zweien unter den hervorragenden Forschern unserer Tage ist es mir bekannt. daß sie sich unumwunden diesen Überzeugungen angeschlossen haben: EmEry in Bologna und J. ARTHUR THOMSON in Aberdeen, aber ich hoffe, noch viele zu überzeugen, wenn erst der innere Zusammenhang und die Tragweite dieser Ideen in weitere Kreise ein- gedrungen sein werden. Mag ich auch in gar manchen Einzelfragen irre gegangen sein und von den Tatsachen der Zukunft Berichtigung zu erfahren haben — in der Grundlage meiner Anschauungen habe ich sicherlich nicht geirrt: das Selektionsprinzip beherrscht in der Tat alle Kategorien von Lebenseinheiten: es schafft zwar nicht die primären Veränderungen, wohl aber bestimmt es die Entwicklungsbalinen, welche diese einschlagen von Anfang bis Ende, und damit zugleich alle Difte- renzierungen, alle Steigerungen der Organisation und schließlich den gesamten Entwicklungsgang der Organismenwelt auf unserer Erde, denn alles an den Lebewesen beruht auf Anpassung, wenn auch nicht alles auf der Anpassung im Sinne DArwıns. Man hat dieses starke Hervorheben «des Selektionsgedankens der Einseitigkeit und der Übertreibung beschuldigt, aber mit demselben Recht könnte man den Physiker der Einseitigkeit und Übertreibung be- schuldigen, wenn er die Schwerkraft nicht bloß auf unserer Erde sich wirksam denkt. sondern sie den gesamten Kosmos beherrschen läßt, sei VI Vorwort. er für uns noch siehtbar oder nieht. Wenn es überhaupt eine Schwer- kraft gibt. dann muß sie überall wirken, wo materielle Massen vor- handen sind, und so mub auch das Zusammenarbeiten gewisser Be- dingungen mit gewissen vitalen Grundkräften überall denselben Prozeß (der Selektion hervorrufen, wo lebende Wesen vorhanden sind: also nicht bloß diejenigen Lebenseinheiten. welche wir noch wahrnehmen können, wie Individuen und Zellen, sind der Selektion unterworfen, sondern eben- sosehr auch diejenigen, welche wir nur noch mit dem Verstand zu er- kennen vermögen, weil sie für unsere Mikroskope zu klein sind. In dieser Übertragung des Selektionsprinzips auf alle Stufen lebender Einheiten liegt der Kernpunkt meiner An- sichten: dieser Gedanke ist es, zu dem diese Vorträge hin- leiten und der — wie ich glaube — die Bedeutung dieses Buches ausmacht; er wird dauern, auch wenn selbst alles andere darin sich als vergänglich erweisen sollte. Manche werden sich vielleicht wundern, dab in den ersten Vor- trägen so manches längst Bekannte von neuem dargestellt wird, allein ich halte es für unerläßlich, dab, wer immer über den Selektionsgedanken ein eigenes Urteil gewinnen will, nicht bloß das Prinzip desselben sich klar mache, sondern auch über seine Machtsphäre eine eigene Auffassung gewinne. Zahlreiche schiefe Urteile über „Naturzüchtung* würden kaum ans Licht getreten sein. wenn ihre Urheber etwas mehr von den Tat- sachen gewußt, wenn sie eine Ahnung gehabt hätten von der unerschöpf- lichen Fülle von Erscheinungen, welche allein in diesem Prinzip ihre Erklärung finden können. soweit wir eben überhaupt Erklärungen des Lebens zu geben imstande sind. Aus diesem Grunde bin ich so genau auf die Farbenanpassungen, besonders auch auf die Mimikry-Fälle ein- gegangen; ich wollte dem Leser einen festen Bestand von Tatsachen an die Hand geben, aus welchem er jederzeit das Passende herausgreifen kann, wenn es sich im späteren Verlauf des Buches um die Prüfung schwierigerer Fragen an den Tatsachen handelt. Zum Schluß möchte ich noch «denen Dank sagen, die mir bei diesem Buch auf die eine oder die andere Weise Beistand geleistet haben: meinem früheren Assistenten und Freund Professor V. HÄCKER in Stuttgart, meinen Schülern und Mitarbeitern Herren Dr. GÜNTHER und Dr. PETRUNKEWITSCH, und dem Herrn Verleger, der meinen Wün- schen in liebenswürdigster Weise entgegen gekommen ist. Freiburg i. Br.. den 20. Februar 1902. August Weismann. Vorwort zur zweiten Auflage. Daß so schnell schon eine neue Auflage notwendig geworden ist, läßt mich hoffen. daß der Grundgedanke des Buches sich doch allmäh- lich Geltung erringt, .der Gedanke, daß wirklich Selektion das leitende Prinzip der Entwicklung ist, und zwar nicht die Selektion im Sinne Darwıns und Warraczs allein, sondern in dem erweiterten Sinne, in dem sie auch innerhalb der Keimsubstanz wirksam ist. Es gibt heute nicht ganz wenige, welche das Selektionsprinzip für einen überwundenen Standpunkt halten, weil sie mit der Darwın- schen „Naturzüchtung“* allein für die Erklärung der organischen Ent- wicklung nicht auszureichen meinen. In letzterem haben sie recht, wie mir scheint: sie übersehen nur, dab das Prinzip der „Naturzüchtung” einer bedeutsamen Erweiterung und Vertiefung fähig ist, die doch nicht ungeprüft beiseite geschoben werden kann. Denn wenn wir — ent- gegen der Meinung Kants — überhaupt danach streben dürfen, die Ent- stehung des Zweckmäßigen mit Ausschluß zwecktätiger Kräfte im Prinzip zu begreifen, dann bietet sich uns nur dieser eine Weg, und so (dürfte es denn wohl der Mühe wert sein, zu sehen, wie weit wir auf ihm kommen können. Diese zweite Auflage bringt zwar keine wesentlichen Änderungen, doch ist sie auch kein bloßer Wiederabdruck der ersten, sondern ent- hält zahlreiche Verbesserungen und Zusätze. Vor allem hat auch der Index eine nicht unerhebliche Bereicherung erfahren. Zu danken habe ich vor allem meiner Schülerin, Fräulein Emilie Snethlage, Dr. philosophiae, welche mich bei der Korrektur unter- stützte, sowie dem Verleger, Herrn Dr. Gustav Fischer, dessen ge- wohnte Liebenswürdigekeit mir auch diesmal die Arbeit erleichterte. Freiburg i. Br., den 15. Juli 1904. Der Verfasser. - ad Inhaltsübersicht. I. Vortrag. Einleitung, allgemeine und historische . . . „ Sicherheit der Begründung des Deszendenzgedankens. Vorhersagen auf Grund desselben. Allgemeine Bedeutung desselben. (sechichte des- selben. EMPEDOCLES bis GOETHE, ERASMUS DARWIN, TREVIRANUDS, LAMAREK und OKEN: letztes Aufflackern der Entwicklungslehre. II. Vortrag. Fortsetzung der historischen Einleitung . Stillstand der Entwicklungslehre. Periode der reinen Spezialforschung. CHARLEs DARWIN’sS „Entstehung der Arten‘; sein Leben; seine Lehre. Die Haustier-Rassen und ihre Entstehung unter der künstlichen Züchtung; Korrelation; unbewußte Zuchtwahl. III. Vortrag. Das Prinzip der Naturzüchtung Die Faktoren derselben: Variation, Vererbung und Kampf ums Dasein. Geometrische Progression der Vermehrung bedingt eine hohe Vernich- tungsziffer. Abhängigkeit der Normalziffer einer Art von der Zahl der Feinde. Kampf zwischen den Individuen der gleichen Art bedingt den Züchtungsprozeß. Die Theorie ist nur auf indirektem Wege zu erhärten, ein direkter Beweis ist unmöglich. IV. Vortrag. Die Färbungen der Tiere und ihre Beziehung auf Selektionsvorgänge Biologische Bedeutungen der Färbungen, sympathische Färbungen, Zeiehnung der Raupen, doppelte Färbungen, Nachahmung fremder Gegen- stände, Blattschmetterlinge usw., Spannerraupen. V. Vortrag. Eigentliche Mimiery Ihre Entdeckung dureh BATEs, bei Helikoniden und Pieriden; Feinde der Schmetterlinge und Immunität der Vorbilder; mehrere Nachalmer einer immunen Art, Anpassung an verschiedene Vorbilder innerhalb der- selben Gattung, die gleiche Ähnlichkeit durch verschiedene Mittel erreicht; Mimiery-Ringe immuner Arten; Ameisen- und Bienen-Nachahmer, Seite »6b 48 D ty X Inhaltsübersicht. VI. Vortrag. Schutzvorrichtungen bei Pflanzen® . . "7 2 Zr Schutzmittel gegen große Tiere; solche gegen kleine Tiere, besonders gegen Schnecken. VI. Vortrag. Fleischfressende Pflanzen ee Ge Wasserschläuche, Moorpflanzen. VIN. Vortrag. Die Instinkte der Tiere Zur ar Te Materielle Grundlage der Instinkte, dieselben sind keine „vererbten* Gewohnheiten, Trieb der Selbsterhaltung, Nahrungsinstinkt, „Irren‘“ des Instinkts, Wechsel der Instinkte innerhalb eines Lebens, Instinkt und, Willen, nur einmal ausgeübte Instinkte. IX. Vortrag. Lebensgemeinschaften der Symbiosen. .. .„ „rs Einsiedlerkrebse in Symbiose mit Seerosen und Hydroidpolypen, grüner Polyp und Zooelorellen, Armleuchterbaum und Ameisen, Flechten, W urzelpilze, Entstehung von Symbiosen. X. Vortrag. Die Entstehung der Blumen ee 1 bo) Die Vorläufer DArRWINs, Windbestäubung, Einrichtung der Blumen zur Erzwingung der W echselkreuzung, die Blumen aus Anpassungen zusammen- gesetzt; Veränder ungen an den Insekten durch den Blumenbesuch ; phyle- tische Entstehung der Blumen; Übereinstimmung der tatsächlich einge- tretenen Abänderungen an Blumen und an Insekten mit den Voraus- setzungen der Selektionstheorie, relative Unvollkommenheit der An- passungen. XI. Vortrag. Sexuelle Selektion . .. u 2... We Die Schmuckfarben männlicher Schmetterlinge und Vögel; Überzahl der Männchen, Wählen der Weibchen; verschiedene Arten von Schmuck- fürbung. Sehen der Schmetterlinge; anlockende Düfte derselben. Grenze zwischen Natur- und Sexualzüchtung vielfach verwischt; Gesang bei In- sekten und Vögeln; mehrfache Anziehungsmittel bei Insekten ; Mannig- faltigkeit des Schmucks (Kolibris.. Anderweitige männliche Sexual- charaktere, Geruchsorgane bei Insekten und Krebsen, Apparate zum Fest- halten der Weibchen; Zwergmännchen; Waffen der Männchen. Fehlen sekundärer Geschlechtscharaktere bei niederen Tieren. Übertragung männ- licher Charktere auf die Weibchen. Verschiedene Wirkung von sexueller und von Naturzüchtung. Zusammenfassung. Seite 109 117 134 149 171 PaRZ) Inhaltsübersicht. ST Seite Xll. Vortrag. Intraselektion oder Histonalselektion.. . . . .......196 Wirkt das LAmarcksche Prinzip mit bei den Umwandlungen ? DarwIns Stellung dazu; Zweifel von GALTON bis heute. Direkte Wirkung von Gebrauch und Niehtgebrauch, funktionelle Anpassung. WILHELM Rouxs: „Kampf der Teile“: seine Grenzen. XIll. Vortrag. eepllanzung der Einzelligen - - -. -» . . = = 206 Fortpflanzung durch Teilung: Gegensatz von Keim- und Körper- zellen bei den Metazoen:; potenzielle Unsterblichkeit der Einzelligen; Ein- führung des normalen Todes in die Lebewelt. Knospung und Teilung bei vielzelligen Tieren und Pflanzen. XIV. Vortrag. Die Fortpflanzung durch Keimzellen . . . . .. .... 217 Historisches; ungeschlechtliche und geschlechtliche Fortpflanzung; Diffe- renzierung der Keimzellen in männliche und weibliche; Zoospermienform der männlichen Keimzelle; Anpassungen der Samenzelle an die Be- dingung der Befruchtung; feinerer Bau der tierischen Spermatozoen. Die Eizellen: Anpassung derselben an die Bedingungen; doppelte Eier bei derselben Art: Mittel zur Ansammlung großer Mengen von Nährmaterial im Ei. XV. Vortrag. BEehEHBESVOTEBUE . . .. 2 ne een. 24 Die Zell- und Kernteilung: der Befruchtungsvorgang: die Reifungs- teilungen beim Ei, bei der Samenzelle, beim parthenogenetischen Ei. XVlI. Vortrag. Der Befruchtungsvorgang bei Pflanzen und Einzelligen 255 Befruchtung ist Amphimixis: ihre nächste Bedeutung. Die Unsterb- lichkeit der Einzelligen bleibt trotz der periodischen Wiederkehr der Konjugation bestehen. XVII. Vortrag. atheotie .». . » > 2 2 en 2 mn nen 282 Die Annahme von Iden abgeleitet aus Amphimixis; Evolution und Epigenese, Historisches; die gleichartige Keimsubstanz HERBERT SPENCERS. Zusammensetzung der Ide aus Determinanten:; die Heterotopien als Belege für sie. Die letzten Lebenseinheiten oder Biophoren. XVII. Vortrag. Die Keimplasmatheorie. Fortsetzung . . . 2 ..2..2..2...905 Bestimmter Bau des Keimplasmas; vitale Affinitäten; erbgleiche und erbungleiche Teilung; prinzipielle Bedenken O. HERrTWwIGSs gegen letztere; männliche und weibliche Eier bei der Reblaus als Beweis für dieselbe. Die ÖOntogenese:; Zerlegung des Keimplasmas, Vermehrung der Determinanten, aktiver und passiver Zustand derselben; Bestimmung der Zelle durch sie; Mitwirkung von Auslösungen, Hypothese der reinen Auslösung; Wirkungsweise der Determinanten; verschiedene Einwürfe. XII Inhaltsübersicht. Seite XIX. Vortrag. Die Keimplasmatheorie, Fortsetzung Re 00 Das Zusammenwirken der Determinanten in der Ontogenese. Beweise für die Existenz derselben. Widerlegung von Einwürfen und Aufklärung von Mißverständnissen. DELAGE und REINKES Ansichten. Die entwicklungs- mechanischen Tatsachen in Einklang mit der Zerlegungshypothese. Bil- dung der Keimzellen und die Annahme einer Kontinuität des Keim- plasmas: die phyletische Verschiebung der Keimstätte bei Polypen und Medusen. I. VORTRAG. Einleitung. Meine Herren! Sie wissen alle schon im allgemeinen, was man unter Deszendenztheorie versteht. daß man damit jene Lehre meint, welche behauptet, dab die Lebensformen, Tiere und Pflanzen, welche wir heute auf unserer Erde beobachten, nicht von jeher dieselben gewesen sind, daß sie sich vielmehr durch Umwandlung herausgebildet haben aus anderen, welche früher lebten, daß sie also von anders gearteten Vorfahren abstanımen. Nach dieser Abstammungslehre verdankt die ganze Mannigfaltigkeit von Tieren und Pflanzen ihren Ursprung einem Umwandlungsprozeß, der es mit sich brachte, daß die ersten Bewohner unserer Erde, höchst einfache Lebewesen, sich im Laufe der Zeiten zum Teil umwandelten zu immer komplizierter gebauten und höher leistungs- fähigen Formen, ungefähr so, wie wir heute noch täglich ein jedes höhere Tier aus einer einzigen Zelle, der Eizelle, hervorgehen sehen, nicht plötzlich und unvermittelt, sondern verbunden mit dieser durch eine große Zahl sich immer mehr komplizierender Umwandlungsstufen, von denen jede einzelne die Vorbereitung der folgenden ist. Die De- szendenztheorie ist eine Entwicklungstheorie, sie begnügt sich nicht damit, wie die frühere Wissenschaft, die vorhandenen Lebensformen als gegebene hinzunehmen und zu beschreiben, sondern sie fabt sie als ge- wordene, und zwar durch einen Entwicklungsprozeß gewordene auf, sucht die Stufen dieser Entwicklung zu erforschen und die treibenden Kräfte zu entdecken, welche ihr zugrunde liegen. Sie ist, kurz ge- sagt, der Versuch einer wissenschaftlichen Erklärung der Ent- stehung und Mannigfaltigkeit der Lebewelt. Wir werden es somit in diesen Vorträgen nicht nur damit zu tun haben, zu zeigen, aus welchen Gründen wir diese Annahme der Ent- wicklung machen, also nicht nur die Tatsachen vorführen, welche sie erheischen, sondern auch versuchen, wie weit wir gegen die Ursachen hinabzudringen vermögen, welche solche Umwandlungen bewirken. Das letztere ist es, welches uns dazu zwingt, über den Rahmen der „De- szendenztheorie* im engeren Sinn hinauszugreifen und auf die allgemeinen Lebensvorgänge selbst einzugehen, besonders auf diejenigen der Fort- pflanzung und der mit ihr eng verknüpften Vererbung. Die Um- wandlung der Arten kann nur in zweierlei Weise erklärt werden; ent- weder beruht sie auf einer besonderen inneren Kraft, die für gewöhnlich nur ruhend in den Organismen vorhanden ist, die aber von Zeit zu Zeit aktiv wird und dann dieselben gewissermaßen in neue Formen zießt, — oder sie beruht auf den auch sonst stets wirkenden Kräften, welche Weismann, Deszendenztheorie. I. 2. Aufl 1 2 Einleitung. das Leben ausmachen, und auf der Beeinflussung derselben durch die wechselnden äuberen Lebensbedingungen. Welches von beiden wirklich stattfindet. können wir erst dann zu beurteilen unternehmen, wenn wir die Erscheinungen des Lebens und, soweit möglich, die sie verursachen- den Kräfte kennen, ßs ist also unerläßlich, sich so weit, als möglich, mit ihnen bekannt zu machen. Wenn wir uns eine der niedersten Lebensformen, etwa eine Amöbe oder eine einzellige Alge vor Augen halten und bedenken, daß nach der Umwandlungslehre aus ähnlichen oder vielleicht noch weit kleineren und einfacheren Wesen der ganze Reichtum der heutigen Schöpfung ımit dem Menschen an der Spitze hervorgewachsen sein soll, so scheint dies auf den ersten Blick eine recht ungeheuerliche Annahme zu sein, die mit unseren einfachsten und sichersten Wahrnehmungen in vollem Widerspruch steht. Denn was ist sicherer, als daß wir die Tiere und Pflanzen um uns herum sich gleich bleiben sehen, solange wir sie be- obachten können, nicht nur während des Lebens eines einzelnen von uns, sondern durch ‚Jahrhunderte, ja für manche Arten durch einige Jahrtausende hindurch. So scheint es, und deshalb ist es erklärlich, daß die Entwicklungs- lehre bei ihrem ersten Auftauchen am Ende des vorigen Jahrhunderts dem allgemeinen Widerspruch begegnete, nicht nur von seiten der Laien, sondern von der Mehrheit der wissenschaftlichen Geister, daß sie nicht weitergeführt wurde, sondern zuerst bekämpft, dann aber gewissermaßen totgeschwiegen und zuletzt vollkommen wieder vergessen wurde, um erst in unseren Tagen wieder neu zu erstehen. Aber auch dann sah diese Lehre sich einem Heer von Gegnern gegenüber, das sie keines- wegs nur «durch vornehmes Ignorieren zu bekämpfen suchte, sondern durch die heftigsten und vielseitigsten Angriffe. So lag die Sache, als im Jahre 1859 das Buch Darwıns über die Entstehung der Arten «die Entwicklungstheorie von neuem auf den Schild gehoben hatte. Der Kampf. der damals entstand, ist heute als beendet anzusehen, wenigstens soweit er für uns in Betracht kommt, d.h. auf wissenschaft- lichem Gebiet: die Deszendenzlehre hat gesiegt und wir dürfen getrost sagen: für immer, die Entwicklungslehre ist ein Besitz der Wissen- schaft geworden, der nicht mehr rückgängig gemacht werden kann, sie bildet die Grundlage unserer Anschauungen von der organischen Welt und jeder weitere Fortschritt geht von diesem Boden aus. Sie werden im Laufe dieser Vorlesungen auf Schritt und Tritt jeweise für die Wahrheit dieses Satzes kennen lernen, die Ihnen viel- leicht zunächst noch als eine allzu kühne Behauptung erscheint. Es soll damit auch keineswegs gesagt sein, daß die ganze Frage nach der Um- wandlung der Organismen und der Aufeinanderfolge neuer Lebensformen bis in alle Tiefen beantwortet sei, oder gar, daß wir das Rätsel des Lebens selbst jetzt glücklich gelöst hätten. Nein! wenn wir dieses Ziel jemals erreichen sollten, so sind wir doch jetzt jedenfalls noch weit da- von entiernt, und auch «das weit eher noch lösbare Problem. wie und durch welche Kräfte die Entwieklung der Lebewelt von gegebenem An- fang aus erfolgte, ist noch fern davon, endgültig entschieden zu sein; verschiedene Ansichten kämpfen noch miteinander, und es gibt keinen Schiedsrichter, der mittelst Machtspruchs entscheiden könnte, wer im Recht ist. Das Wie der Umwandlung der Arten ist also noch zweifelhaft, nicht aber (las Daß, und «dies ist der sichere Boden, auf dem wir heute Einleitung. > stehen: die Lebewelt von heute ist entwickelt, nicht aber auf einmal entstanden. Soll ich Ihnen im voraus schon einen ungefähren Begriff von der Sicherheit geben, mit der wir auf diesem Boden fußen dürfen, so bin ich fast in Verlegenheit wegen der Uberfülle von Tatsachen. aus denen ich da schöpfen kann. Sie werden heute kaum irgend eine große oder kleine Arbeit über die feineren oder gröberen Bauverhältnisse oder die Entwicklung irgend eines Tieres in die Hand nehmen können, olıne darin Belege für die Evolutionstheorie zu finden, d.h. Tatsachen, welche sich nur unter Voraussetzung einer Entwicklung der Lebewelt verstehen lassen, gar nicht zu reden von den unausgesetzt sich mehrenden Tat- sachen, welche die Paläontologie ans Licht bringt, und die ja direkt uns die Objekte vor Augen stellen, welche die Entwicklungslehre als die Vorfahren der heutigen Organismenwelt postuliert: Vögel mit Zähnen im Schnabel, Reptilien, die mit Federn bekleidet waren und zahlreiche andere, längst ausgestorbene Lebensformen, welche, vom Schlamm früherer (sewässer zugedeckt und später im Sedimentgestein emporgehoben, als „Versteinerungen* uns davon Nachricht geben, wie die früher lebende Tier- und Pflanzenwelt beschaffen war. Sie werden später sehen, dab auch die geographische Verteilung der Pflanzen- und Tierarten der heutigen Lebewelt nur unter der Voraussetzung, dab dieselbe entwickelt ist, sich verstehen läßt. Was aber einstweilen, ehe ich Sie in das ein- zelne noch eingeführt habe, meine Behauptung in Ihren Augen am besten rechtfertigen wird, ist der Umstand, daß die Entwicklungslehre auch Voraussagen erlaubt. Nur wenige Beispiele! Das Skelett der Handwurzel bei allen Wirbeltieren aufwärts von den Fischen besteht aus zwei Reihen kleiner Knochen, auf deren äußerer dann die fünf den Fingern entsprechenden Mittelhandknochen aufsitzen. Die äußere Reihe verläuft bogenförmig und es bleibt so eine Lücke zwischen beiden Reihen, welche bei Am- phibien und Reptilien durch einen besonderen kleinen Knochen ausge- füllt wird. Dieses „Os centrale* fehlt nun bei vielen Säugetieren, wie vor allem beim Menschen, und die Lücke zwischen beiden Knochen- reihen ist hier durch Vergrößerung eines der anderen Knochen ausge- füllt. Wenn nun die Säuger von niederen Wirbeltieren abstammen, wie die Deszendenzlehre es annimmt, so mußte man erwarten, das Os cen- trale in Jugendstadien auch des Menschen noch vorzufinden, und es ist denn auch nach manehen vergeblichen Versuchen zuletzt von ROSENBERG wirklich gefunden worden, und zwar in einer sehr frühen Periode der Embryonalentwicklung. Dieser Vorhersage, wie auch den gleich noch weiter zu erwähnen- den, liegt die Erfahrung zugrunde, daß die Entwicklung des einzelnen Tieres im allgemeinen denselben Weg einhält. den die Stammesentwick- lung der Art genommen hat. so daß also Bildungen der Vorfahren einer Art, wenn sie auch in dem fertigen Tier nieht mehr enthalten sind, doch in irgend einem frühen Entwieklungsstadium desselben vorkommen. Wir werden diese Erfahrung später als biogenetisches Gesetz näher kennen lernen: sie allein würde fast schon genügen, um die Evolutions- lehre sicher zu stellen. So atmen z. B. «die niedersten Wirbeltiere, «lie Fische, durch Kiemen, und diese ihre Atmungsorgane stehen auf vier oder mehr sog. Kiemenbogen, zwischen denen Spalten zum Durchströmen des Wassers frei bleiben, die Kiemenspalten. Obgleich nun die Rep- tilien, Vögel und Säuger dureh Lungen atmen und zu keiner Zeit ihres | 4 Voraussaseen auf Grund der Theorie. Lebens durch Kiemen, so besitzen sie doch in frühester Jugend, d.h. während ihrer ersten Entwicklung im Ei jene Kiemenbogen und Kiemen- spalten, die später schwinden oder sich in andere Teile umwandeln. Auf Grund dieses „biogenetischen (Gresetzes* konnte man auch vorhersagen. daß der Mensch, der bekanntlich 12 Rippenpaare besitzt, in seiner frühesten Jugend deren 13 haben würde, denn die niederen Säugetiere haben zahlreichere Rippen, und noch unsere nächsten Ver- wandten, die menschenähnlichen Affen, Gorilla und Schimpanse, zeigen eine 13.. freilich sehr kleine Rippe, der Siamang deren sogar noch eine I4. Auch diese Vorhersage hat sich durch die Untersuchung junger menschlicher Embryonen bestätigt, bei denen in der Tat eine kleine, sehr bald wieder schwindende 13. Rippe vorhanden ist. Als ich mich in den siebziger Jahren mit der Entwicklung der eigentümlichen Zeichnung beschäftigte, welche den langen Körper der Schmetterlingsraupen häufig schmückt, untersuchte ich besonders die Raupen unserer Sphingiden oder Schwärmer und fand durch Verglei- ehung der verschiedenen Entwicklungsstufen ihrer Zeichnung vom Aus- schlüpfen der Raupe aus dem Ei an bis zum vollen Heranwachsen der- selben eine bestimmte Aufeinanderfolge verschiedener Zeichnungsarten, die sich bei einer Reihe von Arten in ähnlicher Weise ablösten. Fubßend auf der Entwicklungslehre schloß ich daraus, daß die Zeichnung der jüngsten Räupchen, einfache Längsstreifung. auch diejenige der ältesten Vorfahren der heutigen Arten. gewesen, diejenige der späteren Stadien aber, eine Schrägstreifung, erst von späteren Vorfahren erworben worden sein müsse. War dies richtig, dann mußten alle Raupenarten, welche heute in erwachsenem Zustande Schrägstreifung aufweisen, in ihren frühen Jugend- stadien Längsstreifung besitzen, und so konnte ich auf Grund dieser in der Einzelentwicklung sich folgenden Zeichnungsarten voraussagen, dab die damals noch unbekannte ‚Jugendform der Raupe unseres Liguster- schwärmers, Sphinx Ligustri, einen weißen Längsstreifen zu beiden Seiten des Rückens aufweisen müsse. Ein Jahrzehnt später gelang es dem englischen Zoologen POULTON, Eier vom Ligusterschwärmer zu erhalten, und da zeigte es sich, daß die jungen Räupchen die postulierten Längs- streifen wirklich besaßen. Solche Vorhersagen erteilen ohne Zweifel der Voraussetzung, auf welcher sie fußen, der Entwicklungslehre, einen hohen Grad von Sicher- heit, fast vergleichbar der berühmten Voraussage des Planeten Neptun durch LEVERRIER. Bekanntlich würde dieser fernste aller Planeten, dessen Umlaufszeit um die Sonne fast 165 Erdenjahre beträgt, schwer- lich jemals aufgefunden oder doch als Planet erkannt worden sein, hätte nicht zuerst ein Astronom der Londoner Sternwarte (ADAMS), dann LEVERRIER durch kleine Störungen in der Bahn des Uranus seine An- wesenheit erschlossen und die Stelle bezeichnet, an welcher sich ein unbekannter Planet befinden müsse. Nun richteten sich alle Fernrohre nach der bezeichneten Gegend des Himmels, und auf der Berliner Stern- warte fand GALLE den gesuchten Planeten. Man würde mit Recht denjenigen für unzurechnungsfähig halten, der solehen Erfahrungen gegenüber den Umlauf der Erde um die Sonne noch in Zweifel ziehen wollte, und mit demselben Recht würde man (dies jemandem gegenüber tun «dürfen, der bei den heute bekannten Tat- sachen die Richtigkeit der Entwieklungslehre bezweifeln wollte. Sie ist die Basis, von welcher aus allein ein Verständnis dieser Tatsachen - Einleitung. » möglich ist, gerade wie die KAnT-LAPLAcEsche Theorie des Sonnensystems die einzige Basis ist, von der aus die Tatsachen des Himmels ihre aus- reichende Erklärung finden. Man hat diesem Vergleich der beiden Theorien entgegen gehalten, daß die Evolutionstheorie doch bei weitem minderwertiger sei, da sie erstens nicht mathematisch bewiesen werden könne und zweitens im besten Falle doch nur die Umwandlungen der Lebenwelt. nicht aber ihren Ursprung erklären könne. Beides ist richtig, die Lebenserschei- nungen sind ihrer Natur nach viel zu verwickelt, als daß die Mathe- matik sich anders als nur sehr zaghaft an sie heranwagen könnte, und die Frage nach dem Ursprung des Lebens ist ein Problem, das noch lange seiner Lösung harren wird. Wem es deshalb Freude macht, die eine Erkenntnis höher zu schätzen als die andere, den kann man daran nicht hindern, ein besonderer Vorteil ist jedoch wohl kaum damit ver- bunden. ‚Jedenfalls teilt die Entwicklungstheorie das Schicksal, nicht alles erklären zu können. was in ihr Gebiet fällt, mit der KAnT-LAPLACE- schen Kosmogonie, denn auch diese muß den ersten Anfang. den rotie- renden Weltnebel voraussetzen. Wenn ich nun auch die Deszendenzlehre für erwiesen und für eine der großen Errungenschaften menschlicher Erkenntnis halte, so soll damit doch — ich wiederhole es — nichts weniger gesagt sein, als dab nun schon alles in bezug auf die Entwicklung der Lebewelt im klaren wäre. Ganz im Gegenteil, glaube ich, dab wir noch ziemlich im Anfang der Forschung stehen, daß unsere Einsicht in den großartigen Entwick- lungsprozeß, der das unendlich vielgestaltige Leben auf unserer Erde hervorgerufen hat, noch eine recht unvollkommene ist im Verhältnis zu dem, was noch erforscht werden kann, dab wir keine Ursache zur Selbst- überhebung, wohl aber viele zur Bescheidenheit haben. Wenn wir auch sicher uns freuen dürfen, um einen so gewaltigen Schritt vorwärts ge- kommen zu sein, wie das Durchdringen der Entwicklungslehre ihn dar- stellt, so müssen wir doch eingestehen, daß uns der Anfang des Lebens so wenig klar ist, als der Anfang des Sonnensystems, aber wir können doch wenigstens heute die zahllosen, wunderbaren Beziehungen der or- ganischen Formenwelt untereinander auf ihre Ursachen — gemeinsame Abstammung, Anpassung — zurückführen, und wir können es wenigstens versuchen, auch die Mittel und Wege aufzudecken, welche zur Herstellung der Organismenwelt zusammengewirkt haben. Wenn ich die Deszendenzlehre als einen der größten Fortschritte in der Entwicklung menschlicher Erkenntnis bezeichnete, so bin ich Ihnen schuldig, diese Behauptung zu begründen. Sie rechtfertigt sich, wie mir scheint, schon fast allein dadurch, daß es sieh bei ihr nieht etwa bloß um eine neue Erkenntnis auf dem speziellen (Gebiete der biologischen Wissenschaften, Zoologie und Botanik, handelt, sondern um eine Er- kenntnis von ganz allgemeiner Bedeutung. Die Vorstellung von einer Entwicklung der irdischen Lebewelt greift weit hinaus über die (Grebiete einzelner Wissenschaften und beeinflußt unseren gesamten Gedankenkreis. Sie bedeutet nichts Geringeres, als die Entfernung des Wunders aus unserem Wissen von der Natur und die Einreihung der Erschei- nungen des Lebens in die übrigen Naturvorgänge als, gleichwertige, d. h. als solche, die aus denselben Kräften erwachsen und denselben Gesetzen unterworfen sind. Auf dem (Gebiete des Unorganischen zweifelt heute 6 Eingreifen in alleemeine Vorstellungen. niemand mehr daran, «das aus nichts auch nichts werden kann, Kraft und Stoff sind ewig und unvergänglich, sie können nicht vermehrt und nicht vermindert. nur umgewandelt werden, Wärme in mechanische Kraft, in Elektrizität, in Licht u. s. w. Den Blitz schleudert für uns moderne Menschen nicht mehr der Donnerer Zeus auf das Haupt des Schuldigen, sondern unbekümmert um Verdienst und Schuld fährt er da nieder, wo die elektrische Spannung auf dem leichtesten und kürzesten Wege aus- geglichen werden konnte. So denken wir uns heute auch, dab kein Ereignis im Bereich des Lebendigen auf Willkür beruht, dab zu keiner Zeit Organismen aus nichts durch ein Machtwort des Schöpfers ent- standen, sondern daß sie jederzeit aus dem Zusammenwirken der vor- handenen Naturkräfte hervorgegangen sind, daß eine jede Art gerade da und gerade zu der Zeit und in solcher Form entstehen mubte, wie sie tat- sächlich entstanden ist, als notwendiger Ausfluß der vorhandenen auf- einander wirkenden Kräfte und Massen. In der Unterordnung auch der lebenden Natur unter die Naturkräfte und Naturgesetze, darin beruht die allgemeinste Bedeutung der Entwicklungslehre; sie fügt den Schluß- stein in das Gewölbe unserer Naturauffassung ein und gestaltet dieselbe zu einer einheitlichen; sie erst macht die Vorstellung eines Weltmecha- nismus möglich, in dem jeder Zustand die Folge des vorhergehenden und die Ursache des folgenden ist. Wie tief sie eingreift .in alle unsere früheren Anschauungen, das kann man sich leicht klar machen, wenn man nur den einen Punkt der Abstammung des Menschengeistes von dem tierischer Vorfahren ins Auge faßt; was soll da aus der Vernunft des Menschen, seiner Moral, seiner Willensfreiheit werden, so könnte man fragen, und so hat man gefragt und fragt häufig noch so. Was man für etwas absolut Ver- schiedenes vom Wesen des Tieres gehalten hatte, das soll jetzt nur oraduell von seinen (reistestätiekeiten verschieden sein, soll sich aus jenen entwickelt haben: der Geist eines KAnT, eines LAPLACE oder Darwın, oder wenn wir auf das Gebiet des höchsten und feinsten Ge- fühlslebens blicken — der Geist eines RAPHAEL oder MOZART — soll in irgend einem, wenn auch noch so weit zurückliegenden realen Zu- sammenhang mit dem niederen Seelenleben eines Tieres stehen! Das streitet gegen alle unsere überkommenen, fast möchte man sagen ein- geborenen Vorstellungen, und es ist wahrlich nicht zu verwundern, wenn die Laienwelt und gerade die feingebildete sich gegen eine solche Lehre verwahrte, deren zwingende Kraft sie nicht verstehen konnte, weil ihr die Tatsachen fremd waren, auf welcher sie ruht. Vom Standpunkte (des Naturforschers erscheint es freilich fast komisch, wenn der Mensch sich durch die Abstammung vom Tiere entwürdigt glaubt, weiß er «doch, daß jeder von uns in seinem ersten Anfange eine noch unendlich viel niedere Stufe des Lebens einnahm als unsere Säugetiervorfahren. die Stafe nämlich der Amöbe, des mikroskopisch kleinen einzelligen Wesens, welches beinahe noch keine Organe besitzt und dessen geistige Tätig-' keiten auf das Erkennen und Verschlingen seiner Nahrung beschränkt sind. Erst sehr allmählich, Stufe um Stufe entwickeln sich aus dieser ersten Zelle, dem Ei, ihrer mehrere und immer zahlreichere,. sondert sich «dieser Zellenhaufen in verschiedene Gruppen, «die sich mehr und mehr differenzieren, bis schließlich der vollendete Mensch daraus wird. Dies geschieht bei,jeder Entstehung eines Menschen, und wir sind nur nicht gewohnt, daran zu denken, daß dies nichts anderes bedeutet, als Einleitung. -_ ein unglaublich rasches Aufsteigen des Organismus von einer sehr niederen Stufe des Lebens zu der höchsten. Noch weniger wird man sich wundern, daß von seiten der Ver- treter der Religion der Entwicklungslehre mit Heftigkeit entgegengetreten wurde, stand doch diese Lehre in offenem Widerspruch mit jener merk- würdigen, altehrwürdigen Kosmogonie der mosaischen Schöpfungsge- schiehte, und war man doch gewohnt, diese nicht als das. was sie ist, nämlich die Weltauffassung einer frühen Zeit der Menschenkultur, zu be- trachten,. sondern als einen unveräußerlichen Teil unserer eigenen Reli- sion. Aber die Forschung zeigt uns. daß die Evolutionslehre eine Wahr- heit ist, und das müßte eine schwache Religion sein, welche sich der Wahrheit nicht anzupassen, das Wesentliche beizubehalten und das Un- wesentliche und mit dem Entwicklungsgang der Menschheit Wechselnde fallen zu lassen imstande wäre. Auch die heliozentrische Hypothese ist seinerzeit von der Kirche für falsch erklärt und GALILEI zum Widerruf gezwungen worden, aber die Erde fuhr doch fort, um die Sonne zu laufen, und heute würde jemand für sehr schwach oder sehr verdreht gehalten werden, der noch daran zweifeln wollte. So ist wohl die Zeit nicht fern, wo auch die Vertreter der Religion diesen so aussichtslosen Kampf gegen die neue Wahrheit der Menschheit allgemein aufgeben und einsehen werden, daß die Erkenntnis einer gesetzmäbigen Entwicklung der Lebewelt wahre Religion so wenig beeinträchtigt, als der Umlauf der Erde um die Sonne. Wenn ich nun nach diesen Worten der allgemeinsten Orientierung über das Problem, welches uns hier beschäftigen soll, an dieses selbst herantrete, so möchte ich mich der historischen Methode bedienen: ich möchte nieht Ihnen die Anschauungen der heutigen Wissenschaft ganz plötzlich und unvermittelt vorführen, sondern Ihnen zuvor zeigen, was frühere Geschlechter über die Frage von der Entstehung der Organis- menwelt gedacht haben. Wir werden sehen, dab dessen bis auf die neue Zeit, die Wende nämlich zwischen XVIII. und XIX. Jahrhundert, nur äuberßt wenig ist. Erst dann treten einige geniale Naturforscher mit Entwicklungsgedanken hervor, die aber nicht «durchdringen und erst nach der Mitte des XIX. Jahrhunderts von neuem einen Vertreter finden, um nun endlich Gemeingut. dauernder Besitz der Wissenschaft zu werden. Es ist die Lehre CHARLES DARWINS, welche diesen endlichen Durch- bruch bewirkte und den Grund zu unseren heutigen Ansichten legte, und sie wird uns deshalb eine ganze Reihe von Vorträgen hindurch beschäftigen. Erst wenn wir sie kennen gelernt haben, werden wir uns zur Prüfung ihrer Fundamente wenden, um zu sehen, wie weit dieser glänzende Bau auch sicher begründet ist und wie tief seine Erklärungs- kraft gegen die Wurzeln der Erscheinungen hinabreicht. Wir werden die in den Organismen waltenden Kräfte und Erscheinungen untersuchen und daran die Erklärungsprinzipien Darwıns prüfen, sie zum Teil ver- werfen müssen, zum Teil aber in bedeutend erweitertem Sinn annehmen und dadurch dem ganzen theoretischen Gebäude eine sichere Basis zu geben suchen. Ich hoffe, Sie überzeugen zu können, «dab wir seit DAr- wın Fortschritte gemacht haben, daß Konsequenzen aus seiner Lehre seither gezogen worden sind, die ihm selbst noch fremd und die wohl geejgnet waren, neues Licht auf große Erscheinungsgebiete zu werfen, schließlich daß durch ausgedehntere Anwendung seines eigenen Prinzips Q (Greschiehtliche Einleitung. eine Abrundung und innere Harmonie in die Theorie gekommen ist, deren sie vorher entbehrte. So (denke wenigstens ieh selbst, will Ihnen aber «durchaus nicht verhehlen. daß diese meine Ansicht keineswegs von allen heute lebenden Naturforschern geteilt wird. Die offenbaren Lücken und Mängel der Darwinschen Theorie haben in den letzten Jahrzehnten allerlei Ver- suche zu ihrer Verbesserung hervorgerufen, die teilweise rasch wieder verschwanden, nachdem sie eben erst aufgetaucht waren, teilweise aber sich heute noch halten und zahlreiche Anhänger besitzen. Mit der Dar- legung aller der ersteren möchte ich Sie nicht verwirren, die letzteren aber werden auch in diesen Vorträgen Erwähnung und, soweit erforder- lich, auch Bekämpfung finden müssen, wenn es auch mein Ziel nicht ist. Ihnen das ganze Gewirr von Meinungen vorzuführen, welche heute auf dem (Gebiete der Entwicklungslehre durcheinander schwirren, vielmehr Ihnen das Bild einer Entwicklungslehre vorzuführen, wie es sich mir selbst im Laufe von vier Jahrzehnten allmählich festgestellt hat. Auch dieses wird nıcht das letzte sein. von welchem die Wissenschaft Kennt- nis nimmt, aber es wird, so hoffe ich, wenigstens eines sein, auf dem sich weiter bauen läht. Lassen Sie mich gleich mit den ältesten Vorläufern «der heutigen Deszendenztheorie beginnen, mit jenem geistreichen griechischen Philo- sophen Empeldokles, der, gleichbedeutend als Lenker des Staates von Agrigent, wie als Denker auf rein theoretischen Gebieten, sehr merk- würdige Ansichten über die Entstehung der Organismen zutage gefördert hat. DBereiten Sie sich aber darauf vor, nicht etwa eine Theorie im Sinne heutiger Wissenschaft zu vernehmen, und erschrecken Sie nicht über die zügellose diehterische Phantasie des spekulierenden Philosophen: es ist trotzdem ein guter Kern in seinen luftigen Bildern enthalten, ein (redanke, dem wir, freilich in viel konkreterer Form, später in der Dar- winschen Theorie wieder begegnen und den wir — wenn ich nicht irre — wohl für alle Zukunft festhalten werden. Nach Empedokles bilden die vier Elemente der Alten: Erde, Wasser, Luft und Feuer die Welt, bewegt und geleitet durch zwei Grundkräfte, Hab und Liebe, oder wie wir heute sagen würden: Ab- stoßung und Anziehung. Durch das zufällige Spiel dieser beiden Kräfte mit den Elementen entstanden zuerst die Pflanzen, dann die Tiere, und zwar derart, daß anfänglich nur Teile und Organe der Tiere sich bildeten: einzelne Augen ohne Gesichter, Arme ohne Körper, Körper ohne Köpfe usw. Dann versuchte die Natur in wirrem Spiel die Zusammenfügung solcher einzelner Teile und schuf so alle möglichen Kombinationen, zum gröbten Teil ganz unbrauchbare, zum Leben unfähige Monstra, zum kleineren Teil aber doch auch solche, deren Teile zu einander paßten, so dab eın lebensfähiges und. wenn die Zusammenpassung eine voll- ständige war, auch ein fortpflanzungsfähiges Geschöpf zustande kam. Diese Schöpfungsphantasie sieht in der Tat toll genug aus, aber es schlummert in ihr, ihr selbst unbewußt, der richtige Gedanke der Selektion, der Gedanke, daß vieles Unzweckmäbiges zwar entsteht, dab aber nur das Zweckmäßige Bestand hat. Das mechanische Zustande- kommen des Zweekmäßigen ist der gute Kern dieser wunderlichen Lehre. Die naturwissenschaftlichen Kenntnisse der Alten über Leben und Lebensformen gipfelten in Aristoteles, gestorben 322 vor Christus. Geschichtliche Einleitung. 9) Er umfaßte als echter Polyhistor das Wissen seiner Zeit, fügte wohl auch manches hinzu, was auf eigener Beobachtung beruhte, und gab in seinen Schriften nicht wenige gute Beobachtungen über den Bau und die Lebensweise einer Anzahl von Tieren, wie er sich denn auch das Verdienst der ersten systematischen Gruppierung der Tiere erwarb. Mit richtigem Blick faßte er (die Wirbeltiere zusammen als Enaimata oder Bluttiere und stellte sie allen übrigen gegenüber, die er als Anaimata oder blutlose Tiere bezeichnete. Daß er diesen letzteren den Besitz von Blut absprach, wird man ihm bei den höchst unvollkommenen Mitteln der Untersuchung seiner Zeit nieht hoch anreehnen wollen, und ebensowenig, daß er diese bunt gemischte Gesellschaft als einheitliche und gleichwertige Gruppe den Bluttieren gegenüberstellte. Tat doch noch zwei Jahrtausende später LAMARCK genau dasselbe, als er die Tiere in Wirbeltiere und Wirbellose einteilte, und rechnen wir ihm dies heute noch insoweit als Verdienst an, als er, wie Aristoteles die Zusammen- gehörigkeit der Tierklassen, welche wir heute Wirbeltiere nennen, da- durch zuerst wieder zum Ausdruck brachte. Ubrigens war Aristoteles durchaus kein Systematiker in unserem Sinne: wie hätte er es auch sein können bei der geringen Kenntnis seiner Zeit von Tierformen. Wir haben heute die Beschreibungen von nahezu 300000 benannter Arten vor uns, aus denen wir ein System bilden können, während Aristoteles deren kaum mehr als 200 kannte. Von der ganzen mikroskopischen Tierwelt konnte er noch keine Ahnung haben und ebensowenig von der Existenz von Resten vorweltlicher Tiere, von denen wir heute etwa 40000 Arten wohl beschrieben und benannt vor uns haben. Man sollte denken, es hätte dem feinsinnigen Volke der (riechen auffallen und zum Denken anregen müssen, wenn sie auf ihren Bergen hoch über dem Meere Muschel- und Schneckenschalen fanden. Aber sie erklärten sich das aus der großen Flut zu Zeiten des Deukalion und der Pyrrha und bemerkten es nicht, daß jene fossilen Muscheln andere Arten waren, als sie das Meer ihrer Zeit lebend enthielt. So fehlte für Aristoteles und seine Zeitgenossen jeder Anlaß, auf den Gedanken einer im Laufe der Zeiten stattgefundenen Umwand- lung der Arten zu kommen, und auch die folgenden Jahrhunderte brachten nichts derartiges, noch erneuten sie die Spekulationen über den Ursprung der ÖOrganismenwelt nach Art des Empedokles. Über- haupt machte die Kenntnis der Lebewelt bis zu Beginn «der römischen Kaiserzeit keinerlei Fortschritte, eher Rückschritte; man vergab, was Aristoteles gewußt hatte, und das Werk von PLixıus über die Tiere ist ein mit zahlreichen Fabeln verbrämter Tierkatalog, geordnet nach einem ganz äußerlichen Einteilungsprinzig. Prixtus teilte nämlich die Tiere in Erd-, Wasser- und Lufttiere, kaum sehr viel wissenschaftlicher, als wenn er sie nach dem Alphabet eingeteilt hätte. Während der römischen Kaiserzeit sank bekanntlich die natur- wissenschaftliche Kenntnis noch tiefer und tiefer herab: Naturforschung gab es überhaupt nieht mehr, und selbst die Ärzte verloren jede natur- wissenschaftliche Grundlage und kurierten nach ihren eingelernten (ie- heimmitteln. Wie die gesamte Kultur des Abendlandes mehr und mehr sich auflöste, so vertiel auch die Naturkunde der früheren ‚Jahrhunderte zuletzt vollständig, und die erste Hälfte des Mittelalters zeigt uns eine Unwissenheit der europäischen Menschheit über die ihnen nächstliegenden Naturobjekte, von der man sieh nur schwer eine Vorstellung machen kann. 10 Geschichtliche Einleitung. Daran war zum Teil wohl auch das Christentum schuld, welches zuerst wenigstens die Naturkunde als von (den Heiden kommend zu bekämpfen oder doch ungünstig betrachten zu müssen glaubte. Später allerdings hielt gerade die christliche Kirche es für nötig, dem Volke einige naturwissenschaftliche Nahrung zu bieten, und unter ihrem Ein- tHuß. wahrscheinlich sogar von Lehrern der Kirche verfaßt, kam ein Büchlein zustande, der sogenannte Physiologus. der das Volk über (die Tierwelt belehren sollte. Diese merkwürdige Schrift hat sich er- halten, sie muß eine sehr große Verbreitung im frühen Mittelalter ge- habt haben, denn sie ist in nicht weniger als 12 verschiedene Sprachen übersetzt worden, ins (Griechische, Armenische, Syrische, Arabische, Äthiopische usw. Der Inhalt ist höchst sonderbar und stammt aus den verschiedensten (wuellen, d. h. aus («den verschiedensten alten Schrift- stellern, aus HERODOT,. aus der Bibel usw., nur niemals aus der eigenen Beobachtung. Es sind auch keine eigentlichen Beschreibungen der Tiere oder ihres Lebens, welche beigebracht werden, sondern von jedem der 41 Tiere, die der Physiologus kennt, wird sehr kurz in wahrem Lapidarstil irgend etwas Merkwürdiges erzählt. sei es eine bloße Kurio- sıtät ohne weiteren Sinn oder eine symbolisierte Handlung. So heißt es vom Panther: „er ist bunt, nach der Sättigung schläft er drei Tage, erwacht mit Gebrüll und läßt einen so angenehmen Geruch von sich ausgehen, daß alle Tiere zu ihm kommen“ Vom Pelikan wird die bekannte Fabel erzählt. daß er sieh die Brust aufritze, um seine Jungen mit dem eigenen Blute zu nähren, also ein Symbol der Mutterliebe. Auch fabelhafte Tiere werden aufgeführt. Vom Phönix, jenem in Gold- und Edelsteingefieder glänzenden Vogel, der schon dem HERODOT be- kannt war und der sich später in die orientalischen Märchen und bis zu unseren Romantikern (TIEK) hinübergerettet hat, heißt es: „er lebt 1000 Jahre, weil — er nicht vom Baume der Erkenntnis gegessen hat“, dann verbrennt er sich selbst und entsteht wieder von neuem aus seiner Asche* — ein Symbol der ewigen Selbstverjüngung der Natur. Während aber unter den Völkern Europas die Wissenschaft der Alten bis auf unkenntliche Reste verloren ging, erhielt sie sich, wie auf anderen (rebieten, so auch auf dem der organischen Natur bei den Arabern, (durch welche ja so manche Schätze des Altertums schließlich wieder auf uns gekommen sind: auf dem Wege arabischer Eroberungen kamen sie über Nordafrika und Spanien wieder zu den europäischen Völkern. Auf diesem Wege gelangten auch die Schriften des Aristoteles wieder zur Geltung. nachdem sie durch unseren für Wissenschaft und Kunst begeisterten Hohenstaufenkaiser Friedrich II. in Palermo ins Lateinische übersetzt worden waren: ein Exemplar des Aristoteles machte Friedrich II. der Universität Bologna zum (seschenk, damit wurde das Wissen des alten Griechen wieder (Gemeingut der euro- päischen Kultur. Vom XIII. Jahrhundert an bis zum XVI. beschränkte sich die Naturwissenschaft darauf, die Angaben des Aristoteles zu verbreiten und zu wiederholen. Neues, auf eigener Beobachtung Be- ruhendes kam nieht hinzu, ja es fiel nieht einmal jemand ein, die An- gaben des Stagiriten einer Prüfung zu unterziehen, auch dann nicht, wenn sie die nächstliegenden Objekte betrafen. Niemand bemerkte den Irrtum, dab der Fliege acht. statt sechs Beine zugeschrieben wurden, es gab eben noch keine Naturforscehung, alles Naturwissen war ein rein scholastisches und beruhte auf dem unbedingten Glauben an die Autorität der Alten. Geschichtliche Einleitung. 11 Ein Umschwung erfolgte erst im Jahrhundert der Reformation, als auf allen Gebieten menschlichen Wissens und Denkens der blinde Autoritätsglaube zusammenbrach. Nach langem und schwerem Kampf wurde endlich die dürre Scholastik überwunden, und auch die Natur- wissenschaft wandte sich vom bloßen Bücherglauben dem eigenen Denken und der eigenen Beobachtung zu: sie suchte von nun an Auf- klärung über die Naturvorgänge nicht mehr in den Schriften der Alten, sondern in der Natur selbst. Wie groß diese Erlösung war, wie schwer der Kampf gegen die tief eingewurzelte Autorität, (das konnte man selbst in meiner Jugend in schwachem Nachklang noch an sich selbst erleben. Das unbewußte Gefühl, dab die Alten uns Modernen in allem und in jedem überlegen waren, wurde dem jugendlichen Geiste so fest ein- geimpft, daß uns nicht etwa bloß die wirklich kaum wieder erreichbare Plastik der Griechen oder die unsterblichen Gesänge Homers, sondern alle geistigen Produkte des Altertums als unerreichbare Muster er- schienen: die Tragödien des Sophokles waren uns die höchsten Tragö- dien, welche die Welt gesehen, die Oden des Horaz (die schönsten (re- diehte aller Zeiten! Auf naturwissenschaftlichem Gebiet begann die neue Zeit mit dem Sturz des Ptolemäischen Weltsystems. welches mehr als 1000 Jahre hindurch der Wissenschaft als Grundlage gedient hatte. Als der deutsche Domherr NICOLAUS KOPERNIK, geboren in Thorn 1473. ge- storben 1543, die alte Anschauung umkehrte und zeigte, daß nicht (lie Sonne sich um die Erde dreht. sondern die Erde um die Sonne, da war das Eis gebrochen und jeder weitere Fortschritt angebalınt. GALI- LEI sprach sein berühmtes „e pur si muove*, und KEPLER stellte seine (drei (resetze über den Lauf der Planeten auf, und abermals ein Jahr- hundert später führte NEwToN diesen Lauf auf das (Gravitationsgesetz zurück. Doch wir haben es hier nicht mit einer Geschichte der Physik und Astronomie zu tun, ich wollte nur an die Ihnen ja wohlbekannten Tatsachen erinnern. damit wir uns bewußt bleiben. wie die Erkenntnis auf diesen (Gebieten stetig begleitet wurde von Fortschritten auch auf (lem (rebiete der Biologie. Allerdings sind da zunächst noch keine so tiefgreifenden Um- wälzungen unserer allgemeinen Anschauungen zu verzeichnen. Dazu fehlte noch die breite Grundlage ausgedelmter Einzelkenntnisse, und (diese waren es, mit derer Erwerbung die folgenden «drei Jahrhunderte vom sechszehnten bis zum Schluß des achtzehnten aufs eifrigste be- müht waren. Zuerst handelte es sich darum, das, was einzelnen von den ver- schiedenen Lebensformen bekannt war, zusammenzufassen und wieder zur allgemeinen Kenntnis zu bringen. Diesem Bedürfnis entsprach zum erstenmal wieder CONRAD GESSNERS „Tierbuch“, gedruckt und mit vielen zum Teil recht guten Holzsehnitten geziert 1551 zu Zürich, ein stattlicher Folioband. Diesem folgte in vielen Bänden das lateinisch geschriebene große Werk des Bologneser Professors ALDROVANDI 16). Nicht bloß einheimische. sondern auch ausländische Tiere werden in diesen Werken beschrieben. wie denn überhaupt nach der Entdeekung von Amerika und der Verbindung mit Ostindien auf dem Seeweg zahl- reiche neue Tier- und Pflanzenformen zur Kenntnis der europäischen Völker gelangten. So beschrieb FRANCESCO HERNANDEZ, (der Leibarzt 12 Geschichtliche Einleitung. Philipps II. (gestorben 1600) allein nicht weniger als 40 neue Säuge- tiere, über 200 Vögel und viele andere amerikanische Tiere. Noch in ganz anderer Weise erweiterte sich der Gesichtskreis der Naturbeobachter «lurch die Erfindung des einfachen Mikroskops, ınit welchem zuerst LEUWENHOEK (die neue Welt der Infusorien ent- (leckte und SWAMMERDAM seine bewundernswerten Beobachtungen über Bau und Entwicklung der verschiedensten kleinen tierischen Bewohner ddes süßen Wassers machte. In demselben XVIH. Jahrhundert vervoll- ständigten Anatomen wie TuLPIUS. MALPIGHI und viele andere die Kenntnisse vom inneren Bau der höheren Tiere und des Menschen, und es wurde der Grund gelegt zu tieferer Einsicht in den Ablauf der Lebensfunktionen durch die Entdeckung des Blutkreislaufes beim Menschen und den höheren Tieren. Das folgende XVIII. Jahrhundert verfolgte diese Bahn emsiger Forschung lebhaft weiter, und man braucht bloß die Namen REAUMUR, RÖSEL VON ROSENHOF, DE GEER, BONNET, J. CHR. SCHÄFER, LEDERMÜLLER zu nennen, um an eine ganze Fülle von Tatsachen über Bau, Leben und besonders auch Entwicklung ein- heimischer Tiere erinnert zu werden, die wir jenen Männern verdanken. Aber alle diese großen und vielseitigen Fortschritte führten zu- nächst noch nicht zur Wiederaufnahme des Versuchs des EMPEDOKLES, die Entstehung der Organismenwelt zu erklären, man erkannte dies gar nicht als ein zu untersuchendes Problem, sondern begnügte sich damit, die Organismenwelt als gegeben zu betrachten. Der Gedanke. sich über den kindlich-poetischen Standpunkt der Mosaischen Schöpfungs- geschichte zu erheben, wurde nicht nur dadurch ferngehalten, daß man vollauf durch «die Beobachtung massenhafter Einzelheiten gefesselt war. sondern vor allem auch dadurch, daß zuerst durch den englischen Arzt JOHN Ray (gestorben 1678), dann «durch den großen Schweden CARL LinnE (der Begriff der naturhistorischen Art aufgestellt und in prinzipieller Schärfe umschrieben wurde. Wohl hatte man auch schon vor (diesen Männern von „Arten“ gesprochen, aber ohne damit einen so bestimmten Begriff zu verbinden, man brauchte vielmehr das Wort in demselben unbestimmten Sinn wie auch das Wort „Gattung“, indem man «damit eine der kleineren Formengruppen des Tierreichs meinte, ohne sich über deren Umfang und Begrenzung irgendwie klar zu sein. Erst jetzt wurde die „Art“ oder „Spezies“ streng im Sinne der kleinsten Gruppe der einzelnen auf der Erde lebenden Lebensformen gebraucht. JoHn Ray meinte, „das sicherste Zeichen, daß man dieselbe Spezies vor sich habe, sei der Ursprung aus demselben Samen: welche Formen nämlich der Spezies nach verschieden sind. behalten diese ihre spezifische Natur beständig, und es entsteht die eine nicht aus dem Samen der anderen und umgekehrt“. Da haben wir also den Keim der Lehre von der absoluten Natur und der Unveränderlichkeit der Spezies, wie ihn Linn& dann mit den kurzen Worten charakteri- sierte: „Species tot sunt, quot formae ab initio ereatae sunt“ — es gibt so viele Arten, als Formen von Anfang an erschaffen wurden. Damit ist es klar ausgesprochen, daß die Arten, so wie wir sie vor uns haben, von jeher gewesen sind, daß sie also unveränderlich und als solche in der Natur vorhanden, nicht etwa erst von uns Menschen in die Natur hineingelegt worden sind. Diese Ansicht war offenbar, obwohl wir sie heute nicht mehr als richtig anzuerkennen vermögen, damals durchaus zeitgemäß und berechtigt, sie entsprach dem Wissen und vor allem auch den wissenschaftlichen Be- Geschichtliche Einleitung. 13 strebungen der Zeit. Sah man sich doch im XVII. Jahrhundert in (refahr, unter der enormen Masse der Einzeltatsachen, besonders unter der Flut verschiedener Tier- und Pflanzenformen, welche fortwährend be- kannt wurden, allen Überblick über das Ganze zu verlieren, und mußte es doch als eine wahre Erlösung betrachtet werden, als nun LINnNE dieses Chaos von Formen in ein klar geordnetes System brachte und jeder Form ihren Platz und ihren Wert in bezug auf das (Granze anwies. Wie hätte aber der große Systematiker seine Aufgabe durchführen können, wenn er nicht mit bestimmten, scharf zu umschreibenden Formenkreisen hätte operieren können, wenn er nicht mindestens doch die niedersten Elemente des Systems, die Arten, als feste und bestimmte Größen hätte betrachten dürfen. Übrigens war LinnE ein viel zu scharfer Beobachter, als daß ihm nicht selbst im Laufe seines langen Lebens und unter dem Eindruck eines sich immer mehr anhäufenden Materials gewisse Zweifel an der Richtigkeit seiner Annahme von der Unveränderlichkeit und von der absoluten Natur seiner Spezies hätten aufsteigen sollen. Er erfuhr an ‘sich, was unsere Zeit dann ausgiebig betätigte, dab es leicht ist, eine Spezies zu definieren, solange man nur wenige Exemplare einer Tier- form vor sich hat, daß es aber um so schwieriger wird, je zahlreicher und von je verschiedeneren Wohnorten stammende man unter einen Hut bringen soll. In der letzten Ausgabe seines „Systema Naturae“ finden sich sehr merkwürdige Stellen, in denen LinnE£ erwägt, ob nicht am Ende eine Art sich verändern und im Laufe der Zeit in Varietäten auseinandergehen könne u. Ss. w. Aber diese Zweifel blieben zunächst unbeachtet, man hielt sich an die einmal angenommene Lehre von der Unveränderlickeit der Art und bildete dieselbe geradezu zu einem wissenschaftlichen Dogma aus. (FEORGES ÜUVIER. der große Zögling der Stuttgarter Karlsschule, ver- schärfte dasselbe noch durch seine Aufstellung von Tiertypen, gröbten Formenkreisen des Tierreichs, innerhalb deren ein bestimmter und fun- damental verschiedener Bauplan herrschen sollte. Seine vier Typen: Wirbeltiere, Mollusken, Gliedertiere und Strahltiere erschienen so als eine weitere Bestätigung von der absoluten Natur der Lebensformen, indem sie zu zeigen schienen, daß sogar die höchsten und umfassendsten Gruppen scharf begrenzt sich einander gegenüberständen. Lassen Sie mich gleich anfügen, daß diese Lehre von der abso- luten Natur der Art ihre volle Ausbildung erst in unseren Tagen er- halten hat, und zwar durch den schweizerischen, später amerikanischen Forscher Louvıs AGassız, der so weit ging, nicht nur die höchste und die niederste Kategorie des Systems, sondern auch alle dazwischenlie- genden für absolute, von der Natur selbst gebildete und scharf ge- schiedene Kategorien zu erklären. Er bemühte sich aber vergeblich, trotz Anwendung vielen Scharfsinns und eines großen und umfassenden Blickes, befriedigende und wirklich charakteristische Definitionen von dem zu geben, was man eine Klasse, eine Ordnung, eine Familie oder eine Gattung zn nennen habe. Eine solche begriffliche Definition dieser syste- matischen Begriffe gelang nicht, und sein Bemühen kann als der letzte wirklich bedeutende Versuch gelten, eine dem Untergang verfallene Natur- auffassung noch aufrecht zu halten. Doch ich habe mit dieser Erwähnung von Lovıs AGassız dem historischen Verlauf der Entwicklung der Wissenschaft vorgegriffen und gehe zurück auf das letzte Viertel des XVII. Jahrhunderts. 14 (Geschichtliche Einleitung. Der erste entschiedene Vorläufer der Deszendenztheorie, welche in diesem Zeitraum zum erstenmal in der Wissenschaft auf- tauchte, war unser eroßer Dichter GOETHE. Man hat ihn wohl auch geradezu als den Begründer derselben bezeichnet, doch scheint mir das zu viel gesagt. Wohl erkannte der forschende Geist des Dichters die merkwürdigen allgemeinen Ähnlichkeiten im Bau „verwandter“ Tiere bei aller Verschiedenheit im eimzelnen und er fragte sich nach dem Grund dieser Formbeziehungen. Durch die Wissenschaft der .‚ver- eleichenden Anatomie* wie sie um die Wende des Jahrhunderts von KIELMEYER, dem Lehrer CUVIERS, später von ÜUVIER selbst, von BLUMENBACH und anderen gelehrt wurde, waren zahlreiche Tatsachen bekannt geworden, welche zu solcher Frage hinleiteten. Man hatte z. B. erkannt, daß im Arm des Menschen, im Flügel des Vogels, in der Flosse des Seehunds, ja im Vorderfuß des Pferdes im wesentlichen die gleiche Kette von Knochenstücken enthalten war, wie denn GOETHE solche Be- ziehungen schön in seinem bekannten Vers ausgedrückt hat: „Alle Ge- stalten sind ähnlich, doch keine geleichet der andern — Und so deutet der Chor auf ein geheimes Gesetz.“ Welches nun aber dieses Gesetz war, das hat er selbst in jener Zeit noch nicht ausgesprochen, wenn er auch wohl schon damals (1796) an Umwandlungen der Arten gedacht hat. Zunächst begnügte er sich mit dem Auffinden eines idealen Ur- typus, der einer größeren oder kleineren Gruppe von Lebensformen zugrunde gelegt zu denken wäre: er erfand die „Urpflanze“, indem er richtig erkannte, dab die Teile der Blume nichts anderes seien als umgewandelte Blätter. Er sprach geradezu von der „Metamorphose der Pflanze“ und meinte damit die Umbildung seines „Urbilds* in die so unendlich verschiedenen wirklichen Pflanzen. Aber er meinte diese Um- bildung zuerst sicher nur im idealen Sinne, nicht in dem einer tat- sächlichen Umwandlung. Der Erste, der diese bestimmt behauptete, war merkwürdigerweise der Großvater des Mannes, durch welchen in unserer Zeit die Deszen- denztheorie zum endlichen Sieg geführt werden sollte, es war der im Jahre 1731 geborene englische Arzt ERASMUS DARWwIN. Dieser stille Denker veröffentlichte 1704 ein Buch. betitelt Zoonomia, und in diesem tat er den bedeutenden Schritt, das von GOETHE formulierte „geheime (esetz" in eine reale Verwandtschaft der Arten zu verwandeln. Er lehrt die stufenweise Bildung und Veredlung der Tierwelt und stützt seine Ansicht hauptsächlich auf zahlreichen. offenbaren Anpassungen des Baues an den Gebrauch eines Organs. Ich habe keine Stelle in dem Buch finden können, in welchem er etwa darauf hingewiesen hätte, daß diese Anpassungen schon aus dem Grund für eine „stufen- weise Umwandlung“ der Arten sprechen, weil zahlreiche Lebensbe- ingungen nieht von Änfang an vorhanden gewesen sein können. Er nahm aber an, so genaue Anpassungen an den Gebrauch eines Organs könnten nur durch den Gebrauch selbst entstanden sein und sah darın einen Beweis für die Umwandlung. Denselben Gedanken hatte schon GOETHE ausgerprochen, wenn er sagte: „So bildete sich der Adler dureh die Luft zur Luft, der Maulwurf durch die Erde zur Erde, die Phoka durch das Wasser zum Wasser“, und dies beweist, daß auch er schon zeitweise an eine wirkliche Umwandlung der Arten dachte, aber weder er, noch auch ERASMUS DAarwın waren sich im näheren klar darüber, wieso denn nun der Gebrauch das Organ zu verändern und umzubilden imstande sei. Der letztere sagt nur, dab Geschiehtliche Einleitung. 15 z. B. die Nase des Schweins durch das ewige Wühlen in der Erde hart geworden sei, der Rüssel des Elefanten durch «den ausgiebigen Gebrauch desselben zu allen möglichen Verrichtnngen seine Beweglich- keit erlangt habe, daß die Zunge der Grasfresser dem Hin- und Her- wenden des harten Grases im Maule ihre harte Reibeisenbeschaffenheit verdanke usw. Ein wie feiner und denkender Beobachter ERASMUS DArwın war, geht «daraus hervor. daß er schon viele der später erst von seinem Enkel wieder ans Licht gezogenen Farbenanpassungen der Tiere an ihre Umgebung ganz richtig in ihrer biologischen Bedeutung erkannt hatte. So faßte er die bunte Färbung der Riesenschlange, des Leopards, der wilden Katze als Färbungen auf. die ım Licht- und Schattenspiel des Laubdickichts sie ihren Opfern verbergen sollten. Den schwarzen Fleck vor dem Auge des Schwans betrachtete er als eine Vorriehtung, welche die Blendung des Vogels verhüten soll, wie sie eintreten müßte, wenn diese Stelle schneeweiß wäre wie das übrige Gefieder des Vogels. Am Schlusse des Buchs faßt er seine Ansichten in folgende Sätze zusammen: „Die Welt ist entwickelt. nicht erschaffen: sie ist nach und nach aus einem kleinen Anfang entstanden, hat sich durch die Tätigkeit der ihr einverleibten Grundkräfte vergrößert und ist so eher gewachsen, als durch ein allmächtiges Werde plötzlich geworden.“ — „Welch eine erhabene Idee von der unendlichen Macht des groben Architekten! der Ursache aller Ursachen, des Vaters aller Väter, des Ens Entium! Denn wenn wir das Unendliche vergleichen wollen, so möchte wohl ein größeres Unendliches der Kraft dazu erforderlich sein, die Ursachen der Wirkungen zu verursachen, als nur die Wirkungen selbst.“ In diesen Worten ist zugleich seine Auseinandersetzung mit der Religion gegeben, und zwar genau in derselben Weise, wie wir sie auch heute noch geben können, wenn wir sagen: Alles was in der Welt ge- schieht. beruht auf den Kräften, welche in ihr walten und erfolgt ge- setzmäßig; woher aber diese Kräfte und ihr Substrat, die Materie, kommen, das wissen wir nicht. und hier steht es frei, zu glauben. Ich habe nicht finden können, ob die Zoonomia mit ihren revo- lutionären Ideen zur Zeit, als sie erschien. Aufsehen erregte es scheint nicht so. „Jedenfalls ist sie seither so völlig in Vergessenheit geraten, daß sie selbst in einer sonst recht vollständigen Geschichte der Zoologie, wie der von VIKTOR Carus im Jahre 1872. gar nicht erwähnt wird. Schon ein Jahr übrigens nachdem die Zoonomia erschienen war, sprach sich ISIDORE GEOFFROY ST. HILAIRE in Paris dahin aus, das, was wir Spezies nennten, seien eigentlich nur „«degenerations“, Aus- artungen ein und desselben Typus, eine Äußerung, die zeigt, daß auch er begonnen hatte, an der Unveränderlichkeit der Arten Zweifel zu hegen. Doch kam er erst in den zwanziger Jahren des XIX. Jahrhunderts dazu, sich klar und bestimmt auf den Boden der Umwandlungslehre zu stellen, wovon später noch die Rede sein wird. Aber schon im ersten Jahrzehnt des XIX. Jahrhunderts taten dies zwei hervorragende Naturforscher, ein Deutscher und ein Franzose: TREVIRANUS und LAMARCK. GOTTFRIED REINHOLD TREVIRANUS, geboren 1776 zu Bremen, ein ausgezeichneter Beobachter und geistvoller Forscher, veröffentlichte im Jahre 1802 ein Buch, betitelt „Biologie oder Philosophie der 16 (seschiehtliche Einleitung. lebenden Natur“, in welehem er den Gedanken der Entwicklungslehre in voller Klarheit ausspricht und durchführt. Es heißt dort z. B.: „In jedem lebenden Wesen liegt die Fähigkeit zu einer endlosen Mannig- faltigkeit der Gestaltungen; jedes besitzt das Vermögen, seine Organi- sation den Veränderungen der äußeren Welt anzupassen, und dieses durch den Wechsel des Universums in Tätigkeit gesetzte Vermögen ist es, was die einfachen Zoophyten der Vorwelt zu immer höheren Stufen ler Organisation gesteigert und eine zahllose Mannigfaltigkeit in die Natur gebracht hat.“ Wo nun aber die treibende Kraft liegt, welche diese Umwand- lungen von «den niedersten zu immer höheren Lebensformen hervor- bringe, auf «diese Frage wagte offenbar TREVIRANUS noch nicht einzu- sehen. Dies zu tun und den ersten Schritt zu einer kausalen Erklärung der angenommenen Umwandlungen zu wagen, war seinem Nachfolger vorbehalten. JEAN BAPTISTE DE LAMARCK, geboren 1744 im einem Dorf der Picardie, war zuerst Soldat, dann Botaniker und erst zuletzt auch Zoolog. Wissenschaftlich bekannt machte er sich zuerst durch seine 1778 er- schienene Flora von Frankreich, und die Zoologie ehrt seinen Namen als des ersten Begründers des Begriffs der „Wirbeltiere“. Nicht daß er sich gerade mit diesen besonders eingehend beschäftigt hätte, aber er er- kannte die enge Zusammengehörigkeit der betreffenden Tierklassen, die (dann später von ÜUVIER mit dem Namen des „Typus“ oder „Embranche- ment“ systematisch bezeichnet wurde. Dieser Mann trug in seiner 1509 erschienenen „Philosophie z00- logique* eine Entwicklungslehre vor, deren Wahrheit er zunächst da- dureh zu erhärten suchte, dab er — wie dies auch TREVIRANUS getan hatte — zeigte, daß der Begriff der Art, auf deren Unveränderlichkeit (die ganze bisherige Schöpfungshypothese ruhte, ein künstlicher, von uns in die Natur hineingetragener sei, daß sie dort gar nicht als scharf umschriebene Formengruppen vorhanden seien, daß es vielmehr häufig schwierig und nicht selten ganz unmöglich sei, eine Art scharf von be- nachbarten Formen abzugrenzen, weil Übergänge sie nach allen Seiten hin mit diesen verbinden. Solche ineinanderfließende Formenkreise ddeuteten aber darauf hin, daß die Lehre von der Unveränderlichkeit (ler Arten nicht richtig sein könne, so wenig als die von ihrer absoluten Natur; die Arten seien nicht wirklich unveränderlich und nicht so alt, wie die Natur, sie seien nur für gewisse Zeiträume unveränderlich. Die Kürze unseres Lebens hindert uns, dies direkt zu erkennen: „Lebten wir noch viel kürzer, etwa nur eine Sekunde, so würde uns der Stunden- zeiger der Uhr stillzustehen scheinen und selbst die kombinierten Be- obachtungen von 30 Generationen würden nichts Entscheidendes über (lie Bewegung dieses Zeigers herausbringen, und dennoch bewegte er sich.“ Die Ursachen nun, auf welchen nach LAMARCKS Meinung die Umwandlung der Arten, ihre Umbildung zu neuen Arten beruht, liegen in dem Wechsel der Lebensbedingungen, der von den ältesten Zeiten der Erdgeschichte bis auf unsere Tage unausgesetzt stattgefunden haben müsse, einmal hier, einmal dort, teils durch klimatischen oder Nahrungs- wechsel, teils durch Veränderungen der Erdrinde, Auftauchen und Unter- sinken von Landmassen usw. bedingt. Diese Veränderungen haben teils direkt, also z. B. durch Wärme oder Kälte, den Körperbau verändert, teils, und zwar in ganz hervorragender Weise indirekt, nämlich so, dab Veränderungen in den Lebensbedingungen zunächst eine Art ver- Geschichtliche Einleitung. 7 anlaßten, gewisse Teile seines Körpers anders und stärker oder auch weniger oder gar nicht mehr zu gebrauchen, und daß nun dieser stärkere Gebrauch oder umgekehrt der Niehtgebrauch das betreffende Organ zur Abänderung veranlaßte. So verloren die Wale ihre Zähne, als sie die Gewohnheit annahmen, sich nicht wie bisher von Fischen, sondern von weichen kleinen Mol- lusken zu nähren. die sie ganz verschluckten, ohne sie zu packen. So verkümmerten die Augen des Maulwurfs durch sein Leben im Dunkeln, und noch vollständigere Rückbildung der Augen erfolgte bei Tieren, die wie der Olm (Proteus) immer in lichtlosen Höhlen leben. Bei den Muscheln verkümmerten Kopf und Augen, weil die Tiere, nachdem sie einmal von einem undurchsichtigen Mantel und einer Schale ganz um- schlossen waren, dieselben nicht mehr brauchen konnten, und ebenso verloren die Schlangen ihre Beine in dem Mabe, als sie die Gewohnheit annahmen, durch Schlängelung des langgestreckten Rumpfes sich fort- zubewegen und durch enge Spalten und Löcher zu kriechen. Umgekehrt aber erklärte LAMARCK das Zustandekommen des Schwimmfußes der Schwimmvögel in der Weise, dab irgend ein Land- vogel die Gewohnheit annahm, sich Nahrung im Wasser zu suchen und nun seine Zehen so stark wie möglich spreizte, um das Wasser kräftig schlagen zu können. Dadurch spannte sich die Hautfalte zwischen den Zehen, und indem nun (dieses Spreizen sehr häufig und bei vielen Ge- nerationen sich wiederholte, dehnte und vergrößerte sich diese „Schwimm- haut“ und bildete den Schwimmfuß. Auch die langen Beine der Sumpfvögel sind nach LAMARCK durch das stete Strecken der Beine beim Waten in tieferes Wasser allmählich entstanden und ebenso der lange Hals und Schnabel dieser Tiere, der Reiher und Störche. Schließlich sei auch noch das Beispiel der Giraffe erwähnt, deren enorm langer Hals und hohe Vorderbeine dadurch her- vorgerufen wurden, dab das Tier an Bäumen weidete und stets so hoch als möglich sich emporstreckte, um auch noch die höheren Blätter zu erreichen. Wir werden später sehen, in wie ganz verschiedener Weise CHARLES Darwın diesen Fall der Giraffe erklärt. LAMARCKS Auffassung leuchtet zunächst ein: es ist richtig, daß Übung ein Organ kräftigt und stärker macht, daß Untätigkeit dasselbe schwächt. Durch vieles Turnen werden die Muskeln unserer Arme dicker und leistungsfähiger, und auch unser Gedächtnis, d.h. also eine bestimmte Partie des Gehirns, läßt sich durch Ubung bedeutend kräftigen: ja wir dürfen heute ganz allgemein zugeben, daß jedes Organ durch Übung gekräftigt, durch Untätigkeit geschwächt wird, und insoweit hätten ja LAmArcks Erklärungen eine gute Grundlage. Aber es ist dabei noch etwas vorausgesetzt, was nicht als so ganz selbstverständlich zugegeben werden kann, nämlich die Übertragung solcher „funktioneller* Steigerung oder Herab- minderung eines Organs durch Vererbung auf die folgende Generation. Wir werden später auf diese Frage noch ausführlich zu sprechen kommen, und ich will Ihnen jetzt nur sagen, daß die Meinungen darüber, ob dies möglich sei oder nicht, heute noch geteilt sind. Ich selbst bezweifle diese Möglichkeit und kann deshalb auch dem LAMARCK schen Umwandlungsprinzip, soweit es sich auf die direkte Wirkung der Funktionierung eines Organs bezieht, keine Realität zugestehen. Wollten wir es aber auch als wirksam anerkennen, so ist doch leicht zu zeigen, dab es eine große Zahl von Charakteren nieht zu er- Weismann, Deszendenztheorio. I. 2. Aufl 2 18 Geschichtliche Einleitung. klären imstande ist. Viele Insekten, welche auf Blättern leben, sind erün und viele von ihnen besitzen genau die Nuance von Grün, welche die Pflanze besitzt. auf der sie leben: sie werden dadurch vor Nach- stellungen bis zu einem gewissen Grade geschützt. Wie sollte nun diese srüne Farbe der Haut durch eine Tätigkeit der Haut bedingt sein, da doch die Haut von der Farbe der Umgebung für gewöhnlich nicht in Tätigkeit gesetzt wird? Oder wie sollte die Gestalt einer Heuschrecke, welche auf dürren Ästcehen zu sitzen pflegt, dadurch zu einer Tätigkeit angeregt werden, die ihr die Farbe und Form eines «ürren Ästehens erteilt? Ebensowenig oder vielleicht noch weniger kann die schützende erüne Farbe von Vogel- und Insekteneiern durch den direkten Einfluß der gewöhnlichen grünen Umgebung dieser Eier erklärt werden, auch wenn wir ganz davon absehen. daß dieselben schon grün sind, wenn sie selegt werden, also ehe die Umgebung auf sie eingewirkt hat. Das LaAmArcksche Prinzip der Abänderung durch den Ge- brauch reicht also in jedem Falle bei weitem nicht aus zur Erklärung der Umwandlungen der Organismenwelt. Sicherlich war die Umwandlungstheorie von LAMARCK für die Zeit, in welcher sie aufgestellt wurde, sehr gut gestützt, sie beschränkte sich auch nicht bloß auf die Bekämpfung der Lehre von der Unveränder- lichkeit der Spezies, sondern bestrebte sich zum ersten Male, zugleich die Kräfte und Einflüsse aufzuzeigen, welche die Umwandlung der Arten bewirken müssen; sie wäre also einer eingehenden Prüfung wohl wert gewesen. Trotzdem brachte sie die Wissenschaft von ihrem einmal eingeschlagenen Wege nicht ab, man nahm kaum Notiz von ihr, und in des großen UUVIERS ‚Jahresbericht über die wissenschaftlichen Er- scheinungen des Jahres 1809 ist des LAMmArckKschen Buches nicht mit einer Silbe gedacht. So stark war die Macht des Vorurteils. Dennoch fiel mit diesem Ignorieren die neue Lehre noch nicht gänzlich zu Boden. zunächt glimmte sie in Deutschland weiter und fand ihre Vertreter in der damaligen „Naturphilosophie“, besonders in LORENZ ÖKEN, der 1783 in der Ortenau bei Offenburg geboren war. einen Bauernsohn. Dieser bekannte sich zu ähnlichen Ansichten, die freilich nicht in dem rein naturwissenschaftlichen Gewand auftraten, wie bei ERASMUS DARWIN, TREVIRANUS und LAMARCK, sondern verquickt mit allgemein philosophischen Spekulationen, wie sie besonders durch die Schriften SCHELLINGS damals in steigender Progression zur Herr- schaft gelangten. In demselben Jahre 1809, in dem LAMARCK seine ee zoologique veröffentlichte, erschien auch das „Lehrbuch der Naturphilosophie* von ÖKEN. Dieses Buch ist keineswegs einfach nur eine Deszendenzlehre, es greift viel weiter aus, umfaßt die Erscheinungen des ganzen Kosmos und geht andererseits viel zu wenig ins einzelne und bestimmte, um so bezeichnet zu werden. Ein gewisses Spielen mit Begriffen, ein Raten und Ableiten von willkürlicher Basis aus, macht es heute schwer, sich noch in diese Art des Spekulierens hineinzudenken, ich möchte Ihnen aber doch einen Begriff davon zu geben suchen, da gerade diese speku- lativen Übergriffe der katexochen sogenannten „Naturphilosophie“ wohl einen wesentlichen Anteil daran hatten, daß die ganze Entwicklungs- lehre aus (der Wissenschaft wieder verschwinden und später zum zweiten- mal neu aufgestellt werden mußte. ÖKEN definiert die Naturwissenschaft als „Wissenschaft von der ewigen Verwandlung Gottes (des Geistes) in die Welt“. „Jedes Ding, (reschichtliche Einleitung. 19 im genetischen Prozeh des Ganzen gedacht, enthält neben dem Begriff des Seins auch den des Nichtseins, indem es in einem höheren auf- geht.“ „In diesen Gegensätzen ist die Kategorie der Polarität ent- halten. Die einfacheren elementaren Körper treten zu höheren Gestalten zusammen, welche nur potenzierte Wiederholungen jener als ihrer Ur- sachen sind. Daher stellen die verschiedenen Gattungen von Körpern parallele, sich entsprechende Reihen vor. deren vernünftige Anordnung sich mit innerer Notwendigkeit aus ihrem genetischen Zusammenhang ergibt. In den Individuen aber kommen jene niedrigeren Reihen aber- mals während ihrer Entwicklung zur Erscheinung. Die Gegensätze im Sonnensystem des Planetaren und Solaren wiederholen sich in Pflanze und Tier, und da das Licht das Prinzip der Bewegung ist, so hat das Tier die selbständige Bewegung vor dem der Erde angehörigen Pflanzen- organismus voraus" USW. Sie sehen, das ist keine eigentliche Naturforschung mehr, das ist Naturkonstruktion auf Grundlage von Ahnungen und Analogien mehr, als von Wissen und Tatsachen. Das Licht ist .das Prinzip der Bewegung“, und da das Tier sich bewegt, so entspricht es also der Sonne, die Pflanze aber dem Planeten! Dabei kommt nicht der Schatten einer tieferen Erkenntnis heraus, und diese ganzen Deduktionen er- scheinen uns heute recht wertlos. Doch fehlt es keineswegs an guten Gedanken in dieser Philo- sophie, wie denn ein großer, aufs allgemeine und wesentliche gerichteter (seist dem rastlos tätigen Manne durchaus nicht abzusprechen ist. Vieles von dem, was wir heute wissen, ahnte er als der Erste damals schon und lehrte es, so z. B., daß all den Lebensformen der so unendlich verschieden gestalteten Organismenwelt ein und dieselbe Substanz zugrunde läge; der Urschleim, wie er es nannte oder, wie wir heute statt dessen sagen würden: das „Protoplasma“. Wir würden also dem Ökenschen Satz zustimmen können, der da lautet: „Alles Orga- nische ist aus Schleim hervorgegangen, ist nichts als verschieden ze- stalteter Schleim.“ Nicht wenige Naturforscher. unserer Tage würden mit OÖKEN sogar noch weiter übereinstimmen, wenn er lehrte: „Dieser -Urschleim ist im Meere im Verfolg der Planetenentwicklung aus an- organischer Materie entstanden.“ ÖKEN postulierte also eine einzige, im wesentlichen wenigstens gleich beschaffene Ursubstanz, welche die spezifische Trägerin des Lebens ist. Er ging aber noch weiter und behauptete, daß sein Urschleim die Form von Bläschen annehme, aus welchen sich dann die verschie- denen Organismen zusammensetzten. „Die organische Welt hat zur Basis eine Unendlichkeit von sotehen Bläschen.“ Wer «denkt dabei nicht an die heute alles beherrschende Zellentheorie? und in der Tat hat ÖKEN auch 30 Jahre später, als die Zelle entdeckt worden war, die Priorität dieser Entdeckung für sich in Anspruch genommen. Er ver- wechselte freilich dabei die Aufstellung eines Problems mit seiner Lösung; er hatte, und zwar ganz mit Recht, sich vorgestellt, die Orga- nismen müßten aus kleinsten Zentren von Urschleim bestehen, aber er hatte die Zelle nie gesehen oder die Notwendigkeit ihres Daseins be- wiesen oder auch nur zu beweisen versucht: seine Bläschenlehre war eine reine Divination. eine geniale, aber «doch eine solehe, die zunächst unsere Erkenntnis nicht vertiefen konnte, wie sie denn auch die Ent- deekung (der Zelle nicht beschleunigt oder hervorgerufen hat. Hier, wie überall in seiner Naturphilosophie, baute er nicht von unten auf, indem 2) Geschichtliche Einleitung. er zuerst Tatsachen feststellte und dann daraus Schlüsse zog, sondern er erfand sich umzekehrt Begriffe und Prinzipien und konstruierte sich daraus die Welt. Er unterscheidet sich darin wesentlich von seinen Vorgängern ERARMUS DARWIN, TREVIRANUS und LAMARCK, welche alle induktiv, d. h. von der Erfahrung ausgingen. So verlor sich die ganze evolutionistische Bewegung ins ungemessene; weil man alles ergründen wollte, verfehlte man auch das, was damals schon erklärbar gewesen wäre. Ohnehin mangelte es der Entwicklungs- theorie noch sehr an einer genügend breiten und sicheren Basis von Tatsachen: die „Naturphilosophie” entzog ihr vollends durch ihre Maß- losiekeit allen Kredit, und es ist kein Wunder, dab man bald aufhörte, sich mit der Frage von der Entwicklung der Lebewelt zu befassen. Wohl hielten im ersten Drittel des Jahrhunderts noch einzelne an der Evolutionslehre fest, dann aber verschwand sie vollständig aus der Wissenschaft. Ihr letztes Auftlackern zeigte sich in Frankreich, und zwar 1830 zur Zeit der Julirevolution, welche den leeitimen Thron Karl X. um- stürzte. Es ist merkwürdig, zu sehen, wie der erste Vorläufer dieser Lehre, der damals S1 jährige GOETHE, lebhaftesten Anteil an dem Kampfe nahm, der in der französischen Akademie zwischen CUVIER und Isı- DORE (GHEOFFROY ST. HILAIRE ausgefochten wurde. Ein Frennd GOETHES, SORET, erzählt, wie er am 2. August 1830 zu dem Dichter ins Zimmer trat und von diesem mit den Worten empfangen wurde: „Nun was denken sie von dieser großen Begebenheit? Der Vulkan ist zum Aus- bruch gekommen, alles steht in Flammen, und es ist nicht mehr eine Verhandlung bei geschlossenen Türen.“ SORET erwiderte: „Eine furcht- bare Geschichte! Aber was ließ sich bei den bekannten Zuständen und einem solehen Ministerium anders erwarten, als daß man mit der Ver- treibung der bisherigen königlichen Familie enden würde?" Darauf GOETHE: „Wir scheinen uns nicht zu verstehen, mein Allerbester. Ich rede gar nieht von jenen Leuten, es handelt sich bei mir um ganz andere Dinge. Ich rede von dem in der Akademie zum öffentlichen Ausbruch gekommenen, für die Wissenschaft so höchst bedeutenden Streit zwischen CUVIER und GEOFFROY ST. HILAIRE.“ | In diesem Streite bekämpfte CuUVIER die von (sEOFFROY be- hauptete Einheit des Bauplans sämtlicher Tiere, hielt ihm seine vier Typen entgegen, von denen jeder einem ganz anderen Bauplan folge und beharrte fest auf dem Satze von der Unveränderlichkeit der Spe- zies, den er geradezu als die notwendige Vorbedingung einer wissen- schaftlichen Naturgeschichte hinstellte. Der Sieg fiel CuvvIER zu, und es läßt sich nicht leugnen, daß seine Ansicht damals noch eine eroße innere Berechtigung hatte, inso- fern «die tatsächlichen Kenntnisse jener Zeit noch nieht umfassend genug waren, um die Entwicklungslehre sicher zu stellen, und als andererseits der ruhige Gang der Wissenschaft dureh vorzeitiges Generalisieren und Theoretisieren eher gestört als gefördert werden konnte. Man hatte jetzt gesehen, wie weit man in der Erklärung der allgemeinen biologischen Probleme mit dem vorhandenen Material kommen konnte, die Natur- philosophie hatte es so weit als nur möglich ausgebeutet, ja sie war weit über die Tragkraft der Tatsachen hinausgegangen, und man war der unsicheren Spekulation müde. Es trat eine völlige - Erschöpfung (der Naturphilosophie ein, und es folgte nun eine lange Periode, inner- halb deren alle Kräfte sich auf die Spezialforschung warfen. VORTRAG. Darwins Lehre. Periode der Spezialforschung p. 21, Erscheinen von DARWINs „Entstehung der Arten“ p- 23, Darwiss Leben p. 24, Reise um die Welt p. 24, seine Lehre p. 25, die Haustiere, Hund, Pferd p. 26, Tauben p. 28, künstliche Züchtung p. 32, unbewußte “) Zuchtwahl p. 34, korrelative Abänderungen p. 34. Meine Herren! Wir können die Periode der gänzlich unphilo- sophischen, reinen Spezialforschung etwa von 1830— 1860 rechnen, doch gehören natürlich auch viele Arbeiten der vorhergehenden Zeit des Jahrhunderts zu den Forschungen, welche ohne Ausblick auf allge- meine Fragen unternommen und durchgeführt wurden, und auch nach dem Jahr 1860 sind deren noch zahlreiche erschienen, wie es ja auch nicht anders sein kann, da die Grundlage jeder Wissenschaft stets in den Tatsachen liegen und die Erarbeitung des Tatsachenmaterials immer das Erste und Unentbehrlichste bleiben wird beim Fortschritt unserer Erkenntnis. Jetzt aber war sie das einzige geworden, das man anstrebte, man konzentrierte sich ausschließlich auf das Sammeln der Tatsachen. Hatte das vorhergehende ndert schon zahlreiche Aufschlüsse über den inneren Bau der Tiere. die sogenannte „vergleichende Anatomie“ gebracht, so setzten sich diese Forschungen im XIX. Jahr- hundert noch energischer und vielseitiger fort, und die Kenntnisse ver- mehrten sich ins ungeheure. Hatte man bisher hauptsächlich den Bau der Wirbeltiere und einiger sogenannter „Wirbellosen" erforscht, so wurden jetzt alle, auch die niedersten Gruppen des Tierreichs studiert und mit der Verfeinerung der Untersuchungsmethoden immer genauer und besser kennen gelernt. Man blieb aber nicht bei der Kenntnis des fertigen Tieres stehen, sondern suchte auch dessen Entwicklung zu erforschen. Im Jahr IS17 erschien die erste große entwieklungsgeschichtliehe Arbeit des ‚JJahr- hunderts, und zwar über die Entwicklung des Hühnchens im Ei von PANDER, eine Arbeit, die großes Aufsehen erregte, besonders nachdem später K. E. von BAER weitere Ausführungen und theoretische Erörte- rungen daran geknüpft hatte. Zum erstenmal wurde gezeigt. wie der Vogel sich aus einem kleinen scheibenförmigen Häutchen auf dem Dotter des Eies anlegt, das sich dann in die drei „Keimblätter* spaltet, von denen jedes seine bestimmte Rolle beim Aufban des Embryo spielt: wie dieser selbst anfänglich nur als ein blasser Streif, der „Primitiv- streif“, erscheint. zu dessen Seiten sich zwei Längswülste erheben, die „Medullarwülste*; dann weiter, wie sich ein System von Gefäßen in der 2) Periode der Spezialforschung. Umgebung dieser ersten Anlage auf der Oberfläche des Dotters ent- wickelt, ein Herz entsteht, ehe noch der übrige Körper fertig ist und das Blut in Umlauf setzt — kurz alle jene Wunder der Entwicklung, die wir heute so sehr gewohnt sind, zu kennen, daß wir kaum noch begreifen, wie sie in jener Zeit so großes Aufsehen erregen konnten. Später wandte man sich dann der Entwicklung der Fische und Amphibien zu (Acassız und VOGT, später REMAK), sowie derjenigen der Säuger, dann der der Würmer (BAGGE). der Insekten (Kör- LIKER) und endlich wurden nach und nach alle Gruppen des Tierreichs, von den Schwämmen bis zum Menschen hinauf so genau in ihrer Ent- wicklung erforscht, daß es heute fast scheinen könnte, als sei auf diesem (rebiete nicht viel Neues mehr zu entdecken — eine Meinung, die in bezug auf die gröberen Vorgänge und die nächsten Fragestellungen wohl nicht ungerechtfertigt ist, wenn man auch freilich niemals im voraus sagen kann, welch neue Probleme sich uns darbieten werden, die nur durch noch genaueres Studium der Entwicklung sich lösen lassen werden. Wie die Entwicklungsgeschichte eine Wissenschaft des XIX. Jahr- hunderts ist. so auch die Histologie, die Wissenschaft von den Ge- weben. Ihr Begründer war BıcHAT, aber ihre eigentliche Grundlage wurde doch erst von SCHLEIDEN und von SCHWANN gelegt, als sie den Begriff der „Zelle* aufstellten und nachwiesen, dab alle Tiere und Pflanzen aus Zellen bestehen. Was OKEN nur geahnt hatte, das wurde jetzt erwiesen, daß kleinste Formelemente des Lebens existieren, welche alle Teile der Tiere und Pflanzen entweder zusammensetzen oder doch durch Ausscheidung hervorbringen. Damit war denn auch ein neues Licht auf die Entwicklungsgeschichte geworfen, welches nach und nach zu der Erkenntnis hinleitete, daß auch das Ei eine Zelle sei und daß die Entwicklung auf einem Zellteilungsprozeß der Eizelle beruhe. Dies führte dann weiter zu dem Begriff der vielzelligen und der einzelligen Organismen und zu so mancher anderen Erkenntnis, von der hier zu reden zu weit führen würde. Uberhaupt ist es nicht meine Absicht, Ihnen eine irgendwie voll- ständige Übersicht über die Entwicklung der Biologie in diesem Jahr- hundert oder auch nur in dem oben bezeichneten Zeitraum der reinen Spezialforschung zu geben: ich möchte Ihnen vielmehr nur ein unge- fähres Bild von der enormen Ausdehnung und Vielseitigkeit des Fort- schrittes geben, der in diese Zeit fällt. Deshalb sei auch noch kurz der ganz neuen Tatsachen gedacht, welche in bezug auf Fortpflanzung der Tiere in dieser Periode ans Licht kamen. Die ungeschlechtliche Fortpflanzung «durch Knospung und Teilung war allerdings schon früher bekannt geworden, aber die Parthenogenese ist eine Entdeckung dieser Zeit und nicht minder der so tief in allgemeine Vorstellungen eingreifende Generationswechsel, der zuerst (1810) von CHAMISSO bei den Salpen beobachtet wurde, dann von STEENSTRUP bei Medusen und Trematoden, und der später durch die Untersuchungen von LEUCKART, V06T, KÖLLIKER, GEGENBAUR, AGASSIZ und so mancher anderen vor- trefflichen Forscher in «den mannigfaltigsten Formen und Beziehungen klargelegt wurde. Auch die Fortpflanzung durch Heterogonie, wie sie bei manchen Krustern, bei den Blattläusen und gewissen Würmern vorkommt, wurde damals erkannt und in den sechziger Jahren stellte KarL Ernst von BAER die Kinderfortpflanzung oder Pädogenesis . Periode der Spezialforschung. 23 auf, nachdem Insekten bekannt geworden waren, welche sich im Larven- zustande vermehren. Dies mag genügen. um Ihnen einen Begriff davon zu geben, eine wie große Masse neuer und zum Teil überraschender und früher nicht geahnter Tatsachen schon allein auf dem Gebiete der tierischen Biologie in jener Zeit zutage gefördert wurden. Dazu kommt dann noch die ganz erheblich anwachsende Zahl bekannter Arten, Varietäten, ihre Ver- breitung auf der Erde, dann alles dieses mutatis mutandis auch auf dem pflanzlichen Gebiete und zu alledem noch eine immer höher an- schwellende Ziffer vorweltlicher Tier- und Pflanzenarten. So sammelte sich allmählich wieder ein neues großes Material von Tatsachen an, die Forschung spezialisierte sich immer mehr und es war Gefahr vorhanden, daß man sich bald auf den verschiedenen (Gebieten nicht mehr verstehen werde, so unabhängig voneinander gingen die Einzelwissenschaften vor. Noch fehlte das einigende Band, das allge- meine Problem war verloren gegangen, in dem sich alle Wissenszweige begegnen und durch welches sie erst zu einer (resamtwissenschaft der Biologie verbunden werden mußten. Es war Zeit geworden, die Einzel- heiten wieder einmal zu verarbeiten und zusammenzufassen, damit sie uns nicht über den Kopf wuchsen als ein unzusammenhängendes Chaos, in dem niemand mehr sich zurechtfand, weil es niemand mehr übersehen und beherrschen konnte, mit einem Worte: es war Zeit. dab man sich wieder den allgemeinen Fragen zuwandte. Wenn ich die Periode von 1830—1859 die der reinen Spezial- forschung genannt habe, so heißt das nicht. daß während derselben nicht doch einige schwache Versuche gemacht worden wären, zu den großen Fragen zurückzukehren, welche den Anfang des Jahrhunderts aufgeregt hatten. wohl aber. dab solche Versuche unbeachtet blieben. So erschien 1844 ein Buch „Vestiges of the natural history of Creation“. dessen anonymer Verfasser viel später erst als der Buchhändler ROBERT ÜHAMBERS in Edinburgh sich enthüllte. In diesem Buch wurde die Entwicklung der Arten zwei Kräften zugeschrieben, einer Umwandlungs- kraft und einer Anpassungskraft. Auch die Franzosen NAuDIn und LEcogQ publizierten eine Schrift, die die Evolutionslehre aufstellte, und 1852— 1854 schrieb der bekannte deutsche Anthropolog SCHAAFHAUSEN in demselben Sinne. Aber alle diese Rufe verhallten ungehört, man war so sehr in die Einzelforschung vertieft, so daß es eines weit stär- keren Rufers bedurfte, damit er gehört werde. Man kann die Wirkung des im Jahre 1859 erschienenen Buches von CHARLES DARWwIN „Uber die Entstehung der Arten” nicht verstehen. wenn man nicht weiß, wie völlig die Biologen jener Zeit sich von den allgemeinen Problemen abgewandt hatten. Ich kann Ihnen nur sagen, daß wir damals Jüngeren. die wir in den fünfziger Jahren studierten, keine Ahnung davon hatten, daß je eine Entwicklungslehre aufgestellt worden war, denn niemand sprach uns davon und in keiner Vorlesung wurde sie auch nur erwähnt. Es war als ob alle Lehrer unserer Uni- versitäten aus dem Lethe getrunken und es vollständig vergessen hätten, daß jemals so etwas «iskutiert worden war, oder auch, als ob sie sich dieser philosophischen Ausschreitungen der Naturwissenschaft schämten und die Jugend vor ähnlichen Irrwegen bewahren wollten. Die Über- 94 Darwins Lehre. spekulation der Naturphilosophie hatte gründlichen Widerwillen gegen alle weiter reichenden Folgerungen in ihnen zurückgelassen. und über dem gerechten Streben nach rein induktiver Forschung vergaßen sie, daß zu ihr nieht nur das Sammeln von Tatsachen, sondern auch das Schließen. die Induktion gehört und dab ein noch so enormer Haufen nackter Tatsachen noch keine Wissenschaft ist. Hat doch damals einer meiner anregendsten Lehrer, der geist- reiche Anatom JAKOB HENLE. nnter sein Bild als Motto die Worte gesetzt: „Es gibt eine Tugend der Entsagung nieht nur auf moralischem, sondern auch auf intellektuellen Gebiet“, ein Satz, der direkt auf den Verzicht abzielte, allgemeineren Problemen des Lebens nachzuspüren. So ist die damalige Jugend aufgewachsen, genährt nur mit den zum Teil sicherlich interessanten, zum Teil aber auch trockenen, weil zu- nächst unverbundenen und in höherem Sinn unverständlichen Resultaten der Spezialforschung, die nur da ein tieferes Interesse darboten, wo sie, wie in Physiologie und Entwicklungsgeschichte. in sich selbst ein zu- sammenhängendes Gebäude bildeten. Ohne uns recht klar darüber zu sein, was es eigentlich war, was uns fehlte, vermißten wir damals doch recht wohl den tieferen Zusammenhang der vielen Einzelkenntnisse. So kann man es begreifen, daß Darwıns Buch einschlug wie ein Blitz aus heiterem Himmel: es wurde verschlungen, und wie es bei der Jugend Entzücken und Begeisterung erregte, so bei den älteren Natur- forschern kühle Ablehnung bis heftige Gegnerschaft. Die Welt war wie vor den Kopf geschlagen, wie Sie sehr hübsch aus dem Vorwort sehen können, mit welchem der vortreffliche Heidelberger Zoologe BRONN die Übersetzung des Darwinschen Buches einleitete und welches unter anderem die Frage enthielt: „Wie wird Dir, lieber Leser, nachdem Du dies Buch gelesen?“ usw. Ehe ich nun auf den Inhalt dieses eine neue Epoche bezeich- nenden Buches näher eingehe, möchte ich Ihnen einige Worte über den Mann selbst sagen, der die große Umwälzung hervorrief. ÜHARLES DARWIN ist in demselben Jahre 1809 geboren, in welchem LAMARCKS „Philosophie zoologique* und OKEns „Lehrbuch der Naturphilosophie“ erschien. Ein ganzes Menschenalter liegt also zwischen dem ersten und dem zweiten Aufflammen des Entwicklungslehre. Sein Vater war Arzt und sein Bildungsgang kein regelmäßiger. Er scheint in seiner Jugend viel Zeit und Leidenschait der Jagd zugewendet zu haben und sehr langsam erst zu geordneteren und bestimmter gerich- teten Studien gekommen zu sein. Dem Wunsche seines Vaters ent- sprechend studierte er eine Zeit lang Medizin, wandte sich aber dann wieder von ihr ab, um sich mit Botanik und Zoologie zu beschäftigen. Ehe er sich darin noch irgendwie ausgezeichnet hatte, in seinem zwei- undzwanzigsten Jahre, wurde ihm die Stelle des Naturforschers auf einem englischen Kriegsschiff angetragen, welches die Reise um die Welt, und zwar in langsamem Tempo machen sollte. Dies war ent- scheidend nicht nur für seine weitere Richtung, sondern auch für seine Lebensaufgabe, denn auf dieser Reise, die er an Bord des „Beagle‘, (Spür- hund) machte, kam ihm, wie er selbst erzählt. zuerst der Gedanke der Entwicklungstheorie. Als das Schiff auf den Gallapagosinseln, westlich von Südamerika, einen Aufenthalt machte, fiel es ihm auf, daß dort eine ganze Anzahl kleiner Landvögel lebten, die denen des benachbarten Festlandes selır ähnlich, aber doch auch wieder verschieden von ihnen waren. Fast jedes der Inselehen hatte seine eigenen Arten, und so Darwins Lehre. >5 tauchte der Gedanke in ihm auf, es möchten diese von einzelnen Vögeln des Festlandes abstammen, die, vor langer Zeit einmal auf diese vulka- nischen Inseln herübergeweht, sich dort festgesetzt hätten und seitdem zu besonderen Arten umgeprägt worden wären. Das Problem der Art- ‚umwandlung ging ihm auf, und er nahm sich vor, nach seiner Rück- kehr diesem Gedanken weiter nachzugehen, in der Hoffnung. es müsse sich durch geduldiges Sammeln von Tatsachen nach und nach einige Sicherheit über diese große Frage erreichen lassen. Ich will mich nicht damit aufhalten. Ihnen genauer seine Reise zu schildern: Sie können denken, dab eine Weltumsegelung, welche volle fünf Jahre dauerte, dem Forschergeist eines DarwıIx reiche (Gelezen- heit zu den vielseitigsten Beobachtungen bot: dab er dieselben nicht ungenützt ließ, dafür zeugen uns nicht nur das Buch über die Ent- stehung der Arten, sondern mehrere bald nach seiner Rückkehr ver- öffentlichte speziellere Werke, seine Naturgeschichte jener merkwürdigen, festgewachsenen Krebse, der Rankenfüßer oder Cirripedien und seine Studien über die Entstehung der Korallenriffe. Das erstgenannte Buch ‘gilt heute noch als ein Hauptwerk über die formenreiche Tiergruppe und seine damals aufgestellte Theorie von der Entstehung der Korallen- riffe hat sich trotz mehrfacher Angriffe doch bis heute in Geltung er- halten. Schwerlich aber würde Darwın geworden sein, was er wurde, wenn er genötigt gewesen wäre, des Erwerbs halber eine äußere Stellung im Staate anzunehmen: so grobe Probleme, wenn sie durchgedacht und an den Tatsachen durchgeprüft werden sollen, verlangen nicht nur die ganze geistige Kraft eines Mannes, sondern auch seine ganze Zeit. Einzelstudien können sehr wohl in Mußestunden erarbeitet werden, aber solche Probleme müssen alle Gedanken absorbieren. müssen immerfort vor dem geistigen Auge stehen, sonst geht der Zusammenhang der aus so vielen Einzelaufgaben bestehenden (resamtaufgabe verloren. DARWIN war so glücklich, als freier Forscher sich nach seiner Rückkunft auf sein Landgut Down in Kent, nicht weit von London, zurückziehen und dort seiner Familie und seiner Arbeit leben zu können. Hier verfolgte er die nun einmal gefaßte Entwicklungsidee, und es ist mir immer am meisten wunderbar an ihm erschienen, wie er imstande war, zu gleicher Zeit alle die Hunderte von Einzelfragen im Auge zu behalten und ihnen nachzugehen, welche später zum (sesamtbau seiner Theorie zusammen- schießen sollten. Wenn man seine vielen späteren Schriften studiert, ist man immer aufs neue erstaunt, zu sehen, nach wie vielen Richtungen zugleich er Tatsachen gesammelt hat, teils von anderen, teils’durch eigene Beobachtung und fortwährend auch durch eigene Versuche. Er experimentierte mit Pflanzen und mit Tieren, und es ist erstaunlich, mit wie zahlreichen Personen er in wissenschaftlichem Briefwechsel ge- standen hat. Auf diese Weise brachte er denn im Laufe von zwanzig Jahren ein ungemein reiches Material an Tatsachen zusammen, aus dessen Fülle heraus er nun sein Buch über die Entstehung der Arten schrieb. Noch nie war eine Entwieklungstheorie so gründlich vorbe- reitet worden, und «darin lag ohne Zweifel ein großer Teil seines Er- folges; aber doch nicht allein darin, sondern noch mehr und vor allem in der Aufstellung eines Erklärungsprinzips, an das bisher noch ‘niemand gedacht hatte und dessen Bedeutung jedem einleuchten mußte, sobald es ihm dargelegt wurde: das Prinzip der Selektion. 26 Darwins Lehre. Cm. Darwın vertrat dieselben Grundanschauungen, welche schon sein Großvater ERASMUS DARWIN, TREVIRANUS und LAMARCK verteidigt hatten: Die Arten scheinen uns nur unveränderlich, in Wahrheit ‚aber können sie sich verändern und in neue Arten umwandeln. und die Lebewelt von heute ist hervorgegangen aus solchen Umwandlungen, aus einem grobartigen Entwicklungsprozeß, der mit niedersten Lebens- formen seinen Anfang nahm, nach und nach aber im Laufe ungeheurer Zeiträume zu immer komplizierter gebauten und höher leistungsfähigen Organismen emporstieg. Es ist interessant, zu sehen, an welcher Stelle DARwIN zuerst seinen Hebel einsetzte, um das Entwicklungsproblem zu lösen. Er ging von einem ganz anderen Punkt aus. als die Forscher aus dem Anfang des Jahrhunderts. von Lebensformen nämlich, die bisher ganz besonders von der Wissenschaft vernachlässigt worden waren, von den Varietäten unserer Haustiere und Kulturpflanzen. Sie waren bisher gewissermaßen Stiefkinder der Wissenschaft ge- wesen, unbequeme Existenzen, die in das System nicht recht passen wollten und die man nach Möglichkeit als außerhalb des Natürlichen liegend ignorierte oder kurz abfertigte, weil man nichts mit ihnen anzu- fangen wußte. Ich erinnere mich noch recht wohl, daß es mir schon als Knaben auffiel. wie man über die vielen, gut ausgebildeten Garten- formen unserer Pflanzen und über unsere Haustiere so gar nichts in den systematischen Büchern fand, wie sie gewissermaßen als Kunstprodukte behandelt wurden, die einer naturwissenschaftlichen Behandlung nicht wert seien. DArwın nahm sich jetzt ihrer an, ja machte sie geradezu zum Fundament seiner Theorie, indem er von ihnen gerade jenes Um- wandlungsprinzip ableitete, welches das bedeutendste war, das er den früheren Vorstellungen von Evolution hinzufügte. , Er ging von (der Existenz der Varietäten aus, «die bei so vielen wilden Arten beobachtet sind. Sein Gedankengang ist etwa der folgende: Wenn wirklich die Arten durch allmähliche Umwandlung entstanden sind, (dann werden die Varietäten als mögliche Anfangsstufen neuer Arten zu betrachten sein: wenn es uns nun gelänge, den Ursachen auf die Spur zu kommen, welche der Bildung von irgend welchen Varietäten zugrunde liegen, so hätten wir damit die Ursachen der Artenumwandlung ge- funden. Nun begegnen uns bei weitem die zahlreichsten und ausge- prägtesten Varietäten bei unseren Haustieren und Hauspflanzen, und wenn nicht anzunehmen ist, dab jede derselben von einer besonderen wilden Art abstamme, so muß (die Ursache, warum gerade hier eine so aus- giebige Varietätenbildung eingetreten ist, in den Verhältnissen liegen, welche durch die Domestikation auf die betreffende Art einwirken, und es gilt also, diese zu analysieren, um den bewirkenden Faktoren auf die Spur zu kommen. In diesem Sinne begab sich DAarwIn an die Untersuchung der domestizierten Tiere und Pflanzen. Zunächst handelte es sich darum, festzustellen. daß nicht etwa Jede Varietät eine besondere wilde Art zum Stammvater gehabt habe, sondern daß wirklich von einer oder doch von wenigen wilden Arten der ganze Reichtum der heutigen zahmen Varietäten herrühre. Ich kann Ihnen natürlich hier nicht die ganzen umfangreichen Untersuchungen vorführen, wie sie Darwın besonders in seinem späteren Werk nieder- legte, doch ist das auch nicht nötig zum Verständnis der Schlüsse daraus, und ich kann mich auf einige Beispiele beschränken. Haustiere. 27: Betrachten wir den Haushund, Canis familiaris Linne, so tritt er uns heute in nicht weniger als sieben Hauptrassen entgegen, von welchen jede wieder ihre zum Teil zahlreichen Unterrassen besitzt. So gibt es 48 Unterrassen des als Wächter des Hauses gebrauchten „Haus- hunds“ im engeren Sinn, 30 Unterrassen des Seidenhunds, 12 Unter- rassen des Dachshunds, 35 Unterrassen des Jagdhunds, darunter so verschiedenartige, wie Hirschhund und Vorstehhund. Wir haben ferner 19 Unterrassen von Bullenbeißern. 35 Unterrassen von Windhunden und sechs Unterrassen vom nackten. d. h. unbehaarten Hund. Nicht nur die Hauptrassen, sondern auch viele der Unterrassen unterscheiden sich so stark voneinander, wie wilde Arten, und es wäre also vor allem (die Frage zu entscheiden, ob etwa jede der stark verschiedenen Rassen von einer besonderen wilden Art abstamme. Dies ist nun offenbar nicht anzunehmen, «da so zahlreiche wilde Hunde wohl zu keiner Zeit auf der Erde existiert haben und da wir wissen, daß schon vor 4—5000 Jahren eine ganze Anzahl von Hunde- rassen in Indien und Ägypten vorhanden war. Es gab damals schon Pariahunde, Windspiele, Parforcehunde, Doggen. Haus-, Schoß- und Dachs- hunde, die den heutigen Rassen durchaus ähnlich waren. Damals aber konnten noch nicht die Produkte aller Länder der Erde in einem Lande angehäuft werden, und so viele wilde Hundearten in dem einen Lande Indien sind undenkbar. Auf der anderen Seite aber läßt sich auch nicht behaupten, dab alle heutigen Hunderassen nur von einer wilden Art abstammten. es ist vielmehr bei weitem das Wahrscheinlichste, daß mehrere wilde Hunde in verschiedenen Ländern der Erde gezähmt worden sind. Nun hat man oft gemeint, daß durch Kreuzung solcher ver- schiedener gezähmter Arten die ganze Mannigfaltigkeit der heutigen Rassen entstanden sei. Dem kann aber nicht so sein, weil durch Kreuzung nur Mischformen entstehen können, nicht aber distinkte Rassen mit ganz neuen Merkmalen. Allerdings kreuzen sich alle Hunderassen auf das leichteste untereinander. allein daraus entstehen nicht neue Rassen, sondern jene zahllosen und vergänglichen Mittelformen, die der Hunde- züchter nur mit Verachtung als für ihn wertlos ansieht. Es müssen sich also durch den Einfluß der Domestikation unter Einschluß von Kreu- zung einiger wilder Arten die Rassen des Hundes gebildet haben. Etwas klarer als beim Hund ist die Abstammung beim Pferd. Allerdings kann man die wilde Stammform auch hier nieht bestimmt namhaft machen, aber es ist sehr wahrscheinlich, dab dieselbe von graubrauner Farbe und den heutigen wilden Pferden sehr ähnlich war. DArwın meint, daß sie auch das schwarze Kreuz auf dem Rücken ge- habt haben werde, welches heute der zahme Esel und mehrere wilde Eselarten besitzen. und schließt dies daraus, daß zuweilen dieses Kreuz bei jungen Pferden, besonders bei solchen von graubrauner Farbe vor- kommt. Obgleich nun wohl kein Zweifel darüber sein kann, dab dies als Rückschlag auf einen entfernten Vorfahren anzusehen ist, so geht daraus doch nicht hervor, daß die unmittelbare Stammform des zahmen Pferdes dieses Kreuz gehabt haben muß. Ich möchte vielmehr glauben, daß der so gezeichnete Vorfahr erheblich weiter zurückliegt, nämlich noch vor der Trennung der Pferde und Esel. Hat doch Darwın selbst die merkwürdige Tatsache hervorgehoben, «daß in seltenen Fällen, besonders bei jungen Pferden nieht nur dieses sogenannte „Rückenkreuz“, sondern mehr oder weniger die deutliche Zebrastreifung an den Beinen und IS Darwins Lehre. dem Widerrist vorkommt: dies aber wird als Rückschlag auf einen sehr viel weiter entfernten Vorfahren zu deuten sein, auf einen gemeinsamen Stammvater aller heutigen Pferde und Esel, der, wie das jetzt noch in Afrika lebende Zebra, über den ganzen Körper gestreift war. Von keinem der heutigen wilden Pferde kann bewiesen werden, dlaß es nieht von früher domestizierten Vorfahren abstamme:; von den Tausenden wilder Pferde, welche auf den Ebenen von Süd- und Nord- amerika umherschwärmen, wissen wir sogar bestimmt, daß sie von do- mestizierten Pferden abstammen, «denn Amerika enthielt keine Pferde, als es von den Europäern entdeckt wurde. Aller Wahrscheinlichkeit nach stammt aber unser Pferd aus Mittelasien, ist dort zuerst gezähmt worden und hat sich dann von da aus allmählich verbreitet. In Ägypten erscheint es auf den Denkmälern zuerst im XVII. Jahrhundert vor Christus und scheint damals durch die erobernden Hicksos eingeführt worden zu sein. Auf den altassyrischen Denkmälern sieht man aber noch Jagden auf wilde Pferde abgebildet, die nicht etwa gefangen wurden, sondern mit Pfeil und Lanze erlegt, wie Löwe und Gazelle. Möchten aber selbst zwei wilde Pferdearten an verschiedenen Stellen (des groben Asiens gezähmt worden sein, jedenfalls haben sich diese ge- zähmten Tiere im Laufe der Jahrhunderte sehr und in der verschiedensten Weise verändert, wie die heutigen Pferderassen uns lehren. Es gibt ihrer eine grobe Zahl und viele davon unterscheiden sich recht bedeutend voneinander. Denken Sie an das feingebaute arabische Pferd und stellen Sie daneben den kleinen Pony oder den enormen Percheron, den aus der alten französischen Provinz la Perche stammenden robusten Karrengaul, der mit Leichtigkeit eine Last von 100 Zentner fortbewegt, so haben Sie Unterschiede, so groß wie bei natürlichen Arten. Wie viele Pferderassen es aber heute auf der Erde gibt, können Sie daran erkennen, dab fast jede ozeanische Insel ihre besondere Pony- rasse besitzt, nicht nur die kalten Shetlandinseln, England. Sardinien und Korsika, sondern fast jede der größeren Inseln des vielgliedrigen indischen Archipels, Borneo und Sumatra sogar deren einige. Der sicherste Nachweis aber für Abstammung von einer einzigen wilden Art läßt sich bei den Tauben führen, und da bei ihnen zu- gleich auch die Rassenbildung besonders eifrig und bewußt betrieben worden ist und noch betrieben wird, will ich auf sie etwas genauer eingehen. Nach den Darlegungen Darwıns kann es nicht mehr zweifelhaft sein. daß alle unsere heutigen Taubenrassen von einer wilden Art, der Felsentaube, Columbia livia, herstammen. Dem Aussehen nach unterscheidet sich diese heute noch wild lebende Taube kaum von unserer halbwilden blaugrauen Feldtaube. Sie hat denselben Metall- glanz auf den Federn des Halses, «dieselben zwei schwarzen Querbinden über die Flügel, sowie die Binde über den Schwanz wie die Feldtaube und auch genau dieselbe schieferblaue (resamtfarbe. Nun sind alle heutigen Taubenrassen unbegrenzt fruchtbar untereinander, man kann jede Rasse mit jeder anderen kreuzen, und dabei geschieht es nicht selten, dab bei den Kreuzungsprodukten Charaktere zum Vorschein kommen, welche «ie Eltern, d. h. also die beiden oder mehreren ge- kreuzten Rassen, selbst gar nicht besaßen, welche aber Charaktere der Felsentaube sind. So erhielt Darwın durch Kreuzung einer rein weißen Pfauentaube mit einer schwarzen Barbtaube Blendlinge, die teils schwarz- braun, teils mit Weiß gemischt waren; als er aber diese Blendlinge mit Taubenrassen. 25 solchen aus zwei anderen ebenfalls nicht blauen und der Binden ent- behrenden Rassen kreuzte, erhielt er eine schieferblaue Felsen- taube mit Flügel- und Schwanzbinde. Wir werden später sehen, mit welchem Recht man solche Fälle als Rückschlag auf entferntere Vor- fahren betrachtet, und wenn wir dies hier vorausnehmen, so liegt in (liesen Fällen schon ein Beweis der Abstammung unserer Rassen von der einen wilden Art. Damit stimmt auch alles, was wir über die Ver- breitung der Felsentaube und über Ort und Zeit ihrer Zähmung wissen. Noch heute lebt dieselbe an den klippenreichen Gestaden Englands, der Bretagne, Portugals und Spaniens, Nordafrikas und Indiens, und in Indien sowohl, als in Ägypten gab es schon früh zahme Tauben: in Ägypten kommen Tauben auf dem Küchenzettel eines Pharao der vierten Dynastie (3000 vor Christus) vor, und aus Indien wissen wir wenigstens, daß 1600 nach Christus zur Hofhaltung eines dortigen Fürsten 20000 Tauben gehörten. Die Schönheit und leichte Zähmbarkeit dieses Vogels hat oftenbar schon sehr früh die Aufmerksamkeit der Menschen auf ihn gelenkt und ihn schon seit mehreren tausend Jahren zum Begleiter des menschlichen Hausstandes gemacht. Jetzt lassen sich mindestens 20 Hauptrassen (Fig. 1) unterscheiden, die so stark, ja oft stärker voneinander ver- schieden sind, als die nächstverwandten unter den 288 wilden Tauben- arten, welche die Erde heute bewohnen. Wir haben da Boten- und Purzeltauben oder Tümmler, Rund- und Barttauben, Kropt-, Möven- und Perückentauben, Trompeter-, Lach- und Pfauentauben, Schwalben-, Hühner- und Indianertauben usw. ‚Jede dieser Rassen zerfällt dann wieder in Unterrassen; so gibt es eine deutsche, eine englische und eine holländische Kropftaube. Man führt in den Taubenbüchern über 150 Rassen auf, welche gut voneinander unterschieden sind und rein züchten, d. h. immer wieder ihresgleichen hervorbringen. Ohne in die Beschreibung einzelner dieser Rassen einzugehen, möchte ich Sie nur aufmerksam machen, wie verschiedene Eigenschaften bei ihnen verändert sind. Ein untergeordneter Rassencharakter ist die Färbung, insofern die Färbung allein noch keine Rasse ausmacht. Dennoch aber ist die Färbung innerhalb der einzelnen Unterrassen ge- wöhnlich eine scharf bestimmte, und es gibt in jeder Rasse Unterrassen von sehr verschiedener Färbung. So gibt es weiße, schwarze und blaue Pfauentauben, es gibt weiße Mövchen mit rotbraunen Flügeln, aber auch rote mit weißem Kopf und weiße Tümmler mit schwarzem Kopf usw. Auch recht ungewöhnliche Färbungen und Farbenzeiehnungen kommen vor. So zeigt eine Unterrasse der Tümmler ein bei Tauben sonst seltenes Lehmgelb mit schwarzen Fleckstrichen vermischt, fast an ein Steppenhuhn erinnernd, es gibt eine kupferrote Bläßtaube, eine kirsch- rote Gimpeltaube, lerchenfarbige Tauben usw. Dann finden sich alle möglichen Zusammenstellungen von Farben mit ganz bestimmter Be- grenzung auf bestimmte Körpergegenden, so z. B. weiße Tümmler mit rotem Kopf, rotem Schwanz und roten Flügelspitzen oder weiße Tümmler mit schwarzem Kopf, rote Mövchen mit weißem Kopf, ganz schwarze Indianer mit weißen Flügelspitzen usw. Oft ist die Farbenverteilung eine recht komplizierte, aber dennoch zeigen alle Individuen der be- treffenden Rasse sie genau in derselben Weise. So gibt es sog. Blon- dinetten, bei welchen der Körper fast ganz kupferrot ist, die Flügel aber weiß, doch so, daß jede Flügelfeder am abgerundeten Ende ihrer Falıne einen schwarz und roten Saum trägt. Ich könnte nicht enden, 30 Darwins Lehre. wenn ich Ihnen einen irgendwie vollständigen Begriff von der Mannig- faltiekeit der Färbungen bei len Taubenrassen geben wollte. Il "onop Bu 9qnBJUONDETL N -508) UNS dop Fuw [oqItatope,] FU 6 Run "Ss "UOTWAQUPTITIS sooasSINOC] "UOTDAQIN SOUISITLFUSLIO) us Sunpjogsuounuesnz "T "SuI Q (0) („yon ) 190.104] [LI N IL] ru 19.1] UOSSP.LUIAGURL Acer LDUOP[ENTLULDIS ‘6 OALTLEALIS . \ & Sun mN | x m a — AS © gr "9op IOUBIPUJ -(oqnBjuUoNpTLLL JOLLIV) 'O sr & "O1 ‚po "UOTDAQIN SOLOSTSOULT,) HqMEI[OULWOL], PUOSLIETONE -DU OUDSI[SUD Aber auch ein so wichtiges und bei allen wilden Vogelarten so ausnehmend konstantes Organ, wie der Schnabel, hat sich in erstaun- Tanbenrassen. 31 lichem Grade bei den Taubenrassen verändert. Botentauben (Fig. 1, No. 6) haben einen enorm langen und starken Schnabel, der noch dazu von einer dieken roten Wucherung der Wachshaut überlagert wird, während bei den Mövchen (Fig. 1. No. S und 10) der Schnabel so kurz ist, wie er bei keinem wilden Vogel jemals angetroffen wird. Aber auch die Form des Schnabels weicht bei einzelnen Rassen erheblich von der normalen ab, so bei den Bagdetten (No. 5) mit krummem Schnabel. Ebensosehr wie der Schnabel variieren die Beine in bezug auf ihre Länge. Die Kröpfer (No. 1) stehen auf ihren langen Beinen wie auf Stelzen. während die Beine der „Nürnberger Schwalben“ (No. 4) auffallend klein sind. Seltsam und weit abweichend vom wilden Vogel muß auch die oft sehr starke Befiederung der Füße samt Zehen er- scheinen, wie sie bei Kröpfern und Trommeltauben (Fig. 1, Nr. 1). aber auch bei anderen Rassen vorkommt und in der Art der Federn an einen Flügel erinnert. Ferner weicht die Zahl und Größe der Schwung- und Schwanz- federn bei den Rassen häufig weit von der Norm ab. Die Pfauen- taube (No. 7) besitzt in ihrer vollendesten Form statt der 12 Steuer- federn der wilden Felsentaube «deren 40, die aufgerichtet wie ein Fächer getragen werden, während das Tier den Kopf und Hals stark zurück- biegt. Bei den Hühnertauben sind die Schwanzfedern wenig zahlreich und kurz, so daß ein aufrechtstehender Hühnerschwanz zustande kommt. Von den sonderbaren karunkulösen Hautwucherungen am Schnabel mancher Rassen habe ich schon gesprochen, sie umgeben häufig auch das Auge und sind bei der Indianertaube (No. 2) zu förmlichen dicken Ringwülsten entwickelt, während sie bei dem englischen Carrier gleich einer unförmlichen Fleischmasse den Schnabel rundum überlagern (No. 6). Aber auch der Schädel hat sich mancherlei Veränderungen unter- zogen, wie man bei Rassen mit kurzer Stirn schon am lebenden Tier sieht. Ferner zeigt sich die Zahl und Breite der Rippen, die Länge des Brustbeins, die Zahl und Größe der Schwanzwirbel bei verschiedenen Rassen verschieden, und von inneren Organen ist es besonders der Kropf. der bei manchen Rassen, den Kröpfern (Nr. 1), eine enorme Größe erreicht, womit dann zugleich die Gewohnheit verbunden ist, ihn mit Luft aufzublasen und die sonderbare aufgerichtete Stellung ein- zunehmen. Daß auch in dem feinsten Bau des Gehirns Veränderungen ein- getreten Sind, zeigen gewisse neue Instinkte, wie das Trommeln der Trommeltauben, das Girren anderer, das Schweigen noch anderer Rassen, sowie die seltsame Gewohnheit der Tümmler oder Purzeltauben, rasch senkrecht in bedeutende Höhe empor zu steigen und sich dann beim Herabfallen ein oder mehrere Male zu überschlagen. Im Gegensatz dazu haben andere Rassen, z. B. die Pfauentauben, das Hochtliegen ganz aufgegeben und bleiben meist nahe dem Schlag. Schließlich sei noch erwähnt. daß auch ungewöhnliche Ent- wicklung einzelner Federn und Federgruppen zu Rassencharak- teren geworden sind, worauf so auffallende Bildungen beruhen, wie der über den Kopf geschlagene Federmantel der Perückentaube (No. 9), die Häubehen oder Federbüsche auf dem Kopf verschiedener Rassen, die weißen Federbärte bei den Barttümmlern, die Krausen, welche 32 Darwins Lehre. ähnlich einer Hemdkrause auf der Brust oder an der Seite des Halses herablaufen (No. 8 und 10) und der Federwirbel, welcher die Schnabel- wurzel der Bucharischen Trommeltaube auszeichnet (No. 2). Dab auch die Größe des ganzen Körpers bei den Rassen Ver- schiedenheiten aufweist, wird nach dem bisher (Gesagten Ihnen fast selbstverständlich vorkommen. Die Unterschiede sind aber recht be- deutend. denn eine der größten Rundtauben wog nach DARWIN fünfmal so viel als einer der kleinsten kurzstirnigen Purzler, wie denn auf der Abbildung Fig. 1 die Kropftaube als ein Riese gegenüber dem kleinen Mövchen zu ihrer Linken erscheint. So sehen wir also, daß beinahe alle Körperteile der Taube sich während ihrer Domestikatıon in der verschiedensten Weise und bis zu einem hohen Betrag verändert haben, und ähnlich verhält es sich bei mehreren anderen Haustieren, bei Hühnern, Pferden, Schafen. Rindern, Schweinen usw., wenn auch der Fall bei den übrigen nicht immer so klar liegt, weil die Abstammung von nur einer wilden Art teils nicht beweisbar, teils auch überhaupt nicht wahrschemlich ist. Hier aber bei den Tauben ist sie sicher, und es fragt sich nun, auf welche Weise alle diese Veränderungen der Stammform zustande gekommen sind. Erleiehtert wird die Beantwortung dieser Frage dadurch, dab auch heute noch neue Rassen entstehen und dab sie zum Teil wenig- stens bewußt und absichtlich gemacht werden können. In Eng- land, wie auch in Deutschland und Frankreich gibt es Vereine für Ge- flügelzucht. und besonders in England sind die Tauben- und Hühnerklubs zahlreich und hoch entwickelt. Sie beschränken sich keineswegs darauf, die einmal bestehenden Rassen rein weiter zu züchten, sondern sie suchen fortwährend, dieselben noch zu verbessern, d. h. ihre Charaktere zu steigern und noch schärfer auszuprägen oder aber ganz neue Eigen- schaften hinzuzufügen, und das gelingt in vielen Fällen. Es werden Preise auf bestimmte neue Abänderungen gesetzt und so ein Wett- bewerb der Züchter hervorgerufen, in welchem jeder strebt, den ver- langten Charakter möglichst rasch hervorzubringen. DAarwın erzählt: „Die englischen Preisrichter bestimmten, daß der Kamm des spanischen Hahns aufrecht sein solle, der bisher schlaff herabhing, und in fünf Jahren war dieses Ziel erreicht; sie ordneten Bärte für die Hühner an. und nach sechs Jahren hatten 57 Gruppen der im Kristallpalast in London ausgestellten Hühner Bärte.“* Nicht immer gelingt die Umwandlung so rasch, es brauchte z. B. 13 Jahre, ehe es gelang, einer gewissen Rasse von Purzlern einen weißen Kopf aufzusetzen. Aber die Züchter verändern nach Gutdünken alle sichtbaren Teile des Körpers und haben tatsächlich in den letzten 50 Jahren viele Rassen beträchtlich verändert. Sie verfahren dabei so, daß sie sorgfältig solche Tiere zur Nach- zucht auswählen, welche schon einen schwachen: Anfang zu dem ge- wünschten Charakter besitzen. Domestizierte Tiere haben im allgemeinen einen etwas höheren Grad von Variabilität, als wilde Arten. Dies be- nutzt der Züchter. Gesetzt, es handle sich darum, einer glattköpfigen Rasse einen Federbusch aufzusetzen, so wird ein Vogel mit ein wenig längeren Federn des Hinterkopfes ausgewählt und zur Nachzucht ver- wandt. Unter seinen Nachkommen werden «dann vielleicht einige sein. die diese etwas vorstehenden Federn ebenfalls aufweisen; und wahr- scheinlich auch ein oder das andere Tier, das eine noch beträchtlichere Künstliche Züchtung. 33 Verlängerung dieser Federn besitzt. Diese werden dann zur Zucht benutzt, und indem man so fortfährt und von (reneration zu (seneration immer nur Vögel zur Nachzucht auswählt, die sich am meisten dem angestrebten Ziel nähern, gelingt es zuletzt den gewünschten neuen Charakter zu erhalten. Also nicht durch Kreuzung verschiedener Rassen, sondern durch geduldige Häufung unbedeutender kleiner Abweichungen (durch viele Generationen hindurch lassen sich die gewünschten Abänderungen erzielen, das ist der Zauberstab. mittelst dessen der erfahrene Züchter seine Rasse — man möchte sagen, wie der Bildhauer sein Tonmodell, nach Willkür umformt und umknetet. (Ganz nach seinem Wunsch er- zielte er so bei den Tauben alle die phantastischen Formen, die wir kennen gelernt haben, lauter Abänderungen, die weder für das Tier, noch für den Menschen nützlich sind, vielmehr nur die Laune, durch- aus nicht immer auch den Schönheitssinn des letzteren befriedigen, denn viele der heute existierenden Rassen unserer Tauben, Hühner und anderer Haustiere sind nichts weniger als schön: ihr Körper ist oft un- harmonisch gebaut, ja nicht selten geradezu monströs. Bei den Tauben sowohl als bei anderen Haustieren sind zum Teil Veränderungen erzielt worden, die nicht nur nicht nützlich sind, sondern geradezu schädlich für ihren Träger werden müßten, wäre die Rasse auf das Leben im Naturzustand angewiesen. Einige der ganz kurzschnäbligen Taubenrassen haben einen so kleinen und weichen Schnabel, daß ihre Jungen die Eischale mit demselben nicht mehr an- ritzen und sprengen können und elend umkommen müßten, hülfe ihnen nicht der Mensch nach. Das Yorkshire-Schwein ist ein Fettkoloß auf so kurzen. schwachen Beinchen, daß das Tier, auf sich selbst angewiesen, seine Nahrung nicht gewinnen, geschweige einem Raubtiere entfliehen könnte, und unter den Pferden würde weder der plumpe Karrengaul, noch das Rennpferd den Gefahren der Wildnis und den Unbilden der Witterung gewachsen sein. Vielfach hat sich die Züchtung darauf gelest, dem Menschen nützliche Veränderungen zu erzielen. So gibt es Fleisch-, Milch- ‚und Zugrassen des Rindes und beim Schaf Fleisch- und Wollerassen, und wie weit man es hier in der Steigerung der gewünschten Eigen- schaften z.B. in der Feinheit der Wolle gebracht hat, beweist die edelste Schafrasse, das Merinoschaf, welches statt der 5500 Haare, welche das alte deutsche Schaf auf einem Quadratzoll Haut besitzt, deren bis zu 48000 trägt. Nicht selten ist nur ein gewisses Stadium einer Art vom Men- schen umgezüchtet worden und die übrigen sind mehr oder weniger unver- ändert geblieben. So bei einem der wenigen domestizierten Insekten, dem Seidenspinner. Für den Menschen ist nur das Gespinnst von Wert und von diesem unterscheidet man verschiedene Rassen, nach Feinheit, Farbe usw., von der Raupe dagegen und dem Schmetterling sind keine Rassen gebildet worden. Von der Stachelbeere gibt es etwa hundert nach Form, Farbe. Größe, Dieke der Schale, Behaarung usw. verschiedene Rassen, die kleinen, unscheinbaren grünen Blüten aber, um die der Züchter sich nieht kümmert, sind bei allen die gleichen. Umgekehrt beziehen sich die Rassen des Stiefmütterehens (Viola tricolor) nur auf die Blumen, während die Samen gleich geblieben sind. Man könnte nun fragen, wie es denn jemand im Anfang der Domestizierung z. B. der Taube in den Sinn kommen konnte, eine Weismann, Deszendenztheorie. I. 2. Aufl. > 34 Darwins Lehre. Pfauen- oder Kropftaube erzüchten zu wollen, da er eine solche doch wohl nicht im Geist vorherzuschauen vermochte. Dem entgegnete Darwın. daß es eben nicht immer die heute geübte zielbewußte, metho- dische Zuchtwahl war, welche die Rassen hervorrief, sondern daß sehr häufig und im Anfang wohl immer unbewußte Zuchtwahl stattfand. Wenn Wilde sich einen Hund zähmten, so benutzten sie zur Nachzucht die „besten“ ihrer Hunde, d. h. diejenigen, welche die von ihnen ge- schätzten Eigenschaften, z. B. Wachsamkeit oder, wenn sie den Hund zur Jagd benutzten, Spürsinn und Schnelligkeit im höchsten Grade be- saßen. Dadurch mußte sich aber der Körper des Tieres in ganz be- stimmter Weise umbilden, ganz besonders wenn dabei der Ehrgeiz mitspielte und jeden antrieb, ebensogute oder noch bessere Hunde zu besitzen, als andere seines Stammes. Dab wirklich auf diese Weise unbewußt dennoch auf ganz bestimmte körperliche Umgestaltungen hin- gearbeitet werden kann, zeigt am besten das Beispiel des Rennpferdes. Dieses ist in den letzten zwei Jahrhunderten einfach dadurch entstanden, dab man aus den Nachkommen von Kreuzungen arabischer und eng- lischer Pferde stets «die flüchtigsten zur Nachzucht auswählte. Man hätte nicht im voraus sagen können, daß Pferde mit dünnem Hals. kleinem Kopf, langem Rumpf und dünnen Beinen notwendig die schnellsten tenner sein müßten; aber so hat sich die Rasse gestaltet, die aus dieser Zuchtwahl hervorging, ein häßliches, aber sehr flüchtiges Pferd. Gewiß hat diese unbewußte Zuchtwahl bei der ersten Entstehung der Haustier- rassen eine bedeutende Rolle gespielt. Aber auch bei der methodischen und völlig bewubten Erzüchtung bestimmter Charaktere verändert der Züchter nur selten bloß den einen Charakter, auf welchen er sein Augenmerk richtet; meist verändert sich noch eine gewisse Anzahl anderer Eigenschaften ohne sein Zutun als unvermeidliche Begleitung der erstrebten, ins Auge gefaßten Abänderung. Es gibt Kaninchenrassen, deren Ohren nicht aufgerichtet auf dem Kopf stehen, sondern schlaff herabhängen; bei diesen sog. „Widderkaninchen“ sind die Ohrmuskeln teilweise degeneriert, und als Folge des nun mangelnden Muskelzuges hat der Schädel eine andere Gestalt ange- nommen. So wirkt die Veränderung eines Teils auf ein zweites und drittes Organ umgestaltend weiter, und sehr oft hat es nicht einmal dabei sein Bewenden, sondern die Wirkungen greifen noch mehr um sich und beeinflussen weit entlegene Teile. Würde es gelingen, einem hornlosen Schaf schwere Hörner auf den Kopf zu züchten, so würden mit dieser einen, direkt erzielten Ver- änderung eine ganze Reihe von sekundären parallel laufen, die mindestens die ganze Vorderhälfte des Tieres betreffen würden: der Schädel würde dieker und stärker werden, um das starke (Grehörn aushalten zu können, das den Kopf tragende Nackenband (Ligamentum nuchae) müßte sich verdicken, um den schwereren Kopf oben zu halten, und ebenso die Nackenmuskeln; die Dornfortsätze der Hals- und Rückenwirbel würden länger und kräftiger werden und auch die Vorderfüße müßten der eröberen Last angepaßt werden. ‚Jede Art stellt also gewissermaßen ein Mosaikbild dar, an «dem keine Steinchengruppe herausgenommen und durch eine andere ersetzt werden kann, ohne den Zusammenhang und die Harmonie des Bildes bis zu einem gewissen Grad zu stören, so daß, um diese wiederherzustellen, nun auch die benachbarten Steinchen verschoben oder durch andere ersetzt werden müssen. Künstliche Züchtung. 35 Auf dieser Korrelation der Teile beruht es nach Darwin, daß sich meistens noch andere Teile des gezüchteten Tieres verändern. als die absichtlich umgewandelten. Die gegenseitige Abhängigkeit der Teile spielt überhaupt eine höchst bedeutsame Rolle im Aufbau des Tierkörpers. wie wir später noch sehen werden, und zum Teil sind diese Zusammen- hänge noch immer geheimnisvoll. So besonders der Zusammenhang zwischen den Keimdrüsen und den sog. sekundären Sexualcharakteren. Entfernung der ersteren bringt z. B. beim Manne — wenn sie in der Jugend erfolgt — Beibehaltung der Kinderstimme, Mangel des Bartes, beim Hirsch Ausbleiben des Geweines, beim Hahn unvollkommene Ent- wicklung des Kammes usw. hervor, ohne daß wir klar zu erkennen vermöchten, warum dies so sein muß. 3° Il. VORTRAG. Fortsetzung von Darwins Lehre. Naturzüchtung p. 36, Variation p. 36, Kampf ums Dasein p. 37, Geometrische Pro- portion der Vermehrung p. 37, Normalziffer und Vernichtungsziffer einer Art p. 39, Zufällige Ursachen der Vernichtung p. 40, Abhängigkeit des Bestandes einer Art von Feinden p. 41, Kampf zwischen den Individuen derselben Art p. 44, Naturzüchtung wirkt auf alle Teile und Stadien p. 46, Zusammenfassung p. 47. Meine Herren! Bei der künstlichen Züchtung, durch welche be- wubt oder unbewußt die Rassen unserer Haustiere und Kulturpflanzen entstanden sind, wirken offenbar dreierlei Faktoren zusammen, nämlich erstens die Veränderlichkeit der Art, zweitens die Fähigkeit der Organismen, ihre eigenen Charaktere auf Nachkommen zu vererben und drittens der Züchter, welcher bestimmte Eigenschaften zur Nach- zucht auswählt. Keiner dieser Faktoren darf fehlen: der Züchter z. B. kann nichts ausrichten, wenn sich ihm nicht Abänderungen der Teile darbieten in dem Sinn, in welchem er sie verändern möchte, und eben- sowenig würde ein unbestimmtes, d.h. nieht durch Zuchtwahl geleitetes Variieren allein zur Bildung neuer Rassen führen; die Art würde dann möglicherweise mit der Zeit zu einem bunten Gemisch mannigfacher Variationen werden, aber eine Rasse von bestimmten, sich rein auf die Nachkommen vererbenden Charakteren könnte sich nicht bilden. Schlieb- lich wäre jeder Züchtungsprozeß unmöglich, wenn die sich darbietenden Abänderungen nicht vererbt würden. DARWwIN nimmt nun an, dab ganz ähnliche Umwandlungsprozesse, wie sie hier unter Leitung des Menschen vor sich gehen, auch in freier Natur stattfinden; ja, dab sie es vor allem sind, welche die Umwandlung der Arten, wie sie im Laufe der Erdgeschichte stattgefunden hat, her- vorrufen und leiten. Er nennt diesen Prozeß: Natürliche Zuchtwahl oder einfach Naturzüchtung. Dab zwei von den drei zu einem Züchtungsprozeß erforderlichen Faktoren auch im Naturzustand der Arten vorhanden sind, werden Sie gleich zugeben: Variabilität in irgend einem Betrage fehlt bei keiner Tier- und Pflanzenart, wenn sie auch bei der einen größer ist als bei der anderen, und daß die Unterschiede, welche das eine Individuum vom anderen kennzeichnen, sich vielfach vererben können, unterliegt auch keinem Zweifel. Nur dem Laien scheinen alle Individuen einer natürlichen Art ganz gleich, z. B. alle Kohlweißlinge oder alle Stücke des sog. kleinen Fuchses (Vanessa urticae) oder des Buchfinken. Wenn man aber genau vergleicht. so erkennt man bald. daß selbst bei diesen relativ sehr konstanten Arten kein Individuum dem anderen völlig gleich ist, dab bei dem einen Schmetterling 20, bei dem anderen 30 oder 2 schwarze Schüppehen einen bestimmten Fleck auf dem Flügel bilden, (lab die Länge des Körpers, der Beine, der Fühler, des Rüssels um ein Ä Darwins Lehre. ST, geringes verschieden ist, und es wird wahrscheinlich, dab genau (ie- selbe Kombination lauter gleicher Teile überhaupt nicht zweimal vor- kommt. Das läßt sich freilich bei Tieren nicht geradezu beweisen, weil unser Unterscheidungsvermögen nicht fein genug ist, um die Unter- schiede unmittelbar taxieren zu können und weil Zusammenstellung von Messungen aller Teile im großen nicht ausführbar ist, aber wir dürfen uns hier wohl auf die individuellen Verschiedenheiten des Menschen be- ziehen, die wir leicht und sicher zu erkennen vermögen. Schon allein in bezug auf das Gesicht unterscheiden sich alle Menschen voneinander, und so zahlreiche und weitgehende Ähnlichkeiten es auch gibt, so lassen sich doch keine zwei Menschen finden. die auch nur in den Charakteren des Gesichts völlig gleich wären. Selbst die sog. „identischen“ Zwillinge lassen sich stets unterscheiden, wenn man sie in Person oder in Photo- graphie direkt vergleicht, und nimmt man den übrigen Körper hinzu, so finden sich zahlreiche kleine, zum Teil sogar meßbare Unterschiede. (ranz ebenso verhält es sich bei den Tieren, und es beruht nur auf Mangel an Ubung, wenn wir ihre individuellen Unterschiede häufig nicht sehen. Die böhmischen Schäfer sollen in ihren nach vielen Tau- senden zählenden Schafherden jedes Stück persönlich kennen und von den übrigen unterscheiden können. Also die Faktoren der Variabilität und der Vererbung wären gegeben, und es fragt sich nur, wer denn die Rolle des zur Nachzucht auswählenden Züchters in der freien Natur übernimmt. Die Beantwortung dieser Frage bildet den Kern der ganzen DarwıInschen Lehre, welche den Lebensbedingungen diese Rolle zuteilt, gewissen Beziehungen der Individuen zu den äußeren Ein- tlüssen, welche sie während ihres Lebenslaufes treffen und zusammen den „Kampf ums Dasein“ ausmachen. Um Ihnen diesen Begriff klar zu machen, muß ich etwas ausholen. Es ist eine allgemein beobachtete Tatsache, dab von allen Arten, Tieren wie Pflanzen, mehr Keime und mehr Individuen hervorgebracht werden, als zur Reife heranwachsen, also so weit, um sich selbst wieder fortpflanzen zu können. Zahlreiche junge Individuen gehen früher zu- grunde, und zwar durch die Ungunst der Verhältnisse, durch Kälte, Dürre, Nässe, durch Hunger oder durch Feinde. Wenn wir nun fragen, welche von den Nachkommen früher zugrunde gehen und welche erhalten bleiben zur Fortpflanzung der Art, so möchte man zunächst wohl geneigt sein, anzunehmen, daß dies rein vom Zufall abhinge: allein gerade dies ist es, was Darwın bestreitet. Nicht bloß der Zufall, sondern vor allem die Verschiedenheiten zwischen den Individuen lassen sie den Schädlich- keiten besser oder schlechter widerstehen, entscheiden also nach seiner Meinung darüber, wer untergehen soll und wer erhalten bleibt, und wenn dies so ist, dann haben wir in der Tat einen Züchtungsprozeß, und zwar einen, der immer die Besten, d.h. die Widerstandsfähigsten zur Nachzucht übrig läßt, also gewissermaßen „auswählt“. Sie werden zunächst einwerfen, warum denn immer so viele In- dividuen in der Jugend zugrunde gehen müssen, ob es «denn nicht ein- richtbar gewesen wäre, dab alle oder doch die meisten erhalten bleiben, bis sie sich fortgepflanzt haben. Das wäre aber eine unmögliche Ein- richtung, die schon deshalb nicht getroffen sein kann, weil die Orga- nismen sich in geometrischer Progression vermehren, ihre Vermehrung demnach sehr bald ins Unermeßliche gehen müßte. Nun ist ihnen ja eine Grenze gesetzt, die sie in keinem Falle überschreiten, «die sie aber, wie wir sehen werden, niemals auch nur erreichen können, ich meine die 38 Darwins Lehre. Begrenzung durch Raum und Nahrung. Jede Art ist auf bestimmte Wohnbezirke beschränkt vermöge ihrer natürlichen Lebenserfordernisse, auf das Land oder auf das Wasser, aber meist noch viel spezieller auf ein bestimmtes beschränktes Stück der festen Oberfläche der Erde, wo allein das geeignete Klima sich für sie findet oder wo allein noch viel speziellere Bedingungen ihrer Existenz erfüllt sind, wie z. B. das Vor- kommen einer Pflanzenart, auf welche die betreffende Tierart als auf ihre Nahrung angewiesen ist usw. Könnte sie sich ungehindert d.h. ohne Zerstörung vieler ihrer Nachkommen jeder (seneration vermehren, so würde jede Art sehr bald ihr ganzes Wohngebiet erfüllen und ihren ganzen Nahrungs- vorrat für immer vernichten, um sodann selbst auszusterben. Dem muß also irgendwie vorgebeugt sein, denn tatsächlich geschieht dies ja nicht. Sie denken vielleicht, diese Vorbeugung könne ja auch in einer tegulierung der Fruchtbarkeit der Arten gelegen sein, indem solche Arten, die kein grobes Wohngebiet besitzen oder denen nur relativ kleine Nahrungsvorräte zur Verfügung stehen, auch nur geringe Ver- mehrung aufwiesen, allein dem ist nicht so; schon die schwächste Ver- mehrung würde genügen, damit jede Art sehr bald ihr ganzes Wohn- gebiet bis zu völliger Besetzung und totaler Ausbeutung der Nahrungs- vorräte erfülle.e. DArwın führt als Beispiel den Elefanten an, der erst mit 30 Jahren anfängt sich fortzupflanzen und damit bis zum 90. Jahre fortfährt, aber so langsam, daß er in diesen 60 Jahren im ganzen nur etwa drei Paar Junge hervorbringt. Dennoch würde ein Elefantenpaar in 500 Jahren sich bis auf 15 Millionen Nachkommen vermehren, falls alle Jungen erhalten blieben und fortpflanzungsfähig würden. Eine Vogelart, die fünf Jahre lebt und in diesem Leben vier- mal brütet und jedesmal vier Junge aufzieht, würde sich in 15 Jahren bis auf 2000 Millionen Nachkommen vermehren. Obgleich also die Fruchtbarkeit in der Tat bei jeder Art genau geregelt ist, so ist doch geringere Fruchtbarkeit allein für sich noch kein Mittel, um das übermäßige Anwachsen einer Art zu verhindern, und ebensowenig ist es die für eine Art vorhandene Nahrungsmenge. Mag diese sehr groß oder sehr klein sein, wir sehen, daß sie tatsächlich niemals ganz verbraucht wird, daß sogar immer ein viel größerer Teil derselben übrigbleibt, als verzehrt wird. Wenn es bloß von der Nah- rungsmenge abhinge, so würde z. B. in der tropischen Heimat der Ele- fanten Nahrung für das Vieltausendfache der Elefanten vorhanden sein, die tatsächlich dort leben, und bei uns könnten die Maikäfer noch viel massenhafter auftreten, als sie dies im schlimmsten Maikäferjahr tun, da in einem solchen doch niemals alle Blätter von allen Bäumen ab- gefressen werden, immer noch zahlreiche Bäume und Blätter verschont bleiben. Auch vernichtet die Rosenblattlaus trotz ihrer enormen Frucht- barkeit niemals alle Triebe eines Rosenbusches und nicht alle Rosen- büsche eines Gartens oder gar des ganzen Wohngebietes der Rose. Allerdings aber steht die Individuenmenge einer Art in einem gewissen Verhältnis zur Menge der für sie vorhandenen Nahrung; sie ist z. B. sehr niedrig bei den großen Fleischfressern, dem Löwen, dem Adler u. s. w. In unseren Alpen sind die Adler mit der Ab- nalıme des Wildes auch seltener geworden, und wo noch ein Adlerpaar horstet, da beherrscht es einen mehr als 20 Stunden weiten Jagdbezirk ganz allein und ohne Konkurrenz von seinesgleichen. Wären mehrere Adlerpaare auf einem solehen Bezirk, so würden sie die vorhandene Nahrung bald so dezimiert haben, daß sie verhungern müßten. Darwins Lehre. 39 Umgekehrt können auf demselben Jagdbezirk des Adlerpaars zahl- reiche Pflanzenfresser, Gemsen und Murmeltiere leben, da für sie Nah- rung in unendlich viel größerer Masse vorhanden ist. Gewiß ist die Zahl von Individuen, welche von einer bestimmten Art auf einem bestimmten Wohngebiet lebt, nicht genau dieselbe jahr- aus, jahrein, sie ist vielmehr kleineren und manchmal, wie bei Blatt- läusen und Maikäfern, sehr großen Schwankungen ausgesetzt, dennoch aber dürfen wir annehmen, daß sich ihre Durchschnittsziffer gleich bleibt, dab also in einem Jahrhundert oder gar Jahrtausend die Anzahl von Individuen, welche während dieser Zeit in reifem Zustande gelebt hat, dieselbe bleibt. Allerdings gilt dies nur unter der Voraussetzung, daß auch die äußeren Lebensbedingungen sich während dieses Zeit- raums gleich bleiben. Dies wird aber bis zum Eingreifen des Menschen in die Natur meist durch weit längere Zeiten hindurch der Fall gewesen sein. Nennen wir nun die Durchschnittszahl von Individuen. welche auf einem sich gleichbleibenden Wohngebiet vorkommen, die Normalziffer der Art, so wird dieselbe einmal dadurch bestimmt. wie viele Nach- kommen jährlich hervorgebracht werden. und dann dadurch, wie viele von diesen jährlich zerstört werden, ehe sie die Reife erlangt haben. Da die Fruchtbarkeit einer Art eine bestimmte Größe ist, so muß es auch die Größe der Vernichtung oder, wie wir sie nennen können. (lie Vernichtungsziffer sein, falls die Normalziffer der Art sich bei gleichbleibenden Lebensbedingungen gleich bleibt. Es muß also jede Art einer ganz bestimmten Größe der Vernichtung unterworfen sein. welche sich durchschnittlich gleich bleibt und in welcher der Grund liest, warum eine Art nicht über ihre Normalziffer hinauswachsen kann, trotz des weit überschießenden Nahrungsvorrates und trotz der stets zu schrankenloser Vermehrung ausreichenden Fruchtbarkeit. Es ist nun nicht schwer, die Vernichtungsziffer für eine bestimmte Art zu berechnen, wenn man ihre Vermehrung kennt. denn wenn die Normalziffer der Art gleich bleiben soll, so können nur genau zwei Junge von allen Nachkommen, die ein Paar während seines Lebens hervorbringt, wieder zur Fortpflanzung gelangen: die übrigen müssen zugrunde gehen. Gesetzt z. B., ein Storchenpaar brächte jährlich vier Junge hervor, und zwar 20 Jahre hindurch, so müssen von den 80 Jungen, welche innerhalb dieser Zeit entstehen, durchschnittlich 78 wieder zugrunde gehen und nur zwei können zu reifen Tieren werden. Gelangten mehr als zwei zur Reife, so würde die Gesamtmenge (der Störche zunehmen müssen, was gegen die Voraussetzung des Gleichbleibens der Normalziffer wäre. Es ist für die Gesichtspunkte, die wir hier im Auge haben, nicht unwichtig, dies noch an einigen anderen Beispielen sich vor Augen zu halten. Ein Forellenweibehen bringt jährlich ungefähr 600 Eier hervor; nehmen wir an, dasselbe bleibe nur zehn Jahre lang fortpflan zungsfähig, so betrüge die Vernichtungsziffer der Art 6000 weniger zwei, also 5998, denn von den 6000 Eiern würden nur zwei wieder zu reifen Tieren. Bei «den meisten Fischen ist die Verniehtungsziffer eine noch ungleich größere. So bringt ein Weibchen des Herings jährlich 40000 Eier hervor; die Lebensdauer auf zehn ‚Jahre ange- geschlagen, gäbe dies eine Vernichtungsziffer von 400000 weniger zwei, also 399998. Der Karpfen bringt jährlich 200000 Eier hervor, der Stör gar zwei Millionen, und beide Arten leben lang und bleiben zewiß über 50 Jahre lang fortpflanzungsfähig. Von allen den 100 Millionen Ai] Darwins Lehre. Eiern, welche im letzteren Falle während eines Lebens hervorgebracht werden, gelangen aber nur zwei wieder zur vollen Entwicklung und zur Fortpflanzung, alle anderen verfallen der vorzeitigen Zerstörung. Aber auch «damit sind wir noch nicht auf der Höhe der Zerstö- rungsziffer angelangt, denn zahlreiche niedere Tiere bringen noch mehr Keime hervor, geschweige denn viele der Pflanzen. Schon LEUWENHOEK berechnete die Fruchtbarkeit eines Spulwurmweibehens auf 60 Millionen Eier, und ein Bandwurm wird kaum unter 100 Millionen Eier hervor- bringen. Es besteht also ein konstantes Verhältnis zwischen Frucht- barkeit und Vernichtungsziffer. je höher die letztere ist, um so eröber mub die erstere sein, wenn die Art überhaupt Bestand haben soll. Das Beispiel des Bandwurms macht dies sehr anschaulich, hier können wir gut begreifen, warum die Fruchtbarkeit eine so ungeheuere sein muß, da wir die lange Kette von Zufälligkeiten kennen, welche die Entwicklung dieses Tieres bedingen. Die Taenia solium, der ge- wöhnliche Menschenbandwurm, legt seine Eier nicht ab, sondern die- selben bleiben eingeschlossen in dem abgehenden Bandwurmglied. Nur wenn dieses letztere zufällige von einem Schwein oder anderen Säuger entdeckt und gefressen wird, können sich die darin enthaltenen Eier entwickeln. aber unter Schwierigkeiten und Verlusten, und noch nicht gleich zum reifen Tiere, sondern zunächst zu mikroskopisch kleinen kugeligen Larven, die sich in die Wand des Darmes einbohren und, wenn sie glücklich genug sind, in den Blutstrom gelangen, um von diesem an irgend eine entfernte Stelle des Körpers getrieben zu werden. Dort entwickeln sie sich zur Finne, dem sog. Blasenwurm, in dem der jandwurmkopf entsteht. Damit aber «dieser den ganzen, fortpflanzungs- fähigen Wurm hervorbringe, muß das Schwein erst sterben, und nun muß der günstige Zufall eintreten, daß ein Stück des Fleisches dieses Tieres von einem Menschen oder anderen Säuger roh verschluckt wird! Erst damit gelangt die mit verschluckte glückliche Finne an ihr Lebens- ziel, d.h. an die Stätte, an welcher sie reif werden kann: in den Darm des Menschen. Es liegt auf der Hand, dab unzählige Eier des Band- wurms verloren gehen müssen, ehe einmal eines diesen ganzen, vom Zufall so sehr abhängigen Entwicklungsgang glücklich durchläuft. Daher (lie Notwendigkeit so enormer Eiermassen. Häufig sind die Zerstörungsursachen, welche eine Art in Schranken halten, schwer genau festzustellen. Feinde, d. h. andere Arten, die diese Art als Nahrung benutzen, spielen dabei eine große Rolle, vielfach aber ist es auch die Ungunst der äußeren Verhältnisse, der Zufall, der nur einem unter Tausenden günstig ist. Die Eiche brauchte nur einen Samen in dem halben Jahrtausend ihrer Lebensdauer hervorzubringen, wäre es sicher, daß dieser jedesmal auch wieder zum Eichbaum heran- wüchse: aber die meisten Eicheln werden von Schweinen, Eichhörnchen, Insekten usw. gefressen, ehe sie noch keimen können, Tausende fallen auf dieht bewachsenen Boden, wo sie nicht Wurzel fassen können, und wenn eine auch wirklich einmal ein Plätzchen freie Erde zum Keimen erlangt, so hat das junge Pftlänzchen noch tausend Fährlichkeiten zu bestehen, Angriffe von zahlreichen kleinen und großen Tieren, die sich von ihm ernähren möchten, Erstiekung von dem benachbarten Pflanzen- gewirr usw. Wir begreifen so einigermaßen, wenn auch: nur unge- fähr, daß die Eiche Jahr für Jahr Tausende von Samen hervorbringen muß, damit die Art ihre Normalziffer aufrecht erhalten kann und nicht Darwins Lehre. 41 unterzugehen braucht: denn es liegt auf der Hand, «dab ein stetiges, wenn auch langsames Sinken der Normalziffer, ein regelmäbiges Manko nichts anderes bedeuten würde, als das allmähliche Aussterben der Art. Aber auch dieser Keimreiehtum ist noch nicht das Äußerste von Fruchtbarkeit, dem wir in der Natur begegnen; niedere Pflanzen viel- mehr leisten darin das Höchste. Man hat berechnet, daß ein einziger Wedel des schönen, in unseren Wäldern so häufigen Farnkrautes, Aspidium filix mas, etwa 14 Millionen Sporen hervorbringt! Sie dienen der Verbreitung der Art, werden als Sonnenstäubchen vom Wind fort- getragen, und nur verhältnismäßig wenige aus diesen Millionen kommen überhaupt nur zum Keimen, geschweige denn zur vollen Entwicklung der fertigen Pflanze. So sehen wir, daß die scheinbare Verschwendung der Natur nichts ist, als eine Notwendigkeit, als die unerläßliche Vorbedingung für die Erhaltung der Art; die Fruchtbarkeit einer Art wird bedingt dureh die Zerstörung, welcher sie ausgesetzt ist. Das zeigt sich klar, wenn eine Art unter neue und günstigere Lebensverhältnisse versetzt wird, in welchen sie eine Fülle von Nahrung, aber wenig Feinde. antrifft. In diesem Falle waren z. B. die nach Südamerika eingeführten und dort verwilderten europäischen Pferde. von denen jetzt Herden von vielen Tausend Stücken auf den weiten Grasebenen umherschweifen. Vermindern sich die kleinen Singvögel einer Gegend, so vermehren sich die Raupen und andere dem Menschen schädliche Insekten, die diesen als Nahrung (dienen. Die kolossalen Zerstörungen, welche der gefürchtete Spinner, die Nonne, von Zeit zu Zeit in unseren Wäldern anrichtet, beruht wohl zum Teil auf einer Verminderung dieser und anderer In- sektenfeinde, zu der dann wohl noch den Raupen günstige Witterungs- verhältnisse mehrerer Jahre hinzukommen müssen. Wie mächtig, ja fast unbegreiflich die Individuenzahl der Raupen unter solchen Um- ständen anwachsen kann, zeigen solche Raupenfraße, durch die z. B. in Preußen im Jahr 1856 viele Quadratmeilen Wald vollständig abgefressen wurden. Der Raupen waren so viele, daß man schon von einiger Ent- fernung den fallenden Kot derselben wie einen Regen niederrauschen hörte und daß 10 Zentner Eier ihrer Schmetterlinge gesammelt wurden, das Lot zu 20000 Eiern! Man würde aber sehr irren, wollte man aus «diesem enormen und plötzlichen Anwachsen der Individuenzahl einer Art schließen, dab die Normalziffer der Individuen durch die Zahl der Feinde allein be- stimmt würde. Die durchschnittliche Individuenzahl einer Art hängt von vielen anderen Bedingungen ab, vor allem von der Gröbe (des Wohngebietes und des Nahrungsvorrats im Verhältnis zur Körpergröße der Art. Ich will darauf nicht näher eingehen, sondern nur hervor- heben, daß es für die Fortdauer einer Art gleichgültig ist, ob sie „häufig“ oder „selten“ ist, vorausgesetzt «daß ihre Normalziffer sieh im Durchschnitt der Jahrhunderte gleichbleibt, d.h. daß ihre Fruchtbarkeit genügt. um den jedesmaligen Verlust durch Feinde und sonstige Zer- störungsursachen zu decken. Man könnte zwar gerade aus solchen Fällen plötzlicher enormer Zunahme der Individuenzahl, wie er bei einem Raupenfraß stattfindet, zu schließen geneigt sein, dab «die Feinde und andere zerstörende Ursachen am meisten teil an der Feststellung der Normalzitier hätten. Das ist indessen nur scheinbar der Fall. Die Feinde machen eine zewisse Fruchtbarkeit der Beuteart notwendig, 4» Darwins Lehre. damit der Ausfall jeder (Generation wieder gedeckt werde: wie viele fortpflanzungsfähige Paare aber vorhanden sind. das ist dabei nicht aus- schlaggebend. Man darf nicht vergessen, daß die Normalziffer der Feinde ihrerseits abhängig ist von der ihrer Beutestücke, daß sie steigt und fällt mit den: Steigen und Fallen der Normalziffer der Beuteart. Aus diesem Grunde kann auch eine solche enorme Steigerung der Individuenzahl wie beim Raupenfraß nicht lange andauern; sie trägt ihr Korrektiv in sich. Das massenhafte Auftreten einer Raupe ver- mehrt von selbst ihre Feinde: Singvögel, Schlupfwespen. Mordfliegen, Käferlarven und Raubkäfer finden reiche und bequeme Nahrung an ihnen, pflanzen sich deshalb reichlicher fort und vermehren sich so rasch, daß sie unter Mitwirkung pflanzlicher Raupenfeinde, vor allem der insektentötenden Pilze, bald die Raupen auf und selbst weiter unter ihre Normalziffer herabdrücken. Dann aber beginnt der um- gekehrte Prozeß, die Feinde der Raupen vermindern sich, weil ihnen nun das Futter knapp wird und sinken ihrerseits unter ihre Normal- zitfer, während die Raupen nun allmählich wieder zunehmen. Wenn auf einem Jagbgebiet die Füchse an Zahl zunehmen, so vermindert sich die Zahl der von ihnen verfolgten Hasen, und umge- kekrt bedeutet eine starke Dezimierung der Füchse durch den Menschen eine Vermehrung der Hasen dieses (rebietes. Im Naturzustand, d.h. unter Wegdenkung des Menschen, würde ein stetes Balanceieren der In- dividuenzahl der Hasen und der Füchse stattfinden müssen, indem jeder stärkeren Vermehrung der Hasen immer eine solche der Füchse nach- folgen müßte, welch letztere dann wieder die Zahl der Hasen herab- drückt, so dab nun wieder für «die vorhandenen Füchse die Nahrung nıcht mehr ausreicht und sie wieder abnehmen, solange, bis die Hasen- zahl durch die geringere Nachstellung und Zerstörung sich wieder ge- hoben hat. Das Beispiel ist in der Natur nicht so einfach, weil der Fuchs nicht bloß von Hasen lebt und weil der Hase seinerseits nicht bloß vom Fuchs dezimiert wird, aber es macht es doch anschaulich, dab ein labiles Gleichgewicht zwischen den Arten eines Wohn- gebietes besteht, zwischen den Verfolgten und den Verfolgern, und zwar derart, dab die Individuenzahl beider Arten zwar stets leise auf und ab schwankt. aber dennoch sich gegenseitig so beeinflußt, daß eine Regulierung daraus hervorgeht und eine in größeren Zeiträumen sich gleichbleibende Durchschnittsziffer — eben die Normalziffer sich fest- stellt. Sie ist die Mittlere, um welche die aktuellen Mengen der In- dividuen auf und ab schwanken. So einfach, wie in dem angenommenen Beispiel sind nun diese Beeintlussungen und Regulierungen wohl selten oder niemals, vielmehr spielen dabei meist mehrere oder viele Arten ineinander und keineswegs bloß Raub- und Beutetiere, sondern die ver- schiedensten, anscheinend gar nieht in Beziehung stehenden Arten von Tieren und von Pflanzen, nicht zu reden von den physikalischen, be- sonders klimatischen Lebensbedingungen, welche ebenfalls die Artziffer auf und ab schwanken machen. Wie verwickelt aber die Beziehungen der auf einem Wohngebiet beieinander lebenden Arten häufig sind, das möchte ich Ihnen doch an ein paar Beispielen zeigen. Zunächst sei das berühmte Beispiel DAR- wins erwähnt von der Fruchtbarkeit des Klees, welche bestimmt wird durch die Zahl der Katzen. Es ist freilich nur ein erdachtes Beispiel, beruht aber auf richtigen Tatsachen. Die Zahl der Katzen, welche in einem Dorfe leben, bestimmt bis zu einem gewissen Grade die der wg; Darwins Lehre. 43 Fledermäuse der (remarkung. Diese wiederum zerstören die Nester der in Erdlöcher bauenden Hummeln. und es hängt also die Zahl der Hummeln von der der Mäuse uud der Katzen ab. Da nun der Klee von Insekten befruchtet werden muß, um Samen anzusetzen, und da nur die Hummeln einen hinreichend langen Rüssel besitzen, um dies tun zu können, so wird also die Menge des jährlich hervorgebrachten Kleesamens durch die Menge der Hummeln bestimmt und in letzter Instanz durch die der Katzen. — Man hat in der Tat in Neuseeland die Hummeln aus England eingeführt, weil man ohne sie keinen Samen vom Klee erhielt. Auf den Grasebenen Paraguays fehlen wilde Rinder und Pferde, weil dort eine Fliege lebt, die ihre Eier mit Vorliebe in den Nabel neugeborener Rinder und Pferde legt, welche dann durch die aus- schlüpfenden Maden getötet werden. Die Zahl dieser Fliegen kann man sich abhängig denken von insektenfressenden Vögeln. welche ihrer- seits wieder von der Zahl gewisser Raubtiere abhinge. Letztere könnten dann in ihrer Anzahl durch die Ausdehnung der Wälder bestimmt werden und diese endlich durch die Zahl von Wiederkäuern, welche den jungen Nachwuchs der Wälder abweiden (Darwın). Dab wirklich Wälder durch Wiederkäuer vernichtet werden können, beweist unter anderem die Insel St. Helena, die bei ihrer Entdeckung von dichtem Wald bedeckt war, durch Ziegen und Schweine aber im Laufe von 200 Jahren in einen völlig kahlen Felsen umgewandelt wurde, indem diese den jungen Nachwuchs stets so gründlich abweideten, daß für gefällte oder abgestorbene Bäume kein Ersatz aufkam. Sehr anschaulich wird dies durch Darwıns Beobachtung einer weiten Heide, auf welcher nur wenige Gruppen alter Kiefern standen. Die bloße Einfriedigung eines Teils der Heide genügte, um eine dichte Saat junger Kiefern innerhalb derselben hervorzurufen, während die Untersuchung des offenen Teils der Heide ergab, daß hier das weiden(de Vieh die jungen Kiefernpflänzchen, welche aus Samen aufgingen, ab- geweidet hatte, und zwar immer wieder von neuem, so daß auf einem kleinen Raum 32 Bäumchen im Grase verborgen standen, von (denen einige bis zu 26 Jahresringen zählten. Wie bestimmt die Individuenzahl verschiedener, auf demselben Wohngebiet lebender Arten sich gegenseitig beschränkt und dadurch reguliert, suchte Darwın auch am Beispiel des Urwaldes zu veranschau- lichen, .dessen vielerlei Pflanzenarten nieht regellos dureheinandergemischt sind, sondern in einem bestimmten Verhältnis. Ganz ähnliche Beispiele können wir überall finden, wo auf einem bestimmten Gebiet der Ptlanzen- wuchs sich selbst überlassen ist. Wenn wir an den Ufern unseres Flüßchens, der Dreisam, entlang gehen, treffen wir auch ein wildes Durcheinander der verschiedensten Bäume, Sträucher und krautartigen Pflanzen. Aber wenn es auch nicht zahlenmäßig nachgewiesen ist, so dürfen wir sicher sein, daß dieselben in einem bestimmten Zahlenver- hältnis vertreten sind, welches abhängig ist von den natürlichen Eigen- schaften und Bedürfnissen dieser Arten, von der Masse und Verbreitungs- fähigkeit ihrer Samen, der günstigeren oder ungünstigeren ‚Jahreszeit ihrer Reife, ihrer verschieden großen Fähigkeit, auf schlechtestem Boden Wurzel zu fassen und rasch empor zu wachsen usw. Sie beschränken sich gegenseitig, und zwar derart, daß von dieser Art ein Prozent, von jener drei, von einer dritten vielleicht fünf Prozent der sämtlichen Pflanzen des Flußufers gestellt werden und daß «dieselbe Kombination 44 Darwins Lehre. von Pflanzen in demselben Verhältnis sich an anderen Flußufern unseres Landes. wofern die äußeren Bedingungen gleich sind, wiederholen wird. (sanz ebenso muß es sich mit der Tierwelt eines solchen Pflanzen- «diekichts verhalten, auch ihre Arten beschränken sich gegenseitig und regulieren dadurch ihre Individuenzahl, die auf einem Wohngebiet mit eleichbleibenden Verhältnissen selbst relativ stabil. d. h. zur „Normal- ziffer“ wird. Die in jeder Art liegende Fähigkeit zu unbegrenzter Vermehrung wird also eingeschränkt durch die Mitexistenz anderer Arten: es findet — bildlich gesprochen - ein fortwährender Kampf statt zwischen «den Arten, pflanzlichen wie tierischen: jede sucht sich, soviel als nur mög- lich, zu vermehren, und jede wird von den anderen eingeschränkt und, soviel nur möglich, daran gehindert. Es ist keineswegs bloß die direkte Beschränkung der. Individuenzahl, die darin besteht, dab die eine Art die andere als Nahrung verwendet, Raub- und Beutetier, oder Heu- schrecke und Pflanzen, sondern noch mehr die indirekte Beschränkung, bildlich gesprochen: der Kampf um Boden, Licht, Feuchtigkeit bei der Ptlanze, um Nahrung bei dem Tiere. Aber all dieses, so bedeutsam es ist, macht doch noch nicht den- jenigen „Kampf ums Dasein“ aus, welchem DAarwın und WALLACE die Rolle des Züchters übertragen im Prozeß der Naturzüchtung. Der Kampf, d. h. die gegenseitige Beschränkung der Arten, kann zwar sehr wohl eine Art in ihrer Ausbreitung beschränken, ihre Normalzitter herabdrücken, möglicherweise bis auf Null. d. h. bis zu ihrer Vernich- tung, aber er kann eine Art nicht anders machen, als sie einmal ist. Dies kann nur dadurch geschehen, daß innerhalb der Art selbst ein Kampf ums Dasein stattfindet, der darin besteht, dab unter den zahl- reichen Nachkommen durchschnittlich diejenigen überleben, «dl. h. zur Fortpflanzung gelangen, welche die besten sind, deren Be- schaffenheit es ihnen am ehesten möglich macht, die Hindernisse und (sefahren des Lebens zu überwinden und bis zur Reife erhalten zu bleiben. Wir sehen ja. ein wie großer Prozentsatz jeder Generation bei allen Arten immer wieder zugrunde geht, ehe er die Reife erlangt hat. Wenn nun die Entscheidung darüber, wer zugrunde gehen soll und wer die Reife erlangen, nicht immer bloß vom Zufall gegeben wird, sondern zum Teil auch von der Beschaffenheit der heranwachsen- den Individuen: wenn die „Besseren“ durehschnittlich überleben, die „Schlechteren“ vor eriangter Reife durehsehnittlich absterben, dann liegt hier ein Züchtungsprozeß vor, durchaus vergleichbar dem der künstlichen Züchtung, und der Erfolg. desselben muß die „Verbesse- rung“ der Art sein. mag nun dieselbe in diesen oder in jenen Eigen- schaften liegen. Die siegreichen Eigenschaften, die früher nur einzelnen Individuen eigen waren, müssen allmählich Gemeingut der Art werden, wenn in jeder Generation die zur Fortpflanzung gelangenden Individuen sie alle besitzen, sie also auch auf ihre Nachkommen vererben können. Diejenigen der Nachkommen aber, die sie nicht erben, werden wieder im Nachteil sein im Kampf ums Dasein oder genauer um die Erlangung der Reife, wenn in jeder (Generation stets ein höherer Prozentsatz der- jenigen Individuen zur Fortpflanzung kommt, die sie besitzen. als der- jenigen, die sie nicht besitzen. Dieser Prozentsatz muß von Generation zu (reneration zunehmen, weil ja in jeder die natürliche Auslese der Besseren von neuem eingreift, und er muß schließlich bis auf 100 Pro- Darwins Lehre. 45 zent steigen, d. h. es müssen nur Individuen der besseren Sorte noch übrig bleiben. Damit ist aber der Vorgang noch nicht erschöpft, vielmehr werden wir aus den Erfahrungen der künstlichen Rassenbildung ableiten dürfen, daß die gezüchteten Eigenschaften sich von Generation zu Generation steigern können und dab sie dies so lange tun müssen, als eine Steigerung noch einen Vorteil im Kampf ums Da- sein gewährt, denn so lange wird sie zu häufigerem Überleben ihrer Träger führen. Die Steigerung wird also erst stille stehen, wenn sie den höchsten Grad von Nützlichkeit erreicht hat, und es werden auf diese Weise neue Charaktere gebildet werden können. wie ja auch bei der künstlichen Züchtung aus den kurzen, aufwärts gekrümmten Hals- federn bei der Perückentaube eben (die Perücke, ein den Kopf über- deckender Federbaldachin erzüchtet worden ist. Einige Beispiele von Naturzüchtung werden den Vorgang anschau- licher machen. Unser Hase ist durch seinen aus Braun, Gelb, Weiß und Schwarz gemischten Pelz sehr gut vor Entdeckung gesichert, wenn er sich im trockenen Laub des Niederholzes in sein Lager duckt. Man kann leicht an ihm vorübergehen, ohne ihn zu sehen. Ist der Boden und die Büsche mit Schnee bedeckt, so sticht er dagegen stark davon ab. Ge- setzt nun, das Klima würde kälter bei uns und der Winter brächte anhaltenderen Schnee, so würden solche Hasen, die einen stärker mit Weiß gemischten Pelz besäßen. im Vorteil sein im „Kampf ums Dasein“ gegenüber ihren dunkleren Artgenossen, sie würden weniger leicht von ihren Feinden, dem Fuchs, Dachs, Uhu, der Wildkatze, entdeckt werden. Von den zahlreichen Hasen, welche alljährlich ihren Feinden zum Opfer fallen, würden also durchschnittlich mehr dunkle als helle Individuen sein. Der Prozentsatz heller Hasen müßte somit von (Generation zu Generation steigen, und je länger der Winter würde, um so schärfer und anhaltender würde die Auswahl zwischen dunkeln und hellen Hasen, bis zuletzt nur noch helle übrigblieben. Zugleich würde sich aber auch die Helligkeit selbst der Hasen steigern müssen, einmal weil es immer häufiger vorkommen würde, daß zwei helle Hasen sich paarten und dann, weil der Kampf ums Dasein sich sehr bald nicht mehr zwischen dunkeln und hellen Hasen abspielte, sondern zwischen hellen und noch helleren. So müßte zuletzt eine weiße Hasenrasse entstehen, wie eine solehe denn wirklich in den Polarländern und auf den Alpen entstanden ist. Oder denken wir uns eine krautartige Pflanze, etwa vom Aussehen einer Tollkirsche, blätterreich und saftig, aber nieht giftig. Sie wird ohne Zweifel von den Tieren des Waldes mit Vorliebe abgeweidet werden und kann sich deshalb nur kümmerlich halten, da nur wenige ihrer Pflanzen zur Samenbildung gelangen. Nehmen wir nun an, bei einigen Büschen dieser Pflanze entwickle sich ein widerwärtig schmeekender Stoff in Stengel und den Blättern, wie solches durch geringe Veränderungen im Chemismus der Pflanze sehr wohl geschehen kann. Was würde anders die Folge sein, als daß nun solche Individuen weniger gern gefressen würden, als die anderen? Es müßte also ein Selektionsprozeß einsetzen, der darin bestünde, daß die widerwärtig schmeckenden Büsche der Pflanze häufiger verschont blieben, also auch häufiger Samen trügen als die wohl- schmeckenden. So müßte von Jahr zu Jahr die Zahl der schlecht schmekenden sich vermehren. Wenn der betreffende Stoff zugleich giftig 46 Darwins Lehre. wäre oder nach und nach es würde, so müßte sich allmählich eine vor dem Frab des Wildes vollkommen geschütze Pflanze herausbilden. etwa so wie es die Tollkirsche, Atropa Belladonna, wirklich ist. Oder setzen wir den Fall, ein Stromgebiet sei mit einer Karpfen- art besetzt. die bisher keinen eröberen Feind gehabt habe und dadureh träge und langsanı geworden sei, und es wandere nın vom Meere aus eine große Hechtart in dieses Wasser ein. Zunächst werden die Karpfen in Menge dem Hecht zum Opfer fallen und dieser wird sich an Zahl rasch vermehren. Wenn nun nicht alle Karpfen gleich träge und stumpf- sinnig sind, sondern unter ihnen auch etwas raschere und intelligentere vorkommen, so werden (diese durchschnittlich seltener den Hechten zum Opfer fallen, es werden also zahlreichere Individuen mit den besseren Eigenschaften in jeder Generation erhalten bleiben, zuletzt nur noch solche, und es wird sich nach und nach zugleich eine Steigerung der nützlichen Eigenschaften, also eine raschere und scheuere Karpfenrasse herausbilden müssen. Vielleicht würde aber — so wollen wir annehmen — die Steige- rung der Schnelligkeit und Scheu allein nicht ausreichen, um die Kolonie vor dem Untergang zu schützen, sondern es mübte dazu noch eine gröbere Fruchtbarkeit kommen, damit die Normalziffer der Art nicht in (lauerndes Sinken geriete; aber auch dies würde durch Naturzüchtung erreicht werden können, falls die Natur der Art und die allgemeinen Lebensverhältnisse es gestatteten. Denn Variationen der Fruchtbarkeit finden sich bei jeder Art, und wenn die Aussicht, einige seiner Eier zu reifen Tieren werden zu sehen, für «das fruchtbarere Weibchen größer ist, als für das minder fruchtbare — caeteris paribus — so müßte ein Züchtungsprozeß eintreten, der eine Steigerung der Fruchtbarkeit, soweit sie überhaupt möglich wäre, zur Folge hätte. Offenbar können sich solche natürliche Züchtungsprozesse auf alle Teile und Eigenschaften beziehen, auf Gröbe und Körperform ebensogut, als auf irgend einen einzelnen Teil, auf die äußere Haut und ihre Fär- bung, auf jedes innere Organ, auch nicht bloß auf körperliche Eigen- schaften, sondern auch auf geistige, auf Intelligenz und auf Instinkte. Nur biologisch gleichgültige Charaktere können dem Prinzip nach durch Naturzüchtung nicht verändert werden. Natürzüchtung kann auch jedes Alter verändern, denn die Zer- störung der Individuen beginnt sehon vom Ei an, und eine Eiart, welche in irgend einer Weise besser geeignet ist, dieser Zerstörung zu ent- gehen, wird ihre nützliche Eigenschaft auf Nachkommen vererben können, weil das junge Tier dadurch häufiger zu voller Entwicklung gelangt als solehe anderer Eier. Ganz ebenso muß auf jedem folgenden Entwick- lungsstadium jede der Erhaltung des Individuums günstige Eigenschaft erhalten und gesteigert werden können. Daraus geht schon hervor, dab Naturzüchtung weit mächtiger sein mub, als die künstliche Züchtung des Menschen. Während diese letztere immer nur einen Charakter auf einmal durch planmäßige Züchtung ver- ändern kann, wird Naturzüchtung imstande sein, eine ganze Gruppe von solchen gleichzeitige zu beeinflussen, wie auch alle Stadien der Ent- wicklung. Es werden eben bei der Ausmerzung der jährlich der Ver- nichtung anheimfallenden Individuen durchschnittlich stets die „Besten“, d. h. diejenigen übrigbleiben, welche die meisten Teile und Anlagen des Körpers in jedem Stadium in möglichst bester Ausführung besitzen. Je länger dieser Züchtungsprozeß «dauert, um so geringer werden die Darwins Lehre. 47 Abweichungen der Individuen von dieser besten Ausführung sein und um so gerinefügigere Unterschiede in der Güte werden den Ausschlag darüber geben, wer unterzugehen hat und wer seine Eigenschaften fort- pflanzen darf. In den ungeheuren Zeiträumen, welche der Naturzüch- tung zur Verfügung stehen, und den nicht abschätzbaren Mengen der Individuen liegt denn auch das wesentlichste Moment ihrer Überlegen- heit gegenüber der künstlichen Züchtung des Menschen. Fassen wir kurz zusammen, so beruht das Wesen der Naturzüchtung auf einer Häufung kleinster nützlicher Abweichungen in der Richtung ihrer Nützlichkeit: nur Nützliches wird gebildet und gesteigert, und grobe Wirkungen kommen erst langsam durch Summierung vieler kleinster Schritte zustande. Naturzüchtung ist eine Selbstregulierung der Art im Sinne ihrer Erhaltung; ihr Resultat ist die unausge- setzte Anpassung der Art an ihre Lebensbedingungen. Sobald diese sich ändern, ändert auch Naturzüchtung ihre Auswahl, denn die vorher die Besten waren, sind es jetzt nicht mehr: Teile, die vorher groß sein mußten, müssen jetzt vielleicht klein werden, oder umgekehrt, Muskelgruppen, die schwach waren, müssen jetzt stark werden u. s. w. Die Lebensbedingungen sind gewissermaßen die Form, über die Natur- züchtung immer wieder aufs neue die Art abgiehßt. Die philosophische Bedeutung aber der Naturzüchtung liegt darin, daß sie uns ein Prinzip aufweist, welches nicht zwecktätig ist und doch das Zweckmäbige bewirkt. Zum ersten Male sehen wir uns dadurch in den Stand. gesetzt, die so überaus wunderbare Zweckmäßig- keit der Organismen bs zu einem gewissen Grade zu begreifen, ohne dafür die außernatürlich eingreifende Kraft des Schöpfers in Anspruch zu nehmen. Wir verstehen nun, wie auf rein mechanischem Wege, nur durch die in der Natur stets wirksamen Kräfte alle Lebensformen sich den Lebensbedingungen aufs genaueste anschmiegen oder anpassen müssen, da nur das möglichst Beste sich erhält, alles minder Gute aber fort und fort wieder verworfen wird. Ehe ich nun dazu schreite, Sie genauer in die Erscheinungen ein- zuführen. die wir auf Naturzüchtung beziehen, muß ich noch kurz er- wähnen, daß Darwın keineswegs alle Veränderungen, welche im Laute der Zeiten an den Organismen eingetreten sind, auf seine Natürzüchtung zurückführt. Einmal schreibt er den korrelativen Abänderungen, wie schon erwähnt, einen nicht unbeträchtlichen Anteil daran zu, vor allem aber der direkten Einwirkung veränderter Lebensbedingungen, mögen sie nun in klimatischen und anderen Veränderungen der Um- sebung bestehen oder in der Annahme von neuen Gewohnheiten und dadurch gesteigertem oder herabgemindertem Gebrauch einzelner Teile und Organe. Er erkennt das von LAMARCK so stark betonte Prinzip des Gebrauchs und Niehtgebrauchs als Ursache einer erblichen Zu- und Abnahme der geübten oder vernachlässigten Teile an, wenn auch mit einer gewissen Reserve. Ich werde später wieder auf «dıese Faktoren der Umbildung zurückkommen und dann versuchen, Ihnen zu zeigen, daß auch sie auf Selektionsprozesse zu beziehen sind, wenn auch auf solche anderer Ordnung als die Erscheinungen, welche auf das DARWIN- Warracezsche Prinzip der Naturzüchtung bezogen werden dürfen. Zu- nächst aber scheint es mir notwendig, die Tragweite dieses letzteren Ihnen zur Anschauung zu bringen, und «damit wollen wir uns denn in den nächsten Vorträgen ausschließlich befassen. IV..VORTREG. Die Färbungen der Tiere und ihre Beziehung auf Selektionsvorgänge. Biologische Bedeutung der Färbungen p. 45, Sy Be Färbung der Eier p. 51, Tiere der Schneeregion p. 52, Tiere der Wüste p. 52, Glastiere p. 53, Grüne Tiere p. 53, Nachttiere p. 54, Doppelte Farbenanpassung p. 54, Schützende Zeichnung der Raupen p. 56, Trutzzeichnungen p- 57, Dimorphismus der Färbung bei Raupen p. 60, Zurückrücken der Färbung in der Ontogenese p. 60, Sympathische Färbung bei Tag- faltern p. 62, bei Nachtfaltern p. 64, Theoretische Erwägungen p- 64, Hat die Be- licehtung Anteil an Schutzfärbungen, Tropidoderus p. 65, Minutiöse Zusammenstim- mungen der Schutzfärbung, Nototonda p- 67, Einwürfe, Nachahmung erudbr Gegen- stände Xylina p. 67, _Blattschmetterlinge Kallima p. 69, Hebomoja p. «2, Nachtfalter mit Blattzeichnung p. 73, Heuschrecken von Blattähnlichkeit p. 73, Spannerraupen p. 75. Meine Herren! Sie wissen nun, was DArwIn mit Naturzüchtung meint. und Sie verstehen, daß dieser Vorgang in der Tat eine in kleinen Schritten erfolgende Umwandlung der Lebensformen im Sinne der Zweckmäßiekeit ist, welche mit derselben Notwendigkeit eintreten muß, wie wenn ein menschlicher Züchter, geleitet von der Absicht, ein Tier nach irgend einer Richtung hin zu verbessern, stets die „besten“ Tiere zur Nachzucht auswählt. Auch in der Natur findet eine solche Auswahl statt, und zwar dadurch, daß in jeder (Generation die meisten im Kampf des Lebens unterliegen, daß aber durchschnittlich diejenigen übrig Meiben, zur For tpflanzung gelangen und ihre Eigenschaften auf Nachkommen übertragen, welche am besten den Lebensbedingungen angepaßt sind, d.h. welche diejenigen Variationen der Arteigenschaften besitzen, die zur Besiegung der Gefahren des Lebens am vorteilhaftesten sind. Da die Individuen stets in irgend einem Betrag variabel sind, da ihre Variationen sich auf ihre Nachkommen vererben können und da die stets sich wiederholende Vernichtung der Mehrheit der Nach- kommen eine Tatsache ist, so muß auch die Folgerung aus diesen Prämissen richtig sein, es muß eine „Naturzüchtung“* geben im Sinne einer allmählichen Steigerung der Zweckmäbigkeit und Leistungsfähigkeit der Lebensformen. Direkt beobachten aber läßt sich der Vorgang der Naturzüchtung nicht, dafür geht er wohl immer zu langsam vor sich und dafür ist auch unsere Beobachtungsgabe weder umfassend, noch fein genug. Wie wollten wir es anstellen, um die Millionen von Individuen, welche den jedesmaligen Bestand einer Art auf einem Wohngebiet ausmachen, daraufhin zu untersuchen, ob sie irgend eine schwankende- Eigenschaft in einem gewissen Prozentsatz besitzen und ob dieser Prozentsatz im Laufe «der Jahrzehnte oder Jahrhunderte zunimmt? Und dazu kommt Färbungen der Tiere. 49 noch (die Unsicherheit in der Wertschätzung der biologischen Bedeutung dieser Abänderung. Selbst in Fällen, wo wir diese Bedeutung im all- gemeinen ganz gut kennen, vermögen wir sie doch nicht gegen die einer anderen, uns auch ganz wohl verständlichen Eigenschaft abzu- schätzen. Wir werden später von den Schutzfärbungen sprechen und dabei die Raupen eines Schwärmers besprechen, die in zwei Schutz- färbungen vorkommen, indem sie zum Teil braun, zum Teil grün sind; aus der größeren Häufigkeit der braunen Form dürfen wir wohl schließen, daß Braun hier eine bessere Anpassung ist als Grün, aber wie wollten wir dies direkt aus der Eigenschaft selbst und unserer nur sehr unge- fähren Kenntnis von der Lebensführung dieser Art. ihren Gewohnheiten und den ihr drohenden Gefahren entnehmen? Von einer direkten Abschätzung des schützenden Wertes der beiden Färbungen kann gar keine Rede sein. Das Uberleben des Passendsten also läßt sieh in der Natur einfach deshalb nicht konstatieren, weil wir nicht im voraus beurteilen können, was das Passendste sein wird. Deshalb also mußte ich Ihnen den Vorgang der Naturzüchtung an erdachten, anstatt an beobachteten Beispielen klar zu machen suchen. Aber wenn wir auch die im Naturzustand sich ununterbrochen vollziehenden Züchtungsprozesse nicht direkt verfolgen können, so gibt es doch für eine Hypothese noch eine andere Art von Beweis, als den- jenigen, der in der logischen Folgerung eines Vorgangs aus richtigen Prämissen liegt. ich möchte ihn den praktischen nennen. Wenn eine Hypothese imstande ist, eine große Zahl von sonst unverständlichen Tatsachen zu erklären, so hat sie damit einen hohen Grad von Wahr- scheinlichkeit gewonnen, und noch mehr steigert sich diese, wenn keine Tatsachen aufzufinden sind. welche mit ihr in Widerspruch treten. Beides darf von der Selektionshypothese behauptet werden, ja die Erscheinungen, welche durch sie erklärt werden und auf keine andere Weise erklärbar sind, bieten sich in so ungeheuerer Zahl dar, dab an der Richtigkeit des Prinzips kein Zweifel bleiben und nur darüber noch gestritten werden kann, wie weit das Prinzip reicht. Wenden wir uns jetzt zu einer solchen Prüfung der Theorie an den Tatsachen, und zwar lassen Sie uns beeinnen mit einer Betrachtung der äußeren Erscheinung der Organismen, ihrer Farbe und Form. Farbe und Form der Organismen. Schon ERASMuS DarwıIn hat in manchen Fällen die biologische Bedeutung der Färbung einer Tierart sehr richtig erkannt, und gewib haben noch gar manche unter den zahlreichen guten Beobachtern früherer Zeiten ähnliche Gedanken gehabt. Von dem in der Mitte des XVIII Jahr- hunderts berühmten Nürnberger Miniaturmaler und Naturforscher RÖSEL voN ROSENHOF kann ich sogar bestimmt aussagen, dab er einzelne Fälle von dem, was wir heute Farbenanpassung nennen, sehr gut er- kannt und hübsch beschrieben hat. Alleın er gab sie nur als vereinzelte Fälle und war noch weit davon entfernt, die Erscheinung der Farben- anpassung in ihrer Allgemeinheit zu erkennen oder gar sich die Frage nach ihren Ursachen zu stellen. Überwucherte doch auch seit Liwn& das Bestreben, neue Arten aufzustellen, sehr die feinere Beobachtung der Lebensgewohnheiten und Lebensbeziehungen der Tiere, und später seit BLUMENBACH, KIELMEYER, UUVIER und anderen zog wieder das eifrige Erforschen des inneren Baues die Aufmerksamkeit vielfach von Weismann, Deszendenztheorie. I. 2. Aufl. | 50 ES : Färbungen der Tiere. jenen Beziehungen ab. Der Systematik galt die Farbe einer Tierart doch nur als ein Merkmal untergeordneten Wertes, weil sie häufig nicht ganz stetige und manchmal sogar recht schwankend ist: man hielt sich lieber an möglichst stabile Unterschiede, wie solche in der Form, Größe und Zahl der Teile sich darbieten. Erst CHARLES DARWwIN hat die Aufmerksamkeit wieder darauf hingelenkt, dab die Färbung der Tiere nichts weniger als eine gleicl:- gültige Sache ist, dab sie vielmehr in vielen Fällen dem Tier Nutzen bringt, indem sie dasselbe schwer sichtbar macht; ein grünes Insekt auf grünem Laub tritt wenig hervor und ebenso ein graubraunes auf der Rinde eines Baumes. Es liegt nun auf der Hand, «lab eine solche mit der gewöhnlichen Umgebung des Tieres übereinstimmende, sog. „sympathische" Fär- bung sich mittelst des Selektionsprinzips unschwer in ihrer Entstehung begreifen läßt und ebensowohl, daß sie sich durch das LAMARCKsche Umwandlungsprinzip nicht erkläreu läßt. Durch Häufung kleiner nütz- licher Farbenvariationen kann sehr wohl aus der früheren Färbung allmählich eine grüne oder auch eine braune entstanden sein, nicht aber kann sich ein graues oder braunes Insekt dadurch, daß es die (rewohnheit annahm, auf Blättern zu sitzen, in Grün umgefärbt haben, und noch weniger kann dabei der Wille des Tieres oder irgendwelche Art der Tätigkeit mitgewirkt haben. Selbst wenn das Tier eine Ahnung davon hätte, daß es ihm nun. nachdem es sich an das Sitzen auf Blät- tern gewöhnt hatte, sehr nützlich sein würde, grün gefärbt zu sein, wäre es doch außerstande gewesen, irgend etwas für seine Grünfär- bung zu tun. Man hat allerdings in neuester Zeit an die Möglichkeit einer Art von Farbenphotographie auf der Haut der Tiere gedacht, allein es gibt eine Menge von Arten, die in ihrer Färbung im Gegensatz zu ihrer Umgebung stehen, bei welchen also die Haut keine farbenphoto- graphische Platte ist, und es müßte also zuerst erklärt werden, wie es kommt, daß dieselbe bei den sympathisch gefärbten als solche funktio- niert. Ich verlange nicht den Nachweis der chemischen Zusammensetzung des dabei vorausgesetzten lichtempfindlichen Stoffes. Möchte dieser ‚Jod- silber oder ganz etwas anderes sein, die Frage bleibt die: Wie kommt es, daß er sich nur bei solchen Arten eingestellt hat, deren sympathische Färbung ihnen im Kampf ums Dasein nützlich ist? Und die Antwort darauf könnte für uns nur lauten: Er ist durch Naturzüchtung bei den- jenigen Arten entstanden, denen eine sympathische Färbung nützlich war. Also selbst wenn die Vermutung, dab es sich bei den sympathischen Färbungen um Selbstphotographie der Haut handle, richtig wäre, würden wir in dieser einen Ausfluß der Naturzüchtung sehen müssen, aber sie ist — allgemein wenigstens nicht richtig, wie schon aus dem obigen Einwurf hervorgeht und aus vielen anderen Erscheinungen der Farbenanpassung, in die ich Sie jetzt einführen möchte. Wir werden also zur Erklärung der sympathischen Färbungen mit Darwın und WALLACE einen Selektionsprozeß annehmen, der darin besteht, daß bei einem im Laufe der Zeit eintretenden Wechsel in der Färbung der Umgebung des Tieres durchschnittlich diejenigen Indivi- «duen leichter der Verfolgung ihrer Feinde entgingen, welche am wenig- sten von der Farbe der Umgebung abstachen und daß so im Laufe der Generationen sich eine immer größere Übereinstimmung mit (dieser Farbe feststellte. Variationen in der Färbung kommen überall vor; sobald sie einen solchen Grad erreichen, daß sie ihrem Träger einen Färbungen der Eier. 51 besseren Schutz gewähren als die Farbe der übrigen Artgenossen, muß der Züchtungsprozeß seinen Anfang nehmen, und er wird erst dann auf- hören, wenn die Übereinstimmung mit der Umgebung eine vollständige geworden ist oder doch eine so hohe, dab eine Steigerung derselben die Täuschung nicht mehr erhöhen könnte. Voraussetzung bei diesem Vorgang ist natürlich, daß die Art sehende Feinde habe. Dies trifft aber bei den meisten auf der Erde oder im Wasser lebenden Tieren von nicht mikroskopischer Kleinheit zu. Viele Tiere sind auch nieht nur im erwachsenen Zustand, sondern fast in jeder Periode ihres Lebens der Verfolgung ausgesetzt und so werden wir im allgemeinen erwarten müssen, daß viele von ihnen in jedem Alter diejenige Färbung ihres Körpers erlangt haben, welche sie am besten vor Entdeckung von seiten ihrer Feinde schützt. So verhält es sich nun wirklich: zahlreiche Tiere sind vom Ei bis zum reifen Zustand durch sog. „sympathische“ Färbung bis zu einem gewissen (Grade geschützt. Beginnen wir mit dem Ei, so kann da nur von solchen Eiern die Rede sein, welche abgelegt werden. Von diesen besitzen viele eine einfache weiße Färbung, so die Eier zahlreicher Vögel, Schlangen und Eidechsen, und dies scheint unserer Vorhersage zu widersprechen; allein solche Eier werden entweder von den Tieren in Erde, Kompost und Sand verscharrt, wie bei den Reptilien, oder sie werden in kuppelförmige oder in Baumlöchern verborgene Nester gelegt, wie bei vielen Vögeln: sie brauchen also keine schützende Färbung. Im übrigen aber besitzen zahlreiche Eier, besonders bei Insekten und Vögeln, eine Färbung, die sie nur schwer von ihrer gewöhnlichen Umgebung unterscheiden läßt. Unsere grüne große Heuschrecke, Lo- custa viridissima, legt ihre Eier in die Erde, und sie sind braun und gleichen völlig der Erde, die sie umgibt. Sie bilden allein schon eine Widerlegung der Hypothese von der Entstehung sympathischer Färbung durch Selbstphotographie, denn diese Eier liegen in völligem Dunkel im Innern der Erde. Insekteneier, welche an Baumrinde gelegt werden, sind häufig graubraun oder weiblich wie diese, die Eier des Tauben- schwänzchens, Macroglossa stellatarum, welche einzeln an die Blättchen des Labkrauts geklebt werden, besitzen dieselbe schön hellgrüne Farbe, wie diese Blätter, wie denn überhaupt Grün die Farbe überaus zahl- reicher Insekteneier ist. Aber auch die Eier vieler Vögel besitzen „sympathische” Fär- bungen: so hat der Brachvogel, Numenius arquatus, grüne Eier und er legt seine Eier ins Gras ab; das Moorhuhn aber, Lagopus seotieus, hat schwärzbraue Eier, genau von der Farbe der umgebenden Moor- erde, und man hat beobachtet, daß die Eier 12 Tage lang unbedeckt bleiben. da das Huhn täglich nur eines legt und mit dem Brüten erst anfängt, wenn das (ieleg von 12 Eiern vollständig ist. Darin liegt der Grund der Anpassungsfärbung. deren die Eier nicht bedürften, wenn sie immer vom brütenden Vogel bedeckt wären. Die Eier der Vögel sind auch häufig nicht bloß von einer Farbe, wie denn z. B. diejenigen des Alpenschneehuhns, Lagopus albus, ocker- gelb sind mit braunen und rotbraunen Tupfen, ähnlich dem aus dürren Pflanzenteilen kunstlos gebauten Nest. Zum Teil aber erreicht diese Mischfärbung eine erstaunliche Ähnliehkeit mit ihrer Umgebung. so beim Regenpfeifer, Charadrius pluvialis, dessen Eier, gerade wie beim Kibitz, Vanellus eristatus, zwischen Steinchen und Gräser gelegt werden, jr 52 Färbungen der Tiere. nicht in ein eigentliches Nest, sondern in eine flache Vertiefung des Sandes, und welehe nun eine bunte Fleckung und Strichelung von Weiß, Gelb, Grau und Braun besitzen, die sie vortrefflich verbirgt. Vielleicht noch besser sind die Eier des Strandläufers und der Möve geschützt. die mit ihrer gelb, braun und grauen Sprenkelung den Sand, in den sie gelegt werden, so gut nachahmen, daß man auf sie treten kann, ehe man sie gewahr wird. Aber wenden wir uns von den Eiern zu den erwachsenen Tieren. Darwın hat zuerst darauf aufmerksam gemacht, dab ganze große Wohn- sebiete eine und dieselbe Grundfärbung ihrer Tierwelt aufweisen, so die arktische Zone und die Wüsten. Die verschiedensten Bewohner solcher Gebiete zeigen ganz ähnliche, und zwar solche Färbungen, welche mit der Grundfarbe des (Gebietes selbst übereinstimmen. Nicht nur schutzbedürftige, verfolgte Tiere, sondern auch ihre Verfolger sind dort sympathisch gefärbt, ein Umstand, der nicht überraschen kann, wenn man bedenkt, daß die Existenz des Raubtiers von der Möglichkeit ab- hängt, sich in den Besitz seiner Beute zu setzen, daß es aber dabei von großem Nutzen sein muß, so wenig als möglich von seiner Um- gebung abzustechen, um sein Opfer möglichst unbemerkt zu beschleichen. Die in ihrer Färbung Bestangepaßten werden sich am reichlichsten nähren und fortpflanzen und also auch am meisten Aussicht haben, ihre nützliche Färbung auf Nachkommen zu vererben. Der Eisbär würde verhungern müssen, wäre er braun oder schwarz, wie seine Stammesgenossen; zwischen dem Schnee und Eis der Polargegenden würden ihn seine Opfer, die Seehunde, schon von weitem herankommen sehen. (rerade in der arktischen Zone ist die Farbenanpassung der Tiere an das Weiß der Umgebung sehr auffallend. Die meisten Säuge- tiere sind dort rein weiß oder nahezu weiß, wenigstens während des langen Winters, und es leuchtet ein, daß sie es sein müssen, wenn sie sich inmitten des Schnees und Eises halten sollen, die Raubtiere sowohl als ihre Opfer. Für die letzteren ist die sympathische Färbung von „protektivem“ Wert, für die ersteren von „agressivem“ (POULTON). So finden wir nicht nur den Polarhasen weib und den Schneeammer, sondern auch den Eisfuchs, den Eisbär und die große Schneeule, und wenn der braune Zobel darin eine Ausnahme macht, so läßt sich dies wohl verstehen, denn er lebt auf Bäumen und wird am besten versteckt sein, wenn er sich dicht an den dunklen Stamm und die Äste andrückt. Für ihn würde es kein Vorteil gewesen sein, weiß zu werden, und so ist er es nicht geworden. Auch die Tiere der Wüste sind fast alle sympathisch gefärbt, d. h. von einem eigentümlichen Sandgelb oder Gelbbraun, Lehmgelb oder von einem (Gemisch dieser Farben, und zwar wieder Räuber und Verfolgte. Der Löwe muß auf geringe Entfernung noch fast unsichtbar sein, wenn er, auf den Boden geduckt, seine Beute anschleicht, aber auch das Kamel, die verschiedensten Arten der Antilopen, die Giraffe, alle kleineren Säugetiere, ferner die Hornviper, Vipera Cerastes, die ägyp- tische Brillenschlange, Naja Haje, viele Eidechsen, Geckonen und der srobe Varanus, zahlreiche kleine Vögel und nicht wenige Insekten, be- sonders Heuschrecken, sind wüstenfarben. Die Vögel allerdings besitzen auf Brust und Bauch häufig auffallende Farben, z. B. Weiß, allein ihre Oberseite hat die Wüstenfarbe, und sie sind vor Nachstellung geborgen. sobald sie sich an den Boden «ducken. Bei einer Heuschrecke der Tiere der Schneeregion, der Wüste usw. 53 Gattung Truxalis hat man sogar beobachtet, dab sie in dem sandigen Teil der libyschen Wüste hell sandfarbig ist. in ihrem felsigen Teil dunkel braun, also eine doppelte Anpassung derselben Art. Eine andere, in ihrer Färbung an die allgemeine Umgebung an- gepaßte Gruppe ist die der Glastiere, wie man sie genannt hat, besser vielleicht der Kristalltiere. Eine große Menge schwimmender niederer Meerestiere und auch einige wenige des süßen Wassers sind farblos und völlig durchsichtig oder haben höchstens einen Stich ins Bläuliche oder Grünliche, und viele von ihnen werden dadurch, solange sie sich im Wasser befinden, geradezu unsichtbar. In unseren Seen lebt ein kleiner, etwa einen Zentimeter langer Krebs aus der Ordnung der Wasserflöhe, die Leptodora hyalina, ein gewaltiger Räuber unter den Kleinsten, der mit seinen großen Schwimmarmen stoßweise vorwärts schwimmt, seine mit stachligen Borsten bewaffneten 6 Paare von Raubfüben wie eine Fischreuse zum Ergreifen der Beute weit aufsperrend. Sie können Dutzende von diesem Tier in einem Glase Wasser haben, ohne doch, selbst wenn Sie es gegen das Licht halten, ein einziges von ihnen zu sehen, denn die Tiere sind kristallhell und klar und haben genau das Lichtbrechungsvermögen des Wassers. Nur bei scharfem Zusehen und wenn man sie schon kennt gewahrt man hie und da kleine gelbliche Streifehen im Wasser, die mit Beute gefüllten und in voller Verdauung befindlichen Magen der Tiere, für welche begreiftlicherweise Unsichtbar- keit nicht wohl eingerichtet werden konnte. Wenn Sie dann das Glas Wasser durch ein feines Tuch abgießen, bleibt ein Haufen der wie (rallerte aussehenden Leiber der Leptodora auf dem Sieb zurück. Ganz ebenso durchsichtig und wasserklar sind nun zahlreiche niedere Tiere des Meeres, die meisten niederen Quallen, Rippenquallen. Mollusken, die tönnchenförmigen Salpen, manche Würmer, viele Krebse der ver- schiedensten Ordnungen und besonders eine ungeheure Zahl von Larven der verschiedensten Tiergruppen. Ich erinnere mich. an der Küste von Mentone das Meere so voll von Salpen gesehen zu haben, daß man in jedem Glase, mit dem man auf gut Glück Meerwasser schöpfte, deren viele gefangen hatte, manchmal einen ganzen Tierbrei. Allein im Glas Wasser sah man sie nicht, und nur der Kundige erkannte sie an dem blauen Eingeweidesack, der hinten in dem unsichtbaren Körper liegt. Erst wenn das Wasser durch ein feines Netz abgegossen wurde, hatte man einen großen Klmpen kristallheller Gallertmasse auf dem Filter. Es leuchtet ein, daß dies als Schutzeinrichtuug dient, die Tiere werden von ihren Verfolgern nicht gesehen: allerdings ist es kein ab- soluter Schutz, denn es gibt gar manche Verfolger, z. B. manche Fische, welche nicht warten, bis sie ihre Beute sehen, sondern welehe beinahe immer mit dem Maul auf und zu schnappen, es dem Zufall überlassend, ob er ihnen Beute zuführt. Indessen keine Schutzeinrichtung gewährt absoluten Schutz, sie schützt gegen manche, vielleicht gegen viele, niemals gegen alle Feinde. Also wenden wir uns zu einer anderen Färbungsgruppe, den grünen Tieren. Sie kennen unsere große grasgrüne Heuschrecke und wissen, wie leicht man sie übersieht, wenn sie auf einem hohen Grasstengel, umgeben von anderen Gräsern und Kräutern, ruhig dasitzt; das lichte Grasgrün ihres ganzen Körpers schützt sie in hohem Grade vor Ent- deckung; mir selbst wenigstens ist es passiert, daß ich auf blühender Wiese ihr gerade gegenüberstand und längere Zeit dieht an ihr vorbei- sah, ohne sie zu gewahren. In ähnlicher Weise sind nun zahllose In- 54 Färbungen der Tiere. sekten der verschiedensten Gruppen, Wanzen. Fliegen, Blattwespen Schmetterlinge und ganz besonders die Raupen der letzteren, von dem Grün der Pflanze, auf welcher sie leben, und auch hier wieder nicht nur die von Feinden verfolgten, sondern auch die verfolgenden Arten. So ist die räuberische Gottesanbeterin, Mantis religiosa, grasgrün wie das Gras. in dem sie unbewegelich auf ihre Beute lauert, eine Libelle, Fliege oder einen Schmetterling. Auch grüne Spinnen gibt es, grüne Amphibien, wie den Wasser- frosch und besonders Laubfrosch, grüne Reptilien, wie Eidechsen und die Baumschlangen der tropischen Wälder. Immer sind es Tiere, die im Grün leben, welche grün sind. Es könnte wundernehmen, daß so wenige Vögel grün sind, die doch auch so vielfach im Laub sich aufhalten, doch ist das auch nur für die gemäßigten Klimate richtig. Wir haben in Deutschland aller- dings nur den Grünspecht, den Zeisig und einige andere kleine Vögel, und auch diese sind nicht lebhaft grün, sondern mehr graugrün. Die Erklärung dafür liegt in dem langen Winter mit den blätterlosen Laub- bäumen. In den immergrünen Wäldern der Tropen gibt es zahlreiche erüne Vögel verschiedenster Familien. Noch eine Gruppe mit gemeinsamer Farbenanpassung möchte Er- wähnung verdienen: die der nächtlichen Tiere. Sie alle sind mehr oder weniger grau, braun, gelblich oder ein Gemenge aus diesen Farben, und es liegt auf der Hand. daß sie dadurch im Dämmerlicht der Nacht um so mehr mit der Umgebung verschwimmen müssen. Weiße Mäuse und Ratten können sich in der freien Natur nicht halten, da sie weit in die Nacht hinausleuchten, und ebenso würde es mit weißen Fleder- mäusen, Nachtschwalben und Eulen der Fall sein: sie alle besitzen die Nachtfärbung. Es ist gewiß sehr merkwürdig, dab diese Farbenanpassung bei manchen Tieren eine doppelte ist. Der Polarfuchs ist nur im Winter weiß, im Sommer aber graubraun, das Hermelin ebenso, und auch die große weibe Schneeule der Polarländer bekommt im Sommer ein grau- braun meliertes (Gefieder. Nicht minder färben sich manche der Ver- folgung ausgesetzte Tiere nach der Jahreszeit um, so der Alpenhase (Lepus variabilis), der im Sommer braun und im Winter rein weib ist, der Lemming und das Schneehuhn (Lagopus alpinus). mit denen es sich ähnlich verhält. Man hat bezweifelt, dab solche Doppelfärbung sich durch Naturzüchtung erklären lasse, allein ich wüßte nicht, wo hier eine Schwierigkeit liegen sollte, jedenfalls gibt es kein anderes Prinzip, welches hier angerufen werden könnte. Irgend eine Färbung muß der Hase ge- habt haben, ehe er die saison-dimorphe Färbung erlangte; nehmen wir an, er sei braun gewesen, als das Klima kälter und der Winter länger wurde, so werden diejenigen Hasen am meisten Aussicht gehabt haben, zu überleben, welche im Winter heller wurden, und es bildete sich so eine weibe Rasse aus. POULTON hat gezeigt, daß das Weiß dadurch zustande kommt, daß die dunkeln Haare der Sommertracht im Anfang des Winters weiß weiter wachsen und dab die Fülle neuer Haare, welche «den Winterpelz vervollständigt, von vornherein weiß hervor- wächst. Würden nun die weißen Haare auch im Sommer stehen bleiben, so würde das für ihre Träger sehr nachteilig sein. Es mußte also eine doppelte Auslese eintreten, im Sommer wurden die weiß bleibenden, im Winter die braun bleibenden Individuen am häufigsten ausgemerzt, so dab nur diejenigen übrig blieben, die im Sommer braun, im Winter Doppelte Farbenanpassung. 55 aber weiß wurden. Begünstigt mußte diese Doppelzüchtung dadurch werden. daß ohnehin schon ein Haarwechsel bei Eintritt des Sommers stattfand: die Winterhaare fallen dann aus und der Pelz wird dünner. Im wesentlichen unterscheidet sich der Prozeß nicht von demjenigen, der eintreten muß. wenn bei einer Art zwei oder mehr verschiedene Teile oder Eigenschaften, die nicht direkt zusammenhängen, verändert werden sollen, wie etwa Färbung und Fruchtbarkeit. Der Kampf ums Dasein wird hier einerseits die Günstiggefärbten, andererseits die Frucht- barsten begünstigen, und sollten selbst im Anfang noch beide Eigen- schaften nur getrennt vorkommen, so werden sie doch durch die freie Kreuzung sehr bald vereinigt werden, und es müssen zuletzt nur solche Individuen noch vorkommen, («die zugleich möglichst günstig gefärbt und möglichst fruchtbar sind. So bleiben hier nur solche übrig, die im Sommer braun, im Winter aber weiß sind. Dem Einfluß von Selektionsprozessen werden wir auch die genaue Regulierung der Dauer des Winter- und des Sommerkleides in diesen Fällen zuzuschreiben haben, wie sie besonders beim veränderlichen Hasen beobachtet sind. Dieser bleibt auf den Hochalpen sechs bis sieben Mo- nate weiß, im südlichen Norwegen acht Monate lang. im nördlichen Nor- wegen neun Monate lang und im nördlichen Grönland verliert er sein weißes Kleid überhaupt nicht, wie denn dort der Schnee auch im Sommer nur stellenweise schmilzt und nur auf kurze Zeit. Allerdings spielt hier auch eine andere Anpassung hinein, nämlich diejenige des Haar- wuchses an die Kälte. Durch einen alten, vom Jahr 1535 stammenden Versuch des Kapitäns J. Roß. den POULTON neuerdings wieder ans Licht gezogen hat, wissen wir, daß ein gefangener und im Zimmer ge- haltener Lemming im Zimmer nicht eher weiß wurde, als bis man ihn der Kälte aussetzte.. Der Organismus solcher Tiere, die Winters weiß werden, ist also derart eingerichtet, daß der Eintritt der Kälte auf ihn als ein Reiz wirkt. welcher die Haut zur Hervorbringung weiber Haare bestimmt. Auch diese Einrichtung werden wir auf Naturzüchtung be- ziehen müssen. indem es begreiflicherweise sehr nützlich für die Art war, daß ihr Winterpelz dann hervorwuchs, wenn er zum Schutz gegen die Kälte nötig war. Das erklärt zugleich, warum die Disposition, auf den Reiz der Kälte mit Winterpelz zu antworten, bei solchen Kolonien arktischer Tiere, z. B. des Hasen, früher eintritt, welche in Lappland wohnen, als bei solchen, welche im südlichen Norwegen leben. Daß es aber nicht etwa die direkte Wirkung der Kälte ist, welche das Haar eines Pelztieres weiß färbt. sehen wir an unserem gemeinen Hasen (Lepus timidus), der trotz der Winterkälte nicht weiß wird, son- dern seinen braunen Pelz behält, und nicht minder an dem arktischen Hasen (Lepus variabilis), der im südlichen Schweden im Winter auch braun bleibt, obgleich es dort im Winter recht kalt sein kann. Aber die Schneebedeckung des Bodens ist nicht mehr so ununterbrochen, wie im höheren Norden und so würde der weibe Pelz kein besserer, sondern ein schlechterer Schutz sein, als der braune. Es handelt sich also bei der Weißfärbung der Polartiere sicher nicht um direkte Wirkungen des KRli- mas, wie man öfters gemeint hat, sondern um indirekte, d.h. um den Ertolg von Naturzüchtung. Ich habe das an diesem Beispiel klarlegen wollen, damit wir es nicht bei allen folgenden immer zu wiederholen brauchen. Noch entschiedener wird aber jeder andere Erklärungsversuch aus- geschlossen, wenn wir jene komplizierten Fälle von Farbenanpas- 56 Färbungen der Tiere. sung ins Auge fassen, die sich nicht durch die einfache Gesamtfarbe allein kundegibt, sondern durch Zutaten von Zeichnungen und Farben- zusammenstellungen, also von Malereien. So besitzen zahlreiche Schmetterlingsraupen bestimmte Linien und Flecken auf ihrer Grundfarbe, die in dieser oder jener Weise dazu beitragen, sie vor ihren Feinden zu schützen. Die grünen Raupen vieler unserer Grasfalter (Satyriden) zeigen zwei oder mehrere an den Seiten des Tieres hinlaufende hellere oder dnnklere Linien, welche sie sehr viel weniger auffallend erscheinen lassen zwischen den Gräsern, an welchen sie fressen. als wenn sie eine einzige gleichmäßig grüne Masse darstellten (Fig. 2). Nicht selten auch gleichen sie auffallend den Blüten- und Samen- ständen der Gräser in Farbe und Gestalt. Niemals finden sich so gezeichnete Raupen an den Blättern von Bäumen, an denen sie sofort auffallen müßten; wohl aber kommt die Längsstreifung vielfach bei Raupen vor, die an anderen Pflanzen leben, als an Gräsern, aber an solchen, die im Grase wachsen, wo dann die schützende Wirkung dieselbe ist. So bei Raupen von Pieriden oder „Weißlingen“. Alle Raupen unserer Schwärmer da- gegen, welche an Büschen und Bäumen leben, haben an den Seiten der Segmente helle Schräg- streifen, sieben an der Zahl, welche von der Längsrichtung ihres Körpers in demselben Winkel abstehen, wie die Seitenrippen eines Blattes ihrer Nährpflanze von der Hauptrippe. Man kann zwar nicht sagen, daß die Raupe dadurch geradezu das Aussehen eines Blattes gewinne; dieselbe erscheint vielmehr, wenn Fig. 2. Längsstreifige Raupe Man sie frei vor sich hat, gar nicht blattähn- einesGrasfalters (nach Röser). lich, allein inmitten der Blätter eines Busches oder Baumes wird sie durch diese Zeichnung doch in hohem Grade vor Entdeckung gesichert. So ist die Weidenraupe (Sme- rinthus ocellata), wenn sie in dem Blättergewirr eines Fig. 3. Erwachsene Raupe des „Abend-Pfauenauges“, Weidenbusches sitzt, oft Smerinthus ocellata. sd Subdorsalstreif. recht schwer zu finden, weil ihr großer grüner Körper nicht als ein einziger grüner Fleck erscheint, sondern, ähnlich der Hälfte eines Weidenblattes, in Abschnitte geteilt ist durch die seit- lichen Schrägstreifen, so daß der suchende Blick darüber weggleitet und die Aufmerksamkeit nicht auf die Raupe gelenkt wird (Fig. 3). Ich habe als Knabe oft die Erfahrung gemacht. daß ich eine dicht vor mir sitzende Raupe längere Zeit übersah, bis ich zufällig gerade diesen Punkt des Gesie htsfeldes genau fixierte. ei (den meisten dieser Raupen mit Schrägstreifen wird aber die Ähnlichkeit mit einer Blatthälfte noch dadurch “erhöht, dab über dem Schutz- und Trutzzeichnungen. 57 hellen Schrägstriech noch ein breiterer farbiger Saum hinzieht, den Schlag- schatten der Blattrippe nachahmend. So hat die Raupe von Sphinx Ligustri lila Farbensäume, die von Sphinx Atropos blaue. Bei beiden sollte man nicht glauben, daß diese auffallenden Farben das Tier vor Entdeekung sichern könnten, allein inmitten der ineinander spielenden Schatten des Blätterdickichts ihrer Nährpflanze erhöhen sie die Ähnlich- keit mit einer Blattfläche bedeutend. Von der Kartoffelraupe, Sphinx Atropos, klingt das unglaublich, da dieselbe meist stark goldgelb ist mit himmelblauen, nach unten dunkler werdenden Farbensäumen der schmalen weißen Schrägstriche, aber man darf nicht vergessen, dab die Kartoffel nieht die eigentliche Nährpflanze dieser Art ist, daß sie vielmehr in Afrika. ihrem Heimatland und noch in Südspanien auf anderen wild- wachsenden Solaneenbüschen lebt, von welchen uns Non berichtet, daß sie gerade diese Farben: goldgelb und blau, an Blüten, Früchten und teilweise auch den Blättern und Stengeln aufweisen. Dort sitzen die Raupen den ganzen Tag über auf der Pflanze, während sie bei uns die Gewohnheit angenommen haben, nur in der Dämmerung und Nacht zu fressen. bei Tage aber sich in der Erde zu verbergen, eine Ge- wohnheit, die auch bei anderen Raupen vorkommt und die wir eben- falls einem Naturzüchtungsprozeß zuschreiben werden. Einige Raupen zeigen noch andere, kompliziertere Zeichnungen, die sie nicht dadurch schützen, daß sie sie schwer sichtbar machen, Fig. 4. Erwachsene Raupe des Weinschwärmers, Chaerocampa Elpenor, in Trutzstellung. sondern dadurch, daß sie den Feind, der sie entdeckt hat, in Schrecken setzen und ihn verscheuchen. Solche Schreck- oder Trutzzeich- nungen finden sich z. B. bei den Raupen der Schwärmergattung Chaerocampa in Gestalt großer augenähnlicher Flecken, die zu zweien nebeneinander auf dem vierten und fünften Segment (des Tieres stehen. Kinder und Laien nehmen sie für wirkliche Augen, und «da die Raupe, wenn ein Feind sie bedroht, den Kopf und die vorderen Ringe ein- zieht, so daß gerade das vierte dick aufgebläht wird, so scheinen die Augenflecke auf einem dieken Kopf zu stehen (Fig. 4) und es kann nieht wundernehmen, wenn kleinere Vögel, Eidechsen und andere Feinde, dadurch erschrecekt. auf weitere Angriffe verziehten. Selbst Hühner zögern, eine solche Raupe in ihrer Trutzstellung anzugreifen, und ich habe einmal in einem Hühnerstall lange zugesehen, wie ein Hulın nach dem anderen auf eine solche Raupe, die ich hineingesetzt hatte, losstürzte, um sie aufzupicken, in der Nähe angelangt aber den schon zum Schnabelhieb bereiten Kopf wieder scheu zurückzog. Auch ein stolzer Hahn wagte es lange nicht, auf das schreckliche Tier loszuhacken und holte mehrmals dazu aus, ehe er sich zuletzt doch dazu entschlob und einen kräftigen Schnabelhieb auf das Tier führte. Nachdem ein- mal der erste Hieb gefallen war, war die Raupe natürlich verloren. Also auch diese Verkleidung ist nur ein relativer Schutz und nur wirksam gegen kleinere Feinde. Daß diese aber wirksam verscheucht 58 2 Färbungen der Tiere. werden. habe ich einmal beobachtet, als ich eine Raupe des gemeinen Weinschwärmers in den Futtertrog eines Hühnerstalls gesetzt hatte und ein Sperling herbeiflog, um von dem Hühnerfutter zu fressen. Er lieb sich zuerst mit dem Rücken gegen die Raupe nieder und fraß lustig drauf los. Als er sich aber dann zufällig einmal umdrehte und die Raupe erblickte, besann er sich keinen Augenblick, sondern flog schleunigst von dannen. Auch bei Schmetterlingen kommen vielfach Augenflecke auf den Flügeln vor, und zum Teil wenigstens haben sie auch bei ihnen die Bedeutung einer Schreckzeichnung. So die blau und schwarzen großen Augenflecke auf den Hinterflügeln unseres Abend-Pfauenauges (Smerinthus ocellata). Wenn der Schmetterling ruhig dasitzt, sind sie nicht sichtbar, weil bedeckt vom Vorderflügel. sobald aber das Tier be- unruhigt wird, spreizt es alle vier Flügel und nun treten die beiden Augen grell hervor auf den roten Hinterflügeln und schrecken den Angreifer, indem sie ihm den Kopf eines viel größeren Tieres vor- täuschen (Fig. 5). Es gibt auch augenartige Flecken, die nicht diese Bedeutung und Wirkung haben, so z. B. die „Augenflecken* auf den Schwanzfedern des Pfaues und Argusfasans, oder diekleinen augenähn- lichen Flecken auf der Unter- seite mancher Tagfalter. In ersterem Fall handelt es sich um einen Schmuck, in letzterem viel- > leicht um die Fig. 5. Falter des Abend-Pfauenauges in Trutzstellung. Nachahmung b eines Tautrop- fens, der die Ähnlichkeit mit einem welken Blatt noch erhöht, aber unzweifelhaft gibt es viele Fälle, in denen die Augenflecke als Schreck- mittel wirken, und zwar besonders häufig bei Schmetterlingen. Solche Schreckzeichnungen stehen auch keineswegs in Widerspruch mit sympathischer Färbung des übrigen Körpers, und wir finden sie auch tatsächlich meist mit einer solchen kombiniert, sei es, daß die Augenflecke zwar sehr auffallend sind, wie bei dem Abend-Pfauenauge, aber in der Ruhestellung des Tieres von sympathisch gefärbten Teilen hier den Vordertlügeln — gedeckt werden, sei es, daß die mächtig groben Schreckaugen zwar offen daliegen, aber aus denselben sym- pathischen Farben zusammengesetzt sind, wie die ganze übrige Flügel- fläche. In (diesem Falle stören sie nicht «die schützende Wirkung der (Gesamtfärbung, weil sie erst in nächster Nähe sichtbar werden. So verhält es sich bei den großen Caligoarten von Südamerika, die nur kurz frühmorgens und abends fliegen, bei Tage aber an dunkeln, schattigen Stellen sich verborgen halten, wo sie durch die aus Braun, Grau, (Gelb und Schwarz gemischte Färbung ihrer Unterseite von fern nicht als Schmetterling erkennbar sind. Aber auch die beste sym- Trutzzeichnungen. 59 pathische Färbung schützt nicht absolut, und wenn nun das Tier von einem in der Nähe suchenden Feind entdeckt ist. dann tritt die Schreck- zeichnung in Tätigkeit, der eine große tiefschwarze Augentleck des Hinterflügels, und scheucht den Angrelfer zurück (Fig. 6). Die sympathische Färbung wird dabei zuerst entstanden und der Augenfleck erst später durch einen neuen Züchtungsprozeb hervor- ‘gerufen worden sein, der aus der Notwendigkeit hervorging. die Art noch besser zu schützen als durch die bloße Schwersichtbarkeit. In manchen Fällen läßt sich nachweisen. daß die Fähigkeit, den Feind zurück- zuschrecken, nicht sofort mit der Her- stellung von Augenflecken begann, sondern mit der Ausbildung neuer Instinkte. Wenn die Raupe des Wein- schwärmers angegriffen wird, so nimmt sie die oben beschriebene Trutzstel- lung an; dieselbe auffallende Haltung kommt aber bei Raupen der ver- wandten amerikanischen Gattung Da- rapsa vor, wie ich einer alten Ab- bildung von ABBOT und SMITH ent- nehme. obgleich diese Art keine Augenflecke besitzt (Fig. 7). Zuerst also suchte — bildlich gesprochen — die Raupe allein durch die Trutz- stellung zu schrecken, und erst im weiteren Verlauf der phyletischen Entwicklung kamen dann beim Wein- Fig. 6. Caligo, Unterseite der Flügel. schwärmer und anderen Arten als Erhöhung der Schreekwirkung die Augenflecken hinzu. Daß aber auch Augentlecke nicht etwa plötzlich auftraten, beweisen uns mehrere amerika- nische Arten von Smerinthus. bei welchen diese Augenflecke in ge- ringerer Vollkommenheit als bei der europäischen Art ausgeführt sind. Auch bei diesen Schwärmern ist die Trutzstellung früher herangezüchtet worden, als die Augenflecken, wie unser Pappelschwärmer, Smerinthus populi, beweist, der auf Beunruhigung hin dieselbe öfters wiederholte selt- same Spreizung aller vier Flügel aus- führt. wie sie beim Abend-Pfauenauge die Augenflecke zur (reltung bringt: er schlägt gewissermaßen mit den Flügeln N sich, um den Feind ne are ig. 7. Raupe einer nordamerikanischen ein Effekt, der gewiß noch sicherer Tarapsa in Trutzstellung (nach ABror u. erreicht wird, wenn zugleich ein Smith). paar Augen plötzlich sichtbar werden. Es gibt nun keineswegs bloß sympathisch gefärbte Raupen, viel- mehr auch solche mit so auffallender, greller Färbung, «dab sie das Tier nieht verbergen, sondern im Gegenteil auf weithin sichtbar machen; aber auch dieser scheinbare Widerspruch gegen den Satz von Farbenanpassung schutzbedürftiger Tiere hat sich gelöst, und zwar durch die scharfsinnige Auslegung von ALFRED WALLACE. Wir wissen, dab es unter den Insekten und so auch unter den Raupen manche gibt, die 60 Färbungen der Tiere. einen widrigen Geschmack besitzen. ‚Jedenfalls werden gewisse Raupen und Schmetterlinge von vielen Vögeln und Eidechsen verschmäht. Solche Arten sind also relativ sicher davor, gefressen zu werden. Wenn sie nun Schutzfärbung besäßen oder überhaupt nur den übrigen wohl- schmeckenden Raupen ähnlich wären, so würden sie wenig Nutzen von ihrer Ungenießbarkeit haben, denn jeder Vogel würde sie zuerst für ge- niebbar halten, und erst beim Versuch, sie zu fressen, würde er ihre Widrigkeit bemerken. Eine Raupe aber, die einmal einen Schnabelhieb erhalten hat, ist dem Tode überliefert. Es mußte also für ungenießbare taupen, überhaupt für ungenießbare Tiere von größtem Vorteil sein, wenn sie sich schon durch ihre Farbe möglichst stark von den eßbaren Arten unterschieden. Deshalb also die erellen Farben, deren Zurück- führung auf Selektionsprozesse nun keiner Schwierigkeit mehr begegnet. denn jedes Individuum einer widrig schmeckenden Art, welches auf- fallender gefärbt war, als die übrigen, mußte im Vorteil sein und mehr Aussicht auf Erhaltung haben, als die anderen, weil es weniger leicht mit genießbaren Arten verwechselt wurde. Noch eine andere Erscheinung möchte ich hier besprechen, die sehr geeignet ist, tiefer in die Umwandlungsprozesse der Lebensformen hineinblicken zu lassen, nämlich den merkwürdigen Dimorphismus der Färbung, wie er sich bei manchen der eben besprochenen Raupen- arten vorfindet. Die Raupe des Windenschwärmers, Sphinx Convolvuli, ist im erwachsenen Zustand grün wie die Blätter der Ackerwinde, von der sie lebt, oder braun wie der Ackerboden, auf dem diese wuchert, sie zeigt also eine zweifache Anpassung, von «denen jede imstande ist, sie bis zu einem gewissen Grade zu schützen, und man könnte glauben in gleichem Grade. Dem ist aber nicht so, die braune Färbung bildet einen wirksameren Schutz, als die grüne, wie wir aus zwei Tatsachen schließen dürfen: erstens sind die vier Jugendstadien der Raupe grün, und sie wird erst im letzten Stadium braun, falls sie nicht auch dann noch grün bleibt. Dies deutet darauf hin, daß das Braun eine relativ moderne Anpassung ist, und diese hätte nicht entstehen können, wenn sie nicht besser wäre, als das ursprüngliche Grün. Zweitens aber sind heute schon die grünen Raupen vom Windenschwärmer weit seltener als die braunen; letztere überleben also häufiger im Kampf ums Da- sein. Wir haben hier den interessanten Fall eines noch andauernden, leicht erkennbaren Selektionsprozesses zwischen der alten grünen und der neuen braunen Varietät. Sie werden kaum fragen, warum wohl die braune Färbung hier besser schützt, denn es liegt auf der Hand, daß ein so großer grüner Körper, wie der der erwachsenen Windigraupe zwischen den kleinen Windenblättern trotz seiner grünen Farbe nur schlecht versteckt ist, während die braune Raupe auf dem braunen Ackerboden mit seinen Steinchen, Vertiefungen und zahlreichen, unregelmäßigen Schlagschatten vortrefflich geschützt ist, besonders, wenn sie sich bei Tage am Boden versteckt hält, was wirklich der Fall ist. Eine wesentliche Verstärkung erhält aber unsere Ansicht dadurch, daß dasselbe Phänomen der Doppelfärbung bei mehreren verwandten Schwärmerarten vorkommt, aber in einer Weise, die erkennen läßt, daß wir es mit dem gleichen. nur weiter vorgeschrittenen Umwandlungs- prozeß zu tun haben. Ganz ähnlich, wie der Windenschwärmer, verhält sich die Raupe des mittleren Weinschwärmers, Chaerocampa Elpenor Doppelfärbungen. 61 (Fig. 7); auch sie ist braun oder grün, und die grüne Form ist die seltenere. Bei den beiden anderen europäischen Chaerocampa-Arten aber ist die erwachsene Raupe immer braun, ja sie wird schon im vorletzten, dem vierten Stadium, braun, statt, wie Chaerocampa Elpenor, erst im letzten, fünften. Eine andere einheimische Schwärmerart, Deilephila Ves- “-pertilio, bleibt nur während der zwei ersten Stadien grün und nimmt schon im dritten die braungraue Färbung an. welche sie von da an beibehält. Offenbar beherrscht hier die dunkle Farbe schon seit ge- raumer Zeit die erwachsene Raupe, denn bei dieser, als dem größten und auffallendsten Stadium, muß die Umfärbung am notwendigsten ge- wesen, folglich auch der Selektionsprozeß zuerst eingeleitet worden sein, und erst nachdem hier das besser schützende Braun allgemein geworden war, übertrug sich dasselbe auf das zunächt jüngere Stadium. falls es auch für dieses von Vorteil war, und später auf noch jüngere Ent- wicklungsstufen. Man könnte geneigt sein. dies Zurückrücken eines neuen Charakters von einem späteren auf frühere Entwicklungsstadien auf rein innere Kräfte zu beziehen, welche solche Verschiebungen mit Notwendigkeit und un- abhängig - davon, ob ihre Aus- breitung nützlich oder schäd- lich ist, be- wirken. Wir werden spä- ter darauf zurückkom- men und un- tersuchen, wie weit dies etwaderFall Fig. 8. Raupe des Sanddornschwärmers, Deilephila Hippophaes. ist, einstwel- A Stadium III, 3 Stadium V, » Ringfleck. len aber können wir soviel wenigstens feststellen, daß dieses Zurückrücken nicht überall und ohne Grenzen eintritt, daß vielmehr Naturzüchtung ihm Halt gebietet, sobald es nachteilig wirken würde. Es könnte ja eine Insekten- metamorphose auf die Dauer nicht geben, wenn jeder Charakter des End- stadiums auf die nächstjüngeren übertragen werden müßte, da dann z.B. die Charaktere des Schmetterlings sich im Laufe der phyletischen Ent- wicklung auf die Puppe und Raupe übertragen haben müßten. Aber auch an den Raupenstadien selbst läßt sich erkennen, dab «dieses Zurück- rücken ganz bestimmte Grenzen einhält. So reicht bei den dimorphen Raupen der Schwärmer das Braun der erwachsenen Raupe niemals bis zu den jüngsten Stadien herab, sondern die kleinen Räupehen sind alle grün, wie die Blätter und. Stengel, auf «denen sie sitzen. Umgekehrt gibt es aber auch Arten, bei welchen auch im erwachsenen Zustand das Grün als die — wie es scheint — vorteilhafteste Färbung bestehen bleibt. So sind bei dem Sanddornschwärmer, Deilephila Hippophaes (Fig. S). welcher in den warmen Tälern der Alpen. besonders im Wallis, lebt, «die Raupen graugrün in allen Stadien, genau von dem Grün der Unter- seite der Sanddornblätter; sie besitzen keine Schrägstreifen, die sie auch 62 Färbungen der Tiere. (den Blättern nicht ähnlicher machen würden, da die erwachsene Raupe viel größer ist als ein solches Blatt, an dem überdies die Seitenrippen sehr wenig hervortreten. Trotzdem erfreut sich die Raupe eines sehr guten Schutzes, da sie nicht bei hellen Tag, sondern nur in der Dämme- rung und bei Nacht frißt, bei Tag aber sich unter dürrem Laub und Erde am Fuß des Busches verbirgt. Ihre Ähnlichkeit mit dem Laub- werk ist sehr eroß und wird noch dadurch erhöht. daß sie auf dem letzten Segment einen ziemlich großen, orangefarbenen Fleck trägt (7). genau von der Farbe der reifen Sanddornbeeren, die gerade dann reifen, wenn die Raupe erwachsen ist. Aber die Schmetterlinge selbst sind eben so vielfach verfolgte und schutzbedürftige Tiere wie ihre Raupen, und auch bei ihnen begegnen wir zahlreichen Schutzfärbungen, die noch besonders dadurch interessant sind, dab sie sich regelmäßig nur auf derjenigen Fläche des Tieres vor- finden. welche in der Ruhestellung desselben sichtbar bleibt, also ganz so, wie es zu erwarten war, wenn diese Färbungen durch Naturzüchtung hervorgerufen sind. Die Ruhestellung der Schmetterlinge ist aber be- kanntlich bei den Tagfaltern eine ganz andere als bei den Nachtfaltern. ist auch bei diesen nicht in allen Familien dieselbe, und demgemäb finden wir sympathische Färbungen bei den verschiedenen Familien der Schmetterlinge auf ganz verschiedenen Flächen angebracht. Warum nun die Schmetterlinge nur in der Schlaf- oder Ruhe- stellung durch Färbungen geschützt zu werden brauchten, hat seinen Grund darin, daß es für den fliegenden Schmetterling meistens keine Färbung geben kann, die ihn seinen Feinden schwer sichtbar macht, weil der Hintergrund, von dem sein Körper sich abhebt, während des Flugs fortwährend wechselt, und überdies die Bewegung selbst ihn ver- rät, auch wenn er von düsterer Farbe ist. So konnten denn im allgemeinen nur diejenigen Flächen der Schmetterlingsflügel. welehe in der Ruhe nicht sichtbar sind, ohne (Ge- fahr auffallend und bunt gefärbt sein, die sichtbaren Flächen aber mußten durch Naturzüchtung sympathische Färbungen erlangen. Da die Tagfalter beim Sitzen die Flügel nach oben zusammen- schlagen, so ist nur ihre Unterseite sympathisch gefärbt und auch nur soweit, als sie sichtbar ist, d. h. auf dem ganzen Hinterflügel und dem Vorderflügel, soweit derselbe nicht vom Hinterflügel bedeckt ist. Viele Tagfalter ziehen im Sitzen die Vorderflügel stark zurück, so daß nur die Spitze derselben noch sichtbar bleibt, und dann ist auch nur diese Spitze mit Schutzfärbung versehen, andere tun dies nicht und dann ist nahezu die ganze Fläche des Flügels sympathisch gefärbt. Eine einfache Schutzfärbung weist unser „Zitronenfalter“ (Rhodo- cera rhamni) auf, dessen Unterseite weißlichgelb ist und den Schmetter- ling sehr gut schützt, wenn er sich auf das dürre Laub am Boden der lichten Gehölze niederläßt. in denen er gern umherstreift. Auch unsere buntesten Tagfalter, die Vanessa-Arten, haben alle auf der Unterseite eine düstere Färbung, bald mehr ins Schwarzbraune gehend, wie bei beim Tag-Pfauenauge, Vanessa Jo, bald mehr ins Grau- braune oder Braungelbe, auch Rötliehbraune spielend. Niemals sind es einfache Färbungen, sondern immer bestehen sie aus Mischungen ver- schiedener Farbentöne, ja oft ist es ein verworrenes Durcheinander vieler Farben, wie Grau, Braun, Schwarz. Weiß, Grün, Blau. Gelb und Rot, aus Punkten, Strichen, Flecken, Ringen wundersam zu einem sehr konstanten Muster verbunden, welches im ganzen durchaus einheitlich Unterseite der Tagfalter. 6 St) wirkt und den Erdboden, die Fahrstraße, auf die sich die Art gern niederläßt, mit größerer Treue nachahmt, als eine einfarbig graue oder bräunliche Färbung es tun würde. Ein Distelfalter (Vanessa cardui), der am Boden sitzt, ist kaum zu erkennen, und gerade (diese Art ruht mit Vorliebe auf dem Boden. Andere Vanessa-Arten, die, wie das Pfauen- auge und der Trauermantel (Vanessa Antiopa), unten dunkelschwarzgrau oder wirklich schwarz sind, drücken sich in der Ruhe in die dunkelsten Ecken und Winkel hinein und sind dann auch aufs beste vor Ent- deckung gesichert. Manche Tagfalter wiederum. besonders die Waldschmetterlinge aus der Familie der Satyriden, ruhen mit Vorliebe an den Stämmen der Bäume aus, so Satyrus Proserpina auf den großen Buchenstämmen der Waldliehtungan. Diese großen. auf der Oberseite auffallend, nämlich tief samtschwarz und weiß gefärbten Falter sind auf der Unterseite genau so gezeichnet und gefärbt wie die mit weißen, grauen, schwarz- Fig. 9. Hebomoja Glaueippe aus Indien; Unterseite, 1 in fliegender, B in sitzender Stellung. braunen und gelben Flecken überzogene weißliche Rinde großer Buchen, und der Schmetterling, dessen Flug man eben noch genau verfolgt hat, ist scheinbar verschwunden, wenn er sich plötzlich an einen solchen Stamm setzt. Wie ich schon sagte, reicht aber die schützende Färbung nur so weit, als sie in der Ruhestellung des Tieres gesehen wird. Da nun die Vorderflügel dabei stark zwischen die Hinterflügel zurückge- zogen werden, so beschränkt sich die protektive Färbung auf die ganze Fläche der Hinterflügel und die Spitze der Vorderflügel, soweit dieselbe in dieser Stellung sichtbar ist: mit ziemlich scharfer Abgrenzung hört dann die protektive Färbung auf, und oft ist bei nahestehenden Arten die protektiv gefärbte Zone der Vordertlügel recht verschieden breit, je nachdem die Art ihre Vorderflügel tiefer oder weniger tief zwischen die Hinterflügel zurückschiebt. So ist bei unserem gemeinen „kleinen Fuchs“ (Vanessa urticae) diese protektive Fläche erheblich kleiner als beim „großen Fuchs“ (Vanessa polychloros), so ähnlich auch sonst die beiden Arten sind. 64 Färbungen der Tiere. Diese Übereinstimmung der Flügelspitzen mit den Hinterflügeln fehlt nirgends, wo überhaupt die Unterseite protektiv gefärbt ist, aber in manchen Fällen verbreitet sich die Schutzfärbung fast über den sanzen Vorderflügel, und dann werden dieselben in der Ruhe nur ganz wenig zurückgezogen, wie sich später noch bei den sogenannten „Blattschmetterlingen“ zeigen wird. Eine Gattung von Tagfaltern gibt es, welche dem Gesetz, daß die im Sitzen sichtbare Fläche die protektive Färbung trägt. zu wider- sprechen scheint, die südamerikanischen Waldschmetterlinge der Gattung Ageronia. Sie haben auf ihrer Oberseite ein rindenähnliches, Grau in (Grau gemaltes, recht verwickeltes Farbenmuster, das übrigens nur die Regel bestätigt, denn wir wissen, dab sie — eine auffallende Ausnahme von allen übrigen Tagfaltern — mit ausgebreiteten Flügeln sich auf Baumstämmen niederlassen, genau in derselben Haltung, wie viele Nachtfalter aus der Familie der Spanner ((Greometriden), deren Oberseite ebenfalls oft überaus täuschend der Baumrinde gleicht, auf welcher sie ruhen. Es ist überhaupt bei allen Nachtfaltern die Oberseite der Flügel, welche sympathisch gefärbt ist, falls sich überhaupt Schutzfärbung bei ihnen ausgebildet hat. Bei allen Schwärmern, vielen Eulen und Spinnern sind die Vorderflügel grau, von ziekzackförmigen dunkleren Linien durchzogen und aus mannigfachen Nuancen von Schwarz, Grau, Gelblich. Rötlich und selbst Violett gemischt. Da die Flügel dachartig den Leib und die Hinterflügel be- decken, so machen Fig. 10. X\ylina vetusta nach RösEL: A in fliegender, sie den ruhenden Bin ruhender Stellung. Schmetterling schwer sichtbar, wenn er sich auf Bretterzäunen, Stämmen von Bäumen oder auf altem Gebälk niedergelassen hat. Falls bei diesen Schmetterlingen überhaupt lebhafte Farben vorkommen, starkes Rot, Gelb oder Blau, so zeigen es immer nur die in der Ruhe bedeckten Hinterflügel, wie am besten die sogenannten ÖOrdensbänder, Arten der Gattung Catocala, anschaulich machen. Unterbrechen wir aber jetzt auf einige Augenblicke unsere Muste- rung des Tatbestandes und fragen wir uns, ob denn die bisher betrach- teten Schutzfärbungen von Schmetterlingen wirklich alle nur auf Natur- züchtung bezogen werden können, ob es nicht denkbar wäre, daß andere Ursachen zugrunde liegen. Darauf ist zunächst zu sagen, dab das von LAMARCK aufgestellte Prinzip des vererbten Gebrauchs und Nichtgebrauchs hier nicht in Be- tracht kommen kann, «da die Färbungen der Körperflächen eine aktive Tätigkeit nicht ausüben, sie wirken einfach durch ihre Anwesenheit, und es ist für sie völlig gleichgültig, ob und wie oft sie Gelegenheit haben, ihren Träger vor Feinden zu schützen, oder ob zufällig einmal keine Feinde sich zeigen. Man hat nun öfters daran gedacht, ob nicht diese Färbungen mit der verschiedenen Stärke der Belichtung zusammenhingen, der die einzelnen Teile und Flächen eines Tieres ausgesetzt sind. Aber auch damit ist nichts auszurichten, wie eigentlich schon allein aus dem Ursachen der Schutzfärbungen. 65 öfters vorkommenden Dimorphismus der Raupen hervorgeht, deren grüne und braune Individuen genau der gleichen Belichtung ausgesetzt sind. vor allem aber aus der so überaus genau abgegrenzten und doch so ver- schiedenen sympathischen Färbung der Unterseite bei den Tagfaltern. Doch gibt es einzelne Fälle, in denen es ganz so aussieht, als ob wirk- lich die direkte Wirkung des Lichtes gewisse auffallende Unterschiede in der Färbung (der Teile eines Insektes hervorgerufen hätte, und ich möchte den vielleicht schönsten derselben, auf welchen BRUNNER VON WATTENWYL aufmerksam gemacht hat. Ihnen hier vorführen. Er be- trifft einen Gradflügler Neuhollands, die Gespenstheuschrecke (Tro- pidoderus Childreni Gray), welche im allgemeinen grüne Blattfärbung besitzt, aber mit sehr eigentümlichen Abweichungen davon auf einzelnen Körperflächen. Bei diesem Tier sind nämlich die Deckflügel (Fig. 11 7) Fig. 1. Tropidoderus Childreni nach BRUNNER Vox WATTENWYL in fliegender Stellung. Y Vorderflügel, /7. zöut. Hinterflügel häutiger Teil, //. Aorn. horniger Teil. so kurz, daß sie den langen Hinterleib kaum zur Hälfte bedecken. Dafür tritt dann der Vorderrand der Hinterflügel (7/7. Aorn.) ein, «der hart und hornartig ist wie die Deekflügel und in der Ruhe den ganzen Hinterleib schützt. Alle diese deckenden Flüigelteile sind grasgrün, mit Ausnahme der Stellen, an welchen sie sich gegenseitig zudeeken:; da nun, wo dies der Fall ist, sehen sie wie abgeblaßt aus, gelb statt grün. BRUNNER meint dazu: „Die Erscheinung macht den Eindruck, als ob «die grellere Farbe eine vom Tageslicht erzeugte Eigenschaft sei. Wenn man mehrere Blätter weißen Papiers von ungleichen Dimensionen übereinandergelegt „der Sonne aussetzt, so wird nach kurzer Zeit die Silhouette der klei- neren Blätter auf den größeren entweder durch hellere oder durch dunk- lere Färbung hervortreten.“ So gehöre wahrscheinlich auch dieses „Ab- blassen“ der bedecekten Stellen bei jener Phasmide „in diese Kategorie Weismann, Deszendenzthoeorie. I. 2. Aufl. .) (616) Färbungen der Tiere. dder Liehtbilder“. Das scheint schlagend, allein die analogen Erschei- nungen bei anderen Insekten verhindern uns, den hübschen Vergleich mit dem Liehtbi'd für eine ausreichende Erklärung anzusehen. Handelte es sich um einen Sehmetterling, so würde eine solche Annahme schon deshalb verworfen werden müssen, weil hier die Flügelfärbung in der Puppe sich bildet und dann fertig und unveränderbar hervor- tritt, sobald der Falter ausschlüpft. In der Puppe aber liegen die Flügel gerade umgekehrt, wie in der Ruhestellung des Schmetterlings, d.h. die protektiv gefärbte untere Fläche der Flügel ist nicht dem Lichte zugewandt, sondern von ihm ab. Außerdem bedecken hier die Vorderflügel völlig die Hinterflügel, einerlei wie die Flügel- haltung bei dem Schmetterling später sein wird. Überdies hin- dert die dieke und nicht selten dunkel gefärbte Puppenscheide die Ein- wirkung des Lichtes, und nieht wenige Arten verpuppen sich an so dunkeln Orten, viele Bläulinge z. B. unter Steinen. daß das Licht sie nur wenig oder gar nicht erreicht. Wie sollte ferner das Licht, wenn es hier einen Einfluß ausübte, so verschiedene Färbungen hervorbringen, wie sie bei den Tagfaltern als protektive vorkommen, einerseits dunkle bis schwarze, dann gelbe, rötliche, ja sogar rein weiße und rein grüne, und wie sollten dieselben Lichtstrahblen komplizierte Farbenmuster auf ein und derselben Fläche hervorrufen, z. B. Weiß mit Grün sesprenkelt, wie beim Aurorafalter (Anthocharis Cardaminis)? Schließ- lieh braucht man nur zu wissen, wie zahlreiche Nachtfalter sich unter der Erde verpuppen, obgleich sie sowohl brillante als protektive Farben in zweckmäßigster Verteilung hervorbringen, um den Gedanken ein für allemal zurückzuweisen, als ob die Wirkung des Lichtes irgend einen bestimmenden Anteil an der Verteilung der Farben Auf dem Schmetterlingsflügel haben könnte. Anders ist es bei Tropidoderus. Hier wachsen die Flügel all- mählich hervor während des langsamen und im vollen Lichte erfol- senden Wachstums des Tieres, hier liegen die jugendlichen Flügel ver- mutlich schon in ähnlicher Weise übereinander und decken sich an den- selben Stellen, wie beim erwachsenen Tier: hier könnte man also an und für sich dem Gedanken Raum geben, das Gelb der gedeckten Stellen käme durch Abschluß vom Licht her. Sobald man aber die Verhältnisse bei den Schmetterlingen mit zu Rate zieht, erkennt man «das Ungenügende dieser Erklärung, denn hier liegt genau dieselbe Erscheinung vor, scharfe Beschränkung der protektiven Färbung auf die in der Ruhestellung sicht- baren Flächen, während zugleich jede andere. Erklärung dafür aus- geschlossen ist, mit Ausnahme von Naturzüchtung. Sehen wir also zu, ob wir nicht zu einem besseren Verständnis des Phänomens gelangen können. Offenbar brauchen die gelben Stellen des Tieres deshalb nicht srün zu sein, weil sie in sitzender Stellung nicht sichtbar sind, weil beim Flug aber die Heuschrecke überhaupt nicht unsichtbar gemacht werden konnte. Es bliebe also nur zu erklären, warum die gelben Stellen nieht farblos und warum sie nicht auch grün sind. Das ver- mögen wir nun nicht mit Sicherheit zu sagen; möglich, daß der Farb- stoff. welcher das Grün bedingt, nur unter dem Einfluß des direkten Sonnenlichtes grün wird, sonst aber gelb bleibt, möglich auch, daß, ähnlich wie bei den Tagfaltern (vgl. Fig. 9), nur den beim Sitzen sicht- baren Stellen die volle protektive Färbung durch Naturzüchtung zuteil Schutzfärbungen bei Nachtfaltern. 67 wurde, während die bedeckten Stellen irgend eine inditterente, aus dem Chemismus des Tieres leicht hervorgehende Färbung erhielten. Gewiß aber ist, daß auch die bedeckten Stellen grün sein würden, wenn dies für die Existenzfähigkeit der Art erfo: lerlich wäre, so gut wie die Unterseite so mancher Tagfalter Grün aufweist. Diese Farbe würde dann eben durch Naturzüchtung auch dort hervorgerufen worden sein, wie sie an den verschiedensten Stellen der verschiedensten Insekten, auch solcher, die sich bei gänzlichem Abschluß vom Licht entwickeln, hervorgerufen worden sind. Darin liegt der Unterschied von unserer Auffassung und derjenigen von BRUNNER VON WATTEN- wyL: Ohne Naturzüchtung gibt es hier keine Erklärung. Ich habe bisher nur von Tagfaltern gesprochen, bei welchen der Vorderflügel eine Ergänzung der protektiven Färbung des auf seiner ganzen Fläche protektiv gefärbten Hinterflügels bildet, und hier war es stets die Spitze des Vorderflügels, welche die Ergänzuug lieferte. Es gibt aber auch bei den Nachtfaltern entsprechende Verhältnisse, nur daß hier ein Spitzchen der Hinterflügel die Ergänzung zu der protektiven Fläche des ganzen Vorderflügels liefert. Einige Spinner der Gattungen Notodonta und verwandter Formen zeigen nämlich auf den im übrigen weißlichen Hinterflügeln an der Hinterecke derselben einen kleinen grauen Fleck und Haarschopf, der in der Färbung und — wo er dazu grob genug ist — auch in der Zeichnung genau den protektiv gefärbten Vorder- tlügeln gleicht (Fig. 12). Das „Warum“ wird sofort klar, sobald man den Falter in der Ruhestellung be- trachtet, denn diese Eck- chen der Flügel ragen allein Fig. 12. Notodonta camelina nach RösEr, vom ganzen Hinterflügel A fliegend, 2 sitzend. unter den Vordertlügeln hervor. Man hat gemeint, darin einen Beweis gegen Selektion zu sehen, denn so kleine Zipfel könnten doch durch ihre Färbung niemals den Ausschlag über Leben und Tod des Individuums geben, könnten also auch nicht gezüchtet worden sein. Dasselbe würde man auch von den Spitzen der Vorderflügel bei den Tagfaltern sagen, obwohl dort die protektive Fläche meist größer. oft sogar viel größer ist. Aber wer will darüber entscheiden, wie groß eine bloßliegende, nicht protektive Stelle sein muß, damit ein nach Nahrung spähender Feind auf das sonst protektiv gefärbte Tier aufmerksam wird? oder wer vermöchte auch nur nachzuweisen, daß die beste und offenkundigste Schutz- färbung ihren Trägern wirklich Schutz gewährt! Sollte es am Ende alles nur ein Spiel sein, ein Scherz, den sich der Schöpfer mit uns armen Sterblichen gestattet! Hat doch erst kürzlich ein guter Be- obachter genau verfolgt, wie ein Sperlingspärchen einen Bretterzaun, an dem sich Ordensbänder (Catocala) und andere mit vortrefflichen Schutzfärbungen versehene Nachtfalter bei Tage zu setzen pflegten, Tag für Tag genau abräumten und dabei nicht leicht ein Stück übersahen. Aber wer wollte darin etwas anderes sehen, als, was sich von selbst versteht, daß nämlich auch die beste Schutzfärbung kein absoluter Schutz ist und niemals alle vor dem Untergang bewahrt, sondern immer nur einige, ja sogar reeht wenige! Woher käme denn sonst % +) 68 Färbungen der Tiere. die hohe Vernichtungsziffer und die Tatsache des Stationärbleibens der Individuenzahl einer Art auf irgend einem sich nicht verändernden Wohngebiet? Diese Sperlinge hatten eine, zuerst wohl zufällige Er- fahrung nach Kräften ausgebeutet und ihr Auge für das Erkennen der Ordensbänder auf dem fast gleich gefärbten Bretterzaun so geschärft, wie (das bei guten Schmetterlinessammlern ebenfalls zu geschehen pflegt. Daraus folgt aber sicherlich nicht, dab die Schutzfärbung nutzlos wäre und ebenso werden wir die Übereinstimmung der vorragenden Spitzen der Vorder- oder Hinterflügel mit den großen protektiv gefärbten Flächen der deckenden Flügel nicht für gleichgültig halten dürfen. Im Gegen- teil! wären sie weiß wie die übrigen Hinterflügel oder sonstwie auf- fallend gefärbt, so würden sie sicherlich das scharfe Auge der suchenden Feinde auf diese Stelle lenken und die Beute dadurch verraten. Statt dessen ist diese Stelle nicht nur dunkel, sondern bei Notodonta auch mit einem Haarschopf versehen, der in sitzender Stellung des Tiers (Fig. 12?) an den Rücken zu liegen kommt und als ein dunkler, etwas gekrümmter Zahn hervorsteht, vor welchem ein anderer ganz ähnlicher steht, der dem Vorderflügel ansitzt und hinter welchem noch sieben andere, etwas kleinere solcher dunkler Zähne sitzen, die vom Außenrand der Vorderflügel entspringen. Alle zusammen aber imitieren den gekerbten Rand eines trocknen Blattes, wirken also trotz ihres zerstreuten Ursprungs zu einem Bild zusammen, und zwar einem protektiv wirkenden! Wie kann man da zweifeln, daß jeder dieser Haarschöpfe unter dem Einfluß von Naturzüchtung steht und durch sein Fehlen oder seine unvollkommenere Ausbildung die Entdeckung und die Ausmerzung seines Trägers zur Folge haben kann! Mir scheinen gerade diese Fälle besonders schöne Beweise für die schaffende Tätigkeit der Selektion zu sein. Genau so weit, als der Flügel unter dem anderen hervorragt, ist er protektiv gefärbt, keinen Millimeter weiter! Wie sollte es auch anders sein, wenn die Färbung der dieht daneben liegenden bedeckten Stellen gleichgültig ist für die Art. wenn also niemals ihre etwaige protektiv - farbige Variation zum Überleben gelangen, vererbt und gehäuft werden kann? Gerade diese 3eschränkung auf das Notwendige ist hier wie überall das sicherste Zeichen, dab Selektionsprozesse «den betreffenden Charakter hervor- gerufen haben. Wenn nun aber diese bei allen Schmetterlingen die einzig mögliche, aber auch ausreichende Erklärung solcher auffallend scharfen Farbenaberenzungen bieten, so liegt kein Grund vor, bei der (espenstheuschrecke ein anderes Moment zur Erklärung heranzuziehen, um so weniger, als ja auch hier Selektion allein für das Grün der exponierten Flächen aufkommen kann, und überdies die auch anderen Phasmiden eigene Umwandlung des vordersten grünen Streifens der Hintertlügel zu derben, schützenden Decken des weicheren Leibes eben- falls auf Selektion hinweist; die eigentlichen Deckflügel sind hier zu kurz geworden und so hat sich der Rand der Hinterflügel zu einer harten Schiene umgewandelt, die den weichen Leib des Tieres beschützt (Fig. 11, /7. Zorn.). Keinerlei Belichtung und keinerlei andere direkte Wirkung irgendwelcher äuberer Einflüsse kann das hervorgerufen haben. Was könnte hier nicht noch alles angeführt werden! Die Mannig- faltigkeit der Farben- und Formanpassungen ist bei den des Schutzes vor ihren Verfolgern so sehr bedürftigen Insekten, besonders aber bei den Schmetterlingen, so überaus groß, daß ich nicht enden könnte, wollte ich Ihnen auch nur annähernd einen Begriff davon geben. Wen- Ursachen der Schutzfärbungen. 69 den wir uns deshalb von (den jetzt betrachteten Fällen zu den höheren und höchsten Graden der Anpassung, darin bestehend, daß nicht nur spezielle und komplizierte Färbungen nachgebildet werden, sondern dab das ganze Tier einem fremden Gegenstand ähnlich gemacht und dadurch vor Entdeckung gesichert wird. Dahin muß schon der Fall unserer Kupferglucke (Gastropacha quercifolia) gerechnet werden, welche in ihrer kupferroten Farbe so- wohl. wie in dem sonderbaren Schnitt und den eingekerbten Rändern der Flügel und schließlich in der ganz eigentümlichen gluckenartigen Haltung der Flügel in der Ruhe einigen übereinanderliegenden trockenen Eichenblättern sehr ähnlich sieht. Daran schließt sich eine bei uns lebende Eule an, Xylina ob- soleta, welche, wie ihr Name andeutet, in der Ruhestellung durchaus einem Stückchen abgebrochenen, halbfaulen Holze gleicht (Fig. 10 3 p. 64). Sie „stellt sich dabei tot“, wie man gewöhnlich sagt, d. h. sie zieht die Beine und Fühler dicht an den Leib und rührt sich nicht, ja man kann sie in die Hand nehmen, an den Boden werfen, sie verrät durch kein Zucken,. daß sie lebt. Erst wenn man sie längere Zeit in Ruhe gelassen hat, dann fängt sie an. wieder lebendig zu werden und läuft eilends davon, sich besser zu verstecken. Die Färbung dieses Schmetterlings ist aus Braun, Weißlich, Schwarz und Gelb so seltsam gemischt und von spitzwinkligen Ziekzacklinien und Bogen derart durch- zogen, daß man nicht imstande ist, sie bloß mit dem Auge von einem Stückehen faulen Holzes zu unterscheiden. Ich habe das einmal an mir selbst erfahren, als ich im Vorübergehen an einem Zaun eine Xylina am Boden sitzen zu sehen glaubte, sie aufhob und betrachtete. Ent- täuscht warf ich sie wieder ins Gras. da ich sie für ein Stückchen altes Holz zu erkennen glaubte, besann mich aber dann doch noch und hob sie nochmals auf, und wahrlich, es war wirklich der Schmetterling!) ’ Dieser Fall der Xylina ist kaum weniger merkwürdig und die Ähnlichkeit mit dem nachgeahmten Gegenstand kaum weniger wunder- bar, als der oft besprochene Fall der Nachahmung eines Blattes mit Stiel, Mittelrippe und Seitenrippen durch zahlreiche Wald- schmetterlinge Südamerikas und Indiens. Am bekanntesten ist die in- dische Kallima paraleeta, die im der Tat täuschend ein abgestorbenes Blatt darstellt. wenn sie sich niedersetzt, und zwar entweder ein trocke- nes oder ein halb verwittertes, auf welchem braune und gelbe Stellen miteinander abwechseln und eine oder zwei kleinere rundliche glashelle Stellen sich vorfinden, an welchen die Schuppen fehlen und die ver- mutlich einen Tautropfen vorstellen. Die Oberseite dieses Falters ist *) RÖSEL sagt darüber bereits’ „Die wunderliche Gestalt dieses Papiliones verwahret ihn gegen viele Nachstellungen, denn, wenn er des Tages gleich frey an den Stämmen derer Bäume hängt, so siehet man ihn zehen Mal eher vor ein Stücklein Banımrinde, als vor eine lebendige Creatur an. Er ist auch bei Tage so unempfindlich, daß er, wann man ihn ohngefehr von seiner Ruhestatt herabwirft, als leblos zu Boden fällt und ohne einige Bewegung liegen bleibet. Man mag ihn gleich in die Höhe werfen oder hin und her kehren, so wird er selten ein Anzeichen des Lebens geben. Ich habe ihrer viele davon mit Nadeln angespießet, ohne das mindeste Merkmal einer Empfindlichkeit hierüber an ihnen zu spüren. Um so viel merkwürdiger aber ist es, daß diese Vögel, nachdem sie bei allen Plagen und Drangsalen, die man ihnen angethan hat, unempfindlich geschienen haben, so bald man sie in Ruhe läßt und sie nichts Widerwärtiges mehr zu befürchten haben, schnell nach einem finstern Winkel kriechen und sich wider künftige Anfälle zu verbergen suchen.“ Insekten- belustieungen, Nürnberg 1746, Bd. I, p. 152. 70 Färbungen der Tiere. von einfacher Zeichnung, aber prachtvoller Färbung, Blauschwarz mit einer rotgelben oder bläulichweißen Binde und ganz konstant. Die Unterseite dagegen, obwohl sie immer einem toten Blatte gleicht, zeigt doch sehr verschiedene Grundfarbe, bald mehr Grau, bald mehr Gelb oder Braunrot oder selbst Grünlich: oft zeigt sie die Seitenrippen des Blattes ganz so deutlich, wie auf Fig. 15, oft aber auch nur sehr un- deutlich, wie denn auch die schwarzen Schimmelflecke (sc) unserer Figur noch stärker ausgeprägt sein oder auch fehlen können. Es scheint, daß hier die Nachahmung verschiedener Blätter — sozusagen — ange- strebt wird, so wie es in Südamerika die verschiedenen und zahlreichen Arten der Gattung AÄnaea tun, die meist in Wäldern leben und fast alle blattähnlich sind, von denen aber jede Art wieder ein anderes Blatt, oft auch in anderem Zustand, trocken, feucht, angefault nachahmt. Es ist geradezu erstaunlich, diese Mannigfaltigkeit von Blattkopien zu sehen und die außerordentliche Treue, mit der der Eindruck des Blattes hervorgebracht wird. Dabei ist es durchaus nicht immer die Zeichnung der Blattrippen, welche die Ähnlichkeit bedingt, sondern oft fehlt diese ganz, aber die silbern- hellgelbe, dunkelgelbe, rotbraune bis (dunkelschwarzbraune Grundfarbe, die nie ganz gleichmäßig ist und über die sich meist eine weibliche Rieselung verbreitet, und zugleich die wunderbare Nachahmung des vV (lanzes mancher Blätter bedingen ' ’ zusammen die hochgradige Täu- Se schung. Fast immer ist die Ober- seite dieser Falter auffallend, mit Dunkelblau, Violett oder Rot ge- Fig. 13. Kallima paralecta aus Indien, schmückt, immer aber ohne alle rechte Unterseite des sitzenden Schmetter- Beziehung zur Unterseite. Nicht lings.. A’Kopf, Z’/ Lippentaster, 3 Beine, bei allen. aber bei vielen Arten V Vorder-, 77 Hinterflügel, St Schwänzchen (dieser Gattung treten auch die bei des letzteren, den Stiel des Blattes dar- 7- ».. = . stellend, e2' u. 2? Glasflecke, Az Augen- Nallima erwähnten kreisrunden, glas- | _ flecke. 7 hellen Spiegel auf dem Flügel dazu, und bei allen Arten sind noch ganz besondere Mittel angewandt, um die Blattähnlichkeit vollends täuschend zu machen. So sieht Anaea Polyxo im Sitzen wie ein Blatt aus, dem eine Raupe vom Rand her ein Stück herausgefressen hat; in Wirklich- keit fehlt zwar nichts am Flügel, aber am Vorderrand des Vorderflügels hebt sich eine fast halbkreisförmige Stelle durch hell mattgelbe Färbung so scharf von der übrigen kastanienbraunen Flügelfläche ab, daß sie wie ein Loch im Blatt wirkt. Ein moderner Geener der Selektionstheorie (EIMER) hat gemeint, die Zeichnung der Blattrippen und sonstiger Blattähnlichkeiten bei Kallima sei nichts weiter als das ohnehin schon vorhandene, von den Vorfahren 0 ö Blattschmetterlinge. 71 ererbte Zeichnungsmuster, welches nur nach inneren Entwicklungs- gesetzen sich im Laufe der Zeit in eigentümlicher Weise verschoben habe: nicht Selektion, d. h. Anpassung an die Umgebung, sondern der innere Entwicklungstrieb habe die Blattähnlichkeit hervorgebracht. Es ist merkwürdig, wie sehr vorgefaßte Meinung das Urteil schwächen und blind machen kann. Selbstverständlich gehen die Anpassungen nicht von einer tabula rasa aus, sondern von dem, was schon da ist; Natur- züchtung benutzt die von den Ahnen ererbten Zeichnungselemente, sie knüpft an das Gegebene an, um es so zu verändern und zu ergänzen, wie es am besten paßt. So läßt sich leicht nachweisen, dab die glas- hellen Spiegel (Fig. 135, g/! u. g.?) auf den Flügeln von Kallima durch Umwandlung der Kerne von Augenflecken entstanden sind, ebenso wie auch die dunkeln verschimmelten Flecke (.ScA), die häufig zur Ausbil- dung kommen, sich oft im Anschluß an die ererbten Augenflecke ge- bildet haben: nicht immer zwar, denn manche solche Anhäufungen schwarzer Schuppen stehen an Stellen, an welchen niemals ein Augenfleck gewesen ist. So sind auch die „Blatt- rippen* des Schmetterlings zum Teil durch allmähliche Verschiebung, Gradstrek- kung und Richtungsände- rung ererbter Streifen ent- standen, wie z. B. auf «dem Hinterflügel der Fig. 15 sehr deutlich zu erkennen ist, zum Teil sind sie aber auch neu gebildet. Aber das Geäder eines Blattes findet sich niemals auf einem Schmetterlingsflügel, dessen Art nicht zwischen Blättern zu ruhen pflegt — oder doch pflegte und ent- Fig. 14. Coenophlebia Archidona aus Bolivia in spricht niemals der ererb- sitzender Stellung. mr Mittelrippe des Blattbildes, EEE ; st Stiel desselben. ten natürlichen Zeichnung einer nicht im Walde lebenden Gattung. Das Bild der Blattaderung ist offenbar aus ganz verschiedenen Zeiehnungsmustern hervorgegangen und bald auf diesem, bald auf einem anderen Weg erreicht worden. Das geht schon daraus hervor, daß dasselbe bei verschiedenen Faltern in ganz verschiedener Lage auf die Flügel gezeichnet ist. Bei Kallima-Arten liegt der Stiel des Blattes in dem Schwänzchen der Hinterflügel, die Spitze der Hauptblattrippe dieht neben der Flügel- spitze, bei Coenophlebia Archidona ist es gerade umgekehrt, die Spitze des Vorderflügels (Fig. 14) ist verlängert und bildet den Stiel (s/), während ein breiter dunkler Streifen, «die Mittelrippe (7) von da aus mitten über beide Flügel hinläuft und zwei bis drei Seitenrippen von ihr nach außen abzugehen scheinen. Wenn gefragt worden ist, ob denn dieser Falter sich immer so künstlich hinsetzte, daß sein „nach oben gerichteter Blattstiel an einen Zweig anstiebe*, so diene zur Antwort, 12 Färbungen der Tiere. daß ein vorbeifliegender Vogel sich schwerlich jedes Blatt im Blätter- gewirr des Urwalds «darauf ansehen wird, ob es auch richtig an seinem Zweig befestigt ist, so wenig, als wir das bei einem gemalten Busch tun, bei dem auch nicht selten ein Blatt in der Luft zu schweben scheint — ganz wie in der Natur oder ihrem getreuen Abbild, der Photograpie. Wiederum ganz anders als bei Coenophlebia und bei Kallima kommt die Blattzeichnung bei einer Satyride des unteren Amazonentals zustande, bei Caerois chorinaeus(Fig. 15). Spannt man diesen Schmetter- ling in der gewöhnlichen Weise auf, so ähnelt er durchaus nicht einem Blatt und man sieht nur eine Anzahl sonderbar gestellter, unzusammen- hängender Streifen auf der unteren Flügelfläche. Schiebt man aber die Flügel so zusammen, wie es der sitzenden Stellung des Falters entspricht, dann erscheint ein Blattbild, von dem aber nur die eine Hälfte vorhanden ist und dessen Mittelrippe (727) vom Innenwinkel des Hinterflügels schräg nach vorn zieht. Auch hier fällt es nicht schwer, zu erraten, daß dieser gerade Streifen aus einer von fernen Vorfahren ererbten Bogenlinie durchGrad- streckung und Ver- schiebung entstanden ist, und diese Ver- änderungen sind eben gerade das Werk der anpas- senden Selektions- vorgänge. Ebenso auch die Seitenrippen (sr) des Blattes, welche auch hier in der Zahl von vieren vorhanden sind. Aber auch schon Fig. 15. Caerois chorinaeus vom unteren Amazonenn- allein die Teilung der strom in sitzender Stellung, ” Vorder-, /7 Winterflügel, Flügelfläche durch ei- nr Mittelrippe des Blattbilds, ur Seitenrippen, st Anfang nen einzieen dunklen zu einem Blattstiel. Su Sy Streifen, wie er auf dem Hinterflügel von Hebomoja (Fig. 9), einem indischen Falter, mitten über den Flügel hinzieht, erhöht die durch Farbe und Gestalt schon bedingte Blattähnlichkeit des sitzenden Schmetterlings nicht unerheblich, ja schon allein die scharfe Scheidung der Flügeltläche in eine dunklere Innen- und eine hellere Außenfläche, wie sie bei vielen Anaea-Arten vorkommt, bringt den Eindruck des von einer Mittelrippe durchzogenen Blattes täuschend hervor. Nicht ohne Absicht habe ich so lange bei den Blattschmetterlingen verweilt. Ich möchte Ihnen vor allem zur Anschauung bringen, dab es sich bei diesen Täuschbildern durchaus nicht etwa um einige ver- einzelte Ausnahmefälle handelt, sondern um eine große Menge von Fällen, in denen allen die Blattähnlichkeit angestrebt wird, bei welchen sie aber in verschiedenem Grade und mit ganz verschiedenen Mitteln er- reicht ist. Wer diese Fülle von Tatsachen überblickt, erhält durchaus Blattschmetterlinge. 73 den Eindruck. als sei überall da, wo es nützlich war für die Exi- stenz der Art, die Herstellung eines solchen Täuschbildes auch mög- lich gewesen. ‚Jedenfalls gewinnt man die Überzeugung, daß es sich nicht um zufällige Ähnlichkeit handeln kann, wie manche in neuesteıi Zeit wieder zu behaupten unternahmen. Ich bin übrigens mit dem Überblick über die Tatsachen noch nicht fertig, denn ich darf nicht vergessen, zu sagen, daß es in den immergrünen tropischen Wäldern auch große Nachtfalter gibt, welche ein Blatt nachahmen, teils ein grünes, teils ein braunes, abgestorbenes. Fig. 16 gibt eine solche Art, Phyllodes ornata aus Assam, auf ?/, verkleinert recht gut wieder. Die Hinterflügel sind auffallend gefärbt, tief schwarz und gelb; sie werden in Ruhestellung des Tiers von den Vorderflügeln bedeckt, diese aber sind rotbraun mit einer schwarzen Zeichnung, welche die Rippen eines Blattes scharf und deutlich nach- alımt. Die Hauptrippe beginnt nahe der Spitze des Flügels, bricht aber auf der inneren Fiügelhälfte ab an zwei silberglänzenden Flecken, wie sie auch bei manchen der faule Blätter nachahmenden Tagfalter vor- kommen. Merkwürdig regelmäßig gehen drei Paar von Seitenrippen von der Mittelrippe nach vorn und hinten ab, fast genau in dem gleichen Winkel und parallel untereinander, und drei weitere Seitenrippen werden durch un- bestimmtere Schatten angedeutet. Auch die Mittelrippe beginnt noch einmal vom neuen auf dem Innenfeld des Flü- gels, wenn auch nur durch einen breiten Schatten. Das Ganze sieht fast aus wie zwei zerrissene und sich teilweise deckende faule Blätter; jedenfalls muß die Täuschung eine vollkommene sein, Fig. 16. Phyllodes ornata aus Assam, wenn der Falter am Boden auf faulem Oberseite mit Blattzeichnung nur auf dem Laub oder zwischen abgefaulten Blät- {" sitzender Stellung allein sichtbaren ; o Vorderflügel; °/, der natürlichen Größe. tern sıtzt. | Das alle diese in hohem Grade vorteilhaften Schutzfärbungen in dem langsamen und allmählich sich steigernden Wirken von Natur- züchtung ihre Erklärung finden, sollte nicht bestritten werden, «denn dass sie auf andere Weise nicht zu erklären sind, ist zweifellos. Wenn es aber einer im Walde und unter Blättern lebenden Schmetter- lingsart möglich war, durch Naturzüchtung einem Blatte in irgend einem und allmählich in immer höherem Grade ähnlich zu werden, so müßten gar viele Insekten der Wälder, besonders der Tropenwälder eine so vorteilhafte Abänderung eingegangen sein, so sollte man denken. Dem ist denn auch so: zahlreiche Insekten verschiedener Ord- nungen, wenn sie nur die Größe eines Blattes besitzen, haben Färbung, Gestalt und meist auch Zeichnung eines Blattes angenommen. So werden grüne, wie auch angefaulte oder ganz abgestorbene Blätter von den zahlreichen Heuschreeken der Tropen in täuschender Weise nach- geahmt. Außer dem in Fig. 11, p. 65 abgebildeten Tropidoderus bietet eine Pterochora Süd-Brasiliens ein besonders schönes Beispiel dafür, weil hier nieht bloß die Grundfarbe, Blau oder Grün, mit einem faulenden oder frischen Blatte übereinstimmt. sondern zugleich noch allerlei Ein 74 Färbungen der Tiere. zelheiten auf das Insekt hingemalt sind, die die Täuschung noch erhöhen. Schon der Schnitt der Flügel ist blattartig, dann sind Blattrippen auf die Flügeldecken in schönster Deutlichkeit eingezeichnet, und schließ- lich zeigt sieh besonders auf den hellgrünen Exemplaren an der Blatt- spitze eine angefaulte Stelle durch braune, gelbe, rötliche und violette Farbentöne, die ineinander übergehen, mit erstaunlicher Naturtreue nach- geahmt. Auch hier läßt sich der Ursprung dieser so ganz speziellen Anpassung deutlich erkennen, denn die verwaschene konzentrische An- ordnung dieser Farben deutet darauf hin, daß hier bei den Vorfahren (der Art ein Augenfleck gestanden hat, ein ebensoleher, wie er heute noch auf dem in der Ruhestellung des Tieres unsichtbaren Hinterflügel steht. Wir können also auch hier etwas in die Vorgeschichte der Art zurückblicken und schließen, dab die Auflösung und Rückbildung des Augentflecks von der Zeit an ihren Anfang nahm, als die Blattähnlichkeit sich ausbildete, und dies wird durch irgend einen Wechsel in dem Aufenthalt veranlaßt worden sein, den wir nieht mehr erraten können. Zu den blattähnlicehen Heuschrecken gehören noch viele Arten der Alten und Neuen Welt. deren pergamentartige derbe grüne Flügeldecken den dieken, magnoliaähnlichen Blättern tropischer Gewächse höchst täuschend gleichen. Neben’ihnen sei auch das schon seit einigen Jahrhunderten berühmte „wandelnde Blatt“ erwähnt, bei dem nicht nur die Flügeldecken, sondern auch Kopf und Thorax, ja selbst die 3eine, Blattform und Blattfarbe besitzen. Auch die Stabheuscehreceken dürfen nicht unerwähnt bleiben, jene seltsamen Bewohner wärmerer Länder, deren brauner langgestreckter Körper einem kleinen knorrigen Ästehen gleich sieht, von dem die langen, ebenfalls stockartigen Beine unregelmäßig und meist unbeweglich beim ruhenden Tier im Winkel abgestreckt werden. Die Tiere sind Pflanzen- fresser und halten sich gewöhnlich ganz ruhig, so daß selbst der nach ihnen suchende Naturforscher über sie hinwegsieht. Wurde doch einem so erfahrenen Insektenkenner, wie ALFRED WALLACE, von einem Ein- geborenen der Philippinen einst ein Stück als Stabheuschrecke gebracht, das (dieser mit dem Bemerken zurückwies, diesmal sei es kein Tier, sondern ein wirkliches Ästehen, bis der Eingeborene ihm nachwies, daß es (loch ein solehes Tier sei, dessen Ähnlichkeit mit einem Zweig aber dadurch noch erhöht war, daß es am Rücken grüne lappige Auswüchse trug, die ganz aussahen, wie ein Lebermoos, Jungermannia, das auf den Zweigen der dortigen Bäume vorkommt. Auch die auf den stachligen Pflanzen tropischer Wüsten und Hoch- ebenen. besonders in Mexiko zahlreichen Dornenwanzen wären hier zu erwähnen. die zwei oder mehr große Dornen auf dem verhältnis- mäbig sehr kleinen Körper tragen und dadurch als ein Teil des Dornen- gewächses erscheinen, auf dem sie sitzen. Aber nicht nur von Insekten, sondern auch von Eidechsen wird eine Verkleidung durch Nachahmung der Dornen stachliger Pflanzen hervorgebracht, wie der im australischen Dornengebüsch lebende, über und über mit dornenartigen Auswüchsen besetzte Moloch horridus, eine Eidechse, lehrt. Diese Beispiele könnten genügen, um zu zeigen, daß die Nach- ahmung der gewöhnlichen Umgebung des ruhenden, schutzbedürftigen oder auch auf Beute lauernden Tieres keine vereinzelten Ausnahmen, zufällige Ähnlichkeiten oder, wie man früher sagte, „Naturspiele* sind, sondern im Gegenteil die Regel, welche auf natürlichen Ursachen be- ruht und überall da eintritt, wo diese Ursachen vorhanden sind. Wenn Spannerraupen. iD in wärmeren Klimaten solche schützende Ähnlichkeiten häufiger zu sein scheinen als bei uns, so ist das wohl nur Täuschung. die darauf beruht, daß die Masse der Arten, besonders bei «den Insekten, dort ungemein viel größer ist, überhaupt der Reichtum tierischer Gestaltung ein ganz außerordentlicher, und daß viele Insektentypen dort Vertreter von be- deutenderer Körpergröße besitzen, was diese nicht nur für uns auf- fallender macht, sondern auch ihren Feinden oder Beutetieren gegen- über einer schützenden Gestaltung bedürftiger. Doch sei hier noch eines Beispiels gedacht, das auch in unserer Tierwelt in vielen Modifikationen uns entgegentritt: der Spannerraupen. Von diesen weı- ehen und leicht verletzbaren Tie- ren gleichen viele täuschendin Farbe und Glanz der Rin- de des Baumes oderStrauches, auf dem sie leben (Fig. 17). Dabei haben sie die Gewohn- heit, sich in der Ruhe steif und ge- rade auszustrek- ken, so daß sie frei und in spitzem Winkel von dem Astchen abstehen, von dem sie ein Seitenzweig zu sein scheinen. Bei manchen Arten wird die Ähnlich- keit noch erhöht A en m . dureh die sonder- Fig. 17. Raupe von Selenia Tetralunaria auf einem Birken- bare Haltung des zweig sitzend. A Kopf, 7 Füsse, Höcker, die schlafenden Kopfes (A) und Knospen darstellend; natürliche Größe. der klauenartigen Füße (7), die teils dieht an jenen angedrückt, teils, frei abstehend, dem Vorderende des Tieres das Ansehen zweier Endknospen geben, während verschiedene kleine zugespitzte knötchenartige Warzen (=), die zerstreut auf dem Körper verteilt sind, die schlafenden Knospen des Zweigchens vortäuschen. Wer hätte nicht schon eine solehe Raupe für ein Astchen gehalten, nicht nur Laien, sondern auch Naturforscher? Schon manches Mal bin ich selbst erst durch Berührung völlig sicher über das geworden, was ich vor mir hatte. V. VORTRAG. Eigentliche Mimicry. Mimiery, ihre Entdeckung durch BATES p. 76, Helikoniden und Pieriden p. 76, Da- naiden p. 78, Papilio Merope und seine fünf Weibchen p..7S, Die Weibehen gehen voran p. 79, Arten mit Mimiery in beiden Geschlechtern p. SO, Einwürfe p. S1, Feinde der Schmetterlinge p. Sl, Die Immunität der Vorbilder p. S3, Giftigkeit der Nährpflanzen immuner Arten p. S4, "Mehrere Nachahmer derselben immunen Art p- 54, Verfolgte Arten derselben Gattung ähneln ganz verschiedenen Vorbildern, Elymnias p. 85, Grad der Ähnlichkeit p. 86, Verschiedenheit der Raupen von Vor- und Nachbild p. S7, Die gleiche Ähnlichkeit auf verschiedene Weise erzeugt, Glas- flügler p. SS, Die stufenweise Steigerung der Ähnlichkeit deutet auf mechanisch wirkende Ursachen p. SS, Seltenheit der mimetischen Arten p. 89, Bedrohung der Artexistenz ist nicht Vorbedingung mimetischer Umwandlung p. 90, Papilio Meriones und Merope p. 90, Vergleich mit den dimorphen Raupen, Papilio Turnus p. 92, Mimiery-Ringe immuner Arten p. 92, Danais Erippus und Limenitis Archippus p. 94, Starke Abweichung mimetischer Arten von ihren nächsten Verwandten p. 96, Mi- miery bei anderen Insekten p. 96, Ameisen- und Bienennachahmer p. 97. Wir wenden uns zur Betrachtung (der merkwürdigsten aller schützenden Farben- und Formanpassungen, zur sog. Mimiery, jenen Fällen von Nach- ahmung eines Tieres durch ein anderes, wie wir sie zuerst durch BATESs kennen gelernt haben, zu deren vollständigerem Verständnis aber später besonders A. R. WALLACE und FRITZ MÜLLER beigetragen haben. Während der englische Naturforscher BATES“*) zwölf Jahre lang an den Ufern des Amazonenstromes sammelte und beobachtete, kam es ihm beim Schmetterlingsfang zuweilen vor, daß er unter einem Schwarm jener bunten, eigentümlich gestalteten Schmetterlinge (Taf. II, Fig. 13), der Helikoniden, zufällig ein Stück herausfing, welches sich bei genauerer 3jetrachtung als etwas wesentlich anderes erwies, als seine zahlreichen Begleiter. Zwar glich es diesen in Farbe und auch in Form, aber es gehörte einer ganz anderen Familie der Tagfalter an, der der Pieriden oder Weißlinge (Taf. II, Fig. 19). Immer kamen solche Weißlinge mit Helikonidenfärbung nur vereinzelt in ganzen Schwärmen von Helikoniden vor, und BATES fand, daß sie in den verschiedenen Gegenden am Ama- zonenstrom in auffallender Weise immer gerade der dort vorkommenden Helikonidenart gliehen. Manche von ihnen waren auch früher schon den Entomologen bekannt gewesen, und man hatte ihnen, weil sie vom Typus der übrigen Weißlinge besonders in der Flügelform so sehr ab- wichen, den Namen Dysmorphia, die Mißgestaltete, gegeben, wenn auch der Sinn dieser auffallenden „Mißgestaltung“ noch lange verborgen blieb. *) BATES „Contributions to an Inseet Fauna of the Amazons Valley“. Linn. Soc. Trans. vol. XXIII, 1862. — Mimiery. 17 Der französische Lepidopterologe BoıspuvaL kam noch einen Schritt weiter, indem er es als etwas Merkwürdiges hervorhob, daß die Natur zuweilen mehrere Arten aus ganz verschiedenen Familien völlig ähnlich macht und dabei auf drei afrikanische Schmetterlinge hinwies. von denen wir später noch genauer zu sprechen haben werden. Aber auch er war noch zu sehr in den alten Anschauungen von der Unveränderlichkeit der Arten befangen, als daß er zur richtigen Einsicht hätte gelangen können. So war es BATEs vorbehalten, hier den entscheidenden Schritt zu tun. Aus der Beobachtung, daß die Helikoniden häufig und meist in größeren Schwärmen vorkommen, folgerte er, daß sie wenig Feinde be- säßen, und da er niemals sah, daß die zahlreichen, insektenfressenden Vögel und Insekten auf Helikoniden Jagd machten, so schloß er weiter, daß dieselben etwas Widriges an sich haben müßten, das sie gegen diese Räuber sicherstellt. Umgekehrt fand er die Helikonidenähnlichen Weißlinge immer nur selten und nahm dies als ein Zeichen, daß sie viel- verfolgte, also für Insektenfresser genießbare Bissen seien. Wenn es nun möglich war, daß eime Weißlingsart mit der gewöhnlichen weißen Fär- bung dieser Familie Variationen hervorbrachte, welche sie jenen vor Ver- folgung gesicherten Helikoniden in irgend einem Grade ähnlich machten, und wenn überdies solche Individuen sich den Schwärmen der Heliko- niden beigesellten, so mußten diese Variationen bis zu einem gewissen Grade vor Nachstellung gesichert gewesen sein, und zwar um so mehr, je ähnlicher sie dem geschützten Vorbild waren. Die heutige hohe Ähn- lichkeit soleher Weißlinge mit Helikoniden wird also — so schloß BATES weiter — auf einem Selektionsprozeß beruhen, der darin seinen Grund hatte, daß in jeder Generation durchschnittlich immer diejenigen Indi- viduen bis zur Fortpflanzung erhalten blieben, welche dem Vorbild ein wenig ähnlicher waren, als die übrigen, und es muß sich dadurch die anfangs wohl nur schwache Ähnlichkeit nach und nach bis zu der heu- tigen Höhe gesteigert haben. Die Voraussetzungen von BATES haben sich seitdem auf das glän- zendste bestätigt; die Helikoniden besitzen wirklich einen widrigen Ge- ruch und Geschmack und werden von Vögeln, Eidechsen und anderen Tieren durchaus verschmäht. Man hat direkt beobachtet, wie Puffvögel, Trogon-Arten und andere insektenfressende Vögel von der Spitze der Bäume herab nach Beute spähten, die Scharen bunter Helikoniden aber unbeachtet ließen, welche das Laubwerk unten umflatterten, und Versuche mit verschiedenen insektenfressenden Tieren haben dasselbe Resultat ergeben: Die Helikoniden sind immun. Wir verstehen daraus nicht nur, daß es vorteilhaft war, ihnen zu gleichen, sondern wir begreifen auch manche ihrer eigenen Eigenschaften, so ihre Bunt- heit, die als Widrigkeitszeichen wirken muß, und ihren langsamen, flat- ternden Flug. der es den Vögeln noch mehr erleichtert, sie als unge- nießbare Beute zu erkennen, ferner das Zusammenhalten in Schwärmen. Alles, was diese ungenießbaren Bissen als solche leichter kenntlich machte. muß für sie vorteilhaft gewesen und von Naturzüchtung be- günstigt worden sein (Taf. II, Fig. 13). r Ebenso wird bei den Nachahmern jede Steigerung der Ähnlichkeit die Aussicht erhöht haben, nicht aufzufallen, und es ist für jemand, der die Schmetterlinge vielfach in der Natur beobachtet hat, sehr gut zu verstehen, daß schon recht unbedeutende Ähnlichkeiten den Anfang des Selektionsprozesses gebildet haben können, vielleicht sogar schon allein a 78 Färbungen der Tiere. kleine Abänderungen in der Art des Flugs,. verbunden mit der Gewohn- heit, sich dem Schwarm der Helikoniden beizugesellen. Ich selbst bin in unseren Wäldern manchmal durch einen besonders majestätisch da- hinschwebenden Weibling einige Augenblicke getäuscht worden, indem ich ihn für etwas anderes, etwa eine Apatura oder Limenitis hielt. Wenn also am Amazonenstrom hie und da Individuen von Weißlingen vor- kamen, die etwas nach Art einer Helikonide flogen und sich unter sie mischten, so werden sie vielleicht dadurch allein schon einen gewissen Grad von Schutz genossen haben. der sich noch steigerte, wenn sie Zu- oeleich etwas ın der Farbe abänderten. Jedenfalls kann mindestens daran kein Zweifel sein, daß in diesen Fällen wirlich. eine Umwandlung der Art in Färbung und Zeichnung, oft auch im Flügelschnitt stattgefunden hat, und zwar in verhältnismäßig moderner Zeit, sagen wir während der Ausbreitung einer schutzbedürf- tiven Art über einen eroßen Kontinent oder seit dem letzten Ausein- anderweichen einer immunen Art in Lokalarten. Verschiedene Tat- sachen beweisen das; vor allem der Umstand, daß oft nur die Weib- chen schützende Nachahmung besitzen, dann, daß ein und dieselbe Art auf verschiedenen Wohngebieten eine andere immune Art nachahmt, und immer diejenige, (die dort häufig vor- kommt usw. Bestimmte Beispiele werden dies am besten anschaulich machen, und ich will nur vorausschicken, dab seit der Entdeckung von BATES noch zahlreiche Fälle von Mimiery bei Schmetterlingen entdeckt worden sind, nicht nur in Südamerika, sondern in allen tropischen Ländern, in welchen eine reiche Schmetterlingsfauna sich vorfindet. Auch sind es nicht bloß Helikoniden und Pieriden, zwischen welchen sich diese Be- ziehungen ausgebildet haben, sondern verfolgte, schutzbedürftige Arten verschiedener Familien ahmen überall widrigschmeckende und deshalb verschmähte Arten nach, und auch diese letzteren gehören verschiedenen Familien an. Die Helikoniden sind eine rein amerikanische Gruppe, aber in der Alten Welt und in Australien haben die drei großen Familien der Danaiden und der Euploeiden, sowie der Acraeiden ihre Rolle "übernommen, (da sie wie es scheint — alle widrig schmecken und von allen oder doch den meisten insektenfressenden Tieren unbeachtet bleiben. Zahlreiche Arten der Gattungen Danais (Taf. I, Fig. S), Amauris (Taf. I. Fig. 5), Euploea (Taf. III, Fig. 25 u. 27) und Acraea (Taf. II, Fig. 21), außerdem aber auch noch manche Arten von Papilio und anderen Gattungen genießen den Vorzug der Widriekeit oder wohl selbst Giftiekeit, sind dadurch vor Verfolgung geschützt und werden dementsprechend von genießbaren Schmetterlingen nachgeahmt. Ich wähle als weiteres Beispiel zunächst einen Tagfalter Afrikas, der 1868 durch TRIMEN als mimetisch nachgewiesen wurde, Papilio Merope ÜOramer*). Die Art hat eine weite Verbreitung, denn sie ist, wenn wir von gerinefügigen Lokalabweichungen in der Zeichnung der Männchen absehen, über den größten Teil von Afrika verbreitet, von Abessinien bis nach dem Kapland und von Ostafrika bis zum Senegal und der Goldküste. *) Man hat die westafrikanische Form von Papilio Merope von der südlichen in neuester Zeit als besondere Art getrennt und nennt die letztere Papilio cenea. Die Unterschiede der Männchen sind sehr gering: etwas kürzere Flügel, kürzeres Schwänzehen usw., Unterschiede, die gesenüber den Unterschieden zwischen Männchen und Weibehen kaum in Betracht kommen. Mimiery. 19 Das Männchen ist ein schöner, grober gelblichweißer Falter mit etwas Schwanz und mit Schwänzchen an den Hinterflügeln (Taf. I. Fig. 1), ähnlich unserem Schwalbenschwanz. Eine ganz nahestehende Art kommt in Madagaskar vor und hat dort ein ebenso gefärbtes Weibchen, das sich nur durch etwas mehr Schwarz auf den Flügeln unterscheidet. Auf dem Festland von Afrika aber sind .die Weibehen von Papilio Merope in Farbe und Flügelschnitt so verschieden, daß man ihre Zugehörigkeit zu den Männchen nicht glauben würde, wären nicht mehrfach aus den Eiern eines Weibehens beide (Geschlechter erzogen worden. Die Weibchen (Fig.6) alımen nämlich in Südafrika eine Amauris- Art nach, A. Echeria (Fig. 7), von schwarzer Grundfarbe mit weiben oder bräunlichweißen Spiegeln und Flecken und gleichen ihr in der Tat aufs täuschendste. Was aber den Fall in theoretischer Beziehung noch interessanter macht, ist der Umstand, daß die nachgeahmte Danais Echeria in der Kapkolonie sich ziemlich stark von der in Natal fliegen- den D. Echeria unterscheidet und daß die Weibchen von Merope diesen Lokalvarietäten gefolgt sind und ebenfalls eine Kap- und eine Natal- Lokalform darstellen. Aber auch damit sind wir noch nicht am Ende, denn in der Kapkolonie fliegen noch zwei andere Weibchen von P. Merope. Das eine davon hat eine gelbrote Grundfärbung (Fig. 2) und gleicht der dort massenhaft lebenden immunen Danais Chrysippus (Fig. 5); das andere ist vollkommen verschieden davon (Fig. 4), denn es ahmt sehr gut die in denselben Gegenden Afrikas häufige und immune Danaide, Amauris niavius, nach (Fig. 5), nicht nur in dem schönen reinen Weiß und tiefen Schwarz der Flügelfläche, sondern auch in der Verteilung dieser Farben zu einem Zeichnungsmuster. Wir haben also in Afrika vier verschiedene Weibchen von P. Merope, von denen jedes eine geschützte Danaidenart nachahmt. Sie sind nicht immer lokal getrennt, eine jede etwa auf nur ein (sebiet durchaus beschränkt, sondern ihre Verbreitungsgebiete greifen häufig übereinander, und man hat z. B. am Kap aus einem Satz Eier: Männ- chen und drei verschiedene Weibchenformen gezogen. Nimmt man noch hinzu, daß zwischen den beiden Lokalformen von Danais Echeria Übergänge vorkommen und dab auch die nachahmenden Weibchen von P. Meröpe diese Übergänge lokal genau mitmachen, so muß man zu- geben, daß alle diese Tatsachen zwar mit der Erklärung durch Selektion in schönstem Einklang stehen, jeder anderen Erklärung aber spotten. Um auch den letzten Zweifel zu beseitigen, hat uns die Natur auch auf dem Festland von Afrika die ursprüngliche Weibchenform erhalten, in Abessinien nämlich, wo neben den Mimiery-Weibehen auch solche noch gefunden wurden, welche geschwänzt sind. wie die Männchen (Fig. 1), und sich auch in Färbung und Zeichnung genau an dieselben anschlieben, kleine Unterschiede abgerechnet. Wir haben also in Papilio Merope eine Art vor uns, die sich bei ihrer Ausbreitung über Afrika im männlichen Geschlecht kaum merklich verändert hat, im weiblichen aber überall die äußere Erscheinung eines Papilio verloren und dafür die einer dureh Ungeniebbarkeit geschützten Danaide angenommen hat, und zwar nicht überall derselben Art, sondern an jedem Ort derjenigen, welche dort zu Hause ist, oft mehrerer zu- gleich. So zeigen diese mimetischen Weibchen heute einen Polymor- phismus, der aus vier Hauptnachahmungsformen besteht, und zu diesen kommt dann noch die ursprüngliche, dem Männchen ganz ähn- liche Weibehenform hinzu, welche sich nur noch in Abessinien erhalten S0 Färbungen der Tiere. hat. auch dort aber nicht als einzige Weibchenform vorkommt, sondern neben einigen der Mimiery-Formen. Die Frage, warum hier, wie in anderen Fällen, nur die Weib- chen Nachahmer sind, haben DAarwIn und WALLACE dahin beant- wortet, daß die Weibchen des Schutzes mehr bedürfen. Einmal treten die Männchen bei. den Schmetterlingen in bedeutender Überzahl auf, und dann müssen die Weibchen länger leben, um die Eier zur Ablage zu bringen. Dazu kommt, daß sie eben wegen der Belastung mit zahl- reichen Eiern auch schwerfälliger fliegen und während der ganzen Dauer der Eiablage, also längere Zeit hindurch, den Angriffen zahlreicher Feinde ausgesetzt sind. Ob eines der häufigen Männchen früher oder später gefressen wird, ist für den Bestand der Art nicht entscheidend, da ein Männchen zur Befruchtung mehrerer Weibchen ausreicht. Der Tod eines Weibehens aber entzieht der Art mehrere Hundert Nachkommen. Man begreift, daß bei ohnehin selteneren Arten vor allem die Weibchen ge- schützt werden mußten, d. h. daß alle nach der Richtung eines Schutzes zielenden Variationen Anlaß zu einem Selektionsprozeß geben mußten, der auf Steigerung der schützenden Eigenschaften ausging. Es gibt nun aber auch Schmetterlinge, bei welchen beide Ge- schlechter ein geschütztes Vorbild nachahmen. So gleichen viele Nachahmer der ungenießbaren Acraeen (Tafel II, Fig. 21) in beiden Geschlechtern dem Vorbild, und bei den Helikoniden-Nachahmern unter den Weißlingen Südamerikas finden sich einige, die auch im männlichen Geschlecht das Aussehen der Helikonide besitzen (Tafel II, Fig. 15 u. 19), während andere wie gewöhnliche Weißlinge aussehen (z. B. Archonias Potamea Butl.). Bei vielen dieser im weiblichen Geschlecht mimetischen Arten finden wir auch beim Männchen schon eine mehr oder minder starke Andeutung der mimetischen Färbungen, und zwar zuerst nur auf der Unterseite. So gleichen die Weibehen von Perhybris Pyrrha (Fig. 17) in dem schwarz-, gelb-, orangeroten Farbenmuster der im- munen amerikanischen Danaide Lycorea halia (Fig. 12), ihre Männchen aber sehen auf der Oberseite genau so aus, wie einer unserer gewöhn- lichen Weißlinge, zeigen aber unten auch bereits die orangerote (uer- binde der Lycorea (Fig. 16). Bei anderen mimetischen Arten von Weib- lingen ist ein solcher Anfang in noch schwächerer Andeutung vorhanden, bei wieder anderen ist auch die Oberseite des Männchens mit der Schutz- färbung versehen und nur ein einziger weißer Fleck auf den Hinter- oder auch noch auf den Vorderflügeln zeigt das ursprüngliche Pieriden- Weib (Fig. 18). Ich wüßte nicht, wie man diesen Tatsachen einen anderen Sinn unterlegen könnte, als den, daß hier zuerst die Weibehen die Schutz- färbung annahmen und daß ihnen später und langsamer die Männchen darin nachfolgten. Ob dies durch Vererbung von seiten der Weibchen her geschah, also gewissermaßen mit mechanischer Notwendigkeit ver- möge uns noch unbekannter Vererbungsgesetze, oder ob es aus einem, wenn auch in geringerem Grade vorhandenen Nutzen eines Schutzes der Männchen für die Art hervorging. die selbständig dem Entwicklungs- wege der Weibchen nachfolgten, das wäre noch zu untersuchen. Ich neige der letzteren Ansicht zu, und zwar deshalb, weil es geschützte mimetische Arten gibt, bei welehen das Weibchen einem immunen Vor- bild nacheifert, das Männchen aber einem anderen, vom Vorbild der Weibchen ganz verschiedenen. Ein solcher Fall liegt vor bei einem indischen Falter, Euripus Haliterses, und ebenfalls bei Hypolimnas scopas, Mimiery. sl von welch letzterem das Männchen dem Männchen der Euploea Pyrgion gleicht, das Weibchen dem ziemlich verschiedenen Weibchen derselben geschützten Art. Auch der indische Papilio paradoxus spricht für die Unabhängigkeit des mimetisthen Anpassungsprozesses, denn das Männ- chen gleicht dem blauen Männchen der immunen Euploea binotata (Taf. III, Fig. 25), das Weibchen aber dem radiär gestreiften Weibehen der Euploea Midamus (Fig. 27). und dieselbe Doppelanpassung wiederholt sich bei der zu den verfolgten Faltern gehörigen Elymnias leucoeyma (Fig. 26 und 28). Man hat der Erklärung der Mimiery durch Selektion mancherlei eingeworfen. Man hat gemeint, die Schmetterlinge seien der Nachstel- lung durch Vögel nur unbedeutend ausgesetzt, sie genüge nicht, um so intensive und lange anhaltende Selektionsprozesse zu begründen, den Vögeln seien die Tagfalter unwillkommene Bissen wegen der großen und ungenießbaren Flügel bei kleinem Leib, auch sei es eine zweifel- hafte Sache mit der Immunität der Vorbilder, die für viele Arten, von denen man sie annehme, noch gar nicht erwiesen sei; schließlich sei - auch der Vorteil, den die Ähnlichkeit mit einem immunen Vorbild bringe, unerwiesen und rein hypothetisch: es sei wahrscheinlich, daß die Vögel die Färbung und Zeichnung des fliegenden Schmetterlings gar nicht unterscheiden und höchstens durch die Flugmanieren eines Falters ge- täuscht werden könnten. Das letztere enthält gewiß Wahrheit, insofern in der Tat die Art des Flugs bei der Nachahmung einer fremden Art mit in Betracht kommt. Wir werden später noch sehen, wie sehr bei allen schützenden Färbungen zugleich die Instinkte einer Art zur Täuschung beitragen. Es ist des- halb nicht unwahrscheinlich, daß in vielen Fällen die Nachahmung des Flugs einer immunen Art und die Gewöhnung an die Flugplätze der- selben der Umfärbung vorherging. Wird ja doch gerade der langsame Flug immuner Arten (Helikoniden) von den Beobachtern übereinstimmend hervorgehoben als ein Moment, das den scharfsichtigen Vögeln ihre Er- kennung erleichtert. Daß aber nicht bloß in früheren Epochen der Erdgeschichte, wie man gemeint hat, sondern auch heute noch die Schmetterlinge vielver- folgte Tiere sind und besonders auch von Vögeln viel gejagt werden, das scheint mir nach den Beobachtungen, welche das letzte Vierteljahr- hundert darüber gebracht hat, unzweifelhaft. Sogar bei uns, wo sowohl Tagfalter, als insektenfressende Vögel durch die Kultur des Menschen immer mehr verdrängt werden, fallen doch auch noch viele Tagfalter im Fluge den Vögeln zum Opfer. KENNEL bringt darüber gute Be- obachtungen für die Grasmücke, Caspar für die Schwalben. Letzterer ließ etwa hundert Trauermäntel (Vanessa Antiopa) von seinem Fenster ausfliegen, „aber keine zehn derselben erreichten den sehr nahen Wald“, die übrigen wurden alle von den Schwalben gefressen, „die sich förmlich vor seinen Fenster sammelten“. KATHARINER beobachtete auf dem Hoch- land von Kleinasien einen Trupp von Bienenfressern (Merops), welche zahl- reiche Individuen eines schönen Tagfalters (Thais Cerisyi) im Flug fingen und verschluckten. Schließlich hat noch Pastor SLEvoGT vielfache Belege dafür bei- gebracht, daß unsere einheimischen Falter recht sehr von Verfolgung durch Vögel zu leiden haben. Von den tropischen Ländern aber kennt man seit lange schon die Jagd insektenfressender Vögel auf Schmetter- linge. So sagt Pörrıc, daß man „in den Urwäldern ohne Schwierigkeit Weismann, Deszendenztheorie. I. 2. Aufl. 6 ä 82 Färbungen der Tiere. die Stelle erkennen könne, welche einer der Glanzvögel (Galbuliden) zum Lieblingssitz erkoren hat, denn die Flügel der größten und pracht- vollsten Schmetterlinge, deren Leib allein gefressen wird, bedecken auf einige Schritte im Umkreis den Boden“. Direkte Beobachtungen über den Insektenfang der Vögel des Urwaldes verdanken wir besonders Dr. HAHnEL, welcher bei seinen eifrigen Sammelreisen in Mittel- und Siidamerika vielfach dazu Gelegenheit fand. Er schreibt: „Keiner anderen Gattung von Schmetterlingen wurde von Vögeln so nachgestellt, wie den Pieriden (Weißlingen), und oft schnappten mir diese Freibeuter die hübschesten, frischen Stücke dicht aus meiner Nähe weg. wobei die un- fehlbare Sicherheit ihres Fluges mich jedesmal in Verwunderung setzte und ich gern mit der Einbube eines Exemplars das Schauspiel bezahlte“. Von der Verfolgung eines jener groben Caligo-Arten, deren hlattähnlicher, mit Augenfleck versehener Unterseite ich oben gedachte (Fig. 6, p. 80) sagt er: „Mit unglaublicher Geschicklichkeit wußte das mächtig große Tier allen Schnabelhieben des hart ihm folgenden Vogels auszuweichen und aus einem Gebüsch ins andere sich zu retten, bis schließlich das gehetzte Wild im dichtesten Gewirr von Zweigen geborgen war und der ermüdete Vogel von weiterem Nachsetzen abstand.* Aber auber von Vögeln werden die Falter des Urwalds auch von Insekten verfolgt, vor allem von großen räuberischen Libellen, die sich während des Flugs auf sie stürzen. HAHNEL sah öfters, wie einer der großen, prächtig blauen Morpho Cisseis, der ruhig an den Kronen der Bäume dahinschwebte, plötzlich kopfabwärts schoß „wie ein Stier mit gesenkten Hörnern, um dann anscheinend nur mit Mühe wieder in die Höhe zu steigen, nachdem er sich von seinem plötzlichen Angreifer losgerissen, dessen Kiefer deutliche kurze Schrammen an ihm hinter- lieben“. Zu Vögeln und Raubinsekten kommt dann noch das Heer der Eidechsen, das den Tagfaltern nachstell. Um die Falter anzulocken, hatte HAHnEL Köder im Wald ausgelest, „Zuckerrohr, kleine süße Bananen oder ähnliches“. Auf diesem ließen sich dann die verschie- densten Falter „Satyriden, Ageronien, Adelpha und andere Nymphaliden nieder“. Beständig sah er sie nun hier „umlauert und angefallen von gierigen Eidechsen, die trotz ihrer plumpen Figur und ihres schleppen- den Ganges plötzlich hervorbrechend mit großer Schnelle ihre Beute zu erhaschen wissen. Oft ist es aber auch wunderbar, wie geschickt ein so verfolgtes Tier den wiederhoiten Nachstellungen dieser Räuber entgehen kann“. So wurde einmal eine Adelpha ein Dutzend Mal von dem ausgelesten Köder von einer auf sie losstürzenden Eidechse auf- gejagt, um sich dann immer kurze Zeit auf ein Blatt zu setzen und bald wieder an den Köder zu kommen, wo dann ihr Feind im Nu wieder „mit aller Wut auf sie zuschoß, bis er es schließlich doch auf- gab“, das so prompt flüchtende Tier weiter zu behelligen. Auch auf den Sandbänken im Fluß sammeln sich mittags bei der größten Sonnenhitze viele Falter, um zu trinken, und auch hier sind sie umlauert von Eidechsen. Sehr hübsch und gewiß völlig zutreffend schildert dabei HAHNEL die schützende Rolle der langen Schwänze, welche viele der seglerartigen Papilionen an den Hinterflügeln tragen; sie gewähren „ganz augenscheinlich“ Schutz gegen die Eidechsen, „die sich beim Zuschnappen sehr oft mit den bloßen Schwänzen begnügen müssen, während das im übrigen unbeschädigte Tier noch einmal davon- fliegt.“ Feinde der Schmetterlinge. 8: w. Aber nicht nur die starke Verfolgung der Schmetterlinge ist Tat- sache, sondern auch die Immunität der als Vorbilder für Mimiery bekannten Arten. Für zahlreiche Arten wenigstens ist das jetzt sicher- gestell. Zunächst — wie oben schon gesagt wurde für die Heli- koniden, für die WALLACE schon vor langer Zeit nachwies, dab sie beim Zerdrücken der Brust einen gelben Saft von widerlichem (Geruch austreten lassen. Dieser wird wohl das Blut des Tieres sein, was nicht verhindert, daß der widrige Geruch des lebenden Schmetterlings nicht „mehrere Schritte weit“ reichen könnte, wie SEITZ bei Heliconius Beskei beobachtete. Es sind auch wiederholt Versuche angestellt worden, welche er- gaben, daß solche Falter nicht nur von den insektenfressenden Vögeln des Urwaldes, sondern auch von den so gefräßigen zahmen Truthühnern, Fasanen und Rebhühnern verschmäht werden. Neuerdings hat HAHNEL die Versuche in Brasilien mit Hühnern wiederholt und erhielt dasselbe Resultat. Die Hühner, „die sonst alle Schmetterlinge mit Begier ver- zehren“ verschmähten alle Ithomiden, Helikonier, die weißen Papilios, wie auch einige der bunt und helikonidenartig gefärbten, bei Tage fliegenden Nachtfalter, wie Esthema bicolor und Perieopis Lycorea. Offen- bar wirkt die bunte oder auffallende Färbung dieser Schmetterlinge als Widrigkeitszeichen und schützt sie vor den Versuchen der Vögel, sie auf ihren Wohlgeschmack zu untersuchen. Daher finden wir auch die Unterseite widriger Falter gleich der Oberseite. Schon die Menge, in welcher diese Arten umherfliegen, deutet darauf, daß sie wenig dezimiert werden müssen, und in der Tat findet man in den südamerikanischen Wäldern niemals die Flügel von Helikoniden am Boden liegen, während die von Nymphaliden und anderen Faltern als Rest von Vogelmahlzeiten, wie oben schon erwähnt, nicht selten ange- troffen werden. Ebensowenig aber wie bei den Helikoniden und Verwandten ist ein Zweifel berechtigt gegenüber dem Schutz, dessen Danaiden, Acraeiden und Euploeiden sich in den Tropen der Alten Welt durch widrigen Geruch und (Geschmack erfreuen. Auch hier liegen Versuche und Beobachtungen vor, die beweisen, daß Vögel, Eidechsen und Raub- insekten die Schmetterlinge dieser Familien unbehelligt lassen. Ich er- wähne nur die Beobachtung von TRIMEN, welcher unter einer von Schmetterlingen viel besuchten Akazie, auf welcher Mantiden, sog. Gottesanbeterinnen, zahlreiche Schmetterlinge verschiedener Arten fingen und verzehrten, niemals die Flügel einer Acraea oder Danais fand. Auch diese widrigen Falter besitzen ein buntes oder doch auffallendes, von weitem leicht kenntliches Kleid, «das oben und unten gleich ist, und auch sie fliegen langsam, so daß man sie leicht erkennt. Auch zeigen sie sich meist in großer Individuenzahl und sind in beiden (Geschlechtern meistens gleich gefärbt oder doch sehr ähnlich, jedenfalls gleich auf- fallend. Aber auch mit ihnen ist die Reihe der durch Widrigkeit ge- schützten Schmetterlinge noch nicht geschlossen: unter der sonst so stark verfolgten, also genießbaren Familie der Pieriden (Weißlinge) gibt es eine asiatische Gattung Delias, die sehr wahrscheinlich zu den im- munen Faltern gehört, wie schon ihre bunte Unterseite andeutet, und auch unter Nachtfaltern verschiedener Länder und Familien finden sich einzelne Gattungen, die höchst bunt und auffallend gefärbt sind, die von Vögeln verschmäht werden und «deren widriger Geruch auf mehrere Fuß Entfernung hin wahrzunehmen ist (Chaleosiiden und Eusemiiden). 84 Färbungen der Tiere. Diese letzteren fliegen nicht mehr unter dem Schutze der Nacht, wie ihre Verwandten, sondern sind zu Tagfliegern geworden. Es ist zu vermuten, daß ‘die Widrigkeit solcher „Ungenießbaren“* mit der Futterpflanze zusammenhängt, an welcher die Raupe lebt. Scharfe, nauseose, adstringierende und geradezu giftige Stoffe werden ja in vielen Pflanzen erzeugt, und wie wir später sehen werden, zu ihrem eigenen Schutz: diese Stoffe müssen in das Insekt übergehen und tun dies vielleicht zum Teil unverändert, zum Teil gewiß auch verändert, aber doch noch immer schützend, vielleicht sogar noch besser schützend. Damit stimmt es, daß wirklich viele Raupen immuner Schmet- terlinge an mehr oder minder giftigen Pflanzen leben: die Acraeen und Helikonien an Passifloren, welche Ekelstotfe enthalten, die Danaiden an milchsaftreichen, giftigen Asklepiadeen, die Euploen an giftigen Fieus- Arten, die Neotropinen an Solaneen usw. Es gibt nun aber artenreiche und über die ganze Erde verbreitete Gattungen, deren Raupen an Pflanzen sehr verschiedener Familien und Eigenschaften leben, und bei diesen sind dann die meisten Arten wohlschmecekend, einige wenige aber auch widrig riechend und schmeckend und dann im- mun. So verhält es sich bei der Gattung Papilio. Schon in den sechziger Jahren entdeckte WALLACE, daß es immune Papilio-Arten gebe und daß diese von anderen Arten nachgeahmt werden. Später stellte sich dann heraus, daß diese immunen Papilionen meist an Gift- pflanzen (in weiterem Sinn) leben, an verschiedenen Aristolochien, und HaaASsE hat sie neuerdings als Giftfresser (Aristochien-Falter oder Phar- makophagen) zusammengefaßt und auch dem Bau nach von den übrigen Papilio-Arten abzugrenzen gesucht. Sie zeichnen sich durch auffallendes Rot am Leib des Falters aus. Auch bei einigen von ihnen, z. B. bei Papilio Philoxenus, ist ein widriger, faulem Harn ähnlicher Geruch des lebenden Tieres festgestellt worden. So sehen wir denn, daß die viel verfolgten und leicht verletzbaren Schmetterlinge sich die von den Pflanzen zu eigenem Schutz bereiteten (Giftstoffe (im weitesten Sinn!) zunutze machen und überall da. wo es ihrem Chemismus nach möglich ist, dieselben zu ihrem eigenen Schutz verwenden. Es kann uns deshalb nicht wundern, wenn relativ so viele Schmetterlinge zu den Immunen gehören, und ebensowenig, dab von den viel zahlreicheren Arten der Genießbaren ein kleiner Teil jenen (reschützten ähnlich zu werden strebte, soweit Naturzüchtung solche Ähnlichkeit herzustellen imstande war. Es gibt kaum eine andere, so weitverbreitete und vielgestaltige Anpassungserscheinung, welche zugleich so genau beobachtet und in alle möglichen Einzelheiten hinein verfolgt wurde, wie Mimiery, und es mub wohl als ein starker Beweis für das Zutreffende ihrer Zurück- führung auf Selektionsprozesse betrachtet werden, dab alle die beobachteten Erscheinungen aufs schönste mit den Folgerungen aus der Theorie stimmen. Ich wenigstens kenne keine Tatsachen, die der Theorie wider- sprechen, wohl aber viele, die sich rein aus der Theorie hätten vorher- sagen lassen. So hätte man allein aus der Theorie vorhersagen können, daß eine immune Art oft mehrere Nachahmer haben werde, und dies ist in der Tat sehr häufig der Fall, und es wäre leicht, eine Menge Beispiele dafür anzugeben. So werden die beiden Danaiden Süd- und Mittelafrikas, Amauris echeria und Amauris niavius, nicht bloß durch zwei Weibchen- formen des oben ausführlich besprochenen Papilio Merope kopiert, sondern Mimiery. Ss5 die letztere außerdem noch durch eine schutzbedürftige Nymphalide, Dia- dema Anthedon, die erstere sogar noch durch zwei Tagfalter aus ver- schiedenen Familien, durch Diadema nuina und durch Papilio echerioides. So wird ferner der schwarz und rot gefärbte Heliconius Melpo- mene in Brasilien zugleich von dem Weib- chen eines Weißlings,. Archonias teuthamis, nachgeahmt und von einem Papilio, der eben wegen dieser seiner Ähnlichkeit nach dem alten Namen von Melpomene: Euterpinus heißt. So hat die immune, mit halb durchsich- tigen Flügeln und schwarzen Binden darauf versehene Methona Psidii Cr. Brasiliens fünf Nachahmer aus fünf verschie- denen Gattungen, von denen eine sogar kein echter Tagfalter, sondern einer der bei Tage fliegenden Arten der systematisch zweifelhaften Gattung Castnia ist. Die westafrikanische immune Acraeide, Acraea Gea (Taf. II, Fig. 21), wird in ihrer schmalen langen Flügelform, sowie in der aus Braunschwarz und Weib gemischten Zeichnung täuschend nachgeahmt von einer Nymphalide, Pseudacraea Hirce, von dem Weibchen eines Papilio (Papilio Cynorta), dessen Männchen ganz verschieden ist, und von dem Weibchen einer Satyride. Elym- nias Phegea (Taf. II, Fig. 20). Bei dem Papilio erstreckt sich die Nachahmung bis auf die eigentümlichen pechschwarzen, glänzenden Tropfentlecke auf der Unter- seite der Hinterflügelbasis, wie «denn alle drei Nachahmer auf beiden Flächen, also im Flug wie im Sitzen, dem Vorbild gleichen. An derselben westafrikanischen Küste fliegt auch die eigentümlich grauschwärz- lich gefärbte Acraea Egina mit ziegelroten Flecken und Binden und pechschwarzen Tropfentflecken (Fig. 18, .1). Diese immune Art wird in ihrem Vaterland von zwei anderen Faltern täuschend nachgeahmt, von einer Nymphalide, Pseudacraea Bois- duvalii (Fig. 18, 3) und von dem Weibchen eines Papilio, Papilio Ridleyanus Fig.18,C), N won letzterem nicht so genau, wie VON Eeina von der Goldküste, immun: ersterem, aber wohl sicher ausreichend 2, Papilio Ridleyanus aus Gabun, genug, um im Flug mit dem Vorbild ver- nicht immun: €, Pseudacraea Bois- wechselt zu werden. duvalii von der Goldküste, nicht Weniger bestimmt hätte man von der ee: Theorie aus vorhersagen können, daß umgekehrt die verschiedenen Arten einer schutzbedürftigen Gattung weit verschiedene immune Vorbilder nachahmen könnten, denn wer würde gewagt haben, vorauszusagen, wie weit «die Variationsfähigkeit einer Art geht Ss6 Färbungen der Tiere. und wie verschiedenartige Farbentrachten sie anzulegen imstande ist? Die Tatsachen lehren uns aber, daß dies im weitem Umfang möglich ist. Am interessantesten nach dieser Richtung ist vielleicht die asiatisch- afrikanische Gattung Elymnias, eine Satyride, deren zahlreiche (über 30) Arten alle schutzbedürftige zu sein scheinen, da viele von ihnen immune Falter nachahmen, die übrigen aber unscheinbar und unten mit Schutzfärbung versehen sind. Auf Taf. II und III sind einiee der ersteren neben ihren Vorbildern dargestellt. Die einzige afrikanische Art, Elymnias Phegea (Taf. II, Fig. 20), kopiert wie schon erwähnt — die dortige Acraea Gea (Fig. 21). Viele der asiatischen Elymnien sind Nachahmer der immunen Euploeen, vor allem die dunkelbraunen, stahlblau angelaufenen Arten, wie Elym- nias Patna in Indien, Elymnias Beza und Elymnias Penanga auf Borneo. In Amboina fliegt eine Elymnias vitellia, deren Weibchen genau der dort lebenden einfach hellbraunen, zeichnungslosen Euploea Climena gleicht. Elymnias Leucocyma gleicht im Männchen (Taf. III, Fig. 26) der braunen, stark blau schillernden Euploea binotata (Fig. 25), während das Weibchen das düstere radiär gestreifte Weibchen von Euploea Midamus L. nachahmt (Fig. 27 und 28); Elymnias Cassiphone Männchen gleicht der schwarzbraunen stark blau schillernden Euploea Claudia, das Weibchen aber dem Weibchen von Euploea Midamus. Eine An- zahl von Elymnias-Arten kopieren Danaiden: so beide (reschlechter von Elymnias Lais die Danais vulgaris (Taf. III, Fig. 29 und 30), so Elym- nias Ceryx und Timandra eine andere ähnliche Danaide, Danais Tytia. Nur das Weibehen von Elymnias undularis von Ceylon kopiert dem (re- samteindruck nach gut, wenn auch nur ungefähr die braungelbe Danais Genutia (Taf. II, Fig. 22 und 23). während das Männchen eine der blauen Euploeen nachzuahmen bestrebt scheint (Taf. III, Fig. 24). Eine seltene, noch wenig in den Sammlungen vertretene Elymnias Künstleri gleicht in auffallender Weise der Danaide Ideopsis Daos Boisd. mit ihren weißen. schwarzgefleckten Flügeln, während drei Arten die wahr- scheinlich immune Pieridengattung Delais besonders auf der mit Gelb und Rot geschmückten Unterseite nachahmen. Vielleicht am weitesten hat sich Elymnias Agondas Boisd. (Taf. II, Fig. 32) von «der Papua- region und der Insel Waigeu vom ursprünglichen Typus entfernt, indem sie auf den Hinterflügeln zwei große blaue Augenflecke trägt und da- (durch besonders in «dem fast weißen Weibehen der Tenaris bioculatus sehr ähnlich wird (Taf. III, Fie. 31). Es sind also sieben oder acht fremde Zeiehnungs- und Färbungstypen aus sechs verschiedenen (rat- tungen und eine viel größere Zahl von Arten, welche von dieser Gattung Elymnias nachgeahmt werden. Höchst interessant ist es dabei, zu verfolgen, wie diese mimetischen Arten mehr oder weniger die ursprünglich sympathische Färbung der Unterseite aufgeben und ihre ursprünglich auf Verstecken berechneten Zeichnungselemente in den Dienst der Nachahmung stellen. Nach den schönen Untersuchungen von ERICH HAASE dürfte die Grundzeichnung der Gattung auf der Unterseite eine „graue, dunkel gesperberte Schutz- färbung gewesen sein“, wie solehe sich noch heute bei mehreren mime- tischen Arten findet, so bei Elymnias Lais (Taf. II, Fig. 30). Diese Blatt- fürbung verschwindet aber mehr und mehr, je vollkommener die Nach- ahmung des Vorbildes wird, so daß zuletzt das Vorbild auch auf der Unterseite wiederholt wird. Man vergleiche z. B. Fig. 30 u. 32. Daraus wird geschlossen werden dürfen, daß ein Kleid, das den Falter als | Mimiery. S7 widrigen Bissen erscheinen läßt, doch noch wirksamer schützt, als die Ähnlichkeit mit einem Blatt. Das ergibt sich übrigens schon aus der Theorie, denn die Blattähnlichkeit sichert niemals ab- solut vor Entdeckung und jedenfalls nur während der Ruhe, während die scheinbare Widrigkeit zu jeder Zeit den Angreifer zurückschreckt. Laien in der Schmetterlingskunde fragen gewöhnlich, wenn man ihnen diese Mimiery-Verhältnisse entwickelt, woher wir denn wissen. daß die dem Vorbild so ähnlichen Nachbilder wirklich einer anderen Gattung oder gar Familie angehören. Es gibt nun allerdings Fälle, in denen die Ähnlichkeit zwischen Vor- und Nachbild so groß ist, daß auch der Zoologe ohne genaue Prüfung den Unterschied nicht erkennt, so z. B. bei gewissen glasflügligen Helikoniden Brasiliens (Ithomien) und ihren Nachahmern aus der Familie der Weißlinge Aber auch in solchen Fällen erstreckt sich die Ahnlichkeit nur so weit, als die Theorie es ver- langt, d. h. nur auf solche Charaktere, die den Schmetterling dem Auge des Verfolgers als jene andere, ihm als widrig bekannte Art erscheinen lassen, nicht auf Einzelheiten, die nur mit Lupe oder Mikroskop zu sehen sind, und vor allem nicht auf Raupe, Puppe oder Ei. So können wir in dem angeführten Fall sicher sein. daß die Raupe der Ithomia völlig verschieden ist von der des nachahmenden Weißlings, indem die erstere nach dem Typus der Ithomienraupen, die andere nach dem der Weißlingsraupen gebaut sein wird. Bis jetzt kennt man gerade diese beiden Arten in ihrer Raupenform nicht. aber in anderen Fällen kennt man sie. Ein zur Gattung unseres einheimischen .„Eisvogels“ (Limenitis populi) gehöriger Tagfalter Nordamerikas, Limenitis archippus (Taf. I, Fig. 9), ähnelt stark der braungelben, immunen Danais erippus (Taf. I. Fig. 8), während die Raupen der beiden Arten ganz verschieden sind, diejenige von Danais erippus besitzt die sonderbaren, weichen und biegsamen, hörnerähnlichen Fortsätze der Danaidenraupen (Fig. 10a), die Raupe von Limenitis archippus dagegen gibt sich (Fig. 112) durch stumpfe, keulenförmige und bedornte Zapfen sofort als Limenitis-Raupe zu erkennen. Die Anpassung des Schmetterlings an das geschützte Vorbild hat also auf die Raupe keinen Einfluß ausgeübt. Ebensowenig auf die Puppe. welche in den beiden Arten die sehr verschiedene und ganz charakteristische Gestalt der Danais- beziehungsweise der Limenitis- Puppe (Tafel I. Fig. 105 u. 115) besitzt. s Aber auch an dem Falter selbst ist nielts geändert, als was die Ähnlichkeit mit dem Vorbild bewirkt. Alles andere ist unverändert geblieben: so vor allem die Aderung des Flügels. Diese ist seit den mühe- und verdienstvollen Arbeiten von HERRICH-SCHÄFER zur Grund- lage der ganzen Systematik der Schmetterlinge gemacht worden, und sie erlaubt uns in der Tat mit Bestimmtheit nieht nur die Familien, sondern oft auch die Gattungen sicher und leicht voneinander zu unter- scheiden, so daß also die Art des Aderverlaufs bei den Arten ein und derselben Gattung dieselbe ist, und das gilt ebensogut für mimetische Arten, wie für die übrigen. So hat die danais-ähnliche Limenitis die gewöhnliche Limenitis-Aderung. wie sie auch unsere einheimischen Lime- nitis-Arten aufweisen, und die obenerwähnten Elymnias-Arten der afrika- nischen und indischen Wälder und Grastlächen haben alle dieselbe für diese Gattung charakteristische Aderung, mögen sie blob durch sympa- thische Färbung geschützt sein, oder eine immune Euploea, oder eine Danais, eine Acraea oder eine Tenaris nachahmen. So verschieden auch der Flügelschnitt dabei werden kann. der Aderverlauf ändert sich nicht, % S8 Färbungen der Tiere. und wir können also allein daran schon Vorbild und Nachbild unter- scheiden, so dab auch bei der größten Ähnlichkeit ein Zweifel nicht möglich ist. In theoretischer Beziehung ist aber offenbar dieses Un- verändertbleiben der Aderung bedeutsam, denn, wie nichts an einem Organismus unveränderbar ist, so hätten auch die Flügeladern sehr wohl abgeändert werden können, wie sie ja tatsächlich von Gattung zu Gattung im Laufe der Phylogenese verändert worden sind; da sie aber von keinem noch so scharfsichtigen Verfolger der Schmetterlinge be- achtet werden, so lag in diesen Fällen kein Grund für ihre Abände- rung vor. In dieser Beziehung hat POULTON interessante Tatsachen beige- bracht, indem er zeigte, dab derselbe Effekt bei den Nachahmern eines Vorbildes aus verschiedenen Gattungen oft auf ganz verschie- dene Weise erreicht wird. So beruht die glasartige Durchsich- tickeit der Flügel bei den Helikoniden der Gattung Methona auf einer bedeutenden Verkleinerung der Schlüppehen, welche den Flügel sonst auf beiden Seiten dicht wie Dachziegel bedecken und die Färbung hervorrufen. Bei einer anderen ganz ähnlichen glasflüglichen Art, der Danaide Ituna Ilione, wird die Glasähnlichkeit durch Aus- fallen der meisten Schuppen erzielt, und bei einem dritten Nach- ahmer, Castnia Linus var. Heliconoides, sind die Schuppen weder in Größe noch in Zahl verändert, sondern nur völlig pig- mentlos und durchsichtig geworden. Bei einem vierten Nach- ahmer, der Pieride Dismorphia Crise, haben ebenfalls die Schuppen an Zahl nieht abgenommen, sind aber ganz klein geworden, und bei einem fünften, dem Nachtfalter Hyelosia heliconoides Swains., ist es wieder ähnlich wie bei Castnia, doch sind hier die Schuppen zugleich auch spärlicher an Zahl. Also bei jedem der Nachbilder sind die tatsächlich eingetretenen Veränderungen der Beschuppung ganz verschiedene, alle aber bringen denselben Effekt. die Glasartigkeit der Flügel hervor, auf der eben die Ähnlichkeit mit dem immunen Vorbild beruht; also nicht Gleichheit der Abänderung liegt vor, sondern nur der Schein von Gleichheit im äußeren Habitus. Solchen Tatsachen gegenüber kann von dem öfters gehörten Ein- wurf, die Ähnlichkeit von Vor- und Nachbild beruhe auf der Gleichheit der äußeren Einflüsse der unter gleichem Himmelsstrich lebenden Arten, überhaupt nicht mehr die Rede sein, auch wenn derselbe nicht schon durch die so häufige Beschränkung der Mimiery auf das Weibchen beseitigt würde. Daß aber gar Mimiery auf Zufall be- ruhe, wird schon allein dadurch widerlegt, dab Vor- und Nachbild stets auf demselben Wohngebiet leben, ja dab die Lokalvarietäten des Vor- bildes von dem Nachbild mitgemacht werden. Einen interessanten Be- leg dafür bildet die schon obenerwähnte Elymnias undularis, deren Weibchen (Taf. II, Fig. 23) die braungelbe Danais Plexippus (Fig. 22) kopiert, aber nieht überall, wo Undularis vorkommt, sondern nur in Ceylon und Vorderindien. In Birma, wo eine andere Danais, die var. Hegesippus gemein ist, kopiert es diese, und in Malakka kopiert es gar keine Danais, sondern gleicht seinem eigenen Männchen, welches in Indien so verschieden von ihm ist, da es eine der blau schillernden Euploeen nachahmt (Taf. III, Fig. 24). Da kann wohl von „Zufall“ keine Rede mehr sein und es bliebe nur der Verzicht auf eine naturwissenschaft- liche Erklärung übrige, falls man Naturzüchtung nicht annehmen wollte. Aber selbst das Eingreifen einer zwecktätigen Kraft wird ernstlich selbst MESSE —— En m a m — I —— Mimiery. Sy für solche nicht in Betracht kommen können. die sonst dazu geneigt wären, weil dann die stufenweise Annäherung an das Vorbild. die für einen Entwicklungsprozeß selbstverständlich ist, der wohlwollenden In- telligenz eines Schöpfers gegenüber nur als ein unwürdiger Kniff er- scheinen könnte, (darauf angelegt, die nach Erkenntnis strebende Mensch- heit irre zu führen. Denn gerade die allmähliche Steigerung der Ähn- lichkeit, wie sie beim Vergleich mehrerer mimetischer Arten hervortritt, die stufenweise Ubertragunge vom Weibehen auf das Männchen und so vieles andere deuten eben doch auf gesetzmäßiges Wirken von Natur- kräften hin, und wenn es irgendwo in der lebenden Natur einen kom- plizierten Selbstregulierungsprozeb gibt, dann liegt er wahrlich gerade hier so klar und einwurfsfrei vor. wie kaum irgendwo anders. Damit soll nicht gesagt sein, daß wir ihn im einzelnen zahlenmäßig nachrechnen könnten. wie wohl von fanatischen Gresnern der Selektionstheorie bean- sprucht worden ist. Eine direkte Kontrolle der Naturzüchtung ist — wie früher schon gezeigt wurde — nirgends möglich: wir können niemals erfahren, wie eroß der Nutzen ist. den eine schutz- bedürftige Art aus einer kleinen Steigerung ihrer Ähnlichkeit mit einem immunen Vorbild etwa zieht, ja ich wüßte nicht einmal, wie wir dazu gelangen sollten, auch nur bestimmt nachzuweisen, daß eine bestimmte Art eines stärkeren Schutzes bedarf, als sie ihn bisher hatte, um sich auf die Dauer zu erhalten. Dazu müßten wir die Gesamtzahl der In- dividuen kennen, die auf dem Wohngebiet der Art leben, und zwar für viele Generationen. Zeigte sich dann eine stete Abnahme der Indivi- duenzahl, so dürften wir schließen, daß die Art nicht hinreichend er- haltungsfähig ist, daß sie also eines stärkeren Schutzes bedarf. Es ist für uns unmöglich, solche exakte Daten für irgend eine im Naturzustand befindliche Art beizubringen, wenn wir auch manchmal schätzungs- weise sagen können, daß eine Art stetig abnimmt. Das sind dann aber meist Fälle. welche direkt oder indirekt durch das Eingreifen des Menschen in die Natur hervorgerufen worden sind und in welchen (die Abnahme einer Art so rapid vor sich geht, daß für die langsame (re- genwirkung der Naturzüchtung keine Zeit bleibt. Wir werden später sehen, daß auf diese Weise manche Arten noch in historischer Zeit ausgerottet worden sind. Wenn ich übrigens eben von einer „Schutzbedürftigkeit“ gesprochen habe, so muß ich dazu noch einiges bemerken. Es ist ein Irrtum, zu glauben, jede „seltene“, d. h. in geringer Individuenzahl vorhandene Art sei schon eine im Verschwinden begriffene. Nicht die absolute Zahl der Individuen bedingt ihre Beständigkeit, sondern das Gleich- bleiben dieser Zahl. Ebenso irrie ist es, wenn man eine Verbesse- rung der Existenzlage einer Art durch Naturzüchtung nur dann für möglich hält, wenn dieselbe in ihrem Bestand schon bedroht ist, wenn also ihre Individuenzahl (ihre „Normalzitfer“) in stetiger Abnahme be griffen ist. Aus dem Wesen der Naturzüchtung folgt vielmehr, dab jede günstige Variation, die vorkommt, sieh auch erhält ceteris paribus — und zum Gemeingut der Art wird, ganz unabhängig davon, ob diese die Verbesserung zu ihrer Erhaltung absolut nötig hat oder nicht. Im letzteren Fall wird sie einfach aus einer seltenen zu einer häufigeren Art werden und jede Art strebt gewissermaßen danach, eine gemeine und auch eine weitverbreitete Art zu werden, indem sie jede vorteil- hafte Abänderung, die ihr hervorzubringen möglieh ist, steigert und zum allgemeinen Artbesitz erhebt. Das hat aber seine Grenzen nieht 90 Färbungen der Tiere. nur in der Natur und dem Bau jeder Art, sondern auch in den äuße- ren Lebensbedingungen. Wenn eine Schmetterlingsart als Raupe auf eine einzige, seltene Pflanzenart angewiesen ist, so wird ihre Normal- zitfer eine kleine sein und bleiben. Wenn sich aber nun unter ihr eine Variation des Nahrungstriebes einstellt, welche Geschmack an einer zweiten, vielleicht zugleich häufigeren Pflanze findet, so wird die Normal- zifter der Art steigen und allmählich vielleicht mehr als das Doppelte der ursprünglichen Individuenzahl betragen. Dabei ist die Annahme durchaus nicht nötig, daß die Art vorher im Abwärtssinken begriffen war; ihre Normalziffer kann vielmehr ganz konstant sich gleichge- blieben sein. So ist auch bei den mimetischen Schmetterlingen durchaus nicht die Annahme geboten, daß sie alle vorher schutzbedürftig in dem Sinn gewesen seien, daß sie dem Untergange verfallen gewesen wären, hätten sie nicht die Ähnlichkeit mit einer immunen Art ange- nommen. Wohl aber darf man aus anderen Gründen schließen, daß sie seltenere Arten gewesen sind, die durch den mimetischen Schutz ihren Individuenbestand steigerten und dadurch denn allerdings auch ihre Artexistenz noch weiterhin befestigten. Bei häufigeren Arten könnte sich die Ähnlichkeit mit der durch Widriekeit immunen Art nicht aus- bildet haben, weil sie unvorteilhaft gewesen wäre nicht nur für das Vorbild, sondern auch für den Nachahmer selbt; bei weniger individuen- reichen Arten aber mußte eine solche Ähnlichkeit schützend wirken, einerlei ob die Art vor dem Untergang stand oder nicht. Der Selek- tionsprozeß mußte eintreten, einfach weil die mimetischen Indi- viduen häufiger überlebten, als die anderen, und die mimetische Ähnlichkeit mußte sich solange steigern, als die Steigerung noch besseren Schutz mit sich brachte. Es ist deshalb ein ganz falscher Einwurf, wenn man sagte, eine in ihrer Existenz bedrohte Art hätte bei der Langsamkeit der Selektionsprozesse früher absterben müssen, als sie hin- reichenden Schutz durch Nachahmung einer widrigen Art hätte er- langen können. Die Voraussetzung ist falsch, die sehr weitverbreitete, unklare Vorstellung, daß Selektionsprozesse nur da einsetzen könnten, wo Existenzbedrohung der Art vorliegt. Gerade umgekehrt wird jede Artjede Möglichkeit einer Verbesserung auch tatsächlich ein- gehen: möglich aber ist jede Verbesserung, zu der die erforderlichen Variationen sich darbieten. Die Steigerung dieser Variation stellt sich mit dem häufigeren Überleben des Besserangepaßten von selbst als eine Notwendigkeit ein, und dieses „häufiger Überleben“ wird nicht nur ein relatives sein, darin bestehend, daß die Besserangepaßten weniger dezimiert werden. sondern auch ein absolutes, derart nämlich, daß mehr Individuen der Art überleben als vorher. Papilio Merope mag als Beispiel dienen: er fliegt auf Madagaskar noch allein in einer leichten Variation der Urform, var. Meriones. Hier also hält sich die Art ohne Hülfe mimetischen Schutzes. Wir wissen nicht, ob der (rund davon im Mangel eines immunen Vorbildes oder im Nichtauf- treten passender mimetischer Varianten oder in anderen Verhältnissen liest; genug, die Art hält sieh ihren Feinden gegenüber auch ohne Mimiery. Wenn nun in Abessinien einige Weibchen des Falters Varia- tionen annahmen, welche sie dem widrig schmeekenden Danais Chry- sippus in irgend einem Grade ähnlich machten, so wird diese Variation weniger stark dezimiert worden sein, als die Urform des Weibchens, sie wird also Bestand gewonnen und allmählich sowohl in ihrer mime- u ne una ar wen ji en ne a pr an Mimiery. 9] tischen Ähnlichkeit gesteigert, als auch in ihrer Individuenzahl vermehrt worden sein. Ist dies nun aber ein Grund für die Abnahme der Ur- form der Weibchen? An und für sich gewiß nicht: die roten. mime- tischen Weibchen könnten an Zahl zunehmen, ohne daß dadurch die Zahl der gelblichen abzunehmen brauchte, denn die roten befehden die gelblichen in keiner Weise, und man darf sich doch nicht vorstellen, daß die Zahl der Individuen für jede Art derart fixiert wäre, dab sie niemals steigen könnte. Im Gegenteil muß dieselbe steigen, sobald die Existenzbedingungen sich dauernd verbessern, und das geschieht in diesem Fall durch den mimetischen Schutz der roten Weibchen. So verstehen wir also ganz wohl, wieso mimetische und nichtmimetische Weibchen in Abessinien nebeneinander leben können. Nun gibt es aber im ganzen übrigen Afrika nur mimetische Weibchen von Papilio Merope, keine männchenfarbigen: (diese letzteren sind also durch die mimetischen verdrängt worden, nicht aktiv, sondern dadurch, daß die letzteren häufiger überlebten, daß die ersteren also allmählich seltener wurden und schließlich ausstarben, d. h. nieht mehr auftraten. Die Sache ist nicht so einfach als sie scheint, und wir werden am besten an den Dimorphismus der früher besprochenen Raupen unserer Schwärmer denken, bei welchen die grüne Form im erwachsenen Zu- stand der Raupe weniger gut geschützt ist als die braune. Bei (liesen hat bei manchen Arten die braune Form die grüne bereits ganz ver- drängt, bei anderen tritt die grüne noch neben der braunen auf, aber seltener, bei manchen sogar nur ganz selten. Das wird als die einfache Folge des Umstandes zu betrachten sein. daß ein höherer Prozentsatz der grünen Raupen den Feinden zum Opfer fällt als der braunen, wo- durch die grüne Form im Laufe der Generationen an Zahl langsam aber stetig abnehmen muß. Dies wird sich auch dann so verhalten, wenn die neuere und bessere Anpassung den Individuenbestand der Art (die „Normalziffer“) hinauftreibt, denn diese Steigerung wird immer eine begrenzte sein müssen, selbst wenn sie eine sehr große wäre, was in diesem Falle schwerlich zutrifft. Die Normalziffer wird eben nicht bloß durch die Sterblichkeit eines Stadiums bestimmt, sondern durch die aller Lebensstufen zusammengenommen. So bleibt also stets eine Normalziffer bestehen, trotz der Besserstellung der Art, und unter dieser Voraussetzung kann sich die minder günstig gestellte Form nicht auf die Dauer der besser gestellten gegenüber halten, sie muß vielmehr allmählich verschwinden. So verstehen wir, daß die Urform der Meropeweibchen sich längere Zeit hindurch auf einzelnen Wohgebieten noch neben den mimetischen Formen halten konnte. Es ist wohl kein Zufall, daß dies gerade in Abessinien der Fall ist, auf welchem Gebiet die mimetischen Weibehen noch geschwänzt, also noch nicht zur höchsten Stufe der Ähnlichkeit mit ihren immunen Vorbildern emporgestiegen sind. Im ganzen übrigen Afrika hat der Prozeß der Weibehenumbildung bereits seinen Höhepunkt erreicht, und sowohl an der West- und Ostküste, als auch im südlichen Afrika ist die Urform der Art nur noch als Männchen vorhanden. Das allmähliche Aussterben der minder gut situierten Form einer Art ist ein Gesetz, das sich mit logischer Notwendigkeit aus dem Wesen des Selektionsvorganges ergibt, dessen Walten sieh aber auch aus den Erscheinungen selbst ablesen läßt. Auf ihm beruht soweit es sich wenigstens um Anpassungen handelt die Umwandlung der Arten. 42 Färbungen der Tiere. Ein schönes Beispiel für die Verdrängung der schlechter gestellten Form einer Art durch eine besser gestellte bietet ein Schmetterling Nordamerikas, dessen doppelte Weichenform man schon lange kennt, ohne dal man den Grund dieses Dimorphismus eimsah. Papilio Turnus, ein gelber, unserem Schwalbenschwanz ähnlicher Falter, hat im Norden und Osten der Vereinigten Staaten gelbe Weibchen. im Süden und Westen aber schwarze. » Man riet hin und her, was die Ursache dieser auffallen- den Erscheinung sein könne, glaubte zunächst in diesem Farbenunter- schied eine direkte Wirkung des Klimas zu sehen, faßte später (die schwarze Weibchenform als eine Schutzfärbung gegen die — wie man vermutete — im Süden stärkere Verfolgung durch Vögel auf, in dem Sinn, daß die Weibchen durch ihre dunkle Färbung schwerer erkenn- bar. also besser geschützt würden. Befriedigen konnte aber auch diese letztere Erklärung kaum, da ein schwarzer Schmetterling im Flug von den scharfsichtigen Vögeln leicht gesehen wird, ja auf hellem Hinter- erund sogar besser als ein heller. Erst seitdem man genauere Kenntnis von den immunen Papilio- Arten erhalten hat. ist dieser Fall klar geworden. Auf jenen Länder- strecken nämlich, auf welchen die schwarzen Weibchen von Papilio Turnus vorkommen, lebt ein anderer, in beiden Geschlechtern schwarzer Papilio. Papilio philenor, und dieser gehört zu den durch widrigen Geruch und Geschmack geschützten Papilionen. Wir haben also hier einen Fall von Mimiery: das Weibchen von Papilio Turnus ahmt den immunen Papilio philenor nach und gewinnt dadurch Schutz: da aber das immune Vorbild nur in der südlichen Hälfte des Verbreitungsgebietes von Papilio Turnus zu Hause ist, so hat sich eine ziemlich scharfe Scheidung der beiden Weibchenformen herausgebildet; die schwarze, mimetische hat als die besser angepaßte auf dem Wohn- gebiet von Papilio philenor die gelbe Urform vollständig verdrängt, während darüber hinaus nach Norden und Westen die gelbe Urform allein vorkommt. Nur auf einem schmalen Grenzbezirk fliegen nach den ausgedehnten und genauen Angaben von EDWARDS beide Formen. So sehen wir, wie die Tatsachen überall, wo wir scharf zusehen, mit der Theorie stimmen. (Grewiß reichen wir mit der Selektionstheorie nur bis in eine gewisse Tiefe der Erscheinungen hinab und sind von dem letzten Grund derselben noch weit entfernt, ja unser Verständnis mub einstweilen schon vor den Ursachen der Variation und ihrer Steige- rung Halt machen, aber bis dahin gibt sie uns Klarheit und ent- hüllt den kausalen Zusammenhang der Erscheinungen in schönster Weise. Wenn wir auch noch nicht verstehen, wieso die südlichen Weibchen von Papilio turnus das vorteilhafte Schwarz her- vorbringen konnten, so sehen wir doch, warum sich eine schwarze Variation, wenn sie überhaupt auftrat, vermehren, verstärken und auf dem Fluggebiet des immunen Vorbildes die gelbe Form verdrängen mußte, wie wir denn überhaupt «die ganzen verwickelten Erscheinungen der Mimiery in ihren nächsten Ursachen verstehen lernen. Das gilt auch für solche Erscheinungen, die an der Aufrichtung der Theorie keinen Teil gehabt haben, da man erst viel später auf sie aufmerksam wurde, ja für solche, die auf den ersten Blick der Theorie zu widersprechen scheinen. Dahin gehört z. B. die Erscheinung, dab nicht selten immune Arten sıch gegenseitig nachahmen, wie dies zuerst bei den helikonidenähnlichen Schmetterlingen Südamerikas be- merkt wurde. In vier verschiedenen Familien: den Danaiden, Neotro- Mimiery. 05 piden, Helikoniden und Akräiden gibt es Arten, die, auf demselben Wohngebiet verbreitet, sich in der auffallenden Färbung und Zeichnung, wie auch in dem eigentümlichen Flügelschnitt gleichen. Nach dem Vor- hergehenden würde man geneigt sein, eine dieser Arten als das unge- nießbare Vorbild. die anderen als die wohlschmeekenden Nachahmer zu betrachten. allein sie sind alle widrieschmeekend und werden von Vögeln nicht gefressen. Den scheinbaren Widerspruch hat FrıTz MÜLLER *) gelöst, indem er nachwies, daß der Abscheu vor ungeniebbaren Faltern den Vögeln nicht angeboren ist. sondern erworben werden muß. ‚Jeder junge Vogel lernt erst durch Erfahrung, welches Beutestück schlecht und welches gut schmeckt. Wenn nun jede widrige Art ihre besondere, von den anderen ganz verschiedene Farbentracht hätte, so müßte von jeder eine ziemliche Menge von Individuen jeder Generation von jungen Vögeln als Probeobjekte geoptert werden, denn ein einmal angehackter oder mit dem Schnabel gequetschter Schmetter- ling ist dem Tode verfallen. Wenn aber an demselben Wohnplatz zwei widrige Arten leben, die sich gleichen, so werden sie von den Vögeln als ein und dieselbe genommen werden, und wenn fünf oder mehr widrige Arten sich gleichen, so werden alle fünf zusammen für den Vogel nur ein und dieselbe Erscheinung bilden, und die Erfahrung der Ungenießbarkeit, die er an der einen von ihnen macht, wird er an den vier anderen nicht erst zu wiederholen brauchen. So wird also die Summe der fünf Arten zusammen nicht stärker durch junge Vögel dezimiert werden, als jede von ihnen dezimiert würde, stände sie allein; dieselbe Zahl der zur Orientierung der jungen Vögel alljährlich nötigen Probeopfer verteilt sich nun, wo alle fünf Arten gleich aussehen, auf diesen ganzen „Mimiery-Ring“, wie man sagen könnte. Der Vorteil der Ähnlichkeit liegt auf der Hand und man versteht, warum sich zwi- schen solehen widrigen Arten ein Züchtungsprozeß entwickeln konnte, der darauf abzielte, sie möglichst leicht miteinander verwechselbar zu machen: man versteht, warum in der Umgebung von Frırz MÜLLERS Wohnort Blumenau in der Provinz Santa Catarina in Südbrasilien die Danaide: Lycorea sp.. die Helikoniden: Helieonius Euerate und Eueides Isabella, ferner die Neotropinen: Mechanitis Lysimnia und Melinaea sp. alle die- selben Farben Braun, Schwarz, Gelb in ähnlichem Muster auf ähnlich geformten Flügeln darbieten. Die Übereinstimmung ist im einzelnen durchaus nicht vollkommen, aber sie findet sich auf allen Wohngebieten Südamerikas, auf welchen Arten dieser Gattungen zu- sammenleben. und zwar derart, daß dieselben Unterschiede, welche z. B. die zwei auf verschiedenen Gebieten fliegenden Heliconius-Arten unterscheiden, auch bei den beiden Fueides-Arten und den beiden Mechanitis-Arten obwalten. So finden wir in Honduras dieselbe sich gegenseitig schützende Gesellschaft widrigschmeekender Gattungen wieder wie in Santa Catarina, aber in anderen Arten, die alle in denselben Charakteren von den Arten in Santa Catarina abweichen, z. B. darin, daß sie auf den Vorderflügeln zwei statt bloß eines hellgelben (@Quer- bandes besitzen. Es sind: die Arten: Lycorea atergatis, Heliconius Tel- chinia, Eueides Dynastes, Mechanitis Doryssus und Melinaea imitata ""). In der Umgebung von Bahia besteht «dieser Mimiery-Ring aus den *) Kosmos V., 1881, 8. 260 u. f. **) Nach Povr,roxs Bericht in „Nature“ vom 6. Juli 1890 über „SYKES, Natural Seleetion in the Lepidoptera“ Transact. Manchester Mieroscop. Soe, 18, p 94 Färbungen der Tiere. Arten: Heliconius Eucrate, Lycorea halia, Mechanitis Lysimnia und Me- linaea Ethra, wie sie auf Taf. II, Fig. 12—15 abgebildet sind, und eine solche auf Gegenseitigkeit gegründete Versicherungsgesellsehaft hat dann auch stets noch eine oder die andere genießbare Art bei sich, die sie nachahmt. Je größer die mimetische Assekurranzgesellschaft ist, um so weniger können ihr solche Nachahmer schaden. In unserem Falle sind es zwei uns bereits bekannte Pieriden, die ziemlich gut die Helikonidentracht angelegt haben: Dismorphia Astynome (Fig. 18 u. 19) und Perhybris Pyrrha (Fig. 16 u. 17). Bei letzterer hat das Männchen auf der Oberseite noch ganz das Aussehen eines unserer gewöhnlichen Weißlinge, während das Weibchen ganz helikonidenartig gefärbt ist, ohne aber den Flügelschnitt des Weiblings verändert zu haben. Je srößer aber die mimetische Gesellschaft widriger Arten, ist, um so stärker wird auch der Schutz sein müssen, den sie ihren wohlschmeckenden Nachahmern gewähren, um so seltener werden diese probeweise ange- eriffen werden. Es leuchtet überhaupt ein, daß bei dieser Art der Mimicry, also bei Nachahmung widriger, verschmähter Arten der Schutz im allgemeinen voraussetzt, daß die genießbaren Nachahmer bedeutend in der Minderzahl sind, wie schon Darwın darlegte: andernfalls würden die Feinde bald herausbekommen, dab unter den scheinbaren Ungenieb- baren sich auch Wohlschmeckende befinden. Auch darin stimmen die Tatsachen mit der Theorie, obgleich Ausnahmen «davon denkbar sind und auch vorzukommen scheinen. Dies gilt nicht bloß für die Nachahmer der Helikoniden und ihrer eroßen Widrigkeitsringe, sondern sehr allgemein. So gibt es zwar eine teihe wohlschmeckender Nachahmer der schönen blauen Euploeen der indisch-malaiischen Region (Taf. III, Fig. 25 und 27), aber jeder dieser Nachahmer ist selten gegenüber den Scharen der blauen Widrigkeits- senossenschaft, denn auch diese immunen Schmetterlinge kommen in vielen Arten vor, alle ähnlich der Euploea Midamus oder binotata (Taf. II, Fig. 1 und 3), und ganz ebenso verhält es sich mit den Nach- ahmern der indomalai’schen Danaiden. Es gibt eine ganze Anzahl ver- schiedener Danais-Arten, die alle der Danais vulgaris (Taf. III, Fig. 29) ähnlich sehen, die also da, wo sie zusammen vorkommen, einen Widrig- keitsring bilden, und dieser wird nun von einer ganzen Reihe wohl- schmeekender Arten nachgeahmt, von denen jede einzelne nur selten ist. So gibt es nicht weniger als sechs Arten von Papilio, die solchen Danaiden zum Verwechseln ähnlich sehen, und ein anderer seltener Papilio kopiert sehr gut den für diese Gattung ungewöhnlichen Schiller der blauen Euploeen und hat deshalb den Namen Papilio paradoxus erhalten. Aber auch bei einzeln stehenden Arten durch Widrigkeit immuner Falter eilt die große Häufigkeit ihrer Individuen. So ist die über ganz Afrika verbreitete Danais Chrysippus ein überall dort — wo sie über- haupt leben kann — gemeiner Schmetterling, und in Nordamerika, welches Land nur zwei Danais-Arten in weiter Verbreitung besitzt, kommen diese oft in ungeheuerer Individuenzahl vor. Die schöne große Danais Erippus Cramer (Taf. I, Fig. 8) ist über fast ganz Amerika verbreitet und findet sich an vielen Orten nicht nur häufig. sondern meist in Massen vor. Schon für gewöhnlich erfüllt dieser Falter die weiten offenen Flächen der westlichen Prärien der Vereinigten Staaten, wenn aber heftige Winde, die besonders im September dort wehen, die Tiere in den kleinen Waldtlecken der Prärie zusammentreiben, dann Mimiery. 95 bedecken sie in unglaublicher Menge die Bäume, oft so dicht, daß das Laub derselben ganz zugedeckt wird und die Bäume braun statt grün aussehen. Millionen von Faltern bilden solche Schwärme, die an vielen Orten der Vereinigten Staaten, auch ganz im Osten, bei New Jersey und anderswo beobachtet sind. Diesem massenhaften Auftreten der immunen Art gegenüber kann es nicht überraschen, daß ihr wohlschmeckendes Nachbild, Limenitis Archippus (Taf. I, Fig. 9) auch weitverbreitet ist in Nordamerika und an manchen Stellen nicht selten, sondern sogar reichlich vorkommt. Die enorme Überzahl von Danais Erippus wird den so ähnlichen Falter, auch wenn er nicht selten ist, doch vor Angriffen beschützen. ‚Jeder Zweifel, daß hier Mimiery vorliegt, schwindet jedenfalls vor der Tat- sache, daß in Florida die zweite ganz ähnliche, nur viel dunkler braune Danais Nordamerikas fliegt, und daß diese dort von einer genau ebenso dunkeln Abart des Limenitis Archippus (L. Eros) begleitet wird. Daß aber die Voraussetzung des Selektionsprozesses, den wir bei Mimiery annehmen, richtig ist, ich meine die Annahme, daß die Ver- kleidung der schutzsuchenden Art wirklich den Feind täuscht, daß sie also tatsächlich Schutz gewährt, dafür brauche ich nur das Zeugnis der so scharfsichtigen und beobachtungsgeübten Entomologen anzuführen, die dadurch selbst getäuscht wurden. So erzählt SEITZ, dem wir so manche wertvolle biologische Notizen über Schmetterlinge verdanken, daß er beim Sammeln in der Umgebung der Stadt Bahia von Scharen der unserem Zitronenfalter ähnlichen Catopsilien, besonders der gemeinen Catopsilia argante umschwärmt wurde, die er aber igno- rierte, da er bereits früher „sich satt an ihnen gefangen hatte“. Nur als er ein Pärchen in Copula über sich dahin schweben sah, holte er es sich mit dem Netz herab. Aber zu seiner größten Überraschung hatte er nicht ein Catopsilienpaar gefangen, sondern einen Schmetter- ling aus der Familie der Nymphaliden, eine jener über Südamerika in zahlreichen Arten verbreiteten, auf der Oberseite dunkeln oder prächtig bunten, auf der Unterseite aber blattähnlich gefärbten Anaeen, von denen eine Art den Namen Anaea opalina führt, weil sie ganz hell und blaß und von opalartigem Glanze ist. Dieser Art war das gefangene Tier nahe verwandt. SEITZ war durch die Täuschung so überrascht, dab ihm das Männchen, das sich rasch vom Weibchen losgemacht hatte, „entwischte“, und er sah nur noch, „daß es beim Davoneilen ganz «dunkle Flügel entfaltete, die allerdings mit dem Zitronenfalter argante recht wenig Ähnlichkeit hatten“. In der Hoffnung, noch mehr von dieser seltenen Beute zu erhalten, jagte er dann nur noch Catopsilia argante, aber olıne den gewünschten Erfolg .... er fing keine Anaea mehr, ein Zeichen, daß auch in diesem Falle die mimetische Art die viel seltenere war *). So sehen wir, daß «das Schutzbedürfnis bei «den Schmetterlingen einen großen Einfluß auf ihre äußere Erscheinung, besonders ihre Färbung *, Es soll mit der Anführung dieser Serrzschen Beobachtung nicht gesagt sein, dal es sich zwischen Anaeca opalina oder der ihr ähnlichen Art von Bahia und der Catopsilia um wirkliche Mimiery handelt, obwohl ich dies für sehr wahrscheinlich halte wegen des starken Dimorphismus zwischen Männchen und Weibehen in Ver- bindung mit der in der Tat auffallenden Ähnlichkeit des Weibehens mit der Catopsilia Es sollte nur an einem Beispiel gezeigt werden, wie täuschend solche Ahnlichkeiten wirken. Zu voller Sicherheit, daß es sich hier um Mimiery handelt, würde noch gehören, daß die Catopsilia als immun nachgewiesen würde, worüber bis jetzt wohl nichts bekannt ist. STE Färbunsen der Tiere. und Zeiehnung hat. Einmal dadurch. daß die beim ruhenden Tier sicht- baren Flächen häufig sympathisch gefärbt sind. dann aber auch dadurch, dab es zahlreiche Arten, ja ganze Familien gibt, welche widrige, viel- leicht auch geradezu giftige Säfte enthalten und nun einem doppelten Züchtungsprozeß unterlagen. der einmal auf Steigerung der Widrigkeit, zugleich aber auch auf Herstellung einer möglichst auffallenden Tracht gerichtet war. So färbten sich alle Flächen dieser Schmetterlinge bunt, oft — wie bei vielen der bei Tage fliegenden tropischen Nachtfalter, den Agaristiden. Euschemiden und Glaucopiden — mit einer geradezu schreienden Farbenpracht. Wir verstehen dadurch die auffallenden oder doch wenigstens leicht kenntlichen Farbenmuster der Helikoniden, Eu- plöen, Danaiden und Akräiden. Schließlich wirken diese Widrigen wieder auf manche genießbare Arten, indem diese sich einer immunen Art ähnlich zu machen streben, und wie bedeutend hier die Verände- rungen und Umfärbungen sein können, das zeigen z. B. die Weißlinge der Gattung Perhybris (Taf. II, Fig. 16 und 17) und Archonias, bei denen die Männchen ganz oder teilweise noch die ursprüngliche Weib- linestracht beibehalten haben, ja bei welchen neben gänzlich mimetischen Arten solehe vorkommen, die in beiden Geschlechtern die Tracht des Weißlings unverändert aufzeigen. Solche Fälle sprechen durchaus gegen die öfters geäußerte Ansicht, es müßten mimetische Falter schon von vornherein eine größere Ähnlichkeit mit dem Vorbild gehabt haben, sie beweisen vielmehr, daß sehr starke Abweichungen in Gestalt und besonders in der Färbung erst durch das Bedürfnis der mime- tischen Anpassung hervorgerufen wurden; allerdings nur langsam und schrittweise, wie die Abstufungen in der Ähnlichkeit mit dem Vor- bild bei den verschiedenen Arten derselben Gattungen zeigen. Die Schmetterlinge sind nun aber keineswegs die einzigen Insekten, welche die Erscheinung der Mimiery darbieten und auch die Insekten nicht die einzige Tiergruppe. bei welcher sie vorkommt; auch ist es nicht bloß widriger Geschmack oder (Geruch, der vor Verfolgung schützt, sondern mancherlei andere Eigenschaften, bei den Insekten z. B. die Härte ihres Chıtinpanzers. Eins der schönsten derartigen Beispiele von Nachahmung entdeckte (GERSTÄCKER, und zwar nicht in der freien Natur, sondern in der ento- mologischen Sammlung von Berlin. Er fand nämlich dort neben einem grünen metallischelänzenden Rüsselkäfer, einem Pachyrhynchiden von den Philippinen, zwei Tiere eingesteckt, die denselben Metallglanz und eine sehr ähnliche Körperform hatten. Man hatte sie als Dubletten neben (die Rüsselkäfer gesteckt; genauere Musterung derselben ergab aber, daß es weiche Grillen waren, die jene harten Käfer so täuschend nachahmten, daß auch das geübte Auge des Entomologen dadurch irre- geführt worden war. Später stellte sich heraus, daß diese Grille mit dem Rüsselkäfer zusammen auf den Philippinen, und zwar auf denselben Blättern lebt und daß ersterer durch außerordentliche Härte seines Hautpanzers vor den Angriffen vieler Vögel und anderer Feinde ge- schützt ist. Der Fall ist deshalb besonders merkwürdig, weil die Grillen sonst nie Metallelanz besitzen und weil ihre Körpergestalt bedeutend verändert werden mußte, um der des Käfers ähnlich zu werden. Der sonst so dieke Grillenkopf ist hier verkleinert, die sonst platten Flügel- decken sind birnförmig gewölbt und die Beine durchaus käferartig ge- worden. Der Schutz, dessen der Rüsselkäfer genießt, muß ein sehr Mimiery. 97 vollständiger sein, denn derselbe wird noch durch drei andere Käfer- _ arten der Philippinen nachgeahmt. Tiere können aber auch dadurch gegen Angriffe geschützt sein, daß sie gefährliche Waffen besitzen. Dahin gehören unter den Insekten die mit giftigem Stachel ausgerüsteten Arten, die Bienen, Wespen und Ameisen, auch einigermaßen die Schlupfwespen. So können wir uns nicht wundern, daß auch diese gefürchteten Arten Nachahmer finden. Hier kommt es dann weniger darauf an, daß das Nachbild seltener sei als das Vorbid, denn wer überhaupt dem ge- fürchteten Tier ähnlich sieht, wird lieber gemieden werden, da die nähere Untersuchung hier mit Gefahr verbunden ist. So finden wir denn Hornissen, Wespen, Bienen häufig von verschiedenen Insekten nachgeahmt, von Käfern, Fliegen, Schmetterlingen, und diese müssen einigen Nutzen daraus ziehen, auch wenn ihre Ähnlichkeit nur eine ziemlich ungefähre ist. Manche Bockkäfer, die Blumen besuchen, sind schwarz und gelb gebändert, wie eine Wespe, ebenso manche Fliegen, wie Syrphus-Arten usw. Der Bockkäfer, Necydalis major, gleicht in ‚hohem Grade einer großen Schlupfwespe. hat denselben langgestreckten Körper, die Anschwellungen an Femur und Tibia, die gekrümmten Fühler, die glänzende braune Farbe, und seine Flügeldecken sind ganz kurz und lassen die Flügel frei, so daß die Täuschung recht voll- kommen ist. Auch Bienen werden zum Teil so gut nachgeahmt, daß sie nicht nur im Flug, sondern auch im Umhersuchen auf den Blüten nicht leicht von ihren Nachahmern zu unterscheiden sind. Der beste und häufigste Nachahmer unserer Honigbiene ist eine ganz unschuldige Fliege der- selben Größe und Farbe, Eristalis tenax. Häufig sieht man sie auf demselben blühenden Busch, im Herbst z. B. auf dem japanischen Buch- weizen unserer Gärten (Polygonum Sieboldii) in Menge zusammen mit Bienen nach Honig suchen. Ich beobachtete einmal, wie ein Knabe mit dem Netz die Fliegen fing, um sie einzusperren, dabei aber eine Biene in die Finger bekam und heftig gestochen wurde. Sofort stellte er seine Jagd ein und verzichtete auf die Fliegen, einsehend, daß eine Verwechselung hier gefährlich ist. So werden auch die tierischen Feinde der Eristalis sie häufig lieber in Ruhe lassen, als sich der Möglichkeit auszusetzen, gestochen zu werden. Es gibt noch eine andere Beziehung zweier Arten zu einander, «die Mimiery hervorrufen kann: der Parasitismus;: wenn z. B. die sog. Kukuksbienen und Schmarotzerhummeln in Farbe, Behaarung und Ge- stalt täuschend der Art gleichen, in deren Nester sie ihre Eier hinein- schmuggeln, um sie dort auf Kosten der betreffenden Biene oder Hummel aufziehen zu lassen. In ähnlicher Weise gibt es unter den zahlreichen Schmarotzern der Ameisennester einzelne, die die Ameisen selbst kopieren und dadurch Sicherheit vor ihnen erlangen, obgleich sie ihnen ihre Larven und Puppen auffressen. So lebt unter den Scharen der südamerikanischen Treiberameise. Eeiton praedator, ein Raubkäfer aus der Familie der Staphylinen, den man Mimeeiton genannt hat, weil er der Ameise in Gestalt und Oberflächenbeschaffenheit gleicht, wenn auch nicht in der Farbe; das letztere erklärt sich daraus, daß die Ameise der Facettenaugen entbehrt, also nahezu blind ist. jedenfalls keine Farben sieht. Ich könnte nicht aufhören, wollte ich Ihnen die ganze Fülle von Beobachtungen vorführen, die jetzt bereits über Mimiery vorliegt. Noch Weismann, Deszendenztheorie. I. 2. Aufl. i a 98 Färbungen der Tiere. erwähnt sei wenigstens, dab man auch bei Wirbeltieren einzelne Fälle von Mimiery aufgefunden hat. So wird nach WALLACE die rot und schwarz gebänderte giftige Korallenschlange Südamerikas (Elaps) durch eine nicht giftige Schlange (Erythrolampus) derselben Gegenden aufs täuschendste nachgeahmt. Von Vögeln führt WALLACE einige als Mimiery deutbare Fälle auf, von Säugern sind keine bekannt, was nicht wundernehmen kann, wenn man bedenkt, wie außerordentlich viel weniger zahlreich die Arten sind. welche hier auf einem Gebiet bei- sammen wohnen, wieviel geringer also auch die Aussicht, daß zwei Arten in Größe, Lebensweise und Form sich von vornherein so nahe stehen, daß Züchtungsprozesse sie einander bis zur Täuschung ähnlich machen könnten. Ohne Zweifel liegen bei den Insekten die Verhältnisse für Mimiery ganz besonders günstig, sowohl wegen der ungeheueren Anzahl von Arten, welche schon in unseren Breiten, noch viel mehr aber in den Tropen auf einem Gebiet beisammen leben und in Be- ziehungen zu einander stehen, dann wegen der meist hohen Fruchtbar- keit der Insekten und ihrer raschen Fortpflanzung, welche beide Mo- mente günstig für Einleitung und Weiterführung von Selektionsprozessen sind, ferner wegen der Masse ihrer Feinde, die vorwiegend oder auch ausschließlich auf sie als auf ihre Nahrung angewiesen sind und (die sie massenhaft zerstören und (dabei in bezug auf die Güte ihrer Anpassung auswählen, schließlich auch wegen der starken Verletzbarkeit zahlreicher Insekten. Gerade diese macht für sie eine Verkleidung wünschenswert, die sie auch vor dem bloßen ersten Versuch eines Angriffs sichert, welcher ihnen oft schon den Tod bringen müßte. VI. VORTRAG. Schutzvorrichtungen bei Pflanzen. Schutzmittel gegen große Tiere p. 100, Gifte p. 100, ätherische Öle p. 100, Stacheln und Dornen p. 101, Stachel- und Brennhaare p. 102, Filzhaare p. 102, Stellung der Dornen, Kreuzdorn p. 103, Traganthstrauch p. 103, Prigana-Gestrüpp p. 104, Alpen- gestäude p. 104, Schutzmittel gegen kleine Feinde p. 105, chemische Stoffe p. 106, mechanische Schutzmittel p. 106, Raphiden p. 107, Schluß p. 108. Meine Herren! Wir haben gesehen, in wie verschiedenartiger Weise die Tiere sich zu Schutz oder Angriff den Lebensbedingungen anzupassen vermögen, wie sie ihre Färbung der der Umgebung an- nähern, sie ihr gleich machen, wie sie leblose (regenstände oder Pflanzen- teile. Blätter, Zweige kopieren oder gar andere in irgendwelcher Weise geschützte Tiere in Färbung und Gestalt nachahmen. Wenn man be- denkt, daß bei weitem die meisten Arten in irgend einem Grade durch ihre Färbung und oft auch durch ihre Gestalt Schutz finden und dabei sich gegenwärtig hält, wie verschieden diese Färbung oft bei nahe ver- wandten, ja selbst bei ein und derselben Art (Dimorphismus) ist, so er- hält man fast den Eindruck. als seien die Lebensformen aus plastischem Stoff geformt, der sich, wie der Ton des Bildhauers. in beinahe jede beliebige Form kneten lasse. Dieser Eindruck erneuert sich, wenn wir die Pflanzen ins Auge fassen, und die Art und Weise betrachten, wie sie sich gegen die Angriffe der Tiere zu schützen wissen. Daß die Pflanzen soleher Schutzvorrichtungen bedürfen, liegt auf der Hand, da ihre Blätter und sonstigen erünen Teile nahrungsreich sind und da ein unendliches Heer von Tieren, großen und kleinen, allein von diesen leben. Beruht doch die Existenz der Tiere auf der Anwesenheit der Pflanzen; konnten doch Raubtiere und Moderfresser erst entstehen, nachdem Pflanzenfresser schon vorhanden waren. Wenn aber die grünen Teile der Pflanzen schutzlos der Masse der pflanzen- fressenden Tiere preisgegeben wären, so würden sie in nicht langer Zeit vom Erdboden vertilet sein, denn die Tiere würden rücksichtslos weg- fressen, was ihnen erreichbar ist, und da ihre Vermehrung nicht bloß von ihrer Vernichtungszitfer, sondern auch von ihrer Fruchtbarkeit und Vermehrungsschnelligkeit abhängt, so würden sie durch überreichliche Nahrung solange an Zahl zunehmen, bis die ernährende Pflanze selbst vertilgt wäre. Sehen wir nun zu, durch welche Mittel die Pflanzen ein solches Schicksal von sich fern halten. so erstaunen wir über die unendliche Mannigfaltigkeit der angewendeten Einrichtungen. a 100 Schutzmittel der Pflanzen. Denken wir zuerst an die Bedrohung der Pflanzen durch die gröberen Pflanzenfresser vom Elefanten und Rind herab zum Hasen und Reh. so sind viele Pflanzen durch Gifte geschützt, die sie im Saft ihrer Stengel. Blätter. Wurzeln oder Früchte entwickeln. Die saftreiche, schön belaubte Tollkirsche. Atropa Belladonna. wird von Rehen, Hirschen und anderen Pflanzenfressern nicht berührt und ebensowenig der Stech- apfel. Datura Stramonium, das Bilsenkraut, Hyoscyamus niger, der ge- tleckte Schierling, Conium maculatum, der Attich unserer Wälder, Sam- bueus Ebulus, und manche andere: sie alle enthalten ein Gift. Wie die ungenießbaren Schmetterlinge, so sind auch diese ungenießbaren Pflanzen mit einem Widrigkeitszeichen versehen, einem auch dem Menschen wahr- nehmbaren widerlichen Geruch, der die Tiere abschreckt, sie anzurühren, und seine Herleitung aus Naturzüchtung begegnet keiner prinzipiellen Schwierigkeit. Aber es gibt auffallenderweise auch nicht wenige Giftpflanzen, bei welchen wir wenigstens ein solches Widrigkeitszeichen nicht zu be- merken vermögen. Dahin gehört z. B. der blaue Eisenhut, Aconitum, die Nieswurz, Helleborus niger, die Zeitlose, Colchieum autumnale, (rentiana-Arten, Euphorbia-Arten u.s.w. Dennoch werden dieselben von Hirschen, Rehen, Gemsen, Hasen und Murmeltieren nicht berührt und auch unser Rindvieh, Pferde und Schafe lassen sie in der Regel unbe- achtet stehen. Allerdings wird aus dem Ahrtal am Unterrhein ein Fall berichtet, der dem zu widersprechen scheint. An den felsigen Gras- hängen des Tals wächst in großer Zahl die giftige grüne Nieswurz, Helleborus viridis, und die dortigen Schafe, welche an den Hängen weideten, vermieden diese Pflanze. Als aber einmal fremde Schafe dort eingeführt worden waren, fraben diese die Nieswurz und viele starben daran. Sollten nun diese Giftpflanzen doch mit irgend einem für uns nicht wahrnehmbaren Warnungszeichen, etwa einem widrigen Geruch versehen sein, so müßte man annehmen, daß jene fremden Schafe einen weniger feinen (reruchssinn.gehabt hätten, was bei domestizierten Tieren nicht ganz unmöglich erachtet werden kann. Anderenfalls aber müßte nicht der Instinkt, sondern eine bei den dort einheimischen Schafen sich fortpflanzende Tradition von dor Ungenießbarkeit der Nieswurz angenommen werden. Eine naivere Naturforschung als die heutige würde die so wohl- riechenden ätherischen Öle, welche in manchen Pflanzensamen sich bilden, wie in denen des Fenchels, Kümmels und anderer Doldengewächse, für eine dem Menschen zu Nutz und Frommen getroffene Eigentüm- lichkeit gehalten haben: offenbar sind aber diese ätherischen Stoffe Schutz- mittel gegen die Angriffe körnerfressender Vögel, denn ein Sperling, den man nur drei bis vier Samen vom Kümmel hatte fressen lassen, starb nach kurzer Zeit daran. Viele Pflanzen erzeugen Bitterstoffe in ihren grünen Teilen und sind dadurch wenigstens einigermaßen vor Angriffen sichergestellt, so die meisten Moose, die Farne, die Plantago- und Linaria-Arten. Andere wiederum lagern Kieselsäure in den Zellhäuten ab oder entwickeln dazu noch eine sehr dieke Epidermis, so daß sie nur ein unangenehmes Futter abgeben, so viele Gräser, die Schachtelhalme, die Alpenrose und Heidel- beere. Wieder andere Pflanzen (Alchemilla vulgaris) haben becherför- mige Blätter, in denen Tau und Regen sich lange halten, und sind da-- durch gegen weidende Tiere gesichert, die nasses Gras und Kräuter” ungern anrühren. e Dornen und Stacheln. 101 (Ganz besonders verbreitet und mannigfaltig ist aber der Schutz der grünen Pflanzenteile durch stechende Dornen und Stacheln. Es ist höchst interessant, zu sehen, in wie verschiedener und wie zweck- mäßiger Weise diese Waffen angebracht sind. Vor allem tritt hervor, dab sie nur an solchen Teilen sich vor- finden, die ihrer Lage nach angegriffen werden können. So finden sie sich hauptsächlich stark an jungen Pflanzen und an den unteren Teilen der alten. So hat die Stechpalme nur etwa bis zur Höhe, die die weidenden Tiere noch erreichen können, ihre zackigen stachelge- säumten Blätter, oberhalb dieser Zone werden die Blätter glattrandig und dornenlos, ähnlich den Camelliablättern. Fast ebenso ist es mit den wilden Birnbäumen,. die ganz mit Dornen besetzt sind, solange sie noch niedrig sind, später aber eine unbedornte Krone bekommen. Darin liegt es auch, daß Büsche, wenn sie überhaupt mit Dornen bewehrt sind, über und über mit ihnen besetzt sind, wie die Rosenbüsche. Wenn die Blätter einer Pflanze bedornt sind, so riehten sich die Stacheln dahin, woher der Angriff zu erfolgen pflegt, und «daraus ist es zu erklären, daß die enormen, auf dem Wasser schwimmenden Blätter der Vietoria regia an ihrer Unterseite mit langen spitzen Stacheln bewehrt sind, die besonders an dem nach oben ungekrempelten Rand eine Länge von mehreren Zollen erlangen; es sind eben Wassertiere, Schnecken, von denen ihnen Gefahr droht. In der verschiedensten Weise werden nun die Stacheln hergestellt. Bei vielen Büschen der Mittelmeerküsten fehlt das eigentliche Laub ganz, die Äste und Zweige selbst sind die grünen, assimilierenden Teile, und diese sind steif, starr und stellen so selbst eine Art von Dornen vor, die weidelustige Tiere zurückschrecken. Unter unseren Sträuchern ist der Besenginster (Spartium scoparium) ein wenn auch schwaches Beispiel dafür. In anderen Fällen sitzen die Stacheln an den Blättern, aber auch dies wieder in verschiedener Weise. Bei manchen tropischen Pflanzen, wie bei der Yucca und Aloe, ist die Spitze des langen schilfförmigen Blattes in einen Stachel verwandelt, und dasselbe ist der Fall bei man- chen unserer einheimischen Gräser. So erzählt KERNER VON MARILAUN, daß in den südlichen Alpen zwei solcher Gräser, Festuca alpestris und Nardus strieta, stellenweise häufig vorkommen und dann den weidenden Rindern derart lie Nasen zerstechen, daß sie blutend vom Weidegang zurückkommen. Sie hindern also die Ausnutzung solcher Alptriften und werden deshalb von den Menschen nach Möglichkeit ausgerottet. merk- würdigerweise auch vom Vieh selbst. indem die Rinder das Gras an der Basis des Rasens mit den Zähnen erfassen, es ausreißen und dann wieder fallen lassen, so daß es verdorren muß. KERNER salı Tausende durch die Rinder entwurzelte, vertrocknete und von der Sonne ge- bleichte Rasenstücke auf gewissen Alpenweiden des Tiroler Stubaitales umherliegen. Viele Pflanzen verwandeln den ganzen Blattrand in einen Dornen- wall und vergrößern ihn auch noch durch Einbuchtungen und lappıge Vorsprünge, so die Stechpalme und in viel höherem Grade die Disteln, Carduus, Eryngium, Acanthus und viele Solaneen. Oft kommen dazu noch Widerhäkchen am Blattrand. die wie eine Säge wirken, oder der Blattrand ist zwar ohne Dornen, aber durch eingelagerte Kieselsäure scharf, wie bei den Riedgräsern, die im Maul der Wiederkäuer passı\ wandern und dabei die Schleimhaut verletzen. Auch die winzigen, aber r“ 102 Schutzmittel der Pflanzen. mit zahlreichen Widerhäkchen versehenen Angelborsten des Feigen- kaktus (Opuntia) sind zu erwähnen, die sich in ungeheuerer Menge in der Umgebung der Knospen dieser Pflanzen finden und die gegen das Abweiden durch Tiere jedenfalls ein wirksamer Schutz sind (Fig. 19). Dann gehören die dicht wie ein Überzug stechender Nadeln die Ptlanze überziehenden kurzen Stechbörsten der rauhblätterigen Pflanzen hierher, von denen die Natterzunge (Echium vulgare), der Beinwell (Symphytum offieinale) und der Boratsch (Borago offieinalis) genannt sein mögen. Bekannt sind ferner die Brennhaare der Urticeen, lange Haare (Fig. 20) mit elastischer Basis, aber glasartig sprödem Endknöpfchen. welches bei leisester Berührung Fig. 20. abbricht, worauf dann die scharfe 8 Bruchspitze des Haares in die N ‘K Haut des berührenden Wesens \ eindringt und der giftige Inhalt \ des Haares in die Wunde dringt. N Schon unsere große Brennessel (Urtica dioica) kann heftiges Brennen und den nach ihr be- 4.,g Nannten „Nesselausschlag“ auf der Haut des Menschen hervor- bringen. es gibt aber mehrere tropische Nesselarten, Urtica sti- mulatain.Java und andere, welche dem Schlangengift ähnliche Wir- kungen, Starrkrampf usw. hervor- rufen. Neben Ameisensäure ent- halten diese Haare noch ein un- seformtes Ferment, ein sogen. Enzym. Es braucht kaum gesagt zu werden, dab diese Brennhaare in der Mundschleimhaut weiden- der Tiere noch heftiger wirken müssen, als auf der Haut des Menschen und daß sie deshalb Fig.19. Angelborsten von Opuntia Rafinesquii, ein vortrefflieher Sehutz für die vergrößert. Pflanze sind. In der Tat sieht Fig. 20. Durchschnitt durch ein mit zwei man auch unsere Brennessel- Brennhaaren besetztes Blattstück der großen |. e : Brennessel, Urtica dioica, Säfach vergrößert; büsche niemals abgeweidet, und frei nach v. KERNER und HABERLANDT. Selbst der Esel, der doch die Disteln frißt, wendet sich von der Brennessel ab. Aber auch diese, wie wohl alle anderen Schutzmittel, bieten keinen absoluten Schutz. Raupen mehrerer unserer Tagfalter sind gerade auf die Brennessel angewiesen und fressen ihre Blätter mitsamt den Brennhaaren auf: so fünf Eekflügler-Arten: Vanessa ‚Jo. das „Tag-Pfauenauge“, Vanessa urticae, der kleine „Fuchs“, Vanessa Prorsa, dlas „Landkärtehen“, Vanessa C. album. der „ÜC-Falter* und Vanessa Atalanta, der „Admiral“. Sie kennen alle unsere Königskerzen (Verbascum), diese auf steinigem oder Sandboden emporschießenden schönen Blumenähren mit den dieken, weichfilzigen Blättern. So harmlos sie aussehen, so sind sie doch eine den Tieren ganz verhaßte Nahrung, weil der dichte Haar- j } j Brennhaare, Dornen. 103 filz,. der sie überzieht, sich im Maul loslöst und in die Falten der Mund- schleimhaut festsetzt. Brennen und anderes Unbehagen veranlaßt. Auch sie werden daher nicht abgeweidet, wohl aber haben sie kleinere Feinde, Raupen der Gattung Cucullia, die sie aber nie völlig zerstören, sondern nur große Löcher in ihre Blätter fressen. Lassen Sie mich auch noch etwas näher auf die eigentlichen Dornen eingehen, den auffälligsten Schutz vieler Pflanzen. Es ist merkwürdig, wie sie immer gerade so gestellt und in ihrer Länge und Beschaffenheit normiert sind, um die wichtigsten und am meisten bedrohten Teile der Pflanze zu schützen. So starren viele Büsche, die vom Vieh völlig zusammengefressen werden könnten, von Dornen, die nichts anderes sind, als zugespitzte harte Zweige ohne oder mit nur schwacher Be- blätterung. So die Schlehen, der Kreuzdorn _, ale. (Rhamnus), der Sanddorn (Hippophae) und der = 21. Zweigstück des : 3 5 Sauerdorns, Berberis vul- Sauerdorn (Berberis). Bei letzterem entspringen garis, im Frühling, nach je drei Dornen zusammen und verteidigen die KERNER. | junge Knospe nach drei Seiten hin (Fig. 21). Die feinblättrigen Mimosen der Tropen haben ähnliche, aber sehr lange und scharfe Dornen und ihre Blätter sind beweglich und reizbar, so daß sie sich bei Berührung zusammenklappen und hinter den Wall starrender Dornen zurückziehen, die gerade so lang sind, als nötig ist, um sie zu schützen. Bei vielen dornigen Büschen sind nur die jungen Triebe jedes Frühjahrs grün den Sommer durch, im Herbst aber verwandeln sie Fig. 22. Tragantlıstrauch, Astragalus Tragacantha. 4 zwei Frühlingstriebe; 4 eın einzelnes Blatt, von dem die drei obersten Teilblättchen abrefallen sind; © Blatt- spindel, von der bereits alle Teilblättchen abgefallen sind; nach Keryen sich in Dornen, unter deren Schutz sieh im nächsten Frühjahr die fol- genden Triebe entwickeln. Manchmal auch bilden sieh die Blattstiele im Laufe des Sommers in Dornen um, wie beim Traganthstrauch (Astragalus Tragacantha). Hier liegen die jungen Blätter geschützt von 4 104 Schutzmittel der Pflanzen. einem Dornenkreis, der aus den sitzengebliebenen Blattstielen des vorigen Jahres besteht (Fig. 22, 4,.2- u. C). Ich müßte noch lange fortfahren, wollte ich Ihnen auch nur die wesentliehsten Einzelheiten alle vorführen, und so sei nur noch an die bekannte Erscheinung der Kakteen erinnert, bei denen die Blätter ganz in Dornen verwandelt sind, die bis zu acht Zentimeter lang werden können, während die fleischigen Stengel allein die grünen. d. h. assimi- lierenden Teile der Pflanze darstellen. Die Kaktus-Arten wachsen fast als die einzigen Pflanzen auf den steinigen, dürren und heißen Hoch- ebenen von Mexiko und sind durch eine dieke Epidermis vor dem Ver- trocknen geschützt. Aber eine so verlockende Nahrung ihre saftigen Stengel auch bieten, die Tiere wagen sich nicht an sie heran und nur in größter Durstqual versuchen es Pferde und Esel gelegentlich, die Dornen mit dem Huf abzuschlagen und so an das wasserreiche Gewebe zu gelangen. Schon ALEXANDER VON HUMBOLDT erzählt, wie sie dies manchmal damit büßen müssen, daß ihnen einer der spitzen Dornen in den Huf eindringt. ‚Jedenfalls sind die Kakteen vor ihrer Zerstörung durch weidende Tiere ausreichend geschützt. (rewiß muß es auffallen, daß manche Landstriche, besonders dürre, heibe und steinige Strecken so auffallend reich an Dornengewächsen sind, und man hat oft gemeint, es müsse die Hervorbringung von Dornen eine direkte Folge dieser eigenartigen Lebensbedingungen sein, ja man hat den dürren, stachligen Habitus vieler dieser Pflanzen geradezu als einen Schutz gegen die Austrocknung betrachtet. Dem widersprechen aber alle diejenigen Stachelgewächse, welche, wie die Kakteen, gerade ein äußerst saftreiches Gewebe besitzen und bei welchen der Schutz gegen die austrocknende Tropensonne nicht durch die Dornen, sondern durch eine dieke Epidermis bewirkt wird. Eine befriedigende Erklärung gibt nur Naturzüchtung. In solchen heißen und zugleich trockenen (regenden ist der Pflanzenwuchs häufig ein spärlicher, das Futter für die weidenden Tiere also zeitweise wenigstens sehr knapp und aus diesem Grunde wird jede Pflanze, die dort aushalten will, sich mit mög- lichst vollkommenen Schutzmitteln gegen die Angriffe der hungrigen und durstigen Tiere wappnen müssen. Der Kampf ums Dasein gegen- über diesen Feinden ist dort ein viel schärferer als in üppigeren Ge- genden und die Vervollkommnung des Dornenschutzes steigerte sich daher soweit, als immer möglich: Arten, die diesen Schutz nicht hervor- zubringen vermochten, starben aus. Daher die Kakteen Mexikos und die vielen stachligen Büsche und Sträucher der heißen, im Sommer ausgedörrten steinigen Küsten des Mittelmeers in Spanien, Korsika, Afrika und anderen Ländern. Dieses sog. „Prigana-Gestrüpp“ ent- hält eine Menge von Gewächsen, deren nächste Verwandten in unserem Klima nicht stachelig sind, z. B. Genista hispaniea, Onobrychis cornuta, Sonchus cervicornus, Euphorbia spinosa, Stachys spinosa u. S.w. Warum wachsen so wenige Dornengewächse auf den fetten und wasserreichen Alpenweiden? Doch wohl deshalb, weil dort eine reiche, üppige Pflanzendecke vorhanden ist, die durch das Abweiden der Tiere nie ganz zerstört werden kann, so daß die einzelne Art keinen ihre Existenzfähigkeit steigernden Vorteil daraus hätte ziehen können, wenn sie sich Dornen angezüchtet hätte. (rerade an den Alpentriften aber können Sie die Vorteile er- kennen, welche Schutzvorriehtungen irgend einer Art verleihen. Wie massenhaft bedecken die Alpenrosen oft ganze Strecken derselben, weil — Mittel gegen: Schneekenfrab. 105 ihre harten, kieselreichen Blätter nicht abgeweidet werden. zum Verdruß der Sennen, die sie ihrerseits ausrotten, soviel sie können, und noch manche andere vom Vieh verschmähte Pflanze gedeiht und vermehrt sich auf den Weidegängen. wie die widerlich bittere große Gentiana asclepiadea, die übelriechende Aposeris foetida und verschiedene unan- genehm schmeckende Farnkräuter. Am auffallendsten aber vielleicht ist der Vorteil, welchen irgend ein Schutz vor den weidenden Tieren einer Pflanze gewährt, an dem „Gestäude* zu erkennen, welches sich auf allen Alpen in unmittelbarer Umgebung der Sennhütte vorfindet. Dort. wo das Vieh täglich sich versammelt, wo der Boden fortwährend aufs | j reichlichste von ihm gedüngt wird, stehen regelmäßig große, üppig wach- sende Gesellschaften des giftigen Eisenhuts, des bitteren Chenopodium Bonus Henriceus, der Brennessel, der Distel. Cirsium spinosissimum, der widerlich riechenden Melde Atriplex und einiger anderer ungenieß- barer Arten, eben weil sie nicht gefressen werden, während die wohl- schmeckenden Kräuter vom Vieh. bei seinen täglichen Versammlungen um die Hütte herum nach und nach ausgerottet wurden (KERNER'. Fassen wir zusammen, so haben wir gesehen, daß sich eine außer- ordentlich große Mannigfaltigkeit von Schutzvorrichtungen an den Pflanzen vorfindet, die sie vor Vernichtung durch die größeren Pflanzenfresser sichert. Da alle nützlichen Einrichtungen oder wie wir sagen: alle An- passungen durch Selektionsprozesse erklärbar sind. so läßt sich also dieses ganze Heer verschiedenartigster Vorrichtungen auf Naturzüchtung beziehen und wir erhalten hier wie bei den Tieren den Eindruck, als | ob der Organismus gewissermaßen jede für seine Erhaltung nötige Ab- änderung auch wirklich hervorbringen könne. Wörtlich genommen, wird dies nicht richtig sein, jedenfalls aber muß die Zahl der möglichen Anpassungen bei jeder Lebensform eine überaus große sein. so groß, daß schließlich doch jede Art sich in irgend einer Weise und irgend einem Grad schützen kann, sei es, daß sie ein Gift oder eine widrig schmeckende Substanz in sich hervorbringt,. sei es, daß sie sieh mit | Stacheln oder Dornen umgibt. und wenn es auch in gewissem Sinne „Zufall ist, ob eine Pflanze zu diesem oder jenem Schutzmittel gegriffen hat, indem ihre einmal gegebene Konstitution mehr die Hervorbringung der einen, wie der anderen Waffe begünstigte, so wird man doch schon | bei den rein chemischen Schutzmitteln nicht leicht nachweisen können, daß sie in solcher Verbreitung und Konzentration mit Notwendigkeit | aus dem Stoffwechsel der Pflanze hätten hervorgehen müssen, wären | sie nicht nützlich gewesen und folglich durch Selektion gesteigert worden. Bei den mechanischen Schutzmitteln aber versagt «diese Art der Er- | klärung ebensosehr, wie diejenige durch direkte Wirkung der Lebens- bedingungen. Warum die Stechpalme unten stachlige, oben glatte Blätter haben muß, wird sich niemals aus der Konstitution der Art ab- leiten lassen. Wenn nun schon die Schutzmittel der Pflanzen gegen wei- dende größere Tiere stets auf Naturzüchtung hinweisen, so wird doch vielleicht unsere Vorstellung von der Anpassungsfähigkeit der Pflanzen und damit zugleich von der Macht der Naturzüchtung noch erhöht, wenn wir auch diejenigen Einrichtungen ins Auge fassen, welche sich gegen die Vernichtung der Pflanzen durch niedere und kleine Tiere richten. Maıf könnte zwar meinen, daß von solchen kaum Vernichtung drohen könnte, allein wenn man an den Maikäferfraß denkt oder an die a 106 Schutzmittel der Pflanzen. Zerstörung ganzer Wälder durch die Nonnenraupe, oder auch nur an die Vernichtung junger Salatpflanzen in unseren Gärten, wie sie durch Schnecken nicht selten mehrmals hintereinander stattfindet, so werden Sie nicht zweifeln, daß durch Insekten und Schnecken allein alle Pflanzen gänzlich zerstört werden müßten, falls dieselben nicht bis zu einem gewissen Grade gegen sie geschützt wären. Wir verdanken es den schönen Untersuchungen STAHLS, daß wir über die Mittel, durch welche sich die Pflanzen gegen die Bedrohung dureh die gefräßigen und fruchtbaren Schnecken schützen, bis ins einzelne unterrichtet sind. Auch hier kommen sowohl chemische als mechanische Schutzmittel in Anwendung. Die geringen Mengen von Gerbsäure, welche in den Blättern des Klees enthalten sind, halten viele Schnecken ab, sie zu fressen, so z. B. die Gartenschnecke, Helix hortensis. Werden die Blätter ausgelaugt und der Gerbstoff «dadurch entfernt, so nimmt sie die Schnecke als Nahrung bereitwilligst an. Die kleine weibliche Nacktschnecke, Limax agrestis, läbt sich allerdings durch den Gerbsäuregehalt nicht abschrecken und verzehrt auch die frischen Kleeblätter, aber absoluten Schutz gibt es eben nicht. Ich habe schon bei Gelegenheit der weidenden Säuger erwähnt, wie viele Bäume und Sträucher, Moose, Farne durch starken (rerbsäuregehalt in hohem Grade geschützt sind, dieser Schutz erstreckt sich auch gegen die Schnecken; alle diese Gewächse bleiben von Schnecken- fraß so ziemlich verschont und neben ihnen noch viele gerbsäurehaltige Kräuter, die Saxifraga- und Sedum-Arten, die Erdbeere, viele Wasser- pflanzen, wie die Laichkräuter, Drapa, die Wassernuß, Hippuris, der Tannenwedel. Alle diese Pflanzen werden von Schnecken nur in der Not gefressen, sonst nur in ausgelaugtem Zustand. Bei anderen Pflanzen wird der Schutz durch Säuren bewirkt. besonders durch Oxalsäure, wie z. B. der Hasenklee unserer Wälder, Oxalis acetosella, der Ampfer, Rumex und die Begonia-Arten. Wenn STAHL die Lieblingsspeise der Schnecken, Scheiben von gelben Rüben mit einer schwachen (1°/,) Lösung von oxalsaurem Kali bestrich, so wurden sie von den Tieren nicht gefressen, was bei der Empfindlichkeit schon der äußeren Haut der Schnecken nicht wundernehmen kann, da ihr diejenige der Schleimhaut des Mundes schwerlich nachstehen wird. Aus diesem Grunde erzeugen manche Pflanzen ätherische Öle in den Haaren, die sie bedecken, so z. B. der kleine Storchschnabel, (reranium robertianum. Selbst die fast alles fressende Ackerschnecke, Limax agrestis, greift diese Pflanze nicht an, und wenn man sie darauf setzt, entflieht sie schleunigst dem ihre nackte Haut brennenden äthe- rischen Öl, indem sie sich mit Schleim bedeckt und an einem Faden zur Erde niederläßt. Die Minzen, Mentha und der Diptam, Dietamnus albus, bringen ebenfalls solche Öle hervor. Dann wären von den chemischen Schutzmitteln noch die reinen Bitterstoffe zu nennen, wie sie in den Enzianarten, dem Kreuzblümchen, Polygala amara, und in manchen anderen Kräutern enthalten sind, auch die eigentümlichen „Ölkörper“ der Lebermoose. Aber auch auf mechanischem Wege verteidigen sich die Pflanzen gegen die Angriffe der Schnecken. iD oibt es zunächst verschiedene Arten von Borstenbesatz, die (die Schnecke verhindern, an der Pflanze emporzukriechen. Niemals werden Sie «den Beinwell, Symphytum offieinale, auf unseren Wiesen angetressen sehen, denn er ist über und über von steifen Borsten be- Mechanische Schutzmittel. 107 setzt. die den Schnecken höchst unangenehm sind, und solche Borsten- haare schützen auch die Brennessel, Urtiea dıoica, gegen die Schnecken, während dieselbe gegen größere Tiere, wie wir sahen, durch Brennhaare gesichert ist. Wenn aber auch die meisten Pflanzen das Ankriechen der Schnecken nicht abwehren, so können sie doch denselben nicht oder nur in geringem Maße zur Speise dienen, weil ihre grünen Teile dem Abnagen und Kauen Widerstände entgegensetzen. So verhindern die Kalkkrusten, welche die Armleuchteralge, Chara, bedecken, den Schneckenfraß. Entfernt man den Kalk mittelst Säuren und legt dann die Pflanze Schnecken vor, so wird sie gern gefressen. Ähnlich ist es mit der Verkieselung der Zellhäute, wie sie besonders bei Laubmoosen und Gräsern so verbreitet und in ihren höheren Graden ein wirksamer Schutz auch gegen die großen Ptlanzenfresser ist. Unsere schwach verkieselten Gräser sind vor Schnecken- fraß sicher, und daß es wirklich die Verkieselung ist, welche die Tiere abhält, die sonst willkommene Speise anzunehmen, beweist der Versuch STAHLS, der Mais in reinem Wasser wachsen ließ und so kieselarme Pflanzen erhielt, die nun von den Schnecken ohne Anstand verzehrt wurden. Von den mancherlei anderen Vorrichtungen, durch welche den Schnecken das Genieben von Pflanzen erschwert wird, will ich nur noch der sog. „Raphiden“ gedenken, jener kristallähnlichen, beiderseits zu- gespitzten mikroskopischen Nadeln von oxalsaurem Kalk, welche in manchen Pflanzen in großer Menge dicht beisammen im Gewebe liegen. Die Araonswurzel. Arum maculatum, die Narzissen, Schneeglöckchen, Leucojum, die Meerzwiebel, Seilla, die Spargel enthalten sie, und alle diese Pflanzen werden von den Schnecken verschont, offenbar weil die Tiere beim Kauen der Pflanzenteile von den Raphiden unangenehm berührt werden. Selbst die gefräßige Ackerschnecke verschmäht solche Pflanzen. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß die Raphiden auch gegen alle anderen Feinde schützen müßten. Gegen Nager und Wiederkäuer sind sie in der Tat wirksam, auch gegen Heuschrecken, «dagegen ziht es eine ganze Anzahl von Raupen, die sich mit Vorliebe gerade solche Pflanzen zur Nahrung ausgesucht haben, welche Raphiden enthalten. So fressen gewisse Schwärmerraupen Galium- und Epilobium-Arten, die Blätter des Weinstocks und die wilde Balsamine, Impatiens, ja die Raupe von Chaerocampa Elpenor, welche besonders Vitis und Epilobium be- vorzugt. hat sich den aus Südamerika stammenden Fuchsien in unseren (Gärten ebenfalls zugewendet, der Schwärmer legt seine Eier nicht selten auf diese Pflanze ab, und die Raupen fressen sie gern: die Fuchsien aber enthalten auch Raphiden. Man kann sagen, daß fast alle wild wachsenden Phanerorgamen in irgend einem Grade gegen Schnecken geschützt sind, und man könnte fast fragen, was denn nun aber überhaupt für die Schnecken als Nahrung übrig bleibt, wenn alles gegen sie gewappnet ist. Allein erstens bleiben unsere Kulturpflanzen übrig. die, wie z. B. der (Grartensalat, Lactuca, oft ganz schutzlos sind, dann fressen «die Schnecken die Pflanzen oft erst, wenn sie ausgerissen und faulend am Boden liegen, d. h. wenn sie durch den Regen ausgelaugt sind, und schließlich ist keines der vielen Schutzmittel, wie ich schon oft sagte, ein absolutes, das gegen alle Schnecken schützt. - Manche dieser Tiere sind, wie STaHuL sie nennt, „Spezialisten“. So fressen die großen Wegschnecken unserer Wälder 108 Schutzmittel der Pflanzen. die giftigen Pilze, die von anderen Schnecken verschmäht werden, und in ähnlicher Weise gibt es viele andere. Spezialisten, die aber allein nicht imstande sind, die Pflanze, an die sie sich angepaßt haben, ganz zu zerstören. Es gibt freilich auch omnivore Schnecken, wie die schon oft genannte Ackerschnecke, Limax agrestis und Arion Empiricorum, die rote Weeschnecke, aber gerade weil diese so ziemlich alle Pflanzen fressen, sind sie für jede einzelne Art minder gefährlich. Jedenfalls bilden auch die so mannigfachen Schutzmittel gegen Schneckenfraß einen weiteren Beleg dafür, wie unzählige Einzelheiten in der Organisation auch der Pflanzen auf Naturzüchtung bezogen werden müssen, denn es gibt für sie keine andere Erklärung. Kämen solche schützende Einrichtungen nur bei vereinzelten Pflanzen vor, so könnte man vielleicht noch vom „Zufall“ sprechen. könnte sich auf die innere Konstitution der Pflanze beziehen, welche eben derart sei, daß sie 3orstenhaare oder Bitterstoffe oder Kieselsäureablagerungen hervor- bringen müsse, die nun „zufällig“ gewissen Schnecken den Genuß dieser Pflanze verleiden; da es sich aber gezeigt hat, dab alle Pflanzen, die eine in dieser, die andere in jener Weise gegen Schneckenfrab gefeit sind, so muß dieser Einwurf schon dadurch fallen. Nun kommt aber noch dazu, dab einzelne der schönen Versuche, ‘durch welche STAHL (die schützende Wirkung jener Einrichtungen nachwies, zugleich beweisen, dab dieselben zur Existenz der Pflanze an und für sieh nicht unent- behrlich sind; der Mais bildet sich zu einer lebensfähigen Pflanze aus, auch wenn ihm die Kieselsäure entzogen wird, die Kieselsäure ist also nicht ein für seine Konstitution unentbehrlicher Bestandteil, sondern ein Schutzmittel gegen Tierfraß. Den schärfsten Beweis aber liefern Pflanzen, die, wie der Salat, Lactuca, im wilden Zustand schützende Stoffe ausbilden, sie aber im kultivierten vollständig verloren haben — durch Niehtgebrauch, wie wir später noch genauer sehen werden. Wie die Augen der Dunkeltiere verkümmert sind, so verlor hier die vom Menschen geschützte Pflanze ihre natürlichen Schutzmittel, weil sie sie nicht mehr brauchte, um sich zu erhalten. Auch diese Schutz- mittel (Gerbsäure) gehören also nicht notwendig zur Konstitution der Gattung Lactuca; ihre Bildung kann auch unterbleiben, ohne daß die Pflanze sich sonst dadurch ändert. Und hier handelt es sich nicht ein- mal um die Entziehung eines von außen aufzunehmenden Stoffes, son- dern um ein reines Stoffwechselprodukt. Lehrreich aber sind die Anpassungen (der Pflanzen gegen Schnecken- fraß noch in anderer Weise, nämlich durch ihre außerordentliche Mannig- faltigkeit. Wir sehen hier von neuem wieder, wie plastisch die Lebens- formen sind, wie genau und doch auch wieder in wie verschiedener Weise sie sich den Lebensbedingungen, hier also den Schwächen ihrer oefräbigen Feinde anschmiegen können, um so alle dasselbe Ziel zu erreichen: Sicherung der Artexistenz. Wir sehen aber zugleich, daß zahllose Kleiniekeiten im Bau und den Eigenschaften einer Art, die bedeutungslos scheinen könnten, dennoch ihren bestimmten Nutzen haben, Haare, Borsten, Raphiden so gut, als Bitterstoffe, ätherische Ole, Säuren und Gerbsäure. Freilich müssen wir erst so genaue und ein- gehende Forschungen über die biologischen Beziehungen dieser Eigen- tümlichkeiten haben, wie sie uns SrtaHuı geliefert hat, ehe wir den Nutzen derselben einsehen. Yl. VORTRAG. Fleischfressende Pflanzen. Einleitung p. 109, Die Wasserschläuche oder Utrieularien p. 110, Pflanzen mit Fang- krügen, Nepenthes p. 111, Die Schuppenwurz, Lathraea p. 112, Das Fettkraut, Pingui- eula p. 113, Der Sonnentau, Drosera p. 114, Die Fliegenfalle p. 114, Aldrovandia p. 115, Schlußbetrachtung p. 115. Meine Herren! Daß das Selektionsprinzip die ganze (restaltung auch der Pflanzen in hohem Grade jedenfalls beherrscht und dieselben ummodelt ganz entsprechend den Aussichten auf besseres Fortkommen, wie sie sich im Wechsel der Lebensbedingungen der einzelnen Art oder Artengruppe bieten, das tritt vielleicht nirdends schärfer hervor, als in dem Fall der sog. „insektenfressenden“ oder „fleischfres- senden“ Pflanzen. Hier ist es wieder CH. Darwın, der die Bahn ge- brochen hat, denn obgleich schon lange mancherlei Pflanzen bekannt waren, auf deren klebrigen Blattflächen Insekten leicht hängen bleiben und dann absterben, so hatte niemand daran gedacht, dies als einen besonderen Nutzen für die Pflanze anzusehen, geschweige denn, dab man die eigentümlichen Einrichtungen solcher Blätter als besonders für diesen Zweck bestimmt angesehen hätte. Erst Cm. Darwın wies nach, daß eine nicht kleine Zahl von Pflanzen existiert — man kennt heute gegen 500 — welche nur einen Teil ihrer Substanz auf dem gewöhnlichen Weg der Assimilation selbst erzeugen, einen anderen kleineren aber da- durch gewinnen, daß sie tierisches Protoplasma, vor allem die stick- stoffhaltige Muskelsubstanz auflösen und sich zunutze machen. Man hat anfangs die Richtigkeit dieser Auslegung bestreiten wollen, allein Darwın zeigte, daß Muskelstückehen, überhaupt stickstofthaltige orga- nische Substanzen, von den betreffenden Ptlanzenteilen wirklich aufgelöst und dann resorbiert werden. Es kann also auch nicht weiter bezweifelt werden, dab die merkwürdigen Einrichtungen, durch welche Tiere von der Pflanze festgehalten, gewissermaßen gefangen und getötet werden, eben im Hinblick auf diesen Zweck entstanden sind oder. um mich weniger bildlich auszudrücken, daß vorhandene Einrichtungen einer Pflanze, die es mit sich brachten, daß Tiere an ihnen hängen blieben, von Nutzen für die Ernährung der Pflanze waren und deshalb durch Selektionsprozesse gesteigert und vervollkommnet wurden. Daß dies möglich war, beweisen uns die zahlreiehen insektenfressenden Pflanzen, welche heute auf der Erde leben, und «daß diese Züchtungsvorgänge ganz unabhängig voneinander ihren Verlauf nahmen, auch von ver- schiedenen Teilen der Pflanze ausgehen konnten, zeigt uns die grobe Mannigfaltigkeit dieser Einrichtungen, die bei Pflanzen mehrerer Familien 110 Fleischfressende Pflanzen. vorkommen. Mit einigen wenigen derselben möchte ich Sie nun etwas näher bekannt machen. In den Sümpfen unserer Gegenden, aber auch in denen wärmerer Länder. leben die Wasserschläuche oder Utrieularien (Fig. 23), echte schwimmende Wasserpflanzen ohne Wurzeln mit horizontal aus- gebreiteten, lang dahingestreckten rankenartigen Trieben, welche teils ddieht mit Wirteln weicher nadelförmiger Blätter besetzt sind, teils aber nur spärliche Blätter von ganz eigentümlichem Bau tragen, gestielte hohle Blasen (Fig. 23 A, FA) mit ganz engem Eingang an der Spitze, der für größere Tiere durch weit vorstehende borstenartige Haare ver- sperrt ist (2). Kleine Tiere, wie Wasserflöhe (Daphnien), Cyelops-Arten, Fig. 23. Utrieularia Grafiana nach KERNER. 4 ein Pflänzchen in natürlicher Stellung im Wasser schwimmend, 74 Fangapparate; # ein solcher viermal vergrößert, sz Saugzellen, #2 Klappe, die den Eingang verschließt; C Saugzellen an der Innen- wand des Fangapparates, 250mal vergrößert, Muschelkrebschen können zwischen den Borsten hindurchschwimmen und stoßen dann an eine leicht nach innen sich öffnende Klappe (2, X), ddie sie ins Innere der Falle eindringen läßt. Einmal eingedrungen sind sie gefangen, denn die Klappe läßt sich nicht nach außen öffnen, und so sterben die Tiere bald. zerfallen und werden dann von besonderen Saugzellen (2 u. C sz) aufgenommen und als Nahrung von der Ptlanze aufgesogen. Auf «diese Weise fängt die Utrieularia zahlreiche kleine Kruster und Insektenlarven, die in ihre Fallen hineinschlüpfen, ver- mutlich um sich dort zu verbergen. Kannenpflanzen. a8 Ein anderes Beispiel bieten die Moorpflanzen der Gattung Ne- penthes, deren Arten am Rande tropischer Wälder als Schlinggewächse leben, an den Bäumen hinaufklettern und von dort ihre langen dünnen Ranken gegen «den Boden wieder herabhängen lassen, oft über Tümpel und Wasserlachen, an Plätzen also, wo eine Unmasse kleiner tliegender Insekten sich umhertummelt. Diese Pflanzen nun haben höchst merk- würdige Einrichtungen hervorgebracht, um Insekten zu fangen und als Nahrung zu verwerten (Fig. 24). Die langen Stiele (.$7) ihrer Blätter (Sfr) sind zuerst abwärts gebogen, wenden sich aber dann plötzlich scharf nach aufwärts und die auf- wärts gerichtete Strecke ist zu einer kannenartigen Bildung (/%) umge- wandelt, in deren Grund sich eine Flüssigkeit ansammelt, die sauer schmeckt und Pepsin enthält, den- nach eine verdauende Flüssigkeit ist. Stickstoffhaltige Substanzen, wie Fleisch, lösen sich in ihr auf, und Insekten, welche vom Rande der Kanne in sie hinabstürzen, wer- den von ihr getötet und aufgelöst. Es gibt viele Arten von Nepenthes, von welchen nicht alle diesen Fang- apparat schon in gleicher Vollkom- menheit besitzen, so dab man hier einigermaßen den Weg verfolgen kann, den die Entwicklung ge- nommen hat, von einem breiten, an den Rändern etwas umgebogenen Blattstiel bis zu den merkwürdigen geschlossenen Kannen, wie sie bei Nepenthes villosa (Fig. 24) von Borneo gefunden werden. Bei dieser Art erreichen sie eine Länge von 50 Zentimeter, sind prachtvoll ge- färbt, wie sie denn auch in ihrer (sestalt den tabakspfeifenartigen Blumen der tropischen Aristolochien ähneln. Wir werden später, wenn von der Entstehung der Blumen die Rede sein wird, noch sehen, Fig. 24. I\anne von Nepenthes villosa nach KERNER. 57 Stiel‘ des Blattes, .5/r : i : dessen Spreite, /% Fangkanne, % der mit einen wie bedeutenden Wert helle, abwärts gekrümmten Stacheln besetzte Rand auffallende Farben für die Anlockung derselben. von Insekten besitzen; diese pracht- volle Färbung lockt also auch hier wohl die Insekten an und veranlabt sie, sich auf den Rand der Kanne (AR) zu setzen, der sie dann längere Zeit dadurch fesselt, daß sich Honig an ihm ausscheidet. Nun ist aber dieser dieke wulstige Rand glatt, wie aus poliertem Wachs gefertigt, ähnlich den Blumenblättern jener großen prachtvollen Orchideen, «der Stanhopeen; auch «die ganze Innentläche der Kanne ist glatt, wie poliert, und die Insekten. welehe nach Honig suchend dort umherklettern. gleiten leicht aus und stürzen in die Tiefe der Kanne. Wenn nun auch viele 112 Fleischfressende Pflanzen. von ihnen in der Verdauungsflüssiekeit nicht sofort sterben. sondern noch imstande sind, an der glatten Wand der Kanne empor zu klettern, so kommen sie doch nicht heraus, denn unterhalb des wulstig nach innen vorspringenden Randes ist ein Kranz starker, mit der Spitze nach unten gerichteter Borsten oder Zähne angebracht, die wie Stacheln «lem (refangenen den Ausgang wehren. So erbeuten und verdauen die Ne- penthes-Kannen Massen von Insekten, und man kann wohl begreifen, daß der Pflanze dadurch eine erhebliche Menge wertvoller Nahrung zu- geführt wird: denn fertiges Protoplasma ist ein bequemer Nahrungs- stoff, zu dem die Pflanze wenig mehr hinzuzutun braucht, um ihn in ihre eigene Protoplasma-Molifikation umzusetzen. Auch die Sehuppenwurz (Lathraea squamaria) sei hier kurz er- wähnt, weil der Insektenfang von ihr weder im Medium der Luft. noch Fig. 25. Pinguicula vulgaris, Fettkraut. -/ die ganze Pflanze mit eingerollten Blatträndern und einigen von ausgeschiedenem Schleim gefangenen Insekten. 2 (uer- schnitt durch ein solches Blatt, 5Omal vergrößert, » Rand desselben, Dr, Dr die zweierlei Drüsen, bei © 1S0mal vergrößert. des Wassers betrieben wird, vielmehr in der Erde. Bekanntlich schma- rotzt «diese Pflanze auf den Wurzeln von Laubbäumen, ist blassgelblich und gänzlich ohne assimilierende grüne Teile. Für sie mußte es also besonders wertvoll sein, Tiere fangen und als Nahrung verwerten zu können. Zu diesem Behuf haben sich nun die kurzen, bleichen Blättchen, welche dichtgedrängt wie Schuppen den unterirdisch dahinkriechenden Stengel umgeben, zu Fallen für kleinste Tiere umgewandelt. Die Blätter sind mit ihrem oberen Teil nach unten umgeklappt und mit ihren Rän- dern derart verwachsen, daß unten an ihrer Basis nur eine kleine Off- nung bleibt, die in ein System von Hohlräumen hineinführt. Blattläuse. Rädertiere, Bärtierchen, besonders auch Springschwänze (Poduren) kriechen ch | r Sonnentau. 113 hinein und werden nun dort von klebrigem Schleim festgehalten, verdaut und aufgesogen. Ein anderes Beispiel bietet die ebenfalls bei uns heimische zier- liche Moorpflanze, das Fettkraut (Pinguicula vulgaris). die ihre breiten zungenförmigen, zu einer Rosette geordneten Blätter dadurch zum In- sektenfang hergerichtet hat, daß der Rand derselben aufgebogen, ihre Mitte aber zu einer Längsrinne vertieft ist (Fie. 25). Die ganze Ober- fläche des Blattes ist nun von einer ungeheueren Zahl kleiner, pilzförmiger Drüsen besetzt (P u. €, Dr), welche einen klebrigen Schleim absondern. Insekten, die sich auf das Blatt setzen, bleiben kleben, und indem die Drüsen fortfahren, immer mehr Schleim abzusondern, während zugleich die Ränder des Blattes sich durch den Reiz, den das zappelnde Insekt ausübt, noch stärker umkrempeln, werden die Tierchen völlig im Schleim ertränkt und schließlich aufgelöst. * Denn dieses Sekret wirkt so ener- | gisch, daß selbst Knorpelstückchen in 48 Stunden von ihm aufgelöst j werden. Besonders Mücken und Eintagsfliegen fallen dieser an moorigen Stellen des Gebirges wie der Ebene häufigen Pflanze zum Opfer. Auch der Sonnentau (Dro- sera rotundifolia) sei erwähnt, der seinen Namen von den schein- baren Tautröpfehen hat, welche in der Sonne auf den Blättern funkeln (Fig. 26). und zwar auf (dem ge- knöpften Ende langer und ziemlich dicker, wimperartiger Fäden, welche die ganze obere Fläche des Blattes besetzt halten. In Wahrheit sind es Tröpfehen eines zähen, wasser- klaren, klebrigen Schleims, welcher von den drüsigen Köpfchen der steck- nadelförmigen Wimpern ausge- schieden werden. Insekten, die sich auf das Blatt setzen wollen, bleiben Bea Deosars sbtundifklie, am Schleim hängen, und nun wird Ban ach HRENDR auch hier eine saure, pepsinhaltige Flüssigkeit ausgeschieden, welche allmählich die Verdauung der löslichen Teile des Tieres bewirkt. Besonders merkwürdig ist dabei, dab an der Verdauung und Aufzehrung des Tieres nicht‘ nur diejenigen Wimpern teilnehmen, welche in Berührung mit ihm stehen, sondern dab auch die übrigen Wimpern nach und nach ihre gewöhnliche Stellung von dem Augenblick an ändern, in dem ein stiekstoffhaltiger Körper, sei es ein Stückchen Fleisch oder ein Insekt mit einigen der Wimpern in Berührung gekommen ist. Alle fangen nun an, sich dem Reizobjekt langsam zu- zukrümmen (Fig. 27). so zwar, daß nach einer bis drei Stunden alle Wimpern ihre Köpfchen auf ihm vereinigen und Verdauungssaft aut dasselbe ausscheiden. Der Sonnentau wächst auf Mooren, z.B. denjenigen des Schwarz- walds, auch auf den feuchten moosbewachsenen Rainen daselbst häufig, Weismann, Deszendenztheorie. I. 2. Aufl Ö u 3 114 Fleischfressende Pflanzen. und Sie können dort leicht beobachten, wie nicht nur eine Schnake, Mücke oder eine kleine Libelle auf dem Blatt festhängt. sondern oft manchmal deren bis zu einem Dutzend. Auch hier also kann der Er- nährungswert «dieser merkwürdigen Einrichtung kein ganz unbedeuten- der sein. Offenbar stehen wir bei dem Sonnentau schon einer sehr ver- wiekelten Anpassung gegenüber, da hier nicht nur eigentümliche Säfte ausgeschieden werden, wie sie eben nur bei tierfangenden Pflanzen vor- kommen, sondern zugleich die abscheidenden Wimpern aktiv beweglich eingerichtet wurden. Damit die vom gefangenen Tier entfernteren Wim- pern veranlaßt werden, sich zu diesem hinzubeugen, ist es nötig, dab der Reiz. welchen das Tier auf das Köpfchen der berührenden Wimper ausübt, fortgeleitet werde zur Basis und von dort bis zur Spitze der übrigen Wimpern, denn die Wimpern krümmen sich in in ihren ganzen Verlauf. Der Nutzen der Einrichtung ist ja klar, daß aber eine von den gewöhn- lichen Ein- richtungen der Pflanzen so abweich- ende hervor- gerufen wer- den konnte, weist «darauf hin, wie lange Zeit hindurch die Selek- tionsvorgän- ge angehalten und jede klei- ne neue Va- riation den früheren hin- Fig. 27. Ein Blatt vom Sonnentau, dessen Tentakel zur Hälfte über zugefügt ha- einem gefangenen Insekt zusammengeneigt sind; viermal vergrößert. ben müssen. Fig. 28. Blatt von Dionaea muscipula nach KERNER. 4 Blatt- Zum Sehluß spreite ie geöffnet, St Stiel, Stch sensitive Stacheln. B Durch- sei noch schnitt eines Blattes mit geschlossener Spreite. F zweier Ptlan- zen gedacht, welche bewegliche, schließbare Fallen zum Fang von Tieren besitzen. Die sog. Fliegenfalle, Dionaea museicapa, ist eine Moor- pflanze Nordamerikas, bei welcher, wie bei Pinguieula und Drosera, die Blätter eine Rosette am Boden bilden. Das einzelne Blatt hat einen spatelförmigen Stiel und eine zweiklappige Spreite (Fig. 28 A), deren Ränder mit einer Reihe starker, langer Stacheln besetzt sind, die sich schräg nach innen richten. Diese Hälften können nun, wenn der entsprechende Reiz auf ihre Oberfläche emwirkt, in kurzer Zeit (10-30 Sekunden) sich zusammenklappen. Dabei kreuzen sich die Randdornen wie (die ineinander geschränkten Finger zweier Hände und bilden ein (sitter, aus dem das gefangene Insekt nicht wieder entkommen kann. Der adäquate Reiz für die Auslösung der Bewegung ist eine leise Be- rührung, während ein stärkerer Stoß, Druck oder Luftzug die Falle nicht zur Schließung bringen. Wenn aber eine Fliege auf dem Blatt umherkrabbelt und dabei einen der sechs kurzen, auf einem kleinen Fliegenfalle. 115 Zellpolter aufsitzenden Stacheln (.57c7) berührt, so schließt sich das Blatt, rasch zwar, aber zugleich so leise und unmerklich, daß die Fliege keine Gefahr merkt und nicht davonfliegt. Dann beginnen zahlreiche purpurne Schleimdrüsen die Beute mit einem pepsinhaltigen, sauren Verdauungssaft zu umhüllen, der sie allmählich auflöst. Auch bei einer Wasserpflanze des südlichen Europas, die übrigens auch noch in Sümpfen am Nordrand der Alpen vorkommt, bei Aldro- vandia vesiculosa. findet sich neben dem eigentlichen Fang- und Verdauungsapparat noch ein aktiver Bewegungsapparat, der durch sen- sible Borsten ausgelöst wird. Als ich die Pflanze zum erstenmal in einem Sumpf bei Lindau am Bodensee fand, hielt ich sie zuerst für eine Utrieularia. denn in der äußeren Erscheinung ähneln sich die beiden Pflanzen (vergl. Fig. 23 und 29), aber die Umwandlung der Blätter zu Fallen ist hier doch eine ganz andere. Auf den beiden Hälften der Blattspreite stehen zahlreiche Borsten (Fig. 30.4), deren leichteste Be- rührung durch ein kleines Wassertier als auslösender Reiz auf die Be- wegungselemente des Blattes wirkt (.S7c%). Wie bei der Fliegenfalle klappen die beiden Blatthälften ziemlich rasch, aber ruhig zusammen, und das Tier ist gefangen. Fig. 503 zeigt den Durchschnitt einer solchen. Falle in geschlossenem Zustand. Die gefangenen Tiere können dann nicht mehr entfliehen. weil die Ränder des Blattes fest auf- einander schließen und mit Zähnchen besetzt FA uf sind. Zahlreiche kleine EB wo B, £ VE Drüsen (Dr) scheiden ÄYE Fr FIELEN VEÄFE NE BIEE ET einen Verdauungssaft ME Acc A Er aus, und nach Tagen oder NS Eh A 0 FA selbst Wochen findet man RAU By AN nur noch die unverdau- lichen Reste der kleinen Fig. 29. Aldrovandia vesiculosa, ein Zweig- Tiere im Innern der Fang- stück mit den Fangapparaten #4. klappe. Noch viele Fälle tierfangender Pflanzen könnte ich anführen, aber es liegt mir fern, Sie mit allen den Einrichtungen bekannt zu machen, welche existieren; das Gesagte genügt, um Ihnen einen Begriff «davon zu geben, wie mannigfaltig und wie bis ins einzelne hinein zweck- mäßig diese Einrichtungen sind. Sie erweitern — so scheint mir — unsere Vorstellung von der Tragweite der Naturzüchtung um ein be- deutendes, indem sie uns zeigen, daß auch solche Anpassungen ent- stehen können, die dem ursprünglichen Schema des betreffenden Or- ganismus durchaus fremd sind, ja, die den fundamentalen physiologischen Vorgängen derselben scheinbar widerstreiten. Es bedarf auch kaum noch eines besonderen Hinweises darauf, dab sie lediglich durch Natur- züchtung hervorgerufen sein können, da jede andere Herleitung ver- sagt. Klimatische, überhaupt irgendwelche äußere direkte Eintlüsse können diese so verschiedenartigen, aber alle miteinander zweekmäßigen Umwandlungen der Pflanzenteile nicht bewirkt haben: sind dieselben doch auch bei dicht nebeneinander wachsenden Pflanzen, wie beim Sonnentau und dem Fettkraut, ganz verschieden. Vom Lamarckschen Prinzip der Übung und Niehtübung kann bei Pflanzen überhaupt kaum die Rede sein, da sie einen Willen nicht besitzen, und vom „Zufall“ wird man nicht sprechen wollen, wo es sich um so verwickelte und mannigfach zusammengesetzte Abänderungen handelt. Einen Züchtungs- gs 116 Fleischfressende Pflanzen. prozeß (dagegen kann man sich in jedem dieser Fälle sehr wohl als wirkend ausdenken. Ich überlasse es Ihnen selbst, dies zu tun und will nur andeuten, daß es sich dabei immer um Vervollkommnungen in zweierlei Richtungen handelt, einmal um Verbesserungen in der Aus- nutzung tierischer Substanz, die zufällig auf dem Blatt hängen ge- blieben war, und zweitens um Verstärkung der Wahrscheinlich- keit. daß Tiere hängen bleiben und verwertet werden können. So ent- standen einerseits lösende und verdauende Säfte und Resorptionsein- richtungen und andererseits zäher klebriger Schleim und Fallen ver- schiedener Art zum Festhalten, sowie Honig und lebhafte Farben zum Anlocken der Insekten. Aber nicht nur Abänderungen der Gestalt an Stengeln und Blättern sind hier zustande gekommen, sondern auch bedeu- tende physiologi- sche Abänderungen. Die Reizempfindlieh- keit verschiedener Teile des Blattes ist erhöht worden, schon bei dem Fettkraut mit seinen auf Reiz sich einrollenden Blatträndern, dann ; ER: Ar a beim Sonnentau mit Fig. so. Ald rovan dia, ein } angapparat, ei A geöffnet, seiner Reizleitung ‚St Stiel des Blattes, ‚Sr Spreite desselben, ‚S/cA sensitive j | berül Stacheln, Dr Drüsen; bei # geschlossen, Durchschnitt. yen dem berührten Tentakel nach allen übrigen hin, am wunderbarsten aber bei der Fliegenfalle und der Aldro- vandia, deren reizempfindliche Stacheln den Reiz derart weiterleiten, dab das ganze Blatt dadurch getroffen und in Bewegung gesetzt wird, (durchaus vergleichbar den Wirkungen der Nervenreizleitung bei Tieren. Das Beispiel der insektenfressenden Pflanzen zeigt uns also, daß eine Pflanze durch Naturzüchtung ganz neue Organe mittelst völliger Umgestaltung alter hervorbringen kann — z. B. die Kannen von Ne- penthes — daß sie aber auch ihre physiologischen Fähigkeiten in weit- sehender Weise umgestalten, steigern und bis zur Ähnlichkeit mit Leistungen des tierischen Körpers verändern kann. VIII. VORTRAG. Die Instinkte der Tiere. Die Raubwespe p. 117, Fragestellung p. 115, materielle Grundlage der Instinkte p. 118, Die Instinkte keine „vererbten Gewohnheiten“ p. 119, Trieb der Selbsterhaltung p. 119, Flüchtungstrieb, Totstellen p. 120, Maskierung der Taschenkrebse p. 120, Nahrungsinstinkt p. 121, Monophagie bei Raupen p. 122, Verschiedene Methoden des Nahrungserwerbes, Ephemeriden, Seegurke, Lauerfische p. 122, „Irren“ des Instinktes p. 124, Wechsel der Instinkte bei der Metamorphose, Eristalis, Sitaris p. 124, Un- vollkommenheit der Anpassung deutet auf Ursprung durch Naturzüchtung p. 126, Instinkt und Willen p. 126, Instinkte und Schutzfärbungen p. 127, Langsamer Flug der Helikoniden p. 127, Rasches Flüchten der Tagfalter p. 125, Nur einmal aus- geübte Instinkte p. 129, Verpuppung der Tagfalter p. 129, des Hirschschröters p. 130, der Seidenraupe 130, des kleinen Nacht-Pfauenauges p. 131, des Atlasspinners p. 132, Eiablage der Schmetterlinge p. 132. Wir haben bisher bei den Tieren vorwiegend nur die Veränderung und Neubildung morphologischer Eigenschaften ins Auge gefaßt, Form- und Farbeumwandlungen, und es fragt sich jetzt, ob auch dıe Hand- lungen der Tiere in ihrer Entstehung ganz oder teilweise auf das Se- lektionsprinzip zu beziehen sind. Ganz allgemein sehen wir, dab die Tiere ihre Teile oder Organe in zweckmäßiger Weise zu verwenden wissen, das Entchen schwimmt sofort auf dem Wasser, das eben aus dem Ei geschlüpfte Hühnchen pickt nach Körnern, die auf dem Boden liegen, der Schmetterling, der gerade erst aus der Puppe gekrochen ist, weiß sofort, nachdem seine Flügel getrocknet und erhärtet sind, die- selben zum Flug zu gebrauchen, und die Raubwespe kennt ungelehrt ihre Opfer, eine bestimmte Raupe. eine Heuschrecke oder ein anderes bestimmtes Insekt, weiß es zu überfallen, durch Stiche zu lähmen, und zweifelt dann keinen Augenblick, was sie fernerhin tun muß; sie schleppt das Opfer in ihren Bau, bringt es dort in eine der Zellen, die sie vorher schon für die künftige Brut hergerichtet hat, legt ein einziges Ei darauf und deckelt dann die Zelle zu. Nur dadurch, daß sie alle diese ver- wickelten Handlungen so präcis ausführt, als ob sie wüßte, warum sie es tut, vermag die Art sich unter den Lebenden zu erhalten, denn nur so kann das Heranwachsen der folgenden Generation gesichert werden. “Aus dem Ei schlüpft die kleine Larve, die sich nun über das geraubte und gelähmte Opfer hermacht, sich von ihm ernährt, dadurch heran- wächst und nun sich unter dem Schutz der festen Zelle verpuppt und in eine fertige Wespe verwandelt. Manche Arten dieser Raubwespen legen ihr Ei nicht direkt neben oder auf das Opfer, sondern, da dessen Be- wegungen ihrem Nachkommen gefährlich werden könnten, hängen sie dasselbe an einem seidenen Faden über dem Opfer auf, so dab es gesichert ist, und auch die aus dem Ei geschlüpfte junge Larve sich, ” A 118 Instinkte. sobald ihr Gefahr von den konvulsivischen Bewegungen des armen Opfers droht. an dessen Körper sie herumnagt, auf den sicheren schwebenden Platz zurückziehen kann. Jedes Tier hat eine Fülle von solehen „Instinkten“, die es zu zweckmäßigem Handeln anleiten, ja zwingen, ohne daß ihm doch der Zweck bewußt sein könnte. Denn woher sollte der Schmetterling wissen, was Fliegen ist oder dab er es überhaupt vermag, oder wer sollte der Raubwespe, wenn sie aus der Puppe zu einer ganz neuen Art von Leben erwacht, gezeigt haben, was sie nun alles zu tun hat, um sich selbst Nahrung, und der noch in ihrem Eierstock verschlossenen Brut Schutz und Unterhalt zu verschaffen? Da nun die Arten aus anderen sich entwickelt haben, so können diese Regulatoren ihres Körpers, die Instinkte, in früheren Zeiten nicht die gleichen gewesen sein, sie müssen sich durch Umwandlung der Instinkte der Vorfahren erst gebildet haben, und es fragt sich also: durch welche Kräfte? auf welche Weise? Ist auch hier das Selektionsprinzip wirksam oder dürfen wir die Instinkte auf die vererbte Wirkung von Ge- brauch und Nichtgebrauch beziehen? Ehe ich auf diese Frage eintrete, sei noch einiges über die phy- sische Grundlage der Instinkte gesagt. Wir können dreierlei Arten von Handlungen unterscheiden: reine Reflexhandlungen, reine Instinkt- und reine Willenshandlungen. Bei den ersteren sehen wir am deutlichsten, daß sie auf einem vorgebildeten Mechanismus beruhen, denn sie erfolgen mit Notwendigkeit auf einen bestimmten Reiz hin, sie können nicht immer auch unterlassen werden. Grelles Licht, welches unser Auge trifft, verengert die Pupille, die Regenbogenhaut zieht sich zusammen, und in ähnlicher Weise schließen sich unsere Lider, wenn ein Finger plötzlich gegen das Auge fährt. Wir kennen auch das Prinzip dieser Reflexmechanismen: sie beruhen auf Nervenzusammenhängen: sen- sible Nerven stehen in den Nervenzentren derart mit motorischen in Verbindung, daß ein Reiz, der die ersteren an der Peripherie des Körpers, z. B. im Auge, trifft und nun gewissen Nervenzellen des Gehirns zu- geleitet wird, von diesen aus bestimmte Bewegungszentren in Erregung versetzt, so dab bestimmte Bewegungen ausgelöst werden. Es ist selten nur ein Muskel, der dadurch in Tätigkeit versetzt wird, meist vielmehr mehrere, und damit ist der Ubergang zur Instinkthandlung gegeben, welche eben in einer längeren oder kürzeren Reihe von Hand- lungen, d. h. Bewegungskombinationen, besteht. Ausgelöst aber wird auch sie, ursprünglich wenigstens, durch einen Sinneseindruck, einen äuberen Reiz, der ganz wie beim Retlexmechanismus einen Sinnesnerven trifft, worauf dieser den Reiz nach einer bestimmten Nervenzellengruppe ddes nervösen Zentralorganes leitet und von dort aus durch feinste Ver- bindungen auf Bewegungszentren überträgt. Es gibt ungemein kompli- zierte Instinkthandlungen, und bei diesen löst offenbar die Vollendung der ersten Handlung die zweite aus, die Vollendung dieser zweiten die dritte und so fort, bis die ganze Kette zusammenhängender Bewegungen, welche die Gesamthandlung ausmachen, abgelaufen ist. Die Instinkte haben also eine materielle Grundlage in den Zellen und Fasern des Nervensystems und durch Veränderungen in dem Zu- sammenhang und der Erregbarkeit dieser Nerventeile werden sie eben- sogut abgeändert, wie irgendwelche Formenteile des Körpers, wie Gestalt und Farbe. Instinkte. 119 Bewußtseinshandlungen werden vom Willen direkt veranlaßt und stehen in vielfacher genauer Verbinduug mit Instinkthandlungen, in- sofern diese letzteren auch durch den Willen ausgelöst, d.h. in Gang gebracht oder gehemmt werden können, und dann, insofern auch um- gekehrt reine Willenshandlungen durch häufige Wiederholung zu instinktiven werden können. Das erstere findet z. B. statt, wenn beim menschlichen Kind das Saugen an der Mutterbrust bis ins zweite Lebensjahr hinein fortgesetzt wird, wie dies in den südlichen Ländern Europas nicht selten vorkommt. Ein solches Kind weiß genau, weshalb es nach der Brust verlangt, es übt also eine Bewußtseinshand- lung aus, während das Neugeborene rein instinktiv mit dem Mund um- hersucht und, wenn es das Gesuchte gefunden, die ziemlich komplizierten Saugbewegungen von selbst ausführt. Das Zweite aber geschieht z. B.. wenn wir gewohnt sind, beim Zubettgehen die Uhr aufzuziehen, und dies auch dann tun. wenn wir uns zufällig einmal bei Tage umkleiden, obgleich es dann unzweckmäbig ist, und wir es unterlassen würden, wenn diese Handlung vom bewubten Willen hätte ausgelöst werden müssen. In wie kurzer Zeit Willenshandlungen zu instinktiven werden können, beobachtet man gar manchmal an sich selbst. Als meine Re- montoiruhr wegen Reparatur beim Uhrmacher war, und dieser mir zur Aushilfe eine gewöhnliche, mit Uhrschlüssel aufzuziehende Uhr gegeben hatte, verwahrte ich den Urschlüssel in meinem Portemonnaie. Als ich nun nach acht Tagen meine Uhr zurückbekommen hatte, ertappte ich mich am ersten Abend beim Auskleiden darauf, dab ich „instinktiv“ das Portemonnaie aus der Tasche holte und es öffnete, um den Uhr- schlüssel herauszunehmen, den ich nun — wie ich wohl wußte — doch nicht mehr brauchte. Wie lange Reihen komplizierter Bewegungen, die ursprünglich nur durch den Willen ausgelöst wurden, instinktiv ab- laufen können, zeigt die Tatsache, daß wir auswendig gelernte Musik- stücke zuweilen fehlerlos von Anfang bis Ende spielen können, während wir an ganz andere Dinge denken. In ganz ähnlicher Weise werden sich die komplizierten Instinkthandlungen der Tiere abspielen. Eine scharfe Grenze ist also weder zwischen Reflex- und Instinkt- handlung, noch zwischen dieser und der Willenshandlung zu ziehen, die eine geht in «die andere über, und der Gedanke liegt nahe, daß auch in der phyletischen Entwicklung Übergänge aus der einen in die andere Handlungsform stattgefunden haben. Solange man noch an das LaA- MARCKSche Prinzip als ein tatsächlich wirkendes glaubt, liegt die Ver- mutung nahe, dab Handlungen, die ursprünglich vom Willen veranlabt waren, wenn sie häufig wiederholt werden, zu Instinkten werden könnten, mit anderen Worten, dab Instinkte, vielfach wenigstens, vererbte (Gewohnheiten wären. Ich werde Ihnen später zu zeigen versuchen, dab «diese Annahme, so plausibel sie auch auf den ersten Blick zu sein scheint, «dennoch nicht richtig sein kann; jetzt möchte ich mich darauf beschränken, Ihnen zu zeigen, daß es jedenfalls eine große Zahl von Instinkten gibt, deren Entstehung nur auf Selektionsprozesse zu beziehen ist und dab die übrigen, wenigstens prinzipiell, durch sie erklärt werden können. h Allgemein verbreitet ist der Trieb der Selbsterhaltung, wie er sich bei vielen Tieren darin äußert, daß sie vor ihren Feinden flüchten. Der Hase flüchtet vor dem Fuchs, wie vor dem Mensehen, die Vögel fliegen auf und davon, wenn die Katze naht, der Schmetterling flieht 120 Instinkte. schon vor dem Schatten des Netzes, das ihn fangen soll. Man könnte glauben, hier reine Bewußtseinshandlungen vor sich zu haben, und beim Hasen und den Vögeln spielt auch Erfahrung und Wille unzweifelhaft mit hinein, aber die Grundlage der Handlung ist doch auch bei diesen der Trieb: dieser und nicht Reflexion veranlaßt das Tier, auf den An- blick des Feindes hin, zu flüchten. Beim Schmetterling muß es ja reine Instinkthandlung sein, da dieser sie schon mit derselben Präzision aus- führt, wenn er eben aus der Puppe geschlüpft ist, also noch gar keine Erfahrung besitzt. Aber auch beim Vogel und Hasen würde das Flüchten in den meisten Fällen zu spät kommen, wenn erst Überlegung dazu nötig wäre, es muß so momentan erfolgen, wie der Lidschlag des von einer Verletzung bedrohten Auges, wenn es erfolgreich geschehen soll. Der Einsiedlerkrebs (Fig. 534 auf p. 136), der seinen weichen Hinterleib in einer leeren Schneckenschale birgt und mit dieser auf dem Meeresboden umherläuft, zieht sich, sobald irgend eine verdächtige Bewegung sein Auge trifft, blitzschnell in sein Schneckenhaus zurück, und es hält schwer, eines seiner Beine noch rechtzeitig mit der Pinzette zu fassen, um ihn aus seiner Schale herauszuziehen. Ebenso verhält es sich mit den sog. Meerpinseln, den Würmern der Gattuug Serpula und Verwandten; es gelingt nicht leicht, sie zu fassen, denn wenn man noch so rasch mit der Pinzette auf sie losfährt, so funktioniert ihr Flüchtungsinstinkt doch noch rascher: sie schießen in die schützende Röhre zurück, ehe man sie gefaßt hat. Aber dieser Trieb, vor Feinden zu flüchten, so selbstverständlich er scheint, ist doch durchaus nicht allen Tieren eigen, bei gar vielen äußert sich der Selbsterhaltungs- trieb in einer geradezu entgegengesetzten Weise, in dem sog. „Sich- totstellen“, d. h. in völliger Bewegungslosigkeit, und dem Verharren in einer bestimmten, dem Tier von seinem Instinkt genau vorgeschrie- benen Stellung. Ich habe Ihnen bei Gelegenheit der Schutzfärbung schon von jenem „Holzschmetterling“ gesprochen, der 'Xylina, (die einem abgebröckelten, halb verwitterten Stückehen Holz so täuschend gleicht und darauf hingewiesen, daß diese holzähnliche Färbung allein dem Tier wenig nützen würde, wäre sie nicht mit dem Trieb verbunden, bei Gefahr sich regungslos zu verhalten, sich „tot zu stellen“. Die Fühler und Beine werden dicht an den Leib gezogen, so daß sie die Maskierung eher noch verstärken und, statt davon zu laufen, rührt das Tier keinen Muskel, so lange, bis die Gefahr vorüber ist. Dieser In- stinkt muß sich Hand in Hand mit der Holzähnlichkeit entwickelt haben, und wie wir diese daraus herzuleiten suchten, daß der holzähnlichste Schmetterling stets am meisten Aussicht hatte, zu überleben, so wird auch immer derjenige seine Holzähnlichkeit am besten verwertet haben, der am stillsten Jag und Beine und Fühler dicht anzog. So muß der (sehirnmechanismus, der das Stillhalten auslöste, wenn die Sinne Ge- fahr anmeldeten, immer mehr sich befestigt und vervollkommnet haben. Selbst nahe verwandte Tiere können recht verschiedene Triebe zur Sicherung gegen Gefahr besitzen. So gibt es in der Gruppe der Taschenkrebse Arten, die davon laufen, wenn Gefahr droht, andere aber, die schon im voraus sich vor Entdeckung dadurch sichern, daß sie sich gewissermaßen maskieren. Sie halten mit.ihrem letzten Fuß- paar ein großes Stück eines Schwammes über sich, der dann weiter wächst und oft nur noch ihre Gliedmaßen und Gesicht frei läßt. Natür- lich ist hier von einem Bewußtsein dessen, was der Krebs tut, keine Rede, wie man am besten daran sieht, daß solche Krebse im Notfall Selbsterhaltungstrieb. 121 statt des Schwammes auch mit einer durchsichtigen Glasscherbe vorlieb nehmen: aber der Trieb, sich mit irgend etwas zu bedecken, sitzt in ihnen und änßert sich nicht bloß, wenn sie einen sie wirklich schützen- den Gegenstand erblicken, sondern auch dann, wenn derselbe durch- sichtig ist und seinen Zweck völlig verfehlt; Krabben, denen man ihren Schwamnı genommen hat, irren so lange umher, bis sie einen anderen finden: der Trieb wird also auch dadurch ausgelöst, daß sie ihren Rücken unbedeckt fühlen, nicht bloß durch den Anblick des Schwammes oder Steines. Die große Spitzkrabbe des Mittelmeers, Maja Squinado, führt diese Maskierung in etwas anderer Weise aus. Sie hat eigentümliche Hakenborsten auf dem Rücken und in diese hakt sie Algenbüschel ein, oft viele, so daß sie von ihnen ganz bedeckt wird und daß man nicht ein Tier, sondern ein Tangbüschel zu sehen glaubt. Hier ist also mit der Entwicklung des Instinktes, sich zu bestecken, eine körperliche Ver- änderung Hand in Hand gegangen: «die Borsten des Rückens haben sich hakig gebogen. Viele Instinkte sind von körperlichen Umwand- lungen begleitet. und auch bei den Krabben, die sich mit Steinen oder Schwämmen bedecken, ist dies der Fall, indem nämlich ihr letztes Fußpaar auf den Rücken gerückt ist, während es sonst an der Seite des Krebses eingelenkt ist. So können sie ihren Schwamm weit besser und dauerhafter festhalten, und da dies vorteilhaft ist, läßt sich die Veränderung aus Naturzüchtung sehr wohl herleiten. Lassen Sie uns noch eine andere Kategorie von Instinkten ins Auge fassen, die allergewöhnlichsten und unentbehrlichsten, diejenigen, welche die Nahrungsuche und -aufnahme leiten. Das eben aus dem Ei geschlüpfte Hühnchen piekt schon die vor- geworfenen Körner auf, ohne noch Erfahrungen über das, was Fressen heißt oder was ihm als Nahrung dienen kann gemacht zu haben: sein Nahrungstrieb äußert sich in Aufpieken, und er erwacht oder wird aus- gelöst durch den Anblick von Körnern. Wie LLovp MORGAN in seinem treffliehen Buch über die Instinkte der Tiere sehr gut sagt: „Es pickt nicht nach Körnern, weil der Instinkt ihm sagt, das sei etwas, was aufgepickt und geprüft werden müsse, sondern weil es nicht anders kann.“ So erwacht der Trieb der Nahrungsuche bei dem jungen Kätzchen beim Anblick einer Maus. Ich setzte einem solehen. ehe es noch jemals eine Maus gesehen hatte, eine solche lebend in der Falle vor. Das Tier kam in die größte Aufregung, und als ich die Falle öffnete und die Maus davonrannte, hatte die Katze sie in wenigen Sprüngen erreicht und gepackt. Der Trieb äußert sich also hier nicht wie beim Hühnchen im raschen Senken des Kopfes und Aufgreifen der Nahrung, sondern in einer ganz verschiedenen Kombination von Bewegungen, im Nach- springen und Erfassen des fliehenden Tieres. Aber nicht nur dies ist bei der Katze in der Instinkthandlung eingeschlossen, sondern auch das ganze wilde und grausame Nachspiel des Fangs, das bekannte Loslassen der Maus, Wiederfangen, das leidenschaftliche Knurren der Befriedigung, welches in seiner Wildheit viel mehr an einen blutdürstigen Tiger als an ein zahmes Haustier erinnert. Wie der Instinkt der Eiablage bei dem Schmetterlingsweibehen nur durch Anblick und Geruch einer bestimmten Pflanze ausgelöst wird, 80 auch der Nahrungstrieb der Raupe. Wenn Sie einer eben aus dem Ei geschlüpften Raupe des Seidenschmetterlings, Bombyx mon, ä 122 Instinkte. ein Maulbeerblatt hinlegen, so wird sie bald anfangen, dasselbe anzu- nagen: legen Sie ihr aber ein Buchenblatt oder das irgend eines anderen einheimischen Baumes, Strauches oder Krautes hin, so wird sie dasselbe nicht anrühren und einfach Hungers sterben. Und doch würde sie viele dieser Blätter ganz wohl fressen können, auch davon ernährt werden, aber der (Geruch und vielleicht auch der Anblick dieser Blätter wirken nicht auslösend auf ihren Freßtrieb. So gibt es viele Arten von Raupen, die monophag sind und nur auf eine einzige Pflanzenart des Landes beschränkt. Sie werden vielleicht fragen, wie denn durch Selektions- prozesse eine solche Einschränkung der auslösenden Reize auf einen einzigen habe eintreten können, da eine derartige Beschränkung der Nahrung doch unmöglich vorteilhaft sei. Die Antwort darauf läßt sich schon aus folgender Tatsache entnehmen: auf der Tollkirsche lebt ein kleines Käferchen, dessen Freßinstinkt auch auf diese einzige Pflanze beschränkt ist. Da nun die Atropa Belladonna von anderen Tieren ihrer Giftigkeit halber völlig gemieden wird, so ist dieses Käferchen gewissermaßen Alleinbesitzer der Tollkirsche: keine andere Art macht ihm seine Nahrung streitig, und darin dürfte sicherlich ein großer Vorteil liegen, sobald die anderen Instinkte, vor allem der der Eiablage des Käfers derart reguliert sind, daß die Larve sicher ist, ihrer Nähr- pflanze habhaft zu werden: dies ist aber der Fall. Bei vielen Raupen wird die Monophagie in ähnlicher Weise zu verstehen sein, es ist eine Anpassung an eıne bestimmte sonst wenig gesuchte Pflanze, die mit dem mehr oder weniger vollständigen Verlust der Reizfähigkeit durch andere Pflanzenarten verbunden ist. Das Zustandekommen eines so spezialisierten Nahrungstriebes beruht ‘auf seiner Nützlichkeit, und er- folgte so, daß Naturauslese immer solche Individuen bevorzugte, deren Nahrungstrieb durch möglichst wenige Pflanzen ausgelöst wurde und zugleich solche, welche sieh einer für die Art besonders vorteilhaften Pflanze am besten angepaßt zeigten, deren Nahrungstrieb nicht nur am stärksten durch diese eine Pflanze ausgelöst wurde, sondern deren Magen und gesamter Stoffwechsel sie auch am besten vertrug. So ver- stehen wir, warum so viele Raupen an Giftpftlanzen leben, nicht nur einzelne unserer heimischen Sphingiden, wie Deilephila Euphorbiae, sondern ganze Gruppen tropischer Papilioniden, Danaiden. Acraeiden und Helikoniden. Damit hängt dann auch wieder die Giftigkeit oder Widrigkeit ihrer Schmetterlinge zusammen. Wie verschieden aber der Instinkt des Nahrungserwerbs in ein und derselben Gruppe von Tieren ausgebildet sein kann. das sehen wir 7.B. schon daran, daß nicht selten in einer Gruppe von Organismen sowohl Pflanzen- als Moderfresser und Raubtiere vorkommen, so z. B. in der Ordnung der Wassertlöhe oder Daphniden, oder in der Klasse der Infusorien. Manche Arten ernähren sich derart, daß das Tier einen Strudel im Wasser erzeugt, der ihm einen Wasserstrom gegen seinen Mund führt und mit diesem zugleich allerlei pflanzliche oder tote Partikelehen:; andere leben vom Raub ihnen selbst ähnlicher anderer Tiere. Aber wenn auch der Nahrungsinstinkt sich bei allen Arten einer (ruppe auf lebende Beute richtet, so kann «die Erreichung derselben doch wieder durch ganz verschiedene Triebe erzielt werden. Solche feinere Abstufungen des Nahrungstriebes finden sich nicht selten schon in ganz kleinen Gruppen von Tieren, so z. B. in der der Ephe- meriden oder Eintagsfliegen. Alle ihre Larven leben vom Raub, Nahrungstriebe. 123 aber die der einen Familie, die durch die Gattung Chloöon repräsentiert wird, sucht ihrer Beute durch Schnelligkeit rennend und springend habhaft zu werden, die Larven der zweiten Familie mit der Haupt- gattung Baötis haben den Instinkt, ihren glatten. breiten Körper samt dem grobäugigen Kopf dicht an den Bachkiesel anzuschmiegen, auf dem sie sitzen. Sie sind demselben in der Färbung vollkommen ähnlich, und nun lauern sie, gewissermaßen unsichtbar, bis ein Opfer in ihren Bereich kommt, um sich dann mit einem Sprung auf dasselbe zu stürzen. Die dritte Gruppe, mit der Hauptgattung Ephemera, hat den Trieb, tiefe Röhren in den Schlamm am Boden der Gewässer zu graben und in diesen auf die Beute zu lauern. Wir haben also hier innerhalb dieser kleinen Gruppe der Eintagsfliegen drei Modifikationen des Raub- triebs, die sich recht wesentlich voneinander unterscheiden, sich aus ganz anderen Kombinationen von Hand- lungen zusammensetzen, und «denen folglich auch ein wesentlich verschie- dener leitender Gehirnmechanismus zu grunde liegen muß. Eines nur ist allen diesen Fällen gemeinsam: die Tiere stürzen auf die Beute, sobald sie der- selben nahe genug sind. Aber auch dies ist nicht überall im Nahrungstrieb enthalten. Die See- gurke, Cucumaria (Fig. 31), ernährt sich nach den Beobachtungen, welche Eiısıs in den Aquarien der Zoolo- gischen Station zu Neapel anstellte, in folgender Weise. Das Tier sitzt halb oder ganz aufgerichtet auf einem Felsenvorsprung und entfaltet seine zelın bäumchenförmigen Tentakel, wel- che den Mund umgeben. Dieselben sind verästelt und machen ganz den Eindruck kleiner Tangbüschel. Dafür werden sie wohl auch von vielen kleinsten Tieren genommen; denn Lar- ven aller Art, Infusorien. Rädertiere, _. 2 Würmer lassen sich auf ihnen nieder. T&, 21. Cucumarla, Soegurke mit entfalteten Tentakeln (ae) und ausee- Die Seegurke aber biegt abwechselnd streckten Füßchen (2): nach Lupwie. den einen, dann den anderen Tentakel unmerklich langsam um, führt die Spitze in den Mund, läßt sie langsam tiefer in den Schlund gleiten, solange bis der Tentakel ganz darin steckt, um ihn nach einiger Zeit ebenso allmählich wieder herauszuziehen und ihn von neuem zu entfalten. Offenbar wischt sie den Tentakel im Schlund ab und behält alles Lebende, was darauf saß für sich. Dies Spiel wiederholt sie Tag und Nacht, und es bildet für gewöhnlich die einzige sichtbare Lebensäußerung (des Tieres. Hier ist mit dem seltsamen Instinkt die körperliche Abänderung innig verknüpft, denn ohne die bäumehenförmigen Tentakel würde der Fang nicht oder doch schlecht gelingen. Andere Seewalzen haben andere Tentakel und benutzen dieselben auch in ganz anderer Weise, indem sie sich mittelst derselben den Mund voll Schlamm stopfen. Fr’ 124 Instinkte. Sehr häufig begleiten sichtbare körperliche Veränderungen den modifizierten Nahrungstrieb. Die meisten Raubfische jagen ihrer Beute nach. wie der Barsch, Hecht. Haifisch, aber es gibt auch hier Lauerer, und diese zeigen außer dem Lauerinstinkt noch bestimmte körperliche Anpassungen, ohne welche dieser Instinkt nicht so vollkommen zur Gel- tune kommen könnte. So stehen einem Fisch (des Meeres dem Sterngucker, Urano- scopus, die Augen nicht an den Seiten des Kopfes, sondern oben, und auch sein Maul ist nach oben gerichtet. Sein Instinkt treibt ihn. sich in Sand zu vergraben. so daß nur noch die Augen frei liegen. So lauert er, bis ein Opfer sich ihm nähert, um es dann durch eine plötzliche Be- wegung zu erschnappen. Er hat aber außerdem auch noch ein Lockorgan, einen weichen wurmförmigen Lappen. den er aus dem Munde vorstreckt. sobald kleine Fische sich nahen. Diese fahren auf den Köder zu und werden dabei gefangen. Solche raffinierte Fischerei, durchaus an den Forellenfang des Men- schen mit künstlichem Köder erinnernd, findet sich vielfach bei Raub- fischen; der Fisch handelt aber in allen diesen Fällen instinktiv, ohne Überlegung, nur auf die Wahrnehmung der Beute hin. Die Zweckmäßig- keit der Handlung beruht nicht auf einem Bewußtsein derselben, auf Überlegung, sondern ist eine rein mechanische, die dureh irgend einen Sinneseindruck ausgelöst wird. Das zeigt sich am besten an dem Irregehen des Instinktes, wie es stets dann eintritt, wenn das Tier in eine unnatürliche Lage ver- setzt wird, auf welche sein Instinkt gewissermaßen nicht berechnet ist. Die Maulwurfsgrille, welche sich der Verfolgung dureh Eingraben in die Erde zu entziehen gewohnt ist, macht heftig grabende Bewegungen mit den Vorderbeinen, auch wenn man sie auf eine Glasplatte setzt, in die sie unmöglieh sich eingraben kann; ein Ameisenlöwe, Myrmeleo, der den Trieb hat, sich durch Rückwärtsschieben des Hinterleibs in lockeren Sand einzubohren; geht auch auf einer Glasplatte rückwärts, so- bald Gefahr droht, und sucht sich mit größter Anstrengung in dieselbe einzubohren. Er kennt eben kein anderes Mittel der Flucht, und sein Intellekt ist viel zu schwach, um ihm ein neues an die Hand zu geben. Auch das gewöhnlichste Verfahren der Tiere, sich einer Gefahr zu ent- ziehen, das Davonlaufen, fällt ihm nicht ein; er handelt wie er muß ge- mäb des ihm innewohnenden Triebes, er kann nicht anders, Sehr merkwürdig ist mir immer der Wechsel des Instinktes in den verschiedenen Entwicklungsstadien ein und desselben Tieres erschie- nen; so der Wechsel des Nahrungsinstinktes bei Raupe und Schmetterling, bei deren Ersterer der Nahrungstrieb durch das Blatt einer bestimmten Pflanze, der des Letzteren nur durch den Anblick und Duft von Blumen ausgelöst wird, deren Honig er aufsaugt. Hier ist alles anders in den beiden Entwieklungsstadien, der ganze Apparat der Nahrungssuche und Nahrungsaufnahme, wie der Nerven-Mechanismus, der die Handlungsweise bestimmt. Und wie weit stehen die Reize oft auseinander, die den Trieb auslösen! Die Larve der Blumen-suchenden und Honig-saugenden Fliege, Eristalis tenax, ist die häßliche weiße sog. Rattenschwanz-Made, welche, schon von REAUMUR gut beschrieben, schwim- mend in Mistjauche lebt und sich von ihr nährt! Wie vollständige und tiefgreifende Veränderungen nieht nur des sichtbaren Baues, sondern auch der für jetzt noch nicht genau kontrollierbaren feinsten Nerven- Unvollkommenheit der Triebe. 125 Mechanismen müssen demnach im Wechsel der Zeiten und Umstände erzielt werden können! Aber nicht nur der Nahrungstrieb, sondern auch der Instinkt der Selbsterhaltung. der Bewegungsweise, kurz jede Art von Instinkt kann im Laufe eines Einzellebens mehrfach wechseln. Verfolgen wir den et- was verwickelten Lebenslauf eines Käfers aus der Familie der Blasen- käfer, Canthariden, wie wir ihn zuerst durch FABRE kennen gelernt haben, so legt das Weibchen des rotschultrigen Bienenkäferchens, Sitaris hume- ralis, seine Eier in die Nähe des unterirdischen Nestes einer Honig- sammelnden Erdbiene, Anthophora, auf den Boden ab. Die ausschlüpfen- den Larven sind hurtig, sechsbeinig, mit hornigem Kopf und beißenden Mundteilen, sowie mit einer Schwanzgabel zum Springen ausgerüstet (Fig. 32,@). Die Tierchen haben zunächst keinen Nahrungstrieb, wenigstens äubert sich ein solcher nicht, vielmehr rennen sie nur umher, und sobald sie einer Biene der Gattung Anthophora ansichtig werden, springen sie auf dieselbe und verbergeu sich in ihrem dichten Haarpelz. Treffen sie es glücklich, so ist die Biene ein Weib- chen, gründet eine neue Kolonie und baut Zellen, in deren jede sie etwas Honig einträgt und ein Ei darauf legt. Sobald dies geschehen ist, springt die Sitaris- Larve ab, beißt das Bienenei auf und frißt den Inhalt desselben allmählich auf. Dann häutet sie sich und nimmt nun die Ge- stalt einer Made an Fig. 32. Metamorphose von Sitaris humeralis, einem mit kleinen Füßchen Blasenkäfer, nach FABRE. a erste Larvenform, stärker undunvollkommenen vergrößert, 5 zweite Larvenform, c Ruhezustand dieser Larve Kauwerkzeugen (b): (sog. „Scheinpuppe“), # dritte Larvenform, e Puppe. auch die Schwanzga- bel geht verloren, sie braucht alle diese Teile nicht mehr, da sie nun olıne weitere Ortsbewegung flüssige Nahrung, den Honig der Zelle zu sich nimmt, gerade so viel, als zu ihrem Heranwachsen nötig ist. Dann überwintert sie in ihrer erhärteten, puppenartigen Haut (c) und erst im nächsten (dem dritten) Jahr schlüpft nach nochmaliger kurzer Larven- zeit (d) und nachfolgender wirklicher Verpuppung (7) der Käfer aus. Dieser aber hat wieder beißende Mundteile und frißt Blätter und hat Beine zum Laufen und Flügel zum Fliegen. Bei diesem Käfer wechselt also der Nahrungs-Instinkt «dreimal im Leben, zuerst bildet das Bienenei den auslösenden Reiz, dann der Honig, schließlich Blätter. Ebenso verändert sich der Ortsbewegungs- Instinkt, der zuerst sich im Rennen und Springen, im Anklammern äußert, dann im Stilliegen als Made in der Bienenzelle, schließlich im Fliegen und Umherlaufen auf Büschen und Bäumen. ' Wir können es wohl verstehen. wie nach und nach im Laufe un- gezählter Insektengenerationen und -arten, die verschiedenen Entwick- 126 Instinkte. lungsstufen mittelst Selektion sich körperlich und in ihren Instinkten immer weiter voneinander entfernten, indem sie sich abweichenden Lebens- bedingungen immer besser anpaßten, und wie dann zuletzt so häufige und so stark abweichende Instinkte der einzelnen Lebensstadien sich ausbilden konnten. Eine andere Erklärung läßt sich aber dafür nicht geben: nur dureh Naturzüchtung können wir solche Anpassungen im Prinzip wenigstens verstehen. So ist das Tier also sehr wohl einer Maschine zu vergleichen, die so eingerichtet ist, dab sie unter den gewöhnlichen Umständen richtig arbeitet, das heißt, alle Handlungen ausführt, die zur Erhaltung des In- dividuums und der Art nötig sind. Die Teile der Maschine sind aufs beste zusammengepabt und greifen so künstlich ineinander, daß unter normalen Verhältnissen stets ein zweckmäßiges Resultat dabei heraus- kommt. Wir haben gesehen, wie genau der auslösende Reiz für eine Handlung bestimmt sein kann, und dies sichert eine weitgehende Spe- zialisierung der Instinkte. Wie aber jede Maschine nur mit dem Material arbeiten kann, für welches sie erbaut ist, so kann auch der Instinkt nur dann eine zweckentsprechende Handlung hervorrufen, wenn sich das Tier unter den natürlichen Verhältnissen befindet. Seine Spezialisierung hat auch ihre Grenze, und auch darin liegt ein Grund seiner beschränk- ten Zweckmäßiekeit. Wenn z. B. die Larven von Sitaris nicht durch jede Biene angeregt würden, auf sie zu springen und sich an sie zu klammern, sondern nur durch die weiblichen, so würde es vermieden, dab viele dieser Larven zugrunde gehen, weil sie auf männliche Bienen geraten, die gar keinen Stock gründen, oder daß sie gar auf andere fliegende Insekten springen, die ihnen ebenfalls nicht die Möglichkeit zur Weiterentwicklung bieten. Beides aber geschieht, wenn auch das Letztere meines Wissens noch nicht von Sitaris-, wohl aber von den verwandten Meloälarven beobachtet wurde. „Der Instinkt irrt hier“, pflegt man zu sagen, in Wahrheit aber irrt er nicht, sondern ist nur in Bezug auf den die Handlung auslösen- den Reiz nicht so genau spezialisiert, wie es uns als völlig zweckmäßig erscheinen würde. Gerade in dieser Unvollkommenheit aber liegt, wie mir scheint, wieder ein Beweis dafür, daß wir es hier mit den Resultaten von Selektionsprozessen zu tun haben, denn solche können ihrer Natur nach nie vollkommen sein, vielmehr immer nur relativ voll- kommen, d. h. so vollkommen, als es nötig ist, damit die Art besteht. In dem Moment, in welchem dieser Grad der Vollkommenheit erreicht ist, hört jede Möglichkeit einer weiteren Steigerung der Zweckmäßigkeit auf, weil sie dann nicht mehr wirklich zweckmäßig ist. Weshalb z. B. sollte sich in diesem Fall der auslösende Reiz noch genauer speziali- sieren, wenn auch ohnedies immer noch genug Sitarislarven auf Weibchen gelangen? Nicht umsonst sind die Käfer dieser Familie so fruchtbar; was dem Instinkt an Genauigkeit abgeht, das wird durch die Masse der Jungen Larven ersetzt. Legt doch ein einziges Weibchen des Maiwurms mehrere Hundert Eier. x Wenn wir aber das Tier eine Maschine nennen, so muß dem noch hinzugesetzt werden: eine in verschiedenem Grade verstellbare Maschine, die auf Hoch- oder Niederdruck, auf Langsam- oder Rasch- arbeiten, auf Fein und Grob eingestellt werden kann. Diese Einstellungen besorgt der Verstand, das unbewußte Denken, wie es den höchsten Tieren in bedeutendem Grade zu eigen ist, wie es aber bei niederen Tieren immer mehr, schließlich bis zur Unkenntlichkeit zurücktritt. Die & } > wg Entstehung durch Gebrauch. 497 _ Instinkthandlung kann durch Einsicht und Willen modifiziert oder unter- drückt werden, wie Sie an jedem dressierten Raubtier sehen können, das seinen Hunger bezwingt und den Trieb, das vorgehaltene Stück Fleisch zu erschnappen, weil es weiß, daß sonst schmerzhafte Prügel die Folge sind. Ich werde in einer späteren Vorlesung auf den Zu- sammenhang von Willen und Instinkt zurückkommen, hier handelte es sich nur darum, die Instinkte als Ausfluß von Selektionspro- zessen und als einen der indirekten Beweise für die Wirklich- keit derselben ins Auge zu fassen. Aus dem bisher Gesagten geht jedenfalls soviel hervor, dab prin- zipiell nichts entgegensteht, wenn wir die Instinkte auf Selektion be- ziehen, da ihr Wesen eben gerade ihre Zweckmäßigkeit ist, und da zweckmäßige Abänderungen diejenigen sind, welche im Kampf ums Da- sein erhalten werden. Aber man könnte doch glauben, daß hier überall auch das Prinzip vom Gebrauch und Nichtgebrauch mitwirkt, und daß ohne dasselbe eine Abänderung von Instinkten nicht zu Stande kommen könne. Es gibt indessen zahlreiche Instinkte, bei denen dies geradezu ausgeschlossen werden kann. Wir haben früher ausführlich die Schutzfärbungen besprochen, welche die Insekten, besonders die Schmetterlinge vor der Vernichtung durch ihre zahlreichen Feinde sichern, und dabei auch erwähnt, dab die- selben immer auch von entsprechenden Instinkten begleitet werden, ohne die die Schutzfärbung und die täuschende (Gestalt ihnen nichts oder doch nicht so viel helfen würde. Hätte die der Eichenrinde so täuschend ähnliche Raupe des Ordensbandes, Catocala sponsa, nicht zugleich den Trieb, bei Tage von den Blättern weg und in die Spalten der Rinde am Stamm der Eiche zu kriechen, so würde ihr ihre Verkleidung kaum etwas nützen, und würde die räuberische und grasfarbige (sottesan- beterin nicht den Instinkt haben, vollkommen still im Gras auf Beute zu lauern, vielmehr ihr nachjagen, so würde sie bei ihrer ziemlich ge- messenen Bewegungsart wohl keines ihrer Opfer erhaschen. Diese An- passung der Instinkte an die Schutzfärbungen geht bis in kleine, schein- bar unbedeutende Einzelheiten hinein. So ist es eine von verschiedenen Beobachtern sicher gestellte Tatsache, daß die widrigschmeekenden, zu- weilen wohl auch geradezu giftigen Schmetterlinge, welche «durch grelle oder kontrastierende Farbenmuster gekennzeichnet sind, alle langsame Flieger sind. So die Danaiden und Euplöiden der alten, so die Heli- koniden der neuen Welt: viele ihrer mimetischen Nachahmer tliegen ebenso langsam. Fragen wir nun, wie dieser Trieb des flatternden, sorglosen Flugs ihnen eigen geworden ist, so können wir (die Gewohnheit als primum movens ganz ausschließen, denn es fehlen äußere Bedingungen, welche den Schmetterling zu langsamerem Flug veranlaßt haben könnten, als seine Vorfahren ihn besaßen. Daß es jetzt wo er als widrig signiert ist — für ihn vorteilhaft ist, recht deutlich gesehen und erkannt zu werden, kann keinerlei direkte Wirkung auf seine Flugweise ausüben, da er davon nichts weiß. Nehmen wir selbst an, es träten einzelne Varia- tionen mit langsamerem Fluginstinkt auf, so würde doch ohne Selektion, kein Grund vorliegen, warum gerade diese allein sich vermehren sollten, und noch weniger, warum die zuerst nur schwache Verlangsamung des Flugs im Laufe der Generationen sich noch steigern sollte. Im (Gregen- teil! die Tiere fliegen ja doch sehr viel, ganz wie andere Tagfalter so- u. 128 Instinkte. lange «lie Sonne scheint, sie üben also fortwährend ıhr Flugvermögen und müßten sonach — wenn Ubung der einen Generation die naclı- folgenden beeinflußte — allmählich wieder schneller flugfähig werden. Es geschieht hier gerade das Entgegengesetzte von dem. was man dem LAMARcKSchen Prinzip zuschreibt: starker (gebrauch müßte hier Herab- sinken der betreffenden Teile hervorrufen. (Ganz anders wenn wir Selek- tion in Betracht ziehen. Nun überleben die im Anfang zufällig auftre- tenden Variationen mit langsamerem Flug, weil sie am leichtesten er- kannt und gemieden werden: sie also sind die am häufigsten Überleben- den: sie hinterlassen Nachkommen, die den langsameren Fluginstinkt erben. und bei denen er sich solange noch steigert, als diese Steigerung noch einen Vorteil gewährt. Sobald dies nicht mehr der Fall ist, steht die Veränderung still, sie ist den nunmehrigen Lebensbedingungen angepaßt. (Ganz ähnlich werden wir uns alle die tausenderlei Regulierungen der Bewegungen der Tiere durch den Instinkt zustande gekommen vorstellen können, und bei den meisten auch vorstellen müssen. Denn nur bei solchen mit hoher Intelligenz könnte in Frage kommen, ob nicht das Tier die zweckmäßige Abänderung seiner Bewegungsweise aus Überlegung habe eintreten lassen. Bei Insekten aber kann (a- von jedenfalls nur in sehr beschränktem Maße die Rede sein, wenn ich auch nicht bestreite, daß die intelligenteren unter ihnen lernen, Er- fahrungen machen, und daß sie ihre Handlungen demgemäß modifizieren können. Aber beim Flüchten spielt Erfahrung nicht mit, da das erste Erwischtwerden gewöhnlich schon mit dem Tode bestraft wird. Harmlos und ohne Ahnung der von allen Seiten sie umlauernden Gefahren schweben die Schmetterlinge dahin, nur geleitet von ihren Instinkten, die aber so genau auf ihre gewöhnlichen Lebensbedingungen passen, dab ihrer stets eine zur Erhaltung der Art hinreienende Anzahl aus den vielen Fährlichkeiten glücklich entkommt. Ich erinnere an das oben nach HAHNEL erzählte Beispiel des Falters, der den schnellen Eidechsen (durch sein rasches Auffliegen vom süßen Köder entging, ohne Sorge aber sofort wieder sich auf demselben niederließ, um abermals vor der Eidechse aufzufliegen und so mehrmals hintereinander. Wir beurteilen solehe Handlungen meist viel zu menschlich; der Falter will nicht etwa dem ihm drohenden Tode entfliehen; vom Tode weiß er Nichts: es geht ihm nieht wie dem Dr. HAnHxer selbst, der einst vom Dickicht aus von einem Jaguar bedroht wurde und nun völlig erschüttert von der Todesgefahr, der er glücklich entronnen war, an demselben Ort nicht wieder vorüber will und einen weiten Umweg nach Hause macht. Der Schmetterling handelt gar nicht nach Überlegung und Vor- stellungen, er fliegt blitzschnell auf, wenn die Eidechse auf ihn losfährt, weil diese rasche Bewegung, die er sieht, als Reiz auf die Auslösung seines Flüchtungstriebes einwirkt, und (dieser arbeitet so prompt, dab er ihn in den meisten Fällen vor dem Untergang rettet. Sein Gemüt wird aber durch die so nahe Gefahr nicht weiter getroffen, und er folgt ruhig wieder von Neuem seinem Nahrungestrieb, der ihm gebietet, sich auf den süßen Köder zu setzen, bis der Gesichtseindruck der wiederum auf ihn losstürzenden Eidechse von Neuem wieder seinen Flüchtungs- trieb auslöst. Er ist ein Spielball seiner Triebe, eine Maschine, die genau so arbeitet, wie sie muß. Daß nur Sinneseindrücke und nicht Vorstellungen hier die Handlungen auslösen, kann man leicht an scheuen Arten von Schmetterlingen, wie etwa unserem Schillerfalter, Apatura en Be | Te — m m Ziegen rn U En ne 2 ER em Zn 14 7 ‘ Nur einmal ausgeübte Triebe. 129 Iris, wahrnehmen, der von der feuchten Waldstraße, auf der er sich gern niederläßt, mit Blitzesschnelle auffliegt, sobald irgend ein rasch bewegtes (Gresichtsbild, sei es auch nur ein Schatten, sein Auge trifft. Deshalb sucht sich der Schmetterlingsjäger ihm so zu nähern, daß sein Schatten ihm nicht vorausgeht. Dann aber läßt das Tier den heran- schleichenden Feind nahe kommen und fliegt erst auf, wenn dieser das Netz rasch auf ihn zu bewegt. Wahrscheinlich ist auch das Auge dieser Tiere vorzüglich für die Wahrnehmung von Bewegungen ein- gerichtet, jedenfalls aber reagiert der Fluchtinstinkt sehr prompt auf solche Gesichtseindrücke, und wir verstehen, daß er so reguliert werden mußte, wenn dies — wie wir annehmen — «durch Selektionsprozesse geschah, denn die Feinde der Schmetterlinge: Vögel, Libellen, Eidechsen, schießen rasch auf ihre Beute los und es müssen daher immer die- jenigen Schmetterlinge überlebt haben, deren Instinkt sie am raschesten flüchten hieß. Es kann also in diesem, wie in tausend anderen Fällen der In- stinkt des Flüchtens wie überhaupt der Bewegungsart nicht als .„ver- erbte Gewohnheit“ erklärt werden, weil der Grad von Intelligenz fehlt, der hier allein die Abänderung der bisherigen Gewohnheit, d. h. Be- wegungsweise hätte veranlassen können, und ebenso verhält es sich bei Tieren mit niederem Verstand bei allen anderen Instinkten, bei denen sonst an eine Anwendung (des Lamarckschen Prinzips gedacht werden könnte. Es gibt aber auch eine ganze große Gruppe von Instinkten, bei welchen dieser Gedanke überhaupt nicht aufkommen kann, wie ich schon vor Jahren darleste, und das sind alle diejenigen Triebe, die in jedem Leben nur einmal zur Ausübung gelangen. Diese können un- möglich auf Einübung im Eimzelleben und Übertragung dieser Übung auf die folgende Generation beruhen; sie können also nur durch «die Selektion erklärt werden, wenn wir nicht auf eine naturwissenschaftliche Erklärung überhaupt verzichten und sie als „Wunder“ einfach hinnehmen wollen. Dahin gehören z. B. alle die mannigfaltigen Instinkte, durch welche sich die Insekten im Puppenstadium gegen Angriffe zu schützen wissen. Schon das Sichaufhängen der Tagfalter ist keineswegs eine so ganz einfache Instinkthandlung. Die Raupe spinnt zuerst an einem passenden Ort eine kleine rundliche Platte von Seidenfäden, an der sie sich dann mit dem Hinterende aufhängt und zwar so fest, daß sıe nicht leicht abreißen kann. Komplizierter noch wird (die Befestigung der Puppe, wenn sie nicht frei herabhängen, sondern an die Mauer oder den Baum angedrückt verharren soll, wie dies bei den Papilioniden und Pieriden der Fall ist. Hier muß die Raupe außerdem noch in künst- licher Weise einen Seidenfaden quer um ihren Thorax hinüber spannen und zwar genau so, daß derselbe über etwa die Mitte der Flügelanlagen hinläuft, und nicht zu locker, da sonst die Puppe herausfallen könnte, aber auch nicht allzu fest, weil der Faden sonst in die Flügelanlage zu tief einschneiden und ihre Entwicklung hemmen würde. Wenn man be denkt, daß die Raupe es ist, die das alles tut, ehe sie noch die Puppen- form angenommen hat, daß es aber alles für die Körpergestalt der Puppe passen muß, so wird man über die außerordentliche Genauigkeit er- staunen, mit welcher der Instinkt die einzelnen Bewegungen vorschreibt, | welche die ganze verwickelte Handlung zur Ausführung bringen. Und | doch vollzieht jede Raupe nur einmal in ihrem Leben diese Handlung, EEE. EEE Eee se — ne Weismann, Deszendenztheorie. I. 2. Aufl 130 Instinkte. dieselbe kann also der einzelnen Raupe zu keiner Zeit der Artentwick- lung zur (sewohnheit geworden. kann somit keine „vererbte Gewohn- heit“ sein. Und wie verschieden sind die Arten der Sicherung der Puppen in den verschiedenen Schmetterlinesfamilien. die doch alle auf eine Wurzel zurückzuführen sind, wenn der Schmetterlingsstamm von einer Stammgruppe sich herleitet. Die Raupe der Sphingiden kriecht nicht aufwärts an Wänden und Bäumen, wenn sie zur Verpuppung reif ist. wie die der Tagfalter es vielfach tut, sondern ihr Instinkt treibt sie, solange auf der Erde umherzurennen, bis sie eine Stelle gefunden hat, die ihr geeignet erscheint, um sich in den Boden einzubohren, oder weniger bildlich gesprochen: solange, bis sie an eine Stelle kommt, deren Be- schaffenheit als auslösender Reiz auf den Trieb wirkt, sich einzuwühlen. Dann dringt sie mehr oder weniger tief ein, je nach ihrer Art, und verfertigt sich eine Kammer, die sie mit Seidenfäden austapeziert, so dab sie nicht zusammenstürzt; dann erst häutet sie sich und verwandelt sich in die Puppe. Wie genau ihr «dabei die Einzelbewegungen durch den Instinkt vorgeschrieben sind, sieht man am besten daran, dab sie ihre Puppenkammer genau so grob macht, wie sie sein mub, damit die Puppe bequem darin Platz hat, nicht gedrückt wird, und doch auch kein überftlüssiger freier Raum bleibt. Das ist nicht so einfach, als es scheint, und geht nieht unmittelbar schon aus der Gröbe (des Tieres hervor, denn die Raupe ist viel länger, überhaupt voluminöser, als die Puppe. Dasselbe zeigt auch der Hirschschröter, Lucanus cervus, der größte unberer einheimischen Käfer, der seinen Namen von den mächtigen geweihartigen Kiefern hat, welche das Männchen auszeich- nen. Auch er verpuppt sich in der Erde und macht einen groben und harten Ballen aus Lehm, der innen hohl und glatt, wie poliert ist, und dessen Höhlung genau auf die Größe der zukünftigen Puppe, ja genau genommen sogar auf die des ausgebildeten Käfers paßt. Denn, wie RÖSEL von ROSENHOF seinerzeit schon „mit Verwunderung beobachtet hat“, haben „diejenigen Ballen, in denen die Männlein liegen, eine viel längere Höhle, als die so sich die Weibchen bauen und dieses deswegen, weil wenn der Schröter aus der Puppe kommet, derselbe, wenn er ein Männlein ist, seine Hörner, so zuvor auf der Brust gelegen, muß aus- strecken können.“ „Denn die Schröter begeben sich nicht eher aus ihrer Wohnung, als bis alle ihre Teile genugsam erstarket, und gehöriger- maßen gehärtet worden sind, und diejenige ‚Jahreszeit sich eingestellt hat, in welcher sie umherzutliegen pflegen.“ Die männliche Larve macht also gewissermaßen in Voraussicht der später erst zu so gewaltiger Größe auswachsender Kiefer, ein viel längeres Puppenhaus als die weibliche Larve! Der Instinkt ist hier zweigestaltig, wie «die körperlichen Teile des Käfers weiblich oder männlich. Auch hier handelt es sich um eine nur einmal im Leben ausgeübte Handlung, und es ist somit die Möglich- keit einer anderen Erklärung für die Entstehung dieses Instinktes, als durch Naturzüchtung ausgeschlossen. Nicht minder bedeutsam ist der Fall der Seideneocons. Die Ge- spinste, welche die Seidenraupe verfertigt, sind eiförmig und bestehen aus einem einzigen, viele tausend Meter langen Faden, der so um die spinnende Raupe herumgeschlungen wird, daß keine Lücke bleibt. Das (espinst ist fest, zäh und sehr schwer zerreißbar, gewährt also der darin ruhenden Puppe jedenfalls bedeutende Sicherung gegen Nachstellungen, I u ze > 2 = e DEE ae Ze En Zr es B- Nur einmal ausgeübte Triebe. 131 Allein der Schmetterling muß auch ausschlüpfen können, und zu diesem Behuf wird die Raupe durch ihren Instinkt zu solchen Spinnbewegungen geleitet, daß das (sespinst am vorderen Ende etwas lockerer ausfällt, so daß es der zum Ausschlüpfen reife Schmetterling mit seinen Füßen auseinanderreißen und sich einen Ausgang verschaffen kann. Aus diesem Grund, d. h. weil das (Grewepe vom Schmetterling zerrissen und ver- dorben werden muß beim Ausschlüpfen, töten dir Seidenzüchter die Puppe vor dem Auskriechen. Es gibt nun aber auch Arten, deren (Gespinst von vornherein mit einem Ausgang angelegt wird, indem die Raupe den Faden so um sich herum schlingt, daß eine runde Öffnung bleibt. Diese würde nun aber nicht nur dem Schmetterling eine bequeme Pforte zum Auskriechen, sondern auch allen Feinden ein bequemer Eingang zur Puppe sein. So ' wird sie denn verschlossen, und zwar beim kleinen Nachtpfauenauge, ' Saturnia Carpini, in der Weise, daß ein Kranz spitzer steifer Borsten ' aus Seide innen angebracht wird (Fig. 33), deren Spitzen sich nach außen zusammenneigen wie eine Fischreuse (7): von innen kann also . der Schmetterling leicht die Borsten auseinander biegen (P), indem er ' sieh durch die Reuse drängt, der | ' von außen «drohende Feind aber A B ' wird durch die starren Spitzen der ' Borsten zurückgeschreckt. I: Ki Ein solches Gespinst ist einem u Kunstwerk zu vergleichen, an dem jeder Teil mit dem übrigen har- moniert, und alle zusammen das möglichst Zweekmäßige herstellen. - Dennoch wird es verfertigt, ohne daß die Raupe eine wenn auch noch so entfernte Ahnung von dem hätte, was sie bezweckt, wenn sie den unendlichen Seidenfaden | in kunstreichen, genau vorge- Fig. 33. Gespinnst vom kleinen Nacht- sehriebenen Touren um sich herum PFauenauze, Sanurnla sarpin), 2 schlingt. Sie hat auch keine Zeit Jar: | zum Probieren oder Lernen, sondern muß alle die verwickelten Beu- ‚ gungen und Drehungen ihres Kopfes, der den Seidenfaden spinnt, und ' ihres Vorderleibs, der ihn führt, gleich das erste Mal völlig genau | und richtig machen, falls ein gutes Gespinst zustande kommen soll. Hier ist jede Möglichkeit, diesen Instinkt als „Vererbung einer | Gewohnheit“ zu deuten, ausgeschlossen, denn jede Raupe verpuppt sie h nur einmal, und ebensowenig wird sie durch den Verstand geleitet, da | sie weder wissen kann, daß jetzt eine Puppe aus ihr werden, noch daß diese von Feinden bedroht sein wird, welche in ihr Gespinst eindringen wollen, noch daß die Borstenreuse einen Schutz gegen diese abgeben | kann. Nur der ‚langsame Prozeß der Häufung kleinster nützlicher Varia- tionen des uralten Spinntriebes durch Selektion kann hier eine Erklä- | rung anbahnen, und es ist wunderbar zu sehen, wie genau sich diese Fähigkeit des Einspinnens «den speziellen Lebensbedingungen «der ein- | zelnen Arten angepaßt hat. So gibt es mehrere Saturniden, deren mächtige Raupen an grob- ) blättrigen Bäumen leben, und diese benutzen die großen Blätter, um sich | in ihnen zu verpuppen, indem sie sie zusammenspinnen, so daß ihr Cocon ı» P 132 Instinkte. zum gröbten Teil vom Blatt umhüllt wird. Da nun aber das Blatt durch das Gewicht der Puppe leicht abfallen könnte, so spinnen sie den Stiel des Blattes an den Zweig fest, an dem es sitzt, sie verbinden beide durch ein breites und starkes, festanliegendes Seidenband. Von dem größten aller Spinner, dem chinesischen Attacus Atlas, erzählt SEITZ, daß «diese Seidenhülle sich „bis zum nächsten stärkeren Aste fortsetzt, so daß es unmöglich ist, die Blätter, die eine Atlaspuppe beherbergen, mit der Hand vom Baum abzulösen.“ Diese Puppe wiegt freilich auch ll Gramm. Da Instinkte variiren, ebensogut wie die sichtbaren Teile des Tiers, so ist die Handhabe gegeben, mittelst welcher Selektion alle diese so speziellen Anpassungen an die gegebenen Bedingungen zustande bringen kann, indem sie immer die zweckmäßigsten Variationen eines bereits vorhandenen Instinktes zur Nachzucht erhält. Jede andere Er- klärung ist auch hier wieder ausgeschlossen. Ebenso verhält es sich bei vielen Insekten mit der Eiablage. Auch sie wird oft nur einmal im Leben ausgeübt, und das Tier stirbt, ehe es den Erfolg seiner Handlung auch nur gesehen hat. Dennoch vollzieht es die Eiablage in der richtigen Weise und mit vollkommenster Sicherheit. Es weiß sozusagen, genau, wohin, in welcher Anzahl und wie es die Eier abzulegen hat. Manche Eintagstliegen lassen die ganze Eiermasse auf einmal ins Wasser fallen, in dem ihre Larven leben; manche Schmetterlinge, z. B. Macroglossa stellatarum, legen ihre Eier einzeln und zwar an bestimmte Pflanzen, der eben genannte „Taubenschwanz* an Galium Mollugo; andere wie Melitaea Cinxia legen dieselben haufen- weise an die Blätter des Wegerichs Plantago media, oder wie Aglia Tau an die Rinde eines großen Buchenstammes. Nichts an diesen verschie- denen Methoden der Eiablage ist zufällig oder willkürlich, alles durch den Instinkt bestimmt und geregelt, und zwar — soweit wir es einsehen können — so zweckmäbig als möglich. Wenn z. B. Macroglossa stellatarum ihre Eier einzeln oder nur zu zweien und dreien an die grünen Blättehen der Nährptlanze legt, so beugt sie dadurch späterem Nahrungs- mangel der ziemlich großen Raupen vor, deren nicht viele zusammen auf einem Labkrautbusch leben könnten, während Aglia Tau ruhig mehrere Hundert Eier auf demselben Buchenstamm absetzen kann, ohne fürchten zu müssen, daß ihre Räupehen nicht alle ihre reichliche Nah- rung finden würden. Die Präzision, mit welcher der Trieb der Eiablage arbeitet, ist aber noch viel größer bei anderen Arten. bei welchen es sich noch um speziellere Bestimmungen dabei handelt, wo die Eier etwa nur auf die Unterseite der Blätter gelegt werden, wie bei Vanessa Prorsa, oder wo dieselben außerdem noch zu kleinen Säulchen aufeinander ge- klebt werden, so daß sie den grünen Blütenknospen der Nährpflanze (Brennessel) täuschend gleichen. Es ist gewiß erstaunlich, wie genau hier der Reiz zur Auslösung des Triebs spezialisiert ist. Im allgemeinen dient wohl als solcher bei den Schmetterlingen der Geruch der Nährpflanze der Raupe, dieser zieht das zum Eierlegen bereite Weibchen an, aber völlig wird der Reiz da- zu «doch erst durch den gleichzeitig einwirkenden Gesichtseindruck der Unterseite eines Blattes ausgelöst. Man muß erstaunen, daß so fein ab- gestufte Nervenmechanismen im kleinen Gehirn eines Schmetterlings Platz hatten, und doch würde es leicht sein, noch viel verwickeltere Instinkte der Eiablage von Insekten vorzuführen. Hyodrophilus piceus, der grobe Wasserkäfer, legt seine Eier in ein von ihm verfertigtes schwimmendes Instinkte. 133 Floß, die Gallwespen müssen erst mit ihrem Legestachel in einen be- stimmten Teil einer Pflanze stechen, um ihre Eier an den richtigen Platz zu bringen und dies keineswegs aufs Geradewohl, sondern mit großem Bedacht und in ganz bestimmter Weise. Aber es kann mir hier nicht darauf ankommen, viele oder recht verwickelte Fälle von Eiablagen auf- zuführen, ich habe Ihnen nur zeigen wollen, daß es gerade auch in den einfachen Fällen, wie bei den genannten Schmetterlingen immer eine genau regulierte Kombination von Handlungen ist, welche mecha- nisch abrollt, und welche nicht als vererbte Gewohnheit erklärt werden kann, weil sie bei keinem Individuum irgend einer Generation Gewohn- heit war. Damit ist denn wohl außer Zweifel gesetzt, daß mindestens sehr zahlreiche Instinkte auf Selektion beruhen müssen, ınd es wäre nach dieser Richtung nutzlos, die Betrachtung noch auf andere Gruppen von Instinkten auszudehnen. Später aber werde ich noch einmal auf die Instinkte zurückkommen, nachdem wir die Grundzüge der Vererbungs- gesetze kennen gelernt haben, und dann werden Sie sehen, daß auch bei höheren Tieren die Instinkte niemals aus dem LamAarckschen Prin- zip erklärt werden können. IX. VORTRAG. Lebensgemeinschaften oder Symbiosen. Einsiedlerkrebse und Seerosen p. 155, Einsiedlerkrebse und Hydroidpolypen p. 156, Fischehen und Seerose p. 139, Grüner Süßwasserpolyp p. 140, Grüne Amöbe p. 141, Seerosen und gelbe Algen p. 142, Armleuchterbaum und Ameisen p. 143, Flechten p. 144, Wurzelpilze p. 146, Entstehung der Symbiosen p. 147, Nostoe und Azolla widerspricht scheinbar der Entstehung durch Naturzüchtung p. 148. Meine Herren! Wir haben schon an vielen Beispielen kennen gelernt, in wie ausgedehntem Maße Tiere und Pflanzen imstande sind, sich neuen Lebensbedingungen anzupassen, wie Tiere in Farbe und Ge- stalt ihre Umgebung nachahmen, wie die Instinkte nach allen Rich- tungen abgeändert sind, wie Pflanzen die zufällige, aber häufige Be- rührung mit kleinen Tieren benutzt haben, um sie als Nahrung für sich zu verwerten und Einrichtungen an sich zur Ausbildung zu bringen, die geeignet sind, viele dieser kleinen Tiere in ihre Gewalt zu bringen, und sie in möglichst ausgiebiger Weise als Nahrung zu verwerten. Zahlreiche solche Fälle konnten ihre Erklärung nur in Naturzüchtung finden, bei anderen war es mindestens sehr wahrscheinlich, daß sie bei ihrem Zustandekommen mit im Spiel war. Ganz besonders scharf nun läßt sich der Beweis für die Wirk- lichkeit der Naturzüchtung da führen, wo eine Lebensform sich mit einer anderen, von ihr sehr verschiedenen so innig vergesellschaftet hat, daß beide aufeinander angewiesen sind, nicht ohne einander leben können — wenigstens in den extremsten Fällen — und daß zuweilen sogar neue Organe, ja ganz neue Doppelwesen aus diesem gemeinsamen Leben hervorgegangen sind. Es ist die sogenannte „Symbiose“, von der ich sprechen möchte, wie sie zuerst von unseren scharfsichtigen Botanikern ANTON DE BARY und SCHWENDENER entdeckt worden ist. Symbiosen gibt es aber nieht bloß zwischen Pflanzen, sondern auch zwischen Pflanzen und Tieren und zwischen zwei Tierarten, und man versteht darunter ein Zusammenleben, welches auf gegenseitigen Leistun- gen beruht, so daß jede der beiden Arten der anderen einen Vorteil gewährt, ihr die Existenz erleichtert. Dadurch unterscheidet sich die Symbiose vom Parasitismus, bei welchem die eine Art von der anderen einfach ausgebeutet wird, ohne ihr irgend eine Gegenleistung zu bieten, sowie von dem harmloseren Kommensalismus vAn BENE- DENS, der Tischgesellschaft, bei welcher die eine Art auf die reich besetzte Tafel der anderen ihre Existenz gründet. Besonders interessant wird uns die Symbiose noch dadurch, daß neben extremen Fällen mit starken Anpassungen auch solche vorkommen von großer Einfachheit, bei denen kaum etwas bei beiden vergesellschafteten Arten verändert erscheint. Symbiose. 135 Ich beginne mit Beispielen aus dem Tierreich. Das Zusammenleben gewisser Seerosen (Aktinien) mit Einsiedler- krebsen (Paguren) ist schon lange aufgefallen, ehe man ihm besondere Aufmerksamkeit zuwandte. Manche Arten von Einsiedlerkrebsen tragen häufig eine große Seerose auf der Schneckenschale mit sich herum, welche sie als schützendes Haus benutzen, oft sitzen aber auch zwei oder drei dieser schönen vielarmigen Polypen auf ihnen, und das beruht nicht etwa auf einem Zufall, sondern auf dem beiderseitigen Instinkt der Tiere; sie haben das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Nimmt man dem Einsiedlerkrebs seine Seerose und setzt sie in einen fernen Teil des Aquariums, so sucht er nach ihr solange, bis er sie findet, packt sie dann mit seiner großen Scheere und setzt sie wieder auf sein Haus. Ja der Trieb, sich mit Aktinien zu besetzen, ist so stark in ihm, daß er so viele seiner Freundinnen sich auflädt, als er nur bekommen kann, manchmal ihrer mehr, als darauf Platz haben. Andererseits läßt die Seerose es sich ruhig gefallen, wenn der Krebs sie packt. was jedem erstaunlich vorkommen wird, der weiß, wie empfindlich diese Tiere sonst gegen Berührung sind, wie sie sich sofort zusammenziehen und sich bei dem Versuch, sie vom Boden loszulösen, oft eher in Stücke reißen lassen, als dab sie nachgeben. Die beiderseitigen Instinkte sind also aneinander angepaßt: im übrigen aber hat es zunächst den Anschein, als ob körperliche Veränderungen zu. Gunsten des Zu- sammenlebens an den Tieren nicht eingetreten seien. Am Einsiedler- krebs ist das auch wirklich der Fall, nicht so aber bei der Aktinie, doch bemerkt man dies erst, wenn man die Tiere in ihrem Zusammen- leben beobachtet. Wir verdanken das Verständnis dieser Abänderung, wie überhaupt dieses ganzen Falles von Symbiose den schönen Beobachtungen EisıGs. Geleitet von der Voraussetzung, daß es sich hier nur um Wirkungen von Naturzüchtung handeln könne, sagte er sich, daß dieses Zusammenleben nicht nur für den einen, sondern für beide Teile einen Vorteil bieten müßte, sonst könnte es durch Auslese nicht entstanden sein. Worin nun der Vorteil für die Seerose besteht, liegt auf der Hand, da dieses langsam bewegliche, fast immer fest auf einem Platz sitzende Tier offen- baren Nutzen davon hat, vom Krebs auf dem Meeresboden umher- getragen zu werden und an dem Futter des Krebses Anteil zu haben, der Gegendienst aber, den die Aktinie dem Einsiedlerkrebs leisten könnte, leuchtet nicht sofort ein. EısıG machte aber in einem der Aquarien der Zoologischen Station von Neapel eine Beobachtung, die auch dieses Rätsel löste. Er sah nämlich, wie ein Einsiedlerkrebs von einem Pulpen (Octopus) angegriffen wurde, indem derselbe versuchte, mit der Spitze eines seiner acht Arme den Krebs aus seiner Schale herauszuholen.. Aber ehe er noch damit zustande kommen konnte, quollen aus dem Körper der Seerose eine Menge dünner wurmförmiger Fäden über den Arm des Räubers hervor, und sofort ließ dieser von dem Krebs ab und kümmerte sich von da an nicht weiter um ihn. Die Fäden, Akontien genannt, sind stark mit Nesselkapseln besetzt, und verursachen auf der weichen Haut des Pulpen jedenfalls ein heftiges Brennen. Die Aktinie hat also den Trieb, ihren Partner gegen Angriffe zu verteidigen, und sie tut es mit solehem Erfolg, dab man wohl ver- steht, wie der Instinkt. sich mit Aktinien zu versehen, beim Krebs ent- ‚stehen konnte. Die Akontien aber scheinen erst durch das Zusammen- leben mit den Krebsen zu solcher Wirksamkeit gesteigert worden zu 136 Lebensgemeinschaften. sein, da sie nicht bei allen Aktinien vorkommen. und stark entwickelt nur bei solchen Arten, die mit Krebsen in Symbiose leben. Während hier die körperliche Abänderung, nämlich die Umbildung der bei allen Aktinien vorkommenden Mesenterialfäden zu ausschleuder- baren Akontien, eine verhältnismäßig geringe ist, haben bei einer anderen Vergesellschaftung von Einsiedlerkrebsen und Polypen die letzteren eine stärkere Anpassung erfahren. In Neapel ist Eupagurus Prideauxii einer der häufigsten Einsiedlerkrebse, der in einer Tiefe von etwa Hundert Fuß lebt, und oft massenweise von den Fischern auf die Zoologische Station gebracht wird. Seine Schneckenschalen sind nicht immer, aber häufig von einem kleinen Polypen, der Podocoryne carnea bewohnt (Fig. 34), der eine Kolonie von oft mehreren Hundert Individuen bildet, die von einem gemeinsamen, die Schale überziehenden Wurzelgeflecht entspringen. Der Polypenstock ist nach dem Prinzip der Arbeitsteilung aus verschiedenartigen Personen zusammengesetzt, aus Nährpolypen (nf), die einen dl ER Rüssel, Mund # Pk und Fangarme HR) 5 auf ihrem keu- TERRA enförmigen Nal IA A Körper besit- a, MIR N zen, aus viel eier, fr Se: \ kleineren sog. 7 :; BRrE Blastostylen re SF (bl), d.h. Po- nn. or E Iypen mit ver- or 2° 7 kümmertem ee = Mund und Ten- takeln, die sich ganz auf die wp Hervorbrin- Fig. 34. Einsiedlerkrebs (Z) in einer Schneckenschale steckend, gung von Knos- auf welcher eine Kolonie von Podocoryne carnea sich ange- pen- verlegen, siedelt hat. Auf gemeinsamem Wurzelgeflecht (hier nicht deutlich welehe sich zu ausgeführt) sitzen zahlreiche Nährpolypen mit Tentakeln (2), dazwischen kleinere „Blastostyl“ -Polypen mit einem Kranz von den Ge- Medusenknospen (2%), Stachelpersonen (st) und am Rand der schlechtstieren, Schneckenschale eine Reihe von Wehrpolypen (w#). 7 Fühler, kleinen frei Au Augen des Krebses; schwach vergrößert. schwimmenden Quallen entwickeln, dann aus Schutzpersonen in Gestalt von harten Stacheln (s/), hinter die sich die übrigen weichen Tiere zurückziehen, wenn das wogende Meer die Schneckenschale auf dem Boden des Meeres umherrollen macht. Außer diesen verschiedenen Arten von Personen, kommen nun noch Wehrpolypen (w/) vor, d.h. Polypen von langer, fadenförmiger Gestalt, welche stark mit Nesselkapseln ausgerüstet sind, aber weder Mund, noch Tentakeln besitzen. Man wird nun zunächst meinen, diese seien zur Verteidigung der Kolonie da, aber dem ist nicht so, vielmehr verteidigen sie direkt nur den Einsiedlerkrebs. Darauf deutet schon der Platz, den sie in der Kolonie einnehmen; sie stehen nämlich nieht gleichmäßig über. die ganze Oberfläche der Kolonie verteilt, sondern finden sich nur am Rand derselben, und zwar nur an demjenigen Rand, der die Mündung des Schneckenhauses begrenzt. Hier stehen diese Wehrpolypen in geschlossener Reihe, manchmal spiralig zusammengezogen, manchmal, wie ein Fransensaum schlaff auf den Ein- Symbiose. 137 siedlerkrebs herabhängend. Sie sind bestimmt wie die Akontien der Aktinien, denselben zu verteidigen. wenn ein Feind ihn in das Innere seines schützenden Hauses verfolgen will. Man kann sich leicht davon überzeugen, wenn man den Einsiedlerkrebs aus der Schneckenschale herauszieht und dann, nachdem die Polypenkolonie wieder zur Ruhe gekommen ist, die Schale mit der Pinzette faßt und langsam durch das Wasser führt. Der Wasserstrom, der dadurch an die Schale anprallt, ahmt einen Feind nach. der sich gegen die Schale bewegt, und sofort schlagen alle Wehrpolypen, wie auf ein gegebenes Signal gleichzeitig von oben nach unten und wiederholen dies drei bis vier Mal: sie scheuchen den vermeintlichen Feind zurück. Es hat sich also in dieser Polypenart eine besondere Art von Personen gebildet, mit ganz bestimmter Stellung im Stock, mit ganz besonderem Instinkt oder Reflexmechanismus ausgerüstet, welche direkt nur dem Einsiedlerkrebs nützen und also gewissermassen zu Gunsten desselben entstanden sind. Durch Naturzüchtung läßt sich dies ganz wohl verstehen. denn indirekt sind die Wehrpolypen auch der Polypenkolonie nützlich, insofern sie den wertvollen Lebensgenossen schützen und der Kolonie es möglich machen, demselben das Zusammen- leben mit ihr ebenfalls wertvoll zu machen. Es bestätigt somit diese Einrichtung die Forderung, welche man vom Standpunkt des Selektions- prinzips aus an alles Neue stellen muß, daß es seinem Träger nützlich sei. Wenn aber gefragt wird. welches denn die Leistung des Einsiedler- krebses gegenüber den Polypenstöckchen sei. so liegt diese hier, wie bei der Symbiose mit Aktinien darin, daß der Krebs die Kolonie zu ihrer Nahrung, die eben auch die seinige ist, hinträgt. Einsiedlerkrebse fressen alle möglichen toten und lebenden Tiere, die sie auf dem Meeres- boden finden, und die Abfälle ihrer Mahlzeit kommen den Polypen zu gute. Ich legte einmal ohne besondere Absicht einen Einsiedlerkrebs mit seiner Polypenkolonie in einer flachen Schale mit Seewasser neben einen lebenden, spangrünen Schwamm. Nach einiger Zeit waren die meisten Polypen der Kolonie spangrün geworden: sie hatten sich mit den grünen .Schwammzellen vollgestopft. Ich wüßte nicht, wie wir uns bei so niederen Tieren die Ent- stehung symbiotischer Instinkte anders denken wollten, als dadurch, daß Variationen der vorhandenen Individuen dadurch vererbt und ze- steigert wurden, daß sie ihre Träger erhaltungsfähiger machten. Schnecken- schalen werden, seitdem es solche gibt, immer auch gelegentlich Po- Iypenstöckehen zur Unterlage und zum Befestigungspunkt gedient haben. Auch heute findet man auf demselben noch mancherlei Arten von Po- Iypenstöckehen, die keine besondere Anpassung an das Zusammenleben mit Einsiedlerkrebsen aufweisen. Aus dieser indifferenten Vergesell- schaftung wird sich in einzelnen Fällen eine symbiotische nach und nach entwickelt haben durch Erhaltung und Steigerung jeder nützlichen Abänderung, sowohl der Instinkte und Reflexaktionen, als der Gestalt und des Baues. Ich will nieht versuchen, den Gang dieser Entwicklung im einzelnen zu erraten, aber es liert auf der Hand, daß die Bildung der Wehrpolypen und ihres Instinktes, den Krebs zu verteidigen, weder durch irgend eine direkte Einwirkung, noch durch Wirkung von Übung erklärt werden kann, vielmehr nur durch die Nützlichkeit dieser Ein- richtungen, deren Anfänge Polypen mit Nesselorganen vorhanden waren, deren Steigerung und Vervollkommnung lediglich auf Natur- züchtung beruhen kann. Ganz ebenso ist es mit den Anpassungen, die 138 Lebensgemeinschaften. sich nicht direkt auf den Krebs, wohl aber auf die Situation auf der Schneckenschale beziehen. Die Stachelpersonen, die die weichen Tiere vor dem Zerquetschtwerden schützen, wenn die Wogen sie auf dem Kies umherrollen, können unmöglich als direkte Folge der Quetschungen bei diesem Rollen betrachtet werden. Daß aber solche Kolonien, die unter ihren Personen auch solche mit stärkerem äußeren Skelett be- saßen, weniger leicht völlig zerquetscht wurden, als andere, leuchtet ein, und muß zu häufigerem Uberleben derselben geführt haben. Bei dem Einsiedlerkrebs scheint in diesem Falle keinerlei Anpas- sung stattgefunden zu haben. doch ist das wohl nur Schein, und er würde wohl die Polypenkolonie nicht auf seiner Schale dulden, wenn nicht sein Instinkt ihn dazu zwänge, ähnlich wie ihn der Instinkt zwingt, sich mit Aktinien zu besetzen und furchtlos das gefährliche Tier zu packen, das dann freilich, ihm gegenüber, auch nur seine sanfte Seite hervorkehrt. Wundersam genug sind sicherlich solche Instinkt- wandlungen, aber ihr Zustandekommen durch Intelligenz ist hier ganz undenkbar, es bleibt also nichts als Naturzüchtung. Einen Fall, in dem gar keine sichtbaren Anpassungen des Körpers eingetreten sind, und die Symbiose lediglich auf leichten Instinktab- änderungen beruht, bildet das bekannte Verhältnis der Ameisen und Blattläuse. Diese beiden Insektengruppen leben auch in einer Art von Symbiose, wenn sie auch nicht unzertrennlich miteinander verbunden sind. Aber wo starke Blattlauskolonien die jungen Triebe einer Pflanze, z. B. einer Brennessel, einer Rose oder eines Hollunders bedecken, da findet man fast immer auch Ameisen, die oft in größerer Zahl vor- sichtig zwischen ihnen umherlaufen, hier und da bei einer anhalten, sie mit den Fühlern streicheln und den süßen Saft auflecken, den die Blattläuse in ihrem Darm enthalten und den sie nun von sich geben. DAarwın schon hat durch Versuche erwiesen, daß die Blattläuse diesen Saft zurückhalten. wenn keine Ameisen zur Stelle sind, und ihn erst dann austreten lassen, wenn man ihnen Ameisen beigesellt. Darin liegt der Beweis, daß es sich hier doch auch um Änderung von In- stinkten handelt. Zwar ist dieser Saft nicht, wie man zu DARWINS Zeit noch glaubte, das Sekret besonderer Drüsen und tritt nicht aus den sog. „Honigröhren“ hervor, welche auf dem Rücken des Hinter- leibs der Aphis-Arten sitzen, sondern es sind die Exkremente der Blatt- läuse, die flüssig, wie ihre Nahrung sind, und deren Entleerung sich an die Gegenwart der befreundeten Ameisen instinktiv geknüpft hat. Daß die Blattläuse überhaupt die Ameisen nicht fürchten, ist schon eine Umwandlung ihrer Instinkte, denn diese bissigen und giftigen Tiere sind sonst sehr gefürchtet in der Insektenwelt. Auch sind die Blatt- läuse, so harmlos sie auch scheinen, doch nicht ganz ohne Verteidigungs- mittel, aber sie wenden dieselben nie gegen die Ameisen an. Andere Tiere, die sich ihnen nähern, bespritzen sie mit dem schmierigen, öligen Sekret, welches in jenen sog. „Honigröhren“ bereitet wird, und mit dem sie besonders die Augen eines Angreifers derart verkleistern, daß dieser den Angriff einstellt. Gewiß haben die Blattläuse keine Ahnung davon, worin der Nutzen ihrer Freundschaft für die Ameisen besteht, aber ein solcher ist un- schwer zu finden, da die Ameisen durch ihre bloße Anwesenheit in der Blattlauskolonie deren Feinde verscheuchen und von ihnen fern halten. Man sieht: die Bedingungen zu einem Prozeß der Naturzüchtung sind gegeben: der Instinkt, den Ameisen freundlich zu sein, ist durchaus N ! | Symbiose. 139 nützlich, und auch der Instinkt der Ameisen ist vorteilhaft, die Blatt- läuse aufzusuchen und nicht zu fressen, sondern sie „zu melken“: er muß wohl eine alte Errungenschaft, ein früh erworbener Instinkt sein, da er bei manchen Arten so weit gesteigert ist, dab die Blattläuse in das Ameisennest getragen und dort gewissermaßen als Haustiere ge- halten und gepflegt werden. Einen hübschen Fall von Symbiose zweier Tiere hat SLUITER mitgeteilt, den ich erwähne, weil er ein Wirbeltier betrifft, bei dem schon der Intellekt mitspielt. In der Nähe von Batavia finden sich auf Korallenriffen häufig große gelbe Seerosen mit sehr zahlreichen und ziemlich langen Tentakeln, und ein kleiner bunter Fisch der Gat- tung Trachiehthys benutzt diesen von brennenden Nesselkapseln star- renden Wald von Tentakeln, um Schutz vor seinen Feinden zu finden. Letztere scheinen zahlreich zu sein, wenigstens fällt das Fischehen in Aquarien sehr bald einem derselben zum Opfer, falls man ihm die schützende Meernessel nicht beigibt. Nun schwimmt der Fisch munter zwichen den Tentakeln umher, ohne daß die Aktinie ihn brennt: von ihrer Seite also ist ebensowohl eine Instinktsabänderung eingetreten, wie von der seinen. Der Vorteil, den sie von dem Fisch zieht. liegt darin, daß dieser ihr größere Bissen, im Aquarium Fleischstückehen, die sie selbst vom Boden nicht emporziehen könnte, in den Mund steckt. Dabei zupft er selbst Fasern davon ab, ja wenn die Aktinie allzu rasch das Stück verschlingt, zieht er es wieder aus ihrem Schlund halb her- aus und gestattet ihr erst dann es zu verzehren, nachdem er selbst ge- sättigt ist. Auch in diesem Falle ist die Instinktsänderung die einzige Anpassung, welche die Symbiose hervorgerufen hat, und diese scheint in ihrer Entstehung schwer begreiflich. Wie soll der Fisch darauf ge- kommen sein, seine Beute, anstatt sie direkt zu fressen, der Aktinie in den Mund zu stecken? Obwohl wir nun in vielen Fällen gerade die Anfänge eines Züchtungsprozesses schwer erraten können, weil sie in den späteren gehäuften Abänderungen kaum noch zu erkennen sind, so darf man doch in diesem Falle die Sache sich vielleicht so vorstellen. daß der Fisch den Brocken. den er nicht ganz verschlucken konnte, auf den Boden fallen ließ und nun wiederholt darauf niederstieß, um jedesmal ein Stückehen abzuzupfen. Da der Boden flacher Meeresstellen oft ganz besetzt mit Aktinien ist, so kann leieht und öfters der Nah- rungsbrocken auf eine Aktinie niedergesunken sein, die ihn dann als gute Beute annahm und nach ihrer Weise langsam in den Mund hin- einwürgte. Dabei muß «dann der Fisch die Erfahrung gemacht haben, daß er von dem von der Aktinie festgehaltenen Bissen weit leichter Stückchen abzupfen konnte, als wenn derselbe frei am Boden lag, und das mag ihn veranlaßt haben, später absichtlich zu tun, was zuerst Zu- fall gewesen war. Die Aktinie aber, die von dem Fisch nichts schlimmes erfuhr, deren Ideenassoziation, wenn der Ausdruck gestattet ist, viel- mehr Fischehen und unverhoffte Beute sein mußte, hatte keinen Grund, ihre mikroskopischen Pfeile gegen ihn abzuschießen und tat dies auch dann nicht, wenn derselbe sich in ihrem Tentakelwald verbarg. Diese letztere Gewohnheit des Fischehens wurde dann durch Naturzüchtung zum Instinkt, indem die Individuen, welche sie am häufigsten zur An- wendung brachten, die bestgeschützten, also die durchschnittlich Über- lebenden waren. Ob auch bei der Aktinie das wohlwollende Benehmen en den Fisch als Austluß eines Instinktes zu betrachten sei, darüber eße sich streiten, denn es ist wohl denkbar, daß jede einzelne Aktinie 140 Lebensgemeinschaften. durch das Zutragen des Fisches zur Sanftmut gegen ihn gestimmt werden muß, dab also die Ausbildung eines besonderen erblichen In- stinktes hier gar nicht nötig war, weil ohnehin jede Aktinie zweckmäßig reagierte. Ähnlich mag es auch bei dem Fischehen inbetreff des Nieder- legens seiner Beutestücke auf den Mund der Aktinie sich verhalten, auch hier lieet vielleicht kein erblicher Instinkt, sondern nur eine In- tellekthandlung vor, die in jedem Leben wieder neu gelernt wird. Man könnte allerdings dieser Erklärung einwerfen, daß der An- fang derselben, die Annahme eines zufälligen Herabfallens der Beute des Fischehens gerade auf die Aktinie unwahrscheinlich sei, allein ich habe selbst einmal die vom Meere überspülten flachen Felsen des Mittel- meeres (nicht weit von Ajaccio) so dicht mit grünen Aktinien besetzt ect st ent | z Fig. 35. Hydra viridis, der grüne Süßwasserpolyp. 4 das ganze Tier, schwach vergrößert. 47 Mund, 7 Tentakel, sö Spermarium, ow” Eianlage, beide im Ektoderm gelegen, 77 ein reifes, bereits grünes Ei im austreten begriffen. Nach LEUCKART und NITSCHE. — 2 Schnitt durch die Leibeswand, etwa an der Stelle ov von A. Erz, die im Ektoderm (ec?) liegende Eizelle, in welche Zoochlorellen (zc%/) des Entoderms (er?) durch die Stützlamelle (s/) hindurch eingewandert sind. — € Zoochlo- rellen, stark vergrößert. Nach HAMANN. gefunden, daß ich sie zuerst für ein mir fremdes Seegras hielt und mich von meinem Irrtum erst überzeugte, nachdem ich eın Büschel der vermeintlichen Pflanzen abgerissen und als die weichen Tentakel von Actinia cereus erkannt hatte. So wird es in dem tropischen Meere Javas auch sein, und ein niedersinkender Bissen wird also häufig auf die Mundscheibe einer Aktinie fallen müssen. Aufsehen und lebhafte Erörterung haben in den letzten Jahrzehnten auch Fälle von Symbiose zwischen einzelligen Algen und niederen Tieren veranlaßt. Ein Beispiel davon bildet unser grüner Süßwasser- polyp. die Hydra viridis (Fig. 35 1). Die schöne Farbe desselben rührt von Chlorophyll her, und man hat sich lange darüber gewundert, daß auch Tiere Chlorophyll, diesen charakteristischen und fundamentalen iO Fre @ u ’ > ! = ’ Symbiose. 141 Stoff aller assimilierenden Pflanzen hervorbringen können, bis GEZA ENTZ und M. Braun nachwiesen, daß das Grün gar nicht dem Tier angehört, sondern daß es einzellige grüne Algen sind, sog. Zoochlorellen, welche in den Entodermzellen des Polypen in großer Menge eingelagert sind, (Fig. 35, 2, zchl). Da diese Zellen assimilieren, also Sauerstoff aus- scheiden, so werden sie dadurch dem Polypen von Vorteil sein. Daß sie — wie man zuerst glaubte — auch Nährstoffe an den Polypen ab- geben, möchte ich trotz der scheinbar widersprechenden Versuche eines so guten Beobachters wie VON GRAFF für sehr wahrscheinlich halten, da ich selbst einmal eine große Menge solcher Tiere in reinem Wasser, welches keinerlei Nahrung enthielt, monatelang gedeihen und sich leb- haft durch Knospung vermehren sah. Auch sprechen dafür gleich an- zuführende Beobachtungen an einzelligen Tieren, bei denen eine Ernäh- rung durch die in ihnen lebenden Zoochlorellen unzweifelhaft ist. Dıe kleine Alge findet ihrerseits in dem Innern des Polypen einen ruhigen und relativ sicheren Aufenthalt, und scheint denn auch außer- halb desselben nicht vorzukommen; jeden- falls wandert sie heute nicht mehr von außen in das Tier ein, sondern sie über- trägt sich wie ein erblicher Besitz des Polypen von einer (seneration auf die an- dere, und zwar auf eine sehr interessante Weise, nämlich nur durch die Eier. Wie HAMANN gezeigt hat, wandern die Zoo- chlorellen zur Zeit. wenn ein Ei sich in der äußeren Leibesschicht des Polypen bildet (Fig. 35. 2, Zız), aus der inneren Körperschicht aus, durchbohren die da- zwischen liegende Stützlamelle (s/), und dringen ins Ei ein (zscA/). Nur das Ei wird von ihnen infiziert, nicht die Samen- zellen, die auch dafür viel zu klein wären. So fehlen sie in keinem jungen Polypen Et dieser Art, und man begreift, warum frü- Fig. 36. 1 Amoeba viridis, 4 here Versuche. farblose Polypen aus Eiern em, «= kantmaktile Vakuole a zu ziehen, auch im reinsten Wasser nicht chlorelle bei stärkerer Vergröße- gelingen konnten. rung; nach A. GRUBER. Ganz ähnliche grüne Algen leben in Symbiose mit einzelligen Tieren, z. B. mit einer Amöbe (Fig. 36) und einem Infusorium «der Gattung Bursaria. Auf dem hiesigen zoologischen Institute befindet sieh die lebende Kolonie einer grünen Amöbe und einer grünen Bursaria, die beide aus Amerika stammen, woher sie uns von Herrn Professor WILDER in Chicago in einem Briefe mit getrocknetem Sphagnum (Torfmoos) seiner Zeit geschiekt worden waren. Die Pflanzen stammten aus einem stehenden (Gewässer im Conneetieut-Tal in Massa- chusets. Daß nun in diesem Falle die Zoochlorellen nicht blos durch ihre Sauerstoffabscheidung den Tieren, in denen sie leben, nützlich sind, sondern daß sie ihnen auch Nährstoffe abgeben, hat A. GRUBER dadureh bewiesen, daß er die beiden grünen Arten sieben Jahre lang in reinem Wasser weiterzüchtete. in welchem keine Spur irgend welcher Nahrung für sie enthalten war. Trotzdem vermehrten sie sich lebhaft und bilden te noch an den Wänden des kleinen Glases, in dem sie gehalten werden, einen grünlichen Antlug. Zu grunde gehen sie nur, wenn sıe 142 Lebensgemeinschaften. ins Dunkle gebracht werden, wo dann die Algen nieht mehr assimilieren können, eine nach der anderen abblasen und verschwinden, und wo dann infolgedessen auch die Wirte absterben müssen aus dem doppelten Grunde des Mangels an Sauerstoff und an Nahrung. Auch in diesen Fällen sind die in Symbiose vereinigten Organismen nicht unverändert geblieben; die Algen wenigstens unterscheiden sich wesentlich von anderen ihresgleichen durch ihre Widerstandskraft gegen- über dem lebenden tierischen Protoplasma. Sie werden nicht ver- daut von demselben, woraus zu schließen ist, daß sie irgend eine Schutz- einrichtung gegen (die auflösende Kraft der tierischen Verdauungssäfte besitzen müssen, daß sie sich also verändert und der neuen Situation angepaßt haben. Wahrscheinlich ist ihre Zellmembran undurchgängig geworden für diejenigen Stoffe, welche sie auflösen würden, eine An- passung, welche weder auf direkte Wirkung, noch auf Ubung bezogen werden kann, sondern nur auf Häufung sich darbietender nützlicher Variationen, d. h. auf Naturzüchtunge. Daß auch auf seiten des Wirtes, also des Polypen, der Amöbe und des Infusoriums eine anpassende Veränderung eingetreten ist, läßt sich nicht erkennen. Alle diese Tiere haben ihre ursprüngliche Lebensweise nicht geändert, sie verlassen sich nicht auf die Ernährung durch die Algen, sondern nähren sien von anderen Tieren, falls ihnen solche geboten werden, auch leben sie in sauerstoffreichen frischen Wasser, wie andere, ihnen verwandte Arten, bedürfen also auch nach dieser Richtung der Algen nicht durchaus: sie können sich aber freilich ihrer auch so wenig erwehren, als ein Schwein der Trichinen in seinen Muskeln. Ähnliche, wenn auch nieht grün, sondern gelb gefärbte Pflanzen- zellen, Zooxanthellen genannt, leben in Masse im Entoderm verschiedener Seerosen und in dem Weichkörper mancher Radiolarien. In beiden Fällen sucht man den Nutzen, den sie ihrem Wirt bringen, in der Sauerstoffausscheidung, die auch von ihnen ausgeht, da sie gerade so wie die Zoochlorella des grünen Armpolypen Kohlensäure im Licht zer- legen und Sauerstoff ausscheiden; auch sie kommen heute, soviel man weib, nicht frei lebend vor, sondern sind an ihre Wirte gebunden, haben also auch ihre Konstitution verändert und sich den Bedingungen der Symbiose angepabt. Auch höhere Pflanzen stehen zuweilen mit Tieren in einem sym- biotischen Verhältnis: das merkwürdigste und bestgekannte Beispiel davon ist das Verhältnis zwischen Ameisen und gewissen Bäumen, wo die Ameisen die Pflanzen schützen, und diese ihnen dafür Wohnung und Nahrung gewährt. Wir verdanken THOMAS BELT und FRITZ MÜLLER die Kenntnis dieser Fälle, welche SCHIMPER später noch wesentlich vervollständigt hat. In den Wäldern Südamerikas wachsen die „Imbauba-* oder „Arm- leuchter“- Bäume, Arten der Gattung Cecropia, die in der Tat ihren Namen verdienen, da ihre kahlen Äste nach Art von Armleuchtern emporstreben und nur an den Enden Blätterbüschel tragen. Diese Blätter nun sind bedroht von den Blattschneider-Ameisen der (rattung Oecodoma, welche über zahlreiche Pflanzenarten jener (regen- den oft zu zehntausenden herzufallen ptlegen und ihnen die Blätter ab- beißen, um diese dann am Boden in Stücke zu schneiden und stück- weise auf ihrem Rücken in ihren Bau zu schleppen. Dort benutzen sie dieselben zur Herstellung einer Art von Komposthaufen, auf welchen dann ihnen angenehme Pilze wachsen. Der Armleuchterbaum schützt ‚zu stürzen, die sich in ihren Bereich Symbiose. 143 sich nun dadurch vor diesen gefährlichen Feinden, daß er sieh mit einer anderen Ameise, Azteca instabilis, verbündet hat, welehe in seinem hohlen, gekammerten Stamm (Fig. 37, A) sichere Wohnung findet, und - in einem braunen, im Inneren ausschwitzenden Saft Nahrung. An seinem Stamm sind sogar regelmäßig an bestimmten Stellen (Z) kleine Grübchen angebracht. durch welche sich die Weibehen der Azteka leicht ins Innere einbohren können. Dort legen sie ihre Eier ab, und bald wimmelt der ganze Stamm innen von Ameisen, die hervorstürzen, sobald der Baum geschüttelt wird. Dies allein würde nun zum Schutz gesen (die Blattschneider- ameisen wohl noch nicht ausreichen, denn wie sollten die im Innern des Baums lebenden Azteken es gleich merken, daß die leise den Baum erklimmenden Blattschneiderameisen da sind? Aber es ist dafür gesorgt, daß die Azteken auch außen am Baum sich aufhalten, indem gerade da, wo der gefährlichste Angriff droht, näm- lich an den Stielen junger Blätter ein eigentümliches samtartiges Haarpolster angebracht ist (7), aus welchem gestielte kleine weiße Kölb- chen hervorragen (Fig. 35. 2), die nahrungsreich sind und von den Amei- sen nicht nur gefressen, sondern auch eingeerntet werden: sie schleppen sie ihre Wohnungen, vermutlich zur Fütterung ihrer Larven. Hier ist also von der Pflanze ein besonderes Or- gan speziell zur Anlockung der Ameisen an die bedrohte Stelle ge- züchtet worden, während an dem Tier wahrscheinlich nur der Nahrungs- und Wohnungsinstinkt geändert zu werden brauchte, da Mut und Kampfes- 2,.37. 4ein Stück vom Zweig eines Just bei allen Ameisen vorhanden sind, Imbaubabaums, Ceeropia ade- von denen wohl so ziemlich jede Art nopus, die Blätter abgeschnitten, an jederzeit bereit ist, sich auf eine andere ' deren Basis die Haarpolster (7) stehen. E Öffnung für die verbündete Ameise, x Azteca instabilis. > ein Stück des eindrängt. Haarpolsters mit den eiförmigen Nah- Nicht alle Armleuchterbäume rungskörpern (4) nach SCHIMPER. leben in Symbiose mit Ameisen und besitzen alle einen Schutz gegen die Angriffe der Blattschneiderameisen. SCHIMPER fand in den Urwäldern Brasiliens mehrere Arten von Üe- eropia, die niemals Ameisen in den Kammern ihres hohlen Stammes aufweisen. Diese Arten zeigen aber auch die Nahrungspolster am Grund der Blattstiele nicht: es fehlt ihnen diese Einrichtung, die Ameisen anzulocken und bei sich festzuhalten: nur eine Art, die Ceeropia peltata, hat diese hervorgebracht, und da dieselbe für den Baum selbst keinerlei direkten Nutzen hat. so müssen wir wohl sagen: nur für die Ameisen. Also auch hier muß Naturzüchtung die allmähliche Ausbildung dieser Nahrungspolster hervorgerufen haben, wenn wir auch bis jetzt nicht wissen, aus welchen Anfängen dieselben hervorgegangen sind. Jedenfalls kann ihre Entstehung auf irgend welche direkte Wirkung der Lebens- bedingungen nicht bezogen werden. 144 Lebensgemeinschaften. Ich wende mich zu dem Zusammenleben zweier Pflanzen- arten. von dem die Flechten das berühmteste und wohl auch das am weitesten gehende Beispiel darbieten. Bis vor zwei Jahrzehnten hielt man die Flechten, welche in so vielfacher Gestalt die Rinde der jäume, die Steine und Felsen überziehen, für einheitliche Pflanzen, wie die Blütenpflanzen, die Farne oder die Moose: viele Lichenologen be- faßten sich mit der genauen systematischen Unterscheidung der etwa tausend Arten derselben, von denen jede durch Gestalt, Farbe und Wohnort. wie durch ihre feinere Struktur ebenso gut und genau charak- terisierbar ist, wie irgendwelche andere Pflanzen. Da entdeckten DE BArRY und SCHWENDENER, daß die Flechten aus zweierlei Pflanzen be- stehen. aus Pilzen und Algen, die so innig vergesellschaftet und an- einander angepaßt sind, daß sie bei ihrem Zusammentreffen jedesmal dieselbe spezifische Form annehmen. Das (Gerüste und damit den größten und den gestaltgebenden Teil einer Flechte bildet der Pilz (Fig. 38. 7°): farblose Pilzfäden ver- ästeln sich, je nach der Art des Pilzes in bestimmter Weise, und in den Maschenräumen, welche zwischen die- sem Geflecht übrig bleiben, liegen ein- zeln oder in Reihen oder Gruppen grüne Algenzellen (ae). Der Pilz vermehrt sich durch Massen win- ziger Sporen, welche er periodisch hervor- bringt. und die durch Platzen der Sporen- behälter in die Luft n verstäuben und vom Z Wind fortgetragen Fig. 38. Stückchen einer Flechte, Ephebe Kernerie, werden; die Alge 450mal vergrößert. = die grünen Algenzellen, P die Pilz- vermehrt sich einfach fäden nach KERNER. durch fortgesetzte Zweiteilung. kann aber, wie die ganze Flechte, Eintrocknen vertragen, um nach dem Zerfall als mikroskopischer Staub ebenfalls durch die Luft weit fortgetragen zu werden. Das Zusammenleben der beiderlei Pflanzen beruht auf Gegen- seitigkeit, der Pilz ist, wie alle Pilze, chlorophyllos, kann also nicht Kohlensäure zerlegen und seine organischen Baustoffe nicht selbst bilden, er erhält dieselben von der Alge. Diese aber hat in dem Gerüstwerk des Pilzes eine sichere Unterkunft und Befestigung, denn der Pilz ver- mag in Rinden und selbst in Steine einzudringen; außerdem nimmt er Wasser auf und Salze, und führt sie den Algen zu. Wir sehen also hier den gegenseitigen Vorteil, welchen die Gemeinschaft gewährt. und in der Tat ist denn auch dieselbe eine überaus innige. Pilzsporen für sich gesäet, gehen zwar auf, entwickeln einige Ver- ästelungen des Pilzschlauches, ein sog. Mycelium, aber dasselbe bleibt ohne die Alge schwach und stirbt bald ganz ab. Die Alge allerdings kann, wenn nicht in allen, so doch in vielen Fällen auch ohne den Pilz’ Symbiose. 145 leben. wenn man ihr die nötigen Lebensbedingungen bietet, allein auch sie wächst anders und üppiger, wenn sie mit dem Pilz vergesell- schaftet ist. Ein und dieselbe Algenart findet sich mit verschiedenen Arten von Pilzen verbunden. und dann erscheint jede Gemeinschaft als eine besondere Flechtenart von bestimmtem, eharakteristischen Äußeren: es ist sogar STAHL gelungen, künstlich neue Flechtenarten zu machen, indem er die Sporen eines flechtenbildenden Pilzes mit Algenzellen zu- sammenbrachte, mit denen derselbe in freier Natur noch nicht verbunden gewesen war. Das Merkwürdigste aber an dieser ganzen merkwürdigen Sache scheint mir die Bildung gemeinsamer Fortpflanzungskörper zu sein, eine Anpassung, der gegenüber jeder Zweifel an der Selektions- theorie schwinden muß. Periodisch bilden sich nämlich in der Substanz der Flechte kleine Körperchen, sog. Soredien, «deren jedes aus einer oder einigen Algenzellen besteht, die von Pilzfäden umsponnen und zu- sammengehalten werden. Sie stellen, wenn sie in Masse sich bilden, einen mehligen Beschlag der mütterlichen Flechten dar, die „aufbricht” und sie, gerade wie Pilzsporen. dem Wind überläßt, der sie davonträgt. Wo nun dieselben auf günstigen Boden gelangen, da bedarf es dann nur der äußeren Entwicklungsbedingungen: Licht, Wärme und Wasser, damit die Flechte wieder neu entstehe. Der große Vorteil, der darin für die Sicherstellung der „Art“ liegt. leuchtet ein, denn bei der ge- wöhnlichen Verbreitung der Flechten können (die Pilzsporen, wenn sie auch auf eine günstige Stelle gelangt sind, sich doch nur dann zur Flechte entwickeln, wenn ihnen der Zufall nun auch die richtige Alge zuführt. Offenbar liegt in der Bildung der Soredien ein Vorteil für die „Art“, oder besser: „für die beiden Arten“, denn Pilz sowohl als Alge genießen den Vorteil, der die Fortdauer ihrer (remeinschaft sicher- stellt. Diese (Gemeinschaft selbst aber, die Flechte, ist nicht ohne Grund so lange für eine einfache, naturhistorische Art gehalten worden, ja sie ist eine solche, wenn sie auch auf ganz anderem Wege entstanden ist, als in der Regel Arten entstehen. Wie wir Arten kennen, die bloß aus einzelnen Zellen bestehen, andere, die aus vielen, in ver- schiedener Weise differenzierten Zellen, einer Zellengemeinschaft, der „Person“ bestehen, schließlich solche. die sich als eine (remeinschaft verschiedentlich differenzierter Personen. den „Stock“ darstellen, so sehen wir an den Flechten. dab auch differente Arten sich zu einem neuen, physiologischen Ganzen, einer Lebenseinheit, einem Individuum höchster Ordnung, verbinden können. Wenn ich im Beginn dieser Vorträge sagte, die Entwicklungstheorie sei heute keine bloße Hypothese mehr, ihre Richtigkeit im allgemeinen lasse sich für denjenigen nicht mehr bezweifeln, der die Tatsachen kennt, welche uns heute vorliegen, so dachte ich unter anderen gerade auch an diese Tatsachen der Symbiose und vor allem an diejenigen der Flechten. Es gibt noch mancherlei interessante Symbiosen zwischen zwei Pflanzen, und es sind vor allem die Pilze, welche verhältnismäßig häufig eine solche eingehen. Der Grund liegt nahe: da Pilze eben immer in ihrer Ernährung auf andere Pflanzen angewiesen sind, müssen sie schmarotzen, weil sie selbst die organischen Stoffe nicht erzeugen Weismann, Deszendenztheorie. I. 2. Aufl. 10 146 Lebensgemeinschaften. können, die sie brauchen. Sie müssen sich also mit anderen Orga- nismen, toten oder lebenden, verbinden, um leben zu können, und meistens beuten sie ihren (Genossen nur aus, entziehen ihm seine Säfte und töten ihn. Aber in nicht wenigen Fällen können auch sie Gegen- dienste leisten, wie wir bei den Flechten gesehen haben, und dann ist Symbiose vorhanden. Die Pilze haben nun allgemein die Fähigkeit, ge- ringste Spuren von Wasser im Boden aufzuspüren und aufzusaugen zugleich mit den für die Pflanze nötigen Salzen, und darin besteht, wie es scheint, der Gegendienst, den sie auch großen, tief in der Erde befestigten Pflanzen, wie Bäumen und Sträuchern zu leisten im stande sind. Die Wurzeln vieler unserer Waldbäume, wie Buche, Eiche, Tanne, Silberpappel, dann Büsche wie Ginster, Haidekraut und Alpenrosen sind dicht umsponnen von einem Netzwerk feiner Pilzfäden, die in dem angedeuteten Verhältnis der Gegenseitigkeit mit den betreffenden Pflanzen stehen (Fig. 38, A u. 2). Letztere geben ihnen vom UÜberfluß ihrer Nährstoffe etwas ab und empfangen dafür Wasser und Salze, was be- sonders in Zeiten grober Trockene von Wert für sie sein wird. Viel- Fig. 39. 4 Stückchen einer Silberpappelwurzel mit einem Mantel von symbio- tischen Pilzfäden (Mycel), nach KERNER. — 2 Spitze einer Buchenwurzel mit dicht anschließendem Mycelmanel. Vergrößerung 480. t leicht hängt es damit zusammen, daß Linden so schnell während großer Sommerhitze welken und die Blätter verlieren. da diese wie manche andere unserer Bäume keinen Wurzelpilz besitzen. So ist es also recht wohl verständlich, wie ächte „Symbiose“ aus Parasitismus hervorgegangen sein kann. Doch ist das natürlich durchaus nicht der einzige Weg, der dazu führt, wie die früher be- sprochenen Fälle tierischer Symbiose bekunden. Das Zusammenleben von Polypen und Einsiedlerkrebsen wird aus’ einseitiger Tischgenossenschaft erwachsen sein, indem solche Polypen,' die sich auf Schneckenschalen festsetzten, welche häufig von Einsiedler- krebsen benutzt wurden, besser genährt wurden, als andere, die sich‘ auf Steinen ansiedelten. Es gibt heute noch Arten, welche beiderlei” Unterlage benutzen. Dann erst erfolgte die Anpassung des Krebses’ an die Polypen, indem zunächst diejenigen am besten gediehen, welche den Polypen duldeten, dann diejenigen, die seine Gegenwart suchten, d. h. solche Schalen als Wohnung bevorzugten, welehe mit Polypen be- setzt waren, und schließlich solche, welche keine anderen Schalen mehr GG Symbiose. 147 nahmen und die Aktinie selbst daraufsetzten, wenn sie durch einen Zu- fall davon entfernt worden war. Intelligenz braucht dabei nicht im Spiel gewesen zu sein, auch beim Krebs nicht: man denke nur an die einmal nur im Leben ausgeübten und so komplızierten Instinkte, welche die Seidenraupe und das Nachtpfauenauge zur Verfertigung ihrer Ge- spinste zwingen. Hier muß die Vervollkommnung des Spinntriebs nur durch Naturzüchtung erfolgt sein, da das Tier keine Ahnung vom Nutzen seiner Handlungsweise haben kann, und ganz so steht es bei der Ak- ‚tinie oder dem Hydroidpolypen und dem Einsiedlerkrebs. So wenig die Aktinie sich bewußt ist, daß sie ihren Genossen verteidigt, wenn sie bei Beunruhigung irgend welcher Art ihre nesselnden Akontien hervorschleudert, so wenig weiß der Krebs, daß die Aktinie zu seiner Sicherung beiträgt: beide Tiere handeln unbewußt, rein instinktiv, und die Entstehung dieser ihrer die Symbiose begründenden Instinkte können nicht aus gewohnheitsmäßig gewordenen Verstandeshandlungen hervor- gegangen sein, sondern nur aus dem Uberleben des Passenidsten. Nach dem Prinzip der Naturzüchtung kann aber nur entstehen, was direkt oder indirekt dem Träger selbst nützt. Dennoch gibt es Fälle, die den Anschein haben, als sei da etwas entstanden, was für die veränderte Art keinerlei Nutzen habe, vielmehr nur für die von ihr beschützte Art. Dahin gehört die merkwürdige Symbiose zwischen Alsen der Familie Nostoc und dem auf dem Wasser schwimmenden, moosähnlichen Farn Azolla. Diese in der äußeren Erscheinung fast wie Wasserlinsen aussehende Pflanze hat an der unteren Seite ihrer Blätter eine kleine Offnung, die in eine mit Haaren ausgekleildete, relativ geräumige Höhle führt, und in dieser Höhle wohnt regelmäßig eine von Gallerte eingeschlossene blaugrüne einzellige Alge, Anabaena. In keinem Blatt fehlt die Höhle, und in keiner Höhle fehlt die Alge, und zwar ge- langt die letztere dahin von einer Niederlage dieser Algenzellen, welche sich unter der umgebogenen Spitze jedes Triebes befindet. Sobald ein junges Blatt sich aus der Knospe frei macht, erhält es von dieser Niederlage aus seine Anabaena-Zellen, und man hat noch niemals Zweige oder Blätter gefunden, die frei davon gewesen wären. Bis jetzt nun ist es nicht gelungen, einen Nutzen ausfindig zu machen, der der Azolla aus dieser (remeinschaft erwüchse. Dies wäre also ein Widerspruch gegen die Selektionstheorie, allein es fragt sich, ob nicht dennoch dem Farn ein Vorteil durch die Alge geleistet wird, den wir nur zur Stunde noch nicht einsehen. Man könnte auch daran denken, in der Blatthöhle ein Organ zu sehen, welches der Pflanze in früheren Zeiten nützlich war etwa als Insektenfalle jetzt aber seine Bedeutung verloren hat, und nun von der Alge als sicherer Wohnort benutzt wird. Dem widerstreitet indessen die merk- würdige Verbreitung der vier Azolla-Arten, welehe bekannt sind. Zwei derselben sind in Amerika und Australien weit verbreitet. die dritte lebt in Australien, Asien und Afrika und die vierte im (rebiete des Nil: alle vier haben die Höhle in den Blättern, und bei allen ist dieselbe von der Anabaena-Art bewohnt. Das deutet auf ein ungeheures Alter dieser Höhlung und der Vergesellschaftung mit der Alge; die Symbiose muß aus einer Zeit datieren, ehe sich noch die vier heutigen Azolla- Arten aus einer Stammart abgespaltet hatten. So lange Zeiträume hin- durch würde sich aber ein rudimentäres, d. h. ein für die Pflanze selbst nutzloses Organ schwerlich gehalten haben, wie wir später sehen werden, 148 Lebensgemeinschaften. denn nutzlose Organe verschwinden mit der Zeit. Da die Höhlung heute noch nicht geschwunden ist, dürfen wir mit Wahrscheinlichkeit vermuten, daß sie immer noch wertvoll für die Pflanze ist, sei es nun durch Vermittlung der Anabaena, oder auf eine andere noch unbekannte Weise. Aus unserer Unkenntnis dieses Vorteils aber ein Argument gegen die Wirklichkeit von Selektionsvorgängen ableiten zu wollen, würde kaum minder verständig sein, als wenn man trotz der vielfachen Erfahrung, daß Steine im Wasser untersinken, von einem bestimmten Stein, den man im Wasser nicht untersinken sah, weil Gebüsch die Aussicht verdeckte, annehmen wollte, er sei möglicherweise nicht unter- gesunken, oder er könne schwimmen. X. VORTRAG. Die Entstehung der Blumen. Einleitung p. 148, die Vorläufer Darwıns p. 149, Windbestäubung p. 152, Ein- richtung der Blumen für Erzwingung von Wechselkreuzung p. 152, Salbey, Läuse- kraut, Fliegenblumen p. 153, Aristolochia p. 154, Pinguieula, Daphne p. 155. Orchi- deen p. 155, die Blumen aus Anpassungen zusammengesetzt p. 157, Mundteile der Insekten p. 157, Schmetterlingsrüssel p. 157, Mundteile der Schabe p. 160, der Biene r- 160, Sammeleinrichtungen der Biene p. 160, Entstehung der Blumen p. 161, An- lockung der Insekten durch Farben p. 162, Einschränkung der Besucherkreise p. 164, NäGeuis Einwurf gegen Selektion p. 164, andere Erklärungen ausgeschlossen p. 165, Viola calcarata p. 166, Nur für ihren Träger nützliche Abänderungen entstanden e* Täuschblumen, Cypripedium p. 166, die Pollinien von ÖOrchis p. 167, der Fall _ Yuccamotte p. 168, auch hier spricht die relative Unvollkommenheit der An- passungen für ihre Entstehung durch Naturzüchtung p. 169, Honigräuber p. 170. Meine Herren! Wenn eine Art sich mit einer anderen derart ‘verbindet, daß beide nur noch in dieser Gemeinschaft dauernd leben können, so ist das gewiß ein Beispiel weitgehender gegenseitiger An- passung, es gibt aber zahllose Fälle gegenseitiger Anpassung, bei welchen ein örtliches Zusammenleben nicht stattfindet, und dennoch die erste Lebensform nach den Eigentümlichkeiten der zweiten zugeschnitten ist, und die zweite nach denen der ersten. Eines der schönsten und gerade in bezug auf Naturzüchtung lehrreichsten Beispiele tritt uns in den Be- ziehungen der Insekten zu den höheren Pflanzen entgegen, die sich darauf aufgebaut haben, daß viele Insekten die Blüten der Pflanzen auf Pollen oder Blütenstaub ausbeuteten. Hier hat die Selektionstheorie ganz un- te und höchst interessante Aufschlüsse gebracht, indem sie uns lehrte, wie die Blumen entstanden sind. Die frühere Zeit faßte die Schönheit, die Farbenpracht und den Duft der Blumen als etwas auf, was zur Freude des Menschen geschaffen sei, oder auch als Ausfluß der unendlichen Gestaltungskraft der Mutter Natur, die sich darin gefällt, in Farben und Formen zu schwelgen. Ohne uns nun die Freude an aller dieser vielgestaltigen Schönheit verkümmern u lassen, müssen wir heute doch eine ganz andere Vorstellung von den Ursachen hegen, die die Blumen ins Leben gerufen haben. Wenn wir auch hier, wie überall in der Natur, nicht auf die letzten Ursachen zurückgehen können, so vermögen wir doch in eingehendem Beweise zu zeigen, daß die Blumen eine Reaktion der Pflanzen auf den Besuch von Insekten sind, daß sie hervorgerufen sind durch diesen ch. Es würde wohl Blüten, nicht aber Blumen, d. h. Blüten lit großen, farbigen Hüllblättern, mit Duft und mit Honig im Innern ‚ wenn die Blüten nicht seit langen Zeiträumen schon von In- aufgesucht worden wären. Die Blumen sind Anpassungen 150 Entstehung der Blumen. der höheren Blütenpflanzen an den Insektenbesuch. Darüber kann heute kein Zweifel mehr sein, wir können es — dank den zahl- reichen, bis ins Einzelste gehenden Untersuchungen einer kleinen An- zahl trefflicher Forscher — nicht nur behaupten, sondern mit aller nur wünschenswerten Sicherheit beweisen; die gegenseitige Anpassung von Blumen und Insekten bildet heute eines der durchsichtigsten Beispiele für die Wirkungsweise und Macht der Naturzüchtung und darf deshalb in Vorträgen über Deszendenztheorie nicht fehlen. Daß die Bienen und zahllreiche andere Insekten Honig und Blüten- staub aus den Blumen holen, ist dem Menschen seit alter Zeit wohl bekannt. Dies allem würde aber nur erklären, daß sich bei diesen Tieren Anpassungen an den Blumenbesuch gebildet hätten, der es ihnen ermöglichte, den Honig z. B. aus tiefen Kronenröhren herauszu- holen, oder aber eine größere Menge von Pollen auf einmal sich auf- zuladen und in ihren Stock zu tragen, wie dies von den Bienen ge- schieht. Was aber veranlaßt die Pflanze, Honig hervorzubringen und den Insekten anzubieten, da doch der Honig für sie selbst von keinem Nutzen ist? und was bewegt sie ferner, den: Insekten ihren Raub so offenkundig zu erleichtern, ihre Blüten durch auffallende Farben weithin sichtbar zu machen, oder von ihnen einen Duft ausströmen zu lassen, der selbst bei Nacht den Insekten den Weg zu ihnen anzeigt? Schon am Ende des XVIII. Jahrhunderts hat ein sinniger und scharf- sichtiger Naturforscher, CHRISTIAN KONRAD SPRENGEL einen starken An- lauf zur Beantwortung dieser Frage genommen. Im Jahre 1793 erschien von ihm eine Schrift: „Das entdeckte Geheimnis der Natur im Bau und der Befruchtung der Blumen“, in welcher er eine große Zahl der merk- würdigen, auf den Insektenbesuch gerichteten Anpassungen der Blumen völlig richtig erkannt und gedeutet hatte. Leider begriff seine Zeit den Wert dieser Entdeckungen nicht. und seine Arbeit mußte mehr als ein halbes Jahrhundert auf Anerkennung warten. SPRENGEL war vollständig beherrscht von der Vorstellung eines allweisen Schöpfers, der „auch nicht ein einziges Härchen ohne Absicht hervorgebracht hat“ und von diesem Gedanken geleitet suchte er in die Bedeutung der vielen kleinen Einzelheiten des Blumenbaues einzudringen. So erkannte er, dab die Haare, welche den unteren Teil der Blumen- blätter des Waldstorchschnabel, Geranium silvatieum, bedecken, den Nektar der Blume vor der Verwässerung durch Regen schützen, und schloß daraus ganz richtig, wenn auch in bezug auf die unmittelbare hervorbringende Ursache weit von unseren heutigen Ansichten entfernt, daß der Nektar für die Insekten da sei. Es fiel ihm weiter auf, daß die himmelblaue Krone des Vergib- meinnichts (Myosotis palustris) einen schön gelben Ring um den Ein-> gang der Kronenröhre herum besitzt, und er deutete denselben als ein Mittel, durch welches den Insekten der Weg zum Honig gezeigt wird, der in der Tiefe der Kronenröhre verborgen liegt. Wir wissen heute, daß solche „Saftmale“ bei den meisten, von Insekten besuchten Blumen vorhanden sind in Gestalt von Flecken, Linien, Figuren, meist von auffallender, d. h. von der Hauptfarbe der Blume abstechender Farbe, manchmal, wie bei den Irisarten, leiten sogar förmliche Straßen von kurzen Haaren nach der Stelle hin, wo (der Honig liegt. Bei dem Frühlingsfingerkraut, Potentilla verna (Fig. 40), Mi sind die gelben Blumenblätter (1, 27) gegen ihre Basis hin stark orange- rot, und zeigen so den Weg zu den Nektarien, welche an der Basis "2 Entstehung der Blumen, 151 | Staubgefäße (s/) liegen und von Haaren, der sog. „Saftdecke* SPRENGELS vor der Verwässerung durch Regen geschützt werden. Die Erkenntnis des Saftmals führte dann SPRENGEL zu der An- sicht, daß die Gesamtfarbe der Blume dasselbe im großen bezwecke, was die Saftmale im kleinen, daß sie das vorbeifliegende Insekt auf- merksam mache, wo Honig zu finden sei, ja er kam noch einen be- deutsamen Schritt weiter, indem er erkannte, daß es Blumen gebe, die sich nicht selbst befruchten können, und bei welchen das _ den Honig suchende Insekt sich mit Pollen bestäube. um ihn dann in der nächsten Blume an der Narbe abszutreifen und so die Be- fruchtung zu vermitteln. Er wies dies nicht nur für die Iris, son- dern noch für viele andere Blumen nach und schloß daraus: „Die Natur scheint es nicht haben zu wollen. daß irgend eine Blume durch ihren eigenen Staub befruchtet werde“. Wie nahe SPRENGEL der völligen Lösung des Rätsels war, geht daraus hervor, daß er sogar fand, daß manche Blumen, wie Hemerocallis fulva unfruchtbar bleiben, wenn sie mit dem eigenen Pollen bestäubt werden. Auch die zahlreichen Versuche des verdienst- vollen Botanikers C. F. GÄRTNER, obwohl sie wei- teren Fortschritt brachten, genügten doch nicht, um die Beziehungen zwischen Blumen und Insekten völlig ins klare zu bringen, dazu gehörte die Grundlage der Deszendenz- und Selek- tionslehre. Es war auch hier CHARLES DARWIN vor- behalten, den Bann zu bre- chen, der die Zeitgenossen Fig. 40. Potentilla verna nach HERMANN bisher mit Blindheit ge- MÜLLER. 4 von oben gesehen; Kbl Kelchblätter, D 51 Blumenblätter, .V? Nektarien in der Tiefe. - schlagen hatte. Ererkannte, D Schnitt durch die Blume; Gr Griffel, S/ Staub- daß im allgemeinen bei gefäße, Nt Nectarium. den Pflanzen Selbstbe- fruchtung unvorteilhaft ist, daß sie weniger Samen, und diese wieder weniger kräftige Pflanzen liefern, als Wechselbefruchtung, daß somit Blumen mit Einrichtungen für Wechselbefruchtung im Vorteil sind vor solchen, die sich selbst befruchten. Bei manchen Arten führt Selbstbefruchtung, wie schon SPRENGEL wußte, geradezu zur Unfrucht- barkeit, nur wenige sind ebenso fruchtbar mit eigenem Pollen, als mit fremdem, und Darwın glaubte, daß Kreuzung mit anderen Blumen für alle Arten mindestens von Zeit zu Zeit notwendige sei, wenn sie nicht degenerieren sollen. So liegt also der Vorteil, den die Pflanze vom Insektenbesuch hat, darin, daß die Insekten die Kreuzung der Blumen ver- mitteln, und wir können nun verstehen, wieso auch die Pflanze im- Stande war, sich dem Insektenbesuch zu liebe zu verändern, Anpas- sungen einzugehen, die ausschließlich zur Erleichterung des Insekten- besuchs dienen: wir verstehen, wie es möglich war, daß eine unendliche Menge von Einrichtungen an den Blüten sich bilden konnte, die zur Anlockung der Insekten bestimmt sind, ja wie die unscheinbaren Blüten 152 Entstehung der Blumen. der ältesten Phanerogamen eben behufs Anlockung der Insekten sich zu Blumen umgestalten mußten. Trotzdem darf man nicht glauben, daß die — wie es scheint — so wichtige Kreuzung der Pflanzenindividuen, gewöhnlich „Fremdbe- stäubung“ genannt, durchaus und allein von Insekten vermittelt werden könne. Es gab früher zahlreiche und gibt heute noch eine ganze Reihe von Pflanzen, bei welchen die Kreuzung durch die Luft, den Wind be- soret wird: die windblütigen Angiospermen. Dahin gehören die meisten Kätzchenträger, wie Hasel, Birke, dann die Gräser, Binsen, der Hanf und der Hopfen u.s.w. Bei allen diesen Pflanzen begegnen wir kemen Blumen, sondern unscheinbaren Blüten ohne bunte Hüllen, ohne Duft und Honig; alle haben glatte Pollen- körner. die leicht zerstäuben und von der Luft fortgeführt werden, bis sie der Zufall fern von ihrem Ursprung auf die Narbe einer weiblichen Blüte niederfallen läßt. | Bei weitem die meisten aller Phanerogamen aber, besonders sämt- liche einheimische Blumen wer- den in der Regel von Insekten , befruchtet, und es ist erstaun- lieh zu sehen, in wie vielfacher | und zum Teil höchst spezieller | Weise sie dem Besuch derselben angepaßt sind. Da gibt es zu- nächst Blumen, deren Honig offen daliegt, und die deshalb von allen i möglichen Insekten ausgebeutet © werden können, dann aber solche, deren Honig schon etwas mehr verborgen liegt, aber doch leicht zu finden und auch mit kurzen > Mundteilen zu erreichen ist, große Fig. 41. Blume von Salvia pratensis, dem am Tage blühende Blumen mit Wiesensalbey nach H. MÜLLER. s’ Staub- auffallenden Farben und viel Pol- ” or ihrer ra der Ber len, wie z. B. die Magnolien. vor seiner Reife, er” nach derselter. T’Unter Man hat sie als Kaärerpiumere ü vor seiner Reife, g7” nach derselben; U Unter- \ x ER lippe, Anfluefläche für die Biene. zeichnet, weil besonders honig- # 5 liebende Bockkäfer sie besuchen. Andere bei Tage blühende Blumen sind ausschließlich der Be- fruchtung durch Bienen angepaßt; sie sind immer schön gefärbt, oft ” blau, duften und enthalten den Honig in der Tiefe der Blumen, zu- gänglich nur dem längeren Rüssel der Bienen. Sehr verschiedenartige hi Einrichtungen der Blume bewirken, daß «die Biene den Nektar nicht ” genieben kann, ohne zugleich das Kreuzungsgeschäft zu besorgen. So sind die Staubgefäße des Wiesensalbeys (Salvia pratensis) zuerst ganz in der helmförmigen Oberlippe versteckt (Fig. 41, s/‘), haben aber unten an ihrem langem Stiel einen kurzen handeriffartigen Vorsprung, der die ganzen Antheren nach abwärts dreht (s/”), sobald er von vorn her durch © das in die Blume eindringende Insekt zurückgedrückt wird. Die Staub- ” beutel schlagen dann nach abwärts auf den Rücken der Biene und über- . schütten ihn mit Pollen. Wenn dieselbe dann eine zweite ältere Blume besucht, so hat sich bei dieser inzwischen der lange zuerst verborgene Griffel (g7) aus dem Helm herabgebeugt (g7”) und steht gerade vor dem Blumeneingang, so daß die Biene einen Teil des an ihr haftenden ” | Er ee Bienen- und Fliegenblumen. 155 Pollens auf die Narbe abstreifen muß und dadurch die Befruchtung bewirkt. Es gibt auch Blumen, die speziell auf den Besuch der Hummeln eingerichtet sind. wie z. B. Pedieularis asplenifolia, das farnblättrige Läusekraut. eine Blume der Hochalpen (Fig. 42). Zunächst fällt hier die diehtzottige Behaarung des Kelches (4) auf, die die Wirkung hat, kleine flügellose Insekten von der Blume zurückzuhalten, dann die sonderbar nach links gerichtete Verdrehung der Einzelblumen, deren Unterlippe (z) nur einem stärkeren Insekt, wie der Hummel von links her den Eingang zu der Kronenröhre (#7) gestattet, in deren Tiefe der Honig verborgen ist. Während die Hummel nun den Honig aufsaugt, be- stäubt sie sich mit dem leicht verstäubenden Pollen der Staubbeutel (57), und wenn sie dann in eine zweite Blume eindringt, stößt sie zuerst mit ihrem bepuderten Rücken an (die Narbe des aus der schnabelförmig aus- gezogenen Unterlippe vorgestreckten Griffels (g7) und bestäubt diesen mit fremdem Pollen. Schmet- terlinge und klei- nere Bienen kön- nen (diese Blu- me nicht aus- ‘ beuten, sie ist einereine,.H um- melblume*. Es gibt nicht wenige derartige, auf einen ganz kleinen Be- sucherkreis ein- gerichtete Blu- men, und bei Fig. 42. Pedicularis asplenifolia, Läusekraut ihnen allen fin- nach H. MÜLLER. 4 Blume von der linken Seite gesehen; eh - Fin- Verer. 3mal; der Pfeil ‚bezeichnet die Richtung, in welcher R der Hummelrüssel eindrinet. 2 dieselbe Blume nach Entfer- richtungen, wel- nung des Kelches, der Unterlippe und der linken Hälfte der che anderen als Oberlippe, von der linken Seite gesehen. C Fruchtknoten, den bevorzugten Bene und: Griffelwurzel. D Griffelspitze mit Narbe. E Insekten den „wei einander zugekehrte Staubbeutel. 0 Oberlippe, „+ Unter- 2 lippe, gr Griffel, s/ Staubbeutel, #7 Kronenröhre. Eingang ver- sperren: bald sind es Borstenpolster, die das Ankriechen kleiner Insekten | | von unten her, oder Schrägstellung «der Blume, die dasselbe von dem Stengel her verhindern, bald die Länge und Enge der Kronenröhre, bald die tiefe und versteckte Lage des Honigs, die es nur intelligenten Insekten gestattet, diesen aufzuftinden. Sehr merkwürdig sind die den Fliegen angepaßten Blumen, in- dem sie in mehrfacher Hinsicht den Eigentümliehkeiten «dieser Insekten entsprechen. Einmal lieben die Fliegen faulende Substanzen und die von diesen ausgehenden Gerüche, und so haben denn auch die auf die Kreuzvermittlung der Fliegen berechneten Blumen trübe, häbßliche Fäul- nisfarben angenommen und widerliche Gerüche, Dann aber sind die | Kliegen scheu und unstet, wenden sich bald hier bald dorthin, zählen | nicht zu den blütensteten Insekten. «d. h. besuchen nicht fort und fort Blumen derselben Art. würden also leieht den Pollen nutzlos ver- schleppen: außerdem besitzen sie nur geringe Intelligenz und suchen 154 Entstehung der Blumen. nicht mit der Beharrlichkeit nach Honig, wie Bienen und Hummehn. So sind denn manche der auf ihren Besuch eingerichteten Blumen so gebaut, dab sie sie solange festhalten, bis sie ihre Pflicht getan, d.h. die Kreuzungsbefruchtung ausgeführt oder eingeleitet haben. Unsere Oster- luzey, Aristolochia Clematitis, und die Aronswurzel, Arum maculatum, sind „Kesselfallenblumen“, deren lange Kronenröhre am Grund eine kesselartige Erweiterung haben, in welcher sowohl Antheren als Griffel stehen. Bei der Osterluzey (Fig. 43) ist die enge Zugangsröhre dicht mit kleinen steifen Haaren besetzt (A), die alle mit der Spitze gegen den Kessel gerichtet sind. Kleine Fliegen können also bequem in den Kessel hinabkriechen, dort aber sind sie gefangen und zwar solange, bis durch erfolgte Bestäubung der Narbe die Blüte anfängt zu welken, und zwar zuerst jene Borsten (2), Fig. 43. deren Spitzen wie eine Reuse das Herauskriechen bisher verwehrten. Andere Fliegenblumen, wie z. B. das Alpenfettkraut, Pinguieula alpina (Fig. 44), klemmen die dieke Fliege * fest ein, wenn sie sich glücklich so | tief in sie hineingezwängt hat, daß Fig. 43. Blüte von Aristolochia Clematitis, der Osterluzey, halbiert. 4 vor der Befruchtung durch kleine Fliegen; 5 die Borsten. 2 nach der Befruchtung. P Pollenmasse, N Narbe, 5 die Borsten, 2’ ihre Reste; nach H. MÜLLER. Fig. 44. klemmfallenblume, Pinguicula alpina, Alpenfettkraut. 2 Durch- 7 schnitt durch die Blume; A” Kelch, 5%? Borstenhöcker, sd Sporn, s? Staubgefäß, = Narbe. 2 Narbe und Staubgefäß stärker vergrößert; nach H. MÜLLER. | sie mit ihrem kurzen Rüssel den im Sporn (s/) enthaltenen Honig erreichen kann. Die rückwärts gerichteten Borsten (57) halten sie ” eine Zeitlang fest, und nur durch starkes Andrängen mit dem Rücken gegen die oben angebrachten Staubbeutel (s/) und die Narbe (z) ge- lingt ihr ihre endliche Befreiung, aber nicht, ohne dab sie dabei ent- 7 weder sieh mit Pollen belädt oder aber den Pollen, den sie schon aus einer anderen Blume mitbrachte, an der Narbe absetzt. Die Blume ist ” proterogyn, d. h. der Griffel reift zuerst, der Pollen später, so dab also 7 Selbstbefruchtung ganz ausgeschlossen ist. Es wäre unmöglich, Ihnen auch nur eine ungefähre Vorstellung - von der Mannigfaltigkeit der Befruchtungseinrichtungen der Blumen zu geben, ohne stundenlang nur darüber zu reden, denn diese sind fast " y 3ienen- und Schmetterlingsblumen. 155 in jeder Blume wieder andere und oft weit verschieden, und selbst bei Arten derselben Gattung bleiben sie keineswegs immer gleich, und sind nicht selten bei der einen Art auf einen anderen Besucherkreis be- ‚rechnet als bei der anderen. So ist die Blume vom gemeinen Seidel- bast, Daphne Mezereum (Fig. 45, A u. C) auf den Besuch von Schmetter- lingen, Bienen und Schwebfliegen eingerichtet, ihre nächste Verwandte aber, Daphne striata (Fig. 45, Zu. Z), hat eine etwas engere und längere Kronenröhre, so daß sie nur von Schmetterlingen ausgebeutet werden kann. Sie sehen an diesem Beispiel schon, daß es reine „Schmetter- lingsblumen“ gibt, aber es gibt auch besondere Tagfalter- und Nachtfalter-Blumen. Die ersteren haben meist lebhafte, häufig rote Farben und angenehmen würzigen Duft, und bei allen liegt der Honig im Grund einer sehr engen Kronenröhre. Dahin gehören z. B. Nelken- arten, manche Orchideen, wie Orchis ustulata und die stark nach Vanille duftende Nigritella angustifolia der Alpen: ferner die schön rote Tag- nelke, Lychnis diurna, und die blasser rote Alpenprimel, Primula fari- nosa. Die Blu- men für Nacht- schmetterlinge zeichnen sich durch helle, oft weibe Farbe und starken Wohlgeruch aus, der erst nach Sonnen- untergang aus- zuströmen be- ginnt, wie denn viele dieser Blumen sich bei Tag ganz schließen. Fig. 45. Daplıne Mezereum 4 und € und Daphne striata Letzteres ist # und 2. Erstere von Schmetterlingen, Bienen und Fliegen be- der Fall bei sucht, letztere nur nur von a A und B en Ir » "C r -Aup‘ Du eeläbe, Gr tr 1. ( ( a au 20 Bun, ©: Sauisetale, or eritel Con weißen, ganz geruchlosen Zaunwinde, Convolvulus sepium, die hauptsächlich von unserem größten einheimischen Schwärmer, dem Windenschwärmer be- sucht und befruchtet wird. Das helle Seifenkraut, Saponaria oftieinalis, strömt in der Nacht einen feinen Wohlgeruch aus, der die Schwärmer von weither anlockt, und der süße Duft des Geisblatts, Lonieera Peri- elymenum, ist Ihnen ja wohlbekannt und wirkt ebenso; eine Geisblatt- laube versammelt in warmen ‚Juninächten oft ganze Gesellschaften unserer schönsten Sphingiden und Noetuiden zur Freude der schmetterling- sammelnden Jugend. Ich kann aber mit diesen Blumeneinriehtungen nicht schließen, ohne noch besonders der Orchideen etwas genauer zu gedenken, welche mit die weitest gehenden Anpassungen an den Insektenbesuch aufweisen. Auch bei ihnen herrscht zwar große Mannigfaltigkeit, wie Sie daraus ersehen können, dab Darwın über die Befruchtungsvorrich- tungen der Orchideen ein ganzes Buch geschrieben hat, aber der Grund- zug ist doch bei den meisten derselbe. Fig. 46 gibt eine Darstellung 156 Entstehung der Blumen. der Blume einer unserer häufigsten Arten, Orchis mascula: 4 stellt die Blume in Seitenansicht, 3 in Ansicht von vorn da. Am Stiel s/ schwebt dieselbe gewissermaßen, ihren Sporn s/, der den Nektar ent- hält. horizontal ausstreckend. Zwischen der groben, breiten, eine be- queme Anflugfläche darbietende Unterlippe (z) mit dem Saftmal (Sz) und der breiten, polsterartigen Narbe (za) liegt der Eingang zum Sporn. Die Befruchtung beruht nun darauf, dab die Biene oder Fliege, wenn sie im Begriff steht, ihren Rüssel in den nektarhaltigen Sporn hinein- zuschieben, mit dem Kopf an das sogenannte Rostellum (7) stößt, einen kleinen schnabelförmigen Vorsprung an der Basis der Staubgefäße (2). Diese sind hier sehr eigentümlich gebaut, nicht stäubend, sondern kurz gestielte Kölbchen, deren Pollenkörner miteinander verklebt und so ein- gerichtet sind, daß sie bei Berührung des Rostellums abspringen und Fig. 46. Orchis mascula, Knabenkraut. 4 Blumen in Seitenansicht. s/ Stiel, sp Sporn mit dem Nektarium x, er Eingang in den Sporn, U Unterlippe. — 2 Blume von vorm; 7? Pollinien, ‚$S72 Saftmal, e” Eingang zum Nektar, za Narbe, ” Rostellum, U Unterlippe. — € Schnitt durch Rostellum (7), Pollinium (2); e Eingang. — 2 Die Pollinien auf die Spitze eines Bleistifts übergesprungen. — Z Dieselben, einige Zeit später abwärts gekrümmt. sich auf dem Kopf des Insektes festkleben, wie bei / auf dem Bleistift. Wenn dann die Biene den Nektar aus dem Sporn ausgesogen hat, und nun in eine andere Blume derselben Art eindringt. haben sich die Polli- nien auf ihrer Stirn inzwischen abwärts gekrümmt (Z), und müssen unfehlbar genau auf die Narbe (za) der zweiten Blume stoßen, an der sie nun hängen bleiben und die Befruchtung bewirken. Welch’ lange Kette zweckmäßiger Einrichtungen bei einer einzigen Blumen- gruppe, von welchen keine einer anderen Erklärung zugänglich ist als der dureh Naturzüchtung! Und wie vielfach sind dieselben nun wieder modifiziert bei den verschiedenen Gattungen und Arten der Orchideen, von «denen die einen auf den Besuch von Tagfaltern ausschließlich be- rechnet sind, wie Orchis ustulata, die anderen auf den von Bienen, wie Orchis morio, die dritte auf den von Fliegen, wie Ophrys muscifera. N N 1 ” = Bd 1 Dun a SE nz en a ei mr Ar Orchideen. 157 Und bis ins einzelste hinein ist bei diesen Blumen die Gestalt der Blumenblätter dem Insektenbesuch angepaßt, glatt, wie mit Wachs polirt, da wo sie nicht hinkriechen sollen, sametig oder haarig, wo der Weg zum Honig und zugleich zu den Pollinien und der Narbe geht: und dann diese Mannigfaltiekeit der „Saftmale* nach Gestalt und Farbe. der „Anflugfläche“, d. h. der Unterlippe der Blume, auf welcher das Insekt sitzt und sich festhält. während es den Kopf so tief wie möglich in die Kronenröhre hineindrängt, um mit seinem Rüssel bis zu dem tief glegenen Honig zu reichen! Wenn wir uns auch nicht vermessen können, jede Biegung und jedes Farbenfleckchen einer der großen tropischen Orchideen wie etwa der Stanhopea tigrina in seiner Bedeutung zu erraten, so werden wir doch mit SPRENGEL ahnen dürfen, dab alles (dieses seine Bedeutung hat oder doch bei den Vorfahren der betreffenden Art gehabt hat, und daß somit die Blume sich aus lauter An- passungen zusammensetzt, aktuellen und von den Vorfahren über- kommenen, heute vielleicht nicht mehr funktionierenden. So sind also hunderte und tausende von Einrichtungen an den Blumen nur für den Insektenbesuch und die Vermittlung der Kreuzung berechnet, und die Anpassungen gehen so weit, daß man glauben möchte, sie seien Ausflüsse feinster Berechnung und der raffiniertesten Über- legung. Aber sie alle lassen die Erklärung durch Naturzüchtung zu, denn alle diese früher für zwecklose Ornamente genommenen Einzel- heiten sind direkt oder indirekt von Nutzen für die Pflanzenart, «irekt, wenn es sich z. B. um Übertragung des Pollens auf das besuchende Insekt handelt, indirekt, wenn es sich um Mittel handelt, das Insekt anzulocken. Der Beweis für die Tätigkeit von Selektionsprozessen wird aber deshalb hier förmlich zwingend, weil es sich, wie bei der Symbiose stets um zweierlei unabhängig voneinander ablaufende Anpassungen handelt, um die der Blumen an den Besuch der Insekten. und um den der Insekten an den Besuch der Blumen. Um dies ganz zu verstehen ist es nötig, nun auch die Insekten ins Auge zu fassen und zuzusehen, in welcher Weise sie durch die Anpassung an Blumen- nahrung verändert worden sind. Bekanntlich besitzen mehrere Insektenordnungen Mundteile, welche zum Saugen von Flüssigkeiten eingerichtet sind, und diese haben sich aus den beissenden Mundteilen der Urinsekten, wie sie uns heute noch in mehreren Ordnungen erhalten sind, durch Anpassung an flüssige Nahrung entwickelt. So mögen die Zweiflügler durch das Auflecken faulender Pflanzen- und Tierstoffe, und weiter dureh das An- stechen und Blutsaugen an lebenden Tieren nach und nach den Saug- rüssel erhalten haben, den wir heute bei vielen von ihnen vorfinden. Aber auch bei ihnen haben sich seitdem mehrere Familien ganz speziell der Blumennahrung, dem Honigsaugen angepaßt, so die Schweb- fliegen, Syrphiden und Bombyliden, deren langer, dünner Rüssel tief in enge Kronenröhren eindringen und den Honig vom Grund derselben wegholen kann. Die Umwandlung war hier nicht so bedeutend, «da der schon vorhandene Saugapparat nur etwas abgeändert zu werden brauchte. Auch die Ordnung der Hemipteren (Wanzen) verdankt ihren Saugrüssel nicht der Blumennahrung, wie denn auch heute noch kein Mitglied dieser Gruppe sich auf Blumennahrung eingerichtet hat. 158 Mundteile der Insekten. Dagegen beruht der Rüssel der Schmetterlinge gänzlich auf Anpassung an das Honigsaugen, und man darf wohl sagen, daß die Ordnung der Schmetterlinge nicht da sein würde, gäbe es keine Blumen. Wahrscheinlich stammt diese große und vielgestaltige Insektengruppe von Vorfahren der heutigen Köcherfliegen oder Phryganiden, deren schwach entwickelte Kiefer hauptsächlich zum Auflecken von zuckerhaltigen Pllan- zensäften benutzt wurden. Indem dann die Blumen sich ausbildeten, entwickelte sich bei den Urschmetterlingen der Leckapparat immer mehr zu einem Saugorgan und wandelte sich schließlich in den langen, spiralig einrollbaren Saugrüssel (Fig. 47) der heutigen Schmetterlinge um. Es hat einige Mühe gekostet, dieses Organ auf die beißenden Mundteile der Urinsekten zurückzuführen, da beinahe alles an ihm zurückgebildet und verkümmert ist mit Ausnahme der Maxillen (»z.x!). Selbst die Taster derselben (#72) sind bei den meisten Lepidopteren so klein und unan- sehnlich geworden, daß man erst in neuerer Zeit ihre Reste in einem zwischen den Haaren verstekten Höckerchen erkannt hat. Die Man- dibeln (»2d) sind ganz verkümmert und auch die Unterlippe selbst ist geschwunden und nur ihre Taster (//) sind wohl entwickelt (2, 2). Die ersten Maxillen aber (»2.x!), obwohl sehr stark und lang, sind in | Gestalt und Zusammensetzung so außerordentlich verändert, daß sie von allen anderen Insektenmaxillen ab- weichen. Sie sind zu hohlsonden- artigen Halbröhren geworden, die genau aufeinander passen und dann Fig. 47. Kopf eines Schmetterlings. 7 A von vorn gesehen; az Augen, /a Ober- ! lippe, >22 Rudimente der Mandibeln, pr rudimentärer Maxillartaster, »zx' die zum Saugrüssel umgewandelten Maxillen, #/ Lippentaster, an der Wurzel abgeschnitten, in 2 erhalten (22); Seitenansicht; frei nach SAVIGNY. ein geschlossenes Saugrohr von sehr komplizierter Zusammensetzung darstellen, aus vielen kleinsten Gliedern nach Art einer Kettensäge zu- sammengefügt, die alle durch kleine Muskeln bewegt und durch Nerven dem Willen unterworfen sind, auch mit Tast- und Geschmackspapillen versehen. Außer diesem merkwürdigen Saugrüssel finden sich am Körper der Schmetterlinge keine Eigentümlichkeiten, die speziell als Anpassung an den Blumenbesuch aufzufassen wären, ganz vereinzelte Ausnahmen abgerechnet, von denen eine später noch erwähnt werden soll. Das ist auch begreiflich, da die Schmetterlinge an den Blumen nichts weiter zu suchen haben als Nahrung für sich selbst; für ihre Nachkommen 7 brauchen sie kein Futter einzutragen. Dies aber ist der Fall bei den Bienen und hier finden wir des- halb auch die Anpassungen an den Blumenbesuch nicht auf die Mund- 7 teile beschränkt. Soweit wir heute urteilen können, werden die blumenbesuchenden jienen zunächst von Insekten herzuleiten sein, die den heutigen Grab- wespen glichen. Bei diesen leben «die Weibchen sogar selbst schon von 7 Pollen und Honig, bauen Zellen in Erdlöchern und füttern ihre Brut. 7 Aber sie füttern sie nieht mit Blummennahrung, sondern mit Tieren, Raupen, Grillen und anderen Insekten, die sie durch einen Stich in den” 2 Mundteile der Bienen. 159 Bauch töten, oft aber auch bloß lähmen, so daß dann das Opfer lebend aber wehrlos in die Zelle des Stocks getragen wird und lebendig bleibt, während die aus dem Ei schlüpfende Larve der Grabwespe ihre Ver- zehrung in Angriff nimmt. Wenn ich jetzt dazu schreite, Ihnen die Entstehung des Saug- rüssels der Biene aus den beißenden Mundteilen der Urinsekten klar zu machen, muß ich eine kurze Betrachtung der letzteren vorausschieken. Die beißenden Mundteile der Käfer, Heuschrecken und Netz- Hlügler (Fig. 48) bestehen aus drei Kieferpaaren, von denen das erste die Mandibel (»zd) eine einfache kräftige Zunge darstellt zum Packen und Zerreißen oder Zermahlen der Nahrung. Sie nimmt an der Bildung des Saugapparates weder bei den Bienen noch bei den Schmetterlingen teil und kann also hier ganz beiseite bleiben. Die beiden anderen Kiefer- paare, die erste und die zweite Maxille (2x! u. »x?), sind genau nach dem gleichen Typus gebaut, indem sie aus einem gegliederten Stamm (s/), aus zwei darauf eingefügten Laden, der äußeren (/r) und der inneren (/7) bestehen und aus einem nach außen von den Laden eingelenkten gewöhnlich mehrgliedrigen Taster oder Palpus (/>» u. £/). Das zweite Maxillen- paar (72x?) unterscheidet sich von dem ersten hauptsächlich dadurch, daß es in der Mittellinie des Körpers zusammen- stößt, und hier mehr oder weniger weit miteinander verwachsen ist zur sogen. „Unterlippe“. Bei der hier als Bei- spiel gewählten Schabe (Blatta orientalis) ist diese Verschmelzung nur teilweise vollständig, die Laden sind selbständig geblieben (Za u. /):; bei der Biene eben- falls, nur sind die inneren Laden (/z) Fig. 48. Mundteile der Schabe, zu einem langen wurmförmigen Fort- satz verwachsen, der beim Saugen in den Nektar hineingestreckt wird. Schon bei den Grabwespen zei- gen sich die ersten Veränderungen nach dieser Richtung, indem die Unterlippe Periplaneta orientalis nach R. HERT- w1G, /a Oberlippe, »z# Mandibeln, mx‘ erste Maxillen mit c Cardo, st Stipes, /7 Lobus internus, Ze Lobus externus und 27» dem Ma- xillartaster, x” Unterlippe aus denselben Teilen bestehend. etwas verlängert und zu einem Leck- organe umgewandelt ist. Kaum viel weiter angepaßt finden wir sie bei einer ächten Blumenbiene, Prosopis, welche auch ihre Larven mit Pollen und Honig füttert, aber erst bei der eigentlichen Honig biene ist die Anpassung eine vollständige (Fig. 49). Hier hat sich die sog. „innere Lade* der Unterlippe (/) zu dem schon erwähnten wurm- förmigen Fortsatz gestreckt, der ganz mit kurzen Börstehen dicht be- setzt ist und der die „Zunge der Biene (/) genannt wird. Die äußeren Laden der Unterlippe sind zu kleinen Blättehen verkümmert, den sog. Nebenzungen oder Paraglossen (/r), während die Taster der Unterlippe (//) sich der Zunge entsprechend gestreckt haben und als Tast- und wohl auch Riechwerkzeuge dienen, im Gegensatz zu den Tastern der ersten Maxillen, welche zu kleinen Stummeln (Am) zu- Sammengeschrumpft sind. Die ganze lange, auch in ihren Basalstücken gestreckte Unterlippe bildet nun zusammen mit den ebenso langen ersten Biene, indem sie sich als scheidenartige Maxillen den Rüssel der 160 Entstehung der Blumen. Halbröhren dieht um die Zunge herum legen und so mit ihr zusammen ein Saugrohr darstellen, durch welches der Honig aufgesogen wird. Von den drei Kieferpaaren der. Insekten ist also nur das erste, die Man- dibeln (2) unverändert geblieben, offenbar, weil die Biene eines Beiß- werkzeugs bedarf, sowohl zum Fressen des Pollens, als zum Kneten des Wachses und zum Bauen der Zellen. Aber die Bienen genießen nicht nur selbst Honig und Pollen, sondern sie tragen ihn auch ein als Futter für ihre Larven. Die er- wähnte Prosopis nimmt Pollen und Honig mit dem Mund auf und speit den Brei später als Larvenfutter wieder aus. bei den anderen ächten Bienen aber sind dazu besondere und viel leistungsfähigere Sammel- apparate vorhanden, ein dichter Haarbesatz am Bauch, oder ein Haar- besatz über die ganze Länge der Hinterbeine hin, oder schließlich der hochentwickelte Sammelapparat, wie ihn die eigentliche Honigbiene be- sitzt: das Körbehen und Bürst- chen (der Hinterbeine. Esteres ist eine Delle an der Außenfläche der Schiene, letzteres eine bedeutende Verbreiterung der Ferse (des ersten Tarsalgliedes), welche zugleich an ihrer inneren Fläche ganz mit (Juerreihen kurzer bürstenartig ge- ordneter Borsten besetzt ist. Der Pollen wird von der Biene in das IKörbehen hineingeknetet, und man sieht die Bienen dann mit dicken gelben Pollenballen an ihren Hinter- schienen nach dem Stocke zurück- fliegen. Bei den „Bauchsamnilern“, wie Osmia und Megachile sitzt die Fig. 49. Kopf der Biene. 4x Netz- augen, az Punktaugen, a2 Fühler, /a Öberlippe, »zd Mandibeln, zx! erste Ma- xillen mit 2, dem rudimentären Ma- xillartaster »2x° die zweiten Maxillen mit den zur Zunge (Zi) verwachsenen inneren Laden und den als „Paraglossen“ bezeichneten äußeren Laden (Ze); ?/ pal- pus labialis. gesammelte Pollenmasse als dieker Klumpen am Bauch, und bei An- (rena beobachtete schon SPRENGEL, wie sie mit einem Paket Pollen an (len Hinterbeinen zurücktlog, der größer war, als ihr eigener Körper. Das sind also alles Einrichtungen, die erst nach und nach durch die Gewohnheit entstanden sind, Pollen als Nahrung für die unbehilf- lichen, in Zellen eingeschlossenen Larven einzutragen. Sie haben sich in verschiedener Weise bei verschiedenen Bienengruppen ausgebildet, vermutlich. weil die primären Variationen, mit denen die Züchtungspro- zesse begannen, bei «en verschiedenen Stammformen verschieden waren. Bei den Vorfahren der Bauchsammler wird sich von vornherein eine stärkere Behaarung der Bauchseite des Tieres zur Züchtung dargeboten haben, infolgedessen der weitere Verlauf der Anpassung sich lediglich auf «diese behaarte Fläche richten mußte, während Variationen anderer, weniger behaarter Stellen des Körpers unbeachtet blieben, ganz so, ve [2 Entwicklungsgang der Blumen. 161 sie jetzt, wo der Sammelapparat der Bauchsammler bis zur Vollendung gesteigert ist, unbeachtet bleiben, d. h. in bezug auf die Auswahl zur Nachzucht gleichgültig sind. Nach allem diesen wird Ihnen der Satz nicht mehr paradox er- scheinen, daß die Existenz bunter vielgestaltiger und duftender Blumen durch den Besuch der Insekten hervorgerufen ist, und daß umgekehrt _ wiele Insekten durch Anpassung an die Blumennahrung in ihren Mund- | teilen und auch sonst noch wesentliche Umgestaltungen erfahren haben, ja daß eine ganze große Ordnung von Insekten mit Tausenden von Arten — die Schmetterlinge — nicht existieren würde, gäbe es keine Blumen. Wir wollen jetzt versuchen, uns mehr im einzelnen darüber Rechenschaft zu geben, wie, in welchen Schritten und aus welchen Zu- ständen heraus die Entstehung der heutigen Blumen aus den früheren Blütenpflanzen vor sich gegangen sein mag. Ich folge «dabei ganz den klassischen Darlegungen von HERMANN MÜLLER. Die Stammformen der heutigen höheren Pflanzen, die sog. „Ur- samenpflanzen“ oder „Archispermen“ waren alle windblütig, wie es die heutigen Koniferen und Zykadeen noch sind. Ihr massenhaft her- vorgebrachter, glatter Pollen stäubt gleich Wolken in die Luft, wird vom Wind weiter getragen und gelangt so hierhin und dorthin, gelegent- lich auch einmal auf die Narbe einer weiblichen Blüte. Häufig sind die Geschlechter bei diesen Pflanzen auf verschiedene Stöcke verteilt, und darin liegt gewiß ein Vorteil für die Windbefruchtung. Wie heute noch, so wurden auch in ferner Vorzeit die männlichen Blüten der Archispermen von Insekten besucht, die kamen, um sich | vom Pollen zu nähren, ohne jedoch der Pflanze einen Gegendienst dafür ‚ zu leisten; sie schädigten sie vielmehr nur durch Schmälerung ihres | Pollenvorrats. Wenn es nun möglich war, die Insekten zu veranlassen, | bei ihrem Raub des Pollens zugleich der Pflanze zu dienen, und Pollen auf die weiblichen Blüten zu übertragen und damit die Fremdbestäubung auszuführen, so mußte dies für die Pflanze von großem Vorteil sein, denn dann brauchte sie keine so ungeheuren Massen von Pollen mehr hervorzubringen wie bei der Windbestäubung und war doch der Be- fruchtung viel sicherer, als bei dieser, die gutes Wetter und richtigen Wind voraussetzt. Offenbar war dies nun auf zweierlei Wegen zu erreichen, einmal dadurch, daß auch die weiblichen Blüten den Insekten etwas Anlockendes darboten, und dadurch, daß Zwitterblüten gebildet wurden. Beide Wege sind tatsächlich von der Natur eingeschlagen worden. Ein Bei- spiel für den ersteren ist die Weide, deren Wechselbefruchtung den Insekten dadurch aufgezwungen wurde, daß sowohl die männliehen als die weiblichen Blüten (Fig. 50 A und 3) ein Nektarium entwickelten (C und D, »), d. h. ein Grübcehen oder Näpfehen, in welchem Pflanzen- honig abgesondert wird. Nun flogen «die Insekten bald auf männliche und bald auf weibliche Weidenkätzehen, und sehleppten dabei den nicht mehr stäubenden, sondern klebrig gewordenen und leicht an ihrem Körper haftenden Pollen in die weiblichen Blüten und auf die Narbe, Bei weitem häufiger ist es aber zur Sicherung der Wechselbe- fruchtung durch Bildung von Zwitterblüten gekommen, und wir können begreifen, daß dieser Weg in weit vollkommenerer Weise die vor- Kreuzung sicherte, denn hier mußte die Übertragung von Blüte zu Blüte stattfinden, während bei Einrichtungen nach Art der Weide zahllose Einzelblüten männlichen Geschlechts hintereinander nach Honig Weismann, Doszondenztheorie. I. 2. Aufl 1 P- KG 162 Entstehung der Blumen. ausgebeutet werden konnten, ehe «das Insekt sich entschloß, zu einem weiblichen Stock derselben Art hinüberzufliegen. Den Anfang zu der Umwandlung der eingeschlechtlichen Blüten nach dieser Richtung dürfen wir wohl in Variationen sehen, wie sie auch heute noch bei getrennt ge- schlechtlichen Arten gelegentlich vorkommen, indem nicht selten an deren männlichen Kätzchen einzelne Blüten stehen, die außer den Staubgefäßen | auch einen Griffel mit Narbe besitzen (Fig. 50, £ zeigt eine solche ab- f norme Zwitterblüte von einer Pappel). j Sobald nun einmal Zwitterblüten vorhanden waren, begann der h Kampf um die Anlockung der Insekten in gesteigertem Maße. Jede kleine Verbesserung nach dieser Richtung mußte den Ausgangspunkt von Selektionsprozessen abgeben, und mußte bis zur möglichsten Ver- vollkommnung derselben fortgeführt und gesteigert werden. . So waren es wohl zuerst die Blütenhüllen, welche ihr ursprüng- liches Grün in andere und zwar solche Farben umwandelten, die vom Grün möglichst stark abstachen und dadurch die Insekten auf die Blume aufmerksam machten. Variationen in der Farbe gewöhnlicher Blätter kommen immer von Zeit, zu Zeit vor, sei es dadurch, daß das Grün sich in Gelb verwandelt, sei es dadurch, © daß das Chlorophyll mehr oder weniger schwindet, und dab gefärbte rote oder blaue Säfte hinzukommen. Ohne Zweifel können viele - Insekten Farben sehen und - (durch die Größe farbiger Blumen angelockt werden, wie denn HERMANN MÜL- N LER den Insektenbesuch Fig. 50. Blüten der Weide, Salix einerea bei zwei nahe verwandten nach H. MÜLLER. 4 Männlicher, B weiblicher Blü- Blumen sehr verschieden tenstand, C männliche Einzelblüte, z Nektarium, stark fand. von welchen“ D weibliche Einzelblüte, Z Populus, eine aus- ”, 2 i | nahmsweise zwittrige Einzelblüte. die eine, Malva silvestris, recht große, weithin sicht- bare, stark rosarote Blumen besitzt, und die andere, Malva rotundi- folia, sehr unscheinbare, kleine blaßrote Blumen. Bei ersterer flogen 51 verschiedene Besucher ab und zu, bei letzterer konnte er deren nur vier feststellen. Die letztere Blume ist dementsprechend auch meist auf Selbstbefruchtung angewiesen. | Man hat später von verschiedenen Seiten her bestritten, daß die Insekten durch die Farben der Blumen angezogen würden und zwar be- sonders auch auf Grund von Versuchen mit künstlichen Blumen. Wenn aber z. B. PLATEAU Schmetterlinge und Bienen in solchen Ver- suchen zuerst auf die künstlichen Blumen zufliegen sah und dann von ihnen ablenken, ohne sich weiter um sie zu kümmern, so beweist das” wohl nur, daß sie schärfer sehen, als man es ihnen zutraute, dab sie” zwar auf erößere Entfernung getäuscht werden können, nieht aber in’ der Nähe; möglich auch, daß der Geruchsinn dabei den Ausschlag gibt. Ich habe selbst derartige Versuche gemacht, und zwar mit Tagfaltern denen ich in einem Wald von natürlichen Blumen ein einzelnes künst- liches Chrysanthemum hinsetzte. Es kam in der Tat selten vor, dal — Entstehung der Blumen. 165 ein Falter sich auf die künstliche Blume setzte, meist flogen sie dicht drüber hin, ohne aber sich niederzulassen. Zweimal jedoch sah ich sie sich auf die künstliche Blume setzen und ein Paar Momente eifrig mit dem Rüssel umhertasten, dann freilich rasch abfliegen. Die echten Chrysanthemum hatten sie mit Vorliebe besucht und eifrig den Nektar aus den vielen Einzelblüten gesogen, bei der künstlichen Blume versuchten sie, es ebenso zu machen, und standen erst davon ab, als es nicht gelingen wollte, ihren Rüssel in die Einzelblumen einzuführen. Sie hatten also auch durch das Niedersitzen auf der Blume selbst noch nicht Sicherheit darüber gewonnen, daß sie getäuscht wurden. Hier waren die Farben freilich nur Weiß und (Gelb, bei Rot und Blau mag es noch schwerer sein, genau den Eindruck der natürlichen Blumen- farbe nachzuahmen. und dann fehlt immer noch der feine Duft, der von der Blume in vielen Fällen ausgeht. Die Schlüsse, welche PLATEAU aus seinen Versuchen gezogen hat, sind neuerdings durch KIENITZ- GERLOFF überzeugend zurückgewiesen worden'): sie waren es aber genau genommen schon längst durch die interessanten Versuche von Aucust FoREL mit Hummeln. Dieser Forscher schnitt Hummeln, welche gerade lebhaft an einem Blumenbeet geschwärmt hatten, (den ganzen Rüssel nebst den Fühlern ab, beraubte sie also vollständig ihrer Riechorgane: Trotzdem kehrten sie, nachdem sie hoch in die Lüfte ge- stiegen waren, mit der größten Sicherheit und Schnelligkeit wieder zu denselben Blumen hinab, aus denen sie vorher Honig gesogen hatten, jetzt freilich vergeblich. Sie haben also aus beträchtlicher Entfernung die Blumen mit den Augen erkannt. ‚Jedenfalls ist die Farbe nicht das einzige Anlockungsmittel der Blumen, sondern wohl in den meisten Fällen kommt der Duft hinzu, und auch dieser ist nicht das Ziel des Insektenbesuches, sondern der Honig, zu welchem Farbe und Duft nur den Weg zeigen. Duft- und Honigentwicklung werden sich ebenso wie die Blumenfarben durch | Selektionsprozesse gebildet und gesteigert haben, die in der Bewerbung um den Insektenbesuch ihre Wurzel hatten, und sobald einmal erst diese Grundeigenschaften der Blumen vorhanden waren, konnten nun | auch feinere Ausgestaltungen derselben ihren Anfang nehmen, und Blumenformen ausgebildet werden, welche besonders auch in der (ie- stalt mehr und mehr von der ursprünglichen regelmäßigen und einfachen Form der Blüten abwichen. Dies wird darin hauptsächlich seinen Grund gehabt haben, dab nachdem der Insektenbesuch einer Blume im allgemeinen gesichert war, | | | | | es nun vorteilhaft wurde, diejenigen Insekten vom Besuch auszuschließen, welche den Honig raubten, ohne den Gegendienst der Kreuzbefruchtung zu leisten, alle solche also, die dazu durch Kleinheit oder Unstetigkeit des Besuchs ungeeignet waren. 3evor Schmetterlinge und Bienen existierten, werden die regelmäßig gebauten, tlachen Blumen mit offen daliegendem Honig von einer gemischten (Gesellschaft von Phryganiden, Blatt- und Schlupfwespen besucht worden sein. Indem nun dann der Honig in Vertiefungen der Blume rückte, entzog er sich den weniger intelligenten Insekten, und so verengerte sich der Kreis der Besucher schon etwas. Wenn dann bei der betreffenden Art die Blumenblätter zu einer kurzen Röhre verwuchsen, so wurden dadurch alle diejenigen Besucher ausgeschlossen, deren Mundteile zu kurz waren, um zum Honig *) Biologisches Centralblatt 1903 164 Entstehung der Blumen. hinabzureichen: unter denjenigen aber, die ihn noch erreichen konnten, begann nun der Prozeß der Rüsselbildung: die Unterlippe oder die Maxillen oder beide Teile verlängerten sich in gleichem Schritt mit der Kronenröhre der Blume, und es bildeten sich aus den Phryganiden die Schmetterlinge, aus den Schlupfwespen die Grabwespen und Bienen. Auf den ersten Blick möchte man vielleicht glauben, daß es vor- teilhafter für die Blumen gewesen sein müsse, recht viele verschieden- artige Besucher anzuziehen, «das ist aber offenbar nicht der Fall. Im (Gegenteil, spezialisierte, nur für wenige Besucher zugängliche Blumen, die aber für diese wenigen anziehend sind, müssen sicherer durch sie befruchtet werden, weil Insekten, die nur an wenigen Blumenarten fliegen, diese um so sicherer besuchen, und vor allem häufiger viele Blumen derselben Art nacheinander besuchen. HERMANN MÜLLER beobachtete, dab ein Taubenschwänzcehen (Macroglossa stellatarum) in vier Minuten 108 Blumen derselben Art, des prächtigen Alpenstiefmütterchen (Viola calearata) hintereinander anflog: eben- soviele Befruchtungen kann es in dieser kurzen Zeit ausgeführt haben. Es war also in der Tat von Vorteil für eine Blume, ihren Be- sucherkreis mehr und mehr zu verengen, indem sie so abänderte, daß nur noch die ihr nützlichen Besucher bis zu ihrem Honig dringen konnten, die übrigen nicht. So entstanden Bienenblumen, Tagfalter- blumen, Schwärmerblumen, ja in manchen Fällen hat sich eine Blumenart so spezialisiert, dab sie nur noch von einer einzigen In- sektenart befruchtet, wird. Dadurch erklären sich die wunderbaren An- passungen der Orchideenblumen, und die enorme Länge des Rüssels gewisser Schmetterlinge. Schon unsere Schwärmer, Maeroglossa stella- tarum und Sphinx Convolvuli. zeigen eine erstaunliche Länge des Rüssels, bei letzterer Art S em: bei Macrosila Cluentius in Brasilien ist derselbe über 20 em lang, und in Madagaskar wächst eine Orchidee, deren Nek- tarien 30 em lang, und im Grund fast 2 em hoch mit Honig angefüllt sind, zu der man aber den befruchtender Schwärmer noch nicht kennt. Man kann also wohl sagen, daß die Blumen, indem sie nach (dieser oder jener Richtung abänderten, sich bestimmte Besucherkreise gezüchtet haben, aber auch umgekehrt, dab bestimmte Insektengruppen sich bestimmte Blumen gezüchtet haben. Denn diejenigen Umgestal- fh tungen der Blumen waren stets für sie die vorteilhaftesten, welche ihnen den ausschließlichen Besuch ihrer besten Kreuzungsvermittler sicherten, und diese Umgestaltungen waren teils solche, welche die anderen Besucher abhielten, teils solche, welche jene besten anzogen. Von botanischer Seite ist die Annahme, daß Blumen und Blumen suchende Insekten durch Selektionsprozesse einander angepaßt worden seien, als unhaltbar betrachtet worden, weil jede Veränderung der Blume die entsprechende des Insektes schon voraussetzte. Ich würde den Einwurf nicht erwähnen, wenn er nicht von einem so berühmten Natur forscher wie NÄGELI herrührte, und wenn er nicht zugleich recht ge eignet wäre, den Vorgang solcher Züchtungsprozesse sich klar zu machen. NÄGELI meinte, Selektion könne z. B. eine Verlängerung der Kronen- röhre einer Blume nieht bewirkt haben, weil der Rüssel des Insektes ja gleichzeitig verlängert worden sein müsse. Verlängere sich die Kronenröhre allein und nieht zugleich auch der Rüssel des Schmetter- lings, so werde die Blume nieht mehr befruchtet, und gehe die Ver- längerung des Rüssels derjenigen der Kronenröhre voraus, so habe sie Entstehung der Blumen. 165 ‚keinen Wert für den Schmetterling, könne also auch nicht Gegenstand eines Züchtungsprozesses werden. Der Einwurf übersieht, daß es von einer Blumenart und einem Schmetterling nicht nur ein Individuum gibt, sondern Tausende oder Millionen, und daß diese untereinander nicht absolut gleich, sondern ungleich sind. Darin besteht ja gerade der Kampf ums Dasein, dab die Individuen einer jeden Art verschieden, und daß die einen besser, die anderen minder gut beschaffen sind. Gerade in der Ausmerzung ‘ der letzteren, der Bevorzugung der ersteren besteht ja der Auslese- prozeß, ler stets das bessere schafft, weil er fortwährend die Träger des minder guten verwirft. Es wird also auch in unserem Falle unter den Individuen der betreffenden Pflanzenart Blumen mit längerer und solche mit kürzerer Kronenröhre, unter den Schmetterlingen solche mit längerem und solche mit kürzerem Rüssel geben. Wenn nun unter den Blumen die längeren sicherer kreuzbefruchtet werden, als die kürzeren, weil schädliche Besucher fern bleiben, so werden die längeren mehr ‚ und besseren Samen hervorbringen und ihre Eigenschaft auf mehr Nachkommen vererben, und wenn unter den Schmetterlingen die lang- rüsseligsten im Vorteil waren, weil für sie der Honig in den längeren Kronenröhren gewissermaßen aufgehoben blieb, sie sich also besser er- ‚ nährten als die mit kürzeren Rüsseln, so muß von (Generation zu Ge- meration die Zahl der langrüsseligen Individuen zugenommen haben. So wird sich die Länge der Krone und die des Rüssels so lange ge- steigert haben, als noch ein Vorteil für die Blume darin lag, und beide Parteien mußten sich notwendig in gleichem Schritt verändern, da jede Verlängerung der Krone von einer Bevorzugung der längsten Rüsselvariation begleitet war. Die Steigerung der Eigenschaften beruhte und kann nur beruht haben auf einer Leitung «der Variationen nach der nützlichen Richtung. Dieses aber eben nennen wir nach DArwIn und WALLACEs Vorgang: Naturzüchtung. Wir haben indessen in der Blumengeschichte noch in zweifach anderer Weise ein Mittel, die Wirklichkeit der Selektionsprozesse zu er- weisen. Zunächt ist es klar. daß für eine solche gleichzeitige gegen- seitige Anpassung verschiedenartiger Organismen eine andere Erklärung nicht gegeben werden könnte. Wollten wir wie es z. B. NÄGELI tat — eine innere Entwicklungskraft der Organismen annehmen, welche ihre Umwandlungen hervorruft und leitet, so würden wir, wie früher schon gesagt, zugleich zur Annahme einer Art von prästabilierter Harmonie gezwungen sein, so wie sie LEIBNIZ für das Zusammen- gehen von Körper und Geist annahm: Pflanze und Insekt müßten von ihrer Entwicklungskraft stets korrespondierend verändert werden, so daß sie sich verhielten wie zwei Uhren, welche so genau gearbeitet sind, daß sie stets gleich gehen, obwohl sie sich nieht gegenseitig beein- flussen. Der Fall wäre nur dadurch noch verwickelter, als bei den Uhren, daß die Veränderungen, welche hier auf beiden Seiten eintreten müßten, ‚ganz verschiedene, doch aber zugleich solche sind. die so genau zu- Samınenpassen, wie Wille und Handlung. Die ganze Entwicklungsge- schichte der Erde und der Lebewelt hätte dann bis in die kleinsten Einzelheiten hinein vorausgesehen und in die angenommene Entwick- lungskraft hineingelegt sein müssen. Eine solche Annahme könnte aber schwerlich Anspruch auf eine wissenschaftliche Hypothese machen. Obgleich jedes vom Wind ver- wehte Sandkorn auf dieser Erde zewißlieh nur dahin fallen konnte, wo- Fr u a A N nn EEE an En Br nn 166 Entstehung der Blumen. hin es wirklich fiel, so wird es doch jedem von uns frei stehen, eine Hand voll Sand so zu werfen, wie es ihm gerade beliebt, und obgleich auch dieser Wurf wieder seinen genügenden Grund in uns gehabt haben muß, so wird man doch nicht sagen können, daß seine Richtung und die Orte, an denen die betreffenden Sandkörner niederfielen, in der Ge- schichte der Erde im voraus bestimmt gewesen seien. Mit anderen Worten: das, was wir Zufall nennen, spielt auch in der Ent- wicklung der Organismen eine Rolle, und es widerspricht der Annahme einer ins Einzelne hinein prädestinierenden Ent- wiceklungskraft, wenn wir sehen, daß die Arten sich ihren zu- fälligen Lebensbedingungen gemäb umwandeln. Dies läßt sich gerade bei den Blumen nachweisen. Wenn z. B. das wilde Stiefmütterchen, Viola tricolor, welches in der Ebene und auf dem Mittelgebirge wächst, von Bienen befruehtet wird, die nahever- wandte Viola calcarata der Hochalpen von Schmetterlingen, so begreift sich das leicht, weil in den niederen Regionen zwar die Bienen sehr häufig sind und somit die Befruchtung der Art sicher stellen, in den Hochalpen aber nicht. Dort überwiegen bei weitem die Schmetterlinge, wie jeder weiß, der einmal im Juli über die blumenbedeckten Matten in den Hochalpen gegangen ist und die Hunderte und Tausende von Tagfaltern gesehen hat, die dort von Blume zu Blume fliegen. So hat sich denn das Stiefmütterchen auf den Hochalpen zu einer Schmetter- lingsblume umgewandelt durch Verlängerung ihres Nektariums in einen langen, nur dem Schmetterlingsrüssel zugänglichen Sporn. Der Zufall, der gewisse Individuen der Stammart und ihre Nachkommen die Hoch- alpen erklimmen ließ, wird also die Veranlassung zu der Hervorbringung dieser dem dortigen Insektenbesuch angepaßten Abänderungen gewesen sein. Eine prädestinierende Entwicklungskraft leidet solchen Fällen gegenüber vollständig Schiffbruch. Einen vortrefflichen Prüfstein für die Wirklichkeit der Selektions- prozesse haben wir aber noch weiter in der Qualität der Abände- rungen bei Blumen und Insekten. Naturzüchtung kann nur solche Abänderungen hervorbringen, welche ihrem Träger selbst von Nutzen sind: wir werden also nur solche Einrichtungen bei Blumen anzutreffen erwarten, die den Blumen selbst direkt oder indirekt nützlich sind, und umgekehrt beim Insekt nur solche, welche dem Insekt selbst nützlich sind. Und so finden wir es in der Tat. Alle Einrichtungen der Blumen, ihre Farbe, ihre (Gestalt, ihre Saftmäler und haarigen Saftstraßen (Iris), ihr Duft und ihr Honig, sie sind alle der Pflanze selbst indirekt nütz- L lich, indem sie alle so zusammengeordnet sind, daß sie das honigsuchende Insekt zur Befruchtung der Blume zwingen. Am deutlichsten tritt dies bei den sog. „Täuschblumen“ hervor, welche durch Größe und Schönheit, dureh Duft und ihre Ähnlichkeit mit anderen Blumen die Insekten anlocken und zur Kreuzungsvermittlung zwingen, obgleich sie gar keinen Honig enthalten. So verhält es sich nach HER- MANN MÜLLER mit der schönsten unserer einheimischen Orchideen, dem Frauenschuh, Cypripedium caleeolaris. Dieser wird von Bienen aus der (rattung Andrena besucht, die in die große, holzschuhförmige Unterlippe der Blume auf der Suche nach Honig hineinkriechen, um sich dann sefangen zu finden, denn dort wenigstens, wo sie hereinkamen, können sie wegen der steilen und glattpolierten Wände «der Blume nicht wieder hinaus. Es gibt vielmehr für die Bienen nur einen Ausgang; sie Täuschblumen. 167 muß sich unter der Narbe durchzwängen, was sie nur mit Anstrengung zu Wege bringt. und wobei sie sich mit Pollen notwendig beschmiert, um diesen dann in der folgenden Blume, in die sie kriecht, und die sie auch nur in derselben Weise verlassen kann, mit mechanischer Not- wendiekeit auf die Narbe zu übertragen. Solche merkwürdige Fälle erinnern in gewisser Weise an die Fälle von Mimicry, indem es sich um Täuschungen handelt, die nur mit Vor- sicht angewandt werden dürfen, sonst wirken sie nicht mehr. Sie könnten geneigt sein, zu vermuten, daß ein so intelligentes Insekt, wie eine Biene sich nicht zweimal durch den Frauenschuh anführen lassen werde, also in keine zweite Blume hineinkriechen werde, nachdem sie in der ersten die Erfahrung schon gemacht hat. daß kein Honig darin ist. Der Schluß wäre aber unrichtig, denn die Bienen sind daran gewöhnt, in vielen Blumen den Honig schon von anderen Genossen weggenommen zu finden; sie können also aus dem einmaligen Nichterfolg noch nicht schließen, daß Cypripedium überhaupt keinen Honig hervorbringe, son- dern sie versuchen es in einer zweiten, dritten und vierten Blume. Hätte diese Orchidee reichbesetzte Blumenrispen, wie z. B. manche ÖOrchisarten. und wäre zugleich die Art häufig, so würden die Bienen wahrscheinlich bald die Blume nicht mehr besuchen, allein von beiden ist das Gegenteil der Fall: es findet sich meist nur eine, höchstens zwei offene Blumen am Frauenschuh, und die Pflanze ist selten und steht wohl nirgends in großer Masse beisammen. Fänden wir irgend eine Blume, die ihren Honig jedem Insekt offen darböte, ohne von demselben einen (Gregendienst zu erzwingen, so würde dies eine durch Selektion nicht erklärbare Einrichtung sein: wir kennen aber nichts derartiges. Umgekehrt nun findet sich auch bei den Insekten keine Ein- richtung, welche nur der Blume von Nutzen, und nicht auch dem Insekt direkt oder indirekt nützlich wäre. Bienen und Schmetter- linge übertragen zwar den Pollen der einen Blume auf die Narbe der anderen, aber nicht etwa durch einen besonderen Instinkt, der sie dazu antreibt,sondern durch den Zwang, welchen der Bau der Blume ihnen auferlegt, sei es, daß ihre Staubbeutel so gestellt und eingerichtet sind, daß sie ihren Inhalt über den Besucher ausschütten müssen, oder sei es, daß ihre Antheren zu gestielten, klebrigen, bei Berührung abspringen- den Pollinien umgewandelt sind, die sich dem Insekt gewissermaßen auf die Nase setzen. Und auch dabei bleibt es im Falle der Orchis nicht. denn das Insekt würde aus eigenem Antrieb niemals diese Pollinien auf die Narbe der nächsten Orchisblume absetzen, und so mußte die Blume ihr Pollinium so einrichten, daß es sich auf dem Kopf des Insekts nach kurzer Zeit nach vornen krümmt. Das stimmt also alles aufs beste mit der Voraussetzung. Wie hätte ein Instinkt. den Pollen der Blume auf der Narbe zu tragen, beim In- sekt durch Selektion entstehen können, da doch das Insekt keinerlei Vorteil von dieser Handlung haben kann? Dementsprechend finden wir auch keine Zangen oder sonstige Greiforgane bei den Insekten ent- wickelt, welche den Pollen zu packen und zu übertragen bestimmt wären. Allerdings gibt es einen merkwürdigen Fall, in dem dies so zu sein scheint, ja sogar wirklich ist, der aber dennoch keinen Wider- spruch, sondern eine Bestätigung der Selektionslehre bildet. Der ver- diente amerikanische Entomologe RıLey hat dureh genaue Beobachtungen 168 Entstehung der Blumen. festgestellt, daß die großen weißen Blumen der Yucca durch eine kleine Motte befruchtet werden, die dabei in einer sonst bei Insekten uner- hörten Art verfährt. Nur die Weibchen besuchen die Blume und be- schäftigen sich zunächst damit, einen großen Ballen Pollen zu sammeln. Zu diesem Behuf haben sie am ersten Glied ihrer Kiefertaster (Fig. 52, C, mxp) einen langen, sichelförmig gebogenen und mit Borsten be- setzten Fortsatz (s7), wie ihn sonst wohl kein anderer Schmetterling besitzt, und mit dessen Hilfe die Motte in kurzer Zeit einen Pollen- ballen zusammenkehrt, der ihren Kopf um das Dreifache an Masse übertreffen kann. Mit diesem Ballen flıegt das Tierchen in die nächste Blume und legt dort Eier mittelst eines besonderen, den Schmetter- lingen sonst ebenfalls fremden Legestachels (Fig. 52, A, 05) in den Fruchtknoten der Blume. Schließlich stopft sie den mitgebrachten Pollen tief in die trichterförmige Narbe des Griffels (Fig. 51, z) hinein und bewirkt so die Fremdbestäubung. Es entwickeln sich die Samen- anlagen, und wenn die Räupchen nach 4—5 Tagen aus dem Ei schlüpfen, ernähren sie sich von denselben bis sie reif zur Verpuppung sind. Jedes Räupchen braucht etwa 18—20 Samen zu seiner Entwicklung (Fig. 52, 2, r). Hier also ist wirklich eine Anpassung des Instinkts und gewisser Körperteile des Schmetterlinges an die Befruchtung der Pflanze vorhanden, allein hier liegt dieselbe ebensowohl im Interesse des Schmetter- lings selbst, wie in dem der Pflanze; die Motte erreicht durch die Übertragung des Poliens auf die Narbe die Entwicklung der Samenanlagen, welche ihren Nach- kommen als Nahrung dienen: wir haben es also hier mit einer eigentümlichen Form der Brutpflege zu tun, die nicht wunder- barer ist, als viele andere Arten der Brut- Fig. 51. Die Yuccamotte, Pro- pflege bei Insekten, Ameisen, Bienen, Mord- nuba yuccasella, 4 Eier in den wespen oder Schlupf- und Gallwespen. Fruchtknoten der Yuecablüte = : legend, nach RıLEY. Man könnte aber einwerfen, daß es { sich im Falle der Yueca nicht um Be- fruchtungsvermittlung handle, sondern um Schmarozertum: allein die Eier, welche in einen Fruchtknoten gelest werden, sind nur ganz wenige, und die Räupchen, welche aus ihnen ausschlüpfen, verzehren immer nur einen kleineren Teil der Samenanlagen, deren etwa 200 sind (Fig. 52, 3). So ist also dafür gesorgt, daß auch die Pflanze ihren Nutzen von dem Verfahren des Schmetterlings habe, indem noch genug Samen übrig bleiben. Die (Gestalt und Stellung der Staubgefäße und der Narbe scheinen dem Besuch der Motte ebenso genau angepaßt zu sein, als der Schmetterling der Übertragung des Pollens, denn die Yucca kann nur durch diese Motte befruchtet werden und setzt keine Samen an, wenn dieselbe fehlt. Aus diesem Grunde bleiben die in Europa kultivierten Yucca-Arten steril. So löst sieh also dieser scheinbare Widerspruch, und die Tatsachen stimmen überall mit der Voraussetzung, daß die Anpassungen zwischen Blumen und Insekten auf Selektionsprozessen beruhen. Aber noch von einer anderen Seite her wird dieser Ursprung, wie mir scheint, unwiderleglich bewiesen. ich meine durch die bloß relative Yuccambotte. 169 Vollkommenheit der Anpassungen, oder wenn man lieber will, ihre re- lative Unvollkommenheit. Ich wies schon darauf hin, daß alle auf Selektion beruhenden An- passungen nur relativ vollkommen sein können, der Natur der sie be- wirkenden Ursachen nach, denn Naturzüchtung wirkt nur so lange, als eine weitere Verbesserung des betreffenden Charakters noch von Vor- teil für die Existenz der Art ist. Darüber hinaus kann sie nicht tätig sein, da die Bevorzugung besserer Variationen von dem Augenblick an aufhört, wo diese Verbesserungen nicht mehr nötig sind, weil dieExistenz der Art von dieser Seite her nicht mehr stärker zu sichern ist; genauer gesprochen, weil weitere Variationen in der bisher befolgten Richtung keine Verbesserungen mehr sind, auch wenn sie uns als solche erscheinen möchten. Fig. 52. Zur Befruchtung der Yucca. A Legestachel der Yuccamotte, 0? Scheide desselben, sö Spitze, 0#° vorgetretener Eileiter. — # Zwei Fruchtknoten von Yucea mit den Ausschlupflöchern der Motte und der Raupe der Motte (7) im Innern. — C Kopf der weiblichen Motte mit dem sichelförmigen Anhang (s7) am Ma- xillartaster (2x5) zum Abschaben und Zusammenballen des Pollens; 2x! Rüssel, az Augen, 9! erstes Bein. — D Längsschnitt durch einen Fruchtknoten der Yucca kurz nach der Ablage zweier Eier (er); man sieht den Stichkanal (57%). Nach RıLey. So sind viele Blumen in ihrer Krone auf den Besuch des dicken, haarigen Kopfes und Thorax von Bienen eingerichtet, indem nur an diesem hinreichend Pollenstaub haften bleibt, um die folgende Blume zu befruchten: sie werden aber dennoch häufig auch von Schmetter- lingen besucht, und es ist an vielen von ihnen keine Einrichtung ge- troffen, die diesen unnützen Besuch verhindern könnte. Offenbar des- halb nicht, weil Einriehtungen, die dies verhindern, nur dann ihren An- fang nehmen könnten, wenn sie zur Erhaltung der Art notwendig würden — dem Begriff nach — in diesem Falle also erst dann, wenn durch den Raubbesuch der Schmetterlinge so zahlreiche Blumen der betreffenden Art den befruchtenden Bienen entzogen würden, dab zu wenig Samen gebildet werden und der Bestand der Art gefährdet erscheinen mübte, indem die Normalziffer derselben dauernd herabsänke. Solange die Bienen 170 Entstehung der Blumen. die Blume noch häufig genug besuchen, damit die nötige Zahl Samen sich bilden kann, wird ein solcher Selektionsprozeß nicht eingeleitet werden können, sollten aber z. B. die Bienen fast alle Blumen ihres Honies schon beraubt finden und deshalb ’n ihrem Eifer nachlassen, so würde jede Abänderung der Blume, die den Honigraub der Schmetter- linge zu erschweren imstande wäre, Gegenstand eines Selektionsprozesses werden. Wir finden nun überall solche Unvollkommenheiten der Anpas- sungen, die darauf hindeuten, dab sie auf Selektionsvorgängen beruhen müssen. So werden zahlreiche Blumen noch von anderen, als den be- fruchtenden Insekten besucht, die ihnen nichts nützen, sondern nur Pollen und Honig rauben. und die schönsten Einrichtungen mancher Blumen, z. B. der Glyzinien, die die Wechselbefruchtung durch Bienen bezwecken, werden dadurch illusorisch gemacht, daß Holzbienen und Hummeln von außen her Löcher in das Nektarium beißen, um so auf dem kürzesten Weg zum Honig zu gelangen. Ich weiß nicht, ob in dem Vaterlande der Glyzinie Bienen leben, die es ebenso machen; jedenfalls können aber dieselben der Art keinen fühlbaren Schaden bringen, andernfalls würden Selektionsprozesse eingeleitet worden sein, welche in irgend einer Weise, etwa durch Erzielung von Stachelhaaren oder Haaren mit brennendem Sekret, oder irgendwie sonst diese Schädi- gung verhindert hätten. Sollte aber derartiges der physischen Natur der Blume nach nicht möglich sein, so würde die Art an Häufigkeit abnehmen und ihrem Untergang entgegen gehen müssen. Die relative Unvollkommenheit der im allgemeinen so bewunde- rungswürdigen Blumeneinrichtungen bildet also einen weiteren Hinweis auf ihre Entstehung durch Selektionsprozesse. VORTRAG. Sexuelle Selektion. Schmuckfarben männlicher Schmetterlinge und Vögel p. 171, WALLACEs Erklärung p- 172, Überzahl der Männchen p. 173, Wählen der Weibchen? p. 174, Sehen der Schmetterlinge p. 176, Anlockende Düfte p. 176, Duftschuppen p. 176, Weibchen- düfte p. 179, Grenze zwischen Natur- und Sexualzüchtung unbestimmt p. 179, Speziesdüfte p. 179, Brunstdüfte bei anderen Tieren p. 180, Gesang der Cikaden und Vögel p. 180, Manniefaltigkeit des Schmuckes sukzessive erworben p. 181, Ko- libris p. 181, Ersatz des persönlichen Schmuckes durch andere Liebeswerbung p. 182, Spürorgane der männlichen Insekten und Krebse p- 182, Vorrichtungen zum Fangen und Festhalten der Weibchen p. 153, Kleinheit gewisser Männchen p. 185, Waffen der Männchen für den Kampf um die Weibchen p. 185, Turbanaugen der Eintags- fliegen p. 187, Aufblasbare Hörner auf dem Kopf von Vögeln p. 187, Fehlen sekun- därer Geschlechtscharktere bei niederen Tieren p- 189, Übertragung männlicher Cha- rakteure auf die Weibchen p. 155, Lycaena, Papageien p: 189, Das Prinzip der Mode tätig bei der phyletischen U mfärbung der Arten p. 189, Zeicehnungsmuster auf der oberen Fläche der Tagfalter einfacher, als "auf der unteren p. 192, Zusammenfassung p. 193. Meine Herren! Wir fanden für zahlreiche zweckmäbige Einrich- tungen an Pflanzen und Tieren in dem Prozeß der Naturzüchtung eine Erklärung für Gestalt, Färbung, Chemismus, für die verschiedensten Waffen und Schutzvorrichtungen, für die Existenz jener Blütenformen, welche wir Blumen nennen, für die Instinkte usw. Die charakteristischsten Teile ganzer Insektenordnungen können nur durch Anpassung an die Umgebung mittelst Naturzüchtung in ihrer Entstehung begriffen werden, und unter dem Eindruck dieses Ergebnisses möchte man jetzt schon fast fragen, ob denn nicht vielleicht alle Umgestaltungen der Lebewelt auf Anpassung an die stets wieder von neuem wechselnden Lebens- bedingungen bezogen werden dürften. Wir werden später auf diese Frage wieder zurückkommen. für den Augenblick aber sind wir noch weit entfernt, sie bejahen zu können, denn es gibt unzweifelhaft eine grobe Menge von Charakteren, wenigstens an Tieren, die in der Form von Naturzüchtung, wie wir sie bis jetzt kennen gelernt haben, ihren Grund nicht haben können. Wie wollten wir das prachtvolle Gefieder der Kolibris, der Fasanen, der Papageien, die wundervollen Farbenmuster so zahlreicher Tagtalter auf den Vorgang der Naturzüchtung zurückführen, da doch alle diese Eigenschaften im Kampfe ums Dasein für die Art kaum eine Bedeutung haben können? Oder was sollte es dem Paradiesvogel im Kampf ums Dasein nützen, ein so herrliches Federkleid zu besitzen, oder dem lasur- blau schillernden Morpho Brasiliens, dab er von Ferne schon auffällt, wenn er die Krone der Palmen umspielt? Man könnte ja vielleicht vermuten, es seien diese prächtigen Farben Widrigkeitszeichen, etwa wie die der Helikoniden oder der bunten Raupen, allein erstens sind 172 Sexuelle Selektion. diese Tiere durchaus nicht ungenießbar und werden sogar stark ver- folgt. und zweitens zeigen ihre Weibchen ganz andere und sehr viel dunklere und einfachere Färbungen. Die schillernde Pracht aller dieser Paradiesvögel und Kolibris, auch die vieler Tagfalter findet sich nur beim männlichen Geschlecht, die Weibchen dieser Vögel sind dunkel gefärbt und ohne die funkelnden Schmuckfedern, ganz wie die Weibchen vie.er Schmetterlinge. Nun hat zwar ALFRED WALLACE gemeint, dies finde in dem größeren Schutzbedürfnis der Weibchen seine Erklärung, welche bei den Vögeln bekanntlich meist das Brutgeschäft besorgen und dabei häufig feindlichen Angriffen bloßgestellt sind. Es ist auch ohne Zweifel richtig. daß die dunkle und unscheinbare Färbung der Weibchen vieler Vögel und Schmetterlinge auf diesem größeren Schutzbedürfnis beruht, allein damit ist die prachtvolle Färbung der Männchen dieser Arten nicht erklärt. Oder sollte dieselbe keiner weiteren Erklärung bedürftig sein, gewissermaben bloß eine zufällige Nebenwirkung von Strukturverhältnissen der Federn, resp. der Flügelschuppen. die irgend einen anderen uns unbekannten Vorteil mit sich brächten? Etwa so, wie die rote Farbe des Blutes aller Wirbeltiere von den Fischen auf- wärts ihren Nützlichkeitsgrund nicht darin haben kann, daß sie uns rot erscheint, sondern darin, dab sie der Ausfluß der chemischen Konsti- tution des Hämoglobins ist, eines Körpers, der zum Stoffwechsel unent- behrlich ist und der die hier gar nicht mitspielende Nebeneigenschaft hat, die roten Lichtstrahlen zu reflektieren. Aber daran kann schon bei den Schmetterlingen niemand im Ernste denken, der weib, daß die Farben derselben an den Schuppen hängen, die den Flügel dieht bedecken, und deren Bedeutung zum Teil wenigstens eben die ist, dem Flügel Farbe zu geben. Sie sind ver- kümmert oder farblos bei den „Glasflüglern* unter den Schmetterlingen, und ihre Färbung beruht teils auf Pigment, teils auf Fluoreszenz und Interferenz, wie sie durch feinste mikroskopische Strukturen sich kreuzender Liniensysteme auf schwach gefärbten Schuppen bedingt werden. Die Schuppen unserer männlichen Bläulinge (Lycaena) er- scheinen nur durch solche Strukturen blau, während die ihrer Weibchen braun erscheinen durch braunen Farbstoff. Entfärbt man die Schuppen der Weibchen durch Kochen mit Kalilauge, und trocknet sie dann, so sehen sie nicht etwa auch blau aus, wie die der Männchen; die Männ- chenschuppen besitzen also etwas, was die der Weibchen nicht haben. Noch weniger wird jemand die wunderbare Pracht des Getfieders der männlichen Paradiesvögel, mit ihren aufstellbaren, metallisch glänzenden Federkragen an Hals, Brust oder Schultern, mit ihren Feder- büschen, ihren vereinzelt aus dem übrigen Gefieder lang hervorstehenden Schmuckfedern an Kopf, Flügeln oder Schwanz, mit ihrem mähnenartigen Schopf zerrissener Hängefedern am Bauch und den Seiten, kurz mit der so überaus mannigfaltigen und absonderlichen Federnausstaffierung als eine unbeabsichtigte Nebenwirkung des für den Flug und Wärmeschutz hergestellten Federkleides betrachten wollen. So auffallende, vielgestaltige und ungewöhnliche Federbildungen müssen noch eine andere Bedeutung haben, als die genannten beiden. ALFRED WALLACE betrachtet diese Auszeichnungen der Männchen als den Austluß größerer Lebensenergie und lebhafteren Stoffwechsels, allein nicht nur ist es unerwiesen, daß die männlichen Tiere den Weib- chen gegenüber lebenskräftiger sind, sondern es läßt sich auch nicht einsehen, wieso zur Hervorbringung einer auffallenden bunten Färbung - h Zahlenverhältnis der Geschlechter. 173 ein energischerer Stoffwechsel erforderlich sei, als zu der einer «düsteren oder schützenden Färbung. Uberdies gibt es sowohl bei Vögeln als bei Schmetterlingen auch brillant gefärbte Weibchen, und bei nahe ver- wandten Arten sind die Männchen prachtvoll gefärbt oder ganz einfach, wie die Weibchen. DarwıIn bezieht die Entstehung solcher sekundärer Geschleechts- charaktere auf Selektionsvorgänge, ganz analog denen der gewöhnlichen Naturzüchtung, nur daß es sich hier nicht um die Erhaltung der Art handelt, sondern nur um die Erreichung der Fortpflanzung für das einzelne Individuum. Die Männchen kämpfen gewissermaßen um den Besitz der Weibchen. indem jede kleine Variation eines Männchens, welehe dasselbe befähigt, sich leichter als ein anderes in den Besitz eines Weibchens zu setzen, eben dadurch auch größere Aussicht hat, auf Nachkommen übertragen zu werden. Auf diese Weise müssen an- ziehende Variationen, die einmal auftauchen, sich auf immer zahlreichere Männchen der Art übertragen, und da unter diesen auch wieder die- jenigen am meisten Aussicht haben, ein Weibchen für sich zu gewinnen, die die anziehende Eigenschaft in höherem Grade besitzen, so muß also solange eine Steigerung der Eigenschaft anhalten, als sich noch Varia- tionen nach dieser Richtung hin darbieten. Allerdings aber ist zweierlei dabei noch Vorbedingung. Wie die gewöhnliche Naturzüchtung nicht zustande käme, wenn nicht von jeder (seneration zahlreiche, ja die meisten Individuen wieder vernichtet würden. ehe sie Zeit gehabt, Nachkommen hervorzubringen, so würde der Pro- zeß der sexuellen Selektion niemals zustande kommen können, falls jedes Männchen zuletzt doch auch ein Weibchen fände, möchte es nun mehr oder weniger anziehend für letzteres sein. Wäre die Zahl von Männ- chen und Weibchen einer Art stets gleich, und käme immer auf ein Weibehen nur ein Männchen, so könnte zwar wohl eine Wahl von Seite der Weibchen, oder auch der Männchen geübt werden, allein es würden doch immer noch so viele Individuen beider Geschlechter übrig bleiben, daß kein Mann unbeweibt zu bleiben brauchte. Dem ist nun aber nicht so. Das Verhältnis der Geschlechter ist selten wie 1:1, meist überwiegt die Individuenzahl der Männchen, selten die der Weibchen. Bei Vögeln sind im allgemeinen die Männ- chen zahlreicher, bei Fischen überwiegen die Männchen noch mehr, bei Tagfaltern kommen manchmal 100 Männchen auf ein Weibchen (BATESs), wenn es auch einige wenige tropische Papilioniden zu geben scheint, bei denen umgekehrt die Weibchen etwas häufiger sind. Darwın hat darauf aufmerksam gemacht, daß man allein schon aus den Preislisten der Schmetterlingshandlung von Dr. STAUDINGER die größere Seltenheit der Weibehen bei den meisten Tagfaltern ablesen kann, indem bei allen nicht ganz gemeinen Arten die Preise der Weibehen höher, oft um das Doppelte höher sind, als die der Männchen. Im Gegensatz dazu be- finden sich unter der ganzen Liste von vielen Tausend Arten nur 11 Arten von Nachtschmetterlingen, bei denen die Männchen teurer sind, als die Weibchen. Auch bei Eintagsfliegen (Ephemeriden) sind die Männchen in der Überzahl. bei manchen von ihnen kommen 60 Männchen auf ein Weibchen, aber es gibt auch Insektenarten, z. B. Libelluliden, bei denen die Weibchen 3 oder 4mal so zahlreich sind; nicht zu rechnen solche Arten, die die Fähigkeit der parthenogenetischen Fortpflanzung erlangt haben, und deren Männchen im Aussterben begriffen sind. 174 Sexuelle Züchtung. Dieses Postulat für eine „sexuelle Züchtung“, nämlich ungleiche Anzahl der Individuen in beiden Geschlechtern wäre also er- füllt in der Natur, und es fragt sich nun, ob auch das zweite Postulat, das die Fähiekeit des Wählens, als tatsächlich vorhanden betrachtet werden darf. Gerade dieser Punkt ist nun von vielen Seiten bestritten worden, sogar von dem Mitbegründer der ganzen Selektionslehre, von ALFRED WALLACE. Dieser Forscher bezweifelt, daß bei Vögeln eine Wahl von Seiten des einen (Geschlechts hehufs der Paarung ausgeübt werde, und meint, daß selbst, wenn eine Wahl stattfinden könnte, diese doch nicht imstande sei, so große Verschiedenheiten in Färbung und Beschaffen- heit des Gefieders hervorzubringen, weil dies voraussetze, daß die sämtlichen Weibchen einer Art lange (renerationsfolgen hindurch den- selben Geschmack gehabt hätten. In ähnlicher Weise ist es bezweifelt worden, daß Schmetterlinge eine Wahl ausübten und ein schöneres Männchen dem weniger schönen vorzögen. Man muß nun zugeben, daß die direkte Beobachtung des Wählens schwierig ist, und daß wir bis Jetzt nur wenig sicheres darüber sagen können. Immhin gibt es aber einige sichere Beobachtungen an Säuge- tieren und Vögeln, welche beweisen, daß lebhafte Zu- oder Ab- neigung eines Weibchens gegen ein bestimmtes Männchen vorkommt. Wenn man nun diese Tatsache festhält und hinzunimmt, daß die Aus- zeichnungen der Männchen während ihrer Liebeswerbung in oft sehr merkwürdiger Weise entfaltet und den Weibchen entgegengehalten werden, daß sie bei Säugern, Vögeln, Amphibien und Fischen erst zur- zeit der Geschlechtsreife überhaupt auftreten, so kann meines Erachtens kein Zweifel darüber bestehen, dab sie bestimmt sind, die Weibchen zu bezaubern und zur Hingabe an das Männchen zu bewegen. Die (segner der sexuellen Selektion hängen meist viel zu sehr am einzelnen Fall, indem sie sich vorstellen, jedes Weibchen müsse eine Wahl zwischen mehreren Männchen treffen. Dessen bedarf aber die Theorie so wenig, als die Theorie der Naturzüchtung der Annahme bedarf, daß jedes Individuum einer Art, welches besser ausgerüstet ist im Kampf ums Dasein, auch notwendig überleben und zur Fortpflanzung gelangen mübte, oder umgekehrt, dab das etwas weniger gut ausgerüstete not- wendig unterliegen müßte. Nur im Durchschnitt braucht es sich so zu verhalten, um die Theorie wahr zu machen, und so bedarf auch die Theorie der sexuellen Züchtung nicht die Annahme, dab jedes Weibchen in die Lage kommt, aus einem Trupp Männchen eine skrupulöse Wahl zu treffen, sondern darauf, daß im Durchschnitt die den Weibchen angenehmeren Männchen vorgezogen, die weniger angenehmen aber zu- rückgestellt werden. Verhält sich dies so, so muß es die Folge haben, daß die für die Weibchen anziehenderen männlichen Eigen- schaften die Überhand bekommen, daß sie sich mehr und mehr in der Art festsetzen, steigern und zuletzt einen festen Charakter aller Männ- chen bilden. Sie werden sehen, wenn wir etwas ins einzelne gehen, daß be- sonders die Qualitäten der männlichen Auszeichnungen sich genau so verhalten, als ob sie Züchtungsprozessen ihr Dasein verdankten, dab sich mit anderen Worten die Erscheinungen der schmückenden Sexualcharaktere von diesem Gesichtspunkt aus bis zu einem ge- wissen Punkt verstehen lassen. Es scheint mir geboten, den Prozeß der sexuellen Selektion als wirklich wirksam anzunehmen, und anstatt Das Wählen der Weibchen. 173 ihn in Zweifel zu ziehen. weil man das Wählen der Weibchen nur selten direkt feststellen kann, vielmehr umgekehrt aus den zahl- reichen sekundären Sexualcharakteren der Männchen, welche nur Liebeswerbung bedeuten können, zu schließen, daß die Weibchen solcher Arten für derartige Auszeichnungen em- pfänglich sind und wirklich imstande, zu wählen. Mir wenigstens bleibt kein Zweifel. daß die sexuelle Selektion Darwıss ein bedeutender Faktor der Umwandlung der Arten ist, auch wenn ich bloß solche sekundäre Geschlechtscharaktere ins Auge fasse, die auf Liebeswerbung abzielen: wir werden aber sehen, daß es noch andere gibt, bei denen ein Zweifel an ihrer Entstehung durch Züchtungs- prozesse noch weniger gestattet ist, und die eben gerade dadurch auch wieder zurück auf die Charaktere für Liebeswerbung schließen lassen. Der erste Anfang von Abänderungen ist auch bei der gewöhnlichen Naturzüchtung nicht aus ihr, sondern nur aus einer einmal gegebenen Variation zu verstehen. über deren Ursachen wir später zu sprechen haben werden, nur die Steigerung dieser ersten Abänderung in bestimmter Richtung kann auf Naturzüchtung beruhen, und sie muß darauf beruhen, insoweit die Abänderungen zweckmäßig sind. Nun lassen sich alle übrigen sekundären Sexualcharaktere als nützlich er- kennen, nur die schmückenden Auszeichnungen nicht, obwohl auch sie als Steigerungen ursprünglich unbedeutenderer Abänderungen unzweifel- haft sich darstellen. Sollen wir run sie allein als den reinen Austluß innerer Triebkräfte des Organismus auffassen, während bei den ihnen analogen Sexualcharakteren zum Aufspüren, Fangen uni Festhalten der Weibchen usw., doch die Steigerung und Richtung derselben auf Se- lektionsprozesse bezogen werden muß? Wenn aber ein Nutzen den schmückenden Sexualcharakteren überhaupt zukommt, so kann er nur in der stärkeren Anziehung der Weibchen liegen, und er kann sich nur geltend machen, indem die Weibehen in einem gewissen Sinn wählen. Wir werden also durch. diese Schlußfolge ganz unabhängig von den Beobachtungen über wirkliches Stattfinden einer Wahl, zur Annahme einer solehen — wie ich sie gleich genauer umschreiben werde — ge- zwungen. Betrachten wir aber die schmückenden Auszeichnungen der Männ- chen etwas näher, so sind sie recht verschiedener Art. Da sind zuerst die Männchen vieler Tiere durch Schönheit Jder Gestalt und be- sonders der Farbe vor den Weibchen ausgezeichnet, zahlreiche Vögel, manche Amphibien, wie die Wassersalamander, viele Fische, viele In- sekten, vor allem Tagfalter. Besonders bei den Vögeln steht der Di- morphismus der Geschlechter in auffallender Beziehung zu dem Uber- wiegen der Individuenzahl der Männchen oder auch — was praktisch auf dasselbe herauskommt — mit Polygamie. Denn wenn ein Männ- chen vier oder zehn Weibehen an sich fesselt, so kommt dies einer Dividierung der Weibehenzahl durch Vier oder Zehn gleich. So sind 2. B. die in Polygamie lebenden Hühner und Fasanen mit prachtvollen Farben im männlichen Geschlecht geschmückt. die in Monogamie leben- den Feldhühner und Wachteln aber zeigen in beiden (Geschlechtern die gleiche Färbung. Gewiß ist „schön“ ein relativer Begriff, und wir dürfen nicht ohne weiteres annehmen, daß das, was uns schön er- scheint, auch allen Tieren so erscheine; wenn wir aber sehen, dab alle die für unseren Geschmack prachtvoll geschmückten Vogelmännchen, seien sie nun Kolibris. Fasanen, Paradiesvögel oder Klipphühner, ihre 176 Sexuelle Selektion. herrlich gefärbten Federräder, „Fächer“, „Kragen“ usw. bei der Liebes- werbung vor den Augen ihrer Weibchen entfalten und in ihrem vollen (lanze spielen lassen, so müssen wir schließen, daß hier wenigstens der Geschmack des Menschen mit dem des Tieres zusammenfällt. Daß die Vögel scharf sehen, und Farben unterscheiden, wissen wir ohnehin: nicht umsonst sind die Vogelbeeren und so viele andere auf die Vögel berechneten Beeren rot, die Mistelbeeren weiß, um von dem immer- erünen Laub (dieser Pflanze abzustechen, die Wacholderbeeren schwarz, um sich vom winterlichen Schnee abzuheben: von dieser Seite steht also der sexuellen Selektion nichts im Wege. Aber auch bei viel niedrigeren Tieren, z. B. bei den Schmetter- lingen, liegt, wie mir scheint, kein Grund zu der Annahme vor, daß sie die prächtigen Farben und die oft verwickelten Zeichnungen, die Binden und Augenflecken auf den Flügeln ihrer Artgenossen nicht sehen sollten. Wenn allerdings jede Facette des Insektenauges, wie JOHANNES MÜLLER meinte, nur einen Gesichtseindruck vermittelte, so würden selbst Augen mit 12000 Facetten nur sehr rohe und unbestimmte Bilder von Gegenständen geben, die über einige Fuß entfernt wären, und ich gestehe, dab mir dies längere Zeit hindurch ein Hindernis für die Zurückführung des sexuellen Dimorphismus der Schmetterlinge auf Selektionsprozesse zu bilden schien. Jetzt wissen wir aber durch ExNER, daß dem nicht so ist, wir wissen, dab jede Facette ein kleines Bild gibt und zwar kein umgekehrtes, sondern ein sog. „aufrechtes” Bild, und das Experiment an dem herausgeschnittenen Insektenauge hat uns direkt gelehrt, dab dasselbe in der Tat ein leidlich deutliches Bild auch fernerer Gegenstände, wie eines Fensterkreuzes, eines darauf gemalten großen Buchstabens, ja sogar eines durch das Fenster sichtbaren Kirch- turmes auf einer photographischen Platte entwirft. Dazu kommt. dab der Bau des Auges ein ungleich schärferes Sehen in der Nähe gestattet, indem «ie Augen dann wie Lupen wirken und viel feinere Einzelheiten zeigen, als wir selbst zu erkennen imstande sind. Von dieser Seite her steht «deshalb kaum der Darwınschen Annahme einer Wahl der Weibchen ein Hindernis entgegen, und ebensowenig von der Seite des Farbensehens, denn wenn es auch aus dem Bau des Auges nicht abzulesen ist, daß diese Insekten Farben sehen. und dab Farben eine besondere Erregung in ihnen hervorrufen, so ist dies doch mit Sicher- heit aus den Lebenserscheinungen derselben zu schließen. Die: Schmetter- linge fliegen auf die bunten Blumen zu, und da sie dort ihre Nahrung, dden süßen Blütennektar finden, so darf angenommen werden, daß bei ihnen das Sehen der Farben ihrer Nahrungsspender mit angenehmer Empfindung assoziiert ist, ein Hinweis darauf, daß ıhnen solche Farben auch an ihren Artgenossen angenehme Empfindungen erwecken werden. Befestigt wird «dieser Schluß aber noch dadurch, daß zahlreiche Arten von Schmetterlingen im männlichen Geschlecht noch eine andere Art von Reizmittel für die Weibchen hervorbringen, nämlich liebliche Düfte. Flüchtige ätherische Öle werden von gewissen Zellen der Haut abgeschieden und strömen dann durch besonders dafür gebaute Schuppen (Haare) in die Luft aus. (sewöhnlich sitzen diese Duftapparate dem llügel auf in Gestalt sog. Duftschuppen, eigentümlicher Modifikationen der gewöhnlichen farbigen Schuppen des Flügels, zuweilen auch sitzen sie in (Gestalt pinselartiger Haarbüschel dem Hinterleib an, immer aber sind sie so eingerichtet, dab der tlüchtige Riechstoff von der Hautzelle her in die Schuppe eindringt, um dann durch die dünne Haut auf der Sehen der Insekten. 77 oberen Fläche der Schuppen oder auch durch pinselförmig gespreizte Fransen an der Spitze derselben zu verdunsten. Fig. 53 stellt Duft- schuppen von verschiedenen unserer einheimischen Tagfalter dar. Viele derselben sind den Entomologen schon lange bekannt, indem sie durch ihre von gewöhnlichen Schuppen abweichende Gestalt auffielen; auch bemerkte man wohl. daß sie niemals bei Weibchen, immer nur bei Männchen vorkamen, aber über ihre Bedeutung blieb man gänzlich im Dunkel, bis ein glücklicher Zufall Fritz MÜLLER in seinem brasilia- nischen Garten den Umstand enthüllte, daß es Schmetterlinge gibt, welche duften, wie eine Blume, und bis nun genauere Un- tersuchung ihm den Zu- sammenhang zwischen die- sem feinen Geruch und den sog. „Männchenschuppen“ enthüllte.e Man kann sich auch an einzelnen unserer Schmetterlinge von der ‚Richtigkeit seiner Beob- achtung überzeugen, wenn man mit dem Finger über den Flügel eines frisch ge- fangenen männlichen Weib- lings (Pieris Napi) hin- wischt. Der Finger ist dann von feinem, weißem Staub bedeckt, den ab- Fig. 53. Duftschuppen von Tagfaltern. a von > n. i Pieris, #4 von Argynnis Paphia, ce von einer Saty- gestreiften Flügelschup- ride, # von Lycaena; starke Vergrößerung. pen, und riecht sehr fein j nach Zitronen- oder Melissenäther, ein Beweis zugleich, daß der Riech- stoff an den Schuppen haftet. In diesem Falle, bei den Weißlingen, sind die Duftschuppen (Fig. 53, @) ziemlich gleichmäßig über die Oberseite des Flügels ver- teilt, und ebenso verhält es sich auch bei unseren Bläulingen, den Ly- caeniden, deren lautenförmige kleine Duftschuppen in Fig. 53, d einzeln, in Fig. 54 aber in ihrer natürlichen Stellung zwischen den gewöhnlichen Schuppen dargestellt sind. Bei vielen anderen Tagfaltern und ebenso Honon+Hohcuenememenm me noHom+K- Aeuokolofetotekonoofouon.HoXenenen.y e Fig. 54. Stück der oberen Seite des Flügels eines Bläulingmännchens, Ly- caena Menalcas nach Dr. F. KöHLEr; / blaue, gewöhnliche Schuppen, # Duft- schuppen; starke Vergrößerung. auch bei Nachtfaltern sind die «duftenden Schuppen zu Büscheln ver- einigt und auf bestimmte Stellen lokalisiert. Sie bilden dann oft schon mit bloßem Auge leicht sichtbare größere Flecken, Streifen oder Pinsel. So haben die Männchen unserer verschiedenen Arten von Grasfalter (Satyriden) sammetartige schwarze Flecke auf den Vorderflügeln, während der Kaisermantel (Argynnis Paphia) kohlschwarze breite Striche auf vier Längsrippen des Vorderflügels zeigt, die dem Weibehen fehlen, und die aus Hunderten von Duftschuppen zusammengesetzt sind; gewisse große, unseren Schillerfaltern ähnliche Waldschmetterlinge Südamerikas tragen Weismann, Deszendenztheorie. I. 2. Anfl 13 178 Sexuelle Selektion. mitten auf dem prachtvoll grün schillernden Hinterflügel einen dicken selben spreizbaren Pinsel stark gelber langer Duftschuppen, und ganz ähnlich verhält es sich bei dem schönen violetten Falter der malay- ischen Inseln. der in Figur 55 abgebildeten Zeuxidia Wallacei. Bei vielen der uns schon von der Betrachtung der Mimiery her bekannten Danaiden hat sich der Duftapparat noch mehr vervolikommnet, indem er sich in eine tiefe Tasche auf den Hinterflügeln eingesenkt hat, in welcher die dufterzeugenden haarförmigen Schuppen solange verborgen liegen. bis der Falter den Duft ausströmen lassen will. Bei vielen süd- amerikanischen und indischen Papilio-Arten sitzen die zu einer Art von Mähne geordneten Dufthaare in einem Umschlag des Hinterflügelrandes u.s.w. Die Mannigfaltigkeit dieser Einrichtungen ist überaus groß, und sie finden sich in weiter Verbreitung sowohl bei Tag- als bei Nacht- faltern, bei letzteren zuweilen in (restalt eines dicken, glänzend weißen Filzes, der einen Umschlag des Hinterflügelrandes erfüllt. In vielen Fällen kann so der Duft aufgespart und dann durch plötzliches Umschlagen der Flügelfalte ‚ zum Ausströmen gebracht werden. Aber bei weitem nicht alle Arten von Schmetterlingen besitzen Duftschuppen, und oft fehlen sie bei nahen Verwandten duftender Arten; sie sind offenbar sehr späten Ursprungs und erst ent- standen, als die meisten heutigen Gattungen schon gebildet waren. Oft sieht es aus, als ob sie in einem Verhältnis der Kompensation mit der Schönheit der Färbung stünden, etwa so, wie viele bescheiden gefärbte Blumen einen starken Wohlgeruch entwickeln und umgekehrt viele prachtvoll gefärbte nicht duften. Auch bei den Schmetterlingen gibt es aber, wie bei den Blumen, Arten, die zugleich Schönheit und Duft besitzen, doch gerade unsere schönsten Fig. 55. Zeuxidia Wal- Tagfalter, die Vanessen, die Schillerfalter und lacei, Männchen, vierPinsel Eisvögel (Apatura- und Limenitis-Arten) be- von langen, borstenartigen, sitzen keine Duftschuppen, und viele unschein- stark gelben Duftschuppen bar di Soktineer En r_ 5 E (d)\ auf der Oberseite des Par, d.h. protektiv gefärbte Nachtfalter duften Hinterflügels. stark, vergleichbar den meisten Nachtblumen: ich nenne nur unseren Windenschwärmer, Sphinx Convolvuli, dessen Moschusgeruch den Entomologen schon lange vor Entdeckung der Duftschuppen bekannt war. Immer aber sind es nur die Männchen, welche einen Duftapparat besitzen. Man darf deshalb nicht glauben, «dieser Duft habe die Be- deutung eines Anlockungsmittels, so wie der Duft der Blumen die Schmetterlinge zu ihrem Besuch anlockt: erstens ist nicht anzunehmen, dab dieser Wohlgeruch weithin reicht, er ist vielmehr, soweit wir es prüfen können, nur in nächster Nähe wahrnehmbar, und darauf deuten la auch ganz bestimmt die mannigfachen Einrichtungen der Duftorgane hin, welche alle darauf berechnet sind, den Duft zurückzuhalten und dann — in unmittelbarer Nähe des Weibehens — ihn plötzlich aus- strömen zu lassen. Offenbar hat die Einriehtung keine andere Bedeutung, als die eines geschlechtlichen Reizmittels, sie soll das Weibehen dem Männchen geneigt machen, es bezaubern. ganz wie die schönen Farben, von denen Das Wählen der Weibchen. 179 wir dasselbe annehmen müssen. (Gerade nach diesr Richtung ist das schon erwähnte Verhältnis der Kompensation zwischen schöner Färbung und Wohlgeruch interessant, indem es unsere Deutung des Farben- schmucks als eines Mittels zu geschlechtlicher Erregung bestätigt. Die am feinsten duftenden oder aber die am schönsten gefärbten Männchen waren es, welche die Weibchen am meisten erresten, also auch am leichtesten zur Fortpflanzung gelangten. Der von Darwın gebrauchte Ausdruck: die Weibchen „wählen“ ist nur bildlich zu nehmen: sie üben nicht eine bewußte Wahl, aber sie folgen dem Männchen, das sie am stärksten erregt. Daraus ergibt sich dann der Züchtungsprozeß dieser männlichen Auszeichnungen. Wären die besprochenen Duftorgane bloße Anlockungsmittel im Sinne der Ankündigung eines nahenden Artgenossen, dann müßten sie nicht den Männchen. sondern den Weibehen eigen sein, denn diese werden von den Männchen aufgesucht. nicht umgekehrt. Die Männchen sind imstande, ihre Weibchen auf weite Entfernungen hin aufzuspüren, wovon viele merkwürdige, zum Teil fabelhaft klingende Beispiele bekannt sind. Die Weibehen müssen also wohl unausgesetzt einen Duft aus- strömen, der aber viel feiner, ausnehmend weit verbreitbar und für unsere plumben (Geruchsorgane durchaus unwahrnehmbar ist. Möglicher- weise strömt er aus allen Schuppen, die die Flügel und den Körper bedecken, denn — wie ich schon vor langer Zeit zeigte — stehen die Schuppen alle noch mit lebenden Zellen der Haut in Verbindung, wenn dieselben auch klein sind, und es wäre also durchaus möglich. daß sie einen für uns nicht wahrnehmbaren Duft erzeugen und durch die ge- wöhnlichen Schuppen ausströmen lassen, ähnlich wie die männlichen Duftschuppen ihr ätherisches Ol aus großen drüsenartigen Hypodermis- zellen beziehen, auf welchen sie aufsitzen. Hier sehen wir deutlich den Unterschied zwischen gewöhnlicher Naturzüchtung und sexueller Züchtung. Die männlichen Duftvorrich- tungen beruhen auf letzterer, denn sie dienen nicht der Erhaltung der Art, sondern nur dem Wettbewerb der Männchen untereinander um den Besitz der Weibchen, dagegen müssen die angenommenen duftenden Zellen der Weibchen auf Naturzüchtung beruhen, da sie für das gegenseitige Auffinden der Geschlechter von allgemeiner Wichtigkeit sind, die ohne sie in den meisten Fällen gar nicht möglich wäre. Dieser hypothetische — man könnte sagen — „Spezies-Duft“ hat in erster Linie die Sicherung der Artexistenz im Auge und ist deshalb auf Naturzüchtung zu beziehen. Der andere, der „Männchen-Duft“, könnte auch fehlen und fehlt wirklich bei vielen Arten, wenn er auch da, wo er einmal männliches Artmerkmal geworden ist. zum Zustandekommen der Fort- pflanzung notwendig ist und keinem Männchen fehlen darf, soll es nicht zur Sterilität verurteilt sein. Daß der „Spezies-Duft“ wirklich existiert, unterliegt keinem Zweifel, wenn wir ihn auch nicht wahrnehmen. Seit lange benutzten ihn die Entomologen, um die Männchen seltener Schmetterlinge, beson- ders von Nachtfaltern zu fangen, indem sie ein gefangenes Weibchen frei aussetzen. Vor Jahren hielt ich eine Zeit lang, gewisser Versuche halber, Weibchen des Abendpfauenauges, Smerinthus ocellata, in meinem Arbeitszimmer und stellte sie zuerst absichtslos in einem mit Gaze überzogenen kleinen Zwinger abends in die Nähe des offenen Fensters. Schon am nächsten Morgen hatten sich einige Männchen eingestellt, die in der Nähe des Zwingers am Fenster oder der Wand des Zimmers 180 Sexuelle Selektion. herumsaben, und bei Fortsetzung des Versuchs fingen sich auf diese Weise im Verlauf von neun Nächten nicht weniger als 42 Männchen dieser Art, von der ich nie geglaubt hätte, dab sie in den Gärten der Stadt so zahlreich vorhanden wäre. Die Männchen der Nachtfalter be- sitzen offenbar ein unglaublich feines (reruchsorgan, wie denn auch die Träger desselben, die Fühler, im männlichen Geschlecht meist größer und komplizierter gebaut sind, als bei den Weibchen. IKeineswegs bloß die Schmetterlinge erzeugen Düfte zur Brunst- zeit, sondern auch andere Tiere, wenn auch bei diesen dieselben nicht immer unserem (Greruchsorgan so lieblich erscheinen, wie bei jenen. Moschus und Bibergeil (Castoreum) allerdings wirken in starker Ver- dünnung auch auf den Menschen anziehend, andere aber, wie die (re- rüche, welche die Hirsche oder gar die Raubtiere von sich ausgehen lassen, kommen uns widerwärtig vor, haben aber für die Arten, welche sie hervorbringen, dieselbe Bedeutung wie jene und sind deshalb auf sexuelle Zuchtwahl zu beziehen. Auch die verschiedenen Apparate zur Hervorbringung von Tönen bis hinauf zum Gesang der Vögel bezog Darwın auf sexuelle Züchtung, doch spielt hier wohl vielfach Naturzüchtung mit herein. Allerdings sind es immer die Männchen, welche bei Cikaden, Gryllen. Heuschrecken und Vögeln den bekannten Gesang hervorbringen, und ich sehe nicht, wie man bezweifeln könnte, daß «diese Musik auf die Weibchen wirke und zwar im Sinne geschlechtlicher Erregung. In so weit also wird der Wettbewerb der Männchen um den Besitz der Weib- chen, d. h. sexuelle Züchtung. diese Singapparate hervorgerufen haben: und wie lange anhaltender und allmählicher Steigerungen es bedurfte, um aus dem Piepsen des Sperlings den Gesang der Amsel oder der Nachtigall hervorgehen zu lassen, das lehren uns die zahllosen Vogel- arten, die sich in bezug auf Schönheit des Gresanges zwischen die beiden einschalten lassen. Wenn ich aber bei Vögeln und Insekten auch Naturzüchtung als mitwirkend annehme, so beruht dies darauf, daß viele der singenden Arten zerstreut leben, und dab die charakteristische Stimme für sie ein Mittel sein muß, durch das sich die Geschlechter auffinden. Daß sıe sich finden, ist aber eine unerläßliche Bedingung zur Erhaltung der Art. Daher offenbar hat jede Vogelart einen für sie charakteristischen „Schlag“ oder Lockruf, den die Männchen zur Zeit der Brunst ausstoßen, und der vom Weibchen beantwortet wird. Aus dem einfachen Lockruf wird sich allmählich der heutige Gesang vieler Arten mittelst sexueller Zuchtwahl entwickelt haben. Es ist auffallend, daß auch hierbei die verschiedenen sexuellen Auszeichnungen der Männchen sich oft gegenseitig zu beschränken und auszuschließen scheinen. Die besten Sänger unter unseren Vögeln sind unscheinbar gefärbt, grau oder graubraun, und man wird dies schwer- lich als Zufall betrachten dürfen, sondern als eine Wirkung einer größeren Empfänglichkeit der Weibchen entweder für den Gesang oder für «die Schönheit ihrer Männchen. Nur solehe Eigenschaften der Männchen konnten aber der Theorie nach dadurch gesteigert werden, welche die Entscheidung bei der Wahl gaben, und deshalb scheint mir dieses gegen- seitige Sichausschließen der beiderlei Auszeichnungen bei den Vögeln ein weiterer Fingerzeig für die Wirklichkeit der sexuellen Selektion. Es beweist, — so möchte ich glauben — dab die Erregung der Weib- chen wesentlich nur durch die eine Eigenschaft der Männchen zustande Kombination mehrerer Werbemittel. 841 kam, daß beim Paradiesvogel vorwiegend die Brillanz des Gefieders die Weibchen erregte, bei der Nachtigall vorwiegend der (Gesang. Man könnte dagegen einwerfen, daß es aber doch brillant gefärbte Schmetterlinge gäbe, welche zugleich noch Duftschuppen besitzen. Das ist in der Tat der Fall: eine prachtvolle blau schillernde Apatura aus Brasilien trägt zugleich auf den Hinterflügeln einen großen gelben Pinsel von Dufthaaren, und auch die schön blauen Männchen unserer Lycae- niden besitzen neben der schönen Färbung noch Duftschuppen. Das kann aber kaum als ein Widerspruch gelten, vielmehr nur als eine Aus- nahme, die hier um so erklärlicher ist, als die Duftapparate relativ ein- fache Einrichtungen sind, die zu ihrer Ausbildung nicht solange (Grenera- tionsreihen erfordern, wie der komplizierte Kehlkopt- und Gehirnmecha- nismus der Singvögel. Die Duftschuppen können auch sehr wohl später entstanden sein, als die Schmuckfärbung, und dies um so leichter, als das leuchtende Blau, sobald es einmal vollkommen ausgebildet war und allen Männ- chen einer Art in gleicher Schönheit zukam, keine Auszeichnung mehr war und nicht mehr besonders erregend wirken konnte. während ein neu sich ausbildender Vorzug der Männchen stärker wirkte. Ganz ebenso werden aber auch einzelne Partien des Körpers nacheinander mit schmückenden und dadurch erregenden Auszeichnungen versehen worden sein. Um diese Wirkung auf das andere Geschlecht zu ver- stehen, denke man nur an analoge Erscheinungen beim Menschen, an den stark erregenden Einfluß, den der Anblick gerade der sekundären Geschlechtscharaktere des Weibes auf den Mann ausüben kann. Durch die sukzessive Hinzufügung immer neuer schmückender Auszeichnungen nach erschöpfender Steigerung der schon allgemein ge- wordenen älteren erklärt sich aber vortrefflich die Entstehung der auber- ordentlichen Mannigfaltigkeit des Federschmuckes bei ein und derselben Vogelart, sowie die komplizierten Schmuckfärbungen der Schmetterlinge, soweit sie überhaupt auf sexueller Züchtung und nicht auf anderen Momenten beruhen: sie sind nicht auf einmal, sondern nacheinander entstanden, jede neue Auszeichnung hat sich solange gesteigert, als sie noch steigerbar war, aber wenn sie einmal in höchster Ausbildung allen Männchen eigen war, bildete sie keinen Gegenstand des Vorzuges mehr und besonders heftiger Erregung, es begann vielmehr dann ein neuer Züchtungsprezeß an einer anderen Stelle des Körpers. So wird es verständlich, dab bei Paradiesvögeln und Kolibrimännchen eine geradezu wundersame Mannigfaltigkeit der Farben und Schmuckfedern sieh bei ein und derselben Art vereinigt finden. Wer je die GourLpsche Kolibrisammlung in London gesehen hat, wird mit Erstaunen bemerkt haben, wie bei den etwa 150 Arten (dieser prachtvollen Vögelchen nahezu alle Federgruppen des Körpers mit zur Schmuckfärbung herangezogen worden sind. Bei dieser Art finden sich die Federchen der Kehlgegend smaragdgrün, metallisch blau oder rosa gefärbt, bei jener sind es die Federn des Nackens, welche zu einem rosa metallglänzenden Halskragen umgewandelt sind, dann wieder sind die das Ohr umgebenden Federchen zu glänzend gefärbten Federohren aufgerichtet, oder die Schwanzfedern sind verlängert, manchmal nur zwei von ihnen, oder sie sind treppenförmig abgestuft, oder der Schwanz ist keilförmig zugespitzt oder fächerförmig oder schwalbenschwanzförmig. und das alles wieder verbunden mit «den verschiedensten Farben und Farbenmustern, schwarz und weiß, ultramarin blau usw.; oder es sind 182 Sexuelle Selektion. die äußersten Schwanzfedern am längsten, die inneren am kürzesten, oder die vier äußeren Schwanzfedern sind breit, zugespitzt, nach der Seite gespreizt und nur halb so lang, als die lang und gerade ausge- streckten zwei anderen. Manche Arten zeigen an den Beinen eine Art feinen weichen Schwanenpelzes, andere haben ein prachtvoll metallisch rotes Häubchen auf dem Kopf, kurz «ie Mannigfaltigkeit ist unbe- schreiblich groß, ganz so, wie sie sein müßte, wenn bald diese, bald jene zufällige Variation die Gunst des wählenden Geschlechtes auf sich gezogen hätte und nun zu seiner höchsten Ausbildung gesteigert worden wäre. Die Schmuckfärbung der männlichen Vögel kann aber nicht bloß durch die Fähigkeit des Gesanges ersetzt werden, sondern noch auf andere Weise. Nicht alle männlichen Paradiesvögel besitzen den be- kannten prachtvollen Federschmuck. Der italienische Reisende BECCARI hat auf eine Art aufmerksam gemacht, deren Männchen einfach schwarz- braun gefärbt sind, ähnlich wie die Weibehen der übrigen Arten. Dieser Amblyornis inornata lockt seine Weibchen auf eine ganz besondere Weise zur Paarungszeit an sich, indem er mitten in den Urwäldern Neu- Fig. 56. Leptodora hyalina. -1 Kopf des Männchens, 3 Kopf des Weibehens, Ar Auge, g. opt. Ganglion optieum, g% Gehirn, a? erste Antenne mit den Riechfäden, r’ und 7’, sr Schlundringe. euineas ein kleines „Liebesgärtchen“ einrichtet, einen mehrere Fuß eroben mit weißem Sand bestreuten Platz, auf dem er glänzende Steine und Muscheln zusammenträgt und bunte Beeren aufsteckt. Hier hat sich also ein besonderer Instinkt entwickelt, der die persönlichen Reize des Vogels dem Weibchen gegenüber ersetzt. Theoretisch scheint er mir eben deshalb nicht bedeutungslos, denn er zeigt, daß jene persön- lichen Vorzüge wirklich als Reize und Lockmittel funktionieren, falls man daran noch zweifeln wollte. Alle bisher betrachteten Auszeichnungen der Männchen bezogen sich darauf, die Gunst der Weibchen zu gewinnen, es kommen nun aber noch zahlreiche andere sekundäre Sexualcharaktere vor, die in sanz anderer Weise dazu verwandt werden, den Besitz der Weibchen zu sichern. Ich erwähnte vorhin schon, daß bei vielen Schmetterlingen die Männchen ein weit größeres Geruchsorgan besitzen. Die Fühler der Männchen zahlreicher Käfer, z. B. der Maikäfer und Verwandten, sind ebenfalls größer und mit viel breiteren Nebenästchen für die Riech- organe versehen, als die der Weibehen. und ähnlich verhält-es sich bei manchen niederen Urustaceen, z. B. bei der großen, kristallklaren 7 0 u Liebesgärtchen von Amblyornis. 183 Daphnide unserer Seen, Leptodora hyalina. Hier ist es das vordere Fühlerpaar (Fig. 56, A u. 2, at!), welches die Riechfäden trägt, und dieses ist beim Weibchen (3) klein und stummelförmig, beim Männ- chen (A) aber wächst es zu einer langen, etwas gebogenen, quer ins Wasser ausgestreckten Stange aus, auf welcher außer den neun Riech- fäden des Weibchens (77) noch 60 bis 90 weitere Riechfäden Platz finden (77). In diesen und vielen anderen solehen Fällen ist es nicht der Kampf der Art ums Dasein, welcher diese Auszeichnung der Männchen so stark gesteigert hat, sondern ohne Zweifel der Kampf der Männchen untereinander, ihre Konkurrenz um den Besitz der Weibchen. Was also bei den Werbemitteln nicht hinreichend festzustellen ist: die Existenz eines Wettbewerbs und der endliche Sieg des Besten, das ergibt sich hier von selbst, denn durchschnittlich wird der bessere Riecher und schr sch Ser < NS Fig. 57. Moina paradoxa, Männchen, a2! erste Antennen mit Krallen an der Spitze zum Fangen des Weibchens, /#r Krallen am ersten Fußpaar zum Anklammern; gh Gehirn, /#r Oberlippe, 24 Mandibel, »zd Mitteldarm mit den Leberhörnchen (7%), h Herz, sö Spermarium, aft After, sd Schwanzborsten, sr Schwanzkrallen, sc Schale, schr Binnenraum der Schale, #e Kiemenblättehen. Bei l0Öfacher Vergrößerung sezeichnet. Spürer auch leichter in den Besitz eines Weibchens gelangen, als der schlechtere, und ganz ebenso verhält es sich in allen jenen Fällen, wo die Auszeichnung der Männchen sich nicht auf das Aufspüren allein, sondern auch auf das Festhalten gewissermaßen das Einfangen des Weibehens bezieht. So besitzen die Männchen der Ruderfüßer (Copepoden) unter den Crustaceen an ihren vorderen Fühlern eine Einrichtung, welche ihnen gestattet, diese langen, peitschenförmigen Gebilde dem eilends «davon- schwimmenden Weibchen wie einen Lasso über den Kopf zu werfen. Auch die Fühler der männlichen Daphniden sind bei einer Gattung (Moina) zu Fangapparaten ausgebildet, anstatt wie bei Leptodora zu Riechorganen. Fig. 57 stellt das Männchen, Fig. 58 das Weibehen von Moina paradoxa dar; die ersten Fühler des Männchens sind nicht nur viel länger und stärker als die des Weibehens (a/'), sondern noch mit 184 Sexuelle Selektion. Krallen am Ende bewaffnet, so daß die Tiere mit ihnen wie mit einer Gabel ihre Genossinnen einklemmen und festhalten können. Und das genügte noch nicht, sondern außerdem besitzen die männlichen Daph- niden meist noch eine große sichelförmige, aber stumpfe Kralle am ersten Fußpaar (Fig. 57, /Ar), die ihnen dazu dient, sich an der Schale des Weibehens festzuhalten, um so an ihr hinaufzuklettern und in die richtige Lage zur Kopulation zu gelangen. Fragen wir nun nach der Entstehungsart derartiger sekundärer Geschleehtscharaktere, so ist es klar, daß beide durch sexuelle Selektion gesteigert worden sein können, denn ein Männchen mit besserer Sichel- kralle wird rascher in die richtige Kopulationsstellung gelangen als eines mit unvollkommenerer. Diese Annahme beruht nicht auf der bloßen Theorie, denn ich konnte einmal durch einen glücklichen Zufall ein Weibchen unter dem Mikroskop längere Zeit ‚beobachten, an dessen Schale sich zwei Männchen angeklammert hatten, und von welchen jedes das andere zu verdrängen suchte. Dennoch erscheint es mir sehr fraglich. ob die- se Sichelkralle in ihrer Ent- stehung auf sexuelle Selek- tion bezogen werden darf, denn eine Ko- pula wäre ohne dieses Klam- merorgan bei den meisten Daphniden wohlüberhaupt nicht möglich. Dasselbe ist also nicht ein Fig. 58. \oina paradoxa, Weibchen. Dieselben Bezeich- Vorzug des ei- nungen wie bei Fie.57; drr Brutraum, 0” Ovarium, sr” Schalenrand. nen Männchens vor dem ande- ren gewesen, als es sich bildete, sondern eine notwendige Errungen- schaft der ganzen Familie, die sich gleichzeitig mit den übrigen Eigen- tümlichkeiten derselben, vor allem der Schale bei allen Arten gebildet haben muß. Die Konkurrenz der Männchen untereinander ist also hier zugleich eine Seite des Kampfs um Dasein der Art als solcher, und es handelt sich nicht bloß um einen Charakter, der den Männchen es erleichtert, sich in den Besitz eines Weibchens zu setzen, sondern um einen, der entstehen mußte. sollte die Art nicht aussterben. Mit anderen Worten: Naturzüchtung und sexuelle Züchtung fließen hier in eines zusammen. Anders verhält es sich bei den zu Greifarmen umgewandelten Fühlern «der Moina: sie werden nicht der Naturzüchtung sondern der sexuellen Selektion ihren Ursprung verdanken, denn derartige Fühler sind für die Existenz der Art, durch Sicherstellung der Fortpflanzung nicht unerläßlich, wie schon die nächstverwandten Gattungen Daphnia und Simocephalus zeigen, «die statt ihrer ganz kurze stummelartige Fühler tragen, nur mit einigen Riechfäden mehr ausgestattet, als die der Zweremännchen. 185 Weibehen. Wie diese überzähligen Riechfäden durch sexuelle Selektion und nicht durch die gewöhnliche Naturzüchtung hervorgerufen sind, indem immer die feineren Riecher im Vorteil waren gegenüber den weniger feinen, so war auch das sicherer packende Männchen der Gat- tung Moina im Vorteil gegenüber dem minder sicher greifenden, und so entstanden diese beiderlei Auszeichnungen der Männchen. Keine von beiden ist ein Vorteil für die Art als solche. vielmehr nur ein Vorteil im Wettbewerb der Männchen um den Besitz der Weibchen. Nun kann aber Naturzüchtung, wo es sich um Hervorrufung einer neuen Bildung bei den Männchen handelt, nicht anders verfahren, als sexuelle Selektion verfährt: der Selektionsprozeß selbst ist genau der- selbe: die besser ausgerüsteten Männchen überleben, die schlechter aus- gerüsteten gehen ohne Nachkommen unter, der Unterschied liegt nur darin, daß in dem einen Fall die Art als solche verbessert wird, im anderen nur das eine Geschlecht, ohne daß dadurch die Existenz der Art besser gesichert würde. Solche Fälle sind lehrreich, weil sie eine Ablehnung des Prozesses der sexuellen Selektion ganz unmöglich machen. sobald derjenige der Artselektion angenommen wird. Wenn überhaupt Selektionsprozesse als Umwandlungsfaktoren tätig sind, dann müssen sie auch da eingreifen, wo es sich nicht um einen Vorteil der Art, sondern nur um einen „intrasexuellen“ Vorteil handelt, und der eine Vorgang muß vielfach in den anderen überspielen, so daß die Grenze zwischen ihnen für uns häufig gar nicht zu ziehen ist. Zahlreiche sekundäre Geschlechtsunterschiede beruhen wohl rein auf Artselektion, :d. h. sie schließen eine Verbesserung der Art im Kampf ums Dasein ein. So z. B. die zwerghafte Kleinheit der Männchen bei vielen schmarotzenden Crustaceen und bei einigen Würmern. bei vielen Rädertieren und den Rankenfüßern. Hier ist es kaum von Vor- teil für das einzelne Männchen gewesen, kleiner zu sein. als die anderen, sondern es war vorteilhaft für die Art. möglichst viele Männchen her- vorzubringen, um die Begegnung mit dem Weibchen zu sichern: massen- hafte Erzeugung von Männchen aber machte es vorteilhaft für die Art, möglichst wenig Material auf jedes einzelne zu verwenden: daher die Kleinheit derselben und in manchen Fällen, wie bei den Rädertieren und bei Bonellia ihre kümmerliche Ausstattung, Mangel der Ernährungs- organe, ephemere Existenz. Ist doch der fußlange Meereswurm, Bonellia viridis, nicht der einzige, bei dem die mikroskopisch kleinen Männchen nach Art von Schmarotzern im Inneren des Weibchens leben: auch unter den Rundwürmern ist eine Art, Trichosomum erassicauda, aus der Ratte durch LEUCKART bekannt geworden, deren Zwergmännchen im Fruchthalter des Weibehens leben. Das sind alles Einrichtungen, die die Fortpflanzung der Art sichern, welche gefährdet wäre, wenn die Männchen die bei Bonellia in Felsenlöchern auf dem Grund des Meeres steckenden, oder bei Triehosomum in der Harnblase der Ratte verborgenen Weibchen nachträglich noch aufsuchen sollten. Offenbar ist es auch dieses Motiv, welches neben dem vorhin schon erwähnten die Kleinheit gewisser Männchen allein oder mit bedingt und hervorgerufen hat. Wie vielfach Artselektion und sexuelle Selektion ineinanderspielen, sehen wir noch an einer anderen Kategorie sexueller Unterschiede. Bei vielen Arten von Tieren sind die Männchen kampflustig und mit be- sonderen Waffen oder auch mit größerer allgemeiner Körperstärke aus- gerüstet. Da nun bei diesen Arten die Männchen um den Besitz der Weibchen direkt kämpfen im eigentlichen Sinne des Wortes, 1S6 Sexuelle Selektion. so leitete Darwın solche Auszeichnungen von sexueller Selektion her, die dem stärkeren Männchen den Sieg über das schwächere gewährt, und so die siegreichen Eigenschaften desselben zum Range allgemeiner Arteharaktere erhob. In der Tat ist es auch nicht zu bezweifeln, daß z. B. die Kraft und das Geweih des männlichen Hirsches sich durch die zur Brunstzeit in jedem Jahr wiederkehrenden Kämpfe ge- steigert haben müssen, denn jn dem Kampf siegt der Stärkere. Mit der Stärke und den Waffen zahlreicher anderer männlicher Tiere ist es ebense, Der Löwe wird durch seine Mähne gegen den Biß eines Ri- valen erheblich geschützt, und dieselbe Schutzvorrichtung kommt noch in einer ganz anderen Familie der Säugetiere vor, bei einer Robbe, die eben wegen ihrer Mähne „Seelöwe“ genannt wird. Gerade bei den Robben sind die sekundären Geschlechtsunterschiede oft bedeutend ent- wickelt. wenigstens bei allen den Arten, welche polygamisch leben, bei denen also ein scharfer Kampf um die Weibchen stattfindet. Beim „See- löwen"“ und „Seelefanten“ kommen oft 50 Weibchen auf ein Männchen, und diese sind „ungeheuer viel größer“ als die Weibchen, während Robbenarten, welche in Monogamie leben, in beiden Geschlechtern die gleiche Größe aufweisen. Darwın hat gezeigt, daß bei den meisten Säugetieren ein wirk- licher Kampf um die Weibchen geführt wird, nicht nur bei Hirschen, Löwen und Robben, sondern auch bei dem Maulwurf und bei dem furchtsamen Hasen. Auch bei Vögeln kommen solche Kämpfe vor, und zwar zum Teil gerade bei denen, deren Männchen die schönsten Schmuck- farben besitzen, wie bei den Kolibris. Auch Waffen haben sich zu- weılen bei ihnen entwickelt, wie der Sporn des Hahns beweist, dessen mitleidslose Kämpfe mit seinen Nebenbuhlern ja bekanntlich vom Men- schen zu seiner Unterhaltung dadurch noch scheußlicher gestaltet werden, daß die Flucht des Unterliegenden verhindert wird. In Darwıns grobem Werk über sexuelle Selektion wird auch eine ziemliche Zahl von niederen Wirbeltieren, wie Krokodile und Fische, ja auch von Insekten aufgeführt, die um den Besitz der Weibchen kämpfen, und die dann auch männliche Auszeichnungen besitzen. Ich will darauf nicht näher eingehen, da es mir mehr darauf ankommt. Ihnen das Verhältnis der sexuellen Selektion zur Artselektion klar zu machen, als Sie mit allen Einzelerscheinungen der ersteren bekannt zu machen. (Gerade diese Seite derselben aber zeigt wieder deutlich ihr Zusammenwirken mit der Artselektion. Viele der Waffen oder Schutz- mittel, welche durch sexuelle Selektion entstanden sein mögen, bilden (doch zugleich eine Verbesserung der Art im Kampf ums Dasein, denn für die Art ist bedeutendere Stärke und schärferes Gebiß, oder größere Zähne der Männchen ein Gewinn, und es ist für sie einerlei, ob die schwächeren Männchen einem fremden Feind unterliegen (Artselektion), oder «dem stärkeren Nebenbuhler (sexuelle Selektion), wenn nur der besser ausgerüstete in Nachkommen überlebt. Ich habe absichtlich die Betrachtung der sexuellen Selektion mit den für die Theorie schwierigsten Fällen angefangen, gegen die sich am meisten Widerspruch geltend gemacht hat, mit den Schmuckfarben und Schmuckformen, dem Gesang der Vögel und Insekten, den lockenden Düften; kurz mit den Werbemitteln der Männchen; sie sind die schwierigsten, weil das Wählen der Weibehen nur schwer direkt nach- weisbar ist. (sehen wir aber jetzt einmal in kurzer Wiederholung den umgekehrten Gang, so wird, glaube ich, jeder Zweifel an der Wirklich- Sexuelle Selektion. 187 keit des Wählens schwinden müssen. Unmittelbar mit Artselektion ver- wachsen sind die zuletzt erwähnten Sexualcharaktere der größeren Stärke und der vervollkommneten Waffen und Schutzvorrichtungen der Männ- chen. Wir müßten die ganze Artselektion leugnen, wenn wir diese Form der Sexualselektion bestreiten, die sich unmittelbar an die reine Art- selektion anschließt. wie sie sich uns in der Hervorbringung von Zwerg- männchen offenbart. und zwar ohne jede Mitwirkung von Sexualselektion. Dann kämen jene Fälle, in welchen die Spür- und Fangorgane der Männchen gesteigert oder vermehrt wurden. und auch hier kann wieder teils Artselektion gewaltet haben, z. B. bei den Sichelkrallen der Daphniden, unvermeidlich gefördert und gesteigert durch Sexual- selektion, die hier wirksam werden mußte, unabhängig von irgend einer Wahl der Weibchen, teils reine Sexualselektion. wie bei den Greifantennen der männlichen Moina, oder bei den so ungemein ver- stärkten Riechfühlern der männlichen Leptodora.. Dab auch neue Or- gane auf diesem Wege entstehen können, beweisen die bisher wenig gewürdigten „Turbanaugen“ einiger Eintagsfliegen der Gattungen Cloe und Potamanthus, wie sie vor langer Zeit schon von PICTET, dem Mono- graphen dieser Familie, beschrieben wurde: es sind große turbanförmige Netzaugen, die neben den gewöhnlichen stehen und nur den Männ- chen eigen sind, die gerade bei diesen Gattungen in einer Überzahl von Sechzig auf Eins vorhanden sind. Ganze Schwärme dieser Männ- chen fliegen über dem Wasser dahin auf der Suche nach einem Weib- chen, und das Sehorgan scheint dabei die Entscheidung zu geben, wie bei Leptodora das Riechorgan. Einen anderen Vorteil als den, das Weibchen wahrzunehmen, können beiderlei Sinnesorgane nicht haben, da die ganze Tätigkeit der kurzlebigen Eintagsfliegen auf die Fortptlan- zung beschränkt ist: sie nehmen keine Nahrung zu sich und haben nichts zu tun, als sich fortzupflanzen. Wenn wir nun zuletzt in einer ungemein großen Zahl von Fällen neben der einen oder anderen der schon erwähnten männlichen Auszeich- nungen noch solche antreffen, welche nicht ohne weiteres den Besitz des Weibchens vermitteln, sondern erst dureh Vermittlung der sexuellen Erregung desselben, sollen wir nun daran zweifeln, dab hier das- selbe Prinzip gewaltet hat, daß auch hier Selektionsprozesse zugrunde liegen, darauf sich aufbauend, daß bei der Werbung um das Weibehen derjenige Sieger bleibt, der es,.am stärksten erregt? Nicht um ästhe- tisches Wohlgefallen handelt es sich dabei, wie Gegner der sexuellen Züchtung oft gemeint haben, sondern um sexuelle Erregung, die mit sehr verschiedenartigen Mitteln bewirkt werden kann, durch Farben und Formen, aber auch durch Locktöne, Gesang oder Gerüche. Es gibt einige tropische Vögel (Chasmorhynchus), die im männlichen Geschlecht als einzige Auszeichnung einen mehrere Zoll langen, hohlen und weichen Anhang auf dem Kopf tragen. Für gewöhnlich hängt er schlaff an der Seite des Kopfes herab, während der Liebeswerbung aber wird er von der Mundhöhle her aufgeblasen und steht dann wie ein Sporn aufrecht auf dem Kopf. Eine Art dieser Gattung besitzt sogar drei solcher Hörner, von denen eines aufrecht, die anderen seitlich vom Kopf ab- stehen. Sollten diese sonderbaren Hörner etwa das „Schönheitsgefühl* der Weibehen befriedigen? Uns Menschen erscheinen sie weder im schlaffen, noch im aufgeblasenen Zustand schön, viel eher häßlieh, jedenfalls aber sind sie auffallend und als etwas Ungewöhnliches werden sie auch die Vogelweibehen ansehen, und da sie ihnen nur bei der Liebeswerbung 188 Sexuelle Selektion. in voller Entfaltung entgegentreten, d. h. wenn das Männchen sexuell erregt ist, so wird es auch auf sie erregend wirken. Die aufblasbaren Hörner sind Erregungszeichen. und als solche wirken sie. In ganz derselben Weise werden auch die Schmuckfedern, die rubinroten und smaragdgrünen Federkragen der Kolibri und Paradiesvögel nur aufgestellt und gezeigt, wenn die Männchen werben, und auch sie wirken als Erregungszeichen. Damit soll nicht in Abrede gestellt werden, daß die Pracht der Farben, die Augenflecken auf dem Rade des Pfauen und Argusfasans, und die Hunderte verschiedener prächtiger Federarten nicht selbst wieder eine bezaubernde Wirkung ausüben, im Gegenteil, wir können nicht umhin dies anzunehmen, da sonst kein hinreichender Grund für die Entstehung derselben aufzufinden wäre. Aber das Erste, was bei der Liebeswerbung wirkt, ist nicht das bloße Wohlgefallen des An- blickes, des Duftes oder des Gesanges, sondern ‚das Erregungszeichen, (las diese Dinge bilden. Die Vogelweibehen handeln nicht als kühl ab- wägende Preisrichter, sondern als erregbare Personen, welche dem zu- fallen, der sie am stärksten erregt. Ein Gefühl der ästhetischen Be- triedigung aber bei der Wahrnehmung eines solchen Zeichens mag dennoch sehr wohl sich daneben noch entwickelt haben, wenigstens bei höheren und intelligenteren Tieren. Bei niederen Tieren, bei denen nicht nur Intelligenz, sondern auch höhere und mannigfaltigere Ausbildung von Sinneswerkzeugen fehlt, sinkt auch die Entwicklung solcher sekundärer Geschlechtscharaktere herab und schwindet bald gänzlich. Tiere, die nicht hören, können auch keinen Gesang ausbilden, und Tiere, die nicht sehen, werden keine prächtigen Färbungen annehmen können als Erregungsmittel des einen durch das andere Geschlecht. Wohl aber können geschlechtliche Farben- auszeichnungen auch bei so niederen Tieren noch entstehen, obwohl von ästhetischem Wohlgefallen bei ihnen keine Rede sein kann: wenn sie aber nur überhaupt die Farben sehen, so kann sich auch geschlecht- liche Erregung an sie anknüpfen. Wir brauchen uns deshalb nicht zu wundern, bei den ziemlich stupiden Fischen, bei Schmetterlingen, ja bei niederen Krebsen, wie bei den Daphniden, noch brillante Färbungen zu finden, die wir kaum anders denn als Wirkungen geschlechtlicher Zuchtwahl deuten können. Auf der anderen Seite aber bildet das Fehlen solcher Charaktere bei Tieren noch niederer Art mit noch einfacheren Sinnesorganen, wie es z. B. die Polypen, Medusen, Echinodermen, die meisten Würmer und die Schwämme sind, eine Bestätigung für die Richtigkeit unserer Ansicht von der Existenz einer sexuellen Züchtung bei höher organi- sierten Tieren. So beruhen also zahlreiche Eigentümlichkeiten, welche die Männ- chen einer Art vor den Weibchen auszeichnen, auf dem Prozeß der sexuellen Zuchtwahl: ornamentale Auswüchse oder Färbungen, sonder- bare Federn und Federgruppen, eigentümliche Duftorgane, Stimmorgane, Kunsttriebe, aber auch Kampfmittel, wie Geweihe, Stoßzähne, Sporne, bedeutende Körpergröße und Stärke, dann Schutzmittel wie Mähnen; wiederum müssen auch Werkzeuge zum Einfangen und Festhalten der Weibchen oder zum Aufspüren derselben durch Gesicht oder Geruch wenigstens teilweise auf ihre Tätigkeit oder Mitwirkung bezogen werden. Die Mannigfaltiekeit der verschiedensten männlichen Sexualcharaktere ist so groß, daß ich ihnen nur einen schwachen Begriff. davon geben konnte, wollte ich mich nieht in lange Aufzählungen einlassen. Wer Wahl der Weibchen. 189 sich davon einen vollständigen Begriff machen will, der muß DAarwıns Buch darüber selbst einsehen *). Aber die Bedeutung der sexuellen Selektion ist mit der Hervor- bringung männlicher Sexualcharaktere noch keineswegs erschöpft, viel- mehr übertragen diese Charaktere sich häufig mehr oder weniger vollständig auf die Weibchen und geben so Anlaß zu einer Umgestaltung der ganzen Art, nicht bloß ihrer männlichen Hälfte. Offenbar ist das eine sehr bedeutungsvolle Konsequenz der sexuellen Züchtung, die, wie Sie sehen werden. unseren Einblick in die Mittel, durch welche neue Arten entstehen, erheblich vertieft. Zunächst seien die Tatsachen festgestellt. Viele Männchencharak- tere sind beim Weibchen in keinem Grade vorhanden, haben sich also gar nicht auf sie übertragen, so die Mähne des Löwen, die Greifan- tennen der Moina, die Turbanaugen der Eintagstliegen, die Steigerung des Geruchssinnes bei Leptodora, die Lassoantennen mancher Kopepoden, die Duftschuppen der Schmetterlinge, wie die Moschnsdrüsen der Alli- gatoren und Hirsche. In anderen Fällen aber hat eine Übertragung stattgefunden, wenn auch nur in geringem Grad. So haben manche Kolibriweibchen einen schwachen Anflug der prachtvollen metallischen Farben des Männchens, manche Bläulingsweibehen haben einen Anflug des herrlichen Blaues ihrer Männchen, das Weibchen des Hirschschröters, Lucanus Cervus, besitzt eine verkleinerte Nachahmung der geweihartigen Kiefer des Männchens, und die Grylienweibehen, obwohl sie nicht singen, zeigen doch eine schwache Andeutung des Singapparates ihrer Männ- chen auf ihren Flügeldecken, und einzelne von ihnen bringen auch schwache Töne zu gewissen Zeiten hervor. : Nun läßt sich aber nachweisen, daß solche Übertragungen im Laufe langer Generationsfolgen sich steigern können, zuletzt bis zu demselben (Grad, den die Männchen aufweisen. Ich kenne kein schöneres Beispiel dafür, als es uns die Bläulinge der Gattung Lycaena bieten. In dieser artenreichen und über die ganze Erde verbreiteten, also alten Gattung von Schmetterlingen sind bei weitem die meisten Arten wenig- stens im männlichen Geschlecht blau auf der Oberseite der Flügel. Es gibt aber drei oder vier Arten, welche dunkelbraun sind, und ganz oder nahezu gleich in beiden Geschlechtern; so die Arten: Lycaena Agestis, Eumedon, Admetus u. a. Alles deutet darauf hin, dab dies die älteste Färbung der Gattung ist. Weiter finden sich einige Arten mit braunen Weibchen, deren Männchen noch nicht voll blau sind, aber doch schon einen schwach blauen Anflug besitzen, so z. B. L. Alsus, der kleinste der einheimischen Bläulinge. Sodann folgt eine Schar schön blauer Arten, wie L. Alexis, Adonis, Damon, Corydon und viele andere mit braunen Weibchen, und bei diesen kommen hier und da einzelne weib- liche Individuen vor, deren Braun einen schwächeren oder stärkeren Anflug von Blau besitzt. Diese leiten dann zu der L. Meleager, welche zweierlei Weibchen hat, braune häufigere und blaue seltenere, und so gelangen wir zu L. Tiresias, Optilete und Argiolus, bei welcher alle Weibehen blau sind, wenn auch noch mehr oder minder stark und nie so vollständig wie ihre Männchen. Den Beschluß der ganzen Entwick- lungsreihe bildet dann eine Anzahl von Arten tropischer oder doch warmer Länder, welche wie L. Baetica in beiden Geschlechtern gleich *, OH. DARWIN: „Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl“, 3. Aufl., Stuttgart 1875. 190 Das Prinzip der Mode wirksam. stark blau gefärbt sind. Da wir wissen, dab sexuelle Charaktere bei Arten mit Überzahl der Männchen immer bei den Männchen beginnen, so kann über die Richtuug der Entwicklung dieser Reihe, also vom ;raun zum Blau, kein Zweifel sein: übrigens deutet auch das gänzliche Fehlen der Duftschuppen bei den meisten Arten mit braunen Männchen auf das hohe Alter dieser Arten hin, während andererseits die Männ- chen aller blauen Arten, soweit ich sie untersuchen konnte, Duft- schuppen besitzen. e DARWIN fabte diese Ubertragung männlicher Charaktere auf die Weibehen als Vererbung auf, und in der Tat sieht es ja so aus, als ob es sich hier um einfache erbliche Ubertragung der Errungenschaft eines (reschlechtes auf das andere handele. Es fragt sich indessen doch. ob wir bei dieser Auffassung stehen bleiben können. Jedenfalls wäre diese „Vererbung“ kein zwingender physiologischer Vorgang, der rein aus inneren Gründen eintreten muß, denn wir sehen, daß er oft auch aus- bleibt, und zwar in manchen Fällen, ohne daß wir einen äußeren Grund dafür geltend zu machen wüßten, in anderen aber allerdings in offen- barer Abhängigkeit von den äußeren Lebensbedingungen. So dürfte wohl das zähe Festhalten der Mehrzahl unserer weiblichen Lycaeniden an der braunen Färbung ihren Grund in dem größeren Schutzbe- dürfnis der viel selteneren Weibchen haben, und ebenso wird es sich bei vielen Vögeln verhalten, deren Männchen ihre lebhaften Farben nicht auf die Weibchen übertragen haben. WALLACE hat zuerst darauf hingewiesen, daß alle Vögel, deren Weibchen auf offen daliegenden Nestern brüten, unscheinbar gefärbt sind im weiblichen Geschlecht, auch wenn ihre Männchen in auffallenden Farben glänzen, während solche, die ihr Nest in versteckten Orten anbringen, in Baumlöchern, oder die dasselbe kuppelartig überwölben, nicht selten glänzende Farben in beiden (reschlechtern besitzen. So verhält es sich bei Spechten und Papageien, während die offen brütenden Hühnervögel alle unscheinbar gefärbte, ja meistens ihrer Umgebung vortrefflich angepaßte Weibchen besitzen. Wenn wir nun die Tatsache festhalten, daß eine Übertragung der durch sexuelle Züchtung entstandenen Charaktere stattfinden kann, so gewinnen wir darin eine wertvolle Handhabe zur Erklärung vieler Er- scheinungen, die sonst ganz unerklärlich bleiben würden. Was bedeuten die bunten Farben der Papageien, die in so unglaublich wechselnder Zusammenstellung bei den verschiedenen Arten dieser großen und weit werbreiteten Familie uns entgegentreten? Was die wunderbar kom- plizierten Zeichnungen und Farbenmuster der Schmetter- linge? In einzelnen Fällen mögen sie Schutzfärbung sein, so das Grün vieler Papageien, in anderen Widrigkeitszeichen, wie die bunten Farben und kontrastierenden Zeiehnungen vieler Helikoniden, Eusemiiden und anderer widrig schmeckender Schmetterlinge, aber es bleibt eine große Zahl von Fällen übrig, auf die weder die eine noch die andere Deutung pabt, und die wir nur als reine Naturspiele betrachten könnten, wüßten wir nicht, dab männliche Sexualcharaktere auf die Weibchen übertragen werden können, und daß so die Art in allen ihren Individuen total umgefärbt werden kann. Nun erklärt sich nieht nur das Vorkommen auffallender, sondern auch das verwickelter Färbungen. Darwın hat schon dargelegt, dab es sich bei den Werbemitteln, welche die Männchen im Kampf um den Besitz der Weibchen ausbil- ddeten keineswegs immer um solche Charaktere gehandelt zu haben ar. Das Prinzip der Mode wirksam. 191 braucht, welche an und für sich schon als „schön“ gelten durften: viel- mehr zunächst um auffallende Merkmale, die dadurch wirken, daß sie den Besitzer vor anderen kennzeichneten und somit auch auszeichneten. Es ist das Prinzip der Mode, welches hier wirksam war: etwas neues wird verlangt. und womöglich das Gegenteil von dem was bisher als schön galt. So werden weiße Stellen auf schwarzem Grund den An- fang von solchen Selektionsprozessen gegeben haben können, überhaupt helle Flecken auf dem dunklen Grund, der wohl überall den Ausgangs- punkt bildete. Waren dann im Laufe langer (Generationsfolgen solche Flecken auf alle Männchen übergegangen, so lag die Möglichkeit zu weiteren Veränderungen vor, sobald ein neuer Kontrast als einzelne Vari- ation auftrat, die dann unter günstigen Umständen Anfangspunkt eines neuen Selektionsvorganges werden konnte. Darwın hat einige Fälle aufgeführt, wo wir aus der Vergleichung des ‚Jugendkleides eines Vogels mit dem des Erwachsenen schließen können, daß eine Umfär- bung des ganzen Gefieders im Laufe der Phylogenese eingetreten sein mub. In anderen Fällen wird aber der Fortgang des Züchtungsprozesses derart erfolgt sein, daß nicht die Totalfärbung umgeändert wurde, son- dern daß nur an einzelnen Körperstellen Veränderungen eintraten, Flecken oder Streifen, die im Laufe der Zeiten sich häuften, und zu einer immer mannigfaltigeren und verwickelteren Farbenkarte zusammen- wirkten, zu einer „Zeichnung“ des Tieres, wie wir sie heute beson- ders bei Schmetterlingen, aber auch bei Vögeln beobachten. Es ist eine schöne Bestätigung der Entstehung bunter Färbungen durch sexuelle Selektion, daß auch in denjenigen Gruppen des Tier- reichs, welche im allgemeinen sexuell monomorph sind, doch immer auch Arten vorkommen, in denen Mann und Weib ganz verschieden gefärbt sind, und daneben eine Menge von Arten, bei denen die beiden zwar in der Hauptsache gleich, in gewissen kleinen Einzelheiten aber doch verschieden sind. Bei den Papageien herrscht im allgemeinen Gleichheit der Färbung, aber in Neu-Guinea lebt ein Papapei, der im weiblichen Geschlecht prachtvoll blutrot ist, im männlichen von einem schönen hellen Grün; kleinere Unterschiede finden sich bei vielen Arten, so entbehrt das Weibchen des ‚Hornsittichs (Cyanorhamphus cornutus (zm.) die beiden verlängerten, schwarz und roten Federn auf dem Kopf, das des Wellensittichs (Melopsittacus undulatus) ist ein wenig blässer grün und hat die schönen blauen Tropfflecken an den Backen nicht, welche das Männchen besitzt. Unzählige solche Fälle lassen sich an- führen, welche darauf hindeuten, dab alle diese Auszeichnungen der Männchen schrittweise und stückweise erworben, und langsam und stück- weise auch übertragen wurden — falls überhaupt. Aber noch von einer anderen Seite her läßt sich die Richtigkeit der Darwınschen sexuellen Selektion aus der Zeichnung und Färbung der Vögel und Schmetterlinge ablesen. Es ist mir schon seit langer Zeit immer wieder bei der Betrach- tung bunter Vögel und Schmetterlinge aufgefallen, wie viel einfacher diese ihre auf sexuelle Züchtung zu beziehenden Zeichnungsmuster sind, als solche, die wir auf Artzüchtung beziehen müssen vor allem als „sympathische Färbungen“. Wie plump ist das Zeichnungsmuster der meisten Papageien bei allem Glanz der Farben selbst! Große Flächen des Körpers sind rot, andere grün, gelb, blau, gelegentlich findet man auch einen blau und rot gestreiften Federkragen, einen Kopf, 192 Sexuelle Selektion. der oben rot und unten gelb ist, aber selten wechseln die Farben auf einer kleinen Fläche so miteinander, daß feine ornamentale Zeichnungen entstehen. Die buntesten unter den Papageien sind die Pinselzüngler (Triehoglossus), und auch bei ihnen geht die Feinheit der Zeichnung doch nicht weiter, als bis zur Zusammenstellung dreier Farben auf einer der langen Schwanzfedern oder bis zur Herstellung doppelter Hals- bänder u.s.w. Und nun vergleiche man damit die komplizierte Zeich- nung der unscheinbar gefärbten Weibchen der Fasanen, die des Reb- huhns,. die der Oberseite so vieler grauer, braun-schwarz und weiß melierter Vögel, die dem Boden oder dem dürren Laub ähnlich sehen, wenn sie sich niederducken, wie unendlich viel femer und komplizierter ist hier häufig das Farbenmuster! Mir scheint dies verständlich, wenn man einerseits bedenkt, daß Artselektion ungleich intensiver arbeiten mub, als sexuelle Selektion, daß es sich bei Herstellung einer Schutzfärbung um die Täuschung des Auges eines scharfsichtigen Feindes handelt, bei der sexuellen Zucht- wahl nur um das Wohlgefallen des Artgenossen. Solange der nach Beute suchende Feind noch einen Unterschied zwischen dem Zeich- nungscharakter seines Opfers und dem seiner Umgebung wahrnimmt, so lange dauert auch die stete allmähliche Verbesserung der Schutz- färbung noch fort, so lange werden ihr neue Farbentöne oder neue Linien hinzugefügt. So können wir es verstehen, daß allmählich eine solche Kompliziertheit der Zeichnung erreicht worden ist, wie sie von der sexuellen Züchtung zwar auch erreicht werden kann, aber doch nur an einzelnen besonders günstigen Punkten. Die Augentlecken auf den Schwanzfedern (des Argusfasans und des Pfauen sind solche Punkte, und sie finden sich bei in Polygamie lebenden Vögeln, bei denen sexuelle Züchtung jedenfalls sehr intensiv auftritt, und sie stehen auf einer Körperfläche, dem radförmigen Schweif, der ganz besonders zur Übertragung der männlichen Erregung auf das Weibchen geeignet ist, von letzteren also ganz besonders beeinflußt werden muß. Im all- gemeinen aber läßt sich a priori sagen, daß die Intensität der Art- züchtung eine viel größere sein muß, als die der sexuellen Züchtung. weil die erstere mitleidlos und unausgesetzt den minder vollkommenen vernichtet, während die Ansprüche der letzteren jedenfalls minder kate- gorisch sind und auch durch mancherlel Zufälligkeiten häufig noch weiter- hin gemildert werden mögen. Speziell bei den Insekten kommt aber noch hinzu, daß die Schutz- färbungen von einem anderen Künstler gemalt werden. als die Schmuckfärbungen, die ersteren nämlich von Vögeln, Eidechsen und anderen mit hochentwickelten Augen begabten Verfolgern, die letzteren aber von den Insekten selbst, deren Augen für nicht ganz nahe Gegen- stände doch schwerlich dieselbe Sehschärfe besitzen, wie das Vogelauge. Deshalb finden wir die Schutzfärbung der Schmetterlinge so oft von komplizierter Zeichnung, während derselbe Schmetterling auf seiner (dureh sexuelle Züchtung bunt bemalten Oberseite nur grobe, wenn auch brillant zusammengestellte Farbenmuster aufweist. So zeigt die be- rühmte Kallima auf der Unterseite das Bild des trockenen oder ange- faulten Blattes, aus einer Menge von Farbentönen zusammengesetzt, ein ganz verwickeltes Gemälde. Betrachten wir «die Oberseite, so haben wir ein stahlblau schillerndes tiefes Braun als Grundfarbe der Flügel und darauf eine breite gelbe Binde und noch ein weißes Fleckchen, (las ist die ganze Zeiehnung. Ahnliches tinden wir noch bei anderen Zusammenfassung. 193 Waldschmetterlingen Brasiliens, aber auch bei vielen einheimischen Schmetterlingen. Die Zeichnung unserer buntesten Tagfalter, des Ad- mirals und Distelfalters (Vanessa Atalanta und Cardui) ist auf der Ober- seite von ziemlich grobem Muster und sehr einfach gegenüber der aus Hunderten von Punkten, Fleckehen, Strichelehen und Linien jeder Ge- stalt und Farbe zusammengesetzten Schutzfärbuug der Unterseite. Umgekehrt zeigt die Oberseite der Vorderflügel bei Schwärmern und Eulen die schützende Färbung und ist aus seltsam ziekzackförmigen verwickelten Linien, Strichen und Flecken so zusammengesetzt, daß sie der Baumrinde oder einer alten Bretterwand gleicht — eine Malerei, vergleichbar dem Impressionismus unserer Tage, der auch mit. einem sinnlos scheinenden Durcheinander von Farbenklecksen dennoch den voll- endeten Eindruck auch der Details einer Landschaft wiedergibt. Auch bei den Eulen (Noktuinen) sind diejenigen Flügelflächen, welche lebhaft gefärbt sind, von ganz einfacher, fast plumper Zeichnung: so bei den sog. Ordensbändern (Catocala) mit ihren roten. blauen oder gelben Hinterflügeln, über die eine große schwarze Binde hinzieht, während bei den Spannern ((Geometriden), deren Flügel in der Ruhe flach aus- gebreitet werden, die protektive Oberseite aller vier Flügel wieder von einem verwickelten Muster von Linien, Flecken und Strichen in ver- schiedenen Tönen von Grau, Gelb, Weiß und Schwarz bedeckt ist, wie es so täuschend Baumrinde oder eine Mauerfläche nachahmt. Ich konnte mir früher nicht erklären, wieso durch Naturzüchtung ein so bestimmtes und konstantes Muster entstehen könne, wenn es sich um Nachahmung des Eindrucks von Baumrinde oder sonst einer unregelmäßig gefärbten Fläche handelt, die ja nicht überall genau gleich gemischt ist. Ich glaube es jetzt zu verstehen, denn an dem scheinbar sinnlosen Farben- gekleckse einer impressionistisch gemalten Landschaft müssen die ver- schiedenen Kleckse auch so stehen, wie sie stehen, sonst kommt beim Zurücktreten vom Bild nicht ein Haarlemer Hyazinthenfeld oder eine Allee von Pappeln mit goldigen Herbstblättern heraus, sondern ein un- verständliches Geschmier. Der Typus des Farbenmusters ist es, der erreicht werden muß, und diesen erreicht die Natur sehr langsam, Schritt für Schritt, Fleckchen um Fleekehen, und deshalb wird offenbar kein einmal errungener richtiger Strich wieder aufgegeben, denn er sichert mit den übrigen zusammen den richtigen Typus des Farben- musters. Nur so, meine ich, können wir verstehen, daß selbst schein- bar ganz sinnlose Linien, wie die Jahreszahl 1540 auf der Unterseite von Vanessa Atalanta, ein konstantes Eigentum der Art werden konnte. Soll ich kurz zusammenfassen, so dürfen wir wohl sagen, daß sexuelle Selektion ein viel mächtigerer Faktor der Umgestaltung ist, als man zuerst denken sollte. Allerdings kann er bei den Pflanzen nicht mitgewirkt haben, und auch bei den niederen Tieren kann er nicht in Betracht kommen, weil dieselben sich, wie die Pflanzen, nicht paaren, oder doch ohne dabei eine Wahl treffen zu können. Tiere, die am Boden des Meeres festgewachsen oder auch nur festgeheftet sind, müssen ihre Fortpflanzungszellen einfach in das Wasser ausstoßen und vermögen nicht zu bewirken, daß dieselben sich mit denen dieses oder jenes In- dividuums vereinigen. So verhält es sich bei den Schwämmen, Korallen- tieren und Hydroidpolypen. Andere Klassen haben noch zu niedrig entwickelte Sinnesorgane, besonders zu unvollkommene Augen, um dureh Unterschiede im Aussehen oder den Äußerungen der Männchen in ver- + Weismann, Deszendenztheorie. I. 2. Aufl. IB) 194 Sexuelle Selektion. schiedenem Grade erregt zu werden, denn so wird es zu verstehen sein, wenn DAarwın solchen Tieren „zu unvollkommene Sinne und viel zu niedrige Geisteskräfte* zuschreibt, „um die Schönheit und andere An- ziehungspunkte des anderen Geschlechts würdigen, oder Rivalität fühlen zu können“. Dementsprechend fehlen bei Protozoen, Echinodermen, Medusen und Rippenquallen sekundäre (Geschlechtscharaktere ganz, wie ılenn auch eine Paarung bei ihnen fehlt. Bei den Würmern, welche sich paaren. begegnen wir ihnen zuerst, und ven ihnen angefangen aufwärts fehlen sie in keiner Gruppe voll- ständig und spielen nach und nach eine immer größere Rolle. Die Bedeutung «der geschlechtlichen Züchtung liegt aber, wie Sie sahen, nicht blos darin, dab das eine Geschlecht einer Art, und zwar sewöhnlich das männliche, umgestaltet wird, sondern in der Möglichkeit (der Übertragung dieser Umgestaltung auf die Weibchen, und ferner (darin. dab der Prozehb der Abänderung immer wieder von neuem an- fangen, und so eine Abänderung auf oder neben die andere gesetzt werden kann. Auf diese Weise erklären sich dann gewisse komplizierte und oft phantastische Formen und Färbungen, die wir auf keine andere Weise zu verstehen im Stande wären, auf diese Art erklärt sich auch die außerordentliche Zahl nahe verwandter Arten in solchen Tiergruppen, bei welchen die Unterschiede gerade hauptsächlich in ihren Farben- mustern liegen, z. B. bei Schmetterlingen und Vögeln. DAarwın hat überzeugend nachgewiesen, dab eine überraschende Menge von Charakteren der Tiere aufwärts von den Würmern ihre Wurzel in der sexuellen Züchtung hat, und wahrscheinlich gemacht, dab dieselbe auch in der Entwicklungsgeschichte des Menschen eine bedeu- tungsvolle Rolle gespielt hat, wenn auch gerade hier noch nicht alles so sicher und klar ist, wie bei den Tieren. Zum Schluß dieses Abschnittes möchte ich noch einmal auf die Lücke in der Annahme jeder, auch der sexuellen Züchtung hinweisen, welche offenbar «darin gesehen werden muß, daß der erste Anfang der durch Züchtung gesteigerten Charaktere unklar bleibt. Darwın hält sich an die Tatsache der gewöhnlichen individuellen Variation, aber es fragt sich doch, ob so unbedeutende Abänderungen, wie diese sie zu bieten imstande ist, schon einen Vorteil im Wettbewerb um den Besitz der Weibchen darstellen können, und weiter, ob wir nieht Grund zu der Annahme haben, daß auch größere Abänderungen vorkommen und sich theoretisch verstehen lassen. Diese Frage gilt auch gegenüber der ge- wöhnlichen Naturzüchtung, wenn auch bei ihr die Anfangsstufen kleiner gedacht werden können, da hier der Vorteil einer Abänderuug nur darin liegt, daß sie nützt, nicht darin, daß sie von anderen bemerkt wird. In der Tat ist denn auch beiden Selektionsannahmen vielfach gerade diese Frage von den ersten Anfängen der Abänderungen entgegengehalten worden, insoweit wohl mit Recht, als dies der Angriffspunkt für die weitere Forschung vor allem zu bilden hatte. Irrig war es nur, die ganzen Selektionsvorgänge (deshalb zu verwerfen, weil man in diesem Punkt noch nicht klar sah. Wir werden später versuchen, einen Ein- bliek in die Ursachen der Variation zu gewinnen und werden dann auch wieder auf die Frage nach den Anfängen (der Züchtungsprozesse zurück- kommen. Für jetzt sei nur gesagt, dab Darwın schon sehr wohl wußte, dab es neben «er gewöhnlichen individuellen Variation auch größere Schwankungen gibt, die sprungweise in einzelnen Individuen auftreten, Sexuelle Selektion. 195 wenn auch nur selten. Er war indessen im allgemeinen nicht geneigt, ihnen für die Artbildung besondere Bedeutung zuzuschreiben, sondern bezog die Umwandlung der Arten, wie sie im Laufe der Erdgeschichte stattgefunden hat, vor allem auf Steigerung der gewöhnlichen indivi- duellen Verschiedenheiten, und ich glaube, dab er dabei im Rechte war, da Anpassungen ihrem Begriff nach nicht durch zufällige plötzliche Sprünge in der Organisation zustande kommen können, sondern nur unter der Vorraussetzung einer allmählichen Häufung kleiner Unter- schiede in der Richtung ihrer Nützlichkeit sich so genau den zufälligen Lebensumständen anzuschmiegen imstande sein dürften. Ob aber nicht rein sexuelle Abzeichen auch in sprungweisem Abändern ihre erste Wurzel haben können, das wird später zu untersuchen sein. Prinzipiell steht dem jedenfalls nichts entgegen, sofern solche Abzeichen nicht auch An- passungen sind in dem Sinn, wie die Lassofühler der Copepoden oder die Turbanaugen der Ephemeriden:; bloße Auszeichnungen, Schmuck- färbungen, sonderbare Fortsätze und dergleichen mögen, falls sie in einem Anfang plötzlich auftreten, sehr wohl die Grundlage zu weiterer sexueller Züchtung geben können, soweit sie nicht für die Existenz der Art nachteilig sind. Al. VORTRAG Intraselektion oder Histonalselektion. Wirkt das LAMARcKsche Prinzip wirklich mit bei den Umwandlungen ? DARWINS Stel- lung zu dieser Frage p. 196, Zweifel von GALTroN bis heute p. 198, Neo-Lamarekianer und Neo-Darwinianer p. 198, die Vorgänge der Übung, funktionelle Anpassung p. 195, WILHELM Rouxs Kampf der Teile p. 200, die Spongiosa der Knochen p. 201. Meine Herren! Wir haben eine ganze Reihe von Vorträgen daran gesetzt, das DARWIN - WALLACESche Prinzip der Naturzüchtung und seinen Wirkungskreis kennen zu lernen. Dasselbe schien uns die un- zähligen Anpassungen bis zu einem bestimmten Grade verständlich zu machen, d. h. ihre Entstehung aus bekannten Kräften heraus zuzulassen. Wir verstehen jetzt, wie das Zweckmäßige, welches uns überall an und in den lebenden Wesen entgegentritt, entstanden sein kann, ohne das direkte Eingreifen einer wollenden, zwecktätigen Kraft, einfach als Aus- tluß und Resultat des Überlebens des Passendsten. Die beiden Formen der Züchtungsprozesse, die „Naturzüchtung“ im engern Sinn und die „geschlechtliche Züchtung“ beherrschen gewissermaßen alle Teile und alle Funktionen des Organismus und sind bestrebt, sie den Bedingungen des Lebens auf das möglichst beste anzupassen, und wenn auch der Wirkungskreis der ersten Art von Selektion ein ungleich ausgedehnterer ist, weil er geradezu jeden Teil beeinflussen kann, so mußten wir doch auch der sexuellen Selektion bei den Tieren wenigstens einen nicht unbedeutenden Wirkungskreis einräumen, indem dadurch — soweit wir heute sehen — nicht bloß die sekundären Geschlechtscharaktere in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit entstehen, sondern durch Übertragung derselben auf das andere (reschlecht, auch das letztere verändert, somit die ganze Art beeinflußt, ja in eine unbegrenzte Sukzession von Umwandlungen hineingezogen werden kann. Aber wenn nun auch Selektionsprozesse einen so bedeutenden Anteil an den Umwandlungen der Lebensformen besitzen, so fragt sich doch, ob sie die einzigen Faktoren dieser Umwandlungen sind, ob nur durch Häufung der sich darbietenden Variationen nach der Rich- tung der Nützlichkeit die Entwicklung der Lebewelt geleitet wird. ob nicht dabei noch andere Faktoren mitspielen. Sie wissen, daß LAMARCK die direkte Wirkung des Gebrauchs oder Niehtzebrauchs als den wesentlichsten Faktor der Umwand- lungen ansah, und daß Darwın, obwohl zögernd und vorsichtig, diesen Faktor anerkannte und beibehielt; er glaubte, denselben nicht entbehren zu können, und in der Tat sieht es auf den ersten Blick auch so aus; es gibt eine eroße Reihe von Tatsachen, die nur auf diesem Weg er- Histonalselektion. 197 klärbar erscheinen. vor allem die Existenz der unzähligen rudimen- tären Organe, die alle im Verlauf des Nichtgebrauchs verkümmert sind, die Reste von Augen bei im Dunkeln lebenden Tieren, die von Flügeln bei den laufenden Vögeln, die Reste von Hinterbeinen bei den schwimmenden Säugern, den Walen, von Ohrmuskeln bei dem seine Ohren nicht mehr spitzenden Menschen usw. usw. Sind doch allein beim Menschen nach WIEDERSHEIM nahezu zwei- hundert soleher .rudimentären Organe“ aufzuzählen, und es gibt kein höheres Tier, das deren keine besäße: bei allen also steckt ein Stück der Vorgeschichte der Art noch in dem heutigen Organismus darin und lest Zeugnis dafür ab, wie vieles von dem, was die Ahnen besaßen, überflüssig geworden und entweder umgewandelt oder nach und nach beseitigt worden ist, d. h. noch heute in der Beseitigung begriffen ist. Es liegt aber auf der Hand, daß durch Naturzüchtung im DARWIN- Warraceschen Sinn dieses allmähliche Kleinerwerden und Verkümmern eines nicht mehr gebrauchten Organs sich nicht mehr erklären läßt, da der Vorgang so überaus langsam erfolgt, daß die geringen Größen- unterschiede des Organs, wie sie zwischen verschiedenen Individuen der Art zu irgend einer Zeit des Rückbildungsprozesses vorkommen, un- möglich Selektionswert haben können. Ob das verkümmernde, nicht mehr benötigte Hinterbein des Wals ein wenig größer oder kleiner ist, kann keine Bedeutung im Kampf ums Dasein haben: «das kleinere Organ kann weder als geringes Hindernis beim Schwimmen, noch als gröbere Materialersparnis in Betracht kommen, und ähnlich verhält es sich in den meisten anderen Fällen von Verkümmerung bei Nichtgebrauch. Wir bedürfen also einer anderen Erklärung, und diese scheint das LA- MARCKsche Prinzip auf den ersten Blick zu bieten. Aber auch das Umgekehrte, die Kräftigung, Vergrößerung, stärkere Ausbildung eines Teils geht sehr häufig parallel seinem stärkeren (re- brauch, und auch hier also scheint uns das LAMARCK sche Prinzip eine einfache Erklärung zu gewähren. Denn wir wissen, daß Ubung einen Teil kräftigt. Nichtgebrauch ihn schwächt, und wenn wir annehmen dürften, daß diese Übungs- oder Nichtgebrauchsresultate sich von der Person, welche sie im Laufe ihres Lebens an sich hervorgerufen oder „erworben“ hat, auf ihre Kinder vererben könnten, dann wäre nichts gegen das LamArcksche Prinzip einzuwenden, — aber eben hier liegt die Schwierigkeit: Dürfen wir eine solche Vererbung „erwor- bener“ Eigenschaften annehmen? besteht sie? läßt sie sich er- weisen ? Daß LamaArck sich diese Fragen noch gar nicht stellte, sondern eine solche Vererbung als selbstverständlich annahm, ist erklärlich aus der Zeit, in der er lebte; hatte er doch als einer der ersten gerade den Gedanken der Transmutationshypothese gefaßt und konnte froh sein, zugleich schon irgend ein Erklärungsprinzip dafür bereit zu haben. Aber auch Cm. Darwın gestand diesem Prinzip noch einen bedeuten- den Einfluß zu, obwohl ihm die dabei vorausgesetzte Vererbung „er- worbener“ Eigenschaften Bedenken verursachte. Er richtete sogar seine Vererbungstheorie, wie wir sehen werden, ganz besonders auf die Er- klärung dieser dabei vorausgesetzten Vererbungsform ein, und nach dem, was ich ihnen soeben über die Unmöglichkeit gesagt habe, durch die DArwın-WarLacEsche Naturzüchtung das Schwinden überflüssig gewordener Organe zu erklären, können wir das sehr wohl verstehen. Darwın bedurfte des Lamarckschen Prinzips zur Erklärung dieser 198 Histonalselektion. Erscheinungen, und dies war es, was ihn bestimmte, auch die Verer- bung „erworbener* Eigenschaften anzunehmen, obgleich ihm die Be- weise für eine solche sonst wohl nicht genügt hätten. Aber wenn wir Tatsachen gegenüberstehen, für deren Verständnis wir keine andere Möglichkeit vor uns sehen, als eine einzige, wenn auch unbeweisbare Annahme, so müssen wir (diese einstweilen einmal machen, bis eine bessere gefunden wird. Auf diese Weise ist offenbar die Stellung DAr- wIns zum LAMARCKschen Prinzip zu verstehen: er verwarf es nicht, weil es ihm die einzige mögliche Erklärung für das Schwinden nutzlos gewordener Teile zu bieten schien; er behielt es bei, obgleich ihm die (dabei vorausgesetzte Vererbung erworbener Eigenschaften zweifelhaft. jedenfalls nieht sicher erwiesen erscheinen mußte und auch wirklich erschien. Leise und stärkere Zweifel an dieser angenommenen Vererbungs- form wurden erst spät, fast 20 Jahre nach dem Erscheinen des „Origin of Species“ geäußert, so zuerst von FR. GALTON (1875), dann von His, der sich bestimmt wenigstens gegen eine Vererbung von Verstümme- lungen erklärte, von Du BoIs-REYMoND, der in seiner Rede „Uber die Ubung“ 1581 sagte: „Wollen wir ehrlich sein, so bleibt die Vererbung er- worbener Eigenschaften eıne lediglich den zu erklärenden Tat- sachen entnommene und noch dazu in sich ganz dunkle Hypothese.“ In der Tat mußte sie jedem, der sie auch nur auf ihre theoretische Möglichkeit, auf ihre bloße Denkbarkeit prüfte, so erscheinen. So er- schien sie denn auch mir, als ich 1583 versuchte, mir über sie klar zu werden, und ich sprach damals die Überzeugung aus, daß eine solche Vererbungsform nicht nur unerwiesen, sondern daß sie auch theoretisch nicht denkbar sei, daß wir somit darauf angewiesen wären, die Tatsache des Schwindens nicht gebrauchter Teile auf andere Weise zu erklären, und ich versuchte, eine solche Erklärung zu geben, wie wir später noch sehen werden. Damit war denn dem LAamArckschen Prinzip, der direkt umwan- delnden Wirkung von Gebrauch und Nichtgebrauch der Krieg erklärt, und es entspann sich daraus in der Tat ein Kampf, der sich bis in unsere Tage fortgesetzt hat, der Kampf zwischen den Neo-Lamarckianern und den Neo-Darwinianern, wie man die streitenden Parteien genannt hat. Damit Sie sich nun ein Urteil bilden können darüber, auf welche Seite der Streitenden Sie sich stellen wollen, wird es zunächst nötig sein. daß wir untersuchen, was (denn eigentlich dabei vorgeht, wenn ein Organ geübt oder in Untätiekeit belassen wird, und ferner, ob wir an- nehmen dürfen, daß die Resultate dieser Übung oder Untätigkeit auf die Nachkommen vererbt werden können. Daß überhaupt Übung einen stärkenden, Vernachlässigung eines Örganes einen schwächenden Einfluß auf dasselbe ausübt, ist längst be- kannt und auch den Laien geläufig; Turnen macht die Muskeln kräftiger, (die Dieke der geübten Muskeln und ihre Faserzahl nimmt zu, der so viel mehr benutzte rechte Arm leistet 20°, mehr als der linke. Ebenso wird die Tätigkeit der Drüsen durch Übung gesteigert, und die Drüse selbst vergröbert, so die Milchdrüse der Kühe durch das häufige Melken, und daß auch die Nervenelemente durch Übung günstig beeinflußt werden, beweisen die Schauspieler und Gedächtniskünstler, welche ihre Gedächtnis- kraft durch Übung auf eine unglaubliche Höhe hinauf gesteigert haben. Mir wurde von einem Sänger erzählt, der 160 Opern im Kopfe habe, und wer hätte nicht an sich selbst erfahren, wie rasch sich die Fähigkeit Histonalselektion. 199 zum Auswendiglernen durch Übung wieder steigern läßt, wenn sie etwa vorher lange vernachlässigt, d. h. nicht geübt worden war. (ranz besonders frappant ist mir immer die Einübung eines Musik- stückes erschienen mit seiner langen Folge von Intervallen verschiedener Stimmen, mit seinem Wechsel in Melodie, Rhythmus und Harmonie, der sich doch durch Übung so fest dem Gedächtnis einprägt, daß er nicht nur bewußt. sondern sogar unbewußt. bei intensivem Nachdenken über ganz andere Dinge, abgespielt werden kann. Hier ist also nicht nur das Gedächtnis selbst. sondern auch der ganze komplizierte Me- chanismus von suczessiven Muskelimpulsen mit allen ihren Einzelheiten von Schnell und Langsam, Stark und Schwach den entsprechenden (Gre- hirnelementen eingegraben, vergleichbar einer langen Reihe sich aus- lösender Reflexbewegungen, und wenn wir auch die materiellen Ver- änderungen, die hier in den Nervenelementen eingetreten sind, nicht speziell nachweisen können, so wird der Schluß deshalb doch nicht zweifelhaft erscheinen, dab solche eingetreten sind, und daß sie in einer Kräftigung bestimmter Elemente und Teilen von Elementen liegen, die es mit sich bringt, daß gewisse Ganglienzellen stärkeren Impuls nach bestimmter Richtung hin geben und daß dieser sich stärker forsptlanzt usw. Eine theoretische Einsicht in diese Verhältnisse haben wir aber erst durch WILHELM Roux bekommen, der 1881 zuerst aussprach, was bisher ein offenes, aber niemand recht bewubtes Geheimnis gewesen war, daß der „funktionelle Reiz das Organ kräftigt“, daß also ein Organ durch seine spezifische Tätigkeit selbst zunimmt. Bis dahin hatte man geglaubt, daß es der vermehrte Blutzufluß allein sei, der die Vergrößerung eines vielgeübten Teiles bewirkte. Roux machte geltend, dab „eine quantitative Selbstregulation der Größe der Organe nach der Größe des ihnen zugeführten Reizes“ stattfinde, dab das gereizte, d. h. seine normale Funktion ausführende Organ, trotz der dadurch ge- steigerten Zersetzung oder Verbrennung (Dissimilation) desselben auch um so stärker assimiliere, daß sein Verbrauch „überkompensiert*“ werde und daß es somit wachse. Er nannte dies die „trophische", d.h. ernährende- Wirkung des Reizes und leitete daraus die Zunahme und gesteigerte Leistungskraft des vielgebrauchten Organs ab. Umgekehrt bezog er die Abnahme bei Nichtgebrauch auf eine „funktionelle Atrophie“, welche auf Unterkompensierung der im Stoffwechsel verbrauchten Sub- stanz beruhe. Worauf in letzter Instanz diese trophische Wirkung des funktionellen Reizes beruhe, vermochte freilich weder Roux damals zu zeigen, noch vermögen wir es heute mit Sicherheit zu tun '). Wir stehen hier der Fundamentalerscheinung des Lebens gegenüber, dem Stoff- wechsel, und solange wir diesen in seinen Ursachen und seinem Ver- lauf nicht verstehen, sind wir auch außerstande zu sagen. warum er durch die Faktoren des Reizes so oder so verändert wird. Sicher aber ist die Tatsache, daß die Organe bis zu einem gewissen Betrage den Ansprüchen folgen, welche an sie gestellt werden, sie nehmen zu in *) Einen geistreichen Versuch, das Lebendige aus dem Unlebendigen, An- organischen abzuleiten, hat LupwıG ZEHNDER gemacht und dabei auch eine be- stechende Erklärung für die sog. „funktionelle Anpassung“ gegeben. Doch ist es ohne weiteres Ausgreifen auf rein physikalische Erwägungen nicht möglich, seinen Gedankengang wiederzugeben und ich muß daher auf seine eignen Schriften ver- weisen (Dr, LuDwIiG ZEHNDER „Die Entstehung des Lebens aus mechanischen Grund- lagen entwickelt“, Freiburg i. Br. 1899 und „Das Leben im Weltall“, Tübingen und Leipzig 1904). 200 Histonalselektion. dem Maße, in dem sie stärker oder häufiger funktionieren, sie vermögen gesteigerten Ansprüchen der Funktion zu folgen, ein Verhalten, welches Rovx als „funktionelle Anpassung“ bezeichnet hat. Wenn die eine Niere eines Menschen entartet, oder chirurgisch entfernt wird. so fängt die andere an zu wachsen, bis sie nahezu die doppelte Größe erreicht hat. Der spezifische Reiz, den die im Blute enthaltenen Harn- stoffe auf sie ausüben und sie zur Sekretion zwingen, ist jetzt, wo die andere Niere fehlt, doppelt so groß, und so wächst sie infolge des ver- stärkten Reizes durch seine „trophische Wirkung“ solange, bis durch ihre Vergrößerung die Funktionsstärke wieder auf das normale Maß herabgesunken ist. In umgekehrter Richtung erfolgt die Anpassung des Organs, wenn die Funktion nachläßt oder aufhört. Nach Durchschneidung des Nerven eines Muskels, einer Drüse beginnen diese Organe sehr rasch zu ent- arten, um schließlich gänzlich ihre Struktur einzubüßen. Auch Gefühls- nerven entarten in ihrem peripheren Stück, wenn sie durchschnitten werden. An dem Ernährungsapparat, den Blutgefäßen usw. braucht in (diesen Fällen nichts geändert zu sein, aber der funktionelle Reiz, beim Muskel der Willenreiz, trifft das Organ nicht mehr und dadurch wird der Stoffwechsel derart in ihm herabgesetzt, daß es entartet. Wenn wir nun auch die letzten Wurzeln der „funktionellen An- passung“* noch nicht mit Sicherheit bloßlegen können, so vermögen wir doch aus der Tatsache derselben wertvolle Einsicht in Erscheinungen zu gewinnen, welche uns sonst unverständlich und rätselhaft bleiben würden, in die zweckmäßige Struktur vieler Gewebe und ihre Anpassungsfähigkeit an veränderte Bedingungen. Darin legt vor allem der Fortschritt, den uns Roux mit seinem „Kampf der Teile“ gebracht hat. Wenn auf ein Gemenge von embryonalen Zellen von verschiedener physiologischer Begabung A, B und Ü verschiedenartige funktionelle Reize aa b und ce einwirken, so werden diejenigen Zellen sich am raschesten vermehren, welche am häufigsten von dem ihnen adäquaten Reiz getroffen werden. In welchem Mengenverhältnis also die Zellen A, B und © in dem Gewebe schließlich vorkommen, wird davon ab- hängen, in welcher Häufigkeit die Reize a, b und e das (Gewebe treffen. Wirken aber die drei Reize nicht auf jeden Teil des Gewebes gleich häufig und stark ein, sondern der eine üherwiegt an dieser, der andere an jener Stelle, so wird jede der drei Zellenarten an der Stelle über- wiegen, welche von dem ihr adäquaten Reiz am häufigsten getroffen wird. Nun werden z. B. die Zellen A an allen jenen Orten im Vorteil sein vor den Zellen B und C, an welchem der Reiz a am stärksten und häufigsten einwirkt, die Zellen B in dem Bezirk des Reizes b, die Zellen © in dem Bezirk des Reizes ce, dort werden die betreffenden Zellen sich am schnellsten vermehren und dadurch die übrigen Zellen- arten verdrängen, und es wird sich eine räumliche Ordnung im Gewebe herstellen, eine „Struktur“, welche der Zweckmäbigkeit entspricht. Dies ist es, was W. Roux aus seinem „Kampf der Teile“ vor allem ab- leitete, und was man auch nach meinem Vorschlag als „Histonal* oder „aewebeauslese* bezeichnen kann. Es möge ein Beispiel folgen. Der Anatom HERMANN MEYER zeigte zuerst 1869, daß die sog. „Spongiosa“, d. h. das schwammig gebaute Knochengewebe im Innern der Endstücke .der großen köhrenknochen beim Menschen und den Säugern einen auffallend zweck- Histonalselektion. 201 mäßigen mikroskopischen Bau besitzt. Die dünnen Knochenbälkehen dieser „Spongiosa“ stehen nämlich genau in der Richtung des stärksten Zuges oder Druckes, der den Knochen an der betreffenden Stelle trifft; gewölbeartig werden sie durch Spannen auseinander gehalten, so daß es ein Baumeister nicht besser machen könnte, wenn ihm die Aufgabe gestellt würde, mit möglichster Materialsparung die höchstmögliche Trag- und Widerstandskraft eines komplizierten (sewölbesystems herzustellen. Diese zweckmäßige Struktur erklärt sich nun aus dem Kampf der Teile ganz einfach als eine Selbstdifferenzierung,. denn wenn in der Knochenanlage verschieden begabte Elemente enthalten sind!), Elemente also, welche auf verschiedene spezifische Reize in Aktion treten, so müssen sich diese durch den Kampf um Raum und Nahrung lokal so anordnen, wie es der Verbreitung der verschiedenen Reize im Knochen entspricht; in den Richtungen des stärksten Druckes und Zuges wird sich am meisten Knochensubstanz bilden, weil die knochenbildenden Zellen am stärksten durch diesen ihren funktionellen Reiz zum Wachs- tum und zur Vermehrung angeregt werden, so kommt die Pfeiler- und Gewölbestruktur zustande, zwischen welchen dann Räume frei bleiben, die von starkem Zug und Druck eben durch die Knochenbälkchen ent- lastet sind und deshalb Zellen mit anderen funktionellen Anlagen, wie Bindegewebezellen, Gefäßen, Nerven usw. Platz und Lebensbedingungen bieten. Die Struktur der Knochenspongiosa ist nicht überall dieselbe und hängt offenbar genau von den Druck- und Zugverhältnissen jeder einzelnen Stelle ab. So finden sich dieht unter dem weicheren Knorpel- überzug der Gelenkflächen keine langgestreckten Pfeiler mit kurzem Gewölbe, sondern mehr rundliche Maschen, weil hier der Druck so ziemlich von allen Seiten her gleich stark wirkt. und die langen parallel- laufenden Pfeiler treten erst tiefer unten im Knochen auf und stehen in den beiden, sich kreuzenden Richtungen, wie sie den beiden Haupt- druckrichtungen entsprechen. Nur unter dem funktionellen Reiz des Druckes aber sind die knochenbildenden Zellen im Vorteil vor den anderen, vermehren sich rascher und verdrängen an diesen Stellen die auf andere funktionelle Reize abgestimmten Zellen. In ähnlicher Weise erklärte Roux aus dem „Kampf der Teile* die auffälligen Zweckmäßigkeiten im Verlauf, der Verzweigung und der Lumengestaltung der Blutgefäße, die Richtung der sich in der Schwanz- flosse des Delphins durchkreuzenden Bindegewebszüge, oder die Faser- richtungen im Trommelfell, überhaupt viele Zweckmäßigkeiten der histologischen Struktur zusammengesetzter (rewebe. Öffenbar ist damit ein bedeutender Schritt vorwärts geschehen, denn es lag auf der Hand, daß die Richtung der einzelnen Knochen- bälkchen nicht durch Auslese der Personen bestimmt worden sein konnte, und ebenso viele andere histologische Einzelheiten. Auch dab es sich hierbei um Selektionsprozesse handelte, ganz analog denen, die wir nach‘ dem Vorgang von Darwın und WALLACE zwischen den Indi- viduen sich abspielend denken, sollte nicht bestritten werden. (serade wie bei letzterer, die wir von jetzt an als Personalselektion be- zeichnen können, die Variabilität und Vererbung im Kampf ums Dasein zum Überleben des Zweckmäßigeren führen, so führen auch hier diese *) Ich sehe hier davon ab, ob es in diesem Falle nicht ursprünglich gleiche Elemente sind, die aber die Fähigkeit besitzen, sich je nach der Natur der sie treffenden Reize zu diesen oder jenen Zellenarten zu differenzieren. 202 Histonalselektion. drei Faktoren zum Sieg des für die bestimmte Stelle des Körpers /wecekmäbigeren, und die verschiedenen Gewebe und (rewebeteilchen müssen sich deshalb so verteilen und anordnen, daß jedes an die Stelle kommt. an welcher es am häufigsten und stärksten von dem für das- selbe spezifischen Reiz getroffen wird, d. h. an welcher es den anderen Teilchen überlegen ist; diese Stellen sind aber zugleich diejenigen, deren Ausfüllung durch das bestreagierende Teilchen das ganze Gewebe am leistungsfähigsten, die Struktur desselben also am zwecekmäbigsten macht. Variabilität wird dabei vorausgesetzt, da ohne sie eine Differenzierung der primitiven lebenden Substanz nicht denkbar wäre, die Vererbung ist mit der Vermehrung der Zellen durch Teilung gegeben, und der Kampf ums Dasein tritt hier in der Form eines Kampfes um Nahrung und Raum auf: das an einer bestimmten Stelle gelegene und dadurch vom funktionellen Reiz häufiger getroffene, also auch rascher wachsende Teilchen vermehrt sich rascher, entzieht dadurch die Nahrung anderen, langsamer sich vermehrenden Teilchen seiner Umgebung und verdrängt dieselben dadurch mehr oder weniger. So können wir uns vorstellen, wie aus einer primitiven einfachsten Substanz mit verschieden bean- lagten Teilehen unter dem Einfluß verschiedener Reize nach und nach eine immer mannigfaltigere Differenzierung verschiedenster Teilchen hervorging, indem die von einem bestimmten Reiz stärker affizierten Variationen der primären Lebenssubstanz an den von diesem Reiz häufig getroffenen Stellen sich anhäufen und die anderen Variationen dort verdrängen mußten, wie also der Körper und der einzelne Teil desselben sich genau den Ansprüchen, welche die Funktion an ihn stellte, strukturell umgestaltete. So könnten wir nun selbst von einer Histonalselektion der Ein- zelligen reden, indem auch hier die strukturelle Anordnung der ein- mal schon verschieden differenzierten Teilchen von den Bahnen be- stimmt werden muß, in welchen die verschiedenen funktionellen Reize einwirken. Hier spielen natürlich aber Personal- und Histonalselektion unmittelbar ineinander, insofern jede Strukturverbesserung eines Teils zugleich eine dauernde und auf die Nachkommen übertragbare Ver- besserung des ganzen Individuums bedeutet. Bei den Vielzelligen dagegen beruht auch die Grundlage der Histonalselektion, d. h. die Varianten der histologischen Elemente, der Zellen und Zellenteile auf Personalselektion, und Histonalselektion ent- scheidet nur über ihre Anordnung. _ Bei schief geheilten Knochen- brüchen behält die schwammige Substanz nicht die frühere Anordnung ihrer Pfeiler und Bogen, sondern ein neues, schräg zu dem früheren gestelltes Gewölbesystem stellt sich her, nach den alten Prinzipien, aber nach den neuen Druckverhältnissen. Die Zellen, die auf Zug und Druck mit der Bildung von Knochenbälkchen und -Bogen reagieren, sind einmal gegeben, sie müssen schon mit der Keimanlage gegeben sein, und ihre ursprüngliche Differenzierung kann nur auf Personal- auslese bezogen werden. Die gesamte Anpassung der Zellen eines Organismus an verschiedenen Funktionen, also ihre Differenzierung nach dem Prinzid der Arbeitsteilung in Muskel-, Nerven-, Drüsenzellen usw. kann nur auf Naturzüchtung im DARWIN-WALLACESschen Sinne, nicht aber auf Histonalselektion bezogen werden. In der schwammigen Sub- stanz des Knochens kämpft nicht eine bessere Knochenzelle mit einer schlechteren, sondern verschiedene Zellenarten kämpfen miteinander um den Raum und die Nahrung, da die eine hier, die andere dort über- Histonalselektion. 203 legen ist. Es verhält sich etwa so, wie wenn mehrere nahe verwandte Vogelarten, von denen die erste am besten für die Ebne, die zweite für die Hügel, die dritte für Bergwälder paßt, zu gleicher Zeit in ein neues weites Ländergebiet einwanderten, in welchem alle drei Existenz- bedingungen vertreten wären. ‚Jede der drei Arten versucht zuerst das ganze Gebiet zu besetzen, aber sehr bald wird ein Kampf zwischen ihnen entstehen, in welchem jedesmal diejenige Art Siegerin bleibt, welche für die betreffende Gegend am besten paßt, und sehr bald werden die drei Arten wieder, wie in ihrer ursprünglichen Heimat auf Ebne, Hügel und Bergwälder verteilt sein. Das würde nicht auf einem Kampf der Individuen jeder Art unter sich beruhen, sondern auf einem Kampf der drei Arten untereinander. Deshalb könnte auch aus ihm nicht eine Veränderung dieser Arten hervorgehen, sondern nur ihre örtliche Verteilung. Die Eigenschaften aber, welche die eine Art für die Ebene, die andere für die Wälder geeigneter machten, sind schon vorher dagewesen und beruhen auf Personalselektion, welche die Vorfahren der drei Arten im Laufe der Zeiten ihren Lebensbedin- gungen immer besser anpabte. Ähnlich verhält es sich mit den Strukturen zusammengesetzter Gewebe: Die Differenzierung der einzelnen Zellenarten ist altererbt und beruht auf Personalselektion. die Verteilung und Anordnung derselben aber beruht — soweit sie verschiebbar ist — auf Histonalselektion; nur soweit sie verschiebbar ist, d.h. fähig, sich den lokalen Bedingungen anzupassen. Nur diese Anpassung kann auf Histonalselektion bezogen werden, die Grundlage auch der komplizierten Gewebe, wie der groben Drüsen der Wirbeltiere, z. B. der Niere, der Leber usw. muß schon im Keim gegeben sein. Jedenfalls überschätzte Roux den Einfluß seines „Kampfes der Teile“, als er glaubte, die zweckmäßige Struktur der verschiedenen Zellenarten selbst beruhe auf ihm. Ich gestehe, daß ich längere Zeit diesen Irrtum mit ihm teilte, bis es mir — zuerst an dem Fall der (Geschlechtszellen — klar wurde, daß dem nicht so sein kann. Wie sollten auf diesem Wege jemals alle die so verschiedenartigen und bis in die kleinsten Einzelheiten gehenden Anpassungen der (zeschlechts- zellen haben entstehen können, von denen in dem vierzehnten Vortrag die Rede sein wird? Für die einzelne Samenzelle ist es gleichgültig, ob ihr Kopf etwas dünner oder dicker, ihre Spitze etwas schärfer oder stumpfer, ihr Schwanz etwas kräftiger oder schärfer ist; das entscheidet nicht darüber, ob sie besser gedeiht, oder in größerer Zahl auftritt, als eine andere Varietät. Wohl aber entscheidet es darüber. ob sie durch die enge Mikropyle des Eies oder durch die feste Eihaut hindurch ein- dringen kann ins Ei und dort die Befruchtung vollziehen. Ein Indivi- duum mit schlechter gebauten Samenzellen wird weniger Eier befruchten können, also weniger Nachkommen hinterlassen, die seine Anlage zu schlechteren Samenzellen erben können und umgekehrt. Also nicht die Samenzellen des eleichen Individuums werden selektiert, je nach ihrer Güte, sondern die Individuen konkurrieren miteinander um die beste, d. h. die am sichersten befruchtende Samenzellensorte. Es ist also ein Kampf der Personen, nicht ein intraler Kampf der Zellen. (Ganz ebenso aber verhält es sich mit allen für bestimmte Funktionen differenzierten Zellen; jede neue Art von Drüsen-, von Muskel-, von Nervenzellen, wie sie im Laufe der Phylogenese so tausendfach ent- standen, kann nur im Kampf der Personen um die besten derartigen 04 Histonalselektion. Zellen hervorgegangen sein, nicht im Kampf der Zellen untereinander, da für diese kein Vorteil darin liegen konnte, wenn sie dem Gesamt- organismus besser «dienten, als andere ihresgleichen. Handelte es sich z. B. um die Umwandlung einer gewöhnlichen Drüse zu einer Giftdrüse, so würde es für die einzelne Zelle der Drüse ganz gleichgültig sein, ob sie unschädliches oder eiftiges Sekret liefert; Individuen aber mit möglichst vielen Giftzellen wären im Vorteil. Insoweit stimme ich mit PLATE überein, wenn er neuerdings die Differenzierung der Gewebe durchweg auf Personalselektion bezieht, nicht aber in dem weitergehenden Schluß, daß eine Histonalselektion überhaupt nicht existiere. Ich glaube, dıe Grundlage des histologischen Baues der Organe beruht auf Personalselektion, ao die Ausführung im einzelnen Fall ist nicht bis ins einzelste schon im voraus be- stimmt, sondern sie wird durch Histonalselektion reguliert, ist also bis zu einem gewissen Grade Anpassung an die lokalen Reizverhältnisse. Nicht jedes einzelne Knochenbälkchen ist schon vom Keim her nach Lage, Stärke und Größe vorgesehen, sondern nur die Entstehung von Knochenzellen und Knochenbälkehen überhaupt. Wo und in welcher Richtung und Stärke die letzteren entstehen, das hängt von den lokalen Verhältnissen, von Druck und Zug ab. die auf die Zellenmasse einwirkt. Daß hier eine Anpassung vorliegt, zeigt die obenerwähnte Spongiosa des schief geheilten Knochenbruchs, und ich wüßte nicht, warum wir dem Vorgang, der diese Anpassung hervorruft, die Bezeichnung eines Selektionsvorgangs streitig machen sollten. Er ist doch auch eine Selbst- regulierung, eine Erzeugung von Zweckmäßigkeit durch Auslese. Wenden wir uns aber nun zu der für uns hier wichtigsten Frage, ob funktionelle Anpassungen vererbt werden können, so müssen wir bekennen, daß die Einsicht, welche wir in die Ursachen dieser An- passungen gewonnen haben, uns ihre Bejahung keineswegs erleichtert. Wir sahen, dab die Zunahme eines vielgebrauchten Organes, die Abnahme eines wenig gebrauchten auf der „trophischen Wirkung des funktionellen Reizes“ beruht. Damit ist über die Möglichkeit einer Ver- erbung solcher Abänderungen nichts entschieden, das Rätsel bleibt nach wie vor unverändert bestehen, wieso es möglich sein solle, daß solche rein lokale, nicht in der Keimesanlage begründete, sondern erst durch die Zufälligkeiten des Lebens hervorgerufene Veränderungen sich auf Nachkommen übertragen könnten. Ptlanzten sich alle Arten, auch die der höchsten Gruppen durch Zweiteilung fort, so könnte man ja denken. daß eine direkte Übertragung jeder im Laufe des Einzellebens durch Übung oder Nichtgebrauch er- worbene Abänderung stattfände, wiewohl auch dies sehr viel verwickeltere Mechanismen voraussetzte, als es auf den ersten Blick erscheint; be- kanntlich ist dies aber nicht der Fall; die Hauptmasse der heute lebenden Pflanzen- und Tierarten pflanzt sich vielmehr durch Keimzellen fort, die im Innern des Organismus sich ausbilden, oft sehr fern von Teilen, deren Ubungsresultate vererbt werden sollen, und die zugleich eine ganz einfache Struktur zu besitzen scheinen, soweit wenigstens unser Auge zu urteilen vermag; jedenfalls sehen wir in einer Keimzelle weder Muskeln, noch Knochen, noch Bänder, Drüsen oder Nerven, sondern nur einen Zellkörper, aus jener festweichen lebendigen Substanz be- stehend, welche wir mit dem allgemeinen Namen des Protoplasmas be- legen und einen Kern, von dem wir aber auch nicht sagen können, daß er sich in irgend einer wesentlichen und bestimmten Weise von Histonalselektion. 205 dem Kern einer anderen Zelle unterschiede. Wie sollen nun die Ver- änderungen, die an einem Muskel durch Übung eintreten, oder die Ver- kümmerung, die eine Gliedmasse durch Nichtgebrauch erleidet, sich der im Innern des Körpers liegenden Keimzelle mitteilen, und noch dazu derart mitteilen, dab diese Zelle später, wenn sie zu einem neuen Or- ganismus heranwächst, an dem entsprechenden Muskel und der ent- sprechenden Gliedmasse dieselbe Veränderung von sich aus hervor- ruft, die bei den Eltern durch Ubung oder Nichtgebrauch entstanden war? Das ist die Frage, welche sich mir schon früh aufdrängte, und welche mich in ihrer weiteren Durchdenkung zu einer völligen Leug- nung der Vererbung dieser Art von „erworbenen Eigenschaften“ führte. Wenn ich Ihnen nun zeigen soll, wie ich zu diesem Resultat ge- langte, und worin dasselbe seine Begründung findet, wird es unerläb- lich sein, zunächst die Erscheinungen der Vererbung überhaupt und der mit ihr unzertrennlich verbundenen Fortpflanzung kennen zu lernen, um dann daraus uns irgend eine theoretische Vorstellung von dem Vor- gang der Vererbung zu bilden, ein wenn auch nur vorläufiges und not- wendigerweise noch sehr unvollkommenes Bild des Mechanismus, der der Keimzelle die Fähigkeit verleiht, das Ganze wieder hervorzubringen und nicht bloß — wie andere Zellen — ihresgleichen. Wir werden so zu einer Untersuchung über die Fortpflanzung und Vererbung geführt, nach deren Abschluß erst wir uns berechtigt fühlen dürfen, wieder zu der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften zurückzukehren, um unser Urteil über die Beibehaltung oder Ver- werfung des LAMARCKSschen Prinzips auszusprechen. XII. VORTRAG. Die Fortpflanzung der Einzelligen. Fortpflanzung durch Teilung p. 206, bei Amöben p. 206, bei Infusorien p. 206, Un- mittelbar sich folgende Teilungen p. 207, Keimbildung der Metazoen, Gegensatz von Keim- und Körperzellen p. 208, Potentielle Unsterblichkeit der Einzelligen p. 211, Einführung des normalen Todes in die Lebewelt p. 212, Knospung und Teilung der Metazoen p. 215. Meine Herren! Wenn wir die Fortpflanzung der Organismen im Hinblick auf Vererbung ins Auge fassen, so scheint diese letztere bei den niedersten, uns bekannten Lebensformen am leichtesten ver- ständlich. denn hier ist der Bau, soweit wir mit unseren Instrumenten sehen, ein sehr einfacher und, was noch mehr in Betracht kommt, ein gleichmäßiger. (resetzt, es gäbe bakterienartige Organismen von ganz homogenem Bau, und dieselben vermehrten sich durch einfache Zweiteilung, so also, daß das stäbchenförmige Wesen sich in seiner Längsmitte quer durch- teilte, so würden seine beiden Teilhälften selbständige Tochterwesen dar- stellen, deren Bau mit dem des Mutterwesens genau übereinstimmen mub. von demselben gar nicht abweichen kann, folglich also die Eigen- schaften desselben übernehmen, d. h. dieselben erben wird. Nur die Körpergröße vererbt sich dabei scheinbar nicht, in Wirklichkeit aber potentia doch, da der Bau des Teilstückes die Fähigkeit und die Grenzen seines möglichen Wachstums in sich enthält, und da die Körpergröße bei keiner Art etwas Unveränderliches ist. sondern immer nur für einen gegebenen Entwicklungsmoment sich wiederholt. Die Vererbung besteht also hier einfach in einer Fortsetzung des Mutterwesens in seine beiden Töchter. Auch bei einer Amöbe (Fig. 59) könnte man sich den Vorgang der Vererbung noch so einfach vorstellen, obwohl dies wohl auf Täuschung beruhen würde, insofern uns der Bau dieser niedersten einzelligen Tiere einfacher und gleichmäßiger erscheint, als er in Wirklichkeit sein wird; bei den Infusorien aber liegt es klar vor, daß hier die Vererbung nicht durch die Halbierung des Muttertieres in die zwei Töchter schon voll- zogen ist, sondern daß noch etwas anderes hinzukommen muß. Ist doch bei diesen Einzelligen die Differenzierung des Körpers nicht nur eine hohe, sondern auch eine ungleiche, Hinter- und Vorderende sind ver- schieden und mit der queren Durchschnürung des Tieres, wie sie auch hier den Prozeß der Fortpflanzung ausmacht, werden nicht etwa zwei gleiche Teilhälften erzeugt, sondern höchst ungleiche. Bei der Zwei- teilung des Stentor, des sog. Trompetentierchens z. B. (Fig. 60), Fortpflanzung der Protisten. A } ( enthält das vordere Teilstück den trichterförmigen Mund und Schlund mit seinem komplizierten Ernährungsapparat, dem kreisförmigen Mund- feld samt langer spiralig verlaufender Reihe zusammengesetzter Wimper- plättchen, den sog. Membranellen u.s. w.;: das hintere Teilstück erhält nichts von alledem, besitzt aber dafür den Fuß des Muttertieres mit seinem Haftapparat, der dem vorderen Stück abgeht. Wenn nun jedes der beiden Teilstücke die Fähigkeit der „Regeneration“ besitzt, das heißt imstande ist, die ihm fehlenden Teile, Mund oder Fuß u. s. w., neu zu bilden, so ist das schon nicht mehr ein einfaches Fortbestehen der mütterlichen, organisierten Substanz als Tochtertier, sondern es ist etwas Neues, was hinzukommt, und was seine besondere Erklärung verlangt: wir stehen vor dem ersten Rätsel der Vererbung. Einfaches Wachstum erklärt die Erscheinung nicht, denn was zur Ergänzung der Teilungs- hälfte hinzukommen muß, hat eine andere Struktur. andere Gestalt, andere Nebenapparate, als sie die Teilungshälfte selbst irgendwo besitzt. Es ändert auch Nichts an diesem Tatbestand. daß bei dem normalen Teilungsvorgang der Infusorien die Bildung des neuen Mundes und Peristomfeldes schon beginnt, ehe noch die Teilhälften sich wirk- lich voneinander getrennt haben, denn wenn man einen Stentor künstlich durchschneidet, ergänzen sich die Teilstücke auch zum ganzen Tier, ja ein Stentor kann in drei oder vier Stücke zerschnitten werden, und jedes Stück vermag sich unter Umständen wieder zum ganzen Tier umzubilden. Diese Stücke be- sitzen also mehr, als bloßes Wachstums- vermögen. Wir werden später zusehen. ob sich diese wunderbare unsichtbare Uber- tragung von Charakteren, diese Ergänzung des Teils zum Ganzen in irgend einer Weise theoretisch fassen und unserer Vorstellung näher bringen läßt. x 5 En Nachdem wir aber einmal diese Tat- Fig- 59. Eine Amöbe, Tei- B g _ Jungsprozeß. 4 vor Beginn der sache kennen gelernt haben, wird es uns Teilung, 3 Kern verdoppelt, nicht mehr in Erstaunen setzen, daß die die zwei Tochteramöben. Ver- Fortpflanzung der Einzelligen nicht immer größert etwa 400. auf einer gleichen Zweiteilung beruht, sondern daß auch ungleiche spontane Teilungen möglich sind, der- art, daß ein oder mehrere kleinere Stücke des Zellkörpers, nebst einem Fortsatz des Zellkerns sich vom Muttertier abtrennen können, eine Form der Fortpflanzung, die besonders bei den Sauginfusorien oder Acineten vorkommt. In Bezug auf den Vererbungsvorgang wiederholt sie nur das Problem, welches schon die gleiche Zweiteilung der Infu- sorien stellt, und ebensowenig wird daran etwas geändert, wenn wir sehen, daß die gleiche Zweiteilung sich mehrmals, bis vielmals wiederholen kann, so daß also aus einem Tier rasch hinteinander ein (ganzer Haufen von Teilstücken derselben Größe wird. Nicht selten gehen dabei die charakteristischen Merkmale des Muttertiers ganz oder teilweise verloren, und die Teilstückehen scheinen nur aus homogenen Zellkörpern und Kern zu bestehen, aber sie besitzen die Fähigkeit, sich wieder zu einem dem Muttertier gleichenden Wesen zu regene- rieren oder, wenn man lieber will, zu entwickeln. Man kann solche 2OS Fortpflanzung der Protisten. Teilstückchen ganz wohl auch Keime nennen, nur muß man sich dabei bewußt bleiben, daß das Verhältnis des Muttertieres zu diesen Keimen ein anderes ist, als das eines höheren Tieres oder einer Pflanze zu ihren Keimzellen: das einzellige Tier löst sich durch fortgesetzte Tei- lung auf in diese seine „Keime“, während das Metazoon unbeschadet der Produktion von Keimzellen als lebende Person fortbestehen bleibt. Den Anfang einer solchen sogenannten „Sporen“-Bildung finden wir schon bei manchen Infusorien. So pflanzt sich die holotriche Art, Holophrya multifiliis (Fig. 61) derart fort, daß das Tier sich zuerst einkapselt, und dann rasch vielmals hintereinander zweiteilt, so daß nacheinander 2, 4, S, 16 usw. Individuen entstehen, die dann später aus der Cyste wieder ausschwärmen (Fig. 61, 3). Bei den Gregarinen und anderen Sporozoen hält die Teilungsperiode viel länger an, das eingekapselte Tier teilt sich bis zu 128 oder 256 oder noch mehr Teilstückchen:; aber auch hier bekommt jedes Teilstück oder die „Spore“ ein Stück des mütterlichenZellkörpers und Zellkerns, so daß also prinzipiell kein Un- terschied besteht mit der einfachen Zweitei- lung eines Stentor; wie dort, so wird auch hier nicht der fertig diffe- renzierte Bau des Tie- res dem Teilstück mit- gegeben, sondern nur die Fähigkeit. ihn aus Fig. 60. Stentor Roeselii, Trompetentierchen, eigener Kraft wieder Teilungsvorgang. ws? Wimperspirale zum Mund (x) hervorzuzaubern: also führend. cv kontraktile Blase. 4 in Vorbereitung zur üjiberall wieder das fun- Teilung, Kern (A) zu einem langen Band verschmolzen; damentale Problem der D eine zweite Wimperspirale (ws?) angelegt, Kern (%) Vererhune nr zusammengezogen; C dicht vor der Abschnürung der erel Jung: le ıst es beiden Tochterinfusorien; Vergrößerung etwa 400; möglich, dab dem nach STEIN. einfacheren Teil- stückehen die Fä- higkeit innewohnen kann, das komplizierte Ganze wieder hervorzubringen? Den Einzelligen stehen die Vielzelligen gegenüber, deren grobe Masse, die Metazoen und Metaphyten, vielzellige Tiere und Pflanzen, nicht bloß durch die Vielheit der Zellen, welche sie zusammensetzen sich von «den Einzelligen unterscheiden, sondern noch mehr durch die vielseitige Differenzierung dieser Zellen nach dem Prinzip der Arbeits- teilung in dem Sinn, daß die verschiedenen Funktionen des Tieres nicht durch alle Zellen in gleicher Weise ausgeführt werden, sondern daß jede Funktion einer besonderen, eigens dafür organisierten Zellenart übertragen ist. So kommt es zur Differenzierung in Bewegungs-, Er- nährungs- und Fortpflanzungszellen, oder es kommen dazu noch Drüsen-, Nerven-, Muskel-, Hautzellen und Sie wissen ja, wie diese Differenzie- Keim- und Somazellen. 209 rung in eine große Zahl der verschiedensten Zellenarten mit sehr spe- zialisierten Funktionen besonders bei den höheren Tieren in einer schwer zu übersehenden Fülle eingetreten ist. Hier stehen also eine Menge der verschiedenartigsten Zellen, welche alle der Erhaltung des Lebens dienen, den einzigen Fortpflanzungszellen oder Keimzellen gegenüber. Diese allein besitzen die Fähigkeit, unter gewissen Bedingungen ein neues Individuum derselben Art hervorzubringen. Wir können diesen Keimzellen, welche nicht der Erhaltung des Individuums, sondern nur der der Art dienen, sämtliche übrige Zellenarten als somatische oder Körperzellen gegenüberstellen. Das Problem, welches zu lösen ist, liegt nun hier in der Frage: wie kommt die Keimzelle dazu, alle die übrigen Zellen in bestimmter Reihe und Ordnung aus sich wieder hervorbringen und so den Körper eines neuen Individuums aufbauen zu können? Die Ähnlichkeit mit dem schon bei den Einzelligen formulierten Vererbungsproblem springt in die Augen, sie wird noch größer, wenn wir erfahren, daß die Kluft zwischen Einzelligen und den höheren Tieren und Pflanzen durch einige Zwischen- formen über- brückt wird, die gerade in be- zug aufdie Fra- ge der Verer- bung von gros- sem Interesse sind. Unter den niederen Algen gibt es eine Fa- milie, die Vol- vocineen, bei welchen die Ditferenzie- Fig. 61. Holophrya multifiliis, ein auf der Haut von Fischen schmaroezendes Infusorium. 4 im gewöhnlichen Zustand; ma Großkern, »z7, Kleinkern, cv kontraktile Blasen, »z Mund. B Nach mehrfach wiederholter Zweiteilung innerhalb der Cyste (cv), 3 tt Teilsprößlinge, C einer derselben bei stärkerer Vergrößerung. rung des viel- zelligen Körpers nach dem Prinzip der Arbeitsteilung gerade erst einsetzt, bei einigen (rattungen zwar schon durchgeführt ist, wenn auch in denkbar einfachster Weise, bei anderen aber noch nicht begonnen hat. So besteht bei der Gattung Pandorina «das Einzelwesen aus sechzehn zu einer Kugel vereinigten grünen Zellen (Fig. 62, /), die untereinander völlig gleich sind und auch gleich funktionieren. Wohl sind sie durch eine von ihnen allen ausgeschiedene Gallertmasse zu einem kugeligen Körper, einem Ganzen. vereinigt, stellen also eine Zellenkolonie, einen Zellenstock dar, ein vielzelliges Individuum, aber jede dieser Zellen hat nicht nur alle typischen Zellorgane: Zellkörper, Kern und kontraktile Vakuole, sondern auch eine Greißel als Bewegungs- organ, einen Augenfleck und einen Chlorophylikörper, der sie befähigt, Nahrung aus Wasser und Luft zu bereiten. ‚Jede dieser Zellen voll- zieht also sämtliche somatische Funktionen, d. h. alle, die zur Erhaltung des Einzellebens erforderlich sind. Nun besitzt aber auch jede die Fähigkeit, das Ganze, die Kolonie aus sich wieder hervorzubringen, d. h. die Erhaltung der Art, die Fort- Weismann, Doszendenztheorie. I. 2. Aufl. 14 210 Fortpflanzung der Protisten. pflanzung zu vollziehen. Wenn eine solche Kolonie unter stetem Wachs- tum ihrer 16 Zellen eine Zeitlang im Wasser umhergeschwärmt hat, so ziehen ihre Zellen die Geißeln ein, und jede beeinnt, sich durch Zweiteilung zu vermehren, teilt sich in 2, 4, 8 und schließlich in 16 Zellen gleicher Art, die zusammenbleiben, einen kugeligen Haufen bilden, durch ausgeschiedene Gallerte zusammengehalten (Fig. 62, 7/7). So sind denn jetzt statt 16 Zellen in der Mutterkolonie 16 Junge Tochterkolonien, deren je 16 Zellen bald Geißeln und Augenflecke bekommen und dann bereit sind, aus der sich auflösenden Gallerte des mütterlichen Stockes auszuschwärmen, als selbstständige Persönlichkeiten. Pandorina zeigt also noch keine Spur einer verschiedenen Diffe- renzierung ihrer Zellen für bestimmte und verschiedene Funktionen. aber eine nahe verwandte Gattung derselben Familie, die Gattung Volvox (Fig. 62, 7/77) besteht bereits aus zweierlei Zellen, von denen die einen klein sind (sz2) und in großer Zahl die Wandung der hohlen Gallert- \ Fig. 62. Pandorina morum nach PRINGSHEIM: / eine schwärmende Kolonie, aus 16 Zellen bestehend; 77 eine solche, deren Zellen sich zu Tochterkolonien ver- mehrt haben; alle Zellen untereinander eleich. 777 Volvox, junge Kolonie, sz soma- tische, #5 Keimzellen. kugel erfüllen, welche gewissermaßen das Skelett des Volvox bildet, die anderen aber wenig zahlreich und sehr viel größer (Az). Die ersteren, die „Körper-* oder „somatischen“ Zellen sind grün, haben einen roten „Augenfleck* und zwei Geißeln; durch Ausläufer ihres Zellkörpers stehen sie untereinander in Verbindung und vermögen durch ihre koordinierten Geißelschwingungen die ganze Kolonie in langsam rotierender Bewegung durch das Wasser zu wälzen. Viele von Ihnen werden diese hellgrünen, mit bloßem Auge schon ganz gut erkennbaren Kugeln kennen, die im Frühjahr unsere Sümpfe und Teiche oft in zahlloser Menge bevölkern, so dab man nur ein Glas Wasser zu schöpfen braucht, um eine Anzahl von ihnen vor sich zu haben. Die eben geschilderten kleinen Geißelzellen dienen aber nicht bloß der Lokomotion der Kolonie, sondern auch der Ernährung, Sekretion von Gallerte, Exkretion der Auswurfstoffe, kurz sämtlichen Funktionen der Erhaltung des Lebens — nicht aber denen der Fortpflanzung; wohl Volvoeineen. 211 können auch sie sich, solange die Kolonie noch Jung ist, durch Teilung vermehren, aber sie können nicht, wie die Zellen der Pandorina. wieder eine ganze Kolonie hervorbringen, vielmehr nur ihresgleichen, d. h. nur wieder somatische Zellen. Die Erhaltung der Art, die Hervorbringung einer Tochterkolonie ist bei Volvox der zweiten großen Art von Zellen, den Fortpflanzungszellen vorbehalten. die in den mit wässriger Flüssigkeit gefüllten Binnenraum der Gallertkugel hineinragen und keine Geißeln besitzen (#2), also auch keinen Anteil an den Schwimm- bewegungen der somatischen Zellen nehmen. Wir sehen jetzt noch ganz davon ab, daß es ihrer mehrere Arten gibt. und stellen nur noch fest. daß die einfachsten unter ihnen, die sog. „Parthenogonidien*, ya sie bis zu einer ziemlich beträchtlichen Größe herangewachsen sind. einen Teilungsprozeß eintreten, der mit der Bildung einer Wohlerkolarie endet. Gewöhnlich liegen mehrere dieser großen Fortpflanzungszellen in einer Volvoxkolonie, und sobald diese sich zu ebensovielen Tochter- kolonien entwickelt haben, schwärmen sie durch einen Riß der schlaff werdenden Gallertwand aus der Mutterkugel aus und führen nun ein selbständiges Leben. Die Mutterkugel aber, die dann bloß noch aus somatischen Zellen besteht, ist nicht imstande, neue Fortpflan- zungszellen hervorzubringen, sie sinkt allmählich unter Verlust ihrer regelmäßigen Kugelgestalt zu Boden und stirbt ab. Bei Volvox also haben wir gewissermaßen zum erstenmale die Scheidung einer Zellenkolonie in Körper- (Soma) und in For tpflan- zungszellen vor uns; wir sehen, daß im Gegensatz zu Pandorina, eine große Menge, ja die größte Zahl der Koloniezellen die Fähigkeit ver- loren hat, durch Teilung das ganze wieder hervorzubringen, daß nur die wenigen Fortpflanzungszellen diese Fähigkeit noch besitzen, dafür aber andere Funktionen, vor allem die der Lokomotion verloren haben. Ihre Fähigkeit, das Ganze wieder hervorzubringen, also ihre Vererbunes- kraft, stellt somit höhere Anforderungen an unseren Scharfsinn. als die der Pandorinazellen. denn diese brauchen nur ihresgleichen hervorzu- bringen, weil es eben nur eine Zellenart dort gibt, hier aber enthält die Fortpflanzungszelle die Kraft, sowohl ihresgleichen, als auch die Körperzellen aus sich selbst durch Teilung hervorgehen zu lassen. Das Problem ist ganz analog demjenigen, das uns schon bei den kompliziert gebauten Einzelligen entgegentrat, bei den Infusorien. Die Frage, wie kann eine Teilhälfte des Trompetentierchens, die mundlos ist, einen neuen Mund und Wimperapparat aus sich heraus neu erzeugen, ver- wandelt sich hier in die Frage: wie kann eine Zelle durch Teilung nieht nur ihreseleichen. sondern auch die ganz anders ge- bauten Körperzellen entstehen lassen? Dies ist nun in einfachster Form die Fundamentalfrage für die gesamte Fortpflanzung durch Keim- zellen, zu der wir jetzt überzugehen hätten. Zuvor aber noch eine kleine Abschweifung. Ich habe Ihnen gesagt, daß die Einzelligen sich durch Teilung, und zwar ursprünglich und auch heute noch in den bei weitem häufigsten Fällen, durch Zweiteilung fortpflanzen. Es folgt daraus, daß sie einen natürlichen Tod nicht besitzen können, denn besäßen sie ihn, so müßte die Art mit den alternden Individuen aussterben: dies zeschieht aber nicht. Die zwei Töchter, welche aus der Zweiteilune eines In- fusoriums hervorgehen, unterscheiden sich nieht in bezuz auf ihre Lebenskräftigkeit, jede von ihnen besitzt die gleiche Fähigkeit, sich durch Teilung wieder zu verdoppeln, und so geht es weiter soviel 14* 212 Fortpflanzung der Protisten. wir sehen auf unbegrenzte Zeiten. Die Einzelligen entbehren also eines natürlichen Todes; ihr Körper wird durch das Leben selbst zwar wohl abgenutzt, so daß z. B. eine Neubildung seines Wimper- besatzes usw. notwendig wird, aber er wird nicht aufgerieben in dem Sinne, in dem unser eigener Körper und der aller Metazoen und Meta- phyten durch die Funktionierung der Organe selbst allmählich aufge- rieben, d. h. funktionsunfähig wird. Unser Körper altert und vermag zuletzt nicht mehr weiter zu leben, bei den Einzelligen aber gibt es kein Altern und keinen in den normalen Entwicklungs- gang des Individuums gehörigen Tod. Die Einzelligen besitzen gewissermaßen Unsterblichkeit, d. h. sie können wohl vernichtet werden, durch äußere Agentien, Siedhitze, Gifte, Zerquetschen, Gefressenwerden usw., aber ein Teil der Individuen einer jeden Epoche entgeht diesem Schicksal und setzt sich fort in die kommenden Zeiten. Denn genau genommen ist ja auch das Tochterindividuum nur eine Fortsetzung des Mutterindividuums, es enthält nicht nur die Hälfte der Substanz des- selben, sondern anch die Struktur, und das Leben setzt sich unmittel- bar von Mutter auf Tochter fort; die Tochter ist einfach die halbe Mutter, die sich nachträglich ergänzt, und die andere Hälfte der Mutter lebt auch als zweite Tochter weiter fort; nichts stirbt bei dieser Ver- mehrung. Man kann ja wohl sagen, die Tochter müsse die Hälfte ihres Körpers erst neu wieder bilden, sie sei deshalb eine neue Indivi- dualität und nicht die Fortsetzung der alten, folglich seien die Ein- zelligen auch nicht unsterblich; man kann spotten über die „unsterb- lichen“ Einzelligen, die heute immer noch die gleichen Individuen sind, welche schon vor Millionen von Jahren auf dieser Erde lebten, aber alle solehe Argumentationen sind nur doktrinäre Spielereien mit den Begriffen „Individuum“ und „Unsterblichkeit“, welche doch eben in der Natur selbst nicht vorhanden, vielmehr nur menschliche Abstraktionen sind, und deshalb nur relativen Wert besitzen können. Mein Satz von der potentiellen Unsterblichkeit der Einzelligen will nichts weiter, als der Wissenschaft zum Bewußtsein bringen, das zwischen Einzelligen und Vielzelligen die Einführung des physio- logischen, d. h. normalen Todes liegt, und diese Wahrheit wird durch keine Sophismen umgestoßen werden. (serade die Volvocineen zeigen uns gewissermaßen genau die Stelle, an welcher der Tod einsetzt, wo er zuerst in die Lebewelt eingeführt wird. Bei Pandorina verhält es sich noch wie bei den Einzelligen, jede Zelle ist noch alles in allem, jede kann sich wieder zum Ganzen herausbilden, keine stirbt also aus physiologischen, im Entwicklungs- gang gelegenen Gründen, sie ist in dem oben angegebenen Sinne „un- sterblich“. Bei Volvox aber stirbt .„das Individuum” ab, wenn es seine Fortpflanzungszellen entlassen hat, weil hier der (Gegensatz von Keim- zellen und Körper ausgebildet ist. Nur der Körper ist sterblich im Sinn eines normalen Todes, die Keimzellen besitzen die poten- tielle Unsterblichkeit der Einzelligen, und sie müssen sie ebensogut wie jene besitzen, wenn nicht die Art aufhören soll zu existieren. Daraus allein scheint nun noch nicht verständlich zu werden, warum denn aber das Soma dem Tode verfallen muß, und als ich zuerst diese Verhältnisse klar zu legen versuchte, bemühte ich mich, die Gründe, warum ein normaler Tod für den Körper eintreten mußte, aufzudecken. Ich habe nicht sofort die riehtige Erklärung gefunden, will Sie aber mit Unsterblichkeit der Einzelligen. 913 meinen damaligen Fehlgängen nicht aufhalten, sondern Ihnen gleich den wahren Grund vorführen. Er liegt einfach darin, daß, wie wir später noch genauer einsehen werden, jede Funktion und jedes Organ schwindet, wenn sie für die Erhaltung der betreffenden Lebensform überflüssig werden. Die Eigenschaft unbegrenzt weiter leben zu können, ist für die Körperzellen und somit auch für den ganzen Körper überflüssig, da dieselben neue Keimzellen nicht her- vorbringen können, nachdem die einmal vorhandenen abgelegt worden sind; damit hört das Individuum auf, Wert für die Erhaltung der Art zu besitzen. Was würde es der Art nützen, wenn die Volvoxkugeln, nachdem sie ihre Keimzellen zur Ausbildung gebracht und entlassen hätten, noch unbegrenzte Zeit weiterleben könnten? Offenbar habeu ihre weiteren Schicksale keinen Einfluß mehr auf die Bestimmung oder Erhaltung der Arteigenschaften, und es ist gleichgültig für den weiteren Bestand der Art, ob und wie lange sie noch leben. So sind dem Soma also diejenigen Eigenschaften verloren gegangen, welche es bedingen, daß das Leben unter steter Vermehrung endlos weiter dauern kann. Man hat, diesen Anschauungen gegenüber, auch gespottet, wieso denn die „Unsterblichkeit“, wenn sie denn wirklich den Einzelligen und den noch undifferenzierten Zellenkolonien eigen wäre, verloren gehen könne, so etwa, als ob der Welt, die wir für ewig halten, die Ewigkeit abgewöhnt werden sollte. Allein der Spott fällt auf die oberflächliche Rede zurück, die nicht zu unterscheiden weiß. zwischen jener geträumten Unsterblichkeit der Dichter profaner und religiöser Art und dem realen Vermögen gewisser Lebensformen, durch den Stoffwechsel nicht dauernd abgenutzt zu werden. Dab wir dies als „Un- sterblichkeit“ bezeichnen, scheint mir kaum tadelnswert, da es der Wissenschaft von jeher eingeräumt worden ist, populäre Worte und Begriffe in einem begrenzten und etwas veränderten Sinn auf wissen- schaftliche Begriffe zu übertragen, falls es ihr zweckmäßig dünkte. Dab aber das Wort „Unsterblichkeit“ hier schärfer und besser als irgend ein anderes die Sache bezeichnet, kann wohl nicht bezweifelt werden, so wenig, als daß zwischen Einzelligen und höheren Organismen ein wirk- licher Unterschied in dieser Richtung besteht, dessen man sich bewußt werden muß. Was bei den höheren Organismen, z. B. bei uns selbst die Dauer der Art auf ferne Zeiten hinaus ermöglicht, ist nicht die Unsterblickeit des Individuums, der Person, sondern nur die der Keim- zellen; auf diese allein vom ganzen Körper hat sich diese Fähigkeit übertragen; ein Stückchen des Individuums ist also auch hier unsterblich, aber eben nur ein Teilchen des Ganzen, das weder morphologisch noch der Auffassung des Individuums nach gleichwertig mit dem Ganzen ist. Oder sollte Jemand sich selbst für identisch mit seinen Kindern halten? Und wenn er versuchte, es sich vorzustellen, so würde es eben doch nicht so sein, sondern er selbst würde der- einst dem natürlichen Tode verfallen, während seine Kinder noch eine Spanne Zeit weiterlebten, bis auch sie wieder Kinder von sich abgelöst hätten, und nun ihrerseits dem Tode entgegengingen. Das ist eben doch anders bei einem Infusorium, welches niemals sich zum Sterben hinlegt, sondern sich immer wieder von neuem in zwei weiterlebende Hälften spaltet. Es ist kaum glaublich, dab eine so einfache und klare Wahrheit so lange verborgen bleiben konnte, aber noch unglaublicher, daß, seit- dem sie ausgesprochen wurde, sie als falsch, als Afterweisheit, als wert- 214 Fortpflanzung der Protisten. los bis in die neueste Zeit hinein verhöhnt wurde. Es ist aber das Schicksal aller Erkenntnisse, die auf Zusammenfassung und geistiger Verarbeitung von Tatsachen beruhen, solange angegriffen zu werden. bis sie durch ihre eigene Schwere allmälig die Gegner niederdrücken und sieh stillschweigende Anerkennung erzwingen. Die Tatsache, daß der natürliche Tod erst mit der Einrichtung eines Soma, eines Körpers im Gegensatz zu den Keimzellen auftritt, wird sich auch früher oder später zur Anerkennung durchringen. Wenn ich vorhin übrigens die Erklärung (des Todes darin fand, daß für das Soma, nachdem es seine Keimzellen entlassen und damit seine Pflicht gegen die Art erfüllt hat, sein unbegrenztes Weiterleben überflüssig wurde und deshalb in Weefall kam, so will ich damit doch nur das erobe Fundament der Einrichtung des natürlichen Todes bezeichnet haben. Ich zweifle nicht, dab das wirkliche Zustandekommen dieser Einrichtung noch auf anderen Wegen erfolgen konnte und erfolgt ist. Viele Zellen- arten der höheren Tiere gehen infolge ihrer Funktion zugrunde, es ist gewissermaben ihre Aufgabe, zugrunde zu gehen: sich aufzulösen: so ist es bei vielen Drüsen- und Epithelzellen. Es kann auch sehr wohl sein, daß bei vielen hoch differenzierten Gewebezellen, wie den Nerven- zellen, Muskel, Drüsenzellen eben gerade ihre hohe Differenzierung ein unbegrenetes Weiterleben und Sichvermehren ausschließt. Dadurch allein also würde Abnutzung des Körgers und ein endlicher Tod aus inneren Ursachen erklärlich. Allein die tiefere Ursache bleibt doch immer die vorhin genannte, denn Sie sehen leicht ein, daß falls das Weiterleben, die Unsterblichkeit des Soma notwendig für die Erhaltung der Arten gewesen wäre, sie durch Naturzüchtung auch erhalten worden wäre, d. h. daß jene mit Unsterblichkeit etwa unverträglichen histologischen Diffe- renzierungen in diesem Fall nicht hätten eintreten können; sie würden auf dem Wege zu ihrer Bildung, stets wieder eliminiert worden sein, da nur das Zweckmäßige erhalten bleibt. Nur wenn die Unsterblichkeit des Soma für die Art gleichgültig war, konnte dasselbe sich so hoch organisieren, daß es dadurch dem Tode verfiel. So ist also das alte Lied von der Vergänglichkeit des Lebens nicht für al!e Lebewesen zutretfend, der natürliche Tod ist eine, ver- hältnismäßig erst spät in der Entwicklung der Organismenwelt aufge- tretene Einrichtung, eine Einrichtung, die wir bis zu einem gewissen Punkte vom Standpunkt der Zweckmäßigkeit aus ganz wohl verstehen können. Es würde mich zu weit von dem Ziel, dem wir jetzt zustreben, ablenken, wollte ich Ihnen, anknüpfend an den natürlichen Tod, jetzt noch zeigen, daß auch die Dauerhaftigkeit des Somas, oder wie wir ge- wöhnlich sagen, die normale Dauer des Lebens ihre genane Regelung durch Naturzüchtung erfahren hat, so daß eine jede Art gerade die Lebensdauer besitzt, welehe nach physischer Beschaffenheit, ihrer physio- logischen Leistungsfähiekeit und den Lebensbedingungen, an welche sie sich anzupassen hatte, die vorteilhafteste war”). Doch — so interessant (dieser Gegenstand auch ist, so muß ich doch, um nicht ganz abzuirren, zu unserer eigentlichen Untersuchung zurückkehren, zu der Fort- ptlanzung im Hinblick auf Vererbung. Wir hatten diese Untersuchung verlassen mit der Feststellung, daß alle vielzelligen Pflanzen und Tiere, auch die kompliziertest ge- *) Siehe: WEISMANN, „Über die Dauer des Lebens“ Jena 1882. Fortpflanzung durch Knospung. 215 bauten, bei welchen die Differenzierung des Körpers in eine Menge der verschiedenartigst funktionierenden Zellgruppen den höchsten Grad er- reicht hat, dennoch alle imstande sind, besondere Zellen hervorzubringen, die Keimzellen, welche die Fähigkeit in sich tragen, aus sich wieder einen Organismus derselben Art, von demselben komplizierten Bau her- vorgehen zu lassen. Man sollte denken, solche Zellen müßten ebenfalls sehr kompliziert gebaut sein, aber in vielen Fällen sieht man davon nichts, die Keimzellen scheinen im Gegenteil häufig einfacher gebaut, als viele Gewebezellen, z. B. Drüsenzellen. und dort, wo sie wirklich eine ungewöhnliche Größe oder Kompliziertheit des Baues aufweisen, läßt sich zeigen, daß dies in gar keiner Beziehung zu der Organisations- höhe des daraus hervorgehenden jungen Wesens steht, sondern lediglich durch die besonderen Bedingnngen hervorgerufen ist, welche gerade diesen Keimzellen gestellt sind, sollen sie ein junges Wesen aus sich entwickeln können. Wir werden bald sehen. wie das zu verstehen ist. Zunächst muß ich anführen, daß Pflanzen und Tiere nicht bloß durch Keimzellen sich vermehren, sondern daß viele Arten — die Pflanzen zum größten Teil, die Tiere wenigstens in ihren einfacheren Formen — auch eine Vermehrung durch Knospung oder Tei- lung besitzen. Alle Tiere und Pflanzen, welche nicht auf der Indivi- dualitätsstufe der „Person“ stehen bleiben, sondern sich zu der höheren Stufe des „Stockes“ (Cormus) erheben, tun dies eben dadurch, daß die erste Person, von welcher die Bildung des Stockes ausgeht, durch Knospung oder wohl auch durch Teilung neue Personen hervorbringt, die an ihr sitzen bleiben und nun durch weitere Hervorbringung von Knospen eine dritte, vierte und s. f. Generation von Personen entstehen lassen, die alle aneinander sitzen bleiben und die nun zusammen die Individualität des Tier- oder Pflanzenstockes ausmachen. Solche Stöcke sind die Polypen- und Korallenstöcke, die Röhrenquallen und Moos- korallen, unter den Pflanzen nach ALEXANDER Braun alle Phanero- gamen, die nicht bloß aus einem Sproß bestehen. Hier kann also von bestimmten, vielleicht oft auch von beliebigen Zellengruppen des Stockes eine neue Person auswachsen und es fragt sich wie wir diese Fähigkeit theoretisch uns zurechtzulegen vermögen. Auch die Entstehung neuer Stöcke kann von solchen Knospen oder von Einzelpersonen des Stockes ausgehen. Der Süßwasserpolyp, Hydra, erzeugt durch Knospung einen kleinen Stock von drei oder höchstens vier Personen; die Knospentiere bleiben aber nur bis zu ihrer völligen Ausbildung am Muttertier sitzen, dann lösen sie sich los, setzen sich selbständig irgendwo fest und fangen nun ihrerseits an durch Knospung einen solehen kleinen und rasch vergänglichen Stock zu bilden. Unter den Pflanzen gibt es manche, die sich wie z. B. Dentaria bulbifera und Marchantia polymorpha durch sogenannte „Brut- knospen“ vermehren, d. h. Knospen, die vom Stock abfallen, um dann zu einer neuen Pflanze auszuwachsen. Auch die ganze geärtnerische Vermehrung der Pflanzen durch Ableger beruht auf dem Vorgang der Knospung, denn was hier von der Stammpflanze abgeschnitten und in die Erde gesteckt wird, ist ein einzelner Sproß, d. h. eine Person, welche die Fähigkeit besitzt, in der Erde Wurzeln zu treiben und durch fortgesetzte Knospen immer neue Sprosse, d. h. Personen hervorzu- bringen, welche alle zusammen dann wieder einen neuen Pflanzenstock darstellen. 216 Fortpflanzung der Protisten. Ich möchte mich indessen bei dieser sogenannten „ungeschlecht- lichen“ Fortpflanzung durch Knospung und Teilung nicht lange auf- halten aus dem Grunde, weil sie uns kaum einen Weg zu tieferem Ein- dringen in die Vorgänge der Vererbung eröffnet, wir vielmehr zufrieden sein dürfen, wenn wir imstande sein werden, sie mit den theoretischen Anschauungen, die wir von anderen Erscheinungen aus gewinnen, einiger- maben in Einklang zu setzen. Man hat lange Zeit diese Formen der Fortpflanzung für die ältesten und einfachsten gehalten, und erst seit Fr. BALFOUR hat sich die Uberzeugung allmählich Bahn gebrochen, daß dem gar nicht so sein kann, daß sie vielmehr spätere Einrichtungen zur Vermehrung der Metazoen und Metaphyten sind,. die eben deshalb auch auf komplizierterer Grundlage ruhen. Sie haben ja geseben, daß mit dem ersten Auftreten eines vielzelligen Körpers auch zugleich die ersten Keimzellen da waren, der Schritt von Pandorina zu Volvox ist ein so kleiner, daß er kleiner gar nicht gedacht werden kann. Damit ist also erwiesen, dab die älteste Form der Vermehrung bei den Viel- zelligen die durch Keimzellen war, wenigstens in dieser Entwicklungs- linie. Volvox pflanzt sich nicht etwa auch durch Selbstteilung fort oder durch Bildung einer Knospe von irgend einer Stelle der kugeligen Zellenkolonie aus. Was wir aber als Knospung bei Einzelligen kennen lernten, das ist nur eine ungleiche Zellteilung und hat nur den äußeren Schein mit der Knospung der höheren Pflanzen und Tiere gemein; (diese ist also etwas Neues und später, selbständig Entstandenes, das Ursprüngliche aber ist die Fortpflanzung durch einzellige Keime. XIV. VORTRAG. Die Fortpflanzung durch Keimzellen. Historisches p. 218, Differenzierung der Keimzellen in männliche und weibliche p- 219, Pandorina p. 219, Volvox p. 221, Samen und Ei bei Algen p. 222, Zoosper- mienform der männlichen Keimzelle p. 222, Zoospermien der Muschelkrebse p. 224, Anpassung der Samenzellen an die Bedingungen der Befruchtung, Daphniden p. 225, Spermatozoen verschiedener Tiergruppen p. 227, ihr feinerer Bau p. 228, Gestaltung und Bau der Eizellen p. 229, Anpassung des Eies an die Bedingungen p. 229, Doppelte Eier bei derselben Art p. 231, Einährzellen p. 232, komplizierter Bau des Vogeleies p. 233. Meine Herren! Wenden wir uns zur Fortpflanzung der Me- tazoen und Metaphyten durch Keimzellen, so gibt es eine große Zahl niederer Pflanzen, bei welchen Keimzellen hervorgebracht werden, die nichts weiter zur Entwicklung eines neuen Pflänzchens bedürfen, als gewisse äußere günstige Umstände, vor allem Feuchtigkeit und Wärme. Solche sind z. B. die „Sporen“ der Farnkräuter, die auf der unteren Seite der Fiederblättchen eines Farns in kleinen, mit bloßem Auge sehr wohl sichtbaren Häufehen von brauner oder gelber Farbe sich bilden, selbst aber sehr klein sind, so daß Tausende auf ein solches Häufchen, ein Sporangium, gehen und alljährlich Millionen von Sporen von einem Farnkraut geliefert werden. Jede Spore ist eine in eine schützende Kapsel eingeschlossene Keimzelle und vermag, wenn sie durch den Wind auf eine zur Keimung günstige Stelle geweht wird, zu einem jungen Pflänzchen zu werden, dem sog. Vorkeim. aus dem dann später das eigentliche Farnkraut sich entwickelt. Man hat diese Fortpflanzung durch Sporen als eine Form der sog. „ungeschlechtlichen“ Fortpflanzung betrachtet und mit der Knospung und Teilung unter diesem Titel zusammengestellt. Sie hat indessen mit diesen Vermehrungsformen nichts gemein, als den negativen Charakter, daß hier der Akt der Befruchtung, den wir bald kennen lernen werden, nicht mit in die Vermehrung hereinspielt — eine Begriffsbildung, die heute nicht mehr Berechtigung hat, als etwa die Einteilung des Tier- reichs in Wirbeltiere und Wirbellose, wo auch der negative Charakter des Fehlens von Wirbeln zum Zusammenwerfen ganz heterogener Tier- formen in eine Gruppe geführt hat. Damit soll nicht bestritten werden, daß beide Begriffsbildungen zu ihrer Zeit ihre volle Berechtigung hatten, ja als ein Fortschritt begrüßt werden durften. Heute hat man die „Wirbellosen“ als wissenschaftlichen Begriff längst aufgegeben, und so sollte es auch mit der Bezeichnung „ungeschlechtliche Fortpflanzung“ gehalten werden, da sie ganz verschiedenartiges zusammenwirft, nämlich die Vermehrung durch einzellige und die dureh vielzellige Keime, 218 Fortpflanzung durch Keimzellen. und da ihr überdies eine ganz falsche Vorstellung dessen, was „Be- fruchtung* eigentlich ist, zugrunde liegt. Als Bequemlichkeitsausdrücke mögen ja beide Worte Bestand behalten, doch wäre es zu wünschen, daß die von HÄCKEL vorgeschlagenen treffenden Bezeichnungen — Monogonie für ungeschlechtliche und Amphigonie für geschlechtliche Fortpflanzung — allgemein in Gebrauch kämen. Einstweilen sei nur gesagt. daß die Vermehrung durch „Sporen“ bei Moosen, Pilzen, Schachtelhalmen ganz regelmäßig sich vorfindet, und dab es auch Tiere gibt, bei welchen die Keimzellen die Fähigkeit be- sitzen, allein aus sich ein neues Individuum hervorgehen zu lassen. Doch sind diese Fälle der sog. Jungfernzeugung oder Parthenogenese, an die ich dabei hauptsächlich denke, der Vermehrung durch Sporen in Beziehung auf ihre Ursprungsweise nicht gleich zu stellen; es hat mit ihrer Entstehung eine eigene Bewandnis, die ich Ihnen erst klar machen kann, wenn wir die sog. „geschlechtliche Fortpflanzung“ kennen gelernt haben werden. Zu dieser selbst wollen wir jetzt übergehen. Es ist Ihnen wohl- bekannt, dab bei allen höheren Tieren, ganz wie beim Menschen ein In- dividuum allein nicht imstande ist, sich fortzupflanzen:; es gehören zwei dazu, und diese unterscheiden sich als Mann und Weib wesentlich in vielen Stücken voneinander. Erst ihre Vereinigung im Akte der „Zeugung“ veranlaßt die Bildung eines neuen Individuums, sei es daß dasselbe im Innern der Mutter in einem besonderen Fruchthälter heranreift, oder dab es zunächst als „befruchtetes Ei" abgelegt wird, wie bei Vögeln, niederen Wirbeltieren und den meisten „Wirbellosen‘“. Solange die Menschheit lebt, hat sie diesen Vorgang der Zeugung als die Hauptsache bei der Entstehung neuer Individuen betrachtet, und da sie in das Wesen des Vorgangs keinen Einblick hatte, mußte sie die Fortpflanzung als etwas durchaus Mysteriöses auffassen und das Zusammenwirken der beiden Geschlechter als eine „Conditio sine qua non“ der Fortpflanzung überhaupt: Zeugung und Fortpflanzung schienen identisch. So blieb es im wesentlichen auch dann noch, als in der „befruch- tenden“ Samenflüssigkeit des Mannes unzählige winzige Fädchen, die sog. „Samentierchen“ gefunden wurden, was schon 1677 durch LEUWEN- HOECK geschah und zwar für Säuger, Vögel und viele andere Tiere. ALBRECHT VON HALLER (1708—1777) wollte zwar anfangs in den Samenfäden die Anlage des Embryo erblicken, kam aber später im Verlauf seines langen Lebens ganz von dieser Ansicht zurück und er- klärte sie für eine Art von Schmarotzer des Samens, die nichts mit der Befruchtung zu tun hätten. Dieselbe Ansicht wurde noch 1835 von K. E. von BAER geäußert, entgegen der Meinung von PREVOST und Dumas, die sie für das Wesentliche des Samens ganz richtig erklärt hatten. Es ist überhaupt fast unglaublich, wenn man es im einzelnen verfolgt, wie zahlreiche Irrtümer und Umwege durchlaufen werden mußten, ‘um auf diesem Gebiet auch nur soweit zu kommen, als man etwa um die Mitte des XIX. Jahrhunderts gelangt war, soweit, um sagen zu können, daß die Befruchtung auf dem Kontakt der Samen- fäden mit dem Körper des Eies beruhe: 1843 hatte M. BARRY schon die Samenfäden innerhalb der Eihülle des Kanincheneies gesehen, aber erst die späteren (1853) Untersuchungen MEISSNERS, BISCHOFFS und NEWPORTS brachten die Tatsache vom Eindringen der Zoospermien durch die Eihüllen zur Anerkennung. Alles weitere blieb noch gänzlich aa Bu Geschlechtliche Fortpflanzung der Volvoeineen. 219 unklar und konnte auch nicht erschlossen werden, solange man, durch an und für sich richtige Beobachtungen irregeführt, noch glauben mußte, es gehörten stets mehrere Zoospermien dazu. ein Ei zu „befruchten“. Um den Vorgang auch nur in seinen gröberen Beziehungen zu verstehen, dazu fehlte damals außer den technischen Hilfsmitteln noch die Erkenntnis des morphologischen Wertes von Ei und Samenfaden. Erst mußte das Ei und der Samenfaden als Zellen erkannt sein, ehe man ihr Zusammentreffen bei der Befruchtung als die Verschmelzung zweier Zellen aufzufassen lernen konnte, als eine Kopulation oder Kon- jJugation zweier dieser histologischen Elementarorganismen. Diese Er- kenntnis brach sich aber nur sehr allmählich Bahn, und selbst in den sechziger Jahren waren die Ansichten darüber noch sehr geteilt. Uber- dies fehlte noch ganz die Kenntnis der „geschlechtlichen* Fortpflanzung bei den niederen Pflanzen, den Algen, Pilzen, Moosen, Farnen, und auch jede eingehendere Kenntnis der Befruchtungsvorgänge bei den Blütenpflanzen. Das alles mußte erst durch die Arbeit einer groben Zahl ausgezeichneter Beobachter zusammengetragen werden, ehe man auch nur soviel sagen konnte, daß der Befruchtungsvorgang ganz all- gemein auf der Verschmelzung zweier Zellen beruht. Ich will Ihnen hier nicht diesen ganzen langen Entwicklungsprozeß unserer Einsicht vorführen, ich habe ihn nur deshalb überhaupt berührt, weil es mir darauf ankam, Ihnen anschaulich zu machen, daß unsere Vorstellung vom Befruchtungsvorgang lange Zeit eine gänzlich irrige war und erst in der jüngsten Zeit zur Klarheit gelangt ist. Lange hielt man die Begattung, wie man sie von den höheren Tieren her kannte, für das Wesentliche und vermutete einen geheimnisvollen lebenerwecken- den Einfluß derselben; aber auch nach gewonnener Einsicht, dab nicht die Begattung, sondern die wie immer herbeigeführte Vereinigung zweier lebendiger Einheiten, der männlichen und weiblichen Keimzelle das Wesentliche der „Befruchtung“ sei, fuhr man doch fort, in dieser einen lebenweckenden Vorgang zu sehen und versperrte sich so den Weg zur richtigen Einsicht. Die einfachste Form der geschlechtlichen Fortpflanzung der Viel- zelligen finden wir unter anderen bei den Volvocineen, jenen grünen kugeligen Zellenkolonien des süßen Wassers, welche wir schon bei Gre- legenheit der Fortpflanzung durch ungeschlechtliche Keimzellen kennen gelernt haben. Bei ihnen ist es Regel, daß nach einer längeren Reihe von (Generationen, welche nur „ungeschiechtliche* Keimzellen hervor- brachten, dann Kolonien auftreten, bei welchen nicht mehr jede Keim- zelle sich allein für sich zu einer neuen Kolonie entwickeln kann, sondern nur dann, wenn sie sich vorher mit einer anderen Keimzelle vereinigt hat. Nun gibt es, wie wir gesehen haben, Volvoeineen, bei welchen die Differenzierung der Zellen in solche des Körpers (Soma) und solche der Fortpflanzung noch fehlt, und alle Zellen gleich sind. Bei diesen, 2. B. bei der Gattung Pandorina (Fig. 62, p. 210) löst sich dann, wenn geschlechtliche Fortpflanzung eintreten soll, die ganze Kolonie in ihre 16 Zellen auf, diese verlassen die Gallertkugel, in welcher sie bis dahin eingesenkt waren und schwärmen mit Hilfe ihrer beiden Geibeln frei durch das Wasser hin, um eine andere ähnliche, ebenfalls frei schwärmende Zelle aufzusuchen, und sich mit ihr zu kopulieren. Die beiden Schwärmzellen legen sich dann aneinander, ziehen ihre Geibeln ein, sinken infolgedessen zu Boden und verschmelzen vollständig mit- 920 Fortpflanzung durch Keimzellen. einander, nicht nur ihre Zellkörper, sondern auch ihre Kerne. Sie nelımen dabei eine kugelige Gestalt an, verlieren die Augenflecke, um- geben sich mit einer derben Zellhaut oder Zyste und verharren so kürzere oder längere Zeit, als sog. „Zygoten" oder Dauersporen. Dann entwickeln sie sich durch Zellteilung wieder zu einer der uns schon bekannten sechszehnzelligen Pandorinakolonien, welche aus der Kapsel hervordringt, um wieder frei im Wasser umherzuschwärmen. Hier beruht also die sog. „geschlechtliche Fortpflanzung“ auf der Versenhmelzung zweier gleich aussehender Zellen, und man hat darin, als man diese Erscheinungen zuerst kennen lernte, einen wesentlichen Unterschied von der entsprechenden Fortpflanzung bei den übrigen vielzelligen Organismen sehen wollen. Wir wissen aber jetzt nicht nur, daß ganz nahe verwandte Volvocineen. bei welchen schon eine Scheidung in Körperzellen und Fortpflanzungszellen vorliegt, sich durch zwei verschiedene Arten van Keimzellen geschlechtlich fortpflanzen, sondern wir haben durch GÖBEL erfahren, daß auch Gattungen, welche ganz wie Pandorina aus sgleichartigen Zellen be- stehen, dennoch männliche und weibliche Fortpflanzungszellen hervor- bringen können, die sich durch ihre Gestalt schon wesentlich voneinander unterscheiden. Bei Eudorina z. B., einer Gallertkugel mit 16 oder 32 Einzelzellen, die alle gleich sind, geht die ungeschlechtliche Vermehrung ganz wie bei Pandorina vor sich, d. h. jede dieser Zellen teilt sich vier- oder fünfmal hintereinander und bildet so eine neue Kolonie, die dann frei ausschwärmt, aber zur Zeit der geschlechtlichen Fortpflanzung ver- halten sich die Kolonien verschieden, einige werden weiblich, andere männlich. Bei ersteren bleiben die Zellen, wie sie vorher waren, bei den männlichen Kolonien aber geht jede der 16 oder 52 Zellen einen eigentümlichen Teilungsprozeß ein, der damit endet, daß aus jeder ein Haufen (16— 52) sog. „Zoospermien“ wird, d. h. kleine, schmale, langgestreckte Zellen mit je zwei Geißeln (Fig. 63, bei 2 solche von Volvox). Sie unterscheiden sich bei Eudorina von den weib- lichen Keimzellen oder Eizellen äußerlich nur durch Gestalt und Klein- heit, sowie durch ihre weit größere Beweglichkeit, enthalten aber grünen, später gelben Farbstoff und den roten Augenfleck wie jene. Hier be- gegnen wir also zum ersten Male unter den Vielzelligen der Differenzierung männlicher und weiblicher Keimzellen, und wir lernen daraus, daß in dieser Differenzierung nicht das Wesen der Befruchtung liegt, da dieselbe ja auch fehlen kann, daß vielmehr diese Scheidung der Geschlechtszellen in weib- liche und männliche nur ein sekundäres Moment ist. Darin, dab die Eizellen größer und träger sind, die „Samenzellen“ oder „Zoo- spermien“ kleiner und lebendiger, können wir auch bereits im voraus ahnen, was sich mit der Erweiterung unserer Kenntnis der Tatsachen nur noch befestigen wird, daß hier eine Differenzierung auch der Keimzellen nach dem Prinzip der Arbeitsteilung eingesetzt hat, welche in erster Linie bezweckt, das Zusammentreffen der zur Kopu- lation bestimmten Zellen zu erleichtern und zu sichern. Die viel kleineren und dünnen Zoospermien treiben büschelweise im Wasser umher, bis sie an eine weibliche Kolonie anstoßen; nun aber lösen sie sich los voneinander, bohren sich in die weiche Gallerte der weiblichen Kolonie ein und „befruchten“ die Eizellen, d. h. je eine männliche Zelle verschmilzt mit einer weiblichen und bildet mit ihr eine „Dauerspore“, ganz wie bei Pandorina. große Eizellen (?), die zu Männliche und weibliche Keimzellen. 22] -—— Bei Volvox verhält es sich änlich wie bei Eudorina; auch hier gibt es außer der „ungeschlechtlichen“ Fortpflanzung durch die wie Ei- zellen aussehenden „Parthenogonidien* (Fig. 63, A, #), noch männliche und weibliche Keimzellen, die meist nur abwechselnd mit ersteren her- vorgebracht werden, zuweilen aber auch zur selben Zeit, wie z. B. in Fie. 63. Die Eizellen sind groß und geißellos, die Samenzellen liegen büschelweise beisammen und schwärmen nach erlangter Reife (9) frei ins Wasser aus, um sich in eine andere Kolonie einzubohren und mit je einer Eizelle zu vereinigen. Der Unterschied zwischen den beiderlei Keimzellen besteht also in der viel größeren Zahl, Kleinheit und Be- weglichkeit der männlichen, in der geringeren Zahl aber viel bedeuten- deren Größe der weiblichen Zellen, eine Differenzierung nach dem Prinzip der Arbeitsteilung, die darauf beruht, daß die beiderlei Zellen zu einander gelangen und doch eine gewisse Masse lebenden Protoplasmas enthalten müssen. Während die Verkleinerung, aber auch Vervielfachung der Fig. 63. Volvox aureus nach KLEIN und SCHENCK. 4 Außer den kleinen geis- seltragenden somatischen Zellen der Kolonie sind fünf parthenogenetischer Ent- wicklung befähigt sind, darin enthalten, sowie drei kürz- lich befruchtete Eizellen (0), und eine Anzahl in Ent- wicklung begriffene männ- liche Keimzellen («), aus welchen durch fortgesetzte Teilung je ein Bündel von Samenzellen hervorgeht. B In Entwicklung begriffe- nes Samenzellenbündel, aus 32 Zellen bestehend, von oben, C dasselbe von Seite gesehen. Vergr. 687. D Einzelne Spermatozoen, Vergr. 824. männlichen Keimzellen verbunden mit ihrer Beweglichkeit dem Aufsuchen und Sieheinbohren in weibliche Zellen Vorschub leistet, so ersetzt anderer- seits die Vergrößerung der Eizelle den Verlust an Masse, der dem be- fruchteten Ei sonst dnrch die Verkleinerung der männlichen Zelle er- wachsen würde, und dieser Größenunterschied kann sich noch bedeutend steigern; bei einem der braunen Meerestange z. B. sind die Sperma- tozoen nur 5 Mikromillimeter lang, die Eier aber sind kugelig und haben einen Durchmesser von 8O— 100 Mikra, enthalten also 30—60000 mal mehr Masse (Mörıus). Fig. 64 zeigt ein solches von Samenzellen (s/) umschwärmtes Ei. Im Laufe der Artentwieklung verschärfte sich dieser Gegensatz zwischen weiblichen und männlichen Keimzellen immer mehr, nicht immer zwar in derselben, sondern je nach den Befruchtungsbedingungen bald 292 Geschlechtliche Fortpflanzung. in dieser, bald in jener Richtung. Es wäre falsch. sich vorzustellen, dab mit der höheren Differenzierung des Organismus als Ganzem auch die Differenzierung der Geschlechtszellen eine immer kompliziertere ge- worden sei. Wir finden vielmehr schon bei Algen, wie das Beispiel von Fucus zeigt, bedeutende Unterschiede zwischen den (reschlechtszellen, die bei manchen höher stehenden Pflanzen eher wieder abnehmen. Nicht von dem mehr oder minder komplizierten Bau des Organismus selbst hängt die Art und der Grad dieses .Unterschiedes ab, sondern von den speziellen Bedingungen, unter welchen in jedem bestimmten Fall sowohl die Vereinigung der beiderlei Geschlechtszellen, als auch die spätere Entwicklung des Vereinigungsproduktes, des „befruchteten Eies* vor sich geht. So kommt es, daß z. B. die männlichen oder „Samenzellen“ der niederen Pflanzen, der niederen Tiere und dann wieder der höchsten Tiere ähnlich gebaut sind. Bei allen diesen Organismen besitzen sie Kleinheit, Gestalt und Beweglichkeit sogenannter „Zoospermien“ oder „Spermatozoen“, d. h. es sind fadenförmige, sehr kleine Körperchen, die in Wasser oder anderen Flüssigkeiten rasch durch schlängelnde Beweg- ungen vorwärts schwimmen und durch ähnliche, bohrende Bewegungen in das Ei eindringen, nachdem sie es glück- lich erreicht haben. Am vorderen Ende besitzen sie eine mehr oder minder auffallende Verdickung, den sog. „Kopf“, in welchem der Zellkern liegt, und auf diesen folgtder „Schwanz“, d.h. ein fadenförmiger aus Zellkörper- substanz bestehender Faden, der die schwingenden Bewegungen, vergleich- bar den Geißeln der Infusorien und Br; Volvoeineen, ausführt; das Ganze ist Fig. 64. Fucusplatycarpus,brau- 150 eine spezifizierte „Geibelzelle“. ner Tang. Eizelle Z7, von Samenzellen Als man zuerst in den Zoosper- (5) umschwärmt; nach SCHENCK. mien das „befruchtende“ Element bei den höheren Tieren erkannt und diese „Samenfäden“ nicht nur bei allen Säugetieren und Vögeln, Reptilien, Amphibien und Fischen gefunden hatte, sondern auch bei vielen der „Wirbellosen“, da lag der Schluß nahe, es möchte eben in dieser leb- haften Beweglichkeit die Funktion der Befruchtung enthalten sein; stellte man sich doch die Befruchtung noch bis in die 70. Jahre des XIX. Jahr- hunderts vielfach als eine „Belebung“ des Eies vor. Da nun Leben auf Bewegung beruht, wenn freilich auch auf sehr viel feineren molekülaren ;jewegungen, von welchen die Ortsbewegung der ganzen Zelle nur einer der sichtbaren Ausflüsse ist, so faßte man durch einen etwas unklaren Schluß die Befruchtung auf als Lebenserregung der zum Weiterleben für sich allein unfähigen Eizelle durch Übertragung von Bewegung seitens des Zoosperms. Gingen doch einzelne Forscher so weit, die Eizelle ge- radezu für „tote organische Materie“ zu halten. Ich erwähne das jetzt schon, obwohl wir die Frage nach der Bedeutung «der Kopulation der (Geschlechtszellen fürs erste noch nicht weiter verfolgen wollen. Die eben erwähnte Ansicht aber wird allein schon durch die Gestaltung der männlichen Keimzellen bei anderen (Gruppen von Pflanzen und Tieren so gründlich widerlegt, daß ich diese Spermatozoenform der Samenzellen. 2953 Formunterschiede Ihnen nicht vorführen wollte. ohne zugleich darauf hinzuweisen, welche Schlüsse sich unmittelbar daraus ergeben. Allerdines besitzen bei weitem die meisten Pflanzen- und Tier- klassen die Zoospermienform der männlichen Keimzellen, eine Tat- sache, die darin ihre Erklärung findet, daß die zu befruchtenden Ei- zellen sich meist nicht in unmittelbarer Nähe des vom männlichen Wesen ausgeschiedenen Samens befinden, sondern in größerer Entfer- nung davon. So werden bei Quallen und Polypen beiderlei Geschlechts- produkte in das Wasser entleert, gleichzeitig allerdings, aber doch durch Entfernungen von Fußen oder Metern getrennt. Die Samenfäden suchen dann schwimmend im Meere die ebenfalls in ihm schwebenden Eier auf, geleitet durch eine anziehende Kraft der letzteren, über deren Wesen wir in diesem Falle nichts wissen, die aber bei gewissen Farn-Eizellen auf die Ausscheidung von Apfelsäure zurückgeführt worden ist (PFEFFER). Ahnlich verhält es sich bei den Schwämmen (Spongien). Auch bei ihnen sind die Personen oder Stöcke entweder männlich oder weiblich: bei letzteren bleiben die großen, weichen Eizellen im Innern des Schwammes liegen und erwarten hier den befruchtenden Samenfaden, während die männlichen Schwämme den reifen Samen ins Wasser ausströmen lassen, so daß gleichzeitig Tausende und Millionen von Zoospermien, nach allen Richtungen in das umgebende Wasser ausschwärmen und nach einem weiblichen Schwamme umhersuchen, um in dessen Kanalsystem einzu- dringen und so schließlich zu den Eizellen zu gelangen. Gewiß werden nur sehr wenige von den Tausenden ihr Ziel erreichen, die meisten werden sich im Wasser verlieren, eine Beute für Infusorien, Rädertiere oder andere niedere Tiere. Dieses massenhafte Verfehlen der eigent- lichen Bestimmung zeigt uns, warum diese Zoospermien in so enormer Zahl hervorgebracht werden müssen: es ist einfach eine Anpassung an (die ungeheure Zerstörungsziffer dieser Zellen, gerade wie die Anzahl der Jährlich hervorgebrachten Jungen einer Tierart oder der Samen einer Pflanze durch Naturzüchtung entsprechend ihrer Zerstörungsziffer ge- regelt wird. Je zahlreichere Nachkommen der Ungunst der Umstände, den Feinden, dem Nahrungsmangel jedesmal erliegen, um so frucht- barer muß die Art sein. Ganz ähnlich verhält es sich bei der Regu- lierung der von einem Individuum hervorzubringenden männlichen Keim- zellen, es müssen ihrer so viele gebildet werden, daß trotz der unver- meidlichen enormen Verluste doch immer noch die zur Erhaltung der Art notwendige Zahl reifer Eier durchschnittlich ihren Samenfaden erhält. Mit der massenhaften Produktion von Zoospermien hängt aber wieder ihre Kleinheit zusammen, denn aus einer gegebenen Masse or- ganischer Substanz lassen sich um so mehr Zoospermien bilden, je kleiner diese sein dürfen. Jede Art aber ist durch ihre Größe und die Masse ihres Körpers in bestimmte Grenzen der Produktion gebannt, und es liegt also ein Vorteil in der möglichsten Kleinheit der Zoo- spermien, sobald die Aussicht des einzelnen Samenfadens, ein Ei glück- lich zu erreichen, eine sehr geringe ist. In allen solehen Fällen hat die Natur darauf verzichtet, dem Kopulationsproduckt, also der Grund- lage des neuen Organismus, einen nennenswerten Beitrag an Stoff durch die männliche Keimzelle zuzuführen, und die träge Eizelle sammelt beinahe allein in sieh das Material zum Aufbau des Embryos. Die Befruchtung des Eies durch Entleerung der Samenzellen ins Wasser findet sich außer bei niederen Tieren, wie bei Schwämmen, (Juallen, Seesternen, Seeigeln nnd Verwandten, auch wieder bei 294 Geschlechtliche Fortpflanzung. viel höher stehenden Tieren, nämlich bei vielen Fischen und bei den Fröschen, und bei allen diesen Tieren besitzen die Samenzellen die Gestalt beweglicher Fäden. Doch kommt die Spermatozoenform der Samenzellen keineswegs bloß bei solehen Pflanzen und Tieren vor, die im Wasser leben, oder die, wie die Moose und viele Gefäßpflanzen wenigstens zeitweise von einer dünnen Schicht Regen- oder Tauwasser bedeckt sind, in welcher die Zoospermien nach den Eizellen hinschwimmen können, vielmehr auch bei einer überaus großen Zahl von Tieren, bei welchen der Same direkt in den weiblichen Körper gelangt, bei welchen also eine Begattung stattfindet. Trotzdem sehen wir auch hier in den meisten Fällen, so bei allen Wirbeltieren. Mollusken und Insekten die Zoospermienform beibehalten. Die Ursache ist offenbar eine doppelte: einmal nämlich kann in vielen Fällen der Samen durch (die Begattung nicht unmittelbar schon bis zum Eı gelangen, sondern hat noch einen weiten Weg im Innern des weiblichen Körpers zu machen, wie bei den Säugetieren, oder dieser Weg ist zwar kurz und sicher, aber das Ei ist von einer festen, schwer durchdring- lichen Hülle oder Schale umgeben, und das fadenförmige Zoosperm hat nun die Aufgabe, sich dureh diese Hülle durchzubohren, oder auch durch eine feine Offnung in derselben. die sog. Mikropyle hineinzu- schlüpfen. In beiden Fällen läßt sich keine Gestalt der Samenzelle ausdenken, die zur Erfüllung dieser Aufgabe geeigneter wäre, als eben die des Fadens mit zugespitztem dünnen Kopfstück und langem be- weglichen Schwanz, der das Zoosperm befähigt, sich wie eine Sehraube durch die enge Öffnung in der Eihülle hindurchzudrehen, mag dieselbe nun vorgebildet sein, oder nicht. So begreift man, warum z. B. bei den Insekten ganz allgemein die Samenzellen in der Zoospermienform auftreten, obgleich sie hier in eine besondere Tasche des weiblichen F ortpflanzungsapparates gelangen, die „Samentasche“, und in dieser aufbewahrt werden. Wenn dann ein reifes Ei im Eileiter abwärts gleitend an die Stelle kommt, an welcher (diese Tasche in ihn einmündet, so genügt der Austritt weniger Samen- zellen, um das Ei mıt Sicherheit zu befruchten, vorausgesetzt, daß die- selben eben die Fadenform besitzen, welche ihnen gestattet, durch die sehr enge Öffnung der Eischale in das Ei hineinzuschlüpfen. Man könnte nun aus dieser großen Sicherheit, mit der hier das Ei von der Samenzelle aufgefunden werden muß, schließen, daß nur eine geringe Zahl von Spermatozoen gebildet zu werden brauchte, und doch ist sie auch hier noch eine große, wenn auch nicht so enorm, wie etwa bei Seeigeln und anderen Seetieren, die den Samen ins Wasser entleeren, Das beruht einmal darauf, daß auch hier noch immer eine Anzahl von Samenfäden die Mikropyle verfehlen und verloren gehen werden, und (dlann darauf, daß bei vielen Insekten eine sehr große Anzahl von Eiern sukzessive befruchtet werden muß. Die Bienenkönigin legt im Laufe ihres drei oder vier Jahre dauernden Lebens viele Tausende von Eiern, von denen die meisten befruchtet werden und zwar aus der nur einmal gefüllten Samentasche. Es gibt aber allerdings auch Samenzellen von Fadenform. welche nicht in solchen Massen, sondern nur in weit bescheidenerer Anzahl, etwa zu einigen Hunderten im Hoden gebildet werden. Dies kommt bei den kleinen Muschelkrebsen (Östracoden) vor, deren im Süßwasser lebende Arten alle Zoospermien besitzen, aber in mäßiger Zahl und zugleich von ungewöhnlicher Größe. Spermatozoen der Muschelkrebse. 225 Die verhältnismäßig geringe Zahl erklärt sich aus der Sicherheit, mit welcher jeder von ihnen das Ei erreicht, und die Größe dürfte vielleicht ihren Grund teilweise eben in der geringeren Zahl haben, die hier genügt, und die es also erlaubte, auch der männlichen Keim- zelle an der Beschaffung des Materials zum Aufbau des Embryos einen nennenswerten Teil zuzuweisen; wahrscheinlich aber spielt hier noch mehr die Dicke und Festigkeit der Eischale mit, denn diese entbehrt einer Offnung für den Eintritt des Samenfadens und ist schon völlig erhärtet, wenn die Befruchtung vor sich gehen soll. Nirgends vielleicht in der Natur zeigt es sich deutlicher, wie bis ins Einzelste hinein der Bau der Organismen von dem Zweckmäßigkeitsprinzip beherrscht wird, als bei den Einrichtungen für die Befruchtung; so auch gerade bei den Muschelkrebsen. Uber den komplizierten Begattungsapparat gehe ich hinweg, weil wir ihn in seinen Einzelheiten doch noch nicht verstehen. Das Wesent- liche daran scheint mir nach eigenen Untersuchungen und solchen meiner früheren Schüler Dr. STUHLMANN und DR. SCHWARZ darin zu liegen, daß die kolossalen Zoospermien, die im Körper des Männchens noch keinerlei Beweglichkeit besitzen, einzeln, gewissermaßen im Gänse- marsch zum Austritt gebracht werden. Sie werden schon bei der Be- gattung einzeln hintereinander durch ein sehr feines Rohr hinausge- preßt, und treten dann ebenfalls einzeln durch die weibliche Geschlechts- öffnung in einen ebenso feinen in Spiralwindungen gelegten Gang, durch den sie endlich in die geräumige birnförmige Samentasche, das Recepta- eulum seminis des Weibchens gelangen. Dort lagern sie sich zu einer mächtigen Schleife zusammen, einige Hunderte an der Zahl, und er- langen nun erst ihre volle Reife, indem sie eine äußere Cutieula ab- werfen, also gewissermaßen sich häuten. Erst dann zeigen sie die Fähig- keit, ins Wasser gebracht eine zuerst schwache, dann immer heftigere und wildere wellenförmige Bowegung auszuführen, Schwingungen, die sie befähigen, die kalkhaltige Eischale bohrerartig zu durchdringen. Im normalen Verlauf geschieht dies derart, daß bei der Ablage eines reifen Eies durch die Offnung des Eileiters zugleich oder kurz danach von dem Weibchen auch eines der riesigen Zoospermien durch den Spiral- gang der Samentasche nach außen gelangt. und zwar gerade auf das Ei hin. Das Einbohren selbst hat man bis jetzt noch nicht beobachten können, wohl aber kurz nachher das Zoosperm spiralig zusammengerollt im Innern des Eies gesehen. Bei diesen Muschelkrebsen sind die Samenfäden oft: schon mit bloßem Auge erkennbar und übertreffen bei einigen Arten die Länge des Tieres um das Zweifache, sie sind also geradezu Riesenzellen, und können wohl eine bedeutende Bohrkraft entwickeln. In bezug auf verschiedenartige Anpassung der Samenzellen an die Bedingungen der Befruchtung gibt es wohl kaum eine interessantere Tier- gruppe als diejenige der Wasserflöhe oder Daphniden. Es ist erstaunlich, wie stark schon die Gröbe dieser Elemente hier variiert, wie dieselbe im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Zahl steht, und wie beides sich ganz offenbar nach den Schwierigkeiten richtet, welche der Erreichung des Eies für die einzelne Samenzelle engegenstehen. Bei manchen Arten sind dieselben sehr groß, bei anderen aber zanz minimal. Bei den Gattungen Daphnia, Lynceus und anderen erfolgt die Begattung so wie Fig. 65 es angibt, d. h. der Samen (5s/) wird vom Männchen in den geräumigen Brutraum entleert, der in «diesem Weismann, Deszendenztheorie. I. 2. Aufl. 15 DRIE Geschlechtliche Fortpflanzung. Moment nur durch den Hinterleib des Männchens einigermaßen ge- schlossen ist, sonst aber hinten und neben nur undicht schließt. Es er- scheint unvermeidlich, daß ein großer Teil der Samenelemente bei den heftigen Bewegungen beider Tiere wieder herausströmt und verloren geht. Demgemäß sind hier die Samenzellen nur etwa ein Hundertstel Millimeter lang von rund- licher oder stäbehenförmi- ger (restalt und werden in Masse in den Brutraum ddes Weibehens entleert. Fig. 66, /, g und A stellen solche von verschiedenen Arten dar, wie sie zu vielen Tausenden den Hoden er- füllen. Bei allen solchen Arten aber, welche einen geschlossenen Brutraum besitzen, bei welchen also ein erheblicher Verlust ii an Samenzellen nicht ein- Fig. 65. Begattung bei Daphniden (Lynceiden). tritt, sind die Samenzellen Entleerung des Samens in den Brutraum; add & viel größer, und zugleich Hinterleib des Männchens. Verer. 100. weniger zahlreich, und die eröbten und wenigst zahl- reichen zeigen solche Arten, welche wie die Gattungen Daphnella, Poly- phemus und Bythotrephes ein männliches Begattungsorgan haben, wo- durch dann jeder Verlust an Samenzellen ausgeschlossen ist. So sind die rundlichen weichen und und klebrigen Samenzellen von Bythotrephes (Fig. 66, d) über ein Zehntel Millimeter lang, aber sie werden auch in so geringer Zahl gebildet, daß man nie- mals über zwanzig von ihnen im Hoden des Männ- chens findet, oft nur sechs oder acht, und daß bei der Begattung nur drei bis fünf entleert werden. Da indessen jedesmal nur zwei Eier zu befruchten sind, und da die in den Brut- raum ausgeschleuderten Samenzellen direkt auf Fig. 66. Samenzellen von verschiedenen Daphniden, die Eier gelangen , um a Sida, & Bythotrephes. ce Daphnella, # Moina pa- sofort an ihnen festzu- radoxa, e Moina rectirostris, / Eurycereus lamellatus, kleben, so genügt dies voll- g Alonella pygmaea, % Peracantha truncata; alle kommen bei derselben Vergrößerung (300) sezeichnet. EN . BO Es ist seltsam, wie verschieden die Samenzellen ganz nahe verwandter Arten bei den Daph- niden zuweilen sind, wie schon em Blick auf Fig. 66 lehrt, und ande- rerseits wie ähnlich dieselben bei zwei Arten sein können, wie Bythotre- phes longimanus (2) und Daphnella hyalina (c), die verschiedenen Fami- lien angehören. Das letztere erklärt sich aus Anpassung der Zellen Spermatozoenbau. DIT an ähnliche Begattungsverhältnisse. Die beiden Arten haben wirkliche Be- gattungsorgane, und ihre groben, weichen Samenzellen müssen bei Berüh- rung mit dem hüllenlosen Ei sofort ankleben und dann mittelst amöboider Fortsätze sich in dasselbe eindrängen. Umgekehrt beruht die Verschieden- heit der Samenzellen verwandter Arten, wie Sida erystallina (z), Moina rec- tirostris und Moina paradoxa (e und d) auf verschiedenartiger Anpassung an nahezu die gleichen Begattungsbedingungen. Bei Sida (Fig. 66, z) bleiben die großen, platten Samenzellen mit ihren ausgefransten Enden und ihrer großen weichen Oberfläche leicht an den Eiern hängen, und dasselbe wird bei Moina rectirostris (e) durch die starren Strahlenfortsätze bewirkt, wäh- rend bei der ganz nahe verwandten Art Moina paradoxa die Samenzelle (d) einem australischen Wurfholz ähnelt und wohl wie ein Sperrholz sich zwischen die Eier und die Wand des Brutsacks einklemmt. 1 2 3 4 5 0 ES Een — — Ten PR VRRRHHRRERRPLLTT. DICRIREBRBBRRF 7. T O77, ‚HRRRITT: LITTRRN Fig. 66. Spermatozooen verschiedener Tiere nach BALLOWITZ, KÖLLIKER und VOM RATH: 1 Mensch, 2 Vesperugo, 3 Schwein, 4 Ratte, 5 Buchfink, 6 Triton, 7 Raja, Rochen, S Käfer, 9 Gryllotalpa, Maulwurfsgrille, 10 Paludina vivipara, Süßwasser- schnecke, 11 Echinus, Seeigel; starke Vergrößerung. In Fig. 67 ist eine kleine Auswahl von tierischen Samenzellen ab- gebildet, welche alle die Gestalt des Samenfadens oder Spermatozoons besitzen, und doch im einzelnen sehr verschieden voneinander sind. Es wäre sicherlich äußerst interessant, (diesen feinen Anpassungen der Samen- zellen an die Befruchtungsbedingungen genauer nachzugehen, die Größe und besonders die Gestalt derselben bei «den verschiedensten Tierarten als Ausfluß der speziellen Beschaffenheit des Eies, seiner Häute, seiner Mikropylen und seiner leichteren oder schwierigeren Erreichbarkeit nach- zuweisen; aber einstweilen fehlt noch viel, bis wir uns auch nur darüber Rechenschaft geben können; warum z. B. die Samenzellen vom Sala- mander so ungeheuer lang, groß und spitzköpfig (Fig. 67,6) sind, die vom Menschen (Fig. 67,1) verhältnismäßig kurz und mit breitem platten 15” 228 Geschlechtliche Fortpflanzung. Kopf und einem erst neuerdings entdeckten kleinen Spitzchen versehen, oder warum diejenigen des Menschen und mancher Fische (z. B. Cobitis) sich so ähnlich sehen u.s.w. Nur soviel läßt sich hier erraten, daß auch in diesen einzelsten Einzelheiten nichts umsonst da ist, und daß sie alle auf Anpassung beruhen. Im allgemeinen deuten die Besonderheiten ihrer Gestalt schon darauf hin; so müssen wohl die schraubigen Windungen des Kopfes, die besonders bei den Samenfäden der Vögel (Fig. 67, 5), bei denen des Rochens (Fig. 7) und der Süßwasserschnecke Paludina stark ausge- bildet sind, korkzieherartig wirken, d. h. der Samenzelle das Einbohren durch resistente Eihüllen ermöglichen, während die scharf zugespitzten Köpfe der Insektenspermatozoen (Fig. 67, 8 und 9) geeignet erscheinen, um durch feinste vorgebildete Offnungen (Mikropylen) der harten Ei- schale hindurcehzuschlüpfen. Wie fein und kompliziert aber der mikroskopische Bau eines Sper- matozoon sein kann, davon haben uns auch erst die letzten Vervoll- kommnungen des Mikroskops und der Untersuchungsmetho- dien eine Vorstellung gegeben. Fig. 68 zeigt dieselbe nach einem schematischen Bild von Wırson. Wir sehen die Spitze (sd) zum Einbohren in das Ei, den Kern (z) um- geben von dünner Lage von Protoplasma, die zusammen den „Kopf“ bilden, dann das „Mittelstück“, welches das „Centrosoma“ enthält und den „Schwanz“ oder die „Geißel“, welcher die Bewegung des Ganzen bewirkt, und der selbst wieder eine koplizierte Struktur besitzt mit einem „Axen- faden“ (ax), und einer Hüllschicht, welch letztere öfters in eine spiralig verlaufende, undulierende Membran von äußerster Feinheit ausgezogen ist, am deutlichsten beim Wassersala- mander (Fig. 67, 6). Nicht nur bei den Daphniden, sondern noch in anderen Gruppen der Kruster kommen Samenzellen von ganz sonder- barer Gestalt vor, so beim Flußkrebs und seinen Verwandten des Meeres, den Krabben und langschwänzigen Krebsen, Zellen, die wenige lange und starre dornenartige Fortsätze tragen, welche wie bei den Samenzellen von Moina sie Fig. 68. Schema eines Samenfadens nach WILSON; s$ Spitze, n Kern, c Centrosphäre, 2 Mittelstück, % Hülle, «x Achsenfaden, e Endfaden. sperrig machen und es ihnen nach BRANDES ermöglichen, sich so lange zwischen den Borsten des weiblichen Abdomens zu halten, bis eines der vielen aus dem Eileiter austretenden Eier in ihren Bereich gelangt. Denn bei «liesen Krebsen findet keine eigentliche innere Begattung statt, sondern die Samenmassen werden, zu „Samenpatronen* oder „Sperma- tophoren“ verpackt, nur in der Umgebung der Eileiteröffnung vom Männchen angeheftet und platzen «dann dort, ihren Inhalt zwischen die Füße des Weibcehens ergiebend. Alle diese seltsamen und voneinander so weit abweichenden Ge- staltungen und Einriehtungen beruhen nicht etwa auf dem Zufall oder (den phantasievollen Ausflüssen einer „Bildungskraft“, wie eine frühere Zeit sich ausdrückte, sondern sie sind zweifellos alle ohne Ausnahme Anpassungen an die intimsten Bedingungen der Befruchtung in jedem einzelnen Fall. Ich lege besonderen Wert auf diese Erkenntniß, weil wer Tierische Eizelle. 299 sie uns mit Sicherheit zu schließen gestattet, dab auch die Ausge- staltungen der einzelnen Zellen, falls diese wichtig genug sind für die Art, durch Naturzüchtung geleitet werden können; denn es leuchtet ein, dab die Anpassungen der Samenzellen nicht auf Histonalselektion, sondern nur auf Personalselektion beruhen können, da es für die einzelne Samenzelle gleichgültig ist. ob sie besser oder schlechter die Befruchtung vollzieht, nicht aber für das Tier selbst, welches sie hervorbringt. Letzteres stirbt ohne Nachkommen, wenn seine Samenzellen nicht befruchten und muß dann die Fortführung der Art solchen Artgenossen überlassen, welche sicherer befruchtende Samen- zellen hervorbringen; also nicht die Samenzellen selbst :werden selektiert, sondern die Personen, und zwar nach der Güte ihrer Samenzellen. (segenüber der groben Mannigfaltigkeit der Gestalt, die uns die Samenzellen zeigen, erscheint die Differenzierung der Eizelle ein- förmig, wenigstens in bezug auf Form und Beweglichkeit. Die Grund- form ist die des Eies, von der freilich vielfache Abweichungen «durch Längenstreckung oder Abplattung vorkommen. Bei niederen Lebens- formen, z. B. den tierischen Schwämmen, auch noch bei Polypen und Medusen besitzen die Eizellen bis zu ihrer Reife noch das Bewegungs- vermögen einzelliger Organismen, sie kriechen nach Art der Amöben. ja. wie ich vor Jahren zeigte, ist diese Ortsbewegung bei manchen Po- Iypen sogar ‘eine genau geregelte, so also, daß dieselben zu bestimmter Zeit die Stelle, an welcher sie entstanden, verlassen und z. B. aus (der äußeren Zellenlage (Ektoderm) des Tieres in die innere (Entoderm) kriechen mit Durchbohrung der sog. „Stützlamelle“, dann im Entoderm weiter kriechen und schließlich an ganz bestimmten und oft weit ent- fernten Stellen wieder in die äußere Zellenlage zurückkehren (Euden- drium Fig. 95). Bei einem anderen Hydroidpolypen, Corydendrium pa- rasiticum, verlassen die ausgereiften Eizellen ihre bisherige Lagerstätte im Innern des Entoderms, um ganz aus dem Tier herauszukriechen. das sie hervorbrachte, und sich dann an einer bestimmten Stelle seiner äußeren Fläche festzusetzen und dort die befruchtenden Zoospermien zu erwarten. Geringe amöboide Bewegungen können viele Eizellen aus- führen, aber bei den meisten Tieren genügen sie nieht mehr zur Orts- bewegung und die Eizellen bleiben ruhig an der Stelle, wo sie ent- standen, oder werden doch nur passiv an andere Stellen verschoben. Solche Fälle, wo das Ei dem Samenelement örtlich entgegenkommt, wie ich ihn eben von einem Polypen anführte, sind Ausnahmen, im allge- meinen aber ist das Ei eben gerade der ruhende, die Samenzelle der aufsuchende Teil der Befruchtungselemente; die Eizelle ist mit der Herbeischaffung und Aufspeicherung des Materials betraut, «dessen der Embryo zu seinem Aufbau bedarf: hauptsächlich darauf beruhen ihre Eigentümlichkeiten. ei Pflanzen allerdings ist «dieses Material seltend bedeutend, weil hier die Eizelle häufig auch nach der Befruchtung noch im lebenden (Gewebe der Pflanze liegen bleibt, und dann von dort aus, oft sehr in- tensiv, mit Nährstoffen versorgt wird, weil außerdem das junge Ptlänzehen, das aus dem befruchteten Ei hervorgeht, noch sehr klein und einfach sein kann, und «dennoch fähig, sich sofort selbst zu ernähren. Doch gibt es auch davon Ausnahmen, und die Eizellen, z. B. der braunen Tange des Meeres, der Fucaceen, sind wohl zwanzigmal größer und massiger, als die gewöhnlichen Zellen dieser Algen (Fig. 64, und ent- 230 (Geschlechtliche Fortpflanzung. halten eine Menge nährender Stoffe in sich. In diesem Falle werden aber die Eizellen auch vor der Befruchtung ins Wasser entleert, und eine Ernährung des Embryos von seiten der Mutterpflanze ist aus- geschlossen. Bei diesen Algen begeenen wir auch wohl zum ersten Male einem besonderen Organ, in welchem die Eizellen ihren Ursprung nehmen. jei den Tieren ist dies viel allgemeiner der Fall, und aufwärts von den Spongien an sind es immer ganz bestimmte Stellen und Gewebe des Körpers, welche allein Eizellen zu bilden vermögen, gewöhnlich sind es sogar wohl abgegrenzte Organe von besonderem Bau, Ovarien oder Eierstöcke, wie denn bei den männlichen Tieren die Samenzellen eben- falls an besonderen Stellen entstehen und meist in besonderen Organen, den Hoden oder Spermarien. Die tierischen Eizellen zeigen sich häufig nieht bloß aus dem ein- fachen lebendigen Zellkörper, dem Protoplasma und seinem Kern zu- ie. 70. Fig. 69. Fig. 69. Eizelle vom Seeigel, Toxopneustes lividus nach WILsoN. sk Zellkörper, # Kern, (sog. Keim- bläschen). » Kernkörperchen (sog. Keimfleck), darunter: ein Sperma- tozoon (s?) desselben Tiers bei derselben Vergrößerung (750). Fig. 70. Daphnella, 4 Som- merei, 3 Winterei, Oc „Oltropfen‘ des Sommereies. sammengesetzt, sondern sie enthalten im Zellkörper fast immer noch sog. Deutoplasma, wie VAN BENEDEN die „Dotterelemente“ passend ge- nannnt hat. Es sind dies fett-, stärke- oder eiweibartige Stoffe, die oft in sehr bedeutender Menge in Gestalt von Kugeln, Schollen, Körnchen im Zellkörper aufgehäuft liegen, Nährmaterial, das oft nur von einer geringen Menge lebendiger Substanz, d. h. von Protoplasma umgeben und eingeschlossen ist. Ohne diese Dotteranhäufungen würde unmög- lich aus dem abgelegten Ei einer Schlange oder eines Vogels ein junges Tier hervorgehen können, denn so hoch differenzierte, kompliziert ge- baute Tiere könnten nicht aus einer Eizelle von mikroskopischer Klein- heit gebildet werden, wenn dieselbe während der Entwicklung ohne Nahrungszufuhr von außen bleibt, sie verlangen eine viel größere Masse von Baumaterial, damit alle die Organe und Teile, die aus Tausenden und Millionen von Zellen zusammengesetzt sind, sich bilden können. So hängt also die Gröbe tierischer Eier wesentlich davon ab, wie- viel Dotter dem Ei mitgegeben werden muß, und dieses wieder wird Tierische Eizelle. 231 in erster Linie davon abhängen, ob das Ei während seiner Entwicklung zum jungen Tier noch Zufuhr an Nahrungsmaterial von seiten der Mutter erhält oder nicht. Deshalb sind im allgemeinen Eier, die, um- hüllt und geschützt von Schalen, abgelegt werden, viel größer, als die Eier von Tieren, welche ihre Entwicklung im Innern («les mütterlichen Körpers durchlaufen. Das bekannteste Beispiel für diesen Satz bieten Säugetiere und Vögel, Tiere von ähnlicher Organisationshöhe und ver- gleichbarer Körpergröße. Während die Eier der Vögel bis 15 em lang und bis 1', kg schwer sein können, bleiben diejenigen der meisten Säugetiere von mikroskopischer Kleinheit und überschreiten kaum die Länge von 0,3 mm. Dasselbe Prinzip offenbart sich aber auch oft innerhalb ein und derselben kleinen Gruppe von Tieren, ja zuweilen bei ein und derselben Art. Auch hier wieder können die Wasserflöhe, Daphniden, als Muster dienen. Es gibt bei ihnen zweierlei Eier, Sommereier und Wintereier, von denen die ersteren in einem Brutraum am Rücken des Weibchens ihre Entwicklung zum jungen Tier durchlaufen, die anderen aber, von harter Schale um- schlossen, abgelegt werden. Erstere nun erhalten durch Fig. 71. Bythotrephes longi- manus; der Brutsack (Zr) des Weibchens: 4 mit zwei Winter- eiern gefüllt (/F?z), auf denen fünf große Samenzellen (s/) liegen, £ Rücken des Tiers, Dr Drüsen- schicht zur Absonderung der Scha- lensubstanz, 3% Begattungskanal. — B Brutsack (Zr) mit zwei Som- mereiern gefüllt (‚Sez); bei derselben Vergrößerung (100) gezeichnet. Austreten nährender Bestandteile des Blutes in den Brutraum bald mehr, bald weniger Nahrungszufuhr von seiten der Mutter, und brauchen deshalb weniger Dotter, als die Wintereier, die ganz auf sich selbst an- gewiesen sind. Dementsprechend finden wir bei allen Daphniden die Sommereier mindestens etwas kleiner und dotterärmer als die Winter- eier, SO zZ. B. bei der Gattung Daphnella (Fig. 70, A u. 2), bei einigen Arten, z. B. bei Bythotrephes aber steigert sich dieser Unterschied so sehr, daß die Sommereier fast dotterlos und deshalb ganz winzig werden (Fig. 71, 2). Das hat seinen Grund darin, daß hier ein mit Eiweib- stoffen reich beladenes Fruchtwasser den Brutraum erfüllt, somit also der Embryo während seiner Entwicklung fortwährend und intensiv er- nährt wird. Für die Wintereier kommt dies nicht in Betracht, da sie abgelegt werden, und so finden wir sie riesig groß und ganz erfüllt mit Dotter (Fig. 71, A). Die Dotterbestandteile sind in diesem Falle, wie überhaupt bei allen einfacheren Eiern Ausscheidungen des Zellkörpers des Eies, allein die Natur wendet hier noch mancherlei Kunstgriffe, wenn ich so sagen 232 Geschlechtliche Fortpflanzung. darf, an, um die Masse des Eies und besonders des Dotters auf die erreichbar höchste Höhe zu heben. So gibt es bei manchen Kruster- ordnungen, zZ. B. bei den eben erwähnten Wasserflöhen besondere Nähr- zellen des Eies. d. h. junge Eizellen, die sich von den übrigen weder nach Ursprung, noch nach Aussehen unterscheiden, die aber nicht zu reifen Eiern heranwachsen, sondern zu bestimmter Zeit stille stehen und dann sich langsam auflösen, so daß ihre Substanz als Nahrung von der echten Eizelle aufgenommen werden kann. Dadurch wird nicht nur ein rascheres, sondern auch ein viel bedeutenderes Wachstum ermög- licht. als es bei der Ernährung allein vom Blute aus möglich wäre. Bei den Daphniden besteht das Ovarium aus Gruppen von je vier Keim- zellen, von welchen immer nur eine zum Ei wird (Fig. 72, #7), während die drei anderen (1. 2 u. 4) sich als Nährzellen a So bei allen Sommereiern; bei den gröberen Wintereiern nehmen aber häufig noch viel zahlreichere Nährzellen an der Versorgung eines Eies Anteil, bei der Gattung Moina z. B. über vierzig. Hier ist aber auch der Größen- unterschied der beiden Eiarten sehr bedeutend, das Winterei hat den doppelten Durchmesser des Sommereies. Auch bei vielen Insekten kommen solche Nährzellen des Eies vor, so bei Käfern und Bienen, doch setzt hier zugleich noch eine andere Fig. 72. Sida erystallina (Daphnide); ein Stück des Eierstocks mit einer der Vierzellengruppen, von welchen 1, 2 und 4 Nährzellen sind, nur 3 zum Ei wird. Verer. 300. Einrichtung ein, welche zwar zugleich der Bildung einer äußeren Ei- schale dient, aber doch auch dem Ei die ihm nötigen Dotterstoffe zu- führt: nämlich die Umhüllung der wachsenden Eizelle durch eine dicht- gedrängte Lage von Epithelzellen, einen sog. »Follikel«. Auch bei Vögeln und Säugern spielen jedenfalls diese »Follikelzellen« eine bedeutsame Rolle in der Ernährung der Eizelle. wenn es auch noch nicht ganz klar ist, wie sie wirken, ob sie nur in sich Dotterkörner und andere N Nahrungs- stoffe erzeugen und sie durch feine strahlenförmige Fortsätze dem Ei zuführen, oder ob sie etwa auch zuletzt selbst in das Ei einwandern, um sich dort aufzulösen. Jedenfalls ist es bemerkenswert, daß alle diese Follikelzellen bei Insekten und Wirbeltieren desselben Ursprunges wie die Eizellen sind, d. h. umgewandelte Keimzellen. Es ist also hier im Wesentlichen dieselbe Sache, wie bei den Nährzellen der Daphniden: die Natur opfert den größeren Teil der Keimzellen, um eine Minderzahl von ihnen um so reicher ausstatten zu können. Sie erreicht es auf diese Weise, die Eizelle gewissermaßen über sich selbst hinauszuheben, ihr ein Wachstum zu ermöglichen, welches sie allein durch die gewöhn- liche Ernährung vom Blute aus offenbar nicht leisten könnte. So verstehen wir, wie die Eizellen vieler Tiere eine so kolossale Größe besitzen können und oft auch einen so verwickelten Bau. Ganz Tierische Eizelle. 233 besonders zeichnet sich in dieser Beziehung das Vogelei aus, über welches denn auch bis in die neuere Zeit hinein gestritten wurde, ob es wirklich nur den Formwert einer einzigen Zelle besitze. Dem ist aber so, und wenn auch nur die win- zige dünne Keimscheibe (Fig. 73, 2%) mit ihrem Kern allein der aktive Teil dieser Zelle, der eigentliche Zell- körper ist, so gehört doch alles Ubrige, die enorme Dotterkugel mit ihren regelmäßigen Schichten gelben (GD) und weißen Dotters ( WD), die koncentrischen Schichten flüssi- gen Eiweißes (Z 17) darum herum, Fig. 73. Schematischer Längsschnitt durch ein unbebrütetes Hühnerei nach ALLEN, THOMSoNX-BALFOUR; 22 Keim- scheibe, @D gelber Dotter, WD weißer Dotter, D47 Dottermembran, Z/V Eiweiß, Ch Chalazen, S Schalenhaut, AS Kalk- schale, ZR Luftkammer. die Eischnüre oder Chalazen (C’%) und schließlich die weiche Eihaut (S) und die kalkige Eischale (AS) mit zu dieser Zelle und ist in Abhängig- keit von ihr enstanden (Fig. 75). XV. VORTRAG Der Befruchtungsvorgang. Zell- und Kernteilung p. 334, Das sun ist die Vererbungssubstanz p. 235, die Centrosphäre der Teilungsapparate p. 236, die Chromosomen p. "237, Befruchtung des Seeigeleies nach HERTWIG p. 240, des Askariseies nach VAN BENEDEN p. 242, Die Richtungsteilungen p. 242, Halbierung der Chromosomenzahl p. 244, dieselbe bei der Samenzelle p. 245, Die Reduktionsteilung bei parthenogenetischen Eiern p. 248, die- selbe bei der Biene p. 248, Exceptionelle und künstliche Parthenogenese p. 251, tolle der Centrosphäre bei Befruchtung und Parthenogenese p. 252. Meine Herren! Nachdem wir nun die beiderlei Arten von Keim- zellen kennen gelernt haben, auf deren Vereinigung die „geschlecht- liche Fortpflanzung“ beruht, schreiten wir zur genaueren Besprechung des Befruchtungsvorganges selbst. Zuvor jedoch ist es unerläßlich, daß ich Sie mit den Vorgängen der Kern- und Zellteilung bekannt mache, wie wir sie im Laufe «der letzten Jahrzente allmählich sehen und verstehen gelernt haben. So sonderbar es erscheinen mag, daß die Vorgänge der Teilung Licht werfen sollen auf die scheinbar ganz ent- gegengesetzten der Zellverschmelzung. so ist es doch so, und ein Ver- ständnis der letzteren ist unmöglich ohne Kenntnis des ersteren. Seit Entdeckung der Zelle bis in die sechziger Jahre hinein be- trachtete man die Zellteilung als einen höchst ne Vorgang, als eine Durchschnürung; man sah, daß eine in Teilung begriffene "Zelle (Fig. 59, A) sich strecekte, ihr Kern ebenfalls länglich wurde, dab zuerst letzterer sich in der Mitte verdünnte und Biskuitform annahm, um sich dann nach und nach ganz durchzuschnüren, und in zwei Kerne zu zer- fallen (2), worauf dann auch der Zellkörper sich durchschnürte und zwei Tochterzellen fertig waren (€). Bei gewissen alternden oder hoch differenzierten Zellen scheint auch wirklich eine derartige Zellteilung vorzukommen, die sog. „direkte“, allein bei jungen, überhaupt bei allen lebenskräftigen Zellen scheint der Vorgang nur so einfach, ist aber in Wirklichkeit viel verwickelter, und zwar vor allem dadurch, daß der Bau des Kernes ein ungleich komplizierterer ist, als man es früher wußte, und daß die Natur einen ganz besonderen, wunderbar feinen Apparat in die Zelle gelegt hat, mittelst dessen die Bestandteile des Kernes auf die beiden Tochterkerne verteilt werden. Lange Zeit hindurch vermochte man am Zellkern nichts weiter zu unterscheiden, als eine Membran und einen flüssigen Inhalt, in welchem ein oder mehrere Kernkörperchen oder Nucleolen schweben. Damit ist aber der heute erkennbare Bau des Kernes noch keineswegs erschöpft, ja die wichtigsten Bestandteile desselben sind damit noch nicht einmal genannt, denn der oder die Nucleolen (Fig. 74, A, %%), denen man Vorgang der Kernteilung. 235 früher eine hohe Bedeutung beizulegen geneigt war, haben sich durch die neueren Untersuchungen besonders HÄCcKERSs als vergängliche Ge- bilde erwiesen, welche keine lebendigen Teile, sondern bloße Ansamm- lungen organischen Stoffes sind, „Zwischenprodukte des Stoffwechsels“, welche zu gewissen Zeiten, nämlich vor der Kernteilung, aus dem Kern- raum verschwinden, indem sie verbraucht werden. Wir wissen heute, daß in der ruhenden, d. h. nicht in Teilung begriffenen Zelle (Fig. 74. A) ein sehr feines und oft schwer sichtbar zu machendes Netzwerk blasser Fäden die ganze Kernhöhle durchsetzt, ähnlich Spinnweben oder fein- stem Seifenschaum, und in diesem sog. Kerngerüst sind Körnchen rund- licher oder eckiger (Gestalt eingebettet (A, cAr), welche aus einer Sub- stanz bestehen, die sich mit Farbstoffen, — Karmin, Hämatoxylin, allen Anilinfarben usw. — tief färbt und die deshalb den Namen des Chro- matins erhalten hat. Oft, ja meistens sind diese Körnchen ungemein klein, zuweilen aber auch größer, und dann weniger zahlreich und leicht sichtbar zu machen; in allen Fällen aber sind sie in gewissem Sinn die wichtigste Substanz des Kerns, denn von ihnen gehen — wie wir an- nehmen müssen — Wirkungan aus, welche das Wesen der Zelle be- stimmen, welche ihr gewissermaßen den spezifischen Stempel aufdrücken, die junge Zelle zur Muskelzelle oder zur Nervenzelle machen, ja, welche der Keimzelle die Fähigkeit verleihen, durch fortgesetzte Vermehrung mittelst Teilung einen ganzen vielzelligen Organismus von bestimmtem Bau, bestimmter Differenzierung, kurz ein neues Individuum der be- stimmten Art hervorzubringen. zu welcher die Eltern dieses Nachkom- men gehörten. Wir bezeichnen die Substanz, aus welcher diese Chro- matinkörnchen bestehen, mit dem Namen, den zuerst NÄGELI in die Wissenschaft einführte, wenn auch für eine ideale, nur postulierte, aber damals noch nicht beobachtete Substanz, die er sich in den Zellkörpern enthalten dachte, mit dem Namen des Idioplasmas, d. h. einer das Wesen (die Gestalt eödos) bestimmenden Lebenssubstanz. Ich schicke dies hier schon voraus, und behalte mir die nähere Erklärung für später vor, wo ich Ihnen dann auch nach und nach alle die Tatsachen vorzu- führen gedenke, welche diese eben angedeutete Auffassung der „Uhro- matinkörnchen* als „Idioplasma*, oder wie wir auch sagen können, als „Verbungssubstanz“ begründen. Dab dieses „Chromatin" etwas ganz besonderes sein müsse, sehen wir schon aus den Vorgängen der Zell- und Kernteilung, wie ich sie Ihnen jetzt kurz schildern will. Wenn eine Zelle sich zur Teilung anschiekt, bemerkt man zuerst, dab die Chromatinkörnchen, die bisher zerstreut im Kernnetz verteilt lagen, sich einander nähern und sich zu einem langen und dünnen Faden aneinander reihen, welcher unregelmäßig durcheinander geschlungen einen lockeren Knäuel bildet, das sog. Knäuelstadium (Fig. 74. 2). Der Faden nimmt dann zu an Dicke, und etwas später erkennt man, daß er sich in eine Anzahl gleichlanger Stücke geteilt hat, etwa als ob man ihn mit der Schere in gleiche Stücke zerschnitten hätte (€). Diese Stücke oder Chromosomen verkürzen sieh dann durch langsame Zusammenziehung und nehmen dabei die Gestalt einer winklig gebogenen Schleife, eines geraden Stäbehens oder auch die eines rund- lichen, eiförmigen oder kugeligen Körpers an (Fig. 74, C chrs). Während dies geschieht, bemerkt man an einer Seite des Kerns, demselben dicht anliegend, eine blasse, längsstreifige Figur mit einer Anschwellung an beiden Enden, ähnlich einer Hantel, die sog. Kernspindel (459) oder 236 Vorgang der Kernteilung. Zentralspindel. vorher Fig. 74. Schema der Kernteilung, frei nach WILSON. A Ruhende Zelle mit Zellkörper (2%), Centrosphäre (cs?%), welche zwei Centrosomen enthält, Kernkörperchen (4%) und Chromosomen (chr), letztere im Kernnetz. zerstreut. - B Das Chromatin zu einem knäuelförmig gewundenen Faden vereinigt; Centrosphäre in zwei geteilt, Strahlen aussendend, die sie verbinden. C Kernspindel (45?) gewachsen, Strahlung stärker, Kernmembran (#2) in Auf- lösung, Chromatinband in acht gleiche Stücke geteilt (cArs); die Strahlen ergreifen die Chromosomen. — D Vollendete Kernspindel mit den beiden Centrosphären an den Polen (cspßh) und den acht Chromosomen (cArs) im Aquator der Spindel, alle bereits längsgespalten. E Tochter- ehromosomen auseinander gerückt, doch noch durch Fäden verbunden, ÜCentrosomen (cs) bereits verdoppelt für die nächste Teilung. Toechterchromosomen, vollständig auseinander gerückt, beginnen bereits Fortsätze zu treiben; Zellkörper in Teilung eingetreten. — G Ende des Tei- lungsvorgangs: zwei Tochterzellen /2 mit ähnlichem Kern- netz 72 und Centrosphäre, wie in 4 Dies ist der Teilungsapparat des Kerns, der schon da war als ein kleines, färbbares Körperchen, das „Centrosoma*, umgeben von einer hofartigen Schicht, der Centrosphäre oder schlechthin „Sphäre“. Man hat dasselbe lange Zeit hindurch übersehen, doch nimmt die Mehr- zahl der Forscher heute an, dab es, wenn auch sehr un- scheinbar und oft schwer sichtbar zu machen, doch in je- der teilungsfähigen Zelle vorhanden ist, dab es also einen dauernden und un- entbehrlichen Be- standteill der Zelle ausmacht (Fig. 74, A u..D.C5PR: Wenn eine Zelle sich zur Teilung an- schickt, so tritt dieses merkwürdige Zellor- gan, das vorher als ein bedeutungsloses blasses Kügelchen er- schien, in Tätigkeit und zwar zunächst dadurch, daß es sich — oft schon vor Bil- dung des Chromatin- knäuels — durch Tei- lung verdoppelt (4 u. Dcsp), zuerst nur das Centrosoma, dann auch die Sphäre (2), und daß nun während (lie Teilung vor sich geht, feine Protoplas- mastrahlen von der in Teilung begriffenen Sphäre ausgehen, die ähnlich einer Sonne frei in den Zellkörper ausstrahlen, und nur an den einander zu- eewandten Flächen der sich teilenden Sphärenhälften eine Verbindung zwischen sich er- halten, so also, dab man auch sagen könnte, es zögen sich zwischen _ Vorgang der Kernteilung. 237 den auseinander weichenden Hälften feine Fäden aus, die immer länger würden, je weiter die Hälften auseinander weichen. Auf diese Weise entsteht die vielgenannte „Spindelfigur“, die zuerst in den Unter- suchungen A. SCHNEIDERS, AUERBACHS und BÜTSCHLIS aus den 70er Jahren beschrieben wurde, deren Bedeutung und Herkunft aber die Arbeit zahlreicher späterer Beobachter bis zum heutigen Tag in An- spruch nahm. Die nun folgenden Vorgänge verlaufen nicht überall genau in der- selben Weise, das Wesentliche aber bleibt überall bestehen und liegt darin, daß die beiden Enden oder „Pole“ der Spindel noch weiter aus- einanderrücken und den Kern zwischen sich nehmen, dessen Membran nun schwindet (C, #2), während die Spindelfasern seinen Binnenraum durchsetzen. Zuweilen bleibt auch die Membran erhalten, und die Spindel- fasern durchdringen trotzdem den Binnenraum des Kerns. Immer aber ordnen sich nun die Chromosomen in der „Aquatorialebene* der Spindel (D, aeg) ganz regelmäßig an, ein Vorgang, dessen präzis arbeitende Mechanik noch keineswegs ganz aufgeklärt ist, wie denn überhaupt das Spiel der Kräfte in dem ganzen Prozeß der Kernteilung unserer Ein- sicht nur unvollkommen noch erschlossen ist. So haben wir denn jetzt eine blasse und auch nur schwach färb- bare spindelförmige Figur vor uns mit den Sonnen (cs) an ihren „Polen“ (2) und in der Aquatorialebene derselben die schleifen-, stäb- chen- oder kugelförmigen Chromosomen (chrs). Das Ganze bezeichnet man als die „karyokinetische‘“, die „mitotische“ oder die „Kern- teilungs*-Figur. Sinn und Bedeutung dieser anfangs rätselhaften Figur werden durch das nun Folgende sofort klar. Wenn nicht schon lange vorher, so be- merkt man nämlich jetzt, daß jedes der Stäbehen oder Schleifen sich der ganzen Länge nach, etwa wie ein Scheit Holz, gespalten hat, und dab diese Spalthälften anfangen, langsam und unmerklich auseinander zu rücken, eine Hälfte gegen diesen, die andere gegen den anderen Pol der Spindel hin (Fig. D u. Z£). Unmittelbar vor dem Üentrosoma machen sie Halt, und nun ist das Material für die beiden Tochterkerne an Ort und Stelle (7, cArs), und diese selbst bilden sich dann rasch aus, indem eine jede der Chromosomengruppen sich mit einer Kern- membran umgibt (Fig. @), innerhalb deren die Chromosomen sich nach und nach wieder in ein Kernnetz umwandeln, in welchem die eigentliche Chromatinsubstanz nur in vielfacher Zerteilung enthalten ist, in kleinen rundlichen oder eckigen Stückchen, die hauptsächlich an den Kreuzungs- punkten des Kernnetzes lieeen. Es mag hier gleich gesagt sein. was später erst in seiner vollen Bedeutung gewürdigt werden kann, daß wir mit Wahrscheinlichkeit annehmen dürfen, diese Auflösung der Chromo- somen sei eben nur eine scheinbare, in Wirklichkeit aber beständen diese Stäbchen oder Kugeln auch im Kernnetz noch fort, nur in anderer Form, gewissermaßen ausgebreitet, wie ein Wurzelfüßer etwa, der nach allen Seiten hin feine Fortsätze ausstreckt, die sich verästeln und anasto- misieren und den vorher massigen Körper als ein feines Netzwerk er- scheinen lassen. In der Tat beobachtet man direkt. wie die Chromo- somen nach Vollendung der Kernteilung im Tochterkern spitze Fortsätze aussenden (/ u. @), die allmählich länger werden und sich verzweigen, während die Hauptmasse der Chromosomen sich immer mehr verkleinert. Es ist also wahrscheinlich, daß aus dem Kernnetz eines solchen Tochter- kerns, wenn er später von neuem zur Teilung schreitet, durch Zusammen- 238 Vorgang der Kernteilung. ziehungen gewissermaßen der Pseudopodien der Chromosomen wieder dieselben Stäbchen oder Kugeln hervorgehen, aus welchen das Kern- netz früher entstanden war. Sie werden später noch bestimmtere Gründe für diese Auffassung kennen lernen. ‚Jedenfalls bestehen die Chromo- somen auch im kompakten stäbehenförmigen Zustand aus zweierlei Sub- stanz, dem eigentlichen stark färbbaren Chromatin und dem schwer färbbaren Linin, welch letzteres bei der Auflösung den blassen Teil des Kernnetzes bildet. So begreift man, daß die Zahl der Chromosomen durch alle Zellgenerationen der Entwicklung hindurch immer dieselbe bleiben kann, wie sie denn auch bei allen Individuen einer Art dieselbe ist. Man kennt diese Ziffer bereits für viele Arten: bei manchen Würmern finden sich nur 2 oder auch 4 Chromosomen, bei anderen verwandten Würmern deren 8, bei Heuschrecken deren 12, bei einem Meereswurm, Sagitta, 18, bei der Maus, dem Salamander, der Forelle und der Lilie 24, bei manchen Schnecken 32, bei den Haien 36 und bei Artemia, einem kleinen Salzwasserkrebs, 1856 Chromosomen; beim Menschen sind die Chromosomen so klein, daß ihre Normalziffer nicht ganz sicher steht; man hat 16 gezählt. Alle diese Zählungen kann man nur während der Kernteilung machen, da nachher die Chromosomen im Kernnetz ununterscheidbar zusammen oder besser auseinander fließen, um aber sofort wieder in der alten Zahl und Gestalt zu erscheinen, sobald der Kern wieder in Teilung eintritt. Es bleibt noch nachzuholen, was aus der Centrosphäre wird bei der Zellteilung. Sobald die Bildung der Tochterkerne eingeleitet ist durch Auseinanderdrücken der Schleifen-Spalthälften, bildet sich die Spindelfigur zurück. ihre Fasern verblassen und verschwinden allmählich, wie überhaupt der ganze Strahlenhof der Centrosphäre (Fig. Zu. @). Der Zellkörper hat sich nun auch geteilt und zwar in der Aquatorial- ebene der Kernspindel, und das Centrosoma bleibt als ein meist sehr unscheinbares, blasses Körperchen dieht am Kern im Zellkörper liegen, um zu neuer Tätigkeit erst zu erwachen, wenn von neuem Zellteilung eintreten soll (@. cspA.) Das sind in kurzer Zusammendrängung die merkwürdigen Vorgänge der Kernteilung. Ihre Wirkung ist klar, die chromatische Substanz wird durch sie in der denkbar genauesten Weise auf die beiden Tochter- kerne verteilt. Nicht so einfach ist es, die Mechanik dieser Verteilung zu be- greifen, und verschiedene Theorien stehen sich hier gegenüber. Nach der älteren Ansicht E. van BENEDENSs wirken die Spindelfasern wie Muskeln und ziehen durch Verkürzung die ihnen anhaftenden Hälften der Chromosomen gegen die Pole hin. während die übrigen von den Polköpern ausstrahlenden Fasern als Stemm- und Stützelemente wirken. Diese Ansicht hat auch heute noch, wenn auch in mancherlei Modifi- kationen ihre Vertreter, und M. HEIDENHAIN besonders hat sie in be- merkenswerter Weise zu begründen und ins Einzelne auszuarbeiten ver- sucht. Ihr gegenüber steht die Ansicht derer, welche wie OÖ. HERTWIG, BürscHLı, HÄCKER und andere die Strahlen überhaupt nicht für etwas in der Zelle schon Vorgebildetes halten, sondern für den Ausdruck von Orientierungen gewisser Protoplasmateilchen. die durch Kräfte hervorge- rufen werden, welche in den Centralkörpern ihren Sitz haben und nach Art von magnetischen oder elektrischen Kräften wirken. Daß die Central- u H % — Der Befruchtungsvorgang. 239 körper Anziehungsmittelpunkte sind, scheint auch mir kaum zweifelhaft, und ebenso wenig. dab es sich bei der so regelmäßigen Anordnung der Chromosomen in der Äquatorialebene der Spindel nicht bloß um ein einfaches Klebenbleiben an kontraktilen Fasern handeln kann, sondern daß dabei chemotaktische oder sonstige, uns noch unbekannte Kräfte wirksam sein müssen. Wir werden später noch die Erscheinung des im Eı wandernden Spermakerns kennen lernen, welchen sein Centralkörper samt Strahlensonne begleitet. und mit Recht scheint mir HÄcKEr daraus allein schon auf die momentane Entstehung der Strahlen durch die in dem Centralkörper gelegenen Kräfte zu schließen. Doch ist ohne Zweifel auch diese »dynamische« Erklärung der Karyokinese noch im Stadium der Ahnungen und Analogieschlüsse, und noch weit entfernt von be- stimmter Erkenntnis der wirkenden Kräfte. Für die Fragen, welche uns hier vor allem angehen, die Verer- bungsfragen, genügt es zu wissen, daß die Zellen der Vielzelligen einen äußerst komplizierten Teilungsapparat besitzen, dessen Hauptbedeutung darin liegt, daß durch ihn die chromatischen Einheiten des Kernes in genau zwei gleiche Hälften geteilt. und so voneinander gesondert werden können, daß je eine Spalthälfte den einen, die andere den anderen Tochterkern bildet. Es wird dabei nicht nur eine genaue Massenteilung des gesamten Chromatins bewirkt, wie sie ja auch auf viel einfachere Weise hätte bewirkt werden können, sondern eine gesetzmäbßige Ver- teilung der verschiedenen Qualitäten des Chromatins, wie später gezeigt werden soll. Hier sei nur noch betont, daß diese Spaltung der Chromosomen nicht etwa auf äußeren Kräften beruht, sondern auf inneren, in dem Bau und den während des Wachstums eintretenden gesetzmäßigen Än- ziehungen und Abstoßungen seiner Teilchen. Die Chromosomen spalten sich nicht wie ein Stamm, der durch einen Keil gesprengt wird, sondern eher wie ein Baum, den der Frost auseinander reibt. d. h. das in ihm selbst enthaltene gefrierende Wasser. Ich halte diese Erkenntnis für eine bedeutsame, wenn wir auch die Kräfte noch nicht kennen, welche hier walten, und zwar deshalb, -weil sie uns zu dem Schluß einer sehr komplizierten Struktur der Chromosomen leiten, zu dem Schluß, daß die Chromosomen gewissermaßen eine Welt für sich sind, daß sie einen unendlich feinen und verwickelten, wenn auch unsichtbaren Bau haben, in welchem eigene chemisch-physi- kalische Kräfte die gesetzmäßigen Veränderungen hervor- rufen, die wir an ihnen beobachten. Sie werden später sehen, daß wir noch von ganz anderer Seite, nämlich von den Vererbungserscheinungen aus auf denselben Schluß hingewiesen werden. Wir werden dann er- kennen, dab die stab- oder schleifenförmigen Chromosomen nieht ein- fache Elemente sein können, sondern zusammengesetzt sind, aus einer linear angeordneten Reihe von 10, 20 oder mehr kugelförmigen Einzelehromosomen, deren jedes eine besondere Art des Chroma- tins, d. h. der Vererbungssubstanz darstellt. Erwägt man dies, so ist es klar, daß sich kaum ein Modus der Kernteilung ausdenken liebe, der den Zweck, jeder dieser vielen verschiedenen Chromatinurten in gleicher Menge jedem der beiden Tochterkerne zukommen zu lassen, so exakt und sicher ausführte, als der tatsächlich von der Natur geschaffene Teilungsmechanismus. Die Längsspaltung «der Stäbchen halbiert jedes der Chromosomen, und der Spindelapparat sichert die richtige Verteilung der Spalthälften auf die beiden Tochterkerne. BEN) Der Befruchtungsvorgang. Soviel ist jedenfalls gewiß, daß der höchst komplizierte Mechanis- mus für die „mitotische* Kernteilung nicht entstanden wäre, wenn es sich hier nicht um die sehr genaue Teilung einer Substanz von her- vorragender Bedeutung handelte, und in diesem Schluß liegt der erste Hinweis auf die Deutung der chromatischen Substanz als Träger der Vererbungstendenzen. Wir kennen jetzt den Zellkern und seinen Teilungsapparat und sind damit hinreichend vorbereitet, um die Erscheinungen der „Befruch- tung“ in Angriff zu nehmen, Vorgänge, die sich wesentlich um das Ver- halten von Zellkernen drehen, denn schon die ersten von O. HERTWIG gemachten Beobachtungen über das Verhalten des ins Ei eingedrungenen Zoosperms ließen vermuten, dab es sich hier im wesentlichen um die Vereinigung zweier Kerne handle, und die zahlreichen späteren, immer tiefer eindringenden Forschungen haben es bis zur Evidenz bewiesen, daß die sog. „Befruchtung“ im wesentlichen eine Kernver- schmelzung ist. Beginnen wir mit den Beobachtungen O0. HERTwIGs am Ei des Seeigels. Man kann bei diesen Tieren die aus den Eierstöcken eines Weibchens frei gemachten Eier leicht künstlich befruchten, indem man sie mit dem von männlichen Tieren entnommenen, mit Seewasser ver- dünnten Samen übergießt. Während nun vorher in den Eiern nur ein Kern zu bemerken ist, zeigen sich kurz nachher zwei kernartige Ge- bilde von ungleicher Größe im Innern des Eies, deren kleinerer von einem Strahlenkranz umgeben erscheint. Mit Recht deutete HERTWIG diesen kleineren Kern als den umgewandelten Rest des eingedrungenen Samenfadens, der sich dann langsam dem Kern des Eies nähert, um sich schließlich dieht an ihn anzulegen und mit ihm zum „Furchungs- kern“ zu verschmelzen. Von diesem geht nun der sog. „Furchungs- prozeß“ des Eies aus, d. h. die fortgesetzte Zweiteilung der Eizelle, welche schließlich zur Bildung eines geordneten Haufens von Zellen führt, der sich dann unter fortgesetzter Zellvermehrung weiter zum Embryo aufbaut. So einfach nun auch dieser Vorgang der Kernkopulation zu sein scheint, so war er doch keineswegs so leicht zu erkennen, und mehrere Forscher, vor allem AUERBACH, SCHNEIDER und BÜTSCHL hatten Stadien dieses Vorgangs schon früher an anderen Eiern (Nematoden) gesehen, ohne doch schon die richtige Auslegung der Erscheinungen finden zu können. Das rührte hauptsächlich daher, daß neben den eigentlichen Befruchtungserscheinungen, wie wir sie eben kurz skizziert haben, noch andere Kernveränderuugen am reifenden Ei vor sich gehen, die nicht so leicht von jenen zu trennen waren: die Erscheinungen der sog. „Eireifung“. Wenn die Eizelle auch bereits ihre volle Größe im Ovarium erlangt hat. so ist sie doch noch nicht befruchtungs- fähig, sondern sie muß noch eine zweimalige Teilung durchmachen, zu deren richtigem Verständnis gerade die HERTwIGschen Untersuchungen, wie auch etwas spätere von FoL vieles beigetragen haben. Schon seit langer Zeit hatte man kleine, glänzende Körperchen besonders bei den Eiern von Muscheln und Schnecken beobachtet, welche an dem einen Pol aus dem Ei hervortreten, kurz ehe die Embryonal- entwicklung beginnt. Man nannte sie „Richtungskörperchen‘“, weil man glaubte, sie bezeichneten die Stelle, an welcher später die erste Teilungs- ebene durchschneidet; man wußte damals nur, daß sie aus dem Ei aus- Die Eireifung. 24] getreten sein müssen, ohne aber im entferntesten ihre wirkliche Natur auch nur zu ahnen. Wir wissen heute, daß es Zellen sind, und daß ihre Bildung auf einer zweimaligen Teilung der Eizelle beruht, freilich auf einer sehr ungleichen, indem diese „Richtungszellen“ immer viel kleiner sind, als die Eizelle, ja meistens so klein, dab es sehr begreiflich erscheint, wie man ihre Zellnatur solange verkennen konnte. Dennoch haben sie immer einen Zellkörper, und bei manchen Eiern, z. B. solchen von ge- wissen Nachtschnecken des Meeres, ist dieser sogar ganz ansehnlich, und ebenso haben sie immer einen Kern, ja dieser Kern ist trotz der Kleinheit des Zellkörpers doch in allen Fällen genau ebenso groß als der Schwesterkern, der bei der Teilung im Ei zurückbleibt, eine Tatsache, die schon darauf hindeutet, daß es sich hier wesentlich um Umgestaltungen und Veränderungen am Kern des Eies handelt. Schon lange, ehe man die „Richtungsteilungen“ als Teilungen der Eizelle erkannte, wußte man, daß der Kern des Eies verschwindet, sobald dasselbe seine volle Größe im Eierstock erreicht hat. Man wußte auch. daß dieser Kern, das große im Mittelpunkt des Eies gelegene sog. „Keimbläschen“ (Fig. 69 #) dann seine zentrale Lage aufgibt und an die Oberfläche des Eies emporsteigt, um dort blasser und blasser zu werden und schließlich ganz dem Auge des Beschauers zu ver- schwinden. Manche glaubten, es löse sich auf, und der später doch vorhandene „Furchungskern“ sei eine Neubildung — die Wahrheit ist, dab das Keimbläschen sich zur Zeit seines Verschwindens in eine ohne künstliche Färbung unsichtbare Teilungsfigur umwandelt. Die Kern- membran löst sich auf, das Centrosoma der Eizelle, welches, wenn auch kaum erkennbar, vorher schon neben dem Keimbläschen gelegen hatte, teilt sich in zwei Centrosomen und deren Centrosphären, und diese bilden nun. indem sie auseinander rücken und ihre Protoplasmastrahlen aussenden, die „mitotische Figur“. Diese Kernspindel stellt sich bald senkrecht zur Eioberfläche, die sich zugleich hügelartig vorwölbt, und ball kommt es zur Bildung zweier Tochterkerne, von denen der eine in jenem sich vorwölbenden Hügel liest (Fig. 75. A. R%1) und sich bald völlig abschnürt vom Ei, umgeben von einer geringen Menge von Zellsubstanz. Der andere Tochterkern bleibt im Ei liegen, beide Tochter- kerne aber gelangen nun nicht gleich zur Ruhe, sondern beide wandeln sich sofort wieder zu einer Spindel um und teilen sich nochmals: die kleine erste „Richtungszelle* schnürt sich in zwei halb so große „sekun- däre Richtungskörperchen“ ab (3, RA1), während die im Ei liegende Kernspindel eine zweite Teilung der Eizelle einleitet (3, R%2), deren ungleiche Produkte die zweite Richtungszelle und das defini- tive, d.h. befruchtungsfähige Ei sind. Damit ist dann dieser Vor- gang abgschlossen, die Eizelle, die nur sehr wenig Material an die „Rich- tungskörper“ verloren hat, und nicht sichtbar kleiner geworden ist, hat nun einen Kern bekommen (2, Zr), der durch die rasch hintereinander sich folgenden beiden Teilungen erheblich verkleinert und, wie wir späteı sehen werden, auch innerlich verändert worden ist: in seinem jetzigen Zustand ist er „reif, d. h. er vermag nun die Verbindung mit dem Kern einer männlichen Keimzelle einzugehen, welche wir als das Wesent- liche des Befruchtungsprozesses erkannt haben. Diese Vorgänge der „Eireifung* kommen allen tierischen Eiern zu, welche befruchtungsbedürftig sind, und verlaufen überall fast genau in derselben Weise, nur daß in vielen Fällen die nachträgliche Teilung Weismann, Deszendenztheorie. I. 2. Aufl. 16 942 Der Befruchtungsvorgang. des ersten Richtungskörpers unterbleibt, so daß dann also im ganzen nur zwei Richtungskörper gebildet werden. Diese ganzen Vorgänge haben direkt mit der Befruchtung nichts zu tun, aber erst durch sie wird das Ei befruchtungsfähig. Dies hindert indessen nicht, daß nicht das Zoosperm schon vorher in das Ei eindringt, vielmehr ist das sogar meistens der Fall (Fig. 75. A, s/). und dann wartet dasselbe ruhig, bis auch die zweite Richtungsteilung .des Eies ihren Ablauf genommen hat und benutzt diese Zeit, um sich in der für die Kernkopulation nötigen Weise umzuwandeln. Nur bei wenigen Arten, z. B. bei den Seeigeln kommt es vor, dab das Ei schon im Ovarium, also bevor es noch mit Samen in Berührung kommt, die Richtungsteilungen vollständig durchläuft. Um Sie nun tiefer in die Vorgänge der Befruchtung einzuführen, scheint mir immer noch das durch Ep. van BENEDENS klassische Unter- suchungen berühmt gewordene Ei des Pferdespulwurms, Ascaris me- galocephala, das beste Beispiel zu sein. Viel günstige Umstände ver- einigen sich hier, um das Wesentliche des Vorgangs deutlich erkennen zu lassen. Die Befruchtung findet hier im Innern des weiblichen Kör- pers statt und zwar in einem erweiterten Abschnitt des Eileiters. in welchem sich bei einem reifen Weibchen stets eine Anzahl der sonder- baren kleinen Samenzellen befindet: es sind keine fadenförmigen, sondern eher sphäroide Zellen, die aber einen Aufsatz tragen, ähnlich einem spitzen Horn (Fig. 75, A, sp). Kommt eine solche Samenzelle mit der Oberfläche eines Eies in Berührung, so bildet sich an der berührten Stelle ein Wulst. an den sich die Samenzelle fest anhängt und durch den sie in das Ei hineingezogen wird. Ohne Zweifel wirken hierbei amöboide Bewegungen der Samenzelle selbst mit, wie man dies bei den oben besprochenen großen Samenzellen mancher Daphniden auf das deutlichste sehen kann. Beim Ei des Spulwurms erblickt man bald die ganze Samenzelle samt Kern im Innern des Eikörpers, und nun ver- ändert sie sich rasch. Ihr ganzer Körper wird blaß und blässer und verschwindet zuletzt, während der Kern bläschenförmig wird und bald zu bedeutender Größe heranwächst (Fig. 75, 2, sß%). Inzwischen hat sich auch der Rest des Keimbläschens, der nach der zweiten Richtungs- teilung im Ei zurückgeblieben war (2, £7%), zu einem großen bläschen- förmigen Kern (C, © %) umgestaltet, der beim Ascarisei, wie auch der Spermakern zuerst noch ein Kernnetz mit unregelmäßigen Chromatin- stücken enthält. Später bildet sich dann daraus in der bekannten Weise ein knäuelartig gewundenes Band, das sich zuletzt in zwei große und relativ dicke winkelig gebogene Schleifen teilt (Fig. 75, Cu. D, chr). Zugleich hat sich auch ein Kernteilungsapparat in dem Raum zwischen den beiden Kernen, dem sog. weiblichen und männlichen „Vor- kern“ (31 %, 2 %) entwickelt, zwei Centrosphären werden, sichtbar (csf%), die zuerst nahe beisammen liegen, dann aber weiter auseinander rücken (D), um die Pole einer Kernspindel zu bilden, in deren Äquatorialebene nun die zweimal zwei Chromosomen des männlichen und weiblichen Vorkerns eintreten (£). Die Kernmembranen schwinden, uud beide Kerne verschmelzen zusammen zu einem Kern: dem Furchungskern (2). Es bildet sich nun eine Teilungsspindel, die die erste embryonale Zelltei- lung einleitet (Z) und damit zugleich den Beginn der „F urchung“ des Eies; jede der vier Kernschleifen spaltet sich der Länge nach, und je eine der Spalthälften wandert nach dem einen, die andere nach dem anderen Tochterkern (7). Da sich nun diese selbe Art der Verteilung Der Befruchtungsvorgang. 243 der Chromatinsubstanz bei jeder folgenden Zellteilung der Embryoge- nese, überhaupt der ganzen Ontogenese, wiederholt, so ergibt sich da- raus. daß die Befruchtung den Erfolg hat, daß in dem neuen, aus dem Ei sich entwickelnden Tier in allen Zellen seines Körpers gleich viel Chromatin väterlichen wie mütterlichen Ursprungs ent- halten ist. Wenn wir mit Recht die Cromatinsubstanz als Vererbungs- substanz betrachten, so leuchtet sofort ein, von welcher Tragweite diese Fig. 75. Be- fruchtungsvor- gangbeiAscaris megalocepha- la, dem Pferde- spulwurm, frei nach BOVvERI und VAN BENE- DEN. AEiin der ersten Rich- tungsteilung be- griffen; Rkı er- ster Richtungs- körper ;sö Samen- zelle mit zwei Chromosomen im Kern; auf dem Ei festhaftend und im Begriff in das- selbe einzudrin- gen ;einehügelige Erbebung des Ei- protoplasmas kommt ihr ent- gegen. — 2 Die zweite Richtungs- teilung ist vollen- det: RA 2 das zwei- te Richtungskör- perchen, Z7% der Eikern. Das erste Richtungskörper- chen (kr) in zwei Tochterzel- len geteilt; 52% der von der Sa- menzelle allein noch sichtbare Kern nebst seiner Centrosphäre (cr). — C Spermakern (2%) und Eikern (9%) gewachsen, je zwei schleifenförmige Chromosomen in jedem; nur der männliche Kern besitzt eine Cen- trosphäre, die sich bereits in zwei geteilt hat (cs?A). — 2 Die beiden Kerne liegen aneinander zwischen den Polen der Kernspindel. — Z Die vier Chromosomen der Länge nach gespalten, die Spindel zur ersten Teilung des Eies (Furchungsspindel fsp) ist gebildet. — 7 Auseinanderrücken der Tochterchromosomen; Teilung der Zellen in die zwei ersten Furchungs-(Embryonal-)Zellen. gleichmäßige Verteilung ist, denn sie sagt uns, daß der sog. Befruch- tungsvorgang, die Verbindung des gleichen Quantums väter- licher und mütterlicher Vererbungssubstanz ist. Wir kennen heute den Befruchtungsvorgang in allen seinen Einzel- heiten bei einer großen Zahl von Tieren aus den verschiedensten syste- matischen Gruppen: er ist im Wesentlichen überall derselbe; überall ist es nur eine Samenzelle, welche normalerweise die Verbindung mit 16* 44 Der Befruchtungsvorgang. dem Eikern eingeht. überall bildet sich aus dem Kern der Samenzelle, mag er anfänglich noch so winzig sein, ein nahezu oder genau dem Ei- kern gleichgroßer Kern, und überall enthält derselbe die gleiche Zahl von Chromosomen, wie der Eikern. Von ganz besonderem Interesse aber ist der Umstand, daß diese Zahl immer die Hälfte von der Chromosomenzahl ist, welche die Körperzellen des betreffen- den Tieres aufweisen, und daß die Herabsetzung der Chromosomen- zitter auf die Hälfte bei männlichen wie weiblichen Keimzellen durch die letzten Teilungen bewirkt wird, welche dem Reifezustand dieser Zellen vorhergehen. Bei dem Ei sind dies die Richtungsteilungen, die wir deshalb noch einmal ins Auge fassen müssen und zwar speziell in bezug auf die Zahl der Chromosomen. J 200,0 ß ru LT ILS re ° 0”. oo Sei [) Fig. 76. Schema der Reifeteilungen der Eizelle 4 Urkeimzelle. 2 Ei- mutterzelle, durch Wachstum und Verdoppeluug ihrer Chromosomen entstanden. C Erste Reifeteilung. 2 unmittelcar nachher, A r erste Richtungszelle. Z Die zweite Reifespindel gebildet, die erste Richtungszelle in zwei geteilt (2 u. 3), die vier im Ei zurückgebliebenen Chromosomen liegen in der zweiten Richtungsspindel. F Unmittelbar nach der zweiten Reifeteilüng: z die fertige Eizelle, 2, 3 u. 4 die drei Richtungszellen, jede der vier Zellen je zwei Chromosomen enthaltend. Wir sahen, daß im ausgewachsenen Ei des Ovariums das Keim- bläschen an die Oberfläche steigt und sich dort in die erste Richtungs- spindel umwandelt. Diese nun zeigt in ihrer Aquatorialebene die dop- pelte der für die betreffende Art normalen Zahl der Chro- mosomen. Diese Verdoppelung ist nicht etwa gerade jetzt unmittel- bar vor der Kernteilung erfolgt, sondern viel früher in der noch jungen Eimutterzelle. und nur in dieser zeitlichen Verschiebung des Spaltungs- . prozesses der Chromosomen liegt etwas Ungewöhnliches. Die erste teifungsteilung selbst erfolgt trotzdem nach dem gewöhnlichen Schema der Kernteilung, sie ist, wie ich mich ausdrückte, eine „Aquationstei- Reifeteilungen der Eizelle. 245 lung“, d. h. die Tochterkerne bekommen wieder dieselbe Zahl von Chromosomen, welche auch die Mutterzelle ursprünglich gehabt hat, nämlich die Normalziffer der Art. Wenn also die junge Muttereizelle vier Chromosomen hatte (Fig. 76. A). so verdoppelt sich zwar deren Zahl schon früh auf acht (2). aber die erste Reifungsteilung führt jedem der beiden Tochterkerne wieder vier zu (C u. 2). Bei der zweiten Reifungsteilung verhält sich dies anders, indem hier eine Spaltung und Verdoppelung der Chromosomenzahl überhaupt nicht eintritt, sondern die vorhandene Zahl der Chromosomen durch Ver- teilung auf die beiden Tochterkerne in jedem derselben auf die Hälfte reduziert wird Zu. 7. Aus diesem Grund habe ich sie eine „Re- duktionsteilung“ genannt: in unserem Beispiel würde also das Ei so- wohl. als die zweite Richtungszelle nur noch zwei Chromosomen ent- halten (Fig. 76. 7). Auf die Einzelheiten des Vorgangs kann ich hier nicht eingehen, wo nur das wesentliche, nicht das einzelne, gewissermaßen zufällige be- sprochen werden soll, wohl aber muß ich hervorheben, daß derselbe Vorgang der Reduktion der Chromosomenzahl in dieser oder doch in ähnlicher Weise bei dem Ei aller Tiere vorkommt und auch für die meisten Hauptgruppen des Pflanzenreichs nachgewiesen werden konnte. Mag es auch sein, was von manchen Seiten behauptet wird, daß die Reduktion nicht immer erst durch die „Reifungsteilungen“ erfolgt, sondern in manchen Fällen schon früher, in der Ureizelle*), so ist doch soviel sicher, daß die zur „Befruchtung“ zusammentreffenden Kerne nur die Hälfte der Normalziffer der Chromosomen enthalten, und zwar nieht nur der Eikern sondern auch der Spermakern. Fußend auf allgemeinen Erwägungen, vor allem auf der Anschau- ung, welche in den Chromosomen die Vererbungssubstanz sieht, hatte ich schon vor vollkommner Erkenntnis der Reifungserscheinungen des Eies, den Schluß gezogen, daß hier eine Herabsetzung der Chromo- somenzahl auf die Hälfte stattfinden müsse und eine ähnliche „Reduk- tionsteilung“ auch für die Samenzelle, ferner wie für die Tiere, so auch für die Pflanzen, ja überhaupt für alle geschlechtlich sich fortpflanzenden Lebensformen postuliert. Für die Samenzelle wurden dann die beiden der Riehtungskörperbildung entsprechenden Teilungen nebst ihrer Re- duktion der Chromosomen durch Oscar HERTWIG nachgewiesen, und zwar an dem für die ganze Befruchtungslehre so bedeutungsvollen Pferde- spulwurm, Ascaris megalocephala. Allerdings tritt gerade hier der Gang der Reduktionserscheinungen weniger unzweideutig hervor, als bei anderen, später untersuchten Formen, z. B. bei der Maulwurfsgrylle und den Wanzen. Hier ließ sich aber jedenfalls eine völlig entsprechende Re- duktionsteilung nachweisen, wie bei der Eizelle, und dieser Nachweis wurde dadurch noch besonders wertvoll, daß die Entwicklung der Samen- zelle, wie Sie gleich sehen werden, ein ganz neues Licht auf diejenige der Eizelle wirft, vor allem auf die phyletische Bedeutung der Rich- tungskörper. Wir begannen die Betrachtung der Reduktionsvorgänge mit der ausgewachsenen Eizelle, gehen wir aber jetzt zurück bis auf die erste Anlage des Eierstocks im Embryo, so besteht derselbe aus einer Ureizelle, aus der alle späteren Eizellen durch Teilung hervorgehen. Ebenso wird die erste Anlage des Spermariums durch eine Ursamen- *, Siehe die Besprechung dieses Punktes in Vortrag NAT. 246 Der Befruchtungsvorgang. zelle gebildet, die sich von der Ureizelle sichtbarlich nicht unterscheidet. Beide nun vermehren sich durch Teilung eine geraume Zeit hindurch, worauf dann beim Ovarium die Periode des Wachstums folgt, während welcher die Vermehrung aufhört, aber jede der Eizellen bedeutend größer wird und Dotter in sich ablagert. So erreicht jede von ihnen schließ- lich den Zustand, von dem wir vorhin ausgingen, den der herangewachsenen Eimutterzelle. Wenn nun auch die Ursamenzellen ein so gewaltiges Wachstum, wie («ie Eizellen nicht durchmachen, so besitzen doch auch sie eine Wachstumsperiode, während deren eine weitere Vermehrung durch Tei- lung aufhört, und die Zellen nur an Größe zunehmen (Fig. 77, A). Wenn sie dann ihr Maximum an Größe erreicht haben, zeigt sich auch die Zahl der Chromosomen durch Längsspaltung aufs doppelte vermehrt, so in dem Schema Fig. 77, 2 von vier auf acht. Von diesen „Samen- 0209 0060 o oo 0000 on 00050 00006 o& s o 98 o „00099 000 00 EIS oO, 2.90 Fig. 77. Schema der Reifeteilungen der Samenzelle 4 Ursamenzelle 2 Muttersamenzelle. C Erste Reifeteilune. 2 z u. 2 Die beiden Tochterzellen. Z die zweite Reifeteilung, durch welche die vier Zellen von 7 entstehen, jede mit der halben Zahl der Chromosomen, nämlich zwei. Frei nach ©. HERTWIG. mutterzellen“ nun entspringen durch zwei rasch aufeinander folgende Teilungen (C— 7) vier Samenzellen, und es vollzieht sich dabei die- selbe Reduktion der Chromosomenzahl auf die Hälfte, wie bei den Rich- tungsteilungen der Eizelle; bei der ersten Teilung gelangen vier Chro- mosomen in jede Tochterzelle (Z2), bei der zweiten deren zwei (Z). Der einzige wesentliche Unterschied zwischen den entsprechenden Vor- eängen beim Ei und der Samenzelle liest nur darin, daß die Teilungen (der sog. Spermatocyten oder Samenmutterzellen gleiche sind, so daß also vier gleich große Enkelzellen daraus hervorgehen, während bei den Eimutterzellen oder „Ovocyten* die Teilungen sehr ungleich sind; bei ersteren besteht das Resultat der Teilungen in vier befruchtungsfähigen Samenzellen, bei den letzteren in einer befruchtungsfähigen Eizelle und drei winzigen „Richtungszellen“, welehe unfähig sind, sich mit einer Samenzelle zu verbinden und ein neues Individuum hervorzubringen. Reifeteilungen. 247 Es leidet also keinen Zweifel, daß die Richtungszellen, wie es MARK und BÜTScHLI schon längst vermutet hatten, abortive Eizellen sind, d. h. daß in weit zurückliegender Zeit der Entwicklung des Tier- stamms jede der vier Nachkommen einer Muttereizelle zur entwicklungs- fähigen Keimzelle wurde. Es ist auch unschwer zu erraten, dab die ungleiche Teilung, welche heute zu einer ganz ungenügenden Kleinheit dreier dieser Abkömmlinge führt, Hand in Hand mit der immer mehr gesteigerten Größe der reifen Eizelle sich ausbildete und ihren Grund darin hatte, daß es vor allem darauf ankam, möglichst viel Protoplasma und Dotter im Ei aufzuhäufen. Wir haben ja früher gesehen, daß dazu in vielen Fällen sogar die Auflösung einesteils der Schwesterzellen des Eies in Anspruch genommen wird, daß das Ei von nährenden Follikel- zellen eingehüllt wird, kurz daß demselben auf jede denkbare Weise Nahrung in größtmöglicher Menge zugeleitet und es dadurch zu einer Größe emporgeführt wird, wie sie eine einzelne Zelle bei der gewöhn- lichen Ernährung vom Blut aus nicht erreichen könnte. Wir begreifen also, daß die Natur — um mich bildlich auszudrücken — womöglich ihr Werk nicht wieder zerstören wollte, indem sie das auf allerhand Schleichwegen in der Muttereizelle glücklich angehäufte Nährmaterial zuletzt dann doch noch auf vier Eier verteilte. Sie werden mir aber die Frage entgegenhalten: Warum denn diese ganz überflüssigen Zellteilungen bis heute noch beibehalten, warum sie nicht längst aufgegeben worden sind, wenn sie doch nur zur Bildung dreier dem Untergang bestimmter Abortiveier führen konnten oder sollten ? Oder sind sie nur noch „Rudimente*“, Vorgänge, die bedeutungslos an und für sich, gewissermaßen nur noch nach dem Prinzip der Trägheit sich erhalten? Gewiß besitzt dieses Prinzip auch in der lebenden Natur in gewissem Sinn und Umfang seine Gültigkeit: ein Vorgang, der sich durch lange Reihen von Generationen hindurch regelmäßig wiederholt hat, hört nicht sofort auf, sich abzuspielen, wenn er für den betretfenden Organismus keinen Nutzen mehr hat: das Auge der Tiere, die in licht- lose Tiefen ausgewandert sind, schwindet nieht sofort und spurlos, sondern es bildet sich nur sehr allmählich, erst im Laufe langer (Grenerationsfolgen zurück, und so konnte man wohl.-die Ansicht verteidigen, dab diese „Richtungs- oder Reifeteilungen des Eies* reine phyletische Remi- niszenzen ohne aktuelle Bedeutung seien. Ich kann aber dieser Meinung nicht beitreten. Wäre es wirklich so, dann müßten wir erwarten, daß die Bildung der Richtungszellen nicht überall in nahezu der gleichen Weise heute noch erfolgte, denn alle rudimentären Teile und Vorgänge variieren stark: wir müßten erwarten, daß bei manchen Tiergruppen Richtungsteilungen nieht mehr, oder viel- leicht nur in halber Zahl vorkämen. Dem ist aber nicht so: bei allen Vielzelligen, von den niedersten bis zu den höchsten treten zwei Reife- teilungen auf und immer in nahezu derselben Weise mit Ausnahme einer einzigen Kategorie von Eiern. auf die ich sogleich zu sprechen komme. Wir werden später sehen, dab sogar bei den Einzelligen analoge Vorgänge beobachtet wurden. Es läßt sich aber auch verstehen, daß diese zweimalige Teilung der Eimutterzelle notwendig ist, falls nämlich nur dureh sie die Herab- setzung der Chromosomenzahl auf die Hälfte möglich war, denn diese Herabsetzung ist unerläßlich. Enthielte jede der beiden kopu- lierenden Keimzellen die volle Normalzahl der Chromosomen, so würde im Furchungskern die doppelte Zahl enthalten sein, und ginge das so 248 Der Befruchtungsvorgang. fort, so müßte die Zahl der Chromosomen von (Generation zu Generation in arithmetischer Proportion zunehmen und bald ganz ins Ungeheure wachsen. Wären wir auch sonst nicht sicher darüber, daß diese Chromo- somen Einheiten bleibender Natur sind, die nur scheinbar im Kernnetz des ruhenden Kerns sich auflösen, in Wahrheit aber bestehen bleiben, so mübte uns die Tatsache der Reduktion darauf hinweisen. Denn wären sie keine bleibenden und voneinander verschiedene Bildungen, und hinge ihre Zahl nur von der Gesamtmenge des Chromatins ab, welche im Kern enthalten ist, so brauchte diese ja beim Heranwachsen der Ei- und Samenzellen nur langsamer zuzunehmen, als der Zellkörper und die übrigen Teile der Zelle, damit die Zahl der Chromosomen herab- gesetzt würde. Daraus aber, daß dies nicht in so einfacher Weise er- folgt. sondern bei den Samen- und befruchtungsbedürftigen Eizellen aller Tiere durch Zellteilung und einen besonderen spezifischen Modus der Kernteilung, dürfen wir schließen, daß es nicht anders geschehen kann, daß Chromosomen nicht bloße Anhäufungen von Chro- matinsubstanz sind, sondern Organe, Lebenseinheiten, deren Zahl nur dadurch verringert werden kann, dab ein Teil von ihnen aus der Zelle hinausgeschafft wird. Nun gibt es freilich Eier, bei welchen der Vorgang der Reduktions- teilung nicht in der eben beschriebenen Weise verläuft, aber gerade diese Ausnahmen bestätigen unsere Ansicht von der reduzierenden Bedeutung der Richtungsteilungen und der Beibehaltung derselben behufs dieser notwendigen Reduzierung. Schon seit der Mitte des XIX. Jahrhunderts wissen wir, daß bei manchen Tieren die Eier sich auch ohne Befruchtung entwickeln. Diese Fortpflanzung mittelst „Parthenogenese“ wurde zuerst mit Sicherheit von dem deutschen Bienenwirt DZIERZON 1845 festgestellt und dann durch RUDOLPH LuCKART und Ü. TH. VON SIEBOLD wissenschaftlich bestätigt. Zuerst blos bei wenigen Gruppen des Tierreichs beobachtet, bei Bienen und einigen Nachtfaltern (Psychiden und Tineiden), stellte es sich im Laufe der Jahre immer mehr heraus, daß diese „Jungfern- zeugung“ (Parthenogenese) eine durchaus nicht seltene Form der Fortpflanzung ist, und daß sie regelmäßig und normalerweise besonders in dem großen Tierkreis der Gliedertiere in den verschiedensten Gruppen vorkommt. So findet sie sich unter den Insekten bei gewissen Blatt- wespen, Gallwespen, Schlupfwespen, bei den Honigbienen und bei den gewöhnlichen Wespen vor, und ist besonders verbreitet bei den Blatt- läusen und Rindenläusen (Phylloxera, Reblaus), deren enorme Ver- mehrung in kürzester Zeit eben mit darauf beruht, daß alle Generationen des Jahres mit Ausnahme einer einzigen nur aus Weibchen mit partheno- genetischer Fortpflanzungsweise bestehen. Unter niederen Krustern (Crustaceen) spielt die Parthenogenese ebenfalls eine große Rolle und tritt bei einigen Arten sogar als die einzige Art der Fortpflanzung auf, meist aber — wie das auch bei den Insekten am häufigsten der Fall ist — abwechselnd mit zweigeschlecht- licher Fortpflanzung. Denn Parthenogenese darf nicht als eine unge- schlechtliche Fortpflanzung aufgefaßt werden, sondern als eine einge- schleehtliche, d. h. als eine solche, die zwar von geschlechtlich ditte- renzierten Individuen (Weibehen) und von Keimzellen (wirklichen Eiern) ausgeht. aber nur von den Individuen des einen Gesehlechtes vermittelt wird, von den Weibehen. Diese Eier emanzipieren sich gewissermaßen von dem früher für ausnahmslos gehaltenen Gesetz daß ein Ei stets der teifeteilungen. 249 Befruchtung bedürfe, um sich zu entwickeln. Das ist keineswegs der Fall, und bei der kleinen Ordnung der Wasserflöhe (Daphniden) gibt es sogar zweierlei Eier, die schon früher angeführten Sommer- und Wintereier, die von den gleichen Weibchen hervorgebracht werden, und von welchen die ersteren immer ohne Befruchtung sich entwickeln, während die letzteren der Befruchtung bedürfen, um sich entwickeln zu können. Es war nun offenbar von Bedeutung, zu erfahren, wie es sich bei parthenogenetischen Eiern mit den Reifeteilungen verhalte, ob auch hier drei, beziehungsweise zwei „Richtungskörper“ gebildet werden, und ob durch die zweite Richtungsteilung auch hier die Zahl der Chromosomen auf die Hälfte herabgesetzt wird. War die vorher entwickelte Ansicht von der Bedeutung des Chromatins und besonders von der reduzierenden Wirkung der zweiten Reifeteilung richtig, so mußte bei Eiern, die auf Parthenogenese eingerichtet sind, die zweite Teilung ausgefallen sein, anderenfalls würde die Zahl der Chromosomen sich in jeder Generation um die Hälfte vermindern, sehr bald also ganz schwinden, oder auf Eins herabsinken müssen. Es gelang mir denn auch, zuerst an einer Daphnide, Polyphemus, festzustellen, daß hier die zweite Richtungsteilung unterbleibt, und daß Fig. 78. Schema der Rei- fung eines für Parthenoge- nese bestimmten Eies (es sind nur vier Chromosomen D) als Normalzahl der Art an- genommen). Uez Ureizelle, Der AT Eiz Muttereizelle (mit doppelter Chromosomen- zahl), Z7z Eizelle nach Ab- . trennung des ersten und einzigen Richtungskörpers. nur ein Richtungskörper gebildet wird. Dasselbe fand BLocH- MANN bei den parthenogenetischen Eiern der Blattläuse oder Aphiden, deren befruchtungsbedürftige Eier, ganz wie auch die Wintereier der Daphniden zwei Richtungsteilungen aufwiesen. Damit war denn fest- gestellt, daß wenigstens diese, ganz auf Parthenogenese eingerichteten Eier der Blattläuse und Daphniden die volle Zahl der Chromosomen ihrer Art beibehalten, so wie das Schema Fig. 78 es darstellt. Die Richtungsteilungen sind bei der Einführung der Parthenogenese auf eine einzige beschränkt worden, und daß dies geschehen konnte, berechtigt uns zu dem Rückschluß, daß es auch bei den befruchtungsbedürftigen Eiern hätte geschehen können, wenn es notwendig oder auch nur zu- lässig gewesen wäre; die Richtungsteilungen sind also keine bloßen „rudimentären“ Vorgänge, sondern sie haben eine Bedeutung und zwar die der Reduzierung der Chromosomenzahl. Doch muß ich hier eine Einschränkung machen: nicht bei allen parthenogenetischen Eiern verläuft die Reifung ohne zweite Richtungs- teilung. Zuerst wurde dies an dem Salzwasserkrebschen, der Artemia salina bemerkt. Wohl wird auch hier nur ein Richtungskörper gebildet, und die Zahl der Chromosomen bleibt die normale, wie ich an einem spärlichen Material von Eiern zeigen konnte, allein nach den an reich- licherem Material angestellten Untersuchungen von BRAVER unterbleibt 50 Entstehung der Blumen. zwar allerdings in der Mehrzahl der Eier die zweite Richtungsteilung, es wird auch niemals ein äußerlich hervortretender zweiter Richtungs- körper gebildet, aber in einzelnen Eiern erfolgt nichtsdestoweniger die zweite Richtungsteilung. -Die beiden dadurch entstehenden Tochterkerne vereinigen sich jedoch unmittelbar nach ihrer Trennung wieder zu einem Kern, der nun als Furchungskern funktioniert. Natürlich enthält er wieder die volle Zahl der Chromosomen, nämlich zweimal 84 = 168. Bei Artemia hat sich also die Einrichtung der Eier für partheno- genetische Entwicklung noch nicht vollkommen festgesetzt. und die gänz- liche Beseitigung der zweiten Richtungsteilung scheint phyletisch derart angestrebt zu werden, daß zuerst die Teilung zwar noch vollzogen, aber gleich darauf wieder rückgängig gemacht wird. Noch anders verhält es sich bei den Bienen. Hier besitzt das Weibchen. die sog. Bienenkönigin, eine geräumige Samentasche, in welcher der bei der Begattung aufgenommene Same Jahre lang lebendig bleibt, und die Befruchtung eines Eies geschieht wie gewöhnlich bei den Insekten von dieser Tasche aus, während das Ei vom Eierstock kom- mend durch den Eileiter hindurchgleitet. Das Tier hat es nun in seiner Macht, einige Samenfäden aus seiner Samentasche austreten zu labßen, oder nicht, und dementsprechend also das Ei zu befruchten, oder aber nicht. Seit den denkwürdigen Beobachtungen DZIERZONS und den darauf folgenden Untersuchungen v. SIEBOLDS und LEUCKARTS nimmt man an, dab nur diejenigen Eier befruchtet werden, welche in die für Aufzucht von Weibchen (Arbeitermnen oder Königinnen) bestimmten Zellen des Bienenstocks abgelegt werden, daß aber die Eier, aus welchen „Drohnen“, d. h. Männchen kommen sollen, regelmäßig unbefruchtet bleiben. Erst in dem letzten Jahrzehnt des abgelaufenen ‚Jahrhunderts hat man von Seiten der Bienenzüchter angefangen, an dieser sog. „DZIERZONschen Theorie“ zu zweifeln: verschiedene heftige und hart- näckige Angriffe auf dieselbe sind sich gefolgt, gestützt von neuen und scheinbar beweisenden Experimenten. Besonders Lehrer DIcKEL in Darmstadt versuchte, die alte Lehre zu stützen, indem er vor allem auch darauf hinwies, daß die alten Untersuchungen v. SIEBOLDS an Bienen- eiern keine beweisende Kraft hätten. v. SIEBOLD hatte die Eier frisch aus dem Bienenstock weg untersucht und war nie im Stande gewesen, in „Drohneneiern“ (d. h. Eiern, die in Drohnenzellen abgelegt worden waren, aus denen also Männchen kommen sollten) Samenfäden zu finden, während er in Arbeiterinnen-Eiern häufig einen bis vier Samenfäden nachweisen konnte. Er hatte aber nur Drohneneier untersucht, die schon zwölf Stunden alt waren, und in diesen hätte er, wie wir heute wissen, in keinem Falle Samenfäden finden können, auch wenn solche vorhanden gewesen wären, weil in so alten Eiern die Bildung des Embryo bereits in vollem -:Gange, und von Samenfäden nichts mehr zu sehen ist. Wandelt sich doch bei der Biene, nach von BUTTEL-REEPEN der befruchtende Samenfaden schon zwanzig Minuten nach seinem Ein- dringen ins Ei in den selbst auf Schnitten fast unsichtbar kleinen „Sper- makern“ um, von dem nach der alten Untersuchungs-Methode mittelst (Juetschung des frischen Eies allerdings nichts gesehen werden konnte. Man mußte deshalb zugeben, daß die Dzierzonsche Lehre in der Tat auf unsicherem Boden ruhte, und ich veranlaßte deshalb meine da- maligen Schüler Dr. PAULCKE und Dr. PETRUNKEWITSCH die Bienen- eier von neuem, und mit den inzwischen so außerordentlich verbesserten Methoden auf die betreffenden Punkte zu untersuchen, und diese Unter- Ausnahmsweise Parthenogenese. >51 suchungen, die in den letzten drei Jahren auf dem Freiburger Institut ausgeführt wurden. haben die volle Richtigkeit der Dzierzoxschen Lehre ergeben: die Drohneneier bleiben wirklich unbefruchtet, während die Eier, aus welchen weibliche Tiere sich entwickeln sollen, alle ohne Ausnahme befruchtet sind. Hier sind es also dieselben Eier, welche befruchtet werden kön- nen oder auch nicht, und welche im letzteren Falle sich durch Parthe- nogenese entwickeln, und hier wäre es natürlich von ganz besonderem Interesse, zu wissen, wie es mit den Richtungsteilungen und der Reduk- tion der Chromosomen steht. Die Untersuchungen PETRUNKEWITSCHs haben nun ergeben, dab in beiden Fällen, beim Eindrmgen eines Spermafadens, wie beim Aus- bleiben desselben eine zweimalige Teilung des Kernmaterials im Ei stattfindet, daß auch die beiden Tochterkerne, welche aus der zwei- ten Teilung hervorgehen, nicht etwa, wie es nach BRAUER bei Ar- temia zuweilen geschehen soll, nachträglich sich wieder vereinigen, sondern daß sie getrennt bleiben. und daß die Zahl der Chromoso- men — es sind ihrer sechszehn — dadurch im Furchungskern auf die Hälfte reduziert wird. Allein dabei bleibt es nicht. sondern bevor noch die Em- bryonalbildung begonnen hat, bemerkt man im Furchungs- Fig. 79. Die zwei Reifeteilungen des männlichen (unbefruchteten) Bieneneies nach PETRUNKEWITSCH. Rspı erste Richtungszelle in Tei- lung A7 und X die zwei Tochter- kerne derselben, £5s? 2 zweite Rich- tungsspindel, A’3 und Ag die zwei Tochterkerne derselben. Im fol- genden Stadium verbinden sich KÄz und A3 zum Urgeschlechts- kern. Starke Vergrößerung. kern wieder die Normalzahl: dieChromosomen müssen sich also durch Teilung innerhalb des Kerns verdoppelt haben. Ähnlich möchte es sich wohl auch in den Fällen ausnahmsweiser Parthenogenese verhalten, wie sie schon seit lange bekannt aber auf diese Punkte noch nicht hinreichend untersucht sind. Ich darf sie trotzdem nicht übergehen, weil sie nach einer anderen Seite hin lehrreich sind. Bei manchen Spinnern und Sphingiden, vor allem beim Seiden- spinner, Bombyx mori, bei Liparis dispar und gar manchen anderen Arten von Schmetterlingen kommt es zuweilen vor, daß aus einer groben Zahl unbefruchtet gebliebener Eier einzelne sich entwickeln und Räup- chen ausschlüpfen lassen. Ist das schon interessant genug, so gewinnt es durch neuere Untersuchungen des russischen Forschers TICHOMIROFF erhöhte Bedeutung dadurch, daß es diesem gelang. durch starkes Reiben der Eier mit einer Bürste, oder auch durch kurzes Eintauchen derselben in konzentrierte Schwefelsäure die Zahl der sich entwickelnden unbe- ‚fruchteten Eier bedeutend zu vermehren. Man kann also Eier, die unter gewöhnlichen Umständen sich nicht ohne Befruchtung entwickelt haben würden, durch mechanische oder chemische Reize zur partlıeno- genetischen Entwicklung fähig machen. Das klingt fast unglaublich, ist aber nicht zu bezweifeln und wird dadurch noch bestätigt, dab es J. LOEB geglückt ist, auch die Eier eines Seeigels durch chemische 359 Der Befruchtungsvorgang. teize zu parthenogenetischer Entwicklung zu bringen. Setzte er dem Seewasser, in welches diese Eier gelegt waren, eine bestimmte Menge Chlormagnesium zu, so entwickelten sich dieselben und durcehliefen nicht nur die Furchung, sondern bildeten sich bis zu den sonderbaren staffelei- förmigen Pluteuslarven weiter aus. In allerneuester Zeit hat dann Hans WINKLER noch die interessante Beobachtung gemacht, daß sich aus dem durch Hitze getöteten Sperma des Seeigels ein Stoff mittelst Wasser ausziehen läßt, der imstande ist, unbefruchtete Seeigeleier zur Entwick- lung anzuregen, wenn auch nur bis zum Sechszehnzellenstadium. Aus allen diesen Ergebnissen läßt sich jedenfalls soviel schließen, daß es chemische Umsetzungen und Einwirkungen sind, welche das reife Ei zum Eintritt in die Embryonalentwicklung bestimmen, und daß diese Einwirkungen recht verschiedener Natur sein können. Ich werde später noch einmal auf diese bedeutungsvollen Tatsachen zurückkommen. Überblieken wir jetzt die bisher vorgeführten Tatsachen in bezug auf die Reduktion der Chromosomenzahl, so geht aus ihnen hervor, daß die Natur danach strebt, diese Zahl bei jeder Art festzuhalten, daß sie dieselbe in Keimzellen, die zur Amphimixis bestimmt sind auf die Hälfte herabsetzt, daß sie aber diese Halbierung der Zahl unterdrückt, wo die Befruchtung regelmäßig in Wegfall kommt, oder doch, daß sie die Herabsetzung auf die Hälfte auf verschiedene Weise wieder gut macht, sei es durch nachträgliche Verschmelzung der beiden Tochter- kerne. die aus der Reduktionsteilung hervorgehen, oder durch selbst- ständige Verdoppelung der Chromosomen des Furchungskerns. Man könnte aus alledem vielleicht zu schließen geneigt sein, dab von dem Vorhandensein der normalen Zahl von Chromosomen das Ein- treten der Entwicklung abhinge; ich selbst habe dies früher für mög- lich gehalten. Seitdem aber sind Tatsachen hervorgetreten, welche diese Auffassung ausschließen. Vor allem wissen wir jetzt, daß jede Kern- teilung bedingt wird durch die Anwesenheit eines Teilungs- apparates, einer Centrosphäre, daß aber dieses Organ in den Eiern der meisten Tiere rückgebildet wird und gänzlich ver- loren geht nach Vollendung der zweiten Richtungsteilung. Das reife Ei ist dann also allein für sich unfähig, in Embryoalent- wicklung zu treten, ganz einerlei, wieviel Chromosomen sein Kern ent- hält; es wird erst dadurch zu weiteren Teilungen fähig, daß die be-, fruchtende Samenzelle ihren Teilungsapparat, die Centrophäre mitbringt. >ei fadenförmigen Samenzellen liegt diese letztere im Mittelstück (Fig. 68 C), und nach Auflösung des Schwanzstücks, welche kurze Zeit nach dem Ein- dringen ins Ei erfolgt, erkennt man das anfänglich noch kleine Central- körperchen vor dem Spermakern, das sich dann bald zur Strahlensonne umgestaltet und sich in zwei teilt. Dann rücken die beiden Sonnen aus- einander (Fig. 75 D, p. 245) und bilden durch Zusammenstoßen ihrer Strahlen die Kernspindel (Z, /s/) zwischen sich. Von dieser geht dann die Teilung der Eizelle in die beiden ersten Empbryonalzellen aus (Z/”). Die beiden Vorkerne im Ei, der männliche und der weibliche, sind also sowohl in bezug auf ihre Chromosomen- zahl. als häufig wenigstens auch in Gröbe und Aussehen völlig gleich (Fig. 75 C), aber sie unterscheiden sich durch den Besitz oder den Mangel eines Teilungsapparates, und in der großen Mehrzahl der Fälle ist es der männliche Kern, der das für die Embryo- nalentwicklung unentbehrliche Zentralkörperchen mit sich führt (2, cs//). Bis jetzt wenigstens sind davon nur zwei Ausnahmen bekannt geworden. Gleichheit von Samen- und Eizelle. 253 WHEELER sah bei dem auf Seelilien schmarotzenden Ringelwurm Myzo- stoma das Ei auch nach den Reifungsteilungen noch sein Zentral- körperchen beibehalten. während die ins Ei eingedrungene Samenzelle desselben entbehrte. In jüngster Zeit machte dann CoNKLIN noch die interessante Entdeckung, daß in dem Ei einer Seeschnecke (Crepidula) sowohl der Eikern als der Samenkern ihre Centrosphäre behalten und gemeinschaftlich die Furchungsspindel bilden, die eine Sphäre diesen, die andere den entgegengesetzten Pol derselben. Alle diese Beobachtungen bestätigen die Ansicht von der prin- zipiellen Gleichheit von Samen- und Eizellen auch nach dieser Richtung hin. ‚Jede von beiden kann unter Umständen den zur Ent- wicklung unentbehrlichen Teilungsapparat mit sich führen, wenn auch für gewöhnlich nur die Spermazelle es tut. Ich würde allerdings auch dann keinen prinzipiellen Unterschied zwischen Samen- und Eizellen Pe . B . . “ . 2 “.. ESERY, ART) Fig. 80. Befruchtung des Eies einer Schnecke (Physa) nach KosSTANECKI und WIERZEJSKI. 4 Das ganze Spermatozoon liegt im Ei; bei s? seine bereits geteilte Centrosphäre. A%ı erster Richtungskörper, £sf2 zweite Richtungsspindel. 2 52% Spermakern, die zweite Richtungsspindel besitzt noch ihre Centrosphäre, die später schwindet. Erster Richtungskörper in zwei geteilt. Starke Vergrößerung. annehmen, wenn es keine Ausnahme von dieser Regel gäbe, wenn also in allen Eiern, welche befruchtet werden, das Zentralkörperchen des Eies zugrunde ginge. Denn dies ist ja offenbar ene sekundäre Ein- richtung. eine Anpassung an die Befruchtung; das Ei soll ohne Be- fruchtung entwicklungsunfähig sein, und das wird es durch Zu- grundegehen des Zentralkörperchens. In allen anderen Zellen erhält sich, soviel bekannt, das Zentralkörperchen nach der Teilung, so dab sich also dieses merkwürdige Zellorgan gerade wie der Kern selbst von Zelle zu Zelle weiter forterbt, wie dieser aber niemals neu entsteht. Nur in der Eizelle schwindet es, wenn auch oft erst spät, so dab es als strahlende Sonne noch vorhanden sein kann, während die Samenzelle bereits ins Ei eingedrungen ist und ihr eigenes Zentralkörperchen zur Entfaltung, ja sogar schon zur Zweiteilung gebracht hat (Fig.S0 Au. 2). Es schwindet dann aber doch, sobald die zweite Riehtungsteilung vollendet ist. Daß dieses Schwinden wirklich eine sekundäre Einrichtung ist, die 254 Der Befruchtungsvorgane. auch weiter rückgängig gemacht werden kann, beweisen die Eier, welche die Fähigkeit besitzen, sich parthenogenetisch zu entwickeln, denn bei ihnen schwindet das Zentralkörperchen nicht, wie BRAUER für Artemia nachweisen konnte, bleibt vielmehr nach der ersten Rich- tungsteilung im Ei bestehen und verhält sich nun ganz so, wie die Sphäre des Spermakernes beim befruchteten Ei, d. h. es verdoppelt sich und bildet die Furchungsspindel. Das Eintreten des Eies in Embryonalentwicklung hängt also nicht an einer bestimmten Zahl von Chromosomen, son- dern an der Anwesenheit eines Teilungsapparats. Wovon es dann weiter abhängt, daß dieser gerade jetzt in Tätigkeit tritt. das frei- lich läßt sich zunächst nicht genauer angeben; wir können nur darauf hindeuten, daß alle Teile der Zelle in Wechselbeziehung zueinander stehen, dab also auch der Teilungsapparat in Abhängigkeit stehen wird vom augenblicklichen Zustand der übrigen Zellteile und den Stoffen, die sie enthalten oder hervorbringen. Nach den Erfahrungen über künst- liche Parthenogenesis liegt der Gedanke nicht fern, daß irgend welche chemische Stoffe dazu gehören, um das Zentralkörperchen zur Tätigkeit auszulösen. ‚Jedenfalls hängt die ganze Ernährung des Zentralkörperchens von der Zelle ab, in der es liegt, was schon durch den Spermakern bestätigt wird, dessen Zentralkörperchen vor seinem Eindringen ins Ei inaktiv und kaum erkennbar war, nach dem Eindringen aber sich rasch vergrößert und eine mächtige Strahlenzone um sich bildet, also in hohem Grade aktiv wird (Fig. SO). Insofern die Chromosomen jedenfalls eine bedeutende Rolle im Leben der Zelle spielen, und die Zustände derselben wesentlich mit bestimmen, kann nicht in Abrede gestellt werden, dab auch sie mit beteiligt sind an dem Aktivwerden des Zentralkörperchens, jedenfalls aber nur indirekt, nicht in der Weise, daß die bloße Zahl derselben über sein Aktivwerden oder Inaktivbleiben entschiede. Letzteres ist schon deshalb nicht anzunehmen. weil wir in den Reifungsteilungen den Beweis haben, daß Teilung bei doppelter, wie bei einfacher Zahl der Chromosomen vor sich gehen kann, und in den Ei- und Samen- mutterzellen den Beweis, daß auch die doppelte Zahl von Chromosomen nicht ohne weiteres schon zur Teilung zwingt. Die obenbesprochene exceptionelle und die künstlich hervor- gerufene Parthenogenese wird danach wohl so zu verstehen sein, daß durch geringe Abweichungen der Eikonstitution oder durch gewisse mechanische oder chemische Reize die Stoffwechselvorgänge im Ei derart verändert werden, daß das Zentralkörperchen des Eies, anstatt sich aufzulösen, vielmehr zum Wachstum angeregt wird und so den aktiven Teilungsapparat liefert, der sonst erst durch das Sperma ins Ei hinein- gebracht wird”). Das wäre dann eine etwas genauere Präzisierung der Deutung, welche ich früher schon (1891) für die damals allein bekannte „zufällige“ Parthenogenese der Seidenspinnereier gab, indem ich sagte: „das Kernplasma einzelner Eier" müsse „das Vermögen des Wachstums in größerem Mabe als die Majorität derselben besitzen.“ Weiter zu gehen und die betreffenden Stoffwechselvorgänge genauer zu bezeichnen und zu verfolgen, vermögen wir freilich auch jetzt noch nicht. *) Dal) dem so ist, hat PETRUNKEWITSCH neuerdings an künstlich zu partheno- genetischer Entwicklung gebrachten Eiern von Seeigeln nachgewiesen. In solchen Eiern bildet sich nicht wie manche wollten eine neue Üentrosphäre, sondern die alte Sphäre des Eies gewinnt von Neuem Kraft und leitet die Embryogenese (8. „Zool. Jahrb.“, Suppl.-Bd. VII, Jena 1904). XVl. VORTRAG. Der Befruchtungsvorgang bei Pflanzen und Einzelligen, nächste Bedeutung desselben. Befruchtung bei einem Algenpilz, Basidiobolus p. 255, bei Phanerogamen p. 256, auch hier Reduktion der Chromosomen auf die halbe Zahl p. 257, „Richtungszellen“ bei niederen und höheren Pflanzen p. 258, Konjugation der Einzelligen p. 259, Noctiluca p. 259, Getrenntbleiben der väterlichen und mütterlichen Chromosomen p- 260, Actinophrys p. 260, Infusorien p. 260, Geschlechtliche Differenzierung der beiden konjugierenden Tiere bei Vorticella p. 264, Bedeutung des Vorgangs der Amphimixis p. 260, sie ist kein „lebenerweckender‘“ Vorgang p. 265, kann unab- hängig von Vermehrung auftreten p. 266, die Verjüngungshypothese p. 266, Reine Parthenogenese p. 267, Der Zyklusgedanke p. 267, Verhindert Amphimixis den natürlichen Tod? p. 267, MAurpAs’ Versuche an Infusorien p. 269, BÜTSCHLIS Auffassung p. 271, Potentielle Unsterblichkeit der Einzelligen p. 271, Die Unsterb- lichkeit der Einzelligen und der Keimzellen beruht auf der zeitlich unbegrenzten Vermehrung kleinster Lebensteilchen p. 272, Parthenogenese ist nicht Selbstbefruch- tung. Beobachtungen PETRUNKEWITSCHs am Bienenei p. 275, Ist das Chromatin wirklich die „Vererbungssubstanz“? p. 276, NÄGELIS Schluß aus dem Größenunter- schied zwischen Ei- und Samenzelle p. 277, Künstliche Teilung von Infusorien p: 278, BovErıs Versuche mit der Befruchtung kernloser Eistücke p. 278, Die Be- fruchtung gibt zugleich den Anstoß zur Entwicklung p. 279, Merogonie p. 281, Die weibliche und männliche Kernsubstanz ist wesensgleich p. 251, Zusammenfassung p. 281. Meine Herren! Ich wende mich zur Betrachtung des Befruch- tungsvorganges bei den Pflanzen und den Einzelligen. In bezug auf die Pflanzen kann heute mit Bestimmtheit gesagt werden, daß auch bei ihnen die Befruchtung im wesentlichen eine Kern- kopulation ist und auf der Vereinigung der Kerne der beiden .„(re- schlechtszellen“ beruht. Diese letzteren sind bei den niederen Pflanzen bis herauf zu den Phanerogamen meist sehr klein, besonders (die Zoo- sperm-förmigen männlichen Keimzellen, meistens aber auch die Eizelle, welche selten nur mit reichlichem Dotter belastet ist. Trotz «der viel- fachen Schwierigkeiten, welche sich schon wegen dieser geringen Größe der Beobachtung entgegenstellen, ist es der unermüdlichen Anstrengung einer Reihe vortreffliceher Beobachter doch gelungen, den Befruchtungs- prozeß bei Pflanzen aus allen größeren Gruppen zu beobachten, so bei Algen, Pilzen, Moosen, Farnen, bei den Schachtelhalmen unter den Kryptogamen und bei Phanerogamen. Ich gebe zuerst ein Beispiel von den niederen Pflanzen (Fig. S1). Bei Basidiobolus ranarum, einem „Algenpilz“ treiben zwei be- nachbarte Zellen des Pilzfadens je einen schnabelförmigen Fortsatz und zwar dieht nebeneinander (Fig. 81, +1). Der Kern einer jeden rückt dabei in den Fortsatz hinein, wandelt sich dort zu einer Kernspindel um (2, %sp) und teilt sich so, daß der eine Tochterkern in die Spitze 956 efruchtung bei Blütenpflanzen. des Schnabels zu liegen kommt, der andere an die Basis. Auch der Zellkörper macht die Teilung mit, wenn auch eine sehr ungleiche, und das Endresultat des Vorganges sind je zwei Zellen, von denen die eine klein ist und die Spitze des Schnabels einnimmt (C), die andere groß und den ganzen übrigen Zellraum erfüllt. Erstere spielen keine weitere Rolle mehr, sie lösen sich auf, letztere sind die Geschlechtszellen. deren Zell- körper jetzt durch eine Lücke der trennenden Zellscheidewand zu- sammenfließen, während ihre beiden Kerne sich aneinander lagern und verschmelzen (C: Ju. 9 %). Aus ihrer Vereinigung entsteht das be- fruchtete Dauerei:; die sog. „Zygote* (D). Die zwei kleinen Abor- tivzellen ähneln so sehr in ihrer Entstehung den Richtungszellen der tierischen Eier, daß die Vermutung kaum abzuweisen ist, es erfolge durch sie eine Reduktion der Chromosomen. Doch ist bisher die Zahl der letzteren weder in ihnen noch in den Geschlechtskernen festgestellt worden. Bei den Phanerogamen kennen wir besonders durch STRASBURGER, GUIGNARD und neuerdings durch den Japaner Hıras£ die Befruch- Fig. 81. Bildung von Rich- tungskörpern bei einem Al- genpilz, Basidiobolus ranarum. 41 Die beiden kopulierenden Zellen mit den schnabelförmigen Aus- wüchsen, in welchen ihre Kerne liegen. 2 Diese in Teilung, #55 Kernspindeln. C Nach der Teilung in je einen Richtungskörper r%, und einen Geschlechtskern (2%, 2%). D Nach erfolgter Verschmelzung der Kerne zum Kopulationskern (co/%), das „befruchtete“* Ei von Hüllen umgeben und zur Dauerspore umgewandelt. Nach FAIRCHILD. tungsvorgänge. Die Übereinstimmung mit dem tierischen Vorgang ist überraschend groß trotz der bedeutenden Unterschiede in den äußeren Verhältnissen der Befruchtung. Bekanntlich sind die männlichen Keimzellen bei den höchsten Blütenpflanzen keine Zoospermien mehr, sondern rundliche Zellen, welche zusammen mit einer Schwesterzelle, der sog. „vegetativen“ Zelle in eine dicke Zellulosekapsel emgeschlossen das Pollenkorn darstellen. Die Pollenkörner gelangen als „Blütenstaub* auf die Narbe, unter welcher, tief verborgen im Innern des „Fruchtknotens“, die weibliche Geschlechts- zelle ruht, eingeschlossen in einem länglichen, sackförmigen Gebilde, dem „Embryosack* (Fig. 82, A). Außer ihr selbst (ez2) liegen dort noch mehrere, gewöhnlich noch sieben andere Zellen, von welchen zwei, die sog. „Synergiden“ (sy) am einen Ende des Embryosacks ihren Platz haben, gerade vor der Eizelle (ez2). Wahrscheinlich haben sie ein Se- kret auszuscheiden. welches auf den männlichen Befruchtungskörper, den „Pollenschlauch“, eine anziehende (chemotaktische) Wirkung aus- übt und ihm auf diese Weise gewissermaßen den Weg zur Eizelle zeigt. Befruchtung bei Blütenpflanzen. 257 Wenn nun ein Pollenkorn auf die Narbe gelangt ist, so treibt es meist schon nach wenigen Stunden einen Schlauch hervor, der sich in das weiche Gewebe des Griffels eindrängt und bis tief in das Innere des Fruchtknotens hineinwächst, um schließlich durch eine besondere kleine Offnung in der Hülle des Fruchtknotens. die sog. „Mikropyle“, bis zu dem Embryosack selbst vorzudringen (Fig. 82 2, schl). An diesen schmiegt sich sein stumpfes Ende innig an, so daß nun der eigentliche Spermakern (2, 3%), umgeben von etwas Protoplasma aus dem Pollenschlauch austreten und zwischen die Zellen des Embryo- sackes einwandern kann. Wir werden bei einer späteren (relegenheit sehen, daß zwei generative Kerne aus dem Pollenschlauch einwandern, wenden wir aber für jetzt unsere Aufmerksamkeit nur dem einen von ihnen zu, dem Befruchtungskern, so bewegt sich dieser sofort auf den Eikern los, legt sich dicht an ihn an, und nun erfolgt die Verschmelzung, die Kopulation der beiden, in Gr@be und Aussehen ganz ähnlichen Kerne, ganz wie bei der Befruchtung tierischer Eier (C, 3% u. 9%). Ob auch hier nur der Spermakern ein Zentralkörperchen mitbringt, oder ob, wie Fig. 82. Befruch- tungsvorgang bei der Lilie, Lili- um Martagon, nach GUIGNARD. A Der Embryosack vor der Befruch- tung, sySynergiden, eiz Eizelle, 05 und zp oberer und un- terer Polkern, ap Antipodeu. 3 Das obere Stück des Embryosacks, in den der Pollen- schlauch (2sch/) eingedrungen ist mit dem männ- lichen Geschechts- kern (d %) und sei- ner Centrosphäre, darunter die Eizelle mit ihrer (ebenfalls doppelten) Centrosphäre (esph). C Rest des Pollenschlauchs (ZscA2); die beiden Geschlechtskerne aneinander liegend. Starke Vergrößerung. (HUIGNARD zu beobachten glaubte, auch der Eikern sein Zentralkörperchen beibehält (€, cspA) oder schließlich ob etwa beides vorkommt, ist noch nicht sicher entschieden. Die Erfahrung, daß sich in der Reeel nur dann keimfähige Samen in einem Fruchtknoten bilden, wenn Bestäubung der Narbe vorhergegangen war, läßt vermuten, daß der Eizelle aueh hier, wie bei den Tieren etwas fehlt zur Einleitung der Embryonal- entwicklung, was nur sehr ausnahmsweise, nämlich bei Einriehtune von Parthenogenese, ihr erhalten werden kann, und dieses Etwas dürfte wohl auch hier der Teilungsapparat der Zelle, das Centrosoma mit der Centro- sphäre sein. Mag aber diese Vermutung sich als begründet erweisen oder nicht, in jedem Falle bildet sich zugleich mit der Vereinieung der beiden (reschlechtskerne zum Furchungskern eine Kernspindel, welche den Ausgangspunkt der jungen Pflanze darstellt und somit zenau der Furchungsspindel tierischer Eier entspricht. Sie stimmt mit ihr auch in der wichtigen Beziehung überein, als sie wieder die volle Zahl der Chromosomen enthält. bei der Lilie 24, während die beiden Ge- Weismann, Doszendenztheorie. IT. 2. Aufl Ir IH8 Befruchtung bei Pflanzen u. s. w. schlechtskerne nur je die Hälfte davon (12) aufweisen. Eine Reduktion der Chromosomen auf die Hälfte findet also auch bei den Pflanzen statt, aber allerdings ist es bis heute noch nicht entschieden, ob sie auch in derselben Weise, d. h. durch eine Reduktionsteilung erfolgt, wie bei den Tieren. Ohne auf diese noch schwebende und noch recht verwickelte Frage näher einzutreten, möchte ich doch aussprechen, daß ich dies für sehr wahrscheinlich halte, ja mit V. HÄckEr*) der Ansicht bin, daß die teduktionsteilungen der Pflanzen nur schwieriger als solche zu erkennen und überdies nicht selten dadurch maskiert sind, daß sie neben oder zwischen nicht reduzierenden Teilungen vorkommen. Wäre es möglich, die Zahl der Chromosomen in einer Zelle auf die Hälfte herabzusetzen ohne Verbindung mit einer Zellteilung, einfach dadurch, daß sich aus dem Chromatin des Kernnetzes nur die halbe Zahl derselben wieder sammelte, dann müßte dies ebensogut bei tierischen Zellen möglich sein, denn dann hätte das einzelne Chromosom nicht die Bedeutung einer Individualität, dann würde auch keine besondere Art der Kernteilung eingeführt worden sein, um ihre Zahl herabzusetzen. Dab sie dort eingeführt wurde, scheint mir zu beweisen, daß sie notwendig war, und wenn sie dies dort war, dann wird sie auch bei den Pflanzen nicht entbehrt werden können. Dazu kommt noch, daß gerade bei den Pflanzen überall Zell- teilungen in Verbindung mit der Entstehung der Geschlechtszellen vor- kommen, die man ihrem Auftreten und ihrem Erfolg nach den Reifungs- teilungen der tierischen Keimzellen vergleichen kann. Bei dem Algen- pilz Basidiobolus begegneten wir schon einer abortiven Zelle, die sich von der Geschlechtszelle abschnürt, ehe diese befruchtungsfähig ist (Fig. SI C). Ähnliche Zellteilungen kommen in vielen. wenn nicht in allen Pflanzen- abteilungen vor; bei den Meeresalgen der Gattung Fucus ist sogar nach- gewiesenermaßen die Teilung der ersten Anlagenzelle des Ovariums in die sog. „Stielzelle* und die Ureizelle eine Reduktionsteilung und setzt (die Zahl der Chromosomen von 32 auf 16 herab. Bei den Gefäßpflanzen tritt die Reduktion nicht erst bei der Bildung der Geschlechtszellen, sondern schon bei der Sporenbildung ein, wie CALKINS an Farnen nach- wies; bei den Nadelhölzern und verwandten Gymnospermen führen erst mehrere Teilungen. sog. „vorbereitende* zur Bildung der sexuellen Keim- zelle, und hier wissen wir durch Vergleichung mit dem (Grenerations- wechsel der Gefäßpflanzen, daß dieselben auf dem allmählichen Rudi- mentärwerden der eigentlichen Geschlechtsgeneration beruht. ‘Wie die „Richtungs-“ oder „Reifungszellen“ tierischer Eier rudimentäre Eizellen sind, so sind die in den Pollenkörnern von der eigentlichen Geschlechts- zelle sich durch Teilung sondernden Zellen rudimentäre Prothallium- Zellen, (die wie jene keine weitere physiologische Rolle mehr spielen, sondern zugrunde gehen. Ich will durchaus nicht behaupten, dab gerade in «diesen Teilungen die Reduktionsteilung stecken müsse, die Analogie mit der Sporenbildung der Farne läßt vielmehr vermuten, dab diese noch etwas weiter zurückliegen werde, jedenfalls aber fehlte es in der Ontogenese der phanerogamen Pflanze nicht an Gelegenheit zur Ein- schaltung einer Reduktionsteilung, und so lange nicht erwiesen ist, dab eine Reduktion der Chromosomen auf die Hälfte auch direkt, d. h.. ohne Hülfe einer Kernteilung geschehen kann, wird man die Entdeckung der *, Verel. V. HÄCKEr: „Praxis und Theorie der Zellen- und Befruchtungs- lehre“, Jena 1899, p. 144 und 145. Konjugation der Einzelligen. 259 Reduktionsteilung der Phanerogamen von der Zukunft sicher erwarten dürfen. Sind doch auch bei den Einzelligen Vorgänge ähnlicher Art bekannt geworden, und auch dort sind «dieselben an Kernteilungen ge- bunden. Wenn ich jetzt zu der sog. „geschlechtlichen Fortpflanzung“ der Einzelligen übergehe, möchte ich gleich von vornherein darauf aufmerksam machen, wie wenig der Ausdruck einer „Fortpflanzung“ hier passt. denn der Vorgang, um den es sich hier handelt, bewirkt nicht eine Vermehrung der Individuen, wie eine Fortpflanzung doch tun sollte, sondernin vielen Fällen sogar eine Verminderung, indem zwei Individuen zu einem einzigen verschmelzen. Wenn uns also auch aus den bisher besprochenen Erscheinungen sexueller „Fortpflanzung“ bei höheren Or- ganismen noch nicht klar geworden sein sollte, daß hier zwei Vor- gänge verbunden sind, die ganz verschiedener Natur sind, so würde uns die Konjugation der Einzelligen zu dieser Einsicht hin- leiten. Schon lange weiß man, daß einzellige Pflanzen und Tiere zeit- weise sich zu Zweien aneinander legen, um miteinander zu verschmelzen, und man hat schon früh in diesem Vorgang der „Konjugation“ ein Analogon der „Befruchtung“ vermutet, wenn es auch erst den Arbeiten Fig. 83. Konjugation von Noctiluea nach ISCHIKAWA. 4 Zwei Noctilucen im Beginn der Verschmelzung, #7 Proto- plasma in Fortsätze ausgezogen, die den Gallertkörper (G) durch- setzen, Ä die Kerne. 2 Zell- und Gallertkörper verschmolzen, Kerne, in welchen Chromo- somen sichtbar, dicht anein- ander gelagert, CA Centro- sphären. C Die beiden Kerne zu eıner Kernspindel vereinigt, Beginn der Teilung. D Vol- lendung der Teilung. Starke Vergrößerung. der letzten Jahrzehnte gelungen ist, den sichern Nachweis für diese Vermutung zu erbringen. Wir wissen jetzt, daß hier ein ganz analoger Prozeß seinen Ablauf nimmt. wie wir ihn in der Befruchtung kennen gelernt haben, nur daß derselbe hier nicht mit der Fortpflanzung und Vermehrung notwendig und unmittelbar verknüpft ist, sondern unab- hängig davon auftritt, und gerade in seiner ursprünglichsten Form statt einer Vermehrung der Individuenzahl vielmehr — wenigstens für kurze Zeit — eine Verminderung derselben zur Folge hat. (Gerade dies von der Fortpflanzung unabhängige Auftreten des Vorganges scheint mir für uns von unschätzbarem theoretischem Wert, weil es uns von alten ein- gewurzelten Vorurteilen in der Auffassung der Befruchtung vollends losreisst. Zuerst sei der Vorgang selbst in seinen Haupterscheinungsformen in aller Kürze geschildert. Die ursprünglichste Form der Konjugation ist ohne Zweifel die völlige Verschmelzung zweier einzelligen Wesen der gleichen Art, wie wir sie bei einzelligen Pflanzen, aber auch bei den niederen einzelligen Tieren heute noch vorfinden, bei den t(reisselinfusorien, IY? 2650 Konjugation der Einzelligen. Gregarinen, Wurzelfüssern, unter den letzteren z. B. bei den Noetilucen, jenen mit einer Geissel versehenen einzelligen Wesen, welche das gleich- mäßige, über weite Flächen des Wassers ausgedehnte Meerleuchten her- vorbringen (Fig. 53). An ihnen hat Prof. IscHIkawA in Tokio den sanzen Verlauf der Konjugation verfolgen können. Er beginnt damit, dab zwei Noctilucen sich aneinanderlegen (Fig. 83) und an der Be- rührungsfläche verschmelzen, sowohl die kugelige Gallerthülle (4, G), als die Zellkörper selbst (/r), welche sich amöbenartig in der Gallerte verzweigen. Die Verschmelzung wird nach und nach eine vollständige, und die Tiere bilden dann nur eine einzige Kugel (2) mit nur einem Zellkörper. Aber auch die beiden Kerne (A) legen sich dieht aneinander (3). und wenn sie auch nicht förmlich verschmelzen, so bilden sie doch zusammen unter der Leitung zweier Centrosphären (C') eine einzige Kernteilungsfigur, welche der Furchungsspindel des befruchteten Eies offenbar analog ist. Es folgt nun eine Teilung, bei welcher die Chro- matinsubstanz der Kerne beider Tiere auf die beiden Tochterkerne verteilt wird, und nachdem dies erfolgt, teilt sich das verschmolzene Einheitswesen selbst wieder in zwei selbstständige Noctilucen (22). Wenn ich hier. d. h. bei Protozoen, von Chromosomen spreche, so muß ich gleich hinzufügen, daß diese bei Noectiluca selbst nicht mit voller Klarheit gesehen worden sind; man erkennt nur dunkel gefärbte fadenförmige Verdiekungen der Spindelfasern, die vom Aquator der Kernspindel gegen die Pole hinrücken. Da wir indessen bei anderen Einzelligen, z. B. bei dem schönen Sübwasser-Rhizopoden, der Euglypha alveolata. diese Verdickungen der Kernspindelfasern mit voller Deut- lichkeit als Chromosomen erkennen, so wäre ein Zweifel nicht gerecht- fertigt. Aber auch die Annahme, daß jeder der beiden Tochterkerne die Hälfte der Chromosomen beider Kopulationskerne erhalte, ruht auf sicherem Grund, nicht nur, weil der ganze Vorgang sonst keinen Sinn hätte, sondern weil die Stellung der mitotischen Figur dies be- dingt. Auch das Getrenntbleiben der beiden dieht aneinander ge- schmiegten Kopulationskerne während der Kernteilung ist nicht etwas sonst Unerhörtes; HÄCKER und RÜCKERT beobachteten es auch bei der Furchungsspindel viel höherer Tiere, der Kopepoden, und es hat dort keinen verändernden Einfluß auf den Vorgang der Teilung, sondern beweist uns nur, daß die vom Vater und die von der Mutter her- rührenden Chromosomen im Kopulationskern selbständig bleiben, eine Tatsache, auf deren Bedeutung ich später zurückkomme. Ahnlich wie bei Noctiluca verläuft der Vorgang der Konjugation bei einem Wurzelfüßer des süßen Wassers, dem altberühmten Sonnen- tierchen, Actinophrys sol (Fig. S4), nur dab hier eine völlige Ver- schmelzung der Kerne stattfindet (Fig. S4, 7”), ehe sich die Teilungs- spindel (F’7, 75/) bildet, aus welcher dann unter gleichzeitiger Teilung des Zellkörpers zwei neue Individuen hervorgehen. Besonders inter- essant wird der Vorgang hier noch dadurch, daß es SCHAUDINN ge- lungen ist, auch eine Reifeteilung zu beobachten (/77, Rsp Rich- tungsspindel), sowie den Richtungskörper (/T’, R%) nachzuweisen, so daß die Analogie mit dem Befruchtungsvorgang der Metazoen und Metaphyten eine fast vollständige wird. Dab es sich aber bei der Konjugation der Einzelligen, wie bei der Befruchtung der Vielzelligen wesentlich um eine Kernkopulation handelt, das lehren uns deutlicher noch die Wimperinfusorien, die höchstorganisierten unter den Einzelligen. un Konjugation der Einzelligen. 261 Hier erfolgt gewöhnlich überhaupt keine volle Verschmelzung der Zellkörper der beiden Tiere, sondern nur eine Verlötung derselben an der Stelle, wo sie sich aneinanderlegen. Bei dem relativ großen Para- maecium caudatum und vielen anderen Arten kennen wir den Vorgang der Konjugation durch Mavras und R. HERTwIGs schöne Untersuch- ungen sehr genau, und dort verläuft er so. daß zuerst zwei Tiere sich mit ihren Mundflächen aneinander legen und dort eine kurze Strecke weit miteinander verschmelzen, um dann in (diesem konjusgierten Zu- stand miteinander herum zu schwimmen. Während dieser Zeit gehen höchst merkwürdige Veränderungen an ihren Kernen vor sich. Bekanntlich haben diese Infusorien einen zweifachen Kern, einen großen, den Makronueleus (Fig. 85, za). und einen für gewöhnlich sehr kleinen, den Mikronucleus (rr). Man wird dem ersteren die Lei- tung und Regulierung der aktuellen Lebensvorgänge zuschreiben dürfen. Fig. 84. Kopulation und tichtungskörperbildung bei dem Sonnen- tierchen, Actinophrys sol nach SCHAUDINN. 7 Zwei freischwimmende konju- gierte Individuen, die sich bei // mit einer wasserklaren Gallerteyste umgeben haben. 7/1 Bildung der Richtungsspindeln (£sP. /T Die Richtungskörper gebildet (RX): Ä die beiden Geschlechtskerne. 7” Dieselben verschmolzen zum Kopulationskern (A). FI Der Kopulationskern zur Teilungsspindel (75%) umgewandelt: die Richtungs- körper (RA) haben die innere Cystenhülle durchwandert und werden Jetzt rück- gebildet. Nach SCHAUDISN. also kurz gesagt, des Stoffwechsels und der Integrität des ganzen Tieres. Den kleinen Kern hat man oft als „Fortpflanzungskern“ bezeichnet. da er aber bei der Fortpflanzung keine andere Tätigkeit erkennen läßt. als daß er sich in zwei Tochterkerne teilt, so kann ich diese Bezeich- nung nicht für treffend halten; sie rührt auch offenbar nur von der bis vor kurzem noch üblichen schiefen Auffassung der Konjugation, als einer „Art Fortpflanzung“ her, und diese selbst beruht wieder auf der von den Vielzelligen her übernommenen Vorstellung von der Befruch- tung als einer „geschlechtlichen Fortpflanzung“. Wir werden «leich sehen, daß der Mikronueleus bei der Konjugation die Hauptrolle spielt, und nach dieser werden wir vermuten dürfen, daß er außerhalb der Konjugation keine Rolle im Leben des Tieres spielt, und am besten als „Ersatz-* oder Reservekern bezeichnet wird. Bei jeder Kon- dl Das ge- ‚11 sorbiert. zelligen. oe Makronucleus auf und w oO wın 1 jugation der FB nr ät . D her t Nahrungsballen re en wie ein DIS Kon ’ Bi) lieh löst sich der I on nam lig, gewissermal An ati D c 7 o > 26 ju vollst Fig. 85. Konjugationsschema eines Infusoriums, Paramaeeium nach R. Herrwie u. Maurpas. 1 Zwei Tiere mit den Mundöffnungen (47) aneinander liegend, »»a Makronucleus im Beginn der Rückbildung, »27 Mikronucleus bereits bedeutend gewachsen und im Beginn der Teilung. 2 Jeder Mikronueleus hat sieh in zwei Tochterkerne geteilt (z2,), die nur noch durch den Teilungsstrang (75) zusammen- hängen. 3 Links jeder der Tochtermikronuelei (2,) im Beginn der Teilung; rechts ist diese Teilung bereits vollendet und die Enkelkerne des ursprünglichen Mikronucleus hängen nur noch durch den Teilungsstrang (Zs) zusammen. 4 In jedem der beiden Tiere liegen die vier Enkelmikronuclei (mz,\. 5 Drei derselben in Auflösung begriffen, der vierte in Teilung zu zwei Urenkelkernen (27;), den beiden Geschlechtskernen. 6 Der eine (männliche) Geschlechtskern (272) wandert in das andere Tier hinüber und vereinigt sich dort mit dem zurückgebliebenen weiblichen Kern. 7 Zum Kopulatioskern (cofk). 8 Die Tiere haben sich getrennt; der Ko- pulationskern teilt sich in: 9 den neuen Makronueleus (2 za) und den neuen Mikronucleus (» 2). e Kern streckt sieh, buchtet e werden dann so langsam ke, und dies ue . zerfällt in mehrere St em h schieht natürlich nur langsam, der grob sie Konjugation der Einzelligen. 263 aufgelöst, daß oft nach Vollendung des Konjugationsaktes immer noch unregelmäßige Ballen des Makronucleus im Tier herumliegen (Fig. 55.9). Während aber der Makronucleus zerfällt. wächst der vorher win- zige Mikronucleus mächtig heran und bildet eine deutlich längstreifige Spindel (1. zz). Ungefähr gleichzeitig teilt sich diese dann in beiden Tieren. und jeder der beiden Tochterkerne tritt sofort wieder in Teilung ein. nach deren Vollendung also vier spindelförmige Abkömmlinge des Mikronucleus in jedem der beiden Tiere zu sehen sind (Fig. 85, 4). Ich sagte schon früher, daß der Teilungsapparat der Kerne bei den Einzelligen zwar ähnlich dem der Vielzelligen. aber doch auch von diesem verschieden sei. (Gerade bei den Wimperinfusorien zeigt sich ein wesentlicher Unterschied darin, daß die streifige Spindel, nachdem die Trennung in Tochterchromosomen stattgefunden, sich enorm ver- längert und in ihrer Längsmitte so dünn auszieht (2). daß die beiden Tochterkerne an den Enden dieses langen Stiels fast den Eindruck einer sehr langen und dünnen Hantel oder den eines langen (Geldbeutels machen. Von Sonnen (Centrosphären) ist nichts zu sehen. und die Me- chanik der Teilung ist noch recht unklar: es sieht fast aus. als triebe eine mächtig wachsende Substanz die beiden Chromosomengruppen aus- einander. Kaum sind nun diese vier Abkömmlinge des Mikronucleus ent- standen. so fangen drei von ihnen auch schon an, sich aufzulösen und sind nach kurzem verschwunden: nur der vierte behält weitere Bedeutung, teilt sich noch einmal (5) und erzeugt so die beiden Kerne, welche die Hauptrolle spielen im Konjugationsvorgang: die Kopula- tionskerne, vollkommen analog dem weiblichen und männlichen Vor- kern im befruchteten Ei (5, »z7 4). Jedes der beiden Tiere funktioniert aber dabei in doppeltem Sinne als Mann und als Weib, denn jedes sendet den einen der beiden Kopulationskerne durch die Verwachsungs- brücke hinüber in das andere Tier (6, »z7 3). auf daß er sich dort mit dem zurückgebliebenen Kern zu einem Doppelkern vereinige (7), einem (rebilde. daß dem Furchungskern des Eies entspricht (cof#). Aus ihm entsteht dann durch Teilung ein neuer Makro- und Mikronueleus, meistens allerdings nicht direkt, d. h. durch eine einmalige Teilung, sondern dureh mehrere, aufeinander folgende Kernteilungen, auf deren Bedeu- tung ich hier nicht einzugehen brauche. Gleich nach der Vereinigung der beiden Geschlechtskerne lösen sich die Tiere aus ihrer Verwachsung, und nun nimmt jedes derselbsn wieder Nahrung auf und liegt balıl auch der Vermehrung durch Teilung ob, wie vor der Konjngation (S u.9). Obgleich der Verlauf dieses merkwürdigen Vorganges bei ver- schiedenen Arten allerlei Verschiedenheiten im einzelnen aufweist, so ist er doch in der Hauptsache überall der gleiche, und dieses Wesent- liche liegt ohne Zweifel in der Vereinigung der gleichen Anzahl von Chromosomen zweier Tiere zu einem neuen Kern. Es ist also im Wesentlichen derselbe Vorgang, den wir bei den höheren Tieren und Pflanzen als „Befruchtung“ kennen gelernt haben. Die Unter- schiede sind untergeordneter Art und ergeben sich teils aus der Un- selbständigkeit der (Geschlechtszellen der Vielzelligen, teils aus der Ditferenzierung derselben zu „männlichen“ und „weiblichen“ Zellen. Die Kleinheit der Spermazelle z. B. bedingt ihr Eindringen in das stets viel größere und unbewegliche Ei und das vollständige Verschmelzen auch ihres Zellkörpers mit dem Eikörper. Wie wenig aber dieser Unterschied zu bedeuten hat, sieht man am besten daran, daß es auch 264 Konjugation der Einzelligen. unter den Infusorien solche gibt, bei welchen die beiden, miteinander in Konjugation tretenden Tiere stark voneinander verschieden sind, besonders in der Größe, und bei welchen nun ebenfalls das viel kleinere „männliche“ Tier vollständig mit dem viel größeren „weib- lichen“ verschmilzt, ja sich gewissermaßen wie eine Samenzelle in das- selbe einbohrt. So verhält es sich bei den Glockentierchen (Vorti- cellinen) (Fig. 86), bei welchen man die konjugierten Paare schon lange vor unserer heutigen Einsicht in diese Vorgänge beobachtet, aber für eine Art von „Knospungsprozeß“ gehalten hatte, indem man das dem größeren „weiblichen“ Glockentierchen zur Zeit der Konjugation aufsitzende kleine und anders gestaltete „männliche“ Tier (279) für eine Knospe des ersteren (ag) hielt. Diese vermeintliche Knospe aber wächst nieht von dem großen Tier heraus, sondern in dasselbe hinein. Wir sehen also hier wieder von neuem, daß auch bei Einzelligen eine Differenzierung der Individuen zu männlichen und weib- liehen eintreten kann, ganz so wie bei den Geschlechtszellen der höheren Tiere und Pflanzen, und es beweist uns dies wieder aufs neue, das alle Fig. 86. Konjugation eines Infusoriums, Vorticella nebulifera, mit geschlecht- licher Differenzierung der ganzen Tiere in männliche und weibliche nach GREEF. / Die „Mikrogonidie“ (Männchen >zz) befestigt sich auf der „Makrogonidie“* (Weib- chen za); cv kontraktile Blase, s/ Stiel. Z// Der Wimperkranz des männlichen Tiers ist geschwunden, dasselbe hat sich auf dem weiblichen festgesogen mittelst saugnapf- artiger Einziehung seines unteren Endes. Z/7 Die Verschmelzung der Tiere voll- zogen; der borstige Rest des Männchens c/ wird gerade abgestoßen. Vergrößerung etwa 300. diese Unterschiede des Geschlechtes, mögen sie an den Fortpflanzungs- zellen Vielzelliger, oder an den ganzen vielzelligen Tieren und Pflanzen, oder schließlich an Einzelligen sich zeigen, nicht von wesentlicher jedeutung sind, sondern immer nur von sekundärer, mögen sie auch noch .so wichtig für das Zustandekommen der Befruchtung oder der Konjugation im speziellen Falle sein. Sie sind stets nur An- passungen an die Bedingungen, und treten nur da auf, wo sie notwendig sind, damit die Vereinigung stattfinde, und stets in einer solehen Weise, daß dadurch die Vereinigung der beiden Zellen ermög- lieht wird. Bei den meisten Infusorien war eine solche Differenzierung in weibliche und männliche Tiere nieht notwendig, weil sie sehr beweg- lieh sind und also leicht sich treffen und vereinigen können, es genügte, dab sie Zwitter blieben, die Glockentierchen aber sind festgewachsen, und bei diesen war es ein Vorteil, wenn zur Zeit der Konjugation kleinere, frei schwimmende, wenn auch sonst einfacher gebaute Indi- viduen entstehen konnten, welche imstande waren, die festsitzenden großen Tierchen aufzusuchen. So treten denn hier, wie bei manchen Konjugation der Einzelligen. 2655 anderen Einzelligen diese kleinen männlichen Tiere auch nur dann auf, wenn sie nötig sind, d. h. zur Zeit der Konjugation, gerade wie bei der grünen Kugelalge Volvox männliche und weibliche Zellen zur Zeit der Konjugation entstehen, sonst aber andere Fortpflanzungszellen (Parthenogonidien. Wie aber diese Verschiedenheiten nur Anpassungen an die Not- wendigkeit sind, daß die Tiere oder die Zellen zur Vereinigung sich finden und verbinden können, so ist es auch mit allen anderen Ver- schiedenheiten geschlechtlicher Art, mit den tausenderlei Unterschieden zwischen Samen- und Eizellen, und nicht minder mit allen den Unter- schieden zwischen männlichen und weiblichen Tieren, den primären so- wohl, als besonders auch den früher genauer betrachteten vielgestaltigen „sekundären“ Geschlechtsunterschieden: sie alle sind nur Mittel zur Herbeiführung des Vorgangs der Verschmelzung von je zwei Keimzellen zu einer „befruchteten* und entwicklungsfähigen Eizelle. Das Wesent- liche aber dieser sog. „geschlechtlichen Fortpflanzung“ hängt nicht an diesen Unterschieden, nicht an der geschlechtlichen Differenzierung der Keimzellen, noch an der der ganzen Individuen, es liegt lediglich in der Verschmelzung der zwei Keimzellen selbst. Erinnern wir uns des früher schon ausgesprochenen Gedankens, dab die Chromosomen des Kerns die Träger der Vererbungstendenzen sind, so ist also die Ver- mischung oder besser die Vereinigung der Vererbungssubstanzen zweier verschiedener Individuen, seien sie nun einzellig oder viel- zellig, der Erfolg des Prozesses, den wir als Befruchtung und als Konjugation zu bezeichnen gewohnt waren, den wir aber jetzt mit dem gemeinsamen Namen der Amphimixis. d. h. zweiseitigen Vermi- schung bezeichnen wollen. Nachdem wir nun die Erscheinungen der Amphimixis bei Tieren, Pflanzen und Einzelligen kennen gelernt haben, tritt die Frage nach der Bedeutung dieses merkwürdigen und verwickelten Vorgangs an uns heran. Was geschieht dabei, und welchen Sinn können wir diesem Geschehen unterlegen? Zunächst wäre festzustellen, daß die alte und so lange herrschende Vorstellung, wonach Befruchtung ein lebenerweckender Vorgang ist, gänzlich aufgegeben werden muß. Ein neues Individuum kann auch bei den höchsten Organismen, den Tieren, ganz unabhängig von Be- fruchtung entstehen, wie die parthenogenetischen Eier der Insekten und Kruster beweisen; Befruchtung ist nicht der „Funke“, der „ins Pulver- faßb fallend“, dasselbe explodieren macht, sondern sie ist nur eine uner- läßliche Entwicklungsbedingung. Wie wir gesehen haben, gibt es auch nicht geschlechtlich differenzierte Keimzellen, z. B. die Sporen der nie- deren Pflanzen, welche alle ohne Amphimixis entwicklungsfähig sind, und die parthenogenetischen Eier beweisen uns, dab sogar weiblich differenzierte, d. h. also auf Amphimixis ursprünglich eingerichtete Keim- zellen sich unter Umständen auch ohne diese entwickeln können: Am- phimixis ist also nicht die fundamentale Ursache der Entwicklung, son- dern nur für viele Keimzellen eine der Bedingungen, welche erfüllt sein müssen, damit Entwicklung eintrete, auf welche aber unter Umständen auch verzichtet werden kann. Wenn nun also die Vermehrung der Individuen dureh einzellige Keime auch unabhängig von Amphimixis erfolgen kann, so dürfen wir schließen, daß die Einrichtung der Amphimixis nichts zu tun hat mit der Fähigkeit der Vermehrung, daß sie kein lebenerweckender Vorgang BIHn jedeutung der Amphimixis. ist, dab sie vielmehr ein Vorgang eigener Art ist, der etwas anderes bedeutet. Die ganze Vorstellung von der Erweckung des Lebens im Keim ist eine veraltete, die sich mit unserem heutigen Wissen nicht verträgt. Das Leben beginnt nie von neuem, soweit wir sehen, wenn wir von einer vielleicht noch stattfindenden, aber uns unbekannten Urzeugung niederster Lebensformen absehen: das Leben ist kontinuier- lich und besteht in unendlichen Reihen von Lebewesen, zwischen welchen es niemals unterbrochen war, sondern einen kontinuierlichen Strom dar- stellt, dessen größere und kleinere Wellen die einzelnen Arten und In- dividuen sind. Noch vor wenigen Dezennien konnte ein mit Recht hochgeschätzter Morphologe die Ansicht vertreten. die reife Eizelle der Tiere sei nur lebloses Material, welches erst belebt werden müßte, um sich zu entwickeln, aber heute läßt sich eine solche Ansicht nicht mehr halten, wo wir die Reifungserscheinungen (des Eies genau kennen und wissen, dab gerade zur Zeit der Eireifung die wichtigsten Lebensvorgänge, die Reduktionsteilungen an ihm ihren Ablauf nehmen, völlig unabhängig von der Befruchtung. Wir brauchten also nieht einmal die Konjugation der Einzelligen heranzuziehen, um uns klar zu machen, daß Amphimixis nicht die Ur- sache der Entstehung neuer Individuen ist, sondern ein Vorgang sui generis, der zwar mit dem Eintritt der Embryonalentwicklung verknüpft sein kann, der aber auch unabhängig davon vorkommt, wie uns die Einzelligen es vor Augen führen. Wenn wir einerseits bei den Sporen und parthenogenetischen Eiern Entwicklung unabhängig von Amphi- mixis auftreten sehen, andererseits aber bei den Einzelligen Amphimixis ohne Fortpflanzung, so werden wir in beiden Erscheinungen. der Amphimixis wie der Fortpflanzung Vorgänge eigener Art er- blieken müssen, die aber auch verbunden und voneinander abhängig auftreten können, wie dies bei der Befruchtung der Tiere und Pflanzen der Fall ist. Zufälligerweise hat sich der menschlichen Beobachtung dieser letztere Fall zuerst dargeboten, und wir haben deshalb von alters her die Vorstellung in uns aufgenommen, daß Befruchtung, d. i. Amphimixis, und Entwicklung, d. i. Fortflanzung ein und dasselbe seien, und so kommt es, daß auch heute noch viele Naturforscher sich nicht losmachen können von der Idee, Amphimixis müsse ein wenn nicht lebenweckender, so doch lebenerneuernder Vorgang sein, ein sog. „Verjüngungs- Vorgang“. Schon vor mehr als einem Jahrzehnt habe ich diese Ansicht be- kämpft*), und seitdem sind die Tatsachen immer klarer hervorgetreten, welche sie als unhaltbar erscheinen lassen. Trotzdem sehe ich sie auch heute noch von angesehenen Forschern wenigstens in modifizierter Form festgehalten, und so wird es nicht überflüssig sein, näher auf sie ein- zugehen. Ich sagte Ihnen, daß wir in der Konjugation eine Amphimixis ohne Fortpflanzung, in den Sporen und parthenogenetischen Eiern eine Fortpflanzung ohne Amphimixis vor uns haben, und ich zweifle nicht, (dab jeder unbefangene Beurteiler dies zugeben wird: aber viele unter nns heute Lebenden sind nicht unbefangen, sondern stehen noch im Banne früherer Anschauungen, sie können es nicht vergessen, dab wir *, „Die Bedeutung der sexuellen Fortpflanzung für die Selektionstheorie“* Jena 1886. 3edeutung der Amphimixis. 367 so lange geglaubt haben, Entwicklung sei dureh Befruchtung be- dingt: sie betrachten demgemäß die Teilungen, welche nach der Kon- jugation früher oder später wieder eintreten und sich Hunderte von Malen wiederholen, als bedingt durch die vorhergegangene Kon- jugation, und vergleichen sie den Zellfolgen, welche bei den Metazoen vom befruchteten Ei zum fertigen Tiere führen. Sie sehen in beiden Zellenfolgen einen Entwicklungszyklus, der von Befruchtung wieder zu Befruchtung. von Konjugation wieder zu Konjugation führt und der ohne diese nicht möglich wäre. Mich erinnert dieses Spielen mit dem Begriff „Zyklus“ lebhaft an ähnliche Phantasiespiele aus den Zeiten der vielgeschmähten „Natur- philosophie“ ein Jahrhundert vor heute. Wie man dort die Begriffe des „Planetaren“ und „Solaren“ in Tier und Pflanze wiederfinden wollte, und damit etwas gesagt zu haben glaubte, wenn man das bewegungs- fähige Tier dem Planeten. die festgewachsene Pflanze der feststehenden (!) Sonne verglich, so glaubt man heute einen tieferen Einblick gewonnen zu haben mit der Konstatierung von Entwicklungszyklen. Gewiß läßt sich die Entwicklung eines vielzelligen Wesens als eine zyklische auf- fassen, sie kehrt zu ihrem Anfangspunkt zurück, damit ist aber über die Triebkräfte dieses Zyklus. also auch über die Bedeutung der Befruchtung gerade so wenig etwas ausgesagt, als über die Ursachen der Lokomotion eines Tieres etwas ausgemacht ist, wenn wir es den kreisenden Planeten vergleichen. Genau mit demselben Recht kann man den Entwicklungs- zyklus vom parthenogenetischen Ei ausgehen lassen, wo denn der ganze Rückschluß der Zyklusphantasie auf die Bedeutung der Befruchtung hinfällig wird, denn hier beginnt der Zyklus ohne Befruchtung. Freilich hilft man sich dann damit, daß in vielen Fällen Parthenogenese mit ge- schlechtlicher Fortpflanzung regelmäßig oder unregelmäßig abwechselt, so bei den Wasserflöhen (Daphniden), den Blattläusen u. s. w. Die ge- heimnisvolle, verjüngende Kraft der Amphimixis soll dann auf mehrere Generationen hin ausreichen, eine rein willkürliche Annahme, die noch dazu in offenem Widerspruch steht mit Tatsachen. Denn es gibt Arten, dıe sich heute nur noch parthenogenetisch fortpflanzen, unter den Pflanzen, z. B. eine Anzahl von Pilzen, unter den Tieren, einzelne Krusterarten. Von letzteren läßt sich nachweisen, dab sie vor Zeiten sich noch geschlechtlich fortgepflanzt haben, denn sie besitzen heute noch die Tasche, welche zur Aufnahme der Zoospermien dient, aber diese Tasche bleibt leer, denn es gibt heute kein Männchen mehr, wenigstens nicht in den uns bekannten Wohnorten dieser Arten. Dahin gehört ein größerer Pfützenbewohner, die Limnadia Hermanni, eine Krusterart, welche noch vor 30 Jahren bei Straßburg zu Hunderten aber nur in weiblichen Exemplaren vorkam, dahin manche der kleinen Muschelkrebschen (Cypris), welche besonders den schlammigen Boden unserer Tümpel und Sümpfe bevölkern. Eines von diesen letzteren, Cypris reptans. habe ich während 16 Jahren in zahlreichen Aquarien etwa 80 Generationen hindurch gezüchtet, und während dieser Zeit trat weder ein Männchen auf, noch enthielt die Samentasche der Weib- chen jemals Zoospermien. Die Nachwirkung der „verjüngenden“ Kraft einer etwa früher stattgefundenen Amphimixis müßte also hier schon eine recht dauerhafte sein. Aus diesen Gründen scheint mir der Vergleich der Entwicklungs- zyklen der Einzelligen mit der Ontogenese der Vielzelligen nutzlos. Wohl haben beide Vorgänge manches ähnliche, lange Zellenreihen, dann wieder 2655 jedeutung der Amphimixis. Unterbrechung der Teilungen und Eintritt von Amphimixis, so daß man ja wohl von einer zyklischen Entwicklung in physiologischem Sinn sprechen kann, insofern gewisse innere Zustände periodisch wiederkehren und zur Konjugation zwingen, aber man sollte darin nicht mehr sehen, als z. B. in der „zyklischen Entwicklung“ des Menschen liegt, welche darin be- steht, dab er sieh gezwungen sieht, in periodischer Wiederkehr Nahrung zu nehmen. Das Hungergefühl, das ihn dazu drängt, ist die Signal- glocke, welche dem Organismus anzeigt, dab es Zeit sei. dem Stoff- wechsel neues Brennmaterial zuzuführen. So tritt auch bei den Infu- sorien nach Ablauf größerer Reihen von (Generationen das Konjugations- hedürfnis auf, die ganze Kolonie wird von einer „Konjugationsepidemie* befallen, die Tiere vereinigen sich zu Paaren — wir wissen einstweilen noch nicht warum und bescheiden uns damit, das Beobachtbare zu for- mulieren, indem wir sagen, dab dabei die Kernsubstanzen zweier Individuen in jedem derselben gemischt werden. Offenbar ist der Drang zur Konjugation eine Signalglocke in dem- selben Sinn wie das Hungergefühl, und wir wissen ja von den höheren Tieren her, einen wie überaus mächtigen Einfluß er ausübt, einen kaum minder starken, als das Hungergefühl, entsprechend dem Dichter- wort: „Durch Hunger und durch Liebe. erhält sich dies Weltgetriebe* (SCHILLER). | Warum die Natur den Tieren das Hungergefühl gegeben hat, sehen wir ein, warum das Konjugationsbedürfnis, ist nicht so leicht zu «durchschauen; wir können zunächst nur sagen, daß es auch für die Erhaltung der Lebensformen von irgend einem Wert sein muß, denn nur was zweckmäßig ist, kann zu einer dauernden Einrichtung werden. Ich werde später noch einmal auf die Frage von der Bedeutung der „geschlechtlichen Fortpflanzung“ zurückkommen, um dann zu ver- suchen, den Sinn dieser Einrichtung noch etwas tiefer zu ergründen: für jetzt beschränke ich mich darauf, ihre nächste Bedeutung in der Vereinigung der Vererbungssubstanz zweier Individuen erkannt zu haben und zugleich die Ansicht von der „verjüngenden Kraft“ der Amphi- mixis zurückzuweisen. Ich nehme dabei diesen Ausdruck in seiner ur- sprüngliehen Meinung, nach welcher er heißen soll, daß jedes Leben dureh sich selbst allmählich aufgerieben wird und schließlich erlischt, falls es nicht durch Amphimixis, gewissermaßen einen Kunstgriff der Natur, von neuem wieder angefacht wird. Die Vorstellung fußt auf der Tatsache, daß die Zellen des vielzelligen Körpers zum größten Teil in der Tat nur eine beschränkte Dauer besitzen, indem sie durch die Lebens- prozesse selbst abgenutzt werden und sich auflösen, sterben, die einen früher, die anderen später. Da man nun, bei höheren Tieren wenigstens, alle eigentlichen Körperzellen diesem Gesetz der Sterblichkeit unter- worfen sieht, die Keimzellen aber nicht, und da ferner die Keim- zellen nur dann sich entwickeln, wenn sie befruchtet werden, so glaubt man in der Befruchtung die Ursache der potentiellen Unsterblichkeit der Keimzellen zu erkennen und schließt daraus auf eine „verjüngende“ Kraft der Befruchtung oder allgemeiner Amphimixis. So mystisch das auch klingt, und so wenig es mit unseren sonstigen mechanischen Vor- stellungen vom Zustandekommen des Lebens zusammenstimmt, es ist doch noch vor kurzem eine weit verbreitete Ansicht gewesen, wenn sie auch heute vielleicht von vielen, die ihr früher anhingen, verlassen und unmerklich in eine ganz andere Vorstellung umgewandelt wurde, für Po. Bedeutung der Amphimixis. 269 die zwar auch noch das Wort „Verjüngung“ festgehalten wird, aber mit der veränderten Bedeutung einer bloßen „Kräftigung des Stoff- wechsels“ oder „der Konstitution“. Bei manchen Schriftstellern werden auch beide Bedeutungen des Wortes nicht klar auseinander- gehalten. Auf die abgeschwächte Bedeutung der „Verjüngung“ werde ich später zurückkommen und halte mich hier zunächst an den ur- sprünglichen Sinn des Wortes, welcher eine Erneuerung des sonst erlöschenden Lebens bedeutet. Einen festen Halt schien diese Meinung zu gewinnen, als vor drei Lustren der französische Forscher Maupas vortreffliche Beobachtungen über die Konjugation der Infusorien veröffentlichte, aus welchen her- vorzugehen schien, daß Kolonien dieser Einzelligen. welche man künst- lich an der Konjugation verhindert, allmählich absterben: allerdings nicht sofort, sondern erst nach vielen, oft sogar erst nach hunderten von weiteren Generationen: zuletzt aber tritt eine Entartung aller Tiere in solchen Kolonien ein, die mit ihrem völligen Aussterben endet. Maupas selbst deutete diese Entartung als senile Degeneration, die eintritt, weil die Konjugation verhindert wurde und faßte diese selbst auf als „rajeunissement karyogamique“, als Verjüngung, also als ein Mittel, durch welches das Altern und schließliche Absterben der Individuen, der natürliche Tod, dem sie seiner Meinung nach sonst verfallen würden, verhindert wird. Allgemein wurde dieser Auffassung Beifall gezollt und noch heute halten viele die Konjugation für einen Vorgang, durch welchen die Lebensfähigkeit erneut wird, eine Vorstellung, die ich heute noch wie früher auf das entschiedenste bekämpfen muß. Zunächst sind nicht einmal die Beobachtungen, auf die man sich dabei stützt, so eindeutig, wie man annimmt. Mauras verhinderte die Konjugation nicht etwa dadurch, daß er einzelne Tiere isolierte, sondern dadurch, daß er die ganze Kolonie von Infusorien, wenn sie eben gerade in Konjugation treten wollte, ungewöhnlichen Verhältnissen, nämlich einer besonders üppigen Ernährung aussetzte. Das Bedürfnis zur Kon- Jugation verschwand dann. wie es umgekehrt durch Hungern jederzeit bei einer Kolonie hervorgerufen werden konnte. Alles das sind aber unnatürliche Lebensbedingungen, wie denn schon allein «das monatelange Weiterzüchten von Infusorien in winzigen Wassermengen auf dem Ob- jektträger gewiß nicht den natürlichen Bedingungen der Tiere entspricht. Man wird den Experimentator bewundern, der imstande war, seine Ko- lonien unter so künstlichen Bedingungen monate- und jahrelang am Leben zu erhalten, aber man wird zweifeln dürfen, ob der zuletzt doch eintretende Untergang wirklich dem Ausbleiben der Konjugation und nicht eben den unnatürlichen Lebensbedingungen zuzuschreiben sei. Die Versuche von MAupaAs sind neuerdings von CALKINS wieder- holt worden, aber trotz vieler interessanter Resultate kann die Haupt- frage, ob Konjugation unerläßlich ist für unbegrenztes Weiterleben der Infusorien noch nicht als entschieden angesehen werden, und erst weitere Untersuchungen müssen darüber Sicherheit bringen. Auch ähnliche Ver- suche von JOUKOWSKY geben keine Entscheidung: beiderlei Versuchs- reihen beweisen nur, daß bis gegen TOO (Generationen von Infusorien aufeinander folgen können unter günstigen Lebensbedingungen, ohne dab Konjugation auftritt, und ohne daß die von Mauras beschriebenen „Alterserscheinungen“ sich zeizen. Um nun über die Unsterblichkeitsfrage ins Klare zu kommen, lassen Sie uns einmal annehmen. Mauras sei im Recht. Konjugation 270 Bedeutung der Amphimixis. sei unerläßlich zu unbegrenztem Weiterleben dieser Einzelligen, würde darin ein Beweis liegen. daß dieselben eigentlich sterblich wären. wie die Vielzelligen, und daß Amphimixis eine Verjüngung der Lebens- kraft bedeutet? Ich glaube: nicht im allerentferntesten. Auf den ersten Blick sieht es ja so aus: nach Maupas pflanzt sich zwar die an der Konjugation verhinderte Kolonie noch eine Zeitlang, oft sogar noch hunderte von Generationen hindurch fort: aber das ließe sich dem Hungernden vergleichen, dessen Leben auch nicht sofort auf- hört. wenn sein Hungergefühl nicht gestillt wurde, zuletzt aber hört es auf. Daraus ginge denn wirklich hervor, daß Infusorien, die an der Konjugation gehindert wurden, zu unbegrenztem Weiterleben unfähig sind. Aber dies wäre durchaus noch kein Beweis für eine lebenver- jüngende Kraft der Amphimixis, sondern nur dafür, daß diese Tiere auf Konjugation angelegt sind und beim Ausbleiben derselben entarten, ganz ähnlich wie die Samenzelle oder Eizelle ab- stirbt, wenn sie nieht zur Amphimixis gelangt. Meine (regner nehmen als ein Axiom an, daß die Lebensbewegung durch sich selbst zum Stillstand kommen müsse und deshalb einer Nachhilfe bedürfe. Ein so ausgezeichneter Kenner der Einzelligen, wie BürscHLı, hält mir entgegen, «die Organismen „seien keine Perpetua mobilia*, und wenn man die Ansicht der Physiker von der Unmöglich- keit eines Perpetuum mobile im Gedächtnis hat, so scheint das auf den ersten Blick ein schlagender Einwurf. Aber bleibt denn der Or- ganismus stets derselbe, so lange er lebt, etwa wie ein Pendel. das durch die reibenden Widerstände langsamer und langsamer schwingt und schließlich stille steht? Ich meine, wir wüßten doch, daß die Lebenserscheinungen von einem steten Verbrennungsprozeß herrühren, der einen fortwährenden Ersatz der verbrannten Teilchen durch neue Teilchen nach sich zieht: wir wüßten, daß das Leben auf einem unaus- gesetzt fortdauernden Stoffwechsel beruht, welcher es mit sich bringt, daß der Organismus in jedem Moment sich in seiner stofflichen Grund- lage verändert, daß er stets wieder ein neuer wird. Ich werde Ihnen später zu zeigen versuchen, daß die Zellen nicht die letzten lebenden Elemente der Organismen sein können, dab vielmehr die mit dem Mikroskop sichtbaren Lebenseinheiten aus Massen unsichtbar kleiner Lebenseinheiten zusammengesetzt sein müssen. An diesen also verläuft der „Stoffwechsel“ und bedingt ihre Ver- mehrung. wie ihren Zerfall, und dieser „Stoffwechsel“ ist also wohl keineswegs bloß im Aufbau und im Zerfall von „Eiweißkörpern* zu sehen, wie die Physiologen sagen, sondern in dem Wechsel von Ver- mehrung und Auflösung jener kleinsten Lebensteilchen. Des- halb ist auch, wie mir scheint, die Lebensbewegung eines ein- oder vielzelligen Wesens nicht einem Pendel zu vergleichen, sondern einer Unendlichkeit von Pendeln, die nacheinander unmerklich eingesetzt werden durch den Stoffwechsel, und die denselben Ausschlag immer wieder von neuem hervorrufen, der deshalb auch ins Unendliche sich fortsetzen kann. (sesetzt wir besäßen zwar schon unsere heutige An- schauung vom Leben als einem Verbrennungsprozeß und dem Stoff- wechsel als dem Mittel, diesem stets wieder neuen Brennstoff in Gestalt neuer Lebensteilchen hinzuzufügen, wir wüßten aber andererseits nichts von der Existenz von Vielzelligen und ihrer Vergänglichkeit, sondern kennten nur die Einzelligen mit ihrer unbegrenzten Vermehrung durch Teilung und machten nun die Beobachtung, daß die Vielzelligen alle u A nn Bedeutung der Amphimixis. > vergänglich sind, einen natürlichen und unvermeidlichen Tod besitzen, so würde uns das zuerst ganz unverständlich erscheinen, da wir doch auch bei ihnen das Leben fortwährend durch Zufuhr neuen Brennstoffs geschürt sehen. Nicht das potentia unbegrenzte Weiterleben der Ein- zelligen erschiene uns sonderbar und überraschend, sondern das Be- grenztsein des Lebens der Vielzelligen, der natürliche Tod, und wer weiß, ob dann nicht mancher jener lediglich an Einzelligen geschulten Naturforscher gerade umgekehrt wie BüTscHLı sagen W ürde, es könne auch bei den Vielzelligen keinen natürlichen Tod geben, da die Ein- zelligen uns ja bewiesen, daß das Leben eine unendliche Kette von vergänglichen kleinsten Lebenseinheiten sei. Übrigens sind ja unsere Physiologen noch weit davon entfernt, den natürlichen Tod der Vielzelligen von unten her, ich meine aus seinen Ursachen erklären zu können, sie schließen vielmehr umgekehrt aus seiner Existenz auf die Ursachen, welche ihm zugrunde liegen könnten und sind so zu der im allgemeinen gewiß richtigen Vorstellung gelangt, daß (die somatischen Zellen des Körpers sich durch ihre eigne Tätigkeit allmälig derart verändern, daß sie zuletzt nicht mehr weiter funktionieren können und absterben. Also wenn wir den Tod nicht kennten, so würden wir ihn nicht haben erschließen können, nicht aus unserem physiologischen Wissen heraus, und noch weniger womöglich aus unserer Kenntnis der Einzelligen. So wie nun in Wahrheit unsere Einsicht erwachsen ist, ausge- gangen von den sterblichen Vielzelligen, und erst spät hinabgedrungen zu den unsterblichen Einzelligen, macht man den anderen Schluß und folgert aus der Sterblichkeit der Vielzelligen, daß auch die Einzelligen die Erneuerung von Stoff und Lebensteilchen nicht unbegrenzt fortsetzen könnten, daß sie folglich einen natürlichen Tod besitzen würden, hätte nicht die Natur das „Hilfsmittel“ der Konjugation gefunden, um die Mißstände, welche aus der Konstitution und fortdauernden Funktionie- rung“ auch des einzelligen Organismus „von selbst und notwendig folgen, wieder abzustellen“. Wir fragen aber vergeblich nach dem Schatten eines Beweises für diese seltsame Vorstellung; sie ist ein Axiom, abgeleitet aus unserer Kenntnis des natürlichen Todes der Vielzelligen und gestützt durch eine mißverstandene Übertragung des „Perpetuum mobile* Begriffs. Oder dürfen wir es als einen Beweis dafür betrachten, wenn es sich bestätigen sollte, daß die Einzelligen alle auf Konjugation eingerichtet sind? Wir werden später sehen, dab Amphimixis jedenfalls noch eine ganz andere, zweifellos höchst bedeutungsvolle Wirkung hat, nämlich die, die Anpassungsfähigkeit der Art zu erhöhen, eine lebenerneuernde Wirkung im Sinne BürscHLıs könnte man ihr außerdem doch nur dann zusprechen, wenn der Annahme von der Notwendigkeit eines natürlichen Todes bei den Einzelligen nicht klare Tatsachen schroff ent- gegenstünden; dem ist aber so. Nicht bei den Einzelligen, bei denen ein solcher Nachweis schwer zu erbringen wäre, wohl aber bei den ihnen entsprechenden Keimzellen der Vielzelligen kennen wir ja solche widerlegende Tatsachen. Wir wissen, daß die Eizelle unter Umständen allein für sich zum Weiter- leben befähigt ist in den Fällen von Parthenogenese wie können wir also schließen, daß Amphimixis für sie Ursache ihrer weiteren Entwicklungsfähigkeit sei? Wir dürfen, so scheint mir, nur schließen, daß ihre Entwieklungsfähizkeit meistens an die 9793 Bedeutung der Amphimixis. Bedingung der Amphimixis geknüpft ist. Ganz ebenso werden wir bei den Einzelligen schließen dürfen, dab ihre unbegrenzte Fort- pflanzungskraft an die Bedingung der Amphimixis geknüpft ist, nicht aber daß Amphimixis die Ursache dieser Kraft sei und eine Verjüngung des Lebens bedeute. Wenn die Einzelligen durch Amphi- mixis unsterblich gemacht werden könnten, dann wäre damit eben das bewiesen, was ich behaupte: sie besäßen potentielle Unsterblichkeit; denn besäßen sie sie nicht, so würde kein Kunstgriff der Welt sie ihnen verleihen können: Amphimixis könnte also höchsten die Bedingung sein, an deren Erfüllung das Inkrafttreten ihrer Unsterblichkeit ge- bunden wäre. Sie werden fragen, wie denn aber Amphimixis eine Bedingung des Weiterlebens sein könne; wodurch denn Infusorien, die nicht recht- zeitig konjugiert haben, dem Absterben verfallen sind und darauf ver- mag ich Ihnen von dem Stand unseres heutigen Wissens aus so wenig eine präzise Antwort zu geben, als meine Gegner; wohl aber kann ich sie geben in bezug auf die Amphimixis der Vielzelligen, denn bei diesen wissen wir, daß jede der in der Befruchtung sich vereinigenden Keim- zellen, die männliche wie die weibliche, allein für sich entwieklungs- unfähig ist und dem Untergang verfallen, die Samenzelle, weil sie zu klein und gering an Masse ist, um sich allein zum ganzen Organismus zu entwickeln, die Eizelle aber, weil sie um befruchtungsfähig zu sein, gewisse Veränderungen eingehen muß, welche sie zu selbständiger Entwicklung unfähig machen. Wir haben gesehen, daß nach Ablauf der beiden Reifungsteilungen die Eizelle keinen Teilungs- apparat mehr enthält, da die Centrosphäre sich nach der zweiten Teilung auflöst; die Embryonalentwicklung kann also nur dann eintreten, wenn zuvor ein neues Üentrosoma in das Ei eingeführt worden ist, und dies geschieht eben normalerweise durch die Befruchtung, d. h. durch das Eindringen der Samenzelle, deren Kern von einem Centrosoma begleitet ist. Hier ist also Amphimixis in der Tat Bedingung der Ent- wicklung. Nun wissen wir aber, daß das Ei sich von dieser Beding- ung emanzipieren kann, indem es die Vorgänge der Eireifung, welche es an Amphimixis knüpfen, nur teilweise durchläuft und dabei sein eigenes Üentrosoma sich erhält. Nichts ist in dieser Beziehung lehr- reicher, als die oben schon kurz besprochenen Fälle von fakultativer oder zufälliger Parthenogenese. Ich sagte Ihnen, daß bei vielen Insekten, z. B. beim Seidenspinner sich unter Tausenden unbefruchteter Eier zuweilen einige wenige zu jungen Räupchen: entwickeln. Unter- sucht man eine große Zahl solcher unbefruchtet gebliebener Eier, so findet man nicht selten mehrere unter ihnen, die zwar nicht die volle Embryonalentwicklung durchlaufen haben, aber doch wenigstens die ersten Stadien derselben, andere, die noch etwas weiter vorgeschritten sind und dann stehen geblieben — kurz man erkennt, daß manche dieser Eier, wenn auch in verschiedenem Grade zu parthenogene- tischer Entwicklung befähigt waren. Die Ursache dieser Befähigung ist bis jetzt noch nicht durch Be- obachtung festgestellt. wir werden aber kaum fehl gehen, wenn wir sie darin suchen, daß bei solchen Arten die Centrosphäre des Eies nicht immer gleich und vollständig bei der Eireife zugrunde geht, vielmehr erhalten bleibt, wenn auch nur selten in voller Integrität, sondern meist in geschwächtem Zustand. Zukünftige Untersuchungen werden uns wohl auch irgendwelche Unterschiede in der Größe oder Strahlungs- 3edeutung der Amphimixis. 2713 kraft der Centrosphären solcher Eier nachweisen: in jedem Falle ist es von hohem Interesse, daß Reizungen verschiedener Art — mechanische oder chemische — imstande sind, die schwindende Üentrosphäre des Eies neu zu kräftigen. wenn wir auch für heute noch bei weiten nicht imstande sind. zu sagen. wie dies geschieht. Die oben erwähnten Versuche von TICHOMIROFF, LOEB und WINKLER geben uns jedenfalls einen Anhalt dafür, wie wir uns vor- zustellen haben, «laß Parthenogenese entsteht. nämlich dadurch, daß die behufs Erzwingung der Amphimixis eingeführte Auflösung des Teilungsapparates im Ei rückgängig gemacht wird. Ähn- liche minutiöse Veränderungen im Chemismus des Eies, wie sie bei den Seeigeleiern künstlich durch das Eindringen kleinster Mengen von Chlormagnesium gesetzt werden (LoEB), beim Seidenspinner-Ei (dureh Reiben oder durch Schwefelsäure (TICHOMIROFF), beim Seeigelei durch Extraktivstoffe des Seeigelspermas (H. WINKLER). werden bei (der Einführung normaler Parthenogenese (diese Umwandlung bewirken !!). Für das Ei also ist Amphimixis sicherlich kein Lebenserneuerungs- oder Verjüngungsprinzip, sondern sie erscheint nur als ein solches, weil der Vorgang von der Natur nur dadurch erzwungen werden konnte, daß sie die beiden zu vereinigenden Zellen, jede für sich allein ent- wicklungsunfähig machte. Wie wir gesehen haben, gilt das auch für die Samenzelle, ddenn obwohl sie eine Centrosphäre enthält, also inso- weit zu Teilungsprozessen fähig wäre, so besteht sie doch bei fast allen Tieren und Pflanzen aus einer allzu minimalen Menge lebender Sub- stanz, um allein für sich einen neuen vielzelligen Organismus zu bilden. Nur bei einer Alge (Eetocarpus siliculosus) hat man beobachtet, daß nicht nur die weiblichen Keimzellen unter Umständen sich parthenoge- netisch entwickeln, sondern auch die männlichen. In diesem Falle ist aber auch der Größenunterschied zwischen den beiderlei Zellen kein bedeutender, und das männliche Pflänzchen fällt, entsprechend (der ge- ringeren Größe des Zoosperms, ziemlich kümmerlich aus. Wenn wir nun in bezug auf die vielzelligen Organismen zu dem Schlusse gedrängt werden. daß nicht Amphimixis die Entwicklungskraft dem Ei erst verleiht, sondern daß umgekehrt dem Ei die Ent- wieklungskraft vorher entzogen wird, so daß nun Amphi- mixis gewissermaßen erzwungen werden kann, müssen wir da nicht ähnliches auch für die Einzelligen annehmen”? Sollte nicht auch hier Amphimixis dadurch erzwungen worden sein, «daß die Infusorien als Vorbereitung für die Konjugation Veränderungen durchlaufen müssen, welche ihr unbegrenztes Weiterleben nur unter der Bedingung erlauben, dab sie sich konjugieren? Mir erscheint die Arbeitsteiluug des Kerns, der sich in Groß- und Kleinkern differenziert, und die Hinfälliekeit des ersteren schon im Lichte einer solehen Einrichtung. ‚Jedenfalls ist es auffallend, daß ein Organ, welches sonst bei den Einzel- ligen unbegrenzte Dauer hat, der Kern, hier nach Art des Körpers der Vielzelligen einen natürlichen Tod besitzt, sich auflöst und neu gebildet werden muß aus dem hier allein mit poten- *) Daß dies die richtige Ansicht ist, wird durch schon erwähnte Beobach- tungen von PETRUNKEWITSCH erwiesen, welcher zeigen konnte, daß künstliche Par- thenogenese bei Seeigeleiern wirklich darauf beruht, daß die Auflösung der Üentro- sphäre des Eies durch die Salzlösung verhindert wird. Nicht eine neue Centrosphäre bildet sich dadurch, sondern die altererbte wird zu neuer Lebenskraft angeregt. (Zoologische Jahrbücher, Supplementsband VII, Jena 1904.) Weismann, Deszendenztheorie. I. 2. Aufl. 15 974 Bedeutung der Amphimixis. tieller Unsterblichkeit ausgerüstetem Kleinkern. Ich möchte darin eine Einrichtung zur Erzwingung der Konjugation sehen, da nur nach der Konjugation der Kleinkern einen neuen Großkern bildet, dieser letztere aber zum Leben unerläßlich ist, wie wir aus den Teilungsexperimenten an Infusorien wissen. Gesetzt, wir hätten die Lebewelt erst noch zu erschaffen, und es würde uns gesagt, Amphimixis müsse womöglich bei allen Arten. Ein- zelligen und Vielzelligen in periodischer Wiederkehr gesichert werden, was könnten wir besseres tun, als Einrichtungen zu treffen, die solche Individuen, welche durch Zufall oder Anlage zur Amphimixis nicht ge- fangen können, vom Weiterleben ausschlössen? Wäre aber damit Am- phimixis der Grund des Weiterlebens? ein Verjüngungsprinzip? Ich sehe nicht, dab ein anderer Grund für eine solche Annahme vorläge, als das zähe und wohl meist unbewußte Festhalten an der überkommenen und eingewurzelten Vorstellung von der rein dynamischen jedeutung der „Befruchtung“. wohl nicht mehr in ihrer ursprünglichen (restalt vom Samen, der als zündender Funken das Leben im toten Ei neu erweckt, aber in der gemilderten Form einer „verjüngenden“* Kraft der Amphimixis. Man hat in jüngster Zeit versucht, den Gedanken einer „ver- jJüngenden* Wirkung der Amphimixis so umzuwandeln, daß er nur noch einen Vorteil, nicht eine Bedingung des Weiterlebens be- deutet: besonders HARTOG gibt wenigstens soviel zu, daß das Vor- kommen rein asexueller und rein parthenogenetischer Fortpflanzung es nicht gestatten, den Vorgang als Bedingung der Lebenserhaltung auf- zufassen. Dann sollte man aber auch aufhören, das „Altern“ und Ab- sterben an der Konjugation verhinderter Infusorien als Ausfluß der primären Konstitution der lebendigen Substanz aufzufassen, und sollte den durchaus irreleitenden Ausdruck der „Verjüngung“ ganz aufgeben. Wenn wir aber die zahllosen Zellenarten der höheren Organismen und die ganzen vielzelligen Organismen selbst ins Auge fassen, welche ja alle einem Absterben, einem natürlichen Tode, also einem von innen heraus erfolgenden Stillstand der Lebensbewegung verfallen sind, so wird schwerlich jemand ihre Vergänglichkeit darauf beziehen wollen, daß sie nieht in Amphimixis treten. Wir finden es ganz „begreiflich“, daß dıe Zellen unseres Körpers sich durch ihre Funktion früher oder später abnützen, wenn wir auch weit entfernt sind, diese Tatsache als eine Notwendigkeit nachzuweisen und also wirklich zu „begreifen“. Nur vom Nützlichkeitsstandpunkt aus verstehen wir die Einrich- tung des natürlichen Todes, wir sehen ein, daß die Keimzellen potentia unsterblich sein müssen, wie die Einzelligen, dab aber die Zellen, welche die Gewebe des Körpers zusammensetzen, vergänglich sein können und es im Interesse ihrer oft hohen und einseitigen Differen- zierung, die eben ihre Leistungen für den Körper bedingen, wohl auch sein müssen. Sie durften so differenziert werden, daß sie nicht immer weiter leben können, und sie wurden so differenziert, weil dies allein eine immer höhere Leistungsfähigkeit des ganzen Organismus ermög- lichte, aber sie sterben nicht, weil ihnen die „Verjüngung durch Am- phimixis versagt ist, sondern weil sie nun einmal die physische Kon- stitution haben, «die sie haben“. Und ganz ebenso werden wir uns den Tod der ganzen vielzelligen Individuen zurechtlegen dürfen. Als wir früher schon die unbegrenzte Fortdauer, die potentielle Unsterblichkeit der Einzelligen zu begründen suchten, sagte ich Ihnen, daß ein ewiges Bedeutung der Amphimixis. 975 Fortleben des Körpers der Vielzelligen jedenfalls keine Notwendigkeit war. da die Fortdauer dieser Lebensformen durch ihre Keimzellen ge- sichert ist; ein solches kann aber auch von keinem Gesichtspunkt aus als nützlich erscheinen. Was aber nicht nützlich ist für eine Lebens- form, das entsteht auch nicht als dauernde Einrichtung, womit natürlich nicht gesagt sein soll, daß eine Unsterblichkeit der Vielzelligen, so wie diese nun einmal geworden sind, überhaupt möglich ge- wesen wäre. Sollten diese Organismen eine so hohe Stufe der Leistungs- fähigkeit und Komplikation des Baues erreichen, so konnten sie offen- bar nicht zugleich auf unbegrenztes Weiterleben eingerichtet sein. Das stimmt vollkommen mit unserer ganzen Auffassung von den treibenden Kräften bei der Entwicklung der Organismenwelt: die immer höher sich steigernde Leistungsfähigkeit des Baues ging hervor aus der Überlegenheit, welche dieselbe im Kampf um die Existenz gewährte, der gegenüber der scheinbare Vorteil ewiger Dauer des Individuums gar nicht in Betracht kam. Ich will diese Gedanken hier nicht weiter verfolgen, ich habe sie berührt. um Ihnen klar zu machen, daß der Tod der Individuen bei allen Vielzelligen kein Grund für uns sein kann, das unbegrenzte Weiter- leben der Fortpflanzungszellen von einem besonderem Kunstgriff der Natur abhängig zu denken, wie man ihn in der Amphimixis sehen möchte. Erinnern wir uns stets, dab es eine Parthenogenesis gibt und einzellige Keime (Sporen). die nie befruchtet werden, und «daß die Fort- pflanzung mancher Arten von Tieren und Pflanzen nur auf diesem Wege erfolgt ohne daß jemals Amphimixis dazwischen tritt. Allerdings hat man neuerdings versucht, die Parthenogenesis als eine Art von Selbstbefruchtung des Eies zu betrachten, indem man sich auf die Beobachtungen BLOCHMANNs und BRAUERS berief, welche ge- Fig. 79 (wiederholt). Die zwei Reifeteilungen des männlichen (un- befruchteten) Bieneneies nach PE- TRUNKEWITSCH. Asp1 erste Rich- tungszelle in Teilung, Ar und A2 die zwei Tochterkerne derselben, Rsp 2 zweite Richtungsspindel, A3 und A4 die zwei Tochterkerne derselben. Im folgenden Stadium verbinden sich A2 und AZ zum Urgeschlechtskern. Starke Vergrößerung. funden haben, daß bei der Biene und dem Salzwasserkrebschen Artemia salina die reduzierende zweite Reifungsteilung des Eikerns nicht unter- bleibt, sondern sich regulär vollzieht, daß aber nachträglich die beiden aus dieser Teilung hervorgehenden Tochterkerne wieder miteinander ver- schmelzen. Ich habe Ihnen schon früher gesagt, dab diese Angaben für das Bienenei wenigstens nicht zutreffen. Dort findet in den unbe- fruchteten Eiern die zweite Reifungsteilung statt ohne nachträgliche Ver- schmelzung der beiden Tochterkerne. Nach den Untersuchungen von 15* 276 Parthenogenese keine Selbstbefruchtung. Dr. PETRUNKEWITSCH, (deren ich oben schon gedachte, und für deren (renauigkeit ich einstehen kann, ist die zweite Reifungsspindel hier un- gewöhnlich lang, so daß die beiden Tochterkerne weit auseinander ge- schoben werden (Fig. 79, Rsf?) und nur der innere der beiden Kerne (A*) wird zum Furchungskern, der äußere unterliegt merkwürdigen Schieksalen: er vereinigt sieh mit dem inneren Kern der ersten Richtungsspindel (A?), und aus (dieser Verschmelzung scheint die Urgenitalzelle des Tieres hervorzugehen, eine Beobachtung, deren eventuelle theoretische Bedeutung erst später ganz gewürdigt werden kann. x Einstweilen werden wir aus ihr nur ein gewisses Mißtrauen gegen die bisherige Deutung der Reifungsvorgänge bei Artemia ableiten müssen: die Vermutung liegt wenigstens nahe, daß die Kopulation zweier Kerne, wie sie BRAUER bei Artemia beobachtet hat, auch dort nicht zur Bil- dung des Furchungskerns führt, sondern eine andere Bedeutung hat. Lassen wir aber auch diesen Punkt ganz beiseite, so bleiben doch noch alle Fälle von regelmäßiger Parthenogenese, in denen also diese Fortpflanzungsart rein vorkommt, ohne Wechsel mit geschlecht- licher. Dort wird nur eine Reifungsteilung. eingegan- gen, nur ein Richtungs- Fig. 69 (wiederholt). Eizelle vom Seeigel, Toxopneustes livi- dus nach WıILson. 22 Zellkörper, » Kern (sog. Keimbläschen), Kernkörperchen (sog. Keimfleck), darunter: ein Spermatozoon (5) desselben Tiers bei derselben Vergrößerung (750). körper gebildet, und dort kann somit von einer Selbstbefruchtung des Eies nicht die Rede sein. Möglicherweise lernen wir auch bei den Einzelligen noch Arten kennen, die sich ohne Amphimixis unbegrenzt weiter vermehren. R. HERTwIG hat bereits an Infusorien Erscheinungen beobachtet, welche er auf=ein Ausfallen der früher gewohnten Konjugation, also auf eine Art von Parthenogenese zu beziehen geneigt war. Sollte sich aber auch herausstellen, daß in den Lebensgang aller Einzelligen regelmäßig und ausnahmslos Amphimixis eingreift, so beseitigt das nicht die Tatsachen bei den Vielzelligen, und schließlich ist doch auch der Prozeß der Am- phimixis ein solcher, der nicht den geringsten Anhalt gibt, als Lebens- wecker oder -Erhalter gedeutet zu werden, und damit komme ich auf (len wesentlichsten Teil der ganzen Frage, auf die Bedeutung der Chromatingebilde, deren Kombinierung das unzweifelhafte Resultat der Amphimixis ist. Sind sie wirklich, wie wir vorläufig annahmen, Vererbungssubstanz, und was verstehen wir unter einer solchen? Das Chromatin die Vererbungssubstanz. DT Soweit ich die Literatur und die Entwicklung der biologischen Vorstellungen kenne, ist es zuerst der Botaniker NÄGELI gewesen, der aus dem erheblichen Größenunterschied, der meist zwischen Ei- und Samenzelle herrscht. den Schluß zog, daß (die Materie, an der die Ver- erbungstendenzen hängen, eine minimale Substanzmenge sein müsse. Der Unterschied ist besonders bei Tieren ein sehr bedeutender, selbst bei solehen Arten. «deren Eier klein genannt werden, wie z. B. die des Seeigels oder die «der Säugetiere; auch bei diesen beträgt die Masse des Zoosperms kaum den tausendsten, oft kaum den hunderttausendsten Teil der Masse (des Eies.. Und dennoch ist die Erbschaft vom Vater und von der Mutter gleich groß. Da wir nun Kräfte nur an Materie ge- bunden kennen, so muß also eine so geringfügige Menge von Substanz, wie sie das Zoosperm z. B. des Menschen enthält. sämtliche Vererbungs- tendenzen des Vaters in sich gebunden enthalten. und der Schluß ist unabweislich, daß in der Eizelle nur eine ebenso minimale Sub- stanzmenge Träger der Vererbungskräfte sein könne, denn wäre eine eröbere Menge von Vererbungssubstanz im Ei, so müßte auch die Vererbungskraft desselben eine eröbere sein *). Wenn wir nun überlegen, welcher Teil des Zoosperms diese Vererbungssubstanz sein könne, so werden wir sowohl den kontraktilen Schwanzfaden als das Mittelstück (Fig. 68) ausschließen können, ersteren, weil er offenbar einer ganz spezialisierten physiologischen Leistung, der Ortsbewegung dient und dieser histologisch angepaßt ist, letzteres, weil wir durch Beobachtung an dem ins Ei eingedrungenen Zoosperm wissen, daß es das Centrosoma enthält, den Teilungsapparat des Kerns. Es bleibt also nur der Kopf des Zoosperms als Sitz der Vererbungssubstanz übrig, und dieser schließt den Kern der Zelle in sich ein. Wir werden also schon auf diesem Weg (dazu geleitet, im Kern die Vererbungssubstanz zu suchen. Nun kann aber die Vererbungssubstanz keine ver- Fig. 68 (wiederholt). Schema eines Samenfadens nach WILSON; sp Spitze, » Kern, c Centrosphäre, jr Mittelstück, «x Achsenfaden, Endfaden. gängliche Substanz sein, die sich nach Bedürfnis auflöst (im wirk- lichen Sinn des Wortes) und wieder neu bildet: wir können sie demnach nicht in der Kernmembran suchen: ebensowenig in dem ‚„Kernsaft‘“, der die Maschen des Kerngerüstes erfüllt, da die Materie, an welcher die Vererbung hängt, notwendig fest sein muß. Schon NÄGELI hat er- wiesen, daß sie eine beständige, d. h. feste Molekulararchitektur vor- aussetzt. So bleibt also nur das Kernnetz mit seinen Chromatinkörnchen übrig, und wenn wir uns erinnern, was wir über das Verhalten dieser chromatischen Substanz bei der Teilung und bei der Amphimixıs er- fahren haben, so können wir nicht zweifelhaft sein, dab in der Sub- stanz der Chromosomen der gesuchte Träger der Vererbung enthalten ist. *) Die unwahrscheinliche Annahme, daß die Vererbungssubstanz des Vaters in ihrer Qualität total verschieden von der der Mutter sein, also auch bei gleicher Vererbungskraft dennoch viel weniger Raum einnehmen könne, lasse ich ganz beiseite. TS Bedeutung der Amphimixis. Die große Sorgfalt. mit welcher durch den komplizierten Teilungs- apparat die Chromosomen halbiert werden, ließ uns schon früher in ihnen eine Substanz von verwickelter, mehrfacher Qualität und hoher physio- logischer Bedeutung vermuten, die konstante Zahl derselben bei ein und (derselben Art und ihre Herabsetzung auf die halbe Zahl durch die teifungsteilungen berechtigt uns zu «dem Schlusse, daß sie bleibende (Gebilde, physiologische und morphologische Einheiten sind, die nur scheinbar sich im Ruhezustand des Kerns regellos zerstreuen. Ent- scheidend aber ist schließlich die gleiche Zahl, in welcher diese Ver- erbungsträger in den beiden sıch verbindenden Keimzellen enthalten ind. und die immer bei Pflanzen wie bei Tieren die Hälfte der Nor- malzahl ist. Präziser könnten wir ja die logische Forderung, daß die Vererbungssubstanz von beiden Eltern her in gleicher Menge auf das Kind übertragen werden müsse, nicht erfüllt finden, als sie uns in der gleichen halben Zahl der Chromosomen in den beiden Geschlechts- kernen im Ei entgegentritt. Für mich ist es daher seit lange schon nicht mehr zweifelhaft, daß das Chromatin des Kerns die Vererbungs- substanz ist, und ich habe diese Überzeugung nahezu gleichzeitig*) mit STRASBURGER und OÖ. HERTWIG ausgesprochen. Es gibt aber auch emen physiologischen Beweis für die Be- deutung der Kernsubstanz. Wiederum gleichzeitig haben zwei Forscher M. NussBAuUM und A. GRUBER, der letztere im hiesigen Institut und auf meine Veranlassung, Regenerationsversuche an Einzelligen gemacht und gefunden, daß Infusorien, die in zwei, drei oder vier Stücke künst- lich zerschnitten worden waren, aus jedem ihrer Teilstücke wieder ein volles Tier zu bilden vermögen, vorausgesetzt, daß das Stück einen Teil des Kerns (Macronueleus) enthalte. Das große blaue Trompeten- tierchen, Stentor coeruleus, eignet sich sehr gut zu solchen Versuchen, nicht nur wegen seiner Größe, sondern auch deshalb, weil es einen sehr langen, rosenkranzförmigen Kern besitzt, der vom Schnitt leicht zwei- oder gar dreimal getroffen werden kann. Sobald in einem Teilstück des Tieres kein Kernstück enthalten ist, lebt es zwar noch einige Tage, schwimmt umher und kontrahiert sich, aber es ist nicht fähig, die ver- lorenen Teile neu zu bilden und so aus dem Stück Zellkörper wieder ein ganzes Tier zu gestalten, es geht zugrunde. Im Kern also ist die Substanz zu suchen, die der Materie des Zellkörpers eine bestimmte (Gestalt und Organisation aufprägt, nämlich die Gestalt und Organisation der Vorfahren. Das aber gerade ist der Begriff einer Vererbungs- substanz, oder des Idioplasmas (NÄGELI). Manche unter den Neue- ren bestreiten jede Vererbungssubstanz und meinen, das Ganze der Keimzelle bewirke die Vererbung, Zellkörper und Kern zusammen. Aber wenn es auch unbestreitbar ist, daß der Kern ohne Zellkörper keine Vererbung hervorrufen kann, sowenig als der Zellkörper ohne Kern, so fällt das doch damit zusammen, daß der Kern ohne Zellkörper nicht leben kann; aus der Zelle genommen und etwa in Wasser ge- legt, platzt er und zerfließt. Der Zellkörper aber ohne Kern lebt weiter, nur eine Anzahl von Stunden oder Tagen freilich, aber er lebt, und sein Stoffwechsel hört erst auf, wenn der Mangel an Ersatz des *) Genauer: einige Monate später, als die genannten Forscher (1885); ich denke jedoch, wer meine Schriften der unmittelbar vorhergehenden Jahre kennt, wie sie in den „Aufsätzen über Vererbung und verwandte biologische Fragen“ (‚Jena 1892) gesammelt vorliegen, wird mir die Selbständiekeit des Gedankens nicht bestreiten wollen, und ich lege Wert darauf, da alle meine späteren Arbeiten auf diesem Ge- danken weiterbauen. Das Chromatin die Vererbunessubstanz. 971 > Zle verbrannten Stoffes durch Nahrungsaufnahme Stillstand gebietet. Mit demselben Recht. mit dem man eine Vererbungssubstanz leugnet, könnte man auch eine Denksubstanz beim Menschen leugnen und behaupten, der Mensch dächte mit dem ganzen Körper, da ja das Gehirn allein ohne den Körper auch nicht denken kann. Es ist nach meiner Überzeugung ganz ebenso irrig, zu meinen, jeder Teil eines Organismus müsse in gleicher Weise die Vererbungs- tendenzen enthalten, bei den Einzelligen also der Zellkörper ebensogut als der Kern (ConkLin). Wenn Ihnen in dieser Hinsicht jemals Zweifel aufsteigen sollten, so erinnern Sie Sich nur des NÄGELIschen Schlusses aus der Kleinheit des Zoosperms auf die minimale Menge der Verer- bungssubstanz. Es liegt aber auch theoretisch nicht der geringste Grund vor zu der Annahme, daß der Zellkörper ebensogut die Vererbungs- tendenzen enthalte, als der Kern, insofern wir doch allgemein die Funk- tionen an bestimmte Substanzen und Teile des ganzen Lebewesens verteilt finden, auf welcher Arbeitsteilung ja eben die ganze Ditteren- zierung des Körpers beruht. Weshalb sollte nun dieses Prinzip gerade hier bei der wichtigsten aller Funktionen nicht zur Anwendung ge- kommen sein? Weshalb sollte alle lebende Substanz Vererbungssub- stanz sein? Wenn auch NÄGELI sein „Idioplasma“ anders dachte, als wir uns heute die Vererbungssubstanz denken, wenn er sie auch noch in die Zellsubstanz verlegte in Gestalt von Strängen die dieselbe in parallelem Laufe durchziehen, ein zusammenhängendes Netz durch den ganzen Körper bildend, soviel hat er doch völlig richtig erkannt, dab es zwei große Kategorien lebender Substanz gibt: Vererbungssub- stanz oder Idioplasma und „Ernährungssubstanz“ oder Tropho- “plasma, und daß das erstere der Masse nach ungemein viel geringer ist. Wir fügen heute hinzu, dab das Idioplasma im Zellkern und zwar in den Chromatinkörnern des Kernnetzes und «der Chromosomen ge- sehen werden muß. Der unwiderlegliche Beweis dafür, daß die Kernsubstanz allein die Verbungssubstanz ist, würde dann erbracht sein, wenn es gelänge, in das kernlose Stück eines reifen Eies einer Art den Kern einer an- deren verwandten Art einzuführen, und dann aus diesem Eifragment die zweite Art sich entwickeln zu sehen. BOovErI hat einen solchen Versuch mit dem Ei und Samen zweier Seeigelarten angestellt und glaubt in der Tat aus den kernlosen Eistücken der ersten Art durch Befruchtung mit dem Samen der zweiten, Larven dieser zweiten Art erzielt zu haben, leider aber zeigten spätere Kontrollversuche mehrerer Forscher, besonders (diejenigen von SEELIGER, daß «dieses Resultat nicht als ganz beweisend angesehen werden darf und BovErı gibt dies zu, weil unter Umständen auch Bastardlarven aus kernhaltigen, ganzen Eiern der väterlichen Art nahezu rein nachschlagen könnten. Natürlich, ich wiederhole dies — fällt es mir nicht ein, «das Zellprotoplasma des Eies für eine gleichgültige Substanz zu halten. Gewiß ist dasselbe nieht nur wichtige, sondern unentbehrlich für die Entwicklung eines Embryos, auch hat es sicherlich bei jeder Art sein spezifisches (epräge, so gut wie jede andere Zellenart. Es ist gewisser- maßen der Mutter- und Nährboden, in welchem allein die Verer bungssubstanz ihre wundersamen Kräfte entfalten kann; es hat sich historisch entwickelt, wie jede Zellenart, aber es enthält nichts anderes, als die Erbeigenschaften dieser einen Art von Zellprotoplasma, nichts von denjenigen der übrigen Zellen des Körpers. Is Bedeutung der Amphimixis. Wenn nun aber auch das Wesen der Befruchtung in der Ver- einigung der Vererbungssubstanz zweier Individuen liegt und nicht in einer „Belebung“ «des Eies- so kann man doch in einem anderen Sinn sanz wohl von einer Belebung durch die Befruchtung reden, wenn da- mit nur der Impuls zur Embryonalentwicklung gemeint ist, denn dieser wird in der Tat durch das Eindringen des Spermakerns mit seiner Sphäre ins Ei gegeben. Allein auch dieser Impuls kann unter Um- ständen auf andere Weise hervorgerufen werden, wie wir gesehen haben, und jedenfalls ist seine Hervorrufung nicht das Ziel der Befruchtung, sondern nur die Bedingung, ohne welche dieses Ziel, die Vereinigung von zweierlei Kernsubstanzen, nicht erreicht werden konnte. Es fehlt jeder Hinweis darauf, daß diese „Belebung“ des Eies aus irgend einem anderen Grund nötig geworden wäre, als weil dasselbe vorher ent- wicklungsunfähig gemacht worden war. Es gäbe keine „Befruch- tung“, wäre nicht die Vermischung der Vererbungssubstanzen von fun- (lamentaler Bedeutung für die Organismenwelt. Ubrigens vermag ein Ei oder Eistück sich auch allein durch einen der beiden (Geschlechtskerne zu entwickeln, und die Vereinigung der Vererbungssubstanzen zweier Zellen ist also für das bloße Zustande- kommen eines neuen Individuums nicht erforderlich. Nach dieser Richtung ist besonders interessant, was man an Teil- stücken von Eiern beobachtet hat. ERNST ZIEGLER gelang es zu- erst, ein eben befruchtetes Seeigelei so in zwei Hälften durchzuschnüren, daß die eine Hälfte den weiblichen, die andere den männlichen Vorkern enthielt. Letztere allein enthielt eine Centrosphäre und gab auch allein eine Blastulalarve. DELAGE führte diese Versuche weiter, indem er das unbefruchtete aber reife Seeigelei in Stücke schnitt und dann kern- lose Stücke mit Samenfäden „befruchtete“. Auch diese Stücke ent- wickelten sich und gaben junge Larven der betreffenden Art, so daß man deutlich sieht: jedes Stück reifes Eiprotoplasma geht die Embryonal- entwicklung ein, sobald auch nur ein wit Teilungsapparat versehener Kern in dasselbe eindringt. Leider wird es technisch unmöglich sein, ein solches kernlos gewesenes und dann befruchtetes Eifragment so zu zerschneiden, daß in die eine Teilhälfte der männliche Kern, in die andere seine Centrosphäre zu liegen käme. Aber man wird auch ohne dieses Experimentum cerueis sagen (dürfen, daß das erstere Stück sich nicht durch Teilung vermehren würde, wahrscheinlich jedoch das Letztere, daß aber das Letztere nicht den regelmäßigen Gang des Furchungs- prozesses durchführen würde, weil ihm die dazu unumgänglich nötige Vererbungssubstanz fehlt. Aber noch etwas beweisen diese und ähnliche Versuche, daß näm- lich die Kerne der Samen- und der Eizelle nicht, wie man zuerst glaubte, in einem primären prinzipiellen (regensatz stehen und als männlicher und weiblicher Kern bezeichnet werden dürfen, sondern daß sie beide ihrem tieferen Wesen nach gleich sind und sich gegenseitig ver- treten können. Nur insoweit unterscheiden sie sich, als die Zellen selbst, denen sie angehören, soweit nämlich, daß sie sich gegenseitig anziehen, sich finden und vereinigen können und dann die Entwicklung einleiten müssen, während sie es vorher jeder für sich nicht können. So ver- schieden auch Samen- und Eizelle nach Größe, Beschaffenheit und Ver- halten sind, in bezug auf die Hauptsache sind sie gleich, sie verhalten sich — wie ich schon vor zwei Jahrzehnten es ausdrückte — wie 1:1, d. h. sie enthalten beide die gleiche Menge von einer, Bedeutung der Amphimixis. 25 | ihrem Wesen nach gleichen Vererbungssubstanz, und die Quali- tät dieser Substanz ist nur individuell verschieden. Man sollte des- halb nicht von einem „männlichen“ und „weiblichen“ Kern sprechen, sondern nur von einem „väterlichen“ und „mütterlichen“. Alle neueren Versuche über „Merogonie‘“, d.h. über Entwicklung von Teilstücken des Eies bestätigen diese Ansicht. So beobachtete schon BOvERI, daß auch kleine Stücke von Seeigeleiern, welche nicht den Kern des Eies enthielten, sich nach dem Eindringen eines Spermatozoons zu einer kleinen, aber sonst normalen Larve der Art entwickelten, und neuerdings bewies HANns WINKLER dasselbe für die Eizellen von Pflan- zen, indem er die Eier einer Meeresalge (Cystosira) in zwei Stücke teilte, dieselben dann mit spermahaltigem Wasser befruchtete und nun aus beiden Stücken, dem kernhaltigen und dem kernlosen einen normal aussehenden Keimling erhielt. In dem Letzteren also konnte nur ein „väterlicher* Kern die Entwicklung geleitet haben. Fassen wir zusammen, so hat unsere Untersuchung über die Be- deutung der Amphimixis uns zu der Erkenntnis geleitet, daß dieselbe in der Vereinigung gleicher Teile Vererbungssubstanz von zwei verschiedenen Individuen zu ein und demselben Kern be- steht. und daß die einzige nächste Folge derselben die Verbindung der Vererbungstendenzen zweier Individuen in einem ein- zigen ist. Bei den Vielzelligen ist dieses eine Individuum immer ein neues, da Amphimixis unauflöslich verbunden ist mit Fortpflanzung, und auch bei den Einzelligen kann man kaum darüber streiten, daß die beiden Infusorien, welche sich aus der Konjugation wieder lösen, nicht mehr dieselben sind, die sie vorher waren. Sie müssen nach der Amphimixis eine andere Kombination von Vererbungssubstanz enthalten als vorher und diese muß die Teile des Tieres in etwas modifizierter Form neu hervorrufen. Das kann theoretisch nicht zweifelhaft sein, wenn es sich auch durch Beobachtung kaum feststellen lassen wird. So wissen wir denn also jetzt, was „Befruchtung“ ist. Durch die Arbeit der letzten Jahrzehnte ist der Schleier von einem Mysterium der Natur hinweggezogen worden, welches Jahrtausende hindurch der Menschheit als unnahbar gegenüber stand, ein Rätsel ist gelöst, das man zu lösen noch vor wenigen Jahrzehnten nicht zu hoffen wagte. Nicht wenige Forscher haben an dieser Arbeit teilgenommen: einige habe ich genannt, alle könnte ich hier unmöglich nennen, die mit Be- obachtung und Denkarbeit daran Teil gehabt haben. Wer immer aber dabei auch nur einen Schritt vorwärts geholfen hat, der wird sich sagen dürfen, daß er an einem wesentlichen Fortschritt unserer Erkenntnis mit tätig gewesen ist. Aber in der Wissenschaft von der Natur bedeutet jede neue Lösung auch das Emportauchen eines neuen Rätsels, und so stoßen wir auch hierbei sofort auf die weitere Frage, weshalb denn nun aber die Natur diesen Vorgang der Mischung verschiedener Vererbungssubstanzen beinahe überall in der ganzen Orga- nismenwelt in den Gang der Entwicklung eingeschaltet hat. Das ist indessen eine Frage. deren Beantwortung wir erst dann in Angriff nehmen können, wenn wir uns zuvor mit den Erscheinungen der Vererbung näher bekannt gemacht, und den Versuch gewagt haben, aus ihnen rückwärts auf die Natur der Vererbungssubstanz zu schließen, d. h. uns eine Theorie der Vererbung auszudenken. XVII. VORTRAG. Die Keimplasmatheorie. Begriff der „Ide“ abgeleitet aus dem Vorgang der Befruchtung p. 282, Vererbungs- substanz „Idioplasma“ und Keimplasma p. 285, „Idanten“ p. 256, Evolution oder Epigenese? p. 287, Gleichartige Keimsubstanz von HERBERT SPENCER p. 290, Deter- minanten p. 291, Begründung; Lycaena Agestis p. 291, die Blattschmetterlinge p. 293, Insektenmetamorphose, Gliedmaßen der segmentierten Tiere p. 297, Heterotopien p. 300. Die letzten Lebenseinheiten oder „Biophoren“ p. 301, Zahl der Determinanten p. 302, Schrillader der Heuschrecken p. 303. Meine Herren! Wenn ich nun dazu schreite, Ihnen eine Ver- erbungstheorie zu entwickeln, so wie sie sich mir im Laufe meiner eigenen wissenschaftlichen Entwicklung gestaltet hat, so möchte ich da- mit beginnen, Ihnen zu zeigen, daß in der Vererbungssubstanz der Keimzelle eines Tieres oder einer Pflanze nicht bloß die Anlagen von einem einzigen Individuum dieser Art enthalten sein können, sondern vielmehr solche von mehreren, ja oft von vielen. Daß dem so sei, läßt sich auf mehrfache Weise erschließen. Ich gehe aus von dem, wie ich glaube, erwiesenen Satz, daß die chromatische Substanz des Kerns die Vererbungssubstanz ist. Wir haben gesehen, daß dieselbe den Keimzellen jeder Art in Form einer be- stimmten Zahl von Chromosomen zukommt, und daß diese Zahl bei den zur Befruchtung bestimmten Keimzellen, also bei den (Greschlechts- zellen vorher auf die Hälfte herabgesetzt wird, und zwar, wie nunmehr für eine ganze Reihe von Tieren erwiesen ist, durch die beiden letzten Zellteilungen, die sog. Reifeteilungen. Wir wissen, daß die volle Zahl erst durch den Prozeß der Amphi- mixis wieder hergestellt wird, indem die halbe Chromosomenzahl der männlichen und der weiblichen Keimzelle sich in einer Zelle, dem „befruchteten Ei“ vereinigen und in einem Kern, dem sog. Furchungs- kern. Es bildet also die Vererbungssubstanz des Kindes sich halb aus väterlicher, halb aus mütterlicher Vererbungssubstanz, und wir haben gesehen, daß dies so bleibt während der ganzen Entwicklung des Kindes, da bei jeder weiteren Zellteilung jede der väterlichen und jede der mütterlichen Chromosomen sieh durch Teilung verdoppelt und die Spalt- hälften auf die beiden Tochterkerne verteilt. Wenn nun die volle Vererbungssubstanz einer Keimzelle vor der Reduktionsteilung die sämtlichen Anlagen des Körpers potentia enthält, was selbstverständlich ist, so muß nach der Reduktion jede Keimzelle entweder nur die Hälfte der Anlagen der Eltern enthalten — oder aber es müssen auch in der halben Zahl der Chromosomen schon sämtliche Anlagen enthalten sein. Das letztere scheint mir nun Die Keimplasmatheorie. 983 das allgemein annehmbare zu sein, wie ich ;Ihnen sogleich entwickeln werde, und damit ist gesagt, daß zum mindesten die Anlagen zu zwei vollständigen Individuen in den Chromosomen des Furchungs- kernes enthalten sein müssen. Daß dieser Schluß zutrifft. geht schon daraus hervor, daß ein ganzes, d. h. ein vollständiges Individuum mit allen seinen Teilen sich aus dem Ei entwickelt, nicht aber ein defektes. Denn gesetzt, es ent- hielte jede reife Keimzelle nur die Hälfte der Körperanlagen, so wäre es unmöglich, daß diese Hälften, wie sie der Zufall der Teilung gerade in den beiden in der Befruchtung sich vereinigenden Zellen zusammen- führt, sich immer genau ergänzten, es müßte vielmehr viel häufiger vorkommen, daß sie nicht sich ergänzten, und daß aus ihrer Vereini- gung ein Individuum hervorginge, dem gewisse Teile fehlten. Wenn z. B in der Samenzelle nur die Vorderhälfte des Körpers potentia ver- treten wäre, und diese vereinigte sich mit einer Eizelle, in welcher ebenfalls nur die Vorderhälfte als Anlagen enthalten wäre, so müßte an dem aus einer solchen Befruchtung hervorgehenden Embryo die Hinter- hälfte des Körpers fehlen usw. Natürlich kann an eine so grobe Ver- teilung der Anlagen nicht gedacht werden, denke man sich aber auch die Halbierung der Anlagenmasse so fein wie man will, es würde doch stets jede Garantie dafür fehlen, daß (die beiden in Amphimixis ver- schmelzenden Zellen sich wieder zur Gesamtmasse der Anlagen er- gänzten; ja die Aussicht, daß die zwei sich vollständig ergänzenden Hälften der Anlagenmasse zusammenträfen, würde sogar um so geringer, je feiner und mannigfaltiger man sich die Halbierung bei der Reduk- tionsteilung vorstellen wollte. Es würde aus der Kombination der bei- den Geschlechtskerne kaum jemals ein voller Embryo mit allen Teilen werden können, sondern bald diese, bald jene Gruppe von Teilen müßte fehlen, während eine andere doppelt sich bildete, oder doch in doppelter Anlage vorhanden wäre. .Nun lehren uns aber überdies die Tatsachen der Vererbung, daß die Ähnlichkeit mit Mutter und Vater sich gleichzeitig in allen oder doch eben in denselben Teilen des Kindes zeigen kann, wie ganz besonders klar aus den Pflanzenbastarden hervorgeht, und so ist denn die Folgerung unvermeidlich, daß auch in der halben Zahl der Chromosomen schon alle Anlagen des ganzen Körpers ge- geben sind. Gehen wir nun eine Generation weiter. Die Art besitze vier Chromosomen, das Kind habe also in seinen Zellen zwei mütterliche Chromosomen 1 und zwei väterliche Chromosomen 2: wie wird sich dies Verhältnis in den von ihm nun hervorgebrachten Keimzellen ze- stalten? Die Reifungsteilung kann die Reduktion auf zwei Chromo- somen in verschiedener Weise ausführen, es können z. B. zwei väter- liche Chromosomen 2 in die eine, zwei mütterliche +1 in die andere Tochterzelle gelangen, es könnte aber auch ein väterliches Chromosom PD und ein mütterliches I in die eine, und eine ebensolche Kom- bination in die andere Zelle geführt werden. Verfolgen wir den letzteren Fall weiter, so würde eine Samenzelle, welehe die Kombination 1 und 3 enthielte, mit einer fremden Eizelle in Amphimixis zusammentreffen können, welche eine ähnliche Kombination von Chromosomen enthielte, also ein Chromosom € von der Mutter und ein Chromosom 7) vom Vater. So erhielten wir dann also im Furchungskern des befruchteten Eies vier verschiedene Chromosomen, deren jedes die Vererbungssub- >84 Die Keimplasmatheorie. stanz eines Großelters enthielte: wir hätten die vier Chromosomen: A, B, €, D, als die V'ererbungssubstanz des Enkels. Da nun aber — wie wir gesehen haben — die halbierten Ver- erbungssubstanzen immer noch die volle Anlagemasse enthalten, so muß also jede dieser vier Chromosomen sämtliche Anlagen zu dem ganzen Körper des betreffenden Großelters enthalten*). Die Vererbungessubstanz im befruchteten Ei besteht also aus mehreren Komplexen von Anlagen (Chromosomen), deren jede alle Anlagen zu einem vollständigen Individuum in sich be- greift. Es läßt sich aber noch auf eine andere Weise anschaulich machen, daß durch die geschlechtliche Fortpflanzung das Keimplasma jeder Art aus mehreren und zwar individuell verschiedenen Iden sich zu- sammensetzen muß. Nehmen wir an, es gäbe noch keine Amphimixis und wir könnten ihre Einführung in die Organismenwelt miterleben, die Vererbungssubstanz der bisher lebenden und durch Teilung sich fortpflanzenden Wesen bestände aus mehr oder minder zahlreichen, aber untereinander gleichen Chromosomen, so dab z. B. in jedem einzelnen 16 identische Ide enthalten seien. Wenn nun zum erstenmal Amphimixis stattfände, und zwar so wie heute, d. h. nach Reduktion der Idezahl auf die Hälfte, so würden sich also in der ersten Amphimixis acht väter- liche mit acht mütterlichen Iden zum Keimplasma des neuen Wesens vereinigen. wie dies in Fig. ST I durch einen Kreis von Kügelchen angedeutet ist. von denen als Zeichen ihrer Verschiedenheit acht weiß und acht schwarz angegeben sind. Man mag sich unter der Figur etwa die „Äquatorialplatte* einer Kernspindel mit ihren in einem Kranz angeordneten Iden vorstellen... Wenn nun zwei Wesen dieser (reneration mit zwei Idarten sich wieder in Amphimixis verbinden nach vorherge- gangener Reduktion der Ide, so erhalten wir die Fig. 3, in welcher links vom Strich die neuen väterlichen Ide (//). rechts davon die uns schon bekannten mütterlichen sich befinden (2/), während jeder Halb- kreis wieder von zweierlei Iden. den großelterlichen. zusammengesetzt ist. Die Figuren € und D veranschaulichen die zwei folgenden Gene- rationen, in welchen die Zahl der identischen Ide jedesmal um die Hälfte abnimmt, weil wieder acht fremde Ide von seiten des Vaters beigemischt werden: in € sind nur je zwei’Ide noch identisch, in 2 aber sind alle Ide individuell verschieden, weil sie von verschiedenen Ahnen derselben Art abstammen. Natürlich wird dies nur der Fall sein können bei Ausschluß von Inzucht, da durch diese «die Ide des- selben Vorfahren von zwei oder mehr Seiten her in demselben Keim- plasma zusammentreffen können: fortgesetzte Inzucht ist aber in der *, Wenn ich sage: „sämtliche“ Anlagen zu dem ganzen Körper des Groß- elters, so ist das insofern nicht ganz genau ausgedrückt, als wie wir später noch sehen werden, jedes Individuum aus dem Zusammenwirken verschiedener Chromo- somen verschiedener Abkunft entstehen muß, nicht aber nur aus einem einzigen der in seinem Keimplasma enthaltenen Chromosomen. Der Körper jedes Großelters in dem obigem Beispiel kann also auch nicht bloß aus dem einen Chromosom hervor- gegangen sein, welches sich in die Keimzelle des Enkels übertrug, sondern aus dem Zusammenwirken dieses Chromosoma mit drei anderen, die sich auf andere gene- alogische Pfade verteilt haben. Das hat aber weiter keinen Einfluß auf obige Be- weisführung, denn es handelt sich hier nicht darum, ob alle Anlagen des Großelters im Enkel vorhanden sind — das kann nie der Fall sein —, sondern ob die von ihm herstammenden Anlagen den ganzen Leib eines Individuums repräsentieren. ” Die Keimplasmatheorie. 2835 freien Natur, wie wir später noch sehen werden, eine seltene Aus- nahme. Ich nenne nun die Vererbungssubstanz einer Zelle ihr „Idio- plasma“ nach dem Vorgang von NÄGELI, der dasselbe zwar im Zell- körper suchte, nicht im Zellkern, auch theoretisch es sich anders wirkend dachte, der aber den Begriff desselben, als einer den ganzen Bau des Organismus bestimmenden „Anlagensubstanz“ im Gegen- satz zu dem gewöhnlichen Protoplasma, wie wir sahen, zuerst faßte und begründete. Jede Zelle enthält Idioplasma. da jede in ihrem Kern A FB g- . sa B Bon. 1 er pJ nn — Fig. 87. Schema zur Veranschaulichung der Wirkung der Amphimixis auf die Zu- sammensetzung des Keimplasmas aus verschiedenartigen Ahnenplasmen oder Iden. A—D Die Ide des Keimplasmas von vier sich folgenden Generationen, 4 aus nur zwei Arten von Iden bestehend, Z aus vier, C aus acht, D aus 16 Arten; %/ und m) väterliche und mütterliche Ide. Die Zeichen in den Iden deuten ihre indivi- duell verschiedene Natur an. Die mütterliche Hälfte des Idenkranzes setzt sich aus den schon in den früheren Bildern (A, 2, C, D) vorgekommenen Iden zusammen, die väterliche Hälfte besteht aus fremden Iden anderer Abstammungslinien. Chromatin enthält, das Idioplasma der Keimzelle aber bezeichne ich als Keimplasma oder als Anlagensubstanz für den gesamten Organismus, die soeben als vorhanden nachgewiesenen Komplexe der zu einem ganzen Individuum erforderlichen Anlagen aber als „Ide“. In vielen Fällen dürften diese Ide mit den ‚Chromosomen‘ zusammenfallen, wenigstens in allen denjenigen, in welchen diese Chromosomen einfach, d. h. nicht aus mehreren gleichgeformten Gebilden zusammengesetzt sind. So wird man bei dem Salzkrebschen, Artemia salina, welches 168 kleine körnerförmige Chromosomen besitzt, jedes dieser Chromosomen als Id 986 Die Keimplasmatheorie. zu betrachten haben, denn jedes derselben kann unter Umständen bei der Reduktionsteilung aus dem Ei entfernt, und bei der Befruchtung mit den verschiedensten Kombinationen von anderen Chromosomen zu- sammengeführt werden. ‚Jedes derselben muß also vollständiges Keim- plasma in dem Sinne sein, daß alle Teile eines Individuums virtuell in ihm enthalten sind: jedes ist eine biologische Einheit, ein Id. Wenn wir aber bei manchen Tieren größere schleifen- oder auch stäbchen- förmige „„Chromosomen‘ beobachten, und wenn diese, wie z. B. bei der vielgenannten Ascaris megalocephala aus einer Reihe von Körnern zu- sammengesetzt sind, so wird ein jedes dieser Körner als Id zu be- trachten sein. In der Tat finden wir denn auch. statt der zwei oder vier großen stäbchenförmigen Chromosomen der Ascaris megalocephala bei anderen Ascaris-Arten eine größere Zahl kleiner kugeliger Chro- mosomen. Zusammengesetzte, aus mehreren Iden bestehende Chromosomen, wie es wohl alle stäbchen- oder schleifenförmigen Elemente der Kern- substanz sind, bezeichne ich als „Idanten“ Ihre Zusammensetzung aus mehreren Einzeliden tritt wegen der Kleinheit des Objektes nicht immer deutlich hervor, und selbst bei den größeren unter ihnen nur in gewissen Stadien. Fig. 88, A und 2 zeigen beide eine „Sperma*- Fig. 88. Samen-Mutterzellen (Spermatocyten des Salamanders). 4 Querschnitt der Zelle im Asterstadium; die Chromosomen (cAr) oder „Idanten‘“ lassen ihre Zusammen- setzung aus Iden nicht erkennen, welche dagegen in 2 deutlich hervortritt, wo sich die Chromosomen (Idanten) bereits längsgespalten zeigen, c Centrosphären; nach HERMANN und DRÜNER. mutterzelle des Salamanders, 1 in einem früheren Stadium, in dem (die einzelnen Ide nicht sichtbar sind, 2 in einem späteren Stadium, in welchem die Schleifen sich gespalten haben und zugleich die rosen- kranzförmige Zusammensetzung hervortritt. Man kann also nicht jedem Chromosoma sofort ansehen, ob es einem oder mehreren Iden ent- spricht. Bei genauerem Findringen in die Vorgänge der Reduktions- teilung hat sich gezeigt, daß es „mehrwertige*, d. h. aus mehreren Iden zusammengesetzte Chromosomen eibt, deren Plurivalenz man nicht direkt erkennen, sondern nur aus ihrer weiteren Entwicklung erschließen kann: es gibt doppelwertige und vierwertige Chromosomen, die wir uns aus zwei oder aus vier Iden zusammengesetzt zu denken haben. Es würde uns zu weit führen, wollte ich darauf genauer eingehen, auch bedürfen wir nach Plan und Absicht dieser Vorträge eines Eingehens auf diese intimsten und heute noch umstrittenen Verhältnisse nicht. So setzt sich also das Keimplasma einer jeden Tier- und Ptlanzen- art aus einer größeren oder geringeren Zahl von Iden oder Personen- anlagen zusammen, und erst durch ihr Zusammenwirken wird das aus dem Ei sich entwickelnde Individuum bestimmt. Die Keimplasmatheorie. 297 Es fragt sich nun weiter, welche Vorstellung wir uns von der Be- schaffenheit und Wirkungsweise eines Ids bilden können. Ich habe bereits von „Anlagen“ gesprochen, aus welchen die Keimsubstanz bestehe aber welches Recht haben wir, uns die Teile eines Tieres in irgend einer Form schon im Keim enthalten zu denken, und ist es nicht ebenso gut möglich, daß derselbe aus Teilchen besteht, von welchen keines schon im voraus in bestimmter Beziehung zu den Teilen des fertigen Tieres steht, könnte nicht die Keimzelle samt ihrem Kern nur Umwandlung erleiden, und gesetzmäßige Veränderungen eingehen, die sukzessive immer wieder Neues, nämlich die verschiedenen Entwicklungs- stufen schaffen, bis schließlich das fertige Tier erreicht ist? Wir stehen hier vor einem alten Problem, vor alten Gegensätzen der Auffassung, vor den Theorien der Evolution und der Epigenese, die schon vor langer Zeit zum ersten Mal gegeneinander ins Feld ge- führt, bis zum heutigen Tage sich bekämpfen, wenn auch in neuem (Gewand. Die Evolutionslehre ist vor allem an deu Namen BONNETS ge- knüpft, der sie im achtzehnten Jahrhundert am eingehendsten ausge- arbeitet hat. Sie behauptet, daß die Entwicklung des Eies zum fertigen Tier eigentlich keine Neuschaffung sei, sondern nur eine Entfaltung schon im Ei anwesender, unsichtbar kleiner Teile. Sie nimmt an, daß die Teile des fertigen Organismus vorgebildet seien im Ei, daher sie auch Präformationstheorie genannt wird. BONNET spricht öfters geradezu von der Präformation des fertigen Tieres im Keim als eines „Miniaturbildes“, wenn er sich die Entwicklung auch nicht so roh dachte, als ihm öfters untergeschoben wird. Er betonte sogar ausdrücklich, daß dieses Miniaturbild nicht völlig gleich sei dem fertigen Organismus, sondern aus den „Elementarteilen allein“ bestehe, die er sich als ein Netz dachte, dessen Maschen während der Entwicklung durch Ernährung mit unendlich vielen anderen Teilen ausgefüllt werden. Immerhin waren seine Vorstellungen, wie überhaupt diejenigen seiner Zeit noch weit ab von unserem heutigen biologischen Denken, wie Sie vielleicht am kür- zesten daraus ersehen können, wenn ich Ihnen sage, dab er den Tod und die Verwesung als eine Involution, gewissermaben als eine Zurück- faltung auffasste, durch welche jene durch Ernährung gewonnen Teilchen wieder entfernt werden, so daß das Netz des Miniaturbilds nun wieder zusammenschrumpft zu der unsichtbaren Kleinheit, die es im Ei hatte; so bleibt es, bis es dereinst zur Auferstehung im Sinne der Religion erweckt wird! Später ließ er diese Phantasie wieder fallen, weil ihm eingeworfen worden war, daß ja dann Menschen, die ein Bein oder einen Arm während ihres Lebens verloren hätten, auch bei der Aufer- stehung verstümmelt erscheinen mübten ! Mann kannte damals die Entwicklungserscheinungen selbst noch gar nicht, nicht einmal die Entwicklungsstadien des Hühnchens im Ei waren beobachtet worden, Als dies später geschah, mußte auch die damalige Theorie der Evolution fallen, denn man sah nun mit eignen Augen, daß nicht etwa ein Miniaturbild des Hühnchens sich allmählich zur Sichtbarkeit und schließlich zum jungen Küchlein vergrößerte, sondern, daß zuerst Teile im Ei sich zeigten, die mit dem Hühnchen gar keine Ähnlichkeit hatten, daß dann diese ersten Anlagen sich veränderten, und daß so durch fortwährende Neu- und Umbildungen schließlich das Hühnchen zustande kommt. Darauf nun baute K. F. WOorrr seine Theorie der Epigenese auf, der Entwicklung durch Neu- und Um- 88 Die Keimplasmatheorie. YAe | bildung. Er schloß: die Lehre von der Evolution ist falsch: es ist kein Miniaturbild unsichtbar im Ei enthalten, sondern aus der einfachen Ei- substanz entsteht durch die in ihm liegenden Bildungskräfte eine lange Reihe von Entwicklungsstadien, von denen das folgende immer ver- wickelter gebaut ist, als das vorhergehende, bis schließlich das fertige Tier erreicht ist. Einen bedeutenden Fortschritt bezeichnete das immerhin, war doch damit der Anfang gemacht zu einer Wissenschaft der Embryologie, d.h. zur Lehre von der Formentwicklung des Tieres und der Pflanze aus dem Ei. In theoretischer Beziehung aber war der Erfolg minder groß, denn damit, dab man weiß, das junge Tier durchlaufe eine lange Reihe verschiedenartiger Formen, hatte man noch nicht erfahren. auf welche Weise, durch welche Mittel denn die Natur das Wunder hervorbringt, aus der scheinbar so einfachen Substanz des Eies allmählich ein so ver- wickelt gebautes Tier hervorgehen zu lassen. Man half sich einfach, indem man dem Ei eine Gestaltungskraft beilegte, von BLUMENBACH später als Nisus formativus bezeichnet, welche eben die Fähigkeit be- sitzt, aus dem einfachen „Schleim® — wir würden heute sagen, dem einfachen Protoplasma — ein kompliziertes Tier auszugestalten. Halten wir das eigentliche Theoretische in beiden Anschauungen gegeneinander, so nahm BoNnxErT das Ei als etwas nur scheinbar einfaches, in Wahrheit aber fast ebenso kompliziertes, als das aus ihm entwickelte Tier, und er ließ das letztere demgemäß sich nicht neu bilden, sondern nur ent— wickeln, das heißt die vorhandene Anlage in die Erscheinung treten, sichtbar werden. WOLFF dagegen nahm das Ei als das, was es zu sein schien, für ein wirklich Einfaches, aus welchem erst der Nisus formativus ein Wesen der betreffenden Art unter Durch- laufung zahlreicher Um- und Neubildungen machen kann. WOoLFFrs Epigenesis hat die Theorie BONNETs so völlig aus dem Feld geschlagen, daß bis in die neueste Zeit hinein Epigenesis allein als wissenschaftlich berechtigte Theorie betrachtet wurde, und eine Rück- kehr zur Evolution als Rückschritt gegolten haben würde, als Umkehr zu einer glücklich überwundenen Periode der Phantasterei. Ist mir doch in bezug auf meine eigene evolutionistische Theorie zugerufen worden, die Richtigkeit der Epigenese sei unerschütterlich begründet, sie sei eine Tatsache, man sähe sie ja vor sich gehen! Aber was ist denn hier Tatsache? Doch wohl nur das Auf- einanderfolgen zahlreicher verschiedener Entwicklungsstufen, wie wir sie jetzt in der Tat von emer groben Zahl von Tieren recht genau kennen, dann das Nichtvorhandensein des von BONNET vermuteten Miniaturbildes im Ei. Uber beides kann allerdings heute kein Zweifel mehr sein. Damit ist aber noch keine Entwicklungstheorie gegeben, denn Theorie ist nicht die Beobachtung einer Erscheinung oder Erscheinungsreihe, sondern die Erklärung derselben. Die Epigenesis, wie sie schon ARISTOTELES, später wieder HARVEY, WOLFF und BLUMENBACH aufstellten, sollte zwar sicherlich eine Erklärung der Entwicklung sein, aber nicht dadurch, daß man sich einfach nur auf das Beobachtete bezogen hätte, sondern indem man weit darüber hinaus- ging, und einerseits den Schein einer homogenen Keimsubstanz für Wirklichkeit nahm, andererseits eine besondere Kraft voraussetzte, welche aus dem homogenen Keim den heterogenen Organismus hervor- gehen lassen sollte. Die Keimplasmatheorie. 989 Wir werden uns nun heute mit keiner dieser beiden Annahmen befreunden können, denn wir wissen, daß die Keimsubstanz nicht ho- mogen, überhaupt nicht bloß eine Substanz, sondern eine lebende Zelle von kompliziertem Bau ist, und wir glauben nicht mehr an eine be- sondere Lebenskraft. also auch nicht an eine besondere Entwicklungs- kraft. die ja nur eine Modifikation jener sein könnte. Wir stehen also der alten Epigenese eben so fremd gegenüber, als der alten Evolution und müssen eine Entwicklungs- und Vererbungstheorie auf neuer Basis aufrichten. Welches diese Basis sein wird. kann im allgemeinen nieht zweifel- haft sein. Wenn das Bestreben der ganzen neueren Biologie dahin geht, das Leben aus dem Aufeinanderwirken der an die Materie ge- bundenen physikalischen und chemischen Kräfte mehr und mehr be- ereifen zu lernen, dann fällt auch die Entwieklung unter dieses Be- streben, denn Entwicklung ist ein Teil des Lebens. Wir suchen die Mechanik des Lebens zu verstehen und als einen Teil davon die Mecha- nik der Entwicklung und der damit eng verknüpften Vererbung. Wollten wir das Problem der Vererbung an der Wurzel anpacken, so müßten wir zuerst versuchen, den Lebensvorgang selbst als ein physikalisch-chemisches (Geschehen zu begreifen. Das wird nun viel- leicht der Zukunft bis zu einem gewissen Punkte gelingen, wollten wir aber darauf warten, so würden wir eine theoretische Zurechtlegung der Entwicklungs- und Vererbungserscheinungen einstweilen ganz zurück- stellen, vielleicht sogar ad calendas graecas vertagen müssen. Es würde das etwa sein, als wenn man in der praktischen und theoretischen Me- dizin mit dem Untersuchen und Denken über Krankheiten solange hätte warten wollen, bis die normalen, nicht krankhaften Vorgänge des Lebens vollständig klar gelegt gewesen wären. Dann wüßten wir heute noch nichts von Bakterienkrankheiten und Hunderterlei anderen Errungen- schaften der Pathologie, und auch die Physiologie befände sich noch weit zurück hinter ihrer heutigen Höhe, wenn ihr der befruchtende Einfluß der Erfahrungen am kranken Menschen und die aus ihnen geschöpften wahren und falschen Vorstellungen und Theorien gefehlt hätten. So brauchen wir auch eine Theorie der Entwieklung und Verer- bung. wenn wir tiefer in diese Erscheinungen eindringen wollen, auch wenn wir noch weit von einer vollen kausalen Erkenntnis der Lebensvorgänge entfernt sind. Denn die rohe, gewissermaßen zufällige Beobachtung bringt uns allein nieht weiter: sie muß von dem Gedanken geleitet, und damit auf ein Ziel gerichtet sein. Es ist aber auch sehr wohl möglich, von einer Erklärung des Lebens selbst einstweilen ganz abzusehen, die Lebenselemente als ge- geben anzunehmen, und auf dieser Grundlage eine Theorie der Ver- erbung aufzubauen. Wir haben dazu bereits einen Anlauf genommen, haben festgestellt, daß nicht die ganze Substanz des befruchteten Eies in gleicher Weise bei der Vererbung beteiligt ist, dab vielmehr nur ein sehr kleiner Teil derselben, das Chromatin des Kerns als Träger der Vererbungstendenzen anzusehen ist, und haben weiter erschlossen, dab (dieses Chromatin aus einer verschiedenen Zahl kleiner, aber doch noch sichtbarer Einheiten besteht, den Iden, von welchen jedes virtuell den ganzen Organismus repräsentiert, oder, wie ich es ausdrückte, von denen jedes alle Teile zu einem fertigen Tier als Anlagen in sich enthält. An diese „Anlagen“ hatten wir dann die Abschweifung über BONNETS Evolutionstheorie und Wourrs Epigenese angeschlossen. Weismann, Deszendenztheorie. I. 2. Aufl. 19 290 ü Die Keimplasmatheorie. Wenn wir uns fragen, von welcher Beschaffenheit ein solches Chromatinkügelchen, ein Id sein müsse, damit es, eingeschlossen im Kern einer lebenden Fortpflanzungszelle die Bildung eines neuen Organismus leite, welches seinem Elter ähnlich ist, so bieten sich uns zwei Grundannahmen dar, die auch ganz unabhängig von der Annahme von Iden sich an jedes „Keimplasma* anknüpfen lassen. Entweder nämlich denken wir uns das Id aus gleichen oder auch aus verschieden- artigen Teilchen derart zusammengesetzt, dab keines derselben eine feste Beziehung zu Teilen des fertigen Tieres hat, oder wir denken es uns zusammengesetzt aus einer Menge verschiedenartiger Teilchen, von welchen jedes in Beziehung zu bestimmten Teilen des fertigen Tieres steht, also gewissermaßen die „Anlage“ desselben vorstellt, ohne daß aber irgend eine Ähnlichkeit zwischen diesen „Anlagen“ und den fertigen Teilen da zu sein braucht. Die Annahme einer Keim- substanz aus gleichartigen Teilchen, wie sie z. B. von HERBERT SPENCER gemacht worden ist, läßt sich als modern umgestaltete Epigenesis be- zeichnen die letztere Annahme aber als modern umgestaltete Evo- lutionstheorie. Da es der ersteren nicht mehr gestattet ist, einen „Bildungstrieb“ als Deus ex machina zu Hülfe zu rufen, so vermag sie die Entwicklung nur dadurch zu erklären, dab sie dieselbe aus der Einwirkung äußerer Einflüsse, Temperatur, Luft, Wasser, Schwere, Lage- beziehungen der Teile — auf die überall gleich gemischten chemischen Bestandteile der Keimsubstanz herleitet, und es macht dabei keinen Unterschied, wenn man sich auch diese gleichmäßige Keimsubstanz aus vielen verschiedenartigen Teilchen zusammengesetzt denkt, sobald diese Teilchen die gesamte Keimsubstanz in gleichmäßiger Mischung aus- machen, und keine Beziehung zu bestimmten Teilen des werdenden Tieres haben. Oscar HERTwIG hat vor kurzem eine solche Theorie entworfen. Wenn ich Ihnen dieselbe auch hier nicht vorführen kann, so muß ich doch so viel wenigstens über sie und alle Entwicklungs- theorien, die auf gleicher Basis errichtet werden könnten, sagen, daß man sie auch dann nicht annehmen dürfte, wenn sie imstande wären, eine brauchbare Erklärung für die Entwicklung des Individuums zu geben, und zwar deshalb, weil die Ontogenese nicht eine isolierte Er- scheinung ist, die man für sich ohne Rücksicht auf die Gesamtentwick- lung der Lebewelt erklären darf, denn sie hängt aufs innigste mit dieser zusammen, sie ist geradezu ein Stück von ihr, ist, wie wir noch sehen werden, aus ihr entstanden, und bereitet ihrerseits den weiteren Ver- lauf derselben wiederum vor; die Ontogenese muß in UÜberein- stimmung mit der Phylogenese und durch dieselben Prinzipien erklärt werden, Damit ist aber die Annahme einer anlagenlosen, oder gar, wie HERBERT SPENCER will, völlig homogenen Keimsubstanz un- vereinbar, denn sie widerspricht — wie sich zeigen wird — gewissen Tatsachen der Vererbung und der Variation, und deshalb müssen alle Theorien, die sich darauf aufbauen, unannehmbar bleiben. R Es gibt noch eine andere, und wie ich glaube schwerwiegende Überlegung, welche uns verbietet, eine anlagenlose Keimsubstanz an- zunehmen. Ich werde später darauf zurückkommen, möchte aber jetzt zunächst meine „Keimplasmatheorie“ noch vollends ausbauen. Ich nehme nun an, das Keimplasma bestehe aus einer großen Menge (diflerenter lebender Teilchen, von welchen jedes in bestimmter eziehung zu bestimmten Zellen oder Zellarten des zu bildenden Or- ganismus steht, d. h. aus „Anlagen“ in dem Sinn, daß ihre Mitwirkung Die Keimplasmatheorie. 291 beim Zustandekommen eines bestimmten Teils des Organismus nicht entbehrlich ist. so daß also dieser Teil durch jenes Teilchen des Keim- plasmas in seiner Existenz wie in seiner Natur bestimmt wird. Ich nenne (diese letzteren deshalb: Determinanten. Bestimmungsstücke, und die durch sie bestimmten Teile des fertigen Organismus: Deter- minaten oder Vererbungsstücke. Worauf diese Annahme sich gründet, ist leicht deutlich zu machen; die Erscheinungen der Vererbung. zusammengehalten mit denjenigen der Variation zwingen dazu, wie mir scheint. Wir wissen, daß alle Teile des Organismus variabel sind, bei dem einen Individuum ist der- selbe Teil größer, bei dem anderen kleiner. Nicht alle Variationen sind erblich, aber viele und darunter sehr minutiöse sind es. So kommt z. B. in manchen menschlichen Familien vor dem Ohr ein kleines, kaum stecknadelkopfgroßes Grübchen in der Haut vor, dessen Vererbung von der Großmutter auf den Sohn. und mehrere Enkel ich beobachtet habe. Hier muß also im Keimplasma irgend ein kleines Etwas enthalten ge- wesen sein, welches bei anderen Menschen fehlt, und welches es mit sich brachte, daß im Laufe der Entwicklung an dieser kleinen Haut- stelle die Abnormität entstand. Es gibt menschliche Familien, in welchen wiederholt und in meh- reren (renerationen Individuen vorkommen, die an einer Stelle des sonst dunkel behaarten Kopfes ein weißes Haarbüschel tragen. Auf äußere Einflüsse kann dasselbe nicht bezogen werden, es muß auf einer Verschiedenheit des Keims beruhen, und zwar auf einer solchen, welche nicht den ganzen Körper beeinflußt, nicht einmal alle Haare des Kopfes, sondern nur die Haare einer bestimmten kleinen Stelle der Kopffläche. Es ist dabei gleichgültig, ob die weiße Farbe des Haarbüschels von einer abnormen Beschaffenheit der Matrixzellen der Haare oder anderer histologischer Elemente der Haut, etwa der Gefäße oder der Nerven hervorgerufen wird — sie kann in letzter Instanz immer nur auf einer abweichenden Beschaffenheit des Keimplasmas beruhen, welche nur an dieser einen Stelle der Haut sich geltend macht. nur diese verändert, wenn sie selbst anders ist als gewöhnlich, und welche ich deshalb die Determinante der betreffenden Hautstelle und Haargruppe nenne. Beim Menschen verlieren sich solche kleine ganz lokale Varia- tionen meist wieder nach einer Anzahl von Generationen; allein bei den Tieren gibt es unzählige Erscheinungen, welche uns beweisen, dab ver- einzelte kleine Abweichungen dauernd werden können. So lebt in ganz Mitteleuropa ein brauner „Bläuling“, Lycaena Agestis, welcher auf der Mitte seiner Flügel einen kleinen schwarzen Fleck hat. Dieselbe Art kommt auch in Schottland vor, hat aber dort statt des schwarzen Flecks einen milchweißen, wie denn auch die sog. „Augenflecke* auf der Unter- seite des Flügels ihre schwarzen Kerne verloren haben. Die Art hat sich also hier erblich verändert, aber nur in bezug auf diese bestimm- ten Stellen des Flügels. Es muß also eine kleine Veränderung im Keimplasma eingetreten sein, welche sich nur an diesen wenigen Stellen des Körpers geltend macht, oder anders ausgedrückt: die beiden Keim- plasmen der Stammart und der Abart können sich nur durch eine Ver- schiedenheit unterscheiden, welche lediglich diese Stellen in ihrer Schuppenfarbe bestimmt nach meiner Ausdrucksweise: welche die Determinante jener Flügelschuppen ist. Nun wissen wir aber schon durch die künstliche Züchtung, die der Mensch mit seinen Haustieren und Nutzpflanzen vorgenommen hat 19* 299 Determinanten. und noch immer vornimmt, daß beliebige Stellen und Teile des Körpers erblich verändert werden können, wenn man’ die sich darbietenden ge- wünschten Variationen des Teils stets wieder zur Nachzucht auswählt, und es brauchen dadurch nicht notwendig auch andere Teile des Körpers verändert zu werden. - Wenn z. B.. wie Darwın einmal anführt, der liegende Kamm eines spanischen Hahns entsprechend (der gestellten Preis- aufgabe aufrecht gemacht wird, oder gewisse Hühnerrassen mit „Bärten versehen“ werden, so erfolgt eine Veränderung dieser Rassen nur an diesen Teilen, und ebenso, wenn die Schwanzfedern des japanischen Hahns bis zu Fuß verlängert werden, ändert sich das übrige Gefieder des Tieres nicht, geschweige denn irgend welche anderen äußeren oder inneren Teile. Wohl gibt es zahlreiche ‚korrelative‘‘ Veränderungen und in gar manchen Fällen verändert der Züchter neben dem beabsichtigten Cha- rakter noch einen zweiten oder dritten, den er nicht ins Auge gefaßt hatte, aber notwendig und überall unvermeidlich sind solche beglei- tende Veränderungen nicht, ja wir brauchen sie keineswegs überall auf wahre Korrelation der Teile zu beziehen, sondern dürfen vermuten, daß sie nicht selten auf unserer mangelhaften Beobachtungsgabe beruhen, die eben nicht imstande ist, gleichzeitig mehrere Teile des Körpers genau zu kontrollieren und minimale Veränderungen an Teilen zu be- merken, die wir nicht besonders ins Auge gefaßt haben. Soviel jedenfalls ist sicher, dab in allen diesen Fällen künstlicher Abänderung einzelner Charaktere das Keimplasma irgendwie ver- ändert wird, aber immer derart, daß es sich von dem der Stamm- form nur durch solche Veränderungen unterscheidet. welche be- wirken, daß nur die abgeänderten Teile dadurch beeinflußt werden, nicht.aber der ganze Organismus, und das heißt wieder nichts anderes, als daß nur die Determinanten jener Teile abge- ändert haben. Nun können wir aber an tausenderlei Fällen sehen, daß im Natur- zustand genau dasselbe geschieht, daß auch dort ein Teil nach dem anderen abändert, bis die möglichst große Anpassung an die Verhält- nisse erreicht ist. Bei den Blattnachahmungen der Schmetter- linge tritt das vielleicht am schärfsten ‘hervor, denn hier kennen wir das Vorbild. das Blatt, und sehen nun, wie sich die eine Art demselben nur ungefähr in der Totalfärbung nähert, wie bei einer anderen schon ein brauner Streifen über den Hinterflügel schräg hinzieht, der bis zu einem gewissen Grad die Mittelrippe eines Blattes vortäuscht, wie dieser bei einer dritten Art sich ein Stückchen weit auf den Vorderflügel hinüber fortsetzt, bei einer vierten noch etwas weiter auf demselben hinläuft, bis er schließlich bei einer fünften bis zur Spitze der Vorder- flügel sich fortsetzt. So verhält es sich z. B. bei der artenreichen Gat- tung Anaea. Aber auch dann ist noch eine Steigerung der Ähnlichkeit möglich, denn, wie ja wohlbekannt, kommen nicht selten noch Nach- ahmungen von den Seitenrippen eines Blattes hinzu, oder dunkle Flecken, welche die Schimmelflecke auf einem feuchten faulenden Blatt getreu wiedergeben, oder farblose, glashelle Stellen, welche wohl Tautropfen vortäuschen usw. Alles dies sind Abänderungen, die sich auf einzelne, distinkte Gruppen von Flügelschuppen beziehen, die somit einzeln erb- lich verändert worden sind, d.h. deren jede von einer Veränderung des Keimplasmas hervorgerufen wurde, welche keine andere Stelle des Körpers veränderte, als eben (diese. Die Keimplasmatheorie. 293 Nehmen wir einmal den unmöglichen Fall. wir könnten die Ent- wicklung eines solchen Blattschmetterlings miterleben. so würde der Anfang der Blattnachahmung darin seinen Grund haben können, dab eine Kallima-Stammform, die bisher auf Wiesen lebte. in einem Teil ihrer Nachkommen in den Wald übersiedelte. sich also der Lebens- weise nach in zwei Gruppen sonderte, eine Wiesen- und eine Wald- form. Die letztere paßte sich nun dem Sitzen zwischen Blättern an. und bildete die Mittelrippe eines Blattes auf ihren Flügeln aus. In einem anlagenlosen Keimplasma könnte diese Veränderung nur auf gleichmäßiger Veränderung aller Teilchen desselben beruhen, denn diese Teilchen sind ja entweder unter- einander gleich oder doch von demselben Wert für jeden Teil des fertigen Organismus. Das Keimplasma der neuen Rasse mub aber doch irgendwie sich unter- scheiden von dem der Stammart. sonst könnte es nicht eine Ab- änderung, sondern müßte die Stammart hervorbringen. Wie soll nun aber aus einem in allen seinen Teilchen veränderten Keimplasma ein Tier hervorgehen, das nur an einer kleinen Stelle von seinen Vorfahren abweicht? und wie sollen sich solche kleine Abände- rungsschritte vielfach im Laufe der Phylogenese wiederholen kön- nen, ohne daß die korrespondie- renden Veränderungen des Keim- plasmas so stark würden, (daß nicht nur jene Flügelzeichnung, sondern geradezu alles, was an dem Tier ist, zugleich mit ver- ändert würde? Und doch sind solche Blattbilder nicht plötzlich entstanden, sondern in vielen klei- Fig. 13 (wiederholt). Kallima paralleeta nen Schritten, es müßte also das aus Indien, rechte Unterseite des sitzenden Keimplasms in toto hundertmal Schmetterlings, A” Kopf, /7 Lippentaster, & = 3 B Beine, F Vorder-, #7 Hinterflügel; 7 sukzessiv verändert worden sein, Sehwänzcehen des letzteren, den Stiel des falls es keine Anlagen gäbe. Blattes darstellend:; 2/! und „/? Glasflecke, Bei der indischen Art Kallima Aufl Reste von Augenflecken. parallecta lassen sich nieht weniger als fünf wohl charakterisierbare Varietäten nachweisen, deren Unter- schiede lediglich auf der Art beruhen, in welcher das Blattbild auf ihrem Flügel ausgeführt ist, die Oberseite der Flügel ist bei allen gleich. Schon bei flüchtiger Betrachtung einer Auswahl dieses Schmetter- lings sieht man sofort, daß nach Zahl. Deutlichkeit und Länge die Seiten- rippen des Blattbildes ganz verschieden sind bei verschiedenen Indi- viduen. Auf der rechten Blatthälfte können ihrer bis sechs angedeutet sein (Fig. 13), und dann bemerkt man, daß die drei mittleren davon am längsten, schärfsten und «dunkelsten sind, während die gegen die Spitze und die Basis des Blattbildes hin gelegenen kürzer und oft auch 94 Die Keimplasmatheorie. schattenhafter werden. Auf der linken Seite läßt besonders die zweite Nebenrippe noch deutlich die Einbuchtungen bemerken, welche die von den Vorfahren ererbte Binde aufwies, die die heute noch sichtbaren Augenflecke (12.7) umsäumte: die dritte Nebenrippe ist ganz unbe- stimmt und schattenhaft, läuft aber trotzdem schon genau parallel den beiden ersten und erhöht dadurch die täuschende Wirkung des Bildes. Man unterscheidet also ältere und jüngere Zeichnungsele- mente: ein Beweis für die langsame und sukzessive Entstehung des Bildes. Das ist mit der Vorstellung einer anlagenlosen, wenn auch noch so kompliziert gemischten Keimsubstanz nicht vereinbar. Eine Sub- stanz, die Tausende und Abertausende von gesetzmäßig und in streng- ster Reihenfolge auseinander hervorgehende Veränderungen durchlaufen müßte, damit aus ihr der bestimmte, mit allen seinen Tausenden von Teilen bis ins einzelste vorgeschriebene Organismus werde, kann nicht in ihrer Gesamtkonstitution ungezählte Male abändern, ohne daß sich die Folgen in zahlreichen, ja in allen Teilen des Körpers zeigten. Der- artige Abänderungen des Keimplasmas wären etwa vergleichbar vielen sukzessiven Abänderungen in der Kursrichtung eines Schiffes, die, wenn auch jede einzelne nur um ein Minimales von der richtigen Fahrt ab- weicht, doch das Schiff nach langer Reise an eine ganz andere Küste führen müssen, als die beabsichtigte. Wenn jede Einzelanpassung der Art auf Abänderung des (resamtkeimplasmas beruhte, dann könnte die Waldkallima bald gar keine Ähnlichkeit mehr mit ihrer Stammform der Wiesenkallima haben, und doch kennen wir Kallimaarten, die noch nicht die speziellen Ähnlichkeiten mit einem Blatt zeigen, die z. B. noch die voll ausgebildeten Augenflecken der Stammform aufweisen usw.: die Ent- stehung des Blattbildes hat also den (Gesamtcharakter der Arten nicht stark beeinflußt. wie ja schon das Gleichbleiben der Oberseite der Flügel bei den Varietäten beweist. Da nun aber doch die Blattähnlichkeit nicht entstanden sein kann, ohne dab sich am Keimplasma etwas änderte, da das Keimplasma der Wiesen- und der Waldkallima in irgend etwas verschieden sein muB. und so wenig gleich sein kann, als das Keimplasma einer Pfauen- und einer Botentaube, so muß es auch Anlagen im Keimplasma ge- ben, d. h. lebende Einheiten, deren Abänderung lediglich die Abände- rung einzelner Teile des Organismus nach sich zieht. Auf solchen Erwägungen beruht meine Annahme von der Zu- sammensetzung des Keimplasmas aus Determinanten. Es müssen derer so viele darin enthalten sein, als es selbständig und erblich variable Bezirke am fertigen Organismus gibt, seine sämt- liehen Entwicklungsstadien mit eingeschlossen. ‚Jede Stelle -z. B. des Schmetterlingsflügels, welche selbständig und erblich variiren kann, muß — so schließe ich — durch ein ebenfalls variables Element, die Determinante, im Keimplasma vertreten sein; aber auch jede selbstständig und erblich variable Stelle der Raupe, aus welcher jener Schmetterling sich entwickelte. Sie wissen, wie sehr die Rau- pen in Färbung und Gestalt ihrer Umgebung angepaßt sind. Nehmen wir also einmal an, die Raupe jenes Schmetterlings, dessen Flügel- zeichnung wir soeben als Beispiel wählten, hätte die Sitte, nur nachts zu fressen, bei Tage aber am Stamm des Baumes zu sitzen und zwar in den Rissen der Borke. Sie würde dann etwa wie die Raupen der sog. Ordensbänder (Catocala) oder Spanner (Greometriden), aussehen Begründung der Determinanten. 295 und die Farbe der Rinde des betreffenden Baumes besitzen: die Deter- minanten der Haut würden also entsprechend dieser Lebensweise der Raupe so abgeändert haben, daß die Haut grau oder braun erscheinen muß. Es kann aber nicht bloß eine Determinante der Raupenhaut im Keimplasma enthalten sein, denn die Rindenfärbung z. B. einer Spanner- raupe ist nicht eine gleichmäßig graue, sondern an gewissen Stellen stehen dunklere Flecken, an anderen hellere, weißliche, wie sie auch auf der Rinde des Zweiges zu sehen sind, an dem die Raupe sitzt. oder braunrote Flecken. wie sie an den Deckschuppen der Knospen stehen. oder kleine Körnchen und Höckerchen. welche ähnlichen Rauhig- keiten des Zweiges, Rissen der Borke usw. genau entsprechen. Alle diese Merkmale sind konstant und finden sich bei jeder Raupe der Art an derselben Stel- le. Es muß also eine grobe Anzahl von Bezirken der Raupenhaut vom Keimplasma aus selbständig be- stimmt werden können, das Keim- plasma muß Teil- chen enthalten, deren Verände- rung lediglich die Verände- rungeinesselb- ständig varia- beln Bezirks der Raupenhaut nach sich zieht. Mit anderen Wor- ten: im Keimplas- ma (des Schmetter- lingeies müssen Ir ee e " en für viele Fig. 17 (wiederholt). Raupe von Selenia Tetranularia auf einem Bezirke des Birkenzweig sitzend. A’Kopf, 7 Füße, = Höcker, die schlafende Schmetterlingstlü- Knospen darstellen; natürliche Größe. gels, sondern auch solche für viele Bezirke der Raupenhaut enthalten sein. Dieselbe Argumentation gilt aber natürlich für alle Körperteile und Organe des Schmetterlings, wie der Raupe, wie überhaupt aller Ent- wicklungsstadien der Art, soweit diese Teile sich derart verändern können, daß die Veränderung auch in der folgenden (reneration wiedererscheint, d. h. soweit, sie „erblich variabel" ist. Erblieh variabel aber müssen alle Teile sein, dıe sich selbständig von den Vorfahren her verändert haben. Wenn z. B. die Eier eines Schmetterlings (der Vanessa Levana), in Farbe und Gestalt. sowie in ihrer Aufreihung zu kleinen Säulchen den Blüten- knospen der Brennesselpflanze täuschend ähnlich sehen, an welchen die Raupe lebt, so dürfen wir schließen, daß diese Eier von jenen Vor- fahren her, welehe noch nicht an der Brennessel lebten, in «diesen drei 296 £ Die Keimplasmatheorie. Beziehungen selbständig. d. h. unbeeintlußt von etwaigen anderen Ab- änderungen, die die Art eingegangen ist, erblich variiert haben. dab folelich auch Determinanten der Eischale, Eifarbe usw. im Keim- plasma enthalten sein müssen. Die Art der Ablage jener Eier in Säulehen aber hängt von einer Abänderung des Eiablageinstinkts ab. welche ihrerseits in Abänderungen gewisser Nervenzentren ihren Grund haben muß, so dab wir daraus erfahren, daß es im Keimplasma auch Determinanten für einzelne Zentren des Nervensystems gibt. Sie könnten vielleicht glauben, die Sache ließe sich auch einfacher begreifen, man brauche ja nur anzunehmen, dab Determinanten für alle Teile der Raupe im Ei anwesend wären, und daß diejenigen für den Schmetterling sich erst in der Raupe bildeten. So sieht es ja bei oberflächlicher Betrachtung auch aus: „die Flügel entstehen erst während des Raupenlebens“, so liest man in jedem Hanıd- buch der Entomologie, und in gewissem Sinn ist es auch richtig, denn zum ausgebildeten Flügel entwickelt sich die erste Anlage desselben wirklich erst in der Raupe. Aber wenn auch diese erste Anlage sich erst in der Raupe bildete, woraus könnte sie sich denn bilden? Doch nur aus materiellen Bestandteilen der Raupe, d. h. aus irgend welchen lebendigen Zellen oder Zellengruppen derselben. Die Flügel würden also in ihrer Beschaffenheit abhängig sein von derjenigen der Raupen- zellen, aus denen sie hervorgehen: wenn also diese sich erblich ver- änderten durch Veränderung ihrer im Keim enthaltenen Determinanten, so würden dadurch auch die sich in ihnen erst bildenden Determi- nanten des Schmetterlings verändert; jede erbliche Veränderung der Raupe müßte eine solche des Schmetterlings nach sich ziehen, was doch nicht der Fall ist. Wollte aber jemand gar die An- nahme machen, die Determinanten des Schmetterlings bildeten sich zwar erst im der Raupe, aber gänzlich unabhängig von der Beschaffenheit derselben. so würde er entweder einen Widersinn gesagt haben, näm- lich den. daß die Charaktere des Schmetterlings überhaupt nicht erblich wären, oder aber er würde unbewußt zugegeben haben, daß «die De- terminanten des Schmetterlings in den Teilen der Raupe bereits ent- halten sind und direkt vom Keimplasma herkommen. Daß aber die Charaktere des Schmetterlings sich unabhängig von dienen der Raupe verändern, habe ich schon vor langen Jahren nach- gewiesen, als wir vom Begriff des Keimplasmas oder der Determinanten noch weit entfernt waren. Ich wies damals nach, daß schon die Kon- stanz der Merkmale einer Art bei den zwei Hauptstadien ganz ver- schieden, daß die Raupe sehr variabel, und zugleich der Schmetterling derselben in allen seinen Merkmalen sehr konstant sein kann, oder um- gekehrt; ich erinnerte an die dimorphen Raupen, welch grün oder braun sind und dennoch denselben Schmetterling geben (z. B. Deilephila El- penor, Sphinx Convolvuli): ich führte den Wolfsmilchschwärmer an (Deile- phila Euphorbiae), dessen dunkle, aber zugleich bunte Raupen an der Riviera bei Nizza als Lokalvarietät Nicaea auftreten und dort ein völlig anderes Kleid tragen, hell lehmgelb mit einer Doppelreihe großer, auf- fallender schwarzgelber Augenflecke, während der Falter sich von den unsrigen durch kein einziges bestimmtes Merkmal unterscheidet, höchstens durch bedeutendere Körpergröße: ich stellte damals auch Versuche an mit den Raupen des „Landkärtchens“ (Vanessa Levana) die zum größeren Teil schwarz sind mit schwarzen Dornen, zum kleineren gelbbraun mit gelben Dornen; sie gaben getrennt aufgezogen beide denselben Schmetter- Begründung der Determinanten. 297 ling. obwohl hier am ersten noch an einen inneren Zusammenhang der Farbe bei Raupe und Schmetterling hätte gedacht werden können, da der Schmetterling in doppelter Färbung auftritt. Es zeigte sich aber, daß der Dimorphismus des Schmetterlings nichts mit dem der Raupe zu tun hat. er steht bekanntlich in Abhängigkeit von der Jahreszeit und ist „Saisondimorphismus“, während die beiden Raupenformen zu jeder Jahreszeit nebeneinander auftreten. Ich habe später einen ähnlichen Versuch mit den dimorphen Raupen des Feuerfalters, Polyommatus Phlaeas, gemacht und mit demselben Re- sultat. Die rein grünen Raupen gaben genau denselben Schmetterling, wie die mit breiten roten Längsstreifen gezeichneten, und in diesem Fall können wir bestimmt beide Färbungen als protektive bezeichnen, die grüne Form ist an die grüne Unterseite der Blätter angepaßt, die rotgestreifte an die grünen rotkantigen Stengel des kleinen Ampfers (Rumex acetosella). Es bedürfte eigentlich gar keiner besonderen Beweise, daß Raupe und Schmetterling in hohem Grade unabhängig voneinander erblich ab- ändern. da die Tatsache der Metamorphose allein schon hinreicht, um dies zu beweisen. Wie wäre es denn sonst möglich gewesen, daß dieselben zum Beißen eingerichteten Kiefer, welche bei den Urinsekten und den ihnen heute noch am nächsten stehenden Heuschrecken während des ganzen Lebens Beißwerkzeuge bleiben, sich bei den Raupen zur Zeit ihrer Verpuppung in den Saugrüssel des Schmetterlings umwandeln ? Es müssen also die Teile des Insekts sich in seinen verschiedenen Lebens- stadien unabhängig voneinander und erblich verändern können. Und die Kiefer der blätterfressenden Raupe sind nicht nur unverändert geblieben, während sie sich im geschlechtsreifen Tier allmählich zu einem längeren und komplizierteren Saugapparat umgestalteten, sondern wenn in viel späterer Zeit dieser Rüssel bei einer Art überflüssig wurde, weil der Schmetterling aus irgend welchen Ursachen sich die Nahrungsauf- nahme abgewöhnen mußte, so hat auch diese Rückbildung umgekehrt keinen Einfluß auf die Kiefer der Raupe ausgeübt. wie wir an gar manchen Schwärmern, Spinnern und Geometriden es beobachten. Wie konnte nun hier die Rückbildung des Saugrüssels erblich werden, wenn doch die Raupenkiefer, aus denen dieser sich bildet, dieselben bleiben? Wir sind also durchaus gezwungen, in diesem letzteren etwas anzu- nehmen, das sich vom Keim her verändern kann, ohne daß der Raupen- kiefer selbst sich zu verändern braucht. Dieses „etwas“ ist es, was ich als „Determinanten“ bezeichne, Lebensteilchen, die — stelle man sie sich wie immer vor — zwar in Zellen des Raupenkiefers enthalten sind, aber zunächst inaktiv also ohne den Bau derselben zu beeinflussen, von deren Beschaffenheit aber Gestalt und Bau des Saugrüssels «des Schmetter- lings bis in alle seine Einzelheiten hinein bestimmt wird. Sie allein können es sein, die den Schmetterlingsrüssel sich ausbilden und die ihn später in manchen Fällen sich wieder zurückbilden ließen, ohne daß die entsprechenden Teile der Raupe sich mitveränderten. Mir scheint dieses Beispiel nach einer Richtung hin demjenigen des Flügels der Insekten noch vorzuziehen, weil kein Raupenorgan mit spezifischer Funktion dem Flügel des Schmetterlings entspricht. Dennoch ist es in beiden Fällen genau dasselbe, und es würde nur Täuschung sein, wenn man sagen wollte, die erste Anlage des Flügels in der Raupe sei gar kein Teil der Raupe. Freilich ist sie zuerst nur eine Zellengruppe der Haut. die an bestimmter Stelle am Rücken des 298 Die Keimplasmatheorie. zweiten und dritten Segmentes der Raupe liegt und von einer einzelnen Zelle des Embryos, der allerdings noch nicht nachgewiesenen „Urflügel- zelle“ abstammen muß. Aber sie ist eben doch ein integrierender Teil der Raupe, der nicht auch fehlen, nicht größer oder kleiner sein dürfte u. s. w., kurz, der auch für die Raupe etwas bedeutet, wenn auch nicht mehr, als andere Hautzellen auch. Für den Schmetterling aber bedeutet diese Hautstelle die Anlage des Flügels; denn aus ihr allein kann durch Vermehrung zu einem Zellenhaufen, durch Auswachsen desselben zu einem hohlen Zapfen, der sich mehr und mehr zu einer Scheibe ver- größert, zur Imaginalscheibe, die der betreffenden Art eigene Flügel- form hervorgehen. Schon früh steht diese Imaginalscheibe mit Nerven und Tracheen in Verbindung, wie besonders bei Zweiflüglerlarven sehr schön zu erkennen ist (Fig. 59, in 1—5), und diese wachsen später zu den Nerven und Tracheen des Flügels aus, während Tausende von eigen- tümlichen schuppenförmigen Haaren sich auf der Fläche des Flügels entwickeln — kurz die Anlage wird zum fertigen Organ mit seiner spezifischen Aderung und seiner bei Schmetterlingen oft so verwickelten Zeichnung und Färbung. Fast jedes kleine Fleckehen und Strichelehen der Letzteren wird aber mit zähester Vererbungskraft von Generation auf Generation übertragen, und jedes kann zugleich erblich verändert werden: ganz ebenso das systematisch so wichtige, weil eben streng erbliche, aber trotzdem auch wieder erblich veränderbare Adersystem, Fig. 89. V\Vorderteil der Larve einer Mücke, Corethra plumicornis. A’ Kopf, 7% Thorax, 7 untere, o/ obere Imaginalscheiben, z77, 2 und 3 die Anlagen der Beine o2 und 3 Anlagen der Flügel und Schwinger, £ Ge- hirn, dg Bauchganglienkette mit Nerven, die an die Imaginalscheiben herantreten, /r> Tracheenblase; etwa 15 Mal vergrößert. ui u13 desgleichen die Haftborsten, Duftvorrichtungen. kurz das ganze ver- wickelte Gebilde des Flügels mit allen seinen spezifischen Anpassungen an Flug- und Lebensweise, an die Farbe der Umgebung u. s. w. Und wodurch wird es möglich, daß dies alles aus der einen Hautzelle sich entwickelt? Ist es der Einfluß der Lage, der dies bewirkt, könnte eine beliebige andere Zelle der Raupenhaut (dasselbe leisten, wenn sie an dieselbe Stelle rückte? Könnte etwa. eine der Nachbarinnen der Ur- tlügelzelle sie ersetzen, wenn sie zerstört würde? Schwerlich wohl, und ich glaube, dafür sogar den Beweis erbringen zu können. Allerdings ist der Versuch, eine solche Zelle am lebenden Tier zu töten, noch nicht gemacht worden: sollte er gelingen, so darf man vorher sagen, dab keine der benachbarten Hautzellen imstande sein wird. das gleiche zu leisten und einen Flügel aus sich zu entwickeln: der betreffende Flügel wird dann überhaupt nicht gebildet werden. Mir ist im Sommer 1897 ein Trauermantel (Vanessa Antiope) aus der Puppe geschlüpft, der sonst völlig normal und schön entwickelt war, dem aber der rechte Hinter- flügel durchaus fehlte; keine Spur davon war zu erkennen. Hier muß durch eine nicht mehr zu ergründende Ursache eben jene erste Bildungszelle des Flügels in der Hypodermis oder ihre Nachkommen zerstört worden sein, und ein Ersatz derselben trat, wie der Defekt zeigt, nicht ein. Begründung der Determinanten. 299 Die junge Wissenschaft der Entwicklungsmechanik räumt den Ein- flüssen der Lage einer Zelle inmitten einer Gruppe von Zellen einen für ihre weiteren Schicksale bestimmenden Wert ein, und für die Zellen des in Furchung begriffenen Eies scheint dies auch in bestimmten Fällen richtig zu sein, aber allgemeine Gültigkeit besitzt diese Annahme gewiß nur in ganz untergeordnetem Sinn. Die Bildungszelle des Flügels wird nieht durch ihre relative Lage im Organismus zu dem, was sie ist. Wäre es so, dann könnte es nicht vorkommen, daß ein Flügel an Stelle eines Beines sich bildet, wie es bei einer Zygaena beobachtet wurde, dann könnte es überhaupt jene früher schon erwähnten Mißbildungen nicht geben, die man Heterotopien nennt, und die darin bestehen, daß Organe von bestimmter, normaler, oder doch der normalen ähnlicher Bildung an einer ganz anderen Stelle entstehen, als gewöhnlich, ein Fühler auf dem Hüftstück eines Beins, ein Bein an Stelle eines Fühlers (bei Sirex) oder Flügels u. s. w. Es ist also nicht irgend etwas von außen hinzukommendes, was jene Hautzelle der Raupe zur Flügelanlage macht, sondern der Grund davon liegt in ihr selbst, in ihrer eige- nen Beschaffenheit. Wie in der Ei- und Samenzelle die ganze Masse aller Determinanten für den ganzen Körper und für alle Stadien seiner ganzen Entwicklungsbahn enthalten sein muß, so sind in der Urzelle des Schmetterlingsflügels alle Determinanten für den Aufbau dieses komplizierten Teils enthalten, und wenn dieselbe im Laufe der Ent- wieklung durch irgend eine Störung an eine falsche Stelle gerät, so kann auch dort — falls die Bedingungen nicht gar zu abweichende sind — ein Flügel sich aus ihr entwickein. (Gerade die Heterotopien sind ein weiterer Beweis für die Existenz von Determinanten, weil die- selben ohne die Annahme von „Anlagen“ überhaupt nicht zu begreifen sind. Die Annahme von Determinanten des Keimplasmas ist eine so fundamentale für meine Entwicklungstheorie, daß ich zu ihrer Begrün- dung und Rechtfertigung Ihnen noch ein weiteres Beispiel vorführen möchte. Die Gliedmaßen der Gliedertiere entsprangen ursprüng- lich zu einem Paar an jedem Körperring und waren untereinander ihrer Funktion und auch ihrer Gestalt nach gleich, oder doch sehr ähnlich. Die Tausendfüßer, und noch mehr die ihnen äußerlich ähn- lichen Arten der interessanten Gattung Peripatus, sowie die schwimmen- den und kriechenden Borstenwürmer des Meeres geben uns «davon einen Begriff. Wir könnten uns nun ganz wohl vorstellen, daß die ganze Serie dieser Gliedmaßen im Keimplasma nur durch eine Determinante oder Determinantengruppe vertreten wäre, die sich bei der Entwicklung nur zu vervielfachen brauchte. Ohne darüber zu streiten, ob dies bei den Urgliederfüßern wirklich so gewesen ist, oder nicht, so ist doch sicher, daß es in dem Keimplasma der heutigen (liedertiere nicht mehr so sein kann, sondern daß bei ihnen jedes Gliedmaßenpaar durch eine besondere Determinante vertreten ist. Wir müssen das daraus schließen, daß die einzelnen Paare dieser Gliedmaßen unabhängig von- einander erblich variiert haben, die einen sind Kiefer, wieder andere Schwimmfüße, oder auch bloße Kiementräger, noch andere Eierträger geworden, oder Lauffüße, Grabfüße, Springbeine; bei den Krebsen trägt häufig das vorderste der sonst ähnlich gebauten eigentlichen Bein- paare, oder auch das zweite, oder das dritte eine Scheere, oder keines trägt eine Scheere usw.; kurz wir sehen, dab jedes einzelne Glied- maßenpaar sich den Bedürfnissen der Lebensweise der Art selbständige 300 i Die Keimplasmatheorie. angepaßt hat. Das war nur möglich, wenn jedes im Keimplasma durch ein Element vertreten war, (dessen Veränderungen nur an dieser einen Gliedmaße eine Abänderung nach sich zog, an keiner anderen. Sie möchten mir aber vielleicht einwerfen, daß ja die Verschieden- heit der Gliedmaßen ganz wohl erst im Laufe der Entwicklung des Tieres hervortreten könnte, während (die erste Anlage aller dieselbe sei, daß also im Keimplasma doch eine einzige Determinante genüge. Das wäre aber nur dann richtig, wenn die Verschiedenheit nicht auf inne- ren, sondern auf äußeren Ursachen beruhte, wenn also die gleichen Anlagen dadurch verschieden gestaltete Gliedmaßen lieferten, dab sie während ihrer Entwicklung von verschiedenen abändernden Einflüssen getroffen würden. Dem ist aber nicht so, wenigstens nicht in dem Grade, in dem es der Fall sein müßte. Oder sollte es jemand ein- fallen, z. B. die Springfübe des Flohkrebses als notwendige Folge der etwas abweichenden Gestalt der Segmente zu betrachten, an denen sie hervorwachsen ? Der strikte (regenbeweis liegt auch hier wieder in den Heterotopien; 3 an derselben Stelle, an der normalerweise bei en der Krabbe ein zum Hal- \4 ten der Eier bestimm- ter Afterfuß steht, kann unter Umständen ein gewöhnlicher Lauffuß hervorwachsen (Fig. 90, Bethe), an Stelle eines exstirpierten Auges eine einer Antenne ähnelnde Gliedmaße Fig. 90. Ein Taschenkrebs, Careinus maenas, von (HERBST). Wäre aber unten gesehen; an Stelle des Afterfußes steht links wirklieh nur eine am fünften Abdominalsegment ein Brustfuß und zwar D : ES ein solcher der rechten Seite (6); ds7—4 die After- eterminante ım keim füße der rechten Seite; nach BETHE. für sämtliche Glied- maben, so müßten die- selben alle gleich sein, von den kleineren oder größeren Verschieden- heiten abgesehen. welche ihnen etwa durch ihr Hervorwachsen auf ver- schieden großen, verschieden ernährten Segmenten aufgeprägt werden könnten. Solche Verschiedenheiten genügen aber entfernt nicht zur Erklärung so großer Abweichungen, wie sie zwischen den Gliedmaßen der meisten Krebsarten vorkommen, geschweige denn, daß sie ihre Anpassung an ganz verschiedene Funktionen erklärten. Man glaube nicht, daß man mein Argument dadurch entkräften könne, dab man sagt, die eine Gliedmaßendeterminante des Keims spalte sich im Laufe der Entwicklung in eine Serie differenter Glied- mabendeterminanten. Es fragt sich eben, wodurch sie dazu befähigt wird, und da kann denn die Antwort keine andere sein, als die, daß diese eine erste Determinante in sich mehrere verschiedenartige Ele- mente eingeschlossen haben müßte, welche später auseinandergelegt die einzelnen Gliedmaßen verschieden bestimmen. Das heißt aber nichts anderes, als daß diese eine Determinante in Wahrheit mehrere ver- Begründung der Determinanten. 301 schiedene Determinanten einschließt. Denn Determinante ist uns nichts anderes, als ein Element der Keimsubstanz, von dessen Anwesenheit im Keim das Auftreten und die spezifische Aus- bildung eines bestimmten Teiles des Körpers bedingt wird. Könnten wir die Determinante einer Gliedmaße aus dem Keimplasma entfernen, so würde diese Gliedmaße sich nicht bilden: könnten wir sie verändern, so würde auch die Gliedmaße anders ausfallen. In diesem allgemeinen Sinn sind Determinanten des Keims nichts hypothetisches, sondern etwas tatsächliches, ebenso sicher, als ob wir sie mit unseren Augen gesehen und ihre Entwick- lung verfolgt hätten. Die Hypothesen fangen erst an, wenn es sich darum handelt, dieselben aus bloßen Symbolen zu Wesen von Fleisch und Blut zu machen. und zu sagen, wie sie beschaffen sind. Aber auch hierbei läßt sich doch einiges mit Sicherheit behaupten: z. B. dab sie keine Miniaturbilder, im Sinne BonnETs, der Teile seien, die sie be- stimmen; dann, dab sie nicht leblose Materie, bloße Stoffe sind, sondern lebende Teilchen, Lebenseinheiten. Wären sie das nicht, so könnten sie sich nicht als das erhalten im Laufe der Entwicklung, was sie sind, sie würden vom Stoffwechsel zersetzt und zerstört, anstatt, wie nur lebende Materie es vermag, den Stoffwechsel zu beherrschen, gleich- zeitig zu verbrennen, aber auch fremde Materie zu assimilieren und dadurch zu wachsen. Leblose Determinanten kann es nicht geben, dieselben müssen Lebenseinheiten sein, fähig, sich zu ernähren, zu wachsen und durch Teilung zu vermehren. Und nun sind wir zu dem Punkt gelangt, an welchem sich am besten eine Besprechung einschalten läßt über die Organisation der lebenden Substanz im allgemeinen. Der Wiener Physiologe ERNST BRÜCKE hat schon vor vierzig Jahren die Ansicht begründet, die lebende Substanz könne nicht bloß ein (Gremenge von chemischen Molekülen irgend welcher Art, sie müsse „organisiert“, das heißt, aus kleinen unsichtbaren Lebenseinheiten zu- sammengesetzt sein. Wenn — wie wir doch annehmen müssen — die mechanische Theorie des Lebens richtig ist, wenn es keine Lebenskraft im Sinne der Naturphilosophen gibt, so ist der Brückesche Satz un- bezweifelbar, denn ein zufälliges Gemisch von Molekülen kann die Lebenserscheinungen nicht hervorbringen, so wenig als irgend ein ein- zelnes Molekül, weil eben Moleküle erfahrungsgemäß nicht leben, weder assimilieren noch wachsen, noch sich fortpflanzen. Leben kann also nur durch eine bestimmte Ver bindung verschiedenartiger Moleküle ent- stehen, und aus solchen bestimmten Molekülegruppen muß alle lebendige Substanz bestehen. HERBERT SPENCER hat kurz nach BRÜCKE eben- falls solche Lebenseinheiten „Units“ angenommen und in neuester Zeit DE VRIES, WIESNER und ich selbst. Über die Zusammensetzung dieser Lebensträger oder Biophoren, wie ich sie nenne, können wir einst- weilen genaueres nicht aussagen, als das Eiweißmoleküle, Wasser, Salze und einige andere Stoffe die Hauptrolle bei ihrer Zusamme nsetzung spielen. Das geht aus der chemischen Analyse des toten Protoplasmas hervor; in welcher Form aber diese Stoffe im Biophor enthalten sind, und wie sie aufeinander wirken, um die Erscheinungen des Lebens hervor- zurufen, indem sie einen steten Zirkel von der Zersetzung zur Wieder- herstellung durchlaufen, das ist uns noch gänzlich verborgen. Wir haben es auch hier nieht damit zu tun: wir begnügen uns «damit, den Biophoren die Eigenschaft des Lebens zuzuerkennen und 302 { Die Keimplasmatheorie. uns also vorzustellen, alle lebende Substanz, Zell- und Kernsubstanzen, Muskel-, Nerven- und Drüsensubstanz in allen ihren Varianten bestünde aus Biophoren, natürlich aus solchen der verschiedensten Zusammen- setzung. Es muß unzählige Biophorenarten in all den verschiedenen Teilen der Millionen von Lebensformen geben, die heute auf der Erde leben: alle müssen aber nach einem gewissen Grundschema gebaut sein, welches eben ihre wunderbare Fähigkeit bedingt, zu leben; alle be- sitzen die Grundeigenschaften des Lebens, dissimilieren, assimilieren, wachsen, vermehren sich durch Teilung. Auch Bewegung und Em- pfindung werden wir ihnen in irgend einem Grad und Sinn zusprechen müssen. Über ihre Größe läßt sich nur sagen, daß sie weit unter der Grenze der Sichtbarkeit liegen und dab alle kleinsten Körnchen des Protoplasmas, welche wir mit unseren stärksten Systemen noch gerade wahrnehmen können, keine einzelnen Biophoren sein können, sondern Massen von ihnen. Andererseits müssen sie aber größer sein, als irgend ein chemisches Molekül, weil sie selbst aus einer Gruppe von Molekülen bestehen, unter welchen sich solche von komplizierter Zu- sammensetzung und demgemäß auch relativ bedeutender Größe befinden. ‘s fragte sich nun zunächst, ob nicht etwa die oben erschlossenen Determinanten identisch sind mit diesen „Biophoren“ oder kleinsten Lebensteilchen; dem ist aber jedenfalls nicht allgemein so. Wir be- zeichneten als Determinanten diejenigen Teilchen der Keimsubstanz, welche ein „Vererbungsstück“ des Körpers bestimmen. d. h. von deren Anwesenheit im Keim es abhängt, daß ein bestimmter Teil des Körpers, bestehe er aus einer Zellengruppe, einer einzelnen Zelle oder einem Zellteil, sich bildet und zwar in spezifischer Weise, von deren Variieren ferner nur diese bestimmten Teile ebenfalls zum Variieren veranlaßt werden. Es fragt sich nun, wie groß solche Vererbungsstücke und wie zahlreich sie sind, ob jeder Zellenteil, ob jede Zelle des Körpers, oder ob nur größere Zellengruppen ein solches darstellen. Offenbar nun sind diese vom Keim her einzeln bestimmbaren Bezirke ganz ver- schieden groß, je nachdem wir es mit kleinen oder großen, einfachen oder komplizierten Organismen zu tun haben. Die Einzelligen, z. B. die Infusorien müssen wohl für eine Menge von Zellorganen und -Teilen besondere Determinanten besitzen, wenn wir auch das selbständige und erbliche Variieren ihrer Organe nicht direkt feststellen können: niedere Vielzellige, wie etwa die Kalkschwämme werden nur einer relativ ge- ringen Zahl von Determinanten bedürfen, bei höheren Vielzelligen aber, z. B. schon bei den meisten Gliedertieren muß ihre Zahl bereits eine sehr hohe sein und viele Tausende, ja Hunderttausende betragen; denn hier ist bereits alles am Körper spezialisiert und muß durch selbständige Variation vom Keim her verändert worden sein. So stehen bei vielen Krebsen die Riechstäbchen einzeln an bestimmten Gliedern der Fühler und die Zahl der mit einem Riechstäbehen ausgerüsteten Glieder ist verschieden bei verschiedenen Arten: auch die Größe der Riechstäbehen selbst ist sehr verschieden, ist z. B. bei unserer gemeinen Wasserassel viel geringer, als bei der blinden Wasserassel aus den Tiefen unserer Seen, bei welcher der Ausfall des Gesichtes durch Verschärfung des Geruchs ersetzt wird. Hier können also die Riechstäbchen für sich erblich variieren, aber auch jedes Glied des Fühlers vermag. ein solches selbständig durch Variation hervorzubringen. Wir müssen demnach in Die Determinantenlehre. 303 diesem Falle für die Riechstäbchen und für die Fühlerglieder besondere Determinanten voraussetzen. Aber nicht immer und überall werden wir gleiche oder ganz ähnliche Organe, wenn sie in der Vielzahl vor- kommen auf ebensoviele Determinanten beziehen müssen. So variieren gewiß die Haare der Säuger oder die Schuppen auf den Flügeln der Schmetterlinge nicht alle einzeln selbständig. sondern Haare und Schuppen eines gewissen Bezirks variieren mit einander, und wären somit nur durch eine Determinante im Keimplasma vertreten. Doch scheinen diese Bezirke oft sehr klein zu sein, wie am besten aus den zahlreichen feinen Linien, Flecken und Bändern hervorgeht, die die Zeichnung der Schmetterlingsflügel zusammensetzen, und noch mehr aus den Duftschuppen der Schmetterlinge, wie z. B. bei den Bläulingen (Lycaena) vorkommen. Diese k'einen lautenförmigen Schuppen finden sich nicht bei allen Arten, und auch bei solchen, die sie besitzen, in sehr ungleicher Menge; es gibt einzelne Arten, die ihrer nur ein Dutzend und diese alle nur auf einer kleinen Stelle des Flügels auf- weisen. Da nun diese Duftschuppen durch Umwandlung gewöhnlicher haarförmiger Schuppen entstanden sein müssen, wie einer meiner Schüler, Dr. F. KÖHLER auf vergleichend ana- tomischem Weg nachwies, so haben also solche gewöhnliche haarförmige Schuppen bestimmter Stellen erblich variiert, d. h. ihre Determinanten haben abgeändert, während diejenigen der umliegenden Schuppen nicht ab- änderten. Ähnlich verhält es sich mit den Stimmapparaten vieler Insekten. Viele Heuschrecken geigen mit dem Schenkel der Hinterbeine auf dem Flügel, andere mıt dem einen Vorder- Ü flügel auf dem anderen und ZW Fig. 91. Hinterbein einer Heuschrecke, immer nur mit einer bestimmten Stenobothrus protorma, nach GRABER. Flügelader auf einer anderen be- fe Oberschenkel, 77 Uuterschenkel, /a stimmten Flügelader. Die eine von Fußglieder; scAr die Schrilleiste. den beiden dient als Bogen, die andere als Saite der Geige, und die Bogenader ist mit Zähnchen ver- sehen (Fig. 91), welche in einer langen Reihe nebeneinanderstehen und die dieselbe Aufgabe haben, wie das Kolophonium beim Violinbogen, nämlich die Saite abwechselnd zu fassen und wieder loszulassen und sie so in tönende Schwingungen zu versetzen. Meine Schüler die Herren Dr. PETRUNKEWITSCH und Dr. GEORG von GuwaAItA haben kürzlich den Nachweis erbracht, daß diese Zähnchen durch Umwandlung von Haaren entstanden sind, die überall auf dem Flügel und dem Bein zerstreut stehen. Aber nur an dieser einen Stelle, auf der sogenannten „Schrillader“ sind sie zu Schrillzähnchen (sc/Ar) umgewandelt. Also muß diese Ader allein für sich erblich veränderbar sein, d.h. es müssen im Keimplasma Teilchen enthalten sein, deren Veränderung lediglich eine Veränderung dieser einen Flügelader und ihrer Haare nach sich zieht, möglicherweise sogar nur die Veränderung der einzelnen Haare dieser Ader. 304 b Die Keimplasmatheorie. Andererseits aber gibt es auch große Bezirke, ganze Zellenmassen des Körpers, welche aller Wahrscheinlichkeit nach nur en bloc erblich variieren, z. B. die Milliarden von Blutzellen des Menschen, die Hundert- tausende oder Millionen von Zellen der Leber und anderer drüsiger Organe, die Tausende von Fasern eines Muskels, der Sehnen und Faszien, die Zellen eines Knorpels, Knochens u. s. w. In allen diesen Fällen wird eine einzige oder wenige Determinanten im Keimplasma genügen. Man wird aber in zahlreichen Fällen nicht genau angeben können, wie grob der Bezirk ist, der von einer Determinante bestimmt wird, was natürlich für die Theorie ohne Belang ist. Bei den Ein- zelligen werden die Determinanten Zellenteile bestimmen, bei den Vielzelligen oft ganze Zellen und Zellengruppen. Vielleicht läßt sich daraus mit einiger Wahrscheinlichkeit ein Schluß auf die Natur der Determinanten ziehen, insofern bloße Zellen- teile einfachere Determinanten anzunehmen gestatten, als ganze Zellen und Zellengruppen, Die Determinanten in den Chromosomen der Ein- zelligen mögen deshalb häufig aus einzelnen Biophoren bestehen, so dab also in diesem Falle der Begriff des Biophors mit dem der Deter- minante zusammenfiele. Bei. den Vielzelligen dagegen möchte ich mir die Determinante im allgemeinen als eine Biophorengruppe vorstellen, die durch innere Kräfte aneinander gebunden zusammen eine höhere Lebenseinheit bilden. Diese Determinante muß als Ganzes leben, d.h. assimilieren, wachsen und sich durch Teilung vermehren können, wie jede Lebenseinheit, auch müssen ihre Biophoren einzeln variieren können, so dab also auch die einzelnen durch sie bestimmten Teile einer Zelle erblich variabel erscheinen. Das sie das aber sınd, lehrt jede feiner differenzierte Zelle eines höheren Tieres: schon die Riechstäbehen der Krebse zeigen einen Stiel, einen Endkolben, einen Faden im Innern und gar manche Muskel-, Nerven- und Drüsenzellen sind noch weit komplizierter gebaut. XVII. VORTRAG. Die Keimplasmatheorie, Fortsetzung. Bau des Keimplasmas p. 305, Vitale Affinitäten p. 306, Erbgleiche und erbungleiche Teilung p. 306, Prinzipielle Bedenken O0. HERTWIGs dagegen p. 307, Männliche und weibliche Eier bei der Reblaus beweisen die erbungleiche Teilung p. 308, Zerlegung des Keimplasmas während der Ontogenese p. 309, Aktiver und passiver Zustand der Determinanten p. 310, Bestimmung der Zelle p. 311, Es gibt keine Eigenschafts- Determinanten p. 312, Auslösung der Determinanten p. 312, Nebenidioplasma p. 313, HERBSTs Lithionlarven, p. 313, Pflanzengallen p. 314, Zellen mit mehreren fakul- tativ tätigen Determinanten p. 315, Bindegewebe der Wirbeltiere p. 315, Mesoderm- zellen der Echinodermen p. 316, Sexueller Dimorphismus p. 317, Weibliche und männliche Ide p. 318, Polymorphismus, Pap. Merope, Ameisen p. 318. Meine Herren! Ich habe mich bestrebt. Ihnen nachzuweisen. daß die Keimsubstanz in dem Chromatin des Kerns der Keimzelle gesehen werden muß, und zwar in jenen Iden oder Chromosomen, in deren jedem wir die Anlagen für einen ganzen Organismus enthalten denken. Solche Ide in geringerer oder größerer Zahl machen «dann erst das ganze Keimplasma einer Keimzelle aus, und ein jedes Id besteht wieder aus Anlagen oder Determinanten, aus Lebenseinheiten, deren jede einen bestimmten Teil des Organismus in seinem Auftreten und seiner Aus- bildung bestimmt. Es fragt sich zunächst, wie wir uns vorstellen sollen, daß diese Determinanten jene Zellen oder Zellengruppen bestimmen, denen sie entsprechen. Hier sind wir nun auf bloße Vermutungen an- gewiesen, und wenn ich Ihnen irgend eine Vorstellung «davon zu geben unternehme, so möchte ich ausdrücklich betonen, daß ich damit nur eine der Möglichkeiten ausführe, die sich unserer Einbildungskraft dar- bieten. Dennoch ist es wohl nieht ohne Nutzen, sich irgend eine Vor- stellung davon zu bilden, denn nur die möglichst eingehende Durch- führung einer Theorie gestattet ihre Anwendung auf den konkreten Fall, regt zum Aufsuchen neuer stützender oder widerlegender Tatsachen an, und leitet so allmählich zur Erkenntnis ihrer Lücken oder Fehler. Das erste, was notwendig erfüllt sein muß, damit eine Determi- nante eine Zelle oder Zellengruppe bestimmen kann, ist, dab sie in dieselbe gelange; sie muß durch die zahlreichen Zellteilungen der Öntogenese hindurch so geleitet werden, daß sie schließlich in die Zellen zu liegen kommt, welche sie bestimmen soll. Dies setzt voraus, dab jede schon von Anfang an ihren bestimmten Platz im Verhältnis zu den anderen habe, daß also das Keimplasma nicht ein loser Haufen von Determinanten sei, sondern einen Bau, eine Architektur be- sitze, in welcher den einzelnen Determinanten bestimmte Stellen ange- wiesen sind. Die Stellung der Determinanten zueinander kann nicht v.; . y Weismann, Deszendenztheorie,. I. 2. Aufl. u 306 . Die Keimplasmatheorie. auf Zufall beruhen, sondern teils auf ihrer historischen Entwicklung aus älteren Vorfahren-Determinanten, teils aber auf inneren Kräften, wie wir sie flüchtig schon für den inneren Zusammenhalt der Determinanten selbst angenommen haben. Wir werden diese hypothetischen Kräfte am besten als „Affinitäten“ bezeichnen und zum Unterschied von den rein chemischen Affinitäten als vitale. Es müssen Kräfte zwischen den verschiedenen Determinanten walten, die sie zu einem lebendigen Ganzen verbinden, dem Id, welches assimilieren, wachsen und sich durch Teilung vermehren kann, wie wir es für die kleineren Einheiten, das Biophor und die einzelne Determinante ebenfalls annehmen mußten. Bei den Iden beobachten wir ja auch die Wirkungen dieser Kräfte ganz unmittelbar, indem bei jeder Kernteilung das einzelne Chromosom sich in zwei gleich große Hälften spaltet, und nicht etwa durch äußere Zugkräfte, wie man solche in den Fäden der Kernspindel vermuten könnte, sondern durch rein innere Kräfte, oft schon lange, bevor die Kernspindel sich gebildet hat. Wenn nun aber die Determinanten im Laufe der Entwicklung sich voneinander trennen und schließlich einzeln in die Zellen gelangen sollen, die sie zu bestimmen haben, dann muß das Id nicht nur die Fähigkeit haben, sich in Tochter-Ide gleicher Zusammensetzung zu teilen, sondern es muß auch die Fähigkeit besitzen, unter bestimmten Ein- flüssen sich ungleich zu teilen, so daß seine beiden Tochterhälften verschiedene Determinantenkomplexe enthalten. Die erste Teilungsart des Ids und damit des Kerns und der Zelle nenne ich erbgleiche oder integrelle, die zweite erbungleiche oder differentielle Teilung. Die erste Vermehrungsform ist die gewöhnliche, die wir überall be- obachten, wo einzellige Wesen sich durch Zweiteilung in zwei gleiche Tochterwesen trennen, oder wo Zellen vielzelliger Bionten ihresgleichen durch Zweiteilung hervorbringen. Die zweite ist nicht direkt beobacht- bar, weil eine Ungleichheit der Tochterzellen, solange sie nur im Idio- plasma liegt, sich nicht direkt sehen läßt; sie ist nur erschließbar aus der verschiedenen Rolle, welche die betreffenden beiden Tochterzellen bei dem weiteren Aufbau des Tieres spielen. Wenn z. B. von zwei Schwesterzellen des Embryo die eine die Zellen des Darmkanals liefert, die andere die der Haut und des Nervensystems, so schließe ich daraus, dab die Mutterzelle ihre Kernsubstanz ungleich unter die beiden Töchter geteilt hat, und zwar so, daß die eine die Determinanten des Entoderms, die andere die des Ektoderms erhielt, oder wenn auf einem Schmetterlingsflügel dicht nebeneinander und unter den gleichen Ver- hältnissen ein roter und ein schwarzer Fleck stehen, so schließe ich, daß die Stammzellen dieser beiden Flecke sich erbungleich geteilt haben, und zwar so, daß die eine die „roten“, die andere die „schwarzen“ Determinanten erhalten hat. Mit dem Auge läßt sich ein Unterschied der Kernsubstanz in beiden Zellen nicht erkennen, aber das gelingt auch nicht bei den Chromosomen des väterlichen und mütterlichen Kerns im befruchteten Ei, wo wir doch sicher wigsen, daß sie verschiedene Vererbungstendenzen enthalten. Jedenfalls kann man aus der schein- baren Gleichheit der Chromosomenhälften bei der Kernteilung nicht schließen, daß es eine erbungleiche Teilung überhaupt nicht gäbe. Die theoretische Möglichkeit einer solchen kann nicht bestritten werden, ja ich möchte fast sagen, sie sei leichter vorstellbar, als die Sonderung des Ids in zwei völlig erbeleiche Hälften. Beides ist eben nur denk, bar unter der Voraussetzung von Kräften, welche die gegenseitige Lage- Erbungleiche Teilung. 307 rung der Determinanten im Id bestimmen, also von „Affinitäten*. Ich will nicht versuchen, dies weiter auszuführen, daß aber überhaupt im Innern des Ids Kräfte wirken, welche uns noch gänzlich unbekannt sind, beweist eben schon jede Kernteilung durch spontane Spaltung der Chromosomen. Man hat mir entgegengehalten, daß ein so kompliziertes Ganze, wie das Id, sich überhaupt nicht durch Teilung vermehren könne, da es an einem Apparat fehle, der die durch das Wachstum gestörte Archi- tektur bei der Teilung wieder in den beiden Tochterhälften in gleicher Weise herstelle.. Dies ist aber nur dann richtig, wenn wir keine bin- denden Kräfte, „vitale Affinitäten“ innerhalb des Ids zulassen wollten, und ganz dasselbe gilt für die kleineren Lebenseinheiten. Ein gewöhn- liches chemisches Molekül kann sich nicht durch Teilung vermehren; wird es gewaltsam gespalten, so zerfällt es in ganz andere Moleküle; erst das lebendige Molekül, d. h. das Biophor besitzt die wunder- bare Eigenschaft des Wachstums und der Spaltung in zwei unter sich und dem Stamm-Molekül gleiche Hälften, und wir ersehen daraus, daß hier ebenfalls bindende und abstoßende Kräfte, Affinitäten, wirken müssen*). Ich wüßte auch nicht, weshalb wir solche Kräfte nicht an- nehmen dürften, machen wir doch auch die Annahme, daß die Hunderte von Atomen, welche nach heutiger Vorstellung ein Eiweißmolekül zu- sammensetzen und in seinem Wesen bestimmen, dureh Affinitäten in dieser bestimmten und so überaus komplizierten Anordnung festge- halten werden. Oder sollen wir uns zwischen dem Atomenkomplex des Moleküls und dem der nächst höheren Atomenkomplexe des Biophors, der Determinante und des Ids eine absolute Scheidewand eingeschoben denken, und ganz andere Kräfte in ihnen annehmen, als wir sie in jenen wirksam denken? Schließlich ist doch das Biophor nur eine Gruppe von Molekülen, die Determinante eine Gruppe von Biophoren und das Id eine Gruppe von Determinanten, und alle drei erschlossene Stufen von Lebenseinheiten werden nur dadurch zu wahrhaften Einheiten, dab Kräfte in ihnen wirken, die sie zum Ganzen zusammenbinden. Was zwingt denn die Chromatinkörnchen des ruhenden Kerns zur Zeit der Kernteilung sich einander zu nähern, sich zu einem langen bandartigen Faden zu verbinden, und was veranlaßt später diesen Faden sich in eine ganz bestimmte Zahl von Stücken zu zerlegen? Offenbar doch auch innere Kräfte, über die wir weiter nichts wissen, als daß sie wirken. Ich glaube sogar, daß man die Annahme vitaler Affinitäten noch weiter aufwärts fortführen muß, nicht nur bis zu den Zellen, sondern auch bis zu den Personen, deren Teile auch in einem inneren Verband stehen und in ihrem Aufbau durch Kräfte geordnet werden, deren eigent- liche Kenntnis uns noch vollständig fehlt, die wir aber einstweilen mit diesem Namen belegen können. Es sind aber auch prinzipielle Bedenken gegen die Annahme einer erbungleichen Kernteilung geäußert worden. ©. Herrwıc hält die erbungleiche Teilung für prinzipiell unannehmbar, weil sie in Widerspruch stehe mit „einer der ersten Grundlehren der Zeu- *, Schon in meinem Buch „Das Keimplasma* habe ich „Anziehungskräfte*“ der Determinanten und Biophoren, wie in den Zellen angenommen, freilich noch ohne genauere Ausführung, wenn auch damals schon mit ähnlicher Begründung („Keimplasma“ p. 92). Meine Kritiker haben das übersehen. M)* 308 ‚ Die Keimplasmatheorie. gung“, denn „eine physiologische Grundeigenschaft jedes Lebewesens sei das Vermögen, seine Art zu erhalten.“ Das scheint ja so, aber bei genauerem Zusehen ist diese „Grund- lehre“, obwohl in einem sehr allgemeinen Sinn genommen, richtig, doch nicht zutreffend und deshalb nieht fähig. den daraus abgeleiteten Schluß zu stützen. Wäre der Satz genau wahr, so könnte es keine Entwick- lung der ersten Organismen zu höheren gegeben haben. so müßte jedes Lebewesen immer nur genaue Kopien seiner selbst als Nachkommen geliefert haben. Mögen die Artumwandlungen plötzlich, oder allmählich, in gröberen oder in kleinsten Schritten erfolgt sein, immer können sie nur mittelst Durchbrechung obiger „Grundlehre“ zustande gekommen sein. Man kann geradezu ihr Gegenteil als richtig behaupten und sagen, „kein Lebewesen vermag, genaue Kopien seiner selbst zu liefern“, und zwar gilt dies nicht nur für geschlechtliche, sondern auch für ungeschlechtliche Fortpflanzung. In der Ontogenese sehen wir ganz das gleiche. Es gibt keine zwei Tochterzellen einer Mutterzelle, d’e untereinander ganz gleich wären, die Verschiedenheiten aber, welche zwischen ihnen bestehen, können sich, wenn sie in derselben Richtung zunehmen, in späteren Nachkommen bis zu gänzlicher Verschiedenheit des Baues steigern, und auf einer solchen, von Innen kommenden und gesetzmäßig im Voraus festgestellten Steigerung der Differenzen der Tochterzellen beruht die ganze Ontogenese. Auch hier also bewährt sich der Satz nicht vom „Grundvermögen“ jedes Lebewesens, seine Art zn erhalten. Faßt man nur zwei unmittelbar aufeinander folgende Zellgenerationen ins Auge, so ist der Unterschied zwischen ihnen freilich meist nicht zu bemerken, gerade wie bei den Generationen der Spezies, hält man aber die Enden langer Zellreihen mit ihrem Anfang zusammen. dann fällt der Unter- schied auf, und wir erkennen, daß es sich hier um schrittweise Sum- mierung kleiner, unsichtbarer Abweichungen gehandelt hat. Diese Differenzschritte können nach meiner Ansicht unmöglich bloß auf direkten äußeren Einwirkungen beruhen, sie gehen vielmehr aus der den Zellen vom Ei her mitgegebenen Vererbungssubstanz hervor, die also, um zu so vielfacher und weitgehender Differenzierung zu gelangen, notwendig einer vielfach wiederholten Spaltung ihrer (Qualitäten unterworfen sein mub. Daß wirklich diese Spaltung nicht bloß eine Abänderung ist, der die gesamte Vererbungssubtanz der Tochterzellen gleichmäßig unterworfen ist, je nach den Einflüssen, welche ihre Lagerung auf oder zwischen anderen Zellen des Embryo bedingt, werden Sie an dem Bei- spiel der Rippenquallen im nächsten Vortrag erkennen. Ein kaum minder schlagendes Beispiel ist das derjenigen Tiere, bei welchen die Eier nur die Anlagen für das eine Geschlecht enthalten, bei welchen es also männliche und weibliche Eier gibt. Das ist der Fall, z. B. bei Rädertieren, aber auch bei Blattläusen, wie die Reblaus (Phylloxera). Hier sind die Eier, aus welchen die Männchen hervorgehen, kleiner, als (diejenigen, aus welchen die Weibchen kommen, die Anlagen zu Mann oder Weib sind nicht, wie bei den meisten Tieren in einem Ei beisammen, um dann durch uns unbekannte Einflüsse einseitig aus- gelöst zu werden, sondern in jedem Ei ist nur die eine der beiden Anlagen vorhanden, und eine Zwitterbildung wie sie bei anderen Tieren nicht selten vorkommt, wäre hier unmöglich. Nun sind aber diese Eier alle aus einer ersten Urgenitalzelle hervorgegangen, folglich muß bei einer der (die Vermehrung dieser ersten Zelle bewirkenden Teilungen Erbungleiche Teilung. 309 eine Trennung der weiblichen von den männlichen Anlagen stattgefunden haben, d.h. eine erbungleiche Teilung für die kein äußerer, auch kein intracellularer Einfluß verantwortlich gemacht werden kann. Auf einen anderen Beweis erbungleicher Kernteilung hat neuer- dings EMERY hingewiesen. Nach den Beobachtungen von (GIARDINA entstehen bei dem Wasserkäfer Dytiscus aus einer Ur-Eizelle fünfzehn Nährzellen und eine definitive Eizelle, und zwar durch viermalige Teilung der Ur-Eizelle. An jeder dieser Teilungen aber nimmt nur die Hälfte der Kernsubstanz teil, die andere Hälfte verharrt untätig in „einem verdichteten Zustand“ und bleibt jedesmal bei der eigentlichen Eizelle. Diese erhält also einen Teil der Kernsubstanz, den die Nährzellen nicht erhalten. Wenn es nun also eine erbungleiche Teilung des Ids und damit des gesamten Idioplasmas gibt, so wird das Keimplasma der befruch- teten Eizelle im Laufe der Ontogonese in immer kleinere Determinanten- gruppen zerlegt werden müssen. Ich denke mir dies etwa in folgender Weise. Bei manchen Tieren teilt sich das befruchtete Ei durch die erste Furchung in zwei Zellen, von denen die eine vorwiegend dem inneren, die andere dem äußeren Keimblatt den Ursprung gibt. so z. B. bei den Muscheln. Nehmen wir einmal an, dies sei ganz rein der Fall, so also, daß die eine der beiden ersten Blastomeren dem ganzen Ektoderm, die andere dem ganzen Entoderm den Ursprung gäbe, so hätten wir hier eine erbungleiche Teilung, denn die „Werde-Bedeutung“ (= „prospektive“ DRIESCH) der Urzelle des Entoderms ist eine andere als die der Urzelle des Ektoderms, aus der ersteren geht die Haut und das Nervensystem mit den Sinnesorganen hervor, aus der zweiten der Darm mit der Leber u. s. w. Durch diesen Teilungs- schritt müssen also — so schließe ich — die Determinanten sämt- licher Ektodermzellen geschieden werden von denjenigen sämtlicher Entodermzellen;: das Determinanten-Gebäude des Ids muß bei solchen Arten derart konstruiert sein, dab es sich bei dieser ersten Teilung in die ekto- und in die entodermale Determinanten-Gruppe zerlegen kann. Solche erbungieiche Teilungen werden sich in der Embryogenese jedes- mal dann einstellen, wenn es sich um die Spaltung einer Zelle in zwei Tochterzellen von ungleicher Werde-Bedeutung handelt, folglich so oft, bis das Determinanten-Gebäude des Ids vollständig in seine einzelnen Bestandteile, d. h. in die einzelnen Determinanten-Arten zerlegt ist, so dab jede Zelle nunmehr bloß noch eine Art von Determinanten enthält, diejenige, durch welche ihr eigener Charakter bestimmt wird. Derselbe besteht natürlich nicht bloß in ihrem morphologischen Bau und chemi- schen Gehalt, sondern auch in ihrer gesamten physiologischen Leistungs- fähigkeit, also auch ihrer Teilungskraft und Lebensdauer. Die Embryogenese läuft aber nicht bloß durch erbungleiche Teilung ab, sondern erbgleiche schieben sich häufig zwischen sie ein, überall da z. B., wo bei einem bilateralen Tier eine Embryonalzelle durch Teilung in zwei das entsprechende Organ für die rechte und die linke Körperhälfte zu liefern hat; z. B. bei der Teilung der Ur-Genital- zelle in die Anlage der rechten und linken Genitaldrüse, oder die Teilung der Ur-Mesodermzelle in eine rechte und linke Stamm-Mesoderm- zelle, aber auch im späteren Verlauf der Embryogenese, wenn z. BD. die rechte oder die linke Ur-Genitalzelle sieh zu einer großen Zahl von Urkeimzellen vermehrt oder bei der Vermehrung der Blutzellen, der Epithelzellen einer gewissen (Gegend, kurz überall da, wo Mutter- 310 « Die Keimplasmatheorie. und Tochterzellen die gleiche Werde-Bedeutnng haben, wo eben nichts weiter mehr aus ihnen wird, als sie schon sind. In allen solchen Fällen wird durch die Kernteilung die gleiche Gruppe von Deter- minanten, oder auch dieselbe eine Determinanten-Art in beide Tochter- kerne gelangen müssen. Auf diese Weise also denke ich mir, daß die Determinanten in die Zellen gelangen, die sie zu bestimmen haben, durch gesetzmäßige Spaltungen des Ids in immer kleinere Determinanten-Gruppen, durch eine allmähliche Zerlegung des Keimplasmas in die Idioplasmen der verschiedenen ontogenetischen Stadien. Als ich zuerst diese Vor- stellung entwickelte, nahm ich an, daß die Spaltung überall zur gleichen Zeit einsetze, d. h. schon bei der ersten Teilung des Eies. Es sind aber seither in dem Kampf um die Theorie zahlreiche Tatsachen bekannt geworden, welche beweisen, daß sich die Eier verschiedener Tiergruppen verschieden verhalten, und daß die Spaltung der Anlagen- masse auch später erst beginnen kann, worauf ich noch zurückkommen werde. Nehmen wir die Spaltungshypothese an, wie sie in ähnlichem Sinn auch WILHELM Rovx als „Mosaiktheorie* aufgestellt hat, so muß es auffallen, daß die Chromatin-Masse der Kerne im Laufe der Onto- genese nicht ganz erheblich kleiner wird, ja schließlich bis zur Un- sichtbarkeit herabsinkt, denn Determinanten liegen weit unter der Grenze der Sichtbarkeit, und wenn wirklich nur je eine Determinante jede Zelle bestimmte, so könnte von Chromatin in einer solchen nichts mehr gesehen werden. Man hat mir in der Tat diesen Einwurf gemacht, obschon ich von vornherein die Annahme ausgesprochen hatte, daß die Determinanten während der gesamten Öntogenese in fortwährender Vermehrung begriffen sind, so daß also in dem Maß als die in einer Zelle beisammen liegenden Determinanten-Arten an Zahl sich ver- ringern, die Zahl der Einzel-Determinanten jeder Art zunimmt. Wenn zuletzt nur noch eine Determinanten-Art vorhanden ist, so besteht also diese aus einem ganzen Heer von einzelnen Determinanten. Aus dieser Vorstellung von der allmählichen Zerlegung des Ids im Laufe der Entwicklung folgt aber weiter, daß wir den Determinanten zweierlei Zustände zusprechen müssen, wenigstens in Bezug auf ihre Wirkung auf die Zelle, in der sie liegen: einen aktiven, in welchem sie die Zelle bestimmen und einen passiven, in welchem sie keine Wirkung auf die Zelle ausüben. obwohl sie sieh vermehren. Vom Ei an wird also durch die Zellteilungen der Embryogenese eine Masse von Determinanten weitergegeben, welche erst später aktiv zu werden haben. Das Aktivwerden denke ich mir in ähnlicher Weise, wie dies DE VRIES seinerzeit für seine „Pangene* angenommen hat, kleinste Teilchen, welche eine ähnliche bestimmende Wirkung in seiner „Pangen- Theorie“ zu spielen haben, wie in der Keimplasma-Theorie die De- terminanten; ich denke mir, daß die Determinanten sich zuletzt in die sie zusammensetzenden kleinsten Lebensteilchen, die Biophoren auflösen, und daß diese nun durch die Kernmem- bran hindurch in den Zellkörper auswandern. Dort aber wird dann ein Kampf um Nahrung und Raum zwischen den schon vorhan- denen Elementen des Protoplasmas und den neu eindringenden ein- treten müssen, aus welchem eine schwächere oder stärkere Umgestaltung des Zellenbaues hervorgehen wird. Bestimmung der Zelle. 2141 Man könnte vermuten, daß diese Biophoren von vornherein schon gewissen Bestandteilen der Zelle entsprechend gebaut wären, daß es z. B. Muskel-Biophoren wären, welche die Muskelzelle zu dem machen, was sie werden soll, oder daß die Pflanzenzelle ihre chloro- phyll-erzeugenden Organe durch Chlorophyll-Biophoren erhielte. Diese Ansicht ist auch in der Tat von DE VRIES in seiner „Pangentheorie“ ausgesprochen worden, und ich gestehe, daß sie mir damals viel für sich zu haben schien, aber ich zweifle heute doch, ob ihr allgemeine Gültigkeit zugestanden werden darf. Zunächst scheint es mir theore- tisch nicht notwendig, anzunehmen, daß die in den Zellkörper einwan- dernden Teilchen schon selbst Chlorophyll- oder Muskelpartikelchen seien; sie können sehr wohl auch nur Bildner von solchen sein, d. h. Teilchen, welche in ihrer Zusammenwirkung mit den schon gegebenen Elementen des Zellkörpers Chlorophyll oder Muskelsubstanz hervorrufen. Da wir indessen die Kräfte, welche diese kleinsten Lebensteilchen be- herrschen, nicht kennen, ebensowenig als die Vorgänge, welche zur histologischen Differenzierung des Zellkörpers führen, so ist es fürs Erste nutzlos, darüber weiteren Vermutungen nachzuhängen. ‚Jedenfalls aber müssen die Biophoren, welche den allgemeinen Charakter «der indifferenten Embryonalzelle in den spezifischen einer bestimmten Gewebezelle verwandeln, selbst eine ganz spezifische, von anderen Bio- phoren verschiedene Struktur besitzen, denn sie müssen die Kontinuität der einmal von den Vorfahren errungenen Bildungen, des Chlorophylis, der Muskelsubstanz vermitteln, da wir nicht annehmen können, daß der- artige eigentümliche und in ihrem chemischen und physikalischen Bau verwickelte Bildnngen sich in jedem neuen Wesen ganz von Neuem, gewissermaßen durch Urzeugung bildeten, wie DE VRIES sehr richtig betont hat. Ein spezifisches Biophor z. B. der Muskelsubstanz wird also diese Substanz hervorbringen, sobald es in den dazu erforderlichen Zellkörper gelangt, auch wenn es selbst nicht schon ein kontraktiles Element sein sollte. Dazu kommt, daß der Aufbau des Körpers und die Merkmale einer Lebensform nicht bloß auf der histologischen Differenzierung der Zellen beruhen, sondern ebenso sehr auf ihrer Zahl und Anord- nung, auf Größe und Häufigkeit der Wiederholung gewisser Teile. Diese Merkmale sind eben so konstant und streng erblich, sie können ebensogut erblich variieren, als die auf spezifischer Zelldifferen- zierung beruhenden, sie müssen also ebenfalls durch bestimmte Teilchen des Keimplasmas bestimmbar sein; aber sie können nicht das Wesen der bekannten spezifischen, histologischen Elementarteilchen besitzen, sie können weder Nerven-, Muskel- noch Drüsenbiophoren sein, sondern vielmehr Lebenseinheiten von solcher Art, dab sie der Zelle und den Zellfolgen, in deren Körper sie vom Kern aus einwandern, eine be- stimmte Lebenskraft erteilen, d. h. eine Beschaffenheit, die ihre Größe, Gestalt, Zahl ihrer Teilungen u. s. w., kurz ihre ganze Werdebedeutung normiert — immer in Gemeinschaft mit dem Zellkörper, in den sie ein- gedrungen sind. Überhaupt wird man sich vor der Vorstellung hüten müssen, als würden „Eigenschaften“ vererbt. Wohl spricht man ge- wöhnlich so und muß es tun, weil wir eben nur „Eigenschaften“ der Körper erkennen, nicht das Wesen derselben, auf welchem eben ihre „Eigenschaften* beruhen, aber die Determinanten sind nicht Samen- körner einzelner Eigenschaften, sondern Mitbestimmer des Wesens der Teile, welche sie beeinflussen. Es gibt keine besonderen Deter- 312." Die Keimplasmatheorie. minanten der Größe einer Zelle, andere («der spezifischen histologischen Differenzierung, wieder andere der Lebensdauer, Vermehrungskraft u. s. w.. sondern nur Determinanten der gesamten physischen Natur einer Zelle, aus welcher alle diese und noch viele andere „Eigenschaften“ hervor- sehen. Schon aus diesem Grund widerstrebt mir die Annahme, die Determinanten des Keims seien fertige histologische Substanzen. Sie werden dies wohl so wenig sein, als ihre Gruppen im Keimplasma „Miniaturbilder“ der fertigen Teile des Körpers sind. Den Vorgang der Zellbestimmung nun denke ich mir etwa so, dab bei jedem Zellenschritt der ÖOntogenese Determinanten zur Reife eelangen, sich auflösen und ihre Biophoren in den Zellkörper übertreten lassen, so dab also dadurch fortwährend die Qualität jeder Zelle unter Kontrolle gehalten, schwächer oder stärker verändert wird, oder auch dieselbe bleibt. Unter „Reife“ einer Determinante stelle ich mir «den Zustand vor, in welchem dieselbe ihre Zahl durch fortgesetzte Teilung bis auf den Punkt vermehrt hat, auf welchem die Auflösung in ihre Biophoren und deren Auswanderung in den Zellkörper eintreten kann. Noch einen Punkt muß ich hier berühren, die Frage nach der „Auslösung“ der Determinanten. Die Tätigkeit eines Organs beruht niemals bloß auf ihm selbst, die Zuckung des Muskels wird von einem Nervenreiz ausgelöst, oder vom elektrischen Strom, die Tätigkeit der Nervenzellen des Gehirns bedarf «des fortwährenden Reizes des Blut- stroms und kann ohne ihn nicht fortbestehen, die spezifischen Sinnes- nerven und Sinneszellen des Auges, des Ohrs, des Geruches u. s. w. werden durch die ihnen adäquaten Reize zur Tätigkeit ausgelöst. So müssen auch die Determinanten zu ihrer Auflösung und Auswanderung in den Zellkörper ausgelöst werden, und es fragt sich, wodurch das geschieht, möglicherweise nur durch ihre eigenen internen Zustände, ddie dann freilich wieder von den Ernährungsverhältnissen der Zelle ab- hängen, in der sie liegen, möglicherweise aber auch von einem spe- zifischen Reiz, der zu ihrer „Reife“ noch hinzukommen muß, wie ja auch der Muskel stets „reif“ zur Zuckung ist, aber doch erst wirklich zuckt, wenn ein spezifischer Reiz auf ihn einwirkt. Ich habe mir deshalb von Anfang an überlegt, ob man nicht etwa besser täte, die Determinantentheorie derart auszubauen, daß man keine Zerlegung des Ids im Laufe der Ontogenese annähme, sondern sich jedes Aktivwerden einer Determinante abhängig dächte von einem spezi- fischen Reiz, der in vielen Fällen nur von einer bestimmten Zelle aus- geübt werden könne, also von internen Einflüssen, in anderen von äußeren. Das Erste hat eigentlich schon DARwINn angenommen in seiner später noch zu skizzierenden Theorie der Pangenesis. Dort erteilt er seinen „Keimchen“ die Fähigkeit, bestimmte Zellen hervorzubringen, was sie aber nur «dann vollbringen können, wenn sie in diejenige Zelle ge- langen, welche in der Entwicklung derjenigen vorausgeht, welche sie hervorbringen sollen. In die Sprache unserer Theorie übersetzt würde (das heißen: in jeder Zelle ist der gesamte Determinantenkomplex ent- halten, wie er schon in der Keimzelle enthalten ist, aber auf jedem Stadium der Ontogenese, d. h. in jeder ihrer Zellen wird immer nur diejenige Determinante zur Tätigkeit ausgelöst, welche die folgenden Zellen zu bestimmen hat, und zwar durch den Reiz, welchen die spezi- fische Natur dieser Zelle auf diese Determinante ausübt. Zerlegung des Keimplasmas. 313 Es müßte also dann bei jeder Tierart so viele spezifische Reize für Determinanten geben, als es verschiedene Determinanten bei ihr gibt. Mir erschien dies unwahrscheinlich, und ich verwarf diese Hypo- these. schon wegen der ungeheuren Masse spezifischer Reize, die sie erfordert, aber auch noch aus anderen Gründen, die im Verlauf dieser Vorträge noch berührt werden. Wenn ich nun aber auch die Annahme einer gesetzmäbßigen Zer- legung des Determinantenkomplexes der Ide im Verlaufe der Onto- genese für geboten halte, so verwerfe ich doch damit keineswegs das Eingreifen von Auslösungen, ich halte vielmehr ihre Mitwirkung für unentbehrlich Wir werden später noch Fälle besprechen, in denen bestimmt nachweisbar ist, dab zweierlei homologe Determinanten in einer Zelle vorhanden sind, von denen aber jedesmal nur die eine aktiv wird, und wir können uns diese Tatsache nur so zurechtlegen, daß eben nur die eine von dem für sie spezifischen Auslösungsreiz getroffen wurde. Die Erscheinungen der Regeneration, des Polymor- phismus, der Keimzellenbildung und andere zwingen die Theorie zu der Annahme, daß in zahlreichen Zellen auch nach Vollendung des Körper- aufbaues noch zweierlei oder mehrerlei Determinanten gewissermaßen als inaktives „Nebenidioplasma“ enthalten sind, von denen jede allein diese Zelle bestimmen könnte, sie aber in Wirklichkeit nur dann be- stimmt, wenn sie von dem richtigen auslösenden Reiz getroffen wird. Ich habe dies schon vor Jahren dargelegt”). als ich die Rolle genauer zu bestimmen suchte, welche „äußere Einflüsse als Entwicklungsreize‘ bei den Organismen spielen. Ich unterschätze also wohl nicht die Be- deutung äußerer Einwirkungen auf den Organismus, ich glaube nur, daß ein noch größerer Teil der Bestimmung darüber, was an einem bestimmten Punkt desselben werden soll. von den Anlagen abhängt, und daß diese nicht überall im Körper die gleichen sind. Alles lebendige Geschehen, also auch Wachsen und Gestalten, be- ruht stets auf dem Zusammenwirken äußerer und innerer Faktoren, der Bedingungen und der lebendigen Substanz, und so wird notwendig auch die Resultante aus beiden, der Bau des Körpers und seiner Teile anders ausfallen müssen, nicht nur wenn die Keimsubstanz eine andere ist, sondern auch, wenn wesentliche Entwicklunesbedingungen sich ver- ändern. Daß aber die Konstitution des Keims bei weitem der mäch- tigere Faktor ist, von dem in weit höherem Grade die Beschaffenheit des Entwicklungsresultats abhängt, als von den Bedingungen, wissen wir seit lange. Die Bedingungen, z. B. die Wärme, kann zwischen ge- wissen Grenzen schwanken, und das Froschei entwickelt sich doch zum Frosch, aber daraus folet nicht, daß nicht durch gewisse Änderungen der Bedingungen auch das Entwicklungsresultat geändert werden könnte. Die interessanten Versuche von HERBST mit den Eiern von Seeigeln haben gelehrt, daß in einem künstlich hergestellten Seewasser, in welchem das Natron durch Lithion ersetzt ist, diese Eier sich zu Larven ent- wickeln, die nur entfernt an den normalen Bau erinnern und sowohl in der äußeren Gestalt als in der Form des Skeletts bedeutend davon ab- weichen, Solche Larven sind nieht lebensfähig, sondern gehen bald zu- grunde, aber sie sind für die Theorie von großem Interesse, «denn sie zeigen uns, daß Determinanten nicht unter allen Umständen *, „Äußere Einflüsse als Entwieklungsreize“, Jena 1804 314 Die Keimplasmatheorie. immer nur ein und dasselbe Gebilde hervorbringen, sondern dab sie — wie ich oben schon sagte — lebendige Einheiten spezifischer Zusammensetzung sind. die in den Gang der Entwicklung eingreifen, und die bei normalen äußeren Emflüssen den normalen Teil entstehen lassen. bei ungewöhnlichen Einflüssen aber, falls diese nicht jede Ent- wicklung ausschließen. einen abnorm gestalteten Teil. Man darf dabei nicht vergessen, daß die meisten zusammengesetzten, ja eigentlich alle Teile eines Tieres nicht etwa bloß von einer Determinante bestimmt werden, sondern von allen den vielen, successiv den Charakter der Zellen bestimmenden, welche die Entwicklungsbahn des betreffenden Teils ausmachen. Es gibt eben keine Determinanten von „Eigen- schaften“, sondern nur von Teilen: das Keimplasma enthält so wenig die Determinante einer „krummen Nase“, als die eines geschwänzten Schmetterlingsflügels, aber es enthält eine Anzahl von Determinanten, welche die ganze Zellengruppe, die zur Bildung der Nase führt, in allen ihren Entwicklungsstufen successive derart bestimmt, daß schließlich die krumme Nase dabei herauskommen muß, gerade wie der Schmetterlings- flügel mit allen seinen Adern, Membranen, Nerven, Tracheen, Drüsen- zellen, Schuppenformen, Pigmentablagerungen durch das successive Ein- greifen zahlreicher Determinanten in den Gang der Zellvermehrung entsteht. Voraussetzung bei beiden Vorgängen aber sind: die normalen Entwieklungsbedingungen. Vom Schmetterling wissen wir, daß abnorme Bedingungen, z. B. Kälte während der Puppenperiode die Färbung und Zeichnung des Flügels bedeutend verändern kann, und bei der Nase wäre wohl kaum zu zweifeln, daß z. B. anhaltender Druck auf die Nasengegend eine erhebliche Abweichung der ererbten Nasen- form zur Folge haben könnte. Ahnlich wird es mit den Lithionlarven sein. Hier werden schon die ersten Furchungszellen in ihrem Chemismus durch das Lithion ver- ändert, und die in sie und die folgenden Zellgenerationen vom Kern aus eintretenden Determinanten finden einen abweichenden Boden für ihre Tätigkeit vor, der immer weiter vom normalen abweicht, um je spätere Zellfolgen es sich handelt. So wird das ganze Tier abnorm gestaltet. Der Vorgang ist vielleicht vergleichbar einer Pflanze, die negativ geotropisch und positiv heliotropisch ist. d. h. deren Stamm die Neigung hat senkrecht empor zu wachsen, während alle ihre grünen Teile dem. Lichte zuwachsen. Beleuchtet man eine solche Pflanze nur von einer Seite her, so wächst ihr Stamm mit den Blättern schräg gegen diese hin. Dreht man dann die Pflanze um, so daß sie das Licht von der anderen Seite erhält, so wendet sich der Stamm beim Weiterwachsen schräg nach der entgegengesetzten Seite, und so könnte man — theo- retisch wenigstens — durch fortwährenden Wechsel der Stellung zum Licht eine Pflanze mit ziekzackförmigem Stamm erziehen. Das wäre aber kein Beweis gegen die Anwesenheit von Determinanten; es gibt eben keine „Senkrechtdeterminanten“, so wenig als es „Zickzackdeter- minanten“, oder „Krumme-Nasendeterminanten“ gibt, aber es gibt Deter- minanten, welche das Wesen der Zellen bestimmen, aus denen unter normalen Entwicklungsbedingungen der gerade Stamm hervorgeht, unter abnormen der ziekzackförmige. oder die Plattnase statt der krummen. So sind denn auch die Pflanzengallen nicht entfernt ein Stein des Anstobes für die Determinantenlehre wie man gemeint hat. Wohl kann es keine „Gallendeterminanten* geben, denn die Gallen sind keine erbliche Einrichtung der Pflanzen, an denen sie vorkommen, sondern Einwürfe gegen die Determinantenlehre. 315 entstehen nur und allein durch die Larve der Gallwespe, welche ihr Ei in das Pflanzengewebe hineingelegt hat. Aber die spezifische, durch ihre Determinanten bestimmte Natur der verschiedenen Arten von Pflanzen- zellen ist eine derartige, daß sie durch die abnormen Einflüsse, welche die Larve auf sie ausübt, zu einer ganz besondern Reaktion gezwungen wird, aus welcher eben die Gallenbildung hervorgeht. Es ist wunder- bar genug, daß diese abnormen Reize so genau abgestuft und geordnet werden konnten, daß eine so spezifisch gestaltete Bildung zustande kommen mußte, und in diesem Falle ist es offenbar umgekehrt, wie bei den meisten übrigen Bildungsvorgängen, bei welchen das bestimmende mehr auf seiten des Idioplasmas, also der Determinanten liegt, als auf Seite der äußeren Einwirkungen: hier beruht die spezifische Bildung der Galle vorwiegend auf der Qualität, Verschiedenheit und sue- cessiven Einwirkung, der äußeren Einflüsse oder Reize. Ich werde bei Besprechung der Mediumseinflüsse noch einmal auf die Gallen zurückkommen. Man hat meine Determinanten meist im Sinne von Samenkörnern aufgefaßt, aus denen entweder nichts hervorgeht — bei ungünstigen Bedingungen — oder eben nur die bestimmte Pflanze, von der der Samen herstammt. Das Bild ist aber doch sehr cum grano salis zu verstehen. Das ganze Ei ist freilich dem Samenkorn vergleichbar, aber einzelne Deter- minanten oder Determinantengruppen werden immer fähig sein, den verschiedenen Einflüssen nachzugeben und bei schwach abnormen Be- dingungen trotzdem tätig zu sein, aber dann etwas abweichende Bildungen liefern. Das ist schon wegen der unaufhörlichen gegenseitigen Anpassungen der wachsenden Teile des Organismus unerläßlich. Nicht nur die gleich- zeitig nebeneinander lebenden Zellen beeinflussen sich gegenseitig, sondern auch die genealogischen Zellenfolgen. Keine Zelle noch Zellengruppe bildet sich unabhängig von allen übrigen des Körpers. hat vielmehr ihre Vorfahrenreihe von Zellen, von deren Determinanten sie insoweit abhängig ist, als diese ihr eigenes Wesen mitbestimmen, gewissermaßen den Boden abgeben, in den zuletzt noch ihre eigene Determinante vom Kern aus gesäet wird, und der die Einwirkung dieser letzteren moli- fiziert je nach seiner Qualität. Man könnte deshalb auch sagen, dab ein jeder Teil von sämtlichen Determinanten seiner Zellenahnen be- stimmt würde. Wenn gegen die Determinanten-Lehre eben gerade die Abhängig- keit der individuellen Entwicklung von äußeren Bedingungen ins Feld geführt wurde, die Fähigkeit des Organismus, sich der Funktion anzupassen, vor Allem das Vermögen mancher seiner Teile, auf verschiedene Reize sich verschieden auszugestalten, so sehe ich nicht ein, weshalb nicht gewisse Zellen und Zellenmassen von vorn herein darauf eingerichtet sein könnten, auf verschiedene Reize verschieden zu antworten. Ich sehe deshalb keinen Widerspruch mit der Determinanten- Lehre, wenn z. B. bei den höheren Wirbeltieren die Zellen der Binde- substanzen eine große Vielgestaltigkeit aufweisen, wenn sie hier lockeres, ausfüllendes Bindegewebe bilden, dort straffes Faszien-, Bänder- und Sehnengewebe, je nachdem sie schwachem allseitigen Druck oder stärkerem und einseitigen Druck ausgesetzt sind, daß sie Knochen- gewebe bilden mit genauester Anpassung seiner mikroskopischen Struk- tur an die Zug- und Druckverhältnisse, die auf die betreffende Stelle % 316 Die Keimplasmatheorie. wirken, aber auch Knorpelgewebe, wenn die Zellen von einem wechseln- den egleitenden Druck getroffen werden, wie auf Gelenkflächen, ja daß sie auch Blutgefäße hervorrufen, wenn das Nachdrängen des zirku- lierenden Blutes und die sie umgebende (Gewebespannung den dafür erforderlichen Einfluß ausüben. Es ist leicht einzusehen, wie wichtig, ja notwendig eine solche Vielseitigkeit dieser Zellen für den Organis- mus ist, auch wenn man nicht an gewaltsame Eingriffe in denselben, an Knochenbrüche,. schiefe Zusammenheilung von gebrochenen Knochen- enden, neue Gelenkbildungen u. s. w. denkt, sondern nur an die nor- malen Erscheinungen des Wachstums. Während der Knochen wächst, löst er sich fortwährend im Innern auf und bildet sich an der Ober- fläche neu, und «das geschieht durch die Fähigkeit der Bindesubstanz- zellen auf verschiedene Einflüsse (Reize) hin, ganz verschiedene Ge- webe zu bilden. So werden wir in den Bindesubstanzzellen der höheren Wirbel- tiere also nebeneinander Determinanten des Knochens, des Knorpels, Fig. 92. lchinodermenlarve. 1 Blastulastadium, die Mesodermzellen (47) bilden sich von der späteren Einstülpungsstelle des Entoderms (Zr2) aus. Z%t Ektoderm. D Gastrulastadium; der Urdarm (UD) hat sich eingestülpt (Zr2) und zwiseben ihm und dem Ektoderm (72) wandern die Zellen des Mesoderms (J/s) in der Gallert- schiehtf(G) umher, welche diesen Raum ausfüllt, um sich teils an das Ektoderm, teils an das Entoderm anzulagern. Nach SELENKA. des Bindegewebes und der Gefäße anzunehmen haben, von denen je nach dem sie treffenden Reiz die eine oder die andere Art zur Tätig- keit ausgelöst wird. Auch in der Entwicklung niederer Tiere kommen Erscheinungen vor, die uns zu der gleichen Annahme ver- anlassen müssen. Hierher gehört das merkwürdige Verhalten «der ersten Mesodern- zellen in der jungen Larve (Gastrula) der Stachelhäuter (Fig. 92). An der Stelle nämlich, an welcher die Einstülpung des Urdarms in das Innere «der vorher noch emschichtigen Zellenblase stattfindet(Fig. 92, A), lösen sich einige Zellen los (47) und kriechen selbständig und unter steter Vermehrung in die helle Gallerte (@) hinein, welche die Höhle der Larve ausfüllt, um sich dann hier und dort festzusetzen, einige an die äußere Zellenlage des Ektoderms, andere an die verschiedenen Regionen und Auswüchse des Urdarms (3, A7s). Je nachdem nun diese Zellen sich hier oder dort angelagert haben, werden sie zu Binde- gewebe-, zu Muskel- oder zu Skelett-bildenden Zellen der Unterhaut, Doppeldeterminanten. 317 oder zu der Muskelschicht des Darms und der Wassergefäße, oder schließlich zu den skelett-bildenden Zellen des Kalkringes, der bei den Seewalzen den Schlund umgibt. Dabei spricht Nichts für eine einseitige Determinierung dieser Zellen, sondern es hat durchaus den Anschein, als hinge das Schicksal der einzelnen Zellen vom Zufall ab, der sie hier oder dorthin führen kann. In diesen ihrem Aussehen nach ganz gleichen Zellen sind also drei Entwicklungsmöglichkeiten enthalten, drei Reaktionsarten und man wird sich ihren Anteil am Aufbau des so regelmäßig gebauten Tieres nur so denken können, daß von diesen dreien immer nur eine aus- gelöst wird, und zwar durch den spezifischen Reiz, welchen die un- mittelbare Umgebung auf die Zelle ausübt, so dab dieselbe, je nach der zufälligen Lagerung, welche sie nach ihrer Wanderung einnimmt, entweder zur Haut- oder zur Muskelzelle oder zur Skelettzelle wird. Der Fall läßt sich etwa vergleichen mit der dauernden Farben- anpassung jener Raupen, von welchen PouLToN nachwies, dab sie auf schwarzbrauner Rinde erzogen fast schwarz werden, auf hellbrauner hellbraun, zwischen Blättern gehalten aber grün und zwar bleibend. Auch hier werden die betreffenden Farbzellen der Haut in dreierlei Weise sich ausbilden, je nachdem diese oder jene (ualität des Lichtes diese oder jene Determinante zur Tätigkeit auslöst. In vielen Fällen aber kennen wir die Qualität des auslösenden Reizes nicht und müssen uns damit begnügen, sie vorauszusetzen; so bei dem Dimorphismus der Geschlechter. Daß bei den männ- lichen Tieren einer Art die Keimzellen ganz anders sich gestalten. als bei den weiblichen, dab in ihnen andere bestimmende Elemente zur Aktivität gelangen als in jenen, ist klar, und da im Ei und in der Samenzelle der meisten Tiere die Anlagen zu beiden Geschlechtern enthalten sein müssen, so sind in beiden sowohl „ovogene“ als „spermo- gene“ Determinanten anzunehmen, von denen aber meist nur die eine Art in demselben Individuum aktiv wird. Doch gibt es ja auch Zwitter in beiden Naturreichen, bei welchen beiderlei Geschlechtsprodukte gleich- zeitig oder nacheinander gebildet werden. Aber nicht nur die primären sondern auch sämtliche sekun- däre Geschlechtscharaktere machen die Annahme von «doppelten De- terminanten im Keimplasma notwendig. Wir wissen ja von uns selbst her sehr gut, daß „die schöne Sopranstimme der Mutter sich durch den Sohn hindurch auf die Enkelin vererben kann, ebenso der schwarze Bart des Vaters durch die Tochter auf den Enkel“. Es müssen also in jedem geschleehtlich differenzierten Wesen beiderlei (Gre- schleehtscharaktere vorhanden sein, die einen sichtbar, die anderen latent. Bei Tieren werden die Determinanten des einen (reschlechts zuweilen durch mehrere Generationen hindurch von Keimplasma zu Keimplasma in latentem Zustand weitergegeben, um erst in einer späteren Generation wieler hervorzutreten. So bei Wassertlöhen (Daphniden) und bei Blattläusen (Aphiden), bei welchen mehrere rein weibliche Generationen aufeinander folgen, und erst die letzte von ihnen neben Weibchen auch wieder Männchen hervorbringt. Es müssen also in dem Keimplasma der zur Entwieklung reifen Eizelle nicht nur die Determinanten zu den spezifischen Eiern und Samenelementen der Art enthalten sein, sondern auch diejenigen zu allen jenen weiblichen und männlichen Sexualcharakteren, welche wir früher in dem Abschnitt über sexuelle Zuchtwahl ausführlich besprochen 318 Die Keimplasmatheorie. haben. Ich zeigte Ihnen dort, daß diese sekundären Sexualcharaktere in sehr verschiedener Ausdehnung und Stärke entwickelt sind, daß sie bei niederen Tieren meist ganz fehlen, daß aber auch bei höheren, wie z. B. bei Krebsen, Insekten und Vögeln, ihre Entfaltung auf sehr ver- schiedener Stufe steht, oft sogar bei nahen Verwandten. So sind die Paradiesvögel in den meisten Arten nur im männlichen Geschlecht brillant gefärbt und mit Schmuckfedern geziert, im weiblichen einfach schwarzgrau, aber es gibt eine einzelne Art, deren Männchen fast ebenso schlicht gefärbt sind, wie die Weibchen, und umgekehrt finden sich bei den Papageien die Geschlechter meist gleich gefärbt, aber einzelne Arten zeigen in Weib und Mann eine total verschiedene Färbung. Ebenso können sich die sekundären Geschlechtsunterschiede auf wenige Teile des Tieres beziehen, oder auf viele, ja in einzelnen Arten sind die Ge- schlechter so different gebildet, daß geradezu alles an ihnen verschieden genannt werden muß. Beispiele dafür sind die Zwergmännchen der meisten Rädertiere (Rotatorien) und die im Verhältnis zu den Weibchen noch viel winzigeren Männchen eines Meereswurms, der früher schon besprochenen Bonellia viridis (p. 155). Es fragt sich nun, wie wir uns theoretisch diese Tatsachen nach der Keimplasmatheorie zurechtlegen können: daß doppelte Determi- nanten, weibliche und männliche für die verschieden gestalteten Teiie der beiden Geschlechter im Keimplasma anzunehmen sind, wurde schon gesagt, und man wird sich vorzustellen haben, daß derselbe, in den meisten Fällen uns unbekannte Reiz, durch welchen die Determinanten der primären Geschlechtscharaktere zur Tätigkeit ausgelöst werden, auch diejenigen der sekundären zur Aktivität bestimmt. Wir dürfen aber wohl noch einen Schritt weitergehen und schließen, daß es weib- liche und männliche Ide gibt, d. h. daß die männlichen Determi- nanten anderen Iden angehören als die weiblichen. Ich folgere dies daraus, daß bei einzelnen Gruppen, z. B. den Rädertieren und gewissen Blattläusen die Eier schon bei ihrer Bildung geschlechtlich differenziert sind. Männchen und Weibchen dieser Tiere entstehen aus verschiedenen, äußerlich schon erkennbaren Eiern. Beide entwickeln sich partheno- genetisch, so daß also auch das Moment der Befruchtung nieht mit hineinspielt, sie müssen also von vornherein Ide enthalten, welche ledig- lich oder doch vorwiegend aus den Determinanten bloß des einen (reschlechts bestehen. Ist dieser Schluß richtig, dann muß aber die geschlechtliche Um- prägung von Determinanten sekundärer Geschlechtscharaktere von vorn- herein in der Phylogenese in jedem Id nur nach einer Seite hin statt- gefunden haben, und wir hätten also weibliche und männliche Ide anzunehmen, schon vor Beginn der Trennung der Geschlechter in Weib- chen und Männchen, und derselbe Schluß wird auch auf die primären Geschlechtsunterschiede ausgedehnt werden müssen. Nur so läßt sich die im Laufe der Phylogenese eingetretene Steigerung anfänglicher kleiner Differenzen zwischen den Geschlechtern bis zu der gänzlichen Verschiedenheit des Baues verstehen, wie sie uns in den genannten Formen, Bonellia, Rädertieren und einigen parasitischen Würmern heute entgegentritt. Nun gibt es aber nicht bloß geschlechtlichen Dimorphismus, sondern auch Zweigestaltiskeit der Larven, grüne uud braune Raupen bei gewissen Schwärmer-Arten, und es gibt nicht nur Zwei-, sondern auch Drei- und Vielgestaltigkeit einer Art, und in allen Doppeldeterminanten. 319 diesen Fällen müssen die Determinanten der differentiellen Teile doppelt, drei- oder vielfach in jedem Keimplasma, in jedem befruchteten Ei der Art enthalten sein, wenigstens doch in allen den Fällen, in welchen die verschiedenen Formen der vielgestaltigen Art alle zusammen auf demselben Verbreitungsgebiet leben. Bei Gelegenheit der Mimiery haben wir von Schmetterlingsarten gesprochen, die im männlichen Ge- schlecht überall gleich oder nahezu gleich, im weiblichen aber nicht nur ganz verschieden vom Männchen, sondern auch mehrfach ver- schieden unter sich sind. Von Papilio Merope kommen drei verschiedene Formen von Weibchen auf demselben Wohngebiet des Kaplandes vor, jede einem geschützten Vorbild gleichend. Aus den Eiern eines Weibchens wurden alle drei Formen erhalten. Hier müssen also die weiblichen Ide des Keimplasmas in drei verschiedene Arten zerfallen, von denen die eine, wenn sie in Majorität in das befruchtete Ei gelangt, die Danais-Form, die zweite die Niavius-Form, die dritte die Echeria- Form der Art hervorruft. Phylogenetisch entstanden ist wahrscheinlich jede dieser drei Id-Arten allein für sich, auf einem beschränkteren Wohngebiet, auf welchem das geschützte Vorbild in Menge lebte, allein bei weiterer Ausbreitung mischten sich die verschiedenen Weibchen-Ide miteinander, wurden durch die Männchen in je einem Keimplasma vereinigt und bringen nun auf demselben Wohngebiet gelegentlich alle drei Formen zur Erscheinung. Darin liegt wohl ein schwerwiegender Hinweis auf die reale Existenz von Iden: ich wüßte wenigstens nicht, welche andere Theorie diese Tatsachen auch nur entfernt verständlich machen könnte. Wenn es bei den Bienen außer Weibchen und Männchen noch sog. Arbeiterinnen gibt, so wird das nur auf einer besonderen Art von Iden beruhen hönnen, die ursprünglich echt weibliche waren, dann aber für den Bestand der Art vorteilhafte Abänderungen vieler ihrer Deter- minanten eingingen und nun zu „Arbeiterin-Iden“ sich umgestalteten. Ich spare es für später auf, zu erwägen, wovon es hier abhängt, daß diese Ide zur Leitung der Ontogenese gelangen, jedenfalls auf eine andere Weise als durch bloße Majorisierung der übrigen Ide, wie ich es eben für die Schmetterlinge mit polymorphen Weibchen andeutete. Bei manchen Ameisen aber geht die Arbeitsteilung noch weiter, es gibt zweierlei Arbeiterinnen im Stock, gewöhnliche Arbeiterinnen und sog. „Soldaten“, und in diesem Falle wird sich das Arbeiter-Id im Laufe der Phylogenese nach zwei verschiedenen Richtungen weiter- entwickelt und sich in zwei Id-Arten getrennt haben, so daß das Keim- plasma solcher Arten vier Id-Arten enthält. Es könnten noch viele Fälle angeführt werden, in welchen die Annahme doppelter oder mehrfacher Determinanten geboten erscheint, aber ich glaube, daß das Gesagte genügt, um sich auch in anderen Fällen zurechtzufinden. XIX. VORTRAG. Die Keimplasmatheorie, Fortsetzung. Zusammenwirken der Determinanten zum Organ, Insektengliedmassen p. 320, Aderung des Insektenflügels p. 321, Mißbildungen beim Menschen p. 322, Kuppe des Fliegen- beins p. 323, Beweise für die Existenz von Determinanten p. 323, Krallen und Haftlappen p. 324, Unterschied zwischen einer Theorie der Ontogenese und einer solchen der Vererbung p. 324, Metamorphose des Insektendarms p. 327, DELAGES Theorie p. 327, REINKEs Theoreme von der Organismusmaschine p. 328, FECHNERS Ansichten p. 331, Scheinbarer Widerspruch entwicklungsmechanischer Tatsachen p- 331, Bildung der Keimzellen p. 334, Verschiebung der Keimstätte bei Medusen- polypen, ein Beweis für die Existenz von Keimbahnen p. 336. Meine Herren! Vergeblich würden wir versuchen, die Anordnung der Determinanten im Keimplasma zu erraten, aber so viel läßt sich doch wohl aussagen, daß die Determinanten nicht etwa so bei einander liegen, wie ihre Determinanten im fertigen Organismus; das ergibt sich schon aus den verwickelten Gestaltungsprozessen der Embryogenese, bei welchen ja vielfach Zellengruppen miteinander in Verbindung treten, und ein Organ gemeinsam bilden, welche ihrer ersten Entstehung nach weit getrennt waren. Also weder muß die Anordnung der Determinanten im Keimplasma dem späteren Nebeneinander im fertigen Tier entsprechen, noch sind wohl überhaupt Anlagen ganzer vollständiger Organe im Keimplasma enthalten; gewiß ist das Organ im Keim prädestiniert, aber nicht als solches präformiert. Auch in dieser Beziehung gibt uns die Entwicklungsgeschichte einigermaßen einen Anhalt. Betrachten wir z. B. die Entstehung der Gliedmassen bei solchen Insekten, welche im Larvenzustand noch keine Beine und Flügel besitzen. und denen dieselben während der Larvenzeit verborgen unter dem Hautskelett allmählich hervorwachsen. Hier sind es — wie oben schon für den Flügel gezeigt wurde — be- stimmte kleine Zellgruppen der Haut, von denen die Bildung der Glied- masse, ausgeht, und die man daher als den gestaltgebenden und inso- fern wichtigsten und unentbehrlichsten Teil dieser Anlage betrachtet und nach meinem Vorschlag*) als Imaginalscheibe bezeichnet (Fig. 89, wi und oz). Aber diese Zellenscheiben enthalten doch noch nicht das ganze Bein sondern nur die Hautschicht desselben, die „Hypodermis“, die aber freilich das Gestalt-bestimmende in diesem Falle ist. Die inneren Teile des Beins aber, vor allem Nerven, Tracheen und wahrscheinlich auch Muskeln bilden sich aus anderen Zellengruppen, und wachsen von außen *) „Die Entwicklung der Dipteren“, Leipzig 1564. Insektenmetamorphose. 391 in die Imaginalscheibe hinein. Ähnlich wird es bei allen zusammen- gesetzteren Organen sein, sie werden von mehreren Anlagepunkten aus, sozusagen, zusammenschieben, und Determinanten werden dabei zu- sammenwirken, «deren Gestalt- und Funktion-bestimmender Wert für das Organ sehr verschieden sein kann. Denn es ist gewiß ein grober Unterschied, ob eine Zelle die Ele- mente in sich trägt, die sie zwingen, bei weiterem Wachstum ein Organ z. B. ein Bein von ganz bestimmter Größe, Skulptur, Gliederung u. s. w. zu bilden, oder ob eine Zelle nur die ziemlich vage Bestimmung in sich trägt, Bindegewebe oder Fettgewebe zu bilden. Im ersteren Fall be- stimmt sie die ganze Gestaltung «des Teils, im zweiten füllt sie nur Lücken aus, oder lagert fettige oder andere Stoffe in sich ab. falls solche sich ihr darbieten. Zwischen diesen beiden Extremen der Deter- minierung liegen aber zahlreiche Zwischenstufen. Zellen, welche Deter- minanten zu Blutgefäßen. Tracheen, Nerven enthalten, brauchen keines- wees immer so bestimmt «determiniert zu sein, dab sie stets genau das sleiche Gefäß, die gleiche Tracheenverästelung. oder Nervenvergablung bilden, sie können sehr wohl nur die allgemeine Tendenz zur Bildung solcher Teile enthalten, während die spezielle Form, welche diese Nerven, Tracheen oder Blutgefäße in jedem einzelnen Falle annehmen, wesent- lich durch ihre Umgebung bestimmt wird. So bilden sich in krank- Fig. 89 (wiederholt). Vorderteil der Larve einer Mücke, Corethra plumicornis. A” Kopf, Th Thorax, 7 untere, o obere Imaginal- scheiben, zz 1, 2 u. 3 die Anlagen der Beine, o’ 2 u. 3 Anlagen der Flügel und Schwinger, g Gehirn, 52 Bauchganglienkette mit Nerven, die an die Imaginalscheiben herantreten, /r5 Tracheenblase; etwa 15mal vergrößert. haften Geschwülsten des Menschen Nerven und besonders Blutgefäße von oft ganz charakteristischem Verlauf, der gewiß nicht im Voraus determiniert war, sondern der durch den Reiz, Druck und sonstige Ein- fllüsse der zelligen Geschwulstgrundlage hervorgerufen wurde, während die Zellen nur insoweit determiniert waren, als sie die Tendenz ent- hielten, unter bestimmten Beeinflussungen Gefäbe zu bilden. Man würde aber fehl gehen, wollte man sich alle Anlagen von Zellensträngen so unbestimmt «denken. Man erinnere sich nur z. B. der Aderung des Insektenflügels. Bekanntlich ist dieselbe nicht nur bei den Käfern, Wanzen und Zweiflüglern eine andere, als bei den Hymenopteren, bei diesen wieder anders als bei den Schmetterlingen, sondern sie ist auch eine völlig charakteristische bei jeder einzelnen Schmetterlingsfamilie, ja bei jeder Gattung. Es kann kein Gedanke daran sein, daß diese absolute Sicherheit in der Ausbildung so charakte- ristischer und konstanter Verzweigungen irgendwo anders ihren Grund hätte, als in den Determinanten des Keimplasmas, welche gewissen Zellen- folgen innewohnend, schließlich bestimmte Zellenreihen der Flügelanlage veranlassen, zu den Flügeladern zu werden. Wäre es nicht so, wie wollte man es verstehen, daß jede kleinste Abweichung im Verlauf dieser Adern bei allen Individuen einer Gattung genau ebenso wiederkehrt, während sie bei allen Individuen einer benachbarten Gattung ebenso konstant ein wenig anders ausfällt” . . . ) Weismann, Deszendenztheorie. I. 2. Aufl. 21 322 Die Keimplasmatheorie. Ganz gewib aber sind alle Determinierungen in irgend einem Grade beeinflußbar und — wenn auch eben in sehr verschiedenem Grade — veränderbar. Viele Mißbbildungen einzelner Teile beim Menschen und den höheren Tieren dürfen auf mangelhafte oder gehinderte Ernährung des betreffenden Teils während der Embryonal-Entwicklung bezogen werden; die Determinanten allein können den Teil nicht machen, es muß ihnen auch das Material dazu, «die Baustoffe gegeben sein, und je nachdem dieses Material reichlicher oder spärlicher fließt, wird der Teil größer oder kleiner ausfallen. Ebenso müssen in vielen Fällen die Druck- verhältnisse der umgebenden Teile fördernd, hemmend oder auch ge- staltbestimmend einwirken. Es ist aber sehr möglich, ja wahrschein- lich, daß auch noch andere, ganz spezifische Einflüsse von den Zellen Fig. 93. Die Entwicklung eines Beins in einer Fliegenpuppe (Sarcophaga carnaria). A Spitze des Beins aus einer vier Tage alten Puppe; die Gliederung angedeutet, Ay Hypodermis, 5s Puppenscheide, 5% Phagocyten, 7” Tracheenstämmchen. 2 Die- selbe am fünften Tag, Lumen des Beins ganz mit Phagocyten erfüllt Ay, das letzte Tarsusglied (75) beginnt sich in zwei Spitzen auszuziehen. € Dieselbe am siebenten Tag, die Krallen (Ar) und Haftlappen (77) sind gebildet. oder Zellenmassen der Umgebung auf ein in Bildung begriffenes Organ ausgeübt werden können, etwa so, wie die Stange, an der eine Kletter- pflanze hinaufwächst, dieselbe zum Winden veranlaßt. Fehlt die Stange, so kann auch das in der Pflanze determinierte Winden nicht oder nur unvollkommen zum Ausdruck gelangen. Das spiralige Umspinnen der (refäße durch Muskelzellen, wie es bei Würmern, Stachelhäutern und Wirbeltieren so vielfach vorkommt, beruht wohl auf ganz ähnlichen Vor- gängen, d. h. einerseits auf einer spezifischen Reaktionsweise dieser Zellen, die eben vom Keim her determiniert ist, andererseits auf der äußeren Einwirkung der Umgebung, ohne welche die Determination der Zelle nicht ausgelöst, nicht zur Tätigkeit bestimmt wird. Wenn nun aber auch jede Determinante eines Reizes -bedarf. der sie auslöst, bestehe dieser Reiz im Zuströmen gewisser Nahrungssäfte, Die Keimplasmatheorie. 323 in der Berührung mit anderen Zellen, oder umgekehrt im Nachlassen eines vorher von der Umgebung auf die Zelle ausgeübten Druckes — immer wird die materielle Ursache einer Bildung nicht in diesen Be- «dingungen ihres Hervortretens, sondern in der Anlage zu suchen sein, welche die betreffende Zelle oder Zellengruppe vom Keim her über- kommen hat, also in ihren Determinanten. Was sollte z. B. die stumpf abgerundete Kuppe des nur roh und plump gegliederten Zellenschlauchs, der zu Beginn der Verpuppung das Insektenbein darstellt (Fig.93, A), bestimmen, sich zu verdicken, an der Wurzel einzuschnüren (Fig. 2) und eine Gelenkfläche zu bilden, am Ende aber breiter zu werden und zwei scharfgeschnittene Spitzen hervorwachsen zu lassen (Fig. €), die sich krümmen und zu Klauen (#7) werden, während unter ihnen ein breiter, platter Lappen (A/) hervorwächst, dessen regelmäßig gestellte Zellen nach und nach den so eigentümlich gebauten Haftlappen der Fliege darstellen — wenn nicht besondere Triebkräfte, in jenen Zellen enthalten wären, die sie bestimmen, nicht nur in ihrer Gestalt und sonstigen Beschaffenheit, sondern vor Allem auch in ihrer Vermehrungs- kraft? Kein irgendwie besonderer äußerer Reiz wirkt auf die noch unfertige Kuppe dieser Gliedmasse, als etwa der Nachlaß jeden Druckes; dieser wirkt aber gleichmäßig und kann nicht der Grund dafür sein, daß an bestimmten Stellen nun Klauen und Haftlappen samt ihren charakteristisch gestellten Härchen hervorwachsen, wenn nicht in jeder der die primäre Kuppe zusammensetzenden Zellen die Bestimmung läge, unter den jetzt eingetretenen Ernährungs- und Druckverhältnissen in vorgeschriebener Weise und Energie zu wachsen und sich zu vermehren, und wenn dies nicht bei jeder der Tochter- und Enkelzellen u. s. w. wieder der Fall wäre. Nur auf genauester Normierung der Vermehrungs- kraft jeder dieser Zellen kann es beruhen, daß jedesmal wieder die- selben zwei Klauen und Haftlappen. dieselbe Form des Tarsalglieds, derselbe regelmäßige Haarbesatz u. s. w. zustande kommt. Und diese genaue Determinierung «der Zellen kann offenbar nur durch materielle lebende Teilchen erfolgen, und diese sind es, welche ich Determinanten nenne. Ich habe Ihnen bereits so viel über die von uns angenommenen „Determinanten“ des Keimplasmas gesprochen, dab Sie wohl meinen könnten, wir hätten nun dieses Thema erschöpft: allein die Annahme solcher „Anlagen“ ist eine so fundamentale, nicht nur für meine Keim- plasmatheorie von heute und morgen, sondern — wenn ich nicht irre — für jede Entwicklungs- und Vererbungstheorie der Zukunft, und sie ist andererseits so wenig noch in das Bewußtsein der Biologen einge- drungen, daß ich mich nicht auf das bereits Vorgebrachte beschränken, sondern diese Annahme noch weiterhin prüfen und stützen möchte. Soviel mir bekannt, hat nur ein einziger namhafter Zoologe, CARL EmeEry in Bologna der Annahme von Determinanten ausdrücklich und unbedingt zugestimmt; «dagegen haben einige Biologen dieselbe als willkürlich und unannehmbar verworfen, andere sie als nutzlose (Gre- dankenspiele bei Seite geschoben, ich möchte glauben, ohne die Idee recht durchgedacht zu haben. Hat man mir doch eingeworfen, es könne keine Determinanten geben, weil man nichts von ihnen sähe, sie seien also reine Phantasiegebilde, ersonnen, um Tatsachen zu erklären, die sich viel einfacher und leichter auf anderem Wege er- klären ließen. Ich hatte aber von vornherein betont, dab man sie weder jetzt noch jemals sehen wird, weil sie weit unter der Grenze 9] * 324 Die Keimplasmatheorie. der Sichtbarkeit liegen müssen und also höchstens in großen Massen beisammen als ein Chromatinkörnchen sichtbar werden könnten. Ich habe auch nichts dagegen einzuwenden, wenn man alle Einzelheiten ihrer Tätiekeit als bloße Vermutungen bezeichnet, so z. B. ihre Ver- teilung während der Ontogenese, ihre „Reifung“, ihr Austreten aus dem Kern, und die Art und Weise, in der sie die Zelle bestimmen sollen. Das alles ist in der Tat ein von der Phantasie geschaffenes Bild, das vielleicht bis zu einem gewissen Grad richtig, das aber auch falsch sein kann: ein förmlicher Beweis jedenfalls ist heute für alles das nieht zu erbringen. und ich bin zufrieden, wenn man nur diese Annahme als möglich zugibt. Die Existenz aber von Determinanten in dem angegebenem Sinn scheint mir unzweifelhaft und beweisbar. Kehren wir noch einen Augenblick zu den Klauen und Haft- lappen zurück, welche am Fuß der Fliegen zur Ausbildung kommen. Man könnte vielleicht glauben, der Determinanten für diese Teile ent- behren zu können, indem man annähme, daß zwar in der Tat hier nicht die im gewöhnlichen Sinn „äußeren“ Einflüsse gewisse Zellen der Bein- kuppe bestimmten, zu Klauen, andere zu Haftlappen auszuwachsen, wohl aber die Verschiedenheiten des intercellularen Druckes innerhalb dieser Kuppe; dieser sei an einer Stelle stärker, an einer anderen schwächer, und dadurch würden die Zellen bestimmt, hier zu Klauen, dort zu Haft- lappen hervorzuwachsen. Wenn es sich nun bei der Konstitution des Keimplasmas lediglich um die Erklärung der Ontogenese handelte, also um das Zustandekommen dieser Teile in «dem einen bestimmten Indi- vidiuum, so wäre vielleicht prinzipiell nicht viel dagegen einzuwenden, wenn es auch kaum möglich sein würde, die angenommene Verschieden- heit des Druckes aus einer anderen Quelle herzuleiten, als aus einem verschieden starken Wachstum der Zellen in den verschiedenen Regionen der Beinkuppe, was dann doch wieder nur auf Verschiedenheiten der Keimesanlage zu beziehen wäre. Sobald man aber erwägt, dab diese Teile erblich und allein für sich variieren können, und erst durch dies Vermögen entstanden, und bei jeder Gattung und Art spezifisch ausgestaltet worden sind, so sieht man ein, daß sie schon im Keim- plasma durch besondere lebendige Teilchen vertreten sein müssen, welche die Wurzel ihres erblichen Variierens sind, d. h. welche vorher ‘schon entsprechend variiert haben müssen, wenn die betreffenden Teile selbst variieren sollen; ohne vorangehende Veränderung der Determinanten (des Keimes ist eine erbliche Abweichung der Klauen oder Haftlappen des Tieres allein für sich nicht denkbar. Alle Geener meiner Theorie haben diesen Punkt übersehen; so- wohl Oskar HERTwIG als KAssowItz vergessen, daß eine Theorie der Ontogenese, d. h. des Aufbaues des einzelnen Körpers aus «dem Ei noch keine Theorie der Vererbung ist; ihnen schwebt als Ziel nur die erste vor, und sie bestreiten deshalb den logischen Zwang einer Annahme von Determinanten. Da diese die Grundlagen der Theorie bilden, so seı noch folgen- des zu ihren Gunsten gesagt. Bei den Insekten mit Metamorphose werden nicht nur die äußeren, sondern auch die inneren Teile der Raupe oder Larve einer mehr oder weniger vollständigen Umgestaltung unterzogen. Bei den Fliegen (Museiden) wird z. B. das gesamte Darmrohr der Larve in der Puppe umgebaut, und muß deshalb gänzlich zerfallen zu einer zwar noch zusammenhängenden, aber ganz lockeren, tlockigen, abgestorbenen Beweise für Determinantenlehre. 325 (rewebsmasse. Im Innern (derselben entsteht «dann ein neuer Darm, wie ich in einer Jugendarbeit gezeigt habe (1864), während KOwALEWSKI und vAN REES später die interessante Art und Weise dieses Aufbaues näher kennen gelehrt haben, indem ‚sie zeigten, dab das neue Darm- rohr von bestimmten Zellen des alten Darmes aus gebildet wird, die in gewissen, ziemlich großen Abständen voneinander schon im Larven- darm vorhanden sind, die aber bei dem allgemeinen Zerfall nicht mit zerfallen, sondern lebendig bleiben, wachsen und sich vermehren, und auf solche Weise Zelleninseln in der Zerfallmasse bilden, welche stetig sich ausdehnend, schließlich zusammenstoßen um nun von Neuem ein ge- schlossenes Darmrohr darzustellen, dessen Gestalt, Einteilung und Abschnitte ganz verschieden sind von denen des Larven- darms. Hier müssen also in diesen Bildungszellen des Imagodarmes die Elemente gelegen sein. welche die Abkömmlinge derselben nach Zahl, Vermehrungskraft. Anordnung und histologischer Differenzierung bestimmen; in jeder dieser Zellen müssen mit anderen Worten die De- terminanten für einen bestimmten, begrenzten Abschnitt des Imagodarms enthalten sein. Die anderen Zellen des Darmepithels können nicht (dasselbe leisten, obwohl sie unter genau denselben Be- dingungen, in demselben geschlossenen Zellverband sich befanden und unter denselben Ernährungsverhältnissen. Sie lösen sich auf, während jene ihre aktive Tätigkeit erst anfangen denn sie waren bis dahin un- tätig geblieben. hatten sich nicht vermehrt, obwohl sie zwischen den anderen in regelmäßiger Weise verteilt lagen. Wo soll nun hier die gänzliche Verschiedenheit in dem Verhalten dieser beiden Zellenarten herkommen, wenn sie nicht in dem Wesen der Zellen selbst liegt, und woher soll dieses verschiedene Wesen sich ausgebildet haben während der phyletischen Entstehung (der Insektenmetamorphose, wenn nicht vom Keimplasma her Determinanten in diese Zellen gelangt sind, welche es bedingten, daß die einen sich zu Zellen des Imagodarms, die anderen zu solchen des Larvendarms erblich umwandelten? Ganz ähnliche Vorgänge sind in neuester Zeit auch für die Umbildung des Larvendarms bei anderen Insektengruppen nachgewiesen worden, so von DEGENER für den Wasserkäfer Hydrophilus pieeus; man sieht also deutlich, dab alle diese Umgestaltungen von bestimmten Zellen ausgehen, die während der Larvenzeit indifferent zwischen den tätigen Zellen liegend mit den Anlagen zur Bildung eines Darmabschnittes ausgerüstet sind, welche aber erst in Tätigkeit geraten. wenn ihre bisher lebendigen Nachbarn absterben und sich auflösen. Nun verhält es sich aber ganz ähnlich mit der Neubildung der gesamten äußeren Gestalt der Fliege. Nicht nur die Gliedmaßen, der Kopf, die Stigmen, sondern auch die Haut selbst wird von Imaginalscheiben aus neu gebildet. In jedem Abdominalsegment bilden sich drei Paar kleine Zelleninseln während des Larvenlebens, welche erst nach der Verpuppung in formative Tätigkeit treten, sich stark ver- mehren und zum Segment zusammenwachsen, dessen Größe, (restalt und äußere Beschaffenheit von ihnen bestimmt wird. Bekanntlich unter- scheiden sich nun aber die Abdominalsegemente der Fliege von denen der Larve ganz bedeutend und in jeder Hinsicht, es müssen also in jenen Zelleninseln ganz andere Determinanten enthalten sein, als in den Hautzellen der entsprechenden Larvensegmente. Letztere zerfallen im Beginn der Puppenperiode, während jene zu wuchern und sich auszu- breiten beginnen. Das Merkwürdigste und, wie mir scheint, Bedeutungs- 326 Die Keimplasmatheorie. vollste aber ist wohl, daß diese Imaginalscheiben häufig erst während des Larvenlebens entstehen, wie ich schon für eine Mücke, Corethra plumicornis, in bezug auf die Scheiben des Thorax gefunden hatte, wie es neuerdings aber BRUNO WAHL”) auch für die abdominalen Zellen- inseln nachweist. Da nun also in der jungen Larve an der Stelle der späteren Imaginalscheibe Zellen liegen, die sich scheinbar in nichts von anderen Hautzellen unterscheiden und zugleich genau unter denselben inneren und äußeren Einflüssen stehen, so kann die Abgliederung der Imaginalzellen von ihnen nur auf erbungleicher Zellt eilung beruhen: die Stammzelle jeder Imaginalscheibe muß sich zu Beginn der Scheiben- bildung in eine larvale und eine imaginale Hautzelle "geschieden haben. 3ei den Insekten mit weit verschiedenen Larven und Imagines also ist (das fertige Insekt in allen seinen Hauptteilen schon in der Larve vorgebildet und zwar in bestimmten Zellen, welche zwischen denen der betreffenden Larventeile liegen und sich siehtbar nicht von ihnen unterscheiden, aber mit ganz anderen Determinanten ausgerüstet sind und infolgedessen viel später erst in Bildungstätigkeit treten, sowie ganz andere Bildungen hervorrufen. Wie im Ei die Determinanten des nem Tiers mit allen seinen Teilen enthalten sind, so in diesen Zellen die Teile seiner Imaginalperiode. Dazu kommt aber dann noch als unwiderleglicher Beweis für die Determinantenlehre das selbstständige phyletische Abändern der einzelnen Entwicklungsstadien, auf welchem doch eben die ganze, eben betrachtete Erscheinung der „Metamorphose“ beruht. wie soll denn das Larvenstadium soweit verschieden geworden sein von dem Imagostadium, wenn das eine nicht schon vom Keim her verändert werden konnte, ohne daß sich das andere mit veränderte? Wäre diese völlige Unabhängigkeit des erblichen Variierens der einzelnen Stadien nicht eine unerläßliche Annahme für die Erklärung der Metamorphose und anderer Entwicklungserscheinungen, dann würde auch ich den Ver- such einer Theorie der Ontogenese ohne Determinanten für berechtigt halten. So aber muß ich allein schon in dieser einen Tatsache die Widerlegung aller epigenetischen Entwicklungstheorien erblicken, d. h. aller Theorien, welche eine Anlagen-lose Keimsubtanz annehmen, die den komplizierten Körper dadurch hervorbringen soll, dab sie sich ledig- lich unter dem Einfluß der äußeren (extra- und intrasomatischen) Ein- wirkungen Schritt für Schritt verändert. Wohl kann man sich ein Ei vorstellen, dessen lebendige Substanz so geartet ist, daß sie sich unter der Wirkung von Wärme, Luft, Druck u. s. w. gesetzmäßig verändern mub, daß sie sich teilen muß in gleiche, später auch in ungleiche Stücke, die nun wieder aufeinander ungleich einwirken und weitere Veränderungen hervorrufen, die wieder Teilungen und Veränderungen zur Folge haben, bis denn schließlich die ganze verwickelte Maschine des Organismus fertig und bis ins einzelste ausgearbeitet vorliegt. Näheres freilich könnte kein Sterblicher über die Beschaffenheit einer solehen Substanz aussagen, aber nehmen wir sie einmal als möglich an, wo bleibt dann die erb- liche Variation der einzelnen Teile und Entwicklungsstadien, auf der doch die ganze phylogenetische Entwicklung beruht? Wie die Ontogenese des Schmetterlings die drei Hauptstadien von Raupe, Puppe und Imago aufweist, von denen jedes selbständig erblich *) Bruno WAHL: „Über die Entwicklung der hypodermalen Imaginalscheiben im Thorax und Abdomen der Larve von KEristalis Latr.“, Zeitschr. f. wiss. Zool.; LXX. Bd., 1901. Weitere Beweise für die Determinantenlehre. 327 variabel ist, und deshalb ein Etwas im Keim voraussetzt, dessen Änderung nur dieses Stadium verändert, so setzt sich die Ontogenese jedes höheren Tieres aus zahlreichen Stadien zusammen, welche alle erblich selbständig variieren können. Woher käme es denn sonst, daß wir Menschen im embryonalen Zustand zwar wohl noch die Kiemenbogen unserer fisch- artigen Vorfahren besitzen, aber sehr verändert und ohne Kiemen’? Wahrlich, wer leugnen wollte, daß die Stadien der Ontogenese selbst- ständig und erblich variieren können, der müßte wenig von Entwicklungs- geschichte wissen. Wenn dem aber so ist, wie ließe sich diese Tatsache mit der Vorstellung einer epigenetischen Entwicklungssubstanz vereinigen ? Jede Veränderung dieser Substanz müßte nicht nur die ganze Kette von Stadien treffen. sondern zugleich auch den ganzen Organismus in allen seinen Teilen. Wir werden also auch auf diesem Weg zu dem Schluß gedrängt: es muß im Keimplasma etwas vorhanden sein, dessen Veränderung nur einen bestimmten Teil eines bestimmten Stadiums verändert. Dieses Etwas sind die „Anlagen“, die Determinanten. Dieselben sind weder als Miniaturbilder zu denken, noch geradezu als Samenkörner eines Teils: sie allein können den Teil nicht hervorbringen, den sie bestimmen, aber sie wirken verändernd auf die Zelle, in der sie aktiv werden, und so verändernd, daß daraus die Bildung des verlangten Teils resultiert. Auch ich stelle mir die Entwicklung kontinuierlich vor, aber derart, daß von innen heraus, von der Kernsubstanz aus immer neue, ablenkende, „bestimmende* Einflüsse ausgehen. Ich kann mir kaum einen besseren Beweis für die Notwendigkeit dieser Annahme denken, als ihn einer der scharfsinnigsten Biologen Frankreichs in seinem umfassenden Buch „sur ’Heredite“ geliefert hat, indem er sich bestrebte, an die Stelle der Determinantentheorie etwas Einfacheres zu setzen. DELAGE verwirft alle „Anlagen“ im Keim, alle „particules representatives“ als viel zu komplizierte Annahme und meint, mit einer Keimsubstanz auszukommen, die etwa so einfach ist, wie die Körpersubstanz eines Rhizopoden, das soll heißen, wie ein Protoplasma von bestimmter chemisch-physikalischer Konstitution und Mischung. Ab- gesehen nun davon, dab das Protoplasma einer Amöbe schwerlich eine so überaus einfache Beschaffenheit besitzt, sondern wohl sicher schon aus zahlreichen. verschieden (differenzierten und bestimmt angeor«dneten Biophoren sich zusammensetzt — wie soll nun aus einer solchen über- aus einfachen („eminemment simple“) Konstitution des Eies, wie sie hier angenommen wird, ein so komplizierter Organismus hervorgehen, bei welchem einzelne Teile erheblich variieren können? Das soll nach DELAGE dadurch bewirkt werden, daß dem Ei zwar nicht „alle Fak- toren seiner endlichen Bestimmung“ mitgegeben werden, aber doch „un certain nombre des facteurs necessaires A la determination de chaque partie et de chaque caractere de l'organisme futur"! Also doch Deter- minanten, so wird man sagen: aber weit gefehlt! Nicht Anlagen ent- hält der Keim nach DELAGE, sondern chemische Substanzen, z. B. Muskelsubstanz, wahrscheinlich „les substances caracteristiques des prin- cipales categories de cellules, c'est A dire celles, qui, dans ces cellules, sont la condition prineipale de leur fonetionnement“. Diese sollen alle schon im Ei enthalten sein. Wie sie dann gerade an die richtige Stelle im Organismus gelangen, wie die „charakteristische chemische Substanz“ eines Muttermals gerade hinter das rechte oder linke Ohr des fertigen Menschen gerät, wird nicht gesagt. Aber abgesehen davon liegt noch 3928 Die Keimplasmatheorie. ein viel tieferer Irrtum in dieser Annahme spezifischer chemischer Sub- stanzen im Ei als Erklärung für die Erscheinungen der lokalen erb- lichen Variation. den ich früher schon einmal berührt habe: chemische Substanzen sind keine lebenden Einheiten. die sich ernähren und fortpflanzen, die assimilieren, und die gegen die Assimi- lationskraft des umgebenden Protoplasmas gefeit sind. Sie würden verändert und zersetzt werden müssen im Laufe der Önto- genese, und würden deshalb — einerlei an welcher Stelle sie anfäng- lich deponiert worden wären — nicht imstande sein, die Leistungen auszuführen, welche ihnen DELAGE zumutet. Entweder enthält der Keim „lebende Anlagen, oder er ist, wie DELAGE will, nur chemisch- physikalisch determiniert: dann aber vermag er auch nicht, für die er- hebliche lokale Variation aufzukommen. DELAGE wird also entweder (larauf verzichten müssen, eine Erklärung zu geben, oder er wird seine substances chimiques in echte und wirkliche lebendige Determinanten verwandeln müssen. So werden wir von allen Seiten her darauf hingewiesen, dab die Keimsubstanz ihre wunderbare Entwicklungskraft nicht bloß ihrer chemisch-physikalischen Beschaffenheit im ganzen ver- (dankt, sei sie nun ungemein einfach oder fabelhaft kompliziert, sondern dem Umstand, daß sie aus zahlreichen und verschiedenartigen „Anlagen“ besteht, d. h. aus Gruppen lebendiger Einheiten. mit den Kräften des Lebens ausgerüstet, fähig aktiv und in spezifischer Weise einzugreifen, oder aber auch fähig in passivem Zustande latent zu verharren, bis der auslösende Reiz sie trifft, und eben dadurch im stande, successiv in die Entwicklung einzugreifen. Die Keimzelle kann nicht bloß ein einfacher Organimus sein, sie muß ein Bau von sehr verschiedenen Organismen oder Einheiten sein, ein Mikrokosmus. Zu dieser Auffassung leitet uns noch ein ganz anderer Gedanken- gang hin, der in der außerordentlichen Kompliziertheit der Maschine wurzelt, welche wir Organismus nennen. Der Botaniker REINKE hat kürzlich einmal wieder darauf hin- gewiesen, dab Maschinen sich nicht direkt aus primären physikalisch- chemischen Kräften oder Energien zusammensetzen lassen, daß viel- mehr dazu, wie LOTZE sagte, „Kräfte zweiter Hand“ unentbehrlich sind, welche die chemisch-physikalischen Grundkräfte so disponieren, daß sie derart wirken müssen, wie es der Zweck der Maschine verlangt. Da- mit eine Uhr entstehe, genügt es nicht, Messing, Stahl, Gold und Steine zusammenzubringen, damit ein Klavier entstehe, nicht, daß man Holz, Eisen, Leder, Elfenbein, Stahl u. s. w. nebeneinanderlege, sondern diese Stoffe müssen in bestimmter Form und Verbindung zusammenkommen, ähnlich wie auch Kohle und Wasser noch kein Kohlehydrat, z. B. Zucker oder Leuchtgas geben; beiderlei Elemente geben das Verlangte nur, wenn sie in eine Zwangslage versetzt werden, in der sie so aufeinander und miteinander wırken müssen, daß dabei ein Klavier oder Zucker herauskommt. Bei der Uhr und dem Klavier wird dieser Zwang durch menschliche Intelligenz gesetzt, durch den Arbeiter, der die verschie- denen Stoffe in der richtigen Weise formt und zusammenfügt. Hier bildet also menschliche Intelligenz die „Oberkraft*, wie REINKE sagt, welche die Energien zwingt. in bestimmter Weise zusammenzuwirken. Nun sind aber auch die Organismen Maschinen, welche eine be- stimmte, zweckmäßige Arbeit leisten, und auch diese werden nur da- Der Organismus als Maschine. 329 durch dazu befähigt, daß die Energien, welche die Arbeit leisten, durch Oberkräfte in bestimmte Bahnen gezwungen werden: diese Oberkräfte sind die „Steuerleute der Energien“. (Gewiß steckt in dieser Darlegung ein richtiger Kern, und an diesen werde ich sogleich weiter anknüpfen: REINKE allerdings benutzt sie in einer Weise, der ich nicht folgen kann, nämlich zur Erschließung einer „kosmischen Intelligenz“, welche jene „Oberkräfte“ in die Organismen hineinlegt. und «dadurch diese Maschinen zu zweckmäßiger Arbeit bestimmt, wie der Uhrmacher durch Rädchen, Walzen, Hebel u. s. w. die „Oberkräfte* in die Uhr hineinlegt. Im einen Fall bestimmt menschliche Intelligenz die „Oberkräfte*“, im anderen „kosmische“ Intelligenz. Ich halte diesen Analogieschluß schon deshalb nicht für zwingend, weil jene „Oberkräfte“ in Wahrheit gar keine „Kräfte“ sind. Sie sind Konstellationen von Energien, Zusammen- ordnungen von Stoffen und den ihnen immanenten Energien unter komplizierten und genau bestimmten Bedingungen, und es ist dabei ganz einerlei, ob der Zufall, oder menschliche Absicht dieselben herbei- geführt hat. Nehmen wir REINKEsS eigenes Beispiel von den Kohlen- wasserstoffen, so ist es gewiß, daß unser Leuchtgas durch die In- telligenz des Menschen entsteht, welche Kohle und Wasser so zusammen- bringt, daß Leuchtgas sich bilden muß. Die „Oberkraft“ würde hier etwa in den Einrichtungen der Koksöfen u.s. w. zu sehen sein und in zweiter Linie in der Intelligenz des Menschen. Aber wenn nun faulende Pflanzen im Sumpf einen anderen Kohlenwasserstoff, das Sumpfgas, geben, wo liegen da die leitenden „Oberkräfte“” Doch wohl einfach in dem zufälligen Zusammentreffen der dazu nötigen Stoffe und Be- dingungen. Oder sollte „kosmische“ Intelligenz dieses Sumpflaboratorium errichtet haben? Wenn aber nicht, was zwingt uns, die Bildung von Dextrin oder Stärke in den Zellen grüner Blätter auf „Öberkräfte* zu beziehen, die von der „kosmischen Intelligenz“ in sie hineingelegt wurden? Es liest mir fern, die große und tiefe Frage, welche hier berührt ist, damit so nebenbei abgemacht zu glauben. aber mit solchen Wortspielen von Energien und Oberkräften läßt sie sich nicht lösen. Kehren wir zurück zu dem guten Kern der REINkEschen Er- wägungen, so liegt er darin, daß die Wirkungen einer Maschine zwar lediglich auf den Kräften oder Energien beruhen, welche an die Stoffe gebunden sind, aus welchen sie besteht, aber zugleich auch auf einer bestimmten Kombination dieser Stoffe und Krätte, einer bestimmten „Konstellation“ derselben, wie FECHNER sich ausdrückte. Solche Kon- stellationen sind bei der Uhr die Feder, die Räder u. s. w. und ihre gegenseitige Lagerung, beim Organismus aber seine Organe bis herab zu den Zellen und Zellteilen, denn auch die Zelle schon ist eine Maschine, und zwar schon eine recht verwickelte, wie ihre Leistungen uns lehren. Tausenderlei „Konstellationen“ der Elementarstoffe und Kräfte sind es also, welche die Tätigkeit der Lebensmaschine bedingen, und nur, wenn alle diese Konstellationen in richtiger Weise vorhanden, und richtig miteinander in Beziehung gesetzt sind, muß auch die Funktionierung des Organismus richtig ihren Ablauf nehmen. Nun unterscheidet sich aber die Lebensmaschine von anderen Maschinen wesentlich dadurch, daß sie sich selbst aufbaut: sie entsteht durch Entwicklung aus einer Zelle mittelst Durchlaufung zahlreicher „Entwicklungsstadien“. ‚Jedes dieser Stadien ist aber nicht ein totes Ding, sondern selbst schon ein lebender Organismus, dessen Haupt- funktion die Hervorbringung des folgenden Stadiums ist. Man wird 330 Die Keimplasmatheorie. deshalb jedes Stadium der Entwicklung einer Maschine vergleichen dürfen, deren Leistung in der Hervorbringung einer ähnlichen, aber komplizierteren Maschine besteht. Jedes Stadium also setzt sich, ganz wie der fertige Organismus aus einer Anzahl solcher „Konstellationen“ der Elementarstotfe und -Kräfte zusammen, deren Anzahl nur im An- fang noch relativ gering ist, dann aber mit jedem neuen Stadium rapid zunimmt. Woher kommen nun diese „Konstellationen* oder um im Bilde zu sprechen diese neuen Hebel, Räder, Kurbeln jeder folgenden Stadiums- maschine? Die epigenetische Theorie des -anlagenlosen Keimplasmas antwortet darauf mit dem Hinweis auf die äußeren und inneren Ein- flüsse, welche die anfangs gleichmäßige Keimsubstanz nach und nach immer stärker differenzieren und in die mannigfachsten „Konstellationen“ bringen: wie sollen aber durch solche Einflüsse neue Federn. Hebel und Räder ganz spezifischer Art eingesetzt werden, wie es doch sein muß, wenn aus den scheinbar gleichen Keimsubstanzen einer Haus- und einer Krickente zwei so verschiedene Tiere werden sollen? Die Ursache muß in den unsichtbaren Verschiedenheiten des Keimplasmas liegen, werden (die Gegner antworten, und wir mit ihnen. Aus unserer bisherigen Betrachtung geht aber hervor, daß diese Unterschiede nicht bloße Elementarunterschiede sein können, nicht bloße Unterschiede physikalisch-chemischer Natur, nicht bloß solche der rohen Stoff- und Energienzusammensetzung, sondern solche der geordneten Stoff- und Energienzusammensetzung. mit anderen Worten solche der Zusammensetzung aus „Konstellationen“. Also:das Keimplasma muß sich aus bestimmten und sehr verschiedenen Kombina- tionen lebender Einheiten zusammensetzen, welche selbst wieder zu einer höheren „Konstellation“ derart verbunden sind, daß sie als Lebensmaschine des ersten Entwicklungs- stadiums wirken, und die bereits vorhandenen „Konstella- tionen“ des zweiten Stadiums zur Tätigkeit auslösen. Die zweite der sukzessive auseinander hervorgehenden Lebensmaschinen löst dann die schlafenden „Konstellationen“ zur dritten aus und so fort. Diese „Konstellationen“ von Stoff und Energie sind die Biophoren und Determinanten, und die „Gruppen von Determinanten* deren wir uns viele übereinander geordnet denken dürfen. Daß sie nicht alle gleichzeitig in Tätigkeit treten, sondern successive in die Entwicklung eingreifen, scheint mir eine notwendige Folge ihrer successiven Ent- stehung in der Phylogenese, und die Ontogenese geht, wie wir später noch genauer besprechen werden, durch Zusammenziehung und Ver- änderung aus der Phylogenese hervor. Da nun jede neu in der Phylo- genese entstehende Determinante nur durch Teilung und nachträgliche Abänderung aus der an derselben Stelle des Organismus vorher tätigen Determinante sich bilden kann, so versteht man, dab sie später, wenn die Phylogenese zur Ontogenese zusammengezogen wird, nicht gleich- zeitig mit dieser, sondern nach ihr in Tätigkeit tritt. Die Vorstellung der von einem anlagenlosen Keimplasma ausgehenden Biologen (O. HERT- wıG), dab alle Teile des Keimplasmas gleichzeitig in Tätigkeit treten, scheint mir unannehmbar. Wie sollen überhaupt die Räder, Hebel und Federn der fertigen Lebensmaschine, die so langsam nur in der Phylogenese entstanden sind, heute in der Ontogenese so rasch nacheinander neu entstehen können, wenn sie nicht eben schon im Keimplasmäa vorhanden wären, und nur in Tätigkeit gesetzt, d. h. vom vorhergehenden Stadium Entwicklungsmechanische Tatsachen. 331 ausgelöst zu werden brauchten? Auch FECHNER huldigte noch dieser Anschauung, indem er meinte, daß die Wechselwirkung und gegenseitige Beeinflussung der Teile im Organismus, d. h. also die , „Konstellation“ aus sieh heraus das folgende Stadium, d. h. die dem folgenden Stadium eigenen neuen Konstellationen hervorbrächte. REINKE macht mit Recht dagegen geltend, das sei ähnlich, als wenn man erwartete, die Fenster- rahınen eines im Bau begriffenen Hauses würden die Glasscheiben her- vorbringen. Die Scheiben des Organismus bilden sich nur dann in dem Fensterrahmen, wenn ihre Determinanten von Anfang an im Keimplasma enthalten waren, und durch die Entstehung der Rahmen nur ausgelöst werden, ähnlich wie die Tätigkeit des Glasers durch den Anblick der vollendeten Fensterrahmen ausgelöst wird. Scheiben wie Determinanten können nicht in Geschwindigkeit neu erzeugt werden, die ersteren müssen in der Glashütte fabriziert sein, die letzteren in der Entwicklungs- werkstätte des betreffenden Lebewesens, welche wir seine Phylogenese nennen. So wenig aber für jedes neue Haus, das er- baut wird, eine besondere neue Glashütte errichtet wird, so wenig wird die Entwicklung jedes Individuums an die Neuerrichtung zahlloser Lebens- fabriken — jener Konstellationen — gebunden, welche die Räder, Federn, Walzen u. s. w. der Entwicklungsmaschine jeden Stadiums neu zu liefern haben, dieselben sind vielmehr alle schon im Keimplasma vorgesehen — nur deshalb können sie auch erblich abändern! Es wurde früher schon auf entwicklungsgeschichtliche Tatsachen hingewiesen, welche in Wiederspruch zu stehen schienen, wenn auch nicht mit der Keimplasmatheorie selbst, so doch mit der von ihr an- genommenen Zerlegung des Keimplasmas in der Ontogenese, und auch darüber muß noch einiges gesagt werden. Ich meine die zahlreichen Tatsachen, welche die von WILHELM Roux begründete Entwieklungsmechanik zutage gefördert hat, in erster Linie die Untersuchungen über die Werdebedeutung der Furchungszellen des tierischen Eies. Dahin gehören die Kompressionsversuche mit gewissen Eiern (See- igel) in den ersten Stadien der Furchung. Durch künstlichen Druck wurden die Blastomeren gehindert, sich in normaler Weise zu gruppieren, sie wurden gezwungen, sich in einer Ebene nebeneinander auszubreiten. Hebt man dann den Druck auf, so gruppieren sie sich um, und geben einen normalen Embryo. Ich will hier nicht darüber streiten, ob diese Erfahrungen wirklich nur so gedeutet werden können, daß jede der Furchungszellen die gleiche Werdebedeutung hat, daß also nur die rela- tive Lage darüber entscheidet, welche Teile des Embryo sich aus ihr bilden werden: ohne in die Einzelheiten einzugehen, wäre «das nicht durchführbar; ich nehme es deshalb einmal als richtig an und beschränke mich in meiner Betrachtung auf die zweite Gruppe von Experimenten, auf die Erfahrungen an isolierten Furchungszellen. Es hat sich gezeigt, daß bei den Eiern verschiedenster Tiere, so wieder bei denen des Seeigels, eine jede der beiden ersten Blasto- meren wenn sie von der anderen künstlich getrennt wird, sich zu einer ganzen Larve entwickeln kann, ja — bei den Eiern von Seeigeln und anderen Tieren besitzt sogar noch jede der vier, der acht ersten, sogar jede der Furchungszellen (Blastomeren) noch späterer Generationen das Vermögen, sich wie ein ganzes Ei zu entwickeln, wenigstens doch bis zu einem gewissen Stadium, jedenfalls bis zu dem der sog. „Blastula*- larve. Das scheint einer Theorie zu widersprechen, welche die An- 332 Die Keimplasmatheorie. lagen sich trennen läßt bei den successiven Schritten der Ontogenese. Allein einmal verhalten sich nicht die Blastomeren aller Tiere der- maßen, und dann kann man diesen Tatsachen sehr wohl gerecht werden, ohne auf die Zerlegung des Determinantenkomplexes ganz zu verzichten. Man braucht nur anzunehmen, daß die Furchungszellen, soweit sie in isoliertem Zustand wie ganze Eier sich entwickeln, alle noch das volle Keimplasma enthalten, daß also die Zerlegung desselben in erbungleiche Determinantengruppen erst später einsetzt. Allerdings würde dies der Theorie weitere Komplikationen auferlegen, auf die ich hier um so weniger eingehe, als der Kampf um die Tatsachen, welche dabei in Betracht kämen, noch keineswegs abgeschlossen ist. Jedenfalls aber lassen die angeführten entwicklungsmechanischen Tatsachen, wie wir sie zahlreichen trefflichen Beobachtern des letzten Jahrzehnts verdanken — ich nenne nur W. Roux, OÖ. HERTWIG, CHUn, DRIESCH, BARFURTH, MORGAN, ÜONKLIN, WILSON, ÜRAMPTON und FiscHEL, nicht nur das Wesen der Keimplasmatheorie unberührt, sondern sie sind selbst den mehr untergeordneten Punkten derselben, wie eben der Annahme einer Zerlegung des Keimplasmas in der On- togenese eher eine Stütze als eine (refahr. Was die Grundlagen der Theorie betrifft, so habe ich eben schon gezeigt, daß sie unverändert bleiben, auch wenn man eine Zerlegung des Keimplasmas nicht annehmen, und alle Zellen der Ontogenese mit dem vollen Keimplasma ausgerüstet denken wollte. Die Determinanten müßten eben dann lediglich durch spezifische Reize zur Tätigkeit aus- gelöst werden. Was aber die Annahme der Zerlegung betrifit, so gelten die eben vom Seeigel angeführten Tatsachen keineswegs für die Eier aller Tiere. | Die beiden ersten Furchungszellen verschiedener Tiergruppen liefern, wenn sie voneinander getrennt werden, nur einen halben Em- bryo, die vier ersten nur einen Viertelembryo. Allerdings vermag dieser „Teilembryo“ in einigen Fällen sich später dennoch zum ganzen Embryo zu vervollständigen (zu „postgenerieren“ W. Rovx). In der isolierten Blastomere ist also zunächst nur die Anlage zu einer Hälfte des Tiers in Tätigkeit, wie dies zuerst W. Roux für das Froschei be- obachtete und vielen Angrifien gegenüber siegreich aufrecht hielt, bis es zuletzt durch die ausführlichen Nachuntersuchungen von ENDRES über jeden Zweifel festgestellt wurde. Die sekundäre Vervollständigung des Embryo, die freilich noch bestritten wird, würde man als eine Re- generation auffassen, und für sie eine Beimischung vollen, aber zunächst noch inaktiven Keimplasmas zu beiden Furchungszellen anzunehmen haben. Es würde mich zu weit führen, wollte ich auch nur auf die wich- tigsten der zahlreichen Tatsachen, welche das letzte Jahrzehnt zutage gefördert hat, genauer eingehen; ich beschränke mich auf das Not- wendigste. Die Fähigkeit, aus isolierten Furchungszellen ganze, nur ent- sprechend kleinere Embryonen hervorgehen zu lassen, ist bei Tieren verschiedener Gruppen nachgewiesen worden, und scheint nicht bei allen gleich weit zu reichen. Bei Medusen entwickelt sich nieht nur jede der zwei ersten Furchungszellen, wenn sie isoliert wird zu einer ganzen Larve, sondern auch jede der vier, acht, ja der sechszehn ersten Furchungszellen (ZosA); beim Seeigel wenigstens noch jede der acht ersten Zellen. und DRIESCHs Versuche mit Zerschneiden der jüngsten Entwicklungsmechanische Tatsachen. 3: Larven des Blastula-Stadiums (einer einschichtigen Zellenkugel) lassen annehmen, daß jede dieser Zellen noch volles Keimplasma enthält. Weiter aber trennen sich offenbar die Anlagen in die des Ektoderms, denn das folgende zweischichtige Stadium des Seeigels, die (rastrula- Larve, ergänzt sich nicht mehr, wenn sie künstlich in Stücke zerteilt wird. welche nur aus Zellen der äußeren oder inneren Lage bestehen. Entsprechend diesem, von BARFOURTH ausgeführten Versuch, konnte SamAssa am Froschei zeigen, daß schon nach «der dritten Teilung des Eies die Furchungszellen so verschieden in ihren Anlagen sind, daß sie sich nicht gegenseitig zu ersetzen vermögen; tötete dieser Forscher durch Induktionsschläge die Ektodermzellen allein, oder die Entoderm- zellen allein, so konnte die getötete Hälfte nicht von der lebendig gebliebenen aus wieder ersetzt werden, und das ganze Ei ging zugrunde. Sprechen schon diese Tatsachen für eine früher oder später ein- tretende Trennung der Anlagen, so ist das noch mehr der Fall bei Rippenquallen, Schnecken, Muscheln und Ringelwürmern. wie denn zuerst WILSON für letztere Gruppe wahrscheinlich machte, daß die Ent- wicklung hier wirklich eine „Mosaik-Arbeit* sei, wie Roux und ich es angenommen hatten. Darauf deuteten schon die älteren Beobachtungen von CHun an Rippenquallen, und die neueren Experimente von FISCHEL an denselben Tieren (Ötenophoren) beweisen es geradezu für diese Gruppe. Hier lassen sich vollständige Larven leicht von unvollständigen bloßen „Teilbildungen* an der Zahl der charakteristischen Flimmer- ripper erkennen, welche in meridionaler Richtung über die Larve hin- laufen. Bei der vollständigen Larve sind ihrer acht, bei Larven, die aus einer der isolierten ersten zwei Blastomeren hervorgingen, finden sich nur vier, bei solchen, welche aus einer der vier ersten Blasto- meren entstanden, nur zwei Flimmerrippen. Gelingt es, ein Ei, das sich auf dem Achtzellenstadium befindet, in einzelne Blastomeren zu teilen, so bildet sich aus einer derselben eine Achtellarve mit nur einer Flimmerrippe. Selbst im darauffolgenden sechszehnzelligen Stadium ließ sich noch nachweisen, daß diese Substanz, auf welcher die Rippen- bildung beruht, nur an bestimmten Stellen liegt, und im ganzen immer nur zu acht Rippen ausreicht. Das Stadium von sechszehn Zellen be- steht aus acht großen Zellen und acht kleinen, den „Makromeren“ und „Mikromeren“; zerschneidet man nun ein Ei dieses Stadiums derart, daß das eine Stück fünf Makro- und fünf Mikromeren enthält, so bildet dasselbe auch fünf Flimmerrippen auf seiner Teillarve aus, während das andere Stück mit nur drei Makro- und drei Mikromeren nur drei Rippen hervorbringt. Man kann aber die Lokalisierung der Rippendetermi- nanten noch weiter verfolgen, denn bei Larven, bei welchen einzelne Mikromeren aus ihrer normalen Lage gebracht worden waren, trat auch eine Verschiebung der betreffenden Rippe und eine Zerstreung ihrer Flimmerplättchen ein. Die Rippendeterminanten liegen also in den Mikromeren, woraus doch wohl geschlossen werden muß, daß sie bei der vorhergehenden Teilung nur der einen Tochterzelle zugeteilt wurden, während die andere, die Makromere diese Art der Determinanten nicht erhielt. Da hätten wir denn also ein Beispiel erbungleicher Teilung. Die Gegner derselben werden es zwar schwerlich aner- kennen, vielmehr geltend machen, daß „äußere Einfiüsse*, etwa solche der Lage es seien, welche hier die Entscheidung darüber geben, welche Zellen Flimmerrippen bilden, und welche nicht. Doch entwertet die Zerstreuung der Flimmerplättehen nach künstlichen Ortsverschie- 394 Die Keimplasmatheorie. bungen der Mikromeren auch diese Ausflucht, und widerlegt zugleich die weitere Deutung, als würden etwa die Zellen, die in bestimmten Meridianen liegen, durch diese ihre Lage zur Hervorbringung von Flimmerplättehen bestimmt. Offenbar ist die Sache gerade umgekehrt: diejenigen Zellen, welche die Rippendeterminanten enthalten, kommen im regelrechten Verlauf der Entwicklung in jene acht Meridiane zu liegen. die dazwischen liegenden Zellen derselben Abkunft (von Mikro- meren) enthalten keine solche Determinanten, und bilden deshalb auch keine Rippen. Werden aber diese mit Rippendeterminanten ausge- rüsteten Zellen künstlich verlagert, dann bringen sie auch an anderen Stellen als auf Meridianen Flimmerplättchen hervor. Ebenso beweisend für eine Zerlegung der Anlagenmasse während der Ontogenese sind die Versuche, welche CRAMPTON mit den Eiern einer Meeresschnecke, Ilyanassa, anstellte.e Wurden hier die zwei oder vier ersten Furchungszellen künstlich voneinander getrennt, so ent- wickelten sie sich ganz so, als gehörten sie noch dem ganzen Ei an, d. h. jede Furchungszelle gab einen halben, resp. einen Viertelembryo, und diese „Teilembryonen“ sind hier auch nicht imstande, nachträglich noch das Fehlende zum Ganzen hervorzubringen. Es stehen sich also zwei Gruppen von Tieren gegenüber, bei deren einer eine Zerlegung der Anlagenmasse augenscheinlich von An- fang an stattfindet, während sie bei der anderen wenigstens in den ersten Stadien der Entwicklung nicht stattfindet, später aber auch ein- zutreten scheint. Man könnte sie mit HEIDER als solche mit „Regu- lationseiern“ und mit „Mosaikeiern“ unterscheiden. Ich sehe deshalb keinen Grund, weshalb wir die Vorstellung von einer sukzessiven Zer- legung des Keimplasmas in seine Determinanten aufgeben müßten, wenn ich sie auch — wie oben schon gesagt wurde — in soweit modifizieren möchte, als ich mir denke, daß sie nicht bei allen Gruppen und Arten von Tieren zu derselben Zeit einzutreten braucht, sondern bei den einen früher, bei den anderen später. Nachdem ich Ihnen nun gezeigt habe, wie die Keimplasmatheorie sich m Einklang setzen läßt mit den Erscheinungen der Öntogenese, schreite ich dazu, Ihnen die Leistungsfähigkeit der Theorie inbezug auf unser Verständnis der Fortpflanzungs- und Vererbungserscheinungen darzulegen. Ich werde sie dabei zugleich in einige der wichtigsten derselben einführen können. Zunächst einige Worte über die Bildung der Fortpflanzungs- zellen. Wir sehen einstweilen davon ab, ob dieselben geschlechtlich differenziert sind, oder nicht; es handelt sich für jetzt nur um die Hauptfrage: wie ist es möglich, daß der Organismus Keim- zellen hervorbringt, d. h. Zellen, die das volle Keimplasma mit allen seinen Determinanten enthalten, während doch nach unserer Vor- aussetzung der Aufbau des Körpers in der Ontogenese mit einer Zer- legung des Determinantengebäudes in immer kleinere Gruppen ver- bunden ist? Spezifische Determinanten können unmöglich neu wieder entstehen, so wenig als ein Tier anders denn aus einem Keim, eine Zelle anders als aus einer Zelle, ein Kern anders als aus einem schon vorhandenen Kern entstehen kann. Wenn überhaupt Lebenseinheiten jemals neu entstehen, so wäre dies doch nur bei den einfachsten Bio- phoren denkbar, wie wir später bei Gelegenheit der „Urzeugung“ be- sprechen werden, spezifische Biophoren und die aus ihnen zusam- mengesetzten Determinanten aber haben eine Phylogenese hinter sich, Bildung der Keimzelle. | "385 eine Geschichte, die es bedingt, daß sie nur aus ihres Gleichen ent- stehen können. Keimzellen werden somit nur da sich bilden können, wo sämtliche Determinanten der betreffenden Art zu Iden geordnet schon vorhanden sind. Dürften wir annehmen, daß das in Entwicklung tretende Ei sich zunächst in zwei Zellen teile, von welchen die eine den gesamten Körper (Soma) hervorbrächte, die andere nur die in diesem Körper gelegenen Keimzellen, so läge die Sache theoretisch einfach: wir würden sagen: das Keimplasma der Eizelle wächst zuerst aufs doppelte heran, wie es die Kernsubstanz vor jeder Kernteilung tut, und teilt sich dann in zwei gleiche Hälften. von (denen die in der Urkörperzelle gelegene sofort aktiv wird und sich entsprechend dem Aufbau des Körpers in immer kleinere Determinantengruppen zerlegt, während in der anderen das Keimplasma in gewissermaßen „gebundenem" Zustand beharrt, und nur in soweit aktiv wird, als es die Zellen, welche aus der Urkeimzelle hervorgehen, nach und nach zu Keimzellen stempelt. Es ist indessen bisher nur eine Gruppe von Tieren bekannt ge- worden, bei welcher es sich nachweislich so verhält, die Zweiflügler unter den Insekten; bei allen anderen bekannten Tieren, tritt diejenige Zelle, aus welcher lediglich die Keimzellen hervorgehen, die „Urkeim- zelle“, erst später in der Entwicklung auf, meist schon während der Embryogenese und oft schon recht früh in derselben, nach den paar ersten Teilungen des Eies, manchmal aber auch erst lange nach vollendeter Embryogenese, ja dann nicht einmal in dem aus dem Ei sich entwickelnden Individuum, sondern erst in einem seiner Nachkommen, welche durch Knospung aus jenem entstehen. Der letztere Fall kommt vor allem bei den stockbildenden, durch Knospung sich vermehrenden Hydroid- polypen vor. Hier ist also die Keimzelle durch eine lange Reihe von Zellgenerationen vom Ei getrennt, und die einzige Möglichkeit, die An- wesenheit von Keimplasma in dieser Urzelle zu verstehen, bietet sich in der Annahme, daß bei den Teilungen der Eizelle nicht das gesamte, ursprünglich in ihr enthaltende Keimplasma in Determinantengruppen zerlegt wird, sondern nur ein Teil, vielleicht der größere Teil, während ein anderer Teil in gebundenem Zustand von Zelle zu Zelle weiter ge- geben wird, um dann früher oder später in eine Zelle zu gelangen, die er zur Urkeimzelle stempelt. Es macht theoretisch dabei keinen Unter- schied, ob diese „Keimbahnen“, d. h. die Zellenfolgen, die von der Eizelle zur Urkeimzelle hinführen, kurz oder sehr lAng sind, ob sie aus 3, 6 oder 16 Zellen, oder aus Hunderten und Tausenden von Zellen bestehen. Daß nicht alle Zellen der Keimbahn den Charakter von Keimzellen annehmen, wird man entsprechend unseren Vorstellungen über das „Reifen“ der Determinanten, auf innere Zustände der Zellen und des Keimplasmas beziehen müssen, teilweise vielleicht auch auf eine Beigabe somatischen Idioplasmas, das erst im Laufe der Zellteilungen entfernt wird. Diese Spaltung der Keimsubstanz «des Eies in eine somatische Hälfte, die die Entwicklung des Individuums leitet und eine propagative, welche in die Keimzellen gelangt und «dort inaktiv verharrt, um später der folgenden Generation den Ursprung zu geben, macht die Lehre von der Kontinuität des Keimplasmas aus, wie ich sie zuerst in einer im Jahre 1885 erschienenen Schrift dargelegt habe. Der Grund- gedanke derselben ist schon viel früher (1872) von FRANCIS GALTON ausgesprochen worden, ohne aber damals beachtet zu werden und Ein- 336 Die Keimplasmatheorie. fluß auf den Gang der Wissenschaft zu gewinnen, und ebenso ist es mit späteren Äußerungen von G. JÄGER, RAUBER und M. NUSSBAUM gegangen, welche alle, unabhängig voneinander denselben Gedanken erfaßt, und mehr oder weniger auszugestalten gesucht hatten. Stützen läßt sich die Hypothese nicht bloß durch ihre theoretische Notwendigkeit; es gibt vielmehr eine ganze Reihe von Tatsachen, die stark zu ihren gunsten sprechen. Gph K A kz In IRA Fig. 94. Schema zu der phyletischen Verschiebung der Keimstätte bei Medusen und Polypen, Durchschnittsbild. 4 Ast eines Polypenstöckchens, ? Polypenköpfchen mit Mund (2) und Tentakeln, Ss? Stiel des Polypen, 47 Medusenknospe mit der Glocke (G/), 7 Randtentakel, »z Mund, 4757 Magenstiel derselben; G5% X eine Gono- phorenknospe, G/7/ Gastralhöhle, e#7 Ektoderm, ez? Entoderm, s? Stützlamelle. Die Keimzellen (#2) entstehen in der Meduse im Ektoderm des Magenstiels — erstes phyletisches Stadium —, woselbst sie auch die Reife erlangen; in der Gonophoren- knospe (GA A) entstehen sie im Ektoderm, oder weiter unten im Stiel des Polypen bei #° — drittes phyletisches Stadium — oder im Ektoderm des Astes, von dem der Polyp hervorgewachsen ist (bei #2’) — viertes phyletisches Stadium der Keim- stättenverschiebung; in den beiden letzten Fällen wandern die Keimzellen bis an ihre ursprüngliche Keimstätte in der Meduse oder der ihr entsprechenden Schicht des medusoiden Gonophors hin, wie noch deutlicher zu sehen ist in Fig. 95. Nach meinem Entwurf von Herrn Dr. PETRUNKEWITSCH gezeichnet. So schon der Umstand, daß das Herausschneiden der Keim- drüsen bei allen Tieren, die solche besitzen, Sterilität erzeugt, daß also keine anderen Zellen des Körpers imstande sind, Keimzellen zu bilden — Keimplasma kann eben nicht neu erzeugt werden. Einen förmlichen Beweis für dieselbe scheinen mir aber die Verhältnisse der Keimzellenbildung bei Medusen und Hydroidpolypen darzu- stellen, denn hier läßt sieh zeigen, daß die Keimstätte, d. h. der Ort, Bildung der Keimzellen. 337 an welchem die Keimzellen im Tier sich bilden, im Laufe der phyleti- schen Entwicklung sich verschoben hat, und zwar rückwärts. also näher gegen den Ausgangspunkt der Entwicklung hin. Diese Verschiebung erfolgte nun genau auf den „Keimbahnen“ wie wir sehen werden, ob- gleich es in manchen Fällen vorteilhafter gewesen wäre, wenn die Keim- stätte außerhalb derselben hätte gelegt werden können. Offenbar also sind eben nur die einmal vorhandenen Zellenfolgen der Keimbahn im- stande gewesen, Keimzellen zu bilden, oder mit anderen Worten: nur sie enthielten das dazu unumgängliche Keimplasma. Mit Hilfe von Fig. 94 und 95 glaube ich Ihnen die Sache in aller Kürze klar machen zu können. Bei den Hydroidpolypen und ihren Medusen entstehen die Keimzellen stets im Ektoderm; bei Arten. welche durch Knospung Me- dusen als Geschlechtstiere hervorbringen, entstehen sie im Ektoderm des Magenstiels dieser Meduse (Fig. 94, 47, Az). Nun sind aber bei vielen Arten diese (Geschlechtstiere zu sog. (onophoren rückgebildet worden im Laufe der Phylogenese, d. h. zu Medusen, welche zwar noch mehr oder minder vollständige Glocken besitzen. aber weder Mund (>) noch Randtentakel (7°). und welche sich auch nicht mehr vom Stock loslösen. von dem sie durch Knospung entstanden sind, um frei umher- zuschwimmen, sich selbständig zu ernähren und Geschlechtszellen hervor- und zur Reife zu bringen. Solche rückgebildete Medusen bleiben viel- mehr am Stock sitzen. um, von ihm ernährt, die Keimzellen in sich reifen zu lassen. Oft geht die Rückbildung bei derartigen „(Grono- phoren“ noch weiter; bei vielen ist die Medusenglocke nur noch durch drei dünne Zellenlagen vertreten, und bei einigen fehlt selbst dieses Zeugnis ihrer Abstammung von Medusen, und sie stellen nur noch einen einschichtigen geschlossenen Brutsack dar (Fig. 91, gr). Nun ist aber durch das Sitzenbleiben der (reschlechtstiere am Stock die Möglichkeit einer rascheren Reifung der Keimzellen gegeben, und die Natur hat von dieser Möglichkeit in allen mir bekannten Fällen derart Gebrauch gemacht, daß sie die Keimzellen nun nicht erst in dem Magenstiel der reifen rückgebildeten Meduse, also des (ronophors entstehen läßt, sondern schon früher, d. h. ehe noch die Knospe, welche zum Gonophor werden wird, einen Magenstiel besitzt; sie ver- schiebt also die Keimstätte aus dem Magenstiel der Meduse in die junge Gonophorenknospe (Fig. 94, (PA. Az). Derartiges findet sich schon bei Arten, bei denen die Medusen sich zwar loslösen, aber nur kurz leben, z. B. bei der Gattung Podocoryne, obgleich bei dieser noch vollkommene Medusen gebildet werden, aber solche, die bei ihrer Loslösung vom Stock sehon ihre Keimzellen ausgebildet in sich tragen. Bei Arten aber, deren Medusen sich wirklich rückgebildet haben und sich nieht mehr loslösen, rückt dann die Keimstätte noch weiter zurück, und zwar zunächst in den Stiel ($/ 42”) des Po- Iypen, von welchem das Gonophor hervorknospt. So verhält es sich z. B. bei der Gattung Hydractinia. Bei noch weiterem Fortgang des Prozesses rückt die Keimstätte sogar bis in den Ast zurück, von welchem dieser Polyp hervorgewachsen ist (Fig. 94, 1, #2”), und zuletzt, bei gänzlichem Herabsinken der Meduse zum bloßen Brutsack (Fig. 99, Gph) sogar bis in die nächstältere Polypengeneration, also in das Polypenstämmehen, in welchem der Ast entspringt, welcher den den Brutsack hervorbringenden Polypen dureh Knospung aus sich entstehen ließ (Fig. 95, 42’”). Dann finden wir die Keimstätte noch weiter zurück- Weismann, Deszendenztheorie. 1. 2. Aufl. 2 A 338 Die Keimplasmatheorie. geschoben (Fig. 95, #2”), die Ei- und Samenzellen entstehen schon im Stamm des Hauptpolypen (Hauptastes des Stöckchens). Der Vorteil dieser Einrichtung ist leicht einzusehen, denn der Hauptpolyp ist früher vorhanden, als sein Nebenastpolyp, und dieser früher, als der die Ge- schlechtsknospen liefernde Polyp, schließlich dieser wiederum früher, als die von ihm erst durch Knospung sich bildende Geschlechtsknospe selbst. Also bedeutet diese Verschiebung der Keimstätte eine Fig. 95. Schema für die Wanderung der Keimzellen von ihrer weit zurückverlegten Keimstätte an ihre ursprüngliche Keimstätte im Gonophor, in welchem sie znr Reife gelangen. Die Verhältnisse bei Eudendrium sind zugrunde gelegt. Z/? Hauptpolyp, Sta Stamm desselben, 4 Ast des Polypenstöckchens, S? Seitenpolyp, @24 völlig zum bloßen Gonophor rückgebildete Meduse; @% Gastralhöhle, s? Stützlamelle. Die Keimstätte liegt im Stamm des Hauptpolypen bei #2”, von wo die Keimzellen zu- nächst in das Entoderm des Astes (4) wandern (#2), in welchem fortkriechend sie in den Seitenpolypen (Blastostyl) gelangen (#2), um zuletzt in das Gonophor ein- zutreten und nun wieder ins Ektoderm überzutreten. Nach meinem Entwurf des Herın Dr. PETRUNKEWITSCH gezeichnet. immer frühere Anlage der Keimzellen, folglich auch eine frühere Reifung derselben. Nun reifen aber alle diese Keimzellen niemals an ihrer mehr oder weniger weit zurückgeschobenen Keimstätte. sondern sie wandern selb- ständig von dieser nach dem Ort hin, an welchem sie ursprünglich ent- standen, nämlich in den Magenstiel der Meduse, der ja auch bei starker Rückbildung derselben noch vorhanden zu sein pflegt, oder aber — in den extremsten Fällen von Rückbildung — in das Ektoderm des Brut- Die Keimzellen. 339 sacks. So verhält es sich bei der Gattung Eudendrium, von welcher Fig. 95 ein schematisches Bild gibt. Das Interessante bei diesen Wanderungen der Keimzellen liegt nun darin, daß die Zellen zwar regelmäßig im Ektoderm entstehen (#2), aber bald durch die Stützlamelle (s/) hindurch in das Entoderm sich eindrängen (#7), um dann in diesem bis zu ihrer Reifungsstätte hinzukriechen. Dort angelangt, brechen sie wieder in die äußere Zellen- schicht, das Ektoderm durch (%z) und reifen heran (Zr). Der Grund, der sie veranlaßt, den ganzen Weg dorthin im Entoderm zurückzulegen, liegt wohl darin, daß sie dort in unmittelbarer Nähe des Nahrungs- stromes sich befinden, der den Stock durchfließt (GZ/ — Gastralhöhle), daß sie also dort viel besser ernährt werden, als im Ektoderm. Trotz- dem sich dies aber so verhält, entstehen sie doch niemals im- Entoderm; die Keimstätte findet sich in keinem einzigen Fall im Entoderm, vielmehr immer im Ektoderm, mag sie noch so weit zurückgeschoben sein. Selbst wenn die Keimzellen unmittelbar nach ihrem ersten gerade erkennbaren Auftreten schon ins Entoderm über- siedeln, entstehen sie doch immer im Ektoderm, wie z. B. bei Podo- coryne und Hydractinia. Es verhält sich also ganz so, wie es sich ver- halten müßte, wenn unsere Voraussetzung richtig wäre, daß nur bestimmte Zellfolgen, hier also die Ektodermzellen volles Keimplasma in inaktivem Zustand enthalten. Wäre auch in den Entodermzellen volles Keimplasma enthalten, so ließe sich nicht verstehen, warum niemals die Keimzellen aus ihnen hervorgehen, die doch durch ihre Lage viel bessere Bedingungen für die Weiterentwicklung bieten, als die Ektodermzellen, und warum der umständliche Weg der Einwanderung der jungen Keimzellen ins Entoderm gewählt wurde. Es muß den Entodermzellen etwas fehlen, was notwendig ist, um eine Zelle zur Keimzelle zu machen: Keim- plasma. Nehmen wir die Lehre von der Kontinuität des Keimplasmas als in der Hauptsache richtig an, so erscheint uns das höhere Tier oder die Pflanze aus zweierlei Bausteinen gebildet. aus den Körperzellen und den Keimzellen; beide verdanken ihr Wesen dem Keimplasma der Eizelle, aber die ersteren enthalten dasselbe nicht voll. sondern nur in einzelnen Determinanten*), und können deshalb nie wieder Keimzellen aus sich hervorgehen lassen, die anderen enthalten das gebundene Keim- plasma, können nicht nur ihresgleichen eine gewisse Zeit lang durch Teilung bilden, sondern sind auch befähigt, wenn ihre Reife eingetreten, und die sonstigen dazu nötigen Bedingungen erfüllt sind, aus sich heraus wieder ein vollständiges neues Individuum der betreffenden Art zu bilden; die ersteren haben nur eine begrenzte Dauer, sie sterben und müssen sterben, wenn die Lebenszeit des Individuums, dem sie an- gehören, abgelaufen ist. die letzteren sind der Möglichkeit nach unsterb- lich, wie die Einzelligen, d. h. sie können, falls ihnen die Umstände ‘günstig sind, wieder die Keimzellen eines neuen Individuums aus sich hervorgehen lassen, und so fort in alle Zukunft, soweit wir sehen. Das Keimplasma einer Art wird also nie neu erzeugt, sondern es wächst und vermehrt sich nur unaufhörlich, es zieht sich fort von einer (rene- ration zur anderen, wie eine lange in der Erde fortkriechende Wurzel, *) Es wird sich später zeigen, daß es davon Ausnahmen gibt, indem unter Umständen auch Körperzellen Keimplasma in inaktivem Zustand vom Ei beigegeben sein kann. a 340 Die Keimplasmatheorie. von der in regelmäßigen Abständen Sprosse emportreiben und zu Pflänz- chen werden, zu den Individuen der aufeinander folgenden Generationen. Sieht man die Verhältnisse nur von Seite der Fortpflanzung an, so er- scheinen die Keimzellen als das Wichtigste an dem Individuum, denn sie allein erhalten die Art, und der Körper sinkt fast zu einer bloßen Pflegestätte der Keimzellen herab, einem Ort, an dem sie sich bilden, unter günstigen Bedingungen ernähren, vermehren und zur Reife ge- langen. Aber man kann die Sache auch umgekehrt auffassen, und die unendliche Wurzel des Keimplasmas mit seinen immer wieder aufs neue zu Individuen werdenden Keimzellen als das Mittel betrachten, durch welches allein der Natur die Aufgabe gelingen konnte, vielzellige Organismen zu schaften, Individuen von hoher und höchster Differen- zierung und Leistungsfähigkeit, und geeignet zur Anpassung an alle möglichen Lebensbedingungen, also zur Ausnutzung aller sich darbietenden Lebensmöglichkeiten. VORTRÄGE ÜBER DESZENDENZTHEORIE GEHALTEN AN DER UNIVERSITÄT ZU FREIBURG IM BREISGAU VON AUGUST WEISMANN. MIT 3 FARBIGEN TAFELN UND 131 TEXTFIGUREN. ZWEITE VERBESSERTE AUFLAGE. Fr sy WEITER BAND. == VERLAG VON GUSTAV FISCHER IN JENA 1904. 7 +J7 PRERSSRING: IR - A ER PR Y j R- (pe, x ua © 5 } - [L FE B 3 en ee » ? g r Ri = ö Pe * he + R e f 21 « _ - i I R 1 re ! SE. Eu“ . = a 2 | an Er, } P . =. [3 m [3 ud w 5 e i > = - E Ä E f f * e ie N In NF ! * + r Ey .$ \ E y & [ Y j F " E vi 'c > r Fu) .* DE een PEN! . Inhaltsübersicht des zweiten Bandes. XX. Vortrag. Seite a a ei een 1 Knospung und Teilung. Regeneration keine primäre Eigenschaft, son- dern Anpassung an äußere Lebensbedingungen. Abhängigkeit der Höhe der Regenerationskraft von der Verletzungs-Wahrscheinlichkeit. Ver- schiedenheit des Regenerationsvermögens je nach der Art der Verletz- barkeit des betreffenden Teils. Schwinden des Regenerationsvermögens im Laufe der Phylogenese. Autotomie bei Krebsen, Insekten u. s. w. Regeneration von Teilen, die scheinbar im Naturzustand nicht verletzbar sind. XXI. Vortrag. en Rörtsetzung . „u. mn ann nenn 20 Phyletische Entstehung des Regenerationsvermögens. Auslösung des- selben. Atavistische Regeneration; progressive Regeneration. Das Regenerationsvermögen in der Kernsubstanz wurzelnd. Beziehungen zwischen Knospung und Regeneration. Vitale Affinitäten. XXII. Vortrag. Anteil der Eltern am Aufbau des Kindes Die Ide sind „Ahnenplasmen“. Die Reduktionsteilung bedingt Un- gleichheit des Keimplasmas in den Keimzellen desselben Individuums. Das Kind ist mit der Befruchtung in allen seinen Teilen bestimmt; iden- tische Zwillinge. Ungleicher Anteil der elterlichen Ide an der Bestim- mung des Kindes. Überwiegen des einen Elters im Bilde des Kindes. Kampf der Biophoren. Vorausbestimmtheit des Wechsels der Erbnachfolge in den Teilen des Kindes. Rückschlag. Neue Erfahrungen an Pflanzen- mischlingen. Xenien. SU IV XXIII. Vortrag Prüfung der Hypothese einer Vererbung funktioneller El ee Me Pe 1 Er ; 7; Darwıns Pangenesis. Vermeintliche Beweise für funktionelle Ver- erbung; Verstümmelungen, künstliche Epilepsie. Infektion des Keims, Pebrine, Syphilis, Trunksucht. Gibt es Tatsachen, welche die Vererbung funktioneller Abänderungen fordern? Entstehung der Instinkte, Neubil- dung solcher unter Domestikation. Die nur einmal im Leben ausge- übten Instinkte. Die passiv wirksamen Charaktere. IV Inhaltsübersicht. Seite XXIV. Vortrag Einwürfe gegen die Nichtvererbung funktioneller Ab- änderungen... m. 1 2 m Coadaptation oder harmonische Anpassung. Sie kommt auch bei passiven Teilen vor; Beispiele. Harmonische Anpassungen bei sterilen Tierformen, den Arbeiterinnen von Bienen und Ameisen. Verkümmern ihrer Flügel und Ovarien. Die Qualität der Nahrung wirkt als auslösender Reiz. Mischformen zwischen Weibchen und Arbeiterinnen. Zusatz: ZEHNDERsS Ansichten; 0. HERTWIGs Deutung der Riein- versuche von EHRLICH; HERINGs Verteidigung der Vererbung funktio- neller Abänderungen. XXV. Vortrag. Germinalselektion. .'... 2... 2.0.2.0 Panmixie. Übertragung des Selektionsprinzips auf das Determinanten- system des Keimplasmas. Schwinden funktionsloser Teile. Variations- bewegungen in aufsteigender Richtung. Einfluß der Vielheit der Ide und der geschlechtlichen Fortpflanzung. Wirkungssphäre der Germinal- selektion. Selbstregulierung des stabil gewordenen Keimplasmas. Exzessive Variationsbewegungen. Ursprung sekundärer Geschlechtscharaktere. Be- deutung rein „morphologischer“ Merkmale. XXVl. Vortrag. Germinalselektion,. Fortsetzung ... .. 1. Se Er Spontane und induzierte Germinalselektion. Sprungweise Variationen. Erklärung verschiedener Erscheinungen durch spontane Germinalselektion: Rassenbildung, Verkümmerungen bei Domestikation oder beim Menschen mit der Zunahme der Kultur, Bildung von Talenten. Letzte Wurzel erb- licher Variation: Plus- und Minusschwankungen der Determinanten. Das Kräftespiel im Determinantensystem. XXVIlI. Vortrag. Biogenetisches Gesetz . 2.0 mV. 2 VI Re Historisches. Entwicklung des Gedankens an der Ontogenese der Kruster. HAECKELS Palingenese und Cenogenese. Berechtigung von Schlüssen aus der Ontogenese auf die Phylogenese; Beispiele dafür: die Ammoniten und die Zeichnung der Schwärmerraupen. Verdichtung der ÖOntogenese zur Phylogenese; gesetzmäßiges Schwinden der nutzlosen Teile dabei. Keim- plasmatische Korrelationen. XXVMl. Vortrag. Allgemeine Bedeutung der Amphimixis".. 2 re Doppelte Wirkung der Amphimixis; doppelte Wurzel der individuellen Variation: Germinalselektion und Neukombinierung der Ide. Harmonische Anpassung bedingt Amphimixis. Befestigung der Einrichtung der Am- phimixis im Lauf der Artenfolgen; Konstanzgrad eines Charakters bedingt durch seine Dauer; Charaktere einer Art verschieden variabel; Amphi- mixis sehr alt, deshalb sehr fest; bewirkt sie Ausgleichung ? Häufigkeits- kurve und Abänderungsspielraum. XXIX. Vortrag. Allgemeine Bedeutung der Amphimixis, Fortsetzung. . 1 —1 (er) Ursprung der Amphimixis, ihre Formen bei niedersten Einzelligen ; Vorstufen derselben; ihr unmittelbarer Nutzen: Verstärkung des An- passungsvermögens, der Assimilationskraft. Vorteile der vollen Amphi- mixis. Das Streben, die Mischung naher Verwandten zu verhindern. Inhaltsübersicht. V Seite Amphimixis kein „formativer“ Reiz. Wirkungen der Inzucht im Vergleich mit denen der Parthenogenese. Korrektion der fakultativen Partheno- genese der Biene. XXX. Vortrag. Inzueht, Parthenogenese und asexuelle Fortpflanzung und ihr Einfluß auf das Keimplasma . . , 200 Trennung der Geschlechter, Zwittertum und ihre Ursachen. Wechsel von Selbst- und Kreuzbefruchtung (Rankenfüßer). Vorteile der Partheno- genese, Wechsel mit zweigeschlechtlichen Generationen (Gallwespen, Blatt- läuse, Reblaus). Sicherung der Fremdkreuzung bei Pflanzen und Ab- weichungen davon. Kann fortgesetzte Inzucht ohne Schädigung der Art bestehen? Wirkungen reiner Inzucht, Parthenogenese oder asexueller Fortpflanzung auf die Zusammensetzung des Keimplasmas. XXXlI. Vortrag. ID IX w- Mediumeinflüsse Ineinandergreifen der verschiedenen Stufen der Selektionsvorgänge. Veränderungen durch direkte Wirkung von Mediumseinflüssen. UÜberfluß oder Mangel. Klimaeinflüsse. Gifte (die Pflanzengallen). Klimaformen bei Schmetterlingen. Kälteaberrationen der Taefalter. Einfluß des Lichtes auf die Blütenform. Primäre und sekundäre Reaktionen des Organismus; Heliotropismus u. s. w., HERBSTsS Lithionlarven u. s. w., fakultative Farbenanpassungen. XXXIl. Vortrag. Bender Isolierung . : „u... 2.0000. 285 Begriff der Isolierung relativ: Reichtum isolierter Gebiete an ende- mischen Arten. Ursachen desselben. Ist Artbildung bedingt durch Iso- lierung? Entstehung durch bloße Kreuzungsverhinderung. Mitspielen von Konstanz- und Variationsperioden der Arten. Germinalselektion kann die Wirkung der Isolierung steigern, ebenso sexuelle Selektion, schließlich auch Naturzüchtung (Personalselektion). XXXIll. Vortrag. es Artbildes. - . . » 2. 2 2 a 020. 281 Räumliche Artübergänge, die Celebesschnecken. Zeitliche Art- übergänge, die Steinheimer Schnecken. Die Art ein Anpassungskomplex. Ausschließung einer inneren Umwandlungskraft illustriert durch das Bei- spiel der Wale und Vögel. Zusatz: Die Mutationstheorie von DE VRIES. XXXIV. Vortrag. Entstehung des Artbildes, Fortsetzung . . .» 2.2... 27 Ein Vergleich. Versöhnung der Grundansichten Darwıns und NÄGELIS. Zustandekommen eines Artbildes durch verschiedene Faktoren, durch kli- matische Variation (Germinalselektion), durch Naturzüchtung. Gerade Bahnen der phyletischen Entwicklung. Förderung der Formenabgrenzung durch geschlechtliche Fortpflanzung, durch Isolierung. Dauer der Konstanzperioden. Allmähliche Steigerung der Konstanz. Physiolo- gische Trennung der Arten durch gegenseitige Sterilität; „physiologische“ Selektion von ROMANES nicht haltbar; Wechselsterilität keine Bedingung der Artenspaltung. Inhaltsübersicht. Seite XXXV. Vortrag. Artenentstehung und Artentod "2. 1.2 Ve Er Anpassung beruht nicht auf Zufall, sondern auf Notwendigkeit; alle Veränderungen in letzter Instanz durch Selektion geleitet. Einfluß rela- tiver Isoliertheit bei Vermischungsfreiheit. Einfluß der Bastardierung. Untergang der Arten; es gibt keinen physiologischen Artentod. Ungleiche Dauer der Arten. Aussterben der Arten durch exzessives Variieren ? Untergang durch raschen Wechsel der Lebensbedingungen. XXXVl. Vortrag. Urzeugung und Entwicklung; Schluß”. 2 NEE Das Problem der Urzeugung. Erfahrungen über sie sind unmöglich. Chemische Postulate für dieselbe; sie ist ein logisches Postulat. Die ersten Organismen waren „Biophoriden“. Steigerung derselben durch Association und Differenzierung unter der Leitung der vier Hauptstufen der Selektion. Alles beruht auf Selektion, Aufwärts- wie Abwärtsentwicklung. Prädeter- minierung der irdischen Lebewelt? Zufälligkeiten der irdischen Lebens- entwicklung. Bestimmt gerichtete Variation im Sinn NÄGELIS und dem meinigen. Stammbäume. Grenzen der Erkenntnis. Schluß. EEE ee ee XX. VORTRAG. Regeneration. Knospung und Teilung p. 1, Vorläufig ist jede Theorie der Regeneration noch eine bloße „Koffertheorie‘“ p. 3, Regeneration keine primäre Eigenschaft, Volvox p. 3, Hydra p. 4, Vitale Affinitäten p. 5, Planarien p. 6, Heteromorphosen p. 6, Feinde der Polypenstöckchen p. 7, Regenerationen bei Pflanzen p. 8, bei Amphibien p. S, bei Regenwürmern p. 9, Verschiedene Höhe des Regenerationsvermögens je nach der Verletzbarkeit des Teils p. 10, Längshalbierung von verschiedenem Effekt bei Regen- würmern und Planarien p. 11, Vögel p. 12, Schwund des Regenerationsvermögens sehr langsam p. 13, MORGANSs Versuche an Einsiedlerkrebsen p. 13, Autotomie bei Krebsen und Insekten p. 14, Regeneration der Tritonlinse p. 16. Meine Herren! Wir haben uns die Übertragung der Erbmasse von einer Generation auf die andere durch eine Kontinuität des Keim- plasmas zu erklären gesucht, indem wir annahmen, daß die Keimzellen immer nur aus Zellen der „Keimbahn* hervorgingen, d.h. aus Zellen, welche schon von der befruchteten Eizelle her mit einer Dosis schlummernden Keimplasmas bedacht, und eben dadurch in den Stand gesetzt sind, zu Keimzellen zu werden und später zu neuen Individuen, welche die ererbte Anlagemasse des Keimplasmas wieder zur Entfaltung bringen können. Wir haben jetzt noch andere Fälle von Vererbung in bezug auf denselben Punkt, die Herkunft der Erbmasse, ins Auge zu fassen. Zunächst wissen wir, daß neue Individuen nicht bloß aus Keim- zellen ihren Ursprung nehmen, sondern daß bei zahlreichen niederen Tieren, wie bei den Pflanzen solche auch auf dem Wege der Knospung oder Teilung entstehen. Für beide Fälle wird die Keimplasmatheorie mit derselben nur etwas modifizierten Annahme ausreichen, die wir schon für die Bildung der Keimzellen gemacht haben. Die Entstehung eines neuen Indivi- duums durch Knospung scheint zwar oft von beliebigen Körper- zellen des Muttertiers auszugehen. allein somatische Zellen, wenn sie lediglich die sie selbst bestimmenden Determinanten enthalten, können unmöglich einem ganzen neuen Individuum den Ursprung geben, da dies die Anwesenheit aller Determinanten der Art voraussetzt. Da nun Determinanten nicht neu entstehen können, so werden Knospungs- zellen außer den sie für gewöhnlich bestimmenden somatischen Deter- minanten noch ein in gebundenem inaktiven Zustand befindliches Idio- plasma enthalten müssen, welches erst unter gewissen äußeren oder inneren Einflüssen aktiv wird und dann zur Bildung einer Knospe Ver- anlassung gibt. Die Quelle dieses Nebenidioplasmas kann auch hier nur die Eizelle sein. Weismann, Deszendenztheorie. II. 2. Aufl. | > Reeeneration. Bei den Pflanzen muß dieses Knospenidioplasma volles Keim- plasma sein, weil hier die Knospung nur von einer Art von Zellen ausgeht, den Kambiumzellen, bei Tieren jedoch, bei welchen sie — wie es scheint — immer von mindestens zwei differenten Zellenarten aus- geht, den Zellen des Ektoderms und des Entoderms, wird die Sache verwickelter. Hier werden diese beiden Zellenarten verschiedene, sich zu vollem Keimplasma gegenseitig ergänzende Determinantengruppen als Knospenidioplasma enthalten, welche erst durch ihr Zusammenwirken die Bildung eines Knospenindividuums hervorrufen. Ich will indessen auf diese Verhältnisse nicht im einzelnen eingehen, da die Theorie hier nichts weiter zu tun vermag, als das Beobachtete in eine Form zu bringen, kaum aber imstande ist, die Tatsache selbst besser verstehen zu lehren. Nieht sehr viel günstiger steht es mit den Vorgängen, welche zum Wiederersatz verloren gegangener Teile führen. Auch die vielgestaltigen Erscheinungen der Regeneration lassen sich mit der Theorie in Einklang setzen, indem wir denjenigen Zellen, von welchen die Wieder- herstellung oder gänzliche Neubildung des verloren gegangenen Teils ausgeht, ein „Nebenidioplasma* zuerteilen, welches zum mindesten die- jenigen Determinanten enthält, welche zum Wiederaufbau des verlorenen Teils unerläßlich sind. Möglicherweise enthält es aber häufig einen weit größeren Komplex von Determinanten, und es hängt von auslösenden Reizen ab, welche und wie viele derselben aktiv werden. Überblieken wir die Erscheinungen der Regeneration im Tierreich, so fällt vor allem auf, wie verschieden dieses Vermögen bei verschie- denen Arten ist, außerordentlich hoch bei den einen, sehr gering bei den anderen. Im allgemeinen ist es bei niederen Tieren höher als bei höheren, aber dennoch kann die Höhe der Differenzierung nicht das einzige sein, was die Kraft der Regeneration bestimmt. Daß die Einzelligen ver- loren gegangene Teile vollständig wieder ersetzen, ja dab aus jedem Stück eines Infusoriums, wenn es nur einen Teil von Kern enthält, das ganze Tier sich wieder herausbildet, sahen wir schon früher. als von der Bedeutung der Kernsubstanz die Rede war. Hier muß der Kern also volles Keimplasma enthalten, d. h. sämtliche Determinanten der Art, und diese rufen, wenn freilich auch auf eine uns noch gänzlich dunkle Art, die Neubildung der verlorenen Teile hervor. Weiter reicht für jetzt unsere Erklärung nicht, weder hier, noch auf irgend einem anderen Gebiete der Lebenserscheinungen. Weitergehen hiebe nahezu ebenso- viel, als das Leben selbst kausal erklären, d. h. verstehen zu können, und dies erst wäre eine vollständige und wirkliche „Erklärung“. Bis heute nun ist noch niemand dazu imstande gewesen. Wir sehen wohl die verschiedenen Zustände, welche jedes Bion durchläuft, auseinander hervorgehen, wir können sogar bis zur Aufeinanderfolge jener feinen und erstaunlich komplizierten Vorgänge hinabdringen, die die Kern- und Zellteilung bewirken, aber wir sind weit entfernt davon, aus dem augenblicklichen Zustand einer Zelle oder eines Kerns anders als empi- risch den folgenden abzuleiten, d. h. ihn als notwendig zu begreifen, so daß wir ihn vorher sagen können. Wie ein Biophor dazu kommt, die Erscheinungen des Lebens an sich zu entwickeln, ist uns gänzlich unbekannt, wir kennen nicht das Aufeinanderwirken der letzten mate- riellen Teilchen, noch die Kräfte, welche da tätig sind, wir können nicht sagen, was die Scharen verschiedenartiger Biophoren bewegt, sich in bestimmter Ordnung aneinander zu reihen, welche molekulare Verschie- bungen und Veränderungen daraus hervorgehen, wie die Außenwelt ein- 2 Regeneration. 3 wirkt usw. — wir sehen nur das sichtbare Endresultat einer unend- lichen Menge unsichtbarer Bewegungen: Wachstum, Teilung, Vermehrung, Neubildung, Differenzierung. Solange wir noch soweit von dem Verständnis des Lebens ent- fernt sind, ist jede Theorie der Regeneration nicht mehr, als eine „Koffertheorie“, wie DELAGE sich einmal in bezug auf die zanze Vererbungstheorie ausdrückt, d. h. eine Theorie, die ähnlich einem Koffer nur soviel aus ihr zu nehmen gestattet, als man vorher in sie hinein- gelegt hatte. Man will eine Erscheinung, z. B. die Neubildung des ver- loren gegangenen Wimperkranzes eines Stentor erklären, und man stattet seinen Koffer, in diesem Falle den Kern des Infusoriums, mit Deter- minanten des Wimperfeldes aus, läßt sie durch den Reiz der Verletzung ausgelöst werden, und durch unbekannte Kräfte an die richtige Stelle befördert und geordnet, in unbekannter Weise ein neues Wimperfeld herstellen. Niemand kann sich darüber klarer sein, als ich selbst, daß dies keine erschöpfende kausale Erklärung des Vorganges selbst ist. Dennoch ist auch sie nicht ganz wertlos, insofern sie uns doch wenigstens erlaubt, das Tatsächliche — hier also die Abhängigkeit des Regene- rationsvermögens von der Anwesenheit von Kernsubstanz — in eine Formel zu bringen, mit der man vorläufig operieren, d. h. mit der man neue Fragen stellen kann. Sobald wir weiter nach oben in der Organi- sationsreihe gehen, gewinnt die Theorie größeren Wert, denn indem wir einstweilen ganz absehen von einer Beantwortung jener letzten Fragen, also für jetzt darauf verzichten, herauszubekommen, wie die Determi- nanten es anfangen, die Teile ins Leben zu rufen, welche sie bestimmen, stellen sich uns andere, gewissermaßen Präliminarfragen entgegen, die wir lösen können, und deren Lösung mir wenigstens nicht so ganz wertlos erscheint. Die erste dieser Fragen lautet: ist das Regenerationsver- mögen eine fundamentale, primäre Eigenschaft jedes Lebe- wesens in dem Sinn, dab sie überall und in gleicher Stärke vorhanden ist, unabhängig von den äußeren Bedingungen, gewissermaßen ein un- vermeidlicher Ausfluß der primären Eigenschaften der lebendigen Sub- stanz? oder ist sie eine Anpassungserscheinung, wenn auch eine in ihren Anfängen uralte, welche auf besonderem Mechanismus beruht, und nicht überall in gleicher Ausdehnung und Stärke hervortritt. Wir haben früher . schon Tatsachen kennen gelernt, welche uns der letzteren Auffassung geneigt machen müssen. Die kugeligen Algenkolonien von Volvox (Fig. 65) bestehen aus zweierlei Zellen, von welchen nur die einen, die Fortpflanzungszellen, die Fähigkeit besitzen, das Ganze wieder hervorzubringen, die anderen, die Geibel- oder, wie wir sie nannten, die somatischen Zellen können nur ihresgleichen er- zeugen, niemals aber das Ganze. Neue Untersuchungen, welche Herr Dr. Otto HÜBNeEr in meinem Institut durchgeführt hat, stellen diese Tatsache außer Zweifel. Wir werden daraus schließen dürfen, daß hier während der ÖOntogenese durch erbungleiche Zellteilung eine Zerlegung des Keimplasmas statt- gefunden hat, daß nur die Fortptlanzungszellen noch volles Keimplasma führen, die somatischen Zellen aber nur die zu ihrer eigenen spezifischen Differenzierung nötigen Determinanten, die somatischen. In diesem Falle deckt sich die Regeneration mit der Fortpflanzung, es gibt keine andere Regeneration, als die Entstehung eines neuen Indi- viduums aus einer Fortpflanzungszelle. 4 Regeneration. Steigen wir nun zu den niedersten Metazoen empor, etwa zum Süßwasserpolyp, der Hydra (Fig. 55 A), so stehen wir hier schon einem hohen Regenerationsvermögen im engeren Sinn gegenüber, denn außer dem Vermögen, Keimzellen hervorzubringen, d. h. Zellen, aus deren je zweien in Amphimixis sich verbindenden das ganze Tier wieder hervorgeht, kann fast jedes beliebige Stückchen des Polypen zu einem ganzen Tier wieder auswachsen. Man hat die Hydra nicht nur in zwei bis zwanzig Teile zerschnitten, sondern sie in eine unge- zählte Menge kleiner Stückchen zerhackt, und jedes dieser Stückchen vermochte sich unter günstigen Umständen wieder zum ganzen Tier auszugestalten. Dennoch darf man daraus nicht den Schluß ziehen, dab hier jede Zelle das Vermögen besitze, das Ganze hervorzubringen. Wenn man einen solchen Polypen mit Hülfe einer Schweinsborste um- krempelt wie einen Handschuhfinger, und ihn dann durch quer durch- gesteckte Borsten daran verhindert, sich wieder zurückzukrempeln, so bleibt er nicht lebendig, sondern stirbt ab, offenbar deshalb, weil die Zellen der beiden Körperschichten, des Ektoderms und des Entoderms sich nicht gegenseitig vertreten, und ebensowenig sich gegen- seitig hervorbringen können. Die innere, jetzt nach außen verlagerte Zellenschicht vermag nicht, dem Einfluß des Wassers zu widerstehen, und die äubere, jetzt nach innen gestülpte Zellenlage vermag nicht, die Verdauung zu besorgen, kurz, die eine kann sich nicht in die andere umwandeln, und wir werden daraus schließen, dab beide spezialisiert sind. daß sie nicht mehr volles Keimplasma enthalten, son- "ZI..ent Fig. 35 3 (wiederholt. Hydra viridis, der grüne Süßwasserpolyp. Schnitt durch die Leibeswand, etwa an der Stelle ov von 4. Eiz, die im Ektoderm (ec?) liegende Eizelle, in welche Zoochlorellen (zcA/) vom Entoderm (ei) aus durch die Stützlamelle (s/) hindurch einge- wandert sind. Nach HAMANN. dern nur spezifische Determinanten des Ektoderms, respektive des Entoderms. Die hohe Regenerationskraft des Tieres muß also darauf beruhen, daß gewissen Zellen des Ektoderms der volle Determinantenkomplex des Ektoderms als inaktives Nebenidioplasma beigegeben ist, welches durch den Reiz einer Verletzung zu regenerativer Tätigkeit angeregt wird, und daß andererseits die Zellen des Entoderms mit dem ganzen Determinantenkomplex des Entoderms ausgerüstet sind. Es kann dabei unentschieden bleiben, ob alle oder nur viele der Zellen, etwa nur die jugendlichen, auf Regeneration eingerichtet sind; jedenfalls müssen ihrer zahlreiche durch den ganzen Körper hin verteilt sein, vielleicht mit Ausnahme der Tentakeln, die allein für sich nicht imstande sind, das ganze Tier wieder hervorzubringen. Bei Verstümmelungen des - Süßwasserpolyp. 5 Tieres wirken dann die so ausgerüsteten Zellen beider Leibesschichten zusammen und stellen aus dem Teil das Ganze wieder her. Gewiß gelangen wir mit diesen Annahmen auch nur bis zur Pforte einer wirklichen Erklärung. Denn damit, daß alle Determinanten der Art vorhanden sind, ist noch nicht gezeigt, wie dieselben es anfangen, um das Tier in seiner Integrität wieder herzustellen, und wir können höchstens noch sagen, daß es von der spezifischen Art des Reizes, dem jede der Zellen durch ihre direkte und fernere Umgebung ausgesetzt ist, abhängen müsse, welche Determinanten zunächst bei ihr ausgelöst werden, welche Teile also von ihr aus neu sich bilden. Daß hier ordnende Kräfte tätig sind, wie wir sie schon für die Teilung und Regeneration der Einzelligen annehmen mußten, über deren Natur wir aber für jetzt noch nichts Genaueres aussagen können (nennen wir sie „Polaritäten“ oder wie ich vorziehen möchte „Affinitäten“) das zeigen viele der unzähligen Versuche, welche gerade mit dem Süß- 4 Jan. 11.Jan 17 Jan SFebr 19febr 13.Marz > Ic IRRE 3. Bee 13.Mörz #*.April Sad Fig. 96. Plenarie, durch (uerschnitte in neun Stücke zerschnitten, deren Re- generation zum ganzen Tier bei sieben Stücken verfolgt wurde. Nach MoRrGAaNn. wasserpolypen angestellt sind. So schnitt Raxp das Vorderende des Tieres mit dem Tentakelkranz ab, und nun verlängerte sich das abge- schnittene Scheibehen lebender Substanz derart in der (@uerrichtung, daß die Hälfte der Tentakel rechts, die andere links zu liegen kam; zwischen den beiden Tentakelgruppen aber streckte sich der Körper, so daß die beiden Gruppen immer mehr auseinander rückten, und daß schließlich die ursprüngliche Querachse des Tiers zur Längsachse wurde. Die eine Tentakelgruppe blieb bestehen, und umgab den neuen Mund, die andere am entgegengesetzten Pol, dem jetzigen Fuß des Tieres ge- legene starb ab. Diese totale Umgestaltung des Polypen in der Zu- sammenordnung seiner Hauptteile deutet auf unbekannte Kräfte hin, die nicht in den einzelnen Determinanten an und für sich schon, sondern in den vitalen Eigenschaften der lebenden Teile, in dem Aufeinander- wirken derselben ihren Grund haben müssen. 6 Regeneration. So steht es aber bei allen niederen Metazoen mit hohem Regene- rationsvermögen, nicht nur bei Polypen, sondern auch bei niederen Würmern, z. B. den Planarien. Durch die Versuche von LoEB, MORGAN, VOIGT, BICKFORD und anderen wissen wir, dab diese Tiere nahezu jede Verstümmelung mit vollständiger Widerherstellung beant- worten, dab man sie z. B., wie in Fig. 96 angedeutet ist, in neun Quer- stücke zerschneiden kann mit dem Erfolg, daß jedes dieser Stücke wieder zu einem ganzen Tier heranwächst, soweit nicht etwa die Ungunst der äußeren Einflüsse dies verhindert. Ähnliches geschieht, wenn man einem Tubulariapolypen den Kopf abschneidet, — es bildet sich ein neuer Kopf mit Rüssel und Fang- armen. So wenigstens, wenn der Stiel des Polypen in der normalen Lage belassen wird, steckt man ihn aber in umgekehrter Lage in den Sand, so entsteht an dem jetzt oberen Ende, an dem vorher Wurzelaus- läufer entsprangen, ein neues Köpfchen, während das frühere Kopfende nun Wurzeln treibt. Durch horizontales Aufhängen des kopflos ge- machten Stiels im Wasser kann man die Entstehung eines Köpfchens an beiden Enden des Stiels hervorrufen, so daß angenommen werden mub, jede Stelle des Polypen sei unter Umständen zur Bildung eines Köpfchens fähig, und es seien eben gerade die „Umstände“, hier also vielleicht die Schwerkraft, die Berührung mit der Erde oder dem Wasser, und gegenseitige Beeinflussung der Teile des Tiers aufeinander, welche darüber entscheiden, was entstehen soll. LoEB, der diese Art der Re- generation zuerst beobachtete, nannte sie Heteromorphose, um damit auszudrücken, dab bestimmte Teile des Tiers auch an ganz anderen Stellen hervorgerufen werden können, als an den ursprünglich für sie bestimmten. Man würde gewiß mit Unrecht diese Heteromorphosen gegen die Determinantenlehre ins Feld führen, aber freilich geben dieselben ihr auch keinen Anlaß, ihre Erklärungskraft besonders zu betätigen, denn sie kann hier wieder nur sagen, daß in allen, oder doch in zahlreichen Zellen des Tieres der volle Determinantenkomplex des Ektoderms, in anderen der des Entoderms euthalten sein muß, und daß davon be- stimmte Determinantengruppen aktiv werden, wenn gewisse äußere oder auch innere Reize auslösend einwirken. Solchen Tieren gegenüber leistet die Theorie kaum mehr als die entgegengesetzte Annahme, das Rege- nerationsvermögen sei eine allgemeine Eigenschaft der lebenden Sub- stanz, welche sich nur nicht überall mit gleichem Erfolg geltend machen könne, weil sie mit steigender Komplikation des Baues immer größeren Schwierigkeiten begegne. Die Leistungen der Theorie fangen erst da an, wo nachweislich nicht mehr jeder Teil jeden anderen her- vorbringen kann, wo das Regenerationsvermögen beschränkt ist, nur bestimmten Teilen in bestimmtem Maße zukommt, und nur von bestimmten Teilen auszugehen vermag. Hier versagt die Annahme einer allgemeinen und primären Regenerationskraft. Wer wie OÖ. HERTWIG darauf beharren will, daß das Idioplasma in allen Zellen des Körpers das gleiche sei, dem steht ja allerdings der Ausweg offen, daß in den Fällen, in welchen Regeneration nicht eintritt, die Schuld nicht am Regenerationsvermögen, sondern am Mangel der dasselbe auslösenden richtigen Reize läge, und auf den ersten Blick scheint es, als ob er aus dieser Position auch nicht zu vertreiben wäre. Wir werden aber Tatsachen kennen lernen, die diese Auslegung nicht gestatten. Verletzbarkeit der Regeneration. 7 Mir erscheint deshalb das Vermögen der Regeneration nicht als etwas Primäres, vielmehr als eine Anpassung an die Verletz- barkeit der Organismen, d. h. als ein Vermögen, welches den Or- ganismen in verschiedenem Maße zukommt, und zwar je nach dem Grade und der Häufigkeit ihrer Verletzbarkeit. Regeneration verhindert, daß verletzte Tiere zugrunde gehen oder nur verstümmelt weiterleben, und darin liegt ein Vorteil für die Erhaltung der Art. der um so größer ist, je häufiger Verletzungen bei der Art vorkommen, und je stärker sie direkt oder indirekt das Leben bedrohen. Allen Viel- zelligen, auch den höchsten unter ihnen ist deshalb ein gewisses Maß von Regenerationsvermögen unentbehrlich. Wir Menschen z. B. könnten den zahlreichen Gefahren der Infektion durch Bazillen und andere Mikro- organismen nicht entgehen, wenn die uns schützende äußere Haut nicht das Vermögen der Regeneration wenigstens insoweit besäße, um eine Wunde schließen, und ein herausgerissenes Hautstück durch Narben- gewebe ersetzen zu können. Offenbar muß also der Mechanismus, welcher die Regeneration hervorruft, auf jeder Stufe der phyletischen Entwicklung in irgend einem Grade und irgend welchen Teilen erhalten geblieben sein, und sich nur entsprechend dem Bedürfniß der be- treffenden Tierform erhöht oder verringert, auf bestimmte, der Ver- letzung stark ausgesetzte Teile konzentriert, von anderen, selten oder nie bedrohten zurückgezogen, und so die große Verschiedenheit in der Stärke und Lokalisierung (des Regenerationsvermögens hervorgerufen haben, welche wir heute beobachten. Dies alles aber kann nur als Anpassung aufgefaßt werden. Daß in der Tat das Vermögen der Regeneration keines- wegs ein gleichmäßiges ist. und daß es, soweit wir sehen, ent- sprechend dem Bedürfniß des Tieres zu- und abnimmt, sowohl in bezug auf das Ganze, wie auf die einzelnen Teile, möchte ich Ihnen an einigen Beispielen zeigen. Zunächst sei darauf hingewiesen, daß jene mit einem so hohen und allgemeinen Regenerationsvermögen ausgerüsteten niederen Meta- zoen, wie vor allem die Hydroidpolypen, auch wirklich dieses Ver- mögens zu ihrer Erhaltung bedürfen; sie sind nicht nur weich, leicht verletzbar und zerreißbar, sondern sie werden auch tatsächlich in einem sehr hohen Maß durch Feinde dezimiert. Im Anfang Mai fand ich an den Mauern des Hafens von Marseille ganze Wälder von Polypenstöck- chen der Gattungen Campanularia, Gonothyraea und Obelia, alle groß und prachtvoll entwickelt mit Tausenden von Einzelpolypen und Me- dusen, aber sehr bald schon waren die Polypen zum größten Teil ab- gefressen von kleinen Caprellen und anderen Krebsen, Würmern, Schnecken und zahlreichen anderen Feinden. und gegen Ende Mai war es nicht möglich, noch ein schönes, vollbesetztes Stöckchen zu finden. Da muß es denn doch von entscheidender Bedeutung für diese Arten sein, wenn die verschonten, weil von hornigen Röhren geschützten Stämme und Äste soleher Stöckehen das Vermögen besitzen, ihre einfachen Weich- teile in Polypenköpfehen umzuwandeln, oder Knospen zu|treiben, die sich zu Polypen gestalten, oder aus abgefressenen, losgebissenen und zu Boden gesunkenen Zweigstückehen wieder ein neues Stöckehen hervor- sprossen zu lassen. Wenn schließlich ein abgerissener Polypenstiel (von Tubularia), der in verkehrter Lage zu Boden sinkt, es vermag, Wurzel zu fassen mit seinem jetzt unteren Ende, und ein Polypen- köpfchen zu treiben an seinem jetzt oberen Ende, so wird uns auch fe) Regeneration. dies als zweckmäßig erscheinen, und wird uns insofern nicht über- raschen, als wir ja längst gewohnt sind zu sehen, daß das Zweckmäßige, wenn überhaupt möglich, auch Wirklichkeit wird. Denken Sie nur an alle die zahllosen Anpassungen in Farbe und Form, die wir in den ersten Vorträgen besprochen haben. Ich hoffe Ihnen noch später ein- gehender zeigen zu können, wie es kommt, daß «das Bedürfnis die An- passung hervorruft. In bezug auf den Fall der Polypen begreifen wir jedenfalls, dab so weit als das Vermögen hochgradigster Knospung und Regeneration bei diesen Tieren überhaupt möglich war, dasselbe auch sich ausbilden mußte. Regeneration und Knospung ergänzen sich hier, indem erstere für das Einzeltier, die „Person“ dasselbe leistet. was Knospung für den ganzen Stock, nämlich die restitutio in integrum. Man begreift, daß erstere unschwer einzurichten war, wo letztere, die Knospung ohnehin schon bestand. Um so auffälliger muß es erscheinen, wenn die höheren Pflan- zen, die doch alle auf Knospung beruhen, und die in demselben Sinn Ptlanzenstöcke (Cormen) sind, wie jene Polypen Tierstöcke, dennoch nur in geringem Maße das Vermögen der eigentlichen Regeneration besitzen, obgleich doch auch sie in hohem Grade verletzbar sind. Wir sehen daraus, daß die beiderlei Vermögen nicht zusammen- fallen, daß Keimplasma in zahlreichen Zellen des Körpers in inaktivem Zustand enthalten sein kann, und daß dennoch Regeration aller ein- zelner Defekte nicht möglich ist. So aber verhält es sich bei der höheren Pflanze in bezug auf die meisten Teile. Ein Blatt, in welches man ein Loch geschnitten hat, schließt sich nicht mit neuem Zellen- material zu, ein Farnwedel, dem man einen Teil seiner Fiederblättchen entfernt hat, treibt keine neuen, sondern bleibt verstümmelt, und selbst solche Blätter, welche auf feuchte Erde gelegt leicht Knospen zu ganzen neuen Pflänzchen hervorbringen, wie die von Begonien, ersetzen ein herausgeschnittenes Stück ihrer Blattspreite nicht wieder — sie sind also auf Regeneration durchaus nicht eingerichtet. Vom Nützlichkeitsstandpunkt läßt sich das leicht verstehen. Es war der Natur gewissermaßen nicht der Mühe wert, solche Einrich- tungen an Blättern oder an Blüten zu treffen, weil sie teils rasch ver- eängliche Gebilde sind, teils aber schnell und leicht durch neue Bil- dungen ihres Gleichen ersetzt werden können. Dazu kommt, daß ein Blatt trotz des Loches, das wir in dasselbe gemacht haben, ruhig weiter funktioniert, während ein Polyp, dem wir den Mund und die Tentakel wegschneiden, nicht imstande wäre, sich zu ernähren, wenn er nicht auf Regeneration eingerichtet wäre. Daß aber auch bei der Pflanze diese Einrichtung hätte getroffen werden können, beweisen die Wurzelspitzen, die sich wieder neu bilden, wenn sie verletzt worden waren, und die Schließung von Wunden des Stammes durch „Callus“. Ich werde noch einmal auf die Pflanzen zurückkommen, wenn es sich um den Mechanismus der Regeneration handelt, und wende mich zunächst wieder zu den Tieren, um an ihnen noch weiter zu unter- suchen, ob die Regenerationskraft in Abhängigkeit steht von der Höhe der Verletzungsgefahr, der das Tier ausgesetzt ist und von der biologischen Wichtigkeit des verletzten Teils, denn so muß es ja sein, falls Regeneration wirklich durch Anpassung geregelt wird. Von Wirbeltieren hat kaum eines eine solche Berühmtheit er- langt wegen seines hohen Regenerationsvermögens, als der Wasser- molch, die Arten der Gattung Triton. Sowohl der Schwanz als die Tun Pflanzen, Wirbeltiere. 9 Beine und ihre Teile wachsen wieder, wenn sie abgeschnitten werden. SPALLANZANI sah sechsmal die Beine wieder wachsen, nachdem er sie dem Tier sechsmal abgeschnitten hatte. Beim blinden Olm der Krainer Höhlen (Proteus), einem nahen Verwandten des Wassermolches rege- neriert sich das Bein erst nach 1'!/, Jahren. obwohl das Tier einer etwas niederen Organisationsstufe angehört als der Wassermolch, also eher leichter, als schwerer verlorene Teile wieder ersetzen sollte. Aber der Proteus lebt geschützt vor Gefahren in dunkeln und stillen Höhlen, während die Tritonen einer großen Zahl von Feinden ausgesetzt sind, die ihnen Stücke vom Schwanz oder von den Beinen abfressen: und die Beine sind bei ihnen die Hauptbewegungswerkzeuge, ohne die sie schwer ihre Nahrung erlangen könnten. Anders bei dem langge- streckten, aalförmigen Molch aus den Sümpfen Südkarolinas, dem Siren lacertina. Dieser bewegt sich durch Schlängelungen des sehr muskel- kräftigen Rumpfes nach Art eines Aales, und hat infolge des Nichtge- brauches der Hinterfüße diese bereits vollständig eingebüßt. Aber auch die Vorderbeine sind klein und schwach geworden, und besitzen nur noch zwei Zehen, und diese regenerieren sich nicht, wenn sie abge- bissen werden, oder doch nur sehr langsam. Die Regenwürmer sind vielen Verfolgungen ausgesetzt: nicht nur Vögel, wie die Amsel und manche Spechte, sondern vor allem auch die Maulwürfe stellen ihnen nach, und Dan hat gezeigt, daß diese sich im Winter ganze Vorräte von Würmern anlegen, die sie vorher durch einen Biß halb lahm gemacht haben, wie denn schon REAUMUR wußte, daß die Regenwürmer häufig nur halb von den Maulwürfen ge- fressen werden. Da war es offenbar von Wert für sie, wenn ein Stück wieder zum ganzen Tier auswachsen konnte, und dementsprechend finden wir denn auch ein ziemlich ausgebildetes Regenerationsvermögen bei ihnen. Doch ist dasselbe verschieden hoch bei verschiedenen Arten, und es wäre interessant, wenn wir die Lebensverhältnisse derselben genau genug kennten, um zu beurteilen, ob das Regenerationsvermögen bei ihnen parallel den Gefahren, denen die Art ausgesetzt ist, steigt und fällt. Leider sind wir davon aber noch weit entfernt, wir wissen nur, daß bei den eigentlichen Erdwürmern der Gattungen Lumbrieus und Allobophora das Vermögen der Regeneration noch ein beschränktes ist, so zwar, daß höchstens zwei ganze Würmer aus einem in zwei Stücke zerschnittenen Tier hervorgehen können, oft aber auch nur eines. Ein Zerschneiden in mehrere Stücke ergibt nicht etwa ebensoviele ganze Würmer, sondern meist nur einen oder auch gar keinen. Das entspricht dem Verhalten ihrer Feinde, die ihnen wohl einmal ein Stück abbeisen oder bei Fluchtversuchen abreißen werden, die sie aber nicht zerstückeln. Stärker ausgebildet ist das Regenerationsver- mögen schon bei der Gattung Allurus; noch stärker bei den im Schlamm von Seen lebenden Würmern der Gattung Criodrilus, und am höchsten bei der auch am Boden von kleinen Seen lebenden Gattung Lumbri- eulus. Diesen letzteren Wurm zerlegte schon BONXNET in 26 Stücke von etwa zwei Millimeter Länge, und sah danach die meisten derselben zu ganzen Würmern wieder herangewachsen. Seine Versuche sind in neuester Zeit öfters wiederholt und mannichfach variiert und präzisiert worden. von BüLow erzielte noch aus Stückchen von nur vier bis fünf Leibesringeln ganze Tiere, und bei solehen von acht bis neun Seg- menten gelang dies regelmäßig. Ein Lumbrieulus, den er in 14 Stücke 10 Regeneration zerschnitten hatte, von denen eines nur 3,5 mm Länge maß, gab 13 sanze Würmer mit Kopf und Schwanz, nur ein Stück ging zugrunde. Diese Würmer haben kleine Feinde mit scharfen Kiefern, die sie von vorne oder hinten her bloß anfressen, nicht ganz verschlingen. Schon LYoNET, der berühmte Zergliederer der Holzraupe, bemerkte, als er die Larven von Libellen mit solchen Würmern fütterte, daß „das Vorderteil von einigen denen die Larven (das Hinterteil weggefressen hatten, auf dem Boden fortlebte*“. Wir verstehen also, warum diesen Würmern ihre hohe Regenerationskraft von Nutzen ist, und zugleich auch. warum es bei ihnen vorteilhaft ist, daß sie sich schon auf schwache Reize hin im Stücke zerschnüren können, worauf ich noch zu- rückkomme. e Die so verschiedene Höhe des Regenerationsvermögens. bei Tieren derselben kleinen Gruppe, und nahezu oder ganz der gleichen Orga- nisationshöhe spricht wohl sehr dafür, daß es sich hier um Anpassung an verschiedene Lebensbedingungen handelt, wenn wir dies auch im Einzelnen nicht nachweisen können. Aber es wäre irrig, ihre Lebens- bedingungen für die gleichen zu nehmen, da sie nicht nur an ver- schiedenen Orten leben: in der Erde, im Schlamm oder im Wasser, und damit schon anderen Feinden ausgesetzt sind, sondern auch in Größe und Schnelligkeit, in Schutz- und vielleicht auch in Trutz- mitteln ganz verschieden sein können, und teilweise es auch nach- weisbar sind. Ganz dasselbe tritt uns in einer noch kleineren Gruppe von Würmern entgegen, bei RÖösEeL's „Wasserschlänglein“, den Nais- Arten. Auch sie verhalten sich inbezug auf Regeneration verschieden, denn während manche Arten, wie Nais proboseidea und Nais serpentina sich in zwei oder in drei Stücke zerschnitten zu zwei, resp. drei ganzen Tieren regenerieren, führt Bonner ausdrücklich eine unbenannte Nais- Art an, die das Zerschneiden nicht erträgt, ja die sogar stirbt, wenn man ihr nur den Kopf abschneidet. Also weder die Organisationshöhe noch die Verwandtschaft allein entscheidet über die Höhe der Regenerationskraft. Wie aber nahe verwandte Arten sich darin verschieden verhalten können, so auch die Teile ein und desselben Tieres, und auch hier scheint die Höhe der Regeneration zusammenzuhängen mit der häufigeren oder selteneren Verletzung des betreffenden Teils und mit seiner Wich- tigkeit für die Erhaltung‘ des Lebens. Auch davon seien einige Bei- spiele angeführt. Teile, die im natürlichen Leben der Art niemals verletzt werden, besitzen auch häufig keine Regenerationskraft. So die inneren Teile der sonst so regenerationskräftigen Wassersalamander. Ich schnitt Tieren in der Äther-Narkose die eine Lunge halb oder auch fast ganz weg: die Wunde schloß sich, aber eine Wiederherstellung des Organs trat nicht ein. Ebenso ging es, wenn ein Stück des Samen- leiters, oder des Eileiters wegenommen wurde. Wohl vergrößert sich die Niere auch höherer Tiere, wenn man ein Stück herausgeschnitten hat, indem die vorhandenen Gewebsteile sich vermehren, aber das ist nur ein physiologischer Ersatz, hervorgerufen durch den erhöhten funktionellen Reiz, wie er durch die Anhäufung von Harnbestandteilen im Blute gesetzt wird. Ein solcher Ersatz beruht einfach auf Wachs- tum schon vorhandener Teile, wie es auch eintritt, wenn beim Menschen die eine Niere ganz entfernt wird, wo ja bekanntlich die andere bis zu bei Ringelwürmern und Planarien. 11 doppelter Größe heranwachsen kann. Das ist bloße Hypertrophie des zurückgebliebenen Teiles, aber keine Regeneration in morphologischem Sinn, und nicht vergleichbar der Neubildung eines abgeschnittenen Beins beim Salamander, oder eines Kopfes beim Wurm, deren Wucherung nicht eine bloße Wucherung des zurückgebliebenen Stumpfes ist, sondern eine neue Formbildung. Regeneration würde es sein, wenn neue Nieren- kelche aus dem Rest des Nierengewebes gebildet würden, oder bei der Leber, wenn weggeschnittene Leberlappen wieder hervorwüchsen. Beides geschieht aber nicht, und soviel ich weiß, ist noch niemals etwas Der- artiges beobachtet worden, vielmehr nur Neubildung von Leberzellen durch Vermehrung der vorhandenen: das ist aber keine Regeneration im morphogenetischen Sinn. Ich erwähnte vorhin das geringe Regenerationsvermögen des blinden Olm (Proteus) inbezug auf Beine oder Schwanz, und brachte diese Tatsache in Verbindung mit dem Mangel an Feinden in dem nur schwach bevölkerten Höhlengebiet. Dasselbe Tier aber regeneriert abgeschnittene Kiemen, was wohl damit zusammenhängt, daß die Olme, ganz wie andere mit äußeren Kiemen versehene Molche sich öfters gegenseitig die Kiemen abfressen. So blieb die Regenerationskraft der Kiemen auch dann noch erhalten, als die Tiere bereits in das stille Krainer Höhlensystem eingewandert, und sonstigen Angreifern entrückt waren. Bei den Eidechsen ersetzt sich ein abgeschnittenes Bein nicht wieder, wohl aber ‚der abgeschnittene Schwanz, und dies hat seine ganz bestimmte biologische Ursache, indem das flinke Tierchen wohl selten von einem Verfolger an einem Fuß gepackt wird, wohl aber an dem weit nachschleppenden Schwanz. Fig. 97. Eine Planarie, die durch einen Längs- schnitt in zwei Stücke geteilt wurde, von welchen jedes sich wieder zum vollständigen Tier ergänzte; 2 die linke Hälfte im Beginn der Regeneration, C am Ende derselben; nach MOoRGAN. Deshalb ist dieser letztere nicht nur auf Regeneration eingerichtet, sondern auch auf „Autotomie“, d.h. auf leichtes Abbrechen, wenn er festgehalten wird. Wir sahen oben, daß die Ringelwürmer zum Teil eine sehr hohe Regenerationskraft besitzen; dennoch kann nicht jeder Teil jeden anderen hervorbringen, und während bei Lumbrieulus jedes Stückchen von nur fünf oder zehn Segmenten imstande ist, einen neuen Kopf und Schwanz hervorwachsen zu lassen, vermögen weder zehn noch zwanzig, noch alle Segmente zusammen, wenn man sie der Länge nach halbiert, die andere Hälfte wieder hervorzubringen. und die Ursache dieses Un- vermögens liegt nicht etwa darin, daß das Tier durch diese Art der Verstümmelung am Fressen verhindert wird, denn auch quere Teilstücke des Wurms fressen nicht eher wieder, als bis sie einen neuen Kopf und Schwanz gebildet haben. Der Grund muß darin liegen, dab die Anlagen zu dieser Art der Regeneration hier fehlen, und sie werden fehlen, weil eine Längsspaltung dieser walzigen, re- lativ dünnen und dazu sehr kontraktilen Tiere im Naturzu- 12 Regeneration. stand niemals vorkommt, also auch nicht von der Natur vorgesehen werden konnte *). Dab aber eine solche Regeneration hätte vorgesehen werden können. wenn sie nützlich gewesen wäre, das lehren die Planarien unter den Plattwürmern, bei welchen sich jedes gröbere oder auch recht kleine Stück des Körpers, stamme es aus der Mitte oder von der rechten oder linken Seite des Tiers, wieder zur ganzen Planarie auswächst. Man kann das Tier, wie in Fig. 97, der Länge nach hal- biern, und jede der Hälften ergänzt sich wieder zum Ganzen. Das begreift sich vom biologischen Standpunkt aus wiederum sehr wohl, denn die platten, weichen und leicht zerreißbaren Tiere sind eben allen möglichen Verletzungen ausgesetzt, und werden tatsächlich häufig von Feinden, die sie nicht gleich ganz verschlingen können, verstümmelt. VON GRAAFF traf nicht selten Exemplare von See-Planarien (Makrosto- mum) an, denen „ein Teil des Hinterendes oder der ganze Schwanz- teil bis an den Darm“ tehlte, und von Monotus-Arten kamen ihm im Mai „sehr oft“ Exemplare vor mit gespaltenem oder abgebissenem Hinterende. Wahrscheinlich sind es Krebs-Arten, welche diese Platt- würmer verfolgen, jedenfalls aber ist soviel bewiesen, daß dieselben reichlich Gelegenheit haben, von ihrem Regenerationsvermögen Gebrauch zu machen, und daß die Art Vorteil daraus zieht inbezug auf ihre Erhaltung. Im Gegensatz dazu besitzen die im Innern anderer Tiere leben- den, und deshalb vor Verstümmelungen meist geschützten Würmer aus der Ordnung der Rundwürmer (Nematoden), so viel bekannt, gar kein Regenerationsvermögen, und überleben weder eine Längs- noch eine (uerteilung. Die Vögel galten bis vor kurzem für Tiere von sehr geringer Regenerationskraft, und in der Tat können sie weder ein Bein, noch einen Flügel ganz oder teilweise wieder ersetzen: aber was bei höheren Wirbeltieren sonst ganz unerhört ist, sie können (den ganzen vorderen Teil des Gesichtsschädels, den Schnabel, wieder ergänzen, ja fast ganz neu bilden mit Knochen und Hornteilen. voN KENNEL teilte einen solchen Fall vom Storch mit, der längere Zeit ganz vereinzelt bieb, bis BORDAGE vor wenigen Jahren nachwies, daß bei den Hähnen, die auf der Insel Bourbon zu der dort beliebten Belustigung des Hahnenkampfes benutzt werden, der Schnabel sich regelmäßig wieder- herstellt, wenn er abbricht oder zersplittert. Nun teilt neuestens BARFURTH noch einen Fall von vollständigem Ersatz des abgebroche- nen Schnabels von einem Papagei mit. In Erstaunen kann es uns nicht setzen, daß gerade der Schnabel bei den Vögeln so hohe Regene- rationskraft besitzt, denn er ist von allen Teilen des Vogels derjenige, der am leichtesten einer Verletzung ausgesetzt ist; mit ihm wehrt sich der Vogel gegen Feinde und Rivalen, mit ihm überwältigt und zerhackt *) MORGAN erklärt diese Angabe für unrichtig, indem er mitteilt, daß Lumbri- eulus seitlich regenerieren könne. Sieht man aber näher zu, so sagt er nur, daß kleine Lücken, die man auf der einen Seite durch Herausschneiden hervorruft, sich wieder ausfüllen, während das herausgeschnittene Stück selbst zugrunde geht. Halbiert man das ganze Tier, so sterben nach MoRGAN beide Hälften ab, oder schneidet man ein „very long piece“ von der einen Seite ab, so stirbt nicht nur dieses, sondern auch „the remaining piece“ ab. Es besteht also, ganz wie ich sagte, ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Regenerationsvermögen von’ Lumbrieulus und Planaria. Schwund der Regenerationskraft. 13 er die Beute, mit ihm haut er Löcher in Bäume (Spechte), oder klettert (Papageien), oder hackt und wühlt in der Erde, oder baut das Nest u.s. w. Aber daß das Regenerationsvermögen gerade für diesen Teil des Körpers in solchem Maße erworben werden konnte, während die übrigen zwar wichtigen, aber selten verletzten Teile es nicht be- sitzen, deutet wieder auf den Anpassungs-Charakter des Regenerations- vermögens hin. Es verschlägt nichts, wenn sich Fälle nachweisen lassen, die diese Abhängigkeit der Regenerationskraft einesteils von seiner Wichtigkeit und seiner Verletzbarkeit nicht erkennen lassen, sie schwächen nicht die Beweiskraft der positiven Fälle, weil wir die genaueren Modali- täten, unter welchen die Regenerationskraft eines Teils zunimmt, nicht kennen, vor allem nicht das Tempo, in welchem dies geschieht. Wenn Anpassung überhaupt auf Selektionsvorgängen beruht, so muß auch ein Anwachsen der Regenerationskraft durch sie hervorgerufen werden können. Dagegen ist es keineswegs selbstverständlich, daß auch das Schwinden einer früher vorhandenen, im Laufe der Zeiten aber überflüssig gewordenen Regenerationskraft bei einem Teil durch Naturzüchtung sofort erfolgen mub. Denn es liegt im Wesen derselben, daß sie nur das Nützliche befördert, oder das Schädliche beseitigt, dem Gleichgültigen gegenüber hat sie keine Macht. Daraus folgt, daß das einmal vorhandene Regene- rationsvermögen einesteils nicht durch Naturzüchtnng (Personalselektion ) wieder beseitigt werden kann, denn dasselbe ist seinem Besitzer in keinem Grade nachteilig. Wenn es trotzdem allmählich wieder herab- sinkt und erlischt, falls es von keinem Vorteil mehr ist, wie das für die Beine und den Schwanz des blinden Höhlenmolchs bis zu einem gewissen Grad der Fall zu sein scheint, so muß das auf anderen Vor- gängen beruhen, auf denselben, welche es allgemein mit sich bringen, daß nicht mehr gebrauchte Teile oder Fähigkeiten allmählich schwinden. Wir werden später der Wurzel dieser Vorgänge nachzuspüren suchen, für jetzt aber genügt es, zu wissen, dab sie erfahrungsgemäß unge- mein langsam vor sich gehen, daß es ganzer Erdperioden bedurft hat, um die Beine der Schlangenvorfahren so vollständig aus ihrem Bau zu eliminieren, als es bei den meisten der heutigen Schlangen der Fall ist, während der schon in der Kreidezeit in die Krainer Höhlen einge- wanderte Proteus zwar blind ist, aber doch noch seine Augen unter der Haut beibehalten hat, wenn auch in rückgebildetem Zustand. Wenn es nun aber mit der Rückbildung nicht gebrauchter Teile und Fähigkeiten so langsam geht, dann darf es uns nicht in Erstaunen setzen, wenn wir gar manchmal Teilen begegnen, die ihre Regenerations- fähigkeit noch besitzen, obwohl sie gegen Verletzung geschützt sind. Wenn deshalb MorGan am Einsiedlerkrebs fand, dab seine in der Schneckenschale geschützten Gliedmaßen ebensogut regenerieren als die- jenigen, welche er beim Gehen braucht und deshalb hervorstreckt und eventuellen Angriffen bloßstellt, so beweist das nichts gegen den Schluß aus den oben angeführten Tatsachen, nach welchen die Regenerations- kraft unter dem Gesetz der Anpassung steht. Denn der Schwund dieser Kraft muß sehr viel langsamer erfolgen, als das An- wachsen derselben, wie denn z. B. die Ausbildung der Schwanztlosse der Wale längst eine vollendete Tatsache ist, während die gerade durch ihre Ausbildung matt gesetzten Hinterbeine dieser kolossalen Säuger noch immer in rudimentärem Zustand im Muskeltleisch des Rumpfes verborgen liegen. Und doch müssen diese Gliedmaßen genau in dem- 14 tereneration. selben Tempo. und Grad an Bedeutung für die Bewegung des Tieres verloren haben, in welchem die Schwanzflosse mächtiger wurde. Die Rückbildung erfolgte also hier in langsamerem Tempo, als die Vorwärts- bildung. So ist es denn klar, dab die Regenerationskraft nicht eine primäre Eigenschaft des Lebendigen ist, welche allen Arten gleicher ÖOrganisationshöhe und allen Teilen eines Tieres in gleichem Maße zu- kommt, sondern eine Kraft, welche den Tieren gleicher Kompliziertheit in ebenso verschiedenem Maße zukommt, wie ihren Teilen, und welche augenscheinlich durch Anpassung geregelt wird. Zwischen Teilen mit und Teilen ohne Regenerationsvermögen muß ein materieller Unter- schied bestehen, in den ersteren muß etwas vorhanden sein, was in den zweiten fehlt, und dies ist nach unserer Theorie die Ausrüstung mit Regenerationsdeterminanten, d. h. mit den Determinanten der wiederherzustellenden Teile. Wenn sich dies wirklich so verhält, dann muß es sich insoweit wenigstens nachweisen lassen, als man feststellen kann, daß die Fähig- keit, einen beschädigten oder verloren ge- gangenen Teil wieder zu ergänzen oder neu zu bilden, eine beschränkte, auf bestimmte Stellen und Zellenschich- ten lokalisierte sein kann. Dies läßt sich nun wirklich nachweisen, wie schon die zahlreichen Fälle zeigen, in welchen das Vermögen der Regeneration verbunden ist mit dem der Autotomie, d.h. mit dem Vermögen, einen Körperteil selbst abzu- Fig. 98. Ein auf Selbstverstümmelung (Autotomie) eingerichtetes Bein einer Krabbe. 4 Die drei ersten Beinglieder 7, Z/ u. Z77: s die „Sutur“, d. h. eine für den Bruch vorbereitete verdünnte Stelle auf dem zweiten Glied; »»f Beuge- muskel, ze Streckmuskel, beide an der Sutur sich ansetzend. 2 Das ganze Bein mit seinen sechs Gliedern und der Sutur, s bei schwächerer Vergrößerung. Nach MAC CULLOCK. brechen oder abzuschnüren. Schon bei den Würmern findet sich dies Vermögen, wie bei Gelegenheit der hohen Regenerationskraft des Lumbri- culus bereits erwähnt wurde. Dieser Wurm pflanzt sich im Sommer durch sog. „Schizogonie“ fort, durch Zerbrechen in zwei, drei, oder auch mehr Stücke, und zwar scheinen nicht nur starke Reize, wie z. B. Ein- klemmen des einen Wurmendes durch die Kiefer einer Insektenlarve, dies Zerbrechen auszulösen, sondern schon unbedeutende Reibungen am Boden. Bei diesem Tier freilich ist die Regenerationskraft eine so hohe, daß von einer Lokalisierung der Regenerationsanlagen nicht die Rede sein kann; fast jede Bruchfläche ist zur Regeneration fähig. Wohl aber zeigt sich diese Lokalisierung bei Krebsen und In- sekten, die an ihren Gliedmaßen, besonders den Beinen, das Vermögen der Selbstamputation besitzen. Schon 1826 hat Mac CULLOCK dies seltsame Vermögen bei Krebsen beobachtet, und den Mechanismus be- schrieben, auf welchem es beruht. Das Bein bricht, wenn es gereizt. also z. B. an der Spitze gepackt und festgehalten wird, an einer be- stimmten Stelle ab. Diese Stelle liegt mitten auf dem kurzen, Selbstamputation. 15 zweiten Beinglied (Fig. 98, A und 2, s), gerade zwischen den Ansätzen der Muskeln (»ze, nf, »n), welche von da in der Richtung gegen die Spitze des Beins, und umgekehrt gegen die Rumpfwand ziehen. Zwischen diesen Muskelansätzen ist das Hautskelett dünn und brüchig. und bildet eine Sutur, s, welche durchbrieht, sobald das Tier die Muskeln seines Beines krampfhaft zusammenzieht, und dabei den unteren Höcker a fest gegen den Vorsprung d des ersten Gliedes anstemmt. Die Krabben bedürfen zum Abwerfen der Gliedmaßen einer ganz bedeutenden Mus- kelanstrengung. und vermögen es deshalb nur zu tun, so lange sie ganz lebensfrisch sind. Hier haben wir also eine ganz bestimmte, morphologische An- passung der Teile an die häufig eintretende Gefahr, von einem Feind am Bein gepackt, ganz in dessen Gewalt zu geraten. Durch plötzliches, gewaltsames Abwerfen des Beines entzieht sich die Krabbe dieser Ge- fahr. Ganz ähnliche Anpassungen finden sich bei gewissen Insekten, z. B. den Gespenstheuschrecken (Phasmiden), bei welchen auch der Mechanismus ein ganz ähnlicher ist, und fast genau an der entsprechen- den Stelle liegt, nämlich an der Verwachsungsstelle vom zweiten und dritten Glied des Beins, „Trochanter“ und „Femur“. Der Nutzen der Ein- richtung liegt hier nicht bloß darin, daß die Tiere dadurch Feinden ent- fliehen können, sondern noch in anderen Verhältnissen, deren Kenntnis wir BORDAGE verdanken. Dieser Forscher beobachtete, daß die Phas- miden nicht selten bei einer ihrer zahlreichen Häutungen zu grunde gehen, indem sie teilweise in der alten Haut stecken bleiben. Unter 100 Phasmen starben neun auf diese Art, während 22 sich mit der Zurücklassung von einem oder mehreren Beinen losrissen, und nur 69 die Häutung ohne Verlust überstanden. Daß die Häutung den Insekten verderblich werden kann, läßt sich auch bei uns beobachten, wie wohl jedem bekannt ist, der sich mit der Aufzucht von Raupen befaßt hat. Auch diese bleiben zuweilen in ihrer Haut stecken, und gehen dann — wenn man ihnen nicht künst- lich nachhilft — zu grunde. Autotomie habe ich bei ihnen nicht be- merkt, bei den Phasmiden aber scheint sie eine oft benutzte, und des- halb für die Erhaltung der Art vorteilhafte Einrichtung zu sein. Solche durch Autotomie abgeworfene Gliedmaßen er- setzen sich nun wieder, und zwar von der Stelle aus, an welcher sie abbrachen, also von der „Sutur“ aus. Dort fiel schon älteren Be- obachtern (GOODSIR) eine gallertartige Zellenmasse im Innern des Gliedes auf, von welcher die Bildung des neuen Beins ausgeht. Nun könnte man glauben, dab diese hier befindliche Regenerationsanlage auch im übrigen Bein vorhanden sei: dem ist aber nicht so. vielmehr beant- wortet das Tier ein Abreißen nur eines oder weniger Glieder des Beines nicht direkt mit Regeneration derselben. sondern zunächst mit der Selbst- amputation des ganzen noch übrigen Beins in der „Sutur* und erst von dieser aus erfolgt dann die Regeneration des ganzen Beins. Bei den Gespenstheuschrecken ist es ähnlich, nur mit dem Unterschied, daß hier von drei Stellen aus Regeneration möglich ist, von den Tarsen aus, von dem unteren Drittel der Tibia aus, und schließlich von der Sutur zwischen Femur und Trochanter aus. Es liegt also hier eine Regene- rationsanlage an der Basis der Tarsalglieder, eine andere in der Tibia, und eine dritte in der „Sutur“, und die erste wird nach unserer Aus- drucksweise ausgerüstet sein müssen mit den Determinanten für die fünf Tarsalglieder, die zweite auch noch mit denjenigen für das Unter- 16 Regeneration ende der Tibia, und die dritte mit allen Determinanten des ganzen Beins von der „Sutur“ an. Jedenfalls hängt hier die Regeneration an bestimmt lokalisierten Gewebepartien und ist keine allgemeine Eigenschaft sämtlicher Zellen des Beins, und da sie zugleich einer offenkundigen Anpassung — der Autotomie — parallel geht, so kann kein Zweifel sein, daß auch sie selbst unter der Herrschaft des Selektionsprinzips steht, daß sie nicht nur verstärkt, sondern daß sie auch an bestimmten Stellen konzentriert. von anderen entfernt werden kann. Das aber ist nur möglich, wenn sie an materielle Teilchen gebunden ist, die in einem Gewebe da sein oder auch fehlen können, die also eine Zu- gabe sind zu den gewöhnlichen wesentlichen Bestandteilen der lebendigen Zellen, nicht aber selbst schon zum Wesent- lichen gehören. Ich könnte noch manche Beispiele von Lokalisation des Regene- rationsvermögens anführen, will mich aber auf noch eines beschränken, das mir besonders deshalb lehrreich zu sein scheint, weil es zuerst als ein Hinweis auf die Existenz eines zwecktätigen Prinzips im Organismus gedeutet wurde, einer Kraft, die stets das Nützliche schafft. Ich meine die Regeneration der Linse bei Tritonlarven. G. WOLFF, ein hartnäckiger Gegner der Selektionstheorie, suchte dieselbe Aufgabe zu lösen, welehe ich mir mit meinen Regenerations- versuchen an inneren Organen von Tritonen gestellt hatte, d. h. er suchte die Frage zu beantworten, ob denn Organe, die niemals einer Verletzung oder gar einer gänzlichen Beseitigung im Naturleben aus- gesetzt sind, die also durch Selektionsprozesse nach dieser Richtung hin nicht beeinflußt sein können, dennoch regenerationsfähig sind. Er exstirpierte die Linse im Auge von Tritonlarven, sah sie nach kurzer Zeit sich wieder neu bilden und schloß daraus, daß hier „eine neue, zum erstenmal auftretende Zweckmäßigkeit“ vorliege, daß folglich im Organismus zwecktätige Kräfte walten müßten. Die bisherige Lehre vom mechanischen Zustandekommen der Erscheinungen des Lebens schien manchen dadurch erschüttert zu sein und die Pro- klamierung der alten „Lebenskraft“ schien bevorzustehen. In der Tat! wenn wirklich der Körper imstande wäre, auch solche Teile, die im Naturzustand niemals verletzt werden, nach künstlicher Verletzung wieder zu ersetzen, und zwar in der schönsten und zweckmäßigsten Weise, dann bliebe nichts übrig, als mindestens doch das Regenerationsver- mögen für eine Grundkraft der lebenden Wesen zu halten und sich vorzustellen, dab der Organismus, ähnlich einem Kristall, sich stets wieder ergänzt, wenn er irgendwo verletzt wurde. Es fragt sich nur, ob dem so ist! Was gerade die Regeneration der Linse besonders überraschend erscheinen läßt, ist der Umstand, daß sie sich im fertigen Tier in anderer Weise, d.h. aus anderem Zellenmaterial bilden muß, als beim Embryo. Dort entsteht sie durch Wucherung und Einstülpung der Epidermis- schicht in die sog. „primäre“ Augenblase, eine Bildungsweise, die sich unter den veränderten Verhältnissen im fertigen Tier nicht noch einmal wiederholen kann. Die Wiederherstellung des Organs erfolgt denn auch auf anderem Wege, und wenn in der Tat der Organismus imstande wäre, gleich beim ersten Fall, in dem dasselbe entfernt wurde, in so vollendet zweckmäßiger Weise zu reagieren, und gewisse Zellen des Auges, die bisher ganz anderes zu tun gewohnt waren, so gut zu in- der Tritonlinse. 17 spirieren, daß sie sich zu einer neuen Linse von tadelloser Schönheit und Durchsichtigkeit zusammenfügten, dann könnten wir ja wirklich fast an unseren bisherigen Vorstellungen irre werden und in den Glauben an einen Spiritus reetor des Organismus zurückfallen. Nun ist aber die Linse in dem angeführten Experiment gar nicht zum erstenmal entfernt worden. Gewib sind zwar die Tritonen in ihren Tümpeln einer Staroperation nicht ausgesetzt. aber daraus folgt nicht. daß ihre Linse nicht dennoch verletzt werden und deshalb auf Regeneration eingerichtet sein könne. Sie kann mit anderen Teilen des Auges zusammen von Wasserkäfern oder anderen Feinden der Tritonen herausgebissen werden, und wir wissen schon seit BONNET und BLUMENBACH (1571). daß das Auge dieser Tiere sich wieder her- stellt, wenn man es herausschneidet, vorausgesetzt, daß ein kleiner Rest des Bulbus zurückblieb. Wird auch tlieser entfernt, dann hört die Mög- lichkeit der Regeneration auf. Es bestand also schon vor der ersten künstlichen Linsenextraktion ein Regenerations- mechanismus, durch den das Auge samt Linse wiederher- gestellt wird, und dieser beruht auf den Eigenschaften der Zellen des Auges selbst — er ist also lokalisiert im Auge, und ohne ein Stück des Augengewebes tritt keine Regeneration ein. Ist es nun da so wunderbar und absonderlich, daß die Linse sich wieder neu bildet, auch wenn sie allein, ohne das übrige Auge künstlich entfernt wird? Der Mechanismus für ihre Bildung ist einmal da und tritt in Tätigkeit, mag sie allein oder mit anderen Teilen des Auges entfernt worden sein. Einer zwecktätigen Kraft bedürfen wir dabei. nicht, wohl aber werden wir fragen, wo denn der sich kundgebende Regenerationsmechanismus liege. Darauf gibt nun eine ausführliche experimentelle Arbeit definitive Antwort, welche FiscHEL kürzlich publiziert hat. Sie bestätigt, was schon G. WoLFF gefunden hatte, daß die Substanz der neuen Linse sich aus den Zellen bildet, welche die hintere Fläche der Regenbogen- haut bekleiden, d. h. aus Zellen der Retinaschicht des Auges. Zuerst beginnt der Rand der Pupille auf den Reiz der Verletzung (Extraktion der Linse) zu reagieren: seine Zellen vergrößern sich, werden hell, während sie vorher mit schwarzem Pigment erfüllt waren, und wuchern schließlich. Sie bilden so ein Zellenbläschen (Fig. 99, A. Z/). ähnlich dem Ektodermbläschen, aus welchem im Embryo die Linse entsteht, und in dieses wachsen nun die erwähnten Retinazellen von der Hinter- wand der Iris ein, strecken und ordnen sich und bilden die sog. „Linsen- fasern“, auf deren Gestalt, Zusammenordnung und Durchsichtigkeit die Funktion der Linse beruht. Das ist ja wundersam genug, aber doch nicht wundersamer, als wenn ein ganzer neuer Fuß aus dem abge- schnittenen Stumpf des Tritonbeines hervorwächst oder das ganze Auge aus einem stehengebliebenen Rest desselben. Wir kennen eben auch hier wieder nicht die Vorgänge, welehe die Ordnung der Zellen und ihre oft so verschiedenartige lokal bedingte Ditferenzierung verursachen, kurz nicht das Wesen der Regeneration. Wir können aber einst- weilen wenigstens festzustellen suchen, an welche Zellengruppen die Regeneration im einzelnen Fall gebunden ist, wo also die materiellen Teilchen, die „Determinanten“, von der Natur deponiert sind, welche die Regeneration bedingen. Das kann nun hier nicht zweifelhaft sein: es sind nur die Zellen an der Hinterwand und dem Rande der Iris. Auch ist es keineswegs das Fehlen der Linse, welches ihren Ersatz nach der Operation her- r) a +) Weismann, Deszendenztheorie. II. 2. Aufl. c 18 regeneration vorruft, wie es sein müßte, wenn eine zwecktätige Kraft waltete.. Wird die Linse nicht extrahiert, sondern bloß in den Glaskörper zurückge- drängt, so bildet sich doch eine neue Linse von dem gereizten Pupillar- rand aus, und wenn man diesen Rand bei der Linsenextraktion zufällig an zwei gegenüberliegenden Stellen gereizt hat, so bilden sich zwei kleine neue Linsen (Fig. 99, 2). Ja es können mehrere an verschie- denen Stellen der hinteren Iriswand sich zu bilden beginnen, wenn sie auch nicht zu voller Ausbildung gelangen: mechanische Reizung irgend einer Stelle dieser Zellenschicht wird von ihr mit Linsenbildung beantwortet. Damit ist denn der „mystische Nim- bus“, der uns eine neue Lebenskraft vorzuspiegeln begann, die stets das Zweckmäßige schafft, beseitigt. Wir haben eine Anpassung vor uns an die Verletzbarkeit des Tritonenauges, welche, wie alle Anpassungen, nur relativ vollkommen ist, indem sie nur nnter den gewöhnlichen Bedingungen der Augenverletzung eine brauchbare Linse liefert, unter ungewöhnlichen aber unzweckmäßige Gebilde. Es ist genau dasselbe wie bei den Instinkten der Tiere, die alle nur auf die gewöhnlichen Lebens- Fig. 99. Regeneration der Linse beim Tritonauge. 4 Schnitt durch die Iris (/), von deren Rand und hinterer (retinaler) Fläche aus sich die Anlage zu einer neuen Linse (Z) nach künstlicher Entfernung der alten gebildet hat (Z). 2 Schnitt durch das Auge nach doppelter Regeneration der Linse (Z) von zwei Stellen der Iris aus, @/ Glaskörper, / Iris, € Cornea, X Retina nach FISCHEL. bedingungen „berechnet“ sind, und. die ungewöhnlichen Bedingungen gegenüber höchst unzweckmäßig wirken. Der Ameisenlöwe hat den Instinkt, rückwärts sich bis an den Kopf in den Sand einzubohren, und er macht dieselbe rückwärts drängende Bewegung, wenn man ihn auf eine (Glasplatte setzt, die er doch mit seiner Hinterleibspitze nicht ein- (drücken kann. Ganz ähnlich führt die Maulwurfsgrille die gewohnte srabende Bewegung mit den Vorderbeinen auch auf einer Glasplatte aus. Die Mauerbiene deckelt die Zelle ihres Stockes zu, nachdem sie ein Ei hineingelegt hat, auch wenn man ihr dieses Ei vorher heraus- nahm, oder wenn man unten an die Zelle ein Loch machte, so daß der Honig, welcher der aus dem Ei kriechenden Larve zur Nahrung dienen sollte, ausläuft (FAvrRE). Ihr Instinkt ist nur auf die einmalige Füllung (der Zelle mit Honig und nur auf die einmalige Ablegung eines Eies in dieselbe berechnet, weil im Naturleben solche Störungen, wie wir sie künstlich setzen können, nicht oder fast nicht vorkommen. Solcher Tat- sachen gibt es unzählige, denn jeder Instinkt und jede Anpassung können unter Umständen irren und zweckwidrig werden. der Tritonlinse. 19 Das sollten diejenigen ein wenig überdenken, welche immer noch die Selektionslehre bekämpfen, denn darin liegt einer der stärksten Belege für ihre Richtigkeit. Nur auf die Majorität der Fälle hin können Anpassungen entstehen, denn Abänderungen, die nur in einem Einzelfall nützlich sind, müssen dem Prinzip nach wieder verschwinden. Anpassung bedeutet immer nur die Feststellung des im Durchschnitt der Fälle Zweckmäßigsten. Deshalb ist auch die unzweckmäßige Reaktion des Irisrandes auf künstliche Doppelreizung ein Beleg für die Auffassung der Regeneration als einer Anpassungserscheinung; wäre sie der Ausfluß einer zweck- tätigen Kraft, so könnte sie nie zweckwidrig ausfallen: wäre sie aber auch nur die Wirkung einer allgemeinen und primären Kraft der Organismen, so müßte sie dem nahe verwandten Frosch ebenfalls eigen sein. Bei diesem aber beantwortet zwar auch der Irisrand die Extrak- tion der Linse mit säckehenförmiger Wucherung seiner Zellen, allein es bildet sich daraus keine regelmäßige glashelle Linse, sondern nur ein opacer, das Selien gänzlich beeinträchtigender Zellenklumpen. Es scheint. daß der Frosch das Vermögen, die Linse zu erneuen, welches seine Vorfahren vermutlich besessen haben, nicht mehr bedarf. XXI. VORTRAG. Regeneration, Fortsetzung. Phyletische Entstehung des Regenerationsvermögens p. 20, Auslösung desselben p. 21, Erzeugung überzähliger Köpfe und Schwänze bei Planarien, (VoIGT) p. 21, Regene- ration beim Seestern p. 23, Atavistische Regeneration bei Insekten und Krebsen p. 24, Progressive Regeneration p. 26, Regeneration wurzelt in der Differenzierung der Lebewesen p. 26, Die Kernsubstanz der Einzelligen das erste Organ für Regeneration p. 27, Beziehungen von Knospung und Regeneration p. 27, die letzten Wurzeln der tegeneration p. 30. Meine Herren! Wir haben mancherlei Formen der Regeneration als Anpassungen erkennen gelernt; fragen wir nun auch, wie denn wohl solche Regenerationsanpassungen entstehen, so ist das eine im allge- meinen schon schwierige, im speziellen Fall aber oft eine zurzeit unlösbare Frage. In dem zuletzt besprochenen Fall der Linsenregene- ration beim Triton z. B. müßten wir mit unseren Hypothesen bis zur- zeit der Urwirbeltiere mit unpaarem Stirnauge zurückgreifen, denn die Linse des paarigen Wirbeltierauges entsteht embryonal nicht aus Retinazellen, sondern stets aus dem Korneaepithel, von den Säugern an bis hinab zu den niedersten Fischen, wie die umfassenden Unter- suchungen RABLs erst kürzlich gezeigt haben. Das unpaare Stirnauge der Reptilien allerdings bildet seine Linse aus Zellen der Retinaschicht, ob aber ein genetischer Zusammenhang zwischen ihm und den paarigen Augen denkbar ist, wird schwer festzustellen sein, und wir müssen für jetzt darauf verzichten, eine Hypothese über die Entstehung der wunder- baren Fähigkeit der Retinazellen auszudenken, sich in Linsenfasern um- zubilden. In welcher Weise aber die Entstehung und Anpassung des Regenerationsvermögens im allgemeinen gedacht werden kann, läßt sich eher sagen. Wir sahen, daß die Fähigkeit, einen Teil zu regenerieren lokali- siert sein kann, sie kommt also dann nicht allen, sondern nur ge- wissen Zellen des Körpers zu, und es fragt sich also, wie und auf welchem Wege sie ihnen zuerteilt werden konnte. Die Fähigkeit be- ruht auf dem Besitze eimer Regenerationsanlage, und diese wieder besteht nach unserer Ausdrucksweise aus einem bestimmten Komplex von Determinanten, und da Determinanten Produkte einer Entwicklung, also geschichtlich entstandene Lebenseinheiten sind, so können sie bei einer Art nicht plötzlich irgendwo neu entstehen, sondern sie müssen sich von der einzigen Niederlage herleiten — direkt oder indirekt — welche bei jeder Art den Ausgangspunkt des Individuums bildet — bei Metazoen also von dem Keimplasma des Eies. Von ihm muß der Phyletische Entstehung. >] Determinantenkomplex jeder Regenerationsanlage in letzter Instanz sich herleiten. Dies nun könnte etwa so gedacht werden, daß alle Determinanten des Keimplasmas variieren, langsamer, aber auch schneller wachsen und unter Umständen verdoppelt werden können. So entstehen gewisser- maßen „überschüssige“ Determinanten, solche, welehe für den pri- mären Aufbau des Körpers aus dem Ei keine Verwendung mehr finden, und nun in inaktivrem Zustand in den Kernen bestimmter Zellen ver- harren, bereit, unter gewissen Umständen aktiv zu werden, und den Teil. welchen sie bestimmen, von neuem hervorzubringen. Solche Regenerationsidioplasmen werden zunächst in den jüngeren Zellen des Determinantenorgans zu liegen kommen, aber es ist auch denkbar, daß sie unter dem Einfluß der Selektion allmählich in andere, weiter rückwärts in der Ontogenese gelegene Zellen verschoben werden, oder, daß sie umgekehrt nicht mehr so weit nach außen in der ÖOntogenese vorgeschoben werden, so z. B. daß die Regenerationsanlage für (lie Finger eines Triton nicht nur den Zellen der Hand, sondern schon den- jenigen des Vorder-, ja des Oberarms beigegeben werden. Alle solche Abspaltungen von Determinantengruppen können nicht — wie man vielleicht denken möchte — erst an der Peripherie. in dem Organ selbst während seiner Entstehung erfolgt sein, sondern sie müssen schon im Keimplasma der Eizelle stattfinden, anderenfalls könnten sie nicht erblich sein, und durch Selek- tionsvorgänge nicht geleitet und modifiziert werden, was doch der Fall ist, wie gleich näher gezeigt werden soll. Ich habe früher schon darauf hingewiesen, welche wichtige Rolle bei der Regeneration die Auslösungen spielen, und zwar nicht bloß extrabiontische Reize, wie die Schwerkraft, sondern vor allem intra- biontische Reize, d. h. die Einwirkungen, welche die übrigen Teile des Tieres auf die in Regenerationsarbeit befindlichen Teile in geheimnis- voller Weise ausüben. Es ist ein großes Verdienst der neuen Richtung in der Entwicklungslehre, die Bedeutung solcher interner Einflüsse nach- gewiesen zu haben. Wenn wir nun auch noch weit davon entfernt sind, dieselben in ihrer Wirkungsweise näher bestimmen zu können, so dürfen wir doch soviel sagen, dab es wesentlich mit von der Art und der Ausdehnung des Verlustes abhängt, welche Teile von den die Regenerationsarbeit leistenden Zellen hervorgebracht werden, ja von der Lage und Richtung der Wundtläche,. von welcher die Regeneration ausgeht. Die für uns noch ganz unfaßbaren Einwirkungen, welche von den unverletzten Teilen des Tieres auf die regenerierende Stelle aus- geübt werden, bilden die auslösenden Reize, welche die einen oder die anderen der im Regenerationsplasma enthaltenen Determinanten zur Tätigkeit auslösen. Durch höchst interessante Versuche hat WALTER VOIGT gezeigt, daß man bei Planarien nicht nur dadurch die Bildung eines neuen Kopfes hervorrufen kann, daß man denselben abschneidet, wo dann von derselben Schnitttläche am Vorderstück ein Schwanz, am Hinterstück aber ein Kopf hervorwächst (Fig. 97), sondern daß man an dem unver- sehrten, d.h. noch mit Schwanz und Kopf versehenen Tier nach Willkür an irgend einer Stelle des Körperrandes entweder einen zweiten Schwanz oder einen zweiten Kopf oder auch beides zugleich hervorrufen kann, je nach der Richtung, die man dem Schnitt gibt. Schneidet man den Rand des Tieres schräg nach vorn ein (Fig. 100 C), so entsteht ein 2, Regeneration. überzähliger Schwanz (s), schneidet man ihn schräg nach hinten ein, so entsteht ein überzähliger Kopf (%), und man kann auf diese Weise mehrere Schwänze und mehrere Köpfe an demselben Tier hervorrufen. Es hängt also offenbar von dem Aufeinanderwirken zunächst der Zellen der Schnittfläche, gewiß aber auch der tiefer liegenden Zellen ab, welche Determinanten in Aktion treten, die des Kopfes, oder die des Schwanzes, aber beide müssen an jeder Stelle des Schnittes vorhanden sein. Wie tief unter die Schnittfläche hinein die Zellen an dieser Bestimmung teilnehmen, läßt sich nicht ausmachen, daß sie aber nicht, wie man öfters gemeint hat, durch Zusammenwirken aller Teile des Tieres zu- stande kommt, ist für diesen Fall wenigstens klar, da das Tier ja seinen alten Kopf und Schwanz noch besitzt. Jedenfalls beweisen auch diese überzählig hervorgerufenen Köpfe und Schwänze wieder, daß es sich hier nicht um die Äußerungen eines zwecktätigen Prinzips, eines Spiritus rector oder einer Lebenskraft handelt. die stets das Gute schafft, viel- Fig. 100. Zur Regeneration der Planarien. 4 Ein Tier durch Schrägschnitte in drei Stücke geteilt. 23 Die Stücke in Regeneration befindlich. € Ein Tier durch verschiedene schräge Einschnitte in den Rand des Körpers zur Neubildung von Köpfen (2) und Sichwänzen (s), sowie eines neuen Pharynx (27) veranlaßt. A und B nach MORGAN, C nach WALTER VOIGT. mehr um ein rein mechanisches Geschehen, welches unabhängig von Nützlich und Schädlich abläuft, so wie es eben nach dem einmal gegebenen Regenerationsmechanismus und dem im speziellen Fall ge- setzten Reiz ablaufen muß. Gewiß sind die überzähligen Schwänze und Köpfe nicht zweckmäßig; aber wer wollte auch eine zweckmäßige Reaktion des Tieres hier erwarten, da doch derartige Schnitte, wie wir sie künstlich in das Tier machen, und künstlich offen halten müssen, soll anders die Mißbildung entstehen, im Naturzustand kaum vorkommen, und wenn sie vorkämen, rasch wieder verheilen würden. Anpassungen können eben nur da sich bilden. wo sie in einer Majorität von Fällen zur Anwendung kommen, und nützlich, d. h. Art- erhaltend wirken können. Die Zweckmäßigkeit der Organismen ist eine blinde, sie sieht nicht den einzelnen Fall, sie berücksichtigt nur die Massenfälle, und handelt, wie sie muß, nachdem einmal der Mechanismus dafür sich ausgebildet hat. Es verhält sick hier genau ; Unzweckmäßige Regeneration. 23 wie bei den „irrenden“ Instinkten, deren Entstehung durch Selektion gerade eben dadurch besiegelt wird, daß sie uns den Instinkt als reinen Mechanismus erkennen lassen, nicht als den Ausfluß zwecktätiger Kräfte. Bei den Regenerationen der Planarien werden wir uns das Re- generations-Idioplasma als den vollen Komplex sämtlicher Determinanten der drei Keimblätter vorstellen, zu denen vermutlich auch noch Zellen mit dem ganzen Keimplasma dazukommen zur Herstellung der Keim- zellen. Wenn aber der abgeschnittene Schwanz des Triton sich re- generiert, oder das Bein desselben, oder der Arm eines Seesterns oder der Schnabel eines Vogels, so haben wir keinen Grund, in den Zellen, von welchen die Regeneration ausgeht, das ganze Keim- plasma vorauszusetzen, da die Determinanten der ersetzbaren Teile zur Erklärung genügen. Wir müssen sogar bestreiten, dass das ganze Keimplasma hier vorhanden sei, weil das Regenerationsvermögen der betreffenden Zellen tatsächlich nicht mehr ein allgemeines ist, sondern ein auf die Reproduktion bestimmter Teile eingeschränktes. Das zeigt sich schon darin, daß selbst beim Seestern, dessen hohes Regenera- tionsvermögen bekannt ist, zwar wohl die Scheibe des Körpers neue Arme hervorzubringen vermag”), nicht aber ein abgeschnittener Arm, dem kein Stück der Scheibe anhaftet, diese letztere. Der Arm enthält also in seinen Zellen den Determinantenkomplex der Scheibe nicht, wohl aber die Scheibe den des Armes. Darüber, daß der abgeschnittene Schwanz des Salamanders nicht den ganzen Salamander wieder her- vorbringt, wundert man sich nicht, allen es kann seinen Grund doch nur darin haben, daß hier die Triebkräfte zur Regeneration des ganzen Tieres fehlen, daß also die Schnittfläche nur die Determinanten des Schwanzes enthält, nicht volles Keimplasma. Man könnte ja hier ein- werfen, daß das Schwanzstück zu klein sei, um dem ganzen Körper den Ursprung zu geben, aber bei Planaria sind es zunächst auch nur sehr diminutive Köpfe und Schwänze, die von den künstlichen Ein- schnitten aus hervorwachsen, und ebenso ist es bei Seesternen, «denen man nur einen Arm und nur ein kleines Stück der Scheibe gelassen hat. Sie treiben trotz der geringen Masse lebender Substanz, die ihnen zur Verfügung steht, und trotzdem sie zunächst keine Nahrung zu sich nehmen können, doch mehrere winzig kleine neue Arme (Fig. 101), schließen die Körperteile wieder nach außen ab und fangen nach Neu- bildung von Mund und Magen nun an, sich von neuem zu ernähren, worauf dann auch die neuen Arme wieder zur alten Größe heran- wachsen. Wir müssen also annehmen, daß in vielen Fällen die Regenera- tionsanlage in Zellen besteht, welche nur einen bestimmten Kom- plex von Determinanten als inaktives Regenerations-Idio- plasma enthalten. so z. B. gewisse Zellen des Schwanzes vom Triton die Determinanten des Schwanzes, gewisse Zellen des Beines vom *, Ich sehe nachträglich, daß über diesen Fall widersprechende Angaben vor- liegen. Möglicherweise beruhen dieselben auf verschiedenem Verhalten verschiedener Arten und dieses auf verschiedener Häufigkeit der Verstümmeluug. Seesterne, die am Strand zwischen den Felsen leben, z. B. auf den rollenden Steinen eines Hafen- damms, werden sehr häufig verstümmelt; an gewissen Stellen findet man selten ein Exemplar ohne Spuren früherer Verletzungen. H. D. Kıya zählte unter 1914 Exem- plaren von Asterias vulgaris 206 in Regeneration befindliche, also 10,76°,. Bei See- sternen der Tiefe kommt diese Verletzungsursache in Wegfall. 24 tereneration. Triton die Determinanten des Beines u.s.w. In manchen Fällen können wir genaueres aussagen und bestimmen, von welchen Zellen die Nerven- zentren, von welchen anderen die Muskeln, von welchen der fehlende Abschnitt des Darmes gebildet wird, wie dies kürzlich noch FRANZ von WAGNER an dem so auberordentlich regenerationsfähigen Wurm, Lumbriculus, gezeigt hat. Wir werden dann jeder der betreffenden Zellen nur den betreffenden Determinantenkomplex als Regenerations- Idioplasma zuerteilen dürfen. Ich will hier nicht weiter ins einzelne gehen, möchte Ihnen aber noch zeigen. daß wirklich — wie ich es vorhin bei der Entstehung der Regenerationsfähigkeit eines Teils annahm — die Wurzel des Re- generations-Idioplasmas im Keimplasma liegt, daß es dort als eine selbständige Determinanten- gruppe vorhanden sein, und wie jede andere Körperanlage von (Generation zu (reneration weiter gegeben werden muß. Dies ist aus dem Grunde eine notwendige Annahme, weil, wie schon angedeutet wurde, das Regenerations- vermögen erblich und erblich variabel ist, also aus demselben Grunde, in welchem die ganze Determinantenlehre wurzelt. Die Re- generations- Determinanten müssen als solche schon im Keimplasma enthalten sein, sonst könnte nicht eine doppelte phyletische Ent- wicklung eingetreten sein bei manchen Tei- len, wie sie tatsächlich eingetreten ist. Der Schwanz der Eidechse ist auf Autotomie eingerichtet, er bricht ab, wenn er an der Spitze festgehalten wird und zwar beruht dies auf einer besonderen Anpassung der Wirbelkörper, die vom siebenten an in einer bestimmten Ebene brüchig sind. Das ist also eine sehr zweck- mäßige Anpassung an die Verfolgung durch Feinde. Der gepackte Schwanz bleibt dem Ver- folger, das Tier selbst rennt davon, und der Schwanz wächst wieder. Nun erfolgt aber diese - ET Regeneration nicht genau in derselben Weise, wie ig. 101. Fin Seostern — —oim Embryo; es bilden sich keine neuen Wirbel arm, der vier neue Arme 3 AN ’ getrieben hat: sogenannte Sondern nur ein „Knorpelrohr“, also eine Neubil- „Kometenform“. Nach dung, ein Ersatz für die Wirbelsäule und auch das HÄCKEL. Rückenmark mit seinen Nerven entsteht nicht wie- der und die Beschuppung wird eine etwas andere. Besonders dieser letzte Punkt deutet darauf hin, daß die Deter- minanten der Regenerationsanlage ihren eigenen phylogenetischen Wegzgehen können, denn diese Beschuppung des regenerierten Schwanzes ist eine atavistische, d. h. sie entspricht einem älteren Beschuppungs- modus der Saurier. Ähnlicher Fälle kennen wir heute schon eine ganze Anzahl. Es kommt nicht selten vor, daß abgeschnittene Teile sich zwar regenerieren, aber nicht in der modernen heutigen Form, sondern in einer — aller Wahrscheinlichkeit nach — phyletisch älteren Form. So regenerieren sich die Beine verschiedener Gradflügler, der Schaben und (Gespenstheuschrecken zwar ganz gut, aber mit einem nur aus vier statt aus fünf Gliedern zusammengesetzten Atavistische Regeneration. 25 Tarsus*): so regenerieren sich die langfingerigen Scheren einer Gar- neele (Atyoide Potimirim) durch den älteren kurzfingerigen Typus der Scherenhand, so wächst dem Axolotl statt der abgeschnittenen vierfinge- rigen Hand eine atavistische fünffingerige hervor. Der letzte Fall zeigt, daß es sich dabei nicht etwa um eine ge- ringere Wachstumskraft der Regeneration handelt, denn hier wird mehr regeneriert, als vorher da war. Es bleibt nichts übrig. als die An- nahme, daß die Regenerationsdeterminanten auf einem älteren phyletischen Stadium stehen geblieben sind, während die die Embryogenese leitenden Determinanten sich verändert, phyletisch weiter- entwickelt, resp. zurückgebildet haben. Es läßt sich auch theoretisch gut verstehen, daß die Regenerationsanlage sich phyletisch viel langsamer verändern muß, als die auf dem gewöhnlichen Weg ge- bildeten Teile und ihre Determinanten, besteht doch Naturzüchtung in einer Auslese des Passendsten und die Schnelligkeit, mit welcher ihr Ziel, die Abänderung erreicht wird, hängt, ceteris paribus, davon ab, wie viele Individuen der Art zur Auslesung gelangen in bezug auf den abzuändernden Teil. Wenn bei einer Art von einer Million gleich- zeitig lebender Individuen neun Zehntel durch Zufall zugrunde gehen, so bleiben nur 100000 übrig zur Auslese der Eintausend, von denen wir annehmen wollen, sie bildeten den Normalbestand der Art. Je mehr unter diesen 100000 die nützliche Abänderung besitzen, ein um so höherer Prozentsatz der normaliter überlebenden Eintausend wird dieselbe besitzen und um so rascher wird die nützliche Abänderung sich steigern. Wenn es sich um die Abänderung einer Regenerations- anlage handelt, so wird die Auslese der nützlichen Abänderungen der- selben nicht unter allen 100000 Individuen stattfinden, welche der Zu- fall verschont hat, sondern nur unter denjenigen von ihnen, welche die betreffende Gliedmaße durch einen Unfall verlieren und somit in der Lage sind, sie besser oder schlechter regenerieren zu müssen. Nehmen wir an, das geschähe bei zehn Prozent von ihnen, so würde die Auslese für Verbesserung des Regenerationsapparates nur aus 1000 Individuen bestehen, somit also der Umwandlungsprozeß der Regenerationsanlage sehr viel langsamer vorrücken, als der der Glied- maße selbst. Ich sehe nicht, wie die Gegner der Keimplasmatheorie diesen Tat- sachen irgendwie gerecht werden könnten, denn die Anrufung äußerer Einflüsse versagt hier gänzlich, und die von inneren auslösenden Reizen reicht nicht aus, (da dieselben zwar nach dem Abschneiden eines Teils andere sind, als bei der normalen Entstehung desselben, aber doch jeden- falls auch andere, als bei der normalen Entstehung der Gliedmaßen der Vorfahren; die viergliedrigen Tarsen der Vorfahren unserer Schaben sind nicht auf Amputation hin entstanden. Wir werden deshalb nicht umhin können, die Vorgänge der Regeneration auf besondere „Regenerations- determinanten“ zu beziehen, welche im Keimplasma schon enthalten sind, und in der Ontogenese mit den übrigen Determinanten von Zellteilung *) Neue, speziell auf diesen Punkt gerichtete Untersuchungen von R. GODEL- MANN haben ergeben, daß „in den weitaus meisten Fällen die regenerierten Beine“ einer Phasmide (Baeillus Rossii) einen viergliederigen Typus aufweisen; es kommt aber auch die Regeneration von fünf Gliedern vor, jedoch nur nach Autotomie und nur in 7 von 50 Fällen. (Archiv für Entwicklungsmechanik, Bd. XII, Heft 2 vom 2. Juli 1901.) Die Regenerationsanlare scheint also bei dieser Art in langsamem Vorschreiten zum fünfgliederigen Typus begriffen zu sein. 26 Regeneration. zu Zellteilung weitergegeben werden, um schließlich in die Zellen zu gelangen, welche auf den auslösenden Reiz der Verletzung mit Rege- neration antworten sollen. Da diese Determinanten, wie gezeigt wurde, häufig nur einer sehr schwachen Einwirkung von Selektionsprozessen unterworfen sein können, so werden sie vielfach in der phyletischen Entwicklung zurückbleiben, und einem Vorfahrentypus des betreffenden . Teils angehören, oft auch lange Zeit auf diesem Vorfahrentypus ver- harren, immer aber sich langsamer neuen Erfordernissen anpassen, als die auf normalem Wege entstehenden Teile und die sie im Keim ver- tretenden Determinanten. Aber sie können verändert werden, und zwar erblich und unabhängig von der Struktur der normalen Teile. Sie gehen somit ihre eigenen phyletischen Entwicklungswege, und diese eine Tatsache genügt, um der Keimplasmatheorie den Vorzug vor allen anderen zu sichern, die bisher hervorgetreten sind. Keine davon hat auch nur den Versuch einer Erklärung dieser Tatsache ge- wagt, man hat sich vielmehr darauf beschränkt, dieselbe anzuzweifeln. Das geht aber höchstens in bezug auf die Auslegung der als atavistisch gedeuteten Regenerationen, durchaus aber nicht in bezug auf pro- gressive Abänderungen des regenerierten Teils, wie sie am Eidechsen- schwanz von LEYDIG und FRAISSE festgestellt sind. Man mag bezweifeln, daß die ältesten Insekten nur vier Tarsen gehabt haben, aber man hat kein Recht, die känogenetische Abweichung des regenerierten Eidechsen- schwanzes zu bezweifeln. Ich habe das Regenerationsvermögen als ein sekundäres, erworbenes, nicht als ein primäres Vermögen aller lebenden Substanz bezeichnet und möchte dies noch in einer anderen Weise begründen, als es schon geschehen ist. (sehen wir auf die denkbar niedersten Organismen zurück, wie sie den Anfang des Lebens auf unserer Erde gebildet haben müssen, so brauchen diese keine besondere Regenerationskraft besessen zu haben, weil für Wesen ohne Differenzierung der Teile Wachstum gleichbe- deutend ist mit Regeneration. Wachstum aber fließt unmittelbar aus einer der Grundeigenschaften der lebenden Substanz, aus der Fähigkeit der Assimilation. Diese kann nicht eine Anpassungserscheinung, noch durch Selektion entstanden sein, weil Selektion die Fortpflanzung vor- aussetzt, Fortpflanzung aber nur eine periodizierte Form des Wachs- tums ist; Wachstum aber folgt direkt aus Assimilation. Die Grund- eigenschaften der lebenden Substanz, vor allem die den Stoffwechsel bedingende Dissimilation und Assimilation müssen also sofort bei der ersten Entstehung lebender Substanz dagewesen sein und auf der eigen- tümlichen chemisch-physikalischen Zusammensetzung derselben beruhen. Regenerationsvermögen aber konnte erst dann erworben werden, als die Lebewesen ungleich differenziert wurden, so daß nicht mehr jeder Teil dem anderen und dem Ganzen gleich war. Sobald diese Stufe erreicht war, mußte Regenerationsvermögen sich ausbilden, falls überhaupt Vermehrung noch weiterhin stattfinden sollte. Denn wenn nicht mehr jedes Stück durch einfaches Wachsen wieder zum Ganzen werden konnte, so mußte eine Einrichtung getroffen werden, durch welche jedem Stück das, was ihm zum Ganzen fehlte, als Anlage bei- gegeben wurde. Die ersten Anfänge dieser Anpassung kennen wir nicht, in ihrer weiteren Ausbildung aber tritt sie uns als „Kernsubstanz“ eingeschlossen im Kern der Zelle entgegen und findet sich bekanntlich schon bei allen Einzelligen. Daß der Kern dort der Regeneration vor- Phylogenese der Regeneration. 37 steht in dem Sinn, daß ohne ein Stück von ihm der Zellkörper allein nicht fähig ist, sich zu ergänzen, haben wir früher schon gesehen und die Auslegung dieser Tatsache schien mir immer nur die sein zu können, daß hier unsichtbar kleine lebende Teilchen behufs Regeneration des verletzten Tieres aus dem Kern austreten und nach uns noch unbe- kannten Gesetzen und Kräften die Bildung der fehlenden Teile hervor- rufen. Wohl hat LoEB in neuester Zeit den Kern als das Oxydations- organ der Zelle in Anspruch genommen; sollte er aber auch damit im Recht sein, so würde das doch nicht ausschließen, daß der Kern zu- gleich und in erster Linie ein Depot der materiellen Träger der An- lagen einer Art sei: und er muß uns als solcher gelten, wenn wir die Erscheinungen der Amphimixis in ihrer Doppelgestalt als Konjugation und als Befruchtung uns vergegenwärtigen und ihre bei den höheren Lebewesen so klaren Folgen: die Vermischung der elterlichen Eigen- schaften. So wäre also in der „Kernsubstanz“* der Einzelligen das erste für uns nachweisbare Organ für die Regeneration gegeben und zwar zunächst für die normale Regeneration, wie sie bei jeder Fort- pflanzung, z. B. eines Infusoriums stattfindet. Denn wir sahen ja be- reits, daß bei der Querteilung z. B. eines Trompetentierchens (Stentor) das vordere Teilstück die hintere Hälfte neu bilden muß, das hintere aber die noch viel kompliziertere vordere Hälfte mit Mundfeld und Wimperspirale. Sobald aber die Einrichtung für die normale Fort- pflanzung einmal getroffen war, sobald der Kern da war und ein Depot der „Anlagen“ enthielt, so folgte die Regenerationsfähigkeit in excep- tionellen Fällen also nach Verletzung, von selbst. Der Mechanismus war einmal gegeben und trat in Funktion, sobald ein Teil des Tieres in Wegfall kam. In dem ersten Kern haben wir also die Quelle aller Regenerations- kraft zu sehen, sowohl der Einzelligen als der Vielzelligen. Aber bei der Entstehung der letzteren trat vielfach gleich zu Anfang oder später eine Einschränkung ein, indem nicht mehr jeder Kern der ganzen Zellen- kolonie den vollen Komplex aller „Anlagen“ oder Determinanten der Art zugeteilt erhielt, sondern in vielen Fällen nur die Fortpftlanzungs- zelle. Sobald diese sich durch Zellteilung zum Ganzen zu entwickeln begann, zerlegte sich der Determinantenkomplex. So entstanden die ersten Zellkolonien, mit zwei Zellenarten, wie wir bei Volvox gesehen haben, den Fortpflanzungszellen mit vollem Regenerationsdepot im Kern und den somatischen Zellen mit beschränktem Regenerations- depot im Kern, aus dem sie nicht mehr das ganze Wesen, sondern nur sich selbst oder ihresgleichen herstellen konnten. Da nun aber viele der niederen Metazoen und Metaphyten von heute das Vermögen der Knospung besitzen, d. h. imstande sind, nicht bloß aus einzelnen Zellen, den Fortpflanzungszellen, mit oder ohne geschlechtlicher Differenzierung ein neues Individuum hervorgehen zu lassen, sondern auch aus anderen Zellengruppen, so müssen auch diese den ganzen Komplex von Anlagen enthalten, welche zur Herstellung eines ganzen Bion gehören und es fragt sich nur, wie dies mit der Differenzierung des vielzelligen Wesens vereinbar ist, dessen veschiedene Zellenarten nach unserer Annahme doch gerade darauf beruhen, dab sie von differenten Determinanten beherrscht werden. Hier ist nun offenbar nur der eine schon angedeutete Ausweg möglich, daß dies zwar auch bei Arten mit Knospung der Fall ist, dab 28 Regeneration aber die Beherrschung einer Zelle durch eine spezifische Determinante nicht ausschließt. daß noch andere Determinanten in ihr enthalten sind, aber in einem Zustand, in dem sie auf die Zelle nicht bestimmend ein- wirken, d. h. in inaktivem Zustand. So gelangen wir also auch auf (liesem Wege wieder zu unserer früheren Annahme einer Beigabe von inaktivem Nebenidioplasma während der Ontogenese an alle, oder doch an gewisse Zellenfolgen. Dieses wird nur bei Pflanzen volles Keim- plasma gewesen sein müssen und bei niederen Pflanzenformen, wie bei Caulerpa unter den Algen, bei Marchantia unter den Lebermoosen wird es nach den Regenerationsversuchen von REINKE und VÖCHTING SO ziemlich in allen Zellen der Pflanze anzunehmen sein. Bei den viel- zelligen Tieren aber, die sich ja alle aus zwei differenten, mit einem verschiedenen Determinantenkomplex ausgerüsteten Keimblättern ent- wickeln, geht auch die Knospung von mindestens zwei verschiedenen Zellenarten aus und wir werden jeder derselben nur den ihr eigentümlichen Determinantenkomplex als Regenerationsidioplasma zuerkennen dürfen. Die höheren Pflanzen zeigen uns, daß ein starkes Knospungs- vermögen nicht notwendigerweise auch mit starkem Regenerationsver- mögen verbunden sein muß — die histologisch spezialisierten Zellen werden dort eben kein inaktives Keimplasma enthalten, weil sie es nicht brauchen. Bei den Tieren aber verbindet sich das Knospungsvermögen wohl immer mit starker Regenerationskraft, wie vor allem Polypen und Medusen zeigen und in umgekehrtem Sinn die Rippenquallen (Cteno- phoren), welche keine Knospung aufweisen und zugleich nur sehr ge- ringes Regenerationsvermögen, obschon sie kaum eine höhere Organi- sation besitzen als die übrigen Quallen. Bei den Rippenquallen "gibt jede der beiden ersten Furchungszellen, wenn sie künstlich voneinander getrennt werden, nur einen halben Embryo, und wir werden daraus schließen, daß sie kein, oder doch nur wenig volles Keimplasma in in- aktivem Zustand enthalten, jedenfalls nicht in hinreichender Menge, um regenerativ sofort eintreten zu können. Aber freilich kommt Regenerationsvermögen auch sehr wohl ohne Knospungsvermögen vor, was ja auch der Theorie durchaus nicht wider- spricht. Hohes Regenerationsvermögen findet sich, wie wir gesehen haben, bei vielen Tieren, die nur als Personen, nicht als Stöcke auf- treten, aber nur bei solchen, die leicht verletzbar sind, und nur in solcher Weise, wie es die Art ihrer Verletzbarkeit bedingt. Bei höheren Metazoen beschränkt sich dann das Vermögen immer mehr und mehr und sinkt bei den Säugern zu einem bloßen Wundenverschluß herab. UÜberbliekt man die Annahmen, die wir von der Theorie aus zur Erklärung der Keimzellenbildung, der Knospung und der Regeneration machen mußten, so könnte es scheinen, als liege ein Widerspr uch (darin, wenn einerseits gewissen Zellfolgen volles Keimplasma als inaktives Nebenidioplasma beigegeben wurde, andererseits sehr zahlreichen Zellen, wenigstens bei niederen Metazoen, Knospungsidioplasma und wiederum womöglich noch zahlreicheren Regenerationsidioplasma. Allein einmal fällt Knospungs- und Regenerationsidioplasma bei niederen Metazoen offenbar zusammen: dasselbe Idioplasma, welches auf uns unbekannte Auslösungen hin von zwei oder drei Keimblättern aus zur Bildung einer Knospe zusammen arbeitet, bewirkt auf den bekannten Reiz der Ver- letzung hin Regeneration des verstümmelten Teils. Keimzellen aber können bei Metazoen niemals aus partiellem Knospungs- oder Regene- rationsidioplasma entstehen, weil diese eben kein volles Keimplasma bei Pflanzen. 2) sind, weil sie nur durch Zusammenwirken von zweierlei oder mehrerlei Zellenarten Knospung oder Regeneration des Ganzen hervorbringen können, während Keimzellen immer nur von einer Zelle ihren Ursprung nehmen und niemals durch Verschmelzung von Zellen entstehen. Keimzellen können also nur aus den Zellen der Keimbahn hervorgehen auf keine andere Weise, einerlei ob die Keimbahn ganz im Ektoderm liege, wie bei den Hydromedusen, oder im Entoderm, wie bei den Acalephen und Ctenophoren, oder im Mesoderm, wie bei vielen anderen höheren Tier- gruppen. Nur scheinbar gehören diese Zellen einem der Keimblätter an, in Wahrheit sind sie eigenartig, und werden nur in der einen oder anderen Zellenlage weiterbefördert. um sich dann nicht selten, wie bei den Hydromedusen wieder von ihr zu emanzipieren. Nur bei den Pflanzen müssen wir — wie oben schon gesagt wurde — auch die Knospung von Zellen ausgehen lassen. die volles Keimplasma enthalten, denn hier gibt es keine „Keimblätter* im Sinne der tierischen Entwicklung und die Zellen des Vegetationspunktes müssen mit dem ganzen Keimplasma ausgestattet sein. Die Pflanze ist — ganz ähnlich wie der Hydroidpolypen- und Siphonophorenstock —- haupt- sächlich dadurch vor dem Absterben durch gewaltsame Einbuße ihrer Personen, der Sprosse geschützt, daß sie fast überall an ihren ober- irdischen Teilen Knospen hervorbringen kann, die sich zu neuen Sprossen mit Blättern usw. entwickeln. Das macht die Regenerationsfähigkeit der einzelnen Blätter und Blütenteile überflüssig: es bedingt aber zu- gleich, daß eine ungeheure Menge von Zellen über die ganze Fläche der Pflanze verbreitet ist, deren jede unter Umstän- den zum Ausgangspunkt einer Knospe werden kann, d. h. deren jede das volle Keimplasma in gebundenem Zustand enthält, wie es zur Herstellung einer ganzen Pflanze erforderlich ist. Wir werden also annehmen müssen, daß bei den höheren stock- bildenden Pflanzen Keimplasma in einer sehr großen Anzahl von Zellen enthalten ist, vielleicht in allen Zellen, die noch nicht histologisch differenziert sind. zuweilen — wie bei den Begoniablättern — auch in solchen. Ich würde mir also vorstellen. daß auch bei der höheren Pflanze die Ontogenese mit einer Zerlegung des Determinantenkom- plexes des Keimplasmas einhergeht. daß diese aber später erst einsetzt, und daß in viel höherem Grade als es bei Tieren von der Individuen- stufe der Person der Fall ist, Keimplasma in gebundenem Zustand von den Pflanzenzellen mitgeführt wird. Diesem wäre es zuzuschreiben, daß die Pflanze nicht nur imstande ist, Verluste an Zweigen und Ästen durch neue Sproßtriebe zu ersetzen, sondern auch daß sie imstande ist, Stecklinge, d. h. abgelöste Sprosse zu bewurzeln, überhaupt der Situation des Pflanzenteils entsprechende Vervollständigungen hervorzubringen. Auch bei der Ontogenese der Tiere mußten wir annehmen, dab das Aktiv- werden der Determinanten einer Auslösung bedarf und daß (diese in den Einflüssen gesucht werden muß, welche die Konstitution der Zelle auf das in ihr gelegene Idioplasma ausübt, welche Konstitution selbst aber wieder beeinflußbar ist von den auf sie wirkenden äußeren Um- ständen inklusive der Zellkörper selbst. So werden wir auch bei der Pllanze uns vorstellen dürfen, daß das in gebundenem Zustand betind- liche Keimplasma zahlreicher Zellen ganz oder aueh nur teilweise aktiv wird, je nach den Einflüssen, welche der augenblickliche Zustand dieser Zelle auf dasselbe ausübt; dieser aber wechselt, je nach den äußeren Umständen, je nachdem die Zelle vom Licht getroffen wird, 30 Regeneration. oder unterirdisch liegt, je nachdem die Schwere auf sie einwirkt, die Feuchtigkeit, chemische Stoffe usw. Man könnte hierauf einwerfen, daß es einfacher sei, überhaupt keine Spaltung des Keimplasmas in Determinantenkomplexe zur Er- klärung der Ontogenese anzunehmen, vielmehr das ganze Keimplasma von Anfang bis Ende der Ontogenese jeder Zelle zu vindizieren und (die Unterschiede der Zellen. wie sie den Aufbau der Pflanze und die Ditferenzierung bedingen, lediglich auf die verschiedenen Einflüsse zurückzuführen, welche Zellen von außen und innen erfahren und welche hier diese dort jene Determinanten in Tätigkeit versetzen. Vielleicht würden sich die Botaniker mit dieser Auffassung leichter befreunden, mir aber scheinen zwei Gründe gegen ihre Richtigkeit zu sprechen. Erstens der Umstand, daß es doch wohl lange nicht feststeht, daß wirklich jede Zelle der höheren Pflanze imstande ist, unter günstigen Bedingungen eine ganz neue Pflanze aus sich hervorzubringen, daß es vielmehr an jedem Baum und jeder höheren Pflanze eine Masse von Zellen an Blättern, Blüten usw. gibt, die dazu nicht imstande, die also einseitig differenziert sind, d. h. die nur eine Art von Determinanten enthalten, wie die histologisch differenzierten Zellen der Gewebe des menschlichen Körpers. Zweitens aber der Umstand, daß es eben nicht bloß Pfanzen gibt. Eine Theorie der Entwicklung kann so- wenig als eine solche der Vererbung, bloß auf die Erscheinungen bei den Pflanzen aufgebaut werden; Unterschiede bestehen in den Lebens- vorgängen bei Pflanzen und Tieren, schwerlich aber solehe so funda- mentaler Art. Nun ist es aber unzweifelhaft, daß die zu Geweben ver- wendeten Zellen der höheren Tiere, die Nerven-, Muskel-, Drüsenzellen wirklich einseitig differenziert, auch völlig unfähig sind, jemals und unter irgend welchen Umständen zum ganzen Organismus auszuwachsen, und es ist schon allein daraus zu schließen, daß in der Tat nur die eine Anlage oder Determinante in ihnen enthalten ist. Soll man nun annehmen, daß die doch auch schon einseitig differenzierten Gefäßzellen, Epidermiszellen, Holzzellen usw. der höheren Pflanzen trotzdem das sanze Keimplasma enthalten? Ich sehe nicht, was für eine so gewalt- same Annahme anzuführen wäre. Zum Schluß alles dessen, was über Regeneration gesagt werden konnte, komme ich noch eimmal auf die eigentliche letzte Erklärung dieses wunderbaren Vermögens zurück. Ich habe es abgelehnt, dafür überhaupt eine Erklärung zu versuchen, weil ich sie noch nicht für möglich halte, allein eine Andeutung, nach welcher Seite hin dieselbe zu suchen sein wird, möchte ich dennoch geben. Wir nahmen ein Regenerationsidioplasma, also „Anlagen“ an ge- gewissen Stellen des Körpers an. aber wie kommt dasselbe dazu, den verlorenen Teil in richtiger Stellung und Ausführung aufzubauen? Man könnte ja nun wohl eine theoretische Formel ausdenken, nach welcher sukzessive immer die Determinanten der aufeinanderfolgenden Teile aktiv würden, sieh also gegenseitig in richtiger Reihenfolge auslösten, aber es wäre dabei nicht viel gewonnen, zumal dasjenige, was man bis jetzt über das Wiederwachsen von Beinen und Zehen bei Tritonen weiß, nicht einmal mit einer solehen Annahme stimmt. Wichtiger, wenn auch vorläufig noch recht unbestimmt im genaueren, scheint es mir, sich bewußt zu werden, daß in allen Lebenseinheiten Kräfte wirksam sind, die wir noch nieht näher kennen, die aber die Teile einer solchen Einheit aneinander binden. und zwar in bestimmter Ordnung und Be- Vitale Affinitäten. 31 ziehung. Solche Kräfte mußten wir schon für die niederen Einheiten des Biophors annehmen, da sie sonst einer Vermehrung durch Teilung nicht fähig sein könnten, auf welcher doch alles organische Wachsen beruhen muß, wollen wir nicht, wie NÄGELI es tat, eine fortwährende (reneratio aequivoca der spezifischen Biophorenarten (seiner „Micellen“) annehmen. Wir werden aber später sehen, wenn von der Urzeugung die Rede sein wird, daß wir eine solche Annahme nicht billigen können. Wenn nun ein von Innen heraus erfolgendes, bloß auf Wachstum mittelst Assimilation beruhendes Teilungsvermögen ohne solche bindende und abstoßbende Kräfte, „vitale Affinitäten“, nicht gedacht werden kann, da ja dann die Anordnung der inneren Teile notwendig in Un- ordnung geraten müßte bei jeder Teilung, dann müssen solche „Affinitäten“ in allen Stufen der Lebenseinheiten wirksam sein, also in Zelle und Person ebensogut als in Determinante und Id. Wohl besitzen Personen ja nicht mehr allgemein das Ver- mögen sich durch Teilung zu vermehren, aber unter niederen Tieren besitzen es viele doch, und das Vermögen, einzelne Teile neu wieder hervorzubringen, ist offenbar auch nur ein Teıl jenes Vermögens, durch Teilung das Ganze zu verdoppeln. Regeneration muß also in ihrer tiefsten Wurzel auf jenen „Affinitäten“ zwischen den Teilen beruhen, welche ihrer Anordnung vorstehen und imstande sind, diese Ordnung zu erhalten und wieder neu hervorzurufen. So erscheint uns der Organismus nach dieser Richtung hin allerdings einem Kristall vergleichbar. dessen abgebrochene Spitzen sich aus der Mutterlauge wieder nach demselben Kristallisationssystem ergänzen, offenbar auch infolge innerer richtender Kräfte, Polaritäten, die wir aber auch hier nicht genau präzisieren können. Der Unterschied vom Kristall aber liegt nicht nur — wie man bisher wohl anzunehmen geneigt war — darin, daß der Kristall der Mutterlauge bedarf, um zu wachsen und sich zu ergänzen, während die Lebenseinheit sich selbst das Material zu weiterem Aufbau schafft, sondern zugleich darin, daß nicht in jedem Organismus und nicht an jeder Stelle eines solchen Regeneration mög- lich ist, daß es vielmehr dafür besonderer „Anlagen“ bedarf. ohne welche der betreffende Teil nicht entstehen kann. Die Unentbehrlich- keit dieser Anlagen, der Determinanten, aber scheint mir darauf zu beruhen, daß hier der Neubau nicht einfach nur durch Herbeischaffung organischen Materials geschehen kann, sondern daß es dazu ganz be- sonders, und in jedem Falle anders behauener Steine bedarf, welche nur auf Grund historischer Überlieferung beschafft werden können, oder, um aus dem Bild ‚zu treten, diese Anlagen sind unentbehrlich, weil die Lebensteilchen, aus welchen «das Organ wieder herzustellen ist, ein spezifisches Gepräge besitzen und eine lange Vorgeschichte hinter sich haben, weil sie also nur aus den durch Generationen hindurch über- lieferten spezifischen Lebensteilchen, eben den Determinanten, hervor- gehen können. Diese Anlagen aber sind in sehr verschiedenem Grade und in recht ungleicher Verteilung den verschiedenen Lebewesen mit- gegeben und zwar, soweit wir sehen können, entsprechend der Zweck- mäßigkeit. XXIII. VORTRAG. Anteil der Eltern am Aufbau des Kindes. Die Ide sind „Ahnenplasmen“ p. 32, Die Reduktionsteilung schafft Ungleichheit des Keimplasmas in den Keimzellen p. 33, BOLLES LEE Neotaxis schon in den Urkeim- zellen p. 34, HÄCKERS Beobachtungen über Getrenntbleiben der väterlichen und mütterlichen Chromosomen pr36; Identische Zwillinge p. 35, Die Individualität ist mit der Befruchtung bestimmt p. 39, Ungleicher Anteil der Ide an der Bestimmung des Kindes p. 41, Überwiegen des einen Elters im Bilde des Kindes p. 41, Un- verändertbleiben einzelner Ide der Vorfahren im Keimplasma der Nachfahren p. 43, Kampf der Biophoren p. 45, Wechsel der Erbnachfolge in den Teilen des Kindes p. 45, Rückschlag p: 45, Daturamischlinge p. 47, Zebrastreifung der Pferde p. 48, Dreizehige Pferde p. 45, Neue Vermischungsversuche bei Pflanzen von ÜORRENS und DE VRIES p. 49, Xenien p. 50. Meine Herren! Wir haben gegenüber den Erscheinungen der Regeneration und der Knospung nicht viel mehr tun können als sie in eine Formel zu bringen, die sich der Keimplasmatheorie einfügt. Anders steht es bei den eigentlichen Vererbungserscheinungen im engeren Sinn, z. B. bei der Übertragung individueller Unter- schiede vom Elter auf das Kind. Hier vermag die Theorie in der Tat, unsere Einsicht zu mehren und uns tiefer in die Ursachen der Erscheinungen hineinblicken zu lassen; hier ist sie nicht mehr eine bloße „Koffertheorie“. | Besonders von der Beobachtung an uns selbst, d. h. am Menschen wissen wır, daß die Kinder eines Elternpaars wohl einander ähnlich aber niemals gleich sind, daß häufig das eine Kind diesem, das andere dem anderen Elter überwiegend gleicht, dann wieder ein Kind eine Mischung der beiden Eltern zeigt. Wie kommt das? Da doch die Keimsubstanz der beiden Eltern von derjenigen der Eizelle sich herleitet, aus welcher sie selbst hervorgegangen sind, also doch wohl auch gleich sein müsste in allen Keimzellen, welche sie selbst hervor- bringen — neue Determinanten können nicht hinzu, alte nicht hinweg- kommen, und eine Veränderung von Determinanten, deren Möglichkeit zuzugeben ist, würde doch die Mischung der elterlichen Ähnlichkeiten nicht direkt beeinflussen, sondern höchstens etwas Neues und Fremdes hinzubringen. Hier gibt uns nun die Theorie einigen Aufschlub. Wir sahen uns genötigt anzunehmen, daß das Keimplasma aus Iden zusammengesetzt ist, d. h. aus gleichwertigen Keimplasmastücken, deren jede alle Arten von Determinanten enthält, die zum Aufbau eines Individuums gehören, aber jede dieser Arten in besonderer indi- vidueller Gestalt. Ich habe diese Ide früher Ahnenplasmen genannt, Einfluß der Reifeteilung. w. ... ww und der Name trifft auch insofern zu, als ja bei jeder Befruchtung die gleiche Anzahl Ide vom Vater und von der Mutter her in der Eizelle vereinigt werden, somit also das Kind aus den Iden seiner beiden nächsten „Ahnen“ aufgebaut wird. Da nun aber die Ide der Eltern von denen der Großelteren herrühren, diese wieder von denen der Urgroßeltern, so sind die Ide in der Tat Idioplasmen der Ahnen. Man hat indessen den Ausdruck vielfach dahin mißverstanden, als sollte damit gesagt sein, daß die Ide für alle Zeiten unverändert den Charakter des betreffenden Ahn beibehielten, woraus mir dann die Vorstellung untergeschoben wurde, unsere eignen Ide bestünden heute noch aus den Determinantenkomplexen unsrer fischartigen oder gar amöbenartigen Vorfahren. In Wahrheit entspricht kein Id genau und vollständig dem „Bild“ d. h. dem (Gresamtwesen irgend eines der Vor- fahren, in dessen Keimplasma es früher enthalten war, denn jeder der Vorfahren hatte ebenfalls viele Ide in seinem Keimplasma, und sein Bild wurde nicht durch irgend eines derselben allein bestimmt, sondern durch das Zusammenwirken aller seiner Ide. Das aus einer Keimzelle hervorgehende Individuum muß notwendigerweise (die Resul- tante aus allen den Iden sein, die sein Keimplasma ausmachen, wenn auch sehr wohl der Anteil einzelner derselben ein stärkerer sein kann, als der von anderen. Auch ist es ja klar, daß, wenn wir einmal ganz absehen von eiuer möglichen Abänderung der Ide, ein jedes derselben nicht nur einem, sondern einer langen Reihe von Vorfahren angehört und bei deren Bildung mitgespielt haben muß, daß es also schon des- halb nicht das Idioplasma eines bestimmten Ahnen ist, sondern nur Ahnenplasma im allgemeinen Sinn. In diesem Sinn könnte man die Bezeichnung für das Id ganz wohl beibehalten. So besteht also nach unserer Auffassung das Keimplasma aus Iden, deren jedes alle Determinanten der gesammten Ontogenese ent- hält, aber meist in individuell verschiedener Ausführung. Erinnern Sie sich nun, durch welehen Vorgang die Herabsetzung der Chromosomenzahl, d. h. der aus Keimplasma bestehenden Kern- stäbchen der Ei- und Samenzelle zustande kommt, so sind es die beiden letzten Teilungen der Keimzellen, durch welche dies geschieht, die sog. „Reifungsteilungen“. Bei diesen nämlich wird die Kern- substanz — wie wir gesehen haben — nach einem ganz andern Modus auf die beiden Tochterkerne verteilt, als gewöhnlich, insofern nicht eine Längsspaltung der Stäbchen, Schleifen oder Kügelchen in der Äquato- rialebene der Kernspindel eintritt, und dann je eine Spalthälfte nach links, die andere nach rechts rückt, sondern vielmehr ohne vorherige Spaltung je die halbe Zahl der Stäbehen in den rechten und den linken Tochterkern rückt, so daß also in jedem Tochterkern die Zahl der Stäb- chen auf die Hälfte reduziert wird (Fig. 76). Obschon diese Art der Verteilung der Stäbehen zweimal hinter- einander erfolgt. so wird doch wie wir sahen — die Normalzahl derselben nicht auf ein Viertel herabgesetzt, weil schon lange vor der ersten Reifungsteilung eine Verdoppelung der Stäbchen dureh Längs- spaltung stattgefunden hatte, so daß also die erste Teilung sich von einer gewöhnlichen zunächst nur dadurch unterscheidet, daß die Spaltung der Stäbchen nicht erst während des Teilungsprozesses erfolgt, son- dern schon lange vorher. Erst die zweite Reifungsteilung weicht von allen anderen Kernteilungen ab, die wir kennen, indem sie über- haupt nicht mit einer Spaltung der Stäbehen verbunden ist, Weismann, Deszendenztheorie. IL. 2. Aufl, 2) 3 Vererbungserscheinungen. sondern die Hälfte der vorhandenen Stäbchen in je einen Tochterkern überführt. Sie ist die wirkliche Reduktions- teilung. durch welche die Zahl der Stäbehen auf die Hälfte herab- gesetzt wird”). Diese numerische Reduktion muß aber noch eine andere Folge haben: sie muß die Keimzellen desselben Individuums qualitativ, d.h. in bezug aufihren Vererbungswert ungleich machen. Nehmen wir einmal nur vier Chromosomen von Stäbehenform (,„Idanten“) als die Kernelemente einer Art an, von welchen also zwei, z u. 5 von der Mutter, zwei andere, © u. d vom Vater stammen, so können, soweit wir sehen, durch die letzte „Reifungsteilung“ sowohl die Kombination Fig. 76 (wiederholt). Schema der Reifeteilungen der Eizelle 4 Urkeimzelle. 3 Ei-Mutterzelle, durch Wachstum und Verdoppelung ihrer Chromosomen entstanden. C Erste Reifeteilung. 2 unmittelbar nachher, Ar erste Richtungszelle. Z die zweite Reifespindel gebildet, die erste Richtungszelle in zwei geteilt (2 u. 3), die vier im Ei zurückgebliebenen Chromosomen liegen in der zweiten Richtungsspindel. F unmittelbar nach der zweiten Reifeteilung: z die fertige Eizelle, 2, 3 u. 4 die drei Richtungszellen, jede der vier Zellen je zwei Chromosomen enthaltend. au dvoncau.d, als auche ucvon du. d undzu. Z vonzbarse entfernt werden; es können also sechs verschiedenartige Kombinationen von Stäbchen in je eine Keimzelle gelangen, oder, was dasselbe ist: es können sechs in ihren erblichen Anlagen verschiedene Arten von Keimzellen in demselben Individuum sich bilden. Da diese Neukombimierung, man könnte sagen Neotaxis der Keimplasmaelemente, *) Neuere Untersuchungen haben ergeben, daß die Reduktion nicht immer nach dem hier zugrunde gelegten Schema erfolgt. Da indessen die Untersuchungen darüber noch nicht endgültige abgeschlossen sind, so sehe ich um sö lieber davon ab, als das wesentlichste Endresultat, die Reduktion, dasselbe bleibt. Dy-4 Einfluß der Reifeteilungen. 35 sowohl in weiblichen als in männlichen Individuen erfolgt, so würden also bei der Befruchtung 6 > 6 — 36 verschieden beanlagte Individuen aus den Keimzellen derselben zwei Eltern entstehen können. Mit der Normalziffer der Stäbehen wächst natürlich die Zahl dieser möglichen Kombinationen sehr bedeutend, bei acht Stäbchen beträgt sie schon 70, bei sechszehn 12870; die Zahl der nach Erbanlage verschiedenen In- dividuen würde dann also eine ungeheure sein, denn jede der 70 oder 12870 verschiedenen Erbmischungen der Eizelle könnte sich mit jeder der 70 oder 12 70 verschiedenen Samenzellen in Amphimixis verbinden, so daß also 70 >< 70 bezw. 12870 > 12870 individuell verschieden beanlagte Kinder demselben Elternpaar entspringen könnten. Beim Menschen sollen 16 Kernstäbehen vorhanden sein; auf ihn also würde die letztbezeichnete Zahl elterlicher Erbmischungen Anwendung finden. Das könnte eine unverhältnismäßig hohe Zahl scheinen bei der geringen Kinderzahl eines menschlichen Paares, aber wir dürfen da nicht bloß nach dem Menschen urteilen, und bei Tieren und Pflanzen ist, wie wir früher besprochen haben. die Nachkommenzahl meist eine viel größere und oft eine ungeheuer große. Wir sahen, welche Bedeutung diese scheinbare Verschwendung der Natur hat, daß nämlich ohne sie An- passung an veränderte Lebensbedingungen nicht möglich sein würde, denn wenn nur soviele Nachkommen geboren würden, als zur Fort- pflanzung gelangen müssen, so könnte eine Auswahl der Besseren nicht eintreten. Dasselbe müßte der Fall sein, wenn alle Jungen einer Art gleich wären, und wenn auch nur alle Nachkommen eines Elternpaars gleich wären, so würde dies schon eine wirkungsvolle Selektion aus- schließen, da dann ja nur aus sovielen Individualitäten ausgewählt werden könnte, als Elternpaare vorhanden waren. Es ist leicht zu ver- stehen, daß Selektion um so wirksamer arbeiten wird, je größer und je verschiedenartiger die Nachkommenschaft der Art ist; die Aussicht, daß auch die bestmögliche Kombination von Eigenschaften vorkommt, steigt dadurch. Wenn wir auch nicht nachrechnen können, wieviele Individuen verschiedener Charaktermischung Naturzüchtung nötig hat, um die Art- entwicklung zu leiten *), so können wir doch verstehen, dab eine mög- lichst große Auswahl allein es sichern kann, dab immer die bestmög- lichen Anpassungen aller Teile und Organe zustande kommen und sich erhalten. Gerade darin, daß ein so gewaltiger Überschuß an Individuen von jeder (seneration hervorgebracht wird, liegt allein die Möglichkeit so intensiver Selektionsvorgänge, wie sie fortwährend stattfinden müssen, wenn (die Anpassungen aller Teile Erklärung finden sollen. Wenn aber von den Tausenden von Nachkommen einer fruchtbaren Art immer je Hundert miteinander identisch wären, dann würden diese Hundert der Naturzüchtung gegenüber nur den Wert einer einzigen Variante haben. Eine so allseitige Anpassung, wie sie im Bau der Arten tat- sächlich vorliegt, erfordert aber so viele Varianten, als nur irgend mög- lich, sie fordert, daß jedes Individuum ein eigentümlicher Kom- plex erblicher Charaktere sei, d.h. daß alle befruchteten Keim- *, Deshalb habe ich auch die obigen Zahlen für die Idkombination stehen lassen, obwohl sie nach den neueren Untersuchungen über die Reifungsvorgänge wahrscheinlich zu hoch sind, weil nicht jede denkbare Kombination auch wirklich vorkommt. Es handelt sich aber hier weniger um die reale Höhe der Ziffern, als um das Prinzip. 56 Vererbungserscheinungen. zellen eines Paares schon ein individuell gestempeltes Keimplasma besitzen. Die Berechtigung dieses Postulats tritt um so schärfer hervor, wenn wir nicht bloß die weiblichen, sondern auch die männlichen Keim- zellen in Betracht ziehen. Denken wir an die enorme Zahl von Samen- zellen, welche bei vielen und zwar auch bei den höchsten Tieren her- vorgebracht wird, eine meist unschätzbar große Zahl, die jedenfalls weit über die Millionen hinausgeht. Nehmen wir einmal beim Menschen nur 12870 Millionen Samenfäden an, so würden bei 16 Iden und bei gleicher Häufigkeit aller möglichen Keimplasmakombinationen — es wären derer 12870 — immer je eine Million derselben identisches Keim- plasma enthalten. Die Gefahr, daß mehrere Eizellen von identischen Samenzellen befruchtet würden, wäre also nicht so ganz klein. Es hätte deshalb nicht überraschen können, wenn die Natur noch andere Mittel angewandt hätte, um die Ide des Keimplasmas möglichst verschiedenartig in den Keimzellen zu gruppieren. Das einfachste Mittel würde sein, wenn schon vor jeder Teilung der Urkeimzellen die Kern- stäbehen sich teilten und ihre Spalthälften sich regellos untereinander zerstreuten, so dab dann bei der nachher sich bildenden Kernspindel eine ganz neue Anordnung der Spalthälften die Folge wäre. Allein bei den Tieren wenigstens ist dies bestimmt nicht so; der Reduktions- vorgang ist bei ihnen auf die Reifungsteilungen allein ein- geschränkt. Schon vor Jahren hatte IscHIKAwA gesehen, dab bei der Kopu- lation von Noctiluca die Kerne der beiden Tiere sich zwar dicht anein- anderlegen, daß sie aber nicht miteinander verchmelzen, obgleich sie sich bei der dann folgenden Teilung wie ein Kern verhalten. Die väterliche und die mütterliche Kernsubstanz bleiben hier ge- trennt (Fig. 83, p. 259). Dasselbe ist nun wiederholt auch bei Viel- zelligen beobachtet worden, zuerst von HÄCKER, dann von RÜCKERT bei Ruderfüßern (Kopepoden), ferner von CONKLIN bei den Eiern einer Schnecke (Crepidula). Doch bezogen sich alle diese Beobachtungen nur auf die früheren Stadien der Eifurchung bis zu 29 Zellen hin, und man konnte nicht sagen, ob die Trennung der väterlichen und mütterlichen Chromosomen etwa noch länger «durch die Ontogenese hin andauert. Nun konnte aber HÄCKER bei einem Ruderfüber (Canthocamptus) neuer- dings diese Trennung nicht nur von Beginn der Furchung bis zur Urgenitalzelle hin verfolgen, sondern auch durch die Tei- lungen derselben hindurch bis zu den Eimutterzellen. Wir dürfen also jetzt als sicher annehmen, daß väterliche und mütter- liche Vererbungskörper nicht nur eine Zeitlang, sondern durch die gesamte ÖOntogenese hindurch getrennt bleiben, eine Tatsache, die unsere Annahme von der Selbständigkeit der Kernstäbchen trotz ihrer scheinbaren Auflösung im Kernnetz des „ruhenden“ Kerns vollends sicher stellt. Aber noch nach einer anderen Seite hin wirft diese neue Erkenntnis helles Licht: sie beweist uns, daß die sonderbaren und ver- wickelten Vorgänge, welche an der Kernsubstanz während der- Reife- teilungen ablaufen, zum Teil wenigstens den Sinn haben, den ich ihnen schon lange unterlegte*), nämlich den, eine Vermengung der väterlichen und der mütterlichen Vererbungsstücke zu bewirken, denn, wie HÄCKER zeigte, bleiben während der zweiten Reifungsteilung die väterlichen und *) Siehe meine Schrift: „Amphimixis“. Jena 1591. 3- teduktionsteilunge. BY die mütterlichen Chromosomen nicht mehr zu je einer besonderen Gruppe vereinigt. sondern sie zerstreuen sich vielmehr im Kern, um dann später wieder zu zwei verschiedenartig kombinierten Gruppen zusammenzutreten. Wäre dem nicht so, blieben auch dann noch die mütterlichen und väterlichen Chromosomen voneinander getrennt, so könnte durch die Reduktionsteilung nur eine dieser Gruppen in je eine Keimzelle ge- langen und jede reife Ei- oder Samenzelle enthielte «dann entweder nur väterliche oder nur mütterliche Vererbungskörper. Dadurch würde aber ein Rückschlag auf mehr als drei Generationen zurück unmöglich ge- macht, und da ein solcher doch wohl unzweifelhaft vorkommt. so mußte schon daraus geschlossen werden, daß eine vielfache Neukombinierung der väterliehen und mütterlichen Chromosomen stattfindet. Dies erfolgt nun offenbar während der Reifeteilungen, wenigstens bei «den Metazoen. | Je zahlreicher die Stäbchen oder die freien Einzelide bei einer Art sind, um so zahlreichere Kombinationen derselben sind möglich. Ob alle mathematisch möglichen Kombinationen auch wirklich vor- | kommen, das ist eine andere Frage, die ich durchaus nicht ohne weiteres | bejahen möchte: jedenfalls aber wird auch die wirkliche Zahl der Kombinationen bei einer Art mit vielen Kernelementen größer sein, als bei einer mit wenigen, und insofern werden Arten, deren Ide als selbständige Körner auftreten, im Vorteil sein gegenüber solchen, bei welchen dieselben zu Stäbehen oder Schleifen (Idanten) verbunden sind. Die letzteren aber bieten für uns eine bessere Möglichkeit, die Neu- kombinierung der Ide zu erschließen, obschon die Idanten selbst sich äußerlich.meist auch nicht voneinander unterscheiden lassen. | Ich muß es mir versagen, hier auf das (renauere der höchst inte- ressanten aber noch nicht klar erkannten Vorgänge der Reifeteilungen näher einzugehen. Soviel ist gewiß, daß die Natur sich verschiede- ner Mittel bedient, um die Neukombinierung und zugleich die Reduk- tion der Ide während der beiden „Reifeteilungen“ zustande zu bringen. Das zeigt schon die durch MONTGOMERY neuerdings festgestellte Tat- sache, daß die Reduktion bei manchen Tiergruppen schon mit der ersten Reifeteilung erfolg. Mag sie aber auch dabei mit Ringen, Schleifen, Doppelstäbehen. X-förmigen Gebilden, Vierergruppen usw. operieren, alles dieses dient immer demselben Zweck, der mehr oder weniger ein- greifenden Neuzusammenordnung der Vererbungseinheiten und ihrer Reduktion auf die halbe Anzahl. Ich bin überzeugt, daß neue Unter- suchungen dieser Vorgänge, wenn sie von diesem Gesichtspunkt aus unternommen werden, noch zu wichtigen Aufschlüssen führen müssen *). *) Seit dies für die erste Auflage geschrieben wurde, haben sich die Be- obachtungen über diese Vorgänge bedeutend gemehrt und die Verhandlungen über die genauere Bedeutung derselben befinden sich in vollem Fluß; wir stehen inmitten einer Fülle neuer Beobachtungen, Tatsachen und Auslegungen, ohne aber schon zu einer übereinstimmenden, einheitlichen Auffassung gelangt zu sein. Mehrere Forscher, neuerdings vor allem Boverr und HÄcKkEr haben eine einheitliche Deutung versucht, aber selbst wieder vielfach im Gegensatz zueinander, so daß es unmöglich wäre, hier darauf einzugehen, ohne zugleich die ganze verwirrende Mannigfaltigkeit der Einzel- beobachtungen vorzulegen. Weitere Klärung der Ansichten durch neue Beobachtungen ist abzuwarten; nur soviel sei hier gesagt, daß bei der Umordnung der Idanten während der Reifeteilungen nicht bloß der Zufall zu walten scheint, sondern Affi- nitäten zwischen den verschiedenen Idanten mitspielen, stärkere oder schwächere Anziehungen zwischen ihnen, welche ihre Stellung zueinander und da- durch ihre Zuteilung zu dem einen oder dem anderen Tochterkern mitbestimmen Darauf scheint es zu beruhen, daß wie wir bald sehen werden bei Vermischung von Arten oder Rassen ihre Idanten sich bald wieder von einander trennen. 38 Vererbungserscheinungen. Es käme darauf an, zu erfahren, wie stark die Veränderungen sind, die dla entstehen, denn es ist sehr wahrscheinlich, dab sie in verschiedenen Tiergruppen verschieden stark sind. Deutet doch schon die Verbindung der Ide zu Stäbchen (Idanten) darauf hin, daß solche Arten konser- vativer in der Erhaltung ihrer Idkombinationen sein werden, daß also auch eine größere Zähigkeit der vererbten Kombinationen von Charak- teren (des „Bildes“ des Elters) bei ihnen statthaben wird. Gelänge es, in diese Vorgänge tiefer einzudringen, dann würden wir vermutlich auch verstehen, warum in gewissen menschlichen Familien die Erbeharaktere sich reiner und zäher vererben als in anderen, mit denen sie sich ver- mischt haben u. s. w. Festeres Zusammenhalten der einmal zum Stäb- chen vereinigten Ide könnte sehr wohl die Schuld daran tragen, denn es scheint mir keineswegs ausgeschlossen, dab auch in diesen feinsten Vorgängen individuelle Unterschiede vorkommen. Sehen wir aber hier von diesen intimsten Fragen ganz ab und wenden uns nur den gröberen Erscheinungen zu, so gibt uns die oben besprochene Umordnung der Ide (Neotaxis) eine einfache Erklärung für die allgemein beobachtete Erscheinung der Verschiedenheit der Individuen; jedes Individuum ist vom anderen verschieden, nicht nur beim Menschen, sondern bei allen Arten, bei denen wir ein Urteil darüber gewinnen können, und zwar nicht nur bei verschiedenen, son- dern auch bei den gleichen Eltern. (rewib beruhen die Unterschiede zwischen zwei Brüdern oder Schwestern nicht allein auf erblicher Grundlage, sondern teilweise auch auf den äußeren Verhältnissen, welche von der Embryonalentwicklung an auf sie eingewirkt haben. Wenn wir uns zwei Brüder denken, die aus identischen Keimzellen hervorgegangen wären, und wir lassen den einen Seemann, den anderen Schneider werden, so wird es uns nicht wundern, dieselben in ihrem 50. Jahr recht verschieden zu finden, den einen wettergebräunt, «den anderen blaß, den einen muskelkräftie, ge- rade und stramm, den anderen schwächlich und von gebeugter Haltung. Dieselben Anlagen entwickeln sich verschieden, je nach den Einflüssen, welchen sie unterworfen sind. Aber die beiden Brüder werden doch einander ähnlicher sein in Gesichtszügen, Haarfarbe, Augenschnitt, Sta- tur. Gliedmaßenverhältnissen, vielleicht sogar in einem Muttermal, als irgend einem anderen Menschen ihrer oder einer anderen Familie, und das beruhte auf der Identität der erblichen Anlage, auf der gleichartigen Idkombination des Keimplasmas. (rerade der Mensch liefert uns ein wertvolles Beispiel für diese Auffassung in den sog. „identischen Zwillingen“. Es gibt bekannt- lich zweierlei Zwillinge, solche, die einander nicht auffallend ähnlich, oft sogar recht verschieden sind, und solche, die sich „zum Verwechseln“ ähnlich sehen. Bei den letzteren kann bekanntlich die Ubereinstimmung so weit gehen, dab die Eltern genötigt sind, ihre Kinder durch ein äuberes Zeichen zu markieren, um sie nicht fortwährend zu verwechseln. Wir haben nun allen Grund, die erste Art von Zwillingen von zwei verschiedenen Eizellen abzuleiten, die letztere Art aber von einer ein- zigen, welche erst nach der Befruchtung durch eine Samenzelle sich ın zwei Eier geteilt hat, so wie dies bei Fischen und anderen Tieren nicht selten vorkommt, und wie man es durch künstliche Trennung der beiden ersten Blastomeren bei einer Anzahl von Arten experimentell hervorrufen kann. Identische Zwillinge. 39 Wir haben also hier ein Fall von völliger Identität der Keim- plasmen zweier Individuen, denn die Idkombination der beiden aus einem Befruchtungsvorgang sich ableitenden Eier muß genau dieselbe sein. Daß nun hier trotz der unvermeidlichen Verschiedenheit der äußeren Einflüsse, die schon vom Uterinleben an die beiden Zwillinge treffen, dennoch eine oft so hochgradige Ähnlichkeit entsteht, ist eine Tatsache von tiefgreifender theoretischer Bedeutung. Vom Boden der Keimplasmatheorie aus können wir sie gut verstehen, denn nach ihr kann nur genau die gleiche Kombination von Iden identischen Indivi- duen den Ursprung geben. Die identischen Zwillinge lehren uns aber noch mehr: sie beweisen uns vor allem, daß mit der Befruchtung das ganze zukünftige Individuum bestimmt ist, oder theoretisch ausgedrückt: daß die im Ei gegebene Idzusammensetzung des Keimplasmas maßge- bend ist für die ganze Ontogenese. Man hätte ja vermuten können. daß die Kombination der Ide sich während der Entwicklung wieder ändern könnte. dab etwa eine stärkere Vermehrung der einen, eine schwächere der anderen Ide eintreten könnte auf gewissen Entwick- lungsstadien oder durch gewisse zufällige äußere Einwirkungen, man hätte an einen Kampf der Ide in dem Sinn denken können, daß ein- zelne derselben unterdrückt und beseitigt würden. Alle solche Ver- mutungen fallen in sich zusammen gegenüber der Tatsache der iden- tischen Zwillinge, welche uns lehrt, daß identisches Keimplasma eine Ontogenese hervorruft, die so gleichmäßig abläuft, wie zwei gleich gebaute und gleich regulierte Chronometer. Wenn ich aber sage, dab ein Kampf der Ide im Sinne einer materiellen Beseitigung gewisser‘ Ide nicht vorkommen kann, so soll damit keineswegs behauptet werden, daß der Einfluß, den jedes einzelne Id auf den Gang der Entwicklung ausübt, nicht sehr wohl ein un- gleicher, unter Umständen sogar ein sehr ungleicher sein könne. In diesen (segenstand genauer einzugehen, ‚muß ich mir zwar hier ver- sagen, doch möchte ich Ihnen wenigstens eine Andeutung von dem geben, worauf ich anspiele. Wenn das Keimplasma aus Iden besteht, so muß die Gesamtheit derselben den Bau, die ganze Individualität, sagen wir kurz, das „Bild“ des Kindes bestimmen; (dieses ist die Resultante aus allen den ver- schiedenen Triebkräften, welche in den verschiedenen Iden enthalten sind. Wenn diese nun alle gleich stark und in der gleichen Richtung wirkend gedacht werden dürften, so müßten sie alle den gleichen An- teil an dem Entwicklungsresultat, dem „Bilde“ des Kindes haben. Dem ist aber nicht so. Allerdings wissen wir durch zahlreiche Versuche über die Ver- mischung zweier Pflanzenarten miteinander, daß die Nachkommen soleher Bastardierungen meist die Mitte einhalten zwischen den beiden Stamm- arten; aber nicht immer ist dies der Fall, bei manchen Mischlingen überwiegt das Bild der einen Stammart im Sprößling, habe sie dabei als Vater oder als Mutter mitgewirkt. Deutlicher noch erkennen wir dasselbe beim Menschen, dessen Kinder gar nicht immer genau die Mitte der beiderlei elterlichen Cha- raktere einhalten, sondern häufig dem Vater oder aber der Mutter viel stärker gleichen. Wie läßt sich nun diese Tatsache theoretisch zurechtlegen? Müssen wir den Iden des Vaters oder der Mutter eine größere bestimmende 40 Vererbungserscheinungen. Kraft zuschreiben? Ohne eine solche Annahme als unstatthaft von vornherein ausschließen zu wollen, möchte ich doch glauben, daß wir sie zur Erklärung dieser Erscheinung nicht brauchen. Denn gerade wenn wir nur einfach auf der Tatsache vom Überwiegen des einen Elters fußen, folgt daraus unmittelbar, daß nicht alle Ide das Bild des Kindes bestimmen, mag nun die Ursache der Nichteinwirkung eines Teils derselben liegen, worin sie wolle. Wenn nun aber nur ein Teil der im Keimplasma enthaltenen Ide das Bild in diesen Fällen bestimmt, so genügt also diese Kombination von Iden, um das Kind dem einen Elter, z. B. dem Vater, ähnlich zu gestalteu, folglich genügt die halbe Zahl der Ide unter Umständen zur Bestimmung des Kindes — vorausgesetzt, dab die Einseitigkeit der Vererbung eine vollständige wäre, was wohl nie ganz zutrifft. Die halbe Zahl der Ide kann aber nur dann dazu ausreichen. wenn sie dieselbe Kombi- nation von Iden enthält, welche auch bei dem Vater das „Bild“ be- stimmt haben; sobald ein oder mehrere Ide dieser bestimmten Kombi- nation durch andere ersetzt sind, kann («das väterliche Keimplasma nicht mehr vollständige Ähnlichkeit mit dem Vater hervorrufen. Nun wird aber bei der Reduktion eine Umordnung und Neu- kombinierung vorgenommen, die jeder Keimzelle ihre besondere Gruppe von Iden zuführt. Es kann sich also treffen, daß in einer bestimmten Samenzelle gerade dieselbe Idgruppe enthalten ist, die auch das Bild des Vaters bestimmt hat, und ebenso verhält es sich mit einer be- stimmten Eizelle in betreff des Bildes der Mutter. Nehmen wir nun einmal an, eine Samenzelle und eine Eizelle träfen zusammen, welche beide diejenige Idgruppe enthielten, die auch das Bild des Vaters und der Mutter seinerzeit bestimmt hatten, so würde — wenn die bestim- menden Kräfte der mütterlichen und der väterlichen Ide gleich waren — ein Kind entstehen müssen, welches die Mitte zwischen Vater und Mutter hielte. Das kommt bekanntlich nicht so selten auch wirklich vor, ob- wohl es schwer oder unmöglich ist, es genau nachzuweisen. Bei den Pflanzenmischlingen fällt der Nachweis leichter, und man hat fest- gestellt, daß bei weitem die meisten Mischlinge in ihren Charakteren die Mitte halten zwischen den beiden Stammarten. Dies beweist, dab unsere Annahme von der gleichen Stärke der Ide beider Arten im allgemeinen richtig sein muß, denn hier wissen wir bestimmt, wie ich Ihnen später noch zeigen werde, daß sowohl die väterlichen, als die mütterlichen Ide in bezug auf die Artcharaktere untereinander über- einstimmen. So verhält es sich z. B. bei dem Mischling aus zwei Tabacksarten, Nicotiana rustica und paniculata, der schon im vorigen Jahrhundert von KÖLLREUTTER erzeugt wurde, und der damals, wie auch heute noch ziemlich genau die Mitte zwischen den beiden Stamm- arten einhält, und zwar in allen Individuen. Beide Arten streben also hier, ihr eigenes Bild dem Sprößling aufzuprägen, und bei beiden ist die Vererbungskraft gleich groß; bei beiden ist sie auch in derselben, nämlich der halben Zahl der Ide enthalten, da ja die beiderlei Keim- zellen die Reduktionsteilung erlitten haben. Wir haben also hier den strikten Beweis, daß die halbe Idzahl genügt, um das Bild der Art oder allgemeiner des Elters im Kind wieder zur (reltung zu bringen. Wenden wir dieses Resultat auf die Vererbung individueller Unter- schiede beim Menschen an, so werden wir sagen (dürfen, daß solche Einseitige Vererbung. 41 Keimzellen. denen die Reduktionsteilung dieselbe Kombination von Iden überliefert hat, welche schon im Elter das Bild desselben be- stimmt hatte, auch streben werden, «dies Bild dem Kinde wieder auf- zuprägen. Verbindet sich eine solche, z. B. weibliche Zelle mit einer männlichen, welche ebenfalls die Bildkombination des Elters, also hier des Vaters enthält, so tritt genau derselbe Fall ein. den wir eben bei den Pflanzenmischlingen besprochen haben, d.h. es entsteht eine Mittel- form zwischen den Bildern der beiden Eltern. j Es kommt nun aber nicht selten ein starkes UÜberwiegen des einen Elters im Bilde des Kindes vor, und es fragt sich, ob die Theorie uns dafür irgend einen Anhalt gibt. Man wird vielleicht geneigt sein. dafür eine Verschiedenheit in der bestimmenden Kraft bei den väterlichen und den mütterlichen Iden anzunehmen: wenn wir aber nicht zeigen können, inwiefern und wo- durch (diese Kraft verschieden stark sein kann, so bleibt eine solche Annahme mehr eine Austlucht, als eine Erklärung. Überdies wäre sie auf die Verhältnisse beim Menschen nicht immer anwendbar, denn wenn z. B. die Ide einer bestimmten Mutter allgemein stärker wären, als die Ide des dazu gehörigen Vaters, so müßten alle Kinder des betreffenden Paares der Mutter nachschlagen: es kommt aber wohl nicht selten vor, daß das eine Kind vorwiegend dem Vater, das andere vorwiegend der Mutter gleicht. Überdies gehen ja die Ide gemäß der Kontinuität des Keimplasmas fortwährend aus männlichen in weibliche Individuen und umgekehrt über, und der Gedanke, das Geschlecht habe etwas mit der Stärke der Ide zu tun, wäre ein völlig verfehlter. Aber, wie ich Ihnen früher schon sagte, einseitige Vererbung kommt auch bei der Vermischung von Artcharakteren vor, in vollster Deutliehkeit bei den Pflanzenbastarden. So ist z. B. der Mischling aus den zwei Nelkenarten Dianthus barbatus und Dianthus deltoides der letzteren Art viel ähnlicher, als der ersteren, oder der Mischling von den zwei bei uns wild wachsenden Arten des Fingerhutes, Digitalis purpurea und Digitalis lutea der letzteren Art viel ähnlicher, als der ersten. Man könnte ja vermuten wollen, daß bei diesen Kreuzungen die Normalziffer der Ide bei der eimen Art viel größer sei, als bei der anderen. Wir wissen, daß bei Tieren wenigstens Verschiedenheiten in der Normalziffer auch bei nahestehenden Arten vorkommen. Es ist auch nicht unmöglich, daß dies in manchen Fällen wirklich die Ursache der verschiedenen Vererbungskraft zweier Arten ist. Dennoch dürfen wir uns dabei nicht beruhigen, «denn erstens würde diese Ursache zur Erklärung der scheinbar einelterlichen Vererbung beim Menschen nieht anwendbar sein, da die Normalzitfer der Ide bei ein und derselben Art, soviel wir wissen, streng eingehalten wird, und dann wären auch gewisse Vererbungserscheinungen bei den Pflanzenbastarden dadurch nicht erklärt. Es kommt nämlich nieht nur häufig, sondern beinah immer vor, daß die verschiedenen Teile des Mischlings in verschiedenem Grade mehr dem einen oder dem anderen der Eltern nachfolgen, und dasselbe ist bei den Kindern des Menschen der Fall. Bei dem Bastard der zwei Arten von Tabak, der Nicotiana rustica und panieulata, dessen ich vorhin schon als eines Beispiels von Mittelform zwischen beiden Eltern Erwähnung tat, kommen schon solehe Schwankungen vor, und zwar regelmäßig bei allen Individuen des Mischlings. So steht die 42 Vererbungserscheinungen. Kronenröhre in bezug auf ihre Länge näher der paniculata, in bezug auf ihre Weite aber näher der rustica. Manche Mischlinge erinnern in den Blättern mehr an die eine, in den Blüten mehr an die andere Stammform. Ebenso kann bei einem Kinde der Schnitt der Augen väterlich, die Farbe der Iris aber mütterlich, die Nase mütterlich, der Mund väterlich sein — kurz, das Übergewicht in der Vererbung schwankt hin und her von Teil zu Teil. von Organ zu Organ, von Charakter zu Charakter, und das ist sogar die Regel, wenn auch diese Schwankungen oft unscheinbar sind. Wenn wir nun an den früher von uns gefundenen und vor allem durch die identischen Zwillinge bewiesenen Satz denken, daß mit der Befruchtung das Bild des Nachkommen bestimmt ist, so sollte man ein solches Schwanken der Vererbungsrichtung beinah nicht für möglich halten, denn das heißt doch. daß mit der einmal gegebenen Mischung der elterlichen Keimplasmen auch das Verhältnis der Ver- erbungsstärke beider Eltern in jedem Teil des Kindes ein für allemal und von vornherein festgestellt ist. Allein gerade die identischen Zwillinge bestätigen uns diese Schwankungen, denn auch bei ihnen überwiegt im einen Teil der Vater, im anderen die Mutter. und sie beweisen uns zugleich, daß diese Schwankungen nicht auf irgend welchen Zufälligkeiten der Entwicklung beruhen, sondern daß sie von der im Keimplasma des befruchteten Eies gegebenen Mischung der Vererbungs- substanzen genau vorgeschrieben und während der Ontogenese streng eingehalten werden. Diese Tatsache aber kann ihre Erklärung nur darin finden, daß die Anlagen der verschiedenen Teile und Charaktere des Körpers in verschiedener Vererbungsstärke im Keimplasma der Eitern enthalten sind, und dies läßt sich von unserem Stand- punkt aus sehr wohl verstehen, auch ohne daß wir etwas Neues ad hoc in unseren Theoriekoffer (DELAGE) hineintun. Ich muß aber ein wenig ausgreifen, um Ihnen das verständlich zu machen. Wenn ich bei Gelegenheit der Pflanzenbastarde gesagt habe, „sämt- liche“ Ide im Keimplasma einer Art müßten in bezug auf die Art- charaktere gleich sein, so war das nicht genau gesprochen; bei ihrer Ma- jorität, in vielen Fällen sogar bei der überwiegend großen Majorität ihrer Ide muß das der Fall sein, aber nicht bei wirklich allen, wenigstens nicht unter der Voraussetzung, die wir machen, daß nämlich die Um- wandlung der Arten unter der Leitung der Naturzüchtung sich vollzieht. ıufen wir uns zurück, was wir über die umwandelnde Wirkung der Naturzüchtung früher schon feststellten, daß nämlich die von ihr ge- leiteten Veränderungen nie weiter gehen können, als deren Nütz- lichkeit reicht, so wird es uns klar werden, dab von den vielen Iden., welche das Keimplasma der Art ausmachen, zunächst nur soviele um- gewandelt werden, als nötig sind, um den veränderten Charakter her- vorzurufen. Gerade wie die schützende Ähnlichkeit eines Insektes mit einem Blatt zwar sehr hoch gesteigert werden kann, aber niemals eine vollkommene wird, weil die unvollkommenere schon genügt zur Täu- schung der Verfolger, geradeso also wie hier der Züchtungsprozeß zum Stillstand kommt, weil die Individuen, welche eine noch höhere Blatt- ähnlichkeit an sich trügen, doch nicht besser vor dem Untergang ge- schützt wären, als die anderen. ganz ebenso werden bei der Umwand- lung einer Art nicht gleich sämtliche Ide die Umwandlung = us | | Wechsel der Erbnachfolge. 45 eingehen müssen, wenn eine Majorität derselben schon genügt, um der überwiegenden Mehrzahl der Individuen die gewünschte Verände- rung aufzuprägen. Nun kann es ja geschehen, daß bei der Reduktion der Ide in der Keimzellenbildung eine Idkombination mit lauter oder doch fast lauter unveränderten Iden in einer Keimzelle sich zusammen- findet, und wenn dann eine solehe Samenzelle mit einer ähnlich kon- stituierten Eizelle zusammentrifft, so muß daraus ein Individuum der alten Art hervorgehen. Dieses aber muß — der Voraussetzung nach — den umgewandelten Individuen nachstehen im Kampf ums Dasein, also darin untergehen, und deshalb wird allmählich die Zahl der nicht um- gewandelten Ide im Keimplasma der Art kleiner werden: doch erfolgt das offenbar sehr langsam, wie wir aus den Erscheinungen des Rück- schlags schließen dürfen, von denen ich später noch sprechen werde. Was nun aber für die Ide gilt, das gilt auch für ihre Bestand- teile, die Determinanten, und das ist, — wenn ich nieht irre — das Entscheidende für die Erklärung des Wechsels der Erbnachfolge in den Teilen des Kindes. Nach unserer Voraussetzung wirken ja die Ide als Ganze über- haupt nicht bestimmend auf die Zelle, nicht einmal in den Keimzellen, deren histologische Differenzierung zu weiblichen oder zu männlichen Zellen nur auf der Beherrschung durch spezifische Geschlechtszellen- determinanten beruhen kann. Es sind eben die einzelnen Deter- minanten der Ide das Bestimmende, und Umwandlungen der Art werden zwar in einem allgemeineren Sinn wohl auf Umwandlung der Ide beruhen, aber diese braucht keineswegs immer in einer Veränderung aller Determinanten des Ids zu bestehen. Wenn z. B. zwei Schmetter- lingsarten. Lycaenea Agestis in Deutschland und Lycaenea Artaxerxes in Schottland sich nur dadurch voneinander unterscheiden, daß der schwarze Fleck auf der Flügelmitte von Agestis bei der Varietät Arta- xerxes milchweiß ist, so kann in den Iden des Keimplasmas keine andere Determinante verschieden sein, als diejenige, welche diesen Fleck bestimmt. In einer Majorität der Ide von Artaxerxes müssen die De- terminanten dieser Stelle umgewandelte, sagen wir „milchweise* sein. Diese Majorität wird sehr langsam zunehmen, wenn die weiße Farbe des Flecks ohne hervorragenden Nutzen für die Erhaltung der Art ist, aber sie wird dennoch, wie wir vorhin sahen, allmälich, wenn auch wohl unge- heuer langsam zunehmen müssen durch die Ausmerzung solcher Indi- viduen, deren Keimplasma durch die Reduktionsteilung zufällig einmal eine Majorität von Iden mit alten, unveränderten Determinanten be- kommen hat, und welche dadurch auf die Stammform zurückschlugen. Das wird geschehen, sobald der neue Charakter einen, wenn auch nur geringen Nutzen für die Erhaltung der Art hat. Nun wird aber bei den meisten Umwandlungen von Arten eine ganze Anzahl von Teilen und Charakteren gleichzeitig oder kurz nach- einander verändert, in vielen Fällen fast alle Einzelheiten des Baues, und dann müssen also fast alle Determinanten des Keimplasmas ver- ändert worden sein. Es ist aber durchaus nicht anzunehmen, daß die gleichnamigen, z. B. die Determinanten A’ in allen Iden verändert werden*), und vor allem nicht, daß die Determinanten verschiedener *, Unter „gleichnamigen oder homologen* Determinanten verstehe ich die Determinanten verschiedener Ide, welehe den gleichen Teil bestimmen, z. B. also die Schuppen jener Flügelstelle von Lycaena Agestis, von der oben schon die Rede war und gleich noch näher gesprochen werden soll. 44 Vererbungserscheinungen. Charaktere oder Körperteile, z. B. die Determinanten Z, J/ oder N alle in gleich vielen Iden zur Abänderung gelangen müßten. Vielmehr wird es von zwei Momenten abhängen, ob ein neuer Charakter in einer geringen oder einer sehr groben Majorität von Iden als abgeänderte Determinante enthalten ist: einmal vom Alter des Charakters. und dann von seinem Wert für die Erhaltung der Art. Je wichtiger eine Abänderung für die Art ist. um so häufiger gibt sie den Aus- schlag über Leben und Tod des Individuums, um so schärfer werden die anderen ausgemerzt, um so mehr also schwinden diejenigen Indi- vidtuen, in deren Keimplasma noch eine Majorität nichtabgeänderter Determinanten dieses Charakters enthalten sind. Dadurch aber müssen dieselben auch im Keimplasma (der Übrigen von Generation zu Gene- ration zu einer immer kleineren Majorität herabsinken. So werden also in den letzten Iden einer irgendwie umgewan- delten Art, und das heißt nichts anderes. als einer jeden Art. die gleichnamigen Determinanten in sehr verschiedenem Prozent- satz umgewandelt sein. Ein sehr moderner und zugleich nicht sehr wichtiger Charakter A” wird nur in einer kleinen Majorität von Iden enthalten sein, während in «den übrigen Iden statt seiner noch (die ursprüngliche gleichnamige Vorfahrendeterminante A” enthalten ist; ein älterer, wenn auch nicht sehr viel wichtigerer Charakter 7’ muß seine Determinanten schon in einer größeren Majorität der Ide haben, während ein Charakter von entscheidender Bedeutung V’ für die Erhaltung der Art, wenn er wenigstens lange genug schon eingeführt ist, in fast allen Iden vertreten sein wird, so daß die gleichnamige unveränderte Deter- minante der Stammart 7” nur noch hier und da in einem der Ide sich erhalten haben kann. Wenn diese Schlußfolgerung zutrifft, dann erklären sich viele Ver- erbungserscheinungen vor allem der mit der Befruchtung schon streng vorgeschriebene Wechsel der Erbnachfolge in den Teilen des Kindes. Denn es enthält ja dann das Keimplasma schon von vorn- herein jede Determinantenart in verschiedenen Nüancen und zwar in bestimmtem Zahlenverhältnis. Bei einer Pflanze MV’ z. B. sei Da’ (die Determinante der modernen Blattform und finde sich in 22 von den 24 Iden des Keimplasmas vor, während die zwei übrigen Ide noch (die alte Blattformdeterminante Da, welche die Stammform N besaß, unverändert mitführen. Die Blume von NV’ sei noch jüngeren Ursprungs und enthalte die moderne Blumendeterminante 37’ nur in 16 von den 24 Iden, während in den übrigen 8 Iden noch die alte Blumendeter- minante Z/ der Stammform NV sich erhalten habe. Setzen wir nun den Fall, eine andere, naheverwandte Art 7’ habe umgekehrt eine erst vor kürzerer Zeit umgewandelte Blatt- aber eine sehralte Blumenform, so etwa, dab erstere in nur 16 Iden durch Blattdeterminanten da’, letztere dagegen in 22 Iden durch Blumendeterminanten 5/’ vertreten sei, so läßt sich einsehen, dab bei einer Kreuzung der beiden Arten trotz der gleichen Idezahl des Keimplasmas doch die Blätter des Mischlings mehr der Stammart N, die Blumen mehr der Stammart ? nach- schlagen müssen: ja es ist sogar denkbar, daß in einem solchen Fall die numerisch stark überwiegenden Blattdeterminanten von N, und die ebenso überwiegenden Blumendeterminanten von 7 den viel weniger zahlreichen gleichnamigen Determinanten der anderen Art gegenüber gewissermaßen eine geschlossene Phalanx bilden, deren in ganz Wechsel der Erbnachfolge. 45 bestimmter Richtung wirkenden Kraft die anderen nichts anhaben können, sondern einfach zur Wirkungslosigkeit verurteilt sind. Wie wir uns das vorstellen wollen oder können. ist eine Frage, die natürlich nur sehr hypothetisch beantwortet werden kann, und die überdies in das Gebiet der Grunderscheinungen des Lebens hineinführt. mit deren Erklärung wir es hier nicht zu tun haben wollen. Wir haben das Leben als eine chemisch-physikalische Erscheinung einstweilen an- genommen, und die tiefere Erklärung desselben einer fernen Zukunft zu- geschoben, um uns einstweilen auf die Lösung des Vererbungsproblems auf Grundlage der Kräfte der Lebensteilchen zu beschränken. Immer- hin aber dürfen wir vermuten, daß eineArt von Kampf der verschie- denen Arten von Biophoren miteinander in der Zelle stattfinden wird, wenn die gleichnamigen Determinanten sämtlicher Ide zur Be- stimmung der Zelle in diese eingetreten sind. R Dieser Kampf wird in vielen Fällen durch die numerische UÜber- legenheit der einen Determinantenart über die andere entschieden werden, es ist aber gewiß auch denkbar, daß dabei dynamische Unter- schiede mitspielen. Doch stehen wir davon ab, in das Dunkel dieser Vorgänge noch weiter eindringen zu wollen, und begnügen uns damit, festzustellen, daß das Uberwiegen des einen Elters in einzelnen oder vielen Teilen des Kindes ein fast oder ganz vollständiges sein kann, und daß dies deshalb zu der Annahme zwingt. die Vererbungssubstanz des anderen Elters werde in solchen Fällen unwirksam gemacht — weil wir ja wissen, daß sie vorhanden ist — denn die Ide beider Eltern gehen alle durch die ganze Ontogenese hindurch. und sind alle in Jeder Körperzelle enthalten. Auf diesem Kampf der gleichnamigen Determinanten muß die Möglichkeit der gänzlichen Unterdrückung oder Ausschaltung des Einflusses des einen Elters. überhaupt die ganze große Mannig- faltigkeit in der Mischung des kindlichen Körpers aus väter- liehen und mütterlichen Vererbungsstücken beruhen. Daraus erklärt es sich, wie es kommt, daß nicht nur ganze Körperteile des Kindes, wie Arme, Beine. die Beschaffenheit der Haut. die Form des Schädels teils dem Vater, teils der Mutter ganz oder doch vorwiegend nachfolgen können, sondern wie auch die einzelnen Unterabteilungen eines komplizierten Organs teils mehr mütterlich, teils mehr väterlich ausfallen. wie z. B. der Verstand von der Mutter, der Wille vom Vater, musikalisches Talent vom Vater, zeichnerisches von der Mutter vererbt in demselben Kinde sich zusammenfinden können. Ich zweitle nicht, dab das Genie zum großen Teil auf einer glücklichen Vereinigung solcher geistiger Erbstücke der Vorfahren in einem Nachkommen be- ruht. Es muß freilich immer noch etwas hinzukommen, nämlich die Steigerung einzelner dieser Erbstücke, wovon später noch die Rede sein wird. Aber bei diesen Mischungen von Erbstücken kommen nicht bloß die unmittelbaren Vorfahren, die Eltern in Betracht, sondern auch die weiter zurückliegenden. Nicht wenige Charaktere des Kindes finden sich bei keinem der Eltern, wohl aber bei einem der Großeltern, und ihr Wiedererscheinen beruht auf dem sog. „Rückschlag“. Lassen Sie uns auch diese Erscheinung etwas näher betrachten und untersuchen, ob und wie weit sie sich durch unsere Theorie verstehen läßt. 46 Vererbungserscheinungen. Die einfachsten und klarsten Fälle bieten wieder die Pflanzen- mischlinge dar. Es kommt z. B. vor, dab der Mischling aus zwei Arten, wenn er mit eigenem Pollen bestäubt wurde, Nachkommen her- vorbringt, von denen ein Teil bloß der einen Stammart gleicht: also ein Rückschlag auf einen der Großeltern. Die Erklärung liest in der verschiedenen Art, wie die Reduktionsteilung ausgeführt werden kann: erfolgt sie derart, daß alle väterlichen Ide des Bastards von den mütter- lichen getrennt werden, dann erhalten wir Keimzellen, welche denen der Großeltern gleich sind, d. h. solche der Stammarten, die also, wenn sie sich zufällig in Amphimixis vereinigen, einen reinen Sprößling der einen oder der anderen Stammart liefern müssen. Der Fall kommt nicht so selten vor als man früher dachte, und als es der Fall sein müßte, wenn eine völlig freie Kombination der Idanten bei der Reduktion hier stattfände, bei welcher also alle andern möglichen Id-Kombinationen ebenso häufig vorkommen könnten, als diese. Neuere Erfahrungen haben gezeigt, daß mindestens bei vielen Pflanzenmischlingen die Keimzellen der mit eigenem Pollen befruchteten Bastarde wieder rein väterlich oder mütterlich ausfallen. Hier findet also keine völlig freie Kombination der Idanten bei der Umordnung statt, sondern die fremd- rassigen Idanten trennen sich voneinander. Schwerlich wird das bei den naheverwandten Eltern-Idanten ein und derselben Rasse der Fall sein, z. B. bei der Fortpflanzung des Menschen innerhalb einer Rasse. Wenn aber beim Menschen ein Rückschlag auf den Groß- vater eintritt, so wird das darauf beruhen, dab die das Bild desselben bestimmende Idgruppe zwar auch in derjenigen seiner Keimzellen, aus welcher der Vater hervorging, enthalten war, aber dort nicht zur Herr- schaft über das Bild desselben gelangen konnte, weil ihr eine mächtigere Idgruppe in der großmütterlichen Keimzelle gegenüberstand. Wenn sie dann später bei der Reduktionsteilung der Keimzellen des Vaters wieder vollzählig in eine der Spermazellen gelangt, so wird sie das Bild des Kindes, d. h. der dritten Generation vorwiegend bestimmen können, falls die Eizelle, mit der sie sich verbindet, eine schwächere Idgruppe enthält. In dem Fall der gewöhnlichen Pflanzenbastarde sind die bezeich- neten Rückschläge nur in einem weiteren Sinn als solche zu bezeich- nen, denn die Ahnencharaktere sind schon im Elter sichtbar enthalten, wenn auch gemischt mit denen des anderen Elters. Beim Menschen braucht dies nicht so zu sein, und es gibt gewiß Fälle. in denen ein oder viele Charaktere des Großelters im Kinde wieder auftauchen. welche im Elter nicht sichtbar, also nur latent in dessen Keimplasma enthalten waren. Es gibt aber bei Pflanzen und Tieren auch Rückschläge auf viel weiter zurückliegende Ahnen, also auf Charaktere und (Gruppen von Charakteren, die seit vielen Generationen nicht mehr sicht- bar gewesen waren, und deren Hervortreten nur durch die Annahme erklärt werden kann, daß gewisse Gruppen von Vorfahren-Determinan- ten im Keimplasma mitgeführt wurden, zu gering an Zahl, um für ge- wöhnlich die betreffenden Charaktere hervorrufen zu können. Solche vereinzelte Determinanten können aber unter Umständen dadurch ver- stärkt werden, daß zwei Keimzellen in Amphimixis zusammentreffen, welche beide kleine Gruppen derselben enthalten, denn nun summieren sie sich, und gewinnen dadurch bestimmenden Einfluß. Auch hier spielen die Zufälle der Reduktionsteilung eine Rolle, indem- sie die alten unveränderten Vorfahren-Determinanten, welche, wie wir sahen, im tückschlae. 47 Keimplasma jeder Art auf lange (renerationsfolgen hinaus sich erhalten können, zusammenführen. Das allein wird freilich nur dann genügen, um Rückschlag hervorzurufen, wenn die Stammart-Determinanten noch einigermaßen reich im Keimplasma enthalten sind. Ist dies nicht mehr der Fall, so muß noch etwas Anderes hinzukommen, nämlich die rela- tive Schwäche der modernen Determinanten. Werden zwei weißblühende Arten von Stechapfel. Datura ferox und laevis miteinander gekreuzt, so entsteht ein Bastard mit blau- violetten Blumen und braunen statt grünen Stengseln. Dies ist schon von Darwın als Rückschlag auf violettblühende beiderseitige Stamm- arten aufgefaßt worden, wie es denn heute noch eine ganze Schar von Datura-Arten mit violetten Blumen und braunen Stengeln gibt. Bei der Kreuzung weißer Datura-Arten findet nun der Rückschlag jedes- mal statt, nicht nur hier und da, und wir werden daraus schließen dürfen, daß in diesen beiden Arten noch eine so starke Beimischung von denselben unveränderten Vorfahren-Iden enthalten sind, daß sie bei Kreuzungen stets den Iden der beiden modernen Arten überlegen sind an Kraft, wenn auch gewiß nicht an Zahl. Und diese Überlegen- heit muß wieder darauf beruhen, daß gleiche Determinanten des- selben Teils sich in ihrer Wirkung summieren, ungleiche aber nicht. Aus diesem Grunde werden Rückschläge auf entfernte Vor- fahren so leicht bei Kreuzungen von Arten und Rassen vor- kommen, während sie bei der internen Fortpflanzung einer Art sehr selten sind. Die Rückschläge der Taubenrassen auf ihre wilde Stamm- art, die schieferblaue Felsentaube, erfolgt. wie Darwın gezeigt hat, und wie wir früher besprochen haben, niemals bei reiner Züchtung einer Rasse, sondern immer nur, wenn zwei oder mehere Rassen wiederholt miteinander gekreuzt werden. Aber auch dann keineswegs immer, sondern nur dann und wann. Es müssen also im Keimplasma der Rassen noch Felsentauben-Ide enthalten sein, aber in geringer und natürlich von Individuum zu Individuum wechselnder Anzahl. Erhöht sich nun durch ‘glückliche Reduktionsteilung und Zusammentreffen einer an Stamm-Iden reicheren Samen- mit einer ebensolchen Eizelle die Zahl dieser Stammes-Ide soweit, daß sie der Zahl moderner Rassen-Ide, welche jede einzelne der kopulierenden Keimzellen enthält, überlegen ist, so bestimmen die Stammes-Ide die Ontogenese, und Rückschlag tritt ein, denn die Stammes-Ide summieren sich zu einer Gesamtwirkung, während die Ide der zwei Eltern-Rassen verschieden sind, und deshalb soweit, als sie das sind, sich nieht in ihrer Wirkung summieren können. Daß sie das aber nicht immer in allen ihren Determinanten zu sein brauchen, sondern meist nur in einigen oder vielen Determinanten- Gruppen, versteht sich von selbst und daraus folgt, dab der Rückschlag sich nicht auf alle, sondern nur auf bestimmte Charaktere bezieht, also bei den Datura-Bastarden hauptsächlich auf die Farbe der Blumen und des Stengels, bei den Tauben-Rassen-Mischlingen vor allem auf Farbe und Zeichnung des Getieders. Bei noch jüngeren Vogelrassen erscheint der Rückschlag zwar gleich bei der ersten Kreuzung, aber nicht vollständig, und erst eine fortgesetzte Kreuzung der Bastarde mit einer der elterlichen Rassen gibt die reine Stammform. Ein holländischer Züchter von Kanarien- vögeln, Herr ©. Noorduyn, schreibt mir, er habe durch Kreuzung der braunen Rasse dieses Vogels mit einem goldgelben Weibehen ein grün- 48 Vererbungserscheinungen. geschecktes Männchen erhalten, und durch Paarung dieses Männchens mit einem braunen Weibchen ein stärker grüngeschecktes Weibchen. Indem er dann durch vier Jahre fortfuhr, die erhaltenen Mischlinge mit braunen Vögeln zu paaren, erhielt er zuletzt einen Vogel, der in Farbe und Zeichnung vollständig dem auf Teneriffa gefundenen grünen Wild- ling des Kanarienvogels glich, und nur etwas größer war”). Wir werden diese Beobachtungen mit der Annahme zu erklären suchen, daß hier in der domestizierten Rasse zwar eine starke Minorität von Iden der wilden Stammart noch enthalten ist, daß sie aber erst durch Häufung solcher Ide mittelst fortgesetzter Kreuzung mit der einen Elternrasse sich zu einer alleinherrschenden Majortät steigern kann. Viel weiter zurück in der Stammesgeschichte der Arten gehen die durch Darwın berühmt gewordenen Rückschläge der Pferde und Esel auf gestreifte Vorfahren, denn während wir die Stammform der Haustauben in der noch heute lebenden wilden Felsentaube kennen, ist die gemeinsame Stammform der Pferde und Esel ausgestorben, und wir können nur vermuten, daß sie zebraartig gestreift war, weil eben solche Streifung selbst bei reinen Pferden und reinen Eseln wenigstens in der Jugend zuweilen vorkommt, freilich nur noch an den Beinen, und weil dieselbe Streifung oft in sehr starker Ausprägung bei dem Mischling aus Pferd und Esel, dem Maultier, auftritt. In Italien, wo einem derte von Maultieren vor die Augen kommen, findet man die Streifung nicht gerade häufig. aber doch etwa bei zweien von hundert, während sie in Nordamerika weit häufiger sein soll. Das Keimplasma der Pferde und der Esel muß also in wechselnder Zahl Ide enthalten, deren Hautfarbendeterminanten zum Teil noch unveränderte Vorfahrencharaktere repräsentieren. Bei günstigem Zusammentreffen zweier Keimzellen bei der Befruchtung, denen beiden durch günstige Reduktionsteilung eine relativ große Anzahl solcher Ide zugeteilt wurde, bildet sich eine relative Majorität derselben in der befruchteten Eizelle gegenüber den ungleichen und daher sich gegenseitig aufhebenden gleichnamigen Determinanten von Pferd und Esel und der Rückschlag auf die Streifung der Stamm- form tritt ein. Schon an diesen Fällen von Rückschlag erkennen wir, auf wie lange (Generationsfolgen hinaus alte unveränderte Stammesdeterminanten sich im Keimplasma zu erhalten vermögen. Noch bedeutend tiefer in die «dunkle Vorgeschichte der heutigen Arten führen aber die Beobach- tungen über dreizehige Pferde, wie deren der Paläontologe MARSH eine ganze Zahl in der Literatur nachwies, ein einziges auch lebend beobachten konnte. Schon Julius Cäsar hat ein Pferd besessen, dessen dreizehige Fübe einen Rückschlag auf die Pferde der Tertiärzeit, Meso- hippus, Miohippus und Protohippus oder Hipparion darstellten; denn alle diese Gattungen besaßen neben der starken mittleren Zehe noch zwei schwächere und kürzere Seitenzehen. Im Keimplasma unserer heutigen Pferde müssen also noch in einzelnen Iden die Determinanten des Vorfahrenfußes stecken, die nach längeren Folgen günstiger Reduktionsteilungen, verbunden mit günstigen 3efruchtungszufällen, zu einer Majorität der selben und damit zum Wieder- *) Siehe auch: ©. L. W. NOORDUYN EN over Kleuren, Kleurverandering der Vogels en Paring von Varieteiten“, Album der Natur, 1903. #7 DE En N a Se un at Rückschlag. | 49 auftauchen so lange unter die Bildfläche der Art untergetauchter Cha- raktere führen können. Ich will nicht weiter fortfahren in der Besprechung der Vererbungs- erscheinungen: ein genaueres Eingehen auf die eben kurz berührten Erscheinungen des Rückschlags. wie ich dies in meinem Buch „Das Keimplasma* vor 10 Jahren getan habe, könnte nicht ohne kritische Abwägung einer ziemlichen Menge ganz neu errungener und unter sich nicht immer zusammenstimmender Tatsachen geschehen, die noch nicht einmal vollständig vorliegen. Das Jahr 1900 hat die Untersuchungen dreier Botaniker, DE VRIES, ÜORRENS und TSCHERMAK, gebracht, welche durch Kreuzungsversuche mit verschiedenen Erbsen- und Levkojensorten Licht in die Vererbungserscheinungen und damit in die wirklichen Vor- gänge im Keimplasma bei der Reduktionsteilung zu bringen suchen. Man hat dabei die Entdeckung gemacht, daß ähnliche Versuche schon 1866 veröffentlicht worden waren, und zwar von dem Brünner Abt (GREGOR MENDEL, der damals schon zu einem Gesetz oder einer Regel gekommeu war, die man nun nach ihm die MENDELsche Regel nennt. ÜORRENS zeigt indessen. daß diese Regel, obgleich in gewissen Fällen richtig, doch keineswegs in allen gilt, und so werden wir die Einarbei- tung dieses neuen Materials in unsere Theorie solange verschieben müssen, bis eine noch bedeutend breitere Basis von Tatsachen durch die Botaniker geschaffen sein wird. Von den Zoologen ist in dieser Frage weniger zu hoffen wegen der fast unüberwindlichen Schwie- rigkeiten, welche sich einer längeren Reihe von Kreuzungsversuchen bei Tieren entgegenstellen. Ich habe selbst dergleichen wiederholt ver- sucht, mußte aber jedesmal wieder davon abstehen, sei es, weil die Kreuzung selbst zu selten gelang, sei es. weil die Bastarde sich nicht oder mangelhaft unter sich fortpflanzten, oder weil die unterscheiden- den Charaktere der gekreuzten Rassen sich zu wenig zäh und charak- teristisch erwiesen. Immerhin würde es eine schöne Aufgabe für zoo- logische Gärten sein, dergleichen Versuche von den Gesichtspunkten der Keimplasmatheorie aus zu unternehmen, und ihr Gelingen würde ein um so wertvolleres Material für die Beurteilung der Theorie bilden, als eben aus den Versuchen an Pflanzen schon hervorgeht. daß die Vorgänge der Vererbung mannigfaltig sind und keineswegs auf allen Gebieten in genau derselben Weise verlaufen *). So habe ich 1892 für meine Theorie die vorläufige Annahme ge- macht, daß die Reduktionsteilung nach den Gesetzen des Zufalls er- folge, daß also jede Kombination von Iden gleich häufig eintrete. Diese Annahme scheint sich durch die erwähnten Versuche der Botaniker nur insoweit zu bestätigen, als dort bei der Kreuzung von Bastarden mit- einander jede Kombination von Merkmalen gleich häufig vorkam. Dagegen scheint — wie schon erwähnt — in zahlreichen Fällen die Spaltung des Keimplasmas bei der Reduktionsteilung so zu erfolgen, daß die Idgruppen der beiden Eltern glatt voneinander getrennt werden: so bei den Levkojenbastarden von CORRENS und bei vielen anderen Pflanzenmischlingen. Wenn es sich aber auch bei diesen stets so verhielte, so würde man daraus schwerlich abnehmen dürfen, daß es überall so sein müsse, man wird vielmehr erwarten, daß sich je nach *) CASTLE und ALLEN haben kürzlich Versuche mit Mäusen veröffentlicht, Kreuzungen von grauen und weißen Mäusen, die auch hier die MExpersche Regel bestätigen. Weismann, Deszondenztheorie. IT, 2, Aufl. t 50 Vererbungserscheinungen. der Verwandtschaft der beiden Eltern und ihrer Ide feinere Anziehungen und Abstoßungen zwischen den Iden des Keimplasmas geltend machen und die Anordnung und Gruppierung derselben bestimmen werden. Weitere Untersuchungen müssen darüber Auskunft geben: einstweilen können wir nur sagen, daß bereits heute — und zwar auch an Bastarden — mehrfache Abweichungen von der MENDELschen Spaltungsregel fest- gestellt wurden ”). Xenien. Ehe ich diesen Vortrag schließe, möchte ich noch kurz eine Er- scheinung berühren, welche schon DAarwın kannte und durch seine Pangenesistheorie zu erklären suchte, welche aber später für allzu un- sicher beobachtet galt, als daß man ihre theoretische Begründung hätte versuchen mögen, zumal sie allen unseren Vorstellungen über Ver- erbungssubstanz und deren Wirkungen zu widersprechen schien. Ich meine die Erscheinung, welche die Botaniker mit dem hübschen Namen der Nenien (Gastgeschenke) belegt haben und welche darin besteht, daß bei Kreuzungen von zwei verschiedenen Pflanzenrassen die Cha- raktere der männlichen Art nicht bloß in der neuen jungen Pflanze sich zeigen, sondern schon im Samenkorn, so daß also vom Pollenschlauch aus eine Übertragung väterlicher Eigenschaften auf die Mutter, näm- lich auf die „Gewebe der mütterlichen Frucht“ stattzufinden scheint. In Kolben von gelbkörnigem Mais (Zea) sollten nach Bestäu- bung der Blüte mit dem Pollen einer blausamigen Maissorte blaue Körner unter den gelben auftreten, und ähnliche Beobachtungen an einigen anderen Kulturpflanzen liegen schon seit mehr als einem halben Jahrhundert vor. So soll die Bestäubung der Narbe grüner Trauben- sorten mit dem Pollen einer dunkelblauen Sorte die daraus hervor- gehenden Beeren öfters dunkelblau gefärbt haben u.s. w. Darwın nahm diese Beobachtungen für richtig an und suchte sie durch eine Auswanderung seiner „Keimchen* aus der befruchteten Ei- zelle in das umgebende Gewebe der Mutterpflanze zu erklären. Seine Erklärung war nicht die richtige, wie wir heute bestimmt sagen dürfen, aber darin hatte er doch Recht, daß die Xenien wirklich vorkommen, sie beruhen nicht, wie wohl die meisten modernen Botaniker glaubten, auf Täuschung. Auch ich selbst wollte erst weitere tatsächliche Belege abwarten, ehe ich die „Xenien“ als etwas wirklich Vorkommendes in Übereinstimmung mit meinen theoretischen Vorstellungen zu bringen versuchte, und man wird mir dies nicht verargen können, wenn man bedenkt, in wie grellem Widerspruch diese Xenien mit den Grundlagen der Keimplasmatheorie zu stehen schienen. Beruht dieselbe doch gerade auf einer bestimmten festen Struktur der Keimsubstanz, welche im Innern des Kerns in Gestalt von Chromosomen liegt, und kann doch dieses Keimplasma in keiner anderen Weise von einer Zelle im eine andere gelangen. als durch Zell- und Kernteilung; wie sollte es also aus der befruchteten Eizelle in die Zellen des Endosperms kommen können, die gar nicht aus dieser ihren Ursprung nehmen, sondern aus anderen Zellen des Embryosacks? In der Tat haben mir denn auch einige Gegner die Xenien geradezu als eine Widerlegung meiner Theorie entgegengehalten. *, So von BATESON-und SANDERS (1902). age na San Xenien. 51 Daß nun die Xenien wirklich vorkommen, wird durch umfassende und zugleich höchst sorgfältige Versuche dargetan, welche ©. CORRENS in den letzten Jahren mit Zea Mais angestellt hat. man braucht bloß die schönen Abbildungen durchzugehen, welche dieser Forscher seiner Abhandlung beigegeben hat, um sich zu überzeugen, daß an Mais- kolben, deren Blüten mit dem Pollen einer fremden Rasse bestäubt worden waren, mehr oder weniger zahlreiche Körner die Farbe der väterlichen Rasse meist in Mischung mit der mütterlichen aufweisen. So zeigen die Kolben der Rasse alba, welche durch Befruchtung mit der Rasse cyanea entstanden waren, zwar eine Überzahl von weißen Körnern, aber zwischen ihnen auch eine geringere Zahl von blauen, und der umgekehrte Versuch, also Bestäubung der eyanea mit Pollen der alba ergibt Kolben, in denen zwischen einer Mehrzahl blauer eine Minderzahl weißer Körner sitzt. Aber stets ist es nur die den Embryo einschließende Nahrungsschicht, das Endosperm, welches Charaktere der väterlichen Art erkennen läßt, und nicht einmal die das Samenkorn Fig. 82 (wieder- holt). Befruchtungs- vorgang bei der Lilie, Lilium Martagon nach GUIGNARD. A Der Embryosack vor der Befruchtung, sy Synergiden, e:> Eizelle, 05 und 2 oberer und unterer Polkern, a£ Anti- Be £ Das obere tück des Embryo- sacks, in den der Pollenschlauch (#schl) eingedrun- gen mit dem männ- lichen Geschlechts- kern (2%) und sei- ner Centrosphäre, darunter die Eizelle mit ihrer (ebenfalls doppelten) Centrosphäre (esph). € Rest des Pollenschlauchs (?sch?); die beiden Geschlechtskerne aneinander liegend. Starke Vergrößerung. umschließende Schalenhaut zeigt irgend etwas davon, sie ist vielmehr immer rein mütterlich. So tragen die Kolben verschiedener Rassen mit blaßgelber Schalenhaut. wenn sie mit dem Pollen der Rasse rubra bestäubt werden, niemals rote Körner wie diese, sondern immer solche mit blaßgelber Schale, bei dem umgekehrten Versuch aber, z. B. bei der Bestäubung der rotschaligen Rasse rubra mit dem Pollen von vul- gata werden alle Körner rot, wie die der mütterlichen Rasse und der Einfluß der väterlichen zeigt sich erst, wenn man die stark rote Schale ‚entfernt, so daß die kräftig gelbe Farbe des Endosperms hervortritt, welches bei der reinen mütterlichen Rasse weiß ist. Der geheimnisvolle Einfluß des Pollens geht also nie über das Endosperm hinaus und das Rätsel dieses Einflusses ist bereits in un- erwarteter Weise gelöst, ja es war bereits gelöst, ehe die neuen Unter- suchungen von ÜORRENS die Existenz der Xenien sicher festgestellt hatten, und zwar durch neue Aufschlüsse über die Vorgänge bei der Befruchtung der Blütenpflanzen. Man wußte schon lange, daß der Pollenschlauch nicht bloß einen generativen Kern enthält, sondern deren zwei, die durch Teilung + EM 52 Vererbungserscheinungen. aus einem hervorgehen. Was aber bisher unbekannt geblieben, war, daß nicht bloß der eine von diesen in den Embryosack eindringt, um in Amphimixis mit der Eizelle zu treten, sondern daß auch der andere hineingelangt, und dann dort mit den beiden Kernen verschmilzt, welche als oberer und unterer Polkern schon längst bezeichnet werden (Fig. 82, 0 u. u). NAWASCHIN und GUIGNARD wiesen nach, daß diese beiden Kerne mit dem zweiten männlichen Kern ver- schmelzen, dab also zwei Akte von Amphimixis im Embryosack ihren Ablauf nehmen, aus deren einem der Embryo hervorgeht, während aus dem zweiten nichts anderes als das Endosperm wird, die Nahrungsschicht, welche den Embryo umgibt, deren Entstehung aus den „Polkernen“ man schon früher erkannt hatte. Damit ist denn das Rätsel der Xenien der Hauptsache nach ge- löst; wir verstehen, wieso väterliche Anlagen in das Endosperm ge- langen können, ja regelmäßig dahin gelangen müssen, wir verstehen auch, warum der väterliche Einfluß nie über das Endosperm hinaus- geht. Damit ist nicht nur ein Rätsel gelöst, sondern zugleich der An- sicht, welche ein festes Keimplasma annimmt, und dasselbe in der Kernsubstanz der Keimzellen zu erkennen glaubt, eine weitere Stütze gegeben, falls sie einer solchen noch bedürfen sollte, denn die natürliche Einordnung scheinbar widersprechender Tatsachen in eine Theorie bildet wohl ein noch stärkeres Argument für ihre Richtigkeit, als ihr Vermögen, solche Tatsachen zu erklären, die bei ihrem Aufbau mitgewirkt haben. Es wäre wohl noch manches über die Xenien zu sagen, und ich bin gewiß, daß noch viel Interessantes durch weitere Vertiefung in die Einzelheiten der Erscheinungen aufgedeckt werden wird; auch theoretische Schwierigkeiten werden noch zu überwinden sein, auf deren eine ich schon in meinem „Keimplasma“ hingewiesen habe, doch muß ich es hier bei dem Gesagten bewenden lassen. Wir haben nun für den Zweck dieser Vorträge einen hinreichend großen Teil der Vererbungserscheinungen an uns vorüberziehen lassen und ihre Einordnung in die Theorie versucht. Wenn auch naturgemäß vieles dabei hypothetisch bleiben mußte, so werden Sie doch die folgende Reihe von Sätzen als gut begründet annehmen dürfen: es gibt eine Vererbungssubstanz, das Keimplasma; sie ist in sehr mini- maler Menge in den Keimzellen und zwar in den Chromo- somen des Kerns derselben enthalten und besteht aus An- lagen oder Determinanten, welche in vielfacher Neben- und Ubereinanderordnung einen äußerst komplizierten Bau bilden: das Id. Ide wie Determinanten sind selbständige Lebens- einheiten. In jedem Kern sind mehrere, oft auch viele Ide enthalten, und zwar wechselt die Zahl der Ide mit der Art, und ist für jede Art eine bestimmte. Die Ide des Keimplas- mas einer jeden Art haben sich historisch entwickelt, und leiten sich vom Keimplasma der vorhergehenden Artenkette des Stammbaums ab: deshalb können Ide niemals selbstän- dig neu entstehen, sondern immer nur durch Vermehrung von schon vorhandenen Iden. Kehren wir nun, ausgerüstet mit diesen Erkenntnissen zurück zu unserem Ausgangspunkt, zur Untersuchung, ob das LAMARCKsche Um- wandlungsprinzip der Vererbung funktioneller Abänderungen beibehalten oder verworfen werden muß. Pen XXIll. VORTRAG. Prüfung der Hypothese einer Vererbung funktioneller Abänderungen. Darwıns Pangenesis p. 53, Vermeintliche Beweise für funktionelle Vererbung p. 55, Verstümmelungen sind nicht vererbbar p. 56, BROWN-SEQUARDSs Versuche mit künst- licher Epilepsie bei Meerschweinchen p. 57, Verwechslung von Infektion des Keims mit Vererbung, Pebrine, Syphilis, Trunksucht p. 58, Fordert die Klärung der Tat- sachen die Annahme funktioneller Vererbung? p. 60, Entstehung der Instinkte p. 62, Der ungelehrte Vorstehhund p. 62, Ansichten vom RATHs und MORGANs darüber p. 62, Anhänglichkeit des Hundes an seinen Herrn p. 63, Furchtlosigkeit der See- vögel und Robben auf einsamen Inseln p. 63, Flüchten und Fliegen der Schmetter- linge p. 64, Die nur einmal im Leben ausgeführten Instinkte p. 65. Meine Herren! Sie wissen schon aus einem früheren Vortrag, daß Darwın die LAMArRcKsche Annahme einer Vererbung funktioneller Anpassungen beibehielt, und um Ihnen klar zu machen, welche theo- retische Schwierigkeiten einer solehen Annahme im Weg stehen, ist es vielleicht am einfachsten, wenn ich Ihnen zeige, auf welche Weise Darwın dieses Prinzip theoretisch als denkbar, als möglich hinzu- stellen versucht hat. Er als der erste ersann eine Vererbungstheorie, die den Namen einer Theorie verdient. indem sie nicht nur ein flüchtig hingeworfener Gedanke, sondern ein wenn auch nur skizzierter Versuch einer Durch- arbeitung dieses Gedankens ist. Seine „Pangenesis“-Theorie nimmt an, daß Zellen aus besonderen Keimehen entstehen, gemmules, welche von unendlicher Kleinheit sind, und von welchen eine jede Zelle während ihres Daseins ungezählte Scharen in sich hervorbringt. ‚Jedes dieser Keimehen kann einer Zelle den Ursprung geben, welche der gleicht, in der sie selbst entstand, aber nicht jederzeit, sondern nur unter be- stimmten Bedingungen, dann nämlich, wenn sie „in diejenige Zelle ge- langt“, welche derjenigen, die sie hervorzubringen hat, „in der Reihe der Entwicklung vorausgeht“. Darwın nennt dies eine „Wahlverwandt- schaft“ jedes Keimchens für diese eine besondere Zelle. So entstehen also vom Beginn der Ontogenese an in jeder Zelle Scharen von Zell- keimchen, von denen jede virtuell eine spezifische Zelle repräsentiert. Diese Keimehen bleiben aber nicht, wo sie entstanden, sondern sie wandern aus ihrem Entstehungsort heraus in den Blutstrom und werden zu Myriaden von diesem in alle Teile des Körpers geführt. So ge- langen sie auch zu den Ovarien und Spermarien und zu den in ihnen gelegenen Keimzellen, dringen in diese ein und häufen sich in ihnen an, so daß die Keimzellen im Laufe des Lebens die Keimehen aller Ar- ten von Zellen, die je im Organismus aufgetreten sind, in sich ent- 54 Das LAMARcKsche Prinzip. halten müssen, und zugleich auch alle Veränderungen, die etwa durch äußere oder innere Einflüsse durch Ubung oder durch Ver- nachlässigung eines Teils an ihnen eingetreten sein können. Auf diese Weise also suchte Darwın den Keimzellen die Fähig- keit zu erteilen, auch diejenigen Veränderungen bei ihrer Entwick- lung wieder hervorzubringen, welche das Individuum während seines Lebens infolge äußerer Einwirkungen oder funktioneller Einflüsse ein- gegangen war. Ich verzichte auf eine Widerlegung der dabei gemachten Annahmen; die Unwahrscheinlichkeiten und die Widersprüche gegen die Tatsachen sind so groß, dab ich sie nicht hervorzuheben brauche; die Theorie zeigt deutlich, zu welcherlei unwahrscheinlichen Annahmen man greifen muß, will man die Vererbung erworbener (somatogener) Charaktere theore- tisch begründen. Als Darwın seine Pangenesis aufstellte, da waren seine Annahmen schon kaum vereinbar mit dem, was man von Zellen- fortpflanzung wußte; heute wären sie vor allem nicht mit der Erkenntnis zu vereinigen, daß die Keimsubstanz nie neu entsteht, sondern sich immer von der der vorhergehenden Generation ableitet, also mit der Kontinuität des Keimplasmas. Wollte man heute eine theoretische Ermöglichung der Vererbung erworbener Charaktere ersinnen, so müßte man annehmen, daß die Zu- stände sämtlicher Teile des Körpers in jedem Augenblick oder doch jeder Lebensperiode sich in den entsprechenden Anlagen des Keim- plasmas, also in den Keimzellen abspiegelten. Da nun aber die An- lagen durchaus verschieden von den Teilen selbst sind, so müßten die Anlagen in ganz anderer Weise sich verändern, als die fertigen Teile sich verändert hatten, etwa wie wenn ein ‚deutsches Telegramm nach China dort gleich in chinesischer Sprache ankäme. Trotz dieser schier unüberwindlichen theoretischen Hindernisse haben doch verschiedene Schriftsteller den Gedanken ausgeführt, das Nervensystem, welches sämtliche Teile des Körpers mit dem Gehirn und dadurch auch unter sich in Verbindung setze, teile diese Zustände auch den Fortpflanzungsorganen mit, so daß sehr wohl dort in den Keimzellen Veränderungen eingeleitet werden könnten, welche mit denen weit entfernter Körperteile korrespondieren. (Gresetzt nun, es wäre nachgewiesen, daß jede Keimzelle des Ova- riums oder Spermariums eine Nervenfaser erhielte, was könnte ihnen anderes durch den Nerven überliefert werden, als ein stärkerer oder schwächerer Nervenstrom? qualitative Unterschiede desselben gibt es nicht: wie also sollten die Keimesanlagen durch den Nervenstrom ein- zeln oder gruppenweise. und zwar korrespondierend mit den funktio- nellen Abänderungen der ihnen entsprehenden Organe und Teile des Körpers beeinflußt oder gar in entsprechender Weise abgeändert werden? Oder sollen wir uns vorstellen, daß nach jeder der zahllosen Anlagen eine besondere Nervenbahn hinführt? oder wird die Sache dadurch leichter begreiflich, daß wir ein Keimplasma ohne Anlagen annehmen und uns vorstellen, daß nach jeder funktionellen Abänderung eines Teils auf dem Weg durch das Gehirn dem Keimplasma telegraphische Weisung zugehe, wie es seine „physikalisch-chemische Konstitution“ ab- zuändern habe, damit die Nachkommen doch auch etwas von dieser Ver- besserung zu genieben bekommen’? Ich gehöre nicht zu denen, die da meinen, daß wir schon alles, oder doch nahezu alles Wesentliche wüßten, ich bin vielmehr davon «. Vererbung von Verstümmelungen. 55 durchdrungen, dab uns ganze Gebiete von Erscheinungen nahezu ver- schlossen sind, und halte es für wahrscheinlich, daß gerade das Nerven- system sowohl in bezug auf seine Funktionierung als auf seine feinsten morphologischen Bauverhältnisse uns noch immer nicht erschöpfend be- kannt ist, obwohl ich die großen Fortschritte, welche gerade auf diesem Gebiete die letzten Jahrzehnte gebracht haben, dankbar anerkenne. Jeden- falls erscheinen mir solche oder ähnliche Annahmen, wie die eben an- gedeuteten, doch allzu unwahrscheinlich, als das wir uns auf sie stützen dürften. Immerhin werden wir uns stets bewußt bleiben müssen, daß wir über Möglichkeit oder Unmöglichkeit irgend welchen biologischen Geschehens niemals vom rein theoretischen Standpunkte allein aus ab- urteilen dürfen. weil wir die Wurzeln der biologischen Vorgänge doch mehr ahnen, als erkennen. Ich werde am Schluß dieses Vortrags noch einmal auf die Frage nach der theoretischen Denkbarkeit einer Ver- erbung funktioneller Anpassungen zurückkommen; fürs erste aber müssen wir die Tatsachen zu Rate ziehen und uns von ihnen allein leiten lassen. Beweisen sie, oder machen sie auch nur wahrscheinlich, daß eine solche Vererbung existiert, so muß dieselbe auch möglich sein, und unsere Aufgabe ist nicht mehr, sie zu leugnen, sondern ihre Möglichkeit ver- stehen zu lernen. Untersuchen wir also, ob eine Vererbung erworbener Abände- rungen, d. h. zunächst nur funktioneller Abänderungen, durch die Erfahrung nachweisbar ist. Uber den abändernden Eintluß klimatischer und ähnlicher Einflüsse wollen wir später noch sprechen; bei ihnen liegt die Sache ganz anders, weil sie ja unzweifelhaft nicht bloß die Teile des Körpers. sondern auch die in ihm geborgenen Keimzellen treffen. Wenn wir nun fragen, welche Tatsachen als Beweise für die Ver- erbung erworbener Abänderungen im engeren Sinn von den zahl- reichen modernen Anhängern des Lamarckschen Prinzips vorgebracht worden sind, so zeigt es sich, daß keine derselben der Kritik standhält. Da sind zuerst die zahlreichen Behauptungen von Vererbung von Verstümmelungen und Verlusten ganzer Körperteile. Es ist nicht ohne Interesse zu sehen, wie sich hier die Ansichten im Laufe der Debatte geändert haben. Im Anfang derselben wurden sie als vollgültiger Beweis für das Lamarcksche Prinzip vorgebracht. Auf der Naturforscherversammlung vom Jahre 1887 zu Wiesbaden wurden Kätzchen vorgezeigt mit Stummelschwänzen, welche diese Eigen- tümlichkeit von ihrer Mutter geerbt haben sollten, welcher der Schwanz angeblich abgefahren worden war. Die Zeitungen berichteten, wie großes Aufsehen dieser Fall gemacht habe, und Naturforscher vom Ansehen eines RupoLpHu VırcHow erklärten diesen Fall für bemerkenswert, hielten ihn also, falls er überhaupt in allen Angaben auf Wahrheit be- ruhte, für einen Beweis. Von vielen Seiten wurden dann noch ähnliche Fälle vorgebracht, die beweisen sollten, daß das Abschneiden der Schwänze bei Katzen und Hunden erbliche Verkümmerung dieses Teils hervor- rufen könne; auch studentische „Schmisse“ sollten sich gelezentlich auf den Sohn — glücklicherweise nicht auf die Tochter — vererbt haben, ein verstümmeltes, durchgerissenes Ohrläppehen der Mutter sollte beim Sohn Verunstaltung des Ohres hervorgerufen haben, Verletzung des väterlichen Auges bei den Kindern völlige Verkümmerung des Auges, Verunstaltung eines väterlichen Daumens durch Erfrieren, mißbildete Daumen bei Töchtern und Enkeln. Eine Menge solcher und ähnlicher 36 Das LAmAarcksche Prinzip. Fälle finden sich schon in den älteren Lehrbüchern der Physiologie von BurDacH und besonders von BLUMENBACH, von welchen freilich die meisten den Wert von Anekdoten nicht übersteigen, da sie nicht nur ohne sicheren Gewährsmann erzählt werden, sondern auch ohne die zur Beurteilung unentbehrlichen Einzelheiten. Schon im vorigen Jahrhundert hat unser großer Philosoph KANT, und in unseren Tagen der Anatom WILHELM His sich völlig absprechend diesen Angaben gegenüber geäußert, und eine Vererbung von Ver- stümmelungen durchaus in Abrede gestellt; nachdem nun aber ein ganzes Jahrzehnt hindurch eine lebhafte Debatte für und wider, verbunden mit eingehenden anatomischen Untersuchungen, genauerer Prüfung einzelner Fälle und dem Experiment stattgefunden hat, darf man das Ergebnis als ein durchaus negatives bezeichnen und sagen: es gibt keine Ver- erbung von Verstümmelungen. Lassen Sie mich ihnen ganz kurz zeigen, auf welche Weise dies Resultat erzielt wurde. Zunächst erwies sich die Behauptung, daß angeborene Stummel- schwänze bei Hunden und Katzen auf Vererbung einer Verletzung be- ruhen, als unbegründet. In keinem der vorgebrachten Fälle von Stummel- schwanz konnte auch nur nachgewiesen werden, daß dem betreffenden Elter der Schwanz wirklich abgefahren oder abgeschnitten worden war, geschweige denn, daß das Vorkommen eines verkümmerten Schwanzes aus inneren Ursachen bei einem der Eltern oder Großeltern hätte aus- geschlossen werden können. Zugleich ergab die genaue anatomische Untersuchung solcher Stummelschwänze, wie sie bei den Katzen der Insel Man und vielen Katzen Japans vorkommen und bei den verschie- densten Hunderassen ziemlich häufig gefunden werden, daß dieselben ihrem Bau nach nichts zu tun haben mit dem Rest eines ab- geschnittenen Schwanzes, sondern spontane Rückbildungen des ganzen Schwanzes sind, also verkrüppelte, nicht verkürzte Schwänze (BONNET). Zugleich bewiesen Versuche an Mäusen, daß das Abschneiden des Schwanzes, auch wenn es bei beiden Eltern geschieht, doch keine, auch noch so geringe Verkürzung des Schwanzes bei den Nachkommen zur Folge hat. Ich habe selbst derartige Versuche angestellt und zwar während 22 aufeinander folgenden Generationen und ohne jeden posi- tiven Erfolg. Unter den 1592 Jungen, die von entschwänzten Eltern erzeugt wurden, war nicht ein einziges mit einem irgendwie defekten Schwanz. Bestätigungen dieser Versuche an Mäusen sind von RITZEMA Bos und — unabhängig von diesem — von ROSENTHAL mitgeteilt worden, und entsprechende Versuchsreihen an Ratten, welche diese beiden Forscher anstellten, haben dasselbe negative Resultat ergeben. Wenn man nun bedenkt, daß alle die Fälle, welche für eine Ver- erbung von Verstümmelungen angeführt worden sind, sich auf ein- malige Verletzungen eines der Eltern beziehen, während hier durch zahlreiche Generationen hindurch dieselbe Verstümmelung immer wieder von neuem hervorgerufen wurde und zwar an beiden Eltern, so wird in diesen Versuchen der Beweis gesehen werden dürfen, daß alle früheren Angaben auf Täuschung oder Zufall beruht haben müssen. Verstärkt wird dieser Schluß durch alles, was wir sonst über die Wir- kungen oft wiederholter Verstümmelungen wissen, wie z. B. die be- kannten Verstümmelungen und Verbildungen, welche manche Völker seit langen, oft seit unvordenklichen Zeiten an ihren Kindern vornehmen, Vererbung von Verletzungen. BYi vor allem die Beschneidung (Cireumeision), das Ausschlagen der Schneide- zähne, das Bohren von Löchern in Lippe, Ohren oder Nase usw. Kein Kind der betreffenden Völker hat noch jemals diese Abzeichen mit auf die Welt gebracht, sie müssen in jeder (reneration wieder neu erworben werden. Damit stimmen auch die Erfahrungen der Tierzüchter, die des- halb, wie WILCKENS bemerkt, die Nichtvererbung von Verstümmelung als längst festgestellt betrachten. So gibt es eine Rasse von Schafen, bei welcher aus bestimmten praktischen Gründen der Schwanz seit etwa 100 Jahren ganz regelmäßig gestutzt wird (KüHn): noch niemals aber ist bei dieser Rasse ein Schaf mit bloßem Stummelschwanz geboren worden. Dies wiegt um so schwerer als es andere Schafrassen gibt (Fettsteißschafe), bei welchen das Fehlen des Schwanzes Rassencharakter ist: es liegt also nicht etwa in der Natur des Schafschwanzes, unaus- rottbar zu sein. Auch die seit langen (renerationsfolgen stets künstlich abgerundeten Ohren der Fuchshunde sind nie erblich aufgetreten. Herr Postans in Eastbourne teilte mir mit, daß die Hähne, welche zum Hahnenkampf benutzt werden sollen, stets vorher ihres Kammes und ihrer Kehllappen beraubt werden und zwar mindestens schon seit einem Jahrhundert, daß aber noch nie ein Kampfhahn ohne Kamm und Kehl- lappen erzeugt worden sei. Ebenso wird gewissen Hunderassen, z. B. den Wachtelhunden (Spaniel) regelmäßig und in beiden (Geschlechtern seit mehr als einem Jahrhundert der Schwanz um die Hälfte gekürzt, aber auch hier ist die Schwanzlänge dadurch nicht erblich verkürzt worden. Mißbildete Stummelschwänze kommen wohl bei den meisten Hunderassen vor, aber sie haben, wie ich früher schon bemerkte, ihrem anatomischen Charakter nach nichts mit künstlich verkürzten Schwänzen zu tun, und treten auch bei solchen Rassen auf, deren Schwanz nicht der Mode der Kürzung unterworfen ist, wie z. B. bei den Dachshunden (terrier). Man wird deshalb sagen dürfen, daß eine Vererbung künstlich erzeugter Defekte und Verstümmelungen gänzlich unbewiesen ist, und keine Stütze für die behauptete Vererbung funktioneller Ab- änderungen bietet. Das wird denn auch von den meisten Anhängern des LAMARCK- schen Prinzips jetzt zugegeben, und damit dürften diese „Beweise“ wohl als erledigt zu betrachten sein. Was man nun sonst noch als Beweise dafür vorgebracht hat, sind vor allem die vielbesprochenen Versuche von BROWN-SEQUARD an Meerschweinchen, aus welchen gefolgert wurde, künstlich erzeugte Epilepsie könne vererbt werden. Dieselben beweisen aber deshalb nichts in dieser Frage, weil Epilepsie-ähnliche Krämpfe sehr verschie- dene und zwar zum großen Teil unbekannte Ursachen haben können. Wenn künstliche Epilepsie sich bei Meerschweinchen auf die verschie- densten Verletzungen zentraler oder peripherischer Teile des Nerven- systems einstellen kann, so weist dies allein schon darauf hin, daß es sich nicht um den Stich oder Schnitt, ich meine um die Kontinuitäts- trennung selber und deren Wirkung und Vererbung handeln kann. Diese müßte doch verschieden sein, je nachdem man gewisse Zentren des Gehirns, oder das halbe Rückenmark oder große Nervenstämme durchschneidet. Es muß also noch etwas anderes hinzukommen, was das Bild der Epilepsie hervorruft — ein Krankheitsvorgang, der an vielen Stellen des Nervensystems seinen Ursprung nehmen, sich dann 58 Das LAMARCKsche Prinzip. aber von dort aus bis in die Gehirnzentren fortsetzen kann. Damit stimmt es, daß es mindestens 14 Tage, oft 6 bis .3S Wochen braucht, ehe nach der Operation Epilepsie auftritt; damit stimmt es ferner, wenn in vielen Fällen diese ganz ausbleibt. Ich habe die Vermutung ausgesprochen, es möchten bei der Operation leicht irgend welehe pathogene Mikroorganismen an den verletzten Nerventeil ge- raten, dort Entzündung erregen, die sich dann zentripetal bis nach dem Gehirn fortsetzen könnte. An Lymphgefäßen sind ähnliche Vorgänge durch Beobachtung festgestellt worden, warum sollten sie nicht an ner- vösen Teilen vorkommen können? Man hat mir freilich eingeworfen, die Epilepsie lasse sich durch Schläge auf den Schädel erzeugen, sowie durch Zerquetschen des Ner- vus ischiadieus durch die Haut hindurch, und in beiden Fällen komme die Epilepsie auch in der folgenden (Generation vor: man meint damit, das Eindringen von Mikroben ausgeschlossen zu haben. Wenn dies nun auch sicher der Fall wäre, so scheint mir durch die vorliegenden Versuche die Vererbung der Krankheit für diese Fälle zwar behauptet, aber nicht erwiesen zu sein. Wäre sie es aber auch, und könnte man ausschließen, dab nicht vorher schon verschiedentliche Mikroben im Inneren des lebenden Tieres verkehren, die erst durch Entfernung oder Zerquetschung des Neurilems in die Nervensubstanz selbst eindringen können, so würde man doch nichts gewonnen haben, was dem LAMARCK- schen Prinzip eine Stütze wäre: man könnte nur sagen: Gewisse Ver- letzungen des Nervensystems verursachen bei Meerschweinchen sekun- där häufig das Krankheitsbild der Epilepsie, und in der darauf folgen- den (reeneration treten öfters allerlei verschiedene funktionelle Alte- rationen des Nervensystems auf, in seltenen Fällen auch das Bild epileptischer Krämpfe. Daß es sich dabei um die Vererbung einer erworbenen anatomischen Veränderung, wie sie durch die Verletzung gesetzt wird, handle, ist nicht nur nicht bewiesen, sondern bestimmt nicht der Fall, da die Verletzungen selbst ja nicht vererbt werden. Es müßte also immer etwas ganz anderes ver- erbt werden, als erworben wurde, denn es hat noch niemals jemand etwa eine Narbe (!) an dem Nervenstamm des Jungen entdeckt, der beim Elter durchschnitten worden war oder irgend welche andere Spur davon, als die dadurch erregte Krankheit. Ubrigens ist auch die Ver- erbung dieser Krankheitserscheinungen durch Untersuchungen so er- fahrener Kenner (der Nervenkrankheiten wie SOMMER und BINSWANGER erst kürzlich wieder von neuem entschieden bestritten, und die Richtig- keit der so lange durch die Literatur geschleppten Brownschen Er- gebnisse geleugnet”) worden. Man sollte klar gestellte Fragen, wie die nach der Vererbung funktioneller Abänderungen nicht dadurch verwirren, daß man Er- scheinungen in sie hineinzieht, die in ihren Ursachen gänzlich unbe- kannt sind. Was wissen wir von den eigentlichen Ursachen jener zen- tralen Gehirnreizungen, welche das Bild der Epilepsie hervorrufen? Dab es Krankheiten gibt, die erworben sind und doch „vererbt“ werden, ist sicher, hat aber mit dem LAamArRcKschen Prinzip nichts zu tun, weil es sich dabei um Infektion des Keims handelt, nicht um bestimmte Veränderung der Keimesbeschaffenheit selbst. Von der seinerzeit ver- heerend aufgetretenen Krankheit der Seidenraupe, der sog. Pe- *) Siehe das Referat E. H. ZIEGLERs im Zool. Centralblatt 1900, No. 12 u. 13. Infektion des Keims. 59 brine, wissen wir dies sicher; die Keimchen dieses Spaltpilzes sind im Ei des Schmetterlings nachgewiesen worden; sie vermehren sich nicht sogleich, sondern erst später in der jungen Raupe, und erst die halb oder ganz herangewachsene Raupe, oder auch erst der Schmetterling erliegt der Krankheit. Ob diese hier auch durch die männlichen Keimzellen übertragen wird, ist meines Wissens nicht nachgewiesen, daß das aber überhaupt geschehen kann, wissen wir durch die Vererbung der Syphilis vom Vater auf das Kind; denn daß der Krankheitserreger auch hier ein Mikroorganismus ist, kann nicht bezweifelt werden, wenn derselbe auch noch nieht nachgewiesen ist; es können also selbst die winzigen Samen- fäden des Menschen Mikroben enthalten und in den Keim eines neuen Individuums übertragen. Man sollte aber auch die Diskussion wissenschaftlicher Fragen nicht zu Wortspielen herabziehen, indem man solche Fälle als Beweise für die Vererbung „erworbener* Abänderungen hinstellt, wie das z. B. von M. NussBAum geschehen ist, der die Einwanderung der Algen- zellen, welche im Entoderm des grünen Süßwasserpolypen leben, in das ursprünglich farblose und im Ektoderm entstehende Ei des Tiers als einen solchen Beweis anführt (Fig. 35, 2, /). Es scheint mir besser, vielmehr scharf zu unterscheiden zwischen der Übertragung von frem- den Mikroorganismen durch die Keimzellen und zwischen der Über- lieferung von Keimplasma samt den in seinem Bau begründeten Eigen- schaften. Nur das letztere ist Verbung im wissenschaftlichen Sinn, das erstere aber ist Keimesinfektion. Noch viel weniger aber als die Fälle vererbter traumatischer Epi- lepsie kann die krankhafte Beschaffenheit der Kinder von Trinkern als ein Beweis für die Vererbung somatogener Charaktere geltend gemacht werden, obgleich das oft geschehen ist. Ich will gar nicht darauf Wert legen, daß die Tatsache selbst nach dem Urteil kompetentester Beobachter, z. B. von Dr. THomas MoOrRTON*) noch nicht über allen Zweifel festgestellt ist. Allein, wenn es auch völlig feststünde, daß die verschiedenen, bis zum Wahnsinn sich steigernden Leiden des Nervensystems, die man bei Kindern von Trinkern häufig beobachtete, wirklich ihre Ursache im Trinken der Eltern hätten, so dürfte doch nicht übersehen werden. daß es sich hier nicht um die erbliche Uber- tragung somatischer Veränderungen handelt, sondern um diejenige von direkt erzeugten Veränderungen im Keimplasma der Fort- pflanzunzungszellen, denn diese sind dem Einfluß des im Blute des Trinkers zirkulirenden Alkohols so gut ausgesetzt, wie irgend ein Teil des Körpers. Daß dadurch Veränderungen im Keimplasma gesetzt werden können, die im Kinde zu krankhaften Dispositionen führen mögen, kann und soll jedenfalls a priori nicht ge- leugnet werden. Wir kennen ja noch manche andere Einflüsse, z. B. klimatische, welche das Keimplasma direkt treffen und verändern. Ob dies im Falle der Trunksucht sich so verhält, und auf welche Weise es geschieht, durch direkte Wirkung des Alkohols oder durch Infektion des Keims mit irgendwelchen Mikroben, das muß die Zukunft ent- scheiden; die ganze Frage gehört nicht hierher; sie kann das uns jetzt beschäftigende Problem nicht aufklären helfen. *, „The problem of heredity in reference to inebriety* Proceed. Soc. for the study of Inebriety, No. 42, Nov. 1804. 60 Das LAMARcKsche Prinzip. Wenn nun aber auch jede Spur eines Beweises für die Vererb- barkeit funktioneller Abänderungen, also für die Vererbung von Übungs- resultaten fehlt, so würde daraus allein doch die Unmöglichkeit eines solchen (Geschehens nicht geradezu gefolgert werden dürfen, denn es mag manches geschehen können, was wir zur Stunde nicht zu beweisen imstande sind. Wenn sich zeigen ließe, daß große Gruppen von Erscheinungen sich auf keine andere Weise erklären ließen, als unter der Voraussetzung einer solchen Vererbung, so müßten wir dieselbe dennoch als wirklich annehmen, trotzdem es nicht beweisbar, ja nicht einmal theoretisch vorstellbar ist. Auf diesen Standpunkt stellen sich nun jetzt die Anhänger des LAmArcKschen Prinzips. Sie sagen: es gibt eine große Anzahl von Veränderungen, die sich sehr einfach und leicht erklären, wenn wir sie als die Wirkungen des vererbten Gebrauchs oder Nichtgebrauchs ansehen, die aber nur ge- zwungen durch Naturzüchtung, ja teilweise sogar gar nicht durch diese erklärt werden können, und zwar sind das nicht etwa vereinzelte Fälle, sondern ganze Kategorien von Fällen. Ich will Ihnen einige derselben vorführen, und Ihnen zugleich zeigen, warum ich sie nicht als zwingend anerkennen kann, selbst für den Fall nicht, daß wir heute noch außerstande sein sollten, sie ohne Zuhülfenahme des Lawmarckschen Prinzips befriedigend zu erklären. Lassen Sie mich aber gleich hinzufügen, daß ich der Meinung bin, auch das letztere tun zu können, wenn auch freilich nicht, ohne vorher dem Selektionsprinzip eine erweiterte Anwendung gegeben zu haben. ös ist oft behauptet worden, daß allein schon die Existenz der Instinkte der Tiere die Wirksamkeit des LamAarckschen Prinzips be- wiese. In einer der früheren Vorlesungen zeigte ich Ihnen, daß zum mindesten ein großer Teil der Instinkte aus reinen Reflexhandlungen hervorgegangen sein muß, und deshalb, wie diese selbst, nur durch Selektion erklärt werden kann. Denn die Reflexhandlung, das Husten, Niesen, Lidschließen u. s. w. unterscheidet sich von der Instinkthandlung nur durch eine geringere Komplikation und kürzere Dauer der durch einen Sinneseindruck ausgelösten Folge von Bewegungen, auch dadurch, daß sie nicht ins Bewußtsein zu fallen braucht, aber eine scharfe Grenze ist zwischen beiden überhaupt nicht zu ziehen, und jedenfalls beruhen sie beide, wie wir gesehen haben, auf ganz analoger anatomischer Grund- lage. Es ist nur ein Unterschied des Grades, ob auf den Anblick eines rasch gegen das Auge fahrenden Gegenstandes die Lidmuskeln sich kon- trahieren, und durch den Lidschluß das Auge schützen, oder ob die Fliege, die wir mit der Hand zu haschen trachten, durch den Eindruck des rasch sich nähernden Handschattens veranlaßt wird, blitzschnell auf- zufliegen. Die Handlung der Fliege kann ebensogut als Reflex- denn als Instinkthandlung aufgefaßt werden. Von ihr aber zu der zusammen- gesetzten und langwierigen Handlung einer Maurerbiene, die der An- blick ihres Stockes dazu veranlaßt, auszufliegen, Lehm zu holen, eine künstliche Zelle nach und nach daraus zu bauen, sie mit Honig zu füllen, ein Ei darauf zu legen und die Lehmzelle schließlich mit einem Lehmdeckel zu versehen, ist auch nur ein Unterschied des Grades, nicht der Art. Da alle Reflexmechanismen und alle natürlichen Instinkte der Tiere zur Erhaltung der Spezies beitragen, also nützlich sind, so läßt sich ihre Entstehung auf Naturzüchtung beziehen und es fragt sich nur, ob sie allein, und ob sie immer darauf bezogen werden muß. Entstehung der Instinkte. 61 Es ist nun allerdings nicht zu bezweifeln, daß beim Menschen und bei höheren Tieren Willenshandlungen. die oft ausgeführt werden, allmählich den Charakter von instinktiven Handlungen erhalten können. Die einzelnen zu der betreffenden Handlung gehörigen Bewegungen werden dann nicht mehr jede für sich vom Willen geleitet, sondern ein einziger Anstoß des Willens genügt, um die ganze komplizierte Handlung des Schreibens, Sprechens, Gehens, des Abspielens eines ganzen Musikstückes auszulösen; ja häufig kann sogar der Willens- impuls ganz fehlen, und die Handlung einfach nur auf den adäquaten äußeren Reiz hin in Szene gesetzt werden, wie z. B. das (rehen im Schlaf, wie es bei ermüdeten Kindern und Soldaten. und bei Nacht- wandlern beobachtet wird. Der äußere Reiz überträgt sich dabei mit derselben Unfehlbarkeit auf die richtigen Muskelgruppen, wie beim echten Instinkt, und dies geschieht nicht nur bei Handlungen, die wie das Gehen zum Leben der Art notwendig gehören, sondern “auch bei solchen, die aus zufälligen Gewohnheiten oder Übungen hervorgegangen sind. Oft genügt eine sehr kurze Übung dazu, eine Handlung instinktmäbig werden zu lassen, und oft ist die "Kompliziertheit solcher durch Übung erlangter Instinktmechanismen eine erstaunliche. Man kann unter Um- ständen ein Stück nach Noten auf dem Klavier spielen, dabei aber in- tensiv an ganz andere Dinge denken und sich des Gespielten durchaus nicht bewußt werden. Ebenso kann es geschehen, wenn man von hef- tiger Gemütsbewegung beherrscht, sich davon durch Lektüre befreien möchte, daß man eine ganze Seite Zeile für Zeile herunterliest, ohne zu verstehen was man liest. In letzterem Fall ist es nicht direkt nach- weisbar, daß man trotzdem alle die verwickelten feinen Augenbewegungen gemacht hat, welche durch das Sehen der Wortbilder ausgelöst wurden, beim Spielen eines Stückes aber können andere kontrollieren, daß das- selbe wirklich richtig abgespielt wurde, daß also der Reiz, den jede Note auf die Netzhaut des Auges ausübte, sich in die der Note ent- sprechende verwickelte Muskelbewegung der Finger und des Armes um- wandelte, und zwar sowohl der Höhe, als der Dauer des Tons ent- sprechend, als der Gleichzeitigkeit mehrerer Töne. In allen diesen Fällen sind es wohl nicht immer ganz neue Bahnen, welche im Gehirn erst entstehen, sondern nur bestimmte (Geleise auf den unzähligen in den Nervenzellen (Neuronen) schon vorhandenen, Nervenbahnen, welche „stärker eingefahren werden“ durch die Übung, und auf welchen nun die Verbreitung des Nervenstroms leichter erfolgt als auf anderen*). Dieses oft gebrauchte Bild gibt zwar die wirklichen Veränderungen nicht an, die dabei vor sich gehen, und die wir eben noch nicht kennen, aber es zeigt doch wenigstens darauf hin, dab es sich hier um materielle Veränderungen der letzten lebenden Elemente der Nervensubstanz (Nervenbiophoren) handeln wird, seien es solche der Lage oder der (Qualität, oder beides. Könnten nun solche durch Übung im Einzelleben erworbene Ge- hirnstrukturen und -Mechanismen vererbt werden, so würden in der Tat auf diesem Wege neue Instinkte entstehen können, und dies ist heute noch die Meinung vieler Forscher. *) Es soll damit durchaus nicht bezweifelt werden, daß auch ganz neue Bahnen während des Lebens entstehen können, wie dies die neueren Forschungen von APATHY, BETHE u. a. wahrscheinlich machen, eine Ansicht, für die auch der Histologe RAMON yY Casaun und neuerdings der Zoologe HEıyR. ZIEGLER sich sehr bestimmt aus- gesprochen haben. 62 Das LAMARCKsche Prinzip. Wäre die Vererbung erworbener Charaktere schon auf andere Weise nachgewiesen, so würden wir nicht umhin können, ihr bei den höheren Tieren auch einen Anteil an der Um- und Neubildung von Instinkten zuzugestehen. Wir würden dann zugeben müssen, daß Gewohnheiten vererbt werden können, und daß wirklich, wie man oft gesagt hat In- stinkte gewissermaßen vererbte Gewohnheiten sind oder doch sein können. Den umgekehrten Schluß aber zu machen, und aus dem Er- folg der Gehirnübung im Einzelleben und ihrer Ähnlichkeit mit ange- borenen Instinkten zu schließen, daß auch letztere auf vererbter Übung beruhen, und daß es somit eine Vererbung erworbener Eigen- schaften geben müsse, ist schwerlich zulässig. Ja, wenn wir keine andere Erklärung hätten! Aber da Instinkte auf materiellen Hirnmechanismen beruhen, die variabel sind, wie jeder andere Teil des Körpers, und da sie ferner notwendig sind für die Erhaltung der Art, und bis ins Einzelste angepaßt den Lebensumständen, so steht nichts im Wege, sie in ihrer Entstehung und Umgestaltung auf Selektionsprozesse zu beziehen. Man hat geltend gemacht, daß Dressur z. B. bei Hunden sich vererben könne, daß der junge Vorstehhund noch ungelehrt vor dem Wild stehen bleibe, der junge Schäferhund von selbst die Schafherde umkreise und anbelle, ohne zu beißen. Man vergißt dabei nur, daß diese Rassen nicht nur unter dem Einfluß der künstlichen Züchtung des Menschen entstanden sind. sondern daß sie heute noch scharf selektiert werden. Mein leider allzu früh für die Wissenschaft aus dem Leben gerissener Arbeitsgenosse und Freund Dr. OTTO vom RATH, der nicht nur ein feiner Untersucher, sondern auch ein vielerfahrener Jäger war, teilte mir mit, dab die Jäger sehr genau zwischen den besseren und schlechteren Jungen eines Wurfes unterscheiden, und daß keineswegs jedes Junge eines Elternpaares von Vorstehhunden wieder zur Hühnerjagd gebraucht werden kann. Im demselben Sinn sprach sich LLOYD MORGAN aus, gewiß ein kompetenter Beurteiler auf dem (Gebiet der Instinkte; er bestätigt, daß der „Pointer“ wirklich oft die Beute, z. B. ein Lerchennest, ungelehrt steht, aber zugleich auch. daß dies in sehr verschiedenem Grade angeboren ist, und daß nach seiner Memung Selektion dabei unzweifelhaft mitspielt. Man glaube auch nicht, daß die Gewohnheit des Vorstehhundes tatsächlich auf Dressur beruhe, sie ist nur bei jedem einzelnen Tier verstärkt durch Dressur, sie beruht aber auf der angeborenen Neigung, das Wild anzuschleichen, also auf einer Variation des Raubinstinktes. Der Mensch hat sie benützt und durch Züchtung gesteigert, aber keines- wegs in die Rasse hineingeprügelt. Und ähnlich wird es sich bei aller sog. Vererbung von Dressuren verhalten. Man muß auch nicht ver- gessen, wie ungemein viel durch Dressur beim einzelnen Tier zu er- reichen ist. Der Elefant ist dafür das beste Beispiel, denn er pflanzt sich in Gefangenschaft nur ganz ausnahmsweise fort, und alle die Tausende zahmer Elefanten Indiens sind gezähmte wilde Tiere. Dennoch sind sie sanft und lenksam, wie es das seit ‚Jahrtausenden domestizierte Pferd nicht besser sein kann, verrichten alle möglichen Arbeiten mit größter Geduld und Gewissenhaftigkeit, und nicht selten auch ohne stets beaufsichtigt zu sein. Es sind eben Tiere von grober Intelligenz, die begreifen, was von ihnen verlangt wird, und die sich bereitwillig den neuen Lebensbedingungen anbequemen. Entstehung der Instinkte. 63 Man hat nicht selten auch die Anhänglichkeit des Hundes an seinen Herrn und an den Menschen überhaupt als Beweis der Ent- stehung eines neuen Instinktes durch vererbte Gewöhnung in Anspruch genommen; allein der Hund ist ein gesellschaftliches Tier auch im wilden Zustande. und überträgt beim Zusammenleben mit dem Menschen seinen Gesellschaftstrieb auf diesen. Wir finden genau das gleiche beim wild eingefangenen und gebändigten Elefanten. Es wird besonders hervorgehoben von solchen, die die Tiertransporte in Afrika begleitet haben, daß die jungen Elefanten zwar wild und bösartig gegenüber den Schwarzen waren, die sie quälten und mißhandelten, aber zutunlich und harmlos gegenüber den Weißen, die sie freundlich behandelten. Die Anhänglichkeit der Elefanten an ihre Wärter und an alle Personen, die ihnen Gutes erweisen, ist ja bekannt genug: sie beruht nicht auf einem neu erworbenen Trieb, sondern auf dem der Art eigenen Geselligkeits- trieb, der sie auch im wilden Zustand in größeren (resellschaften leben läßt, und auf ihrem harmlosen, furchtsamen und gewissermaßen liebe- bedürftigen Charakter. Gewiß kann man sich in der Phantasie sehr leicht dıe Entstehung eines neuen Instinktes aus einer neu angenommenen (rewohnheit theo- retisch konstruieren. Wir haben oft gehört, wie Seefahrer auf fernen unbewohnten Eilanden die Vögel gänzlich furchtlos fanden: sie ließen sich mit Knüppeln erschlagen, ohne zu fliehen. Die Ausrottung der sroßen Dronte vor drei Jahrhunderten ist ein bekanntes Beispiel dafür. Neuerdings hat CHun uns in seinem prächtigen Werk über die deut- sche Tiefseeexpedition vom Jahre 1898 wieder zahlreiche interessante Erfahrungen darüber mitgeteilt, nach welchen sich die Seevögel der Kerguelen: Pinguine, Kormorane, Möven, Scheidenschnäbel (Chionis) und andere dem Menschen gegenüber etwa so benahmen, wie die zah- men Gänse unserer Hühnerhöfe. Selbst mächtige Säugetiere, die „See- elefanten“, Robben mit rüsselartig verlängerter Nase, flohen weder vor dem Menschen, noch zeigten sie sich ihm feindlich, sondern ließen sich ruhig anfassen. Ähnliches berichtete schon 1799 STELLER, als er mit seiner Schiffsmannschaft auf einer Insel der Behringstrabe über- wintern mußte. Die zahlreichen, dort lebenden riesigen Seekühe (Rhytina Stelleri) waren so zutraulich, dab sie das Boot bis dicht an sich heran- kommen ließen, und daß seine Leute nach und nach eine Menge von ihnen töten konnten, um von ihrem Fleisch zu leben. Schon gegen Ende des Winters aber fingen die Tiere an, scheu zu werden, und im folgenden Winter, als andere Polarfahrer dieselbe Jagd dort zu treiben suchten, war es schwer, ihrer habhaft zu werden; sie hatten den Menschen als ihren Feind erkannt und flüchteten vor ihm schon von fern. Die- selben Individuen also, die früher den Menschen sorglos herankommen ließen, scheuten ihn jetzt als ihren Feind. Dies war nicht Instinkt, sondern auf Erfahrung begründete Willenshandlung. Sie würde aber bald „instinktiv* werden, wenn die Begegnung mit dem Feind sich oft wiederholte, gerade wie das Aufziehen der Taschenuhr, das auch zur Unzeit, z. B. beim Umkleiden am Tag erfolgt, also ohne Über- legung. Nun kann man sich ja wohl vorstellen, daß, falls die materielle Gehirnanpassung, welche dem Anblick des Menschen das Flüchten auch ohne Überlegung sofort folgen läßt, sich vererbte, der Flüchtungs- instinkt eine angeborene Eigenschaft der betreffenden Art werden könnte, Allein diese Annahme schwebt in der Luft; denn, wie eben gerade die Seekuh zeigt, bedürfen wir ihrer nicht in solchen Fällen, wo das Tier 64 Das LAMARcKsche Prinzip. intelligent genug ist. um die für seine Existenz nötige Handlung aus eigener Einsicht vorzunehmen; sie wird dann im Einzelleben durch Übung und Nachahmung „instinktiv“, ohne deshalb schon die Fähigkeit der Vererbung erlangt zu haben. In vielen Fällen aber genügt das nicht, überall da nämlich, wo der nötige Grad von Intelligenz dazu nicht vorhanden ist, oder auch, wo die Fluchtbewegung so überaus rasch erfolgen muß, daß sie auf dem Umweg durch den Willen jedesmal zu spät käme, wie 2:.B.. das Schließen der Lider bei Bedrohung des Auges, oder das Flüchten der Fliege oder des Schmetterlings bei der Annäherung eines Feindes. Sowohl die Fliege als der Schmetterling wären jedesmal ver- loren, müßten sie aus Bewußtsein einer Gefahr erst die Fluchtbewegung in Gang setzen, und mübten sie gar erst Erfahrungen darüber machen, von wem ihnen Gefahr droht, so würde kein Individuum dem frühen Tod entgehen, und die Art müßte aussterben. Sie besitzen aber den Instinkt, auf den Eindruck einer wie immer beschaffenen, rasch sich nähernden Gesichtswahrnehmung blitzschnell aufzufliegen, und zwar in entgegengesetzter Richtung. Daher sind sie so schwer zu fangen. Ich habe einmal dem Spiel einer sonst im Fangen sehr geschickten Katze zugesehen, die einen Schmetterling, ein Pfauenauge, zu erhaschen suchte, das sich mehrmals auf dem Boden vor ihr niedersetzte. Leise und langsam schlich sie bis auf Sprungweite heran, aber noch während des Sprungs, dicht vor ihrer Nase flog der Schmetterling auf und entwischte jedesmal, so daß die Katze nach dreimaligem Versuch die Jagd aufgab. Hier kann der Anfang des Instinktes schon deshalb nicht in einer Willenshandlung liegen, weil das Insekt nicht wissen kann, was es be- deutet, gefangen und getötet zu werden, und ähnlich ist es bei den unzähligen noch niedriger stehenden Tieren, bei welchen der Flüchtungs- trieb stark ausgebildet ist, bei den Einsiedlerkrebsen und Meerpinseln (Serpula). die sich blitzschnell in ihre Gehäuse zurückziehen u.s.w. Es scheint mir aber theoretisch wertvoll, daß die gleiche Handlung des Flüchtens das eine Mal durch den Willen. das andere Mal durch den angeborenen Instinktmechanismus ausgelöst werden kann. In beiden Fällen müssen ganz ähnliche Assoziationsänderungen in den Nerven- zentren der Handlung des Tiers zugrunde liegen, aber im ersten Fall werden sie erst im Laufe des Einzellebens durch Übung ausgebildet, im zweiten sind sie angeboren; im ersten bleiben sie auf das Indi- viduum beschränkt und müssen von jeder Generation durch Nach- ahmung der Älteren (Tradition) und dureh Überlegung erworben werden, im zweiten vererben sie sich als ein feststehender Artcharakter. Man hat von verschiedenen Seiten geltend gemacht, die Entstehung der Instinkte durch Selektionsprozesse sei deshalb nicht denkbar, weil es nicht wahrscheinlich sei, daß sich dem Züchtungsprozeß immer ge- rade solche zufällige Variationen des Nervensystems darböten, wie sie zur Herstellung des betreffenden Hirnmechanismus erforderlich sind. Das ist aber ein Einwurf, der sich gegen das Prinzip der Selektion selbst richtet, und der, wie ich glaube, in der Tat auf eine Unvoll- kommenheit desselben, so wie DARWIN und WALLACE es verstanden, hinweist. Derselbe Einwurf kann bei jeder Anpassung eines Organs durch Naturzüchtung gemacht werden: es bleibt immer zweifelhaft. ob denn die nützlichen Variationen sich auch darbieten werden, sobald dieselben, wie die Entdecker des Prinzips annahmen, rein zufällig sind. Wir werden später versuchen, diese Lücke in der Theorie aus- Abänderung passiver Teile. [Hi ”. Sf! zufüllen, für jetzt aber möchte ich Sie nur darauf hinweisen, daß S lektionsprozesse die einzige Erklärung für die Enfatehune der Instinkte bieten, nachdem die Entstehung durch Um- wandlung von Willenshandlungen in instinktive Handlungen mit nachträglicher Vererbung der durch die Übung im Einzel- leben gesetzten Instinktmechanismen als hinfällig nachge- wiesen wurde. Wer davon noch nicht überzeugt sein sollte, den verweise ich auf die früher schon besprochenen Instinkte, welche nur einmal im Leben ausgeübt werden, bei welchen also gerade der Faktor fehlt, der die Willenshandlung zu einer instinktiven machen kann: die Übung, die oftmalige Wiederholung der Handlung. Hier liegt wirklich der Fall so, daß, wenn überhaupt eine Erklärung versucht werden soll, sie nur durch Naturzüchtung geleistet werden kann, da wir nun einmal die Erklärbarkeit dieser Welt voraussetzen, und so dürfen wir wohl sagen: diese Instinkte sind durch Naturzüchtung entstanden. Wenn es nun auch vielleicht schwierig ist, sich den Vorgang der allmählichen Entstehung eines solchen Instinktes im einzelnen auszu- denken, z. B. des Instinktes, welcher die Raupe zwingt, ihren kompli- zierten Kokon zu spinnen, den sie nur einmal im Leben anfertigt, ohne ihn je gesehen zu haben, ohne also die Handlungen, die ihn hervor- rufen, etwa nachahmen zu können, so werden wir deshalb doch nicht die einzige denkbare Lösung des Problems beiseite schieben, denn damit würden wir auf eine natürliche Erklärung des Phänomens überhaupt Verzicht leisten. Wohl aber werden wir untersuchen, ob an unserer heutigen Vorstellung von der Naturzüchtung nicht noch etwas fehlt, was der Grund ist, daß die nützlichen Variationen immer da sind, und daß sie sich steigern können. Wenn wir aber so verwickelte Handlungsreihen instinktiver Art, wie sie z. B. zur Verfertigung des Gespinnstes der Seidenraupe, oder des Nachptfauenauges notwendig sind, durch Naturzüchtung er- klären müssen, was könnte uns veranlassen, andere Instinkte, auch wenn sie mehrmals oder oft im Leben zur Anwendung gelangen, nicht auch darauf zurückzuführen? Es ist unlogisch, einen anderen Faktor noch herbeizuziehen, wenn dieser eine, als wirksam nachgewiesene, zur Erklärung ausreicht. Von seiten der Instinkte liegt also keine Nötigung vor, die An- nahme einer Vererbung funktioneller Abänderungen zu machen, genau ebensowenig, als bei der Entstehung irgend welcher rein morphologischen Abänderungen. Wie aber die nur einmal ausgeübten Instinkte uns be- weisen, daß auch sehr komplizierte Triebe ohne jede Vererbung von Gewohnheiten, d. h. ohne Vererbung funktioneller Abänderungen ent- stehen, so gibt es unter den rein morphologischen Charakteren eine Menge von rein passiv wirkenden, welche nur durch ihr Da- sein, nicht durch eine wirkliche Tätigkeit dem Organismus von Nutzen sind, so daß sie also nieht auf Übung, somit auch nicht auf Vererbung von Übungsresultaten bezogen werden können. Und wenn dies der Fall ist, so können also Umwandlungen der verschiedensten Teile ohne Vererbung erworbener Eigenschaften, d. h. funktioneller Abänderungen geschehen, und es liegt kein Grund vor, eine unerwiesene Vererbungs- form heranzuziehen zur Erklärung eines Vorgangs, der auch ohnedies schon seine Erklärung findet. Denn wenn überhaupt irgend ein Teil sich lediglich durch Naturzüchtung umgestalten kann, auf Grund der allgemeinen Variabilität aller warum sollten dies nur die passiven Weismann, Doszondenztheorie. II Aufl 5 66 Das LAMARcKsche Prinzip. Organe können, da doch die aktiven ganz ebensowohl variabel und ganz ebensowohl mitentscheidend für den Kampf ums Dasein sind? Dieser passiv wirkenden Teile aber gibt es bei Tieren selbst zahl- reiche: ich erinnere nur an die Färbung der Tiere, an die sämtlichen, so verschieden gestalteten Skeletteile der Gliedertiere, die Beine, Flügel, Fühler, Dornen, Haare, Klauen u. s. w.. welche allzusamt nicht imstande sind, durch vererbte Ubungsresultate verändert zu werden, weil sie eben durch den Gebrauch nicht mehr verändert werden können; sie sind fertig, ehe sie gebraucht werden, und treten erst in Gebrauch, wenn sie schon an der Luft erhärtet und nicht mehr plastisch sind, höchstens abnutzbar, verstümmelbar. Bei den Pflanzen vollends hat selbst ein so entschiedener Kämpfer für das Lamarcksche Prinzip, wie HERBERT SPENCER, ausgeführt, daß „die überwiegende Masse der Eigen- schaften und Merkmale“ nicht aus diesem, sondern nur aus dem Se- lektionsprinzip heraus erklärt werden können; alle die mannigfachen Schutzvorrichtungen einzelner Pflanzenteile, wie Dornen, Borsten, Haare, der Wollpelz gewisser Blätter, die Schale der Nüsse, die fetten Öle in den Samen, die so vielgestaltigen Flugvorrichtungen der Samen u. S. w. wirken alle durch ihr bloßes Dasein, nicht durch eine wirkliche Tätig- keit, die sie verändern, und deren Erfolg sich vererben könnte. Eine mit Dornen über und über bewaffnete Akazie kommt selten in den Fall, ihre Waffen überhaupt nur einmal anzuwenden, und wenn einmal irgend ein hungriger Wiederkäuer sich an den Dornen sticht, so sind es doch immer nur wenige der Dornen, die „geübt werden“, die übrigen bleiben unberührt. Wenn nun aber trotzdem alle diese Teile entstehen konnten, so muß es ein Prinzip geben, welches dieselben hervorruft gemäß dem durch die Lebensbedingungen gesetzten Bedürfnis, und dieses kann nur Naturzüchtung sein, d.h. Selbstregulierung der Variationen durch das Bedürfnis. Haben wir aber einmal dies Prinzip. so bedürfen wir keines anderen mehr, um zu erklären, was schon erklärt ist. Ich begreife indessen sehr wohl, daß es vielen Forschern, und vor allem den Paläontologen schwer fällt, diesen Schluß anzuerkennen. Wenn man nur solche Teile ins Auge faßt, die aktiv wirken, die also durch die Funktion verändert werden, durch Übung vestärkt, dureh Niehtübung geschwächt und verkleinert werden, und wenn man weiter solche Teile dureh die Entwicklung ganzer geologischer Epochen hin- durch verfolgt, so erhält man freilich den Eindruck, als ob die Übung der Teile direkt auch ihre phyletische Umgestaltung bewirkt hätte. Die Richtung der Nützlichkeit im Laufe des Einzellebens und in. der Phylogenese ist dieselbe, und die Intraselektion, d. h. die Se- lektion der Gewebe im Innern des einzelnen Tieres, zielt auf dieselben Verbesserungen ab, wie die Selektion der Personen. So kommt der Schein zustande, als ob die phyletischen Veränderungen denen des Einzellebens nachfolgten, während es in Wahrheit umgekehrt sich verhält: die Abänderungen aus Keimesvariationen sind das Primäre und das den Gang der Phylogenese Bestimmende, während die Gewebeselektion im Einzelleben die von der Keimesanlage gegebene Grundlage nur noch ausfeilt, und dem stärkeren oder schwächeren Gebrauch entsprechend verbessert. Wenn der amerikanische Paläontologe OsßBorn den Pferdefuß als Beispiel für seine Ansicht anführt, dab die im individuellen Leben durch den Gebrauch gesetzten Abänderungen vererbt werden müßten, damit die phyletischen Umgestaltungen zustande kommen konnten, so ist das Phyletische Entwicklungsbahnen. 67 vielleicht eines der besten Beispiele für den Hinweis auf das (Gegenteil. Er meint, daß in jedem jungen Pferd gewissermaßen bei jedem Schritt die Laufwerkzeuge verbessert würden durch den Stoß auf den Boden, und ich will gern zugeben, daß dem so ist. Aber das beweist doch wohl nur, daß auch heute noch eine Ausfeilung und Verbesserung des aus dem Keim hervorgegangenen Produktes unentbehrlich ist, wie es so zu allen Zeiten und bei allen Tieren gewesen sein wird, daß also trotz der ungeheuren Zahl von Generationen, die das heutige Pferd schon hinter sich hat, noch immer nicht die funktionellen Erwerbungen des Einzellebens in den Keim aufgenommen worden sind. Warum nicht? Weil das Pferd auch ohnedies vollkommen wird, weil also kein Grund vorlag, weshalb Personenselektion die Anlagen des Keimes noch mehr vervollkommnen sollte, da ja die Vervollkommnung durch den Gebrauch in keinem Einzelleben ausbleibt. Wenn aber ÖOsBoRN. CoPE und andere Paläontologen betonen, daß bei den phyletischen Entwicklungsreihen gewisse bestimmte Ent- wicklungsbahnen eingehalten werden, von denen nicht abgewichen wird nach rechts oder nach links, so haben sie sicherlich auch darin Recht. und nur der Schluß, den sie daraus ziehen, ist nicht gerecht- fertigt, sei es nun, daß sie mit NÄGELI eine phyletische Entwicklungs- kraft annehmen wollten, ein Vervollkommnungsprinzip, oder mit OSBORN die Vererbung der im Einzelleben durch den Gebrauch gesetzten Ver- änderungen. Es bleibt eben immer noch als dritte Möglichkeit übrig, daß die ruhige und stetige Entwicklung in bestimmter Rich- tung durch Selektion geleitet wurde, und da bei passiv nütz- lichen Teilen dies Prinzip allein zulässig ist, so wüßte ich nicht, was uns berechtigen könnte, es bei aktiv nützlichen als niehtwirkend anzu- nehmen. Nützlich sind ja alle diese Abänderungen, welche z. B. zur Bildung des heutigen Pferdefußes geführt haben; wären sie es nicht, so hätten sie auch durch den Gebrauch oder Niehtgebrauch des Einzel- lebens nicht hervorgerufen werden können. Allerdings aber ist es auch hier wieder wohl berechtigt, zu fragen, ob die Annahme „zufälliger“ Keimesvariationen, wie wir sie mit Darwın und WALLACE bisher gemacht hatten, eine ausreichende Grund- lage für Selektion gewährt. OSBORN sagt in dieser Beziehung sehr hübsch: „We see with Weismann and Galton the element of chance: hut the dice appears to be loaded, and in the long run turns „sixes“ up. Now enters the question, What loads the dice?“ Bisher würden wir darauf geantwortet haben: „die äußeren Be- dingungen“: sie sind es, welche den Würfel einseitig belasten und es bedingen. daß immer dieselbe gerade Straße der Phylogenese einge- halten, immer dieselbe Richtung der Variationen bevorzugt und erhalten wird. Es fragt sich aber, ob wir mit dieser, sicherlich nicht geradezu unrichtigen Antwort allein ausreichen, ob der Würfel nicht noch in einem anderen Sinne gefälscht und einseitig belastet ist, nämlich so, daß er vorwiegend die geforderten nützlichen Variationen wirft. Wir werden sehr bald versuchen, diese Frage zu lösen; zunächst aber muß ich Sie noch mit einem anderen Argument für die vermeintliche Not- wendigkeit der Annahme des Lamarckschen Prinzips bekannt machen, vielleicht dem wichtigsten, und wie man meinen sollte unwiderleglichsten, von allen, der sog. Coadaptation der Teile eines Organismus, d. h. der Zusammenpassung vieler Einzelorgane zu gemeinsamer zweck- mäßiger Funktionierung. XXIV. VORTRAG. Einwürfe gegen die Nichtvererbung funktioneller Abänderungen. tiesenhirsch als Beispiel für Coadaptation oder „harmonische Anpassung“ p.6S, Diese kommt auch bei passiv funktionierenden Teilen vor p. 69, Skelett der Glieder- tiere p. 69, Schrillorgane von Ameisen und Grillen p. 70, Putzscharten der Insekten p. 71, Beine der Maulwurfserille p. 73, Flügeladerung p. 74, Färbungen, die Bilder ! darstellen p. 74, Harmonische Anpassungen bei Arbeiterinnen von Bienen und Ameisen | p. 75, Verkümmerung ihrer Flügel und Eierstöcke p. 76, Qualität der Nahrung wirkt als auslösender Reiz p. 76, voM RarHscher Fall der königlich genährten Drohnen p. 78, Mischformen zwischen Weibehen und Arbeiterinnen p. 78, WAsMANNsche Er- klärung derselben p. 79, Die Amazonenameise p. 81, Zweierlei Arbeiterinnen p. S2, — Zusatz: ZEHNDER über den Fall der Ameisen p. 84, Derselbe über das Skelett der Gliedertiere p. SS, HERTWwIGs Deutung der Rieinversuche von EHRLICH p. 90, HERINGs Gleichnis in bezug auf die Vererbung funktioneller Abänderungen p. 92. Meine Herren! Es war HERBERT SPENCER, der englische Philo- soph, der das Argument der Coadaptation gegen meine Ansicht von der Nichtvererbung funktioneller Abänderungen ins Feld geführt hat. | Er machte geltend, daß viele, ja fast die meisten Umgestaltungen eines | Körperteils weitere, oft sogar sehr zahlreiche Veränderungen anderer Teile voraussetzen, um wirksam zu sein, daß die letzteren also gleich- zeitig mit dem durch Naturzüchtung zu verändernden Teil abändern mübten; dies aber sei nur durch Vererbung der durch den Gebrauch gesetzten Veränderung denkbar, da eine gleichzeitige Abänderung so vieler Teile durch Naturzüchtung unmöglich sei. Wenn z. B. das Ge- weih unseres heutigen Hirsches etwa bis zur Größe des 15° messenden (Greweihes des Riesenhirschs aus den Torflagern Irlands vergrößert werden sollte, so würde dies — wie früher schon gezeigt wurde — eine gleichzeitige Verdickung des Schädels bedingen, und zum Tragen der schweren Last eine Verstärkung des Nackenbandes, der Muskel des Halses und Rückens, der Knochen der Beine, ihrer Muskeln, und | schließlich auch aller der Nerven, welche die Muskeln versehen, und | wie sollte das alles gleichzeitig und in genauer Proportion zu dem Wachsen des (Greweihes geschehen können, wenn es abhinge — wie | doch Naturzüchtung annimmt — von zufälligen Variationen aller dieser | Teile? Wenn nun die günstigen Variationen eines dieser zahlreichen Organe nicht eintreten! Ein gleichsinniges Variieren aller der Teile, Knochen, Muskeln, Bänder, Nerven, die zu gemeinsamer Tätigkeit zu- sammenwirken, sei schon deshalb eine unstatthafte Annahme, weil ja in | vielen Fällen im Laufe der Artbildung solche gemeinsam wirkende Or- gangruppen sich in der einen Hälfte in entgegengesetzter Richtung weiter entwickelt hätten, als in der anderen. Bei der Giraffe z. B. sind die Harmonische Anpassung. 50 Vorderbeine höher als die Hinterbeine, umgekehrt wie bei den meisten Wiederkäuern, bei dem Känguruh haben sich die Hinterbeine im Gegen- teil zu unverhältnismäßiger Größe entwickelt, und die Vorderbeine sind zu winzigen Greifpfoten zurückgebildet. Zusammenarbeitende Teile, wie vordere und hintere Extremitäten können also auch sehr wohl ent- gegengesetzte Umwandlungswege gehen, ihre Variationen müssen nicht immer gleichsinnig gerichtet sein. Die Schwierigkeit, welche diese sog. Coadaptation oder Zu- sammenstimmung bietet, ist gewiß nicht hinwegzuleugnen, auch wird man zugeben müssen, daß wenn die Resultate der Ubung sich ver- erbten. die Erklärung der Erscheinung für viele, wenn auch nicht für alle Fälle eine leichte wäre, weil dann die Anpassung der sekundär zu verändernden Teile in jedem Einzelleben genau der veränderten Funk- tion des Teils entsprechen könnte, sich auf die Nachkommen übertrüge, und dort wiederum einem solchen Maß von Abänderung gemäß dem Prinzip der Histonalselektion unterläge, wie es von der weiter fort- schreitenden primären Abänderung bedingt würde. Die Einfachheit der Erklärung ist bestechend, wenn ihr nur auch die Richtigkeit zur Seite ginge; allein es gibt eine Reihe von Fällen, oder vielmehr von Tat- sachengruppen. welche beweisen, daß die Ursachen der Coadap- tation nieht in der Vererbung funktioneller Abänderung liegen, und dies muß anerkannt werden, einerlei ob wir heute schon imstande sind, die wahren Ursachen der Zusammenpassung anzugeben, ob also Naturzüchtung zu ihrer Erklärung ausreicht oder nicht. Zuerst muß ich darauf hinweisen, daß Coadaptationen nicht bloß bei aktiv, sondern auch bei passiv funktionierenden Teilen vorkommen. Lehrreiche Beispiele finden sich in größter Zahl bei den Gliedertieren, deren ganzes Hautskelett in diese Kategorie gehört. Man hat mir zwar eingeworfen, dasselbe sei nicht völlig passiv, sondern werde, ähnlich den Knochen der Wirbeltiere durch den Zug der Muskeln gereizt und zur funktionellen Reaktion veranlaßt; es ver- dieke sich an Stellen, wo starke Muskeln sich ansetzen, und verdünne sich oder bleibe dünn, wo keine Muskeln einen Zug auf dasselbe aus- üben. Dem ist aber nicht so, denn das Chitinskelett kann erst dann dem Muskelzug Widerstand leisten, wenn es nicht mehr weich ist, wie unmittelbar nach seiner Abscheidung: sobald es aber einmal hart ge- worden ist, bleibt es auch unveränderlich und kann höchstens von außen her durch. langen Gebrauch abgerieben werden. Der Beweis dafür liegt schon in der Notwendigkeit der Häutungen, welche bei allen Glieder- tieren unentbehrlich sind, solange sie wachsen, später aber nicht mehr eintreten. Wer das Wachstum irgend eines Insektes oder Krebses ver- folgt hat, weiß, daß die Häutungen oft mit großen, fast niemals aber ohne irgend welche kleinen Veränderungen der äußeren Körperform, besonders der Gliedmaßen und ihrer Zähne, Borsten, Stacheln usw. verlaufen. Diese neuen oder umgewandelten Teile bilden sich aber vor dem Abwerfen der alten Chitinhaut, unter dem Schutz derselben, nnd zwar durch Aus- und Umgestaltung der lebendigen, weichen Ma- trix des Skelettes, der aus Zellen bestehenden Hypodermis, der eigent- lichen Haut. So müssen sie auch bei den Vorfahren unserer heutigen Gliedertiere entstanden sein, also nicht durch allmähliche Umwandlung während des Gebrauchs, sondern durch plötzliche geringfügige Modi- fizierung vor dem Gebrauch. Die Schritte der Umwandlungen können dabei sehr kleine gewesen sein, eine Borste wurde im zweiten Lebens- u 70 Das LAMARCcKsche Prinzip. stadium ein wenig länger, als sie im ersten gewesen war, oder statt fünf Borsten traten an einer bestimmten Stelle im zweiten oder dritten Lebensstadium deren sechs auf; aber stets mußten die Abänderungen in der phyletischen Entwicklung durch Keimesvariationen veranlaßt werden, die die Abänderung in dem betreffenden Lebensstadium von Innen heraus bewirkten. Der abgeänderte Teil aber konnte erst funk- tionieren, nachdem er bereits fest und unveränderlich geworden war. Wenn man sich diese Verhältnisse recht deutlich vor Augen hält, dann bieten die Gliedertiere ein geradezu erdrückendes Beweismaterial gegen die Anschauungen der Lamarckianer. Es ist übrigens nicht einmal richtig, daß die dieksten Stellen des Hautskelettes diejenigen seien, an welche sich Muskeln ansetzen. Die Flügeldecken der Käfer bilden den besten Gegenbeweis, denn in ihnen liegen gar keine Muskeln und sie sind trotzdem bei vielen Arten die härtesten und dicksten Stellen des ganzen Hautpanzers. Der Grund liegt nahe; sie schützen die darunter verborgenen Flügel und die weiche Haut des Rückens, und an diese setzen sich die Muskeln an! ein Verhalten, welches nur durch seine Zweckmäßigkeit, nicht aber durch irgend welche direkte Wirkungen zu erklären ist. Wenn man aber auch nur die eben dargelegte Entstehung des Hautskelettes von der weichen Zellenlage darunter ins Auge faßt, so bietet allein schon die so sehr verschiedene, aber immer zweckent- sprechende Dicke des Chitinskelettes an den verschiedenen Stellen desselben Tieres einen Fall von Coadaptation rein passiv funk- tionierender Teile. Die verdiekte Stelle kann nicht daher rühren, dab dort ein Muskel sich ansetzt, sondern sie ist aus inneren Gründen vorher schon da, damit der Muskel den genügenden Widerstand finde. Dicht daneben liegt vielleicht der Rand eines Segmentes, und an dieser Stelle ist die Chitinhaut fast plötzlich verdünnt zu einer bieg- und falt- baren (Gelenkmembran — nicht weil hier kein Muskelzug stattfand, sondern damit die beiden Segmente beweglich verbunden seien. So kann nirgends am ganzen Körper des Gliedertiers die Anpassung des Skelettes in bezug auf Dieke und Widerstandskraft durch die Funktion selbst geregelt worden sein, sondern nur durch Selektionsprozesse, die jeder Stelle desselben die Dicke zusprachen, die sie braucht, damit der Teil leistungsfähig sei, mag es sich nun um den Widerstand gegen Muskelzug, oder um Biegsamkeit einer Gelenkfalte, um Härte zum Zer- beißen der Nahrung, oder zum Bohren in Holz oder Erde handeln, oder etwa um bloßen Schutz gegen äußere Schädlichkeiten. Es gibt aber auch viele einzelne Funktionen der Gliedertiere, deren Ausübung auf der gleichzeitigen Abänderung mehrerer Skelett- teile beruht; so z. B. viele der Sing- und Schreiapparate der In- sekten. Man hat in jüngster Zeit solche Stimmorgane bei den Ameisen entdeckt, wo sie aus einem kleinen gerillten Feld auf der Oberfläche des dritten Hinterleibssegmentes bestehen und aus einem scharfen Leistehen auf dem vorhergehenden Ring: das letztere reibt auf dem ersteren durch Bewegungen der betreffenden Segmente gegeneinander. Ein ganz ähnliches Stridulationsorgan ist schon lange bei der Bienen- ameise (Mutilla) bekannt, und bei dieser ist der dadurch hervorgebrachte pfeifende Ton auch von unserem Ohr unschwer wahrzunehmen; AUGUST FOREL hat ihn übrigens auch bei den großen Holzameisen (Camponotus ligniperdus) gehört und als ein „Alarmsignal“, welches sich die Tiere beim Herannahen einer Gefahr geben, beschrieben, eine Beobachtung, r I) yz———> Harmonische Anpassung. 71 die kürzlich durch Wasmann bestätigt und durch ROBERT WROUGHTON an indischen Ameisen erweitert worden ist. — Alle diese Einrichtungen zum Lautgeben beruhen nun immer auf zwei Organen von denen das eine den Bogen, das andere die Saite der Geige darstellt; das eine hat ohne das andere keinen Wert, sie müssen also beide gleichzeitig sich ausgebildet haben, und dennoch können sie nicht durch Ubung und Vererbung der Übungsresultate entstanden sein, weil sie beide tote Chitinteile sind, die dadurch, daß sie durch Bewegung der ganzen Hinterleibsringe aneinander gerieben werden, niemals verstärkt. sondern höchstens abgenutzt werden können. Ganz ähnlich aber verhält es sich mit den Schrillorganen .der Heuschrecken, der Käfer, Grillen, überall sind es zwei verschiedene Teile. die zusammen erst die Töne geben, die also simultan entstanden sein müssen, und deren Entstehung nicht auf Vererbung von Ubungs- resultaten bezogen werden kann, vielmehr nur auf Selektion. Es ist also sehr wohl möglich, daß Coadaption mindestens doch zweier Teile bei gänzlichem Ausschluß des hypo- thetischen Lamarckschen Prinzips stattfindet. Wenn ich übrigens sage, dab es sich hier nur um zwei einander angepaßte Teile handle, so ist das genau genommen, zu wenig gesagt, denn die Geige, auf der z. B. die Grillen und Heuschrecken spie- len, ist eine lange Reihe von zapfen- förmigen Chitinhöckern (Fig. 36), die sog. „Stege“, deren jede für sich durch Variation der betreffenden Hautstelle entstanden sein muß. Ich sehe wenigstens keinen Grund zu der Annahme, daß die Chitinfläche, auf Fig. 91”%wiederholt). Hinterbein einer welcher die „Stegreihe“ heute sich Heuschrecke, Stenobothrus protorma, erhebt, aus inneren Gründen gerade Nach GRABER, fr Oberschenkel, # Unter- in der Linie des Stegs in gleicher schenkel, fa ae) schr die Schrill- Art hätte variieren müssen. u, Lehrreiche Beispiele für Zusammenstimmung mehrerer Teile zu gemeinsamer Aktion bei Organen, welche dem Lamarckschen Prinzip entrückt sind, bieten auch die vielgestaltigen Einrichtungen zum Reinhalten der Fühler bei den Insekten, dieser zum Leben so wichtigen Träger der (Geruchsorgane (Fig. 102). Hier ist sogar die Anpassung des Ausschnittes in der Tibia der Vorderbeine an die runde Gestalt des durchzuziehenden Fühlers zuweilen eine so auffallende (Fig. 102, /a%), daß man glauben sollte, sie müßte durch allmähliges Auswetzen entstanden sein; und doch kann daran gar nicht gedacht werden, da es sich nur um harte, tote Chitinflächen dabei handelt, und überdies gar nicht um eine solide Masse, vergleichbar etwa dem Schleif- stein, der durch das Messer ausgewetzt wird, sondern um ein hohles dünnwandiges Rohr. In dieser halbkreisförmigen Scharte nun finden sich bei Ameisen, Bienen und Schlupfwespen noch kleine spitze drei- eckige Sägezähne (/24) dichtgedrängt wie ein Kamm, und der Apparat wird erst dadurch brauchbar, daß über der Scharte ein fester Dorn (#5) steht, dem Ende des Unterschenkels angewachsen, der den Fühler w 7 Das LAmarcksche Prinzip. gegen (die Scharte andrückt. Bei vielen Arten ist dieser Dorn doppelt, bei anderen mit einem dünnen Kamm oder Wischlappen (Fig. 102, Z) oder mit Zähnchenreihen. oder mit kurzen Borsten versehen, kurz in der verschiedensten Weise ausgerüstet. Nicht selten z. B. bei Wespen der Gattungen Sphex, Scolia, Ammophila ist der Dorn selbst auch halb- kreisförmig gekrümmt mit seiner gegen die Scharte gerichteten Fläche und zwar in verschiedener Weise, entweder durch Krümmung in seiner ganzen Dicke, oder dadurch, daß ein Kamm auf ihm aufsitzt, dessen Innenfläche konkav ist. Ich würde nicht enden können, wollte ich alle die merkwürdigen Einzelheiten aufzählen, die an den beiden Haupt- teilen dieses Apparates angebracht sein können, und die deutlich zeigen, wie sehr ein Zusammenwirken beider für die Funktion des Fühler- reinigens wesentlich ist. Dieses Ineinandergreifen der beiden Haupt- teile kann aber nicht durch das LamArcksche Prinzip erreicht worden sein; die Zusammenpassung mub also auf andere Weise zustande kommen können. Dasselbe lehren die Beine und sonstigen Gliedmaben der Insekten und Krebse, die ja für die verschiedensten Funktionen hergerichtet sind, und deren einzelne Abschnitte zusammenstimmen müssen, soll die Funktion möglich werden, man denke nur an die mannigfaltigen Scheren- kb Fig.102. Putzscharte am Bein einer Biene (Nomada). 75 Tibia- ende, 7! erstes Tarsalglied mit der Putzscharte und ihrem Kamm (Za2). Zwischen diese und den Tibialsporn (£isö) mit seinem Lappenanhang (Z) ist der Querschnitt des Fühlers ein- gezeichnet (42), zu dessen Reinigung die Putzscharte bestimmt ist. Nach dem Präparat von Herrn Dr. PE- TRUNKEWITSCH gezeichnet. bildungen der Krebse und Skorpione. Hier sieht es auch so aus, als ob der Auswuchs des vorletzten Beinglieds, der als feststehender Arm der Schere funktioniert, durch direkte Wirkung des Gebrauchs entstanden sein müßte, durch den Druck eines mit dem letzten Beinglied, dem beweglichen Scherenglied, festgehaltenen Gegenstandes. Kommen doch zahnartige Höcker auf diesem festen Scherenarm häufig vor (Fig. 103). Aber wie sollen diese durch direkte Wirkung des Druckes entstanden sein, da sie stets vor dem (Gebrauch in weichem Zustand angelegt werden, und erst nach der völligen Erhärtung gebraucht werden? Die noch weichen, frisch gehäuteten Krebse, die sog. „Butterkrebse“, ver- kriechen sich sorgfältig und hüten sich, ihre Glieder zu gebrauchen, ehe sie wieder hart geworden sind. Also auch hier Coadaptation zweier Teile, die selbständig” variieren und vom LAMARcKschen BER nicht berührt werden. L— nn Harmonische Zusammenpassung. [B} Aber die Gliedmaßen liefern auch Beispiele von komplizierterer Zusammenpassung. So sind die einzelnen Abschnitte der Vorderbeine der Maulwurfsgrille ungemein stark und ganz verschieden abge- ändert, und zwar derart, daß sie zusammen ein vortreffliches Grab- werkzeug bilden. Das Tier schaufelt damit die Erde vor sich nach links und nach recht auseinander, und zu diesem Behuf macht es die für andere Insekten ganz ungewöhnlichen gleichzeitigen Bewegungen der beiden Beine nach außen, und zwar mit einer solcher Kraft, daß RÖsEL von ROSENHOF (dasselbe zwei Körper von je drei Pfund Schwere weg- schieben sah. Hier sind nun vier Hauptteile des Beines (Fig. 104), die Coxa, der Oberschenkel (/r), Unterschenkel (775) und die Tarsen so aneinander angepaßt in Form, Einlenkungsstelle, Dicke des Skelettes und Größe, daß sie nicht anders, als gemeinsam abgeändert haben können, aber ein jedes der Stücke in eigentümlicher Weise. Am sonder- barsten sieht die kurze breite, mit vier großen und harten Zähnen ver Fig. 103. Fig. 104. tars Fig. 103. Scheere an dem Bein eines Krebses, Orchestia. /, 77, die beiden ersten Glieder derselben; »4 unterer Arm der Scheere, unbeweglicher Fortsatz des vorletzten Beinglieds, 04 oberer Arm der Scheere, das bewegliche letzte Beinglied, die Höcker und Einbuchtungen der Arme passen ineinander; nach F. MÜLLER. Fig. 104. Grabbein der Maulwurfsgrille, Gryllotalpa; cox Einlenkungs- stück an der Brust des Tiers (coxa), fe das kurze breite Femur, 7 die Tibia zu einem breiten Grabscheit umgestaltet mit sechs großen und scharfen Zähnen, /ars die Fußglieder, die nach oben gerichtet zum Gehen nicht mehr gebraucht werden können; nach Röser. sehene Tibia aus, die das Einhauen in den Boden, nach Art des Grab- scheits zu besorgen hat, während die unverhältnismäßig dünnen und schwachen Tarsalglieder, deren letztes zwei ganz gerade Dornen statt Klauen trägt, nach oben gerichtet sind, den Boden nicht berühren und zum Gehen nicht mehr benutzt werden. RösEL meint wohl ganz richtig, daß sie zum Reinigen des Grabscheits benutzt würden, wenn dieses sich mit Erde verstopfe, da die Tiere es mit dem Mund nicht zu rei- nigen vermöchten. Durch direkte Wirkung des Gebrauchs können diese ganz ungewöhnlich gebildeten Teile der Gliedmaße hier schon deshalb nicht zustande gekommen sein, weil sonst nicht die breiten Flächen der- selben, sondern die schmalen Kanten als die das Erdreich am leichte- sten durchschneidenden nach außen gerichtet sein müßten. Die selt- same zuerst konkave, dann konvexe Biegung der Außentläche des Grabfußes ist genau so gebogen, wie sie zum Einschneiden in die Erde und darauf folgendem Zurseiteschieben derselben am zweckmäßigsten ist, nicht aber so, wie sie geworden sein würde, wenn die Chitinwand 74 Das LAMARCKsche Prinzip. dem Druck des Erdreichs nachgegeben, sich ihm anbequemt hätte. Da es sich aber um Chitinskelett handelt, kann von direkter Wirkung des Gebrauchs überhaupt keine Rede sein, und es muß also, wie mir scheint, anerkannt werden, daß hier mindestens eine Coadapta- tion von sieben, unabhängig voneinander sich verändernden Teilen ohne Mitwirkung des Lamarckschen Prinzips vorliegt. Es ließen sich aber noch weit kompliziertere Fälle anführen, wenn wir imstande wären, den funktionellen Wert der einzelnen Teile des Flügelgeäders bei den verschiedenen Insekten genau abzuschätzen, denn bekanntlich dient dieses Greäder dem Systematiker zur Definierung der Gattungen vor allem bei Schmetterlingen und Hymenopteren, d. h. es ändert sich von Gattung zu Gattung in charakteristischer Weise, offenbar entsprechend den Verschiedenheiten der Flügelform und des Fluges selbst. Leider aber sind wir noch weit davon entfernt, mehr als ganz allgemeine Vermutungen über die Zweckmäßigkeit der Verlängerung, Verstärkung, oder umgekehr der Verkümmerung und des gänzlichen Wegfalles dieser oder jener Ader zu machen. Aus den ex- tremen Fällen, also z. B. der reichen Aderung bei guten Fliegern mit großen Flügeln, der spärlichen bei schlechten Fliegern mit kleinen Flügeln sieht man aber wenigstens soviel, daß die Stärke und auch die Art der Aderung in genauem Zusammenhang mit der Funktion des Flügels steht, was sich freilich von vornherein annehmen ließ. Nun sind aber die Flügeladern, soweit sie als Stützapparat der schwachen Flügelmembran dienen, reine Chitinbildungen, Skeletteile, ja solche, die nicht eimal erneut werden von Zeit zu Zeit, wie die Skeletteile der Beine und vieler anderen Teile des Insektes. So wie sie zuerst als weiche Zellenstränge angelegt werden in der Puppe, so bleiben sie, und in Ubung treten auch sie erst dann, wenn sie völlig hart geworden sind. Sie können also in der phyletischen Entwicklung der Arten und Gattungen niemals durch den Gebrauch selbst verändert worden sein, und das LAMARCKsche Prinzip kann keinen Anteil an ihren Veränderungen gehabt haben. Wenn sie also dennoch den feinsten. für uns nicht genau nachweisbaren, Veränderungen der ganzen Flugfläche und Flugart nachfolgen, wie der Schatten dem dahinwandelnden Menschen, so muß es noch ein anderes Prinzip geben, das das Organ der Funktion anpaßt, und dies muß imstande sein, die große Zahl einzelner Flügeladern stets derart einander anzupassen, wie es für die Gesamtfunktion das Vorteilhafteste ist. Hier haben wir also ein ganz entsprechendes Bild, wie es sich auch bei der Abänderung eines zu gemeinsamer Ak- tion zusammenwirkenden Systems aktiv funktionierender Teile bietet, also etwa in dem anfänglich erörterten Fall des Hirschgeweihes. Andere noch kompliziertere Beispiele von harmonischer Zusammen- passung passiv funktionierender Teile liefern die Zeichnungen der Tiere, 2. B. des Schmetterlingsflügels. Die Farben wirken hier nur passiv, mögen sie durch Pigmente allein oder durch Strukturen, oder durch beides zusammen hervorgebracht werden. Wenn sich die Färbung einer Fläche adaptiv verändert, so kann dies nicht auf einer Aktion der Farbe beruhen, sondern auf Anpassung durch Selektion. Dennoch gibt es bekanntlich zahlreiche Schmetterlingsflügel, deren Fläche ganz verschiedenartige Farben und Farbennüancen auf ihren verschie- denen Partien aufweisen, und zwar derart, daß sie zusammen ein Bild geben, das Bild eines Blattes, einer Rinde, eines mit Flechten Harmonische Anpassung. 1» bewachsenen Steins, eines Auges usw. Hier stehen also auch die ein- zelnen Farbenflecke in bestimmter indirekter Beziehung zu einander; obgleich in ihrem Variieren unabhängig voneinander, sind sie doch nicht zufällig und gleichgültig, sondern sie wirken zu einem gemein- samen Bild zusammen: harmonische Anpassung vieler Teile mit völligem Ausschluß des Lamarckschen Prinzips. Man wird mir vielleicht einwerfen, das Bild komme hier nicht auf einmal, sondern sehr langsam, im Laufe langer (renerations- ja Art- folgen zusammen. Gewiß muß es so sein; aus einfachen Anfängen heraus komplizierte und vervollkommnete es sich langsam im Laufe langer Zeitfolgen. Das liegt im Prinzip der Selektion, wie wir es ver- stehen. Aber glaubt man etwa, dab das Riesengeweih des Torfhirsches in wenigen Generationen ausgebildet worden sei? Sollten hier nicht auch zahlreiche Geschlechter aufeinander gefolgt sein, ehe das primi- tive Hirschgeweih sich zu solcher Mächtigkeit gesteigert hatte? Wenn (las aber angenommen werden muß, so war viele Zeit gegeben für die vom Keim ausgehende Anpassung der sekundär abzuändernden Teile, der Muskeln, Bänder, Nerven und Knochen: denn alle diese Teile funktionieren aktiv, und können innerhalb desEinzellebens ge- steigerten Ansprüchen, wie sie eine geringe Vergrößerung des Geweihes an sie stellt, ohne Schwierigkeit genügen. Das sind doch gerade die sicheren und unbezweifelten Folgen der Übung, des stärkeren Gebrauches, dab die geübten Teile kräftiger werden. So durfte denn dıe passende Keimesvariation der sekundär abzu- ändernden Teile auch etwas auf sich warten lassen, ohne daß gleich das Individuum von geringerer Güte wurde und im Kampf ums Dasein unterliegen mußte. Ich will damit aber keineswegs behaupten, dab darin schon die volle Erklärung der Coadaptationserscheinung gegeben sei. ich glaube vielmehr, Ihnen bald zeigen zu können, «daß wir das Überwiegen günstiger Variationsrichtungen in diesen Fällen voraussetzen dürfen, daß also ein indirekter Zusammenhang zwischen der Nützlichkeit einer Variation und ihrem wirklichen Auftreten besteht. Zunächst muß ich aber noch die andere Gruppe von Tatsachen berühren, auf die ich hingewiesen habe, und die ebenfalls zeigt, daß die gleichzeitige Zusammenpassung verschiedener Teile unter Um- ständen erfolgen kann, mit Ausschluß des Lamarckschen Prinzips. Es sind das die Tatsachen, welche uns die sterilen Formen jener Arten von Insekten darbieten, welche wie Bienen, Termiten und Ameisen in groben Gesellschaften zusammenleben. Besonders Ameisen und Bienen beanspruchen hier unser Inter- esse, weil sie seit geraumer Zeit schon von einer Reihe ausgezeichneter Forscher scharf beobachtet, und in den meisten ihrer Lebensfunktionen genau überwacht worden sind. Gibt es doch seit dem „alten PETER HuBEr“ in Genf immer wieder treffliche Beobachter, welche fast ihre ganze Lebensarbeit und Begabung an die immer vollständigere Erfor- schung dieser merkwürdigen Tiere gesetzt haben. Hier interessieren sie uns deshalb, weil bei ihnen im Laufe des (Gesellschaftslebens eine Art von Individuen entstanden ist, welche sowohl von den Männchen als den Weibehen im Bau ihres Körpers in vielen Teilen abweicht, ob- schon sie unfruchtbar ist, und sich nicht, oder doch nur so ausnahms- weise fortpflanzt, daß dies für die Entstehung ihres heutigen Körper- baues nicht in Betracht kommt. Bekanntlich sind diese sog. Neutra 76 Das LAMARCKsche Prinzip. oder besser Arbeiterinnen bei Bienen und Ameisen, Weibchen, die sich aber von den echten Weibchen nicht nur durch geringere Größe und durch Unfruchtbarkeit unterscheiden. sondern noch durch vieles andere. Bei den Ameisen z. B. sind sie durchweg flügellos und haben zugleich einen viel kleineren und anders geformten Thorax, sowie einen größeren Kopf. Was aber am meisten auffällt ist die Veränderung ihrer Instinkte, denn während die Weibchen nur für die Fortpflanzung sorgen, sich begatten und Eier legen, sind es die Arbeiterinnen. welche die ausschlüpfenden, gänzlich hülflosen Larven füttern, reinigen, an sichere Orte bringen, die Puppen in die wärmende Sonne tragen und später wieder zurück in den schützenden Bau, welche auch diesen Bau selbst aufrichten und in Stand halten, nachdem sie das Material dazu herbeigeschleppt oder zubereitet hatten: sie sind es auch allein, welche den Stock gegen feindliche Angriffe verteidigen, welche räuberische Züge unternehmen, den Bau anderer Ameisen anfallen und hartnäckige Kämpfe mit denselben eingehen. Wie konnten nun alle diese Eigentümlichkeiten entstehen, da doch die Arbeiterinnen sich nicht oder nur ausnahmsweise fortpflanzen und auch wenn sie dies tun, zur Begattung nicht fähig sind, und deshalb — bei Bienen wenigstens — nur männliche Nachkommen liefern können? Offenbar nicht durch Vererbung der Resultate von Gebrauch oder Niehtgebrauch, da sie eben keine Nachkommen liefern, auf die etwas vererbt werden könnte. HERBERT SPENCER hat versucht, die Behauptung durchzuführen, daß die Eigenschaften der heutigen Arbeiterinnen schon im präsozialen Zustand derselben. also ehe die Ameisen schon Staaten bildeten, vor- handen gewesen wären, und sich also nicht erst neu gebildet, sondern nur erhalten hätten, allein wenn man das auch für Brutpflege und Bau- trieb zugeben wollte, so bleibt doch so vieles andere übrig, was damals nicht schon vorhanden gewesen sein kann, daß die Frage nach dem Ursprung dieser neuen Eigenschaften unverändert fortbestehen bleibt. Die Flügel z. B. können bei den Ameisen erst verloren gegangen sein, als Weibchen auftraten, die sich nicht fortpflanzten, denn die Begattung der Ameisen ist mit einem Hochzeitsflug hoch in die Luft verbunden. Die Flügel fallen auch nicht etwa den Arbeiterinnen nur aus, sondern sie werden überhaupt nicht ausgebildet in der Puppe; sie werden wie DEWITZ zeigte, zwar heute noch in der Larve als Imaginalscheiben angelegt, aber vom Puppenstadium an verkümmern sie, und die Seg- mente der Brust, an welcher sie sitzen, erscheinen ebenfalls klein und abgeändert. Es muß also hier eine Abänderung des Keimplasmas ein- getreten sein, welche es mit sich bringt, daß die Flügelanlagen sich nicht mehr, und daß der Thorax sich anders als zu der Zeit entwickelt, wo die Tiere noch fruchtbar waren. Nun ist freilich gesagt worden, es sei nicht nötig, eine Abänderung des Keimplasmas anzunehmen, die Verkümmerung der Flügel könne durch minderwertige Ernährung der Larve hervorgerufen sein. Man stützt sich dabei auf die Tatsache, daß bei den Bienen in der Tat die Arbeiterinnen aus denjenigen weiblichen Larven hervorgehen, welche mit einer geringeren und stickstoffärmeren Nahrung versorgt werden, während die Königinnen durch reichlichere und stickstoffhaltigere Nah- rung aus denselben weiblichen Larven hervorgehen. Wenn wir nun auch einen ähnlichen Unterschied in der Ernäh- rungsweise für die meisten Ameisen schon deshalb annehmen dürfen, 4 Ameisen-Neutra. ri weil die Arbeiterinnen derselben meist erheblich kleiner sind, als die fruchtbaren Weibchen, so ist es doch völlig irrtümlich, daraus zu schließen, daß hier lediglich ein Effekt verschiedener Ernährung vor- läge. Niemals noch ist durch schlechte und kümmerliche Nahrung ein einzelnes Organ zum Ausfall bestimmt worden, vielmehr verkümmert dann das ganze Tier in allen seinen Teilen, fällt klein und schwach aus. Wie oft sind schon die Raupen verschiedener Arten auf Hunger- ration gesetzt worden, aus experimentellen Gründen, oder um recht kleine Schmetterlinge zu erhalten, noch niemals aber sind dadurch ein- zelne Organe, etwa die Fühler, Beine oder Flügel ausgeblieben oder verkümmert. Ich habe selbst viele Versuche mit den Maden der Schmeißfliege in der Weise angestellt, daß ich ihnen von erster Jugend an so wenig Nahrung gab, als möglich war, ohne sie dem Ver- hungern preiszugeben; niemals aber lieferten solche Larven Fliegen ohne oder mit rudimentären Flügeln. Ebensowenig aber hatten diese Hungerfliegen verkümmerte Eier- stöcke, vielmehr vollständig entwickelte, mit der vollen Zahl der Ei- röhren versehene. (serade darüber sollten mir diese Versuche Auf- schluß geben, denn auch die Verkümmerung der Eierstöcke sollte nach der Ansicht meiner Gegner eine direkte Folge der min- derwertigen Ernährung sein. Sie ist es ebensowenig. Be- sondere, auf meine Veran- Fig. 105. Eierstock eines frucht- baren Ameisenweibehens und einer Arbeiterin. 4 Ein Eierstock von Myrmica laevinodis mit vielen Ei- röhren, in denen je ein nahezu reifes Ei (#7) und ein jüngeres (Zi). 3 Eistöcke von einer Ar- beiterin von Lasius fuliginosus; jeder Eierstock hat nur eine Ei- röhre ohne reifende Eizellen; nach ELIZABETH BIcKFORD. lassung unternommene Untersuchungen von Miß ELISABETH BICKFORD an Ameisen ergaben, daß die anatomischen Resultate früherer Forscher, wie ADLERZ und LESPES in bezug auf die Verkümmerung der Ovarien bei den Arbeiterinnen völlig richtig waren, daß in der Tat die „Ver- kümmerung“ der Eierstöcke nicht etwa bloß in einem Kleinbleiben der Eiröhren und Eianlagen besteht, sondern in einer Herabminderung der Anzahl der Eiröhren (Fig. 105); die Arbeiterinnen haben stets weniger Eiröhren als die Weibchen derselben Art, und was besonders be- deutungsvoll ist: die Reduktion der Eiröhren ist bei verschiedenen Arten von Ameisen verschieden weit vorgeschritten. Bei der roten Waldameise (Formica rufa) haben die Arbeiterinnen noch 12 bis 16 Eiröhren, bei der Wiesenameise (Formica pratensis) nur acht, sechs oder vier, bei Lasius fuliginosus finden sich gewöhnlich nur zwei (eine auf jeder Seite), und bei der kleinen Rasenameise, Tetramorium caes- pitum, sind überhaupt keine Eiröhren mehr vorhanden. Wir haben es also hier mit einem phylogenetischen Prozeß der Rückbildung zu tun, der bei verschiedenen Arten verschieden weit vorgeschritten ist, und nur bei einer Art völlige beendet (Tetramorium). Es verhält sich so, wie ich früher schon sagte: „Der Ausfall eines typischen 78 Das LAMARcKsche Prinzip. Organs ist kein ontogenetischer Prozeß, sondern ein phylo- genetischer, er beruht nicht „auf den bloßen Ernährungseinflüssen, welche die Entwicklung des einzelnen Individuums treffen, sondern stets auf Änderungen der Keimesanlagen, wie sie allem Anschein nach nur in langen Generationsfolgen zustande .kommen können“ *). Man hat diesem Satz eine Beobachtung von O. voM RATH ent- gegen gehalten, nach welcher drei Drohnenlaren, die von den Arbeite- rinnen irrtümlicherweise mit Königinnenfutter ernährt worden waren, an ihren Geschlechtsorganen auffallende Hemmungsbildungen aufwiesen. Die Hoden enthielten nur unreifen Samen (dicht vor dem Ausschlüpfen aus der Puppe) und der Kopulationsapparat fehlte ganz. Daß durch die „ungewohnte Mästung“ die Hoden gewissermaßen fettig degene- rierten, ist nicht erstaunlich, ob aber das Fehlen des Kopulationsappa- rates auf die abnorme Ernährung bezogen werden darf, scheint mir doch sehr fraglich; ob nicht eine abnorme Beschaffenheit des Keim- plasmas in diesen Eiern die Ursache war, müßte erst durch Unter- suchung zahlreicher Fälle klargestellt werden. Leider ist es mir bisher nicht gelungen, neues Material zur Entscheidung dieser Frage zu er- halten **). Nach alledem sehen Sie wohl, daß man nicht berechtigt ist, weder den Wegfall der Flügel noch die Reduktion der Ovarien als eine direkte Folge der minderwertigen Ernährung der Arbeiterinnen im Larvenzustand anzusehen; sollten Sie aber noch Zweifel haben, so will ich nicht uner- wähnt lassen, dab es unter unseren einheimischen Ameisen zwei Arten gibt, deren Arbeiterinnen ebenso groß sind, als die fruchtbaren Weibchen, und dab in den Tropen von Amerika eine Art vorkommt, Myrmeco- eystus megalocola, welche sogar Arbeiterinnen besitzt, die größer sind, als die echten Weibchen: das heißt aber nichts anderes, als daß die- selben mehr Futter erhalten haben als die Weibchen, wenn auch viel- leicht nicht ganz dasselbe. Wir können also schon aus diesen jetzt angeführten Tatsachen den sicheren Schluß ziehen, daß die Unterschiede im Bau, welche die Arbeiterinnen von den echten Weibchen trennen, nicht bloß auf dem einmaligen Einfluß minderwertiger Nahrung beruhen können, sondern auf abgeänderter Keimesanlage; wir werden uns vor- zustellen haben, daß im Keimplasma der Ameisen außer männlichen und weiblichen Iden auch besondere Ide der Arbeiterinnen enthalten sind, deren Flügel- und Ovariendeterminanten in irgend welchem (Grade verkümmert, die Determinanten anderer Teile, des Gehirns z. B. stärker ausgebildet sind. Die Ernährungsweise aber. vielleicht die Bei- mischung besonderer Sekrete der Speicheldrüsen wirkt in erster Linie als ein Reiz, der entweder die eine oder die andere Art der Ide aus- löst, d. h. aktiv werden, in Entwicklung treten läßt. Ein Beweis für diese Auffassung scheint mir vor allem auch in der Existenz von Zwischenformen zu liegen zwischen Arbeiterinnen *) „Äußere Einflüsse als Entwicklungsreize‘“, Jena 1894. **, Nach Vollendung des Manuskriptes sehe ich, daß diese Entscheidung schon vor drei Jahren gefallen ist, indem KOSHEWNIKOW Gelegenheit hatte, Drohnenpuppen zu untersuchen, welche abnormerweise in Königinnenzellen, also mit Königinnen- futter aufgezogen worden waren. Er fand die Geschlechtsorgane derselben völlig normal, und meint mit mir, daß es sich in dem vom RaruHschen Fall um Miß- bildungen aus anderer Ursache gehandelt haben müsse. (Siehe das Referat von VON ADELUNG über die russisch geschriebene Abhandlung im „Zool. Centralblatt vom 10. September 1901.) | | | | | | Ameisen-Neutra. 79 und echten Weibchen, wie sie zuerst durch A. FOREL zu allgemeiner Kenntnis kamen. Vielleicht würde man dieselben besser „Mischfor- men“ nennen, denn ihre verschiedenen Teile halten nicht etwa gleich- mäßig die Mitte zwischen den beiden Typen, sondern manche Teile sind nach dem Typus der Arbeiterin, andere wieder nach dem des echten Weibchens gebaut. So fand FOREL zweimal ein Nest der roten Waldameise, in welchem eine Menge von solchen Mischformen ent- halten waren, die alle den kleinen Kopf und großen, buckeligen Thorax der Königin besaßen, sonst aber den Arbeiterinnen in Ansehen und Größe glichen, auch in bezug auf die Verkümmerung des ÖOvariums. Viele davon waren sehr klein, nämlich nur 5 mm lang, hatten also jedenfalls nur wenig Futter erhalten, und nach der Theorie der direkten Bewirkung müßten sie reine Arbeiterinnen geworden sein. Wenn sie nun doch Kopf und Thorax der Königinnen besaßen, so liegt darin ein Beweis, daß die Charaktere beider Individuenformen im Keimplasma schon als Anlagen begründet sind, und zwar als ganze Ide. Unter nor- malen Verhältnissen wird immer nur eine Art dieser Ide aktiv, ent- weder die Arbeiterinnenide oder die Königinnenide, unter abnormen Verhältnissen aber können sie auch gleichzeitig in Tätigkeit geraten, und dann prägen sie dem einen Körperteil königliche, dem anderen arbeiterliche Gestalt auf. Eines der beiden erwähnten Nester beobach- tete FOREL in zwei aufeinander folgenden Jahren, und fand beide Male die Mischformen *) in Menge, im zweiten Jahr eine große Menge frisch ausgeschlüpfter Individuen derselben. Ich habe schon früher aus dieser Beobachturg geschlossen, daß die Mischlinge wahrscheinlich in beiden Jahren die Kinder (derselben Mutter gewesen sein möchten, und das kann auch sehr wohl sich so verhalten haben; mein weiterer Schluß hingegen, daß die Mischlinge in einer abnormen Beschaffenheit des Keimplasmas der mütterlichen Eier ihren Grund haben müßten, scheint mir heute nicht mehr so zwingend, wie damals, weil wir inzwischen durch den unermüdlichen Ameisenforscher Pater WAsMAnN einen an- deren Weg der Erklärung dieser Mischformen als möglich kennen ge- lernt haben, der zwar auch nur auf einer Vermutung beruht, aber zu- gleich so interessant ist, daß ich ihn doch in Kürze mitteilen möchte. Wie FOREL und ich selbst, so hatte auch Pater Wasmann früher den Grund dieser Art von Mischformen (der sog. pseudogynen Ar- heiterinnen) in einer abnormen Beschaffenheit des Keimplasmas ver- mutet, er hält sie aber jetzt für Produkte einer Art von Umzüch- tung, welche die fütternden Arbeiterinnen mit ursprünglich weiblichen, d. h. königlichen Larven vornahmen, weil es ihnen an Arbeiterinnen fehlte. Die Hypothese klingt sehr kühn, aber sie wird wenigstens insofern gut gestützt, als wirklich ein Grund dafür vorliegt, daß in einzelnen Ameisenkolonien zu bestimmter Zeit Arbeitermangel eintreten muß, welcher dann seinerseits die die Larven fütternden Arbeiterinnen allerdings bestimmen könnte, weiblichen Larven nachträglich noch Ar- beiterfutter zu geben, um aus ihnen sich die mangelnden Gehilfen zu erziehen. Dieser Grund liegt in der gelegentlichen Anwesenheit eines schma- rotzenden Käfers, Lomechusa strumosa, dessen Larven sonderbarerweise *) Es gibt verschiedene Arten von Mischformen der Ameisen, die wohl in recht verschiedenen Verhältnissen ihren Grund haben, wie Forer, WAsMANN und Emery eingehend dargelegt haben. S0 Das LAMARCcKsche Prinzip. von den Ameisen gepflegt und gefüttert werden, wie ihre eigenen, die aber zum Dank dafür die Larven der Ameisen fressen und oft in Menge vertilgen. Da nun, wie WAsMANN berichtet, die Schmarotzer- larven gerade zu einer Zeit heranwachsen, in welcher die Ameisen ihre Arbeiterinnen aufziehen, so fallen gerade diese den Lomechusalarven zum Opfer, und ‘die Folgen davon, d. h. ein Mangel an jungen Arbei- terinnen muß sich dann bald fühlbar machen. Nun suchen die Arbei- terinnen diesen Ausfall dadurch zu ersetzen, dab sie alle noch verfüg- baren, bisher zu Königinnen bestimmten Larven zu Arbeiterinnen um- züchten. Das gelingt ihnen aber nur halb, weil die Entwicklung zu echten Weibchen bereits in Gang gesetzt ist; so entstehen also Misch- formen. Diese Erklärung würde in der Luft schweben, wenn wir nicht wüßten, daß bei den Bienen solche Umzüchtungen gar nicht selten vorkommen, nämlich regelmäßig dann, wenn die Königin eines Stockes zugrunde gegangen ist, und keine weiblichen Eier mehr vorrätig sind; es werden dann junge Arbeiterlarven mit königlichem Futter versehen; und diese entwickeln sich dann zu Königinnen. ‚Jedenfalls haben es also diese Insekten in ihrer Macht, durch spezifische Ernährungsweise entweder die Weibchenide oder die Arbeiterinnenide zur Tätigkeit aus- zulösen, und es hat durchaus nichts Widersinniges, auch ein Alternieren dieses Einflusses im Laufe der Entwieklung für möglich zu halten, da wir ja ähnliches auf dem Gebiet der sekundären Sexualcharaktere als tatsächlich vorkommend kennen, z. B. das Auftreten der männlichen Schmuckfarben bei steril gewerdenen Entenweibehen. Allerdings aber entstehen bei der eben berührten Umzüchtung von Bienenlarven reine Königinnen und keine Mischformen, und so werden wir es noch für unentschieden halten müssen, ob die WASMANN- sche Erklärung hier die richtige ist, oder ob nicht doch eine abnorme Beschaffenheit des Keimplasmas die Ursache von diesen oder anders gearteten Mischformen der Ameisen abgibt. In jedem Falle ruht doch auch die „Lomechusahypothese* auf der Annahme verschiedenartiger Ide im Keimplasma, wie auch Pater WAasmAann ausdrücklich anerkennt, und die Unterschiede zwischen Arbeiterin und Königin bei den Amei- sen haben darin ihren Grund, nicht aber direkt in der Art des Larven- futters. Befänden sich nieht besondere Ide für die verschiedenen Indi- viduenarten im Keimplasma, so könnte zwar vielleicht durch Nahrungs- unterschiede auch eine Art von Vielgestaltigkeit des Stockes entstehen, aber niemals eine solche, wie wir sie vor uns sehen, d. h. eine auf Anpassung beruhende, scharfe funktionelle Scheidung der Personen. Das setzt Elemente des Keims voraus, die sich langsam und stetig in bestimmter Richtung verändern können, ohne daß der ganze übrige Keim sich mitverändert. Durch diesen Stand der Sache gewinnt die phyletische Ausbildung der Arbeiter eine große theoretische Bedeutung, sie wird zum Beweis, daß positive wie negative Abänderungen der verschiedensten Körperteile, daß gleichzeitige und korrelative Abänderungen vieler Teile im Laufe der Phylogenese geschehen können, ohne Mit- wirkung des Lamarckschen Umwandlungsfaktors. Ich habe bisher noch keinen Nachdruck auf die Größe der vorkommenden Unter- schiede zwischen Arbeiterinnen und Königinnen gelegt; jetzt aber mub ich hinzufügen, daß diese weit hinaus gehen können über das Maß, welches wir bei unseren gewöhnlichen einheimischen Ameisen beobachten, Ameisen-Neutra. Ss und zwar sowohl in bezug auf Instinkte, als in bezug auf die Körper- form. Schon bei der roten Amazonenameise der Westschweiz, Polyergus rufescens tritt der ganz neue Instinkt*) auf. die Puppen anderer Ameisenarten zu rauben, nicht um sie zu verzehren, sondern um sie in das eigene Nest zu schleppen und sog. „Sklaven“ daraus zu gewinnen. Denn diese im fremden Nest ausschlüpfenden Arbeiterinnen der fremden Art betrachten natürlich die Stätte ihrer Geburt als ihre Heimat und tun dort, was ihr Instinkt ihnen vorschreibt, und was sie auch im Bau ihrer Eltern getan haben würden: d.h. sie füttern die Larven, versorgen die Puppen, schleppen Nahrung und Baumaterialien herbei usw. Dadurch wurde nun die haushälterische Tätigkeit der Herrenarbeiterinnen überflüssig, sie entwöhnten sich derselben, und haben es heute vollständig verlernt, ihre Brut zu pflegen, Nahrung zu holen und den Bau zu unterhalten. Ja sie haben sogar verlernt, selbst zu fressen, weil sie von den „Sklaven“ stets gefüttert wurden. FOREL berichtet. uns, — und ich habe selbst den Versuch wiederholt — daß Polyergusarbeiterinnen, die eingesperrt werden mit einem Honigtropfen am Boden des Gefängnisses, diese ihre Lieb- lingskost unberührt lassen und schließlich verhungern, wenn man ihnen nicht einen ihrer „Sklaven“ beigibt. Sobald dies aber geschieht, und der „Sklave“ den Honig bemerkt, genießt er davon, und nun kommt die Herrin, streichelt ihn mit den Fühlern, als Zeichen der Bitte, bis er die Bittende aus seinem Kropf zu füttern sich herbeiläßt. Während aber die Polyergus-Arbeiterinnen ihre häuslichen (re- wohnheiten, ja das Erkennen ihrer Nahrung verlernt haben, sind merk- würdige Veränderungen an ihren Kiefern vorgegangen; dieselben haben die stumpfen Zähne des Innenrandes der anderen Arten, wie sie zum Verarbeiten der Nahrung, zum Packen von Baumaterial und anderen häuslichen Verrichtungen zweckmäßig sind, verloren, und ihre Kiefer sind säbelförmig gekrümmte spitze Waffen geworden, sehr geeignet, ihren Feinden den Kopf zu durchbohren, aber auch sehr zweckmäßig zum Puppenraub, da sie die Puppe damit umfassen können, ohne sie zu verletzen. Niemand wird nun zweifeln, daß die Raubzüge der Amazonen- ameise und das Sklavenmachen erst angenommen werden konnten, nach- dem das Zusammenleben in großen Gesellschaften längst schon bestanden hatte, und so beweist also dieser Fall, daß Veränderungen der In- stinkte, wie des Körpers auch dann noch eintreten konnten, als die Arbeiterinnen längst schon unfruchtbar geworden waren. Der Fall ist um so lehrreicher. als es hier wieder ganz so aussieht, als ob es sich um die Vererbung von neu angenommenen und vererbten Lebensgewohnheiten handle, während doch diese Amazonen nichts ver- erben können, weil sie keine Nachkommen hervorbringen. Wenn aber hier alte Instinkte verloren gehen, neue erworben werden können, wo die Möglichkeit einer jeden Vererbung überhaupt ausgeschlossen ist, so sehen wir daraus, daß die Natur des Lamarckschen Umwandlungs- faktors nicht bedarf zu ihren Um- und Neugestaltungen. Wenn man sich aber klar machen wıll, daß es sich bei diesen Veränderungen nicht bloß um Abänderung einzelner Teile, sondern *), „Neu“ insofern, als dieser Instinkt den meisten Ameisenarten nicht zu- kommt, auch bei den ältesten Vorfahren der heutigen Ameisen noch nicht vorhanden war; es gibt aber heute auch bei uns Arten, die ihn besitzen Weismann, Dowendenzthoorio, II. 2. Aufl. in 82 Das LAmARrcKsche Prinzip. um solche vieler, zusammenwirkender Teile handelt, so braucht man nur an die noch auffallenderen körperlichen Umwandlungen zu denken, welche bei manchen der tropischen Ameisen eingetreten sind und zu einer Zweigestaltigkeit der Arbeiterinnen geführt haben. Bei vielen Arten findet man allerdings nur Größenunterschiede, so daß man große und kleine Arbeiterinnen unterscheiden kann, von denen die ersteren manchmal fünfmal so groß sind, als die letzteren, aber schon bei unserer in Italien häufigen, südeuropäischen Pheidole megalocephala sind die großen Arbeiter auch im Bau verschieden von den kleinen, haben einen enormen Kopf mit mächtigen Kiefern und werden ge- wöhnlich als „Soldaten“ bezeichnet, wie sie denn auch wirklich mit der Verteidigung der Kolonie betraut sind. Hat doch z. B. EMERY bei der in Baumstämmen wohnenden Ameise Colobopsis truncata direkt be- obachtet, wie die mit enormen Köpfen versehenen „Soldaten“ Eingänge zum Bau sperrten, bereit jeden Eindringling mit ihren großen Kiefern zu packen. Bei der Saubaameise (Oeco- doma cephalotes) hat BATES sogar drei dem Bau und der Gröbe nach verschie- dene Arbeiterinnen beschrieben, und wenn er auch ihre besonderen Funktio- nen nicht bestimmt feststellen konnte, so unterliegt es doch keinem Zweifel, dab sie solche haben, und daß die Abweichun- gen in ihrem Bau eben für besondere Funktionen Dberech- Fig. 106. Drei Arbeiterinnen derselben Ameisenart Phei- a sind. Ahnlich dologeton diversus aus Indien, nach Exemplaren aus verhält es sich mit dem Besitz von Professor AUGUST FOREL gezeichnet. A der in Fig. 106 ab- größte Arbeiterform, # mittlere, C kleinste Arbeiterform. gebildeten indischen Ameise, Pheidologe- ton diversus, deren drei Arbeiterformen ich der Güte des Herrn Prof. AuGust FOREL verdanke. Wenn wir nun bedenken, daß die Vergrößerung des Kopfes und der Kiefer eine erhebliche Verdickung des Skelettes dieser Teile, sowie eine Verstärkung der Kopfmuskulatur mit sich führen mußte, so folgt daraus, daß auch die Belastung des Körpers dadurch eine größere wurde, daß also, ganz wie im Falle des an Schwere zunehmenden Hirschgeweihes, das Skelett des Thorax ebenfalls dieker und schwerer werden mußte, die Muskeln und Nerven der Beine stärker, die Gelenk- verbindungen widerstandsfähiger, kurz dab eine lange Reihe von Ver- änderungen anderer Teile auch hier gleichzeitig eintreten mußte, damit die primäre Abänderung gebrauchsfähig, und dem Tiere selbst nicht verderblich wurde. Wir haben also von neuem wieder einen Beweis dafür vor uns, daß Koadaptation vieler Teile ohne jede Mit- a | | | | h | | | Ameisen-Neutra u. s. w. 3 wirkung des Lamarckschen Prinzips eintreten kann, daß es einen anderen Faktor geben muß, der dies bewirkt. Wo aber sollte dieser liegen, wenn nicht in Selektionsvorgängen, in der Bevorzugung der passenden Variationen unter den überhaupt vorkommenden? Wir stehen hier vor der Alternative, entweder diesen Faktor zu einer genügenden Erklärung auszubilden, oder aber auf jede Erklärung zu verzichten. Die Anwenduug des Selektionsprinzips ist nun gerade in bezug auf die Neutra der staatenbildenden Insekten keineswegs einfach, denn da die Arbeiterinnen steril sind, so kann eine Umgestaltung derselben durch Züchtungsprozesse nicht direkt an ihnen ansetzen; die passend variierenden Arbeiterinnen können nicht zur Nach- zucht ausgewählt werden, sondern nur ihre Eltern, die Geschlechts- tiere, und zwar je nachdem sie bessere oder schlechtere Arbeiter liefern. So hat auch schon Darwın die Sache aufgefaßt, und seine Auffassung wird bestätigt durch eine Eigentümlichkeit in der Zusammensetzung dieser Tierstaaten, deren Bedeutung man erst in bezug auf diese Frage versteht. Seit lange ist es bekannt, dab im Bienenstock 10000 bis 20000 Arbeiterinnen, aber nur ein echtes Weibchen, die sog. Königin sich befindet, der Sinn aber dieser auffälligen Einrichtung darf wohl darin gesehen werden, daß dadurch die Anpassung der Arbeiterinnen durch Naturzüchtung viel leichter möglich wurde, denn sie waren ja nun sämtlich die Kinder eines einzigen Elternpaares! Nicht die einzelnen Arbeiterinnen, sondern die ganzen Stöcke, d. h. die ganze Nachkommenschaft der Königin wurde selektiert nach der größeren oder geringeren Zweckmäßigkeit der Arbeiterinnen. Eigentlich also wurde die eine Königin selektiert in bezug auf ihre Fähigkeit, bessere oder schlechtere Arbeiterinnen hervorzubringen. Ein Stock, dessen Königin nach dieser Richtung hin ungenügend war, konnte sich nicht erhalten im Kampf ums Dasein, und nur die besten Stöcke und die besten Königinnen überlebten, d. h. in ihren Nachkommen. Enthielte der Stock statt der einzigen Königin deren Hundert, so wäre der Pro- zeß der Auswahl ein bei weitem verwickelterer und unklarerer, und es ist sehr wohl denkbar, daß dann die Schaffung besonders umgebildeter und ihren Leistungen angepaßter Arbeiterinnen, oder gar von zwei oder drei verschiedenen Arbeiterinnen überhaupt nicht möglich gewesen wäre. Denn nun hätte es wenig geholfen, wenn eines der hundert Weibchen besser gebaute Arbeiterinnen geliefert hätte: erst eine Majorität solcher Weibchen hätte dem Stock ein Übergewicht gegenüber anderen Stöcken gegeben. Bei den Ameisen ist es nicht sicher festgestellt, ob immer nur ein Weibchen die Gründerin eines ganzen Staates ist, dab es aber jedenfalls immer nur ganz wenige sind, ist sicher; bei den tropischen Termiten wissen wir, daß die Eierstöcke der Weibchen einen so kolossalen Umfang erreichen, daß ein Weibchen jedenfalls für den Bedarf des größten Ter- mitenstaates ausreicht. Für die südeuropäischen Termiten hat freilich Grasst nachgewiesen, daß nicht nur mehrere Weibehen vorhanden sind, sondern daß auch Arbeiterinnen häufig Brut hervorbringen; doch sind die Termiten im allgemeinen Bewohner der warmen Länder, und die wenigen europäischen Arten stellen uns wohl kaum die ursprüngliche Zusammensetzung dieser Tierstaaten vor Augen. Von den noch nicht hinreichend studierten tropischen Arten aber kennen wir wenigstens den kolossalen Leibesumfang und die dementsprechende Fruchtbarkeit I," 84 Das LAMARCKsche Prinzip. der Königinnen, und dürfen daraus schließen, daß ihrer jedenfalls nur wenige in einem Stocke vorhanden sein werden *). Nachdem wir nun alle diese Tatsachen einer Besprechung unter- zogen haben, wird es nicht überflüssig sein, die Ergebnisse daraus kurz zusammenzufassen, soweit sie sich auf die Annahme oder Verwerfung einer Vererbung erworbener Eigenschaften beziehen. Ein direkter Beweis für eine solche Vererbung war nicht beizu- bringen, es hat sich im Gegenteil herausgestellt, dab alles, was man für einen solchen ausgegeben hat, nicht stichhaltig ist; eine Vererbung von Verletzungen und Verstümmelungen existiert nicht, und die Vererbung traumatisch gesetzter Epilepsie ist nicht nur in ihren Ursachen ganz zweifelhaft, sondern kann überhaupt nicht als Vererbung einer bestimmten morphologischen Läsion aufgefaßt werden. Als indirekte Beweise würden solche Tatsachen anzusehen sein, welche nur unter der Voraussetzung dieser Vererbungsform Erklärung finden könnten, und als solche hat man von gegnerischer Seite vor allem die Übereinstimmung der durch Übung im Einzelleben erwor- benen, durch Histonalselektion entstandenen Abänderungen mit den phyletischen Umwandlungen derselben Teile angeführt. Es hat sich in- dessen gezeigt, dab eine Menge von Teilen, die gar nicht aktiv, sondern nur passiv funktionieren, die also auch durch Ubung nicht verändert werden können, wie die harten Skeletteile der Gliedertiere genau in derselben, sicheren und geradgerichteten Bahn phyletisch abändern, wie jene, daß wir also keinen Grund haben, bei jenen, den aktiv tätigen noch andere Umwandlungskräfte anzunehmen, als sie bei diesen, den rein passiv funktionierenden wirksam sind. Schließlich besprachen wir noch das letzte und stärkste Argument, welches für das Eingreifen des LAMARCKSchen Prinzips vorgebracht worden ist, das der Koadap- tation, d. h. der gleichzeitigen Anpassung vieler zu gemeinsamer Aktion zusammenwirkender Teile, konnten aber auch dieses vollständig zurück- weisen, indem wir zeigten, dab genau die gleichen Erscheinungen der Koadaptation auch bei Systemen von passiv funktionierenden Teilen vorkommen, und weiter, daß sie vorkommen bei den Arbeiterinnen der Ameisen und Bienen, d. h. bei Tieren, die sich nicht fortpflanzen, die also auch die Übungsresultate ihres Lebens nieht vererben können. Also nieht bloß aus dem Grund verwerfen wir, und müssen wir das LAMARCKsche Prinzip verwerfen, weil es sich nicht als richtig er- weisen läßt, sondern zugleich deshalb, weil die Erscheinungen, welche es erklären soll, auch unter Verhältnissen auftreten, welche eine Mit- wirkung dieses Prinzips geradezu ausschließen. Zusatz zur Vererbung funktioneller Abänderungen. Ich möchte diesen Abschnitt nicht schließen, ohne auf die Aus- lassungen einiger Forscher einzugehen, welche noch in jüngster Zeit versucht haben, eine Vererbung funktioneller Abänderungen als denk- bar hinzustellen, ja als eine notwendige Annahme. Ich nenne zuerst LUDWIG ZEHNDER, den auf biologischem Gebiet wohl bewanderten Physiker, der an der Hand gerade der Tatsachen, welche ich als Beweise gegen das Bestehen einer solchen Vererbung *) YNnGVE SJOSTEDT hat neuerdings an afrikanischen Termiten feststellen können, daß meist nur ein „König“ und eine „Königin“ als Gründer eines Staates auftreten (Abhandl. Schwed. Akad., XXXIV. Bd., 1902). Tg ZEHNDERS Gründe für das LAMARrcKsche Prinzip. 5 vorgebracht habe, zu zeigen sucht, in welcher Weise man sich das Zu- standekommen derselben vorstellen könne!). So legt er sich den Fall der Ameisen, d. h. die Differenzierung ihrer fortpflanzungsunfähigen Arbeiterinnen in mehrere Sorten in folgen- der interessanter Weise zurecht. Die Arbeiterinnen haben die Aufgabe, die für alle Individuen des Ameisenstaats notwendige Nahrung herbeizuschaffen und zwar der Menge und der Qualität nach dem Bedürfnis entsprechend: anderenfalls würde der Staat zugrunde gehen. Nun bedürfen aber die verschiedenen Per- sonen des Staates verschiedener Nahrung, je nach ihrer Beschaffen- heit und ihren Leistungen. Soldaten z. B. sind kräftiger als gewöhn- liche Arbeiterinnen, geeignet zum Kampf, bedürfen also (!) eine andere Sorte von Nahrung, als die schwächeren, für andere Leistungen geeig- neten Arbeiterinnen. Als sie sich - aus diesen durch Selektion ent- wickelten, mußte somit die — sagen wir der Kürze halber — Soldaten- nahrung im gemeinsamen Nahrungsspeicher der Ameisen stärker in Anspruch genommen werden, als vorher, also rascher aus demselben ver- schwinden, und sobald dies eintrat, fühlten sich diejenigen Arbeiterinnen, welche schon vorher diese Sorte von Nahrung herbeigeschafft hatten, veranlaßt, mehr und mehr von derselben herbeizuschaffen, um dem Be- dürfnis zu genügen. Dazu mußten sie selbst aber sich stärker an- strengen, bedurften also auch selbst mehr Nahrung, aber natürlich nicht Soldatennahrung, sondern diejenige Sorte von Nahrung, die ihre Eigen- schaften hervorgerufen hatte. Möglicherweise geschah diese zweite Ein- tragung von Nahrung durch eine zweite Art von Arbeiterinnen, («denn nach ZEHNDER trägt nicht jede Arbeiterin alle Sorten von Nahrung ein. sondern dieselben sind in Legionen geteilt, von denen jede ihre besondere Ernährungsaufgabe zu erfüllen hat. Schließlich muß der Speicher des Ameisenstaates einen Vorrat enthalten, dessen einzelne Nahrungssorten genau prozentua- lisch dem Nahrungsbedürfnis der verschiedenen Personen- arten des Staates entsprechen. Er muß sich wieder in seiner Zusammensetzung ändern, sobald im Laufe der Zeit von einer oder der anderen Personenart neue Eigenschaften erworben werden, denn diese setzen ja wieder eine neue Ernährungsweise voraus. Wie nun aber werden die neu erworbenen Eigenschaften vererbt, da doch die Soldaten und Arbeiterinnen sich nicht fortpflanzen? ZEHN- DER antwortet darauf mit dem Hinweis, daß die Geschlechtstiere alle Nahrung genießen, welche sie im Speicher angehäuft finden, das heißt also: alle die verschiedenen Nahrungssorten genau in dem Verhältnis, in dem sie dorthin zusammengetragen wurden, d. h. in dem Verhältnis, in welchem die verschiedenen Personen im Staat ver- treten sind. Es gelangen also diejenigen Nahrungssorten, welche in den geschlechtslosen Tieren die neu erworbenen Eigenschaften hervor- treten ließen, auch in die (reschlechtstiere und in ihre Geschlechtszellen, und dort bilden sie diejenigen Substanzen aus, welche die be- treffenden Eigenschaften in den Nachkommen hervorrufen, also z. B. die der Soldaten, oder die der noch weiter veränderten Ar- beiterinnen usw. und so ergibt sich also die verlangte „Vererbung er- worbener Eigenschaften“, *) ZEHNDER, „Die Entstehung des Lebens“, Freiburg i. Br. 1800, s6 Das LAMARCKSche Prinzip. Das ist nun gewib fein und geistreich ausgedacht, und es liest sich im Original noch besser und glatter, als in meiner kurz zusammen- gefabten Wiedergabe, aber schwerlich wird man darin eine Widerlegung meiner Ansicht erblicken dürfen, dazu werden doch allzu gewagte Vor- aussetzungen gemacht. Wir wissen nichts davon, dab bestimmte Form- abänderungen von bestimmten Nahrungssubstanzen bedingt und hervor- gerufen werden können, wohl aber ist das Gegenteil davon erwiesen, daß nämlich die zwei oder drei Formen polymorpher Arten genau dieselbe Nahrung genieben — ich erinnere nur an die sechs Weibchen- formen von Papilio Merope, von denen wenigstens doch drei aus dem- selben Satz Eier und bei Fütterung mit derselben Pflanze erhalten wurden. Allerdings gibt es Ameisen. welche Nahrungsvorräte anlegen. aber dann bestehen dieselben meist aus einer Art von Sämereien oder von Honig, nicht aus verschiedenen, und es ist nichts davon bekannt, daß die verschiedenen. Personen des Nestes verschiedene Nahrung genössen, ja nicht einmal, daß die unbehülflichen Larven in verschiedener Weise gefüttert würden. Die Fütterung geht eben von Mund zu Mund, und ist deshalb unkontrollierbar, und man kann höchstens aus der Analogie mit den Bienen vermuten, dab die Larven der Weibehen und Männchen nicht nur häufig reichlichere, sondern auch qualitativ etwas andere Nahrung erhalten. Sie werden eben aus dem Kropf gefüttert, falls nicht die Nahrung im Mark eines Baumes besteht. in welches einge- bettet die Larven liegen, wie uns dies DAHL von tropischen Ameisen des Bismarckarchipel berichtet. Aber nehmen wir selbst an, es sei so, die Soldaten genössen andere Nahrung als die gewöhnlichen Arbeiterinnen, und wieder andere als die Geschlechtstiere, sind sie damit auch durch die Qualität der Nahrung zu dem geworden, was sie sind? Sind unsere Tauben- oder Hühnerrassen durch verschiedene Nahrung hervorgerufen, oder wissen wir auf irgend einem Gebiet tierischen Lebens etwas von einem der- artigen Parallelismus von Nahrung und Körperbau, wie ihn ZEHNDER voraussetzt? Und wenn nun wirklich — sagen wir die Taubenrassen durch spezifische Ernährung entstanden wären, und wir gäben einem Taubenpaar die spezifischen Nahrungsstoffe von drei verschiedenen Rassen gemischt zu fressen, würden dann ihre Nachkommen in Gestalt der drei Rassen auftreten? oder vielleicht gar in derselben Proportion, in der wir die Nahrung der drei Rassen gemischt hatten? Ich meine, die ZEHNDERschen Annahmen weichen so weit von dem ab, was wir sonst in der Biologie als sicher betrachten, daß sie kaum einer Wider- leeung bedürfen, und doch benutzt er sie keineswegs nur zur Erklärung des Falls von den Ameisen, sondern seine ganze Theorie der Ver- erbung erworbener Eigenschaften ruht darauf. Er läßt die Resultate der Ubung (stärkeren Funktionierung) ganz allsemein dadurch sich vererben, daß die Zunahme des stärker arbei- tenden Organs die Blutmischung ändert, indem sie ihm die spezifischen Stoffe in stärkerem Maße entzieht, welche eben das betreffende Organ, z.B. ein Muskel zu seiner Tätigkeit verbraucht. Dadurch werden aber alle Teile des Tiers mitgetroffen und verändert, hauptsächlich diejenigen jener kleinsten Lebenseinheiten oder „Fistellen“ (entsprechend meinen Biophoren), welche der Verdauung vorstehen, und von welchen es ver- schiedene Sorten gibt. Von diesen arbeiten nun diejenigen am stärksten, welche jene spezifischen Stoffe produzieren, die zur Ernährung des ä ZEHNDERs Verteidigung desselben. S7 stärker funktionierenden Muskels dienen und jetzt in größerer Menge notwendig sind. Diese Sorte von verdauenden Fistellen vermehrt sich deshalb, während andere verdauende Fistellen deren Nahrungssäfte nicht gebraucht und weggeleitet werden, auch in ihrer Arbeit nachlassen, an Zahl abnehmen und mit der Zeit schwinden. In dieser Weise ändert sich die Blutmischung, und mit ihr zugleich mehr oder weniger alle Eigenschaften des ganzen Organismus. Natürlich stehen auch die Fort- pflanzungszellen unter dem Einfluß dieser Änderung der Blutmischung, indem sich in ihnen die verschiedenen spezifischen Nährstoffe in ver- ändertem, der neuen Blutmischung entsprechendem Verhältnis anhäufen, die Nährstoffe für jene stärker funktionierenden Muskeln werden in größerer Menge in ihnen enthalten sein, und „somit“ wird auch die stärkere Entwicklung derselben in den Nachkommen sich wiederholen, d. h. die erworbene Eigenschaft wird vererbt werden. Man sieht, es ist genau dasselbe Rechenexempel wie bei der Ent- stehung der Ameisen-Arbeiter und -Soldaten. Die verschiedenen Sorten von „verdauenden Fistellen“ entsprechen den verschiedenen nahrung- eintragenden Arbeitern, und das Blut dem angenommenen Nahrungs- speicher der Ameisen, aus welchem sich Soldaten und Arbeiterinnen herausholen. was gerade für sie paßt, während die Geschlechtszellen, wie dort die Geschlechtstiere alles herausholen, was darin ist, und zwar genau in dem Verhältnis, in dem es dort enthalten ist, damit das betreffende stärker funktionierende Organ nun auch im Nachkommen stärker ausfallen muß. Wie nun freilich das Wenige von Nahrungsstoffen, das im Ei und gar in der Samenzelle enthalten sein kann, es bewirken soll, daß jene Muskeln stärker ausfallen im Nachkommen, das wird nicht gesagt, und doch müßten solche Minima von Nahrung rasch verbraucht wer- den und könnten sich unmöglich aus sich selbst vermehren. Man sollte also meinen, daß jene Muskeln nicht einmal stärker angelegt werden, geschweige denn, dab sie auf die Dauer stärker bleiben könnten, falls sie nicht in dem Nachkommen, auch wieder stärker geübt würden. Ja, wenn die spezifischen Nahrungsstoffe „Fistellen* wären, d. h. lebende Einheiten, die sich vermehren! aber von einer Produktion von solchen durch die Verdaunng kann natürlich nicht die Rede sein; diese kann nur Stoffe hervorbringen. Oder wenn die Anderung der Blutmischung gerade solche Veränderungen im Determinantensystem des Keimplasmas hervorrufen müßte, daß daraus eine Kräftigung des Muskelsystems hervorgehen müßte; aber, wie das geschehen könnte, das wäre eben gerade zu zeigen, in dieser Frage steckt das ganze Problem! Sind es doch keine Muskeln, welche im Keimplasma liegen als Miniaturbilder des späteren Muskelsystems, und wenn es selbst so wäre, wie käme es, daß nicht alle Muskeln erblich abnehmen, wenn eine bestimmte Gruppe, z. B. beim Menschen die Ohrmuskeln verkümmern, sondern eben nur die nieht mehr gebrauch- ten? ZEHNDER antwortet darauf mit der Vermutung, daß die Muskeln wohl nicht alle chemisch gleich seien, sondern jeder eine besondere, wenn auch sehr ähnliche chemische Formel besäße, daher auch ihre Nährstoffe um ein Minimum voneinander verschieden sein müßten. Dann hätten wir also beim Menschen für die Vererbung funktioneller Abänderung soviele besondere Nährstoffe im Ei und der Samenzelle nötig, als verschiedene Muskeln da sind, und daneben noch ungezählte Schaaren anderer spezifischer Nährstoffe für alle möglichen anderen Ss Das Lamarcksche Prinzip. Teile des Köpers! denn alle können sie durch Übung gekräftigt, durch Nichtgebrauch geschwächt werden. Und wenn wir auch die Millionen von spezifischen Nährstoffen in die Keimzellen hineinlegen wollten, welche die ZEHNDER sche Theorie verlangt, so leisten sie doch nicht, was ihnen ZEHNDER zumutet, denn sie können — wie schon gesagt - nicht nach Art lebender Wesen sich vermehren und so den werdenden Organismus bestimmen. Die verschiedenen spezifischen Nahrungsstofte des Blutes sind ebenso unvermögend, die ilnen von ZEHNDER gestellte Aufgabe zu erfüllen, als die spezifischen Nahrungs- sorten im hypothetischen Ameisenspeicher imstande sind, die verschie- denen Personen des Ameisenstaates ins Leben zu rufen. ZEHNDER versucht auch, meinen durch das Skelett der Glie- dertiere geführten Beweis gegen das LAMArcK sche Prinzip zu ent- kräften. Es ist ihm nieht wahrscheinlich, daß die Chitinpanzer abgestorbene, völlig tote Gebilde seien, er vermutet vielmehr, daß feinste neryöse Fibrillen in alle ihre kleinsten Teilchen eindringen, die nun also durch „Jeden Druck, jeden Stoß“, den der Chitinpanzer erfährt, gereizt werden. Sie „arbeiten“, wenn sie gereizt werden, und verbrauchen dabei „ihre spezifischen Nahrungsstoffe“. An Stellen, die häufig gereizt werden, entwickeln sich die entsprechenden Nerven stärker, als an anderen Stellen. Nun nehmen die für diese Nerven nötigen Nahrungsstoffe im Körperinnern verhältnismäßig zu, auch in den Fortpflanzungs- zellen. Demnach entwickelt sich in den letzteren diejenige nervöse Substanz stärker, welche im Nachkommen als Nerv zur betreffenden Chitinpanzerstelle hinführen, welche also dort die Abscheidung des Chitins einleiten wird. Gerade an dieser Stelle wird daher be- sonders stark Chitin abgelagert. Hier ist es also klar gesagt, daß jede Hautstelle eine beson- dere Art von Nahrungsstoffen voraussetzt, welche gerade die Nerven benötigen, welche dorthin laufen! Also so viele verschiedene nervöse Nährsubstanzen, als Hautnerven: spezifische chemische Verbindungen für jeden erblich veränderbaren Teil des Körpers! Das ist denn doch wohl so außerordentlich unwahrschein- lich, daß ich nichts weiter darüber zu sagen brauche. Wenn man der- artige Hypothesen braucht, um das LAMARcK sche Prinzip zu halten, dann ist es wohl verurteilt. Sehen wir aber einmal ganz von der positiven Seite der ZEHNDER- schen Erklärung ab, nehmen wir an, die Hautnerven würden wirklich durch die Chitindecke hindurch entsprechend dem Druck und Stoß, dem eine Hautstelle ausgesetzt ist, gereizt, und veranlaßten dement- sprechend stärkere Chitinsekretion, die sich dann nach dem LAMARCK- schen Prinzip vererben könnte, — stimmte das mit der Ausbildung des Hautskeletts, wie wir es tatsächlich bei Insekten und Krebsen vor- finden? Keineswegs! Stellt man sich denn vor, daß auf dem Brust- panzer eines Krebses, auf den enorm harten Flügeldecken eines Wasser- käfers fortwährend herumgeklopft, gedrückt und gestoßen werde? Ge- rade das Gegenteil ist der Fall. Jeder Angreifer hütet sich, das Tier da zu packen, wo es so gut geschützt ist, und sucht sich die Stellen für seinen Angriff aus, wo es verletzbar ist. Man wird vielleicht ant- worten: Ja jetzt ist es so, aber als die Stammeltern sich bildeten, da waren diese Teile noch schlecht geschützt! Daß sie aber auch da- mals nicht durch häufiges Anbeißen oder sonstiges Verletzen hart ge- ZEHNDERs Verteidigung desselben. Sy worden sind, sollte man eigentlich schon daraus erkennen können, daß die ganzen Flügeldecken, oder der ganze Brustpanzer gleichförmig mit dieker Chitinhaut bedeckt sind, während doch jede Verletzung nur einzelne Stellen reizen könnte: man sollte sich auch sagen, daß wenn heute diese bestgeschützten Hautstellen eben deshalb nicht mehr ge- packt und gereizt werden, sie längst wieder dünn geworden sein müßten, nach dem Prinzip der Verkümmerung nicht gebrauchter. d. h. in diesem Falle nicht gereizter Teile, aber es ist nicht nötig, daß wir uns mit solehen Ausflüchten aufhalten. da es eine Tatsache gibt, die der ZEHN- DERSchen Voraussetzung geradezu widerspricht. Ich meine die Ver- kümmerung des Chitinskeletts bei solchen Krebsen und In- sekten, welche ihren Hinterleib durch ein Gehäuse schützen, also Einsiedlerkrebse, Phryganiden (Fig. 107) und die Sackträger (Psy- chiden) unter den Schmetterlingsraupen. Die Einsiedlerkrebse pressen ihren Hinterleib bekanntlich in ein meist spiralig gewundenes Schnecken- haus, und zwar wählen sie sich stets Gehäuse, die weit genug sind, damit sie im Notfall den ganzen Körper bis auf die harten Scheeren darin verbergen können. Wird nun hier nicht ein starker Druck auf den Hinterleib ausgeübt, da doch bei jedem Zurück- flüchten des Tiers in seine Schale der weiche Hinterleib zusammenge- preßt werden muß? In der Tat hat ein anderer meiner (Gegner das Schwinden des derben Hautskeletts am Hinter- leib dieser Tiere eben als eine vererbte Wir- Fig.107. Larve einer Köcherfliege (Phryganide) kung diese Druckes auf- nach Röser. 4 aus ihrem (Gehäuse genommen, so gefaßt, noch ein Anderer dab die Haken (7) zum Anklammern an dasselbe A Fe ] sichtbar werden und der weißliche, nur von dünner abel als die verei te Haut bedeckte Hinterleib. 2 Dieselbe Larve mit Wirkung der Verküm- ihrem Köcher umherlaufend. merung der Muskeln in diesem Körperteile. Nach ZEHNDER müßte aber dieser fortwährende Druck und das häufige Hin- und Herreiben des Hinterleibs an der Innenfläche der Schneckenschale unzweifelhaft reizend auf die Haut- nerven wirken, — also eine Verdickung des Chitinpanzers bewirken. In Bezug auf die Phryganiden und Psychiden dürfte das ebenfalls, wenn auch wohl nicht in demselben Maße der Fall sein, denn obschon_ die- selben ihr Gehäuse selbst verfertigen, also zunächst wenigstens weit machen werden, so wird doch auch bei ihnen Druck und Reibung mit dem Wachstum des Tieres zunehmen. Bezieht man die Normiernng der Stärke «des Hautskeletts auf Selektion, dann sehen wir sofort ein, warum Panzer und Flügeldecken in gleicher Ausdehnung gleich diek wurden, warum sie nicht schwinden, obwohl sie aktiv nicht gebraucht und am wenigsten von allen Teilen des Skeletts gereizt werden, «dann verstehen wir auch, warum der Hinterleib der Einsiedlerkrebse, Phryganiden und Psychiden weich geworden ist, mag er nun mehr oder weniger dem 90 ’ Das LAMARcKsche Prinzip. Druck und der Reibung ausgesetzt sein. Er braucht nicht mehr hart zu sein, weil er durch das Gehäuse geschützt ist, und bei den Pagu- riden darf er es wohl auch nicht sein, weil er sich sonst nicht gut in die hartwandige und enge Schneckenschale tief hineinschieben ließe; hier hat also positive Selektion mitgewirkt. Dabei habe ich noch nicht in Betracht gezogen, daß die Chitindecke sicherlich nichts Leben- des ist, freilich auch nichts Totes, Abgestorbenes, sondern ein Sekret der Hautzellen, daß somit auch keine Nervenenden in ihr angenommen werden dürfen und können. Zum Überfluß mag gesagt sein, daß schon die Tatsache der Häutung eine solche Annahme unstatthaft macht, da ja sonst das ganze angenommene feine Nervennetz bei jeder Häutung mit entfernt und von seinen zuführenden Nerven abgerissen werden müßte. Etwas Ähnliches kommt aber meines Wissens im ganzen Tier- reich nirgends vor. Nun könnte man ja der ZEHNDERSschen Hypothese zulieb an- nehmen, daß, wenn auch im Chitin selbst keine Nerven mehr liegen, doch Reizungen des Chitinpanzers durch diesen hindurch sich auf darunter liegende feinste Nervenenden fortpflanzten, dann aber müßte dies an dünnen Stellen des Skeletts stärker erfolgen als an dieken! Aber auch diese Vorstellung ist irrig, wie daraus hervorgeht, daß die Tastorgane der Gliedertiere stets die Chitindecke durchbrechen und in Form von Haaren über dieselbe hervorragen. Von den vielen sonstigen Gegnern meiner Ansichten in bezug auf die Vererbung funktioneller Abänderungen sei noch OscAR HERTWIG eingehender besprochen. Er sucht zunächst nach direkten Beweisen für eine Vererbung erworbener Eigenschaften und glaubt sie in der erblichen Übertragung der erworbenen Immunität gegen gewisse Krankheiten zu finden. Er erinnert an die bekannten EHrLIcHschen Versuche mit Riein und Abrin bei Mäusen. Diese beiden Gifte bewirken schon in kleinen Dosen bei Mäusen den Tod; in noch viel kleineren Dosen aber werden sie ertragen, und bei länger fortgesetztem Gebrauch solcher kleinster Dosen, die allmäh- lich gesteigert werden, erwerben die Tiere eine große Unempfindlichkeit gegen diese Gifte, sie werden „riein- und abrinfest“. Diese Immunität nun überträgt sich von der Mutter auf die Jungen, wenn auch nur auf kurze Zeit, auf 6—S Wochen nach der Geburt, und dies wird von HErRTwIG als ein Fall von Vererbung er- worbener Eigenschaften aufgefaßt, als eine erworbene Veränderung der Zellen des Körpers, denn er erklärt sich die Immunität durch die An- nahme, daß sämtliche Zellen des Körpers durch die Einwirkung des Giftes bestimmte Veränderungen erleiden, also gewissermaßen ihre Natur ändern, und daß auch die Eizelle diese Veränderung mitmacht und dann auf das junge Tier überträgt. Das ließe sich ja immerhin unter den Begriff einer funktionellen Abänderung bringen, und somit läge hier die Vererbung einer solchen vor. Dem steht aber die Tatsache entgegen. daß die erworbene Ricin- festigkeit sich vom Vater her nicht auf Nachkommen über- trägt. HERTwIG sucht dies dadurch zu erklären, daß das Gift bei der kurzen Dauer der Versuche nur auf den Zellkörper, nicht auf den Kern, d.h. die Vererbungssubstanz der Samenzellen, eingewirkt habe, eine Annahme, die bei den innigen nutritiven Beziehungen zwischen O0. HERTWIGs Gründe zu Gunsten desselben. 9 Kern und Zellkörper wohl wenig wahrscheinlich ist. Viel eher möchte ich gerade aus dem verschiedenen Verhalten in der Übertragungsfähig- keit von Samen- und Eizellen schließen, daß diese „V ererbung“ der Immunität nicht, wie HERTwIG meint, auf einer Abänderung der Zellen selbst zu Ricinfestigkeit, sondern, wie EHRLICH und die Bakteriologen glauben, auf der Erzeugung von sog. „Antikörpern“ beruht, und daß es nicht die Eizelle selbst ist, welche den Antikörper in den Embryo überträgt, sondern der Blutaustausch zwischen Mutter und Frucht, der doch während der ganzen Embryonalzeit andauert. Dann ergibt es sich von selbst, warum vom Vater her keine Übertragung der Immunität stattfindet. Es würde mich aber ins Endlose führen, wollte ich alle die Ver- suche, einzelne Fälle im Sinn einer Vererbung erworbener Eigenschaften zu deuten, widerlegen. Dagegen möchte ich Ihnen noch einiges über die theoretische Möglichkeit einer solchen Annahme sagen. Wenn man sich fragt, wie denn überhaupt die Erlebnisse und ihre Folgen, die Neuerwerbungen des „Personalteils auf den (Grerminal- teil“ etwa vorgestellt werden könnten, so wird man bald finden, dab dies auf beinahe oder wirklich unüberwindliche Schwierigkeiten stößt. Wie könnte es geschehen, daß die ein Leben hindurch getriebene Übung des Gedächtnisses, wie sie etwa bei einem Schauspieler stattfindet, die Keimzellen desselben derartig beeinflußt, daß sie in seinen Nachkommen dieselben dem Gedächtnis vorstehenden Gehirnzellen ebenfalls wieder stärker entwickeln, d. h. leistungsfähiger gestalten müssen? ZEHNDERS Antwort auf eine solche Frage kennen wir schon, er würde das Blut zum Vermittler zwischen Gehirnzellen und Keimzellen machen, aber wir haben gesehen, daß spezifische Nährstoffe für jede spezifische Zellen- gruppe des Körpers weder angenommen werden, noch auch das Ver- langte leisten können, und auf eine solche Annahme würde jeder an- gewiesen sein, der das Keimplasma nicht aus Determinanten zusammen- gesetzt sein läßt. Fußen wir aber auf der Determinantenlehre, so würde zur Vererbung erworbener (redächtnisstärke erforderlich sein, daß die Zustände jener Gehirnzellen auf dem telegraphischen Weg der Nerven den Keimzellen übermittelt würden und dort lediglich die Deter- minanten der Gehirnzellen veränderten, und zwar in solcher Weise, daß dadurch später bei der Entwicklung eines Embryos aus der Keimzelle die entsprechenden Gehirnzellen höher leistungsfähig ausfielen. Da nun die Determinanten aber nicht etwa selbst schon Miniaturgehirnzellen sind, sondern nur Biophorengruppen von unbekannter Konstitution, sicherlich sehr verschieden von jenen Zellen, da sie überhaupt keine „Samenkörner“ von Gehirnzellen sind, sondern nur jene lebenden Keimes- einheiten, welche im Zusammenwirken mit den übrigen den ausschlag- gebenden Einfluß auf die Ausbildung der Gedächtniszellen des (Gehirns haben, so kann ich die Annahme einer Vererbung der Gedächtnisübung nur dem Telegraphieren etwa eines (edichtes vergleichen, das auf der Abgangsstelle deutsch aufgegeben wird und auf der Ankunftsstelle in chinesischer Übersetzung auf dem Papier erscheint. Trotzdem bestreite ich nicht, daß diejenigen im Recht sind, welche mit O. Herrwıs sagen, daß aus der Unmöglichkeit, sich eine Vor- stellung von dem mechanischen Geschehen der angenommenen Ver- erbung zu machen, nicht ohne weiteres auch auf ihre Nichtexistenz ge- schlossen werden dürfe. Allerdings aber kann ich Herrwis nicht 42 Das LAMARcKsche Prinzip. zugeben. daß der Fall hier ganz so läge, wie bei dem „umgekehrten Prozeß“, d.h. „bei der Entfaltung der in der Erbmasse der Zelle ge- sebenen unsichtbaren Anlagen zu den sichtbaren Eigenschaften des Personalteils“. Sicherlich kann niemand im Genaueren angeben, wie es der Keim anfängt, daß sich aus ihm ein Auge oder ein Hirn mit seinen millionenfach verschlungenen Nervenbahnen herausbildet, aber wenn auch nicht im einzelnen, so läßt sich doch der Vorgang im Prinzip wohl verstehen, und gerade daran fehlt es bei der Ubertragung funktioneller Abänderungen auf den Keim. Außerdem aber liegt noch der gewaltige Unterschied vor, daß wir in dem einen Fall sicher wissen, daß der Vorgang wirklich Statt hat, wenn wir auch seinen mechanischen Verlauf im einzelnen nicht verstehen, im andern aber eben gerade nicht beweisen können, daß der supponierte Vor- gang auch wirklich ist. Daraus, daß wir einen Vorgang nicht ein- mal vorstellen können, sollten wir, so scheint mir, nicht die Berechti- gung herleiten, ihn als wirklich anzunehmen, auch wenn wir manche andere Vorgänge in der Natur kennen, (die wir ebenfalls nicht verstehen, wie z. B. die Anziehung der Massen. Aber daß die Massen sich an- ziehen und zwar nach bestimmten Gesetzen, ist nicht zweifelhaft und kann jeden Augenblick von Neuem bewiesen werden, daß aber funk- tionelle Veränderungen vererbt werden, hat noch niemand bewiesen, und selbst wenn es gelänge, die mechanische Vorstellbarkeit einer solchen Vererbung darzutun, so wäre damit doch nichts für ihre Wirklichkeit bewiesen. HERTwIG bemüht sich, die mechanische Möglichkeit darzutun, ge- stützt auf die Ausführungen HERINGs, die dieser in seiner berühmten Schrift „Uber das Gedächtnis als eine allgemeine Funktion der organi- sierten Materie“ seiner Zeit (1570) gegeben hat. Da diese wohl das Beste ist, was zu Gunsten einer Vererbung funktioneller Abänderungen gesagt werden kann, überdies auch nicht zu bestreitende Wahrheiten enthält, so sei auch auf sie noch eingegangen. Sicher mit Recht betrachtet HERING „die Phänomene des Bewußt- seins als Funktionen der materiellen Veränderungen der organischen Substanz und umgekehrt“, d.h. er stellt sich vor, daß jede Empfindung, jede Vorstellung, jeder Willensakt aus materiellen Veränderungen der betreffenden Nervensubstanzen hervorgeht. Nun wissen wir aber, dab „ganze Gruppen von Eindrücken. welche unser Gehirn durch die Sinnes- organe empfangen hat, in ihm gleichsam ruhend und unter der Schwelle des Bewußtseins aufbewahrt werden, um bei Gelegenheit, nach Raum und Zeit richtig geordnet, mit solcher Lebendigkeit reproduziert zu werden, daß sie uns die Wirklichkeit dessen vortäuschen könnten, was schon längst nicht mehr gegenwärtig ist“. Es muß also eine „materielle Spur“ in der Nervensubstanz zurückbleiben, „eine Veränderung des molekülaren oder atomistischen Gefüges“, welche es bedingt, daß sie „den Klang“ den sie gestern gab, auch heute wieder ertönen läßt, wenn sie nur richtig angeschlagen wird“. Ein ähnliches Vermögen des Gedächtnisses und der Reproduktion möchte nun HERING auch der Keimsubstanz zuerkennen; er glaubt sich zu der Annahme berechtigt, daß auch erworbene Eigenschaften vererbt werden können, obgleich er zugibt, daß es „zunächst in hohem Grade rätselhaft erscheint“, wieso Eigenschaften, die an den verschiedensten Organen (des Mutterwesens zur Entwicklung kamen“, auf den Keim HERINGs Gründe zu Gunsten desselben. 93 einen Einfluß nehmen können. Um dies annehmbar erscheinen zu lassen, deutet er zunächst auf den Zusammenhang aller Organe unter- einander durch das Nervensystem hin; dadurch sei es möglich, daß „die Schieksale des einen wiederhallen in den anderen, und von der irgenwo stattfindenden Erregung eine wenn auch noch so dumpfe Kunde bis zu den entferntesten Teilen dringt“. Zu dem durch das Nervensystem vermittelten, leicht beschwingten Verkehr aller Teile untereinander ge- selle sich dann noch der schwerfälligere, welcher durch den Kreislauf der Säfte hergestellt werde. Nach HErınGs Ansicht erlebt also der Keim gewissermaßen die Schicksale der übrigen Organe und Teile des Organismus in sich mit, und sie prägen sich seiner Substanz mehr oder weniger ein, wie Sinneseindrücke oder Vorstellungen der Nerven- substanz des Gehirns, und reproduzieren dieselben bei Gelegenheit der Keimesentwicklung, wie das Gehirn Erinnerungsbilder wieder zum Be- wußtsein bringt. Er sagt: „Wenn dem Mutterorganismus durch lange Gewöhnung oder tausendfache Übung etwas so zur anderen Natur ge- worden ist, daß auch die in ihm ruhende Keimzelle davon in einer wenn auch noch so abgeschwächten Weise durchdrungen wird — und letztere beginnt ein neues Dasein, dehnt sich aus und erweitert sich zu einem neuen Wesen, dessen einzelne Teile doch immer nur sie selbst sind und Fleisch von ihrem Fleische und sie reproduziert dann das, was sie schon einmal als Teil eines großen Ganzen mit erlebte — so ist das zwar ebenso wunderbar, als wenn den Greis plötzlich die Er- innerung an die früheste Kindheit überkommt, aber es ist nicht wunder- barer als dieses“. Ich glaube doch! und zwar deshalb, weil im Gehirn nachweis- lich Tausende und Abertausende von Nervenelementen enthalten sind, deren Tätigkeit eine bestimmte und beschränkte ist, weil jeder be- stimmte Gesichtseindruck z. B. nur bestimmte Nervenelemente in Tätigkeit setzt, also nur in ihnen Erinnerungsbilder hinterlassen kann. Die Zusammensetzung des Keimplasmas ist nun freilich nach meiner Vorstellung mindestens ebenso verwickelt, als die des Gehirns, und be- steht nicht aus gleichen Elementen, sondern aus unzähligen verschieden- artigen, die sich nieht auf beliebige, sondern auf bestimmte Teile des fertigen Organismus beziehen, aber ist es gestattet, unsichtbare Nerven- leitungen nicht etwa nur zu jeder Keimzelle, sondern auch solche im Innern des Keimplasmas zu jeder Determinante anzunehmen, ähnlich den Nervenbahnen, welche vom Auge zu den Nervenzellen der Seh- sphäre des Gehirns führen? Und wenn nicht, wie sollen wir uns vor- stellen, daß die Veränderungen eines Organs, z. B. der Ohrmuskeln des Menschen sich gerade den Determinanten dieser Muskeln im Keimplasma mitteilen? Man hat mir oft vorgeworfen, daß meine Vorstellung von der Zusammensetzung des Keimplasmas viel zu kompliziert sei — aber das scheint mir doch noch weit darüber hinauszugehen. Die gewiß nicht bloß geistvollen, sondern auch anregenden (re- danken HErınss dürften wohl mit Recht als die erste Andeutung eines Verständnisses für die angenommene Vererbung funktioneller Abände- rungen angenommen werden, wenn es sich nachweisen ließe, daß eine solche Vererbung Tatsache ist: das ist aber, wie wir sahen, nicht der Fall. Sie dürfte vielleicht auch dann angenommen werden, wenn es sich herausstellte, daß gewisse Gruppen von Erscheinungen keine andere Möglichkeit einer Erklärung offen lassen, als diese An- 94 Das LAMARcKsche Prinzip. nahme, allein auch das trifft, soviel ich sehe, nicht zu. Andere sind freilich darüber anderer Meinung, aber hauptsächlich deshalb, weil sie ohne viel Nachdenken die einzige Erklärung für zahlreiche Erschei- nungen, die sich uns darbietet, von der Hand weisen, ich meine die Vorgänge, welche wir demnächst unter dem Namen „Germinalselektion“ kennen lernen werden. HERINGs Gedanken scheinen mir in jedem Falle aber schon des- halb wertvoll, weil sie es recht anschaulich machen, daß wir den Orga- nismus, soviel wir auch von ihm wissen, doch immer nur noch im Groben kennen, und daß zahllose undenkbar feine Vorgänge sich in ihm abspielen, von denen für unser Mikroskop keine Spuren bleiben, daß wir immer nur die Endeffekte aus zahlreichen unsichtbaren, oft in ihrer Feinheit kaum erratbaren Komponenten zu erkennen vermögen. Das sollten diejenigen vor allen beherzigen, die dem Keimplasma gegen- über von Einfachheit sprechen. Soviel ist jedenfalls sicher: gäbe es eine Vererbung funktioneller Abänderungen, so wäre damit ein weiterer Beweis für die Zusammensetzung des Keimplasmas aus Determinanten geführt, denn ohne sie wäre keine Möglichkeit, daß die Erlebnisse eines einzelnen Organs sich derart auf den Keim übertrügen, wie es das LAmArcKsche Prinzip verlangt! Etwas und zwar etwas Materielles muß im Keimplasma sich ändern, wenn die starke Übung einer Muskelgruppe, einer Drüse oder einer Nervenzelle sich auf den Keim übertragen soll, und zwar nicht das ganze Keim- plasma, sondern nur soviel davon, daß die entsprechende Zellengruppe des Kindes gerade eben dadurch verändert wird. Man wird vielleicht finden, dab nötige noch keineswess zur Annahme besonderer Deter- minanten dieser Zellengruppe, man könne sogar mit HERBERT SPENCER das Keimplasma aus lauter gleichen Teilchen zusammengesetzt sein lassen, die dann in der Ontogenese sich entsprechend den verschiedenen gesetzmäßig wechselnden Einflüssen, denen sie hier oder dort unter- liegen, sich verändern, so brauche dann in jedem von diesen sehr kompliziert gebauten Einheiten (Units) sich bloß eine einzige Molekel, vielleicht nur ein einziges Atom zu verändern, um im Laufe der Ent- wicklung später gerade” nur die betreffende Zellengruppe in etwas ver- änderter Stärke sich anlegen zu lassen. Ich glaube nun nicht, daß ein chemisches Molekel oder gar ein Atom dazu genügt, aus Gründen, die ich früher schon angeführt habe — aber stoßen wir uns daran einmal nicht. sondern ziehen die Konsequenzen aus diesem Zugeständnis, so folgt daraus, daß das „Unit“ aus zahlreichen oder zahllosen „Molekeln“ oder „Atomen“ sich zusammensetzt, von denen ein jedes durch Veränderungen, die es erleidet, einen be- stimmten Körperteil in bestimmter Weise verändert: mit anderen Worten: wir haben wieder eine Determinantenlehre, nur in einem gewaltig verkleinerten Maßstab, indem nun ein jedes unsichtbar kleinste Lebensteilchen oder „Unit“ schon alle Determinanten in sich enthält, während nach meiner Vorstellung erst die Ide, d. h. die sichtbaren Chromosomen den Determinantenkomplex in sich einschließen. Eine solche Theorie wäre also nicht eine Vereinfachung, sondern eine unge- heure Komplizierung der meinigen, und zwar, ohne daß dadurch irgend etwas gewonnen würde. Höchstens wird dadurch noch anschaulicher gemacht, wie undenkbar verwickelt die Nervenleitungen sein müßten, welche von dem durch Übung veränderten Teil des Körpers nach dem Das LAmMARcKsche Prinzip. 95 Keimplasma hin, und dort zu all den unzähligen „Molekeln“ oder „Atomen“ der einzelnen „Units“ hinlaufen müßten. Aber auch bei der von mir angenommenen Struktur des Ids aus lebendigen Determinanten wäre — wie schon gesagt — eine solche Nervenleitung eine Ungeheuer- lichkeit, die wohl niemand annehmen würde und eben deshalb glaube ich, daß mein Argument von der Unvorstellbarkeit der Übertragung der Veränderungen des Personalteils auf den Germinalteil trotz HERINGS interessantem Vergleich sein (rewicht behalten wird. Wäre die Vererbung funktioneller Abänderungen eine unbestreit- bare Tatsache — ich wiederhole es — dann müßten wir uns ihr beugen, und dann möchte das „Gedächtnis der organisierten Materie“ als eine Ahnung von der Möglichkeit des unbegreiflichen Vorgangs gelten dürfen. Solange aber ein solches Geschehen in keiner Art, weder direkt noch indirekt erwiesen werden kann, wird uns eine so vage Erklärungs- möglichkeit nicht zur Annahme eines unbewiesenen Vorgangs bewegen dürfen. XXV. VORTRAG. Germinalselektion. Worauf beruht das Schwinden bei Nichtgebrauch, wenn nicht auf dem LAMARCKschen Prinzip? p. 96, Panmixie p. 97, Romanes p. 95, Schwankungen im Determinanten- system des Keimplasmas durch ungleiche Ernährung p. 99, Beharrungsvermögen germinaler Variationsriehtungen p. 100, Schwinden funktionsloser Teile p. 101, Uber- wiegen der Minusvariationen p. 102, Gesetze des Rückschreitens nutzloser Teile p. 103, Variation nach Aufwärts p. 104, Künstliche Züchtung p. 104, Einfluß der Vielheit der Ide und der geschlechtlichen Fortpflanzung p. 106, Personalselektion beruht auf Entfernung gewisser Idvarianten p. 107, Wirkungskreis der Germinalselektion p. 107, Selbstregulierung des gegen Stabilität strebenden Keimplasmas p. 108, Beharren auf- steigender Variationsrichtungen bis zum Exzeß p. 110, Ursprung sekundärer Ge- schlechtscharaktere p. 111, Bedeutung rein morphologischer Merkmale p. 112, Schmetter- lingszeichnung p. 113. Meine Herren! Nachdem wir nun erkannt haben, daß die An- nahme einer Vererbung funktioneller Anpassungen nicht gerechtfertigt ist, lassen Sie uns herantreten an die so mannigfaltigen Erscheinungen, zu deren Erklärung man des Lamarckschen Prinzips nicht entbehren zu können meinte, und uns die Frage vorlegen, ob wir denn imstande sind, eine andere Erklärung für dieselben zu geben. Auf welchem Weg kommt der Schein zustande, als ob die Wirkungen von Gebrauch und Nichtgebrauch sich vererbten? Reichen wir mit dem Sektionsprinzip aus und mit der Naturzüchtung DAarwıns und WALLACES? Die Antwort auf diese beiden Fragen finden wir am raschesten, wenn wir damit beginnen, für das Schwinden eines Teils bei Nicht- gebrauch die Erklärung zu suchen. Daß dieselbe nicht im LamArckschen Prinzip liegen kann, haben wir daran erkannt, daß auch passiv funktionierende Teile, wie über- flüssige Flügeladern, schwinden, und daß Wegfall der Flügel und Ver- kümmerung der Ovarien auch bei den Arbeiterinnen der Ameisen ein- getreten sind, die nichts vererben können, weil sie sich nicht fortpflanzen. Man könnte nun vielleicht geneigt sein, einen direkten Vorteil in dem Schwinden und endlichen Wegfall eines nicht mehr gebrauchten Organs zu sehen, also sich vorzustellen, daß die Ersparnis an Material und Raum, die dadurch bewirkt wird, von entscheidendem Vorteil für das einzelne Tier und damit für die Erhaltung der Art sein könne, daß also hier diejenigen im Vorteil im Kampf ums Dasein wären, welche das überflüssige Organ in kleinster und reduziertester Ausführung besitzen. Allein damit reichen wir nicht entfernt zur Erklärung der Erscheinungen aus; die individuellen Schwankungen in der Größe eines in Rückbildung begriffenen Organs sind in den allermeisten Fällen viel Germinalselektion. 97 zu gering, als daß sie Selektionswert haben könnten, ja ich wüßte Ihnen _ keinen Fall zu nennen, bei welchem man das Gegenteil mit nur einiger Wahrscheinlichkeit annehmen dürfte. Was sollte es einem im Dunkeln lebenden Molch oder einem Krebs nützen, daß sein Auge um eine Varia- tionsnummer kleiner und verkümmerter wäre, als das seines Konkurrenten im Kampf ums Dasein? Oder, um das drastische Beispiel HERBERT SPENCERS zu gebrauchen, wie könnte bei einem Koloß, wie dem grön- ländischen Wal, die um einige Zoll geringere Länge seiner Hinterbeine den Ausschlag geben über Leben und Tod gegenüber seinen (renossen mit minder reduzierten Hinterbeinen? Eine so geringe Ersparnis an Material verschwindet den Tausenden von Zentnern gegenüber, welche das Tier wiegt. Solange die Gliedmaßen noch über die Fläche des Rumpfes hervorragen, mögen sie ein Hindernis für das rasche Schwimmen des Tieres bilden, obgleich auch dies schwerlich viel ausmachen wird, sobald sie aber in der phyletischen Entwicklung der Wale schon so ver- kleinert waren, daß sie unter die Fläche der Haut hinabsanken, da bildeten sie kein Hindernis mehr für das Schwimmen, und ihre weitere Verkleinerung bis zu ihrem heutigen gänzlich im Fleisch des Tieres verborgenen und stark verkümmerten Zustand kann auch auf negative Selektion nicht bezogen werden. Ich habe nun vor Jahren schon versucht, das Verkümmern nicht- gebrauchter Teile durch einen Vorgang zu erklären, den ich Panmixie nannte. Naturzüchtung bewirkt nicht nur die Anpassungen, sondern sie erhält auch die Organe auf der einmal erreichten Höhe der An- passung durch stete Beseitigung der Individuen, bei denen das be- treffende Organ etwa in minder hoher Vollkommenheit vorkommt. Da- durch muß eine um so größere Konstanz des betreffenden Organs her- vorgerufen werden, je länger dieser Prozeß der konservirenden Auslese andauert, und Abweichungen vom vollkommenen Organ werden mit der Zeit immer seltener auftreten. Wenn nun diese erhaltende Tätigkeit der Naturzüchtung es be- wirkt, daß die Teile und Organe der Art sich auf der vollen Höhe erhalten, so folgt daraus, daß sie von ihr herabsinken müssen, sobald diese Tätigkeit einmal aufhören sollte. Sie hört aber auf, sobald ein Organ keinen Nutzen mehr für das Tier hat, wie z. B. das Auge für eine Kruster-Art, die in die dunkle Tiefe unserer Seeen dauernd hinabsteigt, oder in die Abgrundzone des Ozeans oder in unterirdische Höhlensysteme. In diesem Falle hört jede Selektion der Individuen in bezug auf das Auge auf: es ist gleichgültig für das Überleben im Kampf ums Dasein, ob das Auge vollkommen ist oder weniger vollkommen, weil kein Individuum durch schlechtere Augen mehr in Nachteil gesetzt, etwa an dem Erwerb seiner Nahrung gehindert wird. Die schlechter Sehenden werden also ceteris paribus eben so gut Nachkommen erzielen als die vortreftlich Sehenden, und dıe Folge davon muß eine allgemeine Verschlechterung des Auges sein, weil die schlechten Augen sich nun eben so gut vererben wie die guten, und so die Reinzuceht guter Augen unmöglich machen. Die so entstehende Mischung ist etwa zu vergleichen der eines feinen Weins, dem man ein Liter Essig zusetzt; das ganze Faß wird dadurch verdorben, weil sich der Essig mit jedem Tropfen des Weins mischt. Da nun bei jedem Teil einer jeden Art Schwankungen stets vorkommen, darunter immer auch solche sind, die das betreffende Or- Wolsmann, Doszendenzthoorio. II. 2, Aufl ‘ 98 Germinalselektion. san minderwertıg machen, zuerst vielleicht selten, bald aber in jeder (Generation, so ist ein Herabsinken des Organs von der Stufe möglichster Vollkommenheit unvermeidlich, sobald es über- flüssig wird. Die funktionelle Unbrauchbarkeit des Organs muß auch immer mehr zunehmen, je länger die Nutzlosigkeit desselben andauert, wie man zugeben wird, wenn man bedenkt, daß nur das vollkommenste Zusammenpassen aller einzelnen Teile ein Organ leistungsfähig erhalten kann, dab aber alle Teilstücke eines Organs variieren, und daß jede Abweichung vom Optimum eine weitere Verschlechterung des Ganzen bedeutet. Ein Auge z. B. kann überhaupt nicht mehr in der Rich- tung „besser“ variieren, weil es schon die äußerste mögliche Höhe seiner Güte erreicht hat; es muß durch jede Veränderung schlechter werden. RoMANES hat diese Idee, daß Nachlaß der Naturzüchtung allein schon den Rückschritt eines Teils veranlassen müsse, schon ein Jahr- zehnt vor mir ausgesprochen, ohne daß er selbst, noch die damalige Wissenschaft dem Gedanken gröberes (rewicht beilegte, so daß er wieder in Vergessenheit geriet. Das war begreiflich, insofern damals die Gül- tigkeit des LAMARCKSchen Prinzips noch nicht angefochten worden war, man also eines anderen Prinzips zur Erklärung des Schwindens nichtgebrauchter Teile noch nicht bedurfte. Ich selbst befand mich in der entgegengesetzten Lage. Als sich meine Zweifel am LAMARcKschen Prinzip mehr und mehr verstärkten, mußte ich einen Umwandlungsfaktor zu entdecken suchen, der das Verkümmern bei Nichtgebrauch allein aus sich heraus schon be- wirkt, und eine Zeit lang glaubte ich diesen in der Panmixie, d.h. der Vermischung Aller, der gut und der schlecht Ausgerüsteten gefunden zu haben. Wirksam ist dieser Faktor ja sicher, aber je mehr ich die Frage durchdachte, um so klarer wurde es mir, daß noch etwas An- deres mitspielen muß, dab Panmixie allein zwar wohl das funktio- nelle Schlechterwerden des Organes erklärt, nieht aber seine Abnahme an Gröbe, sein allmähliches Schwinden und sein zuletzt eintretendes völliges Verschwinden. Und doch ist das der Weg, den alle völlig nutzlos gewordenen Organe gehen, langsam zwar aber ganz sicher. Wenn aber nur Panmixie das Verkommen des Organs leitete, wenn also nur zufällige Variationen es wären, die durch Panmixie vererbt, und nach und nach über die ganze Art ausgebreitet würden, wie käme es, daß stets nur Variationen nach „kleiner“ sich einstellten ? — was doch offenbar der Fall ist. Warum sollten nicht auch Varia- tionen nach „größer“ vorkommen? und wenn das der Fall wäre, warum sollte dann ein nutzloses Organ nicht auf der ursprünglichen Größe sich erhalten können, wenn man denn auch zugeben wollte, daß ein Nochgrößerwerden durch Naturzüchtung verhindert werden würde? Und doch kommt dies nie vor, und das Kleinerwerden ist so sehr aus- nahmslose Regel, daß man mit dem Begriff eines „rudimentären“ Organs fast mehr an das „klein“ als an das „unvollkommen“ des- selben denkt. Es muß also noch etwas Anderes mit im Spiele sein. welches bewirkt, daß bei einem nutzlos gewordenen Organ die Minus-Varia- tionen «die Plus-Variationen stets und dauernd überwiegen, und dieses Etwas kann nirgends anders liegen, als da, wo die Wurzel aller erblichen Variationen liegt: im Keimplasma. Durch diesen Ge- dlankengang werden wir also auf die Auffindung eines Prozesses ge- —t- ————-- —— —— Germinalselektion. 99 leitet, den wir als Selektion zwischen den Elementen des Keimplasmas bezeichnen müssen, oder wie ich ihn kurz genannt habe als Ger- minalselektion. Wenn die Substanz des Keimplasmas — wie wir annahmen — aus ungleichen lebenden Teilchen zusammengesetzt ist, welche un- gleichen Anteil an dem Aufbau des Organismus haben, so folgt daraus allein schon, daß sie sich zu einander in einem bestimmten labilen Gleichgewichtszustand befinden müssen, der nicht gestört werden kann, ohne daß nicht auch der Bau des Organismus selbst, der aus dem Keimplasma hervorgeht, sich anders gestaltet. Wenn aber weiter unsere Ansicht richtig ist, nach welcher diese einzelnen und verschie- denen lebendigen Einheiten des Keimplasmas „Determinanten“ sind, d.h. Anlagen bestimmter Teile des Organismus in dem Sinn, daß diese Teile nicht entstehen könnten, falls ihre Determinanten im Keimplasma fehlten, und daß sie anders ausfallen würden, wären jene in anderer Weise zusammengesetzt, so ergeben sich weittragende Folgerungen daraus. Wohl können wir von dem feinsten Bau des Keimplasmas direkt nichts erfahren, und auch von den Lebensvorgängen im Innern ver- mögen wir nur sehr wenig zu erraten, aber soviel wenigstens läßt sich sagen. daß seine lebendigen Teilchen ernährt werden und sich vermehren. Daraus aber folgt, daß Nahrung in gelöstem Zustand zwischen diese Lebensteilchen eindringt, und weiter, daß es von der Menge der den einzelnen Determinanten zufließenden Nahrung in erster Linie abhängt, ob und wie schnell dieselben wachsen. Solange die Keimzellen sich durch Teilung vermehren, haben die Determinanten keine andere Funktion, als die des Wachsens:; ein Teil ihrer Substanz verbrennt und liefert dabei die zur Assimilation, d. h. zur Bildung neuer lebender Substanz nötige Energiemenge. Würde nun jeder Determinantenart stets genau die gleiche Menge von Nahrung zufließen, so würden alle in dem gleichen Maß wachsen müssen, nämlich genau entsprechend ihrer Assimilationskraft. Nun wissen wir aber, daß in gröberen Verhältnissen, die wir direkt beobachten können, nirgends absolute Gleichheit vorkommt, daß alle Lebensvorgänge Schwan- kungen ausgesetzt sind; irgendwelche kleine Hindernisse in dem Zu- strömen der Nahrungsflüssigkeit oder in ihrer Zusammensetzung ver- ursachen schlechtere Ernährung des einen, bessere des anderen Teils. Dergleichen Unregelmäßigkeiten und Ungleichheiten nun werden wir in den kleinsten, für uns unkontrollierbaren Verhältnissen des Keimplasmas ebenfalls voraussetzen dürfen, und die Folge derselben wird eine je- weilige leise Verschiebung des Größen- und Stärkegleich- gewichts des Determinantensystems sein: denn die schwächer ernährten Determinanten werden langsamer wachsen, geringere Größe und Stärke erreichen und sich langsamer vermehren. Nun hängt aber die Wachstumsstärke nicht bloß an dem Zufluß der Nahrung; in derselben Nährflüssigkeit wächst die eine Zelle rasch, die andere langsam; sie hängt vielmehr zugleich zum großen Teil von der Assimilationskraft der Zelle ab. So wird auch die Assimilations- kraft der Determinanten, ihre Affinität zur Nahrung eine verschiedene sein, je nach ihrer Konstitution, und eine schwächere Determinante wird bei gleicher Nahrungszufuhr doch kleiner bleiben als eine kräftigere. Auf der durch die Zufälligkeiten der Nahrungszufuhr bedingten ungleichen Ernährung der Determinanten scheint mir nun in letzter -. ‘ 100 Germinalselektion. Instanz die individuelle erbliche Variabilität zu beruhen. Wenn durch sie z. B. die Determinante A zu einer bestimmten Zeit etwas schlechter mit Nahrung versorgt wird als die Determinante 2, so wächst sie dann langsamer, bleibt schwächer und wird, wenn die Keim- zelle sich zum Tier entwickelt, den betreffenden Teil schwächer hervor- rufen, als er bei anderen Individuen zu sein pflegt. Jedenfalls sind diese primären Ungleichheiten in der Ausbildung der Determinanten, wie sie durch eine vorübergehende Ungleichheit des Nahrungsstromes verursacht werden, viel zu gering, um von uns in ihren Folgen beobachtet werden zu können. Sie müssen erst längere Zeit andauern, um bemerkbar zu werden, aber sie werden auch längere Zeit andauern können, und ihre Wirkungen müssen sich dann sum- mieren, weil jedes Schwächerwerden der Determinante auch zugleich eine Minderung ihrer Assimilationskraft bedeutet, weil somit das Wachstum sich aus dem doppelten Grunde verlangsamt, dab pas- sive und aktive Ernährung zugleich abnehmen. Wir wissen ja aus den gröberen Verhältnissen der histologischen Elemente des Körpers, dab die Funktion das Organ kräftigt, Nichtübung dasselbe schwächt, und wir sind berechtigt, diesen Satz auch auf diese kleinsten Verhältnisse und Lebenseinheiten anzuwenden. So muß also im Verlauf der Ver- mehrung der Keimzellen die schwächer arbeitende Determinante 4 nach und nach, wenn auch sehr langsam, immer schwächer, d. h. immer weniger assimilationskräftig werden, vorausgesetzt, daß der intragermi- nale Nahrungsstrom an der betreffenden Stelle nicht etwa wieder ein stärkerer wird, auf welche Möglichkeit ich später wieder zurückkomme. Während aber die eine Determinante langsam schwächer wird, kann ihre Nachbarin gerade dadurch in aufsteigende Variation geraten, dab erstere (die zufließende Nahrung nicht mehr vollständig bewältigen kann infolge ihrer gesunkenen Assimilationskraft u. s. w. So werden die Determinanten hier in auf-, dort in absteigende jewegung geraten und in solchen Schwankungen des Gleich- gewichtes des Determinantensystems sehe ich die Wurzel aller erblichen Variation, darin aber, daß die Variationsrichtungen be- stimmter Determinanten sich unbegrenzt weiter fortsetzen müssen, SO- lange sich dem kein Hindernis entgegenstellt, liegt die Möglichkeit der Anpassung des Organismus an die wechselnden Verhältnisse, das Emporsteigen und Umgestalten des einen Teils, das Verkümmern und Schwinden des anderen, kurz die Vorgänge der Naturzüchtung. Der Grund aber, warum solche Variationsbewegungen sich fortsetzen müssen, bis sie auf Widerstand stoßen. liegt darin, daß jede zufällige, d.h. durch bloße passive Nahrungsschwankung veranlaßte Auf- oder Ab- wärtsbewegung einer Determinante diese zugleich stärkt oder schwächt, sie also die Nahrung noch stärker oder noch schwächer als vorher an- zuziehen befähigt; im ersteren Fall wird sich ein immer stärkerer Nah- rungsstrom gegen sie hin bilden, im letzteren werden ihr die Nachbar- determinanten von allen Seiten her in steigender Progression mehr Nahrung entziehen; im ersteren wird sie solange immer stärker werden, als sie den Nahrungsstrom noch stärker auf sich lenken kann, im letz- teren wird sie solange schwächer werden, bis sie überhaupt verschwindet. Für die aufsteigende Progression sind, wie leicht zu ersehen, Grenzen gesetzt, nicht nur in der begrenzten Nahrungs- menge, welche in dem ganzen Id zirkulieren kann, sondern auch ın den Nachbardeterminanten, welche früher oder später einer weiteren Nah- | Schwinden funktionsloser Teile. 101 rungsentziehung Widerstand leisten werden, für die absteigende Pro- gression aber gibt es keine Grenze, als den völligen Schwund, der denn auch in allen den Fällen wirklich eintritt, in welchen es sich um die Deter- minante eines nutzlos gewordenen Teils handelt. Beide Bewegungen aber, die aufwärts, wie die abwärts gerichtete, haben zunächst nichts mit Naturzüchtung, d.h. Personalselektion zu tun, sie sind Vorgänge eigener Art, die sich abspielen rein nach intragerminalen Gesetzen. Ob eine Determinante sinkt oder steigt, das hängt in allen Fällen nur von dem Spiel der Kräfte im Innern des Keimplasmas ab, nicht etwa davon, ob die betreffende Variationsrichtung nützlich oder schädlich, ob das be- treffende Organ, die Determinate, von Wert oder ohne solchen ist. Darin gerade liegt die hohe Bedeutung dieses Kräftespiels im Keimplasma, daß es ganz unabhängig von den Beziehungen des Organismus zur Außenwelt Variationen schafft. Dann freilich greift Personal- selektion in vielen Fällen ein, aber auch dann kann sie nicht das Steigen oder Sinken der einzelnen Determinante direkt bewirken, das sind Vorgänge, die ihr gänzlich entzogen bleiben; aber sie kann durch Ent- fernung der Träger ungünstig variierender Determinanten dem weiteren Fortschreiten soleher Richtungen ein Ziel setzen, wie wir gleich noch im Genaueren sehen werden. Personalselektion wirkt durch Entfernung ungünstig variierender Individuen aus dem genealogischen Stammbaum der Art, damit aber entfernt sie zugleich auch ungünstig variierende Determinanten und unterbricht damit für alle Zeit ihr Variieren. Ich habe diese im Innern des Keimplasmas sich unausgesetzt ab- spielenden Vorgänge als Germinalselektion bezeichnet, weil sie das Analogon jener Vorgänge der Selektion sind, welche wir an den gröberen Lebenseinheiten, den Zellen, Zellengruppen und Personen schon kennen. Ist das Keimplasma ein Determinantensystem, dann müssen auch zwischen seinen Teilen dieselben (resetze des Kampfes ums Dasein, um Nahrung und Vermehrung in Kraft sein, welche zwischen allen Systemen leben- diger Einheiten Gültigkeit haben, zwischen den Biophoren, welche das Protoplasma des Zellkörpers bilden, zwischen den Zellen eines (rewebes, zwischen den Geweben eines Organs, zwischen den Organen selbst, wie zwischen den Individuen einer Art und zwischen den miteinander kon- kurrierenden Arten. Wenn dem aber so ist, dann haben wir damit die Erklärung für jede erbliche Abänderung eines Teiles in der Hand, aufsteigende, wie absteigende. Betrachten wir zuerst die letzteren etwas näher, also das Schwinden funktionsloser oder unnützer Organe, so ist es klar, daß von dem Augenblick an, wo im Leben einer Art ein Organ N unnütz wird, Naturzüchtung ihre Hand von ihm abzieht: Individuen mit besseren und schlechteren Organen N sind nun gleich lebens- und konkurrenzfähig: der Zustand der Panmixie tritt ein. und das Organ V sinkt dadurch notwendig um etwas von seiner ursprünglichen Höhe herab. Daß dem so sein muß, werden Sie zugeben, wenn Sie Sich er- innern, daß jedes Organ einer Art nur dadurch auf seiner Höhe er- halten wird, daß Personalselektion unausgesetzt über dasselbe wacht und alle minderwertigen Varianten desselben durch Ausmerzung der be- treffenden Individuen beseitigt. Dies hört nun auf. Wenn jetzt durch die intragerminalen Nahrungsschwankungen eine schwächere Variante des unnützen Organs ‚V entsteht, so vererbt diese sich ebensogut auf Nachkommen, wie das normal entwickelte Organ, und kann sich im F 102 Germinalselektion. Laufe der Generationen auf immer zahlreichere Individuen, ja sie muß sich schließlich auf alle in irgend einem Grad vererben. Man hat mir vielfach eingeworfen, daß Varianten nach oben eben so viel Aus- sicht hätten zu entstehen, also solche, nach unten, allein dies ist ein Irrtum. Möchten selbst im Anfang die Minusvariationen seltener sein als die Plusvariationen, so müßten doch im Laufe der (Greneration die Minusvariationen überwiegen, weil aufsteigende Varianten des nutzlosen Organs nicht gleichgültig für den Organismus sind, sondern nachteilig. Vielleicht wirkt eine Vergröberung des nutzlos gewordenen Organs selbst noch nicht nachteilig, wohl aber die seiner Determinante, denn die Nahrung, welche eine aufsteigende Determinante mehr braucht als vorher, entzieht sie ihrer Umgebung, also den sie unmittelbar um- gebenden Determinanten; diese aber sind solche von funktionierenden, somit unentbehrlichen Teilen. Individuen also, in deren Keimplasma die Determinante des nutzlosen Organs dauernd aufstieg, und dadurch die Determimanten noch tätiger Organe herabdrückte, würden durch Personalselektion ausgemerzt. Es bleiben also bloß solche mit ab- steigenden Determinanten übrig, mit anderen Worten: die Aussicht auf Schwächungsvarianten der nutzlosen Determinante über- wiegt bei weitem die auf Stärkungsvarianten; letztere werden sehr bald überhaupt nicht mehr vorkommen, denn sobald einmal eine Determinante von ihrer normalen Höhe auch nur etwas herabgesunken ist, befindet sie sich damit auf einer schiefen Ebene, auf der sie sehr langsam zwar, aber unaufhaltsam abwärts gleitet. Man könnte auch das bestreiten, indem man behauptete, dab auf jeder Stufe des Abwärtssinkens wieder eine Umkehr eintreten könne, allein dies wird wohl nur selten und nur in einzelnen Iden, also vorüber- gehend vorkommen, und zwar deshalb, weil im allgemeinen die kräftigeren Nachbardeterminanten sich der überschüssigen Nahrung bemächtigen und so der geschwächten Determinante N ein dauerndes Emporkommen unmöglich machen werden. Das ist ja eben, was ich Germinalselektion nenne. Die um weniges schwächer assimilierenden Determinanten V werden von ihren stärkeren Nachbarn stets eines Teils der ihnen zu- fließenden Nahrung beraubt werden, und müssen infolgedessen eine neue Schwächung erleiden. Da ihnen nun niemals mehr durch Natur- züchtung wieder aufgeholfen wird, indem das Organ für die Art keinen Wert mehr besitzt, so können sich die Determinanten NM auch nie durch Auswahl der besseren unter ihnen wieder heben, sie müssen vielmehr in dem Kampf mit den für die Art notwendigen Determinanten, die sie umgeben, allmählich unterliegen, indem sie immer schwächer werden und schließlich schwinden. Mathematisch beweisen läßt sich freilich dieser Vorgang so wenig, als andere biologische Vorgänge. Wer Germinalselektion nicht an- nehmen will, der kann nicht dazu gezwungen werden, wie etwa zur Annahme des Pythagoreischen Satzes. Sie ist nicht, wie dieser, von unten her aufgebaut, sondern der Versuch einer Erklärung für eine durch Beobachtung festgestellte Tatsache: das Schwinden nutzloser Teile. Allein, nachdem einmal die Vererbung funktioneller Abänderungen als eine Täuschung nachgewiesen ist, ja nachdem gezeigt ist, daß selbst mit der Annahme einer solchen Vererbung das Schwinden nur passiv nützlicher Teile, sowie das erbliche Abändern bei sterilen Tierformen nicht erklärt werden kann, verzichtet man auf jede Erklärung, sobald man Germinalselektion nicht annimmt. N —— s Schwinden funktioneller Teile. 103 Es ist wie bei Personalselektion. Niemand vermag mathematisch zu beweisen, daß irgend eine bestimmte Abänderung Selektionswert besitze, aber wer Personalselektion verwirft, der verzichtet damit aut jede Erklärung der Anpassungen, denn diese können nicht auf rein innere Entwicklungskräfte bezogen werden. Das gänzliche Verschwinden eines nutzlosen Teils erfolgt in- dessen ganz überaus langsam; die Wale, die doch schon seit dem Beginn der Tertiärzeit als solche existieren, haben heute ihre hinteren Gliedmaßen noch nicht völlig verloren, sondern tragen sie als Rudi- mente in der Muskelmasse ihres Rumpfes mit sich herum, und die Vögel, die noch weit älter sind, zeigen heute noch in der Embryonal- anlage die fünf Finger ihrer Reptilienvorfahren, obgleich schon ihre Vogelahnen der Juraperiode. wenn wir nach dem Archaeopteryx schließen dürfen, nur drei Finger noch besaßen, ähnlich, wie die heutigen Vögel. Eine lange Reihe solcher Beispiele ließe sich auf- führen, und besonders die moderne Embryologie hat deren viele bei- gebracht, welche, wie dieses Beispiel der Vogelfinger, auf eine gewisse Gesetzmäßigkeit im Schwinden der einzelnen Teile eines überflüssig ge- wordenen Organs hindeuten. Teile welche im fertigen Tier spurlos verschwunden sind, erscheinen doch noch in jeder Embryonalanlage aufs neue, um dann erst im Laufe der Ontogenese zu verschwinden. Bild- lich gesprochen, könnte man dies auf Grund der Determinantenlehre so ausdrücken. daß die Determinanten des schwindenden Organs, indem sie immer schwächer werden, einen immer geringeren Weg der ganzen Ontogenese des Organs mehr bestimmen können, so daß das- selbe zuletzt nur noch in seiner ersten Anlage zustande kommt. Doch ist das nur ein Gleichnis; die Wirklichkeit können wir hier nicht er- schließen, solange wir die physiologische Rolle der Determinanten nicht kennen, noch auch nur die Gesetze des Rückschreitens nutzloser Organe. In letzterer Beziehung wird sich noch manches erreichen lassen, wenn vergleichende Anatomie und Embryologie bewußt auf dieses Ziel lossteuern, und vielleicht werden sich daraus dann auch bestimm- tere Schlüsse auf die Zusammensetzung und die Tätigkeit der Deter- minanten im Keim ziehen lassen. Für jetzt müssen wir uns damit begnügen, einzusehen, daß unter der Voraussetzung von Determinanten sich das Schwinden nutzlos gewordener Organe als ein Prozeß der Intraselektion begreifen läßt, der sich zwischen den „Anlagen“ des Keimplasmas abspielt, und der auf demselben Prinzip des „Kampfes der Teile“ beruht, welches WirHerLm Roux so glänzend und fruchtbringend in die Wissenschaft eingeführt hat. Wenn überhaupt ein Kampf um Nahrung und Raum stattfindet, dann muß wohl jedes zufällige passive Schwächerwerden zu einem dauernden Schwächezustand, und einem anhaltenden und unwiderruflichen Herabsinken der Größe und Stärke der betreffenden „Anlage“ führen, falls nicht „Personalselektion“* ein- greift, und durch Auswahl der in bezug auf die betreffende Anlage Stärksten unter den (Geschwächten die Anlage wieder auf ihre normale Höhe hebt. Dies aber geschieht eben dann nicht, wenn das Organ nutzlos geworden ist. So erklärt es sich, daß nicht nur Teile mit aktiver Funktion, wie Gliedmaßen, Knochen, Muskeln, Bänder, Nerven und Drüsen schwinden, wenn sie funktionslos werden, sondern auch passiv wirkende Teile, wie die Färbung der äußern Flächen der Tiere, wie die leblosen 104 Germinalselektion. Skelettstücke der Gliedertiere und die genaue Anpassung ihrer Dicke an die nachlassende Funktion, das Schwinden überflüssig ge- wordener Flügeladern, das Schwinden des harten Chitinpanzers des Hinterleibs, wenn derselbe wie bei Einsiedlerkrebsen, Phryganiden und Psychiden in ein schützendes Gehäuse geborgen wird. Dadurch allein aber erklärt es sich auch, wie funktionslos gewordene Teile, z. B. die Flügel der Ameisen, bei ihren sterilen Arbeiterinnen schwinden können. Das Prinzip der Germinalselektion zeigt sich aber in seiner ganzen Bedeutung erst dann, wenn wir auch die positive Seite (desselben mit in Betracht ziehen. Wir waren zu dem Satz gekommen, dab durch Schwankungen des Nahrungszuflusses ein Teil der homo- losen, verschiedenen Iden angehörenden Determinanten nach der Minus-, ein anderer Teil nach Plusrichtung hin variiere, und dab diese Richtung so lange beibehalten werde, als nicht irgend welche intra- germinale Hindernisse sich dem entgegenstellen. Solange also letzteres nicht geschieht, wird die einmal eingeschlagene Variationsrichtung der betreffenden Determinanten beibehalten, ja sie muß sich allmählich ver- stärken, weil eben jede passive Änderung nach oben oder nach unten zugleich eine Stärkung oder Schwächung der Assimilationskraft der De- terminante zur Folge hat. Setzen wir nun den Fall positiver Variation der Determinanten eines Organs N, welches der Art in noch stärkerer Ausführung nütz- lich wäre, als die ist, die es bis jetzt gehabt hat. Die Variation nach aufwärts ist zuerst eine rein passive, durch zufällige Nahrungsschwan- kung entstanden, sie wird aber bald eine aktive, indem die stärker ge- wordene Determinante nun auch stärkere Affinitäten zur Nahrung ge- winnt, also stärker die Nahrung anzieht. Dadurch erhält sich der ver- stärkte Nahrungsstrom, dessen allmähliches Resultat eine derartige Ver- stärkung der Determinante im Laufe der Keimzellen-Generationen sein muß, daß der betreffende «durch diese Determinante bestimmte Teil — die Determinate — in einer Plusvariation auftreten muß. Kommt nun noch Auswahl der Personen durch natürliche oder künstliche Züchtung hinzu, so wird dadurch ein Schwanken dieser Anlage nach (der Minusseite gänzlich verhindert, die Variationsrichtung der Deter- minante bleibt die positive, und das fortgesetzte Eingreifen der Per- sonalselektion kann die Ausbildung (derselben auf das mögliche Maxi- mum steigern, d. h. so weit, bis weitere Steigerung unzweckmäßig wird, einer solchen also durch Personalselektion Halt geboten werden muß. Dies aber wird immer geschehen, sobald die Steigerung des Organs nachteilig für die Lebensfähigkeit des Ganzen wird, also auch dann, wenn dadurch die Harmonie der Körperteile dauernd gestört würde. Daß nun aufwärts gerichtete Variation wirklich lange Zeit andauern kann, zeigt uns besonders die künstliche Züchtung, wie sie der Mensch an seinen Haustieren und Kulturpflanzen ausgeübt hat. Zuerst tritt dabei Variabilität allgemeiner oder doch vielgestaltiger Art infolge (der stark veränderten Lebensverhältnisse ein; die gewöhnlichen Schwan- kungen der Determinanten verstärken sich durch die verstärkten Schwan- kungen der intragerminalen Ernährungsstörungen, und nun wird es möglich, daß der Mensch die ihm genehmen, zufällig sich darbietenden Variationen einzelner Teile oder auch ganzer Komplexe von Teilen be- Aufsteigende Variation. 105 wußt oder unbewußt zur Nachzucht auswählt, und er vermag so eine lange anhaltende, oft eine scheinbar unbegrenzte Steigerung von Ver- änderungen in derselben Richtung hervorzurufen, obgleich er direkt auf das Keimplasma und seine Determinanten keinen Einfluß ausüben kann: die einmal entstandene Variationsrichtung einer Deter- minante geht eben von selbst weiter, und die Auswahl kann nichts weiter tun, als ihr freie Bahn schaffen, indem sie die anders variierenden Determinanten durch ihre Träger beseitigt. Daß künstliche Züchtung einen Teil steigern kann, steht ja schon lange fest, allein wodurch dies möglich wird, wie es also theoretisch zu erklären ist, war bisher recht dunkel, denn nehmen wir auch den günstigsten Fall, daß beide Eltern die gewünschte Variation besitzen, so kann doch keine Rede davon sein, daß die Charaktere der Eltern sich im Kinde summierten; vielmehr wird dadurch nur die Wahrschein- lichkeit größer, daß der betreffende Charakter A’ im Kinde überhaupt wieder auftritt. z. B. beim Menschen eine krumme oder eine lange Nase. Wohl kann auch eine Steigerung des Charakters die Folge davon sein, daß in beiden Eltern die Determinanten A” in Überzahl vorhanden sind gegenüber heterodynamen Determinanten A’ und A”, denn dadurch wird die Wahrscheinlichkeit wachsen, daß durch Reduktionsteilung und Amphimixis wieder eine überwiegende Majorität von A’- Determinanten das Keimplasma des Kindes zusammensetzt, und ferner, daß diese De- terminanten A” noch stärker dominieren den wenigen A” gegenüber. Es kann also wohl sein, daß aus «den langen Nasen der beiden Eltern eine noch etwas längere des Kindes hervorgeht, oder daß Eltern von bedeutender Körpergröße noch größere Kinder haben, aber solche Steigerungen bleiben auf diese eine Generation beschränkt und führen nieht zu einer dauernden Steigerung des Charakters; dauernde Steige- rung kann nicht bloß auf der Sammlung der Determinanten A’ und ihrer Alleinherrschaft ihren Antipoden A” gegenüber beruhen, sondern nur auf ihrer eigenen Veränderung, und eine solche kann wieder nur auf Germinalselektion, nicht auf Personalselektion beruhen, wenn auch die erstere durch letztere wesentlich gefördert werden kann. Daß die Vererbung von beiden Eltern her bei der Steigerung eines Teils durch künstliche Züchtung nur nebenbei in Betracht kommt, sieht man am besten daraus, laß vielfach sekundäre Sexualcharaktere umgezüchtet worden sind, bei welchen also der Züchter die Auswahl nur bei einem der Eltern in der Hand hat. Dennoch sind gerade auf diesem Gebiete die größten Erfolge erzielt worden; man denke nur an die japanische Rasse der Hähne mit sechs Fuß langen Schwanz- federn. Hier ist dieses überraschende Resultat durch strenge Zucht- wahl der Hähne erreicht worden, deren Federn um ein Geringes länger waren, als die der anderen Hähne, und die Steigerung der Schwanz- federlänge beruhte also — unserer Theorie nach einfach darauf, daß durch Auswahl der bereits im Aufsteigen begriffenen Determinanten dieser Prozeß des Aufsteigens vor einer Unterbrechung durch zu- fällige ungünstige Nahrungszuflüsse bewahrt wurde. Das An- halten der einmal eingeschlagenen aufsteigenden Variationsrichtung wird also nieht direkt durch die Personenauslese bewirkt, wohl aber in- direkt, denn die Steigerung würde ohne (dieses stets von Neuem wieder erfolgende Eingreifen der Züchtung leicht zum Stillstand und sogar zur Umkehr der Variationsrichtung kommen. Es spielen hier noch zwei Momente mit herein, die wir bisher noch nicht genügend beachtet 106 Germinalselektion. haben: die Mehrzahl der Ide in jedem Keimplasma und die ge- schlechtliche Fortpflanzung. Wenn — wie wir annehmen mußten — mehrere oder viele Ide jedes Keimplasma zusammensetzen, so muß auch die Determinante jeden Teiles des Organismus mehr- oder vielfach darin ent- halten sein, denn jedes Id enthält potentia den ganzen Organismus, wenn auch in individueller Färbung. Das Kind wird also nicht durch die Determinanten eines Ids bestimmt, sondern durch diejenigen vieler Ide, und die Variationen irgend eines Körperteils hängen nicht von der Veränderung einer einzigen Determinante X ab, sondern von dem Zu- sammenwirken aller Determinanten X, wie sie in den sämt- lichen Iden des betreffenden Keimplasmas enthalten sind. Also erst, wenn eine Mehrzahl der Determinanten A aufwärts oder abwärts variiert haben, beherrschen sie zusammen die Bildung des Teiles A” und be- wirken, daß derselbe größer oder kleiner ausfällt. Wir haben passive Ernährungsschwankungen als erste Ursache der individuellen Variation angenommen, und es ist klar, daß die Wirkung dieser ersten Ungleichheitsursache bedeutend eingedämmt werden muß durch die Mehrheit der Ide und somit der korrespondierenden homologen Determinanten. Denn wenn auch passive Ernährungsschwankungen bei allen Determinanten fortwährend vorkämen, so wäre doch nicht gesagt, daß dieselben bei den Determinanten X aller Ide in derselben Rich- tung erfolgen müßten, vielmehr können die einen A’ nach aufwärts, die anderen X nach abwärts variieren, und diese Wirkungen können sich in der Ontogenese aufheben; deshalb werden wohl in vielen Fällen die Schwankungen der einzelnen A-Determinanten im Produkt nicht zur Geltung kommen. Da es aber — wie wir später sehen werden — nur zwei Richtungen der Schwankungen gibt, aufwärts und abwärts. so muß es auch vorkommen, dab eine Majorität der- selben Riehtung sich zusammenfindet, und damit ist die Grund- lage gegeben, auf welcher Germinalselektion weiterbauen kann, und auf welcher sie durch die Reduktionsteilung und die nach- folgende Amphimixis sehr wesentlich in ihrer Wirkung unterstützt wird. Denn Reduktionsteilung entfernt die Hälfte der Ide und damit der Determinanten aus der reifen Keimzelle, und je nachdem nun der Zufall eine Majorität gleichsinnig variierender X-Determinanten bei- sammen läßt oder sie trennt, enthält diese eine Keimzelle die Anlage zu einer Plus- oder Minusvariation von X, und es ist möglich, daß erst durch die Reduktion eine Majorität oder Minorität zustande kommt. Das Keimplasma des Elters enthalte z. B. die Determinante X in seinen 20 Iden 12mal in Minusvariation, Smal in Plusvariation, so kann nach unserer Vorstellung die Reduktionsteilung diese 20 Determinanten so in zwei Gruppen trennen, daß die eine acht Plus- und zwei Minus- variationen erhält, die andere zehn Minusvariationen, oder die eine sechs Plus- und vier Minusvariationen, die andere zwei Plus- und acht Minus- variationen u.s.w. Jede Keimzelle nun, welche eine Majorität von Plus- oder Minusvariationen enthält — und bei den meisten muß dies der Fall sein — kann sich, wenn sie zur Amphimixis gelangt, mit einer Keimzelle verbinden, welche auch ihrerseits eine Plus- oder Minus- majorität der Determinante _X enthält, und wenn nun dabei gleich- sinnige, z. B. Plusmajoritäten zusammentreffen, so muß die Plusvariation von X im Kind um so schärfer zum Ausdruck kommen.- t | | (Germinalselektion. 107 Wenn also auch die einzelne Determinante A” dadurch nicht weiter verändert wird, dab viele gleichsinnig variierende mit ihr zusammen- arbeiten, so wird doch die Gesamtwirkung der Plusdeterminanten eine größere dadurch, und zugleich die Sicherung des Einhaltens derselben Variationsriehtung für die folgende (Generation. Denn wenn in dem Keimplasma des Elters z. B. 16 von 20 Iden die Deter- minante _Y in Plusvariation besitzen, so können durch die Reduktions- teilung überhaupt keine Minusmajoritäten mehr entstehen. Gerade darauf nun muß die Wirkung der Naturzüchtung, der Personalselektion, beruhen, dab sie die Keimplasmen mit Majoritäten der bevorzugten Variationsrichtung zur Nach- zucht auswählt,. denn dies und nichts anderes tut sie, wenn sie Individuen auswählt, welche die bevorzugte Variante be- sitzen. Dadurch wird der Prozeß der Steigerung insofern bedeutend gefördert, als dadurch die entgegengesetzt variierenden Determinanten A mehr und mehr aus dem Keimplasma hinausgeschafft werden, so lange bis nur noch die bevorzugten Variationen von A übrig bleiben, unter denen bei fortgesetzter Steigerung der eingeschlagenen Richtung durch Germinalselektion nun ebenfalls wieder die entgegengesetzten Variationen beseitigt werden u.s.f. Reduktionsteilung und Amphimixis sind also mächtige Mittel zur Beförderung der Umwandlung der Lebensformen, wenn sie auch nicht die letzten Ursachen derselben sind. Nachdem wir nun den Gedanken der (Germinalselektion kennen gelernt haben, wollen wir versuchen, uns darüber klar zu werden, was sie vermag, wie weit ihre Wirkungssphäre reicht, vor allem ob sie auch ohne Mitwirkung von Personalselektion dauernde Umgestaltungen der Arten bewirken kann, und welche Art von Veränderungen wir etwa ihr allein zuschreiben dürfen. Zunächst möchte ich noch einmal auf die oben schon kurz be- handelte Frage zurückkommen, ob denn jede Schwankung einer Determinante nach aufwärts oder nach abwärts sich unbe- grenzt fortsetzen muß. Man möchte doch glauben, die große Kon- stanz, welche viele Arten zeigen. stünde damit in grellem Widerspruch, denn wenn jede minutiöse Variation einer Determinante sich unbegrenzt in derselben Richtung weiter fortsetzen müßte, so sollte man erwarten, alle Teile des Organismus in steter Unruhe zu finden, die einen auf- wärts, die anderen abwärts variierend, stets bereit, den Typus der Art zu sprengen. Könnte nicht eine innere Selbstregulierung des Keimplas- mas stattfinden, welche verhindert, daß jede entstehende Variationsrich- tung unbegrenzt andauert? eine Art von Selbststeuerung des Keimplas- mas, welche die einmal erreichte Gleichgewichtslage des Determinanten- systems immer wieder herzustellen bestrebt ist, wenn sie gestört wurde? Es ist schwer, darauf eine sicher begründete Antwort zu geben. Von unserer Kenntnis des Keimplasmas aus können wir nicht ins Reine kommen, da wir in seinen Bau keine Einsicht besitzen, wir können nur aus den beobachteten Variations- und Vererbungserscheinungen auf die Vorgänge im Keimplasma zurückschließen. Da stehen sich denn zwei Tatsachen diametral entgegen, erstens die hohe Anpassungsfähigkeit der Arten und die sichere Beobachtung unbegrenzt fortzehender Variationsrichtungen, wie sie uns die künstliche Züchtung und das Schwinden nutzlos gewordener Teile vor Augen führen und zweitens die hohe Konstanz alter Arten, welche zwar auch immer einen gewissen Grad individueller Variabilität aufweisen, aber ohne daß «daraus 108 Germinalselektion. häufig und nach allen möglichen Richtungen stärkere Abweichungen hervorwüchsen, wie es doch sein müßte, wenn jede von zufällig stärkerer Nahrungsströmung begünstigte Determinante notwendig und unaufhalt- sam in derselben Richtung sich weiter veränderte. Oder sollte die Konstanz solcher Arten lediglich durch Personalselektion erhalten werden, welche fort und fort jede über Selektionswert hinaus sich steigernde Determinante durch Ausmerzung ihres Trägers beseitigt? Ich habe mir lange die Sache so zurechtgelegt, und ich zweifle auch heute nicht, daß Personalselektion in der Tat die Konstanz der Art auf einem gewissen Niveau erhält, aber ich glaube nicht, daß wir damit ausreichen, daß wir vielmehr genötigt sind, auch eine ausgleichende Wirkung der (Germinalselektion anzuerkennen, und ihr einen Teil der Konstant- erhaltung einer längst gut angepaßten Art zuzuschreiben. Hauptsäch- lich die Erscheinungen der Variation beim Menschen bestimmen mich zu dieser Annahme, denn wir finden bei ihm tausenderlei kleine erbliche individuelle Abweichungen, ohne daß doch eine derselben so leicht derart sich steigerte, daß sie Selektionswert erreichte. Nun ver- hindert allerdings schon die stets wiederkehrende Reduktionsteilung, daß ein bestimmtes Id, welches eine variierende Determinante enthält, sich durch viele Generationen hindurch forterbt: es werden durch diese steten Abstoßungen der Hälfte aller Ide jeden Keimplasmas so zahl- reiche Ide immerfort aus dem Stammbaum entfernt, daß nur ein sehr kleiner Teil der Vorfahrenide in Enkeln, Urenkeln u.s.w. noch zurück- bleibt. Freilich irgend welche Ide der Vorfahren setzen das Keim- plasma der Nachfahren doch zusammen, und wenn sämtliche Determi- nanten eines solchen Ids im Vorfahren begonnen hätten, nach ab- oder nach aufwärts dauernd zu variieren, so müßte das betreffende Id im Nachfahren sämtliche Determinanten in gesteigerter Variation ent- halten; und wenn die Variation noch so langsam fortschritte, müßte sie (doch in irgend einem der Nachfahren Selektionswert erreichen, also den einmal festzuhaltenden, auf vollkommenster Anpassung beruhenden Art- typus durchbrechen. Der betreffende Nachfahr müßte dann also im Kampf ums Dasein unterliegen. Da nun aber die Zahl der Determi- nanten des Keimplasmas meist wohl eine viel größere ist, als die der Nach- fahren einer Generation, so müßte sehr bald jeder Nachfahr in irgend einem Charakter ungünstig vom Arttypus abweichen, und es müßten also entweder sämtliche Nachfahren ausgemerzt werden, oder der Art- typus müßte ins Sckwanken kommen. Beides aber ist nicht der Fall, es gibt unzweifelhaft konstante Arten lange Zeiträume hindurch; folg- lieh ist die Voraussetzung falsch, und nicht jede Schwankung einer Determinante muß sich unbegrenzt fortsetzen und steigern. Ich möchte mir deshalb vorstellen, daß zwar kleine Variationen aller Determinanten nach auf- oder nach abwärts auch bei konstanten Arten unausgesetzt vorkommen, daß aber die meisten von ihnen wieder umkehren, ehe sie eine bedeutendere Steigerung erfahren haben, wenigstens in Keimplasmen aller Arten, bei welchen sich schon seit Tausenden von Generationen eine bestimmte Gleichgewichtslage festge- stellt hat. In einem solehen Keimplasma — oder genauer gesprochen: in dem Id eines solehen Keimplasmas — werden starke Schwankungen in den Nahrungsströmen überhaupt nicht leicht vorkommen, solange nicht veränderte äußere Bedingungen einwirken; die leichten Schwankungen aber, welche auch hier nicht fehlen werden, mögen oft wechseln, in ihr a ETF TTE BEL ER O7 , Germinalselektion. 109 Gegenteil umschlagen, und so die Aufwärtsbewegung einer Determinante wieder in eine Abwärtsbewegung verwandeln. Jede Determinante muß ja von mehreren anderen umgeben sein, und man kann sich vorstellen. daß bei der vorausgesetzten sehr regelmäßigen Nahrungsströmung eine schwache Vergrößerung einer Determinante eine partielle Stauung des Nahrungsstroms zur Folge haben könne, welche dann die Zunahme der- selben wieder zurücktreibt. Wie man aber auch sich diese der Beob- achtung für immer entzogenen Verhältnisse zurechtlegen will, man wird die Annahme einer Selbstkorrektion des Keimplasmas bis zu einem gewissen Grad nicht für undenkbar oder unphysiologisch halten können. Aber dieser Selbstregulierung sind Grenzen gesetzt; sobald die Zu- oder Abnahme einer Determinante eine gewisse Höhe erreicht, sobald sie über eine erste leichte Schwankung hinausge- kommen ist, dann überwindet sie die ihr entgegenstehenden Hindernisse, und steigert sich in derselben einmal einge- schlagenen Richtung weiter. Das muß auch bei alten und kon- stanten Arten geschehen können, und zwar häufig genug, um die Er- scheinung der allseitigen Anpassungsfähigkeit zu erlauben. ‚Jeder Teil einer Art kann über die gewöhnlichen individuellen Schwankungen hin- aus variieren, und da dies nur durch intragerminale Vorgänge möglich ist, so werden wir annehmen müssen, daß auch in solchen in ruhigem Gleichgewicht schon lange verharrenden Keimplasmen gelegentlich stärkere Abweichungen der gewohnten Nahrungsströme, und dadurch auch stärkere Varianten der von ihnen getroffenen Determinanten ein- treten. Solche liefern dann das Material für neue Anpassungen, wenn sie zweckmäßig sein sollten, oder sie werden entfernt, zufällig bei der Reduktionsteilung, oder durch Personalselektion, falls neue Anpassungen nicht erforderlich sind. Am leichtesten aber muß das altererbte Gleichgewicht des Keim- plasmas gestört werden, wenn die Art unter neue Existenzbedingungen gerät, wenn also z. B. Tiere oder Pflanzen domestiziert werden, und wenn infolgedessen — wie wir oben schon annahmen — die Er- nährungsströme im Innern des Ides sich nach und nach ändern, quan- titativ und qualitativ, und num schon allein dadurch gewisse Determi- nantenarten bevorzugt, andere benachteiligt werden. So entsteht dann die seit Darwın bekannte „erhöhte allgemeine Variabilität” do- mestizierter Tiere und kultivierter Pflanzen. Ähnliches wird aber auch im Naturzustand geschehen können, wenn auch langsamer, falls die Art unter andere klimatische Bedingungen gerät, wovon später noch eingehend die Rede sein soll. So sind wir also zu der Vorstellung gelangt. daß zwar aller- dings leise Schwankungen der Determinanten, seien sie nach aufwärts oder nach abwärts gerichtet, wieder ausgeglichen werden können und bei „konstanten“ Arten auch vielfach sich wirklich ausgleichen, daß aber stärkere Varianten, wenn sie durch stärkere Ernährungsschwankungen einmal entstanden sind, gewissermaßen unbegrenzt weitergehen, und dann ledig- lieh durch Personalselektion noch eingeschränkt und be- herrscht werden können; d.h. dureh Entfernung der betreffenden Ide aus dem genealogischen Stammbaum. Nach einer Seite hin kann die Variation nachweislich unbe- schränkt weitergehen, nämlich nach abwärts, das beweist uns die 110 Germinalselektion. Tatsache des Schwindens nutzloser Teile, denn hier begegnen wir einer bis zum äußersten Extrem fortgesetzten Variationsrichtung, welche von Personalselektion völlig unabhängig ist, sie wird nur von Personalselektion nicht unterbrochen, und ist ganz sich selbst überlassen. Bedeutungsvoll ist dabei der Umstand, daß das Schwin- den der einzelnen Teile eines größeren Organs nach Allem, was man bisher darüber erfahren hat, sehr ungleich vorschreitet, so daß man deutlich sieht, wie es bis zu einem gewissen Grad vom Zufall abhängt, ob ein unnützer Teil etwas früher oder etwas später in Rück- bildung tritt. So sind bei einem der im Dunkel der Höhlen lebenden Krebse Nordamerikas die Sehsphären und Sehnerven geschwunden, während die Retina des Auges, die Linse und das Pigment noch er- halten blieben. bei Anderen sind umgekehrt die Nervenzentren noch erhalten und die Augenteile geschwunden (PACKARD). Variationen der betreffenden Determinanten nach Minus hin treten also bald früher, bald später ein; wenn sie aber erst einmal eingetreten sind, so gehen sie unaufhaltsam weiter, obschon ungeheuer langsam. Aber auch das Aufwärtsvariieren der Determinanten, wenn es einmal in Gang gekommen ist, geht in vielen Fällen unauf- haltsam weiter und findet seine Grenze erst in dem Eingreifen von Personalselektion, falls das Ubermaß des betreffenden Organs die Har- monie der Teile des Organismus aufheben würde, oder sonstwie die Lebensfähigkeit des Individuums in seinem Kampf um die Existenz hindert. Besonders wird dies durch die Erscheinungen der künst- lichen Züchtung bewiesen, denn fast alle Teile der Hühner und Tauben sind bis zum Exzeß verändert worden durch Züchtung, waren also in gewissem Sinn unbegrenzt steigerungsfähig, und doch kann, wie wir gesehen haben, Personalselektion das Voranschreiten einer Variations- richtung nicht direkt bewirken, vielmehr nichts tun, als ihr freien Lauf lassen, indem sie die Träger entgegenstehender Variationen von der Nachzucht ausschließt. Die Bärte der Hühner, die Schwanzfedern der langschwänzigen Haushähne, die langen und die kurzen, geraden und krummen Schnäbel der Tauben, die enorm langen, gesträubten Federn der Perückentaube, die Vermehrung der Schwanzfedern bei der Pfauentaube und unzählige andere Rassencharaktere solcher Spieltiere der Züchter beweisen, daß einmal vorhandene, d.h. durch Ger- minalselektion entstandene Richtungen der Abänderung beliebiger Teile scheinbar unbegrenzt weitergehen, d. h. solange, bis ihre weitere Steigerung die Harmonie der Teile dauernd und unwiderbringlich zer- stören würde. Sobald dies droht, verliert die Rasse ihre Lebensfähig- keit, wie denn DARwIn schon anführt, daß manche extrem kleinschnäb- licee Taubenrassen der Nachhülfe des Züchters bedürfen, um aus dem hartschaligen Ei auskriechen zu können, weil ihr allzu kurzer und weicher Schnabel ihnen nicht mehr gestattet, die Eischale anzuritzen und zu sprengen. Hier ist also schon die Harmonie zwischen der Härte der Eischale und derjenigen des Schnabels der jungen Taube gestört, und die Rasse kann nur künstlich noch am Leben erhalten werden. Ähnliches wird im Naturzustand auch vorkommen können, und eine Art wird aussterben müssen, falls es eintritt. Aber in den meisten Fällen wird die Selbststeuerung genügen, welche in Personalselektion liegt. um das in maßlosem Ansteigen begriffene Organ wieder auf sein richtiges Maß zurückzudämmen. Die Träger solcher exzessiv gesteigerter Germinalselektion. 111 #‘ Determinanten unterliegen im Kampf ums Dassin, und damit werden diese selbst aus dem Stammbaum der Art entfernt. Sobald es nun feststeht, daß Determinanten ihre Variationsrichtung aus inneren, d. h. intragerminalen Gründen so zu sagen unbegrenzt fortsetzen können, so sind wir dadurch dem Verständnis vieler sekundärer Geschlechtscharaktere näher gerückt. deren Ähnlichkeit mit den künstlich hervorgerufenen exzessiven Bildungen bei unseren Hausgeflügel ja so auffallend ist. Wir werden auch hier Germinal- selektion als die Wurzel der Abänderungen des Gefieders und anderer Auszeichnungen zu betrachten haben, welche durch intragerminale Stei- gerung schließlich zu den prachtvoll gefärbten Hauben, Federbüschen, Kragen, langen, abgestuften, an Zahl vermehrten oder aufrichtbaren Schwanzfedern der Paradiesvögel, Fasanen und Kolibris sich ausbildeten. Unsere Vorstellung von Darwıns geschlechtlicher Züchtung wird da- durch insofern verändert, als wir nun nicht mehr genötigt sind, jeden kleinsten Schritt dieser Steigerungsprozesse bloß auf Auswahl der Männchen durch die Weibchen zu beziehen. Eine Bevorzugung der schöneren Männchen wird immerhin stattfinden, ja sie muß im allgemeinen stattfinden, da nur durch sie die männlichen Auszeichnungen allgemein werden, d. h. auf alle oder doch die meisten Ide des Keimplasmas übertragen werden können, aber «die Steigerung der einzelnen in Variation befindlichen Determinanten geht ganz unabhängig davon in jedem ein- zelnen Id weiter. Da nicht ein einzelnes Id mit seiner in Variation aufsteigenden Determinante z das Organ 1 bestimmt, sondern da es dazu stets einer Majorität der Ide @ bedarf, so wird eine solche hier ganz wie bei ge- wöhnlicher Naturzüchtung durch Personalselektion geschaffen werden müssen. Wenn die schönsten Männchen siegen, so wird dadurch eine Majorität abgeänderter Ide @’ auf einen Teil der Nachkommen vererbt, und je öfter dies geschieht, um so größer wird diese Majorität, und um so mehr nimmt die Gefahr ab, daß dieselbe sich durch Reduk- tionsteilung und Amphimixis wieder zerstreue. Personalselektion ist also keineswegs durch Germinalselektion überflüssig gemacht, nur erzeugt sie nicht die Steigerung der Auszeichnungen, sondern bewirkt hauptsächlich nur ihre Befestigung im Keim- plasma; sie sammelt gewissermaßen nur die günstig variierenden Ide, und wo es sich um verwickelte Abänderungen handelt, die von dem richtigen Variieren vieler Determinanten abhängen, so kombiniert sie dieselben auch. Wie sehr gerade bei sekundären Sexualcharakteren Personalselektion eingreifen kann, sehen wir deutlich an den bescheiden gefärbten Weibchen jener glänzenden Männchen, bei welchen Natur- züchtung im Sinne der Beibehaltung ihrer altererbten Schutzfärbung tätig gewesen ist. Wenn aber die Frage aufgeworfen wird, wie denn die erste Majorität gleichsinnig variierender Determinanten in einem Keimplasma zustande komme, so gibt es da zwei Möglichkeiten: einmal dureh Zufall, und zweitens durch Einflüsse, welche bestimmte Determinanten aller Ide in nahezu der gleichen Weise verändern. Fälle letzterer Art werden wir in den Klimavarietäten später noch kennen lernen; die Fälle der ersteren Art aber sind die bedeutsamsten, denn sie bilden die Grundlage und den Ausgangspunkt für die Selektionsprozesse höherer Ordnung, für Personalselektion. Es könnte bedenklich erscheinen, daß so wichtige Vorgänge in letzter Instanz auf dem Zufall beruhen sollen: 1412 Germinalselektion. wenn man aber erwägt, dab es nur zwei Richtungen des Variierens gibt, nämlich nach der Plus- und nach der Minusrichtung, so erkennt man, dab die Aussicht auf eine Majorität nach der einen oder der anderen Richtung weit größer ist, als ein völliges Gleichgewicht der beiden Richtungen, daß also die Aussicht, daß in zahlreichen Individuen der Art entweder die Aufwärts- oder die Abwärtsbewegung einer De- terminante 1 überwiegt, eine sehr große ist. Da nun solche Variationsbewegungen, wenn sie eine gewisse Stärke besitzen, sich von selbst weiter steigern, so sehen wir wohl ein, wie sie allmählich auch die Stärke erreichen müssen, in welcher sie Selektions- wert erlangen, und wie nun durch Personalselektion die Ide mit den günstig variierenden Determinanten gesammelt werden können. Wann freilich eine Variation biologische Bedeutung, d.h. Selektions- wert erreicht, läßt sich im einzelnen Fall meist nicht genauer bestimmen, wir können nur allgemein sagen, daß, sobald sie ihn erreicht, Personal- selektion in positivem oder negativem Sinn eingreifen muß: eine schäd- liche Abänderung führt zum Untergang ihrer Träger, eine nützliche er- höht die Aussicht auf ihr Uberleben. Nun muß es aber für jede Variation eine Entwicklungsstufe geben, auf welcher sie noch keine entscheidende biologische Bedeutung hat, und diese Stufe braucht keineswegs so unscheinbar zu sein, dab wir sie gar nicht oder kaum bemerken könnten. mit anderen Worten: es gibt durch Germinalselektion entstandene Charaktere von rein „morphologischer Bedeutung“. Man hat oft gestritten, ob es überhaupt für die Existenz gleich- gültige, sog. „rein morphologische Charaktere“ gäbe. Die Frage war wichtig bisher, weil der Wirkungskreis und also auch die Bedeu- tung der DAarwın-Warraceschen Selektion, der Personalselektion von ihrer Beantwortung abhängt, denn diese Selektion beginnt erst mit dem biologischen Wert eines Charakters. Sobald wir aber Germinalselektion mit in Betracht ziehen, verliert sie an Bedeutung, weil wir nun wissen, daß jede Variation im Beginn gleichgültig ist, jede aber auch unter günstigen Umständen bis zu dem Punkt gesteigert werden kann, in dem sie biologischen Wert erlangt, in dem also Personalselektion ihre Weiterführung übernimmt, sei es nun in positivem oder in negativem Sinn. Wir könnten deshalb jetzt diesen Streit ruhen lassen; da indessen Ger- minalselektion noch weit von allgemeiner Anerkennung entfernt zu sein scheint, so sei nochmals daran erinnert, wie wenig wir imstande sind, sicher über die biologische Bedeutung eines Merkmals zu urteilen, und wie viel Mühe und eingehende Untersuchung es gekostet hat, doch wenigstens über einige derselben eine Anschauung zu gewinnen. Un- zählige Merkmale scheinen gleichgültig und sind dennoch Anpassungen. Darwın hat schon zur Vorsicht nach dieser Richtung gemahnt und auf das Beispiel der tierischen Färbungen hingewiesen, denen man so lange keine Aufmerksamkeit zugewandt hatte, weil man sie für bedeutungslos hielt. Und wie zahlreiche und verschiedenartige Charaktere bei Tieren und Pflanzen, die ebenfalls für „rein morphologisch“ galten, haben sich durch genauere Beobachtungen als biologisch recht wichtig erwiesen. Ich erinnere nur an die “Gestalt und Stellung, an Behaarung, Farbe und Politur der Blumen und ihre Beziehung zur Kreuzbefruchtung dureh Insekten, oder an die Dieke und Gestalt der Blätter tropischer Bäume mit ihrem Wachsüberzug und ihren dachrinnenähnlichen Schnäbeln zum Ablauf des in furehtbaren Güssen herabstürzenden tropischen Regens (Germinalselektion. 115 (HABERLANDT, SCHIMPER), oder an das schlafte, senkrechte Herabhängen der Büschel von jungen, noch zarten Blättern solcher Bäume, das eben- falls Schutz vor Zerschmetterung und Zerreißung durch den Regen bedeutet. Es gibt sogar Charaktere, deren biologischer Nutzen uns unbe- kannt ist, von denen wir aber trotzdem behaupten dürfen, daß sie einen solchen besitzen. So hat EIGENMAnN die Larve eines amerika- nischen Aals beschrieben, die sieh vor andern solehen Leptocephalus- Arten dadurch auszeichnet, daß sich eine Reihe von sieben schwarzen Flecken auf ihrer Seite hinzieht. Scheinbar liegen alle auf der uns zu- gekehrten Seite, in Wahrheit aber sind sie auf beiden Seiten verteilt, drei liegen auf der linken, vier auf der rechten Seite, aber so ange- ordnet, daß sie eine einzige Reihe in regelmäßigen Abständen liegender Flecken vortäuschen, denn das platte Fischehen ist vollkommen durch- sichtig. Man kennt die Lebensweise dieser Larve noch nicht, aber ich möchte schließen, daß dieser Schein einer einfachen Fleckenreihe einen Nutzen für das Tier haben muß, denn eine solche sinnvolle Asymmetrie würde aus rein inneren Gründen nicht entstanden sein (Fig. 107 C). Vielleieht ähnelt das Fischehen so Teilen einer Meeresalge und ist da- durch vor manchen Verfolgern geschützt: daß nicht auf jeder Seite eine geschlossene Reihe von Flecken liegt, beruht vielleicht darauf, dab sie sonst beide zugleich sichtbar sein, sich gegeneinander im Auge des I N N M)] IN) / MN Mm) YmMr RU M (NW! Ill NEN w cn N TE> m — NN \ > >» N \ )Y N MS DD) ) DD D Fig. 107C. Leptocephalus diptychus, EIGENMANN. Larve eines amerika- nischen Aals; die auf der linken Seite liegenden Pigmentflecke sind mit /, die der rechten mit r bezeichnet. schwimmenden Feindes verschieben würden und so die Ähnlichkeit des Bildes mit dem unbekannten Vorbild trüben. Damit soll nicht geleugnet werden, daß es auch Charaktere ohne besondere biologische Bedeutung gibt. Zweifellos gibt es eine Menge von solchen, die unter der Schwelle von Gut und Schlecht stehen und die deshalb nicht von Personalselektion beeinflußt werden, es ist nur schwer oder vielfach unmöglich, sie mit Sicherheit zu bezeichnen. Die Form. der menschlichen Nase, des menschlichen Ohrs, die Farbe der Haare und der Iris mögen solche indifferente Merkmale sein, deren Unterschiede lediglich auf Germinalselektion zu beziehen sind. Dagegen würde ich mich nieht getrauen, die bunten Farben und verwickelten Zeichnungen auf den Flügeln der heutigen Schmetterlinge immer und in allen Fällen für bedeutungslos zu erklären, in denen wir sie in ihren Einzelheiten weder als Schutzfärbung auffassen können, noch als Widrigkeitszeichen oder als mimetische Färbung. Die meist sehr genaue Übereinstimmung der Färbungsmuster bei den Individuen jeder Art deuten auf das Eingreifen von Personalselektion, denn wie sollte sonst eine so große Majorität gleichsinnig abgeänderter Ide im Keimplasma sich haben ausbilden können, wie es doch diese Konstanz des Merkmals andeutet? Allerdings wissen wir, daß gerade die Farben der Schmetterlinge durch äußere, besonders klimatische Einflüsse verändert werden können, aber daraus könnten wohl einfache Umfärbungen sich erklären, nicht aber die Entstehung so komplizierter Farbenmuster, wie wir sie Weolsmann, Doszondonztheorie. 11. 2. Aufl O 114 Germinalselektion. tatsächlich vorfinden. Ich glaube deshalb mit Darwın, daß hier sexuelle Züchtung vielfach mitgewirkt hat, indem sie durch eine noch so schwache Bevorzugung der von spontaner (serminalselektion hervorgerufenen Ab- änderungen bewirkte, dab die einmal vorhandene Majorität abgeänderter Ide sich nicht wieder zerstreute, sondern immer mehr sammelte und so der Steigerung des neuen Charakters durch die intragerminalen Vor- gänge freien Spielraum schaffte. Auf diese Weise wird nicht nur das glänzende Blau unserer „Bläulinge* und der großen Morphiden Südamerikas entstanden sein, sondern auch viele der farbigen Flecken, Striche, Bänder. Augen und sonstigen Elemente, welche sich nach und nach im Laufe der Zeiten zu den verwickelten Farbenmustern vieler unserer heutigen Tagfalter zusammensetzten. Wer daran zweifelt, den möchte ich wieder an die Tatsache erinnern, welche so zweifellos die Mitwirkung von Personalauslese bei «diesen Färbungen bestätigt, ich meine die unscheinbare Färbung der Weibchen bei so vielen dieser brillanten Männchen, denen dann ‘wieder andere Arten gegen- überstehen, bei welchen beide Geschlechter gleich brillant gefärbt sind, so dab es also unmöglich bloß spontane Germinalselektion sein kann, welche etwa die Weibchen bestimmte, gemäß ihrer Weiblichkeit anders zu variieren als die Männchen. Wenn ich aber auch glaube, daß besonders sexuelle Auswahl viel- fach bei der Färbung der Schmetterlinge mit eingegriffen hat, so bleibt doch die Grundlage aller dieser Farbenänderungen immer und überall Germinalselektion, und wir werden später noch sehen, in welcher Weise durch das Zusammenwirken von klimatischen Einflüssen mit Germinal- selektion vielseitige und gewissermaßen plötzlich auftretende Umgestal- tungen der Zeichnung denkbar erscheinen. Sicherlich gibt es bedeutungslose Abänderungen der Schmetter- lingszeichnung, die rein auf dem inneren Kräftespiel des Determinanten- systems beruhen, und dahin dürften wohl viele jener „variabeln“ Arten gehören, deren Schwankungen lediglich Schwankungen der Zeichnung sind, wie sie den Systematikern schon so viele Schmerzen bereitet haben. Wirklich bedeutungslose Abänderungen werden eben schwer oder nie zu einer konstanten Form zusammenschmelzen, und gerade der Umstand, daß es solche hochgradig „variable“ Arten gibt, läßt auf die Bedeutungs- losigkeit ihrer Variationen zurückschließen, denn besäßen diese irgend- welchen biologischen Wert, so müßten die minder wertvollen allmählich durch Auslese entfernt werden. Vielleicht dürften die variabeln Arten gewisser Spinner, wie Arctia caja, und besonders Arctia plantaginis, der kleine „Bär“ der Alpen und Mittelgebirge, dahin zu rechnen sein. Ge- rade eben daraus aber, daß es solche schwankende Schmetterlingszeich- nungen gibt, scheint mir geschlossen werden zu müssen, daß Arten, welche eine hohe Konstanz der Zeichnung besitzen, durch einen Aus- leseprozeß beeinflußt worden sind, oder aber durch klimatische Einflüsse, welche das Kräftespiel im Determinantensystem bei allen Individuen in gleicher Weise lenkten. Doch sind alle solche Erwägungen und Schlüsse zwar theoretisch ganz gut und brauchbar, aber schwer und nur mit großer Vorsicht, und womöglich erst auf Grundlage speziell daraufhin angestellter Untersuchungen auf den einzelnen Fall anwend- bar; denn woher wollten wir wissen, ob eine heute stark variable Art nicht eine geologische Epoche später zu einer recht konstanten ge- worden sein wird? müssen wir doch annehmen, daß mit vielen Um- wandlungen stärkere Merkmalsschwankungen verbunden sein werden! XXVI. VORTRAG. Germinalselektion, Fortsetzung. Spontane und induzierte Germinalselektion p. 115, Klimaformen von Polyommatus Phlaeas p. 115, Mißbildungen p. 116, Exzessive Steigerung von Variationen p. 117, kann sie zum Untergang der Arten führen? p. 118, Sprungweise Variationen, Blut- buche, Trauerbäume u. s. w. p. 119, Ursprung sexueller Auszeichnungen p. 120, Rassenbildung bei domestizierten Tieren p. 122, Verkümmerte Kiefer p. 122, Mensch- liche Zähne p. 122, Kurzsichtigkeit p. 123, Milchdrüsen p. 124, Kleine Hände und Füße p. 124, Aufsteigende Abänderung p. 125, Talente, Intellekt p. 125, Kombination von Geisteskräften p. 126, Letzte Wurzel erblicher Variation p. 127. Es gibt nur Plus- und Minusvariationen p. 128, Beziehungen der Determinante zu ihrer Deter- minate p. 129, Das Kräftespiel im Determinantensystem des Id p. 130, Germinal- selektion von Personalselektion eingedämmt p. 131, Einwurf aus der Kleinheit der Substanzmenge des Keimplasmas p. 132. Meine Herren! Wir haben die Variationen der Determinanten des Keimplasmas, auf welche wir den Vorgang der Germinalselektion aufbauten, bisher nur aus zufälligen, lokalen Schwankungen in der Ernährung hergeleitet, wie sie im einzelnen Id stattfinden müssen, un- abhängig von der Ernährung der anderen Ide desselben Keimplasmas. Allein es gibt auch zweifellos Einflüsse, welche in allen Iden ähnliche Veränderungen der Ernährung setzen, von welehen also alle homologen Determinanten, sofern sie überhaupt für die betreffende Ernährungs- änderung empfindlich sind, in ähnlicher Weise getroffen werden. Dahin gehören Veränderungen in den äußeren Lebensbedingungen, besonders klimatische. Dann ist es also Germinalselektion allein, welche eine dauernde Majorität von Iden mit gleichsinnig abgeänderten Determi- nanten schafft, und Personalselektion hat keinen Anteil an der Um- wandlung der Art. Schon vor langen Jahren habe ich Versuche mit einem kleinen Waldschmetterling, Pararga Egeria, angestellt, welche er- gaben, daß erhöhte Temperatur die Puppen dieses Falters so beeintlußt, daß die Schmetterlinge mit einer anderen, tiefer gelben Grundfarbe aus- schlüpfen, ähnlich der schon lange bekannten südlichen Varietät Meione. Völlig entscheidend aber waren erst die Versuche am Polyommatus Phlaeas, dem kleinen „Feuerfalter“, wie sie in den achtziger Jahren bei- nahe gleichzeitig von MERRIFIELD in England und von mir angestellt wurden. Ich werde sie später genauer besprechen und will hier nur soviel sagen, daß dieser von Lappland bis Sizilien verbreitete Falter in zwei Formen vorkommt, deren südliche sich durch tiefschwarze „Be- stäubung“* der bei der nördlichen Form rein rotgoldenen Flügelfllächen auszeichnet. Die Versuche haben nun ergeben, daß die südliche Varia- tion auch künstlich durch Wärme hervorgerufen werden kann, und wir werden dies dahin zu verstehen haben, daß durch direkte Einwirkung ge 116 (Germinalselektion. höherer Wärmegrade die Qualität der ernährenden Säfte im Keimplasma, und damit zugleich auch die Determinanten einer oder mehrerer Arten von Flügelschuppen gleichsinnig in allen Iden verändert werden, und zwar in einer solchen Weise, daß sie dann zur Entstehung schwarzer, statt früher rotgoldener Schuppen, Veranlassung geben. Es gibt also sicher äußere Einflüsse, welche bestimmte Determinanten in bestimmter Weise verändern. Ich nenne diese Form der Keimesänderung „indu- zierte“ (rerminalselektion, und stelle sie der „spontanen“ gegenüber, welche ihren Grund eben nicht in extragerminalen Einflüssen hat, sondern in den Zufälligkeiten der intragerminalen Ernährungsverhält- nisse, welche deshalb auch nicht leicht in allen Iden eines Keimplas- mas zugleich eintreten wird, also nicht die homologen Determinanten aller Ide gleichsinnig verändert. Auch in ihrem V erhältnis zur Personalselektion müssen die beiderlei Vorgänge sich unterscheiden, denn induzierte (Germinalselektion wird solange fortgehen und sich steigern, bis das der Natur des äußeren Ein- flusses und der betreffenden Determinanten entsprechende Maximum der Veränderung erreicht ist. Da alle Ide gleichsinnig betroffen und ver- ändert werden, so hat also Personselektion keine Handhabe zum Ein- greifen, und die Variation würde sogar dann fortfahren sich zu steigern, wenn sie biologisch nachteilig sein sollte. Ganz anders bei der spon- tanen Germinalselektion, welche ihre Wurzel nicht in allen, sondern nur in einer Majorität von Iden hat. Hier kann dieselbe durch Germinal- selektion allein nur so lange sich steigern, bis sie einen positiven oder negativen biologischen Wert erhält, d. h. bis sie dem Leben des Indi- viduums nützlich oder schädlich wird; dann greift Personalselektion ein und entscheidet, ob die Steigerung noch weitergehen darf oder nicht; spontane (Germinalselektion kann also nur dann zur allgemeinen Abänderung einer ganzen Art führen, wenn irgend ein äußeres Moment — in erster Linie die Nützlichkeit der Variation hinzukommt. Das heißt indessen nicht, daß indifferente Abänderungen größeren Betrages aus spontaner Germinalselektion nicht hervorgehen könnten — sie werden aber dann auf eine geringe Zahl von Individuen be- schränkt bleiben, und früher oder später wieder verschwinden. Die angeborenen Mißbildungen des Menschen dürften zum Teil unter diesen Gesichtspunkt fallen. Wenn z. B. gewisse Determinanten durch besonders günstige lokale Ernährungsverhältnisse längere Zeit hindurch in aufsteigender Variation erhalten bleiben, so werden "dieselben so stark wachsen, daß der Teil, den sie bestimmen, übermäßig, vielleicht doppelt auftritt. Die erbliche Polydaktylie beim Menschen findet vielleicht darin ihre prinzipielle Erklärung, wie ich sie denn schon vor Aufstellung einer (Grerminalselektion auf rascheres Wachstum und Verdoppelung der be- treffenden Determinanten des Keims bezogen habe, in Übereinstimmung mit dem Pathologen ERNST ZIEGLER, der sie bereits als Keimesvaria- tion bezeichnet und im Gegensatz zu andern nicht in atavistischem Sinne als Rückschlag auf unbekannte sechsfingerige Ahnen gedeutet hatte. Alle exzessiven oder defektiven erblichen Mißbildungen werden nur auf Germinalselektion bezogen werden dürfen, d. h. auf lange anhaltende progressive oder regressive Variation be- stimmter Determinantengruppen in einer Mehrzahl von Iden. Wenn wir nun sehen, daß, soweit die Erfahrung reicht, über- zählige Finger niemals über fünf Generationen hinaus vererbt werden, so erklärt sich dies einfach dadurch, daß hier kein Grund zum Ein- Mißbildungen. 117 greifen von Personalselektion vorlag, weder in negativem Sinn, denn die Sechsfingerigkeit bedroht nicht das Leben, noch in positivem, denn sie fördert es auch nicht. Die Mißbildung beruht auf spontaner Keimes- variation, welche in einer Mehrzahl von Iden eingetreten sein muß, sonst würde sie nicht manifest geworden sein. Aber eine solche Majorität „polydaktyler“ Ide kann sich in jedem neuen Nachkommen wieder zer- streuen und in Minoritäten verwandeln, die sich dann nicht mehr sicht- bar geltend machen können, je nach den Zufällen der Reduktionsteilung und der Beimischung normaler Ide durch Amphimixis. Eine polydak- tyle Menschenrasse würde erst dann entstehen, wenn Zuchtwahl dazu käme; dann aber würde es ohne Zweifel ebensogut gelingen, eine sechs- fingerige Menschenrasse zu züchten, wie es gelungen ist, die krumm- beinigen „Anconschafe“ von einem einzigen, in dieser Weise mißbildeten Widder zu züchten. Ohne allmähliche Beseitigung der Keime mit nor- malen Iden, also ohne Eingreifen von Personalselektion gelangen aber solche spontane Mißbildungen, wie überhaupt alle spontanen Varia- tionen nicht zu dauernder Herrschaft. So wird es häufig auch in der freien Natur sein, aber es soll später in dem Abschnitt über Artbildung noch untersucht werden, ob nicht etwa doch äußere Umstände (Inzucht) eintreten können, die es gestatten, daß spontane Variationen zu konstanten Rassenmerkmalen werden, obgleich sie diesseits von (ut und Schlecht bleiben, also von Personalselektion nicht beeinflußt werden. Im allgemeinen aber wird Amphigonie mit ihrer Reduktion der Ide und der stets wieder erneuten Mischung mit fremden Iden das Korrektiv bilden gegen die Ausschreitungen, welche sonst von den Selek- tionsvorgängen im Innern des Keimplasmas ausgehen, und schließlich zu exzessiven Bildungen, zu einer völligen Störung der Harmonie der Teile, und zuletzt zum Untergang der Art führen müßten. Dennoch wird EMERY im Recht sein, wenn er die Möglichkeit eines „Konfliktes zwischen Germinal- und Personalselektion* ins Auge faßte. Es ist sehr wohl denkbar, daß gerade bei nützlichen Abänderungen, also bei Anpassungen, die Selektionsprozesse des Keim- plasmas zu exzessiven Bildungen führen können, sowie daß Personal- selektion sie dann nicht mehr bewältigen kann, weil sie eben durch ihre frühere Nützlichkeit sich im Laufe der Generations- und Artenfolgen nicht nur in einer Majorität von Iden eingenistet haben, sondern in beinahe allen Iden sämtlicher Keimplasmen der Art. Dann ist eine Umkehr nur schwer und langsam noch denkbar, denn die Sammlung von Iden mit relativ schwächeren Determinanten kann nur langsam gelingen, und es fragt sich, ob der Art dazu die Zeit vergönnt ist. Aber auch abgesehen von der Zeit wird ein solehes Zurückschrauben einer exzessiven Bildung zuweilen überhaupt nicht stattfinden können, einfach deshalb, weil sich für Personalselektion keine Handhabe mehr zum Eingreifen bietet. DÖDERLEIN hat schon früher darauf hingewiesen, wie manche Charaktere durch ganze Reihen paläontologischer Arten hindurch sich steigern, bis sie schließlich zu derartiger Übermäßigkeit heranwachsen, daß sie den Untergang der Art veranlassen, so z. B. das Geweih der Hirsche oder die säbelförmigen Zähne gewısser Katzen der Diluvialzeit. Ich werde darauf noch bei Gelegenheit des Aussterbens der Arten genauer zu sprechen kommen, hier sei nur gesagt, daß solche lange anhaltende Steigerungen in derselben Richtung wohl niemals 118 Germinalselektion. allein auf Germinalselektion zu beziehen sind, da es kaum denkbar ist, daß eine, oder gar eine ganze Reihe von Arten mit schädlichen Charakteren entstünden; sie müßten ja schon während ihrer Entstehung dem Untergang verfallen. Wenn wir also z. B. den Torfhirsch mit seinem enormen (Geweih von 13 Fuß Spannweite auch schwer belastet sehen, so dürfen wir daraus doch schwerlich schließen, daß diese Größe und Schwere der Last auf seinem Kopf ihm von vornherein verderblich war — denn dann hätte sich die Art überhaupt nicht bilden können, wohl aber mag es sein, dab zu irgend einer Zeit die Lebensbedingungen der Art sich derart änderten, daß nun das schwere Geweih verhängnis- voll wurde. In diesem Fall würde dann in der Tat die einmal domi- nierende Variationsrichtung in allen Iden durch Personenauslese nicht mehr genügend zurückgestaut werden können, weil die Variation in um- gekehrter Richtung viel zu schwache Ausschläge gäbe, um Selektions- wert zu erreichen. Plötzliche oder doch rasch eintretende Veränderungen der Lebensbedingungen, wie sie etwa das Einbrechen eines neuen mäch- tigen Feindes sind, schließen überhaupt eine Anpassung durch die so langsam arbeitende Personalselektion aus. Wenn wir also genauer zusehen, so ist es nicht eigentlich Ger- minal-Selektion selbst, welche in solchen Fällen einer Art den Unter- gang bereitet, indem sie excessive Bildungen noch immer steigert, sondern das Unvermögen der Personalselektion, rascheren Wendungen der Lebensbedingungen zu folgen. und excessive Bildungen in kurzer Zeit um ein Beträchtliches herabzu- setzen. In langsamem Tempo wäre dies zu jeder Zeit möglich, denn niemals können die Determinanten Z# des excessiven Organs in allen Iden gleich stark sein, sie schwanken immer um eine Mittlere herum, mag diese Mittlere auch noch so hoch sein. Es muß also auch da noch möglich sein, daß durch Reduktionsteilung und Amphimixis sich Majoritäten von Iden bilden mit schwächeren Z-Determinanten, und künstliche Züchtung, welcher unbegrenzte Zeit gegönnt wäre, mübte imstande sein, durch konsequente Auswahl der Individuen, z. B. mit schwächerem Geweih eine abwärts gerichtete Variationsbewegung hervorzurufen. Es gibt keine wirklich unaufhaltsame Variations- bewegung; jede Richtung kann umkehren, aber freilich muß ihr die Zeit und die Handhabe dazu gegönnt sein. Daran fehlte es in diesem Fall, denn es würde den Torfhirsch nicht gerettet haben, wenn sein (reweih auch auf einmal um zwei Fuß kürzer geworden wäre, und so grobe Ausschläge gibt Germinalselektion schwerlich jemals. Ähnlich den erblichen Mißbildungen und besonders interessant für die Vorgänge im Innern des Keimplamas sind die Spielvariatio- nen, Abänderungen größeren Betrags, welche ohne daß wir einen bestimmten äußeren Grund dafür angeben können, plötzlich in die Er- scheinung treten. Ich habe sie schon in meiner „Keimplasmatheorie“ ausführlich erörtert und gezeigt, wie einfach sich die scheinbar launen- haften Vererbungserscheinungen bei ihnen im Prinzip verstehen lassen vom Boden der Keimplasmatheorie aus. Je nachdem die Abänderung gewisser Determinanten nur in einer knappen Majorität von Iden ihren Grund hat, oder aber in einer groben, wird die Aussicht auf Vererbung der sprungweise auftretenden Abänderung kleiner oder größer sein, denn je mehr Ide abgeändert sind, um so mehr steigt die Aussicht, daß auch nach Ablauf von veduktionsteilung und Amphimixis diese Majoritäten erhalten bleiben, ä Knospenvariation. 119 d. h.. daß die Samen der Pflanze wieder die Variation geben und nicht auf die Stammform zurückschlagen. Obgleich gerade in der Erklärung dieser Verhältnisse wohl eine der befriedigendsten Leistungen der Id- Theorie liegt, so will ich doch hier nicht näher darauf eintreten, sondern auf die Ausführungen in meinem 15094 erschienenen Buch verweisen, die ich auch heute noch für zutreffend halte. Ich hatte damals den Gedanken der Germinalselektion noch nicht gefaßt, aber die Erklärung, welche dort vom Zustandekommen solcher Spielvariationen gegeben wurde, fußte doch schon auf der Annahme von Nahrungsschwankungen im Keimplasma, durch welche gewisse Determinanten verändert werden. Es fehlte aber noch die Erkenntnis, daß die einmal eingeschlagene Variationsrichtung bis zum Eintreten von Widerständen beibehalten werden muß, sowie dab die Determinanten in Ernährungs-Korrelation stehen, daß Veränderungen der einen Determinante auch die Nachbar- Determinanten in Mitleidenschaft ziehen werden, wie ich dies nachher im (Grenaueren noch auseinandersetzen werde. Dort ist auch bereits gezeigt und an Beispielen belegt, daß solche Spielvarietäten zwar wohl plötzlich, „sprungweise“ in die Erscheinung treten, daß sie aber von langer Hand her durch intime Vorgänge im Keimplasma vorbereitet sind. Dieses „unsichtbare Vorspiel“ der Variation beruht eben auf (Germinalselektion. Wenn eine wild wachsende Pflanze in Gartenland gesät wird, so braucht sie nicht gleich abzuändern, es folgen einige oder viele (renerationen aufeinander, die keine Spielvariationen auf- weisen, aber dann treten plötzlich einmal solche auf, zuerst einzeln. dann vielleicht auch in größerer Anzahl. Doch ist das letztere keines- wegs immer der Fall, sondern manche unserer Varietäten von (Gartenblumen sind nur einmal so entstanden, und dann durch Samen vermehrt worden; denn solche sprungweise auftretenden Spiel- variationen sind bei Pflanzen, die aus Samen gezogen wurden, meist samenbeständig, und pflanzen sich, mit eigenem Pollen befruchtet, rein fort, ein Beweis, daß die gleichen Veränderungen der betreffenden Determinanten in einer bedeutenden Majorität von Iden eingetreten sein müssen. Bei Tieren kommen, wie es scheint, solche sprungweise Abände- rungen viel seltener vor als bei Pflanzen; das von Darwın schon ge- nauer besprochene Beispiel des „schwarzschultrigen Pfaues“, der plötz- lich einmal auf einem Hühnerhof auftrat, gehört hierher. Viel zahl- reicher aber sind die Beispiele bei Pflanzen und besonders bei solchen Pflanzen, welche sich in Kultur befinden. Das deutet darauf hin, daß es sich hier um den Einfluß äußerer Bedingungen handelt, um Ernäh- rungseintlüsse, welche auf gewisse Determinanten langsam verändernd einwirken, teils fördernd, teils hemmend. Sobald dann in einer Pflanze eine Majorität von derart veränderten Iden in einen Samen zu lieren kommt, springt daraus plötzlich und scheinbar unvermittelt eine Spiel- variation hervor, eine Pflanze mit anders gefärbten oder geformten Blumenblättern, Laubblättern, mit gefüllten Blumen, mit verkümmerten Staubgefäßen oder sonstigen neuen Abzeichen, und diese neuen Cha- raktere erhalten sich bei Fortpflanzung der Varietät unter sich. Es kommt aber, wenn auch seltener, vor, daß nicht die ganze Pflanze, sondern bloß einzelne Sprosse die Spielvariation aufweisen. Dahin gehören die „Knospenvariationen“ unserer Waldbäume, die Blutbuchen, Bluteichen, Bluthaselsträucher, dann die mancherlei schlitzblätterigen Varietäten der Eiche. Buche, des Ahorn, der Birke 120 (Germinalselektion. und die „Trauerbäume“: aber auch die zahlreichen Varietäten der Kartoffel, des Pisang und des Zuckerrohrs. Er scheint, daß nur wenige von ihnen sich durch Samen sicher, d. h. ohne Rückschläge auf dıe Stammform fortpflanzen, doch kommt es z. B. bei der Traueresche vor, daß nahezu alle Sämlinge wieder sich zur Abart gestalten, aber „In verschiedenem Grade“. Die Angaben über die Vererbbarkeit der Knospenvariationen durch Samen sind wohl nicht alle sicher, und neue Untersuchungen darüber wären erwünscht, die Tatsache aber, daß sie sich in gar manchen Fällen unzweifelhaft nicht bloß durch Ableger und Pfropfreiser, sondern auch durch Samen fortpflanzen lassen, ist für uns hier das Wichtigste, denn es beweist uns, daß auch hier eine Überzahl von Iden die veränderten Determinanten enthalten muß. Da es nur ein einzelner Sproß ist, der hier «die Sprungvariante hervorbringt. so muß also allein das Keimplasma. welches in Zellen dieses einen Sprosses enthalten war, in so zahlreichen Iden abgeändert haben, daß die Abänderung auftrat. Daß sie aber auch hier nicht in allen, häufig sogar nur in einer kleinen Majorität von Iden eintritt, geht aus den häufigen Rückschlägen der Knospenvarietät auf die Stammart hervor. Ich habe schon früher einen solchen Fall von einer mir von Professor STRASBURGER im botanischen Garten in Bonn gezeigten Hainbuche mit tief eingeschnittenen „Eichenblättern“ berichtet, an der ein Ast ganz normale Hainbuchenblätter trug. In meinem Garten steht ein Eichen- busch der „farnkrautblättrigen“ Varietät. an deren Ästen einzelne Blätter die gewöhnliche Form besitzen; panaschierte Ahornbäume mit fast weißen Blättern schlagen oft in einzelnen Ästen auf die frisch grüne Blätterart der Stammform zurück. Man sieht daraus, daß, was von manchen so energisch bezweifelt wird, in Wahrheit doch vorkommen muß, nämlich erbungleiche Kernteilung, denn sonst bliebe es un- erklärlich, wie die Ide der Abart, wenn sie einmal in dem Baum die Majorität besitzen, in einem einzelnen Ast sich in eine Majorität der Stammide verwandeln können. Nur ungleiche Kernteilung, in der Art einer Reduktionsteilung, kann die Ursache davon sein. Freilich ist das nur eine ungleiche Verteilung der Ide auf die beiden Tochterkerne, nicht eine Spaltung der einzelnen Ide in erbungleichem Sinn. Dab Knospenvariationen in freier Natur sich selbst überlassen jemals zu dauernden Abarten werden sollten, ist wohl eben wegen ihrer Samenunbeständigkeit kaum anzunehmen, auch ist es unwahrscheinlich, daß eine solche Variation, wie die Blutbuche, Traueresche usw. im Kampf ums Dasein den alten Arten gewachsen sein würde, gewiß aber steht der Annahme nichts im Wege, daß unter Umständen sprungweise Variationen, wenn sie von den Keimzellen ausgehen, zu dauernden Ab- änderungen der Art und zu Artspaltungen führen können. Zunächst wird dies geschehen können, wenn die Abänderungen unter der Grenze von Gut und Schlecht bleiben, also die Existenz der Art zwar nicht verbessern, aber auch nicht verschlechtern. Wir werden in einem der nächsten Kapitel über den Einfluß der Isolierung auf die Artbildung sprechen, und es wird sich dabei zeigen, daß unter gewissen Verhält- nissen auch gleichgültige Abänderungen erhalten bleiben können und daß sprungweise Variation, z. B. an der Bildung von Landschnecken- arten oder Schmetterlingsarten einen wesentlichen Anteil sehr wohl ge- habt haben kann. Noch bedeutender möchte ich den Anteil der aus Germinalselektion hervorgehenden sprungweisen Variation bei der Entstehung von sekun- Sprungweise Variation. 121 dären Geschlechtscharakteren anschlagen. Sobald überhaupt Per- sonalselektion, sei sie sexuelle oder gewöhnliche eine sprungweise ent- standene Abänderung als in irgend einem Sinne nützlich bevorzugt, so wird sie sich nicht nur erhalten und zum Charakter einer Abart werden, sondern sich auch steigern können, es fragt sich nur ob solche plötz- liche Veränderungen häufig nützlicher Art sind, besonders dann, wenn sie nicht bloß einzelne Charaktere, sondern eine ganze Kombination von solchen betrifft. Wenn wir nach den Spielvariationen der Blumen und Blätter der Pflanzen urteilen dürfen, so werden für die Erhaltung der Art als Ganzes nützliche Umgestaltungen auf plötzliche Weise nur selten, d. h. nur in wenigen unter sehr zahlreichen Spielformen vor- kommen, viel eher noch gleichgültige, wenn auch recht sichtbare und oft sogar auffallende Veränderungen. Aus diesem Grund bin ich geneigt, der sprungweisen Abänderung einen großen Anteil an den Sexualabzeichen einzuräumen. Aus der sprungweisen Abänderung bei Blumen, Früchten, Blättern wissen wir, daß dieselben schon bei ihrem ersten Erscheinen auffällig genug sein können, und so liegt es nahe, in ihnen den ersten Anfang vieler der schmückenden Auszeichnungen zu sehen, welche bei den Männchen so vieler Tiere, besonders bei Vögeln und Schmetterlingen sich vorfinden. Sobald Variationen größeren Betrags, im Keimplasma durch Germinal- selektion langsam vorbereitet, plötzlich in die Erscheinung springen können, so wird damit wieder einer der Einwände gegen die sexuelle Selektion beseitigt, denn auffällige Variationen müssen für das Ein- greifen dieser Art von Auslese wohl gefordert werden, da sie doch die Aufmerksamkeit der Weibchen erregen müssen, falls sie bevorzugt werden sollen: ohne solche Bevorzugung aber, wenn sie auch keine ganz strenge und unausgesetzte ist, würde eine so lange anhaltende Steigerung der schmückenden Auszeichnungen nicht denkbar sein. Wie aber die intragerminalen Verschiebungen der Gleichgewichts- lage des Determinantensystems die Wurzel der sprungweisen Abände- rungen unserer von der Kultur beeinflußten Pflanzen ist, so wird sie auch bei der Rassenbildung unserer domestizierten Tiere wesentlich mitgespielt haben und keineswegs bloß die künstliche Züchtung mit ihrer Veränderung einzelner Charaktere. Bei allen Rassen, bei deren Ausbildung es sich nicht um die Hervorbringung eines bestimmten einzelnen Charakters handelte, wie z. B. bei den spaltnasigen Hunde- rassen, den Doggen und Möpsen, werden wir die eigentümliche Ver- änderung vieler Teile auf Gleichgewichtsverschiebungen im Determi- nantensystem beziehen dürfen. die zwar nicht plötzlich, wie bei den sprungweisen Abarten, aber wohl allmählich sich steigernd, den sonder- baren Komplex von Charakteren zur Erscheinung bringen. DARWIN bezog solche Umgestaltungen des ganzen Tierbildes von einem ab- geänderten, willkürlich gezüchteten Charakter aus auf Korrelation. und verstand darunter den sich gegenseitig bedingenden Eintluß der Teile des Tieres aufeinander. Ein solcher besteht ja auch sicherlich, wie wir früher bei Besprechung der Histonalselektion gesehen haben, hier aber handelt es sich eher um eine Korrelation der Teilchen des Keimplasmas, um die Wirkung von Germinalselektion, welche angeregt durch künstliche Züchtung einzelner Charaktere, nach und nach eine stärkere Verschiebung im ganzen Determinantengebäude hervor- rufen kann. 122 Germinalselektion. 3ei der Bildung unserer domestizierten Tierrassen muß aber Ger- minalselektion auch in negativem Sinn, ich meine durch Schwächung und Verkümmerung einzelner Determinanten mitgespielt haben; nur so scheint mir z. B. die Zahmheit unserer Haustiere, der Hunde, Katzen, Pferde usw. zu verstehen, bei welchen allen die Instinkte der W ildheit, das Flüchten vor dem Menschen. die Geneigtheit. zum Beißen, zum feindlichen Angriff überhaupt zum Teil doch geschwunden sind. Es ist allerdings schwer abzuwägen, wieviel hier auf Gewöhnung im Einzel- leben zu setzen ist, und man könnte den Elephant als Beweis anführen, daß alle Zahmheit erst im Einzelleben entstünde, denn alle zahmen Elephanten sind wild eingefangen, allein es scheint doch, daß wild ein- gefangene junge Raubtiere, wie Fuchs, Wolf und Wildkatze, gar nicht zu reden von Löwen und Tigern, doch niemals den Grad der Zahm- heit erlangen, den viele der «domestizierten Hunde und Katzen auf- weisen. Auch spricht die bedeutende Verschiedenheit im Grade der Zahmheit bei unseren Hunden und Katzen schon dafür, daß hier in verschiedenem Grade abgeänderte Instinkte vorliegen. Wenn dem aber so ist, dann ist der Instinkt der Wildheit, wenn ich mich kurz so ausdrücken darf, verkümmert, und zwar in- folge seiner Überflüssigkeit und durch den Prozeß der Germinalselektion, welche die Determinanten der betreffenden Hirnpartien in die Varia- tionsrichtung nach abwärts eintreten lassen durfte, ohne auf Widerspruch von seiten der Personalselektion zu stoben. HERBERT SPENCER hat mir einst die Verkleinerung der Kiefer bei manchen Hunderassen, besonders den Möpsen und anderen Schoßhündchen als einen Beweis für die Vererbung erworbener Eigenschaften entgegengehalten; diese und ähnliche Fälle von Zurück- bildung eines Organs während langer Zeiten der Entwöhnung vom freien Naturleben lassen sich indessen durch fortgesetzte und durch Panmixie geförderte Grerminalselektion leicht verstehen. Die Kiefer und Zähne brauchten bei diesen verwöhnten Tieren nicht mehr auf der Höhe des auf die Kraft und Schärfe seiner Zähne angewiesenen Raub- tiers gehalten zu werden, und so sanken sie von ihr herab, wurden kleiner und schwächer, konnten aber doch nicht ganz schwinden, und so kam oder kommt noch jetzt der Prozeß des Absinkens durch Per- sonalselektion zum Stillstand. Auch der Unterkiefer des Menschen wird von manchen Autoren für rückgebildet erklärt. CouLıns fand den Unterkiefer des modernen Engländers um !/, kleiner, als den der alten Britten und um die Hälfte kleiner, als den des Australiers; FLOWER zeigte, daß wir eine mikro- donte Rasse sind, wie die Egypter, während die Chinesen, Indianer, Malayen und Neger mesodont, die Andamanesen, Melanesier, Australier und Tasmanier makrodont sind. Damit ist freilich noch nicht gesagt, daß bei uns eine Rückbildung der Zähne im Gange ist, was aber aus anderen Tatsachen, z.B. der Variabilität der Weisheitszähne wahrschein- lich wird. Es könnte ja auch nicht überraschen, wenn hier eine ab- wärts gerichtete Variationsrichtung in Gang gekommen wäre, denn mit der höheren Kultur und der verfeinerten Eßkunst sanken die Ansprüche, welche Personalselektion an das Gebiß des Menschen stellen mußte, und Germinalselektion mußte in diesem Sinne eingreifen. Wer wüßte nicht, wie die Güte der menschlichen Zähne unter der Kultur gelitten hat, und dies keineswegs bloß bei den höheren Ständen, sondern wie AMMoN beobachtete, auch bei den Bauern. Die ä Entartung durch Kultur. 123 Zeiten sind eben vorbei, wo rohes Fleisch noch ein Leckerbissen war, und wo schlechte Zähne soviel bedeuteten, als schlechte Ernährung, ja geradezu Verhungern. Spielen doch heute noch die Hungersnöte bei manchen Negerstämmen die Rolle eines furchtbaren, periodisch wieder- kehrenden Motivs der Auslese. Gar manche andere Organe sind beim Menschen durch die Kultur von ihrer früheren Höhe herabgesunken und sinken zum Teil noch immer weiter. Als ich den Begriff der Panmixie aufstellte und dieselbe zur Erklärung derjenigen Erscheinungen verwandte, welche bis dahin auf Vererbung der Folgen des Nichtgebrauchs bezogen wurden, führte ich auch die Kurzsichtigkeit des zivilisierten Menschen unter diesem Gesichtspunkt auf. Meine Ansicht hat damals viel Widerspruch erweckt, besonders auch bei den Augenärzten, welche mit großer Bestimmtheit die Erscheinung auf Vererbung erworbener Kurzsichtigkeit zurück- führen, ja in ihr geradezu einen Beweis für die Vererbung funktioneller Abänderungen sehen wollten. Aber abgesehen davon, daß eine solche Vererbung jetzt nicht nur als unerwiesen, sondern als widerlegt zu betrachten ist, bietet Panmixie in Verbindung mit den nie stillstehenden Schwankungen innerhalb des Keimplasmas, der Germinalselektion, eine bessere Erklärung, als jene Annahme sie zu geben imstande wäre. Ich habe damals schon ausge- führt, wie die Existenz des Individuums beim zivilisierten Menschen längst nicht mehr von der Vollkommenheit seiner Augen abhängt, wie etwa die eines jagenden oder kriegführenden Indianers, oder wie die eines Raubtiers, oder eines von Raubtieren verfolgten (Grasfressers. Auch hängt dies keineswegs bloß an der Erfindung der Brillen, sondern zum größeren Teil daran, daß nicht jeder mehr alles treibt, daß somit eine Menge von Erwerbsmöglichkeiten auch dem minder Scharfsichtigen offen stehen, also an der Arbeitsteilung in der menschlichen (esell- schaft. Sobald diese einen solchen Grad erreichte, daß dem Kurz- sichtigen die Gründung einer Familie keine größere Schwierigkeit be- reitete, als dem Normalsichtigen, konnte die Kurzsichtigkeit nicht mehr aussterben, und nicht nur durch Vermischung mit Normalsichtigen, sondern auf Grund der nie fehlenden Minusschwankungen der betreffen- den Keimplasmadeterminanten mußte eine abwärts gerichtete Variations- richtung entstehen und solange anhalten, bis ihr durch Personalselektion eine Grenze gesetzt wurde. Einstweilen sind wir offenbar noch im Prozeß des Herabsinkens der Augengüte mitten drin; aber auch der Widerstand gegen denselben ist ununterbrochen in Tätigkeit. indem allzu schlecht sehende Personen doch meist vom selbständigen Erwerb und der Gründung einer Familie ausgeschlossen sind freilich, dank unserer mißverstandenen Humanität, nicht immer; gibt es doch sogar zweiseitige Blindenheiraten! Bis jetzt aber ist das Sinken der Augen noch nicht weit vorge- schritten; noch lange nicht alle Familien sind von ihm berührt, und auch in Deutschland, dem Lande der „längsten Schulbank“ und der meisten Brillenträger ist doch die Kurzsichtigkeit meist noch vom ein- zelnen erworben, wenn gewiß auch häufig auf der Grundlage einer schwächeren oder stärkeren Anlage dazu. Es ist ein gewöhnlicher Ein- wurf gegen diese Auffassung, daß Engländer, Franzosen, Italiener einen viel geringeren Prozentsatz der Kurzsichtigkeit aufwiesen, und in der Tat sieht man in jenen Ländern ungleich weniger Brillenträger. Dennoch beweist dies nicht, daß nicht auch dort ein eben solches Herabsinken 124 Germinalselektion. der Augengüte eingetreten ist wie bei uns, denn wie sollte man die kleinen ererbten Anfänge davon konstatieren, wenn der Augenverderb des Einzellebens sich nicht dazu summiert, wie er durch das viele Lesen in schlechten Drucken, und das Schreiben mit gesenktem Kopf in Deutschlands Schulen noch immer in so manchen Fällen hervor- gerufen wird? Daß die Erklärung durch Panmixie auf Grundlage von Germinal- selektion die richtige ist, sehen wir noch zum UÜberfluß daran, daß Kurzsichtigkeit auch bei einigen unserer Haustiere, dem Hund und Pferd als eine häufige Eigenschaft nachgewiesen worden ist. Die Tiere erhalten Schutz und Unterhalt vom Menschen; Über- leben und Fortpflanzung hängen nicht mehr von ihrem scharfen Ge- sicht ab, und so ist auch hier das Auge von seiner ursprünglichen Höhe herabgesunken, ähnlich wie beim Menschen, obwohl hier Lesen und Schreiben nicht mitwirkt. Eine ganze Reihe ähnlicher schwacher Verschlechterungen einzelner Organe und Organsysteme ließen sich aufzählen, die alle in Folge der langen und hoch gesteigerten Kultur beim Menschen eingetreten sind. Sie alle müssen auf Germinalselektion beruhen, auf allmählich fort- schreitender Schwächung der betreffenden Determinantengruppen unter Leitung von Panmixie, d. h. nach dem Wegfall positiver Selektion. Dahin ist die Verschlechterung der Milchdrüsen und Brüste und die hauptsächlich daraus resultierende Unfähigkeit zum Stillen zu rechnen, eine Variationsrichtung, die in einem Volke auf niederer Kulturstufe nicht aufkommen könnte, wie sie denn auch in den niederen Greesellschaftsklassen bei uns noch nicht allgemein ge- worden ist. Auch die Muskelschwäche der höheren Stände gehört hier- her, und alles Turnen und Sportspielen hilft dagegen Nichts, solange eine relative Schwachheit «der Muskulatur kein Hindernis des Broter- werbs und der Gründung einer Familie ist. Ebensowenig hält die all- gemeine Wehrpflicht dieses Absinken der Körperkraft auf. Gewiß kräftigt sie Tausende und Hunderttausende von Einzelnen, aber sie hindert nicht die Schwächlinge, sich zu vermehren, und damit die Rassenver- schlechterung fortzupflanzen. ‚Ja, wenn nur Der Kinder erzeugen dürfte, der der Wehrflicht genügt hat! Nur im Bauernstand, soweit er noch selbst arbeitet und nicht bloß zusehender Besitzer des Bodens ist, kann ein solches Absinken der allgemeinen Muskelkraft keine dauernde Variatonsrichtung der be- treffenden Keimesdeterminanten werden, weil bei ihm die Körperkraft Bedingung der Familiengründung und -Erhaltung ist — wenigstens im Durchsehnitt. Auch das Absinken in der Festigkeit und Dicke der Knochen bei den höheren Ständen und manches andere Zeichen der Zivilisation gehört unter den Gesichtspunkt der Germinalselektion und Panmixie, vielleicht auch die kleineren Hände und Füße, wie sie zusammen mit grazilerem allgemeinem Knochenbau in den höchsten Ständen der europäischen Völker häufig vorkommen. Verwunderlich wäre es wenigstens nicht, wenn in Familien, die meist unter sich heiraten, und deren materielle Erhaltung durchaus nicht mehr vom Be- sitz großer, kräftiger Hände und Füße, sowie Knochen überhaupt ab- hängt, sich eine absteigende Variationsrichtung der betreffenden Keimes- (leterminanten entwickelt haben sollte, die natürlich nie eine gewisse Kurzsichtigkeit. 125 Grenze überschreiten kann, weil sie dann auch im Kulturleben nach- teilig wird. Wie sehr man sich aber hüten muß, große Hände und Füße als direkte Folge schwerer körperlicher Arbeit aufzufassen, zeigt mir eine Bemerkung STRASBURGERS. dem es besonders auffiel, dab sich die Bauern der hohen Tatra (Karpaten) durch kleine Hände und Füße auszeichneten. Während aber die Kultur zahlreiche abwärts gerichtete Variations- richtungen im Keim angeregt hat, ist sie auf der anderen Seite auch die Wurzel zahlreicher erblicher Verbesserungen, aufsteigender Variationsriehtungen. Es ist das ein neues (rebiet, weil man bisher vor die Alternative gestellt war, entweder eine Vererbung erworbener Eigenschaften anzunehmen, und auf Grund derselben die Talente und geistigen Gaben des Kulturmenschen auf lange und durch Generationen hindurch fortgesetzte Übung zu beziehen, oder aber eine Steigerung der geistigen Fähigkeiten nur soweit zuzulassen, als sie „Selektionswert“ besitzen, d. h. als sie im Kampf um die Existenz den Ausschlag geben können. Dahin gehört also Klugheit und Findigkeit nach jeglicher Richtung, Mut, Ausdauer, Kombinationsvermögen. und Entdeckertalent mit seiner Wurzel, Phantasie und (redankenreichtum, ferner Tatendrang und Fleiß. Diese geistigen Eigenschaften mußten sich steigern im Laufe der langen Kulturgeschichte der Menschheit allein schon durch den Kampf ums Dasein, aber wie sind die spezifischen Talente für Musik, Malerei, Mathematik usw. zustande gekommen? und wie die moralischen Tugenden der zivilisierten Menschen vor allem die Selbstlosigkeit. Denn von allen diesen Geistesanlagen kann man wohl kaum behaupten, daß sie Selektionswert für den Einzelnen besitzen. Es ist nicht meine Absicht, im Genaueren auf diese Fragen ein- zugehen, sie sind zu vielgestaltig und zu bedeutungsvoll für uns, um nur so nebenher abgemacht zu werden; ohnehin habe ich schon vor Jahren an einem Beispiel, dem Musiksinn des Menschen gezeigt, wie ich diese Anlagen auffasse. Ich glaube nicht, daß der Musiksinn erst im Menschen entstanden ist, auch nicht, daß er seit den Zeiten des Urmenschen sich wesentlich gesteigert hat, wohl aber, dab seine Äußerungen, seine Anwendungen im Anschluß an das sich stei- sernde Seelenleben der hochzivilisierten Völker sich ebenfalls gehoben haben. Es ist gewissermaßen ein Instrument, welches wir von unseren tierischen Vorfahren überkommen haben und auf dem wir um so höheres zu spielen lernten, je höher unser Geist sich entwickelte; er ist eine „unbeabsichtigte Nebenwirkung“ des überaus feinen und hoch- entwickelten Gehörorgans samt Hörzentrum, welches unsere tierischen Vorfahren im Kampf ums Dasein erworben hatten, und welches bei ihnen eine weit wichtigere Rolle in der Erhaltung des Lebens spielte, als bei uns. Der Musiksinn ist vergleichbar etwa der Hand, die auch schon bei den Affen entwickelt ist, die der Mensch jedoch im heutigen Kulturstaat nicht bloß zu ihrem ursprünglichen Dienst, zum Greifen benutzt, sondern noch zu vielem anderen, z. B. zum Schreiben oder Klavierspielen. So wenig aber die Hand aus der Notwendigkeit Klavier zu spielen entstanden ist, so wenig ist das überaus feine Gehör der höheren Tiere zum Musizieren erschaffen, vielmehr zum Erkennen der Feinde, Freunde und Beutestücke bei Nacht und Nebel, im Walde, auf der Heide und aus der Ferne schon. 126 Germinalselektion. Mit den übrigen seelischen Spezialanlagen oder Talenten verhält es sich wohl ähnlich. Ich will zwar keineswegs behaupten, daß sie gerade wie der Musiksinn nicht auch im Wettkampf um die Existenz und das Überleben gelegentlich eine Rolle spielen und deshalb sich auch nicht hätten steigern können, aber jedenfalls war diese Steigerung keine kontinuierliche, sonderen eine vielfach durchkreuzte, eine solche, die sich immer nur auf kleinere Gruppen von Deszendenten ausbreiten und deshalb nur schwer und langsam zur Hebung der psychischen Fähigkeiten eines ganzen Volkes beitragen konnte. In einzelnen Indi- viduen aber und Familien werden auf Grund von Germinalselektion solche Steigerungen sicherlich eintreten müssen, und es scheint mir wahrscheinlich, daß dieselben sich auch nicht immer wieder gänzlich verlieren, wenn es auch so aussieht, sondern daß sie die Idminoritäten weitergeben werden in der Kette der Geschlechter und nun das Mittel- mab des betreffenden Talentes um etwas emporheben und bei günstigen Umständen auch einmal wieder zur Bildung eines Genies sich vereinigen. Wir wissen ja, wie sehr solche spezifische Talente erblich sind; lassen wir nun die Determinanten z. B. des Musiksinns durch intragerminale Ernährungszufälligkeiten in eine aufsteigende Variationsrichtung geraten, so wird diese so lange sich fortsetzen, bis ihr von irgend einer Seite Halt geboten wird. Dies kann dadurch geschehen, daß bei der Reduk- tionsteilung und Amphimixis die hochgesteigerten Musikdeterminanten ganz oder teilweise eliminiert werden oder doch in die Minorität ge- raten. Solange aber dies nicht eintritt, wird sich die aufsteigende Variationsrichtung fortsetzen, und dann kann es zur Geburt eines Mozart oder Beethoven kommen. Personalselektion wird hier weder in posi- tivem, noch im negativem Sinn eingreifen, da hohe Entwicklung des Musiksinns weder förderlich noch hemmend im Kampf ums Dasein wirkt; die Steigerung wird also meist so lange fortgehen, bis die grobe Majorität hochentwickelter „Musikdeterminanten“, wie wir sie beim musi- kalischen Genie voraussetzen müssen, (durch ungünstige Reduktions- teilungen der Keimzellen und Verbindung derselben mit den Keim- zellen minder musikalischer Gatten diese Majorität herabsetzt oder schließlich in eine Minorität verwandelt. Es stimmt ganz mit diesen Vorstellungen. daß noch niemals große Spezialtalente sich durch mehr als sieben Generationen hin fortgesetzt haben. Aber auch dies ist bisher nur beim Musiktalent beobachtet worden, und die lange Fortsetzung des vererbten Talentes mag hier sehr wohl, wie FRANCIS GALTON in seinen berühmten statistischen Untersuchungen über die Vererbungserscheinungen meint, darauf be- ruhen, daß musikalische Männer nicht leicht Frauen wählen werden, welche dieses Talentes ganz entbehren. Es würde leicht sein, eine un- gemein hoch musikalisch begabte Familiengruppe innerhalb der deutschen Nation emporwachsen zu lassen, wenn man bewirken könnte, daß immer nur hoch musikalisch Begabte sich miteinander verbänden, wenn also Personalselektion sich einmischte. Auf einem anderen, allgemeineren (Gebiete geistiger Begabung liegt ein solcher Fall vor, den GALTON genau mitteilt, in dem drei hochbegabte englische Familien zehn Gene- rationen hindurch nur untereinander heirateten und dabei kaum irgend einen Sprößling hervorbrachten, der nicht das Epitheton eines nach irgend einer Richtung ausgezeichneten Mannes verdient hätte. Natürlich ist ein solches anhaltendes Beharren langer Generations- folgen auf der einmal erreichten allgemeinen geistigen Höhe leichter j Spezifische Talente. 127 möglich, als wenn es sich um die Vererbung und Steigerung eines einzigen spezifischen Talentes handelt, denn im ersteren Falle handelt es sich um ein Gemenge verschiedener hoher Geistesanlagen, von denen nicht immer alle in jedem Individuum zur Entfaltung zu ge- langen brauchen, ohne daß deshalb das Individuum schon zur Mittel- mäßigkeit herabsinkt, wenn ihm nur die Kombination der anderen Anlagen bleibt. Bei der Musik dagegen findet das Herabsinken von der erreichten Höhe sofort statt, sobald diese eine, die eigentliche Musikanlage nicht mehr in einer genügend starken Majorität von De- terminanten vertreten ist. Übrigens wäre es Täuschung, zu glauben, daß die Begabung eines SEBASTIAN BAacH oder BEETHOVEN lediglich auf dem hochentwickelten Musiksinn beruhte; hier wie bei allen großen Künstlern müssen sich viele hochentwickelte geistige Vermögen mit dem Musiksinn vereint haben: ein Tropf hätte niemals die H moll-Messe oder die Matthäuspassion geschrieben, auch wenn er das Musikgenie Sebastian Bachs besessen hätte. Gerade darin liegt ein weiterer Grund, warum solche höchstbegabte Genien sich selten oder niemals in zwei aufeinanderfolgenden Generationen in der gleichen Höhe wiederholen; die Kombination von Geistesgaben wechselt stets vom Vater auf den Sohn, und kleine Verschiebungen darin können schon die größten Wirkungen in bezug auf die Äußerungen des spezifischen Talentes bedingen. Unter Umständen kann die schwache Entwicklung eines einzigen Charakterzugs, z. B. der Tatkraft, oder die übermäßige Entwicklung eines anderen, z. B. der Unentschlossenheit oder Zerfahren- heit die vorhandene günstige Kombination vieler anderen Geistesver- mögen, also in diesem Falle etwa des Musiksinnes, der Erfindungsgabe, (Gemütstiefe usw. dermaßen lahm legen, daß keine nennenswerten Leistungen zustande kommen. Da nun, wie wir früher gesehen haben, die verschiedenen Geistesvermögen der Eltern sich gewissermaßen einzeln vererben, d. h. in den mannigfaltigsten Kombinationen in den Kindern auftreten können, so müssen wir uns eher darüber wundern, daß hervorragende Begabung nach einer spezifischen Richtung hin, sich doch unter Umständen durch zwei und ein halbes Jahrhundert in einer Familie erhalten kann, als daß wir erstaunt sein dürften, daß dies nur selten beobachtet wurde. Denn Reduktionsteilung kombiniert die vor- handenen Geisteskräfte immer wieder neu, und Amphimixis bringt fremde Geisteskräfte hinzu. So wird also Germinalselektion, d. h. freie spontane, aber bestimmt gerichtete Variation einzelner Determinantengruppen die Wurzel jener auffallenden individuellen Eigentümlichkeiten sein, welche wir spezi- fische Talente nennen; sie wird aber nur selten und nur in einzelnen Individuen den höchsten Grad erreichen, weil diese Talente durch Per- sonalselektion nicht begünstigt werden, und daher die excessiv hoch ge- triebenen Determinanten, auf welchen sie beruhen, sich im Laufe der Generationen bald wieder zerstreuen, zu schwächeren Majoritäten herab- sinken oder gar zu Minoritäten. wo sie dann als sichtbare Geisteskräfte ganz untertauchen. Wir erschlossen den Vorgang der Germinalselektion auf Grund der Annahme, daß die Ernährung aller Teile und Teilchen des Körpers Schwankungen ausgesetzt ist, also auch die der Determinanten und Biophoren des Keimplasmas. Wir sahen in den daraus resultierenden Ver- änderungen dieser letzten und kleinsten Einheiten des Keimplasmas die letzte Wurzel der erblichen Variation, also die Grund- 128 Germinalselektion. lage aller Umwandlungen, welche die ÖOrganismenwelt im Laufe der Zeiten eingegangen ist und noch eingeht. Es fragt sich jetzt noch ob wir uns von der Natur dieser ange- nommenen Abänderungen der Keimplasmaeinheiten genauere Rechen- schaft geben können. Wenn ich nicht irre, vermögen wir darüber wenigstens soviel auszusagen, daß alle Variationen in letzter In- stanz quantative sind, daß sie auf Ab- oder Zunahme der lebenden Teilchen oder ihrer Konstituenten. der Moleküle beruhen. Aus diesem Grunde sprach ich bisher immer nur von zweierlei Variationsrichtungen, von einer nach Plus und einer nach Minus vom Durchschnitt gerichteten Variation. Was uns als Qualitätsänderung erscheint, ist eben auch nichts Anderes, als ein Mehr oder Minder, eine andere Mischung der Bestandteile, welche eine höhere Einheit zusammensetzen, eine ungleiche Zu- oder Abnahme dieser Bestandteile, der niederen Einheiten. Wir sprechen von einfachem Wachstum einer Zelle, wenn sich ihre Masse vermehrt, ohne daß ihre Zusammensetzung sich ändert, also wenn das Verhältnis der sie zusammensetzenden Formbestandteile und chemischen Verbindungen sich dabei gleich bleibt; sie verändert aber ihre Be- schaffenheit, wenn dieses Verhältnis sich verschiebt, wenn z. B. die wenigen roten Pigmentkörnchen, welche früher vorhanden und kaum sichtbar waren, sich so vermehren, daß sie die Zelle rot erscheinen lassen. Waren aber vorher gar keine roten Körnchen da, so können sie dadurch entstehen, daß gewisse andere vorhandene Teilchen, z. B. des Protoplasmas, sich im Stoffwechsel derart zerlegen, daß unter anderem auch rote Körnehen von Harnsäure oder einem anderen roten Stoff entstehen, und auch in diesem wird es ein Mehr oder Weniger der die Protoplasmamoleküle konstituierenden Moleküle einfacher Art und der Atome sein, welche die qualitative Umwandlung bedingen. In letzter Instanz beruhen also alle Variationen auf quantitativen Ver- änderungen der Teile, welche den variierenden Teil zusammensetzen. Man könnte diesem Argument entgegenhalten, daß die Chemie isomere -Verbindungen kennt, deren qualitative Verschiedenheiten also nicht auf einer anderen Zahl der sie zusammensetzenden Moleküle beruht, sondern auf ihrer verschiedenen Anordnung; man könnte geltend machen, daß ähnliches auch in morphologischen Verhältnissen vorkomme. In der Tat scheint es so. Man kann sich z. B. 100 Haare auf dem Rücken eines Käfers das eine Mal gleichmäßig verteilt denken, das andere Mal alle dicht beisammen stehend und eine Art von Bürste bildend, allein obgleich dieses Bürstchen gewiß eine neue Qualität des Käfers wäre, so beruht ihre Bildung doch nur auf Quantitätsunter- schieden, nämlich darauf, daß auf derselben Hautfläche, welche im ersten Fall vielleicht nur ein Haar trug, im zweiten deren 100 stehen. Die (Quantität von Haarzellen ist auf dieser kleinen Fläche erheblich ver- mehrt. Ebenso beruht die charakteristische Streifung des Zebras nicht auf einer (Qualitätsänderung der Haut im ganzen, sondern auf der starken Ablagerung schwarzen Pigments in bestimmten Zellen der Haut, also auf (uantitätsänderungen. In bezug auf das ganze Tier ist es eine qualitative Änderung, z. B. gegenüber dem Pferd, in bezug auf die Be- standteile, welche die Qualitätsänderung hervorbringen, aber ist es eine rein quantitative. Das Ganze ändert seine Qualitäten, wenn ein Teil der Bausteine, aus denen es besteht, sich quantitativ verändert. So werden auch die Determinanten des Keims nicht bloß als Ganzes größer oder kleiner werden können, sondern auch von den Zi Germinalselektion. 129 sie zusammensetzenden Biophoren werden einzelne Arten sich stärker vermehren können als andere unter bestimmten abgeänderten Verhält- nissen, und dadurch wird dann die Determinante selbst qualitativ ver- ändert, so daß also schon aus dem wechselnden Zahlenverhältnis der verschiedenen Arten von Biophoren ‚eine Eigenschaftsänderung der De- terminante hervorgehen kann und infolgedessen auch (Qualitätsände- rungen der durch die Determinanten bestimmten Organe, der Deter- minaten. Allein auch die Biophoren selbst dürfen, wie alles Lebendige, nicht unveränderlich gedacht werden, auch sie können durch Verände- rung der Ernährung ungleich wachsen und dadurch ihre (Qualitäten ändern. Dies im näheren ausführen und das Getriebe der Kräfte im kleinsten Lebenskomplex erraten zu wollen, wäre heute nur ein Spiel der Phantasie, aber prinzipiell kann gegen die Annahme nichts ein- gewendet werden, daß jedes Lebenselement bis zum untersten und kleinsten herab durch Ungleichheiten der Ernährung nicht nur gleich- mäßig in auf- oder absteigende Wachstumsbewegung versetzt, sondern auch qualitativ, d. h. in seinen Eigenschaften verändert werden kann, indem die dasselbe zusammensetzenden Bestandteile ihre Proportion ändern. Wir wissen ja freilich nichts (Gewisses und nichts Grenaues über die Einheiten des Keimplasmas, können auch nichts darüber aussagen, was dazu gehört, damit eine Determinante einen Teil des sich ent- wickelnden Körpers so oder so determiniere; somit sind wir auch ohne bestimmte Vorstellung davon. welche Beziehungen zwischen Verände- rungen der Determinante und den Veränderungen ihrer Determinate bestehen, allein wir wissen wenigstens, daß erbliche Abänderung eines Teils nur möglich ist, wenn auch ein entsprechendes Teilchen des Keim- plasmas abändert, und wir dürfen wenigstens annehmen, daß diese beiden Abänderungen insoweit sich entsprechen werden, daß stärkere Ausbildung der einen einer stärkeren Ausbildung der anderen entspricht, und daß es sich nicht etwa auch umgekehrt verhalten kann. Wenn die Determi- nante X aus dem Keim verschwindet, dann verschwindet auch die Determinate A! aus dem Soma. So wird es auch berechtigt sein, von dem Ausbildungsgrad eines Organs auf die Stärke seiner Determi- nante zu schließen und Plus- und Minusvariationen bei beiden als ent- sprechende Größen zu nehmen. Nun kommt aber bei den Gleichgewichtsschwankungen im Innern des Keimplasmas, die die Wurzel aller erblichen Variationen bilden, noch etwas in Betracht, das oben schon kurz berührt wurde, nämlich die Korrelation der Determinanten, die Beeinflussung einer Deter- minante durch eine andere benachbarte. Ich sprach überhaupt der Kürze halber meist nur von „der Determinante* eines Teils, wäh- rend doch alle irgendwie größeren und bedeutenderen Teile, vielfach sogar schon einzelne Zellen, durch mehrere oder viele Determinanten, durch Gruppen von solchen bestimmt zu denken sind. Wenn wir nun auch gänzlich außerstande sind, den verwickelten Vorgängen gegen- seitiger Beeinflussung der Determinanten untereinander zu folgen, so können wir uns doch wenigstens sagen, daß solche Beeinflussungen bestehen müssen, und das eröffnet uns eine Ahnung dessen, was bei der spontanen Variation im Innern des Keimplasmas vor sich gehen muß. Zunächst werden die einzelnen Determinanten zu Gruppen ge- ordnet zu denken sein, so etwa, daß z. B. die homologen Determinanten der rechten und linken Körperhälfte beisammen liegen, deshalb auch Woismann, Doszondenzthoorie. II. 2. Aufl. Y 130 Germinalselektion. von verändernden Einflüssen häufig zusammen getroffen werden und zugleich in gleicher Richtung variieren, wie denn tatsächlich analoge Mißbildungen, wie die Polydaktylie rechts und links, ja sogar zugleich an Händen und Füßen vorkommen. Dab rechte und linke Hände, daß Vorder- und Hintergliedmaßen durch besondere Determinanten im Keim vertreten sind, sehen wir aus ihrer häufig verschiedenen phyletischen Entwicklung zu Hand und Fuß, oder zur Flosse und zum rudimentären Hinterfuß (beim Wal), sowie auch aus der zwar seltenen, aber doch bestimmt vorkommenden verschiedenen Erbnachfolge, wie sie z. B. in einem blauen mütterlichen und einem braunen väterlichen Auge beim Menschen beobachtet wird. Aber fast noch auffallender als die Ver- schiedenheiten solcher homologer und homotyper Teile sind ihre Uber- einstimmungen, und diese mögen wohl zum Teil auf ihre Zusammen- ordnung und gemeinsamen Schicksale in der Keimsubstanz bezogen werden dürfen, wenn auch ein weit gröberer Teil derselben wohl sicher auf ihre Anpassung an ähnliche Leistungen zu beziehen sein, also als Konvergenzerscheinung innerhalb desselben Organismus aufzufassen sein wird. Wir stellten uns vor, dab das erstere stärkere Wachsen einer Determinante eine wenn auch noch so leichte Nahrungsentziehung für ihre Nachbarn bedeutet; diese freilich kann sofort ausgeglichen werden, wenn von einer anderen Seite her der gemeinsame Nahrungsstrom weniger stark beansprucht wird als vorher; sie kann aber auch mög- licherweise verstärkt werden, wenn von einer anderen Seite her eben- falls eine stärkere Beanspruchung von Nahrung ausgeht, und dann sinkt die von zwei Seiten benachteiligte Determinante doppelt stark nach ab- wärts. Auch der Fall ist denkbar, daß die meisten Determinanten eines Teils nach aufwärts variieren und durch ihre vereinte stärkere Assi- milationskraft einen so verstärkten Nahrungsstrom sich zulenken, daß das gesamte Organ, z. B. eine bestimmte Vogelfeder, nun in aufwärts gerichtete Variation gerät, größer und größer wird, wie wir es jbei manchen Schmuckfedern tatsächlich finden; oder auch daß gewisse De- terminanten nur in einzelnen ihrer Biophoren abändern, und daß da- durch die Determinaten, z. B. eine Gruppe bisher schwarzer Schuppen eines Schmetterlingsflügels brillant blau ausfallen. Auch muß es wohl geschehen können, daß solche Veränderungen im Innern von Determi- nanten sich auf benachbarte Determinanten übertragen, indem dieselben Ernährungsverhältnisse, welche die ersteren zur Abänderung bestimmten, sich ausbreiten. Das Anwachsen von brillant gefärbten Flecken bei Vögeln und Schmetterlingen läßt auf derartige Vorgänge im Keim- plasma zurückschlieben. Ich will es mir versagen, diese Gedanken weiter im einzelnen zu verfolgen und die beobachteten Beziehungen und Veränderungen der fertigen Teile des Körpers in die Sprache des Keimplasmas zu über- setzen; soviel aber darf wohl als sicher angenommen werden, daß ein sanzes Heer von Beziehungen und Beeinflussungen zwischen den Elementen des Keimplasmas besteht, daß die eine Verände- rung eine andere nach sich zieht, und daß so — meist in sehr lang- samem Tempo, d. h. im Laufe von Generationen und von ganzen Arten, aus rein intragerminalen Gründen gesetzmäßige Verände- rungen eintreten, die — soweit sie unterhalb von Gut und Schlecht bleiben — von sich aus schon eine Art umstempeln, die aber, wenn sie von Personalselektion ergriffen werden, durch Sichtung und 4 Germinalselektion. 131 Kombinierung der Ide zu noch höherer Ausbildung emporgeführt werden können. Wenn wir nun weiter bedenken, daß die Veränderung einesteils doch nicht bloß von der Qualität der äußeren Einwirkung, sondern auch von der Konstitution, d. h. Reaktionsfähigkeit .des betreffenden Teils ab- hängen muß, so werden wir verstehen, daß- gleiche Nahrungsabände- rungen zwei verschiedene Determinanten in verschiedener Weise ver- ändern können, und wenn wir erwägen, daß eine jede Nahrungsänderung von dem Punkte aus, an dem sie entstand, sich mit abnehmender Stärke nach bestimmten Richtungen hin ausbreiten muß, so haben wir einen weiteren Faktor der Determinantenabänderung, und zwar einen solchen, der selbst gleiche Determinanten ungleich beeinflußt. Wenn wir nun zuletzt noch erwägen, daß Determinanten ver- schiedener Konstitution auch verschiedene Bestandteile dem Nahrungs- strom entnehmen werden, somit denselben in wechselnder Art chemisch verändern und ihren Nachbarn einen veränderten Vorrat an nährenden Substanzen zukommen lassen werden, so sehen wir in ein ver- wickeltes, feinstes aber durchaus gesetzmäßig verlaufendes Getriebe hinein, in einen Mechanismus, den wir freilich nur ahnen können, dessen Wirkungen uns aber in den spontanen Varia- tionen der Organismen vorliegen. Wir begreifen im Prinzip die Möglichkeit sprungweiser Abänderung, als einer mehr oder minder ausgedehnten, mehr oder minder starken Verschiebung des Art- bildes in dieser oder jener Merkmalgruppe, und wir werden solche „kaleidoskopische“ Veränderungen, wie sie EIMER als die einzige Grund- lage der Artumwandlung vermutete, und wie sie in jüngster Zeit wieder durch DE VRIES*) in den Vordergrund gerückt werden, in beschränkter Wirkungssphäre sehr wohl als einen Faktor der Transmutationen aner- kennen dürfen. Alle diese intragerminalen Kämpfe und Beeinflussungen aber werden wir uns in minimalen Proportionen erfolgend denken müssen, so zwar, daß sie immer erst durch längere Summierung eine sichtbare Wirkung hervorrufen, und wir werden nie vergessen dürfen, daß auch die Mehrzahl der Ide dabei noch wesentlich mitspielt, da in jedem Id solche „spontane“ Variationen von Determinanten in anderer und ganz selbständiger Weise erfolgen können. Wäre dem nicht so, so wäre ein Eingreifen von Personalselektion nicht möglich, Naturzüchtung existierte nicht, und die Anpassung des Organismus von der einzelnen Zelle an bis zum ganzen bliebe vollkommen unerklärt. Die gesamte spon- tane Keimesvariation steht, soweit sie die Grenze von Gut und Schlecht überschreitet, unter der Schere der Personal- selektion, und damit unter ihrer beinahe suveränen ÖOber- leitung. Das plötzliche erste Hervortreten einer sprungweisen Abänderung dagegen wird ganz unabhängig von Personalselektion erfolgen, beruhend auf gleichartigen Veränderungen einer Anzahl von Iden, die so lange latent bleiben, bis sie durch die bekannte, der Amphimixis vorher- gehende Reduktionsteilung zufällig zur Majorität gelangen. Bei den plötzlichen Knospenvariationen aber darf wohl eine noch nicht nach- gewiesene, abnormalerweise eintretende Reduktionsteilung als Grund des Sichtbarwerdens der germinalen Abänderung vermutet werden, wie eine *) Siehe den Schluß von Vortrag XXXII. 9* 132 Germinalselektion. solche ja auch früher zur Erklärung der Rückschäge solcher Spielformen angenommen wurde. Dadurch würde auch die Seltenheit der Knospenvariationen ihre Erklärung finden, während die größere Häufigkeit der sprungweisen Variation bei Samenpflanzen in der Regelmäbigkeit der Reduktions- teilung bei geschlechtlicher Fortpflanzung ihren Grund erkennen ließe. Daß aber überhaupt gleiche oder doch ähnliche Änderungen in mehreren oder vielen Iden zur selben Zeit eintreten, kann nur auf der Einwir- kung ähnlicher, allgemeiner, d. h. die ganze Pflanze betreffender Ein- wirkungen beruhen, wie sie eben durch Kultivierung, Düngung usw. gesetzt werden. Bei Besprechung der Mediumseinflüsse denke ich darauf noch zurückzukommen. Man hat von einzelnen Seiten die ganze Vorstellung einer Ger- minalselektion als bloßes Phantasiespiel bezeichnet, das ja schon dadurch verurteilt werde, dab es sich auf Verschiedenheiten der Ernährung inner- halb so winziger Substanzmengen stütze, wie sie die Chromosomen der Kernsubstanz im Innern emer Keimzelle seien. Gewiß ist diese Substanzmenge eine sehr geringe, aber muß sie nicht dennoch ernährt werden, und ist es wirklich wahr, daß die Nahrungszufuhr für alle ihre unsichtbar kleinen lebenden Elemente die gleiche ist? Wohl kann man zugeben, dab die Nahrung außerhalb des Ids meist eine reichliche sein wird, obwohl auch darin sicherlich Schwankungen vorkommen, allein (daraus folgt gewiß nicht, daß nun auch im Innern des Ids jede Lebens- einheit gleich gestellt ist und gleichviel, oder gar, wie man gemeint hat, soviel als sie nur irgend brauchen kann, zur Verfügung hat. Eine solche Behauptung kommt mir so vor, als wenn ein Mondbewohner durch ein vortreffliches Fernrohr unsere Erde betrachtend, die Stadt 3erlin deutlich unterscheiden könnte, auch die in ihr zirkulierende Menschheit, die Eisenbahnzüge, die ihr von allen Seiten Lebensmittel massenweise zuführen, und der nun aus dieser überreichlichen Ver- sorgung schließen wollte, innerhalb dieser Stadt herrsche allgemein der Uberfluß, und jeder seiner Bewohner habe so viel zum Leben, als er nur irgend verbrauchen könne. Daraus, daß wir in die Struktur und die Ernährungsbedürfnisse und -Modalitäten einer sehr kleinen Substanzmenge nicht hineinsehen können, dürfen wir sicherlich nicht schließen, daß dort Ernährung nicht ungleich zu wirken und nicht durch ihre Ungleichheit sehr wesentliche Differenzierungen hervorzurufen vermöge — zumal wenn es sich um eine Substanz handelt, der wir eine ganz außerordentlich komplizierte Zusammensetzung aus einer Unmasse außerordentlich kleiner Teilchen zuschreiben müssen. Daß letzteres aber nicht zu vermeiden ist, geben ja heute auch manche von denen zu, die früher noch an eine einfache Struktur der Keimsubstanz glauben zu können meinten. Wie kompli- ziert nicht nur die Keimsubstanz, sondern jede Zelle eines höheren Organismus gebaut ist, wie auch bei ihr die Differenzierungen und Zusammenordnungen bis weit unter das sichtbar Kleinste hinabreichen, das lehren die neuesten histologischen Forschungen, wie wir sie HEIDEN- HAIN, BOVERI und so vielen anderen verdanken, aufs eindringlichste. Wie erstaunte die wissenschaftliche Welt, als sie in den siebenziger Jahren die geheimnisvolle Kernspindel kennen lernte! und seitdem ist diese durch die CGentrosphäre, das Centrosoma und neuerdings noch gar die Öentriole in den Schatten gestellt worden, und heute denkt man daran dab, diese wundersamen Kraftzentren selbst wieder ihren eigenen äl Germinalselektion. 133 Teilungsapparat besitzen könnten oder müßten! Solchen Erfahrungen gegenüber wird man schwerlich dabei beharren dürfen, nur das als existierend anzuerkernen, was man eben gerade noch mit den stärksten Linsen erkennen oder doch ahnen kann, man wird nicht länger zweifeln dürfen, daß weit unter der Schwelle des Sichtbaren ebenfalls noch Organisation dem Leben zugrunde liegt und durch gesetzmäßige Kräfte beherrscht wird. Mir wenigstens scheint der Schluß aus den Erschei- nungen der Vererbung und Variation auf eine ungeheure Anzahl kleinster Lebensteilchen, die in dem engen Raum eines Id sich zusammenscharen, erheblich sicherer und zwingender, als der umgekehrte Schluß aus der berechneten Größe von Atomen und Molekülen auf die Anzahl der- selben, welche man in einem Id anzunehmen befugt sei. Ich habe in meinem Buch über das Keimplasma eine solche Berechnung angestellt und bin dort zu Zahlen gekommen, die für das Bedürfnis der Keim- plasmatheorie eher zu klein erscheinen mußten. Man hat darin den Beweis gesehen, daß ich mich meinen Theorien zu lieb über die Tat- sachen wegsetzte, man hätte sich aber lieber fragen sollen, ob denn die Größe der Atome und Molekel Tatsachen sind, oder nicht vielmehr sehr fragwürdige Ergebnisse aus unsicheren Rechnungsansätzen? (Gewiß hat die heutige Chemie die relativen (sewichtsverhältnisse der Atome und Moleküle mit bewundernswerter Genauigkeit festgestellt, über die abso- lute Größe der letzten Teilchen vermag sie aber keine anderen, als durchaus unsichere Angaben zu machen. So wird es also erlaubt sein, eine bedeutendere Kleinheit derselben anzunehmen, wenn die Tatsachen anderer Wissensgebiete (dies verlangen. Wir müssen Determinanten annehmen, folglich muß das Keim- plasma auch Platz für dieselben haben; die Veränderungen der Arten können nur aus Veränderungen des Keimplasmas erklärt werden, denn nur diese erzeugen erbliche Variationen. Auf diesem Grund baut sich meine Germinalselektion auf; ob ich damit im großen und ganzen das richtige getroffen habe, wird die Zukunft lehren; daß ich das ganze neue Gebiet nicht erschöpft, sondern gerade eben nur aufgeschlossen habe, weiß ich sehr wohl. XXVIl. VORTRAG. Biogenetisches Gesetz. FRITZ MÜLLERs Gedanken p. 135, Ontogenese der Crustaceen p. 135, der Daphniden p. 138, der Sacculina p. 141, der parasitischen Copepoden p. 142, Larven der höheren Krebse p. 143, Veränderung phyletischer Stadien in der Ontogenese p. 144, HÄCKELS „biogenetisches Grundgesetz“ p. 145, Palingenese und Cönogenese p. 146, Veränderung der phyletischen Formen durch Einfügung in eine verkürzte Ontogenese p. 147, Berechtigung von Schlüssen aus der Ontogenese auf die Phylogenese p. 147, WÜRTEM- BERGERS Ammonitenreihen p. 149, Phylogenese der Zeichnung bei den Raupen der Sphingiden p. 150, Verdichtung der Phylogenese zur Ontogenese p. 156, Beispiel der Crustaceen p. 157, Gesetzmäßiges Schwinden der nutzlosen Teile dabei p. 158, Das Variieren homologer Teile nach EMERY p. 159, Keimplasmatische Korrelationen p. 160, Zusammenstimmung mit der Determinantenlehre p. 160, Vervielfachung der Determi- nanten im Laufe der Phylogenese p. 160. Meine Herren! Was ich heute mit Ihnen besprechen möchte, hätte ich eigentlich schon früher bringen sollen, wenn wir wenigstens an den historischen Entwicklungsgang der Wissenschaft gebunden wären, denn die Erscheinungen, um welche es sich jetzt handeln wird, sind schon bald nach der Wiedererweckung des Deszendenzge- dankens der Wissenschaft wieder zum Bewußtsein gekommen und bilden gewissermaßen die erste bedeutsame Entdeckung, welche auf Grund der Darwınschen Deszendenzlehre gemacht worden ist. Wenn ich sie erst jetzt Ihnen vorführe, so geschieht es aus dem Grunde, weil es sich hier um Erscheinungen der Vererbung und ihre Modifi- kationen handelt, deren Verständnis — soweit wir überhaupt heute schon von einem solchen reden können — nur auf Grundlage einer Vererbungstheorie möglich ist. Wenn ich also überhaupt versuchen wollte, diese Erscheinungen auf ihre Ursachen zu prüfen, so mußte ich Ihnen zuerst eine Theorie der Vererbung geben, wie ich dies in der Keimplasmatheorie getan habe. Es handelt sich um den Zusammen- hang zwischen der Entwicklungsgeschichte des vielzelligen Einzel- wesens und derjenigen der Art, zwischen Keimesgeschichte und Stammesgeschichte, oder wie wir seit HÄCKEL sagen: zwischen Öntogenese und Phylogenese. Schon lange vor DArRwın waren einzelne Forscher auf die Tat- sache aufmerksam geworden, daß gewisse Stadien in der Embryo- genese der höheren Wirbeltiere, der Vögel und Säuger Ähnlichkeit mit Fischen besitzen, und man hatte z. B. von einem fischähnlichen Stadium des Vogel-Embryos gesprochen. Die Naturphilosophen aus dem An- fang des XIX. Jahrhunderts, OKEN, TREVIRANUS, MECKEL und andere waren sogar auf Grund der damaligen Transmutationslehre noch viel weiter gegangen, und hatten in der Embryonalentwicklung z. B. des ä Entwicklung der Kruster. 135 Menschen eine Wiederholung der verschiedenen Tierstufen erkennen wollen, vom Strahltier und Wurm an zum Insekt und Mollusk hinauf Später zeigte dann von BAER, daß solche Ähnlichkeiten nur innerhalb desselben Typus vorhanden seien, und JOHANNEs MÜLLER erklärte die- selben vom Standpunkt der alten Schöpfungstheorie aus als den „Aus- druck des allgemeinsten und einfachsten Plans der Wirbeltiere“, der es eben mit sich brächte, daß z. B. auf einem gewissen Stadium der Em- bryogenese auch beim Menschen Kiemenbogen angelegt werden, um später wieder „einzugehen“. Warum denn freilich dieser „Plan“ auch da ausgeführt werden mußte, wo er später wieder verlassen wird, blieb unverständlich. Eine Antwort auf diese Frage wurde erst mit der Wiederaufnahme der Deszendenzlehre möglich, und der erste, der nach dieser Richtung Klarheit schaffte, war Fritz MÜLLER, der in seiner 1864 erschienenen Schrift „Für Darwın“ die Entwicklungsgeschichte des Individuums, die „Ontogenese*, als eine kurze und vereinfachte Wiederholung, gewisser- maßen als eine Rekapitulation des Entwicklungsganges der Arten, der „Phylogenese“, auffaßte. Er erkannte aber zu- gleich schon sehr wohl — was ja auch klar vor aller Augen lag — dab die „Stammesgeschichte“ nicht einfach aus der „Keimesgeschichte“ ab- gelesen werden kann, sondern daß die Phylo- genese einerseits durch Zusammenschiebung und Kürzung ihrer Sta- dien in der Ontognese „verwischt“ wird, indem die Entwicklung einen Fig. 108. Naupliuslarve von einem niederen immer geraderen Weg Krebs. Nach Frırz MÜLLER. vom Ei zum fertigen Tier „einschlägt“‘, während sie andererseits auch häufig „gefälscht“ wird „durch den Kampf ums Dasein, den die freilebenden Larven zu bestehen haben“. Fritz MÜLLER bezog sich in der Begründung seiner Ansichten hauptsächlich auf Larven, und zwar auf diejenigen von Ürustaceen, und die Tatsachen, welche er teils neu beibrachte, teils in neuem Sinn zusammenstellte, waren so schlagend, daß man sich ihrem Gewichte nicht entziehen konnte. Er machte vor allem aufmerksam darauf, daß bei mehreren der niederen Krusterordnungen die verschiedensten Arten in einer ganz übereinstimmenden Gestalt das Ei verlassen, nämlich als kleine ungegliederte Larven mit drei Gliedmaßenpaaren, von denen die zwei hinteren zweiästige mit Borsten besetzte Ruderfüße sind, Larven mit einem Stirnauge und mit einer großen helmförmigen Oberlippe. In der Größe und Gestalt des Körpers, besonders auch des Chitinpanzers zeigen diese Larven Verschiedenheiten bei den verschiedenen systema- tischen Gruppen, so ist z. B. die Larve der Ruderfübßer (( 'opepoda) ein- fach eiförmig, bei den Rankenfüßern läuft sie vorn in zwei hörnerartige Fortsätze aus u. s.w., aber das wesentliche bleibt überall dasselbe, und 136 Biogenetisches Gesetz. so bezeichnete man schon seit lange diese Larvenform mit dem be- sonderen Namen des „Nauplius“ (Fig. 108). Das fertige Tier nun entwickelt sich aus dem Nauplius dadurch, daß dieser in die Länge wächst, indem sich sein Hinterende verlängert und gliedert; zwischen Vorderteil und Schwanzende schieben sich Seg- mente ein, Körperringe, auf welchen dann neue Gliedmassenpaare her- vorwachsen können. Je nach der Gruppe, zu der das Tier gehört, ist die Zahl dieser Segmente und Gliedmassen verschieden. So besteht der Leib des fertigen Tieres hei den kleinen Muschelkrebschen immer nur aus acht Segmenten, von denen sieben je ein Gliedmassenpaar tragen, bei den Kiemenfüssern (Branchiopoden) dagegen aus einer zwischen 20 und 60 schwankenden Zahl von Sesmenten mit 10 bis über 40 Bein- paaren, bei den Daphniden oder Wasserflöhen aus etwa 10 Segmenten mit 7—10 Gliedmassenpaaren, bei den Ruderfüßern oder Copepoden aus etwa 17 Segmenten mit 11 Gliedmassenpaaren. Nicht nur auf der Verschiedenheit der Zahl von Segmenten und Gliedmassen beruht die Verschiedenheit der Ordnungen, sondern ebensosehr auch auf der Ge- stalt und Ausbildung der Segmente und vor allem der Gliedmassen, aber hierbei ist es wieder bemerkenswert, dass die Gliedmassen, welche neu hervorwachsen, zuerst meist als zweiästige Ruderfüße ent- stehen, und erst später sich zu einer anderen Gestalt umformen. So gehen die späteren Kieferpaare, drei an der Zahl, bei den Copepoden aus solehen Schwimmfüßen hervor, und ebenso die zweiten Fühler der Copepoden und die Kiefer der Branchiopoden, Cirrhipedien u.s. w. Wenn wir also in der „Keimesgeschichte* („Ontogenese*) eine einigermaßen genaue Wiederholung der „Stammesgeschichte* Phyloge- nese) vor uns haben. so dürfen wir daraus schließen, daß Tiere, die aus wenigen Segmenten bestanden. die Urform des Krebsstamms bil- deten, und daß aus dieser im Laufe der Erdgeschichte die heute so verschiedenen Gruppen von Krustern dadurch hervorgegangen sind, daß neue Segmente sich einschoben, und daß deren Gliedmassenpaare, die zuerst zweiästige Ruderfüße waren, sich nun verschiedenartigen Funk- tionen anpassten, die einen denen eines Fühlers, die zweiten derjenigen eines Kiefers oder Ruderarmes, eine dritte, vierte, fünfte u.s.w. der eines Sprunebeins, eines Begattungsorgans, eines Eierträgers oder auch eines Kiementrägers oder einer Schwanzflosse. Daß die Entwicklung im Allgemeinen wirklich so vor sich ge- sangen ist, erhellt hauptsächlich daraus, daß alle diese verschiedenen Ordnungen von Krebsen noch heute von der Naupliuslarve ihren Ur- sprung nehmen, selbst in solchen Fällen, wo das reife Tier einen Bau besitzt, der weit von der gewöhnlichen Gestalt eines Krusters abweicht. Von der Naupliusform gehen alle Crustaceen aus, auch die der höheren Ordnungen, wenn auch nicht immer von einer Naupliuslarve. Aber serade dieser Umstand, daß bei den meisten höheren nnd auch manchen niederen Krustern das junge Tier, wenn es aus dem Ei schlüpft, schon zahlreichere Segmente und Gliedmassen besitzt, als eine Naupliuslarve, deutet wieder von Neuem auf den Zusammenhang zwischen Phylogenese und Öntogenese hin, denn in diesen Fällen wird das Naupliussta- dium schon im Ei durchlaufen. Der ganze Unterschied von diesen und den erstbetrachteten Formen liegt darin, daß die Entwicklung bei den letzteren stärker verkürzt, gewißermassen zusammengezogen ist, SO daß das Naupliusstadium einen Teil der Embryogenese bildet, und daß schon im Ei sich neue Segmente und weitere Gliedmassen am Embryo- Entwicklung der Kruster. 137 nauplius bilden, so daß das Tierchen also in einem vorgeschritteneren, dem reifen Tier ähnlicheren Stadium das Ei verlassen, und nachher in kürzerer Zeit sich vollends zur Reife ausbilden kann. Man wird erwarten, daß eine solche Abkürzung der Larvenzeit durch Verlängerung der Embryogenese vor allem bei denjenigen Krebsen vorkommen wird, welche sehr viele Segmente und sehr viele Glied- massen besitzen, also bei den höheren Formen derselben, und so ist es auch im allgemeinen. Ausnahmen davon gibt es nach zweierlei Richtung; einmal finden sich unter den niederen Krustern solche, die das Ei nicht als Nauplius, sondern in vollständig fertiger Gestalt ver- lassen, und dann gibt es unter den höheren Krustern einzelne Arten, welche nicht in ausgereifterer Gestalt, sondern noch immer in der ur- alten Naupliusform aus dem*Ei schlüpfen. FrırzYMüller hat für diesen Pig. 109. Metamorphose eines höheren Krebses, der Garneele Peneus Potimirim nach Fritz MürtLer. A Naupliuslarve mit den drei Gliedmaßenpaaren: / die Fühler, 7/7 und 7/7 die zweiästigen Ruderfüße. — # Erstes Zoöastadium; mit sechs Gliedmaßenpaaren; S£n Segmentknospen. letzten Fall zuerst ein Beispiel beigebracht, das einer brasilianischen Garneele, Peneus Potimirim. Wie die niedersten Ruderfüßer, oder Kiemenfüßer durchläuft diese der höchsten Ordnung der Krebse ange- hörende Art die ganze lange Entwicklung vom Nauplius an durch eine ganze Reihe höherer Larvenformen bis zum fertigen Tier außerhalb des Eies, als selbständige frei schwimmende Larve (Fig, 109, A—Z), in scharfem Gegensatz zu seinem nahen Verwandten, dem Flußkrebs, der diese ganze Entwicklung im Ei durchmacht, und völlig ausgebildet ausschlüpft. Aus diesem Beispiel schon erkennen wir, daß es nicht etwa eine innere Notwendigkeit ist, welche die Ontozenese des höheren und kom- plizierteren Organismus in Embryonalstadien zusammenzieht, sondern daß dies wesentlich auf äußeren Zweckmäßigkeitsmomenten beruhen 138 Biogenetisches Gesetz. wird. Auch hier also wieder Anpassung, und zwar in erster Linie an die Lebensverhältnisse der Larven. Ihre Dezimierung durch Feinde | wird z. B. unter sonst gleichen Umständen um so bedeutender sein, je länger die Larvenentwicklung sich hinzieht, dann aber wird auch die | allgemeine Zerstörungsziffer der Art und die Höhe der Fruchtbarkeit, welche die Art besitzen muß, um c im Kampf ums Dasein zu bestehen, \ bei der Regulierung des Entwick- u lungsmodus mit bestimmend sein. N, Denn je höher die Zerstörungsziffer, # |/ um so mehr Eier muß jedes Weib- | chen hervorbringen, und je mehr Eier es liefern muß, um so weniger Nährmaterial zum Aufbau des Em- bryo kann jedem Ei beigegeben werden. Es ist mir keine Angabe über die Eier jener brasilianischen Garneele bekannt, deren Embryonal- Ä\) z Al entwicklung nur bis zum Nauplius \ ran 86 reicht, aber wir werden nicht irren, N Wine A wenn wir im Voraus sagen, daß N ER dieselben sehr klein und sehr zahl- NR Ti, reich sein werden, im Gegensatz | zu denen des Flußkrebses, welche groß und gegenüber anderen uns bekannten Verwandten nicht be- sonders zahlreich sind. Es ist gewiß von theoretischer Bedeutung, wenn wir bei den Krustern klar zu erkennen vermö- gen, daß die Embryogenese nicht etwa nach inneren uns verborgenen Gesetzen sich verdichten muß, wenn die Komplikation des Baues zu- nimmt, sondern daß die Zu- sammenziehung derontogene- tischen Stadien auf Anpassung beruht, und bei nahe verwandten Arten in ganz verschiedenem Grade _ eingetreten sein kann. Es zeigt das wieder von Neuem, wie alles biologische Geschehen unter Herr- schaft der Ausleseprozesse steht. BF | Ich erwähnte bereits, daß Aus- DEE tr nn ech. Bahn. von. ders aa a (Cph) ER Abdomen ee wieklungsweise auch bei niederen sieben Gliedmaßenpaare entwickelt, fünf Krustern vorkommen, und ich dachte weitere (VZI/— XII) angelest. dabei an die Daphniden, welche das Ei als fertige kleine Tierchen, versehen schon mit allen ihren Segmenten und Gliedmaßen verlassen. Das Naupliusstadium wird schon im Ei durchlaufen, und als inte- ressante Andeutung, daß die Vorfahren der heutigen Arten als freie Larven gelebt haben, häutet sich dieser embryonale Nauplius im Ei, Entwicklung der Kruster. 139 er bildet eine feine Cuticula auf sich, die später abgestreift wird. ' Wenn nun gefragt wird, warum wir wohl gerade bei diesen kleinen und gar nicht sehr zusammengesetzten Wasserflöhen eine direkte Ent- wieklung eingerichtet sehen, während ihre viel segment- und glied- maßenreicheren Verwandten, die Kiemenfüßer alle als Naupliuslarve das Ei verlassen und dann noch eine längere Larvenentwicklung durchlaufen, so hat das wohl vor allem darin seinen Grund, weil hier nur wenige Eier auf einmal hervorgebracht werden, manchmal nur eines, oft nur zwei, selten mehr als ein Dutzend, weil diese Eier dem- entsprechend mit viel Dotter ausgerüstet sein konnten, und weil schließ- - ur Fig. 109. 2 Mysisstadium. Die ersten 13 Gliedmaßenpaare sind: / und 77 Fühler, 7/77 Mandibel, /ZF und Y Kiefer, VY/—X/// ein- oder zweiästire Ruderfüße. Abd Abdomen; 5% Schwanzflosse. E Die ausgebildete Garneele mit 13 Glied- maßenpaaren am Cephalothorax (CA), / und // die beiden Fühlerpaare, dann folgen, hier meist nicht sichtbar, //7— V7// die Kiefer und Kieferfüße und endlich die fünf Fußpaare /ZX—X//Z, von denen das dritte eine lange Scheere trägt. lich der kleine, nur sieben bis neun Gliedmaßen tragende Körper sehr wohl gleich fertig aus diesem Ei hergestellt werden konnte. Unter sonst gleichen Umständen wird aber die direkte Entwicklung schon deshalb immer ein Vorteil sein, weil dann die Fortpflanzung der jungen Generation um so rascher einsetzen, die Individuenzahl also um so schneller anwachsen kann. Gerade darauf kommt es bei den Wasser- tlöhen aber besonders an. Sollten Sie aber weiter fragen, warum denn hier so wenige Eier auf einmal gebildet werden, ob denn diese Tiere keine Feinde besitzen, so wäre darauf etwa zu antworten, daß sie im Gegenteil massenhaft 140 Biogenetisches Gesetz. den Fischen und anderen Süßwassertieren zur Nahrung dienen, daß sie aber den Nachteil einer sparsamen Eiproduktion auszugleichen wissen, indem sie erstens sich die meiste Zeit hindurch parthenogene- tisch fortptlanzen, und andererseits ihre Eier in einem besonderen Brutraum bergen. Das ist nicht nur bei den Sommereiern der Fall, denen in dem Brutraum zugleich auch Nahrung aus dem Blut der Mutter zugeführt wird (Fig. 70), sondern auch bei den Winter- oder Dauer- eiern, die in ihm eine schützende Umhüllung (Schale, Ephippium) erhalten. Bei fast allen Daphniden entwickelt sich das Winterei zu genau dem gleichen fertig ausschlüpfenden Tierchen, wie das Sommerei, obgleich es nach seinem Austritt in den Brut- raum nicht mehr ernährt wird. Es bekommt aber eben deshalb mehr Dotter mit, so daß nun der Nahrungsvorrat im Ei selbst genügt, um das Tierchen gleich fertig auszubilden. )„,Daph- Nur eine Ausnahme gibt es davon, und diese nella, 1Sommerei, ZWin- muß uns in theoretischer Hinsicht ganz be- terei, Oe „Oltropfen“ des i : ne E Sommöreiot sonders interessieren, weil sie deutlicher als irgend eine andere Tatsache zeigt, daß die stärkere oder schwächere Zusammendrängung der Ontogenese von der kombinierten Wirkung der Lebensverhältnisse abhängt. Die größte der Daphniden, Leptodora hyalina, die kristallklare, etwa 1 em lange Be- wohnerin unserer Seen (Fig. 110) bildet sich im Sommerei gleich zum fertigen Tier aus, in dem mit relativ wenig Dotter ausgestatteten, frei im Wasser schwebenden Winterei aber nur bis zum Nauplius, der dann als Larve die Metamorphose zum fertigen Tier durchmacht (Fig. 110). Fig. 110. Die größte der Daphniden, Leptodora hyalina, mit Sommereiern (Z7) unter der Schale (ScA); 7—-/X die Gliedmaßen, Z// die „Ruderarme‘“ (zweiten An- tennen), die bei den Daphniden zeitlebens zweiästige Ruderfüße bleiben; ov Ovarien, schl Schlund, ./a Magen, « After, 7 Herz, 4x Auge; z»G natürliche Größe. Fritz MÜLLER schloß aus der Wiederholung der Naupliusform in der Ontogenese aller Krebsordnungen, daß die Urform der Krebse ein Nauplius gewesen sein müsse, von welcher aus sich die verschiedenen heutigen Krebsordnungen durch Ansetzen neuer Segmente in sehr ver- schiedener Zahl und Ausbildung phyletisch entwickelt hätten. Man ist heute imsofern anderer Ansicht, als man zweifelt, ob es jemals fort- pflanzungsfähige Nauplien gegeben hat. Wenn aber auch die Nauplien von alters her nur Larvenformen waren, so bleiben sie doch für die Z Entwicklung der Kruster. 141 Klarlegung der Beziehungen zwischen Phylogenese und ÖOntogenese gleich bedeutungsvoll; sie sind eben dann die uralte, vorkambrische Larvenform, von der alle heutigen Krustazeen ausgegangen sind. Das bezeugen außer den schon berührten Tatsachen vor allem auch die- jenigen Krustazeengruppen, welche von dem eigentlichen Krusterhabitus weit abweichen. So verlassen die festgewachsenen Rankenfüßer (Cirrhipedien) mit ihren muschelähnlichen Schalen, ihrem weichen ungegliederten Körper und verkümmerten Kopf und ihren zwölf Strudelfüßen das Ei als Naupliuslarve. In viel höherem Grade aber weichen jene merkwürdigen Schmarotzer von Taschenkrebsen und Einsiedlerkrebsen vom Typus der übrigen Krustazeen ab, die wie ein Sack oder eine un- gestalte wurstförmige weiche Masse am Hinterleib ihres Wirtes festhängen, gig. 11. Naupliuslarve aus dem eingewachsen in sie mittelst feiner Winterei der Leptodora hyalina; nach wurzelartiger blasser Fäden, durch die SARS. sie das Blut ihres Opfers saugen (Fig. 112 € Sacc). Sie zeigen weder Kopf, noch Brust. noch Hinter- leib, nicht einmal irgend eine Andeutung von Segmentierung, keinerlei Gliedmaßen, weder Fühler noch Mundteile, noch Schwimmfüße. Den- noch sind sie Krustazeen, ja wir können sogar mit Sicherheit sagen, daß sie der Ordnung der Rankenfüßer angehören, denn — sie ver- Fig. 112. Entwicklung des Schmarotzerkrebses Saceulina eareini nach R. Hrrrwis. ANaupliusstadium, Au Auge, /, 7/7, 7/7 die drei Gliedmaßenpaare. RB Cypris- stadium, FZ—X7/ die Schwimmfüße. € Reifes Tier (Sacc) eingesenkt in seinen Wirt, die Krabbe Careinus maenas mit seinem die Eingeweide umspinnenden Ge- flecht von feinen Wurzelausläufern (w); s Stiel, saec Leib des Schmarotzers, oe Öffnung seiner Bruthöhle, A647 Abdomen der Krabbe. lassen das Ei in der Form einer Naupliuslarve (1), und zwar einer solchen mit „Hörnern“ an ihrem Panzer, wie sie außer ihnen nur die Rankenfüßer noch besitzen. Daß sie mit diesen eines Stammes sind, beweist auch ihre weitere Entwicklung, denn der Nauplius wächst hier zunächst, wie bei den eigentlichen Rankenfüßern, zu einer „Cypris- ähnlichen Larve (#)* heran, so genannt, weil sie eine gewisse Ähnlich- keit mit Muschelkrebschen der Gattung Cypris hat, und erst von da ab geht ihre Entwicklung getrennte Wege; die Cypris-ähnliche Larve der 142 Biogenetisches Gesetz. echten Rankenfüßer setzt sich mit ihren Fühlern irgendwo fest, wächst an und wandelt ihren Körper zu dem des fertigen Cirrhipeds um, die Cypris-ähnliche Larve aber der Wurzelkrebse bohrt sich unter völligem Verlust ihrer Füße, ihrer Gliederung und ihres Chitinpanzers in das Innere eines Einsiedlerkrebses oder einer Krabbe ein, in dem sie dann heranwächst, und sich in das oben beschriebene sackförmige Wesen um- wandelt. Erst nach längerer Zeit bricht dieses wieder nach außen durch und hängt nun dem Hinterleib des Wirtes an (Fig. 109, C, sace), sich ernährend vom Blute desselben, daß es mittelst zahlreicher feiner Wurzeln (W, W) ihm aussaugt. Wir werden aus alledem schließen dürfen, daß gewisse Cirrhi- pedien längst vergangener Zeiten sich als Cyprislarven der schmarotzen- dlen Lebensweise ergeben und dabei allmähliche, immer weiter gehende Anpassungen an diese Lebensweise erlitten haben, die sie zuletzt zu den sonderbaren Wesen umgestalteten, als welche sie im geschlechts- reifen Zustand uns entgegentreten. Ähnlich verhält es sich bei den zahlreichen Fischparasiten aus der Ordnung der Ruderfüber. Sie alle kommen als Naupliuslarve aus dem Ei, auch wenn sie später durch Anpassung an das Schmarotzer- leben noch so stark verändert werden, und bei ihnen haben wir heute noch in den fertigen Tieren eine ganze Reihe von Umbildungsgraden nebeneinander vor uns, denn manche Arten, wie Ergasilus, unterscheiden sich von freilebenden Ruderfüßern nur durch die Umbildung ihrer Kiefer zu Stech- und Saugorganen und durch Umwandlung des einen Fühlerpaars zu Klammerhaken, mittelst deren sie sich den Fischen an- hängen. Bei anderen Arten geht die Rück- und Umbildung weiter: die Fühler, das Auge, die Gliedmaßen verkümmern mehr oder weniger, und oft sehr sonderbare Haftorgane bilden sich aus in der Gestalt von Haken, einem geknöpften Doppelarme, oder auch förmlichen Saugnäpfen. >ei mehreren Arten geht die Rück- und Umbildung soweit, daß auch die Gliederung des Rumpfes völlig verschwindet (Lernaeocera u. a.), und das weiche, farblose Tier eher einem Eingeweidewurm als einem Kruster gleicht. Bei allen diesen dem Schmarotzerleben angepaßten Arten aber sind stets nur die reifen Tiere dergestalt abgeändert, vor- her aber werden von jedem derselben eine Reihe von Stadien durch- laufen, die denen der frei lebenden Ruderfüßer ganz ähnlich sind, be- ginnend mit dem Nauplius und endend mit dem sog. Cyelopsstadium, d. h. einer Entwicklungsform, welche Fühler, Augen und Ruderfüße besitzt, ähnlich den Ruderfüßern unserer Süßwasserformen der Gattung Cyelops. Also auch hier die Wiederholung einer Reihe phyletischer Entwicklungsstufen in der Ontogenese, ehe die reife Form an- genommen wird. Warum diese Stufen beibehalten wurden, ist leicht zu sehen, denn wie sollte ein Tier, das schon als wurmförmige Lernae- ocera aus dem Ei käme, einen neuen Fisch auffinden, der ihr als Wirt diente? und doch können diese Parasiten unmöglich Generation auf (seneration auf demselben Fisch schmarotzen. Um die Existenz der Art zu sichern, war es also unerläßlich, daß mindestens doch die Jugend- stadien die Fähigkeit zu schwimmen beibehielten, d. h. mit anderen Worten, daß die frei beweglichen Vorfahrenstufen in der ÖOntogenese beibehalten wurden. In allen diesen Fällen ist es also un- zweifelhaft, daß die Keimesgeschichte eine Reihe von Stadien der Stammesgeschichte wiederholt, wenn auch nicht ganz unver- ua m ne m I en Entwicklung der Kruster. 143 ändert, sondern den jetzigen Lebensbedingungen angepaßt, z. B. also mit kürzeren Fühlern, kleineren Augen und bloß vier statt der fünf sonst üblichen Schwimmfüße usw. Das Umherschwimmen zur Auf- suchung eines Wirtes scheint bei diesen Tierchen nicht lange zu dauern, die Fische leben ja meist in Mehrzahl zusammen, und so brauchen die jungen Schmarotzerkrebse keine weiten Reisen zu unternehmen, um Unterschlupf zu finden. Bemerkenswert ist es dabei, daß die männlichen Schmarotzer- krebse nicht nur stets viel kleiner als die weiblichen sind (Fig. 113). sondern auch viel weniger verändert und den Stammformen freilebender Ruderfüßer viel ähnlicher. Sie besitzen meist kleine, aber wohl ent- wickelte Schwimmfüße, suchen mittelst deren die Weibchen auf und sterben nach vollzogener Begattung. Sie sind also gar keine sessilen Parasiten und haben deshalb auch die Stadien der freilebenden Ruder- füßer viel vollständiger zu durchlaufen, als die Weibchen, denen die Aufgabe zufällt, durch Saugen von Fischblut möglichst viel Stoff zur Eibildung in sich anzusammeln uud eine möglichst große Zahl von Eiern zu liefern. Die letzteren übertreffen denn auch an Fruchtbarkeit weitaus die freilebenden Ruderfüßer, wie schon die beiden oft enorm langen Eisäckchen zeigen, die an ihrem Hinterende ihnen anhängen (Fig. 113, ez). Auch bei den höheren Krebsen, den sog. Malakostraken zeigt uns die Keimesgeschichte nicht selten einen größeren oder geringeren Teil der Stammesgeschichte noch völlig deutlich erhalten. Allerdings gibt es, wie wir vorhin feststellten, nur wenige unter den höheren Krebsen, welche als Nauplius das Ei verlassen, bei den meisten . 113. Die beiden Geschlechtstiere des Schma- rotzerkrebses Chouthracanthus gibbosus, etwa sechsfach ver- größert nach CLAus. Die große und Hauptfigur ist das mit sonderbaren stumpfen Fortsätzen versehene Weibchen, an dessen Geschlechtsöffnung bei 2 ein zwerghaftes Männ- chen sitzt. und 7° die beiden Fußpaare, «7 die hier ab- geschnitten dargestellten Eierschnüre. ist das Naupliusstadium in die Embryogenese gerückt, und die meisten Krabben und Einsiedlerkrebse verlassen das Ei in einer höheren Larvenform, der sog. Zo&a (Fig. 114). Unter diesem Namen versteht man eine Larve, die schon zwei Hauptabschnitte des Körpers aufweist, ein Kopfbruststück (Cephalothorax, C/4) und einen-Hinterleib (Abdomen, Abd). Häufig zeigt sich der Cephalothorax mit sonderbaren langen Stacheln (s/) ausgerüstet, und immer trägt er fünf bis acht Gliedmaßen, vorn Antennen (/, //), dann Kiefer (/7//), weiter hinten Schwimmfüße (/F, V7), und hinter diesen erkennt man schon die Anlage der später noch frei hervorwachsenden weiteren Füße ( 1’ /— X7//), während große facettierte und gestielte Augen (Az) dem Kopfteil ansitzen. Diese Zoöa- form scheint heute nicht mehr als reife Krusterform vorzukommen, wir können also auch nicht mit Sicherheit behaupten, daß sie in früheren Erdperioden als reifes Tier gelebt habe; eine zweite, noch kompliziertere Larvenform der höheren Krebse aber ist uns heute noch in einer Gruppe von Meereskrustazeen erhalten, den „Spaltfüßern* oder Schizopoden. 144 jiogenetisches Gesetz. Es sind Krebse, die zwar klein sind, aber sich doch in ihrer äußeren Erscheinung unserem Flußkrebse schon nähern, nur daß sie statt der zehn Wandelfüße zweiästige Ruderfüße besitzen, mittelst deren sie sich schwimmend im Meere bewegen. Die Zahl dieser Spaltfüße ist sogar noch größer als zehn, es sind deren sechzehn (Fig. 109, D, p- 158, VZ/—-AZII). In den Aquarien des zoologischen Instituts zu Neapel kann man oft diese zierlichen Tierchen in größeren Gesell- schaften hin und her schwimmen sehen. Hier interessieren sie uns deshalb, weil ihr Bau in der Ontogenese der höchsten Krebse, der Dekapoden oder Zehnfüßer, vorkommt, weil also das phyletische Stadium der Spaltfüßer hier als ontogenetisches Stadium auftritt, und zwar nahe vor der letzten Umwandlung der Larve zum reifen Tier. So verhält es sich wenigstens bei den meisten Meeresdekapoden, bei allen, deren Entwicklung nicht vollständig innerhalb des Eies abläuft, sondern welche als Zo6alarve das Ei verlassen oder wie Peneus Poti- mirim gar als Nauplius. Bei der letzten Art (Fig. 109) enthält also (die Ontogenese zum mindesten drei Stadien, welche, wenn auch nicht alle als reife Formen, so doch als uralte Larvenformen seit undenk- lichen Zeiträumen bereits auf der Erde gelebt haben müssen, das Sta- dium des Nauplius (Fig. 105, 4), das der Zoea (Fig. 105, Z und C) und das des Schizopoden (Fig. 105, 22); erst aus diesem geht dann der völlig ausgebildete zehn- füßige Krebs hervor (Fig. 105, Z). Wir werden also mit Recht sagen dürfen, dab sich hier die Stammesent- wicklung in der individuellen Entwicklung wiederholt, wenn auch zusammengezogen, also gekürzt, und zwar dies um so mehr, je Fig. 114. Zoöalarve einer Krabbe nach R. HERTwIG. Z—V die schon in Gebrauch be- findlichen vorderen Gliedmaßen, Antennen, Kiefer und Schwimmfüße; FZ—-AXZI Anlage der fol- genden Gliedmaßen des Cephalothorax (CP%A); Abd Abdomen; s/? Stacheln des Panzers. zahlreichere Stadien der phyletischen Entwicklung innerhalb des Eies durchlaufen werden, denn im Ei können die verschiedenen Stadien sich viel unmittelbarer und rascher auseinander hervorbilden, als in einer Metamorphose freilebender Larven, die sich doch das Stoffmaterial zu ihrem weiteren Wachstum und ihrer Umwandlung erst selbst erwerben müssen, während dem Ei im Dotter eine Stoffimenge gleich mitgegeben ist, die genügt, um eine ganze Reihe von Stadien auseinander hervor- gehen zu lassen. Aus diesem Grunde kann es auch nicht ausbleiben, daß die scharfe Ausprägung der phyletischen Stadien sich’ mehr und mehr verliert, so- bald dieselben aus Larvenstadien zu Stadien der Embryogenese umge- wandelt werden. Denn erstens ist diese scharfe Ausprägung, z. B. also der Stachelbesatz der Zoöalarven, oder ihre Schwimmborsten an den wuderfüßen, oder die für bestimmte Arten charakteristische Gestalt des Thorax oder Abdomens usw. auf das freie Leben berechnet und wird wertlos als Stadium des Embryo, und zweitens muß bei der Herein- ziehung freier Larvenstadien in die Embryogenese eine möglichste Ver- diehtung und Abkürzung der Stadienfolge angestrebt werden, welche % Entstehung der Embryogenese. 145 nur auf einer fortgesetzten gegenseitigen Anpassung der embryonalen Teile aneinander unter Abstoßung alles und jedes Überflüssigen statt- finden kann, sonst würde die Hereinziehung freier Stadien in die Em- bryogenese keinen Vorteil bedeuten, sondern eine durchaus nachteilige Verlängerung der Entwicklung. Wir werden also nieht erwarten dürfen, in irgend einer Embryo- genese die Stadien der Phylogenese nahezu unverändert vorzufinden, so etwa, wie wir den Nauplius, die Zo@a oder die Mysis in der Larven- entwicklung der Dekapoden vorgefunden haben. Wenn ich Ihnen vor- hin sagte, «laß bei den Wassertlöhen (Daphniden) und anderen Krustern ohne Metamorphose (das Naupliusstadium noch immer durchlaufen werde, aber im Ei und als Embryonalstadium, so ist das zwar völlig richtig, aber einen solchen embryonalen Nauplius dürfen Sie nicht aus seiner Eischale befreien und ins Wasser setzen, er würde darin sehr bald durch die Einwirkung des Wassers auf die zarten Embryonalzellen seines Körpers quellen und zerstört werden. Und selbst wenn wir davon absehen, so hat er doch noch keine harte und resistente Chitin- haut, noch keine ausgebildeten Gliedmaßen, sondern nur die stummel- förmigen plumpen Anlagen derselben ohne Schwimmborsten, ohne funk- tionsfähige Muskeln und könnte sich also nicht bewegen. Er ist trotz- dem ein Nauplius mit allen typischen Merkmalen desselben, nur eben kein fertiger, lebensfähiger Nauplius, sondern gewissermaßen das Schema eines solchen, soweit dasselbe in der Embryogenese beibehalten werden mußte, damit sich die späteren Stadien daraus hervorbilden konnten. Sollen wir nun deshalb sagen, der Satz von der Wiederholung der Phylogenese in der Ontogenese sei falsch”? Das Naupliusstadium des Embryo sei gar kein echter Nauplius? Das hieße doch wohl, die Genauigkeit über das zuträgliche Maß hinaus treiben, denn es würde uns den Einblick in den ursächlichen Zusammenhang zwischen Phylo- genese und Öntogenese verschleiern, der doch — wie Sie gesehen haben — unzweifelhaft besteht. HÄcKEL hat wenige Jahre nach F. MÜLLERS Schrift „Für Darwın“ den (Gedanken des letzteren weiter verarbeitet und in umfassender Weise angewendet. Er hat ihn unter dem Namen des „biogenetischen Grundgesetzes“ formuliert und dieses Gesetz dann dazu benutzt, um aus der Ontogenese der Tiere, besonders auch des Menschen, die Entwieklungsbahn zu erschließen, welche die heutige Art in der Erd- geschichte durchlaufen hat. Dabei war große Vorsicht nötig, denn (da die Ontogenese keine wirkliche. einfache unveränderte Wiederholung der Phylogenese ist, sondern eine zum mindesten „gekürzte“, in den meisten, nach meiner Überzeugung sogar in allen Fällen eine stark veränderte Wiederholung, so kann nicht ohne weiteres jedes onto- genetische Stadium auch als Vorfahrenstufe genommen werden, sondern es müssen die Tatsachen dabei zu Rate gezogen werden, welche uns andere Wissensgebiete zur Beurteilung solcher Fragen an die Hand geben, vor allem die vergleichende Morphologie und die ganze ver- gleichende Embryogenese und Ontogenese. HÄcKkEL war sich auch dieser Schwierigkeiten wohl bewußt und betonte dieselben wiederholt, indem er hervorhob, daß schon durch die Abkürzung der Entwicklung zur Embryogenese eine „Verwischung“ der phyletischen Entwicklungsstufen gesetzt werde, durch nachträgliche An- passung aber einzelner ontogenetischer Stadien an neue Lebensbeding- ungen geradezu „Fälschungen“. Er unterschied deshalb zwischen „Pa- Woismann, Doszendenriheorie. II, 2. Aufl. 10 146 Biogenetisches Gesetz. lingenese“, d. h. einfacher, wenn auch gekürzter Wiederholung der Stammesgeschichte und „Cenogenese“, d.h. Veränderung der Stammes- geschichte durch nachträgliche Anpassung einzelner oder vieler Stadien an neue Lebensbedingungen. Als Beispiel von cenogenetischer Abände- rung führe ich ihnen die Puppen der Schmetterlinge an. Diese können, da sie weder Nahrung aufnehmen, noch sich von der Stelle bewegen, niemals reife Tierformen gewesen sein, also auch nicht selbständige Vorfahren der heutigen Schmetterlinge; sie sind vielmehr entstanden durch die immer mehr zunehmende Differenz zwischen dem Bau der Raupe und dem des Schmetterlings. Ursprünglich, d.h. bei den ältesten fliegenden Insekten, konnte das reife Tier während des Heranwachsens seiner Larve allmählich derart in und an derselben vorbereitet werden, daß es zuletzt nur noch einer Häutung bedurfte, um die inzwischen unter der Haut hervorgewachsenen Flügel zu entfalten und das vollendete Insekt in allen seinen Teilen fertig hervortreten zu lassen. So ist es ja heute noch bei den Heuschrecken und Wanzen. Aber bei diesen weicht eben auch die Lebensweise der Larve von der des fertigen In- sektes nicht oder kaum ab. und der Hauptunterschied zwischen beiden beruht auf dem Fehlen der Flügel in der Larve. Wenn aber nun das fertige Tier sich ganz anderen Lebensbedingungen anpaßte, als die Larve, wie solches bei den Nektar-saugenden und ganz auf den Flug berechneten Schmetterlingen oder Bienen der Fall war, während die Raupen sich immer ausschließlicher der intensiven Ernährung mit Blät- tern und anderen Pflanzenteilen und dem wenig beweglichen Leben auf Pflanzen anpaßten, so gingen die beiden Entwicklungsstufen schließlich dem Bau nach so weit auseinander, daß sie nicht mehr durch eine einzige Häutung ineinander übergeführt werden konnten, sondern dab eine Ruhepause zwischen sie eingeschoben werden mußte, während deren nun die Umgestaltung des Körpers erfolgen konnte. So entstand das Stadium der ruhenden, nicht mehr Nahrung aufnehmenden Puppe, eine „cenogenetische* Umwandlung des letzten Larvenstadiums, keine W iederholans einer Vorfahrenform, sondern ein Stadium, das der stark verschiedenen Anpassungen des Anfangs- und der Endstadien halber in die Ontogenese eingeschoben wurde, oder besser „sich ein- schob“. Das ist ein dnrchaus klarer Begriff, und die HÄcKkELsche Unter- scheidung von Palingenese und Cenogenese ist somit unzweifelhaft ge- rechtfertigt. Ganz etwas anderes ist es, ob wir imstande sind, die Entschei- dung, ob ein bestimmtes Stadium oder Organ palingenetisch oder cenogenetisch entstanden ist, immer mit Sicherheit zu geben, wie im Fall der Insektenpuppe, oder doch wenigstens mit einiger Wahrschein- lichkeit, und da müssen wir zugeben, daß dies in zahlreichen, vielleicht sogar den meisten Fällen nicht möglich ist. Vor allem schon deshalb, weil eine reine Palingenese überhaupt kaum noch vorkommen wird; verändert mußten die Vorfahrenbilder immer werden, wenn sie in die immer stärker sich kürzende Ontogenese späterer Nachfahren zu- sammengedrängt werden sollten, ganz besonders, wenn sie in die Em- bryogenese einbezogen wurden. Dabei mußten sie nicht nur beträcht- lich verkürzt, und wie ich oben darlegte, durch Zusammenpassung der einzelnen in Ausbildung begriffenen Teile aneinander verändert werden, sondern es wurden auch zeitliche Verschiebungen der embryonalen Teile und Organe notwendig, wie besonders die trefflichen Unter- Palingenese und Cenogenese. 147 suchungen der neuesten Zeit, wie wir sie ÖPPEL, MEHNERT und KEIBEL verdanken, mit aller Klarheit bewiesen haben. Ein Vor- oder ein Zu- rückrücken der einzelnen Organe tritt ein — wie es scheint bedingt durch die ab- oder zunehmende Bedeutung, die das betreffende Organ im fertigen Zustand annimmt; denn im Laufe der Phylogenese kann sich Alles verändern, nicht nur kann sich dem Ende der Ontogenese ein neues, etwas verändertes, oft auch noch komplizierteres Stadium anschließen, sondern auch jedes der vorhergehenden Stadien kann sich selbständig verändern, sobald dies durch Veränderung der Beziehungen zu den anderen Stadien oder Organen verlangt wird. Anpassung wird auf jedem Stadium und für jeden Teil durch Selektionsprozesse bewerk- stelligt, denn alle Teile gleicher Ordnung kämpfen unausgesetzt mit- einander, von den niedersten Lebenseinheiten an, den Biophoren, bis zu den höchsten hinauf den Personen. Wenn man bedenkt, daß doch im Laufe jeder phylogenetischen Artenreihe immer eine Anzahl von Organen überflüssig wird und infolgedessen zu schwinden beginnt, so versteht man, wie starke Veränderungen in der ontogenetischen Zu- sammenziehung einer solchen Reihe phyletischer Stadien allmählich sich einstellen muß, denn alle nicht mehr gebrauchten Organe werden all- mählich mehr und mehr in der ÖOntogenese zurückgedrängt, bis sie zuletzt ganz aus ihr verschwunden sind. Während aber die Anlagen solcher „Rudimente“ immer kürzere Zeit hindurch noch in der ÖOnto- genese mitspielen, bilden sich andere neue Erwerbungen immer stärker aus, und so müssen im Laufe der Phylogenese zahlreiche zeitliche Ver- schiebungen der einzelnen Teile und Organe der Ontogenese die Folge sein, so daß es schließlich nicht mehr möglich ist, ein bestimmtes Sta- dium der Embryogenese einer Art einem bestimmten Vorfahrenbild zu vergleichen, nur die Stadien einzelner Organe lassen sich ein- ander parallelisieren. Wir sollten aber deshalb nicht das Kind mit dem Bad ausschütten und daraus schließen, daß es ein „biogenetisches Gesetz“, eine Wieder- holung der Phylogenese in der Ontogenese nicht gäbe. Eine solche gibt es nicht nur, sondern die Ontogenese ist nichts anderes — ganz wie F. MÜLLER und HÄckEL es schon gesagt haben — als eine Wieder- holung der Phylogenese, wenn auch eine solche mit starken Verände- rungen der meisten Stadien, mit zahllosen Ausschaltungen und Ein- schaltungen, Zusätzen und Verschiebungen der Organstufen nach Zeit und Ort. Es wäre eine arge Täuschung, wenn man aus der Tatsache dieser vielseitigen Veränderungen den ganzen Satz von der Wieder- holung der Phylogenese in der Ontogenese für hinfällig oder doch wert- los erklären wollte. Wenn man ihn freilich nur dazu gebrauchte, mit- telst seiner die Stammesgeschichte einer Art aus seiner Keimesgeschichte abzulesen, so liese sich verstehen, wie man in gar manchen Fällen zu einem solchen Verzweiflungsausspruch kommen konnte, aber ich denke, in erster Linie handelt es sich doch hier um einen Einblick in die Ent- stehungsgeschichte der Ontogenese, und da kann es einem Zweifel nicht unterliegen, daß dieselbe auf keinem anderen Grund sich aufgebaut haben kann, als dem der Stammesgeschichte: nur von dem. was schon da und gegeben war, konnte das Neue ausgehen, und alles in der Öntogenese, nicht nur die den fertigen Vorfahrenbildern einigermaßen noch entsprechenden palingenetischen Stadien, sondern auch die cenogenetischen. wie z. B. das vorhin erörterte Puppenstadium, sind historisch entstanden, nichts unvermittelt, alles im An- I = 10 148 3iogenetisches Gesetz. schluß an das schon Vorhandene. Das erste Vorhandene aber waren stets die Stufen der Vorfahrenbilder. Es ist ja sicherlich äußerst wertvoll, immer tiefer in die Entwick- lungsgeschichte einzudringen und immer genauer die Veränderungen kennen zu lernen, welche in ihr mit dem ursprünglich gegebenen Material der Ahnenformen vor sich gegangen sind, aber man darf darüber nicht vergessen, dab trotz aller Umgestaltungen immer noch so vieles aus der Stammesgeschichte in sehr erkennbarer Andeutung in der Keimes- geschichte erhalten geblieben ist, daß sie uns stets eine höchst wichtige (Quelle für die Erschließung des phyletischen Entwicklungsganges einer Tiergruppe bleiben wird. Ich gebe zu, daß man nicht selten mit allzu grober Sicherheit diese Schlüsse gezogen hat, aber wenn man auch die Ansicht HÄcKELs nicht als sicher begründet ansieht, welcher in der Ontogenese des Menschen 14 verschiedene Vorfahrenstufen erkennt, ein Protistenstadium, ein Gasträadenstadium, ein Prochordonier-, ein Akranier-, ein Oyklostomen-, ein Fischstadium usw., so muß man doch anerkennen, daß die einzelligen Stadien der Ontogenese, mit welcher heute noch die Entwicklung jedes Menschen beginnt, ohne Zweifel auch das Bild eines Vorfahren wiederholen, wenn auch stark abgeändert; denn von Ein- zelligen müssen wir abstammen. Das Wesentliche dieses Vor- fahrenstadiums ist also in der Ontogenese wirklich erhalten und nur das Spezielle, gewissermaßen Zufällige, d. h. die Anpassung an die spe- zielen Existenzbedingungen ist verändert worden. Man hat gemeint, der Satz von der Wiederholung der Phylogenese in der Ontogenese sei schon dadurch widerlegt, daß ja das entogene- tische Stadium immer die Anlage zu den späteren Stadien bereits in sich enthalten müsse, die seit dem entsprechenden phylogenetischen Sta- dium noch hinzugekommen seien. Nun enthält das Ei und die Samen- zelle des Menschen ja gewiß, wenn auch in einer für uns nicht direkt erkennbaren Form die sämtlichen Determinanten des fertigen mensch- lichen Körpers, aber das ändert so wenig ihr Wesen als Zelle, wie die spezielle Form der Eizelle oder des Samenfadens; auf das Wesent- liche kommt es bei dieser Vergleichung an, nicht auf das Nebensäch- liche. Ebensowenig kann ich dem Argument HENSENs beipflichten, wenn er den „Satz von der Wiederholung“ deshalb für unrichtig er- klärt, weil der tatsächliche Gang der Ontogenese zugleich auch der „richtigste und einzig mögliche“ sei, der, ganz abgesehen von aller Vorgeschichte, eben eingeschlagen werden mußte. Gewiß ist der tat- sächliche Weg auch der „richtigste“ und der unter den gegebenen Um- ständen allein mögliche, aber «das schließt den Satz von der Wieder- holung nicht aus — sondern ein, denn die Ontogenese konnte zu keiner Zeit von einer tabula rasa ausgehen, sondern immer nur von dem geschichtlich Gegebenen. Ich will nicht alle die HÄckerschen Vorfahrenstadien des Menschen im einzelnen darauf untersuchen, wie weit sie aus der Ontogenese mit mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit abzulesen sind: daß der Mensch im allgemeinen aber etwa diesen Entwicklungsgang durchlaufen hat, wird man annehmen dürfen, auch wenn man zueibt, daß viele dieser Stadien heute nicht mehr als geschlossene Stadien des Ganzen in der Onto- genese vorhanden sind, sondern nur noch als Stadien einzelner Organe oder Organgruppen. So mag man immerhin bestreiten, daß es ein Fischstadium der menschlichen Entwicklung heute noch ‘gebe, aber nicht bestreiten kann man, daß die Anlage von „Kiemenbogen“ und „Kiemen- DE EZ ee Zurückrücken der Endstadien. 149 spalten“, wie sie einem Stadium der menschlichen Ontogenese eigen- tümlich sind, mit großer Sicherheit darauf schließen lassen, daß wir fischartige Vorfahren besessen haben. Da wir nun einmal wissen, daß die Herstellung einer Embryo- genese mit mannigfachen zeitlichen Verschiebungen der Örgananlagen verbunden ist, so sollten wir um so mehr Gewicht der Entwicklungs- geschichte der einzelnen Teile und Charaktere zuwenden, in welcher häufig die Phylogenese klarer zu erkennen ist, als in dem (Gesamtbild des Stadiums, aus welcher wir also sicherlich bedeutungsvolle (resetze ablesen können. Schon 1875 hat WÜRTEMBERGER die fossilen Ammoniten nach dieser Richtung hin untersucht. Es handelte sich damals noch mehr um Beweise für die Deszendenzlehre im allgemeinen, und es war dies der erste Fall, in dem es gelang, ganze phyletische Umwandlungs- reihen von Arten nachzuweisen, abgelagert übereinander in einer entsprechenden Reihe von Erdschichten, und verbunden durch dazwischen liegende Übergangsformen. Beim Studium dieses interessanten und in sehr zahlreichen Exemplaren zu (sebote stehenden Materials zeigte es sich nun, daß die Veränderungen, welche an der spiralig aufgerollten Schale im Laufe der Zeiten aufgetreten sind, zuerst an der letzten Windung erschienen, und sich dann in späterer Zeit auch auf die vorher- gehende Windung und die noch jüngeren Windungen der Schale fort- setzten, während nun auf der letzten Windung sich nicht selten wieder ein neuer Charakter zeigte. So rückten z. B. Höcker auf der Schale im Laufe der Phylogenese von der letzten Windung zunächst auf die zweitletzte zurück, noch später auf die drittletzte u. s. w., während gleich- zeitig auf der letzten Windung sich die Höcker zu Stacheln umge- stalteten. Mit anderen Worten: die neuen phyletischen Erwerbungen fügten sich hier erst beim reifen Tier (der letztgebildeten Windung der Schale) ein, rückten aber dann in der Ontogenese in dem Maße auf jüngere Stadien zurück, als neue Umgestaltungen des reifen Tieres eintraten, also eine Hereinziehung der phyletischen Erwerbungen des reifen Tiers immer tiefer in die Keimesgeschichte der Art hinein. Ich habe in denselben siebenziger Jahren ähnliche Ergebnisse an lebenden Arten erhalten, als ich die Ontogenese der Zeiehnungen auf der äußeren Haut gewisser Schmetterlingsraupen festzustellen suchte, und auch davon möchte ıch Ihnen einen kurzen Bericht geben. In einer der ersten Vorlesungen haben wir von den Schutz- und Trutzfärbungen der Raupen überhaupt, und insbesondere auch von denen der Schwärmer- oder Sphingidenraupen gesprochen. Ich zeigte Ihnen, daß diejenigen nackten Raupen, welche auf Kräutern mitten im Gras oder am Gras selbst leben, häufig nicht nur grün wie frische Grasstengel oder gelblichgrau wie trockene sind, sondern daß alle größeren dieser Raupen außerdem noch helle, meist weißliche Längs- linien aufweisen, welche durch Nachahmung der scharfen Lichtreflexe auf den Grasstengeln die Ähnlichkeit mit diesen noch mehr erhöhen. Wir sprachen auch von den hellen oder mit Rot oder Lila bis Blau gesäumten Schrägstreifen vieler großer grüner Schwärmerraupen, welche auf Bäumen oder Büschen leben, und deren Ähnlichkeit mit den Blättern derselben eben durch diese Nachahmung der Seitenrippen des Blattes gesteigert wird: schließlich erwähnten wir noch der Ekel- oder Widrigkeits- fürbungen, als welche nicht nur grelle Farbenkontraste, sondern auch besonders auffallende Zeichnungselemente, z. B. helle Ringtlecke auf 150 Biogenetisches Gesetz. dunkelm Grund zu betrachten wären. Diese verschiedenen, die Raupe vor ihren Feinden schützenden Färbungselemente finden sich nun meist erst in der heranwachsenden Raupe, nicht schon in dem kleinen Räupchen, wie es aus dem Ei schlüpft, und die Entwicklung der Zeichnung im Einzel- leben zeigt uns deutlich, daß auch die Phylogenese der Zeichnung mehr oder weniger deutlich in der Ontogenese enthalten ist. Es sind drei verschiedene Zeichnungselemente, welche bei den Sphingidenraupen vorkom- mem: die Längsstreifung, die Schrägstreifung und die Fleckenzeichnung. Die Fig. 115. Raupe des Taubenschwanz-Schwär- Längsstreifung findet sich mers, Macroglossa stellatarum. scd die Sub- Tem unvermischt heute nur bei - dorsallinie. wenigen Arten, z. B. bei der Raupe des sog. „Taubenschwänz- chens“, Macroglossa stellatarum (Fig. 115), bei welcher eine weiße Längslinie hinten am Schwanzhorn beginnend an jeder Seite des Körpers als „Subdorsalstreif* bis zum Kopf hinzieht (söd). Zusammen mit noch . zwei anderen ähnlichen Streifen bewirkt derselbe, daß die ziemlich srobe Raupe zwischen Gras und Kräutern, zwischen denen sie aus- ruht, gut vor Entdeckung geschützt ist. Die Schrägstreifung findet sich als einziges Zeichnungselement bei solchen Arten, welche an den größeren mit starken Seitenrippen versehenen Fig.3 (wiederholt). Erwachsene Raupe des „Abend- Blättern von Büschen und pfauenauges“, Smerinthus ocellata. sö Subdorsalstreif. Bäumen, an Weiden, Pap- | peln, Eichen, Liguster, Syringen u. s. w. leben, und auch sie werden durch ihre Zeichnung in Verbindung mit dem Blattgrün ihrer Färbung vor Entdeckung in hohem Grade geschützt (Fig. 3). Das dritte Zeichnungselement, die Fleekenzeichnung tritt in verschiedener Gestalt bei den Arten der Gattungen Deilephila und Chaerocampa auf, und ist von verschiedener biologischer Bedeutung; Fig. 4 (wiederholt). Erwachsene Raupe des Weinschwärmers, Chaerocampa Elpenor, in Trutzstellung. bei manchen Arten wirken die Flecke als Widrigkeitszeichen, indem sie die Raupe auffallend und weit sichtbar machen (Deilephila Galii, Fig. 117), bei anderen ahmen sie die Augen eines größeren Tieres nach und wirken als Schreckzeichen, wie wir früher besprochen haben (Fig. 4), in noch anderen selteneren Fällen erhöhen auch sie .die Ähnlichkeit der Raupe mit ihrer Nahrungspflanze, indem sie Teilen derselben, . u —: Zurückrücken der Endstadien. 151 z. B. den roten Beeren des Sanddorns gleichen (Deilephila Hippophaes, Fie. 8 r). Alle drei Zeichnungselemente besitzen also einen biologischen Wert, schützen das weiche, leicht verletzbare Tier in irgend einer Weise, und von zweien derselben mindestens leuchtet es ein, daß sie am Ende der ganzen Raupenentwicklung entstanden sein müssen, da sie nur in dem herangewachsenen Tier wirken können, bei der jungen Raupe aber wert- los sein würden. Die Schrägstreifung macht die Raupe nur dann einem Blatte ähnlich. wenn die Streifen ungefähr in demselben Abstande von- einander stehen. wie auf den Blättern, und Augenftlecken werden Vögel und Eidechsen auch erst dann zurückschrecken, wenn sie eine gewisse Größe besitzen. Nur die Zeiehnungsform der Längsstreifung wirkt schützend auch schon bei kleineren Raupen, vorausgesetzt, daß sie in oder an dem Gras leben. j Betrachten wir nun die Ontogenese dieser verschiedenen Zeich- nungsformen und beginnen wir mit den Augenflecken, so zeigt es sich, daß dieselben sich aus einem Subdorsalstreif entwickeln, der bei dem jungen Räupchen schon im zweiten Lebensstadium erscheint, Fig. 8 (wiederholt). Raupe des Sanddornschwärmers, Deilephila Hippophaes A Stadium III, # Stadium V. r Ringfleck. und aus dem sich dann im Laufe der weiteren Entwicklung die zwei Paar großer Augenflecke herausbilden. Schon in dem jungen, kaum 1 em langen Räupchen (Fig. 116, 3) erkennt man, wie die feine weiße Subdorsallinie auf dem vierten und fünften Segment eine leichte Aus- biegung nach oben macht (C), an deren untere Seite sich später ein schwarzer Saum anlegt (79). Dieser zieht sich dann auch auf die obere Seite hinauf (7), schnürt das Stück des Subdorsalstreifs ab (/ und @), und so entsteht ein weiß gekernter, schwarz eingerahmter Fleck, der nun nur noch zu wachsen und einen schwärzlichen Schattenkern auf sich abzulagern braucht, die Pupille (7), um den Eindruck eines großen Auges zu machen. Das geschieht während des weiteren Heranwachsens der Raupe, und nach der vierten Häutung sind diese Augen bei einer Länge des Tieres von 6 em bereits wirksam, wenn sie auch im fünften und letzten sich noch etwas vervollkommnen. Der Subdorsalstreif ver- schwindet während dieser Entwicklung der Augentlecke auf dem größten Teil der Raupe vollständig, nur auf den drei ersten Segmenten erhält er sich (Fig. 114 3 bis 7). 152 Biogenetisches Gesetz. Wenn wir nun überlegen, daß dieser Streif bei der kleinen. 1 cm langen Raupe, welche noch dazu an den groben Blättern des Weinstocks oder an den schräg gerippten des Weidenröschens (Epilobium hirsutum) lebt, ohne schützenden Wert für dieselbe ist, so werden wir sein Auf- treten bei der jungen Raupe nur als eine phyletische Reminiszenz auf- fassen können, darauf beruhend, daß die Vorfahren dieser Chaerocampa- Arten im reifen Zustand die Längsstreifung besaßen, vermutlich weil sie damals an Kräutern zwischen Gras lebten, und daß sich später, als die Arten zum Leben an den inzwischen entstandenen PfHlanzen mit breiten Blättern übergingen, neben der grünen oder brauen Schutzfär- bung, die sie beibehielten, noch Augenflecken ausbildeten. Die heutige Ciyedla Fig. 116. Entwicklung der Augenflecken bei der Raupe von Chaerocampa Elpenor, dem Weinschwärmer. 4 Stadium I noch ohne Zeichnung, einfach ' grün. 2 Stadium II mit Subdorsalstreifen (sd). C Subdorsallinie etwas später mit erster Anlage der Augenflecke (4x) auf Segment 4 und 5. D Augenflecke auf Stadium III der Raupe, etwas weiter entwickelt als in Z, dem dritten Raupenstadium. 7 Stadium IV der Raupe. @G Der vordere Augenfleck auf demselben Stadium. Entwicklung dieser Flecke spiegelt uns ihre phyletische Entstehung also wohl ziemlich getreu ab: auf den beiden Segmenten bildeten sich aus Stücken der Subdorsale zuerst weibe, schwarz umrahmte Ringe, dann förmliche Augenflecken mit Pupille (C, 2, £). Diese Umbildung kann nur in der mehr herangewachsenen Raupe begonnen haben, weil sie nur da von Wert war; später aber rückte sie in der Ontogenese zurück, vom sechsten und fünften auf das vierte und dritte Raupenstadium, ' nicht in voller Ausbildung, sondern in immer unvollkommeneren An- ' fängen, und ihre ersten Spuren zeigen sich heute, wie wir sahen, schon im Laufe des zweiten Stadiums (C). Die Zeiehnung der älteren Vor- fahren, die Längsstreifung, verliert sich heute in dem Maße, als die Augentlecken sich ausbilden, vielleicht weil sie die Wirkung derselben ie u. “ 3 Zurückrücken der Endstadien. >53 beeinträchtigen würden, denn auf den drei vordersten Segmenten sind sie noch deutlich erhalten, diese Segmente aber werden eingezogen und sind fast unsichtbar, sobald die Raupe sich in Trutzstellung setzt (Fig. >). Auch bei der Ringfleckenzeichnung, die besonders den Arten der Gattung Deilephila eigen ist, verrät uns die Ontogenese, daß sie sich phyletisch aus dem Subdorsalstreifen entwickelt hat: auch in den Jugend- stadien dieser Raupen findet sich die Längsstreifung als einzige Zeich- nung noch vor, bei Deilephila Zygophylli aus den Steppen des südlichen Rußland bleibt sie sogar wie es scheint — durch alle Stadien er- halten, bei den übrigen schwindet sie später meist vollständig, doch nur an solchen Segmenten, auf welchen sich die Fleckenzeichnung aus ihr entwickelt hat. Dies letztere geschieht in ähnlicher Weise wie bei den Augenflecken von Chaerocampa, indem ein Stück des weißen Sub- dorsalstreifens oben und unten von einem schwarzen Halbmond ein- gefaßt wird, welche beide dann später sich vereinigen, das Stück der Subdorsale abschneiden und einen schwarzen Fleck mit hellem Kern bilden. in welchem dann oft noch ein roter Fleck auftritt (Fig. 117.4. Nun stehen solche Ringflecke bei den meisten Arten auf vielen (10—12) Segmenten (Fig. 117 3). und wo sie die Bedeutung haben, die Raupe leicht sichtbar und auffallend zu machen, zuweilen (Deile- phila Euphorbiae) sogar in doppelter Reihe, allein wir kennen auch eine Art, Deilephila Hippophaes, bei welcher nur ein einziger Ring- tleck vorhanden ist, der, die roten Beeren des Sanddorns nach- Fig. 17. Raupe des Labkraut- schwärmers Deilephila Galii. A Stadium IV, Subdorsale noch deut- lich, auf ihr noch unvollkommen ge- schlossene Ringflecke. #Ausgewachsene Raupe ohne Spur einer Subdorsale, mit zehn Ringflecken. ahmend, als großer ziegelroter Fleck auf dem vorletzten Segment steht (Fig. 8, A u. Z,r). Es kommen aber daneben auch Individuen vor, bei welchen auch die fünf oder sechs vorhergehenden Segmente kleinere, nach vornen immer mehr sich verjüngende Ringflecken tragen, und bei den meisten Raupen erkennt man bei aufmerksamer Betrachtung kleine rote Punkte auf der verblaßten Subdorsale dieser Segmente (Fig. 5 3). Man könnte also auf den (Gedanken kommen, die Vorfahren von Hippophaes hätten etwa auf allen Segmenten Ringflecke getragen, und diese wären nach und nach auf den meisten derselben rudimentär geworden, weil sie ihre frühere biologische Bedeutung verloren hätten und heute, nach An- passung an den Sanddorn, nur noch auf dem vorletzten Segment von Nutzen seien. Wenn wir aber die Ontogenese zu Rate ziehen, so finden wir bei der jungen Raupe (Fig. 5 A, p. 83) nur eine einfache Sub- dorsale, auf der erst im dritten Stadium der rote Fleck des Schwanz- hornsegmentes auftritt (7). Niemals kommen auf den übrigen Segmenten schon Flecken vor, sondern solche erscheinen immer erst im letzten Stadium, aber da sie auch vollständig fehlen können, so müssen sie aus inneren Korrelationsgesetzen hervorgegangen sein, d.h. Wiederholungen sein des in der Phylogenese zuerst dureh Naturzüchtung entstandenen hintersten Fleckes. So werden wir wenigstens schließen, wenn wir den biogenetischen Funda- 154 Biogenetisches Gesetz. mentalsatz für richtig halten und in der Ontogenese die Wiederholung | der Phylogenese in irgend einem Grade von Deutlichkeit sehen. Dieser Satz nun läßt sich auch bei Deilephila als richtig erkennen, wenn man die verschiedenen Arten in ihrer Öntogenese miteinander vergleicht. Man findet dann nicht nur, daß auch hier die Subdorsale, d.h. die phyletisch älteste Zeichnung der Sphingidenraupen überall noch in den ‚Jugendstadien vorkommt, sondern auch, daß sie in dem Maße in die jüngeren und jüngsten Stadien zurückrückt, in welchem die Fleckenzeichnung der erwachsenen Raupe höhere Ausbildung erlangt hat. So findet sich bei der Wolfsmilchraupe, Deilephila Euphorbiae, | die höchste Form der Fleckenzeichnung in der erwachsenen Raupe, und bei dieser Art ist die Subdorsallinie in keinem Stadium mehr das alleinige Zeichnungselement. Sehen wir von dem ganz zeichnungslosen Räupchen, wenn es aus dem Ei schlüpft, ab (Fig. 118 A), so tritt schon im folgenden Stadium gleich eine Reihe von Ringflecken auf, ver- bunden durch eine feine weiße Subdorsallinie (Fig. 118, 2, p. 154). Schon im folgenden, dritten Stadium verschwindet diese Sub- dorsale spurlos und es bleibt nur die Fleckenzeichnung übrig, die noch später sich verdoppelt. Vergleichen wir damit die schwärmers, Deilephila Fig. 118. Zwei Raupen- stadien des Wolfsmilch- Euphorbiae A Erstes Stadium, Raupe dunkel schwärzlicherün, ohne Zeich- nung. 3 Zweites Stadium, die Fleckenreihe ist deutlich durch einen Lichtstreifen ver- bunden, der ein Rest des Sub- dorsalstreifens ist. ÖOntogenese des Labkraut- Galii (Fig. 117, p. 153), so! finden wir hier die fertige schwärmers, Deilephila Raupe, bloß mit einer einfachen Ringfleckenreihe versehen (2), und dem- entsprechend haben die Jugendstadien der Raupe bis zum vierten Stadium noch eine deutliche Subdorsale (4), wenn auch bereits Flecke darauf stehen. Ein noch jüngeres phyletisches Entwicklungsstadium bietet uns die erwachsene Raupe von Deilephila Jivornica, bei welcher die Ring- flecke alle noch durch die Subdorsale verbunden sind. Es läßt sich also kaum bezweifeln, daß der biogenetische Satz uns hier richtig leitet, wenn wir aus der Vergleichung der Ontogenesen | der verschiedenen Arten von Deilephila den Schluß ziehen, daß die ältesten Vorfahren dieser Gattung nur den Längsstreifen besaßen, und daß aus diesem dann einzelne Stücke zu Ringflecken abgeschnürt wurden, die sich allmählich vervollkommneten und zuletzt verdoppelten, während zugleich die ursprüngliche Zeichnung, die Längsstreifung, mehr und mehr in die Jugendstadien zurückgedrängt wurde, um schließlich ganz zu schwinden. Lassen Sie mich auch noch einen Blick auf die dritte Zeichnungs- form der Schwärmerraupen werfen, auf die Schrägstreifung. Sie ist nicht aus der Subdorsallinie entstanden, sondern unabhängig von ihr, aber später als sie. Das beweist uns die Ontogenese der Arten der ä Zeichnung der Schwärmerraupen. 199 Gattung Smerinthus mit großer Sicherheit. Die erwachsenen, und meist auch die jungen Raupen dieser Arten haben ganz regelmäßig die sieben breiten Schrägstreifen, die in der Richtung des Schwanzhorns in gleichen Abständen über die Seitenflächen des Körpers hinziehen (Fig. 5, p. 76). Sie fehlen nur auf den drei vordersten Segmenten, und auf diesen hat sich meist ein Stück des alten Zeichnungselementes, der Subdorsale (sd), erhalten. Voll entwickelt aber finden wir dieselbe in den jüngsten Stadien einiger anderer Arten. Bei Smerinthus populi bekommt das zuerst ohne alle Zeichnung das Ei verlassende Räupchen schon sehr bald die weiße Subdorsallinie. zugleich aber auch sämtliche sieben Schrägstreifen, welche die erstere schräg durchschneiden; in den älteren Räupehen schwindet dann die Subdorsale (Fig. 119). Als ich im Anfang der siebenziger Jahre diese Verhältnisse unter- suchte, gelang es mir nicht, auch Eier von Arten der Gattung Sphinx zu erhalten. die im erwachsenen Zustand ebenfalls fast sämtlich die Schrägstreifenzeichnung besitzen. Aus dem aber, was ich aus der Onto- genese der Smerinthusarten wußte, konnte ich damals schon voraus- sagen, daß sich unter ihren Jugendstadien auch solche mit Subdorsale befinden müßten. Das hat sich später bestätigt, indem PouLTon bei Sphinx Convolvuli fand, daß im ersten Stadium noch keine Schräg- streifen vorhanden sind, vielmehr nur der Subdorsalstreif, während bei Sphinx Ligustri beide Zeichnungselemente zu gleicher Zeit auftreten. Aus allen diesen Tat- ni sachen. wie ich sie Ihnen ld an NP jetzt in zusammengedräng- nu TEN ter Darstellung vorgeführt habe, sehen wir, daß die Fig. 119. Smerinthus Populi, Pappelschwärmer, älteren phyletischen Cha- KRäupehen am Ende des ersten Stadiums zeigt zu- raktere durch die jüngeren gleich die volle Subdorsale und die Schrägstreifen. in der Ontogenese allmäh- lich verdrängt werden in immer jüngere Stadien hinein, bis sie schließlich ganz verschwinden. Es fragt sich nun. worauf diese Erscheinung be- ruht: ist es eine einfache Verdrängung des alten weniger vorteilhaften durch den neuen besseren Charakter infolge von Selektion oder spielt dabei noch etwas anderes mıt? Bei diesen Zeichnungsformen ist es klar, daß sie zuerst nur in den nahezu erwachsenen Tieren sich durch Naturzüchtung gebildet haben können, weil sie nur dort von Nutzen sind, und daß zugleich die alte Zeichnung durch denselben Faktor so- weit beseitigt worden sein muß, als sie die Wirkung der neuen An- passung beeinträchtigte. Die Erhaltung der Subdorsale auf denjenigen Segmenten, welche bei der Trutzstellung von Chaerocampa eingezogen werden oder welche bei blattähnlichen Raupen die Schrägstreifen nicht tragen, wie die drei vorderen der Sphinx- und Smerinthus-Arten scheint dafür zu sprechen. Wenn neuerworbene nützliche Zeichnungselemente, wie die Augenflecken von Chaerocampa aus dem letzten Stadium sich auf das vorletzte übertragen, so läßt sich auch dies aus demselben Ge- dankengang verstehen, insofern die Raupe in diesem Stadium schon eine hinreichende Größe besitzt, um mit ihren Augen Schrecken einzu- jagen: aber in noch jüngeren Stadien würden die Flecken schwerlich mehr so wirken, und doch treten sie schon bei recht kleinen Räupchen (20 mm) auf. Noch klarer ist die Wertlosigkeit der Schrägstreifung in . 156 3iogenetisches Gesetz. den Jugendstadien der Sphinx- und Smerinthus-Raupen, denn in den ersten Lebensstadien sind die Räupchen noch viel zu klein, um einem Blatte ähnlich zu sehen, und die Schrägstriche stehen viel dichter bei- sammen, als die Nebenrippen irgend eines Blattes. Auch brauchen die kleinen grünen Räupchen eines weiteren Schutzes nicht, wenn sie auf dder Rückseite des Blattes sitzen: sie werden «dann leicht in toto für eine der Blattrippen gehalten. Es ist also hier jedenfalls nicht Naturzüchtung, welche das Zurückrücken des neuen Charak- ters bewirkt. Auch wird dasselbe nicht etwa dadurch hervorgerufen, daß der neue Charakter nur allmählich und in mehreren Etappen ge- bildet werden kann, denn die Schrägstreifen wenigstens entstehen in der Ontogenese mit einem Male. Es muß also ein mechanisches Mo- ment im der Entwicklung liegen, welches bedingt, daß Charaktere, die im späteren Stadium erworben wurden, allmählich sich auf die nächst- jüngeren übertragen. Doch kann dieses Zurückrücken sistiert werden, und zwar durch Naturzüchtung, sobald es für das betreffende Stadium nachteilig wäre. So erkläre ich mir, (daß die meisten eben aus dem Ei schlüpfenden xäupchen der Sphingiden völlig zeichnungslos sind, wie z. B. die- jenigen der Chaerocampa- (Fig. 114 1). der Macroglossa- und der Sphinx- Raupen (Fig. 115 A), und auch die Räupchen der Gattung Smerinthus sind zuerst ohne jede Streifen oder Flecken, blaßgrünlich, fast durch- sichtig, und auf dem Blatt sitzend schwer zu erkennen. Wie sehr die einzelnen Stadien der Raupen selbständig den verschiedenen Lebens- bedingungen angepaßt werden können, falls das erforderlich war für (die Erhaltung der Art, das zeigen manche Arten in auffallendster Weise. So trägt das grüne Räupchen von Aglia Tau, wenn es das Ei verlassen hat, fünf sonderbare rötliche stangenförmige Dornen auf sich, die in Farbe und Form Ähnlichkeit mit den Hüllblättern junger Buchenknospen besitzen, zwischen denen sie leben, und die später schwinden: die er- wachsene Raupe besitzt nichts mehr von ihnen, sondern ist blattgrün und mit Schrägstreifen versehen. Sollte auch der Nutzen dieser röt- lichen Dornenstangen ein anderer sein, als ich angedeutet habe, jeden- falls haben wir hier eine spezielle Anpassung des einen, und zwar (des ersten Raupenstadiums vor uns, und was in diesem einen Stadium ge- schehen kann, das ist in jedem anderen auch möglich; nicht nur bei Tieren mit Metamorphose kann jedes Stadium sich selbständig phyletisch verändern, sondern auch bei solehen mit direkter Entwicklung, ja bei diesen ist sogar eine solche Anpassung bei fast jedem Stadium_ der Organe anzunehmen, wie wir oben sahen, weil die starke Verkürzung der Phylogenese in der Embryogenese eine um so genauere gegen- seitige Anpassung der Organanlagen und ihrer Verschiebungen in der Entwicklungsschnelligkeit erfordert. Wir wären also durch die vorgeführten Tatsachen, denen zahl- reiche andere von anderen Gruppen des Tierreichs an die Seite gestellt werden könnten, zu zwei Hauptsätzen gelangt, welche die Beziehungen der Phylogenese zur ÖOntogenese ausdrücken. Der erste und funda- mentale Satz ist der oben schon aufgestellte: Die Ontogenese ent- steht aus der Phylogenese, und zwar durch Zusammenschie- bung ihrer Stadien, welche dabei verändert, verkürzt, ganz ausge- schaltet, oder durch neu eingeschaltete Stadien auseinander gedrängt werden. Der zweite Satz bezieht sich auf die einzelnen Teile und würde etwa lauten: Wie ein jedes Stadium für sich neue Anpassungen jiogenetisches (Gresetz. 157 eingehen kann, so auch jeder Teil, jedes Organ: solche Neu- anpassungen zeigen vielfach die Neigung. auf die nächst jüngeren Stadien sich zu übertragen. Es ist hier nieht meine Absicht, die Gesetze der Öntogenese überhaupt zu formulieren, sonst ließe sich hier noch mancher Satz an- schließen, z. B. der von der gesetzmäbigen Ubertragung eines auf einem Ende des gegliederten Tieres durch Anpassung erworbenen Charakters auf die übrigen Segmente; ich muß mich aber hier darauf beschränken, die angeführten beiden Hauptsätze mit den Prinzipien unsererer Vererbungstheorie in Einklang zu bringen. Wie die Phylogenese sich zur ÖOntogenese verdichtet, läßt sich im allgemeinen wohl vorstellen, wenn wir auch auf eine Ein- sicht im einzelnen noch ganz verzichten müssen. Die Kontinuität des Keimplasmas bedingt die Vererbung, indem sie dem Keimplasma der folgenden (Generation immer wieder den Determinantenkomplex der vorhergehenden überliefert. Jede Neuanpassung irgend eines Stadiums erfolgt durch Veränderung bestimmter, schon im Keimplasma vorhandener Determinanten, welche ihrerseits wieder auf (Germinalselektion, d. h. dem Kampf der verschiedenen Determinantenvarianten untereinander beruht, sowie aus der daraus hervorgehenden bestimmt gerichteten Va- riation, wie dies früher dargelegt wurde. Eine neue Art von Deter- minanten kann nie frei entstehen, sondern immer nur aus schon vor- handenen Determinanten, und zwar durch Variation der letzteren. Da aber spontane Variation niemals alle homologen Determinanten eines Keimplasmas in der gleichen Weise verändert, sondern höchstens eine Majorität derselben, so bleibt stets eine Minorität der alten Deter- minanten erhalten, die unter Umständen wieder zur Geltung kommen kann, wie die Kälteaberrationen der Vanessaarten beweisen und manche andere Arten von Rückschlag. Das ist aber nicht diejenige Abänderung, welche zur Verlängerung der Öntogenese und zur Wiederholung der phyletischen Stadien in der Öntogenese zwingt. Hier setzt sich vielmehr ein neuer Charakter an Stelle eines alten, er fügt sich ihm nicht an. Es entsteht ein schwarzer Fleck an Stelle eines roten, aber nicht zuerst ein schwarzer und dann ein roter Fleck. Wir wissen freilich viel zu wenig noch von den feine- ren Stufenfolgen der Stadien der Ontogenese, um mit Bestimmtheit sagen zu können, ob nicht auch in solchen scheinbar einfachen Umwand- lungen doch das ältere Stadium dem jüngeren in jeder Ontogenese noch vor- hergeht, als dessen wenn auch nur kurze und ftlüchtige Vorbereitung. Sicher aber gehen solche Abänderungen mit der Anfügung eines neuen Stadiums der Ontogenese einher, welches eben wirklich etwas Neues hinzubringt, und dann wird dies nur dadurch vom Keimplasma aus geschehen sein können, daß die Determinanten des vorgehenden Stadiums sich im Keimplasma an Zahl verdoppelten und zugleich zum Teil abänderten. Wenn z. B. ein Krebstier seinen Rumpf um ein Seg- ment verlängerte, so muß das auf einem derartigen Vorgang beruht haben, und es ist in solchem Falle leicht ersichtlich, daß das neue Segment in der Ontogenese immer erst sich bilden kann, wenn das vorhergehende alte sich schon gebildet hat, denn seine Determinanten kommen von jenem her und sind von vornherein so eingerichtet, dab sie erst dureh die Herstellung des vorhergehenden Segmentes zur Aktivität ausgelöst werden. Wenn nun im Laufe der Phylogenese zahlreiche neue Segmente dem Leibe des Krebses hinzugefügt wurden, so verlängerte sich da- 158 Biogenetisches Gesetz. durch die Ontogenese beträchtlich, und eine Verkürzung derselben wurde im Interesse der Arterhaltung notwendig. Dies geschah nun dadurch, dab ganze Reihen von Segmenten, die sukzessiv in der Phylogenese hinzugefügt worden waren, allmählich immer rascher aufeinander sich in der Ontogenese folgten, bis sie zuletzt gleichzeitig angelegt wurden: die Determinanten der Segmente z, n+1, »-2.... »» + x änderten sich in bezug auf ihre Auslösungsreize und traten nicht mehr sukzessive, sondern gleichzeitig in den von ihnen beherrschten Zellkomplexen in Aktivität. Wir haben dann Wiederholung der phyle- tischen Stadien in der Ontogenese, aber mit Verkürzung und Zusammen- schiebung. So sehen wir bei dem Nauplius von Leptodora schon fünf von den Beinpaaren des späteren Thorax angelegt (Fig. 107, V7—-VY//,, und bei der Zoöalarve sind hinter den ausgebildeten Schwimmfüßen der- selben die Anlagen von sechs Brustbeinen zu sehen (Fig. 111, V7— 77/7). Nun kann aber im Laufe der Phylogenese ein Segment auch über- tlüssig werden, und wir wissen, daß es dann verkümmert und schließ- lich ganz in Wegfall kommt. So fehlt bei der Binnenassel, die im Inneren anderer Krebse schmarotzt, schon in der relativ vollständig ge bauten Larve ein Segment des Thorax, und bei den Kaprelliden unter den Flohkrebsen ist das ganze Abdomen von 6—7 Segmenten zu einem kleinen stummelförmigen Anhang verkümmert. In solchen Fällen ist das allmähliche Verkümmern der betreffenden Determinanten dem Ver- kümmern der Teile selbst Schritt für Schritt vorhergegangen, und wenn es völlig vollendet ist, so verrät die Ontogenese nichts mehr von dem, was früher war, und man kann von einer „Fälschung“ der Phylo- genese sprechen. Daß aber das völlige Verschwinden von Determi- nanten ungemein langsam geht und nicht selten ganze geologische Perioden nicht dazu genügen, haben wir schon bei Besprechung der rudimentären Organe gesehen, von denen sich einige bei jeder höheren Tierform nachweisen lassen als sicheres Zeugnis für die Anwesenheit (der betreffenden Organe bei den Vorfahren der Art. Daß das Schw inden nutzloser Teile nach bestimmten Gesetzen erfolgt. können wir aus dem, was an Beobachtungen bisher vorliegt, mit Sicherheit abnehmen; diese Gesetze aber genauer formulieren oder gar auf ihre mechanischen Ursachen zurückführen zu wollen, wäre für jetzt wohl verfrüht: wie früher schon gesagt wurde, wäre eine weit umfassendere und vor allem planmäßig angestellte & Sammlung von Tat- sachen die Vorbedingung dafür. Soviel aber geht aus den vorliegenden Tatsachen wenigstens hervor, dab das Verkümmern am Endstadium des Organs beginnt, und von da zurückschreitend allmählich sich bis in die Embryogenese fortsetzt. So werden die zwei seit der Kreidezeit schon verschwundenen Finger der Vögel heute noch in jedem Vogelembryo angelegt, um später sich rückzubilden: so sind bei verschiedenen Säugern „prälakteale“ Zahnkeime in den Kiefern der Embryonen nachgewiesen worden, welche uns verraten, daß nicht nur Vorfahren existiert haben, deren Gebiß das heutige „Milchgebiß* war, sondern daß weiter zurück- liegende Vorfahren noch ein anderes Gebiß besessen haben, welches erst durch das „Milchgebiß“* verdrängt wurde; so wird das Zahnsystem der Vorfahren der heutigen Bartenwale nur noch in Gestalt von Zalhn- säckchen beim Embryo angelegt, so erscheint — wie wir früher schon sahen - das für die Handwurzel niederer Wirbeltiere charakteristische Os centrale carpi beim Menschen nur noch in einem sehr frühen Embryonalstadium und schwindet als solches schon während der weiteren Embryogenese. Verdichtung der Phylogenese zur ÖOntogenese. 159 Man kann dieses Gesetz vorläufig vielleicht sich so zurecht legen, daß ja unmöglich irgend ein Teil oder Organ plötzlich ganz aus der Öntogenese entfernt werden könnte, ohne dieselbe in Unordnung zu bringen, daß die geringste Störung des Entwicklungsganges aber ohne Zweifel dadurch gesetzt wird, daß zuerst das Endstadium des betreffen- den Teiles rudimentär wird. Erst nachdem dies erfolgt ist und die angrenzenden Teile dem Schwunde angepaßt sind, kann derselbe sich auf die zunächst vorhergehenden Stadien erstrecken und auch diese verkümmern und ihre Umgebung sich ihnen anpassen lassen. ‚Je weiter zurück in der Ontogenese der Schwund schreitet, eine um so gröbere Zahl anderer Bildungen würde von der Verkümmerung in irgendwelcher Weise berührt, welche doch alle nicht plötzlich unter neue Bedingungen gebracht werden dürfen, soll nicht der gesamte Gang der Entwicklung leiden. So werden also zunächst nur diejenigen Determinanten schwinden dürfen, und nach den Gesetzen der (rerminalselektion auch können, welche die letzte Ausgestaltung des nutzlosen Organs bestimmen, dann erst die zunächst vorhergehenden, welche etwa seine Größe und Gestalt bestimmen, und so schwinden nach und nach immer zahlreichere der früher tätigen Determinanten, und Hand in Hand damit verändern sich alle in Korrelation mit dem schwindenden Stadium des Organs stehenden Teile derart, daß ihre und die Gesamtausbildung des Tieres ungeschädigt bleibt. Verhielte es sich anders, könnten beim Nutzloswerden eines Teiles sämtliche Determinanten desselben zu gleicher Zeit ins Schwinden kommen, so würde die ganze Öntogenese ins Wanken kommen, etwa so, wie wenn man an einem auf Pfeilern stehenden Haus, von dem man eine Fensterbreite fortnehmen will, mit der Wegnahme des Grundpfeilers beginnen wollte. Verständlich ist es dabei, dab diese Vorgänge so ungemein lang- sam vor sich gehen, daß dabei Personalselektion, wie wir oben sahen, höchstens im Beginn des Prozesses mitspielt, später aber das weitere Verkümmern eines Rudimentes kaum von Bedeutung für die Existenz- fähigkeit des Individuums ist, und lediglich auf dem Kampf der Teile innerhalb des Keimplasmas (Germinalselektion) beruht. Könnten wir die Determinanten sehen, ihre Zusammenordnung im Keimplasma, ihre Bedeutung für die ÖOntogenese direkt erkennen, so würden wir gewiß viele Erscheinungen der ÖOntogenese und deren Be- ziehungen zur Phylogenese verstehen, die uns ohne dies rätselhaft bleiben, oder zu deren Erklärung wir «doch weiterer Hypothesen be- dürften. EMERY hat schon vor mehreren Jahren mit Recht darauf hingewiesen, daß die Erscheinungen des Variierens homologer Gebilde sich von der Keimplasmatheorie aus dem Verständnis erschließen lassen werden. Wenn die eine Hand sechs Finger statt fünf besitzt, so zeigt anch die anderere nicht selten erhöhte Fingerzahl, ja zuweilen auch der Fuß. Die phyletische Umgestaltung der Gliedmaßen bei den Huftieren ist in auffallender Gleichförmigkeit an den vorderen und den hinteren Extremitäten erfolgt; niemals ist das Tier vorn Einhufer und hinten Zweihufer geworden. Wenn ich nun auch glauben möchte, daß dies in erster Linie auf Anpassung beruht an verschiedene Bodenverhältnisse, etwa so, dab die Zweihufer ursprünglich für den weichen, sumpfigen Boden des Waldes, die Einhufer für den der Steppe sich ausgebildet haben, so ist doch nicht zu leugnen, daß auch Keimesbeziehungen bei dieser Gleichheit der Variationsrichtung mitgewirkt haben können, zumal ja auch die ganze Gliederung der vorderen und der hinteren Extremitäten eine so auflallende Übereinstimmung aufweist. EMmEry möchte dies auf 160 Biogenetisches (resetz. „keimplasmatische Korrelationen“ beziehen, und daß in der Tat die ver- schiedenen Determinanten und Determinantengruppen in verschieden nahen Beziehungen zu einander stehen müssen, haben wir ja von vorn- herein angenommen. (renaueres und Bestimmteres aber darüber sagen zu wollen, scheint mir für jetzt verfrüht. Nur soviel möchte ich sagen, dab Determinanten oder Gruppen, welche in alten Vorfahrenkeimplas- men eine Reihe ganz gleichartiger (rebilde durch Vervielfachung während der ÖOntogenese hervorzubringen hatten, und deshalb also im Keim- plasma selbst nur einfach vorhanden zu sein brauchten, bei den späteren Nachkommen ihre Vervielfachung ins Keimplasma selbst zurückverlegen mußten, falls die Notwendigkeit eintrat, daß die homologen Teile, welche sie hervorbrachten, verschieden wurden. Dann werden also aus der bisherigen einen Determinantengruppe des Keimplasmas mehrere ge- worden sein. Da aber neue Determinanten nur aus schon vorhandenen entstehen können, so müssen diese neuen neben den alten ihren Platz erhalten haben, und somit auch leicht etwaigen intragerminalen Variationsursachen gemeinsam ausgesetzt gewesen sein — d.h. sie werden auch später noch leicht in ähnlicher Weise variiert haben. So z. B. könnte man sich die Segmente der Uranneliden, (die ja größtenteils nach Gestalt und Inhalt untereinander gleich sind, noch aus einer Keimesanlage hervorgehend vorstellen, aus der aber dann, wenn bei den höheren Ringelwürmern die Körperabschnitte sich verschieden gestalten mußten, mehrere Keimesanlagen sich sonderten; und in derselben Weise wird es sich bei der so viel höheren und kom- plizierteren Differenzierung der Körpersegmente bei den Krebsen ver- halten haben. So verstehen wir, wie entsprechend dem Bedürfnis nach zunehmender Differenzierung die Determinantengruppen des Keimplasmas sich vermehrten, dennoch aber in enger Beziehung blieben, die bis zu einem gewissen Grade ihnen auch gemeinsame Schicksale auferlegte, d.h. sie gemeinsamen abändernden Einflüssen aussetzte und vielfach zu ähnlicher Variation bestimmte. Aber — wir können nicht direkt in das Keimplasma hineinsehen und sind ganz auf Rückschlüsse angewiesen aus den Tatsachen, welche uns die Erscheinungen des sichtbaren Lebewesens darbieten. Dies Material an Beobachtungen liegt aber bis jetzt nur spärlich vor, weil es nur zufällig, nicht aber planmäbig gesammelt worden ist. Ich ver- zichte deshalb darauf, jetzt schon einen weiteren Ausbau der Keim- plasmatheorie zu versuchen. Erst aus planmäßig aufgesuchtem Be- obachtungsmaterial, wenn es in Fülle vor uns liegt, wird sich weiteres über den intimen Bau des Keimplasmas, über die gegenseitigen Be- ziehungen und Beeinflussungen seiner Determinanten und über seinen Umbau im Laufe der Phylogenese mit einiger Sicherheit erschließen lassen. Bis dahin aber müssen wir uns damit begnügen, durch die Hypothese der Determinanten wenigstens die eine fundamentale Tat- sache verständlich gemacht zu haben, wie es möglich ist, daß im Laufe der Phylogenese einzelne Teile und einzelne Stadien ganz nach Be- (dürfnis aus der Ontogenese ausgeschaltet oder in sie eingefügt, oder auch bloß verändert werden können, ohne dab zugleich alle übrigen Teile und Stadien des Tieres verändert werden. Dazu ist eine epigenetische Theorie nicht imstande, denn wenn im Keimplasma keine repräsentativen Teilchen enthalten wären, so müßte jede Veränderung desselben auf den (Gesamtgang der Entwicklung und auf alle Teile des Organismus einwirken, und Einzelabänderungen vom Keim aus wären unmöglich. XXVIll. VORTRAG. Allgemeine Bedeutung der Amphimixis. Doppelte Wirkung der Amphimixis p. 161, bewirkt die stete Umprägung der Indivi- dualität, Gleichnis vom Kartenspiel p. 161, Das Keimplasma zugleich. veränderlich und beharrend p. 164, Doppelte Wurzel der individuellen Variation: Germinal- selektion und Neukombinierung der Ide p. 164, „Harmonische“ Anpassung bedingt Amphimixis p. 164, Unterschied von Anpassung und bloßer Abänderung p. 165, Ist ein „unmittelbarer“ Nutzen von Amphimixis zu fordern? p. 165, Unausgesetztes Ein- greifen von Personalselektion in den genealogischen Stammbaum des Keimplasmas p. 166, Fernwirkung der Personalselektion p. 167, Befestigung der Einrichtung der Amphimixis im Lauf der Artenfolgen p. 167, Zunahme der Konstanz eines Charakters mit seiner Dauer p. 167, Charaktere bei denselben Arten verschieden variabel p. 165, Ober- und Unterseite der Kallima p. 169, Wilde Pflanzen in Kultur gebracht variieren zuerst nieht p. 169, Amphimixis sehr alt, deshalb sehr fest p. 169, Bewirkt Amphi- " mixis Ausgleichung (HATSCHEK, HAYCRAFT, QUETELET)? p. 170, GALTONs Häufig- keitskurve p. 172, Ammoxs Abänderungsspielraum p. 172, DE VRIES asymmetrische Häufigkeitskurven p. 172. Meine Herren! Wir haben den Vorgang bereits kennen gelernt, ılen man bei Einzelligen Konjugation, bei Vielzelligen Befruchtung nennt und haben seine nächste Bedeutung darin gefunden. dab durch ihn die Keimsubstanz zweier Individuen miteinander verbunden wird. Da dieses Keimplasma oder Idioplasma der Keimzelle nach unserer Vorstellung der Träger der Vererbungstendenzen des betreffenden Or- ganismus ist, so werden also durch die Vermischung, Amphimixis, zweier Keimplasmen, die Vererbungstendenzen zweier Individuen mit- einander vereinigt, und (der Organismus, dessen Bildung von diesem gemischten Keimplasma geleitet wird, muß deshalb Züge von beiden elterlichen Individuen annehmen, gewissermaßen aus Zügen beider Eltern zusammengesetzt sein. Das ist also eine Wirkung, welche durch Am- phimixis erreicht wird. Wir sind aber schon weiter gegangen und haben erkannt, dab noch eine zweite Wirkung «damit verbunden sein muß, nämlich die, die individuelle Prägung des Keimplasmas immer wieder neu zu ge- stalten, durch Neukombinierung der in ihm enthaltenen Ide. Wir sahen, daß unter der, wie ich glaube, bewiesenen Voraussetzung einer Zu- sammensetzung des Keimplasmas aus Iden, die Reduktion desselben auf die halbe Masse zugleich eine Reduktion auf die halbe Zahl von Iden sein muß, und da die Ide individuell verschiedene Anlagen ent- halten, also eine neue Zusammenstellung, ein neues Gemisch dieser in- dividuellen Verschiedenheiten bewirken muß. Die Halbierung des Keim- plasmas, d. h. die Herabsetzung der Zahl seiner Ide auf die Hälfte ist aber eine allgemein mit Amphimixis verbundene Erscheinung, Weismann, Deszendenztheorie. II. 2. Aufl. Il 162 Allgemeine Bedeutung der Amphimixis. die sich bei allen bisher untersuchten Tieren sicher nachweisen ließ, auch für die Pflanzen in den bestuntersuchten Fällen feststeht, und die schließlich auch für die Einzelligen durch die der Reduktionsteilung bei höheren Tieren sehr ähnlichen Vorgänge bei der Konjugation der Infu- sorien und mancher anderer Einzelligen sehr wahrscheinlich wird. Es hat sich hier die Voraussage vom Boden der Theorie aus durch die Beobachtungen bestätigt, und es leuchtet ja auch ein, dab die Annahme von Iden, d.h. von Keimplasmaeinheiten, die von einer Generation in die folgende übergehen, eine Reduktion der Anzahl derselben bei Am- phimixis unvermeidlich macht. Ohne sie müßte sich die Zahl der Ide bei jeder Amphimxis verdoppeln, und es müßte nach und nach zu einer ins Ungeheure anwachsenden Zahl der Ide kommen. Wir sehen also, warum von der Natur diese regelmäßig vor jeder Amphimixis eintre- tende Reduktion der Ide eingerichtet wurde, und es war unvermeidlich, daß sieh mit ihr jedesmal eine Neukombinierung der Ide verband. Wenn nun bloß das entsteht, was zweckmäßig, d. h. was not- wendig ist, wie sollen wir es verstehen, daß die Einrichtung der Am- phimixis durch nahezu das ganze bekannte Gebiete des Lebens verbreitet ist? von sehr einfachen Organismen an bis zu den höchsten hinauf, bei Einzelligen und Vielzelligen, bei Pflanzen und Tieren? Daß es nur in wenigen kleinen Formengruppen zu einem Ausfall dieser Ein- richtung gekommen ist, während sie sonst überall sich vorfindet, zum Teil in jeder Generation, unzertrennlich verbunden mit jeder Fortpflan- zung, so daß man sie selbst unklarerweise für eine Art der Fortpflanzung “ hielt, und heute noch allgemein als die „geschlechtliche* bezeichnet? daß sie zwar bei vielen Organismen, besonders niederen, nicht mit jeder Fortpflanzung verbunden ist, aber doch immer wiederkehrt in regel- mäßigen oder unregelmäßigen Zwischenräumen? Eine so universelle Einrichtung muß ohne Zweifel auch eine fundamentale Bedeutung haben, und es fragt sich, wo diese liegen könnte? Das ist das Problem, zu dessen Beantwortung wir uns jetzt zu wenden haben. Soviel läßt sich von vornherein sagen: in der Ermöglichung der Fortpflanzung kann sie nicht liegen, denn diese geschieht auch ohne sie auf die verschiedenste Weise, durch Zwei- oder Mehrteilung des Organismus, durch Knospung, durch Erzeugung einzelliger Keime. Wenn die letzteren auch vielfach so eingerichtet sind, daß sie Amphi- mixis eingehen müssen, um sich zum neuen Organismus entwickeln zu können, so gibt es doch zahlreiche andere Keimzellen, denen diese Be- dingung nicht gestellt ist (Sporen), ja es gibt —- wie wir sahen — sogar zahlreiche, auf Amphimixis eingerichtete Keimzellen, welche sich immer, oder in gewissen Generationen, oder auch nur gelegent- lich unter gewissen äußeren Einflüssen von «dieser Bedingung emanzi- pieren: «die parthenogenetisch sich entwickelnden Eizellen. Wenn nun Amphimixis keine allgemeine Vorbedingung der Fortpflanzung ist, worin liegt dann die Notwendigkeit ihrer Durch- führung im Reiche des Lebens? Wir haben zwei ausnahmslos eintretende Wirkungen der Amphi- mixis kennen gelernt. die eine besteht in der ihr vorausgehenden Hal- bierung der Idezahl und ihrer dadurch bedingten Neukombinierung. die andere in der Verbindung zweier solcher halbierter Keimplasmen aus zwei verschiedenen Individuen. Die erste kann man mit HAarroG vergleichen dem Abheben eines Kartenspiels auf die Hälfte nach vorherigem Mischen, die zweite dem Zusammenlegen zweier in dieser Weise er- Allgemeine Bedeutung der Amphimixis. 163 haltenen Hälften aus zwei verschiedenen Kartenspielen. Der erste Vor- sang bringt nichts Neues in den Anlagenkomplex hinein, entfernt viel- mehr einen größeren oder geringeren Teil der Eigentümlichkeiten daraus: nicht notwendig gerade «die Hälfte derselben, da ja einzelne Ide doppelt oder mehrfach darin enthalten sein können. Er vereinfacht also die‘ Zusammensetzung des Keimplasmas, und würde für sich allein schon in dem Kampf der Ide in der Ontogenese zu einer vom Elter ver- schiedenen Resultante, d. h. zu einer neuen Individualität führen können. Durch den zweiten Vorgang aber, «die Amphimixis, kommen notwendig neue Individualzüge hinzu und verschieben diese Resultante noch mehr, falls nämlich die Ide beider Eltern im Kampf der Ontogenese zur Geltung gelangen, was, wie wir früher gesehen haben, zwar meist der Fall ist, aber nicht immer, und vor allem nicht immer in allen Teilen. Amphimixis bewirkt also, zusammen mit der sie vorbereitenden Reduktion der Ide: die Erhaltung indi- vidueller Verschiedenheit durch die stete Neukombinierung der bereits in der Art vorhandenen Individualcharaktere. Als ich vor sechszehn Jahren zuerst die Frage nach der eigent- lichen und letzten Bedeutung der geschlechtlichen Fortpflanzung stellte, glaubte ich sie schon in dieser steten Neuerzeugung der Indivi- dualität gefunden zu haben. Darin schien mir ein genügender Grund für die Einführung der Amphimixis in die Natur gelegen zu sein, da ja die Verschiedenheit der Individuen die Basis der Selektions- prozesse, also die Basis aller der Umwandlungen der Lebensformen ist, die wir auf Natur- oder geschlechtliche Züchtung beziehen (dürfen, diese aber, wie ich damals und auch heute noch überzeugt bin, nicht nur die bei weitem zahlreichsten aller Abänderungen, sondern auch die bedeutendsten, d. h. die leitenden, richtungsbestimmenden sind. Auch heute noch betrachte ich Amphimixis als das Mittel, durch welches eine stets sich erneuernde Umkombinierung der Variationen bewirkt wird, ein Vorgang, ohne welchen der Aufbau dieser so unendlich formen- reichen und unbegreiflich komplizierten Organismenwelt nicht hätte stattfinden können. Ich betrachte sie aber nicht als die eigentliche Wurzel der Varia- tionen selbst, «denn «diese kann unmöglich auf einem bloßen Austausch der Ide, sie muß vielmehr auf einer Veränderung der Ide beruhen. Die Ide eines Wurms der Vorwelt können nicht unverändert heute das Keimplasma eines Elefanten zusammensetzen, auch wenn es ganz richtig ist, daß die Säugetiere von Würmern abstammen. Die Ide müssen sich seither unzählige Male umgestaltet haben durch Umbildung, Verkümmerung und Neubildung von Determinanten. Amphimixis, d.h. die Verbindung zweier Keimplasmen verändert ja die Determinanten selbst nicht, sie stellt nur die Ide (Ahnenplasmen) zu immer neuen Kombinationen zusammen. Wäre die Variationsbildung allein darauf beschränkt, so würde eine Transmutation von Arten und Gattungen nur in sehr beschränkter Weise möglich sein: es könnte höchstens ein enger Kreis von Variationen zustande kommen, etwa wie in dem vor- hin angeführten Beispiel von den beiden Kartenspielen bei «dem tausend- fältig wiederholten Abheben und Wiedermischen der abzehobenen Hälften zuletzt doch nur eine bestimmte, wenn auch große Zahl von Karten- kombinationen sich wiederholen müßte. Beim Keimplasma und der Amphimixis ist das deshalb anders und bis zur Unendlichkeit ausgie- biger, weil die einzelnen Karten die Ide veränderlich 11* 164 Allgemeine Bedeutung der Amphimixis. sind von einem Abheben und Mischen zum anderen schon, unendlich ausgiebig aber im Laufe zahlreicher Wiederholungen des Mischens. Man hat mir oft und hartnäckig die Meinung zugeschrieben, das Keimplasma sei unveränderlich, gestützt auf eine mißverstandene, vielleicht auch etwas zu kurz und scharf gefaßte Außerung früherer Zeit (1586). Ich hatte indessen dasselbe nur als eine „Substanz von ungemein großem Beharrungsvermögen“ bezeichnet, als schwer oder langsam veränderlich, fubend auf der Tatsache der langen Dauer vieler Arten, während deren ja die Artkonstitution des Keimplasmas unverändert erhalten bleibt. Die Vorstellung einer Germinalselektion, eines unausgesetzten Kampfes der „Anlagen“ des Keimes, und infolge- (dessen eines leisen und unsichtbaren Auf- und Niedergehens der indi- viduellen Charaktere war mir damals noch nicht aufgegangen, wie ich denn auch (die Existenz von „Determinanten“ noch nicht erfaßt hatte: ich zweifelte noch, ob nicht Entwicklung, Vererbung und Variation denk- bar seien von einer undifferenzierten, anlagenlosen Keimsubstanz aus. Zu jeder Zeit indessen bin ich mir sehr wohl bewußt gewesen, daß die gesamte phyletische Entwicklung der Organismenwelt nur unter steter Abänderung der Keimplasmen denkbar ist, daß sie einfach auf ihr beruht, wenn diese Veränderungen auch in sehr langsamen Schritten vor sich gehen, also in gewissem Sinne: „schwer“. Heute glaube ich. klarer in diese Vorgänge hineinzusehen, ich glaube zu erkennen, daß nicht nur die Wurzel aller erblichen Varia- tion im Keimplasma liegt, sondern auch, daß die Determinanten fort- während durch kleinste Ernährungsschwankungen im Innern des Keim- plasmas hin und her oszillieren und leicht in bestimmt gerichtete Variation getrieben werden, die schließlich zu betdeutenderen Schwan- kungen im Bau der Art führen können, wenn sie von Personalselektion begünstigt, oder doch nicht als ungünstig von ihr beseitigt werden. Über beides aber wacht Auslese fortwährend, und entfernt — solange die Lebensbedingungen eine Änderung nicht erfordern oder doch er- lauben — alles, was die Reinheit des Artbildes trüben, was über den tahmen desselben hinausgehen, d. h. die Existenz der Art gefährden würde. So versteht man es, wie das Keimplasma gleichzeitig veränderlich sein, und doch durch Jahrtausende unverändert bleiben kann, wie es zwar bereit und imstande ist, jederzeit jede überhaupt mögliche Variation bei einer Art hervorzubringen, wenn sie von den äußeren Umständen gefordert wird, und doch in fast absoluter Konstanz der Artcharaktere durch ganze geologische Zeiträume hindurch zu verharren. kurz wie es zugleich leicht und schwer veränder- lich sein kann. Die Bedeutung nun, welche Amphimixis nach dieser Seite hin für (die Anpassung der Organismen hat, liegt, wenn ich nicht irre, in der Notwendigkeit der Koadaption, darin also, daß es sich bei fast allen Anpassungen nicht um die Veränderung einzelner Determinanten handelt, sondern um die zusammenpassende Veränderung vieler, oft überaus zahlreicher Determinanten, um „harmonische An- passung“, wie wir früher schon sagten. Eine solche vielseitige An- passung scheint mir unmöglich ohne immer wieder erneute Sichtung und Neumischung der Keimplasmen und («diese kann allein durch Am- phimixis bewirkt werden. Sie können mir einwerfen, daß doch auch ohne diese, bei rein asexueller Fortpflanzung ein Organismus in vielen Teilen zur Abände- Allgemeine Bedeutung der Amphimixis. 165 rung gebracht werden kann, eine Pflanze z. B. dadurch, dab sie in ein fremdes Erdreich oder Klima versetzt wird: auch scheinen die «dann eintretenden Veränderungen zusammenzupassen. jedenfalls wird die Har- monie der Teile so weit erhalten, daß die Pflanze — unter Kultur wenigstens — am Leben bleibt. Es möge aber selbst eine Pflanzenart durch üppige Ernährung zu einem Riesenwuchs veranlaßt und in vielen Teilen verändert werden, ja es möge sogar die üppige Ernährung das Keimplasma derselben (direkt derart treffen. daß alle oder ein Teil dieser Veränderungen erblich werde, so haben Sie damit noch lange keine Anpassungen gewonnen, sondern nur gleichzeitige Abände- rungen, von denen es durchaus fraglich ist. ob sie das Ausdauern («ler Pflanze unter den neuen Bedingungen ermöglichen. oder nicht. Es könnte z. B. sehr wohl sein, daß dieselbe dadurch zwar größer und von reicherem Blütenstand wird, aber steril. somit untauglich. im Naturzustand sich fernerhin noch zu erhalten. Abänderungen sind eben noch keine Anpassungen, diese letzteren aber können niemals bloß durch direkte Wirkung auf das Keimplasma zustande kommen. Welcher direkte Einfluß auf das Keimplasma wäre wohl imstande, die Hinterbeine eines Säugers lang und stark, zugleich aber die Vorder- beine desselben kurz und schwach zu machen? offenbar weder stärkere noch schwächere Ernährung, weder höhere noch niedere Temperatur, — kurz kein direkter Einfluß, weil jeder das ganze Keimplasma trifft, also unmöglich zwei homologe Determinantengruppen in entgegenge- setzter Weise beeinflussen kann. Dies wird, so scheint mir, nur dadurch möglich, daß die günstigen zufälligen Keimesvariationen der Hinterbein- und der Vorderbeindeter- minanten durch Amphimixis in ein Individuum zusammengetragen werden und wie es in diesem groben hypothetischen Falle sich mit zwei Abänderungen verhält, so wird es sich bei den wirklichen Vor- gängen der Anpassung bei zahlreichen, wir wissen nicht wie zahl- reichen Abänderungen verhalten, die zu einer „harmonischen Anpas- sung“ gehören. Man werfe auch nicht ein, dab gerade die große Zahl der zur „harmonischen Anpassung“ notwendigen Abänderungen ihre Ausführ- barkeit unmöglich mache, da ja die volle Harmonie der Teile erst die Anpassung ausmache, und vorher die Individuen nur unvollkommen angepaßt, also nicht erhaltungsfähig wären. Mathematisch beweisbar ist es freilich nicht, daß dem nicht so ist, allein da der ganze Um- wandlungsprozeß, der die alte Anpassung in eine neue überführen soll, mit den minimalen Schwankungen der Determinanten beginnt, die zuerst durch Germinalselektion bis auf die Stufe des Selektionswertes geführt werden und dann erst der Personalselektion unterliegen, so wird der ganze Prozeß so allmählich und in so kleinen Sehritten vor sich gehen, daß die Harmonie der Teile mittelst funktioneller Anpassung. also während des Einzellebens immer bei einer großen Anzahl von Indi- viduen erhalten bleibt. Diese aber eben sind die Überlebenden im Kampf ums Dasein, zugleich sind dies aber auch diejenigen, welche auf jeder Stufe des Prozesses die beste Kombination günstig abändernder Determinanten besitzen. Da nun ferner diese günstigen Variationen infolge von Germinalselektion nicht bloß Einzelvariationen von schwankender Bedeutung, sondern bestimmt ze- richtete Variationen sind, so muß der ganze Abänderungsvorgang in derselben Richtung in jedem einzelnen Teil weiter eehen, in den er 166 Allgemeine Bedeutung der Amphimixis. durch Personalselektion hineingetrieben wurde. Indem nun bei jeder Reduktionsteilung die Keimzellen auf die Hälfte ihrer Ide herabgesetzt werden, bietet sich die Möglichkeit, die ungünstig variierenden Ide aus dem Keimplasma der Art allmählich zu entfernen, indem jedesmal die Nachkommen aus den ungünstigsten Idkombinationen unterliegen, und indem so von Generation zu (reneration das Keimplasma von ungünstig variierenden Iden gesäubert, und die günstigsten Kombinationen. welche Amphimixis bietet, erhalten werden, bleiben schließlich nur die richtig variierenden Kombinationen übrig, oder doch solche, in denen die richtig variierenden Determinanten in der Überzahl sind, also bestim- mend wirken. Diese Ableitung ist wohl logisch unanfechtbar, wenn man sich einmal auf den Boden der Keimplasma-Theorie stellt; ob sie aber als ein ausreichender Grund für die Einführung der Amphimixis, und für die so überaus zähe Beibehaltung derselben im Laufe der ganzen so ungeheuer langen und reichen Phylogenese betrachtet werden darf. das kann nicht ohne besondere Untersuchung behauptet werden. Man hat mir öfters eingeworfen, durch Naturzüchtung könne nicht eine Einrichtung entstehen oder erhalten bleiben, welche nicht von un- mittelbarem Nutzen für das Individuum sei, an welchem sie auftrete: geschlechtliche Fortpflanzung könne also nicht dadurch sich festgesetzt haben, daß sie die Anpassungen der Arten fördere oder selbst ermög- liche, denn diese Anpassungen erfolgen doch nur selten, alle paar Tausend (Generationen oder noch viel seltener: die dazwischen liegenden (senerationen aber hätten keinerlei Nutzen von der betreffenden Ein- richtung, müßten sie also nach dem Gesetz des Rückschreitens nicht- gebrauchter Charaktere längst verloren haben. Ich habe diesen Ein- wurf früher schon erwähnt, mußte es aber bis nach Erörterung der (rerminalselektion verschieben, ihn im genaueren zu widerlegen. Zugegeben natürlich, daß Charaktere nur so lange intakt erhalten bleiben, als sie ihren Trägern von ausschlaggebendem Nutzen sind, dann aber von ihrer Höhe herabzusinken anfangen, zugegeben auch, dab Neuanpassungen nicht immerfort. vielfach wohl nur im Abstand langer Grenerationsfolgen nötig werden, so scheint mir doch dieser Ein- wurf nicht haltbar. Sehen wir zunächst einmal von der ersten Einführung der Amı- phimixis noch ganz ab und nehmen sie als eine gegebene Einrichtung, deren zähe Beibehaltung wir ergründen wollen. Ist es nun wirklich so, daß sie bloß bei der Neuanpassung einer Art von Bedeutung wird, und hat sie bei dem Verharren der Art im Zustand einer schon gewonnenen Anpassung nichts zu tun? Nach (der Vorstellung, die wir uns von den Vorgängen im Keimplasma soeben gebildet haben, kann das unmöglich so sein. denn danach müssen ja fortwährende kleine Schwankungen der Determinanten infolge lokaler Schwankungen in den intragerminalen Nahrungsströmen vorkommen, leichte Variationen nach Plus oder nach Minus, und solche Variationen stehen vielfach nieht still. oder schlagen bald wieder in die entgegen- gesetzte Richtung um, sondern sie steigern sieh in der einmal eingeschlagenen Richtung. Nur wenn Personalselektion gegen sie einschreitet, kommen sie zum Stillstand, und dies geschieht dann, wenn sie Selektionswert erreichen, d.h. wenn sie ein Maß erreichen, in welchem sie nachteilig werden im Personalkampf. Wenn nun aber solche ger- minale Variationsrichtungen immerfort vorkommen, so muß auch | 5 | | ———_—_” nn no By‘ Allgemeine Bedeutung der Amphimixis. 167 Personalselektion immerfort über sie wachen und sie aus- merzen, sobald sie Selektionswert erreicht haben. Also, wenn auch eine Art auf das vollkommenste ihren Bedin- gungen angepaßt ist, so müßte sie doch bald degenerieren, wachte nicht Personailselektion über sie, bereit jedes Zuviel oder Zuwenig zu be- seitigen, sobald es nachteilig zu werden beginnt. Nun beruht aber . Anpassung einer Art nicht auf der Normierung eines Charakters, sondern sehr zahlreicher, und viele davon variieren gleichzeitig nach oben oder nach unten, und erreichen irgendwann die (Grenze des Se- lektionswertes. Bestünde nun keine Amphimixis, so müßten entweder alle Individuen mit irgend einer exzessiven Variante gleich aus- gemerzt werden, oder die Art würde sich erst noch so lange ver- schleehtern, bis sie in allen ihren Individuen so zahlreiche und so starke exzessive Varianten besäbe, daß sie durch Degeneration zugrunde gehen müßte. Aber auch im ersteren Falle würde sie dem Loose (des Aussterbens zutreiben. weil exzessive Varianten eben in jeder asexuellen Grenerationsfolge vorkommen, und mit der Zeit bei immer zahlreicheren Determinanten auftreten könnten, ohne daß doch die Möglichkeit ge- geben wäre, sie abzustoßen, und aus dem Stammbaum herauszubringen. Erst durch das periodische Eingreifen von Amphimixis wird das möglich und geschieht offenbar, und allein dadurch erhält sich eine Art auf der Höhe ihrer Anpassung. Man braucht sich dabei nicht vor- zustellen, daß jede einzelne in ungünstiger Richtung variierende Deter- minante sofort ausgemerzt werde, sobald sie eben ungünstig wird, d. h. negativen Selektionswert erreicht, oder — um mich eines von Ammon eingeführten Ausdrucks zu bedienen — sobald sie den neutralen „Abänderungsspielraum‘ überschreitet, d. h. die Variationsbreite innerhalb deren die Variationen weder günstig noch ungünstig sind. Aber sie wird unfehlbar ausgemerzt werden im Laufe der Gene- rationen, besonders sobald eine ganze Anzahl ungünstig variierender Determinanten im Keimplasma zusammentrifft. Die Individuen, welche aus einem so zusammengesetzten Keimplasma hervorgehen, unterliegen in der Konkurrenz, und dadurch wird die Id-Kombination mit ex- zessiven Determinanten ausgemerzt aus dem Anlagenbestand der Art. Indem sich das nun so oft wiederholt, als Ausschreitungen von Iden vorkommen, wird die Art rein erhalten. Man könnte mir einwerfen, daß durch ein solches stetes Aus- merzen rebellischer Determinanten das Keimplasma derart in seiner reinsten ‚Konstitution befestigt werde, daß es schließlich vor solchen Abirrungen seiner Determinanten geschützt sein müsse, und deshalb zuletzt gar nicht mehr vom richtigen Pfad abweiche, also auch dieser steten Korrektur durch Amphimixis nicht mehr bedürfe. Ich widerspreche dieser Auffassung nicht: auch ich glaube, daß die Art auf die eben angedeutete Art mehr und mehr in ihrer Kon- stitution befestigt wird. daß dadurch ein immer vollkommeneres und stabileres Gleichgewicht des ganzen Determinantensystems herbeigeführt wird, indem die verschiedenen Determinanten des Keimplasmas im Laufe der (senerationen in immer kleineren Ausschlägen variieren, also immer seltener den „Abänderungsspielraum* überschreiten aber ich glaube auch, daß diese berechtigte Folgerung sehr zu gunsten meiner Auf- fassung spricht, d. h. für das Beharren der einmal eingeführten Am- phigonie. 168 Allgemeine Bedeutung des Amphimixis. . Zunächst sei nur- gesagt, dab es für die Erhaltung einer nütz- lichen Einrichtung keineswegs nötig ist, daß sie in jeder Generation ihren Nutzen praktisch bewähre. Wenn z. B. auch der warme Winter- pelz einer Säugerart notwendig ist zu ihrer Erhaltung, so schwindet er doch nieht gleich, wenn einmal ein so warmer Winter eintritt, daß auch Individuen mit schlechterem Pelz ausdauern können. ‚Ja es könnten sich mehrere solche Winter folgen, in denen also eine Ausmerzung schlechterer Pelzbesitzer nicht vorkäme, ohne daß (deshalb schon die Dichtigkeit des Winterpelzes bei dieser Art ins Schwanken geriete, eben weil dieser Charakter bei einer alten, längst völlig angepaßten Art überhaupt nur unmerklich mehr variiert, und nur sehr langsam durch direkte Eimwirkung auf das Keimplasma, oder durch Panmixie wieder in stärkeren Fluß gebracht werden könnte. Aber genau dasselbe silt auch für die Determinanten der Fortpflanzungszellen in bezug auf ihre Einrichtung für Amphimixis, nur in sehr erhöhtem Maße. Ehe ich darauf weiterbaue, möchte ich Ihnen aber zeigen, (dab der eben aus der Theorie abgeleitete Satz von dem zunehmenden Gleichgewicht des Determinantensystems einer Art mit der Dauer ihres Bestandes nicht nur für das ganze System, sondern auch für seine einzelnen Teile, d. h. also für einzelne Charaktere und Einrichtungen an einer Art. Gültigkeit besitzt. Die Erfahrung lehrt uns, dab Charak- tere um so strenger und konstanter vererbt werden, je älter sie sind; Gattungscharaktere sind konstanter als Artcharaktere, Ordnungscharak- tere beharrlicher als Familiencharaktere — das liegt schon in ihrem Namen. aber wir vermögen auch in bezug auf die Charaktere der Art zu zeigen, daß diejenigen, die schon sehr lang fixiert sind, auch am strengsten und reinsten vererbt werden, d. h. dab ihre Determinanten am wenigsten geneigt sind, nach unten oder nach oben den Abänderungsspielraum zu überschreiten. Zwei Gruppen von Tatsachen beweisen dies: erstens die Beobach- tung, daß der so verschiedene Grad von Variabilität, welchen die ver- schiedenen Arten aufweisen, sich keineswegs auf alle Charaktere (der Art in gleichem Maße bezieht, sondern dab die einzelnen Charak- tere in sehr verschiedenem Grade variabel oder konstant sein können. Schon vor langen Jahren“) wies ich auf die Tatsache hin, dab die verschiedenen Stadien in der Lebensgeschichte der Insekten, speziell der Schmetterlinge in ganz verschiedenem Grade variabel sein können, dab z. B. die Raupe sehr variabel, der Schmetterling, der aus ihr hervorgeht, überaus konstant sein kann. Ich schloß daraus, was wohl heute von niemandem bezweifelt werden wird, daß die Stadien sich unabhängig voneinander phyletisch verändern können, etwa so, daß die Raupe sich einer neuen Lebensweise, einer neuen Nährpflanze, oder neuen Schutzmitteln anpaßt, während der Schmetterling davon unbe- rührt ruhig so bleibt, wie er vorher war. ‚Jede Neuanpassung bringt notwendig ein Variabelwerden mit sich und so muß das sich umge- staltende Stadium in eine Periode der Variabilität eintreten, die erst ganz allmählich wieder zu größerer Konstanz gelangt, und zwar um so vollständiger, je längere (senerationsfolgen hindurch die Auslese der minder gut Angepaßten schon angehalten hat. *) „Studien zur Deszendenztheorie“, Leipzig 1876. ee Bl a en ne un Allgemeine Bedeutung der Amphimixis. 169 Aber nicht nur die einzelnen Entwicklungsstadien können ungleich variabel sein, sondern auch die gleichzeitig auftretenden Charaktere einer Art. Das auffallendste Beispiel dafür, das ich kenne, ist der schon manchmal in diesen Vorträgen erwähnte Blattschmetterling, die indische Kallıma paralecta. Bei dieser Art ist die braun und rot ge- färbte Oberseite in allen Individuen nahezu gleich in Färbung und Zeichnung, «die Unterseite aber, die durch ihre Zeichnung und Färbung die Blattnachahmung so täuschend darstellt, ist dermaßen variabel, «daß man unter einer größeren Zahl von Schmetterlingen nicht leicht mehrere findet, die sich so genau gleichen, wie das bei Arten mit konstanter Unterseite der Fall ist. Man werfe nicht ein, daß dies von der weit größeren Komplikation der Zeichnung auf der Unterseite herrühre. Bei manchen unserer einheimischen Schmetterlinge ist die Unterseite wohl ebenso kompliziert in Zeichnung und Färbung und dennoch sehr kon- stant, in allen Exemplaren fast genau gleich, so z. B. bei Vanessa cardui. Bei Kallima beruht diese große Variabilität der Unterseite allerdings nicht bloß darauf, daß dieser Charakter erst kürzlich (phylo- genetisch gesprochen) erworben wurde, sondern vor allem darauf, dab die abgestorbenen Blätter, denen sie sich annähert, selbst recht ver- schieden aussehen, daß manche trocken, andere feucht und mit Schimmel überzogen sind, und daß nun die Anpassungen nach verschiedenen Seiten auseinandergegangen sind, und sich bis heute wenigstens weder zu einem einzigen konstanten Typus vereinigt haben, noch in zwei oder drei distinkt getrennte auseinandergegangen sind. Die verschiedenen Blattbilder scheinen nahezu gleich gut sie ihren Feinden zu verbergen. und so findet noch immerfort Kreuzung derselben untereinander und Vermischung der Bilder statt. Eine zweite Gruppe von Tatsachen, welche darauf hinweist. dab alte Charaktere weniger geneigt sind, den neutralen Abänderungs- spielraum zu überschreiten, besteht in der Erfahrung der Züchter und besonders der Gärtner mit wilden Pflanzen, die man der Kultur unterwirft, um Varietäten zu erhalten. Es hat sich dabei herausge- stellt, daß die wilde Pflanze eine oft lange Reihe von Generationen hindurch trotz stark veränderter Lebensbedingungen keine irgend erheb- lichen Variationen hervorbringt, daß dann aber ein Moment kommt, in dem einzelne Variationen erscheinen, die man dann durch Züchtungs- manipulationen zu Spielarten mit großen, auffallend gefärbten Blumen oder sonstigen Auszeichnungen steigern kann. Darwın nannte dies ein Erschüttertwerden der Konstitution der Art; die feste und schwer veränderliche „Konstitution“ besteht aber eben darin, daß bei alten und längst gut angepaßten Arten die Determinanten nur einen sehr schmalen Abänderungsspielraum mehr besitzen, und wegen ihrer großen Über- einstimmung nicht leicht und immer nur langsam in stärkere Über- schreitungen hineingetrieben werden. Wenden wir nun dies Ergebnis auf die Einrichtung der Amphi- mixis und der Amphigonie an, so leuchtet es ein, daß diejenigen Deter- minanten des Keimplasmas, welche diese Charaktere bestimmen, fester und unveränderlicher sein müssen. als alle anderen, welche eine Art besitzt, denn sie sind unendlich viel älter als jene. Sie sind älter als alle Arteharaktere, älter als die Charaktere der Gattung, der Familie, der Klasse, ja des ganzen Tierkreises, dem ein höheres Tier — etwa ein Wirbeltier — angehört, denn die Urwirbeltiere schon besaßen sie. Wir könnten uns also nicht wundern, wenn Amphigonie 170 Allgemeine Bedeutung der Amphimixis. durch Hunderte und Tausende von (Generationen festgehalten würde, auch wenn sie während dieser Zeit gar nicht durch Selektion im Keim- plasma von neuem befestigt würde. Wir könnten uns eher darüber wundern, daß eine so uralte, im Keimplasma so fest begründete Ein- richtung doch wieder aufgegeben werden kann, wenn es im Vorteil der Art liegt, wie dies bei Parthenogenese geschieht. Ich habe (diese ganze Erwägung Ihnen deshalb vorgeführt, weil ich glaube, daß wir zur Erklärung der Allgemeinheit der Amphigonie dieses Beharrungsvermögens der Sexualdeterminanten bedürfen. Das Vorkommen reiner Parthenogenese, ohne daß doch Degeneration der Art eintritt, läßt sich kaum anders verstehen, als dadurch, daß die Art- konstanz auch ohne stetes Dazwischentreten von Amphimixis erhalten bleibt, wenn sie einmal erreicht wurde. Wie lange sie sich erhält, ist eine andere Frage, die schwer oder gar nicht zu beantworten ist, da Arten mit rein parthenogenetischer Fortpflanzung selten sind, und da wir nichts Sicheres darüber wissen, wie lange Amphimixis bei ihnen schon aussetzt. „Nicht lange“, so wird im allgemeinen bei den wenigen Tieren, die hier in Betracht kommen, die Antwort lauten, aber ob dieses „nicht lange“ Hunderte oder Tausende von Generationen bedeutet, müssen wir unentschieden lassen. Soviel können wir nur sagen, daß bei allen Tierarten, bei denen das männliche Geschlecht ganz oder bis auf mini- male Reste ausgefallen ist, bis jetzt wenigstens Spuren von Entartung nicht zu erkennen sind, ja daß sogar Organe, die durch das Ausfallen der Amphigonie außer Tätigkeit gesetzt und funktionslos sind, dennoch sich in manchen Fällen bis jetzt in vollkommener Reinheit erhalten haben. Ich werde später darauf zurückkommen, und möchte jetzt zu- nächst das Bild vervollständigen, das wir uns von der Wirkung. und damit also auch der Bedeutung und der Erhaltungsfähigkeit der Am- phigonie machen können. Wir haben gesehen, daß durch Amphigonie nicht nur die Mög- lichkeit zu der stets wieder von Neuem erforderlichen „harmonischen Anpassung“ gegeben wird,- sondern daß sie auch durch die stete Kreuzung der Individuen während Fortdauer der Auslese der Minder- guten eine allmählich sich steigernde Konstanz der Arten herbei- führt. Diese nun wird von manchen Schriftstellern als die einzige Wirkung derselben genommen. So neuestens noch von HATSCHEK, (dessen Meinung oben schon widerlegt wurde. Auch HaycrRAFT sieht die Bedeutung der Amphigonie lediglich in der Ausgleichung der Unterschiede, welche sie bewirke; (WUETELET und GALTON hätten gezeigt, daß Kreuzung zu einem Mittel hinführe, das sich dann konstant erhalte. HAYCcRAFT stellt sich vor, daß eine Art nur dann konstant bleiben könne, wenn ihre Individuen fortwährend sich vermischen, andernfalls müsse sie in verschiedene Formen auseinander gehen, weil das „Protoplasma* die Tendenz zu stetem Variieren in sich trage. Die Umwandlung der Arten werde (durch diese Variationstendenz bewirkt, die Beharrlichkeit und Konstanz bereits ihren Lebensbedingungen angepaßter Arten durch die stete Ver- mischung und Ausgleichung der Individuen. Wenn nun auch gerade die vorhin erwähnten Fälle großer Art- konstanz bei rein parthenogenetischer Fortpflanzung nicht für das voll- kommene Zutreffen dieser Anschauung sprechen, so ist doch der Grund- gedanke derselben sicherlich richtig, daß nämlich Amphigonie ein wesent- licher Faktor der Arterhaltung ist, ja auch der Artbildung; gewiß . IX Bewirkt Amphimixis Ausgleichung ? 171 würden wir weder Gattungen noch Arten in der lebenden Natur finden. wenn Amphigonie nicht existierte: aber so einfach ist die Sache doch nicht, daß Amphigonie und Variation gewissermaßen Antipodenkräfte wären, von denen die erste die Konstanz der Art, die zweite die Um- bildung derselben zu besorgen hätte. Nach meiner Meinung wenigstens gibt es überhaupt keine „Tendenz“ des Protoplasmas zu variieren, wenn auch wohl ein stetes Schwanken der Charaktere, das auf der unvoll- kommenen Gleichheit der äußeren Einflüsse, vor allem der Ernährung beruht. Dies kommt denn, soweit es am Keimplasma abläuft, aller- dings auf ein stetes Auf- oder Abvariieren der erblichen Eigenschaften hinaus, und müßte zu immer größerer Ungleichheit der Individuen führen, wäre nicht Amphigonie da, und gliche die entstandenen Ver- schiedenheiten durch immer wieder erneute Vermischung der Individuen aus. (UETELET und GALTON haben gezeigt, dab die Tendenz dieser Vermischung nach der Herstellung einer Mittleren abzielt: die Eigen- schaften der Menschen, z. B. die Körpergröße, schwanken um eine Mit- lere herum, welche zugleich das Maximum der Häufigkeit zeigt, und die Häufigkeitskurve der verschiedenen vorkommenden Körpergröben er- gibt eine völlig symmetrische (restalt, so also, daß die mittlere Größe am häufigsten, die Abweichungen davon aber nach oben und unten entsprechend der Größe ihrer Abweichung seltener vorkommen, dem- nach die größten und kleinsten am seltensten sind. Also existiert wirklich eine Ausgleichung der Variationen durch Amphimixis, die Frage ist nur: Wie kommt sie zustande? Sicher- lich verhält sich die Sache nicht so, wie wenn man gleiche Mengen weiben Wein mit rotem mischt. um daraus einen sog. „Schiller“ zu machen. Das beweist schon der Umstand, daß die Mischung sehr ver- schieden ausfallen kann, auch wenn die beiden Weine, d. h. die Eltern, die gleichen waren: die Kinder eines Elternpaars sind nicht gleich. Während man aber den „Schiller“ nicht wieder auseinandergieben kann in Rot- und Weißwein, kommt dies bei der geschlechtlichen Fortpflan- zung nicht selten, und zuweilen so überwiegend vor, daß der Enkel wieder «das volle Bild des einen oder des anderen Großelters (darstellt, wie das am schärfsten bei den Pflanzenbastarden nachgewiesen wurde. Hier liegt also ein tiefgreifender Unterschied vor, der darauf be- ruht. dab das, was bei der Amphigonie gemischt wird, nicht etwas Ein- heitliches, sondern schon selbst etwas Zusammengesetztes ist, nicht eine einfache, einheitliche Entwieklungstendenz,. gebunden an einen einfachen und zerteilbaren Stoff, sondern eine Kom- bination mehrerer oder vieler Entwicklungstendenzen, gebunden an mehrere, gleichwertige, aber verschieden stoffliche Einheiten. Diese Einheiten aber sind «die Ide oder Ahnenplasmen,. und wir haben ja ge- sehen. in welcher Weise dieselben durch die Reduktionsteilung nicht nur halbiert, sondern auch neu kombiniert werden. Diese Ide nun unterscheiden sich in demselben Keimplasma zwar nur wenig: bei längst fixierten Arten sind «die meisten wohl nur ent- sprechend den individuellen Unterschieden des fertigen Organismus verschieden, völlig gleich aber sind sie nur bei zwei Iden, die durch Teilung eines Mutterids entstanden sind. Sehen wir davon einmal hier ab, und nehmen alle Ide eines Keimplasmas als verschieden an, so setzt sich das Keimplasma des Vaters A z. B. aus den Iden +1 1100) zusammen, das der Mutter 3 aus den Iden 3 1— 100. In jeder reifen Keimzelle dieser Eltern sind aber nur 50 Ide enthalten, 1:72 Allgemeine Bedeutung der Amphimixis. und wenn wir annehmen, dab die Mischung der Ide rein vom Zufall bestimmt wird, so können in den verschiedenen Keimzellen I und 2 die verschiedensten Kombinationen von Iden zu liegen kommen, z. B. Br: a BG » Ra FL OR RALF bis 99, oder A 1—10 und 20-30, und 40-50 usw., ebenso bei den Keimzellen 3. Kämen nun alle Keim- zellen zur Entwicklung, welehe von A und 2 hervorgebracht würden, oder auch nur alle Eizellen, so müßten die Tausende oder Hundert- tausende von Kindern dieses Paars alle überhaupt möglichen Mischungen ihrer Charaktere aufweisen. und zwar jede in derselben Anzahl nach den Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung. Dies geschieht nun aber bekanntlich nicht: von den Tausenden von Eizellen des Men- schen z. B., welche im Laufe des Lebens in einem weiblichen Indi- viduum zur Reife kommen, entwickeln sich selten mehr als zehn, nie mehr als dreißig und diese werden gänzlich unabhängig von ihrer Id- mischung rein durch den Zufall bestimmt. Es ist also rein Zufalls- sache, welche der im Keimplasma eines Individuums enthaltenen An- lagenkomplexe auf Nachkommen übergehen und welche nicht, und eben- so rein Zufall. welche von den möglichen Idkombinationen zur Entwiex- lung kommen; es kann also auch — so möchte man sagen — eine irgendwie regelmäßige Ausgleichung der (regensätze in den Anlagen der Eltern, oder der Unterschiede in ihren Charakteren nicht eintreten, im einen Fall gibt es eine Mittelbildung, im anderen schlägt das Kind lem Vater oder der Mutter nach, im dritten und wohl häufigsten folgt dlas Kind in einigen Charakteren dem Vater, in anderen der Mutter. Wir haben ja früher gesehen, wie sich diese Tatsache aus den Voraus- setzungen der Keimplasmatheorie erklärt. Wie kommt nun aber die Garronsche Häufigkeitskurve der Variationen zustande?” Warum sind die Mittelgrößen irgend eines Charakters die bei weitem häufigsten, und warum nimmt die Häufigkeit einer Variation mit deren Annäherung an die beiden Extreme gleichmäßig ab? Man wird darauf antworten: weil der Prozeß der Vermischung durch Amphigonie fort und fort geht durch zahlreiche (Generationen, und weil dadurch eine Eliminierung des Zufalls, die Fest- stellung des Durchschnitts zustande kommen muß. Das reicht indessen noch nicht vollständig aus zur Erklärung, denn die Erfahrung zeigt, daß es auch asymmetrische Häufigkeitskurven der Variationen gibt, und zwar bei Arten mit geschlechtlicher Fort- pflanzung. Wie DE VRIES kürzlich gezeigt hat, gibt es auch „halbe Galtonkurven“, d. h. solche Kurven, welche auf ihrer höchsten Höhe plötzlich abbrechen. Man wird daraus den Schluß ziehen müssen, daß die Häufigkeit der verschiedenen Variationen eben nicht bloß von ihrem (Grad, sondern auch von der größeren oder geringeren Leichtigkeit (Häufigkeit) abhängt, mit welcher sie aus der Konstitution der Art her- vorgehen. Diese Verhältnisse lassen sich leicht klar machen, wenn man die Darlegungen und besonders die graphische Darstellung zu Hilfe nimmt, welche Ammon von dem „Abänderungsspielraum“ gegeben hat. Denkt man sich die vorkommenden indifferenten Variationen eines be- liebigen Charakters einer Art in eine Reihe geordnet, von der kleinsten bis zur größten Variation aufsteigend, so kann man diese Linie als Ab- szissenachse betrachten und auf ihr Ordinaten auftragen, die der Häufig- keit der betreffenden Variation durch ihre verschiedene Länge Ausdruck geben. Verbindet man dann die Spitzen der ÖOrdinaten, so erhält man u Bewirkt Amphimixis Ausgleichung ? 173 die Häufigkeitskurve (Fig. 120 A). welche eben nach GALTON eine symmetrische sein soll und in den meisten Fällen auch wirklich ist. Ammon nennt nun den Raum zwischen der kleinsten und größten in- differenten Variation den „Abänderungsspielraum“, d.h. den Spiel- raum, innerhalb dessen alle Variationen gleich vorteilhaft sind für die Art. Derselbe fällt nicht mit der Variationsbreite überhaupt zusammen, denn es können auch stärkere Abweichungen unter dem Anfang und über dem oberen Ende «des Abänderungsspielraums vorkommen, die aber dann als unvorteilhaft der Schere der Personalselektion anheim- fallen. Der Abänderungsspielraum könnte auch die Schonbreite der Variation genannt werden, weil die in ihn fallenden Variationen von der ausmerzenden Tätigkeit der Auslese verschont bleiben, oder auch die Variationsbreite der Überlebenden, weil nur diejenigen durch- schnittlich überleben, deren Abweichungen nicht über diese Breite hin- ausgehen. Letzteres besagt, dab Variationen unter U (der unteren (srenze der Schonbreite) und über © (der oberen Grenze) zwar vorkommen P Ü M 0 pP U H M ur) Fig. 120. 4 Symmetrische und 2 asymmetrische Häufigkeitskurve nach AMMON. TU untere, O obere Grenze der individuellen Variation, U O also der „Abänderungs- spielraum, 47 Mitte desselben, // größte Hänfigkeit der Variationen. können, aber nicht überleben und Nachkommen hinterlassen, und daraus läßt sich dann leicht verstehen, warum bei Charakteren, deren ver- schiedene Grade mit gleicher Leichtigkeit aus der Konstitution der Art hervorgehen, durch die stete Kreuzung allmählich eine symmetrische Häufigkeitskurve sich bilden muß. Offenbar werden solche Individuen, welche gerade an der Grenze der noch zulässigen Variationen stehen, unter sonst gleichen Verhältnissen weniger Nachkommen hinterlassen, als solche, die der Mitte der Schonbreite sich nähern: denn da der be- treffende Charakter in den Kindern nach beiden Seiten hin variieren kann, so wird es an der unteren Grenze unter den Nachkommen eines Paares immer auch solche geben, die unter die Schongrenze fallen, an der oberen solche, die über die obere Schongrenze fallen. Das wird auch dann vorkommen, wenn die Paarung mit Individuen der Mitte oder des anderen Endes der Abszisse stattfand, denn es gibt immer auch Fälle von Überwiegen des einen Elters in der Vererbung. Von den Nachkommen der Grenzindividuen wird also immer ein höherer 174 Allgemeine Bedeutung der Amphimixis. Prozentsatz . der Vernichtung anheimfallen, und ihre Häufigkeit muB daher eine geringere sein. Wenn also auch im Anfang der Be- obachtungsreihe ein Zustand vorgelegen hätte, in welchem alle Ordi- naten der Schonbreite gleich hoch gewesen wären. so müßten doch sehr bald die den Grenzpunkten genäherten Ordinaten niedriger werden, und zwar im Verhältnis ihres Abstandes vom Grenzpunkt, und die Häufig- keitskurve. welche anfänglich eine gerade Linie gewesen wäre (nach unserer für natürliche Verhältnisse nicht zutreffenden Annahme), würde eine symmetrische Kurve werden. in der Mitte am höchsten, nach beiden Seiten hin gleichmäßig abfallend. Ammon hat schon entwickelt, unter welchen Voraussetzungen die Häutigkeitskurve asymmetrisch werden muß. Erstens, wenn die Frucht- barkeit gegen die obere oder gegen die untere Grenze der Schonbreite hin eine gröbere ist: zweitens, wenn (Grerminalselektion die Variation in bestimmte Richtung drängt, also nach oben, oder nach unten, und drittens, wenn „die natürliche Auslese an der oberen oder der unteren Grenze verschiedenartig eingreift. Von diesen drei Möglichkeiten sind die beiden ersten wohl als völlig zutreffend anzuerkennen, die dritte dagegen wird, wie mir scheint, nur eine zeitweise Asymmetrie der Kurve veranlassen können, solange nämlich, bis wieder ein Gleich- eewichtszustand erreicht ist; das kann freilich unter Umständen sehr lange dauern. Asymmetrische Häufigkeitskurven (Fig. 120 2) entstehen also z. B. wenn die intragerminalen Verhältnisse (die „Konstitution“ der Art) leichter, und deshalb auch häufiger die extremste Variation hervor- bringen. In diesem Falle kann sich die Schonbreite nur einseitig aus- dehnen und muß so bleiben. Wenn z. B. bei Caltha palustris, der Dotterblume, nach DE VRIES unter hundert Blumen solche mit fünf, sechs, sieben und acht Kronenblättern sich befinden und zwar in folgendem Verhältnis: Kronenblätter 3) 6 Y be) Zahl der Blüten 72 21 6 1 so gibt dies eine solche asymmetrische Häufigkeitskurve. Nehmen wir die ganze Varlationsbreite als Schonbreite, d.h. nehmen wir an, daß es für die Art gleichgültig sei, ob ihre Blumen 5, 6, 7 oder 8 Kronen- blätter haben, so kann «das UÜberwiegen der fünfblättrigen seinen Grund wohl nur darin haben, daß aus der inneren Struktur der ganzen Pflanze viel leichter 5 als 6 und mehr Blumenblätter hervorgehen. Hier liegt das Maximum der Häufigkeit an der unteren (Grrenze der Variation, es kann aber auch an der oberen liegen. So variieren nach DE VRIES die Blüten von Weigelia in bezug auf die Zahl ihrer Kronenzipfel in folgender Weise. Sechszipflige Kronen fehlten, und unter 1167 Blüten befanden sich: Zipfel der Krone 5 4 5 Zahl der Blüten 61 196 SSs. Es ist also klar, daß Amphimixis zwar ein wesentlicher Faktor bei der Formenfeststellung ist. daß sie aber keineswegs allein dieselbe bestimmt, dab nicht immer das Mittel aus den vorkommenden Varia- tionen auch die häufigste Variation ist, sondern daß die Gestalt der Häuflekeitskurve noch durch andere Faktoren bestimmt wird, nämlich durch germinale und personale Selektion und die durch sie hervorgerufene Variationsrichtung. Allgemeine Bedeutung der Amphimixis. 1.75 Man wird sich vielleicht die ausgleichende Wirkung der Amphi- sonie so vorstellen dürfen, daß bei jeder Neuanpassung, betreffe sie nur einen einzelnen Charakter oder den ganzen Körper, zuerst eine sroße Variationsbreite eintritt, die dann nach und nach durch fort- dauernde Beschneidung von seiten der Selektion abnimmt, um schließ- lich — wenn die höchste Konstanz der Art oder des Charakters er- reicht ist, nur wenig noch über den „Anpassungsspielraum“ oder die „Schonbreite* hinauszugehen. Eine der Wirkungen der Amphimixis wäre also: zunehmende Einengung der Variationsbreite oder wie wir gewöhnlich sagen: allmähliches Konstantwerden des Formenkreises: Verdichtung zu einer Art. Inwieweit das letztere notwendig oder nützlich ist, in- wieweit also auch hierin ein Zwang zur Beibehaltung der Amphimixis gesehen werden könnte, soll später in dem Kapitel über Artbildung besprochen werden. Meine Ansicht geht aber dahin, daß allein schon die Ermöglichung der Neuanpassung der Lebensformen durch Amphimixis und der mit ihr verbundenen Fortpflanzungsweise der Amphigonie einen zureichenden Grund für ihre Beibehaltung bildete, sobald sie einmal in die Lebenserscheinungen eingeführt war. XXIX. VORTRAG. Allgemeine Bedeutung der Amphimixis, Fortsetzung. Verbindung von N, mit Fortpflanzung p. 176, Ursprung derselben p. 177, ihre niedersten Formen p. 178, Amphimixis bei Coceidien p. 179, Chromosomen bei Einzelligen p. 181, Coceidium proprium p. 182, „Amöbennester“ als Vorstufe zur Amphimixis? p. 187, Plastogamie der Myxomyceten p. 1857, Folge: Verstärkung des Anpassungsvermögens? p. 155, Erhöhung der Assimilationskraft? p. 188, Nutzen der vollen Amphimixis p. 188, Beweis der stetigen Tätigkeit derselben sind die rudimen- tären Organe des Menschen p. 159, Allogamie p. 191, Das Streben, die Vermischung naher Verwandten zu verhindern p. 192, Amphimixis kein „formativer“ Reiz p. 192, Anziehung der Keimzellen p. 193, Wirkungen der Inzucht im Vergleich mit denen der Parthenogenese p. 193, Naruustus Fall schädlicher Inzucht p. 194, Befruchtungs- hindernisse bei Kreuzung von Arten p. 194, Wahrscheinlicher Grund der Schädlichkeit von Inzucht p. 195, Meine Herren! Wir haben zu verstehen gesucht, warum Amphi- mixis in die Lebensvorgänge eingeführt worden ist, und hätten uns nun zu der Frage zu wenden, wann und wie, d. h. in welcher Form sie zuerst eingeführt worden ist. Zuvor möchte ich nur noch ein paar Worte über ihre Verbindung mit der Fortpflanzung sagen, wie sie bei alien vielzelligen Organismen uns entgegentritt, und bei den höheren Typen unter ihnen so ausnahmslos, daß man bis vor nicht allzu langer Zeit Amphimixis und Fortpflanzung für ein- und dasselbe hielt, und jede Vermehrung an „Befruchtung“ gebunden glaubte. Wir sahen, daß dem nicht so ist, daß vielmehr beide Vorgänge eigener Art sind, die eher als Gegensätze, denn als gleiche Größen bezeichnet werden können, «denn Fortpflanzung ist stets Vermehrung der Indi- viduenzahl, Amphimixis aber bedeutet ursprünglich wenigstens ihre Ver- minderung auf die Hälfte. Dementsprechend fanden wir dann auch bei den Einzelligen Am- phimixis nicht verbunden mit der Fortpflanzung, sondern eingeschaltet zwischen die Teilungen, und zwar nicht etwa derart, daß jeder Ver- mehrung durch Teilung eine Amphimixis vorherginge, sondern so, daß nur von Zeit zu Zeit, nach zahlreichen, hunderten von Teilungen eine Verschmelzung zweier Tiere sich einschiebt. Es liegt auf der Hand, dab «dies so sein muß, da durch regelmäßige Einschiebung von Am- phimixis zwischen je zwei Teilungen, eine Vermehrung der Individuen- zahl überhaupt nicht erreicht würde, wenigstens nicht bei völliger Ver- schmelzung der kopulierenden Individuen. Weshalb nun aber ist bei den Vielzelligen eine so enge, und bei den höheren Typen eine so unauflösliche Verbindung zwischen Fort- ag ash 6 EL Ursprung der Amphimixis. iziri pflanzung und Amphimixis eingetreten, daß „Befruchtung“ geradezu als die „Conditio sine qua non“ der Fortpflanzung auftritt, und uns noch vor nicht langer Zeit als die „Belebung des Eies“ oder als der „zün- dende Funke‘ erscheinen konnte, der das Pulverfaß zur Explosion bringt? Der Grund hiervon ist nicht schwer zu entdecken, er liegt in dem Bau der Vielzelligen und in ihrer Differenzierung nach dem Prinzip der Arbeitsteilung, darin, dab hier nur bestimmte Zellen noch zur Fort- pflanzung, d. h. zur Hervorbringung des Ganzen fähig sind, daß also nur an diesen noch der Vorgang der Amphimixis sich abspielen konnte, falls seine Bedeutung in seiner Nachwirkung auf die folgenden Ge- nerationen lage. Wohl sehen wir ja noch bei vielen der niedersten Vielzelligen, z. B. den Volvox-Arten, dab außer den Geschlechtszellen auch noch andere, den Eizellen ganz ähnliche Fortpflanzungszellen vor- kommen. deren Entwicklung zu einer neuen Zellenkolonie ohne Am- phimixis erfolgt, allein je höher wir in der Tier- und auch der Pflanzen- reihe emporsteigen., um so seltener werden die „ungeschlechtlichen* Keimzellen, die „Sporen“ und bei den höchsten Tiertypen fehlen sie ganz, und die Fortpflanzung erfolgt nur noch durch „Geschlechtszellen”. Ich möchte die Ursache dieser auffallenden Erscheinung haupt- sächlich darin suchen, daß. wenn überhaupt Amphimixis beibehalten werden mußte, dies um so schwieriger bewerkstelligt werden konnte. je höher und komplizierter die Organismen sich differenzierten, und je verwickeltere Anpassungen «deshalb notwendig wurden, um (die Ver- einigung (der beiden Keimzellen überhaupt noch zu ermöglichen. Da ist zuerst die Trennung in zweierlei (reschlechtszellen, deren weitgehende Differenzierungen und genaueste Anpassungen an minutiöseste Verhält- nisse wir früher besprachen, dann folgen die unzähligen Einrichtungen, die das Sich-Begegnen der (reschlechtszellen herbeizuführen haben, die Begattungsvorrichtungen und schließlich noch die Instinkte, welche die (seschlechter zusammenzwingen, die Lockmittel, welche dabei als Schmuck- farben und -Formen, reizende Düfte und Töne zur Anwendung ge- langen, kurz der ganze so verschiedenartige und so zusammengesetzte Apparat, der immer raffinierter ausgearbeitet erscheint, je höher der Organismus selbst auf der Stufenleiter des Lebens steht. Wenn man sich vergegenwärtigt, wie schließlich die geschlechtlichen Ditterenzierungen so weit gehen, daß sie den ganzen Organismus geradezu beherrschen, in seiner äußeren Erscheinung wie in seinem inneren Wesen, seinen Empfindungen, Neigungen, Instinkten, seinem Wollen und Können, somit auch in seinem Bau bis in die feinsten Nervenelemente hinein, so begreift man, dab eine Fortpflanzungsweise, welche einen solch zu- sammengesetzten Apparat erfordert, auf welche gewissermaßen der ganze Organismus von der Geburt bis zum Tode zugeschnitten worden ist, die einzige bleiben mußte, daß neben ihr zur Beibehaltung wesent- lich anderer Fortpflanzungsweisen mit wesentlich anderen Anpassungen kein Platz mehr war, oder bildlich ausgedrückt, daß die Kraft der An- passung, welche den Organismen innewohnt. sich in der Herstellung dieses wunderbaren Apparates erschöpfte, jede andere neben ihr aus- schließend. So hoch entwickelt finden wir den Fortpflanzungsapparat freilich nur bei den Wirbeltieren, aber auch schon bei Mollusken und Glieder- tieren ist die „geschlechtliche*, d. h. die mit Amphimixis verbundene Fortpflanzung die herrschende. Allerdings kommt bei den letzteren Weismann, Deszendenztheorie. II. 2. Aufl 12 178 Allgemeine Bedeutung der Amphimixis. Parthenogenese vor, indem geschlechtlich differenzierte weibliche Keim- zellen durch einige kleine Abänderungen bei der Eireifung zur Ent- wicklung ohne vorhergehende Amphimixis befähigt werden, aber das geschieht doch nur in ganz besonderen Fällen als Anpassung an ganz besondere Lebensumstände, und kann nur als eine zeitweise Auf- hebung der Verbindung von Amphimixis und Fortpflanzung be- trachtet werden: es sind zum Teil dieselben. auf Amphimixis ein- gerichteten Eier, welche sich parthenogenetisch entwickeln, wie es die- selben, geschlechtlich differenzierten Tiere sind, echte Weibchen, welche die Eier hervorbringen, oft sogar auch dann zum Teil noch, wenn die Differenzierung zugunsten der Parthenogenese noch weiter vorgeschritten ist, und die Ei ier in befruchtungsbedürftige und parthenogenetische ge- sondert hat (Winter- und Sommereier der Daphniden). Parthenogenese ist nicht ungeschlechtliche sondern ein geschlechtliche Fortpflanzung, eine Vermehrungsweise, die uns lehrt, daß auch bei den hoch diffe- renzierten Tieren die scheinbar unlösliche Verbindung von Forpflanzung und Amphimixis wieder gelöst werden kann, wenn es erforderlich ist. Wenn aber überhaupt Amphimixis bei den höheren Tierformen im Allgemeinen beibehalten werden mußte — und wir sehen, daß dem so war — so konnte dies nur mittels einzelliger Keime geschehen, denn Amphimixis ist in erster Linie eine Kernverschmelzung, und darin liegt der Grund, warum wir die sog. „vegetative* Vermehrung bei den Tieren wenigstens immer mehr zurücktreten und schon von den Glieder- tieren an ganz verschwinden sehen. Kehren wir nun zu der anfangs aufgeworfenen Frage zurück, wann und in welcher Form wohl Amphimixis zuerst in die Organismen- welt eingeführt worden ist. Die beste Beantwortung derselben wäre die durch Beobachtung: wir müßten uns an die niedersten Organismen wenden, welche sie noch besitzen und zusehen, ob sie dort etwa in einfacherer Form auftritt, so dab wir daraus Schlüsse auf ihre Her- kunft und ursprüngliche Bedeutung ziehen können, denn es wäre ja a priori wohl möglich, dab diese eine andere gewesen, als sie es bei den relativ höheren Organismen heute ist, daß also ein Funktionswechsel allmählich eingetreten ist. Sicherlich kann nun der ganze verwickelte Komplex von Anpas- sungen, der die Kopulation zweier (eschlechtszellen bei Tieren und Pflanzen heute herbeiführt, kann die Differenzierung von zweierlei .„ge- schlechtlich“ antagonistischen Zellen mit allen ihren Spezialanpassungen, kann die Reduktion der Chromosomen, die Ausbildung des ganzen karyokinetischen Apparates, samt den Centrosphären u. s. w. nicht mit einem Schlag durch zufällige Variation entstanden sein, vielmehr nur allmählich, Schritt für Schritt, wie alle anderen Anpassungen und auf (Grund von „zahllosen äußeren und inneren Bewirkungen“. Aber warum sollte diese Einrichtung, die heute so verwickelt ist, nicht einen ein- fachen Anfang gehabt haben? Warum könnte nicht dieser Anfang die einfache Vereinigung der Protoplasmakörper zweier kernloser Moneren gewesen sein, zu denen später nach der Bildung von Kernsubstanzen dann «die Vereinigung dieser gefolgt wäre, bis schließlich nach der Ent- stehung eines ausgebildeten Kerns mit bestimmter Chromosomenzahl, mit Teilungsapparat, Membran u. s. w. die volle Amphimixis folgte, wie wir sie heute kennen? Und wie viele Zwischenstufen lassen sich da noch einschalten zur Ausgleichung der großen Sprünge zwischen diesen drei Hauptstufen. Anfänge der Amphimixis. 179 Etwas anderes ist es, wieviel sich von diesen denkbaren Vor- stufen der heutigen Amphimixis tatsächlich noch nachweisen läßt. Sehen wir uns unter den bis heute vorliegenden Beobachtungen um, so begegnen wir zunächst der gewiß auffälligen Tatsache, daß davon nur wenig bis jetzt bekannt geworden, daß vielmehr der ganze Vor- gang sich schon bei recht niederen Lebensformen in ähnlicher Weise abspielt, wie bei jenen höheren. Amphimixis ist auch bei Einzelligen in weiter Verbreitung jetzt nachgewiesen. aber nicht in einer wesent- lieh einfacheren Gestalt als bei Vielzelligen. Wir sahen ja, daß bei Wimperinfusorien sogar die Reduktionsteilungen schon bestehen, zwei an der Zahl, und daß von den vier Kernen, welche aus der zweifachen Teilung des ursprünglichen Kernes hervorgehen, drei sich wieder auf- lösen, und nur der vierte sich durch abermalige Teilung in einen männ- lichen und weiblichen „Vorkern“ teilt, welche dann die Amphimixis mit den entsprechenden Vorkernen des anderen Tieres vollziehen (vergl. Fig. 84, 4—7, / p. 5351). Dieses, wie die Existenz eines besonderen Teilungsapparates und von Chromosomen lassen den ganzen Vorgang kaum minder verwickelt erscheinen, als bei der Befruchtung der Viel- zelligen. Ganz ähnlich aber steht es auch bei weit niederen Ein- zelligen, z. B. bei Noctiluca (Fig. 83, / p. 348). Allerdings kennt man bei diesem und bei anderen Rhizopoden eine Reduktionsteilung noch nicht, aber ihr Vorhandensein bei niederen Algen (Basidiobolus). und vor allem bei jenen niederen Einzelligen, welche die Malaria erzeugen und ihren Verwandten, wie sie als „Coceidien“ in den Blut- und Darm- zellen von Tieren leben, lassen erwarten, daß man sie auch dort noch allgemein nachweisen wird. Bei den Coceidien, («diesen niederen, aber doch schon mit Kern versehenen, also einzelligen Wesen ist sogar der zur Amphimixis ge- hörige Apparat von Anpassungen größer und komplizierter, als bei den eben erwähnten Rhizopoden. Denn während bei jenen die beiden ko- pulierenden Zellen äußerlich völlig gleich sind, unterscheidet sich bei diesen die männliche von der weiblichen Zelle, ja die Unterschiede sind so groß, wie sie sonst meist nur bei Vielzelligen vorkommen. Wir verdanken vor allen SCHUBERG, SCHAUDINN und SIEDLECKI unsere heutige Kenntnis dieser Vorgänge, und wegen ihrer theoretischen Tragweite möchte ich Sie hier mit dem wesentlichsten derselben be- kannt machen. Eines dieser Coeceidien lebt in den Epithelzellen des Darmes eines kleinen Tausendfüßlers Lithobius. In Fig. 121 sieht man den Para- siten als sog. „Sporozoiten“, d. h. als kleine, sichelförmige Zelle, die zuerst sich frei in der Darmhöhle des Wirtes bewegt (1), sich dann aber bald in eine Epithelzelle einbohrt (2). Dort wächst sie heran bis zur Kugelform (3), um dann nach Aufzehrung der Wirtszelle, durch einen eigentümlichen Teilungsvorgang (Schizogonie) in eine größere Anzahl von kleinen, wieder sichelförmig gestalteten, kernhaltigen Teil- stücken, Schizonten, zu zerfallen, deren jede nun wieder wie bei (2) in eine Epithelzelle eindringen und denselben Weg der Entwicklung nochmals verfolgen kann, so daß auf diese Weise eine große Zahl von Zellen im Darm desselben Wirtes von den Parasiten befallen wird. Aber es gibt noch eine andere Art der Vermehrung, und diese ist mit Amphimixis verbunden und führt zugleich zur Bildung von Dauer- keimen, welche eingeschlossen in einer Kapsel oder Oyste mit den Fäces des Wirtes nach außen gelangen und nun die Infektion anderer 12* 180 Amphimixis bei niederen Einzelligen. Tausendfüßler vermitteln. Die Schizonten, welche (diesen Weg ein- schlagen, entwickeln sich zu sog. Makrogameten und Mikrogameten, welch erstere die weiblichen, letztere die männlichen Keimzellen sind. Dann folgt das Eindringen eines männlichen durch zwei Geißeln leb- haft beweglichen Gameten in den weiblichen (5). Amphimixis vollzieht sich, und nun umgibt sich das Verschmelzungsprodukt der beiden Ge- schlechtszellen (9) mit einer dünneren Cyste, innerhalb deren es sich durch zweimalige Teilung zu vier Zellen vermehrt (10). Diese sind die „Dauersporen“, können im entleerten Kot des Tausendfüßlers eintrocknen (11), und wenn sie von einem anderen Tier der Art ge- fressen werden, auch dieses infizieren, indem die in ihrem Innern durch abermalige Zellteilung entstandenen Sporozoiten (11) auskriechen, und nun in der Form (1) den Kreislauf des Lebens von neuem beginnen. Fig.121. Lebenskreis von Coeeidium Litho- bii, einem Zellpara- siten des Tausendfußes, Lithobius, nach SCHAU- DINN. 7 ein Sporozoit, 2 derselbe in eine Darm- epithelzelle eindringend, 3 derselbe zur Teilungs- fähigkeit herangewach- sen (sogen. „Schizont“), 4 derselbe in Teilung begriffen und in 5 in vieleTeilstückezerfallen, die sich von dem im Zentrum übrigbleiben- den „Restkörper‘“ los- lösen, und entweder wie- der wie z in Epithel- zellen einwandern und dieselbe Entwicklung wiederholen, oder aber zur geschlechtlichenFort- pflanzung übergehen, indem sie sich nach Aus- stossung eines Teils des Kerns (Reduktion) in den Zustand 5 und 5a verwandeln, den „Makrogamet“ (die Eizelle) oder in die Mutterzelle von Mikrogameten (Samenzellen) 7 und 7a. & stellt das Eindringen einer Samenzelle in die Eizelle dar (Amphimixis), 9 die befruchtete Eizelle, die sogen. Oocyste oder Dauerspore, aus welcher durch mehrfache Teilung (10 u. ır) wieder Sporozoiten wie z hervorgehen und der Kreislauf von Neuem beginnt. Wir haben also hier einen Wechsel vieler Generationen, die alle einzellig sind. und von denen (die eine Reihe (von 1—5) eine Ver- mehrung durch Teilung zeigt. die andere aber (6—11) außer der Ver- mehrung durch Teilung und als Bedingung für dieselbe den Vorgang der Amphimixis einschließt. Amphimixis muß eintreten, wenn die Bil- dung von Dauersporen und von neuen Sporozoiten erfolgen soll. Wir haben also einen regelmäßigen Wechsel von „ungeschlechtlicher“ und „geschlechtlicher“ Fortpflanzung, und die Letztere hat die größte Ahn- lichkeit mit derjenigen vielzelliger Wesen. Der Makrogamet entspricht dem Ei, die Mikrogameten den Spermatozoen, denen sie sogar in ihrer größeren Anzahl und ihrem Bau hier entsprechen. Aber die Ähnlichkeit geht noch weiter. Die Eizelle ist auch viel erößer als die Samenzelle und macht eine Art von Reduktion ihrer Amphimixis bei niederen Einzelligen. 1S1 Kernsubstanz durch: kurz vor der Befruchtung tritt der Eikern (das „Keimbläschen“) an «die Oberfläche — ganz ähnlich wie bei tierischen Eiern — platzt und entleert einen Teil seiner Substanz nach außen in Form eines Klumpens (Fig. 6 u. 7). Bei der männlichen Zelle ist die Reduktion der Kernsubstanz nicht überall nachgewiesen, aber bei einer der Lithobius-Coceidien, Adelea ovata, legt sich der relativ große Mikro- gamet (die Samenzelle Fig. 122, 477) dem einen Pol des Makroga- meten (der Eizelle) dicht an und teilt sich dann zweimal hintereinander, so daß vier kleine Zellen entstehen (Fig. 122, 1 —- €). Von diesen dringt nur eine in die Eizelle ein (D, 3%) und verschmilzt mit ihr, die drei anderen gehen zugrunde (2 Jr. Welch‘ überraschende Ähnlichkeit mit der zweifachen Teilung der Samenmutterzellen bei den vielzelligen Tieren, durch welche die Zahl der Chromosomen halbiert wird! Bei der Kopulation selbst erkennt man dann deutlich die faden- förmigen Chromosomen des weiblichen Kerns, während die des männ- lichen zusammengeknäult bleiben (Fig. 118. 2). Daß überhaupt schon bei niederen Einzelligen die Kernsubstanz in Chromosomen (Ide) gesondert sein kann, hat wohl zuerst R. HERT- wıG bei Aktinosphaerium, einem Heliozoon oder Sonnentierchen des Fig. 122. Kopulation eines Coceidiums, der Adelea ovata nach SCHAUDINN und SIEDLECKI. 4 Der Mikrogamet (Spermazelle) (./7) hat sich dem Makrogameten (47a) dicht aufgelagert. 3 Reduktionsteilung des Kerns im Makrogameten bereits vollzogen, R# Richtungskörper — im Mikrogameten ist die erste Teilung des Kerns eingeleitet. C Vier Kerne im Mikrogameten, von welchen drei zu Grunde gehen, bei 2: Mi, während der vierte als ZX männlicher Kern sich dem Kern der Eizelle angelagert hat, in welch letzterem deutliche Chromosomen. Süßwassers nachgewiesen, dann LAUTERBORN bei den pflanzlichen Dia- tomeen, BLOCHMANN bei einem einheimischen Wurzelfüßer, Euglypha und Ismuıkawa bei Noctiluca. In «dem letzten Jahrzehnt sind weitere Fälle hinzugekommen, so daß wir heute sagen dürfen, daß ein bedeu- tender Teil der Einzelligen von den Wimperinfusorien und niederen Algen an bis herab zu den Coceidien und Diatomeen die Zusammen- setzung des Keimplasmas aus Iden schon aufweist. Diese Gebilde ver- halten sich auch ebenso wie bei höheren Organismen. wie denn BoRr- GERT in vorigem Jahr (1900) ihre Vermehrung durch spontane Spaltung bei einem Radiolar nachweisen konnte. Von unserem Standpunkt aus kann das nicht überraschen, inso- fern alle diese Organismen zwar nur Einzelzellen sind, aber dennoch bereits eine hohe Kompliziertheit des Baues besitzen; man denke nur an die bis ins Feinste differenzierte Struktur so zahlreicher Wimper- infusorien, etwa des eben erwähnten Stentor, oder des Glockentierchens mit ihrem langen und eigentümlich bewimperten Schlund, ihrer ein- ziehbaren Wimperscheibe, ihrer Muskelfaserschicht, ihrem spiralig zu- sammenziehbaren Stiel mit dem bandförmigen, blitzschnell wirkenden 89 Allreemeine Bedeutung der Amphimixis. _ T {=} Muskelband: oder an die so regelmäßig, geometrisch gebauten Kiesel- skelette der Radiolarien mit ihren radiär zusammengefügten schwert- oder stabartigen Nadeln und kompliziert ineinandergeschachtelten Gitter- schalen! Im letzteren Falle wird die Kompliziertheit der lebenden Sub- stanz erst durch ihr Produkt, die Schale. sichtbar, denn das Protoplasma selbst läßt nichts davon erkennen, und ähnlich ist es bei dem eben in seinem Lebensgang verfolgten Coceidium, das in jedem seiner Stadien sehr einfach organisiert erscheint, das aber durch die Aufeinander- folge zahlreicher, differenter Gestaltungen beweist, daß seine Keimsubstanz aus zahlreichen Determinanten zusammengesetzt sein muß. Wir dürfen aber nicht zweifeln, daß bei allen Einzelligen die Komplikation des Protoplasmas in bezug auf seinen feinsten, unsicht- baren Bau kaum minder verwickelt sein wird, sonst könnten so feine Lebensvorgänge, wie wir sie an ihnen beobachten, überhaupt nicht ıhren Ablauf nehmen. Hier stimme ich im Prinzip wenigstens mit den schönen Ausführungen überein, zu welchen LuDwIG ZEHNDER in seinem früher schon erwähnten Buch“) kürzlich auf ganz anderem Wege ge- langt ist, nämlich auf dem rein synthetischen. Er wagte den kühnen Versuch, die Organismenwelt von unten her aufzubauen, ausgehend von den Atomen und Molekeln, und von da aufsteigend zu niedersten Lebenseinheiten, unseren Biophoren, denen er eine röhrenförmige Ge- stalt gibt. und die er deshalb Fistellen nennt. Er läßt die Zelle aus einer großen Menge, aus Millionen verschiedenartiger Fistellen zusammen- gesetzt sein, von denen die eine Art dem Quellungsvermögen, die andere der Endosmose, die dritte der Kontraktion. die vierte der Reizleitung vorsteht u. s. w., so dab eine hohe Komplikation der Zelle, ihr Aufbau aus zahlreichen Arten von Biophoren, die zu einer bestimmten Archi- tektur zusammengeordnet sind, resultiert. Dies entspricht vollkommen den Vorstellungen, wie ich sie schon lange vertrete, und wie sie allein die Existenz eines Kernes verständlich erscheinen lassen, wenn der- selbe — wie ich annehme — in seinem wesentlichsten Teil eine Nieder- lage von Determinanten, d. h. von Vererbungssubstanz ist. Das aber eine so hohe Kompliziertheit des Baues kein bloßes Phantasiegebilde ist, sehen wir gelegentlich auch an den einfachsten Einzelligen. Wenn z. B. bei den Makrogameten des Coceidium proprium vom Triton vor der Befruchtung durch den Mikrogameten (Fig. 123, 47, d. h. die Sper- mazelle) der Makrogamet (47a, die Eizelle) sich mit einer festen Kapsel umgibt. an welcher am einen Pol eine kleine Öffnung (Micropyle) bleibt für den Eintritt der männlichen Zelle, so beweist das, wie mir scheint, daß mindestens doch diese eine Stelle der Kapsel erblich determiniert ist, so gut und so bestimmt, als der Strahl des Kieselskelettes eines Radiolars.. Wenn aber ein beliebiger Punkt der Kapsel einzeln und für sich abändern konnte, wie zahlreiche andere Punkte des Tieres werden nicht ebenfalls einzeln erb- lich bestimmbar sein? Bei solcher Kompliziertheit des unsichtbaren Baues wird es uns weniger überraschen, wenn wir bei allen Einzelligen die Einriehtung der Amphimixis antreffen, und bei vielen von ihnen bereits auf einer hohen Stufe der Vollendung. Diese scheinbar so niederen und einfachen Organismen sind eben offen- bar noch lange nicht die niedersten und einfachsten, wie wir später noch auf einem anderen Weg finden werden. Daß aber auch bei *) ZEHNDER „Die Entstehung des Lebens“, Freiburg i. Br. 1599. Amphimixis bei niederen Einzelligen. 153 ihnen schon Amphimixis als ein periodisch wiederkehrender Vorgang sich findet, wird darauf beruhen, dab auch hier schon die Erhaltung des bestangepaßten Baues, sowie die Anpassung an neue Bedingungen, die Zusammenlegung der besten Varianten vieler verschiedener Teile der Zelle erfordert. und da die Vererbungssubstanz in den Iden des Kerns liegt. so wird die Vereinigung der Ide zweier Einzelligen die harmonische vielseitige Anpassung wesentlich erleichtern; sie wird ein Vorteil sein im Kampf ums Dasein, und wir können somit erwarten. bei allen Einzelligen die Kernsubstanz schon aus Iden zusammengesetzt zu finden. Damit scheinen freilich die bisherigen Beobachtungen insofern nicht zu stimmen, als bei niederen Flagellaten und Algenzellen die Kern- substanz zwar wohl aus Chromatin besteht, aber — soweit erkennbar — aus einer ungeordneten kompakten Masse desselben. Wenn aber auch bei vielen derselben die tiefer eindringende Forschung doch noch Chro- mosomen nachweisen sollte, einmal muß der Kern doch entstanden sein, und wir werden annehmen müssen, daß dies durch engeren Zu- sammenschluß von vorher noch loseren Haufen von Determinanten ge- schah, die sich dann allmählich ordneten, untereinander verbanden durch Fig. 123. Kopu- lation von Coceidium proprium, einem Zell- parasiten des Wasser- molchs (Triton) nach SIEDLECKY. 4 Ein Mikrogamet 477 schlüpft gerade durch eine besondere Mi- kropyle der Schale des Makrogameten Afaı in die Eizelle. 3 Männliche und weibliche Kernbe- standteile vereinigen sich I chr, I chr. (die von uns angenommenen bindenden Kräfte (Affinitäten), welche zwischen ihnen walten, und so das erste in sich geschlossene Chromosom oder Id bildeten. Dann kam die Vervielfachung dieses ersten Ids durch den Teilungsprozeß, und dann erst haben wir den Zustand, von welchem die heutige Amphimixis ausgehen konnte: d. h. eine größere Zahl identischer Ide, von welchen die Hälfte gegen identische Ide eines anderen Individuums ausgetauscht werden konnte bei der Konjugation. Wenn wir nun fragen: bei welchen Organismen entstand Amphimixis und aus welchen Motiven. so scheint nach dem, was wir von den Coceidien vorhin kennen gelernt haben, wenige Aussicht zu sein, «darauf eine bestimmte Antwort zu gewinnen, «denn wenn bei so niederen Wesen Amphimixis schon stattfindet, und zwar in ähnlicher Weise wie bei den höchsten Einzelligen, jedenfalls nieht viel einfacher, als bei den höchsten Vielzelligen, so liegt der Schluß nahe, es möchten die Vorstufen derselben heute nur spärlich oder gar nieht mehr zu be- obachten sein, entweder, weil sie ausgestorben, oder weil sie nur bei transmikroskopischen Organismen sich abspielen. 184 Tiefste Wurzel der Amphimixis. Dennoch scheint es noch solche Vorstufen zu geben, und zwar senau solche, wie wir sie hätten vermuten müssen, wenn wir sie theo- retisch hätten konstruieren sollen. Die erste derartige Erscheinung ist das bloße Aneinanderlegen zweier oder auch mehrerer einzelliger Wesen, ohne dab Ver- schmelzung derselben eintritt, wie dies zuerst wohl von (HRUBER bei Amöben beobachtet, aber erst später von RHUMBLER in theoreti- schem Sinne verwertet worden ist. Bis zu fünfzig Amöben lagerten sich zu einem solchen „Nest“ zusammen und verharrten so, dicht an- einander gedrängt, vierzehn Tage lang. Obgleich hier keine Verschmel- zung eintrat, auch keinerlei sichtbare Folgen «der Zusammenlagerung hervortraten, so läßt sich doch daraus schließen, «daß die Tiere eine anziehende Wirkung aufeinander ausübten, und es darf vermutet werden, dab irgend ein Nutzen mit diesem stillen Aneinandergedrängtsein ver- bunden sein möchte. Der Uytotropismus. die gegenseitige Anziehung eleicher Zellen, wie ihn WILHELM Rouvx zuerst bei den Furchungs- zellen des Froscheies beobachtete, scheint auch bei Einzelligen vorzu- kommen, und mag uns begreiflich machen, wie es dann zu einer Ver- schmelzung von Zellkörpern kommen konnte. Eine solehe ist schon vor nahezu vierzig Jahren von DE BARY bei den Myxomyceten nachgewiesen, neuerdings aber bei verschiedenen Einzelligen, besonders bei Wurzelfüßern und bei Heliozoen beobachtet worden. Letztere legen sich oft zu zweien. dreien oder selbst mehreren dicht aneinander und verschmelzen dann mit ihrem weichen Zellkörper, ohne aber daß die Kerne miteinander verschmelzen. Mit HarroG be- zeichnen wir einen solchen Vorgang als Plastogamie, können aber (diesem Forscher nicht beistimmen. wenn er die Bedeutung des Vor- eangs darin sieht, dab die Kerne dadurch mit neuer Zellsubstanz in Berührung kommen, nachdem sie vorher allzulange immer von demselben Cytoplasma umgeben gewesen waren. Handelte es sich bei der Amphimixis darum, dann müßte dieser Vorgang in einem Aus- tausch von Kernen sich äußern, den wir aber nirgends, auch nicht bei den niedersten Formen von Einzelligen finden, vielmehr überall eine Verbindung der Kernsubstanzen zweier Individuen. — Doch dies nur beiläufig! Weitere Fälle von Plastogamie sind beobachtet worden bei manchen der kalkschaligen Wurzelfüßer. Meist zieht eine solche Verschmelzung keine weiteren sichtbaren Folgen nach sich, bei einigen Foraminiferen aber bilden sich im Innern der verschmolzenen Zellkörper durch Teilung der Kerne und des Zelleibes eine Gruppe Junger Tiere; also der Verschmelzung folgt Vermehrung, ganz wie bei vollständiger Amphimixis, und wir werden einen kausalen Zu- sammenhang zwischen beiden Erscheinungen annehmen dürfen. Auch bei den Schleimpilzen folgt der Verschmelzung der einzelnen amöben- artigen Zellen zu einem "Vielkernigen Plasmodium später die Bildung zahlreicher eingekapselter Sporen, freilich erst, nachdem dieses anfänglich mikroskopisch kleine Plasmodium zu makroskopisch sichtbaren, manch- mal (Aethalium) bis fußgroßen netzförmigen Schleimüberzügen heran- gewachsen ist. In diesem Falle wird von dem langsam auf seiner Unterlage, faulenden Stoffen, hinkriechenden Pilz Nahrung aufgenommen, und es läßt sich nicht sagen, ob die Verschmelzung der Amöben noch einen weiteren Vorteil bietet. als den, das Kriechen über große unebene Flächen, und dadurch die spätere Bildung großer Fruchtkörper zu er- möglichen. In dem Falle der Foraminiferen aber hat die Plastogamie Tiefste Wurzel der Amphimixis. 1S5 offenbar eine andere Wirkung, eine unbekannte geheimnisvolle Wirkung. die man sich bis jetzt vergeblich bemüht hat, genauer zu präzisieren. Worte wie „Wachstumsreiz“. „Anregung des Stoffwechsels”, oder gar „Verjüngung“ geben keinen Einblick in das, was hier geschieht, aber daß etwas geschieht. daß durch die Verschmelzung zweier oder mehrerer Einzelligen ein Reiz ausgeübt wird, der sich später durch beschleunigtes Wachsen kundgibt, darf und muß deshalb angenommen werden, weil dieser Vorgang bei so zahlreichen Einzelligen eine dauernde Einrichtung geworden ist: nur das Nützliche aber hat Bestand, es muß also ein Nutzen für die verschmelzenden Individuen dabei herauskommen, und es fragt sich nur, ob wir denselben klar herausfinden können. Man hat vor einigen Jahrzehnten noch geglaubt, es fände hier ein Verzehren des einen Individuums durch das andere statt, davon kann indessen heute nicht mehr die Rede sein. Dächte noch ‚Jemand im Ernst an eine solche Deutung. so würde ihn die Beobachtung SCHAU- DINNsS von seinem Irrtum überzeugen, der bei Trichosphaerium einem marinen, vielkernigen Wurzelfüßer beides beobachtete: Verschmelzung zweier oder mehrerer Tiere, also Plastogamie, und Verschlingen und Verdauen eines kleineren Artgenossen durch einen größeren, zwei Vor- sänge, die durchaus verschieden sind, bei deren ersterem die Zellkörper beider Tiere vollkommen intakt bleiben, während ein gefressenes Tier von einer Nahrungsvakuole umschlossen und dort aufgelöst und verdaut wird. Im ersteren Fall bleiben offenbar die Lebensteilchen (Biophoren) beider Tiere völlig intakt und arbeitsfähig, im zweiten werden die des überwältigten Tieres zugleich gelöst und chemisch zersetzt: als Bio- phoren hören sie also auf zu existieren. Ob das eine oder das andere eintritt, möchte wohl davon abhängen, ob die Größe der beiden Tiere sehr verschieden ist, so daß das kleinere vom größeren ganz umschlossen werden kann. Gegen die Deutung der Amphimixis als eines Verjüngungs- vorgangs im Sinne einer notwendigen Lebenserneuerung habe ich mich in einem früheren Vortrag schon ausgesprochen und will darauf nicht wieder ausführlich zurückkommen: daß der Stoffwechsel fortdauern kann durch ungezählte Generationen hindurch ohne künstlich, d. h. auf andere Weise als durch Nahrungszufuhr geschürt zu werden, dab be- weisen alle diejenigen niederen Organismen, welche keine Plastogamie, noch volle Amphimixis aufzeigen, das beweisen die Fälle von rein par- thenogenetischer Fortpflanzung u.s. w. Wo kann also der Nutzen liegen, den die konjugierenden Einzelligen aus ihrer Verschmelzung ziehen ? Offenbar nicht darin, daß sie sich das gegenseitig mitteilen. was jedes vorher auch schon besaß, sondern nur in der Mit- teilung eines Besonderen, Individuellen, was jedem eigen- tümlieh war und nun beiden gemeinsam wird. HABERLANDT glaubt in der Auxosporenbildung der Diatomeen einen Fingerzeig auf die Vorgänge zu erhlicken, welche die tiefste Wurzel der Amphimixis bilden. Bekanntlich bedingt die harte und un- nachgiebige Kieselschale dieser niederen Algen bei jeder Teilung eine Verkleinerung des Bion, so daß die Diatomeen im Laufe ihrer Ver- mehrung immer kleiner werden und, wenn das unbegrenzt so fort- einge, dem Untergang zueilen würden. Die Korrektion tritt hier bei der periodisch erfolgenden Konjugation zweier schon erheblich an Größe herabgesunkenen Wesen ein, worauf dann ein Wachsen der beiden mit- Te Allgemeine Bedeutung der Amphimixis. ‚Sb ] einander verschmolzenen Individuen bis zu der ursprünglichen Art- eröbe folgt. Hier liegt es nun allerdings auf der Hand, dab die Verschmelzung zweier allzu kleiner Wesen der angestrebten Normalgröße förderlich sein muß, aber das ist doch nur ein vereinzelter Spezialfall. der gewiß nicht gestattet, die Konjugation als ein Mittel zu betrachten, durch welches die herabgesunkene Körpergröbe wieder auf das normale Maß gebracht wird. Die bei weitem zahlreichsten Einzelligen verkleinern sich nieht dauernd durch den Teilungsprozeß, ja selbst bei den Dia- tomeen genügen die Massen der beiden miteinander verschmelzenden Individuen nicht. um die Normalgröße der Art wiederherzustellen, es muß vielmehr auch hier ein nachträgliches Wachsen stattfinden, damit (dieselbe erreicht werde. Man darf deshalb wohl zweifeln, ob der Masse- zuwachs hier überhaupt das ausschlaggebende Moment der Konjugation ist, und nicht vielmehr andere, für uns noch nicht klar erkennbare Wirkungen desselben. Es müssen auch hier Verschiedenheiten zwischen den zwei konjugierenden Individuen obwalten, wie wir soeben schon fanden, denn, falls sie sich nur Gleiches mitteilten, so könnte dlaraus nur eine Vermehrung ihrer Masse, nicht aber ihrer Qualitäten hervorgehen. Obwohl wir nun derartige Verschiedenheiten nicht nachweisen können bei den niederen Organismen, um welche es sich jetzt handelt, so dürfen wir sie doch nach Analogie der höheren Organismen als vor- handen annehmen. Wir wissen, besonders durch G. JÄGER, daß beim Menschen jedes Individuum seine spezifische Ausdünstung, seinen be- sonderen Duft hat, dab also in den Sekreten seiner Drüsen unfaßbar geringe Unterschiede in der chemischen Zusammensetzung obwalten, (die darauf schließen lassen, dab auch die lebendige Substanz der sezer- nierenden Zellen selbst solche Unterschiede aufweisen wird, ja daß wohl alle Zellenarten eines Individuums nicht den entsprechenden eines zweiten Individuums absolut genau gleichen, sondern sich von ihnen dureh gewisse minutiöse, aber konstante chemische Abweichungen unter- scheiden. Die Annahme, daß derartige Unterschiede auch bei Einzel- ligen, überhaupt bei allen niederen Organismen vorhanden sind, schwebt also nicht in der Luft, sie ist sogar wahrscheinlich. Inwiefern aber die Vereinigung dieser individuellen Verschieden- heiten chemischer und zugleich lebendiger Natur imstande ist, den Stoff- wechsel zu beleben, zu kräftigen, eine „physiologische Regeneration“ herbeizuführen, oder wie man sonst sich ausdrücken will, verstehen wir noch nicht. Man hat gesagt. es fände bei der Plastogamie ein Aus- tausch von „Stoffen“ statt: jedes gäbe dem anderen die Stoffe, die es selbst besitzt und die dem anderen mangeln, und das bewirke er- höhte Lebensenergie. Schwerlich wird es sich hier aber bloß um chemische Stoffe handeln, obwohl diese natürlich als materielle Grund- lage bei allen Lebensvorgängen unentbehrlich sind, mir scheinen viel- mehr die Lebensteilechen (Biophoren) selbst in ihrer spezifischen Eigenart dabei die Hauptrolle spielen zu müssen. Aber damit ist noch immer recht wenig gesagt, ein Verständnis dieser Vorgänge besitzen wir eben nicht, und wenn wir nicht durch die Tatsache der Plasto- gamie auf den Schluß hingestoßen würden, daß diese Verschmelzung ihren Nutzen haben müsse, so würde wahrlich niemand von uns sie als nützlich oder gar notwendig postuliert haben. Man hat freilich öfters gemeint, die Vermehrung durch Teilung, wenn sie lange fortgehe, (| - Tiefste Wurzel der Amphimixis. 157 müsse „Erschöpfung“ mit sich bringen, und diese werde dann durch Amphimixis beseitigt, aber wer wüßte zu sagen, warum denn diese „Erschöpfung“ nicht und nicht viel besser durch Zufuhr neuen Brenn- materials, d.h. von Nahrung zu stärkerer Anfachung der Lebenspro- zesse geheilt werden könnte, als dadurch, daß zwei bereits „erschöpfte“ Zellen sich miteinander zu gemeinsamer Arbeit verbinden! Zwei er- schöpfte Pferde bringen zusammen zwar vielleicht die Last noch vor- wärts, die eines von ihnen nicht mehr bewältigen konnte, aber in diesem Fall müßten sie die vereinigten Lasten beider vorwärts bringen, welche jedes von ihnen nicht mehr zu ziehen imstande war! Das ist mehr, als sich begreifen läßt. Vor kurzem hat ZEHNDER (die Wirkung der Amphimixis über- haupt als eine „Verstärkung des Anpassungsvermögens“ de- finiert und daraus abgeleitet, daß hier die „verdauenden Fistellen“ (Biophoren) zweier Individuen zusammentreffen. welche eine etwas verschiedene Verdauungskraft haben, — folglich Stoffe von ver- schiedenerer Art assimilieren können, als es die jedes einzelnen Tieres zu tun imstande wären. Ich gestehe aber, auch hier nicht recht ein- zusehen, inwiefern dadurch allein schon ein Vorteil für das Ganze erreicht würde, da dann doch die eine Hälfte der Verdauungsbiophoren für die Ernährung der Masse des Individuums A, die andere Hälfte der anders gearteten Biophoren für die des Individuums > zu sorgen hätte, die Ernährungskraft also dieselbe bliebe, wie sie es vor der Konjugation war. Nichtsdestoweniger glaube ich ZEHNDER im Recht mit seiner Vermutung, daß es sich dabei um eine Verstärkung des Anpassungsvermögens handelt, wie ich dies ja schon lange für die eigentliche volle Amphimixis der kernhaltigen Organismen aufgestellt und verteidigt habe. Für diese läßt es sich ja auch klar einsehen, «daß die Zuteilung fremder Ide zum Keimplasma eine Vervielfachung der Variationsrichtungen bedeutet, somit eine Erhöhung der Anpassungs- fähigkeit. Darin nun kann ja unter Umständen auch ein direkter Vor- teil für das aus der Amphimixis hervorgehende Individuum liegen, aber in den meisten Fällen wird der Vorteil doch nur ein indirekter sein, der nieht notwendig schon an diesem einen Individuum offenbar wird, sondern erst im Laufe der (renerationen und unter Beihilfe der Auslese. Denn Amphimixis kann ebensogut günstige als ungünstige Variationsrichtungen zusammenführen. und der Vorteil, den sie für die Art hat, liegt nur darin, daß letztere dann im Kampf ums Dasein aus- gemerzt, und daß durch Wiederholung dieses Vorgangs die ungünstigen Variationsrichtungen nach und nach immer vollständiger aus dem Keim- plasma der Art entfernt werden. Das kann aber nicht Amphimixis in die Lebensvorgänge eingeführt haben, vielmehr nur ein solcher Vorteil, der direkt wirkte, indem er das Assimilieren, Wachsen und Siechvermehren des einzelnen Individuums verbesserte und erhöhte, so dab diesem dadurch ein Vorzug gegenüber anderen, nicht in Konjugation getretenen Individuen erwuchs. Dieser Vorteil muß da sein, wenigstens bei den niederen Formen der Kon- Jugation, bei der reinen Plastogamie, der bloßen Vermischung der Proto- plasımakörper. Es scheint mir aber nicht, daß wir ihn schon hinreichend klar erkannt haben: wir sehen noch nicht ein, wieso eine solche Ver- mischung oder Verbindung von zweierlei Plasmen jedesmal ein Vorteil für das Vereinigungsbion sein kann. Nehmen wir mit ZEHNDER an, dab zweierlei „Nahrungs“-Biophoren mit zweierlei um ein Geringes ver- Ss Alleemeine Bedeutung der Amphimixis. ] schiedenen Verdauungsfähigkeiten dadurch zusammengeführt werden, so können drei Fälle eintreten: entweder ist die dem Tier 1 adäquate Nahrung @ ebenso häufig, als die dem Tier 3 adäquate Nahrung 2, und ddann wird die eine Hälfte des konjugierten Tieres durch die Biophoren a, (die andere durch die Biophoren 5 ernährt, die Sache bleibt also wie vor der Konjugation. oder die Nahrung 5 ist häufiger als z (oder um- gekehrt), und dann werden die Biophoren 5 vorwiegend für die Er- nährung des Konjugaten A —- 3 sorgen müssen, sie werden sich stärker vermehren und die Biophoren z werden relativ abnehmen an Zahl. Die Ernährung und das Wachstum werden dann anfänglich etwas langsamer vor sich gehen, bald aber die ursprüngliche Intensität wieder erreichen. Das kombinierte Individuum 1 + 2 hat dann allerdings einen Vorteil errungen gegenüber dem isolierten Tier A, und die lebendige Substanz von 1, die isoliert vielleicht untergegangen wäre, lebt in ihrer Ver- einigung mit ? nun weiter. Für 5 aber ist in der Vereinigung kein Vorteil zu ersehen. Nur dann resultiert ein solcher auch für 3, wenn es sich eben auch hier schon nicht bloß um die eine Art von Bio- phoren handelt, welche zusammengetragen werden, sondern um meh- rere oder viele Arten von solchen. Wenn z. B. »1 zwar schwächere „Nahrungs“-Biophoren, aber stärkere „Sekretions*- oder Nervenbiophoren als ? in die Gemeinschaft einführt. dann liest in der Gemeinschaft für beide Individuen ein Vorteil. und in dieser Weise möchte ich mir einstweilen den direkten Vorteil vorstellen, der bei der reinen Plastogamie herauskommt. Dieser muß um so wichtiger und eingrei- fender werden, je länger die Vermehrung durch Teilung anhält. ohne dab Konjugation eingreift. Wir gelangen so zu einer vielleicht nicht ganz unbefriedigenden Auffassung der Amphimixis, insofern wir wenigstens einen fundamen- talen Wechsel in ihrer Bedeutung von den niedersten zu den höheren und höchsten Formen derselben nicht anzunehmen brauchen. Es han- delt sich überall um denselben Vorteil, die Erhöhung der Anpas- sungsfähigkeit: nur äußert sich derselbe teils direkt schon in dem Konjugationsprodukt, teils erst indirekt in früheren oder späteren Nachkommen desselben. Wie weit abwärts von den Schleimpilzen (Myxomyceten) reine Plastogamie reicht, wissen wir nicht: ob sie nicht auch bei kernlosen Organismen (Moneren HÄcKELs) vorkommt, läßt sich aus der Erfahrung nicht sagen, da diese erschlossenen Organismen noch nicht mit Sicher- heit beobachtet sind. Vielleicht liegen sie alle unter der Grenze der Sichtbarkeit, und dann können wir auch für die Zukunft nur ver- muten, daß auch bei ihnen plastogamische Vorgänge vorkommen werden. Logisch und rein theoretisch werden wir vermuten dürfen, (dab zuerst die Plasmakörper kernloser Moneren, «dann die Zellkörper wirklicher Zellen, und zuletzt auch die Kerne der Zellen sich vereinigt haben. Halten wir nun fest, was wir als wahrscheinlich gefunden haben, daß nämlich die Verschmelzung individuell differenter einfachster Orga- nismen einen direkten Vorteil, eine Anregung des Stoffwechsels und zugleich eine Verbesserung der Konstitution nach verschiedenen Riehtungen bewirken müsse oder doch könne, und schreiten wir nun zur Betrachtung der mit Kernverschmelzung verbundenen Zell- verschmelzung, also der vollen Amphimixis, so kommt hier jeden- falls etwas Zweites hinzu, das wir als einen bedeutsamen Vorteil er- | | Tiefste Wurzel der Amphimixis. 189 kennen können, nämlich die Verbindung zweier Vererbungssub- stanzen, also (die Vereinigung zweier Variationskomplexe, wie sie nach unserer Ansicht erfordert wird, wenn Transformation der Art stattfinden soll. Bei der bloßen Plastogamie könnte eine solche Vereinigung zweier Erbmassen nur bei Moneren eintreten. nicht aber bei kernhaltigen Or- ganismen. Wenn es also wirklich Einzellige gibt, die nur Plastogamie ohne Karyogamie besitzen (gewisse Foraminiferen), so liegt darin ein weiterer Beweis, daß «die Verschmelzungsvorgänge in der Tat einen direkten Vorteil mit sich bringen, der verschieden ist von dem in- direkten Vorteil, der in der Vermischung zweier verschiedener Erb- massen liest. denn hier erfolgt ja eben keine Vermischung der Erb- massen, keine Karyogamie. Sobald aber (diese letztere sich mit der bloßen Plastogamie ver- bunden hatte, konnte nun die volle Amphimixis nicht wieder verloren gehen, weil erst sie die harmonische Umbildung und Anpassung der sich mehr mehr und mehr komplizierenden Organismen ermöglichte, ja sie mußte immer mehr an Bedeutung die primäre Wirkung der Ver- mischung übertreffen, weil eben Transmutation mit allseitiger harmo- nischer Anpassung ohne sie um so weniger möglich war, als die Organismen verwickelter in ihrem Bau wurden. Ich habe eben schon auf die vieler- lei Einzelheiten im Bau und in der Entwicklung niederster Organismen hingewiesen, die uns diesen Schluß einleuchtend erscheinen lassen, man kann aber die Notwendigkeit einer ununterbrochen tätigen Selektion auch noch von einem ganz anderen Tatsachenmaterial ablesen, nämlich von dem, was wir über die rudimentären Organe beim Menschen wissen. Wir können den Menschen als eine Art betrachten, die zwar ihre Lokalrassen und Unterrassen hat, die aber doch in ihren Charakteren fixiert ist, und nur noch in individuellen Variationen hin- und her- schwankt in jeder Unterrasse, etwa so wie irgend ein anderes der heutigen Säugetiere, etwa der Hamster oder der Hase. Nichtsdesto- weniger wissen wir, daß der Mensch in gewissen, ziemlich zahlreichen Teilen sich noch fortwährend und andauernd nach bestimmter Richtung hin verändert. WIEDERSHEIM in seinem Buch „Über den Bau des Menschen“ zählt eine lange Reihe von Organen und Teilen des mensch- liehen Körpers auf, welche in allmählicher Rückbildung begriffen sind, und von welchen sich voraussagen läßt. daß sie dereinst gänzlich aus dem Bau des Menschen verschwinden werden, da sie für die Leistungen desselben bedeutungslos geworden sind. Dahin gehören (die beiden letzten Rippen, die elfte und zwölfte, während die dreizehnte schon ganz ge- schwunden ist, und nur ausnahmsweise, «d.h. nur bei einem kleinen Bruch- teil der heutigen erwachsenen Menschheit sich noch vorfindet. Dahin ge- hört auch die siebente Halsrippe, das Os centrale der Handwurzel, (die Weisheitszähne, der wurmförmige Fortsatz des Darms. Letzterer ist bei vielen Säugern weit größer und stellt einen wichtigen Teil des Ver- dauungsapparates dar, ist aber beim Menschen zu einem unbedeutenden Anhang herabgesunken, der ihm höchstens noch Gefahr bringt, wenn sich Fremdkörper in ihn einkeilen (Kirschkerne u.s. w.) und ihn in Ent- zündung versetzen. Die Schwankungen in seiner Länge lassen schon erschließen, daß er noch in Rückbildung begriffen ist; seine mittlere Länge beträgt 8'/, em, er schwankt aber von 2—23 em Länge, und in 25°, der Fälle beobachtete man einen teilweisen oder gänzlichen Ver- schluß seiner Einmündungsstelle in den Darm. 190 Allgemeine Bedeutung der Amphimixis. Soleher in regressiver Umwandlung begriffener Teile zählt WIEDERS- HEIM gegen Hundert auf: gegen hundert Teile also der Species Mensch befinden sich noch heute in langsamer Veränderung, und dies könnte nicht sein, wenn nicht Amphimixis von Generation zu (seneration die Erbmasse neu mischte, und so die Minusvariationen der betreffenden Teile, von den Keimplasmen aus, in denen sie durch zu- fällige Variation einmal entstanden, und durch Germinalselektion in ihrer Richtung befestigt worden sind, nach und nach auf alle Keim- plasmen der Art übertragen würden. Hier sehen wir also deut- lich, daß auch in der Periode des Artlebens, die wir als diejenige der Konstanz bezeichnen können, doch fortwährend Veränderungen phyletischer Art vor sich gehen, die ohne Mitwirkung der Amphimixis nicht allgemein werden könnten. Nun haben wir ja zwar früher gesehen, daß Personalselektion bei solchen Rückbildungen nicht oder nicht stark mitspielt, weil die Vari- ationen, die hier in Betracht kommen, meistens Selektionswert nicht erreichen, allein ganz ebensolche unendlich langsam durchgreifende An- derungen werden an funktionierenden, wichtigen Organen eben- falls vorkommen, und bei den Aufwärtsbewegungen derselben wird Personalselektion und Zusammenpassung sehr wohl mitspielen, so dab also hier mindestens die Beibehaltung der Amphigonie durch Naturzüchtung bewirkt werden muß. Allerdings lassen sich hier einzelne Fälle nicht mit der Sicherheit namhaft machen, wie bei den rudimentären Organen — aus begreiflichen Gründen — aber schon auf Grund allgemeiner Erwägungen dürfen wir erwarten, daß unter den Anfangsvariationen der Determinanten des Keimplasmas auch solche in aufsteigender Richtung sein werden, und unter diesen wiederum auch solche, die bei ihrem Fortschreiten durch Grerminalselektion bis zu einem Punkt aufsteigen, auf welchem sie Selektionswert erreichen. WIEDERSHEIM rechnet z. B. die allmählich zunehmende histologische Differenzierung der Kortikalzone des menschlichen Gehirns zu den Teilen, welche heute noch in aufsteigender Entwicklung begriffen sind, und er wird wohl Recht damit haben. Wenn nun aber beim Menschen so zahlreiche, ganz unmerklich langsame Veränderungen noch im Gange sind, so haben wir wohl keinen Grund, ähnliche Vorgänge bei Tieren zu bestreiten; bei den höheren Wirbeltieren wenigstens gibt es kaum eine Art, bei der nicht auch regressive Veränderungen heute noch ihren Fortgang nehmen, und bei vielen von ihnen möchten wohl auch progressive Veränderungen vor- kommen, wenn wir auch den Nachweis dafür nicht zu führen vermögen. Es ist also ein falscher Schein, wenn uns die meisten Arten stille zu stehen scheinen; sie sind trotzdem in einem langsamen Fluß be- griffen, beseitigen nach und nach, was sie an Überflüssigem von den Ahnen her noch mit sich führen, vervollkommnen die wichtigen Teile zu noch genauerer Anpassung und zu noch größerer Leistungsfähigkeit, und suchen dabei alle Teile in steter Zusammenpassung zu erhalten. Wir begreifen, dab, solange dieser Zustand langsamer Vervollkommnung anhält, Amphimixis nicht leicht aufgegeben wird: Diejenigen die sie festhalten, müssen auf die Dauer doch immer die Bevor- zugten sein. Aber — wie wir gesehen haben — kann sie auch nicht aufgegeben werden, wenn sie einmal durch Aeonen hindurch be- standen hat, und zwar vermöge des Beharrungsvermögens, welches das Keimplasma in so langer Erbfolge allmählich errungen hat. Nur ee ur Anziehungskraft der Geschlechtszellen. 191 dann kann dies geschehen, wenn ein entscheidender Vorteil damit ver- bunden ist, wie ein solcher z. B. in den meisten Fällen von Partheno- genese — bei Tieren wenigstens — sich auch wirklich erkennen läßt. Nach meiner Ansicht ist diese indirekte Wirkung der Amphi- mixis, also die Erhöhung der Anpassungsfähigkeit durch Neukombi- nierung der individuellen Variationsrichtungen bei allen Ein- und Viel- zelligen heute die Hauptsache, hinter welcher die nutritive direkte Wirkung der beiden Keimzellen aufeinander ganz zurücktritt. Ich be- finde mich damit im Gegensatz zu den Überzeugungen vieler, wenn nicht der meisten, welche eine direkte, ja vielfach sogar eine aus- schließlich direkte Wirkung der Amphimixis annehmen und durch Tatsachen belegen zu können meinen. In diesem Sinne weist man darauf hin, daß schon bei sehr niedrigen Einzelligen, und dann höher hinauf bei den meisten Organismen Allo- gamie stattfinde, d. h. Vermischung von Individuen verschiedener Abstammung, und vergißt dabei ganz zu fragen, ob denn diese Wechselanziehung des Fremden auch wirklich auf den primären Eigenschaften der Organismen beruhen müsse, und nicht vielleicht eine sekundäre Erwerbung sein könne, eine Anpassung gerade an die Einrichtung der Amphimixis. Fassen wir die Tatsachen ins Auge, so steht schon bei niederen Algen, wie Pandorina und Ulothrix fest, daß nur Schwärmzellen verschiedener Zellkolonien miteinander sich konjugieren, nicht solche von gleicher Abstammung, und dieselbe Erscheinung wiederholt sich bei vielen pflanzlichen und tierischen Ein- zelligen. Man wird mit Recht daraus schließen dürfen, daß ein ge- wisser größerer Betrag von Verschiedenheit der Gameten der Konju- gation den besten Erfolg sichere, mag man nun diesen Erfolg in einer „verjüngung“ suchen, oder in höherer Anpassungsfähigkeit: aber man irrt, wenn man die stärkere Anziehung zwischen Individuen verschiedener Abstammung für einen unmittelbaren Ausfluß dieser Verschiedenheit selbst nimmt; ich wenigstens halte sie für eine Anpassungserschei- nung. Die ganze lange und vielgestaltige phylogenetische Entwicklung der Sexualzellen, eben der sog. Gameten, zeigt klar, daß es sich hier um Anpassungen handelt, und daß die Grade der Anziehung, welche zwischen Gameten obwalten, allmählich im Laufe der Phylogenese ge- steigert und verschärft worden sind. Wir haben in einer früheren Vor- lesung bereits davon gesprochen, und ich will jetzt nur kurz daran er- innern, daß zuerst die miteinander kopulierenden Zellen ganz gleich in Aussehen und Größe sind, daß dann die eine Art von Zellen etwas größer wird als die andere, und daß weiterhin nur noch an Größe differente Gameten sich gegenseitig anziehen, Mikro- und Makro- gameten oder männliche und weibliche Keimzellen: wir ha- ben dann diese Unterschiede zwischen beiden sich immer mehr ver- schärfen und vergrößern sehen, die weibliche Zelle übertraf immer mehr an Größe die männliche, häufte immer mehr Nahrungsstoffe in sich an behufs des Aufbaues «des jungen Wesens, welches aus ihrer Vereinigung mit der männlichen Zelle hervorgehen soll, während diese letzteren immer kleiner, aber auch immer zahlreicher wurden, wie es geschehen mußte, wenn ihnen auf der Suche nach der weit entfernten Eizelle die Aussicht auf Erreichung derselben nicht ganz schwinden sollte. Und nun noch die unzählige Menge der Anpassungen des Eies an alle die besonderen Umstände, denen dasselbe bei den verschiedenen Lebensgruppen unterworfen ist, die unendlich gestaltenreichen Formen 192 Allgemeine Bedeutung der Amphimixis. der Samenzellen mit allen ihren feinsten und kompliziertesten Anpas- ' sungen an die speziellen Bedingungen, unter welchen gerade bei dieser oder jener Gruppe von Lebensformen die Eizelle erreicht, und das Eindringen in sie ermöglicht werden kann — wahrlich, wer hier die Anpassung nicht mit Staunen und Bewunderung anerkennt als etwas im Laufe der Entwicklung Gewordenes, dem ist nicht zu helfen. Wenn aber alles dieses Anpassungungen sind, dann ist es auch der Anfang der ganzen Differenzierungsvorgänge: die Allogamie, die An- ziehung der Kopulationszellen verschiedener Abstammung, nicht aber ist sie ein primärer Ausfluß der individuellen Verschiedenheit; Gameten fremder Abstammung zogen sich nicht schon von selbst stärker an, aber sie wurden meistens mit stärkerer gegenseitiger Än- ziehungskraft ausgerüstet, weil die V ereinigung stärker ver- schiedener Individualitäten das Vorteilhaftere war. Das ist ein wichtiger Unterschied, denn die Einrichtung zeigt sich in weiter Ausbreitung und ist in ihren spätesten Ausgestaltungen häufig in demselben Sinne mißverstanden worden, wie in ihren Anfängen. Man erblickt in der weit verbreiteten Allogamie einen Beweis für die Ver- Jüngungstheorie, indem man dieses Streben der Natur nach Vereinigung des Differenten auf die hypothetische „verjüngende“ Wirkung der Am- phimixis bezieht, und als eine direkte und unvermeidlich betrachtet. Das’ ist aber irrig. wie wir in Folgendem noch immer klarer erkennen werden. Wie nämlich bei einzelligen Algen häufig nur (Gameten ver- schiedener Abstammung sich verbinden, so zeigen sich bei Tieren und Pflanzen zahlreiche Fälle, in welchen die Vereinigung nächstver- wandter Gameten mehr oder weniger streng ausgeschlossen ist, sowohl dureh Ausschließung der Selbstbefruchtung bei Zwittern, als der Inzucht, d. h. der fortgesetzten Vermischung naher Verwandten. Alle die Ursachen nun, welehe dies herbeiführen, sind sekundärer Natur, sind Einrichtungen, die aus dem Vorteil resultierten, welcher in der Vereinigung fremder Keimplasmen liegt, auch wenn es zuweilen ganz so aussieht, als ob es sich um einen Ausfluß der primären Natur (der Keimzellen handle. Primäre Folge des chemischen Aufeinanderwirkens der beiden Keimzellen ist — abgesehen von dem Impuls zur Entwicklung, den (die Oentrosphäre der Samenzelle gibt — soviel ich sehe, nur die gün- stigere oder (die ungünstigere Mischung der Biophoren- oder Deter- minantenvarianten und die daraus resultierende höhere oder geringere Anpassungsfäsigkeit, aus welcher dann besseres Gedeihen der Naclı- kommen, oder umgekehrt deren Entartung hervorgehen kann; alles andere ist sekundär und beruht auf Anpassung, die in sehr ver- schiedener Weise erfolgt ist, wie gerade für die betreffende Art die sünstigste Mischung der Keimplasmen herbeigeführt werden konnte. (sewiß wirken die durch Amphimixis vereinigten Elternide aufeinander ein, indem beim Aufbau des kindlichen Organismus die homologen Determinanten miteinander um die Nahrung kämpfen, aber nicht in der Weise, wie viele vorwiegend physiologisch und medizinisch gebildete Schriftsteller es meinen, nämlich so, daß mit der Vereinigung der elter- lichen Keimplasmen ein „formativer Reiz“ gesetzt werde, der den Bildungsprozeß im Ei „befördere*, oder gar „mächtig“ befördere*. Par- thenogenetische Entwicklung erfolgt ganz ebenso rasch, oft sogar rascher, Anziehungskraft der Geschlechtszellen. 1953 als die des befruchteten Eies derselben Art! Wie könnte denn hier dieser vermeintliche .„formative Reiz“ so gänzlich entbehrt werden. Natürlich weiß ich sehr wohl, daß die beiderlei Keimzellen eine starke Anziehung aufeinander ausüben, daß das Protoplasma der Ei- zelle förmlich in zitternde Bewegung gerät, wenn der Samenfaden durch die Mikropyle eindringt: ich habe das selbst seinerzeit am Ei des Neun- auges (Petromyzon) beobachtet, als CALBERLA seine Untersuchung über die Befruchtung dieses Fisches anstellte, aber hat das irgend Etwas mit einem formativen Reiz zu thun? Ist das mehr, als die Folge davon, daß die Substanz des Eies einen chemotaktischen Reiz auf die des Samenfadens ausübt und umgekehrt, und haben wir irgend einen Grund, darin mehr zu sehen, als eine Anpassung der (Greschlechtszellen an die Notwendigkeit sich gegenseitig zu finden und zu vereinigen? Man ver- mengt hier zwei verschiedene Dinge mit einander: die gegenseitige An- ziehung der beiderlei (Geschlechtszellen behufs ihrer Vereinigung un(d die Folgen dieser Vereinigung: man sollte schärfer unterscheiden zwischen den Wirkungen und Vorteilen, welche Allogamie im (refolge hat und den Mitteln. durch welche sie den verschiedenen Arten ge- sichert wird. Setzte Amphimixis wirklich einen „formativen“ Reiz, und richtete sich dessen (Grösse nach der Verschiedenheit der elterlichen Keimplasmen, dann müßte Parthenogenese, d. h. gänzliches Ausbleiben der Mischung zweier Elternzellen jedenfalls noch weniger vorteilhaft wirken, als Am- phimixis zwischen nahen Verwandten, und doch ist das nicht der Fall. Fortgesetzte Inzucht führt in vielen Fällen zu Degeneration der Nachkommen, vor allem zu geminderter Fruchtbarkeit bis zur völligen Unfruchtbarkeit. So sind in meinen, später von (1. VON GUAITA fort- gesetzten Zuchtversuchen mit weißen Mäusen die Nachkommen bei strenger Inzucht im Laufe von 29 Generationen allmählich immer mehr in ihrer Fruchtbarkeit herabgesunken, und Ähnliches haben RırzEmA Bos und andere beobachtet. Aber warum geschieht nicht des- gleichen bei reiner Parthenogenese? Meine schon erwähnten männerlosen Zuchten von Muschelkrebschen (Cypris reptans) haben im Laufe der bis jetzt beobachteten etwa 100 Generationen*) nichts von ihrer enormen Fruchtbarkeit und Lebenskräftigkeit eingebüßt, und ebenso steht es in freier Natur mit der Rosengallwespe, Rhodites rosae, die sich trotz rein parthenogenetischer Fortpflanzung immer noch der größten Fruchtbarkeit erfreut, und deren weibliche Tiere nicht selten über hun- dert Eier in eine Knospe ablegen. Wie kommt es wohl, daß hier «das vermeintliche „die ontogenetische Entwicklung in so mächtiger Weise fördernde Aufeinanderwirken zweier verschiedener Vererbungssubstanzen“ ganz entbehrt werden kann? Doch wohl nur, weil ein solches überhaupt nicht besteht, wenigstens nur in der immer noch von der alten dyna- mischen Befruchtungstheorie beeinflußten Phantasie meiner (regner. Aber, so werden Sie fragen, woher kommen denn die schlimmen Folgen der Inzucht, wenn nicht von der Vereinigung allzu nahe verwandter Keimplasmen? Nun gewiß gerade davon kommen sie her, nur nieht von einem hier zu geringen „formativen Reiz“, einem direkten, *) Die Zuchten sind im Jahre 1884 begonnen worden und pflanzen sich heute, den 20. Juni 1904, noch ebenso reichlich fort, als im Beginn der Züchtung. Ich rechne durchschnittlich fünf Generationen auf das Jahr, was also in 20 Jahren etwa 100 Generationen ergibt. Weismann, Doszendonzthoorio. II. 2, Aufl I 194 Allgemeine Bedeutung der Amphimixis. formativ wirkenden chemischen Einfluß der beiden Vererbungssubstanzen aufeinander, sondern eben von den indirekten Wirkungen, welche diese allzu ähnlichen Erbmassen während der Bildung des neuen Individuums setzen. Damit Sie nicht glauben, daß ich gegen Windmühlen kämpfe, will ich Ihnen aus den zahlreichen Beispielen von schlimmen Folgen der Inzucht einen vorführen, den man mir entgegengehalten hat als besonders beweisend für die Auffassung der Amphimixis im Sinne eines „formativen Reizes“, dessen Stärke von der Verschiedenheit der beiderlei Keimsubstanzen abhänge. Der berühmte Tierzüchter NATHUSIUS ließ die Nachkommen einer aus England importierten trächtigen Sau der sroßen Yorkshire-Rasse sich durch Inzucht während dreier Generationen fortpflanzen. Das Resultat war ungünstig, da die Jungen von Konsti- tution schwach und wenig fruchtbar waren. Eines der letzten weiblichen Tiere produzierte z. B., nachdem es sich mit seinem eigenem Onkel, der mit Sauen von anderen Rassen als produktiv bekannt war, gekreuzt hatte, einen Wurf von sechs, und einen zweiten Wurf von fünf schwachen jungen Schweinen. Als dann aber NarHusıus dasselbe Schwein mit dem Eber einer kleinen schwarzen Rasse, welcher Eber mit Schweinen seiner eigenen Rasse sieben bis neun Junge erzeugte, gepaart hatte, ergab das Schwein von der groben Rasse mit dem kleinen schwarzen Eber im ersten Wurf einundzwanzig und im zweiten Wurf acht- zehn junge Schweine. Wie sollte nun dieser in der Tat erstaunliche Unterschied in der Fruchtbarkeit des betreffenden Schweines die Folge eines „formativen* Reizes“ sein, den die Samenzellen des fremden Ebers auf die Eizellen (des weiblichen Tieres ausübten? Wenn die Nachkommen des Schweines fruchtbarer geworden wären, als die Mutter, dann hätte man wenigstens ein logisches Recht, daran zu denken, wie aber die Eizellen dieses Mutterschweins selbst durch die Befruchtung der aus dem Ovarium hinabgleitenden Eizellen mit fremden Samen sich an Zahl aufs dop- pelte und dreifache vermehrt haben sollten, ist nicht zu ersehen: die Zahl der sich aus dem Eierstock lösenden Eier hängt in erster Linie davon ab, wie viele reife Eier in demselben vorhanden sind: wenn wir also nicht die wenig wahrscheinliche Annahme machen wollen, dab das Bespringen des fremden Ebers sofort die Reife einer größeren Zahl von Eiern zur Folge hatte, so werden wir den Grund dieser plötzlichen Fruchtbarkeit wo anders als im Eierstock des Tieres suchen müssen, vielleicht in zufälligen Umständen. die wir nicht kennen und die das Ovarium momentan ergiebiger machten, vielleicht aber auch darin, daß durch die Inzucht verschiedene kleine Abweichungen des Baues sich an dem Tier ausgebildet hatten, unter welchen auch solche sich befanden, welche die Befruchtung der auch vorher schon reichlich pro- duzierten Eizellen durch den Samen des stammverwandten Ebers erschwerte und öfters mißlingen ließ. Bestimmtes darüber vermag ich begreiflicherweise nicht zu sagen, allein wir wissen ja, daß sehr geringe Veränderungen an den Samenfäden oder dem Ei. imstande sind, die Befruchtung zu erschweren oder zu verhindern. Ich erinnere nur an (die interessanten Kreuzungsversuche, welche PFLÜGER und BORN vor nahezu 20 Jahren schon mit Batrachiern angestellt haben und welche ergaben, daß von zwei nächstverwandten Arten von Fröschen häufig zwar die Eier der Art 1 befruchtet werden vom Samen der Art 2, nicht aber umgekehrt die Eier der Art 3 vom Samen der Art A. So verhält es sich z. B. mit dem grünen Wasserfrosch, Rana esculenta, Schlimme Folgen der Inzucht. 195 und dem braunen Grasfrosch, Rana fusca, und der Grund dieser Un- gleichheit in der Wirksamkeit des Samens liegt einfach in „grob mecha- nischen“ Verhältnissen, in der Weite der Mykropyle des Eies und der Dicke des Spermatozoen-Kopfes. Wenn jede Art eine Mikropyle besitzt, „die gerade so weit ist, daß das Spermatozoon der eigenen Art passieren kann“, so wird eine andere Art diese Eier nur dann befruchten können, wenn der Kopf ihrer Spermatozoen nicht dieker ist als der der ersten Art. Deshalb befruchten erfahrungsgemäß die Spermatozoen der Rana fusca fast alle Eier anderer verwandter Arten, denn sie haben den dünnsten und zugleich einen sehr spitzen Kopf. Es hängt also hier am mikroskopischen Bau des Eies und der Samenzelle, ob Befruchtung erfolgen kann oder nicht, und so kann man sich vorstellen, daß ähn- liche oder auch andere ganz kleine Veränderungen des Eies in dem Fall des NarHusıusschen Schweines eingetreten waren, die die Be- fruchtung der Eier mit dem Samen der eigenen Familie erschwerten, und zwar werden dieselben durch die fortgesetzte Inzucht entstanden sein, weil diese immer wieder von neuem dieselben Ide im befruch- teten Ei zusammenführt, und so etwa vorhandene ungünstige Variations- richtungen verstärkt. So allein scheint mir überhaupt die nachteilige Wirkung der In- zucht verständlich zu werden. Von beiden elterlichen Seiten her kommen identische Ide im befruchteten Ei zusammen, und zwar um so zahl- reicher, je länger die Inzucht anhält, denn bei jeder Keimzellenreife wird ja die Zahl differenter Ide um einiges vermindert, ihre (resamtzahl muß nach und nach sinken, und es ist denkbar, daß sie zuletzt bis auf eine einzige Id-Art herabsinkt, d. h. daß das Keimplasma dann nur noch aus identischen Iden besteht. Wenn nun in einigen der das Keimplasma zusammensetzenden Ide zufällige Variationen gewisser De- terminanten in ungünstiger Richtnng enthalten sind, so kommen diese in den Nachkommen von väterlicher und von mütterlicher Seite her zusammen, und zwar in um so zahlreicheren Iden, je länger die Inzucht schon andauert, je geringer die Zahl also der differenten Ide wird. Die ungünstigste Variationsrichtung dauert somit an, und ihr Einfluß auf die Bildung eines neuen Nachkommen wird um so größer, je größer die Zahl der identischen Ide mit den ungünstigsten Variationen wird. Es leuchtet ein, daß die Kreuzung eines solchen gewissermaßen in leiser Degeneration befindlichen Tieres mit einem Partner einer fremden Familie sofort einen guten Einfluß auf die Nachkommen haben muß, denn dabei werden ganz fremde Ide mit anderen Variationen ihrer Determinanten dem allzu monoton gewordenen Inzucht-Keimplasma beigemischt. Aus dieser theoretischen Erklärung der Schäden der Inzucht geht aber zugleich hervor, daß nicht notwendig jede Inzucht schon Degeneration bedingt, denn sie setzt ungünstige Variationsriehtungen des Keimplasmas als Ausgangspunkt derselben voraus; solange solche fehlen. können auch durch Inzucht keine Entartungen eintreten, und auch dies stimmt mit den Tatsachen. denn die schlechten Folgen der Inzucht sind erfahrungsgemäß sehr verschieden groß und können auch ganz ausbleiben. Am größten aber sind sie bei künstlich vom Menschen gezüchteten Rassen, die also schon lange nicht nur unter unnatürlichen, «direkt wirkenden Bedingungen stehen, sondern die auch dem reinigenden Einfluß der Naturzüchtung entrückt sind, bei denen also alle Wahrscheinlichkeit dafür spricht, daß mancherlei un- 196 Allgemeime Bedeutung der Amphimixis. günstige Variationsrichtungen ihrer Determinanten aufgekommen sein werden. Wie aber ist es zu verstehen, dab reine Parthenogenese un- gezählte Generationen hindurch fortdauern kann, ohne daß solche De- generationen eintreten? Ich glaube: sehr einfach. Wohl bleiben auch hier (dieselben Ide, die der Stammmutter eigen waren, auchin den Nachkommen enthalten, aber sie vermindern sich nicht an Zahl, denn bei der rein parthenogenetischen Cypris reptans fällt die zweite Reifungsteilung des Eies aus, also gerade die die Reduktion bewirkende Kernteilung. Dazu kommt noch, daß auch die Zuführung identischer Ide, wie sie bei der Inzucht in jeder Amphimixis stattfinden muß, wegfällt, und — was gewiß von grober Bedeutung ist — daß es sich in allen diesen Fällen um alte Arten handelt, die im Naturzustand leben. unter denselben Bedingungen, unter denen sie-auch als amphigone Arten gelebt haben, nicht um neugeprägte Rassen unter künstlichen Bedingungen, wie dies bei den bekannten Inzuchtversuchen wohl immer der Fall ist. (rewiß werden auch bei alten Arten im Naturzustand ungünstige Variationen im Keimplasma sich einstellen und bei rein parthenogene- tischer Fortpflanzung sich lange steigern können, weil die Ide mit den ungünstig variierenden Determinanten nicht mehr durch Reduktionsteilung beseitigt werden, aber diejenigen Individuen, bei welchen die ungünstige Variationsrichtung bis zum Überschreiten des Selektionswertes anwächst, werden eben dann der Auslese verfallen und allmählich ausgemerzt werden, ja die Auslese der Schlechteren wird hier eine radikalere sein, als bei Amphigonie, weil hier alle Kinder der Mutter nahezu gleich sind. also der ganze Stamm der Austilgung verfällt, wenn die Mutter sich un- günstig verändert. Nur eine Umwandlung in günstigem Sinn, eine Anpassung an neue Lebensbedingungen, sofern sie wenigstens die gleichzeitige Ver- änderung und harmonische Zusammenpassung vieler Teile ver- langt, wird — so weit ich sehe — bei rein parthenogenetischer Fort- ptlanzung nicht geleistet werden können, und ebensowenig eine Rück- bildung überflüssig werdender komplizierterer Teile. Zu Beidem gehört nach meiner Auffassung die häufige Neumischung der Ide des Keim- plasmas, ohne welche komplizierte (Grebilde weder sich harmonisch umbilden, noch in eine gleichmäßige, alle ihre Teile betreffende Rück- bildung geraten können. Als ein Beispiel für den letzteren Fall kann dasjenige Organ der rein parthenogenetischen Arten von Muschelkrebs- chen (Östrakoden) betrachtet werden, welches eben durch das Aufgeben amphigoner Fortpflanzung funktionslos wird: die Samentasche der Weibchen. Alle diese Arten besitzen noch unverändert ihr Receptacu- lum seminis, eine große birnförmige Blase mit langem, dünnem, spiralig aufgerolltem Ausführungsgang, sehr zweckmäßig darauf eingerichtet, daß (ie enormen Samenfäden der Männchen einzeln in ihnen hinaufwandern, sich in schönster Ordnung zu einer groben Schleife in dem Receptacu- lum nebeneinander lagern und später zur Befruchtung der abgelegten Eier einzeln wieder herabwandern können. Bei Cypris reptans und mehreren anderen Arten gibt es aber in den bisher genau untersuchten Fundorten keine Männchen, und immer findet man das Receptaculum der Weibchen leer. Dennoch zeigt es keine Andeutung von Degene- i ration. Es wäre nun wohl möglich, daß wie bei dem ähnlich lebenden Apus caneriformis zwar in den meisten Kolonien dieser Arten die Männchen ausgestorben wären, daß sie aber trotzdem noch hier und er er .. N REEL ÄLTEREN 7 Parthenogenese der Biene. 197 da auf dem Gesamtwohngebiet der Art zeitweise vorhanden wären, und wenn sich dies herausstellen sollte, so würde es um so mehr den auch sonst wahrscheinlichen Schluß bestätigen. daß die reine Parthenogenese dieser Arten in den meisten ihrer Wohnstätten, phylogenetisch ge- sprochen. noch nicht lange besteht. Aus diesem Grunde darf die Tragweite der völligen Erhaltung des Receptaculum bei ausschließlicher Parthenogenese nicht überschätzt werden. Immerhin beweist sie, daß Rückbüdung eines überflüssigen Organs auch nach Hunderten von Generationen noch nicht einzutreten braucht. und darin liegt in jedem Falle eine Bestätigung der Ansicht, daß es „zufällige“ Keimesvariationen sind. welehe den Anstoß zur Rückbildung geben. Sie erst leiten durch (Grerminalselektion eine abwärts gerichtete Variation ein, die nun, da es sich um ein für die Erhaltung der Art gleichgültiges Organ handelt, durch Personalselektion in ihrem Fortgang nicht behindert wird. Ob nun bei diesen parthenogenetischen Arten die Verkümmerung des Re- zeptaculum schon eingetreten wäre, falls dieselben die sexuelle Fort- pflanzung wenigstens periodisch beibehalten hätten, wie dies bei den parthenogenetischen (Generationen der alternierend parthenogenetisch und geschlechtlich sich vermehrenden Blattläuse tatsächlich der Fall ist. das können wir nicht beurteilen, da wir weder in dem einen. noch in dem anderen Fall etwas über die bisher abgelaufene Dauer der Par- thenogenese wissen, noch auch irgend einen Anhalt für die Abschätzung der Zahl von (Generationen haben, die dazu gehört, um ein überflüssig gewordenes Organ ins Wanken zu bringen. Wir wissen nur, daß die parthenogenetischen Generationen der Blattläuse ein Receptaculum nicht mehr besitzen, während diejenigen anderer, alternierend sich fortpflan- zender, aber vielleicht in dieser Hinsicht jüngerer Insekten, wie mancher (sallwespen, dasselbe wie die Muschelkrebse noch besitzen. Eines Falles von Parthenogenese muß ich noch erwähnen. weil er bisher der Keimplasmatheorie als ein drohendes Rätsel entgegen- stand, das nun seine Lösung gefunden hat, ich meine die fakultative Parthenogenesis der Biene. Wenn die männlichen Eier der Bienen unbefruchtet bleiben, und dann doch zwei Richtungsteilungen (durch- laufen, welche die Zahl der Ide im Eikern auf die Hälfte herabsetzen, so muß die Zahl der Ide des Keimplasmas bei der Biene stetig ab- nehmen, und es ist deshalb von englischen Forschern in diesem Ver- halten ein vernichtender Beweis für die Unhaltbarkeit der Idlehre und der ganzen Keimplasmatheorie gesehen worden. Offenbar liegt darin auch ein Widerspruch gegen die Theorie, und es fragt sich nur, ob es nicht bloß ein scheinbarer ist, der sich löst, sobald «die Tatsachen genauer bekannt sind. Hauptsächlich aus diesem Grunde habe ich die Unter- suchungen Dr. PETRUNKEWITSCHS veranlaßt, deren Ergebnisse ich in einem früheren Vortrag schon teilweise angeführt habe. Sie haben be- stätigt, daß die männlichen Bieneneier unbefruchtet bleiben, sowie daß zwei Richtungsteilungen stattfinden, und «daß infolgedessen der Eikern nur die halbe Zahl der Chromosomen enthält. Daß diese sich dann durch Teilung wieder auf die Normalzahl vermehren, ist für die Theorie keine Rettung, denn dadurch können nur identische Ide gebildet werden, während die Bedeutung der Vielheit der Ide doch vor allem eben in ihrer Verschiedenheit liegt. Durch die Halbierung der Idzahl in jedem männlichen Ei müßte, wenn auch nicht eine dauernde Herab- setzung der Idziffer, so doch eine Monotonisierung des Keimplasmas eintreten, indem die Zahl differenter Ide stetig ab- und diejenige iden- 198 Allgemeine Bedeutung der Amphimixis. tischer Ide ebenso stetig zunähme. Auch das wäre ein Widerspruch gegen die Theorie. Nun hat sich aber durch Herrn Dr. PETRUNKE- WITSCHS Untersuchungen herausgestellt, daß von den vier Kernen, welche durch die beiden Richtungsteilungen sich bilden, die beiden mittleren (Fig. 70, Az u. A757) sich wieder miteinander vereinigen, zu einem Kern verschmelzen, und dab aus diesem Kopulationskern im Laufe der Embryogenese die Urkeimzellen des Embryo hervorgehen. Nun können aber in diesem „Richtungskopulationskern“ sämtliche ursprüng- lich im Kern des unreifen Eies vorhanden gewesenen Ide wieder ver- einigt sein, nämlich dann, wenn die zwei in Fig. 79 einander zuge- wandten Kerne A2 u. A7 differente Ide enthalten. Daß dem so ist, läßt sich freilich den Iden selbst nicht ansehen, aber es scheint mir daraus mit großer Wahrscheinlichkeit hervorzugehen, daß es ungleiche Pole der beiden Kernspindeln sind, welche sich hier vereinigen, nämlich der untere Pol (Tochterkern) der oberen Spindel und der obere Pol der unteren Spindel. In der ersten Richtungspindel lagen 32 Chromo- Fig. 79 (wiederholt). Die zwei Reifeteilungen des männlichen (unbefruchteten) Bieneneies nach PETRUNKEWITSCH. Asß1 erste Richtungsspindel, A7 und X2 die zwei Tochterkerne derselben, %s?2 zweite Richtungsspindel, Ag und A% die zwei Tochterkerne derselben. Im folgenden Stadium verbinden sich A2 und X3 zum Urgeschlechtskern. Starke Vergrößerung. somen, die sich durch Verdoppelung aus 16 gebildet hatten, und von denen 16 in den ersten Richtungskern übergingen, 16 den Grundstock für die zweite Richtungsspindel bildeten. Diese je 16 Chromosomen müssen die gleichen gewesen sein, da sie durch Teilung aus 16 Mutter- chromosomen entstanden sind. Bezeichnen wir sie als die Chromo- somen a, b, c, d—g, so werden diese selben Chromosomen in den beiden in Fig. 79 abgebildeten Kernspindeln bei Beginn der Teilung enthalten gewesen sein, und acht davon gingen in jeden Tochterkern. Wenn nun @— + an den je oberen Pol der Spindel wanderten, ”—g an den je unteren Pol, so müssen also durch Verschmelzung von A2 mit A sämtliche Ide, die ursprünglich vorhanden waren, wieder zusammen- treffen. Auf (diese Erwägung gestützt, hatte ich Herrn PETRUNKE- WITSCH von vornherein die Vermutung ausgesprochen, es möchte dieses Kopulationsprodukt den Grundstock für die Bildung der Keimzellen der männlichen Biene abgeben, und die mühsame und schwierige Unter- suchung hat «diese Voraussage bestätigt, so seltsam es auch scheinen Parthenogenese der Biene. 199 mag. daß die männlichen Keimzellen hier einen anderen Ursprung haben sollen, als die weiblichen. Für die Theorie aber bildet dieser Befund wohl eine starke Stütze. Man könnte ja freilich geltend machen, daß die angenommene regelmäßige Verteilung der Ide auf die beiden Tochterkerne nicht zu erweisen sei, allein, daß diese Teilungsapparate sehr genaue Arbeit liefern, wissen wir, und dürfen es wohl in noch höherem Grade vermuten, und welch andere Auslegung der von PE- TRUNKEWITSH festgestellten, unerwarteten Bildung der Keimzellen aus den beiden Richtungskernen könnte geltend gemacht werden, wenn die eben vorgetragene zu verwerfen wäre? Ein klarerer Hinweis auf die in- dividuelle Verschiedenheit der Ide und ihre hohe Bedeutung kann wohl nicht verlangt werden, als er in der Tatsache liegt, daß bei den männlichen Bieneneiern ein anderer neuer Modus der Keimzellenbil- dung eingeschlagen wird, nachdem dem Eikern die Hälfte seiner Ide einmal unwiederbringlich entzogen ist. Wir sehen daraus, daß für die einzelne Ontogenese auch Verdoppelung durch identische Ide aus- reicht. daß aber für die Weiterentwicklung der Art die Beibehal- tung der Idmannigfaltigkeit von Bedeutung ist. XXX. VORTRAG Inzucht, Parthenogenese, asexuelle Vermehrung und ihre Folgen. Die Trennung der Geschlechter setzt schon bei Protisten ein p. 200, Zwitterbildung tritt unter bestimmten äußeren Verhältnissen auf p. 201, Bandwürmer, Rankenfüler, primordiale Männchen p. 202, Vorteile der Parthenogenese p. 204, Wechsel mit zwei- geschlechtlichen Generationen p. 204, bei Gallwespen p. 205, bei Blattläusen p. 2US, Sicherung der Kreuzung bei Pflanzen p. 210, Selbstbefruchtung wird, wenn möglich, vermieden p. 211, Befruchtungsmechanik und Keimplasmenvermischung auseinander zu halten p. 212, Es gibt fortgesetzte Selbstbefruchtung p. 214, Wirkungen der In- zucht, verglichen mit denen der Parthenogenese p. 216, Wirkung rein asexueller Fortpflanzung p. 217, bei Meerestangen p. 218, bei Flechten und Pilzen p. 215, bei Kulturgewächsen p. 219, Verkümmerung der Geschlechtsorgane p. 220, Zu- sammenfassung p. 221. Meine Herren! Wir sahen, dab fortgesetzte Inzucht das Keim- plasma monoton gestalten und dadurch unplastisch machen muß, den Forderungen der Anpassung gegenüber. Demgemäb fanden wir die (rameten vieler Einzelliger so eingerichtet, dab sie nur für (Grameten einer anderen Abstammungslinie Anziehungskraft besitzen, nicht für die der eigenen. Bei Vielzelligen würde die schärfste Form der Inzucht die ununterbrochene Selbstbefruchtung von Zwittern sein: hier müßte die Einförmigkeit des Keimplasmas noch rascher als bei ge- wöhnlicher Inzucht den höchsten Grad erreichen. Daraus läßt sich ver- stehen, warum wir sehr früh schon dem Gonochorismus begegnen, der Trennung der Arten in weibliche und männliche Indivi- duen. Schon bei den Protophyten findet sich diese Einrichtung ver- einzelt vor, so bei den Vorticellinen unter «den Infusorien. Bei den Metazoen und Metaphyten ist die Getrenntgeschlecht- lichkeit in größtem Maßstab durchgeführt, sie fehlt wohl in keiner größeren Gruppe, und ist in manchen, z. B. in dem Tierkreis der Wirbeltiere die ausschließliche Norm geworden. Aber in vielen Ab- teilungen des Tier- und Pflanzenreichs spielt auch der Hermaphroditis- mus, das Zwittertum, eine bedeutende Rolle, so bei den Landschnecken und bei den Blütenpflanzen. Offenbar steht die geschlechtliche Einrichtung einer Art in ge- nauester Beziehung zu den Lebensumständen derselben, und wenn es auch von dem Bestreben der Natur, Inzucht zu verhüten und Wechsel- kreuzung zu sichern, herrührt, daß wir so zahlreiche gonochoristische Arten finden, so ist davon doch in zahlreichen Fällen wieder abge- sangen worden, und zwar immer dann, wenn die Lebensbedingungen der betreffenden Gruppe oder Art es erforderten. Der Inzucht wird Zwittertun. 201 dann auf andere Weise soviel als möglich gesteuert, z. B. dadurch, daß eine Einrichtung getroffen wird, welche wenigstens von Zeit zu Zeit Kreuzung der Individuen herbeiführt. Schließlich scheinen aber doch auch Fälle von reiner und steter Selbstbefruchtung vorzukommen, und auch diese lassen sich wohl mit unserer Anschauung vereinigen, nach welcher Wechselkreuzung zwar ein Vorteil ist, aber auch nur ein bloßer Vorteil, der abgewogen werden kann gegen andere Vorteile, und der eventuell auch gegen sie aufgegeben werden kann. Mit der Verjüngungs- theorie dagegen verträgt sich diese Tatsache so wenig, als immerwährende Parthenogenesis, weil nach ihr Mischung verschiedener Individuen Con- ditio sine qua non für die Fortdauer des Lebens einer Art ist. Es wäre mir unmöglich, Ihnen alle die verschiedenen Abirrungen der Natur vom reinen Gonochorismus vollständig aufzuzählen, aber ich will wenigstens versuchen, Ihnen einen Überblick über dieselben zu geben und die Haupterscheinungen dieser verschiedenen Modalitäten der „geschlechtlichen Fortpflanzung“ unserem (Gredankenkreis einzuordnen. Ich muß dabei Pflanzen und Tiere berücksichtigen, doch lasse ich (die Tiere als das mir vertrautere (rebiet vorausgehen. Wo also finden wir im Tierreich, daß die Natur von dem Gonochorismus, der Trennung der Geschlechter, abgegangen ist, und aus welchen Gründen mußte sie es tun? und weiter, wie hilft sie sich, um diesen Verzicht auf die einfachste Sicherung steter Wechselkreuzung der Individuen wieder gut zu machen? Uberblieken wir das Tierreich in bezug auf diese Verhältnisse, so finden wir Zwittertum hauptsächlich bei solchen Arten, welche im Zustand der Reife ihre freie Ortsbewegung verloren haben und fest- gewachsen sind, wie die Austern, die Rankenfüßer unter den Krebstieren, die Mooskorallen und (die auf Steinen am Boden des Meeres festgewachsenen Seescheiden (Ascidien). Für solche Arten muß es oft vorteilhaft gewesen sein, wenn jedes Individuum als Mann und als Weib funktionieren konnte, besonders dann, wenn es zur Selbst- befruchtung fähig war, weil dann auch einsam oder in geringer Zahl beisammen sitzende Tiere nicht verloren zu gehen brauchten für die Erhaltung der Art. Der Artbestand wurde dadurch besser gesichert. als durch Trennung der Geschlechter, bei der es ja häufig hätte vor- kommen müssen, daß die zufällig benachbart angewachsenen Tiere des- selben Geschlechtes gewesen, folglich unfruchtbar geblieben wären. Nun befruchteten allerdings viele dieser Arten sich nicht selbst, sondern gegenseitig, aber auch dies bringt einen großen Vorteil mit sich, weil bei festsitzenden Tieren der Samen doppelt so viele Individuen be- fruchten wird, wenn jedes von ihnen Eier in sich enthält, als wenn die Hälfte derselben aus Männchen bestünde. Es ist also gewissermaßen eine Ökonomie des Samens, aber zugleich auch der Eier, welche das Zwittertum hier bewirkt: beide kostbaren Produkte sollen so wenig als möglich vergeudet werden. Deshalb finden wir auch nicht allein fest- gewachsene, sondern auch bloß schwerfällige, langsam bewegliche Tiere mit weiblichen und männlichen Fortpflanzungsorganen ausgerüstet, wie z. B. alle unsere Landschneeken. Sie begatten sich gegenseitig: wenn zwei sich begegnen, so begegnen sich immer Mann und Weıh, und es wird trotz ihrer langsamen Bewegung kaum vorkommen, dab eine Schnecke nicht zur Fortpflanzung gelangt, weil sie keinen Genossen gefunden hätte. Ahnlich verhält es sich bei den Regenwürmern. die ebenfalls nicht geneigt sind, weite Reisen nach der Suche des anderen I)» Inzucht, Parthenogenese, asexuelle Vermehrung und ihre Folgen. (reschlechtes zu machen: auch sie und die Blutegel funktionieren gleich- zeitig als Mann und Weib, während ihre nächsten Verwandten, die Borstenwürmer des Meeres, getrennten Geschlechtes sind entsprechend ihrer ungleich freieren Bewegungsfähigkeit im Wasser. In derartigen Fällen ist Selbstbefruchtung öfters ganz aus- seschlossen, sie ist physisch nieht möglich, und das Zwittertum sichert hier die Kreuzbefruchtung ebenso gut, als ob die Geschlechter getrennt wären, ähnlich wie bei vielen Zwitterblumen — wie wir früher sahen — der Pollen so beschaffen und so in der Blume angebracht ist, dab er nicht von selbst auf die Narbe gelangen kann. Bei der Auster z. B. ist das Tier in seiner Jugend männlich, entleert den aus einer unge- heuren Masse kleiner Spermatozoen bestehenden Samen ins Wasser und befruchtet dadurch die älteren, nur noch als Weibchen funktionierenden Individuen, die mit ihm auf derselben Austerbank angewachsen sind, um dann in einem späteren Stadium der Entwicklung nun selbst weib- lich zu werden, und nur noch Eier hervorzubringen. Man hat diese Einrichtung, von der ich Ihnen gleich noch ein Beispiel anführen werde, als zeitliches Zwittertum bezeichnet. Hier ist nicht nur Selbstbefruch- tung, sondern auch nahe Inzucht ausgeschlossen, weil immer eine jüngere, einmalig als Männchen funktionierende (reneration sich mit einer älteren weiblich gewordenen vermischt. Anders bei Parasiten, wenn sie vereinzelt im Innern eines Wohntieres leben: für sie war es unumgänglich notwendig, daß sie nicht nur beiderlei Keimzellen hervorbringen, sondern auch dieselben zur Be- fruchtung vereinigen können, und so besitzen sie denn auch das Ver- mögen der Selbstbefruchtung. So kommt in der Harnblase des Frosches ein Plattwurm vor, Polystomum integerrimum, welcher zwar besondere Organe zu wechselseitiger Befruchtung besitzt, aber welcher auch zur Selbstbefruchtung fähig ist für den häufig vorkommenden Fall, daß das Tier an seinem Wohnort ohne Genossen bleibt. Aber diese Selbstbe- fruchtung wird immer wieder von Kreuzbefruchtung unterbrochen, denn nicht selten finden sich zwei, drei, ja vier solche Parasiten in eines Frosches Harnblase beisammen. Auch bei den Bandwürmern ist eine Kreuzbefruchtung nicht ausgeschlossen, da nicht selten zwei oder mehrere solche Tiere zugleich den Darm eines Wirtes bewohnen. Aber auch für den Fall des Allein- seins wird wenigstens doch verhindert, daß die einzelnen Glieder, d.h. (Geschlechtsindividuen des Bandwurms, sich selbst befruchten, und zwar durch denselben Kunstgriff der Natur — bildlich gesprochen — den wir schon bei der Auster kennen gelernt haben, dadurch nämlich, dab jedes Glied zuerst die männlichen Geschlechtsorgane zur Reife bringt und dann erst die weiblichen. Auch bei gewissen schmarotzenden Asseln der Gattung Anilocra und verwandter Formen wird nahe Inzucht (durch dieses Mittel zeitlich verteilten Zwittertums verhütet. In noch anderer Weise geschieht dies bei solchen Krebstieren, welche im reifen Zustand festgewachsen sind, bei den Cirrhipedien oder Rankenfüßern. Diese als „Meereseicheln“ (Balanus) und „Enten- muscheln“ bekannten Tiere sind teils auf Steinen und Felsen, teils auch auf beweglicher Unterlage, auf Schiffskielen, schwimmenden Holz-, Kork- und Rohrstücken, auch auf Seeschildkröten und Walfischen festge- wachsen, und obwohl sie meist in größerer Anzahl, oft sogar in Menge dieht bei einander sitzen, vermögen sie sich doch wohl nur ausnahms- weise gegenseitige zu befruchten. und sind daher wesentlich auf Selbst- Pi Folgen der Partlıenogenese. 203 befruchtung angewiesen. Nun hat aber CH. Darwın schon vor langer Zeit entdeckt, daß viele von ihnen trotz ihrem Zwittertum dennoch auch Männchen haben, kleine, zwerghafte, sehr bewegliche. und nur auf ein ganz kurzes Leben berechnete Wesen, die neben zwittrigen Tieren zu- erst ganz überflüssig erschienen, und die man deshalb lange als rudi- mentäre Männchen, gewissermaßen die letzten Überreste einer ver- gangenen, getrennt geschlechtlichen Vorstufe der heutigen Cirrhipedien auffaßte. Heute müssen wir ihnen offenbar eine weit tiefere Bedeutung beilegen. denn diese sog. „Primordialmännchen* obwohl höchst ver- gängliche, mund- und darmlose Wesen ermöglichen doch allein die Kreuzbefruchtung der Art. Welches Gewicht die Natur auf ihre Bei- behaltung legt, zeigen besonders die durch Fritz MÜLLER und durch YvES DELAGE genau studierten schmarotzenden Cirrhipedien, jene sackförmigen, durch den Parasitismus gänzlich entstellten Rhizoce- phalen oder Wurzelkrebse, deren ausgebildetete Tiere zwittrig sind und teils in, teils an Krabben und Einsiedlerkrebsen leben (Fig. 112, Fig. 112 (wiederholt). Entwicklung des Schinarotzerkrebses Saceulina careini nach R. Herrwis. ANaupliusstadium, Az Auge, /, 7/7, 7// die drei Gliedmaßenpaare. — 2 Cyprisstadium, YZ7—/X die Schwimmfüße. — € Reifes Tier (Sacc), ein- gesenkt in seinen Wirt, die Krabbe Carcinus maenas mit seinem die Eingeweide umspinnenden Geflecht von feinen Wurzelausläufern (zw); s Stiel, sacce Leib des Schmarotzers, oe Öffnung seiner Bruthöhle, 452 Abdomen der Krabbe. C, sacc). Diese befruchten sich zwar auch selbst, sind aber in ihrer Jugend noch getrennten (eschlechtes, und die Weibchen sind so ein- gerichtet, daß sie gerade zu der Zeit zum ersten Mal Eier ablegen, wenn «die Männchen des folgenden Jahrgangs auftreten. So wird also jede erste Eiablage der Weibchen von jenen frei schwimmenden, winzigen. „Primordialmännchen“* befruchtet, dann aber bekommen die Weibehen selbst einen Hoden und dann befruchten sie sich nur noch selbst: die Männchen aber sterben nach der Begattung rasch ab, um erst im folgenden Jahr von neuem wieder in einer (Generation aufzutreten. Sie sind also nichts weniger als bloße historische Reminiszenzen, Denk- steine der Vorgeschichte der heutigen Arten, sondern sie vermitteln eine regelmäßige Kreuzbefruchtung der Arten und dadurch also eine stete Beimischung neuer Ide zum Keimplasma. Es ist hier nieht der Ort, um auf die wundersame Lebensgeschichte «dieser Schmarotzer im genaueren einzugehen; ich kann nur sagen, daß, wenn man diese Ge- schichte kennt und sich klar macht, mit welchen Schwierigkeiten hier 204 Inzucht, Parthenogenese, asexuelle Vermehrung und ihre Folgen. die Beibehaltung der die Kreuzung vermittelnden „Primordialmännchen* verbunden sein mubte, man nicht zweifeln wird, daß Kreuzung ein un- entbehrlicher Teil der Amphimixis ist, die ohne ihr mindestens zeit- weises Dazwischentreten bedeutungslos würde. Das lehren, so scheint mir, gerade diese zahlreichen Fälle einer, man möchte sagen. zwangs- weisen Beibehaltung besonderer ephemerer Männchen bei zwittrigen, sich selbst befruchtenden Tieren: das folgt aber auch aus der Theorie, denn fortgesetzte Selbstbefruchtung müßte die Ide alle identisch werden lassen im Keimplasma eines Individuums, und die Ver- mischung zweier Keimplasmen, die beide nur dieselben iden- tischen Ide enthielten, hätte wenigstens nach der Keim- plasmatheorie keinen Sinn mehr. So sehen wir, daß im Tierreich Zwittertum immer auf die eine oder andere Weise mit Wechselkreuzung verbunden auftritt, wenn auch letztere oft nur selten, meist nur periodisch eingreift und dem der Ein- förmigkeit zueilenden Keimplasma wieder neue Ide zuführt. Ganz ana- loge Einrichtungen finden wir nun auch in bezug auf Parthenogenese und es lohnt sich wohl, auch darauf einen Blick zu werfen. Parthenogenese bewirkt eine ganz bedeutende Erhöhung der Fruchtbarkeit der Art, und darin liegt offenbar der Grund ihrer Ein- führung in die Naturerscheinungen. Durch Eintritt von Parthenogenese wird die Menge der von einer bestimmten Tierkolonie produzierten Eier sofort auf das Doppelte erhöht, weil dann jedes Individuum Weibchen ist, und da «die Vermehrung in geometrischer Proportion anwächst. so übertrifft in wenigen (Generationen schon die parthenogenetische Fort- pflanzung die zweigeschlechtliche an Nachkommenzahl um ein Unge- heures. Wir können also verstehen. warum bei Tieren, deren Lebens- bedingungen nur kurze Zeit hindurch günstig sind, dann aber zweifel- haft und gefahrvoll für lange Zeit werden, Parthenogenese eingeführt ist. So steht es bei den „Wasserflöhen“, den Daphniden (siehe Fig. 57 u.D8,p. 183 u. 184), deren Wohnorte, Tümpel, Teiche, Sümpfe, oft im Sommer ganz austrocknen, oder doch im Winter zufrieren. so dab ein Weiterleben ihrer Kolonien vollständig oder doch nahezu vollständig unmöglich wird, und die Erhaltung der Art nur durch die Hervor- bringung hartschaliger Dauereier gesichert werden konnte, die zu Boden sinken und im Schlamm eintrocknen, einfrieren oder auch nur in Schlaf verharren. Sobald dann von neuem günstige Bedingungen eintreten, schlüpfen aus den Dauereiern junge Tiere, welche alle Weibchen sind und sich durch Parthenogenese fortpflanzen, so dab nach wenigen Tagen schon zahlreiche Nachkommen umherwimmeln, die auch ihrerseits alle wieder Weibchen sind und sich ebenso fortpflanzen. So geht es bei | vielen Daphniden eine Anzahl von Generationen hindurch weiter, und es entsteht so eine ganz ungeheure Anzahl von Tieren, die einen Sumpf z. B. so dieht erfüllen können, daß man mit wenigen Zügen des feinen Netzes einen förmlichen Tierbrei herauszieht, und daß in unseren Teichen und Seen diese kleinen Kruster die Hauptnahrung zahlreicher Fische bilden können. Aber trotz enormer Vertilgung durch Feinde bleiben doch am Ende (der günstigen Jahreszeit immer noch Massen von ihnen übrig und diese nun bringen die Dauereier hervor, und zwar nach vorhergegangener Befruchtung, denn kurz zuvor sind auch Männ- chen unter den Nachkommen der bisher rein parthenogenetischen Weibchen aufgetreten. Obgleich nun jedes Weibehen nur wenige. solche, reich mit Dotter ausgestattete und befruchtungsbedürftige Dauereier hervorbringt, Folgen der Parthenogenese. Mn so ist die Gesamtzahl derselben in jeder Kolonie doch eine sehr große, weil eben die Zahl der Individuen eine sehr große ist: und das muß sie sein, weil diese Eier zwar wohl gegen Kälte und Austrocknen ge- feit sind. nur unvollkommen aber gegen die zahllosen kleinen Feinde, welche ihnen nachstellen. Natürlich ist die Individuenzahl, welche eine Kolorie bildet, bei verschiedenen Arten von Daphniden immerhin recht verschieden, und so verhält es sich auch mit der Zahl der rein parthenogenetischen Generationen. welche der zweigeschlechtlichen vorhergehen. Ich habe früher einmal im einzelnen nachgewiesen, daß diese letztere in genauer Abhängiekeit steht von der durchschnittlichen Dauer der günstigen Lebensbedingungen, so daß also z. B. eine Art, die in groben See- becken lebt, viele rein parthenogenetische (renerationen der zweige- schlechtlichen vorherschickt, welch letztere erst gegen den Herbst hin erscheint, während Arten, die in leicht austrocknenden Sümpfen leben, nur wenige rein parthenogenetische Generationen haben, und gar die eigentlichen Pfützenbewohner schon in der zweiten (Greneration neben parthenogenetischen Weibchen auch Männchen und Geschlechtsweibehen entstehen lassen. Wir begegnen also bei den Daphniden einem von Naturzüchtung normierten und geregelten Wechsel von rein parthenogenetischen und von zweigeschlechtlichen Generationen, durch welchen es bewirkt wird, daß die Einförmigkeit des Keimplasmas, welche die Folge reiner Par- thenogenese sein müßte, nach einer kürzeren oder längeren Reihe von Generationen wieder aufgehoben wird durch eintretende Amphimixis. Daß die Zahl der parthenogenetischen Generationen eine so wechselnde, wenn auch für jede Art normierte, sein kann, deutet wieder von Neuem darauf hin, daß es sich bei der Amphimixis nicht um eine ab- solute Bedingung der Lebenserhaltung handeln kann, nicht um eine unentbehrliche Verjüngung, die der Erschöpfung einer Lebens- kraft, sei sie nun transszendental oder anderswie gemeint, entgegen- wirken soll, sondern um einen bedeutungsvollen Vorteil, der die Art auf ihrer Höhe zu erhalten geeignet ist, und dessen Wirkung eintritt, mag er der Art regelmäßig, oder häufig. oder auch nur seltener zuteil werden. Man hat diese Art des (senerationswechsels, also den Wechsel eingeschlechtlicher (weiblicher) Generationen mit zweigeschlechtlichen als Heterogonie oder Anderszeugung benannt. Gerade bei den Daphniden ist freilich ein Formunterschied der parthenogenetischen und der zwei- geschlechtlichen Generationen eigentlich nicht vorhanden, denn dieselben Weibchen, welche befruchtungsbedürftige Dauereier hervorbringen, können auch parthenogenetische Eier produzieren, obwohl beide sehr verschieden sind, wie wir früher sahen: die Verschiedenheit der (senerationen liegt also hier nicht im Bau derselben, sondern in ihrer Anlage zur parthe- nogenetischen oder zur amphigonen Fortpflanzung, zugleich auch im Fehlen oder Vorhandensein von männlichen Individuen. Es gibt aber Fälle von Heterogonie, bei denen die verschiedenen (renerationen auch dem Bau nach voneinander abweichen. Einen der merkwürdigsten bieten uns die Gallwespen. Bei vielen dieser kleinen, die (Gallen an den Blättern, Blüten, Knospen und Wurzeln besonders der Eichen hervorrufenden Wespchen treten jährlich zwei (Generationen auf, von denen die eine in den Sommer, die andere in den ersten Frühling oder auch schon mitten in den Winter fällt. Die letztere besteht dann 206 Inzucht, Parthenogenese, asexuelle Vermehrung und ihre Folgen. nur aus Weibchen und pflanzt sich durch Parthenogenese fort. Wir können dies vom (Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit aus auch gut ver- stehen, da einmal die im Winter oder im rauhen Vorfrühling aus ihren Gallen ausschlüpfenden Wespen vielen Gefahren ausgesetzt sind, also stark dezimiert werden, ehe sie glücklich dazu gelangen, ihre Eier an die richtige Stelle der Pflanze abzulegen, und da ferner durch das Sich- aufsuchen der Geschlechter viel von der kostbaren Zeit verloren gehen würde, häufig gewiß ganz resultatlos.. Ohne Nahrung zu sich zu nehmen und oft unterbrochen von eintretender Kälte oder von Schneefall sucht z. B. das flügellose, einer dieken Ameise nicht unähnliche Weibchen von Biorhiza renum (Fig. 124, A) ein benachbartes Eichengebüsch zu er- reichen, kriecht an ihm hinauf, um nun seine Eier in die Tiefe der Winterknospen abzulegen, deren harte, schützende Deckblätter es mit seinem kurzen dieken und scharfen Legestachel mühsam durchbohrt. Stundenlang arbeitet es dann, nachdem es den Stachel glücklich bis in den Kern der Knospe eingesenkt hat, um in das zarte Gewebe eine Menge feiner Kanäle einzubohren, einen dicht neben dem anderen, in deren jeden zuletzt ein Ei abgesetzt wird. Das ganze umständliche (reschäft erfordert nach Ap- LER eine ununterbrochene angestrengte Tätigkeit von über drei Tagen, auch wenn im ganzen nur zwei Knos- pen mit Eiern belegt wer- den. Müßte nun vor jeder Eiablage auch noch das Zusammentreffen miteinem Männchen abgewartet wer- den, so würden noch zahl- reichere Weibchen der Un- Fig. 124. (senerationswechsel einer Gallwespe. gunst der Witterung und 14 Wintergeneration, Biorhiza renum, 3 und c Sonstigen Gefahren zum Sommergeneration Trigonaspis erustalis, 3 Männ- Opfer fallen, während zu- chen, € Weibchen; nach ADLER. gleich die Zahl der aus- schlüpfenden Weibchen von vornherein nur halb so groß sein könnte. Es leuchtet ein, dab hier die Parthenogenese von großem Vorteil war. Im Sommer sind die klimatischen Verhältnisse für die Gallwespen ungleich günstiger, und so finden wir denn die Sommergeneration zwei- geschlechtlich, merkwürdigerweise aber meist so verschieden von der Wintergeneration, daß die Zusammengehörigkeit beider Formen lange Zeit nicht erkannt wurde. Die Fühler, die Beine, besonders auch der Legestachel, dazu die ganze Gestalt des Tiers, seine Größe, die Aus- ddehnung «des Hinterleibs, der Bau des Thorax und manches andere sind so verschieden, daß die Systematiker mit vollem Recht — solange man eben nur die Form als Maßstab der Zusammengehörigkeit nahm — Winter- und Sommerform in zwei ganz verschiedenen Gattungen stellten. Erst als durch Dr. H. ADLER die eine Form aus der anderen gezüchtet worden war, mußte man sich überzeugen, daß so starke Abweichungen im Bau dennoch zu einem Generationskreis gehören. Wir sehen aber auch hier ganz klar, warum die beiden Gene- rationen so verschieden werden mußten; einfach deshalb, weil die Winter- generation sich anderen Lebensbedingungen anpassen mußte, als die Fortpflanzung der Gallwespen. >07 Sommergeneration, vor allem der Ablage ihrer Eier in Pflanzengewebe von anderer Beschaffenheit. In unserem Beispiel sticht die Winterform Biorhiza renum die Endknospen der Eiche an und setzt in jede von ihnen eine große Zahl, bis zu 300 Eier ab, so daß sich daraus eine mächtige Galle entwickelt, in der eine große Zahl von Larven Nahrung finden und zur Puppe heranwachsen. Aus diesen etwa umgekehrt zwiebelförmigen schwammigen Gallen von Walnußgröbe (Fig. 125 A) schlüpfen dann im Juli die schlanken zartgebauten Männchen und Weib- chen der als Trigonaspis cerustalis längst bekannten Gallwespe aus, Männchen sowohl als Weibchen geflügelt (Fig. 125 3 und €) und rasch in der Luft umherschwärmend. Die Geschlechter vereinigen sich dann. und die Weibchen legen ihre Eier einzeln in die Zellschichten der Unterseite der Eichenblätter, auf welchen infolgedessen kleine knollige, nierenförmige Gallen (Fig. 125 2) entstehen, die im Herbst zu Boden fallen, und aus welchen dann mitten im Winter jene plumpen, tlügel- losen Weibchen ausschlüpfen, die wir als Biorhiza renum schon kennen gelernt haben. Die eine Generation sticht also in das Parenchym der zarten Blätter und hat nur eine kurze Schicht von Pflanzengewebe zu durchbohren, die andere muß tief in die harten Winter- knospen hineinbohren. um ihre Eier an den richtigen Ort zubringen, und dementsprechen(d finden wir bei den beiderlei Weibchen den Legestachel verschieden in Länge, Dicke und sonstiger Beschaffenheit, und ebenso den komplizierten Apparat, durch welchen der Stachel bewegt wird. Diese Verände- rungen aber hängen dann wieder zusammen mit der Gestalt des Hinterleibs, in dem Fig. 125. Die zu den beiden Formen der Art gehörigen Gallen: 4 Die von Biorhiza renum erzeugten vielkammerigen Gallen; 3 Die von Trigo- naspis erustalis, der zweigeschlechtlichen Form er- zeugten Gallen auf dem Eichenblatt; nach ADLER. der Stachelapparat liegt, und mit der Stärke und Form der Beine, die kürzer und kräftiger sein müssen, wenn in hartes Pflanzengewebe oder in größere Tiefe hineingebohrt werden soll. Wie zahlreiche sekundäre Veränderungen aber eine Umgestaltung (des Legebohrers nach sich ziehen muß, kann man sich am besten klar machen, wenn man den Stachel- apparat der beiden Generationen einer solchen Art vergleicht. Fig. 126 zeigt denselben von einer anderen Gallwespe, deren Winter- form, Neuroterus laeviusculus, ebenfalls die harten Winterknospen der Eiche ansticht, während die Sommerform Spathegaster albipes in die zarten jungen Blätter der Eichen ihre Eier legt. Der Stachel der ersteren ist dünn und lang, der der letzteren kurz und stark (Fig. 126 Au. 2), und entsprechend der Tiefe des Pflanzengewebes, in welches das Ei hineingesenkt, gewissermaßen hineingenäht werden muß, ist auch das Ei der Sommergeneration von dem der Wintergeneration durch einen weit kürzeren Eistiel ausgezeichnet (Fig. 126 v7). So bieten also diese kleinen Wespen ein schönes Beispiel dafür, wie eine Art selbst starken Veränderungen in den Lebensbedingungen ihrer Generationen durch Umgestaltungen ihres Körpers nachfolgen kann, und wir verstehen, DOR Inzucht, Parthenogenese, asexuelle Vermehrung und ihre Folgen. wie es durch Selektionsprozesse möglich wurde, daß die periodisch wech- selnden (Grenerationen des Jahres einen völlig abweichenden Bau be- kamen. Das Beispiel mag uns zugleich veranschaulichen, wie mannig- faltige harmonische Zusammenpassungen solche Umwandlungen stets erfordern, wie sehr also die stete Neukombinierung der Ide des Keim- plasmas durch Amphimixis notwendig sein muß. Wir verstehen, daß zweigeschlechtliche Fortpflanzung nur in einer Generation aufgegeben wurde, und zwar in derjenigen, in welcher Parthogenese ein bedeutender Vorteil war. Aber solche Umwandlungen müssen auch ungemein lang- sam erfolgt sein, weil sie eine Folge klimatischer Verschiebungen waren, und weil solche sich eben nur langsam vollziehen. Wir kommen so wieder zu dem Schluß, zu dem uns schon die rudimentären Organe des Menschen geleitet haben, daß zahlreiche Arten, die uns stillzustehen scheinen, trotzdem fortwährend an ihrer Verbesserung arbeiten. Dazu aber bedürfen sie der Amphimixis; folglich sind diejenigen Nach- kommen, welche selbst amphimiktisch entstanden, und deren Vorfahren ebenfalls so entstanden sind, im I u Vorteil gegenüber parthenoge- f = = netisch entstandenen, wenigstens im allgemeinen: im speziellen Fall aber kann es sich anders stellen, sobald nämlich der Vorteil, den Parthenogenese für die Erhaltung der Art hat. den Vorteil, den sie für die Umbildungsfähig- keit der Art bringt, über- wiegt. Fig. 126. Legebohrer und Ei der beiden Generationen ein und derselben Art von Gallwespe: 4 von der Winterform Neuroterus laevius- culus, 3 von der Sommergeneration Spathegaster albipes; s? Legestachel, e’ Ei; bei gleicher Vergrößerung ge- zeichnet; nach ADLER. Nach allem, was wir gerade im Falle der Gallwespen sehen, bringt nun der Ausfall von Amphimixis in jeder anderen (Greneration keinen Nachteil in bezug auf die Umbildungsfähigkeit der Art. Ob ein solcher eintreten würde, wenn die Zahl der parthenogenetischen Generationen des Lebenszyklus eine größere würde, können wir nur vermuten, da kein Fall vorliegt, der sich dafür oder dagegen mit Sicherheit verwerten ließe. Die Heterogonie der Pflanzenläuse, der Aphiden und Ver- wandten ließe sich etwa dagegen anführen, indem hier in der Tat eine oft lange Reihe parthenogenetischer (Greenerationen mit einer einzigen zweigeschlechtlichen abwechseln, aber der Unterschied im Bau ist hier nicht so bedeutend, wenn auch recht wohl vorhanden, und man wird außerdem wohl annehmen können, dab die Anpassung an die Partheno- genese schon im Beginn der Heterogonie erfolgt ist, als dieselbe noch aus einem Zyklus von nur zwei Generationen bestand, und daß dann erst sich weitere ‚Jungferngenerationen einschoben. —— Fortpflanzung der Reblaus. 209 Gestützt wird diese Annahme dadurch, daß bei einigen Arten unserer einheimischen Muschelkrebschen, bei Cypris vidua und bei Can- dona candens umgekehrt wie bei den Wasserflöhen mehrere zwei- geschlechtliche Generationen mit nur einer parthenogenetischen ab- wechseln. In diesem Falle aber ist wieder gar kein Unterschied des Baues zwischen beiden Generationen vorhanden, die parthenogenetische unterscheidet sich von der zweigeschlechtlichen nur durch das Fehlen von Männchen. Lehrreich ist der Generationswechsel der Pflanzenläuse vor allem dadurch, daß er mit besonderem Nachdruck darauf hinweist, wie sehr es der Natur um Beibehaltung der Amphimixis zu tun ist, und wie wenig dabei auf die Vermehrung ankommt. Vor allem tritt uns das bei den Rindenläusen entgegen, z. B. bei dem berüch- tigsten Vertreter derselben der Phylloxera vastatrix, der Reblaus. Fig. 127. Lebenskreis der Reblaus, Phylloxera vastatrix nach LEUCKART und NiTscHE und nach RıiTTER und RÜüBSAMEN. 4 das befruchtete Ei; Z die daraus hervorgehende ungeflügelte parthenogenetisch sich fortpflanzende Reblaus; C ihre Eier, aus denen zunächst, wie der obere Pfeil andeutet, wieder ebensolche unge- flügelte, parthenogenetische Weibehen (2) hervorgehen; diese erzeugen weibliche und männliche Eier (Z' und 7°), aus welchen die Geschlechtsgeneration sich entwickelt: 7‘ das Weibchen, 7? das Männchen; ersteres legt das Ei 4. Wie bei allen Pflanzenläusen beruht hier der Vorteil, um derent- willen die geschlechtliche Fortpflanzung aufgegeben wurde, darin, daß diesen Schmarotzern an der Weinrebe ein gewissermaßen unbegrenzter Nahrungsvorrat zur Verfügung steht, der während der guten Jahreszeit ausgenutzt werden kann, und welcher dadurch, daß jedes Tier weiblich ist und Eier hervorbringt, eine ungeheure Vermehrung der Individuen- zahl zur Folge hat und so den Bestand der Art sichert. Diese In- sekten kommen im Frühjahr aus kleinen überwinterten und befruchteten Eiern (Fig. 127 A) und wachsen rasch zu flügellosen Weibehen (2) heran, welche, den Saft der Rebe saugend, sich durch Hervorbrinzung ganzer Haufen kleiner weißer Eier (C') vermehren, die sich ohne Be- fruchtung wieder zu eben solchen ungeflügelten Weibehen entwickeln. Weismann, Doszondenztheorie. II. 2, Aufl. 14 910 Inzucht, Parthenogenese, asexuelle Vermehrung und ihre Folgen. Mehrere solche Weibchengenerationen folgen aufeinander, dann aber, gewöhnlich vom August an, treten auch anders gestaltete, geflügelte Weibchen (Z)) auf, die von Stock zu Stock fliegend die Verbreitung der Art bewirken. Aber auch diese legen noch parthenogenetische Eier (#1 u. £2), und erst aus diesen letzten Eiern kommt im Spätherbst die einzige zweigeschlechtliche Generation, Männchen und Weibchen (1 u. 7 2), beide winzig klein, flügellos und ohne Stech- rüssel, also ohne die Möglichkeit sich zu ernähren. Sie begatten sich, und das Weibchen legt ein einziges Ei (A) unter die abblätternde tinde des Rebstocks, das überwintert, und aus welchem erst im nächsten April oder Mai wieder ein parthenogenetisches Weibchen ausschlüpft. Deutlicher als hier kann uns nicht gesagt werden, daß die Be- deutung der Amphimixis eine andere ist als die der Fort- pflanzung und Vermehrung, denn hier wird die Zahl der Indivi- duen durch sie nicht nur nicht vermehrt, sondern sogar erheblich ver- mindert, nämlich auf die Hälfte herabgesetzt. Kein anderer Vorteil für die Art wird durch ihre Beibehaltung hier erreicht, als der der Ver- mischung je zweier Keimplasmen. Ähnliches kommt übrigens auch bei den Pflanzen mit Gene- rationswechsel vor, so bei den Farnen, deren Geschlechtsgeneration, das sog. Prothallium oder der „Vorkeim“ auch meistens nichts zur Ver- mehrung der Pflanze beiträgt, da nur eine einzige Eizelle von ihm zur h Entwicklung gebracht wird, und auch bei den Moosen ist es ähnlich. In beiden Fällen liegt die Vermehrung lediglich in der asexuellen \ (Generation, welche in der Gestalt der sog. „Moosfrucht* oder des eigent- lichen Farnkrautes eine Unzahl von Sporen hervorbringt, abgesehen von der Vermehrung durch Ausläufer. Fassen wir zusammen, so haben wir gesehen, daß bei zwittrigen Tieren Selbstbefruchtung zwar vorkommt, wo sonst ein Aussterben der Art eintreten mübte, dab dies aber, soweit wir wissen, niemals die } einzige und ausschließliche Art der Befruchtung”) bleibt, daß vielmehr zwittrigen Arten auf verschiedene Weise immer doch die Möglichkeit einer Vermischung der Individuen gewährleistet wird, sei es durch Ein- | schaltung , ‚primordialer“ Männchen, sei es durch zufälligen oder perio- dischen Wechsel von Selbst- und Wechselbefruchtung. Reine, durch viele ungezählte Generationen fortdauernde Parthenogenese scheint zwar vorzukommen, aber in den meisten Fällen wechseln eingeschlechtliche ! ! (senerationen mit zweigeschlechtlichen, so daß also auch hier eine Erstarrung des Keimplasmas zu völliger Einförmigkeit der Ide ver mieden wird. Es bleibt uns jetzt noch übrig, einen Blick auch auf die höheren Pflanzen zu werfen in bezug auf” die W ahrung der Mannigfaltig- i keit ihres Keimplasmas durch Kreuzung. Aus einer früheren Vorlesung wissen Sie bereits, daß die meisten Blumen Zwitterblüten sind, daß Be aber trotzdem nicht sich selbst befruchten, sondern auf Kreuzung eingerichtet sind, indem der Pollen der einen Blume durch Insekten auf die Narbe einer anderen Blume übertragen wird, während der eigene Pollen nicht auf sie gelangen { ; 1 *) Die durch MAupAs bekannt gewordenen Fälle von dauernder und scheinbar‘ f ausschließlicher Selbstbefruchtung bei zwittrigen Rhabditiden. (Rundwürmern) sind doch wohl noch viel zu wenig durchforscht, um sie in theoretischem Sinn verwerten & zu können. Vergl. Arch. Zoo0l. exper. 3. ser Tom. 8, 1900. Selbstbefruchtung bei Pflanzen. >11 kann, sei es, daß er zu früh oder zu spät reift, sei es, daß er trotz unmittelbarer Nähe der Narbe doch so gestellt ist, daß er nicht auf sie gelangen kann. Ich zeigte Ihnen, nach den grundlegenden Forschungen SPRENGELS, CH. DaRWwIns, HERMANN MÜLLERS und neuerer Nachfolger des letzteren, daß die Blumen geradezu Produkte des Insektenbesuchs zu nennen sind, indem alle Nebeneinrichtungen an ihnen, große farbige Blütenhüllen, Duft, Nektar, ja sogar kleine Einzelheiten der Färbung und Zeichnung (Saftmale), sowie ihre Gestaltung im einzelnen, wie An- flugflächen, Kronenröhren u.s. w. nur dadurch in ihrer Existenz verständ- lich werden, daß wir sie auf Naturzüchtung beziehen. Wir nehmen an, jede dieser Einrichtungen habe der betreffenden Pflanzenart einen Vor- teil gesichert und sei dadurch in ihren ersten Anfängen als leichte Keimesvariation akzeptiert und nun durch Zusammenwirken von Ger- minal- und Personalselektion allmählich zu ihrer vollen Ausprägung emporgeleitet worden. So werden wir wenigstens jetzt, nachdem wir den Faktor der (Germinalselektion kennen gelernt haben, uns ausdrücken. Der Vorteil, den jede solche Verbesserung in den Anlockungsmitteln der Blume haben mußte, liegt ja auf der Hand, sobald es feststeht, daß Kreuzbefruchtung vorteilhafter für die Art ist, als Selbstbefruchtung. Wir haben auch darüber bereits gesprochen; wir sahen, daß Ver- suche, welche CH. Darwın anstellte, eine Überlegenheit der durch Kreuzbefruchtung entstandenen Sämlinge über die durch Selbstbefruch- tung entstandenen ergaben, ja daß die Mutterpflanzen selbst in vielen Fällen erheblich weniger Samen gaben bei Selbst- als bei Kreuzbefruch- tung. Damit war die Erklärung gefunden für die schon von SPRENGEL beobachtete Kreuzung der Blumen durch Insekten; wir verstehen, wieso die Blumen durch Selektionsprozesse so eingerichtet werden mußten, daß sie sich selbst nicht befruchten können, dagegen Insekten anlockten und dieselben gewissermaßen in die Notlage versetzen, sie mit fremdem Pollen zu bestäuben. Wir verstehen auch weiter, wie in vielen Blumen dennoch auch Selbstbefruchtung möglich wird, für den Fall, daß die ' Kreuzung durch Insekten einmal ausbleibt, indem hier nach gewisser | Zeit des Harrens eine Beugung der Staubgefäbe oder des Griffels ein- tritt, die eine nachträgliche Bestäubung der Narbe mit eigenem Pollen herbeiführt; Bildung weniger Samen ist eben immer noch besser als gänzliche Unfruchtbarkeit. Auch die Bildung besonderer unscheinbarer und geschlossener, ausschließlich auf Selbstbefruchtung berechneter Blüten neben den offenen, wie sie als kleistogame Blüten beim Veilchen (Viola) und dem kleinen Bienensaug (Lamium amplexicaule) schon lange bekannt sind, lassen sich in ihrer phyletischen Entstehung begreifen, sobald es feststeht, daß Kreuzbefruchtung vorteilhafter ist als Selbstbefruchtung. Dieser Fundamentalsatz der ganzen Blumenlehre ist aber — so scheint es ‚heute — ins Schwanken gekommen. Nicht bloß zeigen die zuletzt genannten kleistogamen Blüten eine große Fruchtbarkeit, jeden- falls keine geringere als die auf Kreuzung berechneten offenen Blumen derselben Arten, sondern es gibt auch eine kleine Anzahl von Pflanzen, welche nur durch Selbstbefruchtung Samen hervorbringen. So ist bei Myrmecodia jede Kreuzung absolut verhindert dadurch, daß die Blumen sich nie öffnen, auch die Ophrys apifera pflanzt sich nach CH. Darwın nur durch Selbstbefruchtung fort und ist dennoch eine durchaus lebenskräftige Pflanze. Solcher Beispiele gibt es noch mehrere und auch gerade unter den Orchideen, deren ganzer Blumenbau doeh 14* >12 Inzucht, Parthenogenese, asexuelle Vermehrung und ihre Folgen. so vollständig auf Insektenkreuzung berechnet ist. Viele von ihnen werden nur selten, und manche gar nicht mehr von Insekten besucht, wir wissen nicht warum, und so ist es begreiflich, daß sie, wenn mög- lich sich auf Selbstbefruchtnng eingerichtet haben. Dazu gehörte keine große Veränderung, es genügte, dab die Pollinien, die sonst nur auf eine Berührung, einen Stoß des Insektes hin von ihrem Postament sich lösten, dieses nun auch von selbst taten. Und so geschieht es nach CH. Darwin 2. B. bei Ophrys scolopax, welche sich bei Cannes häufig selbst befruchtet. Doch zur Samenbildung gehört nicht bloß, daß Pollen auf die Narbe gelange, sondern auch, dab dieser seine Schläuche treibe und die Eikammer erreiche, und dies gerade erfolgt bei so vielen Orchideen nicht, sie sind unfruchtbar mit dem eigenen Pollen, Auch verschiedene andere Pflanzen werden von dem eigenen Pollen nicht befruchtet, z. B. der gemeine Lerchensporn, Corydalis cava, und das Wiesenschaumkraut, Cardamine pratensis (HILDEBRAND). Wie sollen wir nun diese sich scheinbar völlig widersprechenden Tatsachen zusammenreimen? Einerseits lassen die zahliosen Einrich- tungen für Kreuzung schließen, dab Kreuzung notwendig oder doch vorteilhaft ist, andererseits finden wir eine kleine Anzahl von Pflanzen, die sich fortgesetzt «durch Selbstbefruchtung fortpflanzen und dabei stark und kräftig bleiben. Und wiederum gibt es eine Menge von Ptlanzen, welche mit dem eigenen Pollen Samen geben, und eine An- zahl anderer, welche völlig steril sind für den eigenen Pollen, gar keine oder wenige Samen mit ihm geben, ja eine sogar, für die der eigene Pollen wie Gift wirkt, wenn er auf die Narbe gelangt. indem die Blume dann abstirbt. Wenn in der Selbstbefruchtung etwas Schädliches liegt (Darwın), so begreifen wir wohl, daß sie vermieden wird, aber wie kann sie in so manchen Fällen dann «doch wieder ohne jeden sichtbaren Schaden anhaltend, und ausschließlich stattfinden ? Mir scheint. dab in diesen der Beobachtung entnommenen Tat- sachen die Resultate zweier ganz verschiedenartiger Vorgänge mitein- ander vermengt sind, und dab Klarheit nur zu gewinnen ist, wenn man sie gesondert untersucht; ich meine die Vorgänge der Befruchtungs- mechanik und diejenigen der Mischung der Keimplasmen. Selbstbefruchtung soll in zahlreichen Fällen weniger Samen und schwächere Sämlinge liefern. Nehmen wir einstweilen einmal dıesen Satz als Grundlage unserer Betrachtung, so scheint es mir, entgegen den bisher geäußerten Ansichten, nicht denkbar, daß beide Wirkungen auf denselben Ursachen beruhen, denn «die geringere Zahl von Samen — kann unmöglich von der Mischung der beiden elterlichen Keimplasmen abhängen, also nicht von dem Vorgang der Amphimixis selbst, da die Wirkung der Mischung erst beim Aufbau des kindlichen Organismus in Betracht kommt. Nun ist ja allerdings der Pflanzensamen schon der Embryo der kindlichen Pflanze, aber man wird es wohl wenig wahr- scheinlich finden, daß dessen Bildung durch allzu nahe Verwandschaft (der beiden Keimzellen gänzlich verhindert werden sollte, und so wird - auch die Zahl der sich bildenden Samen nicht von der Qualität der im Furchungskern zusammenwirkenden Ide abhängen, sondern vermutlich «davon, wie viele der im Fruchtknoten der Befruchtung harrenden Ei- zellen nun auch wirklich von einem Pollenschlauch und dann von einem väterlichen Geschlechtskern erreicht werden: dieses aber wird von den treibenden und anziehenden Kräften einerseits des Pollenkorns, anderer- seits der Narbe und des „Embryosacks“ der Blüte abhängen. Mit & Selbstbefruchtung bei Pflanzen. 213 ID anderen Worten: die Fruchtbarkeit einer Blume mit eigenem Pollen wird davon abhängen. ob und in welchem Grade beide Produkte der Blume auf gegenseitiges Zusammenwirken eingerichtet sind, oder nicht. Es handelt sich hierbei nieht um primäre Reaktionen der Keimplas- men, die so sind, wie sie einmal sind und nieht geändert werden können, sondern um sekundäre Einrichtungen, die so oder auch anders sein können, um Anpassungen. Durch welche Einrichtungen der Pollen einer Blume für sie selbst unwirksam gemacht werden konnte, ist eine Frage, deren Beantwortung ich den Botanikern überlassen muß, jedenfalls ist es möglich gewesen, und daß es auf Anpassung beruht, sehen wir deutlich an den zahlreichen Abstufungen, welche da vorkommen. von der Giftigkeit des eigenen Pollens, durch bloße Sterilität und schwächere Fruchtbarkeit bis zu stärkerer, und schließlich voller Fruchtbarkeit hin. Möglich, daß che- mische Stoffe, Absonderungen der Narbe oder des Pollenkorns, oder der sog. Synergidenzellen dabei in Betracht kommen, oder daß die Gröbe und damit die Triebkraft der Pollenzelle bei Selbststerilität in umge- kehrtem Verhältnis zu «der Länge des Fruchtknotens steht, wie ähn- liches für die Heterostylie von STRASBURGER nachgewiesen ist, jeden- falls war es der Natur möglich. durch kleine Variationen in den Eigenschaften der männlichen und weiblichen Teile der Blüte die Sicherheit in dem Zusamentreffen der beiderlei Keimzellen herabzusetzen bis zur gänzlichen Ausschließung einer Verbindung derselben. Sollte nun also Selbstbefruchtung, weil in ihren späteren Folgen nachteilig, verhütet oder doch erschwert werden, so mußten alle nach dieser Richtung zielende Variationen erhalten und gesteigert werden. In vielen Fällen genügten dazu schon Abänderungen im Bau der Blume; wenn aber, wie z. B. bei Corydalis cava der Blütenstaub nicht wohl verhindert werden konnte, von selbst auf die Narbe zu fallen, so wurde der Pollen für die eigene Blume steril gemacht durch einen Züchtungs- prozeß, in welchem durchschnittlich diejenigen Pflanzen Sieger blieben, welche die meisten kreuzbefruchteten Samen hervorbrachten, und das waren in diesem Falle diejenigen, deren Pollen am schwächsten auf den Reiz der eigenen Narbe reagierte. Daß wirklich die Selbststerilität in allen ihren Graden keine pri- märe Eigenschaft der Art ist, sondern eine Anpassung an die Vorteile der Kreuzbefruchtung, weht falls es noch zweifelhaft erscheinen könnte — vor allem aus der Heterostylie hervor, ich meine aus dem durch Cm. Darwın entdeckten Di- und Trimorphismus einiger Blumen, der sich darin äußert, daß die sonst ganz ähnlichen Blumen, z. B. von Primula, bei einem Teil der Individuen einen langen Griffel aufweisen, bei einem anderen Teil einen kurzen (Fig. 128). Zugleich verhalten sich aber auch die Staubgefäße anders, indem sie bei der kurzgriffligen Form oben sitzen, bei der langgriffligen viel weiter unten. Versuche haben nun ergeben, daß die Bestäubung der Narbe dann den besten Erfolg hat, wenn Pollen von der kurzgriffligen Form auf die Narbe der langgriffligen Form gelangt, oder Pollen der langgriffligen auf die Narbe der’ kurzgrifflieen; es liegt also hier eine Kreuzungsein- richtung vor, eine Anpassung an die Vorteile der Kreuzbefruchtung, und in diesem Falle können wir auch den Grund einsehen, aus welchem der Pollen auf den beiderlei Griffeln ungleich wirkt: die Pollenkörner der kleingrifllichen Form sind nämlich größer, als die der lang- 214 Inzucht, Parthenogenese, asexuelle Vermehrung und ihre Folgen. sriffligen Blumen, und da die Länge des zu treibenden Pollen- schlauchs von der Masse des im Pollenkorn enthaltenen Protroplasmas abhängen wird, so folgt, daß die kleineren Pollenkörner auf der lang- griffligen Narbe einen zu kurzen Schlauch treiben, der den Embryo- sack nicht erreicht. Außerdem sind auch die Narbenpapillen verschieden, wodurch vermutlich dem Eindringen des Pollenkorns der gleichnamigen Form ein Hindernis entgegengestellt wird. Der Selektionsprozeß, durch welchen solche Einrichtungen entstehen, wie sie z. B. bei Primula sich finden, läßt sich leicht ausdenken, sobald man annehmen darf, daß Kreuzbefruchtung für die Nachkommen, d. h. für die Erhaltung der Art vorteilhafter war, als Selbstbefruchtung. Wir sahen früher, daß unausgesetzte Selbstbefruchtung bei den Tieren nicht bekannt ist, daß sie aber bei den Pflanzen nicht einmal so selten vorkommt, und dies bestätigt vor allem den früher schon ge- zogenen Schluß, daß der Grund, aus welchem Amphimixis in die lebende Natur eingeführt ist, nicht in der Notwendigkeit einer Lebenserneuerung, einer „Verjüngung“ gesucht werden darf, er kann nicht eine Not- Fig. 128. Heterostylie nach NorLL. Primula sinensis. Zwei heterostyle Blüten von verschiedenen Stöcken. Z langgrifflige, A kurzgrifflige Form; @ Griffel S Staub- beutel, 7 Pollenkörner, X Narbenpapillen der langgriffligen, 3 und = Pollenkörner und Narbenpapillen der kurzgriffligen Form; 2, X, £, r bei 110facher Vergrößerung. wendigkeit sein, sondern nur ein Vorteil, auf welchen unter Umständen auch verzichtet werden kann. Nun ist ja allerdings fortgesetzte Inzucht in ihrer extremsten Form, der Selbstbefruchtung, noch kein völliges Aufgeben jeder Amphi- mixis, aber, gerade die Anhänger der Verjüngungslehre haben von jeher die ungünstigen Erfolge reiner Inzucht als eine Bestätigung ihrer An nahme betrachtet, nach welcher Amphimixis zur Fortdauer des Leben: der Arten unerläßlich ist, und deshalb ist es von Wert, wenn nachge wiesen werden kann, daß auch fortgesetzte Selbstbefruchtung be Pflanzen wenigstens ohne Schaden !für die Art andauerı kann. Wie aber läßt sich von unserem Standpunkt aus diese Tatsachı verstehen? wie kommt es, daß Kreuzung mit so vielen Mitteln eifri; angestrebt, und dann doch wieder gar manchmal aufgegeben, und stet Selbstbefruchtung zugelassen wird? Darauf kann zunächst geantwortet werden, daß es — soweit wi sehen — nicht innere Gründe sind, welche stete Selbstbefruchtun herbeiführen, also nicht etwa ein Zustand des Keimplasmas, der es un” N \ , Vermeidung der Selbstbefruchtung bei Pflanzen. 915 vorteilhaft oder überflüssig machte, daß die Mannigfaltigkeit der Id- Kombinationen erhalten bliebe, sondern äußere Einflüsse, welche die Pflanze vor die Wahl stellen, entweder keine Samen hervorzubringen. oder solche durch Selbstbefruchtung. Nach dieser Richtung sind die Erfahrungen Darwıns an Orchideen bemerkenswert. Es gibt in dieser vielgestaltigen Pflanzenfamilie zahlreiche Arten, deren Blumen unfruchtbar mit eigenem Pollen sind, obwohl derselbe unter natürlichen Verhältnissen nicht auf die Narbe gelangt, sie also durch Selbststerilität nicht vor Selbstbefruchtung geschützt zu sein brauchten — soviel wir sehen. Diese Blumen sind also auf Kreuzung durch Insekten gewissermaßen doppelt eingerichtet. Nun kommt es aber bei manchen von ihnen, wie bei vielen anderen der heutigen Or- chideen vor, daß der Insektenbesuch nur selten, bei einigen, daß er gar nicht mehr eintritt, und dann können solche Arten nur noch aus- nahmsweise Samen hervorbringen. == So steht es mit den meisten Epidendren von Südamerika, auch mit Coryanthes triloba von Neuseeland, von welcher 200 Blumen nur fünf Samenkapseln lieferten, ferner mit unserer Ophrys museifera und aranifera, von welch letzterer 3000 in Ligurien gesammelte Blumen nur eine Samenkapsel ergaben. Man sollte erwarten, daß dabei die be- treffenden Arten sehr selten werden müßten, das ist aber deshalb nicht immer der Fall, weil jede dieser Kapseln eine große Zahl von Samen enthält, mehrere bis viele Tausende. Sobald der Insektenbesuch ganz auf- hört, muß die Art auf dem betreffenden Wohnbezirk aussterben, es sei denn, daß sie sich zur Selbstfruchtbarkeit und zur Selbstbestäubung umwandeln kann. Es gibt nun eine ganze Reihe von Arten. bei welchen die Narbe der Blume empfänglich ist für den eigenen Pollen, und bei manchen von diesen ist auch die Anpassung an die Selbstbefruchtung wirklich eingetreten, indem die Pollinien sich zur Zeit ihrer Reife aus ihrer Kammer loslösen und auf die Narbe fallen. So erwähnte ich schon die Ophrys apifera, welche nach Cm. Darwın nicht mehr von Insekten besucht wird, obwohl ihre Blumen noch vollständig den zur Insektenbefruchtuug erforderlichen Bau besitzen. Diese Art hat sich vor dem Aussterben durch die regelmäßig bei ihr eintretende Selbst- befruchtung gerettet. Nach zweierlei Richtungen hin scheint mir dies bemerkenswert. Erstens zeigt es uns, daß reine Selbstbefruchtung nicht notwendig eine Schwächung der Art zur Folge haben muß und dann führt sie uns einen der Fälle vor, in welchem eine Art sich nur in einem kleinen Charakter umgewandelt hat, während alles Übrige an ihr un- verändert geblieben ist. Hier brauchte lediglich das Pollinium in seiner Befestigungs- und Reifungsweise etwas verändert zu werden, um die Umwandlung der Blume zur Selbstbefruchtung zu bewirken, und es hat sich tatsächlich allein verändert. Der Fall gehört zwar nicht in unsere augenblickliche Untersuchung, aber derartige Fälle sind so selten klar nachweisbar und zugleich von so großer beweisender Kraft für die Lehre von den Determinanten, daß ich nicht versäumen wollte, Sie darauf aufmerksam zu machen. Das Keimplasma dieser Ophrys muß sich gegen früher geändert haben, sonst wäre die Lösung der Pollinien keine erbliche und regelmäßige geworden, es kann sich aber nur insoweit geändert haben, daß lediglich der Bau dieses einen kleinen Teils der Blume von der Änderung betroffen wurde; es muß also im Keimplasma nur etwas verändert worden sein, das ohne Ein- 216 Inzucht, Parthenogenese, asexuelle Vermehrung und ihre Folgen. fluß auf alle anderen Teile der Blume war, d. h. lediglich die Deter- minante des Polliniums. Kehren wir nach dieser kleinen Abschweifung zu unserem eigent- lichen Gedankengang zurück, so fragt es sich, wie wir uns die Tat- sache fortgesetzter Selbstbefruchtung ohne jede sichtbare Schädigung der Art verständlich machen können. Wenn Kreuzbe- fruchtung ein wesentlicher Vorteil für die Erhaltung der Arten ist, wie kann sie ohne Schaden auch in ihr Gegenteil umgewandelt werden? und ein Schaden ist bei Ophrys apifera nicht ersichtlich; sie ist zwar nicht so häufig, wie Ophrys muscifera oder andere verwandte Arten, aber daraus folgt gewiß noch nicht, daß sie eine aussterbende Art ist; jedenfalls läßt sie weder an Kraft des Wachstums noch an Fruchtbar- keit eine Abnahme bemerken. Stellen wir uns auf den Boden der Theorie und fragen, wie muß bei steter Inzucht die Zusammensetzung des Keimplasmas verändert werden, so haben wir früher darauf schon die Antwort gefunden, daß durch die Reduktion der Idzahl bei jeder Keimzellenreifung allmählich die Mannigfaltigkeit des Keimplasmas herabgesetzt werden, daß die Zahl differenter Ide dadurch vermindert werden muß, möglicherweise bis zur Identität sämtlicher Ide. Die Folge einer solchen extremen Monotonisierung des Keim- plasmas müßte nach unserer Theorie nicht Unfähigkeit zum Weiter- leben der Art sein, wie sie es nach der Verjüngungstheorie sein müßte, wohl aber Unfähigkeit der Art zu neuen vielseitigen Anpassungen. Einseitige Anpassungen, wie z. B. die Veränderung in der Befesti- gung und Ablösungsweise der Pollinien einer Orchidee wären auch dann noch möglich. Eine Art also, die bereits seit lange voll- ständig angepaßt ist, wird ohne Schaden für ihr Weiter- leben zur reinen Inzucht übergehen können, falls sie dazu durch die Umstände gezwungen wird, Arten dagegen, welche noch mitten in bedeutenden und vielseitigen Umgestaltungen begriffen sind, müssen durch sie der Entartung ausgesetzt werden in ähnlicher Weise, wie es bei künstlichen Versuchen mit domestizierten Tieren geschieht. deren geheime Schwächen sich durch Inzucht vervielfachen. Man könnte geneigt sein, die Wirkungen der Inzucht denen der Parthenogenese gleich zu setzen; ähnlich sind sie gewiß, indem bei beiden Fortpflanzungsweisen ein gewisser Grad von Monotonisierung des Keimplasmas eintreten wird. Ein Unterschied aber scheint mir doch stattzufinden, und wohl nicht ohne Bedeutung zu sein. Bei Par- thenogenese findet überhaupt keine Amphimixis mehr statt, aber auch keine Reduktion auf die halbe Idzahl: es bleiben also die bei Beginn der Parthenogenese vorhanden gewesenen Ide sämtlich erhalten; sie werden nur nicht mehr mit fremden Iden gemischt. Bei Inzucht findet sowohl Amphimixis als Reduktion statt, erstere aber führt sehr bald keine wirklich fremden Ide mehr in das Keimplasma ein, son- dern vielmehr immer wieder dieselben, die schon darin enthalten sind, so daß eine rasch zunehmende Einförmigkeit des Keimplasmas die Folge sein wird. Dazu kommt aber noch die Möglichkeit, daß unter den wenigen Iden, welche jetzt in vielfacher Wiederholung das Keim- plasma bilden, auch solehe sich befinden mit ungünstigen Variations- richtungen einzelner oder vieler Determinanten, und dann wird das eintreten, was bei den Inzuchtversuchen mit domestizierten Tieren meist eintritt: Entartung der Nachkommen. Bei Parthenogenese verhält Fortgesetzte Selbstbefruchtung. 917 es sich anders: hier werden ungünstige Variationsrichtungen, sobald sie Selektionswert erreichen, gewissermaßen mit Stumpf und Stiel ausge- rottet, indem mit ihren Trägern zugleich die ganze Deszendenzlinie ge- tilgt wird, ohne daß dieselbe auf die anderen neben ihr herlaufenden Stammbäume irgend einen Einfluß ausüben könnte. Eine rein partheno- genetische Art wird deshalb so lange nicht entarten können, als noch Individuen von normaler Konstitution vorhanden sind, denn diese pflanzen sich völlig rein fort. Treten aber in späteren Generationen bei einzelnen ihrer Nachkommen durch Germinalselektion ungünstige Variationsrich- tungen im Keimplasma auf, so wiederholt sich stets wieder der Prozeß der Personalauslese an diesen oder ihren Nachkommen, und es ist denkbar und wahrscheinlich, daß bei völlig angepabten Arten Par- thenogenese sehr lange fortdauern kann, ohne daß die Artkonstitution darunter leidet. Ähnlich steht es bei der rein asexuellen Fortpflanzung, zu deren Untersuchung wir jetzt übergehen. Ich sehe von den einfachsten Organismen (Moneren) ohne Amphi- mixis jetzt ganz ab, da wir von ihnen früher schon gesprochen haben. Bei niederen Tieren ist Fortpflanzung durch Knospung oder Teilung zwar häufig, aber sie kommt nur alternierend mit geschlechtlicher Fort- pflanzung vor; bei den höheren Tieren, bei Gliedertieren, Mollusken und Wirbeltieren fehlt sie ganz. Bei Pflanzen spielt sie eine ungleich größere Rolle, und die sog. „vegetative“, d.h. die reine, nicht mit Amphimixis verquickte Fortpflanzung findet sich bei allen Gruppen des Pflanzenreichs, besonders als Knospung und Sporenbildung, als Vermehrung durch Ausläufer, Rhizome und Knollen, durch Brutzwiebeln und Brutknospen u.s. w. In den meisten Fällen aber besteht neben dieser reinen Vermehrung auch noch die mit Amphimixis verbundene, sog. geschlechtliche, und vielfach so, daß geschlechtliche und ungeschlecht- liche Generationen miteinander abwechseln, so daß also, wie häufig auch bei niederen Tieren, besonders Polypen, Quallen und Würmern ein „Generationswechsel“ entsteht. Aber es kommt bei Pflanzen auch vor, daß die geschlechtliche Fortpflanzung ausfällt, und daß eine Art sich nur noch auf asexuellem Weg vermehrt, und dies ist der Fall, den wir hier genauer ins Auge fassen müssen. Suchen wir uns zunächst klar darüber zu werden, wie sich die Zusammensetzung des Keimplasmas bei einer rein asexuellen Ver- mehrung gestalten muß und welche Schlüsse sich daraus ergeben, und vergleichen wir diese dann mit den bis jetzt bekannten Beobachtungen, so ist es klar, daß in den durch Knospung entstandenen Individuen das volle Keimplasma der Art enthalten sein muß: die Zahl der Ide wird nicht nur in der Knospe dieselbe bleiben, die sie vorher in der Mutterpflanze war, sondern auch die Zahl der differenten Ide wird nicht vermindert werden. Es verhält sich also hier ebenso wie bei reiner Parthenogenese, wo durch das Ausbleiben der zweiten Reifungs- teilung des Eies auch sämtliche Ide dem Keimplasma erhalten bleiben. Cm. Darwın hielt die rein ungeschlechtliche Vermehrung für „elosely analogous to long-continued self-fertilisation“, doch muß wie wir sahen — der Theorie nach eine nicht unbedeutende Verschiedenheit zwischen beiden Vorgängen darin liegen, daß bei reiner Selbstbefruchtung die Zahl differenter Ide stetig abnimmt, während bei rein asexueller Fortpflanzung das Keimplasma an Mannigfaltigkeit seiner Ide nichts 918 Inzucht, Parthenogenese, asexuelle Vermehrung und ihre Folgen. einbüßt. Wenn also auch das Keimplasma bei rein asexueller Ver- mehrung nicht mehr neue Ide zugeführt erhält durch Amphimixis, so verliert es doch auch keine von denen, die es einmal besaß, und wenn wir es auch nicht geeignet halten können, vielseitige neue Anpas- sungen einzugehen, so dürfen wir doch erwarten, daß es noch mehr als bei reiner Selbstbefruchtung imstande sein wird, die Art lange Zeit un- verändert fortzupflanzen, um so eher, als ja etwa auftretende ungünstige Variationsrichtungen. sobald sie Selektionswert erreichen, ausgemerzt werden, und zwar ganz wie bei Parthenogenese: ohne sich anderen Stammbäumen beizumischen. Dementsprechend finden wir z. B. rein asexuelle Fortpflanzung bei den Algen der Gattung Laminaria, von welcher angegeben wird, dab sie sich nur durch asexuelle Schwärmsporen vermehre. Es gibt eine ganze Anzahl von Arten dieses mächtigen Tangs, und wenn es feststehen sollte, daß wirklich bei diesen allen die Schwärmzellen nicht kopulieren, so würde dies ein Fall sein, der bewiese, dab die Arten einer Gattung mindestens lange «dauernden scharfbegrenzten Bestand Fig. 38 (wiederholt). Stückchen einer Flechte, Ephebe Kerneri, 450mal ver- Forößert. az die grünen Algenzellen, ? die Pilzfäden; nach KERNER. haben können, nachdem Amphimixis in Wegfall gekommen ist. Ein Beweis aber für die Möglichkeit der Artbildung würde darin nicht liegen, denn daß die Stammform der Laminarien Amphigonie besessen haben, wird anzunehmen sein, da ihre nächsten Verwandten sie besitzen. Es ist nicht zu beweisen, aber es steht der Annahme wohl auch nichts im Wege, daß diese Tange schon lange unter gleichbleibenden Lebens- bedingungen stehen, und diesen somit bis zu größter Konstanz ange- pabt sind. Ähnlich verhält es sich bei den Meeresalgen der Gattung Caulerpa, deren nächste Verwandten sich geschlechtlich vermehren, von denen selbst aber nur Vermehrung durch asexuelle Sporen bekannt ist. Bei den Flechten, die wir früher schon als eine Lebensgemein- schaft von Pilzen und Algen kennen lernten, scheint Amphimixis über- haupt nicht vorzukommen; die einzellige Alge pflanzt sich durch Zell- teilung fort, der Pilz durch Erzeugung großer Mengen von Schwärm- sporen, die sich nicht miteinander konjugieren. Bei der Alge könnte “ ar ä Rein asexuelle Vermehrung. 919 man vielleicht ihren einfachen Bau als Grund geltend machen, weshalb ein stetes Umkombinieren ihrer wenigen Charaktere behufs möglichst günstiger Zusammensetzung ihres Idioplasmas entbehrlich erscheine; man könnte dafür anführen, daß selbst der Lebensverband mit dem Pilz keine sichtbare Abänderung an der Alge erfordert hat, wie man daraus schließen muß, daß diese Alge auch selbständig frei leben, und daß dieselbe Algenart sich mit mehreren verschiedenen Pilzen zu verschiedenen Flechtenarten zu verbinden imstande ist, wie denn auch derselbe Pilz sich mit zwei verschiedenen Flechtenarten verbinden kann. Fast möchte man glauben, daß es sich hier nur um eine direkte Aufeinanderwirkung von Alge und Pilz handle in dem Sinn, daß dabei eine Anpassung an die neuen Lebensbedingungen gar nicht in Betracht käme, und doch kann daran bei Arten, die unter so bestimmten und verschiedenen Bedingungen leben, im Ernste nicht ge- dacht werden. Daß auch der Flechtenpilz sich nur asexuell fortpflanzt — entgegen älteren Angaben — scheint festzustehen, und dem gegen- über bleibt, soweit ich sehe, nichts übrig, als die Annahme, daß die Flechten die geschlechtliche Fortpflanzung zwar früher besessen, sie aber heute (ob alle, ist vielleicht noch nicht entschieden) verloren haben. Ähnliches muß man für die Basidiomyceten unter den Pilzen annehmen, und für die meisten der Ascomyceten, bei welcher Pilz- gruppe ebenfalls geschlechtliche Fortpflanzung „mit Sicherheit nur bei einigen Gattungen“ nachgewiesen ist. Daß es sich auch hier um eine Verkümmerung der Amphigonie bis zu vollständigem Ausfall derselben handelt, wird durch die beiden anderen Gruppen von Pilzen, die Zygo- myceten und Oomyceten wahrscheinlich, da bei diesen „eine Reduktion der Sexualität bis zu vollständigem Schwinden“ noch heute nachzu- weisen ist. Ob nun aber angenommen werden darf, daß die asexuell gewordenen Pilze heute neue Anpassungen nicht mehr eingehen können, oder ob etwa, und wie, in ihrer schmarotzenden Lebensweise ein Ersatz für die mangelnde Neumischung ihres Keimplasmas gelegen sein könnte, wie der Botaniker Mögıus meint, bin ich außerstande zu beurteilen. Offenbar sind auf dem Gebiet der Pilze die Tatsachen in bezug auf Amphimixis noch nicht vollständig erkannt, und die neuesten Forsch- ungen lassen ahnen, daß wahrscheinlich nicht ein Fehlen, sondern nur eine Verschleierung der sexuellen Vermischung hier vorliegt. Dax- GEARD, HAROLD WAGER und andere haben bei den höheren Pilzen der Sporenbildung eine Kernverschmelznng vorhergehen sehen, die wohl ais Amphimixis aufzufassen sein wird, wenn auch die kopulierenden Kerne Zellen derselben Pflanze angehören, ja oft sogar derselben Zelle. Wenn es sich aber auch hier um eine Tatsachengruppe handelt, deren Einordnung in unsere Theorie ‚heute noch nicht mit Sicherheit möglich ist, so widerspricht sie ihr doch auch nicht geradezu, selbst nicht in dem Falle, daß Amphimixis wirklich [fehlen sollte bei den höheren Pilzen, wie es bei der unverfälschten Verjüngungstheorie der Fall sein würde, denn wenn Amphimixis wirklich die Bedingung der Fortdauer des Lebens wäre, so könnte wie eben schon gesagt wurde — keine Art auf ungezählte Generationen hinaus ohne sie bestehen. Dasselbe Argument gilt auch für die höheren Pflanzen, bei welchen unter dem Einfluß der Kultur die Fortpflanzung eine rein asexuelle geworden. Ich denke dabei an manche wohlausgeprägte Varietäten unserer Kulturgewächse, die ausschließlich, oder doch "fast aus- 220 Inzucht, Parthenogenese, asexuelle Vermehrung und ihre Folgen. schließlich dureh Knollen und Stecklinge vermehrt werden, wie das z. B. bei der Kartoffel, der Mandioka, dem Zuckerrohr, der Arrowrootpflanze (Maranta arundinacea) und anderen der Fall ist. Mit unserer Auffassung von der Bedeutung der Amphimixis dagegen vertragen sich diese Tat- sachen sehr gut, wenn man auch mehrfach versucht hat, sie gegen die- selbe ins Feld zu führen. Wohl sind wir zu dem Schluß gelangt. daß vielseitige neue Anpassungen, d. h. Veränderungen, welche die Pflanze den indirekten Einflüssen neuer Lebensbedingungen entsprechend um- wandeln, nicht ohne Mitwirkung einer steten Vermischung der Indi- viduen zustande kommen, Veränderungen schlechthin aber können sehr wohl auch bei gänzlicher Abwesenheit von Amphimixis auftreten. Wenn eine wildwachsende Pflanze in ein wohlgedüngtes Kulturbeet dauernd versetzt wird, so werden wahrscheinlich allmählich oder auch sofort gewisse Veränderungen an ihr hervorgerufen werden. Aber das sind keine Anpassungen, sondern es sind gewissermaßen direkte veaktionen des Organismus, die nicht erst der Selektion bedürfen, um sich zu steigern, sondern die auf Beeinflussung gewisser Determinanten des Keims beruhen, und die, wie alle Variationsrichtungen im Keim ihren sicheren Fortgang so lange nehmen, bis ihnen durch Germinal- oder Personalselektion Halt geboten wird. Sobald die Pflanze einmal diesen künstlichen neuen Lebensbedingungen ausgesetzt wird, treten sie früher oder später ein, nehmen ihren Fortgang, und steigern sich so- lange, als sie sich mit der Harmonie des Baues und der Physiologie der Pflanze noch vereinigen lassen, welch letzteres hier wie in jeder Einzelentwicklung auf dem Kampf der Teile, der Histonalselektion be- ruht. Nur soweit kommt hier die Nützlichkeit oder Schädlichkeit der Abänderung in Betracht, denn der Personalselektion, dem Kampf der Individuen sind solehe in Kultur genommene Pflanzen ja entzogen. Dab solehe Abänderungen auch bei asexueller Vermehrung sich steigern und durch viele Generationen fortsetzen können, beruht da- rauf, daß die Knospungszellen ebensogut Keimplasma enthalten, als die (reschlechtszellen, und wenn bestimmte Determinanten des Keimplasmas überhaupt von diesen neuen Einflüssen verändert werden, so kann sich diese Veränderung ebensogut von Knospe zu Knospe, von Sproß zu Sproß übertragen, und also auch bei Fortdauer der neuen Bedingungen steigern, als bei der amphigonen Fortpflanzung von Keimzelle zu Keim- zelle. Es wäre auch nieht undenkbar, daß auf ungeschlechtlichem Wege eine einzelne Anpassung zustande käme, d. h. eine nützliche Ab- änderung, wenn es auch wenig wahrscheinlich ist, daß direkte Ein- tlüsse gerade solche Abänderungen hervorrufen werden. welehe unter den neuen Verhältnissen nützlich sind. Aber es gibt eine Anzahl von Fällen. die so aussehen und die so gedeutet worden sind. Bei mehre- ren der genannten Kulturpflanzen sind nämlich die Fortpflanzungs- organe selbst verkümmert, entweder nur die männlichen oder weib- lichen, oder auch beide zugleich. und einige Beobachter haben dies als die direkte Folge des Nichtgebrauchs derselben während der langen ungeschlechtlichen Fortpflanzung angesehen, fußend auf der Hypothese einer Vererbung funktioneller Abänderungen. Abgesehen nun von dieser irrigen Voraussetzung, so darf man doch wohl fragen, wieso denn die asexuelle Vermehrung z. B. der Kartoffel durch Knollen. statt durch Samen, wie sie mehrere Jahrhunderte hindurch ausschließlich üblich war, irgend einen Einfluß auf die Blüten dieser Art und ihre Rein asexuelle Vermehrung. 22] Samenbildung sollte ausüben können? In der Tat hat sie bei den meisten Kartoffeln auch wirklich keinen ausgeübt, und die Blumen und Samen derselben sind heute noch ebenso fruchtbar, als zur Zeit der Entdeckung der Kartoffel. Ob der Blütenstaub einer Blume in einem oder dem anderen seiner Tausende von Pollenkörnern Verwendung findet, indem er auf die Narbe einer anderen Blume der Art gelangt, oder ob alle Pollen- körner nutzlos verstreut werden, kann unmöglich eine rückwirkende Kraft auf den Bau der Blume haben: der Begriff des Nichtgebrauchs findet also hier gar keine Anwendung. Wie bei der Kartoffel verhält es sich bei der Mandioka (Maninot utilissima), dagegen sind viele unserer besten Fruchtsorten, Birnen, Feigen, Trauben, Ananas, Banane samen- los. Bei Maranta arundinacea ist dabei „der ganze wunderbare Blüten- bau erhalten, aber der Blütenstaud, d. h. die Keimzellen fehlen“. Ob dies nun eine dauernde, d. h. den Anlagen der Art bereits einverleibte Verkümmerung der Geschlechtsorgane ist, oder nur die direkte Folge allzu üppiger Ernährung, oder anderer in den die einzelne Pflanze treffenden Verhältnissen gelegenen Ursachen, könnte nur durch Versuche entschieden werden. Wahrscheinlich kommt beides vor. Der gemeine Epheu z. B. blüht im nördlichsten Schweden und Rußland nicht mehr, wohl aber in den südlichen Provinzen. Versetzte man Pflanzen aus der nördlichen Verbreitungszone zu uns, so würden sie aller Wahr- scheinlichkeit nach bei uns blühen und Früchte tragen, und es wären dann also nur die direkten Wirkungen des kalten Klimas gewesen, welche diese Pflanzen im Norden am Blühen verhindert hätten. Es ist aber sehr wohl denkbar, daß Kulturpflanzen in manchen Fällen erblich unfruchtbar geworden sind, wenn sie stets nur durch Knospen, Ableger usw. vermehrt wurden, nicht etwa durch direkte Wirkung dieser Ver- mehrungsart, sondern durch zufällige Keimesvariation. Denn bei manchen von ihnen hat der Mensch kein Interesse an ihren Blüten und Früch- ten, wie bei der Kartoffel; bei anderen hat er sogar Interesse daran, daß ihre Früchte samenlos werden. Im ersten Fall wird er Individuen mit zufällig unvollkommenen Blüten ungescheut zur Vermehrung be- nutzen, wenn sie sonst schön sind und seinem Verlangen entsprechen, im letzteren wird er sogar Individuen mit samenlosen Früchten zur Vermehrung vorziehen und dadurch die Neigung zur Samenverkümme- rung bei der betreffenden Rasse befestigen und steigern. Alle diese Fälle vertragen sich sehr wohl mit unserer Auffassung der Amphimixis, die sich jetzt, nachdem wir die Tatsachen auf allen Gebieten des Lebens daraufhin untersucht haben, etwa in folgenden Sätzen zusammenfassen läßt. Amphimixis hat heute in der gesamten Örganismenwelt von den Einzelligen bis zu den höchsten Pflanzen und Tieren hinauf die Bedeutung einer Erhöhung der Anpassungs- fähigkeit der Organismen an ihre Lebensbedingungen, indem erst durch sie die gleichzeitige harmonische Anpassung vieler Teile möglich wird. Sie bewirkt dieselbe durch die Vermischung und stete Neukombinierung der Keimplasmaide verschiedener Individuen, und bietet so den Selektionsprozessen die Handhabe zur Begünstigung der vorteilhaften und zur Ausscheidung der nachteiligen Variationsrichtungen. sowie zur Sammlung und Vereinigung aller für die richtige Weiterent- wicklung einer Art nötigen Variationen. Diese indirekte Wirkung der Amphimixis auf die Erhaltungs- und Umbildungsfähigkeit 999 Zusammenfassung. der Lebensformen ist der Hauptgrund ihrer allgemeinen Ein- führung und Beibehaltung durch das ganze bekannte Orga- nismenreich von den Einzelligen aufwärts, Der Grund ihrer ersten Einführung bei den niedersten Lebensformen muß eine direkte, den Stoffwechsel günstig beeinflussende Wirkung gewesen sein, die aber insoweit mit der späteren Bedeutung der Amphimixis zusammenfällt, als auch sie als eine „Erhöhung der Anpassungsfähigkeit“ aufzufassen sein wird, aber als eine unmittel- bare direkte Steigerung und Erweiterung der Assimilationsfähigkeit. In jedem Falle hat Amphimixis nicht die Bedeutung einer Erhaltung des Lebens selbst, wohl aber die einer ohne sie nieht erreichbaren Fülle und Mannigfaltiekeit der Lebensformen. Wenn dieselbe im Laufe der Phylogenese von einzelnen Gruppen von Lebensformen aufgegeben worden ist, so geschah dies, weil ihnen dadurch andere Vorteile erwuchsen, die sie im Kampf um die Existenz augenblicklich besser sicherten; es ist aber anzunehmen, daß sie da- durch ihre volle Anpassungsfähigkeit eingebüßt, also ihre Zukunft gegen die momentane Sicherung ihrer Existenz hingegeben haben. Außer dieser Wirkung aber hat Amphimixis auch noch einen An- teil an der Entstehung schärfer abgegrenzter Formenkreise, vor allem der Arten, wovon später noch genauer gesprochen werden soll. ei XXXl. VORTRAG. Veränderungen durch Mediumeinflüsse. Die Stufen der Selektionsvorgänge p. 223, Veränderungen durch Mediumeinflüsse p. 224, Überfluß und Mangel an Nahrung p. 225, Pferde und Rinder der Falkland- inseln p. 225, Angoratiere, Wärmeschutz der arktischen und Meeressäuger p. 226, Pflanzengallen p. 227, Die Hieraciumversuche NÄGELIS p. 228, Die Versuche mit Polyommatus Phlaeas p. 229, Die künstlichen Vanessaaberrationen p. 230, VÖCHTINGS Versuche über Einfluß des Lichtes auf Produktion von Blütenformen p. 232, Helio- tropismus und andere Tropismen p. 232, Primäre und sekundäre Reaktion des Or- ganismus p. 233, Herests Lithionlarven p. 233, SCHMANKEWITSCHS Artemiaversuche p- 233, PouLroxs Raupen mit fakultativer Farbenanpassung p. 233, Farbenwechsel bei Fischen, Chamaeleon u. s. w. p. 233, Wirkungsgröße direkt verändernder Einflüsse p. 234. Meine Herren! Eine lange Reihe von Vorträgen hindurch wandten wir unsere Aufmerksamkeit denjenigen Erscheinungen zu, welche zu den Selektionsprozessen in Beziehung stehen; wir suchten diese selbst in ihren verschiedenen Formen und Stufen uns klar zu legen und kamen dabei zu dem Ergebnis, daß alle Veränderungen, welche seit dem ersten Erscheinen lebender Substanzen an diesen, den „Organis- men“ eingetreten sind, durch Selektionsvorgänge geleitet, d. h. in ihrer Richtung und Dauer bestimmt worden sind, wenn sie auch ihre Wurzel in den äußeren Einflüssen haben. Das ist indessen nicht so zu ver- stehen. als ob diese Leitung nur durch jene eine Art der Auslese er- folgt wäre, welche wir mit Darwın und WALLACE als „Naturzüchtung“ bezeichnen, vielmehr müssen wir diese nur als eine der verschiedenen Stufen von Ausleseprozessen betrachten, welche zwischen allen gleichwertigen und deshalb miteinander um den Vorrang, d.h. nm Raum und Nahrung kämpfenden Lebenseinheiten statt- finden müssen. Wäre nicht der Ausdruck „Naturzüchtung“ in seiner Bedeutung schon fest eingebürgert, so würde ich vorschlagen, ihn im allerallgemeinsten Sinn für die Gesamtheit der Selektionsvorgänge zu gebrauchen, so aber wollen wir ihm seinen ursprünglichen Sinn lassen und darunter Personalselektion verstehen. Wir sahen nun, daß auch zwischen den Elementen der Keim- substanz bei allen Wesen, die schon eine solche im Gegensatz zur Körpermasse besitzen, solche Ausleseprozesse sich abspielen und daß durch sie jene erblichen individuellen Variationen ihren Ursprung erhalten, welche dann unter Umständen die Grundlage zu Abänderungen der Art geben. Dies kann nun offenbar auf doppelte Weise geschehen; zunächst dadurch, daß eine dieser im Keimplasma entstandenen, allmählich an- steigenden Variationsbewegungen Selektionswert erreicht, worauf dann „Personalselektion“ sich ihrer bemächtigt und sie zum Gemeingut der Art zu machen sucht. Es ist aber offenbar auch denkbar, daß solche im Keimplasma entstandene Variationsrichtungen Selektionswert überhaupt nicht erreichen, und dann werden sie in den meisten Fällen 294 Veränderungen durch Mediumeinflüsse. lediglich als individuelle Merkmale kürzere oder längere (Grenerations- folgen hindurch bestehen bleiben können, ohne aber doch jemals auf einen großen Kreis von Individuen übertragen zu werden, oder gar als konstantes Merkmal auf die ganze Art. Ihre Dauer wird wesent- lich abhängig sein von dem Zufall der Vermischung mit anderen In- dividuen und von der die geschlechtliche Fortpflanzung einleitenden Halbierung des Keimplasmas. Früher oder später verschwinden sie” wieder, wie wir jaan Abnormitäten oder Krankheitsanlagen des Menschen ; vielfach beobachten können, sofern sie nicht eben die "Existenzfähigkeit herabsetzen; in diesem Fall aber erreichen sie eben Selektionswert, wenn auch negativen. Aber auch ganz indifferente, die Existenzfähigkeit des Individuums weder hebende noch herabsetzende Keimesvariationen können unter Umständen sich steigern und zu dauernden Abänderungen aller Indi- viduen einer Art führen, und zwar unter anderem dann, wenn sie durch äußere, alle Individuen der Art, oder der betreffenden Artkolonie treffende Einwirkungen bedingt sind, und auf diese Art der Verände- derung von Lebensformen möchte ich jetzt etwas genauer eingehen. Die gewöhnliche, nie rastende, immer tätige Germinalselektion beruht, wie wir annehmen mußten, auf intragerminalen Schwankungen der Ernährung, also auf Ungleichheiten der Nahrungsströme, welche im Innern des Keimplasmas zirkulieren; die Abänderungen, welche sie hervorruft, können deshalb in jedem Individuum wieder andere sein, da diese Schwankungen zufällige sind, in diesem Individuum z. B. die Determinante A, in anderen die Determinanten 3, C oder X betreffen, oder wechselnde Gruppen derselben, oder es kann auch die homologe Determinante 1 in diesem Individuum nach Plus, in jenem nach Minus varlieren, in einem dritten unverändert bleiben, und wenn auch sehr wohl dieselbe Variationsrichtung einer Determinante MV in vielen In- «lividuen zugleich vorkommen kann. so doch gewiß nicht in allen, und noch weniger bei allen in derselben Kombination mit den Schwankungen (der übrigen Determinanten. Nur aber, wenn dies einträte, würde die Variation zum Artencharakter werden können. Nun dürfte man aber wohl von vornherein erwarten, daß nicht bloß die zufälligen Ernährungsschwankungen im Innern des Keim- plasmas die Elemente desselben zum Variieren in dieser oder jener Richtung veranlassen, sondern daß es auch Einflüsse allgemeiner Art gibt, wie besonders solche der Nahrung und des Klimas, welche zwar zunächst den Körper als Ganzes treffen, dabei aber doch auch zugleich das Keimplasma, und welche nun einen abändernden Einfluß, sei es auf alle, oder auch nur auf bestimmte Determi- nanten ausüben. In diesem Falle würden dann alle Individuen in der gleichen Weise abändern müssen, weil alle in gleicher Weise von derselben Abänderungsursache getroffen wurden. Dem ist nun wirklich so; es steht außer Zweifel, daß äußere Einflüsse, wie sie von den Medien, in welchen eine Art lebt, aus- gehen, imstande sind, «direkt das Keimplasma zu verändern, d. h. also dauernde, weil erbliche Abänderungen hervorzurufen, und wir haben diesen Vorgang früher schon gestreift und als „induzierte Germi- nalselektion“ bezeichnet. | Daß solche Mediumseinflüsse das einzelne Individuum ver- ändern können, liegt auf der Hand; daß z. B. gute Ernährung de Körper voll und kräftig macht, dab ungenügende Ernährung ihn 3 Nahrungseinflüsse. 225 Fülle und Kraft herabsetzt, sind bekannte Dinge. Es fragt sich nur, einerseits, wie stark solche Einflüsse den einzelnen Körper im Laufe eines Lebens zu verändern imstande sind, andererseits aber vor allem, inwieweit solche Veränderungen des Soma entsprechende Abänderungen im Determinantensystem der Keimzellen hervorrufen können, ob sie, und in welchen Fällen sie sichalso vererben: denn wo dies nicht der Fall sein sollte, da kann auch eine dauernde, erbliche Abänderung der ganzen Art nicht eintreten, vielmehr wird die Abänderung nur so lange anhalten, als die abändernden Einflüsse anhalten, dann aber wieder verschwinden. Die Stärke des abändernden Einflusses der Nahrung ist oft bei weitem überschätzt worden. So ist die alte Angabe, die seit JOHN Hunter die Runde durch die Bücher macht, daß der Magen von Fleischfressern durch vegetabilische Nahrung in einen Pflanzenfresser- magen umgewandelt werde, gänzlich unerwiesen. BRANDES wenigstens, der nicht nur eine genaue kritische Prüfung der in der Literatur dar- auf sich beziehenden Angaben vorgenommen, sondern auch einige neue Versuche angestellt hat, hält diese Behauptung für gänzlich grundlos. Alle die dafür vorgebrachten „Fälle“, in welchen eine Möve oder Eule durch Körnernahrung ihren Fleischmagen in einen muskelreicheren und mit Hornplättchen besetzten verwandelt haben soll, beruhen nach seiner Überzeugung auf ungenauer Untersuchung. Von einer Vererbung dieser fiktiven Magenumwandlung kann also nicht die Rede sein, und die Vor- stellung, als ob so eingreifende, histologische Anpassungen, wie die des Magens der körnerfressenden Vögel durch direkte Wirkung der Nah- rung entstanden wären, schwebt in der Luft. Ganz etwas anderes ist es mit den rein quantitativen Unter- schieden der Ernährung. Daß magere Kost das einzelne Individuum ungünstig beeinflußt, steht außer Frage, und man darf gewiß auch den (Gedanken in Erwägung ziehen, ob nicht dadurch auch eine Abänderung in den Keimzellen hervorgerufen werde, und zwar eine der Abände- rung des Körpers korrespondierende, so daß also bei langem Anhalten schlechter Ernährung über viele Generationen hinaus eine erbliche Ver- küimmerung der Art einträte, die auch bei Versetzung in bessere Ver- hältnisse nicht sofort wieder wiche. Wir wissen freilich nichts davon, inwieweit die Kleinheit der Determinanten des Keimplasmas, die Gesamtmenge (des Keimplasmas und die herabgesetzte Größe der ganzen Keimzelle mit der Kleinheit des ganzen daraus sich entwickelnden Tieres in innerem Zusammen- hang steht, einen solchen Zusammenhang zu vermuten, kann aber gewiß nicht als absurd bezeichnet werden. Es sind mir keine Versuche be- kannt, die bewiesen, daß magere Kost die Körpergröße progressiv ver- mindere. CarL v. Vorr hat Hunde desselben Wurfs bei reichlicher oder bei kärglicher Fütterung zu sehr verschiedener Körpergröße sich entwickeln sehen, es wird aber schwer sein, die Tiere durch kärgliche Kost zugleich klein zu machen und doch noch fortpflanzungsfähig zu erhalten, und so fehlt der Beweis der Vererbung soleher Kleinheit. Die Versuche aber, welche die Natur selbst angestellt hat, sind niemals ganz rein, weil wir nie bestimmt die indirekte Wirkung der veränderten Verhältnisse ausschließen können. Der seit Darwın oft zitierte Fall von den auf den Faleklandinseln verwilderten Pferden, die „bei dem feuchten Klima und der mageren Kost“ klein geworden sind. möchte von allen mir bekannten derartigen Fällen noch am ersten als direkte Wirkung der stets spärlichen Nahrung aufgefaßt werden dürfen, aber Woismann. Doszendonzthoorio. II. 2. Aufl 15 996 Veränderungen durch Mediumeinflüsse. — ——— auch hier kann man den Gedanken an Mitwirkung irgendwelcher An- passungen an die sehr eigentümlichen Lebensbedingungen auf diesen Inseln nicht ganz abweisen, soweit es verwilderte Pferde betrifft. Ge- nauere neuere Angaben darüber habe ich so wenig auffinden können, als solche über die dort vorhandenen, in Domestikation sich fortpflan- zenden Pferde. DAarwın aber erzählt in seinem Reisewerk viel Inter- essantes über die Säugetiere der Falcklandinseln. Rinder und Pferde sind von den Franzosen 1764 dort eingeführt worden und haben sich seitdem sehr vermehrt: in wildem Zustand schweifen sie herdenweise umher, und die Rinder sind aufallend groß und stark, die Pferde‘ aber, sowohl die wilden als die zahmen, sind eher klein und haben so viel von ihrer ursprünglichen Kraft verloren, daß man sie zum Ein-' fangen der wilden Rinder mit dem Lasso nicht brauchen kann und ge- nötigt ist, dazu Pferde aus La-Plata zu importieren. Aus diesem Gegen- satz im Gredeihen von Rindern und Pferden wird man soviel wenigstens schließen dürfen, daß es nicht bloß die „spärliche Nahrung“ sein kann, welche die Pferde dort kleiner werden läßt, sondern daß die ganzen klimatischen Lebensbedingungen dabei beteiligt sind. Ob nun der ganze Betrag an Abänderung, der bei den seit über hundert Jahren dort wild. lebenden Pferden eingetreten ist, auch schon im Laufe eines Lebens. eintreten würde, oder ob er ein Summationsphänomen ist, das wäre. erst noch zu entscheiden. Ähnlich, nur meist noch unsicherer, steht es mit den zahlreichen: Angaben über Veränderung der Behaarung bei Ziegen, Schafen, Rindern, Katzen und Schäferhunden durch ein bestimmtes Klima. Das rauhe Klima mancher Hochländer, wie Tibet und Angora, soll die lang- und feinhaarigen Rassen direkt erzeugt haben. Es fehlt indessen durchaus an Beweisen dafür, daß dabei nicht Anpassung oder künstliche Züchtung mitgespielt hat, und der Umstand, daß ähnliche Rassen bei Kaninchen und Meerschweinchen an anderen Orten und unter ganz anderen klimatischen Bedingungen, zugleich aber unter der richtenden Züchtung des Menschen entstanden sind, spricht wohl eheı für diese Vermutung. Auf der anderen Seite erscheint es aber durch- aus nicht undenkbar, daß das Klima wirklich einen verändernden Ein- fluß auf gewisse Determinanten des Keimplasmas ausübe, wie wir je früher schon gesehen haben, daß die Einflüsse der Kultur Pflanzen und Tiere zu erblichem Variierem veranlassen können, ja daß dadurch lang sam sich steigernde Verschiebungen im Gleichgewichtszustand des Deter minantensystems eingeleitet werden können, welche dann als sprung weise „Mutationen“ plötzlich in die Erscheinung treten. Es ist mu wenig wahrscheinlich. daß dadurch gerade Anpassungen entstehen d.h. solche Abänderungen, welche dem veränderten Klima entsprechend‘ Umwandlungen hervorrufen. Der dichte Pelz der arktischeı Säugetiere ist sicherlich nicht eine direkte Wirkung der Kälte obschon er sich bei allen arktischen Arten eingestellt hat, nicht mu bei den heutigen Eisbären, Füchsen und Hasen der Polarzone, sonder auch bei dem zottig behaarten Mammut des diluvialen Sibiriens, desse- tropische Verwandte von heute, die Elefanten, eine fast nackte Hau besitzen. Erst neuerdings ist wieder ein Fall bekannt geworden, de uns zeigt, dab auch solche Tiergruppen, welche in Übereinstimmun ” mit ihrer sonst rein tropischen Ausbreitung nur ein mäßig entwickelte Haarkleid besitzen, nach Einwanderung in kalte Länder so gut eine” dieken Haarpelz bekommen, wie die Mitglieder anderer Familien. Ic’ Klimaeinflüsse. 227 kai En B SZ en eh En 1) i ’ denke dabei an den anthropoiden Affen, Rhinopithecus Roxellanae, wel- eher in den Wäldern der hohen Gebirge Tibets in Rudeln lebt *), trotz- dem der Schnee dort sechs Monate lang liegen bleibt. Man würde aber sicher fehl gehen, wollte man den dicken Pelz dieses Affen als eine direkte Reaktion seines Organismus auf den Reiz der Kälte betrachten. Daß dem nicht so ist, lehrt vor allem die vergleichende Betrachtung der im Meer lebenden Säugetiere, die sich gerade in dieser Beziehung so verschieden verhalten und doch den- selben niederen Temperaturen ausgesetzt sind; die Wale und Delphine sind ganz nackt, vollständig haarlos, die Seehunde aber besitzen ein diehtes Haarkleid. Dieser auffallende Unterschied hängt offenbar mit der Lebensweise zusammen, die Wale bleiben stets im Wasser, die Seehunde verlassen es häufig und bedürfen deshalb des Haarkleids, besonders in kälterem Klima, da sie sonst durch die Verdunstung des an ihnen haftenden Wassers allzu stark abgekühlt würden. Für die Wale dagegen würde auch ein sehr dichtes Haarkleid als Wärmeschutz nicht genügt haben, da das Wasser ein viel besserer Wärmeleiter ist, als die Luft, und so mußten sie sich mit der bekannten mächtigen Speckschicht in ihrem Unterhautzellgewebe umgeben, die dann — nach dem sie einmal ausgebildet war — den Schutz durch Haare überflüssig machte, so daß diese in Wegfall kamen. Wohl besitzen auch die See- hunde eine solche Specklage der Haut, aber nur bei den größten unter ihnen bietet sie genügenden Schutz gegen die abkühlende Wirkung der Verdunstung, wenn sie ans Land oder auf das Eis gehen, und nur bei diesen ist deshalb das Haarkleid stark rückgebildet, wie beim Walroß und den Seelöwen; bei allen kleineren Robben aber mit geringerer Körpermasse mußte das Haarkleid sehr dicht, und vor Durchnässung durch starke Einfettung geschützt bleiben, weil die Speckschicht allein die übermäßige Abkühlung auf dem Lande nicht verhindern könnte. So wenig die Speckschicht direkt durch die Kälte hervorgerufen sein kann, so wenig ist es das Haarkleid. Wie KÜKENTHAL gezeigt hat, sind das alles Anpassungen, und diese können hier, wie überall nur auf Naturzüchtung beruhen und auf den ihr zugrunde liegenden „tHuk- tuierenden“ Variationen des Keimplasmas, wie sie entsprechend dem Bedürfnis gerichtet und durch Germinalselektion gesteigert werden. In allen diesen Fällen spielt direkte Wirkung der äußeren Ein- flüsse wohl gar nicht mit, in anderen aber bewirkt sie allein die ganze Abänderung, bleibt aber auf das Individuum beschränkt, und läßt somit die Art ganz unverändert. Wie überaus bedeutend äußere Einflüsse einen Organismus oder einen Teil desselben im Laufe des Einzellebens verändern können, beweisen vor allem die Pflanzengallen. Hier ist jede Anpassung von Seiten der Pflanze ausgeschlossen. die Galle kann lediglich auf der direkten Wirkung der Reize beruhen, welche von dem jungen Tier, der Larve, auf die sie umgebenden Zellen der Pflanze ausgeübt werden, und dennoch verändern sich diese Zellen in erheblichem Betrag, füllen sich mit Stärke, oder bilden eine Holzschicht, sondern gewisse Stoffe, Gerbsäure u. s. w. in großer Menge ab, oder bilden Haare, moosartige Auswüchse, Pigmente u. s. w., wie sie sonst an der betreffenden Stelle der Pflanze nicht vorkommen. Seitdem AnptLer und BEYERINCK nach- gewiesen haben, daß es nicht ein Gift des Muttertiers ist, welches bei *) Nach MiLse- Epwanros „Recherches pour servir A l’'histoire nat, d. Mam« milöres“, Paris 1868-1874. 15* 998 Veränderungen durch Mediumeinflüsse. der Eiablage dem Blatt oder der Knospe u. s. w. eingeflößt wird, und welches nun den Reiz zur Gallenbildung setzt, ist die Sache um einiges klarer geworden. Man kann sich nun vorstellen, dab verschiedene Reize nacheinander die die Larve einschließenden Pflanzenzellen treffen, deren geordnete Aufeinanderfolge und genau abgestufte Reizwirkung die Zellen in verschiedener Weise zur Tätigkeit anregt, sei es zum bloßen Wachsen und Sichvermehren in bestimmter Richtung, sei es zu Abscheidungen von Gerbsäuren oder Holzstoff, oder Ablager- ungen von Nährstoffen u.s.w. Schon allein die schwachen Bewegungen der jungen Larve werden einen solchen Reiz bilden, der sich mit ihrem Wachstum verstärkt, dann vor allem die Freßbewegungen, und schließ- lich, und nicht zum geringsten, verschiedenartige Sekrete, welche das Tier durch seine Speicheldrüsen ausscheidet, und welche wohl irgend welche wirksame und vermutlich zeitlich wechselnde Stoffe enthalten; alle diese Momente werden als spezifische Zellenreize nach dieser oder jener Richtung die Stoffwechsel- und Wachstumvorgänge der Zellen be- einflussen und verändern. Im Prinzip wenigstens, wenn auch nicht im einzelnen, verstehen wir so die Möglichkeit, wie durch geordnete Aufeinanderfolge und genaue Abwägung dieser verschiedenen Zellen- reize der in der Tat wunderbare Bau der Gallen zustande kommt als das Produkt des direkten und einmaligen Einflusses des Gall- insektes auf den Pflanzenteil. Die Fähigkeit des Tieres aber seinerseits eine solche Sukzession feinabgestufter Reize auf die Pflanzen- zellen auszuüben, wird man nur auf lange anhaltende Züchtungsprozesse beziehen können, wie denn auch nur dadurch der bis ins Einzelste zweckmäbige Bau der Gallen verständlich wird. Die Annahme von Stoffen, die schon in geringer Menge als spezifische Zellenreize wirken, (deren wir bei diesem Erklärungsversuch der Gallen bedürfen, schwebt heute nicht mehr in der Luft, wo wir ja in dem Jodothyrin BAUMANNS, den spezifischen Stoffen der Thymus und der Nebenniere der höchsten Tiere Analoga zu dieser Annahme kennen, gar nicht zu reden von den nur in ihren Wirkungen bekannten „Antikörpern“ der pathogenen Bakterien. Der Fall der Pflanzengallen ist deshalb von so großer theore- tischer Bedeutung, weil wir hier jede Vorbereitung der Pflanzenzellen für die Einwirkung der vom Tier ausgehenden Reize ausschließen können, denn die Galle ist durchaus nutzlos für die Pflanze, soviel man sich auch schon abgemüht hat, einen Nutzen derselben für sie herauszufinden; wir haben also hier einen reinen Fall von Verände- rung durch einmalige Einwirkung äußerer Einflüsse, eine Anpassung (des Tieres an die Reaktionsweise bestimmter Pflanzengewebe. Man sollte denken, daß, wenn überhaupt eine Vererbung rein somatogener Abänderungen, eine Übertragung der Erwerbungen des Personalteils auf den (rerminalteil möglich wäre, sie hier eintreten müßte, denn manche Gallenarten befallen bestimmte Eichen alljährlich und in großer Menge. Es ist denn auch wirklich schon die Behaup- tung aufgetaucht, es entstünden zuweilen Gallen spontan, ohne Gallinsekt. Der Beweis dafür ist aber bis jetzt ausgeblieben, und daß niemand einer solchen Behauptung Beachtung geschenkt hat, schließt wohl eine unbewubte Verurteilung der Hypothese von der Vererbung erworbener Eigenschaften ein. Daß auch viel weniger spezialisierte äußere Einflüsse Verände- rungen hervorrufen können, «ie nicht erblich sind, ‚wird durch die schon oft besprochenen Hieracium-Versuche NÄGELIS bewiesen. Die 7 Pflanzengallen. 239 alpinen Arten des Habichtskrauts veränderten sich in dem fetten Boden des botanischen Gartens zu München in ihrem ganzen Habitus be- deutend, aber ihre Nachkommen, wenn sie in mageres Kiesland ver- setzt wurden, kehrten wieder zum Habitus der alpinen Art zurück. Die im Gartenland eingetretenen Abänderungen waren also rein so- matische, passante, wie ich sie genannt habe und beruhten nicht auf Veränderungen des Keimplasmas.. Man kann diesen Versuchen ein- werfen, daß sie nicht lange genug fortgesetzt worden seien, um zu be- weisen, daß nicht dennoch auch erbliche Veränderungen infolge der veränderten Bedingungen hätten auftreten können. ‚Jedenfalls be- weisen sie, daß starke Veränderungen des ganzen Körpers der Pflanze eintreten können, ohne jede bemerkbare Abän- derung des Keimplasmas. Die Möglichkeit einer Abänderung auch des Keimplasmas durch solche direkte Wirkung äußerer Einflüsse soll aber damit keineswegs in Abrede gestellt werden. A priori schon muß man eine solche annehmen, wenn man, wie wir es getan haben, die individuelle erbliche Variation auf die Schwankungen in der Er- nährung der einzelnen Determinanten des Keimplasmas bezieht. Es ist von vornherein wahrscheinlich, daß manche allgemeine Ernährungs- abänderungen oder klimatische Faktoren auch das Keimplasma treffen, und es ist durchaus nicht undenkbar, daß sie hier zuweilen nicht alle, sondern nur ganz bestimmte Determinanten allein verändern. Einen Beweis für diesen Fall bilden die Erfahrungen, welche über den kleinen rotgoldigen Feuerfalter vorliegen, Polyommatus Phlaeas, deren ich in einem früheren Vortrag schon kurz gedacht habe. Dieser kleine Tagfalter aus der Familie der Lycaeniden besitzt eine weite Verbreitung und kommt in zwei Klimavarietäten vor. Im hohen Norden und auch noch in ganz Deutschland zeigt er sich rot- golden auf seiner Oberseite mit einem schmalen schwarzen Außenrand, im Süden Europas aber wird das Rotgold fast ganz von Schwarz ver- drängt. Ich habe nun aus Eiern der bei Neapel fliegenden Phlaeas- falter in Deutschland Raupen gezogen und dieselben unmittelbar nach ihrer Verpuppung relativ niederer Temperatur ausgesetzt (—- 10° ©). Es entstanden Falter, welche zwar etwas weniger schwarz waren, als die in Neapel fliegenden, aber doch erheblich dunkler, als die deutschen. Umgekehrt wurden dann deutsche Puppen höherer Wärme ausgesetzt (+38 0), und daraus Falter erhalten, die etwas weniger feuriggoldig und etwas schwärzer waren, als die gewöhnlichen deutschen Falter. Hätte ich die Versuche heute zu wiederholen, so würde ich die Tem- peratur bei den Kälteversuchen weit niedriger nehmen, weil wir heute aus Versuchen von STANDFUSS, E. FISCHER und BACHMETJEFF wissen, daß die meisten Tagfalterpuppen eine Temperatur unter Null längere Zeit hindurch gut ertragen; wahrscheinlich würden dann die Resultate noch prägnanter ausfallen. Aber auch aus den Ergebnissen der damaligen Versuche durfte geschlossen werden, daß die Schwärzung der Oberseite der Flügel in der Tat direkte Folge erhöhter Temperatur während der Puppenzeit ist, das reine Rotgold dagegen Folge erniedrigter Temperatur. Damit stimmen aueh vollkommen ähnliche Versuche von MERRIFIELD überein, die derselbe mit englischen Phlaeaspuppen anstellte. Man wird aber aus diesen Versuchen noch weiter schließen «dürfen, daß sowohl Wärme als Kälte bei der einzelnen Puppe nur schwache Veränderungen her- vorrufen, und daß das reine Rotgold der nordischen, das Schwarz der 23 Veränderungen durch Mediumeinflüsse. südlichen Form das Resultat eines langen Vererbungs- und Häufungs- prozesses ist, in welchem das Keimplasma so verändert wurde inbezug auf die betreffenden Flügeldeterminanten, daß dieselben auch bei minder extremen Temperaturen doch noch die südliche, respektive nördliche Form ergeben. Da diese Determinanten nicht nur in der Flügelanlage der Puppe anzunehmen sind, sondern natürlich auch in den Keimzellen derselben, so müssen beide von den verändernden Temperaturen getroffen werden, und nach der Kontinuität des Keimplasmas muß sich jede im Einzel- leben entstandene noch so geringe Änderung dieser Determinanten auf die folgende (Generation fortgesetzt haben. So wird es verständlich, dab somatische Veränderungen wie die Schwärzung der Flügel durch Wärme sich scheinbar direkt vererben und häufen kann im Laufe der Generationen; in Wahrheit ist es nicht die somatische Abänderung selbst, welche sich vererbt, sondern die ihr korrespondierende, von demselben äußeren Einfluss hervorgerufene Abänderung der entspre- chenden Determinanten im Keimplasma der Keimzellen, der Deter- minanten der folgenden Generation. Diese Deutung des Versuches, wie ich sie schon vor Jahren ge- geben habe, ist seitlem in mehrfacher Weise an verschiedenen anderen Tagfaltern bestätigt worden. Durch Anwendung von Kälte bis zu — 5° © auf frische Puppen verschiedener Vanessaarten gelang es zu- erst STANDFUSS und MERRIFIELD, dann besonders auch E. FISCHER starke Abweichung in Zeichnung und Färbung des Schmetterlings zu erhalten, sog. Aberrationen, wie sie bis dahin nur äußerst selten und vereinzelt im Freien gefangen worden waren. Diese Abweichungen von der Norm sind unzweifelhaft der Wirkung der Kälte zuzuschreiben, wenn es auch nicht, wie viele ohne weitere Prüfung annehmen, alles neue Formen sind, die plötzlich dabei in die Erscheinung traten. Viel- mehr hat DixEy durch Vergleichung der verschiedenen Vanessaarten die phyletische Entwicklung ihrer Zeichnung auf den Flügel festzustellen gesucht und gefunden, daß jene Kälteaberrationen mehr oder weniger vollständige Rückschläge auf frühere phyletische Stadien sind. Für den gemeinen „kleinen Fuchs“ (Vanessa urticae), den Distelfalter (Vanessa cardui), den „Admiral“ (Vanessa atalanta), das ‚„‚Pfauenauge“ (Vanessa Jo) und den „großen Fuchs“ (Vanessa polychloros) kann ich dieser Deutung beistimmen und tue dies um so lieber, als ich schon vor ‚Jahren den Wechsel verschieden gefärbter (Generationen der saison-dimorphen Tagfalter als Rückschlag auf- gefaßt habe. Damit ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß nicht auch andere als atavistische Aberrationen der Zeichnung durch Kälte oder Wärme hervorgerufen werden könnten. Theoretisch stünde dem kaum etwas entgegen. Doch wird man diese sprungweise auftretenden Ab- änderungen nicht ohne weiteres jenen oben besprochenen Spielvarietäten der Pflanzen gleich setzen dürfen; ein bedeutsamer Unterschied besteht zwischen beiden. Bei den Schmetterlingen wandelt ein einziger kurzer Eingriff die Flügelzeiehnung um, bei den Pflanzenvarietäten aber geht dem Sichtbarwerden der Abänderung immer eine längere Umstimmungs- periode (des Keimplasmas vorher, die schon Darwın bekannte, jetzt von DE VRIES ‚„Prämutationsperiode“ benannte Einwirkungszeit der verändernden äußeren Einflüsse. Theoretisch werden wir diese merkwürdigen Aberrationen so zu verstehen haben, daß durch die Kälte die Determinanten der Flügel- 2 Kälteformen von Tagfaltern. 231 schuppen in der Flügelanlage der jungen Puppe verschieden beeinflußt werden, daß einige Arten derselben dadurch gestärkt, andere aber er- heblich geschwächt, gewissermaßen gelähmt werden, und daß auf diese Weise das eine Farbenfeld sich weiter ausbreitet auf dem Flügel als normalerweise, das andere weniger, während ein drittes ganz unter- drückt wird. Daß bei dieser Verschiebung des Gleichgewichts zwischen den Determinanten vorwiegend ein phyletisch älteres Zeichnungs- muster herauskommt, läßt darauf schließen, daß im Keimplasma der modernen Vanessaarten noch mehr oder weniger Vorfahren- determinanten neben den modernen enthalten sind. Man möchte fast daran denken, ob diese die Kälte etwa besser ertragen, als die modernen, weil ihre ursprünglichen Träger, die alten Arten der Eiszeit, an größere Kälte gewöhnt waren, doch stehen diesem Gedanken die Erfahrungen E. FiscHErs entgegen, nach welchem Forscher dieselben Aberrationen auch durch abnorm hohe Wärme erzielt werden können. Daß die alten Vorfahrendeterminanten in verschiedener Zahl dem Keimplasma der heute lebenden Vanessen beigegeben sind, möchte ich daraus schließen. daß unter einer großen Zahl von Kälteversuchen mit Vanessen, die ich im Laufe mehrerer Jahre angestellt habe, bei ver- schiedenen Bruten die Aberrationen stets in sehr verschiedener An- zahl vorhanden waren trotz sorgfältigster Herstellung möglichst gleicher Bedingungen: absolut gleich sind dieselben freilich niemals herzustellen. Doch es würde mich zu weit führen, noch näher auf diese wohl noch nicht vollständig durchgearbeiteten Fälle einzugehen; nur das eine sei noch zu erwähnen. daß nämlich die durch Kälte erzeugten Aberrationen bis zu einem gewissen Grade erblich sind. Zuerst gelang es Staxpruss, einige abgeänderte „kleine Füchse“ zur Fortpflanzung zu bringen und aus den Eiern derselben einige Schmetter- linge zu erhalten. die zwar eine weit schwächere, aber doch so deut- liche Abweichung von der Norm aufwiesen, daß man sie nicht für Zu- fall halten kann. Auch mir glückte dasselbe in einem Fall, und hier war die Abweichung eine noch schwächere. Daß aber beide Beobach- tungen mit Recht auf die Kältewirkung bezogen werden dürfen, welcher die Eltern unterworfen gewesen waren, wird durch Beobachtungen be- wiesen, welche E. FISCHER neuerdings veröffentlicht hat. Sie beziehen sich auf einen Spinner, den „deutschen Bär“, Arctia caja, einen Schmetter- Ing, der bei Tage fliegt und dementsprechend eine bunte und sehr markierte Zeichnung und Färbung besitzt. Eine große Zahl von Puppen wurden einer Kälte von — 8° ausgesetzt, und einige von ihnen ergaben auffallende, ganz dunkle Aberrationen (Fig. 129 A). Ein Paar derselben lieferte befruchtete Eier, und unter den Nachkommen, die bei gewöhn- licher Temperatur aufgezogen wurden, waren neben viel zahlreicheren normalen Schmetterlingen auch einige (17). welche die Aberration der Eltern, wenn auch in erheblich geringerem Grade aufwiesen (Fig. 120 2). Das zeigt also, daß die Kälte nicht nur die Flügelanlagen der elterlichen Puppen, sondern auch das Keimplasma getroffen und ver- ändert hatte, aber zugleich auch, daß diese letzte Veränderung eine minder starke war, als bei den Determinanten der Flügelanlage. So kommt der Schein einer Vererbung erworbener Charaktere zustande, Wie nun hier bei vielen dieser Kälteaberrationen die Kälte zwar die Abänderung hervorruft, aber doch nicht als etwas Neues schaft. sondern nur längst vorhandenen, aber für gewöhnlich unterdrückten 939 Veränderungen durch Mediumeinflüsse. Anlagen (das Übergewicht verschafft, so findet sich ganz ähnliches auch bei Ptlanzen. Ich denke dabei z. B. an die interessanten Versuche von VöcHrinG über den Einfluß des Lichtes auf die Blütenproduk- tion der Phanerogamen. Es hat sich dabei gezeigt, daß die wilde Balsamine, Impatiens Noli me tangere, in starkem Licht ihre bekannten selben Blumen hervorbringt, in schwachem aber kleine, geschlossen bleibende sog. „kleistogame“ Blüten. Man würde natürlich gänzlich fehl gehen. wollte man im starken oder schwachen Licht die wirkliche Ursache. die Causa materialis. dieser beiden Blütenformen erblicken, während dieses doch nur als Reiz wirkt, der die in der Konstitution der Pflanze schon vorhandenen Anlagen zu beiden zur Entwicklung be- stimmt. Wie schon längst bekannt, gehören zu dieser Pflanze normaler- weise zweierlei Blüten, und die in ihr schlummernden Anlagen zu beiden sind so eingerichtet, dab die offenen Blumen sich da entwickeln. wo die Aussicht auf Insektenbesuch und auf Kreuzbestäubung durch sie vorhanden ist, d.h. bei sonnigem Wetter, oder in stärkerem Licht, während die zur Selbstbefruchtung bestimmten geschlossenen und un- scheinbaren Blüten sich bei schwa- chem Licht, also an schattigen Stand- orten und versteckten Teilen der Pflanze bilden, wo Insektenbesuch nicht zu erwarten ist. Gerade bei den Pflanzen gibt es tausenderlei solcher Reaktionen des Organismus auf äubere Reize, welche nicht primärer Natur sind, d.h. nicht unvermeidliche Folge des Pflanzenorganismus im allgemeinen, sondern die auf Anpassungen des speziellen Organismus einer Art oder Artengruppe an ihre spezifischen Lebensbedingungen beruhen. Dahin Fig. 129. 4 Küälteaberration von dem „Deutschen Bär“ Arctia caja. # Der am stärksten aberrierende unter den Nach- kommen desselben; nach E. FISCHER. gehören alle Erscheinungen des Heliotropismus, Geotropismus, Chemotropismus, wie sie durch die zahlreichen und vortrefflichen Untersuchungen der Pflanzenphysiologen festgestellt worden sind. Daß sie alle Anpassungen und sekundäre Reizreaktionen sind, beweist die Tatsache, daß dieselben Reize in sehr verschiedenem, oft in geradezu entgegengesetztem Sinne auf die homologen Teile verschiedener Arten wirken. Während z. B. die grünen Sprosse der meisten Pflanzen dem Liehte zustreben, also positiv heliotropisch sind, wenden sich die Kletter- sprosse (des Epheus und des Kürbis vom Lichte ab, sind negativ helio- tropisch, eine zweckmäbige Anpassnng an das Klettern. Hier muß also der Grund dieser verschiedenen Reaktionsweise in der verschiedenen Beschaffenheit der Pflanzensubstanz des Sprosses liegen, und da diese sich in ihrer Beziehung zum Licht in so weitem Maße verschieden aus- bilden kann, so darf die Reaktionsfähigkeit der Pflanzensubstanz auf Licht überhaupt nicht als eine primäre Eigenschaft aufgefaßt werden, so etwa wie «die spezifische Schwere eines Metalls oder die chemischen i Sekundäre Reaktionen des Organismus. 233 Affinitäten des Sauerstoffs oder Wasserstoffs, sondern eben als Anpas- sungen der lebenden und veränderlichen Substanz an die speziellen Lebensbedingungen, deren Zustandekommen allein auf Selektionsprozesse bezogen werden kann. Da ist ja eben der Unterschied zwischen der lebenden Substanz und der unlebendigen, daß die erstere in hohem Betrage veränderlich ist, die letztere nicht: ist doch dies die Grund- verschiedenheit, von der die ganze Möglichkeit der Entstehung einer Organismen welt abhing. Auch bei den Tieren muß man unterscheiden zwischen solchen direkten Wirkungen äußerer Einflüsse, auf welche der Organismus nicht schon eingerichtet ist. also zwischen primären Reaktionen desselben und den sekundären, d. h. solchen, die auf zweckmäßiger Anpassung desselben an den Reiz beruhen. Wenn z. B. HErgBsT künstliches Seewasser herstellte, in welchem das Natron durch Lithion ersetzt war, und nun die Eier von Seeigeln in diesem künstlichen Seewasser zu stark abweichenden, sonderbar ge- bauten Larven sich entwickeln sah, so haben wir hier eine primäre Reaktion des Organismus auf veränderte Lebensbedingungen vor uns — keine Anpassung. keine vorbereitete Reaktion. Dementsprechend gehen denn auch diese „Lithionlarven“ später zugrunde. Auch die vorhin besprochene Schwärzung des Feuerfalters. Poly- ommatus Phlaeas, wird als eine primäre Reaktion aufzufassen sein, schwerlich dagegen die meist in diesem Sinne gedeuteten Abänderungen jener Artemia-Art, welche in den Salzlachen der Krim lebt, und von welcher SCHMANKEWITSCH zeigte, dab sie bei Verminderung des Salz- gehaltes des Wassers gewisse Veränderungen durchmacht, die sie der Süßwasserform Branchipus nähern, während sie bei steigendem Salz- gehalt in umgekehrter Weise sich verändert. Wahrscheinlich liegen hier schon Anpassungen an den periodisch sehr wechselnden Salzgehalt der Wohnorte dieser Art vor. Kein Zweifel kann darüber sein bei jenen Raupen aus verschie- denen Schmetterlingsfamilien, von welchen PouLTox zeigte, daß sie in der ersten Jugend die Fähigkeit besitzen, sich der Farbe ihrer zufälligen Umgebung genau anzupassen. Hier genügte offenbar der Schutz nicht, den die Raupe durch eine ungefähre Farbenähnlichkeit mit der Um- gebung erhalten hatte, vermutlich weil diese letztere eine verschiedene sein kann, indem die Art auf verschiedenen, abweichend gefärbten Pflanzen und Pflanzenteilen lebt. So entstand eine fakultative An- passung. Selektion rief eine in wunderbarer Weise spezialisierte Reiz- barkeit der verschiedenen zelligen Elemente der Haut für verschiedenes Licht hervor, welche nun bewirkt, daß die Haut jedesmal die Färbung annimmt, welche in den ersten Tagen ihres Lebens von den die Raupe umgebenden Teilen der Pflanze auf sie zurückstrahlt. So nehmen die Raupen eines Spanners, Amphidasis betularia, die Färbung der Zweige an, auf und zwischen welchen sie sitzen, und man kann sie schwarz, braun, weiß oder hellgrün werden lassen, ganz unabhängig vom Futter, je nachdem man sie zwischen derart gefärbten Zweigen (oder auch ge- färbtem Papier) aufzieht. Auf noch komplizierteren Anpassungen beruht der Farbenwechsel bei Fischen, Amphibien, Reptilien und Cephalopoden. Hier ist ein Reflexmechanismus vorhanden, welcher den Lichtreiz, der das Auge trifit, dem Gehirn zuleitet und nun dort in Erregungen gewisser Hautnerven umsetzt, welche dann ihrerseits die die Färbung bedingen- 234 Veränderungen durch Mediumeinflüsse. den beweglichen Zellen der Haut verändern und verschieben, ent- ‘ sprechend der Zweckmäßigkeit. Darauf beruht der Farbenwechsel des dafür altberühmten Chamäleons, aber auch der kaum minder auffällige des Laubfroschs, welcher hellgrün erscheint, wenn er auf Blättern sitzt, tief dunkelbraun aber, wenn er im Dunkeln gehalten wird. Alles dieses sind sekundäre Reaktionen des Organismus, bei welchen der äußere Reiz vom Organismus gewissermaßen benutzt wird zur Aus- lösung zweckmäßiger, dauernder oder momentaner Veränderungen. Bei den Raupen sind sie dauernd, d. h. nur die Junge Raupe nimmt die Farbe ihrer Umgebung an, später verändert sie sich nicht mehr, auch wenn sie anderem Licht ausgesetzt oder künstlich auf eine Nährpflanze von anderer Farbe versetzt wird: bei Fischen, Fröschen und Dinten- fischen dagegen überdauert die Reaktion der Farbzellen den Lichtreiz nur um weniges und wechselt mit diesem. Die Zweckmäßigkeit auch dieses Unterschiedes leuchtet ein. Wenn nun gefragt wird, wie groß der direkte Einfluß äube- rer Bedingungen auf das Keimplasma sein könne, wie stark durch stets wiederholte kleine Veränderungen bestimmter Determinanten diese und die von ihnen bestimmten Stellen des Körpers im Laufe der Gene- rationen verändert werden können, wie stark also diese direkte Wirkung von Klima und Nahrung mitspielt bei der Umwand- lung der Arten, so kann darauf an der Hand der Erfahrung nicht geantwortet werden, weil es an völlig sichern und klaren Erfahrungen eben fehlt, weil wir in den wenigsten Fällen überhaupt nur wissen, wie groß die Veränderungen sind, die im Einzelleben am Körper durch irgend einen dieser Faktoren gesetzt werden können. In den meisten Fällen bleibt es überhaupt ungewiß, ob wirklich vererbbare Wir- kungen mitspielen, ob also das Keimplasma selbst getroffen wurde. Will man sich aber theoretisch klar machen, wie weit direkte klima- tische Wirkungen reichen, so wird man sagen dürfen: so weit, als sie nicht störend in das Leben der betreffenden Art ein- greifen, denn in dem Augenblick, in welchem eine solche direkte Wir- kung anfängt, verderblich für die Art zu werden, wird Selektion ein- greifen und durch Bevorzugung der minder stark auf den Klimareiz reagierenden Individuen die Abänderung zurückschrauben. Sollte das in irgend einem Fall physisch nicht mög glich sein, so würde die Art in dem betreffenden Klima aussterben. Wenn eine Tier- oder Pflanzenart klimatische Grenzlinien hat, so bedeutet das eben, daß die darüber hinaus sich verbreitenden Individuen Einflüssen ausgesetzt sind, die sie existenzunfähig machen, und welche Naturzüchtung nicht neutralisieren kann. Wir stoßen hier auf eine der Grenzen der Machtsphäre von Naturzüchtung. Die stärksten Wirkungen werden Mediumein- tlüsse immer auf das Soma des einzelnen Individuums ausüben, und wir haben ja an dem Beispiel der Alpenpflanzen und der Gallen gesehen, wie außerordentlich weit dieselben gehen können, ohne doch irgend eine Spur im Keimplasma zu hinterlassen. XXXlIl. VORTRAG. Einfluß der Isolierung auf die Artbildung. Einleitung p. 235, Isolierte Gebiete sind reich an endemischen -Arten p. 237, Ist Isolierung Bedingung der Artbildung? MORITZ WAGNER, ROMANES p. 238, Amiktische Lokalformen, Schmetterlinge Sardiniens, der Alpen und der arktischen Zone p. 239, Konstanz- und Variationsperioden der Arten p. 240, Amixie gefördert durch Germinal- selektion p. 241, Die Drosseln der Gallapagos-Inseln p. 242, Eingreifen sexueller Züchtung p. 242, Kolibris p. 243, Zentralamerikanische Drosseln p. 243, Webervögel Südafrikas, Papilioniden des malayischen Archipels p. 244, Naturzüchtung und Iso- lierung p. 244, Schnecken der Sandwich-Inseln p. 245, Einfluß der Variationsperiode p. 247. Vergleich mit der Weinbergsschnecke p. 247, mit der Schneekenfauna Irlands und Englands p. 248, Veränderte Bedingungen rufen nicht immer Abänderungen hervor p. 249, Zusammenfassung p. 250. Meine Herren! In einem der früheren Vorträge suchte ich Ihnen an der Hand Darwınscher Beweisführungen und Beispiele zu zeigen, wie bedeutsam für jede Art in bezug auf Umgestaltung die (Gesell- schaft von anderen Arten ist, mit denen sie auf einem Wohngebiet zu- sammenlebt. Wir sahen, daß in der Zusammensetzung dieser Tier- und Pflanzengesellschaft ein ebenso wesentliches Moment der „Lebens- bedingungen“ gelegen ist, als etwa in irgend welchen klimatischen Ver- hältnissen, ja daß Darwın sogar den Einfluß dieser Lebensgesellschaft noch höher anschlug, ihm einen größeren Anpassungszwang zuschrieb, als den physikalischen Lebensbedingungen. So sind wir darauf vorbereitet, anzuerkennen, daß schon bloß durch Versetzung in eine andere Fauna und Flora eine Art möglicher- weise zum Abändern veranlaßt werden kann, wie (dies dann eintritt, wenn dieselbe bei ihrer allmählichen Ausbreitung in Gebiete eindringt, die eine wesentlich andere Lebensgesellschaft enthalten. Solche Wande- rungen können aber nicht nur allmählich geschehen, d. h. durch Aus- dehnung des ursprünglichen Wohngebietes über immer weitere Räume im Laufe der Generationen und Hand in Hand mit der Zunahme der Individuenzahl, sondern gelegentlich auch plötzlich, dadurch, daß ein- zelne Individuen oder kleine (Gesellschaften einer Art auf ungewöhn- lichem Weg über die natürlichen Schranken des alten Wohngebietes hinausgeführt werden, und dann auf fernes neues (rebiet gelangen, auf dem sie gedeihen können. Solche Artkolonien können durch den Menschen veranlaßt werden, der ja viele seiner Haustiere und Pflanzen weithin über die Erde verbreitet, der aber auch wilde Pflanzen und Tiere absichtlich oder unabsichtlich von ihrem ursprünglichen Wohngebiet nach fernen Punkten der Erde versetzt hat — ich erinnere an die der Befruchtung des Klees zuliebe nach Neuseeland importierten englichen Hummeln 236 Einfluß der Isolierung. aber solche Kolonien kommen auch unabhängig vom Menschen tausend- fach vor, und die Mittel, durch welche sie geschaffen werden, sind sehr verschiedene. Kleine Singvögel können gelegentlich einmal durch‘ Stürme aufs Meer hinausgetrieben und weit fortgeführt werden, um, wenn das Glück ihnen wohl will, auf einer fernen Insel im Weltmeer” eine neue Wohnstätte zu finden: Süßwasserschnecken können, wenn sie gerade aus dem Ei geschlüpft sind, an den breiten Schwimmfuß und das Gefieder einer Wildente oder eines anderen Zugvogels kriechen, dann von demselben über weite Länder und Meere mitgeführt, und” schließlich in einem fernen Sumpf oder See wieder abgesetzt werden.‘ Dies muß sogar nicht so selten geschen, wie die weite Verbreitung unserer mitteleuropäischen Süßwasserschnecken nach Norden und nach’ Süden hin beweist. Aber auch Landschnecken können, wenn auch nur selten, durch passive Wanderung: über scheinbar unüberschreitbare Schranken hinweggetragen werden, wie uns die Anwesenheit von Land- schnecken auf fernen im Weltmeer gelegenen Inseln zeigt. Die Sandwichmseln sind mehr als 4000 Kilometer vom Festland von Amerika entfernt, sind als Vulkane mitten aus dem stillen Ozean” emporgestiegen und besitzen dennoch eine reiche Landschneckenfauna, deren erster Anfang nur durch zufälligen Import einzelner Schnecken: mittelst verschlagener Landvögel dorthin gelangt sein kann. CH. Dar- | wın war der erste, der sich über die Besiedelung von Inseln mit tieri-" schen Bewohnern eingehende Rechenschaft zu geben versuchte, und das Kapitel in seiner „Entstehung der Arten“, welches von der geo- graphischen Verbreitung der Tiere und Pflanzen handelt, bildet neu noch die Grundlage aller auf diesen Punkt gerichteten Untersuchungen. Wir lernen aus diesem, dab viele Landtiere, von denen man es a priori- nicht erwarten sollte, über den Ozean zufällig hinübergetragen werden können, sei es. dab sie wie Schmetterlinge und andere Hiegende Insek-" ten, wie Landvögel und Fledermäuse durch Winde verschlagen werden, sei es, daß sie versteckt in Ritzen und Spalten von Treibholz als Eier. oder auch als fertige Tiere längere Zeit der sonst so verderblichen” Einwirkung des Seewassers Widerstand leisten. So können Eier von niederen Krusten (Daphniden), die im Schlamm des Süßwassers masse haft enthalten sind, durch Vögel mit etwas Erde an ihren Füßen weit- hin verschleppt werden, und ebenso eingekapselte Infusorien und andere h Einzellige, sowie Rädertiere. In allen diesen und in vielen anderen’ Fällen kann es gelegentlich geschehen, dab einzelne oder wenige Indie) viduen einer Art nach einem weit entfernten und gegen die “übrigen Artgenossen abgeschlossenen Gebiete gelangen, und falls sie dort ge-" deihen, eine Kolonie gründen, die sich nach und nach über das ganze” isolierte Wohngebiet ausbreitet, soweit (dasselbe günstige Lebensbedin- eungungen für sie darbietet. Als isolierte Gebiete dürfen aber nicht nur die Inseln des Ozeans für Landtiere gelten, sondern ebensowohl auch Berge oder (Gebirge, die sich mitten im Flachland erheben, für Gebirgsbewohner von geringem Wandervermögen, Pflanzen sowohl als Tiere. Ebenso werden auch die Tiere «des Meeres «durch Landbrücken voneinander isoliert, so diejenigen des roten Meeres von den Bewohnern des Mittel- meeres, wie das alles schon von DARwıINn eingehend erörtert worden ist, Der Begriff des isolierten Gebietes ist immer ein relativer, und das- selbe (sebiet, welches für eine Landschnecke völlig insular erscheint, ist es für einen gut und weit fliegenden Seevogel durchaus nicht. Ab- ag nn Verbreitungsmittel und -Schranken. 237 solute Isolierung irgend einer bestehenden Kolonie gibt es überhaupt nicht, sonst hätte diese selbst ja auch nicht auf das Inselgebiet ge- langen können, aber der Grad der Isolierung kann für die Zeitdauer unserer Beobachtung ein absoluter sein, wenn die Verschleppung einer bestimmten Art auf das isolierte Gebiet so selten eintritt, daß wir sie in Jahrhunderten, ja selbst in Jahrtausenden nicht beobachten würden, daß klimatische oder geologische Veränderungen dazu gehören, um sie zu ermöglichen, Untersinken von Landbrücken zwischen früher ge- trennten Meeresteilen. oder, wenn wir an Landtiere, z. B. Schnecken denken, Emporsteigen des Meeresgrundes und Ausfüllung von länder- trennenden Meeresarmen. Aber auch das Verschleppen einer Art durch die vorhin angedeuteten zufälligen Transportmittel wird bei großer Entfernung des Inselgebietes so überaus selten einmal vorkommen, daß die Isolierung einer durch einen solchen Zufall entstandenen Kolonie als eine nahezu absolute betrachtet werden darf den Artgenossen auf dem ursprünglichen Wohngebiet gegenüber. Prüfen wir nun solche Inselgebiete in bezug auf ihre dort isoliert lebenden tierischen Bewohner, so begegnen wir der überraschenden Tatsache, daß dieselben zahlreiche sog. endemische Arten beher- bergen, d. h. Arten, die nur dort auf der Erde vorkommen, und weiter, daß solche Arten um so zahlreicher sind, je weiter die Insel von dem nächsten Wohngebiet verwandter Arten entfernt liegt: es sieht also auf den ersten Blick ganz so aus, als sei die Isolierung allein schon eine direkte Ursache der Artumwandlung. Die Tatsachen, welche nach dieser Richtung zu deuten scheinen, sind so zahlreich, daß ich nur eine kleine Auswahl davon anführen kann. Die schon genannten Sandwich-Inseln besitzen 18 endemische Landvögel und nicht weniger als 400 endemische Landschnecken, alle der nur dort vorkommenden Gattungsgruppe der Achatinellinen an- gehörig. Die Gallapagos-Inseln liegen 1000 Kilometer von der Küste Südamerikas entfernt, und auch sie beherbergen 21 endemische Arten von Landvögeln, darunter eine Ente, einen Bussard und etwa ein Dutzend verschiedene, aber nahe verwandte Spottdrosseln, von denen jede nur einer oder zweien der 15 Inseln angehören. Auch eigen- tümliche Reptilien besitzt die Inselgruppe, die ja ihren Namen von den riesigen, bis zu 400 Kilogramm schweren Landschildkröten erhalten hat, welche in der Tertiärzeit auch das Festland von Südamerika be- wohnten, jetzt aber nur dort vorkommen. Sie besitzt auch endemische Eidechsen der Gattung Tropidurus, und wenn auch Eidechsen wohl ebensowenig als Landschildkröten dorthin über das Meer verschleppt worden sein können, sondern den auch aus geologischen Tatsachen ab- geleiteten Schluß bestätigen, daß die Inselgruppe noch in der Tertiär- zeit mit dem Festland in Verbindung stand, so bezeugt doch wieder das Vorkommen einer besonderen Art von Tropidurus auf beinahe jeder der 15 Inseln von neuem den geheimnisvollen Einfluß der Isolierung, denn die meisten dieser Inseln sind für Eidechsen gegeneinander völlig isolierte Gebiete, noch mehr wie für die Spottdrosseln, die sich doch auch in eine Reihe von Arten gespalten haben. So liegt die Vermutung nahe, die Darwın zuerst auf die Ent- wicklungslehre hinführte, daß die Verhinderung der steten Kreuzung einer isolierten Kolonie mit den Artgenossen des ursprünglichen Wohn- gebietes die Bildung neuer endemischer Arten begünstige, und dieser 238 Einfluß der Isolierung. Schluß wird bestätigt, wenn wir erfahren, daß Inseln wie die Gallapagos zwar 21 endemische Landvögel, aber nur zwei endemische See- vögel unter elfen besitzen, denn die letzteren überfliegen fortwährend weite Strecken des Meeres, und Kreuzungen mit den Artgenossen der benachbarten Festlandsküste werden häufig eintreten. Auch die Ber- mudas-Inseln bilden einen Beleg dafür, daß die Bildung endemischer Arten gehindert wird durch regelmäßige Kreuzung mit den Artgenossen des ursprünglichen Wohngebietes, denn obgleich 1200 Kilometer vom Festland von Nordamerika entfernt, also etwas weiter noch als die (rallapagos von Südamerika, besitzen sie doch keine einzige endemische Vogelart, und wir werden dies ohne Zweifel damit in Verbindung bringen dürfen, daß hier ein regelmäßiger Besuch der Wandervögel des Kontinents in jedem Jahre stattfindet. Auch Madeira bestätigt unseren Schluß, denn nur eine von den 99 dort vorkommenden Vogelarten kann als eine endemische betrachtet werden, und man hat oft beobachtet, daß Vögel von dem nahen (nur 240 Kilometer entfernten) afrikanischen Festland dorthin verschlagen werden. Landschnecken dagegen werden nur sehr selten durch Vögel nach Madeira gelangen, und dementsprechend begegnen wir dort einer auffallenden Menge endemischer Landschnecken, nämlich 109 Arten. So sehr nun auch diese und ähnliche Tatsachen darauf hindeuten, daß Isolierung die Bildung neuer Arten begünstigt, so würde man doch fehl gehen, wollte man sich vorstellen, daß jede Isolierung einer Art- kolonie sohon ihre Umprägung zu einer neuen Art bedingte, oder gar, wie es zuerst MORITZ WAGNER und später DIXxoN und GULICK ausge- sprochen haben, daß Isolierung die unerläßliche Vorbedingung zur Abänderung der Arten sei, daß nicht Selektion, sondern allein Isolierung die Umwandlung einer Art, also ihre Spaltung in mehrere Formen ermögliche. ROMANES wandte dann die Sache so, daß er die DArwın-WALLACEsche Naturzüchtung als eine Unterart der Isolierung auffaßte, und Isolierung in ihren verschiedenen Formen, wie er sie ver- stand, als das einzige artbildende Prinzip hinstellte.e Er nahm an, dab nur durch Beseitigung solcher Individuen, welche nicht abänderten, der stete Rückschlag zur Stammart verhindern werden könne, und sah die Wirkung von Selektionsprozessen in der durch Beseitigung minder passender Individuen bewirkten „Isolierung“ der besser passenden. Der Gedanke ist insoweit richtig, als ja unzweifelhaft Selektion eben gerade dadurch der günstigen Abänderung zum Sieg über die alte Form ver- hilft, daß diese letztere als minder günstig gestellt im Kampf ums Dasein nach und nach immer vollständiger unterliegt und ausgemerzt wird, daß also wie durch örtliche Isolierung eine stete Vermischung der neuen Form mit der alten Form verhindert wird; offenbar könnte die neue, bessere Form nicht zur herrschenden, ja nicht einmal zu einer dauernden werden, wenn sie stets wieder mit der alten vermischt würde. Ob es aber zweckmäßig ist, dies unter den Begriff der Isolie- rung zu bringen und zu sagen, die Vermischung mit der Stammform werde bei Umwandlung durch Naturzüchtung dadurch verhindert, daß die günstig Abändernden eben durch ihre Überlegenheit isoliert würden von den unterliegenden, d. h. dem Untergang geweihten Nicht- abgeänderten, ist doch wohl zweifelhaft; ich wenigstens möchte lieber an dem ursprünglichen Sinn des Wortes festhalten und unter Isolie- rung nur das räumliche Getrenntsein einer Artkolonie ver stehen. ä Endemische Arten auf Inselgebieten. 239 Ob dieses nun für sich allein schon eine ebenso wirksame Ver- hinderung der Vermischung mit der Stammform bildet, als Selektion sie bewirkt. und weiter, ob Isolierung allein für sich schon zur Bildung neuer Formen führen kann, oder vielleicht sogar führen muß, wäre jetzt zunächst zu untersuchen. In dieser Frage stehe ich heute noch auf dem nämlichen Stand- punkt, den ich schon vor nahezu 30 Jahren einnahm, als ich in einer kleinen Schrift*) zu zeigen suchte, dab in der Tat unter günstigen Umständen die einzelne Variation einer Art zur Stammmutter einer Lokalvarietät werden kann, falls sie auf isoliertes (Gebiet gerät. (Gresetzt eine Insel; hätte noch keine Tagfalter, und es würde nun eines Tages ein normales befruchtetes Weibchen einer Art vom Festland aus durch Stürme dorthin getrieben, fände geeignete Lebensbedingungen dort vor, legte seine Fier ab und würde so zur Gründerin einer Kolonie, so läge in der Verhinderung steter Kreuzung dieser Kolonie mit der fest- ländischen Stammart an und für sich noch kein Grund dafür, daß die Kolonie zu einer Varietät sich umbilden sollte. Gesetzt nun aber, die betreffende Gründerin der Kolonie wiche in irgend einer bedeutungs- losen Kleinigkeit der Zeichnung, wie sie durch Germinalselektion ent- stehen kann, von der Stammart ab, so würde sie diese Variation auf einen Teil ihrer Brut vererben, und es würde damit die Möglichkeit gegeben sein, daß auf der Insel eine Varietät sich festsetzte, die (das Mittel aus den Charakteren der überlebenden Nachkommen sein müßte. Je mehr die Abweichnng unter den ersten Nachkommen der Stamm- mutter überwöge, und je stärker diese abweichende Variationsrichtung wäre, um so größer wäre auch die Aussicht, daß sie sich weiter fort- setzte und als eine erkennbare Abweichung von der Zeichnung der Stammart erhielte. Ich habe das damals die Wirkung der Isolierung durch Amixie genannt, d. h. durch die bloße Verhinderung der Kreu- zung mit den Artgenossen des Stammgebietes. Beispiele dazu liefern uns schon die Mittelmeerinseln Sardinien und Korsika, welche gemeinschaftlich neun endemische Varietäten von Schmetterlingen besitzen, von denen die meisten sich nur ganz unbedeutend von den Arten des Festlandes unterscheiden, immer aber ganz bestimmt und konstant. So fliegt auf diesen Inseln eine Abart unseres gemeinen kleinen „Fuchses“, der Vanessa urticae, welcher zwei sehwarze Flecken auf den Vorderflügeln fehlen, welche die Stammart besitzt: Vanessa ichnusa. Der „große Fuchs“, Vanessa polychloros, kommt dort auch vor, hat sich aber nicht verändert und führt noch dieselben beiden schwarzen Flecken. Auch der bei uns heimische kleine Grasfalter, Pararga megaera, auf steinigen heißen Grashalden, Stein- brüchen und Wegen häufig, flieet in Sardinien, aber in der Abart „tigelius“, die sich nur durch das Fehlen einer feinen schwarzen Bogenlinie auf den Hinterflügeln von der Stammart unterscheidet. Daß bei zwei nahe verwandten und ähnlich gezeichneten Arten, wie beim großen und kleinen „Fuchs“, die eine Art unverändert ge- blieben, die andere aber sich zur Abart umgestaltet hat, zeigt uns, daß Amixie allein nicht in jedem Falle zur Varietätenbildung führen muß. Man könnte ja freilich einwerfen, die eine Art könne schon seit längerer Zeit auf den Inseln eingewandert sein, als die andere, und es könnte direkte Wirkung des Klimas sein, welche hier zum Ausdruck käme. *) „Über den Einfluß der Isolierung auf die Artbildung“, Leipzig 1872. 240 Einfluß der Isolierung. Wir haben aber andere, ähnliche Fälle, in denen die eine Art eines isolierten Gebietes abgeändert hat, die andere nicht, und bei welchen wir bestimmt nachweisen können, dab beide gleichzeitig isoliert worden sind. Ich denke dabei an die polaren und alpinen Schmetterlinge, welche zur Eiszeit die Ebenen Mitteleuropas bewohnten und später bei Milderung des Klimas teils nach Norden in die Länder der arktischen Zone, teils aber nach Süden auf die Alpen hinauf der zunehmenden Wärme ausgewichen sind. Es gibt eine ganze Anzahl von Tagfaltern, welche beiden (Grebieten heute angehören, und von diesen sind sich einige völlig gleich geblieben, so daß arktische und alpine Stücke nicht zu unterscheiden sind, andere zeigen leichte Verschieden- heiten, so daß man eine alpine und eine arktische Varietät unter- scheidet. Zu den ersteren gehören z. B..Lycaena Donzelii und Lycaena Pheretes, Argynnis Pales, Erebia Manto und andere, zu letzteren Lycaena Orbitulus Prun., Lycaena Optilete, Argynnis Thore und einige Arten der Gattung Erebia. Es kann sich hier nieht um direkte Wirkung allgemeiner klima- tischer Einflüsse handeln, sonst müßten alle nahestehenden Arten einer (rattung abgeändert oder nicht abgeändert haben, auch nicht um An-, passungen, denn die Zeichnungsunterschiede beziehen sich auf die Ober- seite der Flügel, welche wenigstens Schutzfärbungen bei diesen Faltern nicht besitzen. Es kann nur die Kreuzungsverhinderung selbst sein, welche etwa vorhandene Variationsrichtungen der isolierten Kolonie festhielt, während sie bei steter Vermischung mit allen übrigen Art- genossen wieder verwischt worden waren. | Noch ein Moment aber kommt hierbei wohl in Betracht. Solche alpine Schmetterlinge nämlich, welche im hohen Norden nicht genau mehr die gleichen geblieben sind, haben auch auf ihrem übrigen Verbreitungsgebiet Lokalvarietäten gebildet, während Arten, die | auf den Alpen und im Norden ganz eleich geblieben sind, auch auf anderen isolierten Gebieten, z. B. auf De Pyrenäen, in Labrador oder - dem Altai keine Abweichungen aufweisen. Die eine Art war also zur Eiszeit geneigt Lokalformen zu bilden, die andere nicht, und ich habe dies früher schon durch die Annahme zu erklären gesucht, daß die erstere sich zur ‘Zeit ihrer Wanderung und Trennung in verschiedene Kolonien in einer Periode erhöhter Variabilität befunden habe, die letztere in einer relativ hohen Konstanzperiode. Sehen wir einst- weilen ganz von den Ursachen der Erscheinung ab, so ist es doch sicher, daß es sehr variable und sehr konstante Arten gibt, und es leuchtet ein, daß Kolonien, die von einer sehr variabeln Art g& gründet werden, kaum je völlig identisch mit der Stammart sein können, ' und daß mehrere von ihnen, auch unter Voraussetzung völlig gleicher ! Lebensbedingungen, auch untereinander verschieden ausfallen werden, denn keine der Kolonien wird alle Varianten des Stammgebietes im gleichem Verhältnis enthalten, sondern meist nur einige von ihnen, und das Mischungsprodukt derselben muß schließlich auf jedem Kolonie- gebiet eine etwas andere Konstanzform ergeben. | Wenn man heute diese Wirkung der Amixie künstlich nachmachen ' wollte, so brauchte man nur von den Straßen einer Großstadt ver- schiedene trächtige Hündinnen aufs Geradewohl aufgreifen und jede (davon auf einer noch nicht von Hunden bewohnten Insel aussetzen zu lassen, so würde man auf jeder dieser Inseln eine ‚besondere Hunde- rasse entstehen sehen. auch wenn die Lebensbedingungen ganz dieselben F = ger Amixie und Germinalselektion. 241 wären. Setzte man aber statt dessen je ein Weibchen des russischen Wolfes aus, so würden die nun sich bildenden Wolfkolonien so wenig von «der Stammart abweichen, als die russischen Wölfe untereinander abzuweichen pflegen — gleiches Klima und gleiche Lebensbedingungen vorausgesetzt. Es gibt also eine Varietätenbildung bloß durch Amixie, und wir werden sie nicht ganz gering achten dürfen, wenn wir bedenken, daß individuelle Variationen der Ausfluß von Schwankungen im Gleich- gewicht des Determinantensystems des Keimplasmas sind, denen das- selbe immer mehr oder weniger unterworfen ist, und daß Variationen der Determinanten, seien sie nach Plus oder nach Minus gerichtet, die Tendenz in sich tragen, sich in der einmal eingeschlagenen Riehtung zu steigern und zu bestimmten Variationsrichtungen zu werden. Auf isoliertem Gebiete müssen solche Variations- richtungen sich ungestörter eine Zeit lang fortsetzen können, weil sie nicht so leieht durch Vermischung mit stark abweichenden Keimplasmen wieder unterdrückt werden. Die Aussicht, daß solche in einigen Iden des Keimplasmas durch (Grerminalselektion angeregte Variationsrichtungen sich erhalten und steigern werden, ist offenbar um so größer, je ähnlicher die in Amphi- mixis sich verbindenden Keimplasmen sind. Nennen wir z. B. die variierende Determinante /v und nehmen den günstigen Fall an, dab sie bei dem auf eine Insel verschlagenen Schmetterlingsweibchen in drei Viertel aller Ide der befruchteten Eier vertreten sei, z. B. in 12 von 16 Iden, so werden von 100 Nachkommen erster Generation mög- licherweise 75 oder mehr die Determinante Dr” ebenfalls enthalten, und zwar teils in einer geringeren Zahl von Iden, teils in einer größeren, als die Mutter, je nachdem die Reduktionsteilung günstiger ausfiel. Wenn nun die Paarung der Nachkommen wieder in günstigem Sinne geschieht — was ganz vom Zufall abhängt — so muß eine dritte (reneration entstehen. die durchweg die Variante Dr enthält, und damit wäre die Fixierung dieser Abänderung auf der Insel eingeleitet, d. h. es wäre die Möglichkeit gegeben, daß die an Zahl bedeutend überlegenen Individuen mit einer Majorität von Dr nach und nach allein übrig blieben, indem sie durch stete Kreuzung mit der Minder- zahl von Individuen, die nur /) Determinanten besitzen, auch den Nachkommen dieser ihre abgeänderten Ide 'beimischten, bis schließlich Keimplasma mit lauter alten Iden nieht mehr vorkäme. Es ist bei diesem Vorgang nicht nötig anzunehmen, daß der erste Einwanderer bereits die Abänderung sichtbar besitze: wenn nur in der Mehrzahl seiner Ide sich eine in bestimmter Richtung abändernde Determinante befindet, so wird diese allmählich infolge anhaltender Germinalselektion sich stärker verändern können, so daß eine äußerlich sichtbare Abänderung hervortritt. Dieselbe würde nicht hervorgetreten sein, wäre das betreffende Tier auf dem allgemeinen Wohnort der Art geblieben, denn hier wäre es von lauter normalen Keimplasmen um- geben gewesen, und seine direkten Nachkommen, auch wenn sie für die Entstehung einer Abänderung so günstig ausgefallen wären, wie wir es angenommen haben, würden sich nicht nur unter sieh fort- gepflanzt haben, was schon in der nächsten Generation die Herabsetzung der Anzahl der Ide mit Dr zur Folge hätte haben müssen. Offenbar aber ist es bis zu gewissem Grade Sache des Zufalls, ob bei den isolierten Nachkommen die Variation, oder die Normalform Weismann, Deszendonzthonrie. II. 2, Aufl 16 242 Einfluß der Isolierung. Siegerin bleibt, denn es hängt ab von der ursprünglich in den befruch- teten Eiern vorhandenen Zahl von Iden mit Dr, dann vom Zufall der Reduktionsteilung und schließlich wieder vom Zufall, der gerade solche Individuen zur Paarung zusammenführt, welche eine Überzahl abge- änderter Ide enthalten. Die Wahrscheinlichkeit des Sieges der Variation wird in erster Linie durch die Stärke der Majorität abgeänderter Ide in den befruchteten Eiern der Stammeltern beruhen; ist diese eine ganz überwiegende, so ist auch die Aussicht günstiger Reduktionsteilungen und günstiger Paarungen eine überwiegende. Die Entstehung einer reinen Amixie-Varietät wird somit davon abhängen, daß die gleiche Variationsrichtung /v in einer größeren Anzahl von Iden des Stamm- keimplasmas vorhanden war. Wir werden uns also nicht wundern dürfen, daß von den zahlreichen Tagfaltern Korsika-Sardiniens nur acht sich zu endemischen, wahrscheinlich amiktischen Varietäten umgebildet haben. Wenn wir aber nun trotzdem so viele Arten ozeanischer Inseln und sonstiger isolierter Gebiete als endemische erkennen, als autoch- thone, dort entstandene, so muß offenbar noch anderes bei ihrer Bil- dung mitgewirkt haben, als die bloße Verhinderung der Kreuzung mit unveränderten Artgenossen. Nun können — wie wir gesehen haben — die durch Germinalselektion im Keimplasma entstandenen Variations- richtungen in verschiedener Weise zur Herrschaft gelangen: einmal dadurch, daß klimatische Einflüsse sie begünstigen, dann aber da- durch, daß Personalselektion sie auf den Schild erhebt, sei es als Naturzüchtung oder als sexuelle Züchtung. Da insulare Wohngebiete nicht selten auch besondere klimatische Bedingungen ihren Bewohnern entgegenbringen, so wird man von vorn- herein annehmen (dürfen, daß gar manche der „endemischen* Arten klimatische Varietäten sind, allein in vielen Fällen reichen wir mit dieser Erklärung nicht aus. Wenn z.B. auf mehreren der Gallapagos- inseln besondere Lokalformen einer Spottdrossel leben, so kann das nicht auf einer Verschiedenheit des Klimas beruhen, denn diese Inseln liegen nur wenige Kilometer auseinander und ähneln sich außerdem in ihren Lebensbedingungen. Da aber die Unterschiede dieser Lokal- formen sich vorwiegend beim männlichen Geschlecht zeigen in Gestalt unbedeutender Farbenabänderungen gewisser Teile des Gefieders, so wird man an sexuelle Züchtung denken müssen, die auf Grund von (serminalselektion auf manchen der Inseln ihren eigenen Weg gegangen ist. Sexuelle Züchtung operiert ja wohl vor allem mit sporadisch auftretenden in irgend welchem Sinne auffallenden Charakteren. Gerade solche Abänderungen aber sind es, welche durch Germinalselektion hervorgerufen werden, sobald dieselbe längere Generationsfolgen hin- (dureh ungestört ihren Fortgang nehmen kann. Solche Charaktere, z. B. abnorm gestaltete, oder gefärbte Federn an einem Vogel, neue Farben- tlecken bei einem Schmetterling kommen zum Vorschein, wenn eine Determinantengruppe sich längere Zeit ungehindert, d. h. ohne als schädlich durch Naturzüchtung beseitigt oder durch Kreuzung verwischt zu werden nach derselber Richtung hin verändern kann. Gerade dieses aber wird bei Isolierung eines Paars am leichtesten geschehen, und sobald der dadureh bewirkte auffallende Charakter einmal hervorgetreten ist, bemächtigt sieh sexuelle Züchtung desselben, und sorgt dafür, dab alle Individuen, d. h. Keimplasmen, welche ihn besitzen, bevorzugt werden in bezug auf Fortpflanzung. Isolierung und sexuelle Selektion. 243 Ich glaube deshalb. daß ein großer Teil der endemischen Vogel- und Schmetterlingsarten isolierter Gebiete ihren Grund in Amixie auf Grundlage von Germinalselektion hat, deren Resultate dann durch sexuelle Züchtung gesteigert wurden. Damit stimmt die Erfahrung, soweit ich sehe, denn zahlreiche der endemischen Vogelarten der Gala- pagos- und anderer Inseln unterscheiden sich nur oder hauptsächlich durch Färbung, und bei vielen sind vorwiegend die Männchen stärker verschieden. Bei den Kolibris kann man auch ohne erneute Prüfung der Arten, ihrer Geschlechtscharaktere und ihrer Verbreitung sagen, daß die vielen endemischen Arten, welche die alpinen Regionen isolierter südamerikanischer Vulkane bewohnen, hauptsächlich in den Männchen und in deren sekundären (reschlechtscharakteren voneinander abweichen. Die Familie der Kolibris ist eine rein neotropische, d. h. sie hat ihr Zentrum in den Tropen der neuen Welt, und die bei weitem meisten der etwa 150 Kolibriarten kommen nur dort vor, ganz wenige gehen nach Norden als Zugvögel über den Tropengürtel hinaus und besuchen die Vereinigten Staaten bis Washington und New-York hinauf. Wir wissen nun, daß viele der schönsten tropischen Arten nur ein ganz kleines Verbreitungsgebiet haben, daß viele nur auf einzelne Vulkane beschränkt sind, in deren Bergwäldern sie leben. Dort sind diese Ar- ten isoliert, denn sie wandern nicht, und vertragen, wie es scheint, auch nicht das Klima der Ebenen, sondern sie verharren in ihren Berg- wäldern und sind ohne Zweifel dort entstanden, und zwar, wie ich an- nehmen möchte, hauptsächlich durch Veränderung der Männchen mittelst sexueller Selektion. Wer die prachtvolle GouLpsche Kolibrisammlung im British Museum in London gesehen hat, weiß, welche erstaunliche Mannigfaltigkeit von rot, grün, blau schillerdem Metallglanz diese Vögel darbieten, welche Kontraste in der Zusammenstellung der Farben und welche Verschiedenheit in der Länge und Gestalt der Federn des Kopfes, des Halses, der Brust und besonders des Schwanzes. Da gibt es keilförmige, gerade abgestutzte, gerundete und tief eingeschnittene Schwänze, solche mit einzelnen langen, bartlosen Federn u. s. w. Alle diese Charaktere sind rein männliche und finden sich in den Weibchen höchstens in Andeutungen; bei keiner Art kommen die Weibchen auch nur entfernt den Männchen an Brillanz und Auszeichnung des Gefieders gleich oder auch nur nahe. Ich glaube nicht, daß so zahlreiche Arten mit stark abweichendem Schmuckgefieder der Männchen sich hätten bilden können, wenn sie alle auf einem großen, zusammenhängenden Wohngebiet gelebt hätten. Aber hier, verteilt auf eine größere Zahl isolierter Bergwälder konnte auf jeder dieser Inseln im Festland eine durch Germinalselektion sich zufällig darbietende Schmuekfärbung oder Formauszeichnung sich steigern, ungestört durch stete Kreuzung mit Individuen des Stammgebietes und gefördert «durch sexuelle Auslese. So sind, wenn ich nieht irre, zahlreiche neue Arten infolge von Isolierung entstanden, und es ist sehr wohl verständlich, daß mehrere neue Arten von ein und derselben Stammart ausgegangen sind, wie wir dies an den zwar nahe verwandten. aber doch konstant verschiedenen Arten von Spottdroseln auf den verschiedenen Inseln der Galapagosgruppe vor Augen haben. Eine Menge ähnlicher Beispiele könnten gegeben werden für Vögel. So macht Dıxox auf die Arten der Drosselgattunge Catharus aufmerk- 16* 244 Einfluß der Isolierung. sam, von denen zwölf Arten in den Bergwäldern von Mexiko und Zentralamerika bis Bolivia leben, alle nur wenig voneinander verschie- den und alle lokal getrennt. Sie kamen von der Ebene, zogen ins Hochland, wurden dort isoliert, und veränderten sich dann nicht mehr gemeinsam, alle in derselben Richtung, sondern je nach dem Auftreten zufälliger Germinalvariationen jede isolierte Gruppe in verschiedener tichtung; die eine bekam einen kastanienbraunen Kopf, die andere einen schiefergrauen Mantel, die dritte einen braunroten u.s. w. Nach dem, was wir früher über die Bedeutung der sexuellen Selektion für die Trachten der Vögel gesagt haben, ist es wohl recht wahrscheinlich, dab dieselbe hier mitspielt. Auch die Webervögel (Ploceus) Südafrikas stellen einen solchen Fall dar, jene kunstreichen, einer Amsel in Größe und Gestalt ähnelnden Singvögel, deren beutelförmige Nester frei an Zweigen, gewöhnlich über dem Wasser aufgehängt sind, und mit ihrem ganz unten angebrachten Schlupfloch ihnen trefflichen Schutz gegen Nachstellungen gewähren, Diese Vögel nun haben sich auf dem Boden Südafrikas in zwanzig oder mehr Arten gespalten, deren Wohnplätze nicht scharf isoliert sind, deren Spaltung also kaum auf Isolierung allein beruhen kann. Worauf sie im wesentlichen beruht, ist nicht schwer zu erraten, wenn man weiß, daß nur die Männchen schön gelb und schwarz gefärbt sind, die Weibchen aber durchweg eine grünliehe Schutzfärbung besitzen. So spielt auch nach meiner Überzeugung sexuelle Züchtung mehr oder minder stark mit bei der Entstehung jener zahlreichen endemi- schen Tagfalterarten, wie sie vor allem den Inseln des malaischen Archipels eigen sind und der dortigen Schmetterlingsfauna ein so reiches Gepräge aufdrücken. Eine ganze Anzahl, ja die meisten der Typen großer Papilioniden haben auf jeder der größeren Inseln ihre eigene Art, eine Lokalform, die sich scharf und bestimmt von der der übrigen Inseln unterscheidet, meist in beiden Geschlechtern, am stärksten aber in dem viel brillanter gefärbten Männchen. So bildet jeder dieser Typen eine Gruppe von Arten, deren jede lokal beschränkt ist und meist dort entstanden, wo wir sie heute finden, obgleich natürlich die Aus- breitung einer Art dieser großen und flugmächtigen Tiere von einer Insel nach der anderen keineswegs ausgeschlossen ist. Ich nenne als Beispiel die Priamusgruppe, die schwarzgelbe Helenagruppe, die blaue Ulysses- gruppe und die vorwiegend grüne Peranthusgruppe. Fragen wir nach den Ursachen (dieses Auseinanderweichens der Formen und ihrer Verdichtung zu zahlreichen Arten, so liegt die Wurzel derselben hier, wie bei allen Umwandlungen in Germinalselektion und den aus ihr resultierenden Variationsrichtungen, ihre Fixierung aber werden wir als Resultat der Isolierung betrachten müssen, welche verhinderte, daß die Variationsrichtung, die zufällig auf der einen Insel sich ausbildete, durch Vermischung mit den Variationen anderer Inseln wieder rückgängig gemacht und verdrängt wurde. Daß aber sexuelle Züchtung sich solcher auffallender Farbenvariationen be- mächtigte und sie dadurch noch mehr steigerte, geht schon aus dem hier selten fehlenden Dimorphismus der Geschlechter hervor. Wenn auch die Weibchen nieht bewußt unter den Männchen wählen, so werden sie doch dasjenige unter mehreren zur Paarung zulassen, welches sie am stärksten erregt. Dies wird aber dasjenige sein, welches (die schönsten’ Farben aufweist oder den lieblichsten Duft ausströmt, ‚denn wir wissen i Isolierung und Naturzüchtung. 245 ja schon von den Blumen her, wie empfänglich die Schmetterlinge für beides sind. Obgleich nun an allen diesen Artbildungen die Isolierung einen wesentlichen Anteil hat, so scheint es mir doch übertrieben, wenn manche Forscher die Spaltung einer Art ohne Eintreten von Isolierung nieht für möglich halten. Gewiß sind zahlreiche Art- spaltungen durch Isolierung erleichtert, oft auch allein durch sie in ihrer heutigen Schärfe ermöglicht worden, aber es heißt doch, die Macht der Naturzüchtung gewaltig unterschätzen, wenn man ihr nicht zutraut, eine Art auf ein und demselben Wohngebiet an verschiedene Be- dingungen anpassen zu können, und ich werde später noch in einem anderen Zusammenhang darauf zurückkommen. Doch sei gleich jetzt wenigstens kurz darauf hingewiesen, daß allein schon der Polymorphis- mus der sozialen Insekten den Beweis dafür liefert, dab eine Art lediglich durch Naturzüchtung und auf ein und demselben (rebiet sich in mehrere Formen spalten kann. Ich bin deshalb mit Darwın und WALLACE der Ansicht, daß an der großen Zahl endemischer Schnecekenarten auf ozeanischen Inseln die Anpassung an neue Lebensbedingungen neben der Wirkung der Isolierung einen wesentlichen Anteil hat. Damit kommen wir auf das Zusammenwirken von Naturzüchtung und Isolierung. Wenn vor Jahrtausenden einmal als seltenster Zufall eine Achatina- ähnliche Schnecke durch Vögel nach den Sandwichinseln ver- schleppt wurde, so wird sie sich langsam von dem Fleck, wo sie auf den Boden gelangte, über die noch gänzlich schneckenfreie Insel aus- gebreitet haben, zunächst noch unverändert. Während dieser ihrer Aus- breitung wird sie aber vielfach auf Lebensbedingungen gestoßen sein, die sie zwar nicht hinderten, auch dort einzudringen, denen sie aber doch nur unvollkommen angepaßt war, und auf welchen Wohnstätten dann ein Umzüchtungsprozeß seinen Anfang nehmen mußte, der in der Bevorzugung günstig abändernden Individuen bestand, und der ruhig mittelst Personalselektion auf Grund der nie rastenden (Germinalselektion seinen Verlauf nehmen konnte, unbehindert von dem etwaigen Nach- schub noch unveränderter Artgenossen von den primären Wohnstätten auf der Insel her. Aber diese neuen Bedingungen waren nicht nur von denen des Stammlandes verschieden, sondern das Inselgebiet selbst bot wieder sehr verschiedene Bedingungen dar, denen sich die einge- wanderte Schnecke im Laufe der Zeiten anzupassen bestrebt sein mußte, soweit immer es ihre physische Natur zuließ. Landschneckenarten sind fast alle auf ganz bestimmte Lokalitäten, mit ganz bestimmten Kombi- nationen von Lebensbedingungen beschränkt, keine unserer einheimischen Arten kommt überall vor, sondern die eine im Wald, die andere im Feld, die eine auf dem Berg, die andere im Tal, die eine auf Gneiß- boden, die andere auf Kalkboden, die dritte auf festem Humusboden, die vierte auf magerem Flußkies, die eine in Ritzen und Spalten zwischen feuchtem Moos, die andere an trocknen, heißen Lößwänden u.s.w. Wenn wir auch keineswegs dem Bau des Tieres ansehen können, inwiefern gerade dieser oder jener Aufenthaltsort «der allein passende für diese oder jene Art ist, so werden wir doch mit Bestimmtheit be- haupten dürfen, daß eine jede der Arten sich deshalb nur an diesem oder jenem Ort dauernd hält, weil ihr Körper den dort gegebenen Lebensbedingungen aufs genaueste angepaßt ist und deshalb dort die Konkurrenz mit anderen Arten aus dem Feld schlägt. 246 Einfluß der Isolierung. So werden sich auch die Sandwicheinwanderer im Laufe der Zeiten immer spezialisierteren Wohnplätzen angepaßt, und sich also dabei in immer zahlreichere Formen, Varietäten und Arten, ja selbst in mehrere Gattungen gespalten haben. Aber dies allein reicht zur Erklärung der Tatsachen noch nicht aus. Nach den verdienstvollen Untersuchungen von GULICK leben auf einer einzigen kleinen Insel der Sandwichgruppe auf der Insel Oahu, nicht weniger als 200 Arten von Achatinelliden mit etwa 600-700 Varietäten! Diese merkwürdige Zersplitterung der einst eingewanderten Stammart wird von ihm als eine Folge der Isolierung jeder einzelnen Art und Varietät aufgefaßt, und ich zweifle nicht, daß er damit für einen Teil dieser Formen im Rechte ist, ja daß bei allen Isolierung wenigstens mitspielt. GULICK, der lange auf der Insel gelebt hat, sucht nachzuweisen, dab die Wohnplätze aller dieser nahe verwandten Varie- täten und Arten für Landschnecken wirklich isolierte sind: daß Ver- mischung der Schnecken des einen Tals mit denen des benachbarten ausgeschlossen ist. und daß die Varietäten der Arten um so stärker voneinander abweichen, je weiter ihre Wohnplätze auseinander liegen. Die Arten verschiedener Achatinellidengattungen wohnen dagegen oft auf demselben Wohnplatz beisammen; sie vermischen sich ohnhin nicht mehr untereinander. Obgleich ich den Angaben Gurıcks volles Vertrauen entgegen- bringe und seinen theoretischen Folgerungen einen hohen Wert bei- messe, so glaube ich doch, dab seine Ansichten die Frage nach den Ursachen des merkwürdigen Formenreichtums an Landschnecken auf ozeanischen Inseln noch nicht erschöpfen. Nicht daß ich die relative und momentane Isolierung der Schneckenkolonien auf zahlreichen Punkten der einen Insel Oahu bezweifelte.e Aber warum haben wir nicht in Deutschland dieselbe Erscheinung, oder in England oder Irland? GuLick kommt diesem Einwurf zuvor durch den Hin- weis auf die eigentümlichen Lebensgewohnheiten der Oahuschnecken. Viele der dortigen Arten sind reine Baumtiere, leben auf Bäumen und verlassen diese nicht, auch nicht zur Fortpflanzungszeit oder behufs Ablage der Eier, denn sie bringen lebendige Junge zur Welt. Aktive Wanderungen von Wald zu Wald scheinen dadurch ausgeschlossen, daß die Kämme der Berge von dünnerem Wald bestanden sind mit anderen jäumen und trockner sonniger Luft, welche die den feuchten Schatten der tropischen Wälder liebenden Arten von Achatinella und Bulimella nicht ertragen. Auch über das offene Grasland an den Talmündungen ist aktive Wanderung ausgeschlossen. Man wird zugeben müssen, daß die Isolierung dieser Waldschnecken in ihren Tälern momentan eine hohe ist, und daß Vermischung zweier Kolonien derselben, die in zwei benachbarten Tälern wohnen, auf ak- tivem Wege und in der Zeit eines oder mehrerer Menschen- leben nicht vorkommt. Man wird auch zugeben, daß unsere Land- schnecken in Mitteleuropa auf ihren verschiedenen Wohnplätzen minder vollständig isoliert sind, daß sie z. B. durch aktive Wanderung von einer Waldseite des Gebirgs auf die andere gelangen können, aber man wird dennoch die Frage wiederholen müssen, wie kommt es, daß auf Oahu jeder Wald, jeder Bergkamm u. s. w. seine eigne Varietät oder Art hat, während unsere Schnecken über weite Länderstrecken verbreitet sind, häufig ohne scharf gesonderte Lokalvarietäten zu bilden. Die sroße Weinbergschnecke, Helix pomatia geht von England bis zur Isolierung und Variationsperioden. 947 Türkei, also etwa über 3000 Kilometer hin und bewohnt auf diesem Gebiet viele Plätze, die gegeneinander als ebensogut isoliert gelten dürfen, wie die aneinander grenzenden Waldtäler Oahus. Auf den Inseln des Kanals und der irischen See kommt sie auch vor und lebt dort unvermischt mit den Artgenossen des Festlandes. Aber auch auf diesem selbst wäre es leicht, hunderte ihrer Wohnplätze namhaft zu machen, auf (denen sie ebenso geschützt vor Vermischung mit denen benach- barter Wohnplätze ist, als auf Oahu. Auch dort müssen die Schnecken ja einmal auf ihre heutigen Wohnplätze gelangt sein, vielleicht mehr auf indirektem Wege durch andere Tiere, aber dasselbe wird auch für die Schnecken eines Kontinents gelten, wie wir später noch genauer feststellen wollen. Nehmen wir jetzt einmal an, es sei so, und die Weinbergschnecke, Helix pomatia, oder eine andere weitverbreitete Schnecke sei auf vielen ihrer Wohnplätze relativ isoliert von den übrigen, so erhebt sich wieder die Frage, warum denn hier nicht auch Hunderte von verschiedenen wohl unterscheidbaren Varie- täten sich gebildet haben, auf jedem isolierten Wohnplatz eine diesem eigentümliche? Offenbar muß auf den Sandwichinseln etwas dabei mitgewirkt haben, was auf den kontinentalen Wohnbezirken von Helix pomatia fehlt, denn diese Art schwankt höchstens in der Größe, ist aber sonst überall die gleiche, und die wenigen sich vorfindenden Lokalvarietäten von ihr sind unbedeutend. Ich möchte nun glauben, daß dieses „Etwas“ in zwei Momenten liege, darin nämlich, daß auf bisher unbewohnten Inseln die einwandernde Schnecke in eine Periode der Variabilität ge- drängt wird. Dies wird aber zunächst schon dadurch geschehen, daß Klima und die sonstigen Veränderungen der Lebensbedingungen eine allmählich sich steigernde Verschiebung in der Gleichgewichtslage ihres Determinantensystems hervorrufen wird, also ein Variieren in verschie- denen Richtungen und Merkmalskombinationen. Dazu wird noch die Wirkung von Naturzüchtung treten, welche die Einwanderer vielen ver- schiedenartigen neuen Lebenskreisen anzupassen sucht, die von Ger- minalselektion gelieferten neuen Variationsrichtungen also in verschie- dener Weise steigert. Die Art gerät durch beides zusammengenommen gewissermaßen in Fluß, ganz ähnlich wie eine Art unter der Domesti- kation variabel wird, ebenfalls sowohl durch die direkte Wirkung ver- änderter Nahrung und sonstiger Bedingungen, als auch durch bewußt oder unbewußt ausgeübte Züchtungsprozesse. Daraus folgt, daß bei der allmählichen Ausbreitung der Schnecken über die Insel ähnliche Wohn- plätze fast niemals von genau gleichen Einwanderern besetzt werden konnten, fast immer vielmehr von einer etwas ver- sehiedenen Kombination der vorhandenen Variationen, so dab durch Amixie auf relativ isolierten Wohnplätzen auch verschiedene Konstanzformen im Laufe der Zeit daraus sich bilden mußten. Das alles stellt sich ganz anders bei der Ausbreituug einer neu einwandernden Schnecke auf ein Gebiet, daß schon ganz, oder doch reichlich mit Schneckenarten besetzt ist. Lassen wir den ersten Varia- tionsfaktor, verändertes Klima, einmal ganz aus, so wird eine solche Art gar keinen Grund zur Variation haben, weil sie außer dem einen Lebenskreis, für den sie angepaßt ist, keinen anderen unbesetzt findet; sie hat also keine Veranlassung, sich einem derselben anzupassen, und würde es in den meisten Fällen auch nicht können, weil sie auf jedem >48 Einfluß der 1solierung. derselben einem überlegenen, weil bereits angepaßten Mitbewerber gegenüber stünde. Ähnlich wird die Sache sich verhalten, wenn eine Insel plötzlich von der gesamten Schneckenfauna eines benachbarten Kontinentes aus (dadurch bevölkert wird, dab sich eine Landverbindung mit ihm herstellt. War die Insel vorher noch schneckenfrei, so werden sämtliche Arten des Festlandes nun dorthin gelangen können. soweit sie dort ihre Lebensbedingungen wiederfinden, werden aber auch die ihnen eigentüm- lichen Lebenskreise vollständig für sich m Anspruch nehmen, so daß keine der anderen Miteinwanderer Anlaß oder Möglichkeit hätte, sich neuen Lebenskreisen anzupassen, also zunächst variabel zu werden und sich in Varietäten zu spalten. Wäre Irland heute noch schnecken- frei, und es stellte sich eine Landverbindung mit England her, so würde sich die Schneckenfauna Englands wahrscheinlich ganz unverändert nach Irland hinüberziehen, wie denn in der Tat die Fauna beider früher zusammenhängender Inseln nahezu die gleiche ist. Aus demselben (rund hat England nahezu dieselbe Landschneckenfauna wie Deutschland. Daß aber umgekehrt das Variabelwerden einer einsamen Einwanderin auf jungfräuliches Gebiet geradezu ein Gesetz .„ ist, zeigt uns nichts besser als die geographische Verbreitung der Landschnecken, d. h. als die Tatsache, daß auf allen ozeanischen Inseln ein auffallender Reichtum an endemischen Arten sich vorfindet. Daß aber ihre Zahl um so gröber ist, je weiter die Insel vom Festland ab- liest, deutet darauf hin, dab das Variabelwerden um so intensiver ein- tritt und um so länger anhält, je weniger Arten auf der Insel ein wandern, je größer also die Zahl der unbesetzten Lebenskreise war, d welche den Nachkommen der einwandernden Art offen standen. Das ist ohne Zweifel der Grund, weshalb die Sandwichinseln nicht eine einzige Art besitzen, die auch anderswo vorkommt, wie denn auch das Auseinandergehen der unbekannten eingewanderten Stammform in viele Arten und mehrere (4) Untergattungen darauf beruhen wird. Wahrscheinlich ist hier nur eine Art eingewandert, die nun völlig freies Feld dort vorfand und sich in ihren Nachkommen allen für Schnecken «dort vorhandenen Lebenskreisen anpassen, und dabei in so zahlreiche und ziemlich stark abweichende Formen zerspalten konnte. Dab die Zahl verschiedener Formen bedeutend größer ist, als die der Leben kreise, dab also auf gleichen Wohngebieten, wie uns GUuLIcK berichtet und eingehend begründet, wenn sie relativ gegeneinander isoliert sind, nicht die gleichen Formen, sondern verschiedene, wenn auch nahe verwandte Varietäten leben, das beruht eben darauf, daß von der ein- mal ins Variieren geratenen Art überallhn eine verschiedene Ge- sellschaft von Variationen ausgesandt werden mußte, die dann bei temporärer Isolieruug zu besonderen Lokalvarietäten sich mischte. Ich glaube aber nicht, daß dies auf alle Zeiten so bleiben wird, vermute vielmehr, daß diese — sagen wir — stellvertretende Varie- täten sich im Laufe langer Zeiten an Zahl immer mehr verringern werden. Denn auf die Dauer hält die Isoliernng einer einzelnen Tallehne, eines einzigen Waldes nicht vor, zufällige Verschlepp- ungen werden im Laufe der Jahrhunderte so gut vorkommen, als sie im Beginn der Besiedelung isolierter Wälder stattgefunden haben müssen; Wälder werden ausgerodet oder durch geologische Veränderungen ver- schoben, Zusammenhänge stellen sich her, wo vorher Trennung herrschte, und nach einer weiteren geologischen Epoche wird die Zahl der stell- ä Ze Endemische Landschnecken. 249 vertretenden Varietäten und wohl auch der Arten erheblich abgenommen ' haben. die Ersteren werden zusammengeschmolzen, die Letzteren zum Teil zerstört sein. Schon jetzt spricht GuLIcK bedauernd von der De- zimirung seltener Lokalformen dureh ihre Hauptfeinde, die Mäuse. Wenn aber auch die Zahl der endemischen Formen auf Insel- gebieten von dem Augenblick ihrer vollständigen Besetzung an abnehmen wird, so bleibt sie doch stets noch eine sehr hohe, wie denn heute noch Madeira 104 endemische Landschnecken-Arten besitzt, die Philippinen ‚ mehr als ganz Indien, und die Antillen ebensoviel, als der ganze amerika- : nische Kontinent. Manche Naturforscher glauben, daß jede isolierte Varietät sich mit der Zeit weiter und weiter von ihren nächsten Verwandten entfernen müsse. Obwohl ich die Möglichkeit eines solchen Geschehens vollauf = — m —— —— rn —eee— zugebe, indem ich ja selbst zu zeigen versuchte, daß einmal im Keim- plasma entstandene Variationsrichtungen in derselben Richtung solange weiter gehen, bis ihnen von irgend einer Seite her Halt geboten wird, so sehe ich doch nicht, warum dies immer so sein müßte, Die auf fremdes Wohngebiet verschleppte Art braucht ja nicht immer schon besondere Variationsrichtungen im Keimplasma zu enthalten, und braucht auch nicht in jedem Falle zu solchen durch die neuen Bedingungen angeregt zu werden. Kennen wir doch Arten, die auf fremdem Ge- biete eindrangen und die völlig unverändert den anderen eingesessenen Arten schon gewachsen, oder sogar überlegen waren. Solche Fälle sind von mancherlei Pflanzen und Tieren bekannt, die durch den Menschen absichtlich oder zufällig von einem in den anderen Kontinent verschleppt worden sind, und nun ohne irgend welche Abänderung sich auf dem Wohngebiet ausbreiteten und festsetzten. Ich erinnere an die Nacht- kerze, Oenothera biennis, deren Vaterland Virginien ist, deren schöne, große, gelbe Blumen aber heute an den meisten deutschen Flüssen prangen, längs deren sie auf dem kiesigen Boden stromaufwärts ge- wandert sind*) — oder an das häßliche Unkraut, Erigeron canadense, welches heute in unseren Gärten kaum weniger häufig ist, als in Canada — oder an den Sperling, Passer «domestieus, der in den Vereinigten zur Vertilgung der Raupen eingeführt wurde, sich aber dort mit Vor- liebe auf die Plünderung der reichen Kornspeicher gelegt und in Folge der günstigen Lebensbedingungen sich dermaßen vermehrt hat, daß er zu einer Landplage geworden ist und alle erdenklichen Maßregeln zu seiner Wiederausrottung hervorgerufen hat — bis jetzt ohne großen Erfolg. In allen solehen Fällen ist die Einwanderung freilich noch nicht lange her, und es ist wohl möglich, daß nach längeren Zeiträumen dennoch irgend welche Abänderungen in dem neuen Vaterland sich einstellen werden, jedenfalls aber beweisen (die Beispiele, daß eine ein- gewanderte Art auf dem neuen Wohngebiet sich ausbreiten kann, ohne sogleich abzuändern. Demgemäß brauchen auch Arten, die von der Tertiärzeit her zwei Kontinenten angehören, seither nieht auseinander gegangen zu sein, wie wir denn z. B. 32 Arten von Nachtfaltern kennen, die Nordamerika *) Als dies niedergeschrieben wurde, waren die später zu besprechenden Unter- suchungen von DE Vrıes über das Variieren von Oenothera in Europa noch nicht erschienen. Das Beispiel ist deshalb vielleicht nicht ganz zutreffend, wenn es auch wohl unbekannt ist, ob nicht etwa dieselben „Mutationen“, welche in Holland sich zeigten, auch in Amerika gelegentlich auftreten. Siehe den Schluß von Vortrag XNXXIII. 250 Einfluß der Isolierung. und Europa gemeinsam sind und keinerlei Unterschiede aufweisen, während 27 andere Nachtfalterarten nach GROTE in Amerika durch sog. „vikariirende* Arten vertreten sind, d. h. durch solche, die auf dem einen oder dem anderen der beiden Wohngebiete, vielleicht auch auf beiden leicht abgeändert haben. Fassen wir zusammen, so dürfen wir ohne Zweifel der Isolierung einen bedeutenden Einfluß auf die Artbildung zugestehen, wenn auch nur unter der Mitwirkung von Selektion in ihren verschiedenen Stufen und Arten, vor allem Germinalselektion, Naturzüchtung und sexueller Selektion. Man kann ganz allgemein sagen, dab jede Stufe und Art von Selektionsprozessen um so leichter zur Umprägung einer Art führen wird, wenn sie mit Isolierung sich verbindet. So kann (Grerminalselektion kleine Abweichungen in Färbung und Zeichnung dauernd hervorrufen, wenn die Individuen, um die es sich handelt, auf isoliertes Grebiet gelangen. Dann werden solche Abänderungen sich ungestörter steigern, unter Umständen auch von sexueller Selektion noch weiter emporgeführt werden, und so zuerst das männliche Ge- schlecht allein, oft aber im weiteren Verlauf des Prozesses auch das weibliche verändert, und zuletzt die ganze Art umgestaltet werden, Schließlich wirkt aber Isolierung wohl am stärksten dadurch, daß sie vereinzelte Sendlinge einer Art auf jungfräuliches Gebiet versetzt, auf dem nicht nur für diese eine Art, sondern für viele verwandte Arten noch unbesetzte Lebensstellen offen stehen, so daß die eindringende Kolonie sich allen diesen verschiedenen Lebensmöglichkeiten anpassen und zu einem ganzen Artenkreis sich gestalten kann. Wir sahen aber, dab der so entstehende Nachwuchs neuer Formen, seien es nun Varie- täten, Arten oder gar Gattungen, die Zahl der verschiedenartigen dort sich bietenden „Stellen“ im Haushalt der Natur noch weit übertreffen kann, wenn auf dem Inselgebiet selbst wieder relative Isolierung der verschiedenen Einwanderergruppen eintritt, wie dies bei langsam be- weglichen Tieren, wie Landschnecken, leicht der Fall sein wird, oder bei kleinen Singvögeln. für die jede einzelne Insel eines kleinen Archipels ein relativ isoliertes Wohngebiet ist (Gallapagos). So werden wir vollkommen die Bedeutung der lokalen Isolierung anerkennen, ohne freilich die Kreuzungsverhinderung mit den Artgenossen (des Stammlandes für die alleinige Ursache dieser Bedeutung zu halten, oder gar Isolierung an Stelle der Selektionsvorgänge zu setzen. Die letzteren, im weitem Sinne genommen, bleiben stets die unentbehrliche Grundlage aller Umwandlungen der Lebensformen, aber freilich wirken sie nicht nur als Personalselektion, sondern überall, wo es sich um indifferente Charaktere handelt, lediglich als Germinalselektion. Darin liegt der Weg zur Verständigung mit jenen Forschern, welche die Um- wandlungen in erster Linie auf innere Entwicklungskräfte beziehen möchten. Alle Abänderungen müssen innere Ursachen haben, und ihr Verlauf muß von gesetzmäßig wirkenden Kräften geleitet werden. Aber das aktuelle Zusammenwirken aller dieser Kräfte und Verände- rungen ist nicht vorausbestimmt, sondern bis zu einem gewissen Punkt zufällig, indem aus den möglichen Entwicklungswegen immer nur die zur Ausführung kommen, welche in dem momentanen Spiel der zufällig zusammentreffenden Kräfte die Oberhand gewinnen — Begünstigung des Besseren vom kleinsten Lebensteilchen des Keimplasmas an bis zum Kampf der Individuen und Arten.‘ | XXXIll. VORTRAG. Entstehung des Artbildes. Die ee der Celebesschnecken nach SAaRASIN p. 251, Mögliche Veränderung der Schalenform durch Nahrung p. 253, Naturzüchtung spielt mit p. 253, Germinal- selektion p. 254, Zeitliche Artübergänge, die Steinheimer Schnecken p. 254, Woher entstehen scharf umschriebene Arten? p. 256, NÄGELIS Entwicklungskraft p. 257, Die Art ein Anpassungskomplex p. 258, Adaptive Artunterschiede? p. 261, Adaptive Natur von Ördnungscharakteren p. 262, Beispiel der Wale p. 263, der Vögel p. 265, — Zusatz: Die Ansichten und Tatsachen von DE VRIES p. 266. Meine Herren! Unsere Betrachtungen über die Wirkungen, welche geographische Isolierung auf Umwandlung alter und Entstehung neuer Lebensformen haben kann, hat uns unvermerkt in eine weitere wichtige Frage hineingeführt,. in dienach der Bildung der Arten, als mehr oder weniger scharf umgrenzter Formenkreise, und ich möchte den Übergang zu dieser Frage dadurch vermitteln, daß ich Sie mit einem weiteren Fall von Artenspaltung bei, oder wie man gewöhnlich sagt, „durch“ Isolierung bekannt mache. Die durch ihre vortrefflichen Ar- beiten auf so manchem Gebiet tropischer Tierwelt bekannten Forscher Pavr und Fritz Sarasın haben in ihrem neuesten Werk interessante Befunde über die Landschnecken von Üelebes veröffentlicht, welche zeigen, daß auf dieser Insel noch seit der späteren Tertiärzeit eine reiche Umbildung der Landschneceken vor sich gegangen ist. Eine Menge neuer Schneckenarten ist seitdem auf der Insel entstanden, und zwar, wie die Verfasser wahrscheinlich machen. in Zusammenhang mit einem Zurücktreten des Meeres, also einem stärkeren Emportauchen der Insel aus dem Meer, somit einer Vergrößerung der Obertläche derselben. Die heutigen Landschnecken bilden nun vielfach zusammen- hängende Formenketten derart, daß eine Reihe von Arten untereinander dureh Zwischenformen verbunden ist, in Wirklichkeit also nicht aus getrennten Arten besteht, als welche die extremen Formen erscheinen würden, wenn man sie allein für sich ohne die verbindenden Zwischen- glieder betrachten würde. Sie verhalten sich ganz so, als ob eine Tertiärschnecke von irgend einem kleinen Wohnbezirk der Insel aus sich weiter verbreitet, und dabei sich entsprechend ihrer Entfernung vom Ausgangsort langsam und in bestimmter Richtung umgewandelt hätte, So werden wir den Befund auch auflassen müssen; wir haben hier örtlich nebeneinander, und zwar öfters in geradliniger geogra- phischer Anordnung die einzelnen Etappen eines phyletischen Umwand- lungsprozesses, der an verschiedenen Stellen verschieden weit vorge- schritten ist. Eine der längsten dieser Formketten ist z. B. die der Nanina ceineta, welche von Ost nach West über die Insel läuft und mit 252 Entstehung des Artbildes. den kleinsten und zartesten beginnend, durch viele Zwischenstufen hin- ' dureh bis zu der riesigen forma limbifera aufsteist. Solche Formen- ketten kannte man auch früher schon: KOBELT hat eine solche von der sizilianischen Landschneckengattung Iberus beschrieben, und noch andere Fälle sind in der Literatur enthalten, immer aber handelt es sich dabei um Wohngebiete, deren einzelne für Schnecken als isoliert gelten müssen, und die außerdem von einem Ausgangsort her be- siedelt wurden. Es fragt sich nun, ob und wie wir uns die Entstehung solcher Formenketten erklären können. Die Vettern Sarasın berichten, wie sie zuerst versuchten, die Verschiedenheiten der einzelnen Glieder einer solchen Kette auf den verschiedenen Einfluß der äußeren Lebenshe- dingungen zurückzuführen, aber vergeblich: weder die Höhe über dem Meer, noch die Gesteinsart oder sonstige Verschiedenheiten schienen dazu auszureichen; ebensowenig Naturzüchtung, „denn warum sollte eine hohe, bienenkorbartig gewundene Obbaform für den Kampf ums Dasein besser oder schlechter ausgerüstet sein, als eine kleinere und flachere?“ Gewiß! das verstehen wir nicht: dennoch aber scheint mir allein darin noch kein Grund zu liegen, warum wir Naturzüchtung nicht als eine der Ursachen des Auseinanderweichens dieser Arten geltend machen dürften, denn auch bei jeder anderen Verschiedenheit im Bau zweier Schneckenarten würden wir keine Antwort auf eine solche Frage geben können und zwar aus dem ‘Grunde, weil wir viel zu wenig Ein- sicht in den biologischen Wert der Teile einer Schnecke haben. Oder wüßte jemand zu sagen, welchen Nutzen eine Schneckenart davon habe, daß ihre Fühler etwas länger, ihr Fuß etwas schmäler, ihre Zunge mit Down etwas gröberen oder mit zahlreicheren Zähnen besetzt ist? Raten könnte man ja mancherlei, aber eine klare Einsicht, warum z. B. etwas längere Fühler für diese Art besser waren, als für jene, sind wir außerstande zu geben, und doch werden wir nicht glauben wollen, daß der Bau der Schnecken etwa weniger genau dem Leben jeder Art angepaßt sei, als der irgend eines anderen Tieres: sicherlich setzen ihn Hunderte und Tausende von Anpassungen zusammen, wie den jeder anderen Tierart, aber während wir bei manchen anderen die Anpassungen teilweise wenigstens, als solche erkennen, fehlt es bei den Schnecken daran bei- nahe vollständig. Wohl hat SımrorH (darauf hingewiesen, daß die spiralige, asymmetrische Schale in Zusammenhang steht mit der ein- seitigen Mündung der Begattungsorgane, aber das gäbe uns doch nur den allgemeinen Grund für die Aufrollung der Schale. Man denkt gewöhnlich bei den Verschiedenheiten der Schneckenschale nur an ihre äußere Erscheinung, an den Schutz, den sie den inneren Teilen des verletzbaren Tieres gewährt, etwa auch an die Lastverteilung, die bei hohem turmförmigen Gehäuse eine andere ist als bei niedrigem flachen, vielleicht auch an die Hindernisse und Widerstände, denen die Schnecke beim Kriechen in Spalten und Löchern, oder im Pflanzengewirr be- geenet, je nach der Schale, aber wäre es nicht außerdem sehr denkbar, dab die Form des Gehäuses durch dessen Inhalt mitbe- stimmt wird? Wie schon LEUCKART lehrte, kann man sich die Schnecke aus zwei Hälften zusammengesetzt denken, deren eine den Kopf mit dem Fuß darstellt, die andere den sog. „Eingeweidesack“; Erstere kann man die animale Hälfte nennen, weil sie hauptsächlich die animalen Organe des Tieres enthält: Nervenzentren, fast die ganze Muskelmasse, Sinnesorgane; — Letztere die vegetative, da sie die Hauptmasse der Formenketten bei Landschnecken. 253 Ernährungs- und Fortpflanzungsorgane einschließt, Magen und Darm, die große Leber, das Herz, die Nieren, die Keimdrüsen u.s.w. Die vegetative Hälfte des Tieres allein ist stets im innern des (rehäuses geborgen; sollte nun nicht jede stärkere Veränderung in den Gröben- verhältnissen von Leber, Magen, Darm u. s. w. eine Veränderung in der Schalenweite und Gestalt, sowie in dem Auseinander- und Zu- sammenziehen ihrer Windungen bedingen? und könnten solche Ver- änderungen nicht schon durch Veränderung der Nahrung notwendig werden? Es ist nur eine Vermutung, aber es scheint mir eine nicht unwahrscheinliche. daß die Gewöhnung an eine andere, etwa schwerer zerkleinerbare, schwerer lösbare und minder gehaltreiche Nahrung nicht bloß die Kiefer und die Zunge der Schnecke zur Umgestaltung ver- anlassen müßte, sondern auch den Magen und die Leber, den Darm und die Nieren, deren Tätigkeit doch in engstem Zusammenhang steht. Der Magen wird voluminöser werden müssen, die den Verdauungssaft liefernde Leber massiger u.s.w. Ich will dieses hypothetische Beispiel nieht weiter führen, ich wollte nur «daran erinnern, daß die Schnecken- schale, deren Gestalt man gewöhnlich keine biologische Bedeutung bei- zumessen weiß, doch nichts anderes ist, als ein Abguß des Einge- weidesacks, folglich abhängig von den Veränderungen desselben, die ihrerseits wieder von den Lebensbedingungen bestimmt werden. Den präzisen Nachweis für solche Vorgänge zu liefern, würde freilich heute noch unmöglich sein; kennen wir doch nicht einmal die Nahrung der einzelnen Schneckenarten sicher und genau, geschweige denn die Unter- schiede in der Ernährungsweise zweier Varietäten, oder den Nährwert der betreffenden Stoffe, oder gar die Veränderungen in Sekretion, Resorp- tion, Assimilation und Exkretion, welche durch solche Unterschiede her- vorgerufen werden müssen. Aber soviel vermögen wir doch immerhin einzusehen, daß schon allein Veränderungen in der Ernährung neue Anpassungen hervorrufen müssen in Größe, Beschaffenbeit und Zu- sammenpassung der inneren vegetativen Organe, und die Möglichkeit ist nieht abzuweisen, daß dadurch die Gestalt und Größe der vegeta- tiven Hälfte des Tieres und somit auch sein Abguß, die Kalkschale, verändert werden kann*). Darin also, daß wir z. B.. die Bienenkorb- gestalt einer Obba nicht als Anpassung erkennen, liegt noch kein Be- weis, daß sie nicht eine solche ist. Aber nehmen wir einmal einstweilen an, sie sei keine, und lasse sich also ebensowenig, als die anderen Ver- änderungen der Celebesformenketten auf Naturzüchtung beziehen, so können wir weiter ohne Zweifel zugeben, daß dieselben auch nicht auf sexuelle Züchtung zu beziehen sind, und noch weniger etwa auf ein „nhärentes Vervollkommnungsprinzip“, nicht nur, weil hier von „Ver- *) Daß diese Vermutung nicht unberechtigt war, ersehe ich aus einer neueren Arbeit Sımmorus „über die Raublungenschneeken“ (Naturwissenschaftliche Wochen- schrift vom 8, und 15. Dezember 1901). In dieser weist der in der Biologie der Schnecken erfahrene Forscher gerade darauf hin, wie die Änderung der Nahrung mancherlei Anpassungen im Bau des Nahrungsrohrs hervorrufen kann, die dann ihrerseits wieder die Schale zur Abänderung zwingen. So ist bei einer einheimischen kleinen Schnecke, Daudebardia, der Schlundkopf in Anpassung an die räuberische Lebensweise gewaltig in die Dicke und Länge gewachsen, so dal Kopf und vorderer Teil des Körpers nicht mehr in die Schale zurückgezogen werden können. Dadurch, und zugleich durch die Gewohnheit, die Regenwürmer in ihre Röhren zu verfolgen, ist die Schale ganz nach hinten und schräg nach unten gerückt, und hat zugleich ihre Gestalt erheblich verändert, wie man heute noch durch Vergleichung der Jugend- form mit der erwachsenen Schnecke sehen kann. 254 Entstehung des Artbildes. vollkommnung nicht die Rede sein kann, sondern weil ein solches mystisches Prinzip außerhalb der Naturforschung und ihrer Erklärungs- prinzipien liegt“. Daß aber solche Umwandlungen in bestimmter Richtung aus der zeitweise von Neuem sich verschiebenden Gleichgewichtslage im Innern des Keimplasmas, aus Germinalselektion also, hervorgehen können und müssen, haben wir ja längst besprochen. Wenn also auch die Formumwandlungen, um welche es sich hier handelt, wirklich keinen biologischen Wert hätten, so würden sie doch ganz wohl allein durch Germinalselektion zustande kommen können, ' und nur Eines bliebe dabei unklar, nämlich, warum denn die ver- schiedenen Etappen des Verbreitungsweges einer Art auf verschiedenen Stadien der Entwicklung sich befinden, und nicht alle auf derselben? Warum haben sich nicht alle umgewandelt, warum sind einige der Kolonien der Stammform nahe geblieben, andere verändert zwar, aber nur wenig, wieder andere stark? Darauf vermag‘ keine etwa anzunehmende innere Entwicklungskraft Antwort zu geben, und nur Germinalselektion in Verbindung mit Isolierung vermag uns eine Erklärung dafür zu liefern, da die internen Vorgänge im Keim-, plasma sehr wohl in der einen Kolonie anders verlaufen können. als in der anderen. Dennoch möchte ich gerade aus den Verschiedenheiten' der Einzelkolonien dieser Formenketten darauf schließen, daß doch auch: Naturzüchtung in dem angedeuteten Sinn einen Anteil an der Schaffung‘ dieser Schneckenvarietäten hat. Solche Formenreihen sind besonders dadurch interessant, dab wir bei ihnen den Artbildungsprozeß in seinen verschiedenen Etappen örtlich nebeneinander, also gleichzeitig vor Augen haben. Sie stellen ge-' wissermaben einen horizontalen Ast am Stammbaum des Tierreichs dar, wie die beiden Forscher sich treffend ausdrücken, d. h. eine Reihe: auseinander hervorgegangener Arten, welche sich nicht ablösen, sondern welche alle zur selben Zeit lebensfähig sind, also gleichzeitig, aber auf verschiedenen Wohngebieten existieren: es sind örtlich, nicht zeit- lich angepaßte Arten. Ganz ähnlich verhält es sich mit den Schnecken anderer isolierter Gebiete, nur daß dort gewöhnlich die Ketten von Formen nicht einfach sind, sondern mehrfach gespalten, so daß also von einer Stammform mehrere Formenketten ausgehen, und jede derselben unter Umständen sich selbst wieder in zwei oder mehr auseinander- gehende Reihen spalten kann. Die große Menge verwandter Arten au Madeira, oder den Sandwichinseln zwingt zu solcher Annahme, wenn sich auch die Verzweigung der Stammbäume nicht mehr sicher nach- weisen läßt. Gerade diese Zersplitterung der Formen auf einem vielfachen Inselgebiet zeigt uns wieder, daß nur Germinalselektion die Grundlage aller Umbildungen sein kann, nicht aber, wie frühere Forscher, be sonders die Botaniker NÄGELI und ASKENASY wollten, eine besondere den Organismen innewohnende treibende Entwicklungskraft. Gäbe @ eine solche, so müßte sie eine Art stets in einer Richtung forttreiben also stets so wie die Sarasınschen Formenketten, es könnten abe nieht Spaltungen oder gar geradezu Zersplitterungen der Arten zustand” kommen. Leicht dagegen versteht man das letztere bei Germinalselektion denn «das Keimplasma enthält viele Ide und Determinanten, und jedı derselben kann neue Variationsrichtungen eingehen, die eine Koloniı kann sich also nach dieser, die andere nach jener Richtung hin ver” Zeitliche Artübergänge. 255 ändern, und eine große Mannigfaltigkeit isoliert wohnender Formen ' muß und kann doch die Folge sein, wie wir solche auf den Sandwich- ‘ inseln vor uns sehen. | Bleiben wir aber noch einen Augenblick bei den Sarasınschen Celebesschnecken stehen, so haben wir hier Formenreihen vor uns, bei ' welehen der gewöhnliche Artbegriff versagt, denn sie enthalten Varie- täten, deren Extreme soweit voneinander verschieden sind, wie sonst ' nur selbständige Arten, die aber dennoch nicht selbständig sind, sondern ‚ durch eine, oft auch durch mehrere Zwischenformen derart miteinander ı verbunden, daß man nur gewaltsam «durch einen willkürlichen, hier | oder dort geführten Schnitt sie in zwei oder mehr „Arten“ trennen ‚ könnte. Die Erscheinung selbst ist uns nicht neu: wir haben ja ge- ‘ sehen, daß schon LAMARCK und TREVIRANUS solche durch Übergänge verbundene Formenkreise zu ihrem Ansturm auf die alte Schöpfungs- | theorie benutzten, indem sie an ihnen nachzuweisen suchten, dab der | Begriff der Art ein künstlicher sei, der von uns in die Natur hineingetragen werde, nicht aber in der Natur selbst schon liege, dab | die Lebensformen nur scheinbar etwas Festes und Scharfbegrenztes seien, in Wirklichkeit aber in langsamem Fluß begriffen. So schöne, scharfbeweisende Beispiele hatte man «damals noch nicht, aber man konnte doch schon sagen, daß es um so leichter sei, eine neue Art zu machen, je weniger Exemplare man davon vor sich habe, um so schwerer, je zahlreichere, und dies deshalb, weil mit der Zahl der Individuen, besonders wenn sie von einem großen Wohnbezirk herstammen, auch die Zahl und Mannigfaltigkeit der Abweichungen zunimmt, so daß man | bei manchen schließlich ebensowenig, wie bei den Üelebesschnecken irgendwo in den Reihen einen Schnitt zu machen und eine neue Art | beginnen zu lassen wagt. | Es gibt nun aber doch zahlreiche Tier- und Pflanzenformen, welche so starke Abweichungen nicht zeigen, sondern vielmehr eine so große bis ins einzelne gehende Übereinstimmung der Individuen, daß auf sie der Begriff der Art sehr wohl anwendbar scheint. Wir wären gewiß sehr thöricht, wenn wir ihn aufgeben wollten, da wir sonst jede Möglichkeit der Orientierung in der ungeheueren Formenfülle der Natur verlieren würden, wir werden uns aber bewußt bleiben, daß auch solche „typische“ Arten nur unserem zeitlich kurzsichtigen Auge als solche erscheinen, daß sie aber von der Vergangenheit her durch eben solche allmähliche Übergänge mit früher lebenden „Arten“ verbunden sind, wie die Celebesschnecken heute als gleichzeitig lebende untereinander zusammenhängen. Die Lebewelt dieser Erde stellt eben zu jeder Zeit nur einen „Querschnitt des Stammbaumes“* seiner Organismenwelt dar, und je nachdem die einzelnen Äste desselben mehr senkrecht in der Zeit emporstreben, oder aber mehr wagrecht sich verbreiten, bekommen wir das Bild typischer, scharfumgrenzter Arten, oder das von Formen- kreisen oder Formenketten. Im ersten Fall war die Neubildung von Arten mit dem Aussterben der Stammarten verbunden, und die Zweig- enden eines Ästehens stehen heute scheinbar isoliert und scharf be- grenzt nebeneinander, im anderen hat sich nur ein Teil der Stamm- form umgewandelt, und der andere lebt gleichzeitig mit seinem Ab- kömmling weiter und wiederholt vielleicht später noch den Prozeß der Abspaltung eines veränderten Abkömmlings. Für die sukzessive Form der Artumwandlung haben die letzten dreißig Jahre mehrfache paläontologische Belege gebracht. In ruhig 256 Entstehung des Artbildes. abgelagerten, horizontal übereinander liegenden Schichten der Erdrin hat man wiederholt die ganze phyletische Entwicklung einer Cru von Schneckenarten erhalten gefunden, historisch geordnet, die ältesten in den tiefsten Lagen, die jüngsten in den obersten, und die zahlreichen und oft stark voneinander abweichenden „Arten“ einer bestimmten Lager- stätte miteinander verbunden durch Übergangsformen der Zwischen- schichten. Der Zeit nach betrachtet sind also auch diese Arten keine „typischen“, sondern in Fluß befindliche Formenkreise. Die schönsten solcher Fälle sind vor allem die Planorbisarten des kleinen Steinheimer Seegrundes auf der rauhen Alb, die Paludinen- schichten Slavoniens und die Ammoniten verschiedener Gruppen. Die Fälle sind so oft schon besprochen und dargestellt worden, dab ich nur das Notwendigste darüber sagen will. Die Steinheimer Schneckenschichten sind zuerst von HILGEN- DORF (1566) in deszendenztheoretischem Sinne untersucht worden. Er unterschied 19 verschiedene Varietäten, die er, da sie alle durch zeit- liche Übergänge miteinander verbunden sind, unter dem einen Namen Planorbis multiformis zusammenfaßte. Zu Millionen erfüllt diese kleine Schnecke mit ihren Schaalen viele Schichten des ehemaligen Seebeckens von Steinheim, und zwar in so geordneter und regelmäßiger Überein- anderlagerung, dab die Aufstellung eines Stammbaumes derselben zwei 3eobachter, die unabhängig voneinander und zu verschiedener Zeit darüber arbeiteten, in nahezu derselben Weise gelang. Nach ALPHEUS HyArTT, dem späteren Untersucher, stammen alle Formen von einer Stammform, Planorbis laevis, von welcher dann vier verschiedene Des- zendentenreihen ausgegangen sind, von denen die eine sich wieder m drei Unterreihen gespalten hat. Alle einzelnen Glieder dieser Reihen - sind durch Übergänge miteinander verbunden und zwar so, daß immer eine längere Zeit der Formenkonstanz in eine kürzere Umwandlungs- | periode übergeht, aus der dann wieder eine konstante Form hervorwächst. Wir sehen also, daß der Begriff der Art in gewissem Sinn ein völlig berechtigter ist; wohl begegnen wir zu gewissen Zeiten einer Auflösung des festen Arttypus, die Art wird variabel, aber bald klärt sich der Formenwirrwarr wieder, und es gestaltet sich daraus eine neue, festere Form, eine neue Art, die nun lange Generationsfolgen hindureh dieselbe bleibt, bis auch sie wieder ins Schwanken gerät und sich zu einer neuen Art umbildet. Legten wir Querschnitte durch diesen Stamm- baum in verschiedener Höhe desselben, so würden wir immer mehreren wohlbegrenzten Arten begegnen, die örtlich keine Übergänge erkennen lassen, nur in den Übergangsschichten finden wir solche, Die Frage nun, welche jetzt zu besprechen wäre, ist die, wie @e8 kommt, daß relativ scharfumschriebene Arten existieren, die zwar nach rückwärts mit Stammformen zusammenhängen, unter sieh aber ein geschlossenes. mehr oder minder eleichartiges Individuenheer darstellen. Wie erklärt es sich. daß uns das Bild der Art überall wieder entgegentritt. nicht aber eine Unendlichkeit von Ein- zelformen, die nach allen Richtungen hin miteinander zu sammenhängen. Ohne weiteres würde sich das erklären, wenn eine phyletische Entwicklungskraft die Lebensform zwänge, sich im Laufe der Gene- rationen in bestimmter Weise zu verändern und zu einer neuen Form umzugestalten. Der ganze Stammbaum der Organismenwelt dieser Erde wäre dann schon im niedersten Moner derart potentia enthalten | | | - | | E Die Annahme einer Entwieklungskraft. 257 wesen, daß, wenn Zeit und die unentbehrlichsten allgemeinen Lebens- bedingungen gegeben waren, eben gerade diese Lebewelt daraus resul- tieren mußte. Als der erste hat NÄGELI diese Ansicht ausgesprochen und scharf durchgeführt, indem er sich nieht scheute, geradezu alle Selektionsprozesse zu leugnen und die ganze Entwicklung als einen dureh «diese phyletische Kraft bedingten Prozeß hinzustellen, der auch dann diese tatsächlich entstandene Lebewelt hervorgebracht haben würde, wenn die Lebensbedingungen zu den verschiedenen Zeiten der Erd- geschichte andere gewesen wären. Ich habe von jeher diese Auffassung bekämpft. ohne aber zu übersehen, daß sie sich auf Tatsachen stützte, die ihr — damals wenigstens — eine gewisse Berechtigung verliehen: man konnte nicht über sie hinweggehen. ohne die stützenden Tatsachen in anderer Weise zu erklären. Nach NÄGELI vertrat der Botaniker ÄSKENASY diese Ansicht von einer „bestimmt gerichteten Variation“, welche die neuen Formen hervorruft, und in neuerer Zeit waren es besonders ROMANES und HENSLOW sowie EIMER, welche ähnliche An- siehten aussprachen und — wenn sie auch Selektionsprozesse nicht geradezu in Abrede stellten — doch ihre Bedeutung erheblich herab- setzten. und den phyletischen Stammbaum der Organismenwelt wesent- lich auf andere, innere Ursachen bezogen. Wie schon NÄseri selbst, so machten auch seine Nachfolger geltend, daß Naturzüchtung nicht die Ursache der Entwicklung und der Auf- emanderfolge bestimmter Arten sein könne, weil gerade die Unter- schiede, welche Art von Art trennen, nicht adaptiver Natur seien, also nicht auf Selektion beruhen könnten: wenn aber der Schritt von einer Art zur nächstfolgenden nicht auf Anpassung beruhe, «dann könnten auch die größeren Schritte zu Gattungen, Familien, Ordnungen nicht auf sie bezogen werden, da ja diese auch nur auf weiter fortgesetzter Artspaltung beruhend zu denken sind. Gattungen, Familien und alle höheren Gruppen mußten wir ja auch als konventionelle Begriffe er- kennen, nicht als etwas in der Natur selbst schon Vorhandenes. Schon TREVIRANUS und LAMARCK machten geltend, daß die (Grenzen zwischen (attungen ebensosehr von unserem Ermessen, unserer Willkür ab- hängen, als diejenigen zwischen Arten: alle Formen hängen ja ur- sprünglich, wenn auch nicht immer heute noch zusammen, und wenn wirklich die Arten sich nicht durch adaptive Merkmale unterschieden, dann könnten es alle übrigen Abteilungen unseres Systems auch nicht, weder Ordnungen noch Klassen, denn sie beruhen alle ursprünglich auf Artumwandlung. Es war deshalb durchaus konsequent von NÄGELI, wenn er die Triebfeder der organischen Entwicklung nicht in der An- passung, sondern in einer unbekannten Entwicklungskraft suchte, und Anpassung als Folge von Selektion überhaupt nicht gelten ließ, vielmehr nur in Lamarckschem Sinn als direkte Wirkung der äußeren Bedin- gungen und als einen völlige untergeordneten Faktor der Formenum- wandlung. NÄGELI bereits, und ebenso seine modernen Nachfolger denken sich die phyletische Entwicklung als beruhend auf einem bestimmt ge- richteten. aus innern Ursachen erfolgenden, zu bestimmter Zeit eintre- tenden Varüren, welches mit Notwendigkeit die bestehende Form in eine neue überführt. Die Art ist ihnen gewissermaßen ein Lebenskrystall, um mit HErBERT SPENcER zu reden. eine Gleichgewichtslage lebender Substanz, die von Zeit zu Zeit sich verschiebt, um in eine neue Gleich- gewichtslage überzuspringen, d. h. sich in eine neue Art umzuwandeln, Wolsmann, Doszendonzthoorie. II. 2, Aufl 17 958 Entstehung des Artbildes. | etwa vergleichbar den Bildern eines Kaleidoskops.. Dann ist also die Art etwas innerlich Bedingtes, was so sein muB, wie es ist. und. nicht auch anders sein könnte, ganz wie ein Krystall, der eben in diesem System krystallisiert und nicht in einem anderen: er muß so. sein, oder überhaupt nicht sein. Wir würden von diesem Gedanken aus leicht verstehen, daß die Tausende und Millionen von Individuen einer Art alle im wesentlichen übereinstimmen, dab ein Artbild besteht. Aber der (redanke ist schwerlich ganz richtig, wenn ihm auch etwas Richtiges zugrunde liegt. insofern selbständig entstandene Keimes- abänderungen in der Tat die letzte Wurzel aller Umwandlungen sind. Allein die Art ist nicht bloß das Resultat dieser inneren Vorgänge. ja nicht einmal in erster Linie, sie ist nicht das Resultat einer inneren, bestimmt gerichteten Entwicklungskraft, mögen wir uns eine solche auch in rein wissenschaftlichem, mechanischem Sinn | I nicht in mystischem. Meiner Ansicht nach ist die Art nicht in dem Sinn ein Lebenskrystall, dab sie aus rein inneren Gründen, wie ein Bergekrystall vermöge ihrer physischen Beschaffenheit so und nicht anders gestaltet sein muß, die Art ist vielmehr in erster Linie ein Komplex von Anpassungen, von modernen, eben erst erworbenen. und von ererbten, altüberkommenen, ein Komplex, der sehr wohl aueh. anders hätte sein können, und der anders hätte sein müssen, falls er unter dem Einfluß anderer Lebensbedingungen entstanden wäre Aber freilich sind die Arten nicht lediglich Anpassungskomplexe, sondern zugleich auch bloße Variationskomplexe, deren einzelne‘ Bestandteile nicht alle Anpassungen sind, nicht alle also die Grenze von Gut und Schlecht erreichen. Vom Boden der freien, zufälligen Variation wachsen alle Abänderungen hervor, wie alle Pflanzen des Waldes aus dem Waldboden, aber nicht alle wachsen zu Bäumen empor, den Anpassungen, (die den Charakter des Waldes, d.h. der Art wesentlich‘ bestimmen, viele bleiben klein und niedrig, wie die Moose, Gräser und Kräuter, und auch (diese haben einen Anteil an dem Charakter des Waldes, wenn auch einen untergeordneten, der aber dennoch bestimmt, wenn auch bis zu einem gewissen Betrag von jenen hohen Pflanzen abhängig sein wird. Nach meiner Ansicht beruht alle Abänderung auf einer Verschiebung der Gleichgewic htslage im Determinantensystem, wie solche aus lokal, intragerminalen oder aus allgemeinen Ernährungsschwankungen hervor- gehen müssen, kleinere oder größere Determinantengruppen ergreifend und «durch sie Variationen kleineren oder größeren Betrags herv orrufend, und zwar bestimmt gerichtete und aus inneren Gründen die einmal genommene Richtung beibehaltende Variationen, wie wir dies in dem Abschnitt über Germinalselektion kennen gelernt haben, Diese Variationen nun bilden die Bausteine, aus welchen unter der Leitung von Personalselektion ein neues Artbild, d. h. ein neuer Komplex von Anpassungen hervorgerufen werden kann, in welches Bild vielfach indifferente Charaktere mit eingewoben sind als ebenso konstante Merk- male der Art, wie die Anpassungen. Die Gegner der Selektionstheorie haben das Letztere oft gegen dieselbe geltend gemacht, aber sobald man das Prinzip der Selektion” nicht auf die „Personen“ beschränkt, sondern auch auf die niederen” Kategorien von Lebenseinheiten anwendet, läßt sich das Vorkommer indifferenter Charaktere ganz wohl verstehen. Als Beispiel soleher Merk male weist HENSLOWw neuerdings auf die Gentianaarten hin, dereı zi Entstehung des Artbildes. 259 Blumen bei der einen Art fünfspaltige Kronzipfel haben, bei der anderen vier- oder sechsspaltige, welchen Artcharakteren wir unmöglich einen biologischen Wert zuzuschreiben vermöchten. Sehr möglich, daß sie auch keinen besitzen: aber war denn nicht schon Darwın der Meinung, daß viele Eigentümlichkeiten der Form den „Gesetzen des Wachstums und gegenseitiger Beeinflußung der Teile“ zuzuschreiben seien, Kräften, welche er mit Recht nicht zur „Naturzüchtung“* in seinem Sinn rechnete, welehe wir aber heute als Ausdruck des Kampfes der Teile betrachten, der Intraselektion oder Histonal-Auslese? Diese ist es ja nach unserer Ansicht, welche die Teile zum harmonischen Ganzen zusammen- paßt, welche korrelative sekundäre Veränderungen den primären An- paßungen an die Lebensbedingungen folgen oder sie begleiten läßt, welche den Verlauf jeder Ontogenese in bedeutsamer Weise mitbestimmt, folglich ununterbrochen im Organismus tätig ist. Wir können sie nieht derartig durchschauen, daß wir im einzelnen Fall nachweisen könnten, warum bei diesem Enzian die Krone vierspaltig, bei jenem fünfspaltig ausfällt, aber wir können im Prinzip verstehen, daß alle nicht primäre Anpaßungen einer Art unter dem zwingenden Einfluß der Intraselektion stehen. Und dabei brauchen wir uns heute nicht einmal zu beruhigen, denn Selektion ist — wie wir gesehen haben — auch im Keimplasma tätig. und es ist nur eine Konsequenz aus dem Prinzip der Germinalselektion, wenn wir uns vorstellen, daß Abänder- ungen bestimmter Determinanten infolge von Personalselektion im Keim- plasma selbst schon korrelative Abänderungen anderer benachbarter oder irgendwie mit ihnen in Beziehung stehender Determinanten her- vorrufen, und daß diese dann mit derselben Stabilität eintreten, wie die primären Abänderungen. Darin scheint mir ein wohl noch zwingenderer Grund zu liegen, daß biologisch wertlose Charaktere dennoch konstante Artmerkmale sein können. Korrelation wirkt nicht nur im fertigen Organismus, sie besteht zu jeder Lebensperiode des- selben vom Keim bis zum Tod, und was sie bewirkt. ist ebenso zwingend, als was durch Anpassung mittelst Personalselektion hervor- gerufen worden ist. So können wir auch verstehen. daß gleichgültige Charaktere nicht nur im einzelnen Id des Keimplasmas, sondern in einer großen Majorität derselben übereinstimmend enthalten sein können, sobald wir sie ab- hängig denken von den «durch Personalselektion festgestellten Charakteren, denn diese müssen ja in einer Überzahl von Iden enthalten sein. Es gibt aber noch eine Ursache für das Stabilwerden gleichgültiger Charaktere, und das ist die Einwirkung allgemeiner verändernder Ein- Hüsse auf die Individuen der Art, wie sie viele Klimavarietäten und wohl auch manche Kulturvarietäten uns darbieten. Wenn wir uns nun aber auch vollauf bewußt sind, dab aus den Tiefen des Keimplasmas fortwährend wieder neue minimale Variationen auftauchen, die biologisch gleichgültig dennoch zu Variationsrichtungen werden und sich bis zur Ausprägung sichtbarer Unterschiede steigern können, daß also allein durch Germinalselektion etwa Schneckenvarie- täten oder solche von Schmetterlingen oder von irgend einer anderen Tier- oder Pflanzenform entstehen können, so darf doch sicherlich keine Rede davon sein, dab darin allein, oder auch nur vorwiegend schon die Umprägung der Arten beruhe. Das war der Irrtum NÄGELIS, und war auch der seiner modernen Nachfolger, daß er seinem „Vervollkommungs- prinzip* das Wesentliche in der Riehtung der ganzen Entwick- 17® 2650 Entstehung des Artbildes. lungesbewegung zuschrieb, während doch der ganze Bau aller Arten te) [eo] T }) fe) unszeigt, daß sie so zu Sagen ganz aus Anpassungen zusammen- gesetzt sind. Anpassungen aber können nicht, oder doch nur ganz zufällig und vereinzelt einmal das direkte Resultat einer inneren Ent- wicklungskraft sein, da sie ja eben ihrem Begriff nach Veränderungen sind, die den Organismus in Übereinstimmung mit den Lebensbeding- ungen setzen. Man mußte also entweder den Anteil, welchen Anpass- ung an jedem Organismus hat, gewaltig unterschätzen — und das tat NÄGELI —, oder man mubte den Boden der Naturforschung verlassen und eine transscendentale Kraft annehmen die pari passu mit der Änderung der Lebensbedingungen während der geologischen Entwick- lung unserer Erde auch die Organismenarten zugleich umwandelte und anpabte. Das wäre dann also eine Art von prästabilierter Harmonie, (durch welche die beiden Uhren der Erdentwicklung und ÖOrganismen- entwicklung ganz genau gleich gingen, obwohl sie von gänzlich ver- schiedenen und unabhängigen Werken getrieben würden, Wie sehr aber auch heute noch die bestimmende Bedeutung der Anpassungen für die Organismenformen von Vielen unterschätzt wird, zeigt die immer wieder von neuem wiederholte Behauptung: die Arten unterschieden sich nicht durch adaptive Charaktere, sondern wesentlich dureh rein morphologische, während es doch auf der Hand liegt, daß wir weit entfernt sind, eine so feine Wertschätzung für die Funktion eines Teiles zu haben, um die Unterschiede desselben bei zwei benachbarten Arten als Anpassung an die verschiedenen Bedingungen erkennen zu können. Und ganz ebenso verhält es sich mit der anderen Seite des Problems, mit den Lebensbedingungen. Sind sie doch bei benachbarten Arten oft scheinbar ganz gleich: aber auch, wo sie unserem Auge verschieden sind, fragt es sich doch sehr, ob wir die Unterschiede der beiden Arten als An- passungen an (die spezifischen Lebensbedingungen mit Sicherheit zu er- kennen imstande sind. Wir haben früher von den Schutzfärbungen der Tagfalter gesprochen und haben gesehen, dab die Waldschmetterlinge der Tropen häufig in ihrer Unterseite ein trockenes Blatt nachahmen. In Südamerika gibt es in den verschiedenen Regionen des ungeheuren Walddistriktes des Orinoko und Amazonenstromes allein von der Gattung Anaea etwa 50 Arten, und von diesen sind alle in sitzendem Zustand einem Blatte täuschend ähnlich, jede aber von der anderen in Farben- mischung, Glanz und meist auch der Zeichnung, soweit eine solche vorhanden ist, verschieden. Wollten wir nun sicher urteilen darüber, ob diese Artunterschiede adaptiver Natur sind oder nicht, so müßten wir erst wissen, in welcher Art von Wäldern jede von zwei benach- barten Arten lebt, und an welchen Stellen, zwischen welchen Blättern sie sich gewöhnlich niederläßt. Dann wüßten wir aber im besten Fall immer erst, ob für unser Auge die Art 1 wirklich besser geschützt ist auf dem Blätterboden des Waldes A!, als die Art A und umgekehrt, (durchaus aber noch nicht, ob sie auch dieses Schutzes bedarf, ob also die Art «1 im den Wald 2 versetzt, dort häufiger als in ihrem Heimat- wald von Feinden entdeckt und zerstört würde, und das könnte doch erst den Unterschied als biologisch wertvoll, als von Selektionswert nachweisen. Wie schwierig, ja unmöglich für uns solehe Entscheidungen sind, kann man sich vielleicht noch besser an einheimischen Beispielen klar machen. Niemand zweifelt daran, daß die Oberseite der Vorder- flügel bei «den sog. Ordensbändern (Catocala) eine sehr wirksame Schutzfärbung ist; «diese Schmetterlinge sitzen bei Tag mit flach aus- en gg Entstehung des Artbildes. 961 gebreiteten Flügeln auf Stämmen, Bretterzäunen, Mauern u. S. W., und sind so vortrefflieh ihrer Umgebung angepaßt, daß sie von Tieren wie Menschen trotz ihrer bedeutenden Größe leicht übersehen werden. Aber die zwölf deutschen Arten von Catocala haben jede ihre besondere Schutz- fürbung, bei Catocala fraxini ist es ein helles Grau, bei Catocala nupta ein dunkles Aschgrau, bei Catocala elocata mehr ein gelblich-braungrau, bei Catocala sponsa ein olivenbraun, bei Catocala promissa eine Mischung von weißgrau und olivenbraun u.s.w. Alle diese Färbungen sind pro- tektiv, aber gibt es Einen unter unseren vielerfahrenen und scharfsich- tigen Entomologen,. der imstande wäre, nachzuweisen, dab jede (dieser Nüancen in der Färbung selbst wieder auf Anpassung an den gewöhn- lichen Ruheplatz jeder dieser Arten beruht? Und doch ist es a priori sehr wahrscheinlich. daß es sieh so verhält. Aber damit ist «die ganze Frage noch nicht erledigt, denn jede «dieser Schutzfärbungen ist aus mehreren, oft aus vielen Farben zusammengesetzt: sie muß es auch sein, soll sie ihren Zweck erfüllen, denn ein gleichmäßig gefärbter Flügel würde sowohl von jeder Baumrinde, als von jedem altem Bretter- zaun auffallend abstechen. Die Flügelfläche mußte also auf hellerem Grunde viele. braune bis schwarze Linien und Striche tragen, die meist ziekzackförmig quer über den Flügel laufen; daneben stehen Flecken hellerer Färbung und vollenden so das täuschende Bild. Diese „Zeich- nung“ nun des Flügels ist bei allen zwölf Arten ähnlich, aber doch auch verschieden, und bei jeder von ihnen konstant, also ein Artmerkmal. Wer nun könnte wagen, es zu unternehmen, jeden dieser Striche, Flecken, Ziekzacklinien u. s. w. als adaptiv oder nichtadaptiv nachzuweisen? als eine notwendige Anpassung an die für jede Art etwas verschiedene gewöhn- liche Sehlafstätte, oder aber umgekehrt als einen bloßen Austluß der auf Germinalselektion beruhenden, bei jeder Art etwas verschiedenen Variationsriehtungen dieser Zeichnungselemente? Das wäre eine geradezu unmögliche Aufgabe, und doch handelt es sich hier um einen Gesanıt- charakter, der sicher adaptiv ist; bei vielen Unterschieden anderer Arten aber ist nicht einmal dies sicher. Es scheint mir deshalb wenig überlegt zu sein, wenn man von „Ohnmacht der Naturzüchtung“ redet, weil wir die feinsten Anpassungen als solehe zu erweisen nicht imstande sind. Personalselektion setzt eben da ein, wo die durch Germinalselektion hervorgerufenen Variationen Selektionswert erreichen; ob wir diesen Punkt im einzelnen Fall genau bestimmen können, oder nicht, ist dabei wie ich früher schon sagte, theoretisch ganz gleichgültig. Es gibt übrigens Fälle, in denen wir Artunterschiede als adaptiver Natur nachweisen können. Wenn von zwei nahe ver- wandten Arten von Fröschen «die eine Samenfäden mit diekem Kopf besitzt, die zweite solche mit dünnem, und wenn zugleich die Mikropyle des Eies, durch welche allein der Samenfaden ins Ei gelangen kann, bei der ersten Art weit, bei der zweiten eng ist, so haben wir hier augen- scheinlich Artcharaktere adaptiver Natur vor uns. Aber um sich über die Bedeutung der Naturzüchtung im engeren Sinn, also der Personalselektion klar zu werden, erscheint es mir viel wichtiger, die verschiedenen Gruppen von Tieren und PHlanzen darauf hin anzusehen, was alles an ihnen unzweifelhaft adaptiver Natur ist, Darum bin ich im ersten Teil dieser Vorträge auf verschiedene (Gruppen von Anpassungen im (Genaueren eingegangen, obschon oder gerade weil sie alle dasselbe lehren, dass nämlich ein jeder Teil einer 262 Entstehung des Artbildes. Art, sei sie Tier oder Pflanze, eine jede Abscheidung desselben sogar, ja auch eine jede Gewohnheit, jeder ererbte Instinkt einer A an die Lebensbedingungen unterworfen ist. Ich glaube, Sie werden dadurch denselben Eindruck gewonnen haben, den auch ich von lange her und mit zunehmender Einsicht immer stärker davongetragen habe, daß jeder wesentliche Teil einer Art durch Naturzüchtung nicht nur geregelt, sondern auch ursprünglich durch sie her- vorgerufen ist, wenn nicht bei dieser, so doch bei einer Vorfahrenart, und ferner, dab jeder Teil sich in hohem Grade dem Anpassungs- bedürfnis fügen kann. Nicht ohne Absicht habe ich Ihnen die Er- scheinung der Mimiery so eingehend vorgeführt: ist es doch sie gerade, die uns lehrt, wie ungemein anpassung fähig die Organismen sind, wie geringfügige und kleine Teile entsprechend dem Bedürfnis umgewandelt werden, und in wie starkem Betrage. Wir sahen einen Schmetterling eine Färbung annehmen, die gänzlich von der seiner nächsten Ver- wandten abwich, die ihn aber einer ungeniessbaren Art einer fremden Familie ähnlich machte und dadurch vor Verfolgung schützte. Da kann von einer treibenden phyletischen Kraft so wenig die Rede sein, als von einem zufälligen und plötzlichen Ruck in der Gleichgewichtslage des Determinantensy stems, vielmehr lediglich von Naturzüchtung, d. h Auswahl der von Germinalselektion dargebotenen mannichfachen Varia- tionen, und freie Entfaltung und Steigerung der ausgewählten. Aber nicht nur diese kleinsten in Bezug auf den ganzen Bau des Tieres unbedeutendsten Änderungen können von Naturzüchtung bestimmt werden, sondern auch die phyletische Entwicklung im großen und ganzen: auch sie wird nicht von dem angenommenen inneren Entwieklungsprinzip geleitet. Ihrem Begriff nach können Anpassungen nur auf Selektion be- ruhen, jedenfalls nicht auf einem inneren Entwicklungsprinzip, da dieses auf äußere Verhältnisse keine Rücksicht nehmen, sondern unabhängig von ihnen den Organismus verändern müßte, und so wird bei der Entstehung einer größeren Tiergruppe eine jede phyletische Kraft als Leiterin der Entwicklung ausgeschlossen werden können, sobald es ge- lingt, alle wesentlichen Bauverhältnisse derselben, soweit sie von denen verwandter Gruppen abweichen, als Anpassungen nachzuweisen. Lange nicht bei allen Tiergruppen, und vielleicht kaum bei einer einzigen Pflanzengruppe wird dies gelingen. weil unsere Einsicht in die bio- logische, ich meine nicht bloß die funktionelle Bedeutung der ein- zelnen Teile und ihrer Zusammenordnung zum ganzen nur selten tief genug ist, aber unter den Tieren gibt es solche Gruppen: eine derselben ist die der Wale oder ÜOetaceen. Die Wale gehören bekanntlich den Säugetieren an, also einer Gruppe, «die für das Leben auf dem Land und in der Luft gebaut ist, deren Vorfahren somit den übrigen Säugern ähnlich waren, ein Haar- kleid und vier Beine besaßen, und einen Körper, der in seiner Masse derart verteilt war, daß diese vier Beine ihn tragen konnten. Nun leben aber die heutigen Wale im Meere, haben ihre Körperform voll- ständig verändert, sind spindelförmig geworden, wie ein Fisch, geschickt zum Durchschneiden (des Wassers, aber unfähig, sich auf dem Lande fortzubewegen. Dabei sind ihre Hinterbeine völlig geschwunden und nur noch als Rudimente im Inneren der Muskelmasse nachweisbar (Fig. 130, Dr, 77, Fr), die Vorderbeine aber sind zu Flossen umge- wandelt, in denen trotzdem noch immer «das ganze ererbte, nur sehr mu — -— . Die Wale als Anpassungskomplexe. 263 verkürzte Armskelett des Säugers steckt (0A, UA, 7). Die Haut hat ihr Haarkleid so vollständig verloren, daß Rudimente davon heute nur noch bei den Embryonen nachzuweisen sind. Alle diese Ver- änderungen sind aber Anpassungen an das Wasserleben, und können nicht durch unabhängig von äußeren Verhältnissen wirkende Kräfte hervorgerufen worden sein. Dazu kommt noch vieles andere. Eine («ieke Specklage unter der Haut verleiht diesen warmblütigen Tieren wirksamen Schutz gegen die Abkühlung durch das umgebende Wasser, und gibt ihnen zugleich das richtige spezifische (rewicht des Seewassers: eine enorme Schwanzflosse, ähnlich der der Fische. aber horizontal gestellt, bildet ihr vor- nehmstes Bewegungsorgan, weshalb denn auch die Hinterbeine überflüssig wurden und in Wegfall kamen. So verschwand auch die Ohrmuschel, als nutzlos, denn das (Gehörorgan der Tiere erhält die Schallwellen zweckmäßigerweise nicht mehr durch einen lufthaltigen Gehör- gang. sondern auf dem kürzeren Weg dureh die Kopfknochen direkt vom um- gebenden Wasser her. Merkwürldige Abänderungen an den Atmungs- und Zirkulationsorganen ermöglichen das lange Tauchen, und eine Verlegung der äußeren Nasenöffnungen von der Schnau- ze auf die Stirn das Luftholen, wenn die Tiere aus der Tiefe zu «ler vielleicht sturmbewegten Oberfläche emportau- chen. Ich müßte noch lange fortfahren. wollte ich Ihnen alles anführen, was wir an diesen merkwürdigen Wassersäugern DERTEIN \ \ als Anpassungen an dieses ihren Stamm- pie ei eltern so fremde und feindliche Element Nr zu erkennen vermögen. Fassen wir = ST speziell die Bartenwale ins Auge, z. B. den grönländischen Wal, so fällt Fig. 130. Skelett eines Grönländischen , Wals mit dem Umriß der äußeren Körperform. \ Ok Öberkiefer, U% Unterkiefer Sch Schulter- ' m ZEr blatt, 0.1 Oberarm- und 7741 Unterarmknochen, real // Wand, Ar Beckenrudiment, #r Rudiment [ des Oberschenkelknochens, 7r solches des Un- | terschenkelknochens; nach CrLAaus. an ihnen besonders die ungeheure Größe des Kopfes auf, der etwa ein Drittel des ganzen Körpers ausmacht (Fig. 130). Sollte viel- leicht dieser, den ganzen Typus des Tieres so stark mitbestimmende Teil ein Ausfluß jener inneren Entwicklungskraft sein? Keineswegs! er ist vielmehr eine Anpassung an die eigentümliche Ernährungsweise dieser schwimmenden Säuger, die sich nicht, wie Delphine und Zahn- 264 Entstehung des Artbildes. wale von größeren Fischen und Cephalopoden nähren, sondern nur kleine weiche Mollusken, Salpen, Pteropoden und andere schwimmende Schnecken fressen, welche in unendlichen Scharen oft meilenweit die obersten Schiehten der arktischen See erfüllen. Um von so winzigen Bissen leben zu können, war es unerläßlich, dab sie in enormer Menge ver schluckt werden konnten; Zähne waren «da nutzlos, und so sind dieselben rudimentär geworden und nur noch im Embryo als Anlagen (Zalm- säckchen) in den Kiefern nachweisbar: aber als Ersatz dafür hängen von der Decke der Mundhöhle große Platten von .„Fischbein” herab, ganz eigentümliche hornige Produkte der Mundschleimhaut, deren Enden zerfasert sind und als ein Fangnetz dienen für «das kleine Getier, welches mit dem eingezogenen Wasser in den Rachen gelangt. Dieser selbst aber ist zu einer ungeheuren Größe herangewachsen, so daß grobe Wassermassen auf einmal durch das Fanenetz der Barten durchgeseiht werden können. Wenn ich nun noch daran erinnere, dab auch ganz eigentümliche Abänderungen an inneren Organen sich vorfinden, daß die Lungen lang gestreckt sind und so dem Tier das Horizontalliegen im Wasser er- leichtern, daß eigentümliche Einrichtungen an der inneren Nase und = dem Kehlkopf vorhanden sind, die gleichzeitiges Atmen und Schlucken ermöglichen, daß das Zwerchfell beinahe horizontal liegt wegen der Länge der Lungen, so glaube ich genug gesagt zu haben. um Ihnen zu zeigen, daß nicht nur fast Alles an diesen Tieren von dem | sonst bei Säugern üblichen Typus abweicht, sondern daß auch alle diese Abweichungen Anpassungen an das Wasser- leben sind. Wenn nun aber Alles, was an «den Tieren für die Ordnung, oder (die Familie Charakteristisches, d. h. Typisches ist, auf Anpassung be- ruht, was bleibt dann noch übrig für die Tätigkeit einer inne- | ren Entwiceklungskraft? Was bleibt vom Walfisch übrig, wenn man (die Anpassungen hinwegdenkt? Nichts als das allgemeine Schema eines Säugetieres: dieses aber war schon vor der Entstehung der Wale in ihren Vorfahren gegeben; wenn aber das, was die Wale zu Walen macht, also das „Schema“ eines Wales, durch Anpassung entstanden ist, dann. hat also die hypothetische innere Entwicklungskraft — liege sie, wo sie wolle — keinen Anteil an der Entstehung dieser Gruppe von Tieren. So sagte ich schon vor zehn Jahren, aber die Idee einer dirigieren- den phyletischen Entwicklungskraft sitzt fest im Geiste Vieler, und immer wieder tauchen neue Modifikationen derselben auf, als deren gefährlichste mir (diejenigen erscheinen, welche sich selbst nicht klar sind, und die mit einem Schlagwort, wie „organisches Wachsen“ Etwas gesagt zu haben meinen. Organisches Wachsen wird die phyletische Entwicklung der Lebewelt von jedem wissenschaftlichen Standpunkte aus g& nannt werden können, von dem unsrigen sowohl. als von dem NÄGELIS, denn Niemand ist so extrem und einseitig, daß er sich den Entwick- lungsprozeß nur aus inneren oder nur aus äusseren Kräften hervor- gehend denkt; derselbe wird also immer sich vergleichen lassen dem Wachsen einer Pflanze, welches ebenfalls auf äusseren und inneren Be wirkungen beruht. Damit ist aber noch recht wenig gesagt, es kommt darauf an zu zeigen, wie viel und wie wenig die äußeren und die inneren Kräfte bewirken, welcher Art sie sind, und in welcher Weise sie ineinander greifen. Und da ist es denn wohl ein grosser Unter- ä Zi ' Die Vögel als Anpassungskomplexe. 265 ‚ sehied, ob man mit NÄGELI glaubt, „daß das Tier- und Pflanzenreich ' ungefähr so, wie es tatsächlich ist, auch dann geworden sein würde, ‚ wenn es auf der Erde gar keine Anpassung an neue Verhältnisse und keine Konkurrenz im Kampf ums Dasein gäbe“, oder ob man den eben betrachteten Tatsachen entsprechend auf das schärfste betont, daß jeden- ‚ falls eine ganze Ordnung von Säugetieren, die der Wale ' niemals hätte entstehen können, wenn es keine Anpas- sung gäbe. Dasselbe könnte man auch für die Klasse der Vögel nach- weisen, denn auch bei ihnen vermögen wir die Anpassungen soweit zu verstehen, daß wir sagen (dürfen, Alles an ihnen, was sie zu Vögeln macht, beruhe auf Anpassung an das Luftleben, von der Gliede- ‚ rung des Rumpfes, dem Bau des Schädels. der Existenz eines Schnabels, ı von der Umwandlung der Vorderfübe zu Flügeln, der der Hinterfüße zu sehr originellen Landbewegungsorganen oder Ruderorganen. bis zu der Beschaffenheit der Knochen, der Lage, Größe und Zahl der inne- ren Organe, ja bis zur mikroskopischen Struktur zahlreicher Gewebe ' md Teile herab. Was kann es Charakteristischeres für eine Tierklasse ' geben, als die Federbekleidung bei den Vögeln? sie ist allein imstande ‘ die Klasse von allen übrigen heute lebenden Tierklassen zu unterscheiden: ı ein Tier mit Federn kann heute nur ein Vogel sein, und doch ist die ‘ Feder ein durch Anpassung entstandenes Hautgebilde, eine Reptilien- ‚ sehuppe, die sich so umgebildet hat, daß sich aus der Vorderextremität ‚ ein Flugorgan gestalten konnte. So finden wir es schon auf den zwei ' Abdrücken des Urvogels, Archaeopteryx, welche uns im Solenhofer Schiefer aus der ‚Jurazeit unserer Erde erhalten sind. Und wie ins ' Einzelne gehen gerade bei der Feder die Anpassungen, wie ist das ‚ ganze (sebilde mit Spule, Schaft und Fahne genau berechnet auf die ‘ Funktion. obwohl diese selbst hier eine lediglich passive ist. Was ‚ ieh eben von der ganzen Klasse der Vögel sagte, daß sie nämlich ganz ' auf Anpassung beruhe, das gilt ebenso auch für dies einzelne Organ, ‚ die Feder; Alles an ihr ist Anpassung, und zwar nach zwei Rich- tungen hin, einmal kann die Feder als Flugorgan wirken zur Herstellung breiter, leichter und doch höchst widerstandsfähiger Flächen zum Schlagen der Luft, dann aber als denkbar wirksamster Wärmeschutz. In beiden ı Richtungen grenzt ihre Leistung ans Wunderbare; ich erinnere nur an ‚ die neueste Entdeckung auf diesem (Gebiete, an den durch den Wiener Physiologen SıGmunn ExNEr erbrachten Nachweis, «dass die Federn in ihrer oberflächlichen Schicht positiv elektrisch, in ihrer tiefen negativ elektrisch geladen werden, sobald sie sich aneinander und an der Luft reiben. Gerieben aber werden sie sobald der Vogel fliegt, oder sich bewegt, und die Folge der gegensätzlichen elektrischen Ladung der beiden Federschichten besteht darin. daß die Deekfedern sich dieht ze- schlossen über die Flaumfedern hinlagern, während andererseits die gleichsinnige Ladung aller Flaumfedern dieselben sich gegenseitig ab- stoßen macht, somit eine Luftschicht zwischen ihnen erhält und dadurch bewirkt, daß zwischen Haut und Deckfederlage eine Schicht lockeren, von Luft gleichmäßig durchsetzten Federwaldes zu liegen kommt der denkbar vortrefilicehste Wärmeschutz. Die elektrischen Eigen- schaften der Federn und ebenso verhält es sich mit den Haaren bei den Säugern — sind also keine gleichgültigen Charaktere, sondern sie besitzen ebensowohl eine biologische Bedeutung, wie «die fast mikros- kopischen Zähnchenreihen. durch welche die Strahlen der Deckfedern ww‘ 2656 Entstehung des Artbildes. aneinander haften und eine relativ feste, wenn auch ungemein leichte Flugfläche darstellen, welche der Luft kräftigen Widerstand leistet, Wie wir aber (diese Zähnchen als Anpassungen betrachten, so werden wir auch die den Federn eigentümlichen elektrischen Eigenschaften als solehe ansehen und durch Naturzüchtung entstanden denken müssen, wie dies denn EXNER auch tut. Wenn wir nun bei der Ordnung der Wale und bei der Klasse der Vögel alle großen Züge der Organisation als Anpassungen zu er- kennen vermögen, so werden wir schließen müssen, daß auch bei den übrigen groben Gruppen des Tierreichs die Haupt- und Grundzüge des Baues Anpassungen an die Lebensbedingungen sind, auch wenn die Be- ziehungen zwischen ihnen und der Organisation für unser Auge nicht so auffallend und so leicht erkennbar sind, denn gäbe es überhaupt eine innere Entwicklungskraft, dann müßte sie sich auch beim Stamm der Wale und Vögel als Ursache der Entstehung dieser Gruppen er- kennen lassen: gibt es aber eine solche Kraft, dann werden wir auch bei minder auffälligen Abweichungen der Lebensbedingungen dennoch auch hier den typischen Bau einer Gruppe auf Anpassung beziehen müssen. So hängt alles an den Organismen von Anpassung ab, die groben Züge der Organisation ebensowohl als die kleinsten Einzelheiten, soweit sie noch Selektionswert besitzen, und nur, was unter dieser Schwelle bleibt. wird allein durch innere Faktoren bestimmt, dureh (serminalselektion; diese aber ist keine starre Entwicklungskraft im Sinne NÄGELIS und seiner Nachfolger, denn sie ist lenkbar. sie muß nicht nach einem im Voraus unabänderlich festgesetzten Ziel führen, sondern sie kann — je nach den Umständen — in viele Wege geleitet werden. Das aber ist doch gerade das Hauptproblem der ganzen Entwicklungslehre, wie Entwick- lung ausinneren Ursachen zugleich Anpassungan die äußeren Veränderungen ergeben kann. Soweit war dieser Vortrag niedergeschrieben und zum Druck fertig, als ich den ersten Band eines neuen Werkes von DE VRIES erhielt, in welchem dieser ausgezeichnete Botaniker neue Ansichten über die Umwandlung der Arten entwickelt, und zwar auf Grund zahlreicher, dureh Jahre fortgesetzter Versuche über das Variieren von Pflanzen. Da nicht nur seine Ansichten, sondern auch die von ihm geltend ge- machten interessanten Tatsachen den in diesem Buch vertretenen Vor- stellungen über Umwandlung der Lebensformen zu widersprechen scheinen, so möchte ich nicht unterlassen, darüber einiges zu sagen. DE VRIES glaubt nicht, daß die Artumwandlungen auf Steigerung der kleinen „individuellen“ Variationen beruhen; er unterscheidet zwischen „Variationen“ und „Mutationen“ und gesteht nur den letzteren die Kraft zu, eine Art umzustempeln, die ersteren betrachtet er nur als hin- und herfluktierende Abweichungen, die wohl durch künstliche Züchtung gesteigert und mit Mühe durch lange, sorgfältige Reinzucht zur Ausprägung einer neuen Rasse benutzt werden können, die aber in dem natürlichen Verlauf der Phylogenese keine Rolle spielen. Für diese wären nach seiner Ansicht nur die „Mutationen“ maßgebend, d.h. kleine oder größere sprungweise Abänderungen, welche plötzlich einmal sich zeigen, und welehe von vornherein die Tendenz haben, sich rein zu vererben rein zu züchten. Die Tatsachen, auf welche sich diese Ansicht in erster Linie stützt, sind Beobachtungen und Züchtungsversuche mit einer Öenotheraart, Es j | \ DE VRIES „Mutationstheorie*. 2657 welehe bei Hilversum in Holland auf einem brachliegenden Kartoffelacker in Menge gefunden wurde. Sie war früher in einem benachbarten Garten kultiviert worden und hatte sich von da auf den Acker ausgesät. Die dort in Menge wachsenden Exemplare dieser Oenothera Lamarckiana be- fanden sich im Zustand großer „fluktuierender“ Variabilität, aber außerdem wuchsen unter ihnen zwei stärker abweichende Formen, die aus den anderen entstanden sein mußten und die DE VRIES veranlaßten die Stamm- pflanze in Kultur zu nehmen, in der Hoffnung, auch im botanischen Garten zu Amsterdam neue Formen daraus zu erhalten. Diese Hoffnung erfüllte sich: es traten schon in der zweiten Generation der Kulturen unter 15000 Pflanzen 10 auf, welche zwei abweichende Formen darstellten; und in den folgenden (renerationen wiederholten sich dieselben neuen Formen noch mehrmals und in zahlreichen Exemplaren, ja es traten noch fünf andere neue Formen auf, die meisten davon in mehreren Exem- plaren und in verschiedenen (renerationen der Stammpflanze. Alle diese neuen Formen nun, DE VRIES nennt sie „elementare Arten“, züchten rein, d. h. mit eigenem Pollen befruchtet liefern sie Samen, der wieder dieselbe „elementare Art“ gibt. Die Unterschiede zwischen den neuen Formen sind meist mehrfache und zwar derartige, wie sie auch zwischen den „elementaren“ Arten wildwachsender Lixn&scher Arten gefunden werden. Das aber, was wir seit LINXE „Arten“ zu nennen gewohnt waren, ist nach DE VRIES ein Sammelbegriff, «dessen Bestandteile eben jene von ihm bei Oenothera neu hervorgerufenen „elementaren“ Arten sind. Von anderen Arten, z. B. von Viola trieolor und von Draba verna sind solche schon lange als rein züchtende Va- rietäten bei den Botanikern bekannt, und besonders durch A. JORDAN und später durch DE Bary genau untersucht und experimentell geprüft worden. Alle „Arten“ des Liwx&schen Artbeeriffs bestehen nach DE VRIES aus einer geringeren oder größeren Anzahl (bei Draba sind es 200) solcher „elementarer* Arten und diese entstehen, wie aus seinen ÖOenotheraversuchen hervorgeht, durch „stoßbweise" Variation, welche periodisch auftritt und eine Art in viele neue Arten plötzlich spaltet, indem ihre Keimsubstanz zuerst latent sich in verschiedener Art ver- ändert, was dann plötzlich in einzelnen Nachkommen des einen oder des anderen Individuums in die Erscheinung tritt. Danach wären also die Arten der Ausfluß rein innerer Entwicklungsursachen, die sich uns als „Mutationen“ offenbaren, «d. h. als sprungweise Abänderungen, welche von vornherein fest erblich sind, und zwischen denen der Kampf ums Dasein entscheidet. wer überleben und wer untergehen soll. Denn die Mutationen selbst erfolgen riehtungslos, sind teils vorteilhaft, teils gleich- gültig, teils auch schädlich (z. B. dureh Ausbleiben des einen Geschlechts), und so wird immer nur ein Teil derselben, und vielfach wohl nur wenige von ihnen auf die Dauer sich als existenzfähig erweisen. „Arten entstehen“ also „nicht durch den Kampf ums Dasein, sondern sie vergehen durch ihn“ (p. 150): d. h. Naturzüchtung kann nichts weiter tun, als das Nichtexistenzfähige auszumerzen, ohne daß dadurch ein züehtender, d. h. richtender Eintluß auf die Überbleibenden ausgeübt würde. Einen Unterschied in der Natur der Variationen nahm schon der amerikanische Paläontologe Scott an, freilich aus anderen Gründen und auch in anderem Sinn. Er glaubte bestimmt gerichteter Va- riationen zu bedürfen, um die geradlinige Entwieklungsbahn zu erklären, welche manche Tiergruppen, wie die Pferde oder die Wiederkäuer tat- sächlich eingehalten haben, und welche er der sich steigernden An- 968 Entstehung des Artbildes. passung an bestimmte Lebensbedingungen nicht zuschreiben zu können ' meinte. Die Mutationen von DE VRIES unterscheiden sich von der „fuktuierenden* Variation nicht dadurch, dab sie eine bestimmte Rich- tung verfolgten, sondern nur dadurch. dab sie von vornherein streng erblich sind, daß sie „rein züchten“. Zwar sind die „Huktuierenden* ' individuellen Unterschiede auch erblich, können auch durch künst- liche Selektien gesteigert werden, es fehlt ihnen aber das, was sie zum | Bestandteil einer natürlichen Art machen würde: die Konstanz: sie züchten nicht rein, werden deshalb nie von der Selektion unab- hängig, sondern müssen durch stets von neuem angewandte Auslese rein gehalten werden. Sie bilden „Rassen“, nicht „Arten* und schlagen, sich selbst überlassen, in kurzer Zeit wieder auf die Stammart zurück, wie (das von zahlreichen „veredelten Rassen“ unserer (Getreidearten bekannt ist. DE VRIES leugnet («deshalb gänzlich, daß aus der „Huktu- ierenden“* Variation eine neue Art durch Naturzüchtung hervorgehen könne, und nicht nur deshalb, weil die Steigerbarkeit eines Charakters eine sehr beschränkte sei; meist lasse sich nur eine Verdopplung des ursprünglichen Charakters erzielen, der Fortschritt werde bald schwie- riger, um allmählig ganz aufzuhören. | Das sind einschneidende Ansichten gestützt durch ein starkes Heer gewichtiger Tatsachen. Ich gestehe gern, daß ich nicht oft ein wissenschafttiches Buch mit so großem Interesse gelesen habe, wie ' dieses. Dennoch glaube ich, dab man sich durch DE VRIES nicht zu weit fortreißen lassen darf, er überschätzt offenbar die Tragweite seiner Tatsachen, so interessant und wichtig dieselben sicherlich auch sind. und übersieht unter dem Einfluß des Neuen, was ihm vorliegt, die andere Seite der Artumwandlungen, diejenige der das Interesse der Meisten seit DARWIN und WALLACE beinahe ausschließlich zugewandt war: die An- passungen. Nicht dab er sie unerwähnt ließe, er nimmt eine „in! konstanter Richtung wirkende Auslese“ seiner Mutationen an und sucht sie damit zu erklären, allein «dla die Mutationen aus rein inneren Gründen — ich meine ohne Zusammenhang mit der Notwendigkeit einer neuen An- passung — eintreten, auch nur in wenigen Prozenten der Indivi- duen und völlig richtungslos, so können sie unmöglich ausreichen für die Erklärung der die ganze Organismenwelt gleichsam beherrschen- den Anpassung. Hier aber gerade ist der Punkt, an dem viele Botaniker | die Zoologen nicht mehr verstehen, weil die Anpassungen bei den Pflanzen eben viel weniger hervortreten, und wohl in vielen Fällen auch weniger nachweisbar sind, als bei den Tieren, die uns nicht allzu selten fast geradezu aus Anpassungen zusammengesetzt erscheinen. Ich habe in diesem Buch und auch in diesem Kapitel sehon so viel über Anpassungen und ihr Zustandekommen gesprochen, dab ieh fast nur darauf hinzuweisen brauchte, um es begreiflich erscheinen zu lassen, dab wir dieselben nicht bloß durch Häufung und Steigerung von vereinzelt vorkommenden sprungweisen „Mutationen“ entstanden denken können. Nicht einmal dann, wenn man annähme, die Sprünge der Muta- tionen könnten gesteigert werden im Laufe der Generationen, kurz wenn man sagte, Mutationen seien eben alle diejenigen Variationen, welche rein züchten und zur Artbildung führen, Variationen aber die anderen, die «as nicht können. Das wäre aber nur ein Wortspiel, es sei denn. die Huktuierenden Variationen wären wirklich ihrer Natur, d. h. Ur- sache nach ganz etwas Anderes, als die Mutationen. DE Vrızs legt großes Gewicht darauf, diese beiden Abänderungsarten scharf vonem- al DE VRIES „Mutationstheorie“. 29 ander zu scheiden, und dies mag auch für die erste Untersuchung der ihm vorliegenden Tatsachen nützlich oder notwendig gewesen sein, denn zuerst müssen wir scheiden und «dann wieder verbinden, aber daß in Wahrheit Variationen und Mutationen ihrem Wesen nach verschieden sein sollten, darf sicherlich nieht angenommen werden, da so unzählige Anpassungen nur durch Steigerung individueller Variationen entstanden sein können. Dieselben müssen also „reinzüchtend“ werden können. wenn sie es auch in den beobachteten Fällen künstlicher Züchtung bis jetzt nicht geworden sind. Wie wäre es möglich, aus zu- fälligen. richtungslosen Mutationen, die nur selten, und immer nur in einem kleinen Prozentsatz der Individuen auftreten, die Entstehung der Blattzeichnung einer Kallima oder Anaea zu erklären? die Zurecht- rückung der vorhandenen Streifen zu den Blattrippen, und das genaue Aneinanderpassen dieser Rippen über beide Flügelflächen hin? und wenn man selbst zugeben wollte, es könnte ja auch eine Mutation aufgetreten sein. bei welcher die Streifen von Vorder- und Hinterflügel zufällig gerade aufeinander getroffen wären, so würde das immer noch keine Blatt- anpassung geben, denn es fehlte noch der Instinkt. der den Falter zwingt. im Sitzen die Flügel genau so zu halten, daß die beiden Bildstücke von Vorder- und Hinterflügel zueinander passen. Also sind noch parallele zweckentsprechende Mutationen des Nervensystems zu verlangen, eine allzu starke Zumutung an die Güte des Zufalls. (Ganz ebenso aber steht es mit dem ganzen Blattbild auf den beiden Flügeln, das ja doch un- möglich als Ganzes, als eine plötzliche Mutation entstanden sein kann. Die ganze Litanei von Einwürfen, welche mehrere Jahrzehnte hindurch gegen die DARwIn-WarLLAacEsche Naturzüchtung vorgebracht wurde und die sich auf die Unwahrscheinlichkeit gründete, daß zufällige, rich- tungslose Variationen imstande sein sollten, für die nötigen Anpas- sungen das richtige Material zu liefern, lassen sich in bedeutend ver- stärktem Mabe gegen die in viel geringerer Zahl und Mannichfaltigkeit sich darbietenden Mutationen wenden. Zumal gegenüber der — wie wir gesehen haben — fast überall vorliegenden Notwendigkeit der Coadaptation vieler Anpassungen der verschiedensten Teile versagt die „Mutationslehre* durchaus. Das kaleidoskopische Bild, die Mutation — ist von vornherein gegeben und muß, so wie es ist. vom Kampf ums Dasein angenommen oder verworfen werden; harmonische Anpassung aber verlangt allmähliche, gleichzeitige oder doch successive erfolgende zweckmäßige Veränderung aller in Betracht kommenden Teile, und das kann nur die immer vorhandene fluktuierende Variation leisten, welche durch Germinalselektion gesteigert und durch Personalselektion geleitet wird. Viele und besonders viele Botaniker betrachten die Anpassungen als etwas Sekundäres, was den Arten zu ihrer besseren Existenz mit auf den Weg gegeben wird, was aber das Wesen derselben nicht be- rührt, etwa vergleichbar den Kleidern die ein Mensch trägt, um sich gegen die Kälte zu schützen: allein die Sache verhält sich doch etwas anders. Die von Cnux geleitete Tiefsee-Expedition der Jahre 1898 und 1899 hat viele interessante Aufschlüsse über die in der Tiefe des Ozeans lebenden Tiere gebracht, welche alle eigentümliche Anpassungen an die besonderen Bedingungen ihrer Existenz an sich tragen. besonders An- passungen an das Dunkel großer Meerestiefen. Eine der auflälligsten unter diesen sind die Leuchtorgane, welche nicht bei allen, aber bei vielen der am Boden der Abgrundzone lebenden Tiere, und auch der 270 Entstehung des Artbildes. in verschiedener Höhe über dem Abgrund schwebenden Tierwelt ge- funden werden. Es sind teils Drüsen, welche ein leuchtendes Sekret absondern, teils aber komplizierte Organe, „Laternen“, welche vom Willen (des Tieres beherrscht plötzlich eine Lichtmasse entwickeln und nach bestimmter Richtung hinwerfen, ähnlich einem elektrischen Scheinwerfer, Solche Apparate besitzen einen höchst zusammengesetzten Bau mit Nerv und Linsen, die das Licht zusammenbrechen, und sind im ganzen einem Auge nicht unähnlich. Daß sie plötzlich einmal durch „Mutation“ ent- standen sein sollten, ist undenkbar, sie können nur von einfachen An- fängen aus durch allmähliche Steigerung ihres Baues, und zwar nur unter fortwährender strenger Auswahl der nützlichen unter den sich darbietenden Variationen entstanden sein. Sie beruhen alle auf ver- wickelter „harmonischer“ Anpassung, sind also unmöglich aus Muta- tionen, d. h. schon gegebenen Formkonstellationen abzuleiten, wenn man nicht etwa das Wunder zu Hülfe rufen will. Nun kommen aber solche Laternen bei sehr verschiedenen Tieren vor, bei spalt- füßigen Krebsen, bei Garneelen, bei Fischen verschiedener Gattungen und Familien. Manche Fische haben lange Reihen von Leuchtorganen an den Seiten und dem Bauch, und bei ihnen mögen dieselben zur " Erleuchtung des Grundes dienen und zum Absuchen desselben naeh Nahrung. bei anderen aber sitzen die Leuchtorgane an der Schnauze, gerade über dem breiten, gefräßigen Maul und haben wohl sicher die ' w Bedeutung, welche Cuun ihnen zuschreibt, nämlich die, kleine Tiere anzulocken, wie die elektrische Lampe alle Arten von Nachttieren, z. B. Insekten in Menge anlockt. auch zu ihrem Verderben. Aber nicht nur Fische, sondern auch Weichtiere, Cephalopoden der Tiefe haben Leuchtorgane entwickelt, und zwar ist eine Art dieser Tiere mit einigen zwanzig eroßen, wie bunte Edelsteine ultramarin, rubinrot, himmelblau und silberig leuchtenden Organen besetzt, eine andere Art zeigt die ganze Bauchseite übersät mit kleineren, perlenähnlichen Leuchtorganen. Mögen wir auch über die spezielle Verwendung dieser Laternen der Tiefseetiere nicht überall schon im Reinen sein, so kann doch darüber kein Zweifel sein, dab es Anpassungen an die Dunkelheit der Tiefe sind, und wenn nun bei vielen Tieren verschiedenster Gruppen dieselben Anpassungen (in physiologischem Sinn gesprochen) sich hier eingestellt haben, so fehlt jede Möglichkeit, sie auf plötzliche Mutationen zu be- ziehen, die ohne Beziehung auf Nützlichkeit plötzlich einmal bei allen diesen Tiergruppen aufgetreten wären, bei allen im Lichte lebenden aber nieht! Nur die in der Riehtung des Bedürfnisses voranschreitende und sieh kombinierende „Variation“ kann zu einer Erklärung ihrer ı Entstehung die Handhabe liefern. (sanz ebenso steht es mit den Augen der Tiefseetiere Man glaubte früher, daß die Bewohner dunkler Regionen ihre Augen sämtlich einbüßten. Bei den Höhlentieren und den Bewohnern der lichtlosen Tiefe unserer Seen verhält sich dies auch vielfach so, aber in der Ab- grundzone des Meeres finden sich nur ausnahmsweise Fische oder Kruster, (deren Augen verschwunden sind durch Verkümmerung, und zwar scheinen es solche Arten zu sein, welche an den Grund selbst gebunden sind bei der Nahrungssuche, und sich dabei der Tastorgane besser bedienen können, als der Augen: denn der Grund enthält wohl auf weiten Flächen Nahrung genug für solche Moderfresser, er ist aber nur stellenweise erleuchtet, nämlich nur da, wo leuchtende Tiere, Polypenstöcke u. 5. W. sitzen. Daß aber so viele Tiere der Tiefe leuchten, bedingt es offenbar, Al DE VRIES „Mutationstheorie‘“. 271 daß auch die meisten Einwanderer in die Abgrundzone ihre Augen nicht als unnütz einbüßten, sondern sie nur dem im Verhältnis zur Ober- flächenschicht des Meeres sehr schwachen Licht anpaßten. Die Augen der Tiefseefische z. B. sind entweder enorm groß, und dadurch geeignet, «las schwache Licht der Tiefe dem Tier zur Wahrnehmung zu bringen, oder sie sind auch noch anderweitig verändert, und zwar in einer sehr charakteristischen Weise: sie sind zu einem Zylinder ausge- zogen, der stark über die Fläche «des Kopfes vorsteht; man könnte meinen, die Tiere sähen durch einen Operngucker, und CHuun hat denn auch diese Augen als „Teleskopaugen“ bezeichnet, A. BRAUER aber hat kürzlich gezeigt, welche tiefgreifende Veränderungen des ursprünglichen Fischauges nötig waren, um solche Organe für das Sehen im Dunkeln daraus zu machen. Aber diese Veränderungen sind bei den Augen der verschiedensten Tiere der Meerestiefen eingetreten, und keineswegs bloß Fische verschiedener Familien mit „Teleskopaugen* leben da unten, sondern auch Krebse und Cephalopoden: ja unsere Eulen besitzen einen ganz ähnlichen Bau der Augen, wenn sie auch äußerlich nicht in derselben Weise aus dem Kopf hervorstehen. Also auch hier wieder die Erscheinung, welche Oscar SCHMIDT seiner Zeit als Konvergenz bezeichnete, d. h. übereinstimmende Anpassungen an gleiche Verhältnisse bei genealogisch nicht zusammenhängenden Tier- formen: diese Teleskopaugen stammen nicht etwa alle von einer Art ab, die zufällig einmal in einer „Mutationsperiode“ eine solehe glückliche Kombination harmonischer Anpassungen sprungweise hervorgebracht hätte, sondern sie sind selbständig entstanden durch schrittweise zweckmäbßige Veränderung, also durch Naturzüchtung auf Grundlage von (Grerminal- selektion. Nur so sind sie in ihrem Werden als möglich zu begreifen. Was aber für die Dunkelaugen gilt, das hat auch im allgemeinen Geltung für alle Augen, denn die Augen der Tiere sind keine Deko- rationsstücke, die da sein können oder auch fehlen. sie können nicht bei irgend einem Tier durch plötzliche Mutation entstanden sein, sondern sie sind mühsam errungene, durch langsame Steigerungen allmählich höher emporgehobene Anpassungen, Teile, die in genauestem inneren Zusammenhang stehen mit der (Gesamtorganisation des Tieres und die nur dann in Wegfall kommen, wenn sie überflüssig werden. Auch ihre Entstehung scheint mir nur denkbar auf Grund der von Naturzüchtung in die Riehtung des Zweckmäßigen eingestellten Germinalselektion, also auf Grund der „Huktuierenden“ Variation, nieht durch Zufall. So steht es mit allen Anpassungen. Aber nicht nur die Augen der Tiere sind Anpassungen, Ausnutzungen der Liehtwellen im Interesse der Erhaltung des Tierkörpers, sondern ganz ebenso alle Sinnesorgane, die Tastorgane, Riech- und Spürorgane, Gehörorgane u. 8. w. Das Tier kann ihrer nicht entbehren: erst entstanden die niederen, dann die höheren Sinnesorgane: die steigende Organisationshöhe («des Tieres bedingte sie geradezu, und ein vielzelliges Tier ohne Sinnesorgane ist nieht denkbar. Ebenso das gesammte Nervensystem, welches die Aufgabe hat, die durch die Sinnesorgane zugeleiteten Reize in Aktion des Tieres umzusetzen, sei es direkt, sei es mittelst zwischengeschobener Nervenzellen, zentraler Organe von immer wachsender Kompliziertheit der Zusammensetzung. Wie die Teleskopaugen sich bei einigen Gruppen der Tiefseetiere unabhängige voneinander, und zewiß nieht dureh den Zufall einer Mutation, sondern dureh die Notwendigkeit des Berdürfnisses im Konkurrenzkampf gebildet haben, so müssen alle die genannten Organe, Be 972 Entstehung des Artbildes. das gesammte Nervensystem mit allen seinen Sinnesorganen in unendlich vielen, selbständig weiterarbeitenden genealo- gischen Linien und Verzweigungen aus denselben Entwick- lungsfaktoren hervorgegangen sein. Und man glaube nicht. daß es damit ein Ende habe; was von den Sinnesorganen gilt, daß sie Not- wendigkeiten sind, deren Entstehung auf dem Bedürfnis beruht, gilt ohne Zweifel für alle Teile und Organe des ganzen tierischen Körpers, und zwar im Groben, wie im Kleinen und Kleinsten. Nicht überall ist es nachzuweisen, aber es ist trotzdem gewiß, und hat seine Geltung so gut für Bewegungs-, als Verdauungs-, als Fortpflanzungs- organe, hat auch Geltung für alle Tiergruppen, und auch für die Unter- schiede zwischen ihnen, die ja in vielen Fällen, wenn auch nicht immer als offenbare Anpassungen an die Lebensbedingungen sich kundgeben. Was bleibt da noch übrig für die Mutation, wenn so ziemlich Alles Anpassungist? Vielleicht die Artunterschiede, und diese können ja in der Tat vielfach nicht mit Sicherheit als Anpassungen erkannt werden, was aber schwerlich als Beweis gelten darf, daß sie es nicht doch sein könnten. Vielleicht möchte man auch an die geometrischen Skelette mancher Einzelligen denken, bei welchen wir auch eine bestimmte Be- ziehung zur Lebensweise nicht zu erkennen vermögen? Es liegt ja sehr nahe sich die wunderbar regelmäßigen, und oft so komplizierten Kiesel- skelette der Radiolarien oder Diatomeen durch sprungweise Mutation entstanden zu denken, und „Sprünge“ irgendwelcher Größe müssen es ja auch sicherlich sein, welche hier wie überall die Umwandlungen hervor- riefen: ob dieselben aber ganz ohne Bedeutung für das Leben dieser Wesen sind, das steht für jetzt wenigstens noch außer dem Bereich unseres Urteils. Auch hier möchte ich warnen, nicht allzu rasch auf Wertlosigkeit dieser organischen „Krystallbildungen“ zu schließen und daraus auf ihre plötzliche Entstehung aus lediglich inneren Gründen. Der treffliche Kenner der Diatomeen, F. SCHÜTT, hat uns gezeigt, dab (die Längenunterschiede in den Skelettfortsätzen der Peridineen in be- stimmter Beziehung zu ihrem Flottieren im Seewasser stehen, daß die langen Skelettarme oder -Hörner, welche diese mikroskopischen Pflanzen- wesen in das umgebende Wasser oft weit hinausstrecken, Schwebe- vorrichtungen darstellen, indem sie durch ihre Reibung an den Teilchen des Seewassers das Sinken verhindern und diese Organismen längere Zeit hindurch ungefähr in derselben Wasserschicht schwebend erhalten. Diese Skelettformen sind also Anpassungen, und CHun hat neuerdings bestätigen können, daß in der Tat diese Anpassung genau reguliert ist, indem die Länge dieser Hörner des Skelettes mit dem spezifischen Ge- wicht des Seewassers in den verschiedenen Meeresströmungen wechselt, in dem Sinn, daß Arten mit „monströs langen“ Hörnern, z. B. in dem (durch geringen Salzgehalt und hohe Temperatur ausgezeichneten Guinea- strom (Fig. 131, 1), sieh vorfinden, während in den Äquatorialströmen mit höherem Salzgehalt und kühlerem Wasser, also höherem spezifischen (rewicht, Peridineenarten mit „sehr kurzen“ Fortsätzen und relativ mangel- haft entwickelten Schwebevorrichtungen vorwiegen (Fig. 131, 2). Man konnte es auf der Fahrt des Schitfes genau verfolgen, wie die lang- armigen Peridineen beim Übergang aus dem Nordäquatorialstrom in den (uineastrom immer mehr zunahmen, um bald ganz vorzuherrschen, später aber beim Eintreten der „Valdivia“ in den Südäquatorialstrom „wie mit einem Schlage“ zu verschwinden. Also da, wo wir den Schleier über den Beziehungen zwischen Form und Funktion bei Einzelligen 8 DE VRIES „Mutationstheorie“. 273 etwas zu lüften vermögen, da erkennen wir. daß auch die kleinsten Teilchen des Zellkörpers den Gesetzen (er Anpassung gehorchen, und ein konsequentes Denken führt uns von da zu der Überzeugung, daß auch bei niedersten Wesen der ganze Bau in allen seinen wesentlichen Zügen auf Anpassung beruht. Wenn die Hörner der Peridineen auf das Zwölffache an Länge wachsen in Anpassung an das Leben in Seewasser RG von 0,002 °/, höherem Salzgehalt, dann Ya werden bestimmt nicht nur diejenigen / die Hörner bilden, sondern auch die übrigen der Anpassung fähig sein, und wenn das Peridineenprotoplasma imstande ist, den Bedingungen sich anzupassen, so wird diese Fähigkeit der Anpassung eine allgemeine Eigenschaft aller Leiber der Einzelligen, oder vielmehr aller lebenden Substanz sein, zu welchem Schluß, wie wir später sehen werden, noch andere Wege führen. Mit dieser Erkenntnis ist aber das Wirkungs- gebiet sprungweiser Mutationen im Sinne von DE VRIES abermals gewaltig ein- geengt, denn Anpassungen können ihrem Begriff nach nicht plötzlich entstehen. sondern nur schrittweise, sie können nur aus „Variationen“ hervorgehen, welche unter dem indirekten, d.h. auswählenden Eintluß der Bedingungen in bestimmter Richtung sich aneinanderfügen. Nun scheinen ja freilich nach den Ausführungen von DE VRIES durch Züch- fung gesteigerte „Variationen“ niemals kon- stant zu werden, ja die Steigerung selbst soll nur in geringem Maße möglich sein. Was zuerst den letzten Punkt betrifft, so scheint mir DE VRIES zu übersehen, daß jede Steigerung eines Charakters ihre Grenze in der Harmonie der Teile haben muß, die nicht überschritten werden ann, wenn nicht zugleich andere Teile ebenfalls geändert werden; künstliche Züchtung stößt wohl deshalb in vielen Fällen bald auf eine für sie unüber- _ RN ee schreitbare Grenze, weil sie die unbe- De an Be ermanien) kannten anderen Teile. welche verändert ° Südäquatorialstrom nach CHuN. werden müßten, um den betreffenden Charakter noch mehr zu steigern, nicht ebenfalls beherrscht. Natur- züchtung würde in vielen Fällen dies zu tun vermögen, vorausgesetzt. daß es nützlich wäre. Aber was nützt es der Zuckerrübe, daß ihr Zucker- gehalt aufs Doppelte wächst, oder dem „Anderbecker“ Hafer, daß er von dem Menschen hochgeschätzt wird” Und doch haben sich Ja immerhin Weismann, Deszendenztheorie, II. 2. Aufl. 15 Protoplasmateilchen ihres Leibes, welche 7 2374 Entstehung des Artbildes. recht bedeutende Steigerungen einzelner Charaktere bei vielen domesti- zierten Tieren erzüchten lassen; ich erinnere nur an den japanischen Hahn mit 12° langen Schwanzfedern. Aber freilich sind diese künstlichen Veränderungen meist nicht in dem Sinn „rein züchtend“, wie es „DE VRIES“ Mutationen von ÖOeno- thera Lamarckiana waren, d.h. sie vererben ihre Eigenschaften nur unter steter Mitwirkung künstlicher Auslese völlig rein. So scheint es wenig- stens nach DE VRIES bei den veredelten (Getreiderassen sich zu ver- halten, welche im Großen kultiviert sich rasch wieder verschlechtern. Bei vielen tierischen Rassen ist das übrigens nicht in dem Maß der Fall, viele, ja wohl die meisten scharf ausgeprägten Taubenrassen züchten rein und entarten nur, wenn sie mit anderen gekreuzt werden. DE Vrıes hält es für einen Irrtum, zu glauben, daß durch lange Zeit fortgesetzte künstliche Züchtung eine Rasse erzielt werden könnte, die — wie er sich ausdrückt — unabhängig von weiterer Züchtung würde, und sich von selbst rem erhielte. Erfahrung kann dabei nicht entscheiden, da wir über unbegrenzte Zeiten für unsere Züchtungen nicht verfügen, theoretisch aber läßt es sich sehr wohl verstehen, daß eine durch Selektion entstandene Abart um so reiner züchtet, je länger (die Züchtung auf sie angewendet wurde, und es steht nichts im Wege, daß sie nicht auch zuletzt ebenso konstant werden sollte, als eine natürliche Art. Denn im Anfang einer Züchtung ist es, wie wir an- nehmen mußten, nur eine kleine Majorität von Iden, in welchen die Abänderung ihren Sitz hat, mit der Zahl der Generationen aber müssen deren immer zahlreichere das Keimplasma zusammensetzen, und je mehr die Rassenide überwiegen, um so geringer wird die Aussicht, daß durch (die Zufälle der Reduktionsteilung und Amphimixis ein Rückschlag auf die Stammform eintrete. Daß bei den meisten. wenn nicht bei allen Taubenrassen heute noch Stammformide im Keimplasma enthalten sind, wenn auch in geringer Anzahl, sahen wir aus dem zuweilen eintretenden Rückschlag auf die Felsentaube bei wiederholter Rassenkreuzung, dab aber auch bei natürlichen alten Arten Stammformide im Keimplasma noch enthalten sein können, zeigte uns die Zebrastreifung der Pferde- bastarde. Wir konnten es auch verstehen, warum diese Stammformide nicht längst gänzlich durch Naturzüchtung aus dem Keimplasma entfernt wurden, da sie unschädlich sind und gewissermaßen nur unbemerkt so mitlaufen. Nur solange sie noch schädlich wirken, indem sie dureh häufige Rückschläge die Reinheit des neuen Arttypus gefährden, können und müssen sie durch Naturzüchtung beseitigt werden, und diese hört ja nieht, wie der menschliche Züchter, einmal mit der Auslese auf, sondern sie hält — gewissermaßen unbegrenzt — an mit ihrer Tätigkeit. Ich muß es deshalb für einen Irrtum halten, wenn DE VRIES die tluktuierende Variation von einem Anteil an der Umwandlung der Lebens- formen ausschließt, ich glaube vielmehr, daß sie den größeren Anteil (daran hat, und zwar, weil Anpassungen nicht aus Mutationen, oder doch nur ganz ausnahmsweise hervorgehen, weil aber ganze Familien, Ord- nungen, ja selbst Klassen gerade in ihren Hauptcharakteren auf An- passung beruhen; ich erinnere an die verschiedenen Familien der para- sitischen Krebse, an die Wale, an die Vögel und Fledermäuse. Alle diese Gruppen können nicht durch zufälliges plötzliches, wenn auch vielleicht ruckweises „Mutiren“ entstanden sein, sondern nur durch be- stimmt gerichtetes Variieren, wie es durch Auslese der stets sich dar- Zi. DE VRIES „Mutationstheorie“. 275 bietenden Schwankungen der Determinanten des Keimplasma allein denk- bar ist. | Der Unterschied aber zwischen der „tuktuierenden“ Variabilität und der „Mutation“ scheint mir darin zu liegen, dab (die erstere ihren ' Sitz immer nur in einer kleinen Majorität von Iden hat. während die ' Mutation in den meisten Iden vorhanden sein muß, wenn sie von vorn- ' herein sich fest vererben soll. Wie das kommt, wissen wir nicht, aber man kann vermuten, daß gleiche verändernde Einflüsse im Innern des ' Keimplasma viele Ide in gleicher Richtung verändern werden. Ich ' erinnere an das, was ich früher über die Entstehung sprungweiser Varia- ' tionen. wie der Blutbuche und ähnlicher Fälle, gesagt habe. Die Ver- suche von DE VRIES bilden mir eine wichtige Bestätigung meiner Auf- ' fassung solchen Geschehens; DE VRIES selbst unterscheidet eine „Prä- ‚ mutationsperiode“, ganz wie ich auch angenommen habe, daß die plötz- ' Jieh in die Erscheinung tretenden sprungweisen Abänderungen von | langer Hand her vorbereitet sind im Keimplasma und zwar durch ' Germinalselektion. Zuerst vielleicht nur in einigen Iden. dann aber in ' vielen hat sich ein neuer Gleichgewichtszustand des Determinanten- ' systems hergestellt. der solange unsichtbar bleibt, bis einmal durch den ‘ Zufall der Reduktionsteilung und Amphimixis eine entschiedene Majorität ' dieser „Mutationside“ zur Herrschaft gelangt. Da in DE VrıES Ver- ' suchen dieselben sieben neue „Arten“ wiederholt und unabhängig von- einander aus verschiedenen (Generationen der Oenothera Lamarckiana ' hervorgegangen sind. so sehen wir daraus, daß dieselben Konstellationen ‚ “Gleichgewichtslagen) in vielen Exemplaren der Stammpflanze sich aus- gebildet hatten, und (daß es nur von dem Verhältnis abhing, in welchem ' die sie enthaltenden Ide im Samen sich zusammen gefunden hatten, ob ' die eine oder die andere der neuen „Arten“ daraus hervorging. Meine Deutung, nach welcher auch hier eine geringere oder gröbere ‘ Anzahl von Iden Träger der neuen Formen war, wird durch die Ver- suche noch weiterhin gestützt, denn nicht immer züchteten die neuen Arten rein, vielmehr fand DE VRIES eine Art, Oenothera seintillans, welche nur 35--40°/, Erben lieferte, oder (in einer anderen Gruppe) etwa 70°: die anderen Nachkommen waren Lamarckiana oder oblonga, die Zahl der Erben ließ sich aber dureh Auslese steigern! Ich will nicht weiter in die übrigens sehr interessanten Einzel- heiten der Versuche eingehen: es gehörte dazu mehr Platz, als ich hier dem widmen darf; aber Eines sei doch noch berührt: die Stammform ÖOenothera Lamarckiana war von vornherein sehr variabel, d. h. zeigte eine sehr große fluktuierende Variabilität. Das spricht einerseits stark für einen tieferen Zusammenhang von „Variation“ und „Mutation“, und deutet andererseits darauf hin, daß sprungweises Abändern, wie es DARWIN schon vermutete, und wie ich selbst oben zu zeigen suchte, durch Ver- setzung in veränderte Lebensverhältnisse angeregt wird. DE VRIES nimmt Mutationsperioden an, ich glaube mit Recht, aber es sind keine gewissermaßen innerlich vorgeschriebenen Perioden, wie etwa die An- hänger einer phyletischen Kraft sie sich vorstellen würden, sondern veranlaßt durch solche Mediumeintlüsse, welche die Ernährungsströme im Keimplasma treffen, und latent sich steigernd teils bloße Variabilität, teils Mutationen erzeugen, zanz so, wie es in dem Vortrag über die Wirkungen der Isolierung p. 331 dieses Buches schon dargelegt wurde, wie ich denn in einer meiner frühesten deszendenztheoretischen Arbeiten schon zu dem Schluß gelangte, daß Perioden der Konstanz mit 18° | 2 276 Entstehung des Artbildes. solchen der Variabilität abwechseln“) und mich dabei außer auf allgemeine Erwägungen hauptsächlich auf HILGENDORFS Untersuchungen der Steinheimer Sehneekenschalen stützte. Nach DE VRIES Oenothera- versuchen werden wir heute annehmen dürfen, dab Perioden erhöhter Variabilität zu den stärkeren, oft mehrere Charaktere zugleich verän- dernden und gleichzeitig in vielen Iden auftretenden Abänder ungen führen können, welche man bisher „sprungweise* Abänderungen nannte, und welche wir jetzt mit DE VRIES vielleicht mit Vorteil als „Muta- tionen“ bezeichnen können. Wie weit nun der Einfluß solcher Mutationen reicht, läßt sich zur ' Zeit wohl noch nicht sagen; daß DE VRIES denselben überschätzt, glaube ich gezeigt zu haben, wie viel aber an den Artbildern, wie sie uns heute vorliegen, auf bloßer Mutation beruht, wird sich jedenfalls erst nach weiteren Untersuchungen mit einiger Sicherheit beurteilen lassen. Einstweilen möchte sich prinzipiell nur so viel darüber aussagen lassen, dab alles was „kompliziertere*, vor allen was „harmonische“ An- passung ist, nicht auf „Mutation“ beruhen kann, vielmehr nur auf der (durch Selektion geleiteten „Variation“. Da die Arten im wesentlichen Anpassungskomplexe sind, entstanden auf der Grundlage früherer An-" passungskomplexe, so bleibt, soweit ich sehe, den Mutationen nur das kleine Feld der indifferenten Charaktere zur Bestimmung übrig, es sei ddenn, man wollte den Begriff der Mutation so fassen, daß man darunter ' alle Variationen verstünde, die Bestand gewinnen, was dann freilich nur auf ein Wortspiel herauskäme. Meines Erachtens gibt es keine Grenze zwischen Variation und Mutation, und der Untershied zwischen beiden Ercheinungen beruht lediglich auf der ge- ringeren oder gröberen Zahl gleichsinnig abgeänderter Ide, worauf wir ja den Grad des Beharrungsvermög sens einer Abänderung sanz allgemein beziehen müssen. *) Über den Einfluß der Isolierung auf die Artbildung, Leipzig 1872, p. dl. XXXIV. VORTRAG. Entstehung des Artbildes, Fortsetzung. Veranschaulichung der phyletischen Entwicklung durch ein Gleichnis p. 277, Ver- söhnung von NÄGELI und DARWIN p. 278, Einheit des Artbildes gefördert durch klimatische Variation p. 279, durch Naturzüchtung, Beispiel der Wassertiere p. 279, Gerade Bahn der Entwicklung p. 250, Naturzüchtung arbeitet im Verein mit Amphi- gonie p. 280, Einfluß der Isolierung auf die Schärfe des Artbildes p. 251, Länge der Konstanzperioden p. 251, Der sibirische Tannenhäher p. 251, Die Spezies sind ge- i n „veränderbare Kristalle“ p. 252, Allmähliche Zunahme der Konstanz und Abnahme der Rückschläge p. 282, Physiologische Trennung von Arten dureh gegenseitige Sterilität p. 283, ROMANES „physiologische Selektion“ p. 253, Haustier- rassen fruchtbar untereinander, vermutlich auch amiktische Arten p. 255, Wechsel- fruchtbarkeit bei Pflanzenarten p. 255, Wechselsterilität jedenfalls keine Bedingung der Artspaltung p. 286, Artenspaltung ohne Amphigonie, die Flechten p. 257, Spal- tungen ohne Isolierung und Wechselsterilität, Lepus variabilis p. 258. Meine Herren! Der (Gedankengang des letzten Vortrags hat uns wieder zu den sog. .indifferenten“* Charakteren zurückgeführt, welche so oft schon gegen Naturzüchtung als Beweis vorgebracht wurden, dab es eben doch wesentlich nur innere Triebkräfte seien, die die Ent- wieklung leiteten. Aber man fußte dabei auf einem Trugschluß, denn daraus, daß die ersten kleinen Variationen aus internen Vorgängen des Keimplasmas hervorgehen, folgt noch nicht, daß auch die ganze weitere Entwicklung lediglich durch sıe bestimmt wird, ebensowenig als ein Schlitten. dem wir auf der Höhe einer geneigten Bahn einen Stoß geben, sein rasches Abwärtsschießen nur der Kraft unseres Stoßes verdankt, sondern zugleich der Schwerkraft. Doch hinkt der Vergleich, denn die Variations-bedingenden und -riehtenden Vorgänge im Innern des Keimplasmas geben nicht nur den ersten Anstoß der Variations- bewegungen, sondern sie begleiten auch jeden weiteren Schritt auf der Bahn der Artentwieklung. sie stoßen (dieselbe immer weiter, ja ohne diese fortwährenden Stöße würde überhaupt keine Weiterbewegung stattfinden. Wir haben ja gesehen, daß Germinalselektion aus innern Gründen die einmal eingeschlagenen Richtungen ihrer variierenden De- terminanten immer weiter treibt, also steigert, und daß dadureh erst Anpassungen an die Lebensbedingungen erreicht werden können. Es verhält sich also die Entwicklung des Charakters einer Art etwa wie ein Schlitten auf ebner, aber nach allen Richtungen befahrbarer Schnee- fläche, der nur durch die Stöße bewegt wird, welche er von Germinal- selektion erhält. Die Lebensbedingungen, denen sich die zu verändernden Teile anpassen müssen, können als ein fernes Ziel gedacht werden, die zur Variation in bestimmter Richtung treibenden Vorgänge des Keim- plasmas als zahlreiche über die Scehneefläche regellos verteilte Menschen. ”_. 978 Entstehung des Artbildes. Wenn nun der Schlitten von einem derselben einen Stoß erhält, der zufällig die Richtung gegen das Ziel hat, so läuft er gegen dieses hin und erreicht es auch zuletzt, wenn der Stoßende immer wieder in der- selben Richtung weiter stößt. Soweit also scheint es, als beruhe die Umbildung des betreffenden Teils nur auf Germinalselektion, allein wir erinnern uns, dab für jeden Teil des Körpers nicht nur eine Deter- minante im Keimplasma enthalten ist, sondern so viele, als dasselbe Ide besitzt. Wir müssen also die Zahl unserer Schlitten vermehren, und nun zeigt es sich, daß die Schlittenstößer, d. h. Germinalselektion, die einen Schlitten zwar in der Richtung auf das Ziel weiterbewegen, andere aber in der entgegengesetzten, oder in irgend einer anderen. Wenn wir nun annehmen, alle falsch dirigierten Schlitten müßten auf gefährliches Terrain geraten und schließlich in Abgründe stürzen, es würden aber von einem benachbarten Lagerplatz immer wieder so viele neue Schlitten an den Anfangspunkt der Schlittenbahn gebracht, als verunglückt sind, um nun die Fahrt nach dem Ziel auch ihrerseits zu versuchen, so wird es schließlich dahin kommen, dab die geforderte Zahl von Schlitten sich am Ziel zusammenfindet, d. h. daß die Neuan- passung erfolgt ist. Die Abgründe repräsentieren die Vernichtung der minder guten Variationsrichtungen, der immer wieder nachrückende Ersatz von Schlitten aber die Beimischung neuer Ide durch Amphimixis. Laufen alle Schlitten in falscher Richtung, so gehen sie alle zugrunde, d. h. das betreffende Individuum unterliegt mit sämtlichen Iden seines Keimplasmas, es ver- schwindet aus dem Bestand der Art. Läuft aber nur ein Teil derselben richtig, so ist dafür gesorgt, dab dieser Teil in der folgenden Generation, also bei der Fortsetzung des Schlittenrennens sich mit richtig fahrenden Schlitten einer anderen Gruppe (d. h. mit der halben Idezahl eines anderen Keimplasmas in Amphimixis) verbindet. Es ist nicht möglich, das Bild noch weiter zu führen, aber es macht vielleicht doch klar, wieso Germinalselektion die einzige bewegende Triebkraft der Organismen sein kann, und dennoch ihre Resultate nur zum kleinsten Teil von ihr, zum größten aber von den äusseren Be- dingungen bestimmt werden. Wir verstehen, wieso eine bestimmt ge- richtete Variation bestehen kann, und wie es doch nicht sie ist, welche Arten, Gattungen, Ordnungen und Klassen schafft, sondern die Aus- wahl und Kombination der von ihr dargebotenen Variations- richtungen durch die Lebensbedingungen, und zwar von Schritt zu Schritt. Es gab keine Variationsriehtung vom Land- säuger zum Wal, aber es gab Variationsrichtungen der Nasenlöcher nach aufwärts gegen die Stirn hin, es gab Variationsrichtungen der Hinterbeine nach Verkleinerung hin, der Lungen nach Verlängerung hin, der Haut des Schwanzes nach Verbreiterung hin. ‚Jede dieser Variationsriehtungen war aber immer nur eine von mehreren, und dab gerade diese nach dem „Ziel“ führenden eingeschlagen wurden, lag daran, daß die anderen alle nach und nach in die Abgründe der falschen Bahnen stürzten, d. h. daß sie durch Auslese ausgemerzt wurden. So bietet Germinalselektion die Versöhnung zwischen den so schrofl sieh entgegenstehenden Meinungen NÄGELIS und Darwıns, welch ersterer alles auf die hypothetische innere Entwicklungskraft bezog, letzterer eine solche verwerfend «das entwieklungsbestimmende Moment haupt- sächlich, wenn auch nicht ausschließlich, in Naturzüchtung erblickte. Die internen Kämpfe um die Nahrung, welche wir im Keimplasma an- ® Entstehung des Artbildes. 979 nahmen, stellen ja eine innere Triebkraft dar, allerdings nicht im Sinne _ NÄGELISs, der dabei an eine Bestimmung im großen und ganzen dachte, | aber doch eine Triebkraft, die für die einzelnen Determinanten richtungs- bestimmend ist, und die dadurch bis zu einem gewissen Betrage es auch für die Gesamtentwicklung sein muß: denn nur die überhaupt möglichen Variationen der in einem Keimplasma vorhandenen Deter- minanten können von Naturzüchtung ausgewählt, kombiniert und ge- steigert werden: nicht jedes Keimplasma aber kann jede beliebige Variation liefern, sein Determinantengehalt bedingt es, welche möglich und welche unmöglich ist, und darin liegt eine bedeutsame Beschränkung für die Tätigkeit der Naturzüchtung, und bis zu einem geringen Betrag auch eine steuernde, richtungsbestimmende Kraft der inneren Triebfeder, der Germinalselektion. Der wesentlichste Unterschied zwischen DAarwINns und meiner Auffassung der Formumwandlungen liegt darin, daß jener seine Natur- züchtung nur mit Variationen arbeitend dachte, Variationen, dıe nicht nur selbst zufällige sind, sondern deren Steigerung auch lediglich wieder- um auf Naturzüchtung beruht, während nach meiner Vorstellung Natur- züchtung schon Variationsrichtungen vorfindet, die aus internen Gründen sich steigern und durch Naturzüchtung nur in einer immer größeren Majorität von Iden in einem Keimplasma durch Auslese der Individuen gesammelt werden. Auf unsere Vorstellung vom Zustandekommen eines Artbildes hat das insofern Einfluß, als meine intragerminalen Variationsrichtungen nicht notwendig und immer zufällige im gewöhnlichen Sinn zu sein brauchen, obgleich sie es in den meisten Fällen sind. Wenn durch irgend welche klimatische oder andere Einflüsse gewisse Determinanten in be- stimmte Variationsrichtungen getrieben werden, wie wir es z. B. bei den klimatischen Varietäten mancher Schmetterlinge kennen gelernt haben, dann müssen die entsprechenden Determinanten aller Individuen in der gleichen Richtung variieren, und es kommt somit bei allen Individuen der Art. die demselbem Einfluß unterliegen, auch die gleiche Abänderung zustande. Das sind also Umwandlungen, die ganz so aus- sehen, als erfolgten sie durch eine „innere Entwicklungskraft“ von der Nägerischen Art, und die Einheitlichkeit des Artbildes kann dadurch nicht gestört werden. Ebensowenig wird dies geschehen, soweit ich sehe, wenn die Ver- änderung einer Art nur auf neuen Anpassungen und ihren internen Konsequenzen beruht, denn wenn ein bestimmter Organismus sich be- stimmten neuen Bedingungen anpassen soll, so wird er «das meistens nur auf einem Wege tun können, und so wird Naturzüchtung immer dieselben zweckmäßigen Variationsriehtungen zur Nachzucht übrig lassen, und die Einheitlichkeit des Artbildes kann auch auf diesem Wege nicht auf die Dauer gestört werden. Je vorteilhafter dann die neuen Lebensbedingungen sich erweisen, und je mannigfaltiger sie. sich aus- nutzen lassen, um so stärker wird die zuerst angepaßte Art sich ver- mehren, und je stärker sie sich vermehrt, um so mehr Anlaß wird sich für ihre Deszendenten finden, sich spezieller den verschiedenen Mög- lichkeiten der Ausnutzung der neuen Situation anzupassen, und so ent- stehen aus einer im allgemeinen nur der neuen Situation angepaßten weitere, den spezielleren Möglichkeiten angepaßte Formen. Ich denke dabei wieder an unser früheres Beispiel von den Walen, die aus pflanzenfressenden Strand- oder Flußsäugern hervorgegangen, Zi IS0 Entstehung des Artbildes. sich seit der Triaszeit zu einer ansehnlichen Zahl von Artengruppen entwickelt haben. Allen gemeinsam sind die das Leben als Wassertier bedingenden allgemeinen Anpassungen, die natürlich, sobald sie ein- mal gewonnen waren, nicht wieder verloren gehen durften, noch konnten, i also die Fischgestalt, die Flossen, die Anpassungen der Atmungs- und der Gehörorgane u. s. w., aber jede der heutigen Gruppen von Walen hat wieder ihren besonderen Lebenskreis, den sie sich durch unterge- N ordnete Anpassungen dienstbar gemacht hat, so die Delphine mit ihren Schnabelkiefern und den zwei Reihen kegelförmiger Zähne, dem leb- haften Temperament, den schnellen Bewegungen und der Ernährung von Fischen; so die Bartenwale mit ihrem enormen Rachen, dem Seil- apparat der Fischbeinbarten und der Ernährung von kleinen Weich- tieren. Aber jede dieser Gruppen hat sich wieder in Arten gespalten, und wenn wir auch hier das Prinzip der Anpassung wieder als das \ maßgebende und leitende der Entwicklung geltend machen, so sind wir doch nieht mehr im Stande, diese Annahme für den einzelnen Fall zu erweisen, da wir die Lebensbedingungen der Arten viel zu wenig genau kennen, um ihre Eigentümlichkeiten des Baues als Anpassungen an die- selben nachweisen zu können. Aber theoretisch läßt es sich sehr wohl denken, daß dabei Anpassung an spezialisiertere Lebenskreise das lei- | tende Moment war, und wenn dies der Fall — wie wir es für die zwei Hauptgruppen und für die ganze Klasse nachgewiesen haben — dann muß | die Übereinstimmung des Baues notwendig allein dadurch d. h. durch die fortgesetzte Auswahl der Passendsten zu stande kommen: wir bedürfen keines weiteren Erklärungsprinzips für das Zustandekommen eines Artbildes, Dieses „Bild“ wird dann auch nicht durch ein unbestimmtes, schwankendes Variieren der Stammart nach allen möglichen Richtungen erreicht werden, sondern wird im allgemeinen auf dem geradesten und kürzesten Weg erreicht werden. Wohl muß die Stammart | einigermaßen dabei ins Schwanken geraten, da ja zunächst nicht bloß die „zielstrebigen“, sondern auch andere Variationsrichtungen im Keimplasma hervortreten werden, aber nach und nach werden diese, weil immer von neuem wieder durch Auslese entfernt, immer seltener werden. und die große Mehrheit aller Individuen wird dieselbe Variationsstraße ziehen, geleitet von der in der einmal eingeschla- eenen Richtung weiterarbeitenden Germinalselektion; nach kurzer Va- riationsperiode, die sich natürlich nicht immer auf den ganzen Orga- nismus, sondern sehr wohl auch nur auf einzelne Teile beziehen kann, wird eine stetige, geradlinige Entwicklung auf das „Ziel“, d.h. auf die volle Anpassung hin eintreten, so wie es uns die Steinheimer Planorbisschnecken vor Augen führen. Dabei aber werden wir nicht vergessen, daß Naturzüchtung wesent- lich auf Grundlage geschlechtlieher Fortpflanzung arbeitet, -die mit ihrer Reduktion der Ide und ihrer stets wieder erneuten Mischung der Keimplasmen die vorhandenen Abänderungsriehtungen miteinander vermischt und dadurch über die Individuen eines ganzen Wohngebietes immer gleichmäßiger ausbreitet. Geschlechtliche Fortpflanzung, stete Vermischung der zur Nachzucht ausgewählten Individuen ist also ein wenn nicht unentbehrlicher, so doch jedenfalls höchst wirksamer und wichtiger Faktor bei dem Zustandekommen des Artbildes. Aber nicht blos bei Artumwandlung durch Neuanpassung wird geschlechtliche Mischung so wirken, sondern auch bei Abänderungen aus rein germinalen Ursachen. Wir haben schon bei Besprechung - FW Entstehung des Artbildes. >s1 der Isolierung gesehen. wie isolierte Kolonien dadurch ein eigenartiges, von der Stammform etwas abweichendes Gepräge erhalten können, daß irgend eine germinale Entwicklungsrichtung in ihnen dominiert, die auf dem Stammgebiet nur selten vorkam und sich deshalb dort nieht geltend machen konnte. Auf dem isolierten Gebiet wird sie sich zwar auch mit den übrigen vorhandenen germinalen Tendenzen mischen, aber das Mischungs- resultat wird ein anderes sein, und die weitere Entwicklung der be- treffenden Variationsrichtung wird hier möglicherweise nieht unterdrückt werden. Wir werden uns deshalb nicht wundern dürfen, wenn wir tatsäch- lieh die Artbilder in so sehr verschiedener Schärfe uns entgegen treten sehen. Wenn eine Art über ein weites, zusammenhängendes (rebiet verbreitet ist, aber nicht völlig gleichmäßig, sondern sporadisch, so wird es zum Teil von dem Isolierungsgrad der einzelnen sporadischen Wohn- plätze gegeneinander abhängen, ob die Einzelkolonien genau dasselbe Artbild aufweisen, oder ob sie etwas voneinander abweichen. Handelt es sich um ein langsames Tier, etwa eine Schnecke, so wird das Zu- strömen von Blut aus der benachbarten Sporadenkolonie ein viel lang- sameres sein, als selbst bei einem sesshaften Vogel, etwa einem Specht. Es würde sicherlich viele interessante Resultate ergeben, wenn man die zahlreichen genauen Untersuchungen über die geographische Verbreitung der Arten und ihrer Rassen mit Rücksicht auf diese Fragen fortsetzen wollte, man würde sicher dem Zustandekommen des Artbildes dadurch näher kommen. Freilich wäre es aber dabei unerläßlich, auch die bio- logischen Beziehungen der betreffenden Tiere genau zu kennen, und die ganze Artgeschichte, soweit als möglich, zurückzuverfolgen, die Einwan- derungszeit, die Ausbreitungsweise und -Richtung festzustellen u. s. w. Nichts zeigt deutlicher die ungeheure Länge der Konstanzperioden der Arten, als die weite Verbreitung des gleichen Artbildes auf sporadischen oder sogar auf verschiedenen voneinander völlig isolierten Wohngebieten. Wenn, wie wir sahen, dieselben Tagfalter auf den Alpen und im höchsten Norden leben, so sind dieselben seit der Eiszeit un- verändert geblieben, denn das Schwinden derselben hat sie an ihre heutigen Wohnstätten geführt, und wenn andere Tagfalter auf den Alpen heute in irgend einem unbedeutenden Fleck oder Strich abweichen von den Genossen in der arktischen Zone (Lappland, Sibirien oder Labrador). so sind sie also in diesem langen Zeitraum seit der Eiszeit zwar von- einander abgewichen, aber nur minimal, und in Charakteren, die mög- lieherweise lediglich auf (Germinalselektion beruhen, da sie schwerlich als Anpassungen zu betrachten sind. Es sei mir aber gestattet, noch einen der wenigen mir bekannten Fälle zu erwähnen, in welchem wir auf isoliertem Gebiet eine kleine Abweichung vom sonstigen Artbild auftreten sehen, die unzweifelhaft auf Anpassung beruht. Der Nußhäher, Caryocatactes nueifraga, lebt nicht nur auf unseren Alpen und Voralpen und auf dem Schwarz- wald, sondern auch in den Wäldern Sibiriens, und die dortigen Vögel unterscheiden sich von unseren Stücken durch kleine Veränderungen des Schnabels, welcher dort etwas länger und dünner, bei uns kürzer und kräftiger ist. Dieser Unterschied aber hängt nach der Ansicht der Ormithologen damit zusammen, daß die Tiere bei uns vor Allem von den harten Haselnüssen leben, die sie mit dem Schnabel aufhacken, daneben auch noch von Eicheln, Bucheckern und in «den Alpen von Zirbelnüssen, während sie in Sibirien vorwiegend «die tief in den Zapfen 982 Entstehung des Artbildes. versteckten Samen der sibirischen Zeder fressen, dagegen keine Hasel- nüsse. So finden wir in Sibirien den Schnabel schlank, der Oberschnabel überragt pfriemenartig um etwa 2,5 mm den Unterschnabel und dient wohl hauptsächlich dazu. die Zedernüsse hinter den Schuppen hervor- zuholen. In den Alpen zerhacken die Tiere mit ihrem dicken, derben Schnabel (var. pachyrhynchus) den ganzen Zapfen der Zirbelkiefer voll- Be wie ich denn öfters im Oberengadin, wo der Nußhäher häufig‘ ist, den Boden unter «den Zirbelkiefern von den zerhackten Trümmern seiner Mahlzeiten ganz bedeekt sah. Außer diesen Schnabelunterschieden unterscheiden sich die beiden Rassen nur noch dadurch, daß die Alpen-' form kräftiger, die sibirische zierlicher ist, und daß bei Ersterer die‘ weibe Endbinde am Schwanz schmal (etwa 15 mm breit) ist, bei der’ sibirischen breiter (etwa 27 mm breit). Solche Fälle von Abänderungen einzelner Teile auf verschiedenem | Wohngebiet scheinen mir theoretisch bedeutungsvoll, weil sie von neuem (die Vorstellung zurückweisen, welche die Art als einen „Lebenskrystall* ansehen möchte, der so ist, wie er ist, oder der nicht ist, an welchem also einzelne Teile nicht geändert werden können. Der Fall vom Nub- häher hat noch dadurch Interesse, weil er einer der wenigen ist, in dem wir der Neuanpassung eines einzelnen Charakters ohne Abän- derung der meisten übrigen Charaktere begegnen. Nur in einem wesentlich veränderten Sinn wird man die Spezies, ' wie jede Lebenseinheit, einem Krystall vergleichen können, insofern die Teile miteinander in Harmonie stehen, oder, wie ich schon vor langen Jahren es ausdrückte, sich in einer Gleichgewichtslage befinden, wie sie (durch die Tätigkeit der Intraselektion geschaffen werden muß. Aber man wird damit nur die faktische Zusammenpassung der Teile zum (ranzen meinen (dürfen, nicht eine prinzipielle; die Arten sind ver- änderbare Krystalle; man wird überhaupt die Konstanz einer Art in’ allen ihren Teilen als Etwas durchaus relatives ansehen, das sich jederzeit ändern kann, und das im Verlauf langer Zeiträume sogar immer sich einmal ändern wird. Aber je länger "die Anpassung einer Art an neue Bedingungen schon anhält, um so konstanter wird sie ceteris paribus werden, und um so langsamer veränderlich, und zwar aus doppeltem Grunde: einmal weil die in der zweckmäßigen Richtung‘ variierenden Determinanten immer schärfer ausgewählt, immer genauer’ angepaßt, somit also auch immer ähnlicher untereinander werden, und (dann, weil nach unserer Voraussetzung niemals die homologen Deter- minanten aller Ide eines Keimplasmas richtig variieren, weil vielmehr immer ein Teil unveränderter Ahnenide im weiteren Verlauf der Phy- logenese noch mitgeführt, und nur allmählich durch den Zufall der Re- duktionsteilung entfernt wird. Je vollständiger aber solche unveränderte Ide aus dem Keimplasma der Art ausgeschaltet werden, umsoweniger leicht können sie sich noch in Rückschlägen, oder ım Unreinheiten der neuen Artcharaktere geltend machen. Ich erinnere an die Rückschläge (der Rassentauben auf die Felsentaube, an die Rückschläge der weißen Daturaarten auf blaue, an das hipparionartige dreizehige Pferd Julius Cäsars u. s. w. Die unveränderten Ahnenide, welche hier nur ganz ausnahmsweise einmal zur Geltung gelangen, werden — so lange sıe noch in größerer Zahl im Keimplasma vorhanden sind, die neuen „Spe- ziescharaktere“ häufig noch schwankend machen, aber sie müssen um so seltener im Keimplasma einer Art werden, je zählreichere Genera- tionen derselben bereits durch das Sieb der Naturzüchtung hindurel- PT | Abänderung einzelner Teile. 953 gingen, je öfter solche Keimplasmen, welchen der Zufall der Reduktions- teilung und Amphimixis eine Majorität von Iden mit veralteten Deter- minanten zugeteilt hatte, durch Personalauslese aus dem Bestand der Art ausgeschieden wurden. ‚Je öfter dies schon geschah bei einer Art. um so seltener wird es wieder vorkommen, und um so konstanter wird das „Bild“ der Art werden ceteris paribus. Wenn wir nun noch hinzunehmen, daß die Anpassungen wohl immer langsam vor sich gehen, so dal jede zweckmäßige Variations- richtung des Keimplasmas Zeit hat, sich über ungezählte Scharen von Individuen auszubreiten, so erhalten wir eine ungefähre Vorstellung davon, wieso es bei Neuanpassungen allmählich zur Bildung eines immer sehärfer umrissenen Artbildes kommen mub. Aber damit haben wir uns nur die morphologische Seite der Frage nach der Natur der Spezies zurecht gelegt, es gibt aber auch eine physiologische, und diese hat sogar lange Zeit eine bedeutende Rolle in der Definition des Artbegriffes gespielt. Es galt bis zu Darwıns Zeiten für ausgemacht, daß Arten sich nicht miteinander ver- mischen im Naturzustand, dab sie zwar in seltenen Fällen gekreuzt werden können und dann auch Nachkommen hervorbringen, daß aber diese Letzteren unfruchtbar bleiben. Wenn wir nun auch heute wissen, dab diese Angaben «doch nur relative Geltung beanspruchen dürfen, daß es vor allem zahlreiche höhere Pflanzen gibt, die vollkommen fruchtbare Bastarde liefern, so ist es doch immerhin eine auffallende Erscheinung, daß bei höheren Tieren, den Säugern und Vögeln, das alte Gesetz wirklich Gültigkeit besitzt, und Mischlinge zweier Arten selten wieder fruchtbar sind. Die beiden Kreuzungsprodukte von Pferd und Esel z. B., das Maultier und der Maulesel, pflanzen sich niemals unter sich, und nur ganz aus- nahmsweise mit einer der Stammarten fort. Es fragt sich also, worin diese Wechselsterilität der Arten ihren Grund hat, ob sie der notwendige Ausfluß der morphologischen Verschiedenheit der Arten ist, oder nur eine zufällige Begleiterscheinung, oder vielleicht gar die Voraussetzung der Artenbildung, ihre notwendige Vorbedingung. Das Letztere war die Meinung von ROMANES. Er stellte sich vor, daß eine Art sich nur dann in zwei neue Arten spalten könne, wenn sie entweder geographisch in zwei isolierte Gruppen getrennt würde, oder physiologisch, d. h. wenn sexuelle Entfremdung inner- halb der Art sich einstellte, so daß nicht mehr alle Individuen sich untereinander paarten, sondern Gruppen entstünden, die wechselsteril miteinander wären. Erst nachträglich sollten diese Gruppen auch in bezug auf den übrigen Bau des Körpers verschieden werden können. Er nannte diesen supponierten Vorgang „physiologische Selektion“. Seine Vorstellung beruhte — wie mir scheint auf einer zu niedrigen Wertschätzung der Macht der Naturzüchtung:; er glaubte, im Beginn einer Artspaltung müßten auch adaptive Varietäten immer wieder zu- sammenschmelzen durch die fortwährend stattfindende kreuzung: nur geographische Isolierung, oder aber sexuelle Entfremdung, d. h. eben seine physiologische Seiektion könnten dies verhindern. Daß aber eine Anpassung an zwei und selbst mehrere Lebensbedingungs- kreise sehr wohl auf ein und demselben Wohngebiet vor sich gehen kann, beweisen schon die di- und polymorphen Arten zur Ge- nüge, Bei manchen Ameisen begegnen wir viererlei Individuen, DSL Entstehung des Artbildes. die beiden Geschlechtstiere. Arbeiterinnen und Soldaten, und die beide 1 letzteren unterscheiden sich zweifellos durch adaptive, auf Naturzüch- tune zu beziehende Unterschiede. Dasselbe ist der Fall bei den der I} ihrer U mgebung in doppelter Weise angepaß ten Raupen, Wenn I rei ne Formen und indssunshen ee zerlegt werden können, während sie sich doch ohne Unterbrechung miteinander ver- mischen, so ist Naturzüchtung zweifellos im stande, trotz fort- währender Vermischung der voneinander abweichenden Typen, sie dennoch zu trennen und vollständig scharf zu scheiden. | Es kann also sicherlich auf demselben Wohngebiet eine Art sich sowohl einfach verändern, als auch in zwei Arten spalten, ohne daß wir phy- siologischer Selektion dazu bedürften. Theoretisch ist es ja auch unbe- streitbar, daß von zwei Varietäten, welche beide gleich gut gestellt sind im Kampf um die Existenz, eine durch Kreuzung entstehende Misch- form sich nicht halten kann. Denken wir z. B. an jene teils grünen, teils braunen Raupen und nehmen an, daß das Grün die Raupe eben- sogut schütze, als das Braun, so müßten beide Formen gleich häufig vorkommen, die Mischform zwischen beiden aber, die weder dem Grün” (der Blätter, noch dem Braun des Bodens angepabt wäre, würde zwar vielleicht vorkommen, aber sie würde auch immer wieder ausgetilgt werden. Vorkommen würde sie deshalb, weil die Falter selbst gleich sind, mögen sie grünen oder braunen Raupen ihren Ursprung ver- (danken, demnach also zuerst wenigstens alle sexuellen Kombinationen wahrscheinlich sind. Ich glaube deshalb nicht an eine „physiologische Selektion* im Sinne von ROMANES, als eine unerläßliche Vorbedingung der Artspal- tung: ganz etwas anderes aber ist es, ob nicht die so häufig zu beob- achtende Sterilität zwischen Arten umgekehrt hervorgerufen wurde durch Naturzüchtung behufs leichterer Scheidung be- einnender Arten. Denn es kann keinem Zweifel unterliegen, dab der Prozeß der Scheidung zweier neuer, oder auch einer neuen von einer alten Form wesentlich erleichtert werden würde, wenn sich gleich- zeitig mit (den sonstigen Abänderungen noch sexuelle Abneigung oder geringere Fruchtbarkeit der Kreuzungen einstellen könnte. Dies müßte nützlich sein, da die reinlich und scharf gesonderten Varietäten besser ihrem Lebenskreis angepaßt sind und es im Laufe der (Generationen noch immer mehr werden, als Mischlinge. Sobald es aber nützlich ist, so muß es auch wirklich werden, wofern es überhaupt möglich ist. Es ist aber möglich, wie schon gezeigt wurde, da es, sich bei beiden Abweichungen nur um quantitative Variationen schon | vorhandener Eigenschaften handelt: Sexualanziehung, mag sie auf feinsten | chemischen Stoffen, Gerüchen oder auf uns unbekanntan) sich ergänzen- |} (den Spannungen beruhen, immer wird sie schwanken können nach oben und nach unten, und Plus- oder Minusdeterminanten, die diesen noch unbekannten Eigenschaften im Keimplasma zugrunde liegen, müssen fortwährend sich darbieten und müssen den Ausgangspunkt für Selek- tionsprozesse germinaler und personaler Art bilden können, welche Sexualabneigung und relative Sterilität zwischen den Varietäten hervor- rufen. Ich halte deshalb den Gedanken von ROMANES insoweit für richtig, als Artentrennung gewiß in vielen Fällen von zu- nehmender sexueller Abneigung und Weehselsterilität be- geleitet sein wird. Während aber ROMANES meinte, „in keinem Falle Zi: nn een Wechselsterilität der Arten. IS) könnte Naturzüchtung die Ursache* der Sterilität gewesen sein, glaube ich im Gegensatz dazu, daß eine solche nur durch Naturzüchtung hervorgerufen sein kann; sie entsteht einfach, wie alle Anpassungen, durch Personalselektion auf Grund von (Germinalselektion, und ist nicht eine Vorbedingung der Trennung zweier Variationstendenzen. sondern eine Anpassung an die Zweckmäßigkeit dieser möglichst rein und sauber auszuführenden Trennung: denn es ist ein offenbarer Vorteil für jede der beiden auseinanderweichenden Variationsriehtungen, wenn sie mög- liehst wenig miteinander vermischt werden. Damit stimmt es, daß keineswegs jedes formliche Ausein- anderweichen einer Art von sexueller Entfremdung begleitet zu sein braucht, daß also die so häufig vorhandene Wechselsterilität nicht eine unvermeidliche Begleiterscheinung der Differenzen im sonstigen Bau ist. Daß dem nicht so ist, beweisen in erster Linie unsere Haustiere. Wie stark sind nicht die Verschiedenheiten des Baues zwischen den verschiedenen Tauben- und Hühnerrassen, und auch die Hunderassen weichen formlich, besonders schon in der Statur und Größe des Körpers erheblich voneinander ab. Dennoch vermischen sie sich alle fruchtbar miteinander und geben fruchtbare Nachkommen. Sie sind eben Pro- dukte der künstlichen Züchtung des Menschen, der kein Interesse daran hatte, sie gegenseitig steril zu machen, sie sind nicht auf sexuelle Entfremdung, sondern lediglich auf anderweitige Eigenschaften gezüchtet. Die Trennung der Tierarten in mehrere auf demselben Wohn- gebiet wird wohl meist von Züchtung sexueller Entfremdung begleitet worden sein, da dieselbe in diesem Falle, wenn auch nicht unentbehrlich, doch sehr nützlich gewesen sein muß. Anders wohl steht die Sache bei der Umprägung einer Artkolonie auf geographisch isoliertem Gebiet. Reine Amixieformen, wie Vanessa Ichnusa von Corsica werden schwerlich der Stanımart sexuell entfremdet sein: es handelte sich hier nur um das Überwiegen einer zufälligen und biologisch wertlosen Variation und ihrer dadurch bewirkten Erhebung zur Varietät: die neue Form war keine Anpassung, sondern nur eine Veränderung, und da sie nutzlos war, vermochte sie auch nicht einen Züchtungsprozeß zu ihrer Förderung anzuregen. Aber auch adaptive Umwandlungen werden auf isoliertem, der Stammart verschlossenem Gebiet schwerlich so bald zu sexueller Ent- fremdung gegen diese führen, und es würde mich gar nicht wundern, wenn z. B. der Versuch volle Fruchtbarkeit zwischen vielen der Acha- tinellaarten der Sandwich-Inseln, oder Naninaarten von Üelebes ergäbe, oder zwischen den Drosselarten der verschiedenen Inseln des Gallapagos- Archipels, oder zwischen diesen und der benachbarten Stammart des Festlandes, falls diese noch unter den Lebenden ist. Denn für alle solehe isoliert entstandenen Anpassungsformen bestand kein Grund, sexuelle Entfremdung von der Stammart auszubilden, und so wird sie auch nicht entstanden sein. Daß unsere Auflassung der Wechselsterilität zwischen Arten als einer Anpassung an den Nutzen scharfer Artabgrenzung die richtige ist, beweisen aber außer den Haustierrassen besonders noch die Pflanzen, bei denen es ganz besonders deutlich hervortritt, daß die jellen Beziehungen zwischen zwei Arten in der Tat Anpassungs- erscheinungen sind. I 986 Entstehung des Artbildes. Wir haben früher schon gesehen, in wie auffallender Weise die Empfänglichkeit der Narbe einer Blume für den eigenen Pollen regu liert ist, wie einige Arten vom eigenen Pollen überhaupt nicht befruchte werden, wie andere mit ihm nur wenige Samen geben, während noeh andere Arten völlig fruchtbar mit ihm sind, so fruchtbar, wie mit fremden Pollen. Wir haben (diese Abstufungen sexueller Empfänglichkeit ale Anpassungen an den völlig oder nur mäßig gesicherten, oder aber der eänzlich ausbleibenden Insektenbesuch aufgefaßt, jetzt möchte ich diese Fälle, wie auch die früher besprochene Heterostylie einiger Blumer als einen Beleg für die eben Ihnen gegebene Auffassung der Wechsel- sterilität zwischen Arten geltend machen. Doch das nur im Vorüber- sehen. Worauf ich hauptsächlich Ihre Aufmerksamkeit lenken möchte das ist die Wechselfruchtbarkeit vieler Pflanzenarten. Be niederen wie höheren Pflanzen kommen fruchtbare Bastarde in freier Natur nicht allzu selten vor, und kultivierte Bastarde, wie eine aus zwei Kleearten gemischte neue Form, Medicago media, pflanzt sich schor seit längerer Zeit unter sich fruchtbar fort. Eine Menge Phanerogamer geben fruchtbare Mischlinge, und bei Orchideen hat man sogar Arten verschiedener Gattungen mit Erfolg gekreuzt und wieder Nachkommen erhalten, ja in einzelnen Fällen diese Nachkommen mit einer dritte Gattung erfolgreich gekreuzt. Wenn irgend etwas, so zeigt diese Tatsache, daß ganz andere Dinge maßgebend sind für die Entstehung von Wechselsterilität, als der morphologische Abstand der Arten voneinander, kurz gesagt: die Differenz des Artbildes. Man hat sich bei der Beurteilung diesen Verhältnisse lange Zeit hindurch allzusehr von den Erfahrungen an Tieren bestimmen lassen, bei welchen vermutlich relative Wechsel. sterilität viel leichter auch da entsteht, wo sie nicht beabsichtigt (sit venia verbo!) war. Die Begattung schon, noch mehr aber die Reifungs' zeiten, Reifungsverhältnisse von Samen und Ei, ferner die kleinsten Details im Bau der Samenzelle, der Eischale u. s. w. kommen hier in Betracht und können Wechselsterilität, oder auch, wie BORN gezeigt hat, einseitige Sterilität bedingen. Durch STRASBURGER wissen Wir, daß eine Menge von Phanerogamen, wenn sie künstlich mit weit ent- fernten Arten fremder Gattun sen und Familien bestäubt werden. (lennoch wenigstens dem Pollenschlauch i in den Fruchtknoten einzudringen‘ gestatten, und das in manchen Fällen auch wirklich Amphimixis erfolgt. Wir werden deshalb nicht zuviel Gewicht auf die allerdings beinahe ausnahmslose Wechselsterilität der höheren Tierarten legen dürfen, und uns mit mehr Vertrauen vielmehr an die Pflanzen wenden. Bei diesen nun findet sich sehr weit verbreitet Wechselfrucht- barkeit der Arten. Ich zweifle allerdings, ob die Beobachtungen hier‘ schon genügen, um einen sicheren Schluß auf die Bedeutung ‚der Er- scheinung für die Artbildung zu ziehen: man sieht wenigstens nicht recht. warum bei so vielen Pflanzenarten die Wechselsterilität bei der Artentrennung nicht notwendig oder nützlich war, warum sie sich also nicht ausbildete. Man könnte ja auf die Ortsbewegung der Tiere, als auf den Hauptgrund hinweisen, und dieses Moment wird gewiß auch (dabei mitspielen, aber «die so verbreitete Kreuzung der Blumen dureh Insekten hebt offenbar die mangelnde Ortsbewegung der Pflanzen in bezug auf geschlechtliche Vermischung zum Teil wieder auf. Mir’ ist es nicht bekannt, ob die Orchideenarten, die fruchtbar miteinander sind, etwa verschiedenen Ländern angehören, so daß man ihre isolierte .. 4 Ab SE Zi, 0 me ma Pe Er de Weechselfruchtbarkeit von Arten. 28T stehung annehmen kann, oder ob fruchtbare Orchideenarten desselben i Wohngebietes etwa von anderen Insekten gekreuzt werden und dadurch ‚ sexuell voneinander isoliert sind, und was könnte da nieht sonst noch ‚ alles in Betracht kommen. Vermutlich sind derartige Beziehungen über- ‚ haupt noch nicht erwogen, und was davon bekannt ist, doch nicht be- nutzbar gemacht: zukünftige Forschungen und Erwägungen werden darüber Klarheit bringen müssen. Jedenfalls aber sehen wir aus der Häufigkeit der Wechselfrucht- barkeit bei Pflanzen, daß Wechselsterilität keine eonditio sine qua non der Artspaltung ist. und wir werden uns hüten, ihr auch bei Tieren ein allzu großes (sewicht beizulegen. (Germinalselektion ist ein Vorgang, der nicht nur die Grundlage jeder Personalselektion bildet. sondern der auch imstande ist, allein für sich ohne die gewöhnliche Beihülfe von sexueller Vermischung ein neues Artbild her- ; vorzurufen. Auch können wir nicht mit Sicherheit bestreiten, daß ‚ nieht auch ohne Amphigonie ein gewisser Grad von Personalselektion durchgeführt werden könne auf Grund günstiger Variationsbahnen des Keimplasmas. Es wäre verfrüht, darüber schon jetzt eine feste Ansicht aussprechen zu wollen, aber die verschiedenen Fälle von rein asexueller ' oder parthenogenetischer Fortpflanzung in artenreichen Pflanzengruppen ' legen diese Vermutung nahe. | Das auffallendste Beispiel dafür dürften wohl die Flechten ) (Liehenes) sein, deren symbiotisches Wesen wir früher besprochen haben, und bei welchen — heute wenigstens — weder der Pilz noch die mit ihm assoziierte Alge sich geschlechtlich fortpflanzen soll. Wenn dies ' sicher ist, dann muß die Existenz so zahlreicher, wohlmarkierter Arten von Flechten auf die eben ausgesprochene Vermutung hinleiten, und man müßte sich vorstellen, daß allein durch stete Scheidung der nütz- ‚ liehen von den unbrauchbaren Variationen der Determinanten, und durch rein germinale Steigerung der überlebenden Variationsrichtungen die Einheitlichkeit des Artbildes hier erreicht worden sei. Allerdings könnte ja die Aneinanderpassung von Algen und Pilzen, | und die Bildung der Flechtenarten möglicherweise schon lange vor heute, und zwar zu einer Zeit erfolgt sein, in welcher geschlechtliche '\ Fortpflanzung noch bestand, mindestens doch bei dem einen der be- | teiligten Organismen, dem Pilz. Die Ascomyceten, zu welchen die | } | | | meisten Flechtenpilze zählen, besitzen heute, wie ich schon früher an- führte, der Vorgang der Amphimixis meist nicht mehr; ob sie ihn früher besessen haben müssen oder doch können, wird vielleicht noch ent- scheidbar sein. Da die Gruppe der Thallophyten eine uralte ist, so wäre es nicht undenkbar, daß die heutigen Arten der Flechten schon seit langer Zeit bestehen und in grauer Vorzeit unter Beihülfe der Amphimixis entstanden sind. | Es würde auch kein Einwurf gegen diese Annahme sein, dab es | heute gelungen ist, neue Flechten zu machen, indem man Algen und Pilze zusammenbrachte, welche bis dahin sich fremd gewesen waren, denn einmal sind dieselben bereits an Flechtenbildung mit anderen Arten angepaßt, und dann ist es wohl auch bisher nicht gelungen, solche künstliche Flechten längere Zeit zu züchten und zu spezifischen natürlich ausdauernden Formen sich entwickeln zu sehen. Sollte aber diese Vermutung sich als unwahrscheinlich, oder gar als geradezu irrig erweisen lassen, dann läge in der Existenz der Flechtenarten ein scharfer Beweis dafür, daß das „Bild“, der Art in >88 Entstehung des Artbildes. erster Linie nicht auf der steten Vermischung der Individuen beruh sondern auf einem Vorgang, den man am besten als Anpassung? gleichheit bezeichnen könnte. Man würde sich vorzustellen habe’ dab durch die gleichen äußeren Einflüsse mittelst Germinalselekti in jedem Individuum der beiden Stammarten einer Flechte die gleiche Variationsrichtungen bevorzugt und durch Germinalselektion ji (rang gesetzt würden, etwa so wie das wärmere Ilima bei dem Falt« Polyommatus Phlaeas eine schwarze Varietät hervorruft, indem eben ) allen Individuen die gleichen Determinanten des Keimplasmas in gleich Weise und Richtung zum Variieren gezwungen werden. Daraus würde dann wohl ganz bestimmte Veränderungen hervorgehen müssen, un indem nur die zweckmäbigen Variationsrichtungen überlebten, so könnte auch primitive, wenn auch nicht komplizierte Anpassungen entstehe' Daß aber «die Flechten nicht ebensogut, wie alle anderen Organisme an ihre Lebensbedingungen angepaßt sein sollten, ist nicht anzunehme‘ Ich vermag nicht zu beurteilen, inwieweit nicht etwa schon ihre Gesta als Anpassung aufzufassen ist, ob die Bildung von Krustenüberzüge von laubartigen Formen, Becher- oder Strauchflechten nicht als A passung an verschiedenartige Ausnutzung der Lebensbedingungen 5° betrachten ist, — wäre das aber auch nicht der Fall, so bliebe do« immer noch die Soredienbildung als unzweifelhafte Anpassung de jenigen Flechten, welche sie besitzen, an die Symbiose übrig. können nicht auf direkter Wirkung der Lebensbedingungen beruhe‘ da sie Fortpflanzungskörper sind, welche vor der Existenz von Flechte überhaupt noch nicht da waren, und erst behufs ihrer leichteren ve breitung entstanden sind. Sie sehen, es ist noch manches unsicher in unseren Vorstelluni von der Umwandlung der Organismen, und noch Vieles bleibt zu tu übrig. Wenn wir aber auch zweifeln, ob Anpassungen bei Vielzelligu zustande kommen können ohne Amphigonie, so dürfen wir doch darüb sicher sein, daß umgekehrt das Artbild durch Naturzüchtung auf Grun lage von Amphigonie in jedem einzelsten Zug geändert werden kan’ sogar in unsichtbaren Zügen, die nur in veränderten Perioden d’ Wachstums sich äußern. Bei gänzlichem Fehlen irgend eines: Grad von Isolierung oder von Wechselsterilität, bei gleichmäßiger Verteilw einer beweglichen Art über ein großes Wohngebiet kann inbezug a einen einzigen Charakter dennoch eine Spaltung in Rassen entstehe einfach nur durch Anpassung an die räumlich verschiedenen klim tischen Bedingungen des Wohngebietes. Wir haben im Beginn dieser Vorträge einmal von der doppelt Schutzfärbung des „veränderlichen Hasen“, Lepus variabilis, @ sprochen, welcher über die arktische Zone der alten und der new Welt verbreitet ist, und sich außerdem noch in den höheren Region’ der Alpen findet. Überall wo Winter und Sommer dauernde Gege sätze bilden, zeigt er dasselbe Artbild, ist im Sommer braun, im Wint weiß, aber gerade in bezug auf diesen Wechsel der Färbung bildet ' gewissermaßen Rassen, denn je nach der Dauer des Winters ist längere oder kürzere Zeit weiß, in Grönland alle zwölf Monate d Jahres hindurch, im nördlichen Norwegen schon nur acht bis ne Monate lang, in den Alpen sechs bis sieben Monate lang, im südlich Schweden und in Irland aber gar nicht, dort bleibt er auch Winter braun. ganz wie unser gewöhnlicher Hase, Lepus timidus. handelt sieh hier nicht etwa um eine direkte Wirkung der Käl Entstehung des Artbildes. 289 sonst müßte die Art auch im südlichen Schweden im Winter weiß werden, da es auch dort an starker Winterkälte nicht fehlt, aber der Boden bleibt in Südschweden nicht so lange und nicht so ununter- brochen von Schnee bedeckt, und so würde das Weiß den dortigen Hasen ebenso oft. oder vermutlich häufiger nachteilig, als nützlich sein, und die frühere Doppelfärbung ist deshalb durch Naturzüchtung wieder rückgängig gemacht worden. Der Wechsel der Färbung ist also erblich fixiert. wie auch dadurch bewiesen wird, daß Alpenhasen, die man unten im Tal gefangen hielt, doch zur gewohnten Zeit das weiße Kleid anlegten, was der gewöhnliche Hase niemals tut. Wie nun im südlichen Schweden die Winterfärbung ganz in Weg- fall kam, so ist von dort bis in die arktische Zone hinauf umgekehrt die Sommerfärbung immer mehr zurückgedrängt worden, bis sie zuletzt im höchsten Norden völlig aus den Charakteren der Art verschwand. Wir sehen also, wie die Doppelfärbung überall wo die Art lebt. genau den äußeren Bedingungen entsprechend reguliert ist in bezug auf die Dauer des Winterpelzes. Es gibt eine rein weiße, eine rein braune und eine wechselfarbige Rasse, und letztere sondert sich wieder in eine mit sechsmonatlichem und eine mit acht monatlichem Winterkleid. Ver- mutlich könnte man von der letzteren noch mehrere unterscheiden, wenn man die verschiedenen Regionen («der skandinavischen Halbinsel von Süden nach Norden hin einzeln untersuchte. Daß nun die Dauer des Winterkleides hier im Keimplasma ihren Sitz hat, und keineswegs bloß direkt vom früheren oder späteren Eintritt der Kälte abhängt, wird schon durch die beiden extremen Formen, den weißen und den braunen Lepus variabilis klar, sowie durch das Verhalten gefangener Tiere. Auch der Fall jenes Lemming, der in der warmen Kajüte braun blieb, dann aber in die Winterkälte gebracht, fast plötzlich weiß wurde, beweist nur, dab die Kälte dabei als auslösender Reiz wirkt: die vorbereiten- den Änderungen im Haarpelz sind vorher schon da, und der Reiz der Kälte bringt sie dann rasch zur Entfaltung. Es müssen also die nötigen Variationen der betreffenden Keimesteile stets sich der Auslese darge- boten haben, was leicht begreiflich ist, da es sich nur um Plus- oder Minusvariationen handeln kann. In irgend welchen kleinsten biologischen Einheiten des Keimplasmas muß es ja seinen Grund haben, daß die erbliche Anlage zu sechsmonatlichem Winterkleid sich in eine acht- monatliche verwandeln kann, die Determinanten des Haarkleids müssen sich so verändern können, daß eine längere oder kürzere Dauer des Winterkleids die Folge ist. Eie Möglichkeit der ganzen Abänderung beruht auf den steten Schwankungen aller Determinanten bald nach Plus, bald nach Minus, und die Notwendigkeit und Unvermeidlichkeit der jedesmaligen Anpassung an die Dauer des Winters liegt in der nie rastenden Personalselektion. in dem unvermeidlichen Vorzug des Besser- angepaßten. Woismann, Doszendenzthoorie. II. 2. Aufl 19 mm XXXV. VORTRAG. | Anpassung beruht nicht auf Zufall p. 290, Beispiel der Augen p. 291, der Blattnach- ahmungen p. 291, Alle dauernde Veränderung beruht in letzter Instanz auf Selektion p. 292, Wechselsterilität ohne große Bedeutung p. 292, Relative Isoliertheit (Lepuz variabilis) p. 293, Einfluß der Bastardierung p. 295, Untergang der Arten p. 205 Ungleiche Dauer derselben p. 296, Natürlicher Tod der Individuen p. 297, Aussterber durch maßloses Weitervariieren (EMERY) p. 299, Machairodus nach BRANDES p. 300 Niedere Typen anpassungsfähiger als hohe p. 301, Flugunfähige Vögel p. 302, Zer- störung von Inselfaunen und Floren durch die Kultur p. 302, Die großen Jagdtier Mitteleuropas p. 302. | Artenentstehung und Artentod. Meine Herren! Das Beispiel des Polarhasen lehrte uns einen Fal’ kennen, in welchem die örtliche und zeitliche Anpassung an die Lebens bedingungen als Wirkung bestimmter Ursachen erkennbar ist, also al! Notwendigkeit; aber ganz ebenso muß es überall sein, bei allen auedl dien kompliziertesten und scheinbar ganz auf dem Zufall beruhende Anpassungen; überall erfolgt die Anpassung — wenn sie von den gegebenen Artorganismus aus überhaupt möglich ist — mit Notwen digkeit, so sicher wie die Anpassung des Winterkleids vom Haseı an die Dauer des Winters, ja nicht wesentlich unsicherer, als dit Bläuung der Stärke durch Zusatz von Jod. Die feinsten Anpassungen des Auges der Wirbeltiere an die Aufgaben, die ihm das Leben in deı verschiedenen Gruppen stellte, sind ebenso notwendig als Wirkungeı von Ursachen allmählich zustande gekommen, wie die verwickelter Schutzzeichnungen und Färbungen auf den Flügeln der Kallima une anderer, blattnachahmender Schmetterlinge. i Diese mechanische Notwendigkeit der Anpassungen leite sich daraus her, daß bei jedem Anpassungsprozeß die gleiche Richtun; der Abänderung der betreffenden Determinanten dadurch gewährleiste ist, daß Personalauslese die falsch variierenden Determinanten fortschaf so daß nur die richtig variierenden übrig bleiben, die dann also » gleicher Richtung weiter variieren. Der größte Unterschied aber zwi schen unserer und Darwıns Auffassung von der Naturzüchtung lieg ddarin, daß Darwın den Eintritt derselben vom Zufall abhängiı ddachte, während wir ihn als notwendig, und zwar als bedingt dure (das intragerminale Auf- oder Absteigen der Determinanten vorsteller Zweckmäßige Variationsriehtungen können sich nicht nur darbieter sie müssen es, sobald das Keimplasma überhaupt Determinanten ent hält, durch deren nach Plus oder nach Minus gerichtete Schwankunge die zweckmäßige Abänderung erreichbar ist. ’ ı a — Artenentstehung und Artentod. 29] Daß einem Pferd Flügel wachsen sollten, gehört zu den unmög- ' Jiehen Variationen des Pferdetypus, hier fehlt es an Determinanten, welche Veränderungen nach diesem Ziel bieten könnten, aber daß irgend einem vielzelligen Tier, das im Lichte lebt, Augen entstehen, liegt innerhalb des Variierens seiner Ektodermdeterminanten, und tatsächlich besitzen diese Tiere auch alle Augen, und zwar Augen, die wieder in jedem Grade steigerbar in ihren Leistungen, überhaupt in jeder Weise dem Bedürfnis anpaßbar und modifizierbar sind. Sobald eben einmal die Determinanten des primitivsten Auges da waren, bildeten sie den - Grundstock, durch dessen Plus- oder auch Minusvariationen alle die wunderbaren Augenbildungen hervorgerufen werden konnten, welche wir tatsächlich in den verschiedenen (Gruppen der Metazoen ausgeführt finden, vom bloßen lichtempfindenden Fleck, bis zur schattenhaften Wahrnehmung eines sich bewegenden Körpers, und von da wieder bis zum deutlichen Erkennen eines scharfen Bildes, wie wir es selbst von unseren Augen kennen. Und welche wundersame Spezialanpassungen des Auges an Nah- und Fernsehen, an Sehen in Dämmerung und bei Nacht oder in großer Meerestiefe, an Erkennung bloßer- Bewegungen oder Fixierung scharfer Bilder schalten sich in den Gang dieser Ent- wicklung ein! Alle solche Anpassungen sind möglich, weil sie aus Verände- rungen der einmal vorhandenen Determinanten hervorgehen können, und ebenso ist es zu jeder Zeit der Organismenentwicklung möglich gewesen, daß die Augen wieder verkümmerten, mögen dieselben hoch oder nieder auf der Stufenleiter dieses vielleicht feinsten von allen unseren Sinnesorganen gestanden haben. Sobald eine Art aus dem Lieht in vollkommene Finsternis dauernd übersiedelte, begannen auch ihre Augen sich zurückzubilden. Wir kennen blinde Plattwürmer, blinde Flohkrebse und Wasserasseln, aber auch blinde*Insekten und höhere Krebse, ja auch blinde Fische und Amphibien, deren Augen sich heute auf sehr verschiedenen Stufen der Rückbildung befinden. wie EIGEN- MANN an mehreren Arten höhlenbewohnender Wassersalamander des Staates Ohio kürzlich noch gezeigt hat. In allen diesen Fällen brauchten die Determinanten des Auges nur fortgesetzt nach Minus zu variieren, so mußte nach und nach der Schwund des Organs zustande kommen. Ganz ähnlich aber werden wir es uns vorzustellen haben bei den Aufwärtsentwicklungen. Die Waldschmetterlinge der Tropen könnten unmöglich alle ihre Unterseite blattartig gefärbt haben, wenn solche Schutzmalereien von dem Zufall abhingen, ob eine nützliche Variation sich auch darbietet. Sie bot sich immer dar durch die Schwankungen der Determinanten, und so konnten nicht nur, sondern so mußten die zweckmäßigen Färbungen sich nach und nach, und immer voll- kommner herausbilden. Spielte der Zufall dabei mit, so bliebe völlig unerklärt, warum die Schutzfärbung immer nur da auftritt, wo sie schützend wirkt, warum nicht auch einmal auf der Oberseite des Tag- falterflügels, oder auf dem im Sitzen bedeckten Hinterflügel des Nacht- falters. Wir haben ja früher eingehend besprochen, wie genau bis auf kleine Spitzchen und Eckehen des Flügels diese Färbungen lokalisiert sind; das ist nur zu verstehen, wenn Naturzüchtung mit der Sicherheit eines vollkommnen Mechanismus arbeitet. Zufall ist dabei nur insofern im Spiel, als es von ihm abhängt, ob in diesem oder in jenem Id die betreffende Determinante nach Plus oder nach Minus variiert, da aber das Keimplasma viele Ide enthält, und in jedem derselben der Zufall 19* ie: 292 Artenentstehung und Artentod. anders entscheiden kann, so hängt die Anwesenheit zweckmäßig variierender Determinantenmajoritäten nicht vom Zufall ab, denn wenn nicht in diesem, so sind sie in jenem Individuum enthalten, und es kommt eben nur darauf an, daß sie da sind und zur Nachzucht ausgewählt werden können. Wir werden also Naturzüchtung, d. h. Personalselektion, als einen mechanischen Entwicklungsvorgang betrachten, der mit derselben Sicherheit seinen Anfang nimmt, und ebenso „gradlinig* dem „Ziele* zustrebt, wie es irgend eine phyletische Entwicklungskraft zu tun im- stande wäre. Im Grunde ist es ja auch eine rein innere Kraft, welche die Entwicklung hervorruft, das Vermögen der kleinsten Lebens- teilchen, sich wechselnden Einflüssen gegenüber zu verändern, und nur die Leitung der Entwicklung in bestimmte Bahnen bleibt in erster - Linie der Personalselektion überlassen; sie stellt das Brauchbare zu-ı sammen, und bestimmt dadurch die weitere Entwicklungsrichtung. Wenn wir uns bewußt bleiben, daß auch die minimalsten Veränderungen der Biophoren und Determinanten immer nur Reaktionen auf veränderte äußere Einwirkungen im Sinne von Anpassungen sein können, und daß es ganz ebenso steht mit jeder der höheren Kategorien von Lebens-' einheiten, heißen sie Zelle, (Gewebe, Organ, Person oder Kormus, so; beruht also die gesammte Entwicklung der irdischen Lebewelt auf unausgesetzt sich folgenden und in verwickeltster Weise! ineinandergreifenden Anpassungen, ermöglicht durch die Ver- änderungsfähigkeit der Lebenseinheiten jeden Grades, und hervorgerufen und geleitet durch den ewigen Wechsel der äußeren Ein- wirkungen. Ich konnte deshalb wohl schon vor Jahren sagen, daß alles in der organischen Entwicklung auf Selektion beruhe, denn jede dauernde Veränderung einer Lebenseinheit ist Anpassung an veränderte äußere Eingriffe, Bevorzugung der dadurch besser gestellten! Teile der betreffenden Einheit. | In diesem Sinne kann man auch sagen, dab die Art ein An- passungskomplex sei, denn wir haben ja gesehen, daß sie auf dem‘ Zusammenwirken der verschiedenen Stufen von Selektionsprozessen be- ruht, daß sie in manchen Fällen lediglich durch Germinalselektion hervorgerufen wird, daß aber in weit zahlreicheren Personalselektion' dabei die Hauptrolle spielt, sei es nun, daß es sich dabei um bloß" sexuelle Anpassungen oder um Existenzanpassungen handelt. Nachdem wir so erkannt haben, daß die Entstehung bestimmt gerichteter Variation mit derselben Notwendigkeit erfolgt, wenn sie durch indirekten Einfluß der Bedingungen, d. h. durch das Bedürfnis neuer Anpassung hervorgerufen wird, als wenn direkte etwa klimatische Ursachen sie im Keimplasma bewirken, so wird man geneigt sein, mit mir das Eingreifen von Wechselsterilität bei der Entstehung der Arten nieht hoch anzuschlagen. Eher wird man ihr später, bei bereits erfolgter Scheidung der: Formen eine Rolle zuweisen wollen, gestützt auf die Tatsache der Wechselsterilitit der meisten naheverwandten Tierarten, und auf die theoretische Erwägung, daß Häufigkeit von Misch- formen, auch wenn dieselben im Kampf ums Dasein immer wieder er- liegen sollten, doch einen Verlust für beide Arten bedeuten muß. Beide Argumente geben aber auch kein sicheres Urteil, das theoretische nicht, weil wir einer Abschätzung dieses Verlustes nieht gewachsen sind, und das tatsächliche nicht, weil die Erfahrungen über Kreuzungs- Ergebnisse bei Tieren nach der Richtung hin meist überschätzt werden, ZU ! 1 | Ri i | | 1 | | | | I \ Die Art ein Anpassungskomplex. 293 daß man die uns zu (Gebote stehenden nächstverwanten Arten zu willig auch als naheverwandte ansieht; Pferd und Esel, Pferd und Zebra stehen z. B. gewiß mit Recht innerhalb derselben Gattung, aber die mehreren Zebraarten Afrikas deuten uns an, wie viele Zwischen- stufen zwischen Zebra und Pferd vorhanden gewesen sein mögen. Die Entomologen haben zuweilen Bastarde aus den zwei nächstverwandten der bei uns lebenden Schwärmerarten der Gattung Smerinthus erzogen, Bastarde von Smerinthus ocellata, dem Abendpfauenauge und Smerin- thus populi, dem Pappelschwärmer. Ich habe selbst viele derartige Versuche angestellt und oft Paarung der beiden Arten, auch Eiablage erzielt, niemals aber auch nur ein Räupehen ausschlüpfen sehen. Dennoch kommen die Bastarde vor und sind z. B. von STANDFUSS des öfteren erhalten -worden. Sie sind der äußeren Er- scheinung nach Mittelform zwischen den Stammarten; doch mit starken Schwankungen. so daß z. B. das schöne blaue Auge auf «den Hinter- flügeln von Ocellata (Fig. 5, pag. 78) mehr oder weniger verschwunden oder angedeutet sein kann. Sie sind steril. Nun kennen wir aber drei Arten von Smerinthus in Nordamerika, die alle der Smerinthus ocellata viel näher stehen, als populi, indem sie alle den erwähnten Augen- fieck ebenfalls besitzen, wenn auch in geringerer Entwicklung. Der Nachweis, daß nächstverwandte Arten keine fruchtbaren Nachkommen liefern, müßte also durch Kreuzung von Smerinthus ocellata mit einer dieser amerikanischen Arten erbracht werden, wenn er entscheidenden Wert haben sollte. - Derartige Versuche nun hat STANDFUSS mit -unseren Saturniaarten angestellt und gezeigt daß hier nicht nur Kreuzung möglich ist, sondern daß die Bastarde auch selbst wieder fruchtbar sind. Diese Ergebnisse sind um so höher anzuschlagen, als bekanntlich Schmetterlinge und selbst diese sonst leichter fortpflanzbaren Spinner, sich in Gefangen- ' schaft nicht leicht fortpflanzen lassen, auch innerhalb der gleichen Art nieht. Saturnia pyri, spini und carpini aber sind drei scharf geschiedene Arten ohne Übergänge in der Natur und mit recht verschiedener Raupen- färbung. Daß es gelingen konnte, sie alle drei in einem Tripel-Bastard zu vereinigen, beweist jedenfalls, daß die sexuelle Entfremdung hier nieht weit gediehen sein kann. Man muß sich auch hüten. der steten Wechselkreuzung, wie sie auf dem zusammenhängenden Wohngebiet einer Art stattfindet, all- zuviel zuzuschreiben. sie für unwiderstehlich zu halten. Gewiß muß ihre Wirkung auf Gleichmachung der Individuen zielen, aber nieht nur kann sie dieselbe nie erreichen, sondern sie kann auch stärkeren Ab- änderundsursachen, die sich auf einem Teil des Wohngebietes einstellen, nicht erfolgreich Widerstand leisten. Wir mußten es früher schon für gänzlich irrig halten, zu glauben, jede neue lokale Anpassung müsse durch die stete Kreuzung mit Artgenossen des übrigen Wohngebietes wieder vermengt werden. Das hängt doch wohl ganz von der Bedeutung der betreffenden Anpassung, ceteris paribus, ab. So gut klimatische Einflüsse so stark sein können, daß sie diesen Kreuzungseintluß ganz überwinden und eine Lokalrasse hervorrufen trotz mangelnder örtlicher Isolierung, so gut kann dasselbe auch bei Anpassungen geschehen. Es ist ganz wohl denkbar, daß der Polarhase Skandinaviens eine ganze von Rassen gebildet hat, von welchen jede der Schneedauer ihrer geographischen Breite angepaßt ist, obwohl ja eine Kreuzung dieser schnellfüßigen Tiere über weitere Entfernungen hin im Laufe der Zeit 294 Artenentstehung und Artentod. ” immer wieder vorkommen wird, und obwohl das ganze Gebiet ununter- brochen von der Art besetzt ist. so dab also eine „Blutvermischung® der Hasen aller Regionen vom Süden bis zum Norden hin und um- gekehrt stattfinden wird, ja fortwährend stattfinden muß, wenn freilich auch wohl nur sehr langsam. Gerade die außerordentliche Langsamkeit der Blutvermischung scheint mir wesentlich für das Zustandekommen lokaler oder wie hier regionaler Anpassungen. Die Rechnung der Blutverbreitung ist nicht schwer anzustellen, wenn man die für rasche Verbreitung mög- liehst günstigen Annahmen macht. Nehmen wir an, sie erfolge nur auf einer Linie, hier also südnördlich, so wird bei gleichbleibendem Artbe- stand von jedem Hasenpaar ein Paar Nachkommen überleben, d.h. wieder zur Fortpflanzung gelangen. Der eine davon verschiebe seine Heimstätte gegen Norden hin um Strichbreite, d. h. soweit, als Hasen von ihrer Geburtsstätte aus umherzustreichen pflegen, und paare sich mit einem Nachkommen der folgenden Strichbreite. Es betrage diese Strichbreite 10 Kilometer, und die Verschiebung der Heimstätte geschehe in jedem Jahr einmal, so würde das Blut eines südskandinavischen Hasen sich in 10 Jahren um 100 Kilometer nach Norden verbreiten * können, nach 100 Jahren um 10000 Kilometer, allein nicht etwa rein, sondern gemischt und verdünnt durch Kreuzung mit 100 Gatten anderen Individualblutes, d. h. in einer Verdünnung von 210, d. h. weniger als ein Millionstel. Also selbst bei solchen, viel zu günstigen Voraus- setzungen würde der Einfluß eines um 100 Kilometer entfernten Hasen- gebietes auf die Bewohner eines in Neuanpassung begriffenen Gebietes faktisch gleich Null sein. Daß die Annahmen zu günstig, ist leicht er- sichtlich, da nicht jedes überlebende Nachkommenpaar seine Heimstätte verschiebt, die meisten vielmehr am Ort bleiben und dort ihren (Gatten finden. Die Blutverschiebung wird also viel seltner, vielleicht nur alle 10 Jahre eintreten, auch kann der wandernde Nachkomme der zweiten (Generation sich südlich bewegen und dadurch die ganze Bhutverschiebung wieder aufheben u.s.w. Bleiben wir aber einmal bei unseren günstigen Annahmen und versuchen zu bestimmen, wie stark der verwischende Einfluß der Blutvermischung von Süden nach Norden her auf einen bestimmten Punkt A sein würde, so würde das Blut der ersten an- grenzenden Strichbreite in !/, Verdünnung auf die Bewohner von 4 wirken und zwar auf jeden in jedem Jahr einmal; die zweite Strichbreite würde nur Blut in !/,, die dritte in !/,, die vierte in "/,, Verdünnung senden können, und das Blut der zehnten Strichbreite nur in Uran Verdünnung. Eine Region 3 von zwanzig Strichbreiten oder 200 Kilo- metern würde also in sich eine Hasenbevölkerung bergen, deren Zentrum von beiden Seiten her nur in verschwindendem Maße beeinflußt würde. Wenn auf der ganzen Wohnzone 3 der Winter gleich lang wäre, so würden alle Bewohner durch Anpassung die Dauer ihres Winterkleides danach zu verändern streben, und das Zentrum der Region würde bei diesem Vorgang um so weniger durch Blutbeimengung gestört und aufgehalten werden, als die mehr peripheren Strichbreiten sich ebe der Anpassung näherten. Da aber schon die Beimischung von Vs fremden Blutes keinen hemmenden Einfluß für eine Abänderung bilden wird, so bliebe eine Breite von 2><5= 10 Striehbreiten, auf welchen der Einfluß der abzuändernden Regionen ohne Einfluß wäre. Es müßte dann also eine neue Rasse in bezug auf Winterkleiddauer entstehen, die zwar nieht scharf abgesetzt aufhörte, sondern allmälig in die der ” | Dauer der Arten. 295 benachbarten Regionen überginge, die aber in ihrem Zentrum rein wäre, so also. wie es sich vermutlich in Wirklichkeit verhalten wird, indem man als 3 jeden Punkt der südnördlichen Verbreitungslinie nimmt. Die Ubereinstimmung der Individuen innerhalb einer Art wird demnach zwar wohl teilweise auf der mit der Fortpflanzung verbundenen Vermischung der Erbanlagen beruhen, zum größeren Teil aber auf Anpassung an die gleichen Verhältnisse; sie ist eine An- passungsgleichheit, und der stärkste Einfluß, den geschlechtliche Fortpflanzung dabei ausübt, liegt nicht in der Mischung der Erbanlagen allein, sondern vor allem auch in der auf Grund und bei Gelegenheit dieser Vermischung erfolgenden Keimplasmareduktion der beiden elter- lichen Erbanlagen. Dadurch erst wird es möglich, daß diese Anlagen bei der Artumwandlung sich in nicht allzu ungleichem Schritt verändern und zuletzt wieder sehr ähnlich werden. Wenn nun aber auch Wechselsterilität kein unbedingtes Erfordernis der Artentrennung ist, so würde man doch viel zu weit gehen, wenn man Wechselfruchtbarkeit als etwas allgemeines betrachten, oder gar ihr eine Rolle bei der Entstehung neuer Arten zuschreiben wollte. Einzelne Botaniker wie KERNER VON MARILAUN sehen in der Vermischung der Arten ein Mittel zur Bildung neuer Arten mit besseren Anpassungen; sie lassen fruchtbare Bastarde unter Umständen die Stammarten verdrängen und selbst zur Art werden. Man wird zugeben können, daß solche Fälle vorkommen, daß z. B. im Norden von Europa der Bastard der großen und kleinen Teichrose, Nuphar luteum und Nuphar pumilum, der den Namen Nuphar intermedium trägt, dadurch die beiden Stammarten aus dem Feld geschlagen hat, daß er seine Samen früher zur Reife bringt, also der kurzen Vegetationsperiode des Nordens besser angepaßt ist. aber man wird dennoch behaupten müssen, daß die Artbildung im großen und ganzen auf anderen Wegen erfolgt, als durch Bastardierung. Solche Fälle sind wohl ohne Zweifel nichts anderes, als seltene Ausnahmen. Dafür zeugt schon die gänzliche Be- deutungslosigkeit der Bastardbildung im Tierreich, wo doch die Arten ganz in derselben Weise in die Erscheinung treten wie im Pflanzenreich, und wo doch Vermischung zweier Arten nur ganz sporadisch und bei wenigen Arten, niemals in großem Maßstab vorkommt. Wenn nun die Arten Anpassungskomplexe auf Grundlage der in jedem Einzelfall gegebenen physischen Konstitution der Stammart sind, so werden wir es uns theoretisch in einfachster Weise zurechtlegen können, daß sie der Erfahrung nach nicht ewig sind, sondern daß sie wechseln im Laufe der Erdgeschichte. Die zahlreichen Reste in den verschiedenen Schichten der Erdrinde zeigen uns. daß dies in der Tat in hohem Maße der Fall ist, daß fast in jeder größeren geolo- gischen Schicht wieder neue Arten neben manchen alten auftreten, und daß nicht nur die Arten und Gattungen, sondern auch Familien, Ord- nungen, ja ganze Klassen von Tieren, welche früher gelebt haben. heute völlig von der Erde verschwunden sind. Wir werden diese Erscheinung begreifen, wenn wir bedenken, daß auch die Lebensbedingzungen im Laufe der Erdgeschichte sich fort und fort langsam geändert haben, so daß die alten Arten nur die Wahl hatten, auszusterben oder aber sich in neue Arten umzuwandeln. Aber so einfach auch dieser Schluß ist, so läßt er sich doch aus dem Vorkommen und der Aufeinanderfolge der fossilen Arten allein kaum jemals mit Sicherheit ablesen. Wir würden uns z. B. vergeblich 296 Artenentstehung und Artentod. bemühen, den Grund zu erkennen, aus dem zu bestimmter Zeit eine jener so regelmäßig übereinander geschichteten Schneckenarten des Steinheimer Seebeckens sich in eine oder zwei neue Arten umgewandel: hat, oder die Ursache zu finden. welche die sonderbaren dreiteiliger Krebse der Urzeit, die Trilobiten, die das Silurmeer in so erstaunlicher Formenfülle belebten, gegen Ende der Silurzeit plötzlich spärlich werden. und in der darauffolgenden Schicht, dem Devon, gänzlich verschwinder ließen. Der treffliche Geologe NEUMAYR meinte zwar diese letztere auffallende Erscheinung daraus ableiten zu können, dab gerade um Be Zeit die Cephalopoden, „die gefährlichsten und wildesten Räuber unter den wirbellosen Tieren des Meeres, überhand nahmen“ und er mag mit dieser Vermutung vielleicht das Rechte getroffen haben, aber wer wollte es beweisen? können wir doch selbst bei heute lebenden Tieren kaum in einzelnen Fällen sicher darüber urteilen, ob der Schaden. der einer vielverfolgten Art durch einen häufigen und gefräßigen Räuber ange richtet wird, den Nachwuchs übersteigt, und deshalb die Art der allmäh-” lichen Ausrottung zutreibt. So wahrschemlich also auch eine solche” Vermutung sein mag, so kann man sie doch nicht als einen Beweis” gelten lassen. ” Da nun in vielen anderen Fällen des Untergangs großer Arten- gruppen nicht einmal das gleichzeitige Emporkommen mächtiger Feinde nachzuweisen ist, noch auch andere Faktoren sich erschließen lassen” denen man dieses scheinbar plötzliche Verschwinden zuschreiben könnte so hat man vielfach auf innere Ursachen geraten, und in Verbindung” mit der Neigung zur Annahme mystischer Entwicklungskräfte sich der Vorstellung zugewandt, als folgten die Arten einer inneren Notwendig- keit mit ihrem Aussterben, als wäre Geburt und Tod bei ihnen präde- stiniert, wie bei den Individuen der Vielzelligen, als gäbe es einen’ physiologischen Tod der Art, wie es einen solchen des vielzelligen Individuums gibt. | > . . 2 | NEUMAYR hat bereits gezeigt, dab für eine solche Anschauung in den Tatsachen der Paläontologie eine Stütze nicht gesehen werden darf. Ich will nicht wiederholen, was von ihm bereits geltend gemacht wurde und verweise Sie in dieser Hinsicht auf seine klare und kurzgefaßte Darstellung. Es liegt ja auch auf der Hand, daß unsere Ansicht von den äuberen Ursachen des Aussterbens der Arten nicht daraus wider- legt werden kann, daß wir den Kampf der Arten um ihre Existenz in den vergangenen Zeiten der Erdgeschichte noch unvollkommener, wie zur heutigen Zeit und häufig gar nicht beurteilen können. Aber in umgekehrtem Sinn sind die geologischen Tatsachen von Wert. Sie zeigen uns nämlich eine so außerordentlich ungleiche Dauer der Arten, wie auch der größeren Formengruppen, daß schon deshalb an innere Ursachen ihrer Regulierung nicht gedacht werden kann. Einige Gattungen” von Stachelhäutern, so der Seestern Astropekten lebten schon zur Silur-- zeit, und sind heute noch in einer Anzahl von Arten in den Meeren vertreten, und ebenso hat die Cephalopodengattung Nautilus während dieser ganzen ungeheuren Zeitfolge vom Silurmeer bis auf unserere Tage sich unter den Lebenden erhalten; damals bildeten die Nautiliden ein Heer, das die Meere bevölkerte, und dessen Gefräßigkeit man — wie wir sahen — vielleicht den Untergang einer vorher ebenfalls massenhaft vorhandenen Krusterordnung, der Trilobiten, zuschreiben darf; heute leben nur noch einige Arten an den Korallenriffen der Südsee. Auch die Gattung Lingula aus der beinahe ausgestorbenen Klasse der Bra- 5 ä Dauer der Arten. 297 ehiopoden oder Armfüber, muschelähnliche festgewachsene Bewohner der Meere, hat sich aus der grauen Vorzeit jener ältesten Ablagerungen bis in die heutige Lebewelt hinein erhalten in der sog. „Entenmuschel“., Lingula anatina. Den gegenüber kennen wir dann wieder zahlreiche Arten, deren Dauer eine ganz kurze war, wie z. B. die einzelnen Glieder der Ent- wicklungsreihen der Steinheimer Planorbisarten oder der slavonischen Paludinen. Auch Gattungen tauchen nicht selten auf und verschwinden wieder in ein und derselben geologischen Schicht. Diese Tatsachen sprechen nicht nur gegen eine unbekannte vita- listische Entwicklungskraft, sondern überhaupt gegen (die Bestimmung der großen Entwicklungsbahnen aus rein inneren Ursachen. Gäbe es eine Entwicklungskraft, so könnte die Ungleichheit in der Lebens- dauer der Arten keine so ganz mablose sein: gäbe es ein „Greisenalter“ der Arten und einen dem natürlichen Tod der Vielzelligen vergleichbaren natürlichen Artentod, so könnten nicht die meisten Nautiliden auf die Silurzeit beschränkt sein, einige aber bis heute leben, und gäbe es eine „Lendenz“ immer weiter zu variiren und sich „immer weiter vom Ur- bild zu entfernen“ — wie auch gesagt worden ist, so könnten solche uralte und primitive Cephalopodenformen, wie die Nautilusarten sich überhaupt nicht bis äuf unsere Tage erhalten haben, sie müßten längst in höhere Formen umgewandelt sein. Das Umgekehrte aber ist sehr wohl denkbar, daß nämlich zwar das Gros der Arten einer Gruppe, wie 2. B. der Nautiliden, von überlegenen Mitbewerbern im Kampf ums Dasein verdrängt wurde, daß aber einzelne Arten auf besonders ge- schützten oder sonst bevorzugten Wohngebieten sich halten konnten. Ein schönes Beispiel dafür bilden die wenigen, heute noch lebenden Arten der sonst längst untergegangenen Klasse der Schmelzschupper oder Ganoidfische. Während der Primär- und Sekundärzeit bevölkerten sie alle Meere, aber an der Grenze zwischen Kreide- und Tertiärzeit gingen sie bedeutend zurück, gleichzeitig mit der starken Entwicklung der Knochenfische oder Teleostier, und heute sind sie nur noch in einem Dutzend Arten über die Erde verbreitet, von denen die meisten reine Flußbewohner sind, die anderen wenigstens zur Laichzeit weit in den Flüssen emporsteigen, um dort ihre Brut zu sichern. Die Flüsse aber sind eine gegenüber dem Meer stille, geschützte Wohnstätte, auf der große Fische wie die Ganoiden sich leichter im Konkurrenzkampf halten konnten, als in dem ungleich reicher bevölkerten Meer. So kann ieh es nur für ein Spielen mit Begriffen halten, wenn man den Arten Geburt, Aufblühen, Stillstand, Niedergang und Tod zu- spricht, anders als in figürlichem Sinn. Vergleichen läßt sich ja das Leben das Individuums mit dem der Art ohne Zweifel, und wenn man den Vergleich dazu benützt, um sich über den Unterschied in den Ur- sachen der beiderlei Erscheinungen klar zu werden, so ist auch gewiß Niehts dagegen einzuwenden, nur muß man nicht glauben ein Unbe- kanntes dadurch erklären zu können, daß man es einem anderen Un- bekannten gleichsetzt. Wir haben früher besprochen, das der natürliche Tod der Viel- zelligen eine Erscheinung ist, die erst mit der Scheidung des Organismus in Soma- oder Körperzellen und in Fortpflanzungszellen auftritt, daß er nicht eine unvermeidliche Folge jedes Lebens ist, daß vielmehr die Ein- zelligen nicht sterben müssen, wenn sie auch gewaltsam getödtet werden 298 Artenentstehung und Artentod. können. Diese Einzelligen haben also keinen natürlichen, unter allen Umständen unvermeidlichen Tod, und wir haben das Auftreten desselben bei den Vielzelligen als eine Folge der hochgradigen Zellendifferenzierung ihres Organismus zu erklären, zugleich auch als eine Anpassung, insofern die Bildung besonderer Fortpflanzungszellen ein Immerweiterleben des ganzen Organismus für die Erhaltung der Art entbehrlich machte, ja unzweckmäßig erscheinen läßt. Denn dafür genügt es, wenn nur die Keimzellen die potentielle Unsterblichkeit der Einzelligen sich erhalten konnten, während andererseits die hohe Differenzierung der Körper- zellen es notwendig mit sich brachte, daß dieselben sich durch ihre Funktion selbst aufrieben und dem Zellentod verfielen, oder doch sich (derart veränderten, daß sie nur ungenügend noch funktionieren konnten und so dem Ganzen die Fähigkeit zu weiterem Leben entzogen. Hier kann es keinem Zweifel unterliegen, daß der Tod eine im Organismus selbst virtuell enthaltene, also gewissermaßen vorgesehene Einrichtung ist, das unvermeidliche Endziel einer Entwicklung, die mit der Eizelle beginnt, mit der Ablösung der Keimzellen, d. h. mit der Fortpflanzung ihren Höhepunkt erreicht und dann einen rascheren oder langsameren Niedergang einhält bis zum natürlichen Ende des Indi- viduums. Nur gewaltsam kann man diesen Entwicklungsgang des vielzelligen Individuums mit dem Entstehen und der Umwandlung oder dem Untergang der Arten vergleichen. Nicht einmal die ganz äußerliche Analogie des Aufblühens aus kleinem Anfang und des dlarauf folgenden Niedergangs findet sich immer vor; bei den Stein- heimer Schnecken wenigstens wandelt sich za bestimmter Zeit so ziem- lich der ganze Bestand einer Art um und gestaltet sich zu einer neuen, die dann nach längerer Zeit wiederum sich umgestaltet, ohne daß eine erhebliche Abnahme der Individuenzahl bemerklich wird. Wenn nun vollends von einem „Greisenalter“ der Art von einer Erstarrung ihrer Form, einer Unfähigkeit, sich noch weiter umzuwandeln gesprochen worden ist, so sind das naturwissenschaftlich unzulässige Phantas- magorien. Etwas Richtiges liegt freilich auch ihnen zugrunde, denn sicher- lich sind zahlreiche Arten nicht in neue übergegangen, sondern einfach ausgestorben, weil sie sich den veränderten Lebensbedingungen nicht anzupassen imstande waren. Allein es geschah dies nicht, weil sie un- fähig geworden waren, sich zu verändern, sondern deshalb, weil sie so starke oder überhaupt solche Umwandlungen nicht hervorbringen konnten, wie sie notwendig gewesen wären, sollten diese Arten auch fernerhin noch konkurrenzfähig bleiben im Kampf um die Existenz. Es hängt aber offenbar vom Zusammentreffen sehr verschieden- artiger Umstände ab, ob eine Anpassung erfolgen kann, oder nicht. Vor allem muß sie gleichen Schritt halten können mit der Veränderung der Lebensbedingungen, denn wenn diese ihr vorauseilen, wird sie mitten in der versuchten Anpassung unterliegen müssen. So wird viel- leicht der so auffällige Untergang der Trilobiten mit NEUMAYR zu el- klären sein, indem die Nautiliden, eine neue Gruppe von Feinden, sieh auf ihre Kosten so rasch vermehrte, daß sie nicht Zeit zu passender Gegenwehr fanden. Übrigens ist es ja auch durchaus nicht gesagt, dab jede Art sich gegen die Vernichtung durch eine andere überhaupt schützen kann; größere Fruchtbarkeit, größere Schnelligkeit, größere PR Tod des Individuums. 299 Intelligenz u. s. w. können alle versagen, und dann erfolgt eben der Untergang, aber nicht, weil die Art „greisenhaft* geworden wäre, sondern weil die möglichen Abänderungen ihres Organismus nicht genügten, um sie zu erhalten. Bei Gelegenheit der Germinalselektion erwähnte ich schon der von EMERY vertreteneu Ansicht, nach welcher das maßlose Weitervariieren in der einmal aus intragerminalen Gründen eingeschlagenen Richtung nicht selten die Ursache des Aussterbens von Arten gewesen wäre: ich erwähnte auch der ganz ähnlichen Ansicht DÖDERLEIN'S der sich zwar noch nicht auf (Germinalselektion beziehen konnte, aber doch auch innere Triebkräfte annahm, die eine Variation in der einmal einge- schlagenen Richtung unwiderstehlich weiter drängen, noch über das Zweckmäßige hinaus, und die dadurch den Artentod herbeiführen. Ich kann mich dieser Ansicht nicht ganz anschließen, wie ich dort bereits andeutete, und zwar deshalb nicht, weil ich nicht glaube, dab der Variationstrieb jemals ein ganz unwiderstehlicher, nicht zu bändigender werden kann. Könnte er das, dann würden wir nicht in ungezählten Fällen das Aufsteigen oder Sinken eines Teils stets genau bis zu dem Punkt vorschreiten sehen, wo es aufhört, zweckmäßig zu sein. Selbst das Verkümmern von Organen geht immer nur so weit, als es zweck- mäßig ist, wie an parasitisch lebenden Krebsen verschiedener Ordnungen deutlich zu sehen ist. Bei vielen von diesen Schmarotzerkrebsen ver- kümmern die Schwimmfüße, aber nur bei den Weibchen, weil diese sich an ihrem Wirt festsaugen oder in einer Weise festklammern, daß sie ihn nicht mehr verlassen können. Die Männchen brauchen ihre Schwimm- füße, um die Weibchen aufzusuchen. Aber auch die Weibchen be- dürfen derselben in ihrer Jugend, um den Fisch aufzusuchen, von welchem sie sich ernähren sollen, und so hat die Verkümmerung ihrer Schwimmfüße genau an dem Punkt der Ontogenese Halt gemacht, bis zu welchem sie von Nutzen waren; sie bilden sich in der ersten Jugend und verkümmern später, wenn das Tier seßhaft wird. Im Sinne des biogenetischen Gesetzes werden wir sagen, die Verkümmerung sei in den Endstadien der Ontogenese eine vollkommene, setze sich aber in ihrem Rückschreiten nicht bis zum Keim, sondern nur bis zu den Jugendstadien hin fort. Daraus folgt, daß dem Fortschreiten einer Abänderung jeder Zeit ein Ziel gesetzt werden kann, und wir haben ja gesehen, daß dies durch Personalselektion möglich ist, welche die vorhandenen und nie fehlenden Schwankungen der Variation nach Plus oder nach Minus sammelt. Im einzelnen Id mag eine Determinante X unbegrenzt abnehmen und vielleicht auch unbegrenzt zunehmen können, obwohl wir das letztere nicht sicher wissen, da aber dieselbe Determinante in allen Iden enthalten ist, gibt es auch immer Plus- und Minusschwankungen derselben, mittelst derer Personalselektion operieren kann. Freilich bedarf sie aber dazu der erforderlichen Zeit, und daran, daß diese ihr in vielen Fällen nieht geboten wird, liegt, wie ich glaube, der Grund, warum exzessive Bildungen häufig zum Untergang einer Art geführt haben. nicht weil die Steigerung des exzessiven Or- gans unaufhaltsam weitergehen mußte, sondern weil durch Anderung der Verhältnisse das exzessiv gesteigerte Organ unzweckmäßig wurde, und nun nicht so schnell zurückgebildet werden konnte, dab es die Art vom Untergang gerettet hätte. Er @ 300 Artenentstehung und Artentod. Ein schönes Beispiel dafür hat kürzlich BRANDES gegeben, indem er die merkwürdigen Tiger mit säbelförmigen, enorm langen Eck zähnen, wie sie in der Diluvialzeit in Südamerika lebten, in ihre Existenz auf jene riesigen, gleichzeitig dort lebenden Gürteltiere bezieht, deren zwei Meter hohe Knochenpanzer heute unsere Bewunderung er- regen. Mit Recht macht er darauf aufmerksam, daß das Gebiß des Machairodus neogaeus keineswegs ein vollkommenes Raubtiergebiß ist, wie das des indischen Tigers oder des Löwen; daß es vielmehr in seine Schneide- und Backzähnen weit weniger leistungsfähig ist, als bei diesen Räubern, und dab die grobe Länge der Jdolehförmig abgeplatteten Eekzähne, welche weit aus dem Munde hervorragten, einen Zusammen- schluß des Ober- und Unterkiefergebisses nach Art einer Zange ganz verhinderten. Er schließt deshalb mit Recht, daß dieses Gebiß einer ganz speziellen Ernährungsweise angepaßt sei, und sieht in den großen gepanzerten Gürteltieren, den «drei Meter langen schweren Glyptodonten der Pampasebenen das Beutestück, in welches sie ihre Säbelzähne vom unbewehrten Hals her einstießen und so das für gewöhnliche Raubtiere unverwundbare Tier überwältigten. So erklärt sich einerseits das sonderbare Gebiß, andererseits aber auch der zu so erstaunlicher Aus- dehnung und Härte ausgebildete Panzers des Opfers. So verstehen wir auch, daß es damals eine ganze Reihe von Katzenarten mit säbel- förmigen Zähnen gab, bei welchen sich ‘die Länge und Schärfe dei Zähne zusammen mit der Körpergröße immer mehr steigerte, sowie daß diesen Räubern eine ganze Reihe von Gürteltieren entsprach eben- falls mit zunehmender Körpergröße und zugleich mit immer stärkerem Panzer. 3 Natürlich ist diese Deutung eine hypothetische, und könnte schon aus dem Grund angegriffen werden, weil zur Diluvialzeit auch in Europa Machairodusarten lebten, wenn auch solche mit kleineren Säbelzähnen, während von europäischen Gürteltieren nichts bekannt ist. Mag aber auch die Auslegung von BRANDES sich nicht halten lassen, so bildet sie doch jedenfalls eine anschauliche Illustration, wie man sich etwa die wechsel- seitige Steigerung der Anpassungen zwischen zwei Tiergruppen und deren weitere Folgen denken darf. Wir begreifen, warum einerseits solche kolos- sale schildkrötenartige Panzer sich bei einem Säugetier bilden konnten, und andererseits so ganz abnorm lange und sonderbar gestaltete Säbelzähne} wir begreifen aber auch — und darauf kommt es uns hier in erster Linie an — wieso schließlich diese beiden „exzessiven“ Bildungen zum Untergang ihrer Träger führen mußten. Lange Zeiten hindurch sicherten die Gürteltiere sich vor dem Aussterben, indem sie immer wieder ihren Panzer verstärkten, ihre Körpergröße steigerten und sich dadurch der Nachstellung der kleineren, mit schwächeren und kürzeren Zähnen ver sehenen Feinden entzogen. Aber die Raubtiere folgten ihnen nach, verlängerten ihre Zähne und steigerten ebenfalls ihre Körpergröße, bis schließlich auch der stärkste Panzer dem Opfer kein hinreichender Schutz mehr war, und die mächtigen Glyptodonten nach und nach voll- ständig ausgerottet wurden. Dann aber hatte auch dem Machairodus die Stunde des Untergangs geschlagen, denn er war so genau ges rade dieser einen Art der Ernährung angepaßt, daß er sich anderer Opfer nicht mehr bemächtigen und sie zu seiner Ernährung verwerten konnte: die Säbelzähne hinderten ihn daran, seine Beute wie andere Raubtiere zu zerreiben, er konnte sie vermutlich nur aus saugen. Niedere Typen die bildungsfähigsten. 301 Nehmen wir diesen Fall auch nur als einen ersonnenen, so macht "er doch klar, daß nicht eine innere Variationstriebkraft die Zähne dieser ‘ Räuber und die Panzer dieser Opfer unbegrenzt steigerte, sondern die Notwendigkeit der Anpassung — dab sie auch nicht deshalb schließlich zu Grunde gingen, weil Panzer und Zähne sich bis ins Ungemessene steigerten, sondern weil beide Anpassungen nicht plötzlich ganz zurück- ‚ geschraubt werden konnten, und weil die allein möglichen kleinen Veränderungen dabei nichts nützen konnten. | In gewissem Sinn kann man deshalb wohl sagen, einfachere » = niedere Organismen seien anpassungsfähiger, als solche, die hoch ' differenziert und ganz speziellen Verhältnissen in allen Teilen ihres ‘ Körpers angepaßt sind, in dem Sinn nämlich, daß aus ersteren im ‚ Laufe der Zeiten noch sehr viel neues hervorgehen kann, aus letzteren nur noch weniges und jedenfalls nicht mehr stark Verschiedenes. Aus ‚ einfachsten Protozoen konnte nicht nur die ganze Welt der Einzelligen ‚ hervorwachsen. sondern auch die noch bei weitem vielgestaltigere der Metazoen, aus niederen Würmern des Meeres konnten nicht nur die vielgestaltigen höheren Würmer des Meeres die Gliederwürmer, sondern auch ganze neue Tierkreise, wie die Gliedertiere und die Wirbeltiere / hervorgehen. Aus den heutigen Vögeln wird schwerlich noch eine neue ' Klasse von Tieren sich entwickeln, denn für das Luftleben sind sie bereits so vorzüglich wie möglich angepaßt und für das Leben auf ' dem Lande oder im Wasser würden sie schwerlich sich jemals so gut anpassen können, dab sie den übrigen Land- oder Wasserbewohnern eine vielfache, d. h. auf alle Lebensmöglichkeiten sich beziehende Kon- ' kurrenz machen könnten. Wir kennen ja Vögel, die zum reinen Land- ‚ leben zurückgekehrt sind, z. B. die Strauße, und auch solche, die sich dem reinen Wasserleben angepaßt haben, die Pinguine, allein das sind ' doch nur ganz kleine Artengruppen, und es ist nicht wahrscheinlich, daß sie sich noch vergrössern werden. Wir können im Gegenteil nach- ‚ weisen, daß gar manche von ihnen im Kampf mit dem Menschen bereits ‚erlegen sind, und von anderen sehen wir ihr Erliegen voraus. Der ' Grund aber ihres leicht erfolgenden Aussterbens liegt offenbar darin, daß sie den Vorteil, der in ihrer Vogelnatur lag, durch Anpassung an das Landleben aufgegeben haben und nun nicht imstande sind, ihn wieder zurückgewinnen, wenigstens nicht in so kurzer Zeit, als es für ihre Rettung vor dem Untergang erforderlich gewesen wäre. Das beste Beispiel dafür bietet die oft genannte Dronte, Didus ineptus. en, IE 7 123 1 0 m er B Dieser sonderbar aussehende Vogel von der Größe eines Schwans lebte ii bis zu Ende des siebzehnten Jahrhunderts in Scharen auf der Insel "= Mauritius. Er hatte noch kleine, mit kurzen Schwingen besetzte Flügel, die aber zum Flug untauglich waren. Da er weder in die Luft, noch auf das Wasser sich retten konnte, und selbst auf dem Land nur schwer- fällig und unbehülflich mit seinen kurzen Beinen und schwerem Körper vom Flecke kam, so war er rettungslos verloren, sobald ihm ein über- legener Feind erstand; er fiel den Seefahrern zum Opfer, die die Insel zuerst betraten und ihn in Menge mit Knüppeln erschlugen. Ohne =) Zweifel war er bis dahin den Verhältnissen der fruchtbaren Insel völlig al gut angepaßt gewesen; größere Feinde hatte er auf dem mitten im Ozean liegenden vulkanischen Eiland nieht; so nährte er sich reichlich am Boden und konnte der Sicherung durch die Flügel entbehren. Als aber nun plötzlich der Mensch erschien und im nachstellte, da war es | | 1 302 Artenentstehung und Artentod. nicht .„greisenhafte Starrheit* seines Organismus, was ihn verhinderte seine Flügel wieder nutzbar zu machen, sondern das allen Arten zu kommende Variieren in kleinen Schritten und die daraus resultierende Langsamkeit des Zuchtwahlprozesses. Dem Kiwi von Neuseelane (Apteryx australis) wird es vermutlich in Bälde ebenso ergehen, denn | auch er war zwar den Pfeilen der Eingeborenen bisher noch entronnen wird sich aber jetzt bei seiner Flügellosigkeit den europäischen Schuß: waffen gegenüber schwerlich noch lange halten können, man müßte denn, wie bei unseren Gemsen, Schonzeiten und Freiwälder für ihn | einrichten. Noch trauriger aber, als solche Ausrottung einzelner Arten durch die Roheit und Habgier unserer eigenen Rasse berührt den Biologen das Zerstören ganzer Gesellschaften von Tieren und Pflanzen durch de Menschen, wie sie auf den meisten Inseln des Ozeans vor sich geht oder schon vollendet ist, und auch diese sei hier, wo vom Untergang der Arten die Rede ist, kurz erwähnt. Ich meine die Verdrängung der meist endemischen Tier- und Pflanzenwelt solcher Inseln durch die ß Kultur der Europäer. Das erste dieser Kulturarbeit ist immer das Abholzen der Wälder, die seit Jahrtausenden die Insel wie ein grüner - Mantel eingehüllt, ihr Regen und Fruchtbarkeit gesichert, und ein ganze Heer von einheimischen, nur dort vorhandenen Tieren hatten entstehen lassen. Von St. Helena war schon früher die Rede; die ursprünglich eigentümliche und merkwürdige Fauna und Flora dieser Insel war zum größten Teil bereits vor 200 Jahren verschwunden, und zwar durel das Abholzen der Wälder, dem dann die völlige Ausrottung mittels eingeführter Ziegen nachfolgte, welche die nachwachsenden jungen Bäume immer wieder abfraßen. Mit den Wäldern aber waren zugleich die meisten einheimischen Insekten und Vögel dem „Untergang preisgegeben so daß es heute dort weder einen einheimischen Vogel noch Schmette ling gibt; nur einige Landschnecken und Käfer der ursprünglichen Faun leben noch. Es sind aber nieht bloß Inseln, auf welchen durch Beschränkung der Wälder und Einführung menschlicher Kulturpflanzen, der mit diese vergesellschafteten „Unkräuter“ und der Haustiere eine Menge vo Arten beschränkt oder ganz ausgetilgt worden sind. In Mitteleuropa sind nieht nur die größeren Raubtiere, wie Bär, Luchs und Wolf beinahı verschwunden, sondern auch das Renntier, der Wisent, der Auerg und das Elentier sind als wilde Tiere ausgerottet, und in Nordamerik: wird der Büffel bald auch nur noch in gehegten Kolonien zu finde sein. Hier hat natürlich die direkte Zerstörung durch den übermächtige Feind, den Menschen, den größten Anteil an dem Schwinden diese Arten, und der Vorgang mag uns veranschaulichen, wie auch ein tierische überlegener Feind imstande sein kann, eine schwächere Art nach nach auszutilgen, ohne daß es für sie irgend eine erreichbar oder auch nur denkbare Abänderung gäbe, die sie vor diese Schicksal bewahren könnte. Mehrere der Säuger, die ich eben nann sind zwar noch nicht vollständig ausgerottet, selbst der Auerochs le noch in rein weißen Nachkommen in dem schottischen Parkrind, ab es gibt auch außer der Dronte noch mehrere Fälle von vollständige Vernichtung einer Art durch den Menschen in historischer Zeit. B der Seeotter, Enhydris marina, ist es vielleicht noch zweifelhaft, © sie ihres kostbaren Pelzes halber bereits vollständig ausgetilgt ist, ab von der mächtiger Seekuh, Rhytina Stelleri, steht es fest, daß sie u Ursachen des Aussterbens. 303 ‚ die- Wende des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts in der ' Behringstraße in Menge lebte, aber schon in wenigen ‚Jahrzehnten durch ı die Seefahrer vollständig ausgerottet wurde. | So vermögen wir uns nach dem, was gewissermaßen unter unseren ‚ Augen vor sich gegangen ist, eine ungefähre Vorstellung davon zu ‚ bilden, wie die Vernichtung von Arten unabhängig vom Menschen in | heutiger und in früheren Zeiten der Erdgeschichte eingetreten sein mag. Wanderungen der Arten haben unausgesetzt stattgefunden, denn jede ‚Art sucht fortwährend, wenn auch sehr langsam, sich auszubreiten und ‚neue Gebiete zu besetzen, also muß auch die Tier- und Pflanzengesell- ' schaft irgend eines Gebietes sich immer im Laufe der Zeiten geändert ‚haben, neue Arten müssen von Zeit zu Zeit eingewandert sein und die ‚ Lebensbedingungen verändert haben, und in gar manchen Fällen wird ‚ dies zum Untergang einer Art geführt haben, ähnlich, wenn wohl auch nieht so rasch, wie bei dem Eingreifen des Menschen in das Schicksal einer Art. Das gilt für Pflanzen, wie für Tiere. Ein schönes Beispiel zwar nicht für völlige Ausrottung. aber doch für bedeutende Verminderung -der Individuenzahl einer Pflanze durch das Eindringen einer Säuge- tierart berichtet uns Cuun von den Kerguelen. Eine dortige phane- rogame Pflanze, der Kerguelenkohl (Pringlea antiseorbutica) ist seit ‚dem unbedachten Aussetzen von Kaninchen auf dieser unbewohnten ‚ Insel (1874) bedeutend vermindert worden an Zahl. Während Kapitän | Ross 1840 diese Pflanze gegen den Skorbut seiner Mannschaft in großen ' Mengen verbrauchte und sogar noch in Vorrat auf Monate hinaus mit- ‚nahm, fand die Valdiviaexpedition 1898 Kaninchen zwar in Menge vor, ‚aber der Kerguelenkohl war an allen, diesen fruchtbaren und gefräßigen ' Nagern zugänglichen Stellen vollständig ausgerottet, und wuchs nur ‚noch an senkrechten Felswänden oder auf den in den Fjorden gele- ' genen Inseln. Ein Ausweichen der Art vor dem drohenden Untergang, eine An- passung derselben an die neue Situation wird nur bei sehr langsamen " Änderungen möglich sein, leichter deshalb bei physikalischen Änderungen der hedingungen, bei Klimaänderungen, Wechsel in der Verteilung von Land und Meer u.s.w. Aber es scheint, daß auch klimatische Ande- rungen solange keine Abänderung und Neuanpassung einer Art hervor- ‚rufen, als dieselbe noch durch Wanderung ausweichen kann. Das schon öfters angeführte Beispiel der alpinen und der arktischen Pflanzen be- weist wenigstens, daß diese Arten. die zur Eiszeit Bewohner des euro- | päischen Flach- und Hügellandes waren, beim Eintritt wärmeren Klimas sieh nicht alle diesem entsprechend veränderten, sondern zum Teil wenigstens dem Klima folgten, dem sie schon angepaßt waren, d.h. ‚einerseits gen Norden, andererseits auf die Alpen hinauf wanderten. Daß nicht auch manche Insekten und Pflanzen sich damals dem wärmeren Klima anpaßten und zu den heutigen, die Ebene bewohnenden Arten wurden, soll damit nicht geleugnet werden, denn es kommen ja vielfach nahe verwandte Arten auf den Alpen und in der Ebene vor, aber andere sind augenscheinlich dem ihnen nicht mehr zusagenden Klima einfach ausgewichen. So gibt es meines Wissens im südlichen und mittleren Deutschland keine Primelart, die man von der zierlichen rot blühenden Primula farinosa der Alpen ableiten könnte, diese Letztere aber findet sich außer auf dem ehemaligen Gletscherboden am Nordfuß 304 Artenentstehung und Artentod. der Alpen und auf ihnen selbst erst wieder im Norden von Deutsch- land, auf den Wiesen Holsteins. Solche Beispiele ließen sich au unter den alpin-arktischen Schmetterlingen namhaft machen. | Wir sind begreiflicherweise noch weit entfernt, uns auch nur ül die hauptsächlichen Wechsel in der Pflanzen- und Tierwelt der Erd- entwicklung genauere Rechenschaft geben zu können in bezug 2 die speziellen Ursachen, welche sie in jedem einzelnen Fall herve riefen; vermutlich wird uns die Zukunft mit einer ausgedehnter h Kenntnis der fossilen Reste aller Länder der Erde auch darin noch manche neue Einsicht bringen. Soviel aber darf auch jetzt schon gesagt werden, daß kein Grund vorliegt, das Aussterben der früheren Forme n auf etwas anderes zu beziehen, als auf den Wechsel der Lebensbedi > gungen, den Kampf um das Dasein und die durch den einmal erreichten Bau einer Art beschränkte Umwandlungs- und Anpassungsfähigkei : von einer phyletischen Lebenskraft in vitalistischem Sinne läßt sich au« h im Hinblick auf den Untergang der Arten nichts erkennen. / Ein E- XXXVI. VORTRAG. Urzeugung und Entwicklung; Schluß. 2 P- 305, Entscheidung durch das Experiment unmöglich p. 307, Nur und kleinste Lebensformen auf Urzeugung beziehbar p. 308, Chemische für die Brzeueung p- 309, EMPEDOCLES ins moderne übersetzt p. 310, der rzeugung p. 310, Steigerung der Organisation p. 311, Direkt und indirekt - Einflüsse p- 312, Die Stufen der Selektionsprozesse p. 314, Alles ruht p- 314, Herabsinken von schon erreichter Organisationshöhe p. 318, ahnen p. 319, Die bewirkenden Kräfte p. 319, Die Lebenssubstanz eine se p. 320, Prädeterminierung der irdischen Lebewelt? p- 320, Vielseitige eder Gruppe p- 321, Wassersäuger und Insekten, Schmarotzer p- 321, stimmt gerichtete Variation p- 322, Gleichnis vom Wanderer p. 323, p- 325, Mannigfaltigkeit der Lebensformen unbeschränkt p. 327, Die u Zweckmäßigen ohne zweckthätige Kräfte im Prinzip p. 327, Grenzen s p. 328, Beschränkung des menschlichen Geistes durch Selektion p- 329, Menschliches Genie p- 330, Schluß p. 332. ? Herren! Wir sind am Ende unserer Untersuchungen, die ofe n wenigstens Befriedigung gebracht haben, als sie uns Sicher- n Bezug auf die Haupt- und Grundfrage gaben, welehe in Bezug @ Entstehung der heutigen Organismenwelt gestellt werden kann: uns kein Zweifel darüber geblieben, ob die Deszendenzlehre be- ist; wir wissen jetzt eben so sicher, als daß die Erde um die läuft, daß die Lebewelt unserer Erde nicht auf einmal und nicht chaffen wurde, wie wir sie heute vor uns sehen, sondern daß sie lich, und zwar nach menschlichen Begriffen in ungeheuer langen ‚entwickelt hat. Das steht fest und wird nicht wieder zweifel- 1. Auch die Annahme, daß niedrige Organismen den Anfang ildet®n, und daß eine Steigerung vom Niedersten zum Höheren ten stattgefunden haben muß, wurde uns zu einer an Gewißheit hrecheinlichkeit. Einen Punkt aber haben wir noch nicht Hr Krage, woher denn diese ersten Organismen ge- £ yibt nur zwei Möglichkeiten: entweder sind dieselben von außen )smos auf unsere Erde übertragen worden, oder sie sind auf entstanden und zwar durch sog. „Urzeugung* oder (Grene- e8® könnten niederste lebende Wesen in Ritzen und pren versteckt auf unsere Erde niedergefallen sein und eine zur Entwicklung der Lebewelt gebildet haben, ist st von unserem genialen Chemiker Justus LieBiG ausge- ‚ allein sie ist wohl trotzdem unhaltbar. Es scheint "zu sein, daß die Glühhitze, in welche die Meteore 1, Doszondenzihcorie. ll. 2. Aufl. 2u ie le Idee ag we 506 Urzeugung und Entwicklung. beim Eindringen in unsere Atmosphäre geraten, nur die äußerste Rinde dieser kosmischen Sprengstücke ergreift und also lebende Keime, wel in der Tiefe ihrer Risse und Spalten stecken möchten, am Leben lasse könnte, aber dennoch ist es zweifellos unmöglich, daß irgend ein Ke auf diesem Wege lebend zu uns gelangte, weil er weder die ungehe Kälte ertragen könnte, noch die absolute Austrocknung, der er in de m gänzlich wasserfreien Weltraum ausgesetzt wäre, nicht einmal auf einige Tage, geschweige denn ungemessene Zeiträume hindurch. } Es kommt aber dazu noch ein anderer ganz allgemeiner Grund der darin liegt. daß alles Lebendige vergänglich ist, vernichtbar' nicht bloß sterblich! Es kann als Organisches völlig vernichtei und in anorganische Körper umgewandelt werden; nicht blof die Lebenserscheinungen uud der lebende Körper können zerstört werden sondern auch die Substanzen, welche die Grundlage alles Lebens bilden die organischen Verbindungen: sie zersetzen sich ununterbrochen ind zerfallen etappenweise in anorganische. Daraus scheint mir mit Noflh wendigkeit der Schluß hervorzugehen, daß die Basis der LIEBIG schen Idee nicht richtig ist, die Annahme nämlich, daß die „organische Substanz in demselben Sinn ewig und von jeher vorhanden sei als die anorganische“. Das ist offenbar nicht der Fall, denı ein Ding das ein Ende hat. kann nicht ewig sein, es muß auch einer Anfang gehabt haben, folglich sind die organischen Verbindungen nichts ewiges, sondern etwas passantes, etwas, das kommt und geht, das en steht, wo die Bedingungen dafür sich zusammenfinden, und das wiede in einfachere Verbindungen sich zerlegt, wenn diese Bedingungen auf hören dazusein. Ewig sind für uns nur die Elemente, nicht ihre Ver- bindungen, welch letztere vielmehr einem steten, langsameren ode schnelleren Wechsel unterworfen sind, seien sie nun außerhalb odeı innerhalb von Organismen entstanden. 4 Damit ist der Hypothese vom kosmischen Ursprung des irdischen Lebens, wie mir scheint, der Boden entzogen, jedenfalls die tiefere Be deutung; denn könnten wir selbst die Möglichkeit einer Zufuhr lebenden Organismen aus dem Weltraum her zugeben, so wäre doch mit einer solchen Annahme die Frage nur zurückgeschoben, nieht ge: löst, die eingewanderten Organismen müßten dann auf einem anderer Weltkörper entstanden sein, weil sie eben nicht von Ewigkeit her waren So sind wir also auf unsere Erde selbst als die Ursprungsst der tellurischen Lebewelt angewiesen, und ich sehe keine Möglichke der Annahme einer Urzeugung auszuweichen: sie *ist für uns ein logische Notwendigkeit. » Man hat sich noch in den fünfziger Jahren des 19. Jahrhundeı scharf über die Existenz einer Urzeugung herumgestritten. In ’ariser Akademie besonders bekämpften sich damals POUCHET ! Argumenten für und PASTEUR mit solchen gegen sie. Pou sah aus Infusionen von Heu und anderen pflanzlichen Stoffen, in de durch anhaltendes Kochen etwa anhaftende lebendige Keime zers worden sein sollten, dennoch lebende Organismen, Algen und Infusoner' entstehen. trotzdem die Glaskolben. welche die Infusion enthielten, zu geschmolzen aufbewahrt worden waren. PASTEUR aber zeigte dage daß die Luft in ihren sogenannten Sonnenstäubehen zahlreiche leben Keime niederer Wesen enthalte, und daß, wenn man diese vorher en fernt. die PoucHErschen Infusionen sich nicht wieder belebten. ließ die Luft, welche dureh den Kolben mit der Infusion kontinui u en re u Zn ei ze Bu Ar Me un an au - a — ! | | Urzeugung. 307 ' durehgeleitet wurde, vorher durch einen glühenden Flintenlauf streichen, zerstörte damit die Keime und erhielt so keine Organismen. Wie sehr die Luft wimmelt von Keimen zeigte er durch den Versuch mit ge- ' koehten Infusionen, die in einem Kolben mit offenem Hals längere Zeit ruhig hingestellt wurden, die einen auf dem Dach des Pariser Institutes, ‚ die anderen auf dem Gipfel des Puy de Döme in der Anvergne, der | damals noch der höchste Berg Frankreichs war. In den Pariser Ver- suchskolben stellten sich schon nach einer Reihe von Tagen Organismen ein, in denen der reinen Höhenluft exponierten auf dem hohen Berg- gipfel waren sie nach Monaten noch nicht erschienen. Man hielt merkwürdigerweise diese und ähnliche Versuche zu jener Zeit für beweisend gegen die Existenz einer Urzeugung. trotzdem es doch auf der Hand liegt, daß die ersten Lebewesen dieser Erde ‚ weder aus Heu. noch aus irgend einer anderen organischen Substanz | hervorgegangen sein können, weil eine solche das Leben schon voraus- setzt, dessen Entstehung man erklären will. Nachdem der glühende Erdball sich soweit abgekühlt hatte, daß seine äußerste Schichte zu einer festen Gruppe erstarrt war, und nachdem Wasser sich in tropfbar flüssiger Form verdichtet hatte, kann zunächst nur anorganische / Substanz vorhanden gewesen sein. Man hätte also versuchen müssen, aus irgend welchenı Gemenge anorganischer Verbindungen Organismen hervorgehen zu lassen, wollte man Urzeugung beweisen; widerlegen aber konnte man sie auf experimentellem Wege überhaupt nicht, da jeder negative Versuch nichts weiter beweist, als daß unter den Be- | dingungen des Versuchs Leben nicht entsteht. Damit ist natürlich nicht ausgeschlossen, daß es nicht unter anderen Bedingungen dennoch entstehen kann. | Man hat sich bis jetzt vergeblich bemüht, diese Bedingungen auf- zufinden, und ich glaube auch nicht, daß dies jemals gelingen wird, nicht | deshalb, weil diese Bedingungen etwa so absonderlicher Natur sein müßten, daß wir sie nicht herstellen könnten, sondern vor Allem deshalb, weil wir gar nicht im Stande wären, den glücklichen Erfolg unserer Versuche wahrzunehmen. Ich werde sie davon leicht überzeugen können. Stellen wir uns einmal die Frage, wie etwa Lebewesen beschaffen sein müßten, die durch Urzeugung entstünden, und andererseits von weleher Art von Lebewesen wir sicher behaupten können, daß sie nicht dureh Urzeugung entstanden sein können, so ist es klar, dab auf die Liste der Letzteren alle Organismen gesetzt werden müssen, welche die Existenz Anderer, von denen sie abstammen, voraussetzen. Dahin aber gehören von vornherein alle Organismen, die ein Keimplasma, ein Idio- plasma besitzen, denn dasselbe ist seinem Begriff nach aus Anlagen zu- sammengesetzt, welche sich in einer langen Vorfahrenreihe allmählich entwickelt und aufgehäuft haben. Also nicht blos alle vielzelligen Tiere und Pflanzen, welche sich durch Keimzellen, Knospen u. s. w. fortpflanzen, sondern auch alle Einzelligen gehören hierher. Denn auch sie besitzen eine Anlagensubstanz in ihren Kernen. ohne welche sie wie wir ge- sehen haben — ihren verstümmelten Körper nieht wieder zu ergänzen im Stande sind, ein Idioplasma:; daß dieses aber hier dieselbe Rolle spielt wie bei den Vielzelligen, können wir am sichersten aus dem Vorgang der Amphimixis schliesen, welcher hier in ganz analoger Weise verläuft, wie bei ‚Jenen. 308 Urzeugung und Entwicklung. Also auch wenn wir nicht wübten, was EHRENBERG schon in den dreißiger Jahren des verflossenen Jahrhunderts nachwies, daß Infusorien in eingekapseltem Zustand überallhin verschleppt, ja selbst im Passatstaub über die großen Ozeane hingeführt werden können, um beim Nieder fallen ins süße Wasser wieder zu neuem Leben zu erwachen, so würde wir doch nicht auf dem Standpunkte LOEWENHOERS stehen bleiben könney der sie in Infusionen durch Urzeugung entstehen ließ. Sie könne nicht so entstehen, noch jemals so entstanden sein, weil sie eine AÄnlagensubstanz enthalten, dienur historischen Ursprungs sein kann, und die deshalb niemals plötzlich, nach Art einer chemischen Verbindung entstanden sein kann. Und so verhält es sich mit allen Einzelligen, auch mit solchäu die viel einfacher gebaut sind, als Infusorien, deren Differenzierung in Rinden- und Marksubstanz, deren Mund- und Afteröffnungen, komplizieräil Wimperbesatz und vieles Andere gewissermaßen den höchsten Grad der Differenzierung einer Zelle bezeichnen. Aber auch eine Amöbe ist nur scheinbar einfach, sonst könnte sie nicht Fortsätze ausstrecken und ein- ziehen, in bestimmter Richtung kriechen, sich eneystieren u. s. w.. was Alles eine Differenzierung ihrer Teilchen nach verschiedenen Richtungen und eine bestimmte Anordnung derselben voraussetzt, gar nicht zu reden von dem wundersamen Teilungsapparat des Kerns, der doch auch hier nicht fehlt. Das Alles aber deutet wieder auf eine historische Entwi lung, eine allmähliche Erwerbung und gesetzmäßige Zusammenlagerung er Differenzierungen hin, und kann a wie ein Krystall oder eit chemische Verbindung plötzlich entstanden sein. So werden wir "auf die niedersten bekannten Organismen zurückverwiesen, und die Frage stellt sich nun so, ob diese kleinsten eben noch durch unsere stärksten Vergröberungen sichtbar werdende Lebewesen auf Urzeugung bezogen werden dürfen. Aber auch hier lautet die Antwort: „Nein“. denn wenn wir ZW hier keinen Kern mehr vorfinden, also auch keine Substanz, die wir n Sicherheit als Anlagensubstanz oder Idioplasma in Anspruch nehm dürfen, so finden wir doch auch hier bereits deutliche Zeichen historische Entstehung und nicht den von einer Urzeugung allein ableitbart einfachen Bau aus gleichartigen und nicht bestimmt geordneten lebende Teilchen. Erst die neueste Zeit hat gezeigt, daß der Typhusbazillt ein feinstes, vielfach verästeltes Wimperbüschel besitzt, mittelst desse er sich zitternd bewegt, und an dem Cholerabazillus unterscheit man Rinden- und Marksubstanz. Also auch hier schon eine Differe zierung nach dem Prinzip der Arbeitsteilung; und aus wie zahlreiel kleinsten Lebensteilchen muß eine Substanz bestehen, die sich zu feinen Fäden gestalten kann, wie die erwähnten Geibeln es sind! NÄGEI der schon ungefähr (den gleichen Gedankengang in Bezug auf Urzeugung entwickelt hat, berechnet die Zahl kleinster Lebensteilchen (seiner Mizell welche in einem „Moner“ von 0,6 mm Durchmesser etwa enthalten $ müßten, wenn man seine Trockensubstanz auch nur zu 10°, annimt und kommt zu der ungeheueren Zahl von 100 Billionen derselben. Nehm wir aber auch nur 0,0006 mm als Durchmesser eines solchen Organism so würden doch immer noch eine Million kleinster Lebensteilchen na (lieser Rechnung ihn zusammensetzen. Auch wir sind ja im Laufe (dieser Vorlesungen zu der Ü zeugung geführt worden, daß kleinste lebende Einheiten die Grundl der Organismen bilden, unsere „Lebensträger* oder „Biophore Urzeugung. 309 ' Sie müssen in ungezählten Scharen und in einer großen Menge von - Abarten in den verschiedenen Lebensformen vorhanden sein. alle aber darin übereinstimmen, daß sie ihrerseits einfach, d. h. nicht wieder aus lebendigen Teilchen zusammengesetzt sind, sondern nur aus Molekülen. deren chemische Konstitution, Kombination und Zu- sammenordnung eben eine solche ist, dab daraus die Erscheinungen des Lebens hervorgehen. Auch sie können sich verändern, und darauf beruht die Möglichkeit ihrer Differenzierung, wie sie im Laufe der Phylogenese in immer mannigfaltigerer Weise eingetreten ist. Auch “sie entstehen in den einmal vorhandenen Organismen wie alle Lebens- ' einheiten nur durch Vermehrung der schon einmal vorhandenen Bio- phoren, aber sie setzen nicht notwendig einen solchen histo- ‚rischen Ursprung voraus: von ihnen — wenigstens von ihren ‚ersten und einfachsten Formen — ist es denkbar, daß sie dureh Urzeugung einst entstanden sein können; sie allein lassen den Gedanken einer Entstehung durch rein chemisch-physikalische Ursachen, ohne Mitwirkung schon vorhandenen Lebens zu; nur ihnen gegen- ‚über ist Urzeugung nicht etwas Undenkbares. Wir werden also annehmen müssen, dab zu irgend einer Zeit der Erdgeschiehte die zur Bildung unsichtbar kleiner Biophoren nötigen , Bedingungen vorhanden gewesen sind, und daß die ganze folgende Ent- wieklung der Organismenwelt auf einer Summierung dieser Biophoren zu größeren Komplexen und auf ihren Differenzierungen innerhalb dieser Komplexe beruht habe. Also deshalb wird man Urzeugung niemals («direkt beobachten können, weil die niedersten Lebensteilchen, welche durch sie als selb- ständige Lebewesen, Biophoriden, entstehen könnten, so auberordent- lieh weit unter der Grenze der Sichtbarkeit liegen, dab keine Hoffnung ist, sie jemals direkt wahrnehmen zu können, auch wenn es gelänge, sie durch Urzeugung hervorzurufen. Auf das chemische Problem. welches die Urzeugung uns ent- gegenstellt, will ich nicht näher eintreten. Wir haben früher schon besprochen, daß das tote Protoplasma außer Wasser, Salzen, Phosphor, Schwefel und einigen anderen Elementen immer und hauptsächlich Ei- weiß enthält: ein eiweißartiger Körper müßte also aus anorganischen Verbindungen entstanden sein. Daß dies unmöglich sei, wird Niemand behaupten dürfen, da wir ja fortwährend eiweißartige Körper in den | en aus anorganischen Stoffen, Kohlen- und Stiekstoffverbindungen hervorgehen sehen: unter welchen Verhältnissen es aber in der freien Natur — d. h. außerhalb der Organismen möglich wird, darüber läßt sich heute noch nichts Bestimmtes sagen. Vielleicht wird es (dereinst gelingen, im Laboratorium Eiweiß aus unorganischen Verbindungen her- zustellen, und damit würde dann der Urzeugung ein festerer Boden geschaffen sein, wenn auch noch immer kein experimenteller Beweis. Denn totes Eiweiß ist zwar dem lebenden wohl nahe verwandt, aber eben das Leben mangelt ihm, und wir wissen bis jetzt nicht, welcherlei chemische Unterschiede zwischen totem und lebendem Eiweiß obwalten, ja wir müssen ehrlich eingestehen, daß es nur eine Annahme ist, wenn wir lediglich chemisch-physikalische Unterschiede zwischen beiden vor- aussetzen. Beweisen läßt es sieh bis zur Stunde nicht, daß in dem en Protoplasma nicht noch eine andere, unbekannte Kraft steckt, „Vitalistisches“ Prinzip, eine „Lebenskraft“, an deren Tätigkeit eben € die spezifischen Erscheinungen «des Lebens, vor allem der ewig 310 Urzeugung und Entwicklung. sich wiederholende Wechsel von Verbrennung und Wiedererzeugung der Lebenssubstanz, die Dissimilation und Assimilation, das Wachstum und die Vermehrung hängt. Ebensowenig aber läßt sich das Umge- kehrte beweisen, daß es unmöglich die chemisch-physikalischen Kräfte allein sein können, welche das Leben in einer ganz besonders zusammen- gesetzten chemischen Substanz hervorrufen. Wenn es auch bis jetzt trotz mancher Versuche noch nicht gelungen ist, eine derartige Kombi- nation chemischer Substanzen auszudenken, welche — wie es die wunder- same Lebenssubstanz tut — einerseits mit Sauerstoff verbrennt, dabei andererseits sich aber aus „Nahrungsstoffen“ immer wieder neu ergänzt, so dürfen wir doch nicht auf die Unmöglichkeit einer solchen rein chemischphysikalischen Grundlage des Lebens schließen, müssen sie vielmehr festhalten, solange nicht bewiesen wird, daß wir damit nicht ausreichen, nach dem Grundsatz, daß die Naturforschung erst da un- bekannte Kräfte annehmen darf, wo sie mit den bekannten nachweis- lich nicht auskommt. Wollten wir es anders machen, so würden wi (dlamit auf ein tieferes Eindringen in die Erscheinungen verzichten. Dazu liegt kein Grund vor, denn wir können uns sehr wohl im allgemeinen vorstellen, daß eine organische Substanz von genau abgemessener Zu- sammensetzung existiert, welche die Grunderscheinung alles Lebens” Verbrennung mit gleichzeitiger Wiederherstellung unter gewissen Be. dingungen an sich ablaufen lassen mub vermöge ihrer” Zusammen. setzung. | Wie und unter welchen äußeren Bedingungen eine solche Snb- stanz zum erstenmal auf der Erde entstanden ist, aus welchen Stoffer‘ sie sich gebildet. hat, darauf hat bis jetzt eine sichere Antwort nicht gegeben werden können. Wer weiß, ob nicht hier die phantastischer Ideen des EMPEDOCLES in abgeänderter Form Berechtigung hätten ich meine, daß zu jener Zeit der ersten Entstehung des Lebens die Bedingungen zu vielerlei komplizierteren chemischen Verbindungen au der Erde sich zusammenfanden. und daß nun von einer Mannigfaltig keit solcher Substanzen nur diejenigen Bestand hatten, w elehe gerade jene wunderbare Zusammensetzung besaßen, die ihre fortwährende Verbrennung, aber auch ihren ununterbrochener Wiederaufbau durch Vermehrung bedingte. Nach EMPEDOCLES entstanden aus dem Chaos nur Teile von Tieren, Köpfe ohne Körper Arme ohne Rumpf, Augen ohne Gesichter u. s. w., und diese wirbelter wild durcheinander und flogen zusammen. wie der Zufall sie zusammen führte. Aber nur diejenigen hatten Bestand, welche sich mit anderer in richtiger Weise zu einem lebensfähigen Ganzen vereinigten. In die Sprache unserer Zeit übersetzt, würde das etwa heißen, was ich eber sagte, daß von einer großen Menge von organischen Verbindungen, die entstanden, einige oder vielleicht nur eine gerade die wunderbar ab gewogene Zusammensetzung besaß, die das Leben und damit die Selbst‘ erhaltung und Vermehrung allein zur Folge hatte; das war dann de erste Fall von Selektion! | Doch lassen wir die Phantasien, und warten wir ab, ob die Chemiker uns nicht vielleicht doch noch Anhaltspunkte für ein besse begründetes Bild von der ersten Entstehung des Lebens liefern werden Kinstweilen müssen wir eingestehen, daß wir uns hier noch einem tiefei Dunkel gegenüber befinden. Auc h die Frage nach dem „Wo“ der Urzeugung ist nicht mi irgend welcher Sicherheit zu beantworten. Eini ge "haben gemeint! ir 2 ei Steigerung der Organisation. all den Tiefen des Meeres, andere am Strande, noch andere in der Luft. Wer will es erraten, ehe wir nicht einmal theoretisch die Bedingungen ‚und die Stoffe nennen können, aus welchen im Laboratorium Eiweib- artige Stoffe gebildet werden können? Am meisten Wahrscheinlichkeit ‘hat für mich immer noch die Vermutung von NÄGELT, nach welcher die ersten lebenden Teilchen nicht in einer freien Wassermasse ent- standen, sondern in der benetzten oberflächlichen Schicht einer fein porösen Substanz (Lehm, Sand), wo die Molekülarkräfte der festen, Hüssigen und gasförmigen Körper zusammenwirkten. -“ Soviel ist nur gewiß, daß, wo auch immer auf dieser Erde zuerst ‚ Leben entstand, dieses nur in Gestalt solcher niedersten und kleinsten , Lebenseinheiten auftreten konnte, die wir heute nur noch als Teilchen lebender Körper erschließen, die aber zuerst als selbständige Wesen entstanden sein müssen, als „Biophoriden“ Da diese der Voraus- setzung nach die Eigenschaft des Lebens besaßen, so müssen sie vor il -) Allem die Fähigkeit besessen haben, zu assimilieren im Sinne der | Pflanzen, d. h. aus unorganischen Verbindungen ihre Körpersubstanz immer neu wieder zu erzeugen, zu wachsen und sich zu vermehren. [Sie brauchen deshalb nicht gerade die chemische Konstitution des | Chlorophylis gehabt zu haben, an welchem ja bei den grünen Pflanzen diese Fähigkeit hängt, denn wir kennen farblose Pilze, welche trotz dem ' Mangel des Chlorophylis aus Kohlenstoff- und Stickstoffverbindungen die Substanz ihres Körpers zu bilden vermögen. Der erste Fortschritt zu einer höheren Stufe des Lebens wird dann durch die Vermehrung herbeigeführt worden sein, indem sich da- durch Anhäufungen von Biophoriden, ungeordnete, aber aneinander- hängende Massen derselben bildeten. Dabei wurde dann allmälig die Schwelle mikroskopischer Sicht- ) barkeit erreicht und überschritten, doch wird — nach heutigen Bazillen zu schließen — lange vorher schon eine Differenzierung der Biophoren nach dem Prinzip der Arbeitsteilung eingetreten sein innerhalb einer solehen Biophoridenkolonie. Diese ersten Schritte zu höherer Organi- sation müssen wohl ungeheuere Zeiträume in Anspruch genommen haben, denn ehe nur irgend welche Differenzierung eintreten und einen Vor- teil bringen konnte, mußte der ungeordnete Haufen von Biophoriden sich erst ordnen und einen festen Verband darstellen von bestimmter Gestalt und bestimmtem Bau, etwa vergleichbar den kugeligen Zellen- kolonien der Magosphaera oder Pandorina. Dann erst kam der weitere Schritt einer Differenzierung der die Kolonie bildenden Einzelbiophoren hinzu, vergleichbar etwa den Volvoxarten unter den niederen Algen. Die allmähliche weitere Steigerung solcher Biophorenkolonien wird dann auf dieselben Prinzipien zu beziehen sein, welchen wir auch die Steige- rung der höheren Lebensformen zu noch immer höheren und immer wieder anderen Differenzierungen zuschreiben: auf die Prinzipien der Arbeitsteilung und der Selektion. Mit den in sich differenzierten Kolonien von Biophoriden sind wir denn schon näher an die niedersten bekannten Organismen heran- gt, unter welchen ja auch solche sich befinden, die wir nur aus — Krankheit-erregenden — Wirkungen erschließen, ohne sie aber, bis jetzt wenigstens, sichtbar machen zu können. Der Masern- bazillus ist bis heute noch nicht gesehen worden, obwohl ein Zweifel an seiner Existenz nicht gestattet ist, und man wird wohl annehmen dürfen, daß es Bazillen von so bedeutender Kleinheit gibt, daß wir sie 312 Urzeugung und Entwicklung. | auch mit den günstigsten Färbemethoden und unseren stärksten Ver-' gröberungen niemals sehen werden. Diese kernlosen Moneren führen dann zur Stufe der Ker nbildung, womit zugleich die Zelle gegeben ist. Da der Kern nach unserr An- sicht in erster Linie ein Depot von „Anlagen“ ist, so wird seine Ent- stehung von dem Moment an begonnen haben, in welchem die Diffe- renzierung des Körpers einen solchen Grad von Verschiedenheit seiner Teile hervorrief, dab eine mechanische Teilung in zwei gleiche Hälften nicht mehr möglich war, dab also jede der Teilungshälften, falls sie. sich wieder zum Ganzen entwickeln sollte, eines Depots von Anlagen’ bedurfte, welches die fehlenden Teile hervorrufen konnte. Da die höhere Differenzierung eine Überlegenheit über niedere Lebensformen setzen‘ mußte, indem sie die Ausbeutung neuer Lebensbedingungen gestattete, andererseits aber dieselbe nur dann Bestand gewinnen konnte, wenn! mit ihr zugleich auch die Differenzierung eines Anlagendepots, d.h. eines Kernes eingeleitet wurde, so läßt sich die Kernbildung dem Nützlichkeitsprinzip unterordnen, auf welches wir alle Entwicklung zum Höheren, Ditferenzierteren zurückführten. Doch wäre es kaum von Vorteil, die Herleitung dieser ersten Steigerungen der Organisation aus dem’ Selektionsprinzip im Speziellen durchführen zu wollen, da wir über! das Leben niederster Organismen doch noch allzu wenig wissen, um über die Nützlichkeit dhren Differenzierungen für ihre Lebensfähigkeit urteilen zu können. Selbst bei den Einzelligen wäre das immer noch ein gewagtes Unternehmen, und erst bei. den Vielzelligen können wir mit größerer Sicherheit sprechen, und bestimmt den Wechsel der äußeren Ein- flüsse im allgemeinsten und vielfachsten Sinn als die Wurzel dauernder Veränderungen der Organismenformen erkennen. Wir unterscheiden hier mit Sicherheit direkten und indirekten Ein- fluß der änßeren Einwirkungen, und sehen, wie diese Quellen der Ver- änderung in sehr merkwürdiger Weise ineinandergreifen. Die unterste und tiefste Wurzel der Veränderung ist ohne Zweifel die direkte Wirkung veränderter Bedingungen. Ohne sie hätte die indirekte keine Handhabe zum Eingreifen, es fehlten eben dann die primitiven Anfänge der Variation, und ein Summieren derselben durch Personal-' selektion könnte nicht eintreten. Es ist eine Ureigenschaft der Lebens- | substanz variabel zu sein, d. h. veränderten äußeren Einflüssen bis zu einem gewissen Grade nachgeben zu können und sieh ihnen entsprechend zu verändern, oder — wie man auch sagen könnte — in vielen sehr ähnlichen, aber doch nicht identischen Stoll- , kombinationen existieren zu können, und wir werden uns vorzustellen haben, daß schon die ersten, durch Urzeugung entstandenen Biophoriden verschieden waren, je nach den Bedingungen, unter welchen, und den Stoffen, aus welchen sie entstanden. Und von jedem dieser um ein (reringes verschiedenen Anfänge muß (dann im Laufe der Vermehrung durch Teilung em ganzer Stammbaum divergierender Variationen «er Urbiophoride ausgegangen sein, da es nicht denkbar ist, daß alle Nach- kommen derselben stets unter denselben Lebensbedingungen verharrten, unter welchen sie entstanden waren, und da jede dauernde Veränderung in den Bedingungen der Existenz, vor Allem der Ernährung, auch eine Variation in der Konstitution des Wesens nach sich ziehen mußte, dessen Lebensvorgänge, vor allem dessen Stoffersatz eben aus diesen Bedingungen hervorging. Steigerung der Organisation. 315 Nun sind. aber die äußeren Einflüsse, welche die Nachkommen einer bestimmten Lebensform trafen, niemals auf die Dauer dieselben geblieben. Nicht nur, dab im Laufe der Zeiten sich mit der Abkühlung der Erde die Obertläche derselben und die klimatischen Bedingungen änderten. daß Gebirge sich erhoben, und wieder abgetragen wurden, alte Landflächen versanken oder neue emportauchten u. s. w. — das alles hat natürlich auch mitgespielt bei der Umprägung der Lebens- formen, aber in erheblicher Weise doch erst später, als es sehon höher differenzierte Organismen gab. Jene unbekannten, primitivsten Anfänge des Lebens aber müssen schon durch die verschiedenen Situationen des gleichen Ortes, in die sie gerieten, zum Auseinanderweichen in ver- schiedene Variationen veranlaßt worden’ sein. Denken wir uns einfachste, mikroskopische Moneren auf dem Schlamm der Meeresküste, ausgerüstet mit der Fähigkeit pflanzlicher Assimilation, so mußte allein schon ihre unbegrenzte Vermehrung Verschiedenheiten der Ernährung setzen, indem die oben Liegenden stärker belichtet wurden, als «die unten Liegenden, also auch stärker sich ernährten, folglich auch die dadurch etwa gesetzten Veränderungen auf ihre durch Teilung entstehenden Nachkommen übertrugen. So könnten denkbarerweise schon allein durch günstigere und ungünstigere Position zum Licht zwei verschiedene Rassen von gleicher Stammform ausgegangen sein, und wie «dies mit dem Licht denkbar ist, so auch mit allen anderen Einwirkungen auf den Organismus, welche ihn verändern. Wir haben früher gesehen, daß solehe durch direkte Beeinflussung der Lebensvorgänge entstandenen Veränderungen bei den niedersten (kernlosen) Lebensformen sich «direkt auf die Nachkommen übertragen, daß aber bei allen denjenigen, deren Körper sich schon in eine Keim- oder Anlagensubstanz im Gegensatz zu einer Körpersubstanz im engeren Sinn gesondert hat, eine solche erbliche Ubertragung nur für die Ver- änderungen dieser Keimsubstanz möglich ist. erbliche Variationen der Art können bei diesen also nur noch auf dem Umweg der Beein- flussung der Keimsubstanz entstehen: der Körper (Soma) kann zwar sehr wohl durch äußere Einflüsse, durch Übung eines Organs oder durch Nichtgebrauch desselben verändert werden, aber solche Abände- rungen vererben sich nicht, werden also auch kein dauernder Besitz der Art, sondern vergehen mit dem Individuum; es sind passante Abänderungen. So müssen also allein schon durch alle solehe äußere Einflüsse, die von dem eigenen Soma gesetzten mitgerechnet —, welche überhaupt die Keimsubstanz als Ganzes oder nur in einzelnen Anlagen treflen, erblich übertragbare Variationen des Organismus entstehen, und wir haben ja ausführlich besprochen, wie aus dem Kampf der Teile inner- halb der Keimsubstanz durch Bevorzugung einzelner Anlagengruppen bestimmte Variationsrichtungen hervorgehen können, die allein für sich schon imstande sind, das Artbild nach diesen Richtungen hin weiter und weiter zu verändern. Dennoch aber würde auf diese Weise allein niemals eine so un- endliche Mannigfaltigkeit von Lebensformen haben entstehen können, wenn nicht dazu eine andere Art der Wirkung wechselnder äußerer i gekommen wäre, die indirekte. Diese besteht «darin, daß die direkt entstandenen Veränderungen bei ihrer Steigerung früher oder später Einfluß auf die Lebensfähigkeit ihrer Träger gewinnen, indem sıe (dieselbe erhöhen oder herabsetzen. 314 Urzeugung und Entwicklung. Darauf, in Verbindung mit der unbegrenzten Vermehrung der Individuen, beruht das Umwandlungsprinzip, welches in die Wissenschaft eingeführt zu haben, das unsterbliche Verdienst von CHARLES DARWIN und ALFRED R. WALLAcE bleiben wird: das Prinzip der Selektion. Wir haben gesehen, daß diesem Prinzip eine noch weit umfassendere Bedeutung zukommt, als diese beiden Forscher annahmen, dab es nicht bloß einen Kampf der Individuen gibt, der «diese ihren Lebensbedingungen anpaßt, | indem er immer die bestvariierenden erhält, die ungünstig variierenden verwirft, sondern daß ein analoger Kampf zwischen den Teilen dieser Individuen stattfindet, welcher, wie WILHELM Rovx zeigte, die An- | passung der Teile an die Funktion vermittelt, ja daß dieser Kampf der Teile auch zwischen den Determinanten und Biophoren des Keimplasmas angenommen werden muß, daß es eine Germinalselektion gibt, einen Wettkampf der kleinsten und der größeren Lebensteilchen des Keim- | plasmas um Raum und Nahrung, und daß erst aus ihm jene bestimmt und zugleich zweckmäßig gerichteten Variationen des Individuums hervorgehen, welche erblich sind, weil sie in dem unsterblichen Keim- plasma ihren Sitz haben, und ohne welche eine Anpassung der Individuen in dem Sinn und dem Grade, den wir tatsächlich beobachten, überhaupt nicht denkbar wäre. Ich suchte Ihnen zu zeigen, daß die gesamte Ent- wicklung der Lebewelt wesentlich durch Selektionsprozesse geleitet wird, insofern Anpassungen der Teile aneinander, wie des Ganzen an die ' Lebensbedingungen nur «durch sie denkbar sind, daß alle Schwankungen in der Organisation von den alleruntersten bis zu den höchsten durch dieses Prinzip in bestimmte Bahnen gezwungen werden, durch das „Überleben des Passendsten“. Der ganze Streit, ob es indifferente, für die Existenz gleichgültige „Charaktere“ gibt, hört damit auf, denn auch die für die „Person“ gleichgültigsten Charaktere würden nicht da sein, wenn nicht die sie bedingenden Keimesanlagen (Determinanten) im Kampf ums Dasein über andere ihres Gleichen den Sieg davon ge- tragen hätten, und auch solche „gleichgültige“ Charaktere, welche lediglich auf klimatischen oder sonstigen äußeren Einwirkungen beruhen, ver- (lanken doch ihre Existenz germinalen Selektionsprozessen, indem eben diejenigen Elemente der betreffenden Determinanten den. Sieg davon- trugen, welche unter solchen Einwirkungen am besten prosperierten. Steigern sich aber solehe durch äußere Einwirkungen hervorgerufene Abänderungen soweit, daß sie die Existenz ihrer Träger benachteiligen — nun dann sind sie für diese eben auch nieht mehr gleichgültig, und werden entweder durch Personalselektion beseitigt oder falls dies nicht mehr möglich ist, so führen sie den Untergang der Art herbei. So beruht das ganze Heer kleiner individueller Unterschiede, wie es wohl bei jeder Art vorhanden ist, wie es uns aber beim Menschen am auf- fallendsten entgegentritt, die Unterschiede in der Mund-, Nasen-, Augen- bildung, in der Behaarung, in der Hautfarbe u. s. w., soweit dieselben nicht etwa von Bedeutung für den Kampf ums Dasein sind, nur auf den germinalen Selektionsprozessen, die hier die eine, dort die andere Determinantengruppe oder Biophorenart zu stärkerer Ausbildung kommen ließen. Das einmal erreichte Kräfteverhältnis zwischen den Elementen des Keimplasmas verliert sich auch nicht sofort wieder, sondern geht auf die folgenden Generationen über, und so vererben sich auch solehe „gleichgültige“ Charaktere. Es leuchtet ‚ein, daß, wenn «das Prinzip der Selektion überhaupt wirksam ist in der Natur, es überall wirksam sein muß, wo lebende Ei ä hi Steigerung der Organisation. 315 Einheiten miteinander um die gleichen Erfordernisse zum Leben ringen, um Nahrung und um Raum. nicht bloß Personen, sondern jede Kategorie von Lebenseinheiten von den unsichtbaren kleinsten bis zu den größten hinauf. Denn für alle sind die Grundlagen des Selektionsvorganges gegeben: individuelle Variabilität, Ernährung und Vermehrung, Vererbung der erlangten Superiorität, und andererseits Be- grenztheit der Existenzbedingungen: Nahrung und Raum. Der daraus resultierende Kampf ums Dasein muß bei jeder Kategorie von Lebenseinheiten unter ihres Gleichen immer am stärksten sein, wie dies DArwın für die Arten von Anfang an hervorhob, und dauernde Abänderungen einer Art von Lebenseinheiten werden nur durch diese Art des Kampfes zustande kommen. Man mübte also genau genommen so viele Arten von Selektionsprozessen unterscheiden als es Kategorien von Lebenseinheiten gibt, und diese würden dann wohl kaum scharf voneinander zu trennen sein, abgesehen davon, dab wir viele davon nur erschließen müssen und sie nicht in ihren Absfufungen zu erkennen vermögen. Wir müssen also hier wie überall die Kontinuität der Natur in künstliche Gruppen zerlegen, und da dürfte es sich für jetzt am meisten empfehlen, vier Hauptstufen von Selektionsprozessen, statt einer unendlichen Zahl derselben, anzunehmen, und zu unterscheiden, entspre- chend den Hauptstufien und Hauptbedingungen der Lebenseinheiten, nämlich Germinalselektion, Histonalselektion, Personalselek- tion und Cormalselektion. Histonalselektion begreift alle Ausleseprozesse in sich, die zwischen den Elementen des Körpers (Soma) im (regensatz zu dem Keimplasma der Metazoen und Metaphyten ihren Ablauf nehmen, nicht nur zwischen den „Geweben“ sensu strietiori, sondern auch zwischen den Teilchen der Gewebe, d. h. den niederen Lebenseinheiten, welche dieselben zusammensetzen, und die WILHELM Roux zurzeit der Auf- stellung seines „Kampfes der Teile“ als „Molekel“ bezeichnete, also zwischen allen Teilen der Gewebe bis zu den niedersten Lebensein- heiten, den Biophoren hinab. Auch wollen wir zur Histonalselektion diejenigen Ausleseprozesse zählen, welche sich zwischen den Elementen der niedersten Lebewesen abspielen, und durch welche dieselben all- mählich zu größerer Kompliziertheit des Baues und der Steigerung ihrer Leistungsfähigkeit gelangt sind. Solange sich noch keine besondere Vererbungssubstanz differenziert hatte, mußten Abänderungen, welche durch derartige Selektionsprozesse an niedersten Wesen entstanden waren, notwendig auf die Nachkommen sich vererben, nachdem aber diese Differenzierung eingetreten war, konnte dies nicht mehr geschehen, „erworbene“ Abänderungen des Soma vererbten sich nicht mehr, und die Bedeutung der Histonalauslese blieb beschränkt auf das einzelne Individuum. Für die gegenseitige Anpassung der aus dem Ei hervor- wachsenden Teile, hauptsächlich während der Entwieklung muß diese Ausleseform von größter Bedeutung sein, aber auch während des ganzen Lebens unentbehrlich zur Erhaltung des Gleichgewichts der Teile und ihrer Anpassung an die wechselnde Stärke der von ihnen verlangten Leistungen (Übung oder Nichtgebrauch). Aber ihr Einfluß reicht direkt nicht über das Leben des Individuums hinaus, da sie nur „passante* Veränderungen hervorrufen kann, d. h. solche, welche mit dem Indi- viduum vergehen. Ihr gegenüber steht die Germinalselektion, welche auf dem Kampf der Teile des Keimplasmas beruht, also nur bei den Organismen 316 Urzeugung und Entwicklung. mit Ditferenzierung von Körper und Keimplasma vorkommen kann, vor allem bei Metazoen und Metaphyten, und welche bei ihnen die Grund- lage aller erblichen Abänderungen schafft. Aber nicht jede durch Germinalselektion hervorgerufene” individuelle Abänderung hat Bestand und verbreitet sich allmählich über die ganze Art, sondern, wenn wir von den vorhin erwähnten Fällen absehen, in welchen indifferente Ab- änderungen durch die Gunst äuberer Umstände zum Sieg gelangen, nur dann, wenn sie für ihren Träger, das Individuum, von Nutzen sind. Irgend eine Abänderung entsteht im einzelnen Individuum rein durch (rerminalselektion, allein erst die höhere Selektionsform der Personal-. selektion entscheidet darüber, ob diese Abänderung Bestand haben! und sich ausbreiten soll über viele Nachkommen, so daß sie zuletzt Gemeingut der Art wird. Germinal- und Personalselektion greifen also. fortwährend ineinander, zunächst derart, daß Germinalselektion der Personalselektion erbliche Abänderungen zur Auswahl anbietet, und daß. letztere die schädlichen verwirft, die nützlichen annimmt. Ich will nicht ausführlich wiederholen, in wie merkwürdiger Weise Personalselektion nun wieder rückwirkt auf Germinalselektion, indem sie diese verhindert weiterhin noch ungünstige Variationen anzubieten, sie vielmehr zwingt, die günstigen in immer gesteigerter Potenz hervorzubringen. Indem! sie scheinbar nur die bestangepabten Personen zur Nachzucht aus wählt, wählt sie in Wahrheit die günstigten Id-Kombinationen «des Keim- plasmas, d. h. diejenigen, welche die meisten günstig variierenden Deter- minanten enthalten. Wir sahen. daß dies auf der Vielheit der Ide im Keimplasma beruht, darauf, daß jede Körperanlage (Determinante) nicht bloß einmal in ihm gegeben ist, sondern viele Male, und daß die im’ Keimplasma eines Individuums enthaltenen homologen Determinanten immer nur zur Hälfte in jede seiner Keimzellen gelangen, und zwar m jeder wieder in anderer Kombination. So wird also mit der Verwerfung eines Individuums durch Naturzüchtung in Wahrheit eine bestimmte Kombination von Iden, eine bestimmte Keimplasmaart verworfen, und. von weiterem Einfluß auf die Gestaltung der Art ausgeschlossen. dureh wird dann zuletzt wieder Germinalselektion beeinflußt, i bloß solche Ide in den nicht verworfenen Keimplasmen enthalten bleiben. deren Determinanten in der für die Art nützlichen Variationsrichtung begriffen sind. So geschieht, was wir noch vor kurzem für undenkbar hielten, daß die Lebensbedingungen die nützlichen Variations- richtungen hervorrufen, nicht direkt allerdings, wohl aber indirekt. \ Als eine vierte Stufe der Selektion können wir die Cormal- selektion bezeichnen, d. h. den Ausleseprozeß, der die Anpassung der Tier- und Pflanzenstöcke, Kormen, bewirkt und der auf dem Kamp! der Stöcke untereinander beruht. Er unterscheidet sich von Personal selektion nur dadurch, daß hier nicht die Güte der einzelnen Person entscheidet, sondern diejenige (des Stockes, als ganzem. Es ist dabei einerlei, ob es sich um Stöcke im wirklichen, materiellen Sinn, oder nur im idealen des Zusammenlebens einer großen, durch Arbeitsteilung‘ gegliederten Familie handelt. In beiden Fällen, beim Polypenstock, wie beim Termiten- oder Ameisenstaat ist es das Gesamtkeimplasma dei Familie in allen seinen verschiedenen Personalformen, welches hier ver worfen oder angenommen wird. Der Unterschied von Personalselektion” ist schon deshalb kein tiefgreifender, weil doch auch hier im Grunde nur die beiden Geschlechtstiere selektiert werden, freilich nieht blol Steigerung der Organisation. 317 ihren sichtbaren. sondern auch nach ihren unsichtbaren Eigen- en, nach denen nämlich, welche in ihrem Keimplasma die Be- »haffenheit ihrer neutralen oder nur ungeschlechtlich (Polypen) sich ortpflanzenden Nachkommen bestimmen. - Sonach durfte ich wohl sagen, daß alles in der Welt des ebendigen, was Dauer und Bedeutung hat, auf Anpassung sruht und durch Sichtung der sich darbietenden Variationen tstanden ist, also dureh Selektion. Alles ist Anpassung, kleinste und einfachste, wie das größte und komplizierteste, denn > es das nicht. so könnte es nicht im Leben beharren, nicht fort- iern, es müßte zugrunde gehen. Das Prinzip, welches schon EMPE- SLES in phantastischer und absonderlicher Form aufstellte, ist das herrschende, und ich muß auf dem beharren, was mir so manches mal ‚als Übertreibung vorgeworfen wurde: es beruht alles auf Anpassung und alles wird geregelt durch Selektionsprozesse. Von (dem on Anfang des Lebens an bis zu seinen höchsten Höhen hinauf ist nur das zweckmäßige dauernd entstanden, weil die Lebensein- jeden Grades fort und fort sortiert wurden nach ihrer Brauch- sit, und der stete Kampf um die Existenz stets wieder das bessere vorrief und siegen ließ. Darauf beruht nicht nur die unendliche igfaltigkeit der Lebensformen, sondern vor allem auch die damit eng verknüpfte Steigerung der Organisation. Nicht in jedem Einzelfall, wohl aber im großen und ganzen läßt zeigen, dab das Erreichen einer höheren Stufe der Örgani- tion auch ein Übergewicht im Kampfe ums Dasein be- de e tet, daß sich damit neue Lebensmöglichkeiten eröffnen, Anpassungen “ ‚bisher nicht ausnützbare Situationen, Nahrungsquellen oder Zutluchts- irte. So stieg ein Teil der niederen Wirbeltiere aus dem Wasser auf s Land heraus, und paßte sich dem Leben auf dem Trockenen und Luft an, zuerst nur als schwerfällig sich dahinschleppende Molche, auch als springende Frösche: so steigerten sich andere Abkömm- > der Fische zu größerer Tragkraft der Beine, zur Emporhebung E heichter gewordenen Rumpfes vom Boden und so zum raschen der Eideehsen. zum blitzschnellen Sprung der Baumagamen, zum en Schweben in der Luft des fliegenden Drachen und schließlich lauerndem Flug, wie wir ihm schon in den Flugeidechsen und Ur- eg der Jurazeit begegnen, und wie er noch heute bei den Vögeln ıd Fledermäusen unserer eigenen Lebensperiode Bestand hat. - Es leuchtet ein, dab jede dieser Gruppen mit ihrer Entstehung I zugleich ein neues Lebensgebiet eroberte, und bei vielen derselben r dieses ein so weites und enthielt wieder so viele spezielle Lebens- glich eiten, daß zahlreiche Unteranpassungen entstanden, und die ni sich in viele Arten und Gattungen, in Familien und oft auch "Ordnungen spaltete. 5:3 Das alles geschah nicht auf Grund einer in ihnen liegenden be- it gerichteten Entwicklungskraft geheimnisvoller Art, die sie ge- hätte, gerade in dieser und in keiner anderen Richtung zu vari- n, 1, sondern lediglich durch den Wettbewerb aller in steter ungeheurer z begriffenen Lebensformen und Lebenseinheiten um die Exi- Sie. waren und sind noch heute zu jeder Zeit gezwungen sich f neuen, für sie erreichbaren Lebensmöglichkeit anzupassen; sie nen dies auf Grund der Fähigkeit der niedersten Lebenseinheiten r Keime, sich in zahlreichen men auszubilden, und sie müssen \ 318 Urzevgung und Entwicklung. es, weil aus der unendlichen Masse der Nachkommen aller Stufen von Lebenseinheiten immer nur die besten übrig bleiben. So zweigten sich von niederen Typen von Zeit zu Zeit immer wieder höhere ab, ohne daß doch jene niederen Stammtypen deshalb auszusterben brauchten; wie hätten sie auch verschwinden sollen, solange ihre Lebensbedingungen noch andauerten? nur der ÜUberschuß der Stammformen paßte sich neuen Lebensbedingungen an, und da dazu in vielen Fällen eine höhere Organisation gehörte, so entstand das Bild einer allgemeinen Aufwärtsentwicklung und täuschte so ein nach oben gerichtetes Entwicklungsprinzip vor. Aber wir wissen ja wohl, daß es auf vielen Punkten dieses langen Weges Stationen gegeben hat, wo einzelne Gruppen Halt machten und abschwenkten zurück zu niede- rer Organisation. Fast immer bedingt schmarotzende Lebensweise derartige Umkehr, und oft geht dieselbe soweit, dab es schwer fällt, die Zusammengehörigkeit des Schmarotzers mit seinen freilebenden nächsten Verwandten noch zu erkennen. Manche schmarotzende Krebse, wie die Rhizozepalen oder Wurzelkrebse sind geradezu aller typischen Charaktere des Krustazeenkörpers bar, entbehren nicht nur der Segmen- tierung, des Kopfes und der Gliedmaßen, sondern sogar eines Magens und Darms:; wie wir sahen, ernähren sie sich wie niedere Pilze durch (las Aufsaugen der Säfte ihrer Wirte mittelst wurzelartiger Auswüchse von der Stelle ihren früheren Mundes aus. Immerhin kann man bei ihnen «die Verwandtschaft mit den Cirrhipedien oder Rankenfüßern durch ihre Larvenzustände nachweisen, aber es gibt Schmarotzer in den Nieren der Tintenfische (Cephalopoden), die Dieyemiden, bei welchen die Forscher heute noch zweifelhaft sind, ob sie einer niederen. nur durch sie ge- bildeten Klasse von Tieren angehören, die zwischen Einzelligen und Metazoen stehen würde, öder aber, ob sie durch Parasitismus zu sonst unerhörter Einfachheit des Baues herabgesunkene Würmer vom Stamme der Plattwürmer sind. Sie bestehen nur aus einer Schicht von wenigen äußeren Zellen, welche eine einzige große Innenzelle umschließen, be- sitzen keinerlei Organe, weder Mund noch Darm, weder Nervensystem noch besondere Fortpflanzungsorgane. Wenn aber in diesem Falle die Rückbildung nicht festzustellen ist, so gelingt dies doch in hunderten von anderen Fällen mit vollkommener Sicherheit, wie wir denn z. B. bei den auf Fischen schmarotzenden kleinsten Krustern aus der Ordnung der Kopepoden alle möglichen Stufen der Rückbildung vorfinden, je nach dem Grade des Parasitismus, d. h. der größeren oder geringeren (ebundenheit an den Wirt. Denn genau entsprechend dem Bedürfnis, verkümmern und schwinden die Organe und zeigen uns so, daß auch die Rückbildung unter der Herrschaft der An- passung steht. Also auch die Abwärtsentwicklung hat ihren Grund in der Fähig- keit der lebenden Einheiten, auf veränderte Einflüsse durch Variationen zu antworten, und auf dem Überleben der passendsten unter (diesen. So liegt also die Wurzel aller Umwandlungen der Organismen in dem Wechsel der äußeren Einflüsse. Stellen wir uns einen Augenblick vor, dieselben hätten von der Urzeugung an absolut gleichbleiben können, so würde keinerlei Variation und keine Entwicklung eingetreten sein. Da (dies aber undenkbar ist, da schon mit dem bloßen Wachsen der ersten lebenden Substanz die sie zusammensetzenden Biophoren ver- schiedenartigen Eintlüssen ausgesetzt werden mußten, so war auch Entwicklungsrichtungen. 319 Variation unvermeidlich und die ganze Folge derselben: die Entwick- lung einer Organismenwelt. Die äußeren Einflüsse wirkten dabei in doppelter Weise und zwar auf jede Stufe von Lebenseinheiten, nämlich direkt verändernd und dann selektierend, auswählend. Nicht nur die Biophoren, sondern auch jede Stufe von Kombinationen derselben, die histologischen Ele- mente, Chlorophylikörper, Muskeldisdiaklasten, Zellen, Organe, Individuen und Stöcke können sowohl direkt durch außer ihnen gelegene Einwir- kungen verändert werden, als auch in bestimmte Veränderungsbahnen dadurch gelenkt werden, daß unter den so entstandenen Variationen die einen den Bedingungen besser angepaßt sind, als die anderen, also auch besser prosperieren, und allein einen Grundstock zur Weiterentwicklung abgeben. So kommen bestimmte Entwicklungsriehtungen zustande, die nicht blind und starr vorwärtsrücken, wie eine Lokomotive, die nun einmal unabänderlich an das Eisengeleise gebunden ist. sondern genau entsprechend den äußeren Bedingungen, wie ein freier Wanderer, der über Berg und Thal hin überall da seinen Weg nimmt, wo es ihm am besten behagt. Die letzten bewirkenden Kräfte bei dieser vielgestaltigen Entwick- lung sind die bekannten, vielleicht auch — ohne daß wir es bis jetzt erkennen — noch unbekannten chemisch-physikalischen jedenfalls nur gesetzmäßig wirkenden Kräfte, und daß dieselben so wunderbare Leistungen zustande bringen, liegt daran, daß sie zu eigentümlichen, oft sehr komplizierten und unendlich verschiedenartigen Kombinationen verbunden sind, also genau an demselben Umstand, der die Leistungen irgend einer vom Menschen ersonnenen und ausgeführten Maschine be- ding. Auf der Kombination der Kräfte beruhen alle komplizierten Wirkungen. Das beginnt schon bei den chemischen Verbindungen, deren Eigenschaften ja ganz an der Zahl und Zusammenordnung der Grundstoffe hängen, aus welchen sie bestehen: die Atome von Kohlenstoff, Wasserstoff und Sauerstoff, welche den Zucker bilden, können auch zu Kohlensäure und Wasser kombiniert sein, oder zu Alkohol und Kohlen- säure, und ganz ebenso wird es sich verhalten, wenn wir von den noch unbelebten kompliziertesten organischen Molekülen zu denjenigen chemischen Verbindungen emporsteigen, deren noch gesteigerte Kombi- nation die Erscheinungen des Lebens bedingt, zu den niedersten Lebens- einheiten, den Biophoren. Nicht nur unterscheiden sie sich von jenen eben durch das Leben, sondern sie können auch selbst wieder in zahl- losen Modifikationen auftreten, und können untereinander zu höheren Einheiten verbunden werden, deren Eigenschaften und Wirkungen dann wieder von dieser Kombination abhängen. Wie der Mensch Metall als Rädchen, Plättehen, Ankerwalzen und Stahlfedern zu einer Kombination vereinigen kann, die wir eine Uhr nennen und die uns die Zeit mißt, so fügen sich im lebenden Körper Biophoren verschiedener Art zu Kombinationen zweiten, dritten u. s. w. Grades zusammen, die die ver- schiedenen, zum Leben erforderlichen Funktionen ausführen, eben ver- möge dieser spezifischen bestimmten Kombinationen der Grundkräfte. Wenn aber gefragt wird, was denn bei solcher zwecktätigen Kombinierung der primären Kräfte die menschliche Intelligenz ersetzt, so können wir nur antworten, daß hier eine Selbstregulierung vor- liegt, beruhend auf den Eigenschaften der primären Lebensteilchen, welche es mit sich bringen, daß diese sich dureh äußere Einflüsse ver- ändern und wieder durch die äußeren Einflüsse selektiert, d. h. zum 320 Urzeugung und Entwicklung. Weiterleben erwählt oder von diesem ausgeschlossen werden. So müssen sich stets solehe Kombinationen von Lebenseinheiten bilden, wie sie für die augenblickliche Situation die zweckmäßigen sind, andere können keinen Bestand haben, diese aber wie wir gesehen haben — müssen entstehen. Das ist unsere Anschauung von den Entwicklungsur- sachen der Organismenwelt; die Jebende Substanz ist vergleichbar einer plastischen Masse, die ausgegossen über eine weite Fläche und stetig weiterfließend sich allen Unebenheiten derselben genau anschmiegt, in jedes Loch eindringt, jeden Stein oder Pfahl überzieht, einen genauen Abguß derselben bildend, einfach vermöge ihrer weichen und dann er- starrenden Beschaftenheit und der Gestalt der Bodenfläche. Aber nicht bloß die Bodenfläche unseres Gleichnisses ist es, welche die Gestaltung der Organismenwelt bestimmt, d.h. nicht bloß die Lebens- bedingungen und -Einflüsse, sondern in erster Linie die Beschaffenheit der fließenden Masse, der Lebenssubstanz selbst, und zwar auf jeder Stufe ihrer Entwicklung. Die Kombination von Lebens- einheiten, welche den Organismus bildet, ist auf jeder Artstufe wieder eine andere, und von ihr hängt es ab, was nun weiter noch daraus werden kann — von den Lebensbedingungen aber, was in dem be- stimmten Fall daraus werden muB. So war in gewissem Sinn mit den ersten durch Urzeugung ent- standenen Biophoriden schon die gesamte Lebewelt der Erde deter- miniert, insofern damit beides gegeben war, die physische Natur des dadurch in seinen Variationen gebundenen Organismus und die äußeren Einwirkungen in ihrem Wechsel bis heute, an welche es sich anzupassen galt. Kein Zweifel. daß auf einem anderen Planeten mit anderen Lebens- bedingungen andere Organismen entstehen und sich folgen müßten. Auf dem Planeten Mars z. B., auf dem ganz andere Verhältnisse der Schwere, der Mengenverhältnisse, der chemischen Elemente und ihrer Verbindungen walten, muß auch eine lebende Substanz, falls sie überhaupt entstehen konnte, in anderer chemischer Zusammensetzung aufgetreten, also auch mit anderen Eigenschaften ausgestattet gewesen sein, ohne Zweifel auch mit ganz anderen Möglichkeiten ihrer ferneren Entwicklung und Um- gestaltung. Die hoch entwickelte Organismenwelt, welche man heute «dort vermutet, hauptsächlich auf Grund der sonderbaren geraden Kanäle SCHIAPARELLIS, muß deshalb wohl sehr verschieden gedacht werden von der terrestischen Lebewelt. Auf der Erde aber könnte sie wohl nicht viel anders ausgefallen sein, als sie es tatsächlich ist, selbst wenn man dem „Zufall“ sein Recht lassen und annehmen will, daß die Gestalt der Meere und Kontinente auch eine etwas andere hätte sein können, die Faltung der Erdober- fläche zu Gebirgen und Tälern, und die Bildung von Rissen und Spalten in ihr mit daraus hervorbrechenden Vulkanen nicht ganz genau so hätte kommen müssen, als sie tatsächlich gekommen ist. Es würden dann manche Arten nicht entstanden sein, dafür aber andere; im ganzen aber würden die eleichen Bilder von Artengesellschaften sich im Ver- lauf der Erdgeschichte gefolgt sein. Setzen wir den Fall, die Sandwich- inseln hätten, wie manche andere untermeerische Vulkane, sich nieht über die Oberfläche des Meeres erhoben, so würden auch die endemischen Arten von Schnecken, Vögeln und Pflanzen, welche heute dort leben, nicht entstanden sein, und wenn die Vulkangruppe der Gallapagos- inseln statt an ihrer jetzigen Stelle um 40° südlicher oder nördlicher, oder um 1000 Kilometer weiter westlich aus dem Meere aufgestiegen rg Die irdische Lebewelt. 32] wären, so hätten sie andere und wahrscheinlich spärlichere Ansiedler erhalten, und wir würden heute eine andere (Gesellschaft endemischer Arten dort vorfinden. Aber Landschnecken und Landvögel gäbe es dort doch, und ım ganzen werden wir sagen dürfen, daß sowohl die untergegangenen als die heute noch lebenden Gruppen von Organismen auch unter etwas anderen Gestaltungen von Land und Meer, von Höhen und Tiefen, von Klimaverschienungen, von Hebungen und Senkungen der Erdkruste entstanden wären, soweit wenigstens, als sie auf An- passungen an allgemeinere Lebensbedingungen, nicht an ganz spezielle beruhen. Die großen Anpassungen an das Schwimmen im Meer z. B. wären in jedem Falle erfolgt, schwimmende Würmer, schwimmende Polypen (Medusen), schwimmende Wirbeltiere wären immer entstanden, und ebenso hätten sich Landtiere bilden müssen, einmal vom Stamm der Würmer aus in Gestalt von Gliedertieren und Land- oder Sübwasser- würmern, später dann noch einmal vom Stamm der Fische aus. Auch Lufttiere würden nicht ausgeblieben sein, möchten auch die Länder ganz anders gestaltet und abgegrenzt gewesen sein. und ich wüßte keinen Grund, warum die Anpassung an den Flug nicht in ebenso verschiedener Weise hätte versucht werden sollen, als sie tatsächlich erfolgt ist bei so verschiedenen Gruppen, wie die Insekten, die Eidechsen (Flugsaurier der Jurazeit), die Federechsen (Archaeopteryx), die Vögel und die Fleder- mäuse unter den Säugern. Bei jeder Gruppe von Tieren tritt deutlich das Bestreben hervor, nicht nur sich möglichst auszubreiten über die ganze, ihnen zugäng- liche Fläche der Erde, sondern auch sich allen Lebensverhältnissen anzupassen, soweit nur immer ihr Anpassungsvermögen reicht. Sahen wir das gerade eben darin, daß von so verschiedenen Gruppen aus «das Leben in der Luft angestrebt und mehr oder weniger vollkommen er- reicht wurde, so können wir es ebensogut in allen möglichen anderen Gruppen erkennen: überall fast finden wir Arten und Artengruppen, die sich von den allgemeinen Lebensbedingungen ihrer Klasse emanzi- pieren, und sich stark abweichenden Verhältnissen anpassen, für die der Bau der Klasse im ganzen gar nicht geeignet erscheint. So sind die Säuger mit ihrer Atmung durch Lungen und mit ihren auf die Be- wegung auf der festen Erde berechneten Extremitäten nichtsdestoweniger in mehreren Gruppen wieder zu Wassertieren geworden, so in der Familie der Öttern, und in den Ordnungen der Seehunde und der Wale. So sind auch die auf direkte Luftatmung berechneten Insekten in einzelnen Familien- und Entwieklungszuständen wieder zu dem Wasserleben zu- rückgekehrt, indem sie sich Atemröhren bildeten, mittelst deren sie die Luft von der Öbertläche des Wassers her in ihr Tracheensystem ein- saugen können, oder sog. Tracheenkiemen, in denen sich die Luft aus dem Wasser ansammelt. Ganz überwältigend aber erscheint die An- passungskraft der Organismen, wenn wir sehen, wie selbst die Möglich- keit in anderen Organismen als Schmarotzer zu leben, in der aus- giebigsten Weise von den verschiedensten Tiergruppen benutzt wurde, und ihre Körper in der wunderbarsten und weitgehensten Weise den ganz besonderen Lebensbedingungen innerhalb anderer Tiere angepaßt sind. Wir haben schon mehrfach davon gesprochen, wie stark diese anpassenden Veränderungen sein können, wie der Parasit fast ganz den Typus seiner Familie oder Ordnung aufgibt. so daß seine Verwandt- schaft nur schwer noch zu erkennen ist: ich möchte hier jetzt noch hervorheben, von wie vielen Stellen des Tierreichs aus der Weismann, Deszendenztheorie. IT. 2. Aufl 21 322 Urzeugung und Entwicklung. Versuch, sich zu Schmarotzern umzubilden gemacht worden ist. Nicht nur die Platt- und Rundwürmer haben dies in einer Anzahl von Arten getan, sondern wir finden auch Schmarotzer in Menge in mehreren Ordnungen der großen Tierklasse der Krustazeen, es gibt Schmarotzer unter den Spinnentieren, (den Insekten, den Quallen, Schnecken, ja selbst in einzelnen Fällen unter den Fischen. Wenn man bedenkt, mit wie vielen Hindernissen die Existenz in anderen Tieren zu kämpfen hatte, wie schwierig und dem Zufall anheim- gegeben die bloße Erreichung einer solchen Wohnstätte, z. B. im Darm. in der Leber, den Lungen, oder ear im Gehirn oder im Blut eines anderen Tieres gewesen sein muß für die ersten Ansiedler, und wenn man andererseits weiß, wie genau das heute für jede Schmarotzerart reguliert ist, so daß trotz grober Abhängigkeit vom Zufall dennoch ihre Existenz gesichert ist, so wird man wahrlich einen hohen Begriff von der Plastizität der Lebensform, von ihrer Anpassungsfähigkeit bekommen, und dieser Eindruck wird nur noch verstärkt werden, wenn wir weiter erwägen, daß die meisten Binnenschmarotzer nicht direkt, sondern nur in ihren Nachkommen aus dem ersten Wirt in einen zweiten gelangen können, und daß auch diese Nachkommen, in bezug auf ihre Ausbreitung, ihr Eindringen in einen neuen Wirt, ihre Wanderungen und Gestalt- veränderungen in demselben die vielseitigsten und oft unerwartesten Anpassungen eingehen mußten, sollte die Art Bestand haben. Es wäre verlockend, darauf im genaueren einzugehen; doch wir wollen zusammenfassen und dürfen uns nicht noch einmal ins Detail verlieren. Ohnehin ist Ja der Lebenslauf mancher Schmarotzer, so vor allem der Bandwürmer, allgemein bekannt, und jeder wird leicht im- stande sein, diese bloßen Andeutungen zu ergänzen. Ich wollte nur darauf hinweisen, dab in den Schmarotzern ein weites Gebiet von Lebens- formen vorliegt, auf welchem die genaueste Anpassung an die Be- dingungen in jedem Organ beinahe, sicher in jedem Lebensstadium in auffälligster und verständlichster Weise hervortritt. Haben wir schon im Anfang dieser Vorlesungen an dem Beispiel der mannigfachen Schutz- mittel, durch welche Tiere und Pflanzen ihre Existenz sichern, den Ein- druck gewonnen, dab das Zweckmäbige in seiner Entstehung nicht vom Zufall abhängig ist. sondern daß jede Anpassung, die überhaupt im Bereich der Möglichkeit einer Art liegt, auch eintritt, wenn sie ge- fordert wird, so verstärkt sich dieser Eindruck noch bedeutend, wenn wir an den Lebenslauf der Parasiten denken, und wir werden unsere Anschauung vom Zustandekommen der Anpassungen nicht durch Aus- lese richtungsloser Variationen. sondern durch solehe von bestimmt gerichteten Variationen, bestätigt sehen. So mannigfache, mit solcher Unfehlbarkeit aneinandergereihte Anpassungen, wie sie den Lebenslauf eines Bandwurmes, eines Leberegels oder eines Wurzelkrebses aus- machen, können nicht auf dem reinen Zufall beruhen. Dennoch spielt auch der Zufall seine Rolle bei den Anpassungen und Artumwandlungen, und zwar nicht nur in bezug auf die grund- legenden Vorgänge im Keimplasma, sondern auch bei den höheren Stufen der Selektionsvorgänge, wie wir ja eben kurz angedeutet haben. Man hat mir in neuester Zeit, nach Darlegung eben dieser meiner Hypothese von der Germinalselektion triumphierend zugerufen, nun sei ich doch zuletzt noch zu emer phyletischen Entwicklungskraft, zu der „bestimmt gerichteten“ Variation NÄCELIS und ASKENASYS eingelenkt. Dieser Vorwurf — falls sich überzeugen zu lassen einer ist — beruht 2 ee na Anpassung an die Bedingungen. 323 indessen auf einem bedeutsamen Mibßverständnis. Meine „bestimmt ge- richtete“ Variation bezieht sich nicht auf die Entwicklung der gesamten Örganismenwelt. ich stelle mir nicht wie NÄGELI vor, dab dieselbe im wesentlichen ebenso ausgefallen sein würde, wie sie tatsächlich ausge- fallen ist, auch wenn die Lebensbedingungen oder die Aufeinanderfolge derselben auf dieser Erde ganz andere gewesen wären: ich glaube viel- mehr, daß die ÖOrganismenwelt, ihre Klassen und Ordnungen. ihre Familien und Arten um so verschiedener von ihrer tatsächlichen Auf- einanderfolge und Erscheinung ausgefallen wären, je verschiedenartiger die Lebensbedingungen sich gestaltet hätten. Meine bestimmt gerich- tete Variation ist keine von vornherein fest bestimmte, sozusagen ex- klusive, sondern eine vielseitige: jede Determinante eines Keim- plasmas kann nach Plus oder nach Minus variieren, und kann diese ihre einmal eingeschlagene Variationsrichtung unter Umständen fort- setzen, aber auch ihre Komponenten, die verschiedenen Biophoren, können desgleichen tun, und ebenso die kleineren und größeren Gruppen von Biophoren. welche im Keimplasma die „Anlagen“ der Organe bilden. So steht eine überaus große Zahl von Variationsrichtungen stets und in bezug auf jeden Teil des fertigen Organismus bereit, und sobald eine Veränderung vorteilhaft ist, tritt sie ein — vorausgesetzt, daß sie innerhalb der physischen Natur der Art möglich ist. Sie tritt ein, weil sie in ihren Anfängen immer schon da ist, aber sie hält an und ver- folgt eine bestimmte Richtung, weil diese die bevorzugte ist, folglich durch Germinalselektion allein schon befestigt und durch Personalselektion über die nebenherlaufenden Varianten emporgehoben wird. Die bestimmte Richtung wird nach meiner Ansicht der zufälligen Keimesvariation erst durch den Vorteil gegeben. welchen sie der Art in bezug auf ihre Existenzfähigkeit gewährt, nach NÄGELıs Ansicht dagegen ist die Varia- tionsrichtung unabhängig vom Nutzen, «den sie bringt oder nicht bringt. Von NÄGELIS Standpunkt wird man nie die alles beherrschende An- passung begreifen können, wenn aber die Nützlichkeit einer Variante selbst sie zu dauernder Variationsrichtung erhebt, dann verstehen wir sie. Schon vor Jahren (1883) habe ich die Art einem Wanderer ver- glichen, der ein weites schier unermeßliches Land vor sich hat, in dem es ihm frei steht, seinen Wee zu nehmen, wie immer es ihm beliebt, und sich aufzuhalten, wo und solange es ihm gefällt. Obgleich er nun bleiben und gehen kann ganz nach seinem Ermessen, wird er doch zu jeder Zeit, in seinem Wandern und seinem Ruhen bestimmt werden: er muß so und kann nicht anders, und zwar wird er durch zweierlei dabei bestimmt werden, erstens durch die sich ihm an jedem Ort dar- bietenden Wege -— die sich darbietenden Variationen und zweitens durch die Aussichten, die sich ihm auf jedem dieser Wege eröffnen. Er strebt nach einem ruhigen, den vollen Lebensunterhalt bietenden Wohnsitz, nachdem ihm sein bisheriger durch Teuerung oder allzu starke Konkurrenz verleidet ist, und schon seine erste Wanderung wird insofern nicht durch den Zufall in ihrer Richtung bestimmt werden, als er viel- mehr unter den vielen Wegen, die er einschlagen könnte, «denjenigen wählen wird und wählen muß, der nach einem wohnlicheren und weniger umworbenen Orte führt. Ist dieser dann glücklich erreicht d.- BD. hat sich die Art neuen Verhältnissen angepaßt — so richtet sich der Ansiedler häuslich ein und bleibt so lange dort, als ihm eine behagliche Existenz und gutes Auskommen gesichert bleibt: hört dies aber auf, 21” 3924 Urzeugung und Entwicklung. werden die Feldfrüchte knapp, tritt Teuerung ein, oder brechen ge- fährliche Krankheiten herein, so entschließt er sich abermals zum weiter- wandern, und abermals wird er unter den vielen Wegen, die sich ihm darbieten, denjenigen wählen, der ihn am sichersten und schnellsten aus der bedrohten Gegend heraus und in eine andere hineinführt. in der er ungefährdet leben kann. Auch dort wird er wieder so lange wohnen bleiben, als es ihm gut geht und er keiner Not ausgesetzt ist — denn die Art wandelt sich als ganzes nur dann um, wenn sie muß. Und so wird es in infinitum immer weiter gehen: der Wanderer wird jedesmal, wenn er wieder von seinem Ruheplatz aufgescheucht wird, nach vielen Richtungen weiterwandern können, aber er wird immer den einen Weg wählen, der ihm die besten Aussichten für ruhige Nieder- lassung eröffnet, und wird ihn immer nur bis zum nächsten ruhigen Wohnplatz verfolgen, niemals weiter — die Art wandelt sich nur so weit um, bis sie wieder vollständig angepaßt ist —. In dieser Weise wird er im Laufe der Jahre eine-große Menge von Wohnplätzen durch- laufen haben, die vielleicht zusammen einen sonderbaren unverständ- lichen Ziekzackkurs darstellen, der aber dennoch nicht aus reiner Laune hervorgegangen ist, sondern aus dem doppelten Zwang, einmal von dem bestimmten Ort ausgehen zu müssen, an dem er bisher gelebt hat — von der Artkonstitution — und zweitens unter den zahlreichen Rich- tungen die eine aussichtsreichste wählen zu müssen. Der Zufall aber macht sich in der Gestaltung seiner Reiseroute dadurch geltend, daß es von ihm abhängt, wie die Verhältnisse in der Umgebung des bisherigen Wohnorts sich gerade dann gestaltet haben, wenn der Wanderer sich wieder aufmachen muß: denn diese Verhältnisse wechseln, die Ansiedlungen dehnen sich aus oder veröden wieder, eine früher billige Stadt wird teuer, die Konkurrenz steigt oder fällt, Krank- heiten brechen aus oder verschwinden, kurz die Aussichten für einen erfreulichen Aufenthalt an einem Platz ändern sich und bestimmen den Wanderer, wenn er heute einen Wohnsitz verlassen muß, seinen Weg anderswohin zu nehmen, als er ihn vielleicht vor zehn Jahren genom- men hätte. Man könnte «das Gleichnis noch weiter führen, z. B. auch die Möglichkeit einer Spaltung der Art veranschaulichen, indem man statt eines Wanderers, deren ein Paar ausziehen läßt, daß auf der ersten Wohnstation eine Familie gründet. Kinder und Enkel wachsen zahl- reich heran, und dabei wird allmählich die Nahrung knapp. Ein Teil der Nachkommen findet noch genug zum Leben dort, aber der UÜber- schuß zieht aus und sucht neue Wohnstätten. Auch bei dieser Suche stehen viele Wege offen, vorwärts, seitwärts und rückwärts, aber nur solche Pfade werden von einem Trupp der Auswanderer tatsächlich und mit Erfolg eingeschlagen, welche zu einem wohnlichen Ort führen, an dem man sich festsetzen kann; sollten einige der Nachkommen andere Wege einschlagen, so werden sie bald wieder umkehren, oder den Ge- fahren des Weges erliegen. Ich meine der Gegensatz zu NÄGELIS Anschauung von der Art- umwandlung liegt auf der Hand. Nach ihm würden die Wanderer nicht frei ihren Weg wählen, sondern immer nur auf einem bestimmten Schienengeleise weiter fahren, das sich nur hier und da gabelt, und es ist dabei nicht vorgesehen, ob dasselbe zu paradiesischen Wohnplätzen führt, oder in öde Wüsten — die Wanderer mögen zusehen, wie sie sich an dem Halteplatz ihrer Eisenbahn zurechtfinden. Sie führen zwar Entwicklungsrichtungen. 325 ein wundersames Reisegepäck mit, eine Art von „Tischlein deck dich“, — das Lamarcksche Prinzip — aber das ist doch wohl von zweifel- hafter Zauberkraft und wird sie schwerlich vor der Glut der Wüste, dem Frost der arktischen Länder oder der Malaria der Sumpfgegenden bewahren. in die sie ihre Lokomotive blind hineinführt. Nach meiner Auffassung hat der Wanderer — die Art — stets eine große Auswahl von Wegen und zugleich die Gabe, schon unter- wegs zu merken, ob er sich auf falschem oder richtigem Pfad befindet: auch führt in den meisten Fällen einer der vielen Wege zu einem er- wünschten Wohnort. Es kommt aber allerdings auch vor, dab nach langer Wanderung und dem Durchlaufen zahlreicher Wohnstationen ein Wandertrupp schließlich an einen zwar zunächst noch recht wohnlichen und einladenden Ort gelangt. der aber auf mehreren Seiten vom Meer umschlossen ist und von einem reißenden Strom. Solange der Boden dort fruchtbar bleibt und das Klima gesund, geht alles zum besten, wenn aber dann beides sich ändert und vielleicht der einzige Weg zu- rück durch Sümpfe und wüstes Land unzugänglich wurde, dann muß die Kolonie nach und nach aussterben — das wäre dann Artentod. Wenden wir uns aber nun von unserem Gleichnis ab und fragen, welche Wege denn tatsächlich die Organismenwelt bei ihrer Umwandlung eingehalten hat, in welcher Aufeinanderfolge die ein- zelnen Lebensformen auseinander hervorgewachsen seien, kurz wie der wirkliche Stammbaum der Organismenwelt dieser Erde im ein- zelnen beschaffen ist, so kann ich Ihnen darauf nur antworten, daß wir darüber zwar manche gut begründete Vermutungen haben, aber nur an einzelnen Stellen wirkliche Sicherheit. So ist der Stammbaum der Pferde weit zurück verfolgt worden, und aus der Phylogenese mancher Schnecken und Cephalopoden sind ebenfalls längere Stücke genau be- kannt, aber über den Organismenstammbaum im großen und ganzen können wir nur Vermutungen haben, die zwar zum Teil wahrscheinlich, aber doch niemals ganz sicher sind. Dazu bleiben die paläontologischen Urkunden, die uns die Erdrinde aufbewahrt hat, für alle Zeit viel zu lückenhaft. Wohl haben verschiedene Forscher, besonders ERNST HÄCKEL sich nach dieser Richtung hin Verdienste erworben, indem sie aus unse- rem paläontologischen, entwicklungsgeschichtlichen und morphologischen Wissen über («die verschiedenen Organismengruppen Stammbäume auf- stellten, welche die tatsächliche Aufeinanderfolge der Tier- und Pflanzen- formen uns veranschaulichen sollen. Aber so interessant solche Versuche auch sind, so können sie doch naturgemäß eroßenteils nicht über bloße Vermutungen hinausgehen, und ich sehe schon deshalb hier von ihrer Mitteilung und genaueren Besprechung ab, weil sie uns für das Problem der Artumbildung selbst, mit dem es diese Vorträge zu tun hatten, keine weitere Hilfe leisten können. In bezug auf die Tierwelt wenig- stens — und es wird bei den Pflanzen nicht viel anders sein läbt uns die Kunde der fossilen Reste leider schon früh im Stich, denn die ältesten und tiefsten Schichten, in denen sich Versteinerungen nach- weisen lassen, die Cambrische Formation enthält bereits Krebse, also Tiere von relativ hoher Organisationsstufe, Tiere, denen eine un- gemein lange Reihe von Ahnen vorhergegangen sein muß, von deren Resten uns gar nichts erhalten ist. Der ganze Teil des tierischen Stamm- baums von den niedersten Lebensformen bis mindestens zu diesen Krebsen, den Trilobiten hinauf liegt begraben in den tiefsten aus dem Meer ab- gesetzten Sedimentgesteinen, den krystallinischen Schiefern, ohne aber 326 Urzeugung und Entwicklung. noch erkennbar zu sein. Der ungeheure Druck und wahrscheinlich auch hohe Temperatur haben ihre festen Teile — soweit solche vorhanden waren — zerstört, und von den Weichteilen bleibt auch in den höheren Schichten nur ausnahmsweise einiges als Abdruck erhalten. So müssen also ungeheure Zeiträume vergangen sein vom Anfang des Lebens bis zur Ablagerung jener tiefsten „paläozoischen“ Formation, der kambrischen, denn nicht nur fällt in diese Zeit der ganze Aufbau, der von den Biophoriden bis zur Entstehung der ersten Einzelligen führte, ferner die Entfaltung dieser Einzelligen selbst in ihren verschie- denen Klassen und ihre Potenzierung zu den ersten Vielzelligen, sondern nun folgte noch die Entwicklung dieser letzteren zu allen den Hauptstämmen des Tierreichs, welche heute noch leben, zu Schwäm- men, Seesternen und Verwandten, Muscheln, Armfüßern und Krebsen, denn alle diese Stämme sind in der kambrischen Formation bereits ent- halten, und wir dürfen daraus schließen, daß auch der Stamm der meist weichen und schwer erhaltungsfähigen Würmer längst in reicher Ent- faltung vorhanden war, da Gliedertiere wie die Krebse, nur aus Würmern sich entwickelt haben können. Aber wir haben allen Grund zu der Annahme, daß auch Cölenteraten, d. h. Polypen und Quallen im kam- brischen Meer gelebt haben, da ihre mit festem Skelett versehenen An- gehörigen, die Korallen, in der nächst höheren Formation, dem Silur bereits vertreten sind, und ebenso steht es mit den Fischen, von denen auch im Silur zuerst sicher erkennbare Reste, die Stacheln von Haien, gefunden worden sind. Auch diese setzen eine lange Vorgeschichte voraus, und so kommen wir zu dem schon ausgesprochenen Schluß. daß alle Stämme des Tierreichs schon vorhanden waren, als die Erdrinde die ersten, bis auf uns gekommenen Urkunden der Vorfahren der heutigen Organismenwelt einschloß. Allerdings aber haben die höheren Stämme damals nur in ihren niederen Klassen existiert, vor allem die Wirbeltiere, so daß also von der Ablagerung der kambrischen Schichten bis zur heutigen Organismen- welt immerhin noch eine bedeutende Steigerung des Baues und eine unendliche Mannigfaltigkeit neuer Gruppen. sich eingestellt hat. Am- phibien scheinen zur kambrischen Zeit noch nicht dagewesen zu sein, Reptilien treten schon in der Steinkohle auf, aber erst in der Sekundär- zeit in Menge: Vögel in einer von der heutigen noch stark abweichen- den (restalt (Archaeopteryx), zwar mit Federn bedeckt, aber noch mit Reptilienschwanz zuerst im Jura, später dann in der Kreide als Zahn- vögel und im Tertiär in ihrer heutigen Gestalt. Die Säuger müssen sich wohl ziemlich parallel mit den Vögeln entwickelt haben, nämlich vom Beginn der Sekundärzeit an, und ihr höchstes und letztes Glied, der Mensch, erscheint, soweit die Forschung heute reicht, erst in nach- tertiärer Zeit, im Diluvium. Zu den seit dem Kambrium neu auftretenden Typen gehört auch die Klasse der Insekten mit ihren zwölf Ordnungen und ihrem un- geheuren heute auf 200 000 geschätzten Reichtum an bekannten Arten. Sie sind zuerst im Devon, dann in der Steinkohle nachweisbar, und zwar ganz wie es die Theorie verlangt — in Formen mit beißenden Mundwerkzeugen: erst in der Kreide kommen dann auch Insekten mit rein saugenden Mundteilen, Bienen und Schmetterlinge, wie denn damals auch zuerst Blumen auftraten, die sich eben in Wechselanpassung mit jenen in dieser Zeit ausbildeten. Urzeugung und Entwicklung. 3927 Man schätzt die Zahl der bis jetzt beschriebenen fossilen Tier- arten auf etwa SO000, ein unendlich kleiner Bruchteil jedenfalls nur von der Fülle der Lebensformen, welche in diesem langen Zeitraum auf unserer Erde entstanden und zum größten Teil wieder vergangen sein müssen: denn nur ganz wenige Arten überdauern ein geologisches Zeitalter, und selbst von Gattungen tauchen die meisten nur auf längere oder kürzere Zeit auf, um dann für immer zu verschwinden. Aber auch von manchen der alten Klassen, z. B. der Cystideen unter den Stachelhäutern des Silurmeers ist heute nichts Lebendes mehr übrig, und ebenso sind die Ichthyosaurier oder Fischeidechsen der Sekundärzeit völlig aus der heutigen Lebewelt verschwunden, und manche andere Tiertypen, wie die Klasse der Armfüßer (Brachiopoden) und. der schmelzscehuppigen Fische (Ganoiden) sind wenigstens nahezu ausgestorben und existieren nur noch in wenigen Arten an beson- ders geschützten Stellen, in den großen Tiefen des Meeres oder in den Flüssen. So war ein ganz unglaublicher Reichtum an tierischen und ebenso an pflanzlichen Arten potentia schon in den ersten und einfachsten, jenen weit unter der Grenze mikroskopischer Sichtbarkeit gelegenen „Biopho- riden“ enthalten, ja ein noch geradezu unendlich viel größerer, denn das, was wirklich entstand, ist doch nur ein kleiner Teil dessen, was möglich war. und was entstanden wäre, hätte der Wechsel der Lebensbedingungen und Lebensmöglichkeiten andere Wege eingeschlagen. Je verwickelter ein Organismus zusammengesetzt ist, um so zahlreichere Teile werden an ihm veränderbar, nach um so ver schiedeneren Richtungen hin kann er sich neuen Bedingungen anpassen, und es wird nicht in Abrede gestellt werden, daß in den ersten Bio- phoriden eine geradezu unerschöpfliche Fülle von Lebensformen der Möglichkeit nach enthalten war, keineswegs blob diese, wirklich entstandene Lebewelt. Wäre das nicht so, so könnten wir Menschen nicht heute noch neue Tier- und Pflanzenformen hervorrufen, wie wir es doch in unseren Haustierrassen und Kulturpflanzen in Masse tun, ähnlich dem Chemiker, der fort und fort neue Verbindungen im Laboratorium „macht“, die vorher auf der Erde vielleicht noch niemals sich gebildet hatten. Aber so wie der Chemiker diese Verbindungen nicht wirklich macht, sondern nur die betreffenden Elemente und ihre Kräfte in solchen Kombinationen zusammenbringt, dab sie sich zu dem gewünschten neuen Körper zusammenfügen müssen, so auch leitet der Züchter nur die im Keimplasma enthaltenen Variationsrichtungen, indem er sie in bewußter Weise kombiniert und so die neue Rasse erzielt, und was der Züchter in dem kleinen Rahmen menschlichen Könnens vollzieht, das vollzieht sich in der freien Natur durch die Bedingungen, welche das Zweckmäßige allein übrig lassen, kombinieren und so das wunderbare, wie aus der bewubten Leitung einer überlegenen Intelligenz hervorgehende Resultat der Anpassung der Arten an ihre Bedingungen bewirken. So hat unsere Zeit das große Rätsel im Prinzip wenigstens gelöst, wie das Zweckmäßige entstehen kann ohne die Mitwirkung zweck- tätiger Kräfte. Wenn wir auch nicht mit mathematischer Sicherheit den einzelnen Anpassungsprozeß in seinen Phasen nachweisen und verfolgen können, so begreifen wir doch das Prinzip und sehen die Faktoren, durch deren Zusammenwirken das Resultat zu Stande kommen muß. Es ist in neuester Zeit Morde geworden, wenigstens bei einer 398 Urzeugung und Entwicklung. jüngeren Biologenschule, die Selektionstheorie gering zu schätzen oder sar als überwundenen Standpunkt zu betrachten: man verlangt mathe- matischen Beweis, oder man wünscht ihn doch. Ich glaube nicht, daß wir dieses Ziel jemals erreichen werden. wenn es uns auch sicherlich eelingen wird. noch Vieles klar zu legen, was heute noch dunkel ist, und viele der Vorstellungen, welche wir heute in Bezug auf diese Frage gewonnen haben. noch wesentlich zu verbessern und umzugestalten. Aber «das, was heute erreicht ist, darf wohl ohne Zweifel als ein un- geheurer Fortschritt dem gegenüber bezeichnet werden, was die Mensch- heit bis vor 50 Jahren besab. Wir wissen jetzt, dab die Organismen- welt unserer Erde entwickelt ist und können uns bereits einen, wenn auch noch unvollständigen Begriff davon machen, wie, aus dem Zusammen- wirken welcher Faktoren sie sich entwickeln konnte und mußte. Wenn ich sage: mußte, so bezieht sich das nur auf den Ver- lauf dieser Entwicklung bei gegebenem Anfang; diesen Anfang selbst aber, die Urzeugung niederster Biophoriden aus anorganischer Materie sind wir noch weit entfernt in ihren Ursachen als eine Notwendigkeit begritfen zu haben. Wenn wir sie nun aber auch als ein Postulat unserer Vernunft angenommen haben, so wollen wir doch dabei keines- wegs verhehlen, daß diese Annahme noch völlig fern von einem Be- ereifen liegt. Ich meine damit keineswegs nur, dab wir nicht wissen, unter welchen äußeren Bedingungen die Entstehung lebender Substanz in kleinsten Mengen erfolgen konnte, sondern vor Allem, dab wir nicht begreifen, wieso diese einzige Substanz nun plötzlich Eigenschaften offen- bart, die an keinen anderen chemischen Verbindungen sonst jemals wahrgenommen wurden: den Kreislauf des Stoffes, Wachstum, Empfinden Wollen und Bewegung. Wir dürfen aber ruhig sagen, daß wir diese spezifischen Erscheinungen des Lebens auch niemals vollständig begreifen werden, wie sollten wir auch, da uns Nichts ihnen Vergleichbares be- kannt ist, und da Begreifen immer einen Vergleich mit Bekanntem vor- aussetzt. Nehmen wir aber selbst an, es gelänge, den bloßen Chemis- mus (des Lebens zu verstehen, was ja nicht undenkbar ist, ich meine das Perpetuum mobile der Dissimilation und Assimilation, so blieben (die sog. „animalen“ Funktionen der lebenden Substanz immer noch un- gelöst zurück: Empfinden, Wollen, Denken. Wir begreifen gut, wie die Niere Harn absondert, oder die Leber Galle, wir können auch — einmal die Reizbarkeit der lebendigen Substanz vorausgesetzt — uns vorstellen, wie ein Emfindungsreiz durch die Nerven nach dem (Gehirn geleitet, durch gewisse Reflexbahnen auf motorische Nerven übertragen wird und in den Muskeln Bewegung auslöst, wie aber gewisse Gehirn- elemente durch ihre Tätigkeit einen Gedanken hervorbringen können, ein mit allem Materiellen Unvergleichbares, das dennoch im Stand ist, auf die materiellen Teile unseres Körpers zurückzuwirken und als Wille Bewegung auszulösen — das mühen wir uns vergeblich ab zu begreifen. Gewiss liegt die Abhängiekeit des Denkens und Wollens vom materiellen Substrat klar vor und kann nach vielen Richtungen hin sicher gestellt werden, der Materialismus hat deshalb wohl ein Recht. Gehirn und Denken mit Niere und Harn zu parallelisiren, aber be- sriffen haben wir das Zustandekommen des Denkens und Wollens damit nicht. Man hat in neuerer Zeit öfters darauf hin- gewiesen, daß die psychischen Funktionen des Körpers sich in der Stufen- folee (der Organisation ganz allmälig erst steigern und von niedersten Anfängen genau entsprechend der ÖOrganisationshöhe der Art langsam - Urzeugung und Entwicklung. 329 emporsteigen bis zur Intelligenz des Menschen: dab sie bei niederen Tierformen unmerklich beginnen, so dab wir nicht angeben können, wo eigentlich ihr Anfang liegt, und man hat daraus mit Recht geschlossen, daß die Elemente der Psyche nicht erst in den histologischen Teilen des Nervensystems ihren Ursprung nehmen, sondern aller lebendigen Substanz eigen sind: man hat weiter gefolgert, daß schon die anorganische Materie sie enthalte, wenn auch in unerkennbarem Zustand, und dab ihr Hervortreten bei der lebenden Substanz gewissermaßen nur ein Summationsphänomen sei. Wenn wir Recht haben mit unserer Annahme einer Urzeugung, so kann es ja wohl nicht anders sein, aber begriffen haben wir den Geist doch noch nieht damit, dab wir dies sagen, sondern höchstens uns den Vorteil und das techt ge- sichert, diese Welt, soweit wir sie kennen, als ein Einheitliches vorzu- stellen — Monismus. Die psychischen Erscheinungen, wie wir sie von uns selbst her kennen und bei den Tieren mit um so größerer Sicherheit annehmen, je näher sie uns stehen, sind ein (Gebiet für sich, und ein so weites und verwickeltes, daß nicht die Rede davon sein kann, dasselbe hier noch in den Kreis unserer Betrachtungen hereinzuziehen,. und ebenso steht es mit der phyletischen Entwicklungsgeschichte des Menschen. Aber wir wollen wenigstens Stellung nehmen zu diesen Problemen, und da kann es denn keine Frage sein, daß der Mensch sich aus tierischen Vorfahren entwickelt hat, deren nächste Glieder anthropoide Affen waren. Man hat vor wenigen Jahren einige Knochenreste eines menschlichen oder doch dem heutigen Menschen nahekommenden Skelettes im Dilu- vium von Java gefunden, welche man wohl mit Recht als Pithekanthro- pus bezeichnet hat und als eine der Zwischenstufen zwischen Affen und Menschen ansieht. Es ist sehr möglich, daß man (deren noch mehr findet: würden sie aber auch nie gefunden, so müßte doch der eben gezogene Schluß auf die Entstehung des Menschen aus tierischen Vor- fahren als ein unvermeidlicher und völlig gesicherter gelten. — Wir schließen ja nicht mit den Augen. sondern mit unserem Denkorgan, und wenn uns die ganze übrige lebende Natur in überwältigender UÜber- einstimmung von allen Seiten her die Entwicklung der Organismenwelt verkündet, so können wir nicht annehmen, daß diese vor dem Menschen Halt gemacht hätte. Aber auch die Faktoren der Menschwerdung des Affen müssen dieselben sein. welche die ganze übrige Entwicklung her- vorgerufen und geleitet haben: Wechsel der äußeren Einflüsse in seinen direkten und indirekten Wirkungen, also germinale Variationsrichtungen und ihre Selektion. Und in dieser Beziehung möchte ich noch zuletzt auf einen Punkt hinweisen, der vielleicht noch zu wenig beachtet wurde. Selektion ruft nur das zweckmäßige hervor, darüber hinaus kann sie nichts schaffen, wie wir bei verschiedenen Anlässen schon betont haben, ich erinnere nur an die schützende Blattzeiehnung der Schmetterlinge, die nie eine botanisch genaue Kopie eines Blattes ist mit allen Seitenrippen, sondern die eher einer Dekorationsmalerei ver- gleichbar ist, bei der es nicht auf Wiedergabe jeder Einzelheit, sondern auf den Totaleindruck ankommt, den sie in einer gewissen Entfernung hervorruft. Wenden wir dies auf die Organe und Fähigkeiten des Menschen an. so werden wir dieselben immer nur so hoch entwickelt zu finden erwarten dürfen, als ihre Steigerung noch von Wert für die Erhaltung seiner Existenz gewesen sein kann, nicht aber höher. Dies scheint nun vielleicht in Widerspruch zu stehen mit dem, 330 Urzeugung und Entwicklung. was die Beobachtung uns lehrt, daß z. B. unser Auge befähigt ist, bis in die unendliche Entfernung der Fixsterne zu sehen, was doch für uns in bezug auf den Kampf ums Dasein ohne Bedeutung ist. Allein (diese Feinheit des Gesichtssinnes ist offenbar nicht zur Erfor schung des gestirnten Himmels erworben worden, sondern sie ist schon vielen unserer tierischen Vorfahren von größtem Wert für die Sicherung ihrer Existenz gewesen, und nicht minder auch für uns selbst. Ebenso könnte unser so fein abgestuftes musikalisches Gehör als eine exzessive, das für die Existenz notwendige Mab überschreitende Vervollkommnung des Hörapparates angesehen werden, aber auch hier ist es in Wahrheit nicht so; vielmehr haben wir auch unser musikalisches Gehör schon von unseren tierischen Vorfahren ererbt, und diesen, wie auch dem Ur- menschen war es zur Existenz notwendig. Die Tiere mußten höhere und tiefere Töne in langer Skala voneinander scharf und sicher unter- scheiden können, um dem nahenden Feind auszuweichen, die Beute aber von fern zu erkennen. Daß wir Musik machen, ist nur gewisser- massen eine unbeabsichtigte Nebenleistung des ursprünglich nur auf die Sicherung der Existenz so fein ausgebildeten (ehörorgans, etwa so, wie auch die menschliche Hand nicht zum Klavierspielen so geworden ist, wie sie ist, sondern zum Tasten und Greifen, zur Herstellung der Werkzeuge u. s. w. Muß es nun auch so mit dem menschlichen Geist stehen, kann auch er nur so hoch gesteigert sein, als seine Steigerung noch vom Vorteil für die Existenzfähigkeit des Menschen war? Ich glaube, im allgemeinen sicherlich; der Gemeinbesitz geistiger Fähigkeiten einer menschlichen Rasse wird diese Grenze nicht überschreiten, womit aber nicht gesagt ist. daß nicht einzelne eine höhere geistige Begabung be- sitzen könnten. Die Möglichkeit höherer Steigerung einzelner Geistes- fähigkeiten oder ihrer Kombinationen, seien es Verstand, Wille, Gemüt, Erfindungsgabe, oder mathematisches, musikalisches, bildnerisches Talent läßt sich aus unseren eigenen Prinzipien mit Sicherheit ableiten; denn nicht nur können die V ariationsrichtungen einzelner Determinantengruppen des Ikeimplasmas eine Reihe von Generationen hindurch sich fortsetzen, ohne daß sie nachteilig werden, d. h. ohne daß ihnen Personalselektion Halt gebietet, sondern die geschlechtliche Vermischung eröffnet auch stets «die Möglichkeit, dab einige hervorragend entwickelte (reistesan- lagen sich in dieser oder jener Weise kombinieren und dadurch Indivi- duen von überlegenem Geist, sei es nach dieser oder jener Richtung hin entstehen lassen. So, denke ich mir, entstehen die Genien der Menschheit, ein PLATO, ein SHAKESPEARE, ein GOETHE, ein BEETHOVEN. Aber sie dauern nicht, sie vererben ihre Größe nicht: wenn sie über- haupt Nachkommen hinterlassen, so erben diese doch niemals die ganze Gröbe des Vaters, und wir vermögen das auch zu verstehen, insofern diese eben nicht auf einer Anlage, sondern auf einer bestimmten Kombination vieler hoher Geistesanlagen beruht. Die Genien steigern deshalb wohl nicht das Durchschnittsmaß ihrer Rasse durch ihre Nach- kommen, sie heben sie nur geistig durch das, was sie selbst leisten, indem sie das durch Tradition von einer Generation auf die andere über- sehende Können und Wissen der Menschheit steigern. Die Steigerung der Durehschnittsanlage aber, die ja zweifellos vom Australneger bis zum Kulturmenschen des Altertums wie unserer Zeit erheblich einge- treten ist, kann nur auf dem Wettkampf der Individuen und Rassen um (die Existenz beruhen. | Zn Urzeugung und Entwicklung. 331 Wenn nun aber der menschliche Geist sich bis zu seiner heutigen Höhe durch dieselben langsamen Ausleseprozesse gehoben hat, durch welche alle Entwicklung geleitet und bis zu der zweckmäßigen Höhe gehoben wird, so müssen wir darin den bestimmten Hinweis darauf sehen. daß auch der höchste Geist unter uns nicht über die für unsere Existenzfähigkeit mabgebenden Verhältnisse hinausblicken kann, und dab es uns für heute wie für immer versagt bleiben wird, zu begreifen, was über das Irdische hinausgeht. Wohl können wir die Sterne am Himmel erkennen, und durch Jahrtausende hindurch fortgesetzte Arbeit ist es uns auch gelungen, ihre Entfernung, Größe und Schwere, sowie ihre Bewegungen und die Stoffe, aus denen sie zu- sammengesetzt sind, zu bestimmen, aber das alles vermochten wir zu tun mit einem Denkvermögen, welches für die menschlich- irdischen Verhältnisse geschaffen. d. h. durch sie entstanden ist. ganz so, wie wir mit den Händen nicht bloß greifen, sondern auch Klavier spielen können. Alles aber, was ein höheres Denkvermögen voraussetzte, was uns die Pseudobegriffe der Ewigkeit und Unendlich- keit, die Grenzen der Kausalität, kurz alles das erkennen ließe, was wir eben nicht erkennen, sondern höchstens als Rätsel vor uns sehen, das wird uns schon deshalb stets verschlossen bleiben, weil unser Verstand dessen nicht bedurfte noch bedarf. um uns existenz- fähig zu erhalten. Ich sage das vor allem denen, welche meinen, alles begriffen zu haben, wenn sie zugeben, dab uns zwar allerdings an der vollen Er- kenntnis noch manches mangelt, etwa ein wirkliches Verständnis der Naturkräfte, oder der Psyche, welche aber nicht fühlen, daß wir trotz aller unserer, ja wirklich bedeutend gesteigerten Erkenntnis, doch vor der Welt als Ganzem immer noch wie vor einem eroßen Rätsel stehen: ich sage es aber auch denjenigen, welche in der Lehre von der Entwick- lung die Zerstörung ihres Glaubens fürchten. Sie mögen nicht ver- gessen, daß die Wahrheit uns nur dann nachteilig, ja verderblich werden kann, wenn wir sie nur halb erfassen oder gar, ihr aus dem Weg gehen. Denken wir sie unerschrocken durch, so werden wir heute, wie in Zu- kunft immer zu dem Schluß kommen, dab unserem Wissen eine Grenze gesetzt ist durch unseren eigenen (reist, dab aber jenseits dieser Grenze das Gebiet des Glaubens beginnt, das ein jeder sich ausgestalten möge, wie er es vermag und wie es seinem Wesen entspricht. In bezug auf die letzten Dinge hat uns GOETHE schon die richtige Formel gegeben, wenn er seinen „Naturgeist“ dem Faust zurufen läßt: „Du gleiehst dem Geist, den Du begreifst, nieht mir!“ Das wird der Mensch sich zu allen Zeiten zurufen müssen, damit aber bleibt auch das Be- dürfnis einer ethischen Weltanschauung, einer Religion, nur wird die- selbe ihre Formen wechseln müssen entsprechend «dem Voranschreiten unseres Wissens von der Welt. Aber damit wollen wir diese Vorlesungen nicht beschließen, nicht mit der bloßen Resignation! Wenn wir uns auch bescheiden, nicht alle Tiefen dieser wunderbaren Welt ergründen zu können, so bleiben wir uns wenigstens zugleich bewußt, dab sie eine für uns unergründ- liche Tiefe hat, und daß wir „still verehren* dürfen, „was uner- forsehlich ist“ (GOETHE). Die andere Hälfte der Welt aber, ich meine die uns zugängliche, bietet uns einen so unerschöpflichen Reichtum an Erscheinungen, und in ihrer Schönheit und dem harmonischen Ineinandergreifen der zahllosen Räder ihres wundersamen Mechanismus 332 Urzeugung und Entwicklung. einen so hohen und nie versagenden (Genub, daß seine Erforschung wahrlich wohl wert ist. unser Leben auszufüllen. Auch brauchen wir nicht zu fürchten, dab es uns jemals an neuen, noch zu lösenden Fragen und Problemen fehlen könnte. Wäre es selbst der Menschheit vergönnt, noch ‚Jahrhunderte lang in Ruhe und in der vielseitigen und rastlosen Weise weiter zu forschen, wie es in dem verflossenen ganzen Jahrhundert zum erstenmal seit Menschengedenken der Fall gewesen ist, so würde doch jede neue Lösung wieder neue Fragen bringen, und nach oben wie nach unten, in den unendlichen Räumen des Sternhimmels wie in der Welt mikroskopischer und ultramikroskopischer Kleinheit wird uns immer wieder neue Einsicht aufgehen, wird uns neue Befriedigung bringen, und unsere Begeisterung über die Wunder dieses so unbe- greiflich verwickelten und doch in so herrlicher Klarheit sich ab- wickelnden Weltmechanismus wird nie erlöschen. sondern immer wieder von neuem emporflammen und unser Leben erwärmen und erleuchten. Index. Die Seitenzahlen ohne römische Ziffer beziehen sich auf Band T, A. Abänderung einzelner Charaktere, II, p. 282; nieht jede ist Anpassung, II, p. 165. Acraeiden, ihre Immunität, p. 83. Affen mit Pelz in Tibet, II, p. 227. Affinitäten, vitale, innerhalb der „Person“, II, p. 31; innerhalb des „Id“, p. 306. AGAsSIZ, L., Unveränderlichkeit der Art, p. 15. a nlemeride, 1, p.l Aldrovandi, p. Allmacht der 2 IT.p: 292, Ameisen, mehrere Arten von Iden im Keimplasma, p. 319; harmonische Anpassung bei den sterilen Formen, II, p. 75; Verkümmerung der Flügel bei den Ar- beiterinnen, II, p. 76; Verkümmerung der Eierstöcke bei den Arbeiterinnen, U, p. 77; Zwischenformen zwischen Weibchen und Arbeiterinnen, II, p. 7S; WASMANNsche Erklärung dieser Zwischenformen, II, p. 79; Mo Terene rU- fescens, II, p. Sl; Zweigestaltigkeit der Arbeiterinnen, II, p. S2; Zahl der Königinnen im Stocke, II, p. 83. Amixie, II, p. 239, p. 241. AMMOoN, O., Abänderungsspielraum, II, p. 167, p. 172. Amöbennester, II, p. 184. . Amphigonie, p. 218; als Arterhalterin, II, p. 170. Amphimixis, allgemeine Bedeutung der, II, p. 161; Alter der, II, p. 169; Ammons Ab- änderungsspielraum, II, p. 172; Amöbennester als Vorstufe der, II, p. 184; Anfang der, II, p. 178; Auffassung der Parthenogenese als Selbstbefruchtung, IH, p. 196; — bei Coeceidien, II, p. 183; Chromosomen der Protozoen, II, p. 180; Kopulation von Coceidium, IT, p. 182; der Zyklusgedanke, p. 267; erbliche Befestigung der —, II, p. 167; fortgesetzte Inzucht, II, p. 193; A. kein for- mativer Reiz, II, p. 192: Galtons Häufigkeitskurve, II, p. 172; Amphimixis in bezug auf rudimentäre Organe, II, p. 189; ni ächste Folgen der, II, p. 185; Plastogamie als Vorstufe derselben, II, p. 154; Umprägung der Individualität durch dieselbe, II, p. 161: Amphimixis und natürlicher Tod, p. 274; unmittel- barer Vorteil derselben, II, p. 166; Ursprung der, II, p. 177; Verbindung von Fortpflanzung und, II, p. 176; Verstärkung des Anpassungsvermögens durch —, II, p. 187; Vorstufen der —, II, p. 178; A. keine Verjüngung im Sinne von Lebenserhaltung, II, p. 185. Anpassung der Blattschmetterlinge, II, p. 291; der Samenzellen für die Befruchtung, p- 225 u. 228; fakultative —, II, p. 233; funktionelle —, p. 198; harmo- nische —, II, p. 69 u. £.; p. 165; — ist nicht Zufall, sondern Notwendig- keit, II, p. 290; Unvollkommenheit der A., p. 169; Existenz- und Sexual- anpassung, II, p. 292. Aristoteles, p. 8 Arktische Tiere, sympathische Färbung derselben, p. 52. Art, die, ein Anpassungs- und Variationskomplex, II, p. so Artbild, Eintritt des, Br anlen. durch klimatische er I, .279; durch Natur- züchtung, Bi p- 279; Entstehung des A., II, p. 251 dn 279 u. £. Artbildung, II, p. 251; eradat durch Isolierung, In, p- 238; Celebesschnecken, II, p. 251; "die Art ein Komplex von Anpassungen, II, p. 255; ohne Amphigonie bei Flechten, II, p. 287; ohne Isolierung bei Lepus variabilis, II, p. 288; Pe- ridineen, II, p. 272; Schutzfärbung der Schmetterlinge, II, p. 260; Steinheimer Schneckenschichten, II, p. 256; Teleskopaugen bei Dunkeltieren, II, p Tiefseetiere, II, ‚p- 269; typische Arten, II, p. 256; Variation in bestimmter Richtung, II, p. 257; die Vögel als Anpassungskomplexe, II, p. 265; die Wale als Anpassungskomplexe, IT, p. 262: Wechselfruchtbarkeit mancher Pflanzenarten, II, p. 286. Arten, variable und konstante, II, p. 240. 334 Index. Artentod, II, p. 297; Aussterben der großen Tiere Mitteleuropas, II, p. 302; Aussterben durch die Kultur, II, p. 301; — durch maßloses Weitervariieren, II, p. 299; ‚ Machairodus, I, p. 300. niedere Typen sind anpassungsfähiger als hohe, I, ,. 301; Ausrottung flugunfähiger Vögel, II, p. 301. Artkolonten, E.p:239; Artweiterentwicklung siehe Weiterentwicklung. Assimilation, II, p. 310. AUERBACH, ee des sich teilenden Zellkerns, p. 237. Augenflecke, p. 58; II, p. 151. Auslösungen, der Determinanten in der Öntogenese, p. 312; Qualität der Nahrung als auslösender Reiz bei Bienen und Ameisen, II, p. 78. Autotomie, Selbstamputation, II, p. 14. B. BAER, K. E. von, Entwicklung des Hühnchens im Ei, p. 21. BARFURTH, Über "die Furchung des Seeigeleies, p. 333. Bastarde, II, pP: 497 u. T.: von Tauben, p- 28. BATES, Entdeckung der Mimikry, p. 76; über die Sauba-Ameise, II, p. 82. BECCARI, Amblyornis inornata, p. 182. b Bedeutung, allgemeine der Entwicklungslehre, p. 5; prospektuyes der Zelle, p. 309. Befruchtungsvorgang, der, p. 254; bei Algenpilzen, p. 255; bei Ascaris, p. 242; bei dem Seeigelei, p. 340: bei den Phanerogamen, p. 2 56; bei höheren Pflanzen, II, p- 210; Bedeutung des Chromatins, p. 234: Konjugation, p: 259; die Centro- sphäre als Teilungsapparat der Zelle, p. 236; das Chromatin ist die Vererbungs- substanz der Zelle, p. 235; Differenzierung der Individuen bei eh D 264; Halbierung der Chromosomenzahl, p. 242; Rolle der Centrosphäre, p. 25 : Zu- sammenfassung des —, p. 281. BELT, Pflanzen und Ameisen, p. 142. BENEDEN, EDURD von, Befruchtung des Ascariseies, p. 242; Deutoplasma, p. 230; Theorie der mitotischen Kernteilung, p. 238. BICKFORD, ELISABETH, Versuche über Regeneration, II, p. 6. Bienen, harmonische Anpassung bei den Arbeiterinnen, II, p. 75; Einfluß der Er- nährung auf die Verkümmerung der Övarien, II, p. ?S; Bedeutung der Ein- zahl der Königin, II, p. 83. Bindegewebe der W irbeltiere, D2319: BINSWANGER, Über die künstliche Epilepsie bei Meerschweinchen, II, p. 57. Biogenetisches Gesetz, Ansicht FRITZ MÜLLERS, II, p. 135; Crustaceenlarven, Il, p. 135; HAECKEL, II, p. 145; Zeichnung der Sphingidenraupen, I, p. 149; Zurück- rücken der Endstadien in der ÖOntogenese, II, p. 149. Biophoren, kleinste Lebenseinheiten, p. 301; Kampf der B., II, p. 46; Urzeugung von Biophoren, II, p. 309. Blattnachahmung bei Heuschrecken, p. 73: % Nachtfaltern, p. > bei Tagfaltern, p. 69, 299 295; bei Anaea-Arten, II, p. 260. 3LOCHMANN, Über Richtungskörper bei narthenoron ter Eiern, p. 249; über die Entwie klung des Bieneneies, p. 275; über Chromosomen bei Einzelligen, II, p. 243. Blumen, ihre Entstehung, p. 149; Anpassung der Blumen an Insekten, p- 157: ; bei Aristolochia, Pinguieula, Daphne, p. 154; Befruchtung der Yukka, p, 168; Ein- richtungen für Wechselkreuzungen, p. 152; Einschränkung der Besucherkreise, p- 163; Farben als Anlockung für Insekten, p. 162; Mundteile der Insekten, D- 1 solche der Biene, p. 155; — der Schabe, p. 159; — des Schmetterlings, p- 1585; Kreuzungseinrichtungen bei Orchideen, p. 155; beim Salbei, Läusekraut. Fliegenblumen, p2153: Sammeleinriehtungen der Biene, p. 160; Täuschblumen, Cypripedium, p. 166; U nvollkommenheit der Anpassung spricht für Entstehung durch Selektion, p. 169; Windbestäubung, p. 152. BLUMENBACH, Nisus formations, p. 255; Vererbung von Verstümmelungen, II, p. 56. Bois-REYMOND, Du, Zweifel an der Vererbung funktioneller Abänderungen, p. 198. BONNET, Präformationslehre, p. 287. BORDAGE, Regeneration, II, Den: BORGER T, Nachweisder Spaltung der Chromosomen bei der Teilung der Einzelligen, p. 1S1. BovERI, Befruchtung kernloser Eistücke mit fremdem Sperma, p. 279. BRANDES, Über das Aussterben der Machairodusarten und der Riesengürteltiere, II, p. 500; über die A 906 Umwandlung der Magense hleimhaut von V ögeln durch die 2 Nahrung, II, 22D. BROWN-SEQURD, Künstliche krrnlennie bei Meerschweinchen, II, p. 57. BRÜCKE, ERNST, Organisation der lebenden Substanz. p. 301. Index. 335 BÜTSCHLI, Ansicht über Amphimixis, p. 270; Entdeckung der Spindelfigur bei der Kernteilung, p. 237. BURDACH, Vererbung von Verstümmelungen, II. p. 56. BUTTEL- REEPEN, Huso vox, Über Befruchtung des Bieneneies, p. 250. c. CA1.KINS, Infusorienbiologie, Konjugation, I, p. 269. Centrale, Os, des Carpus, p. >. Ceratium, II, p. 273. Charaktere, rein morphologische, II, p. u Chromatin ist die Vererbungssubstanz, p. 235; Gründe dafür, p. 276—2S0. Chromosomen, ihr Vorkommen bei alien, II, p. 1851; ein- und mehrwertige (letztere — Idanten), p. 286; Individualität der Chromosomen, p. 285; Zahl der Chromosomen bei verschiedenen Arten, p. 235; Hinweise auf sehr kompli- zierte Struktur, p. 239; Gründe für sie, p. 248. Cenogenese, II, p. 146. Centrosphäre, p. 236, 252. Cirrhipedien, II, p. 202. CHux, Furchung des Ctenophoreneies, p. 333; Kerguelenkohl und Kaninchen, II, p- 303; Tiefseeforschungen, II, p. 269. CONKLIN, das Verhalten der Centrosphäre im Ei von Crepidula, p. 253, IL, p. 36. ÜCOPE, Vermeintliche paläontologische Beweise für das Lamarcksche Prinzip, I1,.9..67: CORRENS, Xenien, II, p. 51. ÜRAMPTON, Furchungsvorgang bei einer Meerschnecke, Ilyanassa, p. 334. CUVIER, p. 13; sein "Streit mit St. Hilaire, p. 20. D. DAHL, Uber Ameisen des Bismarckarchipels, II, p. 6. Danaiden, immune Tagfalter, p. 78. Danais Erippus und Limenitis Archippus (Mimikry), p. 94. DARWIN, CHARLES, Erstes Erscheinen der Entstehung der Arten, p. 23; sein Lebenslauf, p. 24. Darwıns Lehre, Abhängigkeit des Bestandes einer Art von SE, p. 41; Ab- hängigkeit der Häufigkeit einer Art von äußeren Umständen, 39: Korre- lation der Teile, p. 34; die Taubenrassen, p. 28; Entstehiinr- de Blumen, p. 151; der Haustiere, p. 26; geometrische '"Proportion der Vermehrung, p. 37; Kampf ums Dasein, p. 37; Kampf zwischen Individuen derselben Art, p. 43; künstliche Züchtung, p. En Naturzüchtung, p. 36; Naturzüchtung wirkt auf alle Teile und Stadien, p. 46; Pangenesis, II, p. 53; Variation, p. 36; Zu- sammenfassung, p. 47. DAarwın und NÄGELT, II, p. 278. DARWwIN, Erasmus, Entwicklungslehre, p- 14. DELAGE, Über die Keimsubstanz, p. 327; „Koffertheorie“, II, p. 3; Versuche am See- igelei, p. 280. DEWITZ, Uber den Ausfall der Flügel in der Ontogenese der Ameisenarbeiterinnen, 31.9: 76. Determinanten, aktiver und passiver Zustand, p. 310; Bestimmung der Zelle, p. 312; Beweise für ihr Dasein, p. 299, 303, 333; Zi 0280 der Gliedertiere, p. 299; ihre Auslösung, p. 312;- ihre Größe und Zahl, p. 302; — und Determinaten, p- 291; das Kräftespiel der D. im Keimpl: it Il, p. 130; verschiedene in einer Zelle fakultativ tätig, p. 315; ovogene und spermogene, p. 317. Deutoplasma, p. 230. Diatomeen, II, p. 272. Dimorphismus, sexueller, seine idioplasmatische Ursache, p. 317. Dıxos, Isolierung als Bedingung der Artbildung, II, p. 238. DÖDERLEIN, Steigerung von Charakteren in der Diluvialzeit, II, p. 117. Dornenwanzen, p. 74. Dotter, p. 230. DriEscH, „Prospektive“ Bedeutung einer Zelle (Werde - Bedeutung) p. 309, p. : Dziıerzon, Entdeckung der Parthenogenese bei Bienen, p. 218. Eehinodermen, ihre Mesodermzellen, p. 316. Eetocarpus, rein väterliche Nachkommen, p. 272. Enrrich, Versuche mit Rizin und Abrin, II, p. 90. IV 336 Index. EIGENMANN, Über blinde Wassersalamander, II, p. 291; über eine Leptocephalusart, 1,7243, Eireifung, p. 240. Eizelle. Gestalt und Bau, p. 229; Wanderungen derselben, p. 229. Elymnias, mimetische Tagfaltergattung, p. S6. EMERY, Über Artentod, II, p. 299; über Colobopsis truncata, II, p. S2; über Germinal- selektion, II, p. 117; Mischformen bei Ameisen, II, p. 79: Variieren homo- loger Gebilde, II, p. 159. Empedokles, p. S, II, p. 310, 317. Endemische Arten, II, p. 237. ENDRES, Werdebedeutung der Blastomeren des Froscheies, p. 332. Entstehung der Blumen siehe Blumenentstehung. Entwicklung, phyletische, Gleichnis, A Entwicklungsbahnen, II, p. 319. Entwicklungskräfte, In, p- 319. Entwicklungsmechanik, p.-289, p. 331. Entwicklungsmechanische Tatsachen, p. 332. Epigenese und Evolution, p. 287. Epilepsie, künstliche, bei Meerschweinchen, II, p. 57. Erbnachfolge, Wechsel der, II, p. 43. Erkenntnis, Grenzen der, II, p. 328. Evolution und Epigenese, p. 287. ExNER, Elektrische Anpassung des Haar- und Federkleides der Säuger und Vögel, IL, p- 265; Sehen der Insekten, p. 176. E Falklandinseln, Einfluß des Klimas auf Rinder und Pferde, II, p. 226. Farbenanpassung, doppelte, p. 54, 60. Farbenwechsel bei Fischen, Amphibien, Reptilien und Cephalopoden, II, p. 233. Färbung der Tiere, ihre biologische Bedeutung, p. 49. Färbung, sympathische, bei Nachtfaltern, p. 64; bei Tagfaltern, p. 62; der auf Grün lebenden Tiere, p. 53; der Eier, p. 5l; der nächtlichen Tiere, p. 54; der Polartiere, p. 52; der Wassertiere, p. 53. . Färbung, Zurückrücken der, in der Ontogenese, p. 61, Feder, die, als Anpassung betrachtet, II, p. 265. FISCHEL, Furchung des Ctenophoreneies, p.333; Regeneration der Tritonlinse, II, p. 17. FISCHER, E., Kälteversuche mit Schmetterlinespuppen, II, p. 231. Flechten, Fortpflanzen der, II, p. 218. Flügelanlage bei Insekten, p. 2906. FOREL, AUGUST, Alarmsignale bei Ameisen, II, p. 0; Mischformen der Ameisen, Iep79: Hortpflänzung, Anpassung der Samenzellen, p. 225; asexuelle, II, p. 217; Bau der Eizelle, p. 229; Bau des V ogeleies, p. 232; Bau der Zoospermien, p. 222; Fort- pflanzung der Amöben, p. 206; —- der Infusorien, p. 206; -— bei Pandorina morum, p. 209, 219; — der Flechten, II, p. 218; Differenzierang.der Keimzellen in männliche und w eibliche, p. 215; For tplanzung durch Keimzellen, p- 217; durch Teilung, p. 206; — doppelte Eier bei derselben Art, p. 231; Einährzellen, p- 232; Einführung des Todes in die Lebewelt, p. 212; Keimbildung der Me- tazoen, Gegensatz von Keim- und Körperzellen, p- 208; Knospung“ und Tei- lung der Metazoen, p. 215; potentielle Unsterblichkeit der Protozoen, p. 211; Samen und Ei bei Algen, p. 220; dieselben bei Volvox, p. 221, 212; Zoo- spermien der Muschelkrebse, p. 224; Zoospermien verschiedener Arten, p. 227. Fortpflanzungszellen, Bildung der, p. 334: ihre Bildung bei Dipteren, p. 335; bei Hydroidpolypen, p. 335. FRAISSE, Über Regeneration, II, p. 26. Funktion, passiv funktionierende Teile in bezug auf das Lamarcksche Prinzip, II, p- 65; harmonische Anpassung bei solchen, II, p. 69. Furchungszellen des tierischen Eies, ihre Werdebedeutung, p. 331 u. f. G. Galilei, p. 11. Gallapagosinseln, ihre Fauna, II, p. 237. Gallenpflanzen, kein Einwurf gegen Determinanten, p. 314 u. II, p. 227 w. £. Gallwespen, Fortpflanzung der, II. p. 209. GALTON, FRANCIS, Über eine Kontinuität der Keimsubstanz, p. 335; über Vererbung von Talenten, II, p. 126; Gs. Häufigkeitskurve, II, p. 172; Zweifel am La- uarckschen Prinzip, p. 198. Index. 337 Genie, menschliches, II, p- 330. Germinalselektion, II, p. 99: beeinflußt durch Personalselektion, II, p. 131: Be- ziehungen der Determinante zur Determinate, II, p. 1285; Kombination von Geistesgaben, II, p. 127; Einfluß der Amphimixis, II, p. 106; Einfluß der Mehrzahl der Ide, II, p. 106; Einwurf gegen dieselbe aus der Kleinheit der ae des Keimplasmas, II, p. 132; Entartung einer Art durch Kul- ter,- 11, 122; es gibt nur Plus- und Minusvariationen, II, p. 128; exzessive ne von Charakteren, II, p. 117; Grundlage von Geschlechtscharakteren, II, p- 114; ihre Wirkungssphäre, II, p. 107; kleine Hände und Füße bei den höheren Ständen, II, p. 124: Klimaformen, II, p. 113; Knospenvariationen, II, p. 119; Kräftespiel im Determinantensystem, II, p. 130; künstliche Züch- tung, II, p. 104: II, p. 110; Kurzsichtigkei t,II, p. 123; Milchdrüsen, II, p. 124; Mißbildungen, II, p. 116; Muskelschwäche der höheren Stände des Menschen, I 9: 124: positive Variation, II, p. 104; reguliert durch Personalselektion, II, p-. 111; Quelle rein morphologischer Charaktere, II, p. 112; Schwinden funk- tionsloser Teile, II, p. 101; Schwinden nutzloser Teile, II, p. 110; Selbstregu- lierung des Keimplasmas, II, p. 10S; spezifische Talente, II, p. 125; Spiel- varjationen, II, p. 118; spontane und induzierte Germinalselektion, II, p. 116; Steigerung einer Entwicklungsrichtung bis zum Exzeß, II, p. 110; Überwiegen der Panmixie, II, p. 101; Ursprung sekundärer Geschlechtscharaktere, II, p. 181: 9 120: Geschlechtsbestimmung, p. 308; IL, p- 39 u. 43. Geschlechtszellen, gegenseitige Anziehung der, II, p. 192. GESSNERS Tierbuch, p. 11. Glasflügler unter den Schmetterlingen, p. SS. Glastiere, sympathische Färbung, p- 53. Gleichgewicht zwischen den Arten eines en p- 42. GODELMANN, Regeneration von Phasmiden, II, p. 25, Anm. GÖBEL, p. 220. -GOETHE, Urtypus und Urpflanze, p. 14. Grenzen der Erkenntnis durch Selektion bestimmt, II, p. 329. GRUBER, A., Regenerationsversuche an Protozoen, p. 278. Grüne Tiere, sympathische Färbung, p. 53. GUIGNARD, Befruchtung der Phanerogamen, p. 256. GULICK, Schnecken auf den Sandwichinseln, II, p. 246. MM: Haarkleid der Säuger, Anpassung an die Lebensbedingungen, II, p. 226. HAASE, EHRICH, Über Aristolochienfalter, P- St; über Mimikry I: Sb. HABERLANDT, Schutz der Blätter, II, p. 113, Auxosporen, II, p. 155. HAECKEL, Ernst, Biogenetisches Grundgesetz, II, p. 145; Mono- und Amphigonie, p- 218; Palingenese und Cenogenese, II, p. 145; Stammbäume, II, p. 325. HÄCKER, VALENTIN, Bedeutung des Nucleolus, p. 235; Getrenntsein väterlicher und mütterlicher Kernsubstanz während der Entwicklung, II, p. 36: Kernteilungs- vorgang, p. 238. Hahn, japanischer, p. 292. HAHNEL, Beobachtungen über die Feinde der Tagfalter, p. 128: Eidechsen als Schmetter- lingsfeinde, p. S2; Libellen als Schmetterlingsfeinde, p. 52; über Vögel als Schmetterlingsvertilger, p. S2. HALLER, Samenfäden, p. 218. Harmonie, prästabilierte, scheinbare bei der Art- und Erdentwicklung, II, p. 260. HARTOG, Ansicht über Amphimixis, p. 274; II, p. 167. HAYCRAFT, Über die ausgleichende Wirkung der EEE ODIR, II, p. 170. HEIDENHAIN, Theorie der mitotischen Teilung, p. 2 HEIDER, Über die intimen Vorgänge der Eifurchung, „ Re al itions“- u. Mosaikeier, p. 334. Helikoniden, erstes Beispiel immuner Tagfalter, p. 76. HENSLOW, Über rein morphologische Artunterschiede, II, p. 258. HERBST, Lithionlarven, p- 313; II, p. 233. HERING. seine Gründe für Annahme einer Vererbung funktioneller Abänderungen, IL, p. 92. 3 HERRICH-SCHÄFER, Uber Mimikry, II, p. 87. HERTWwiG, O., Befruchtung des Seeigeleies, p. 240; Entwicklungstheorie, p. 290; gegen erbungleiche Zellteilung, p. 307: Gründe für eine Vererbung funktioneller Ab- änderungen, II, p. 90; Reifeteilungen der Samenzelle, p. 245. HERTWwIG, R., Nachweis von Chromosomen bei Aectinosphärium, II, p. 181. Heterogonie, II, p. 205. Weismann, Deszendenztheorie. II. 2. Aufl. -. 338 Index. Heteromorphose, II, p. 6; von Loeb, p. 6. Heterostylie bei Blumen, II, p. 213 Heterotopien, p. 299 und p. 300. Heuschrecken, Schutzfärbung der, p. 65. HrRASE, Befruchtung der Phanerogamen p. 256. Histonalselektion, p. 196, H. und Personalselektion, p. 229. HÜBNER, O., Versuche über Regeneration bei Volvox, II, p. >. Hund, Rassen des Hundes, p. 27; Anhänglichkeit des H., II, p. 63. HyYATT, ALPHEUS, Die Steinheimer FERN SRH, II, p- 256. HYDRA, Regenerationsvermögen, I, p. 4 Hydroidpolypen, Keimzellenbildung, p. 335. 1. JAEGER, G. Über Kontinuität der Keimzellen, P- 339: Idanten, p. 286. ; Ide, p. 285; weibliche und männliche, p. 3185; Mimikry als Beweis für die reale Existenz von Iden, p. 319. Immunität bei Schmetterlingen, p. 83. Infektion des Keimes, II, p. 58. Infusorien, Versuche von Maupas, p. 269; solche von Calkins, p. 269; Differen- zierung des Kerns d. I. in Groß- und Kleinkern, ein Mittel zur Erzwingung der Konjugation, p. 274. Inselfaunen, II, p. 237 u. £. Instinkt, p. 117; II, p. 60. Instinkte, Anhänglichkeit des Hundes, II, p. 63: Eiablage der Schmetterlinge, p. 132; einmalig ausgeübte, II, p. 65; Entstehung der Instinkte, II, p. "60: Irren der, p. 124; Maskierung des Taschenkrebses, p--120; materielle Grundlage, p. 118; Monophagie der Raupen, p. 122; Nahrungstrieb bei Ephemeriden, See- gurken, Sauerfischen, p. 122; Nahrungstrieb, p. 121; neue Instinkte bei domesti- zierten Tieren, II, p. 61; nur einmal ausgeübte, p. 129; rasches und lang- sames Fliegen der Sc hmetterlinge, PR: Selbsterhaltungstrieb, p- 119; „sich totstellen“, p. 120; und Wille, p. 127; Unvollkommenheit der Anpassung, p- 1005 Vererbung der Instinkte, Il, p. 62; Verpuppung der Schmetterlinge, p. 129; Wechsel der Instinkte, bei Eristalis, 'Sitaris, p. 124; Zutraulichkeit wilder Tiere auf einsamen Inseln, II, p. 63. Intraselektion oder Histonalselektion, p. 1906. Inzucht, schlimme Folgen der, II, p. 193. ISCHIKAW A, Über Chromosomen bei Einzelligen II, p. 151; über die Konjugation von Noctiluca, p. 260; IL, p. 36. Isolierte Gebiete, II, p. 238. Isolierung begünstigt die Artbildung, II, p. 235; relative, II, p. 295; Schnecken auf den Sandwichinseln, II, p. 246. K. Kälteaberrationen bei Schmetterlingen, ihre Erblichkeit, II, p. 230. Kaleidoskop, Umwandlung nach Art des, II, p. 258. Kallima, Blattnachahmung, p. 69; p. 192. Karyokinese, p. 237. Kathariner, Vögel als Tagfalterfeinde, p. S1. Keimbahn, p. 335 u. f. Keimbläschen, p. 241. Keimesinfektion, Il, p. DS. Keimplasma, Begriff des, p. 535; Kontinuität des, p. 335; Ernährungsschwankungen in seinem Innern, p. 309; sein Bau, p. 305; seine Veränderung durch das Klima, II, p. 226; seine Veränderung durch die Nahrung, II, p. 225; seine Veri änderung durch Mediumeinflüsse, Il, p. 224; seine Zerlegung in der Onto- genese, p. 309; dasselbe ist veränderlich und beharrend zugleich, I, p. 164. Keimplasmatheorie, p. 252, aktiver und passiver Zustand der Determinanten, p- 310; Auslösung der Determinanten, p. 312; Auslösung der Zelle, p. 312; Begriff des Id, p. 256; Belege für die Existenz von Determinanten (Lycaena agestis, Blatt- schmetterlinge, Insektenmetamorphose, Heterotopien, p. 291; Determinanten und Determinaten, p. 291; Herbsts Lithionlarven, p. 313; Idantenbegriff, p. 286; Mesodermzellen der Seeigel, p. 316; Nebenidioplasma, p. 313; Pflanzen- allen, p- 314; Polymorphismus, p. 318; Sexueller Dimorphismus, p. 317; Weib- liche und männliche Ide, p. 318; Zellen der Bindesubstanzen, p. 315; Zer- legung des Keimplasmas in der Ontogenese, p. 310. Index. 339 Keimstätte, Verschiebung derselben bei Medusen und Polypen, p. 3506. Keimzellen und Körperzellen, p. 334; Bildung der Keimzellen, p. 334; ihre gegen- seitige Anziehung, II, p. 193. KENNEL, über Vögel als Schmetterlingsvertileer, p. S1. KERNER VON MARILAUN, Alpenpflanzen, p. 101; Einfluß der Bastardierung auf die Bildung neuer Arten, II, p. 295. Kernteilung, Vorgang der, p. 236; erbgleiche und erbungleiche Kernteilung, p. 306. Kind, Bestimmung des Kindes mit der Befruchtung gegeben, II, p. 4). Klima, abändernder Einfluß des, II, p. 226. Klimavarietäten, II, p. 226; Feuerfalter, II, p. 229. Knospung und Teilung, II, p. 1. Koadaptation, II, p. 68; Beispiel der Krebsschere, II, p. 72; — der Schmetterlings- zeichnung, II, p. ‘4; — des Vorderbeins von Gryllotalpa, II, p. 72. KÖHLER, Über Duftschuppen bei Lyeäniden, II, p. 177. Kolibriarten, durch Isolierung fixiert, II, p. 243. Kombinationen von Determinanten, II, p. 34. Konjugation der Protozoen, p. 250; von Paramaeeium, p. 261. Konstanz- und Variabilitätsperioden, II, p. 247: Konstanzgrad eines Charakters wächst mit seiner Dauer, II, p. 168. Konvergenz, II, p. 271. Kopernikus, p. 11. Kopulation von Coceidium proprium, Il, p. 181. Korrelation, der Teile des Körpers, p. 34, II, p- +4; der Determinanten im Keim- plasma, I, p. 129. Korsika, endemische Schmetterlinge, II, p. 239. KOSHEWNIKOW, Uber den Einfluß königlicher Nahrung auf Drohnenlarven, II, p. 75, N KÜCKENTHAL, Über das Haarkleid. der Wassersäugetiere, II, p. 227. Kulturpflanzen, ungeschlechtliche Fortpflanzung der, II, p. 219. LE: LAMARCK, Entwicklungslehre, p. 16; über ‚Gattungs- und Artgrenzen, Il, p. 257. Lamareksches Prinzip, II, p. 53; L. nahm die Vererbung funktioneller Abände- rungen als selbstverständlich an, p. 197; Abänderung passiver Teile, II, p. 65; Darwins Stellung dazu, p. 197; entgegenstehende Tatsachen (Vorderbein von Gryllotalpa u. s. w.), II, p. 72; Flügelgeäder der Schmetterlinge, II, p. 4; GALTONs Stellung dazu, p. 198; Neutra von Ameisen und Bienen, II, p. «5; Herings Ansicht, II, p. 92; 0. Hertwigs Ansicht, II, p. 90; Phyletische Entwieklungsbahnen, II, p. 67; Putzscharte der Biene, II, p. 72; Schere des Krebses, II, p. 72; Schrillorgane, II, p. 70; Skelett der Gliedertiere, II, p- 69; theoretische Abweisung des Lamarckschen Prinzips, II, p. 91; Zehn- ders Verteidigung desselben, II, p. S4; die Zwischenformen der Ameisen, II, p- 78. Lathraea, p. 112. LAUTERBORN, Über Amphimixis bei Diatomeen, II, p. 181. Lebenskraft, II, p. 309. Leptocephalus diptychus, II, p. 113. Lepus variabilis, p. 52; II, p. 258, 295. Leuchtorgane bei Tiefseetieren, II, p. 269. LEUCKART, Trichosomum erassicauda mit Zwergmännchen, p. 185; Bau der Schnecke, I, p: 252. LEUCKART, V. SIEBOLD, Parthenogenese, p. 248. LEUWENHOEK, Erste Anwendung des Mikroskops, p. 12. LEeypiG, Regeneration des Eidechsenschwanzes, Il, p. 26. LreBiG, Theorie der Entstehung des Lebens, II, p. 305. Linn&, Artbegriff, p. 12. LLoyD MORGAN, Künstlich angezüchtete Instinkte, II, p. 61. LoEB, Versuche über Regeneration, p. 6; Zellkern als Oxydationsorgan, II, p. 27. M. MAC CULLOCK, Autotomie, II, p. IH. Machairodus, II, p. 300. Mauras, Intime Vorgänge bei der Konjugation, p. 261; über Konjugation der Infu- sorien, p. 269. Mediumeinflüsse, II, p. 224. Mendels Gesetz, II, p. 40. Merogonie, Befruchtung kernloser Eistücke, p. 280. 340 Index. MERRIFIELD, Temperaturversuche mit Polyommatus Phlaeas, II, p. 229; Kältever- suche mit Vanessa-Arten, II, p. 230. MEYER, HERMANN, Architektur der Knochenspongiosa, p. 200. Mimikry, p. 76; bei Käfern, Bienen, Ameisen u. s. w., p. 96; bei Wirbeltieren, p. 98; der Schmetterlinge ohne Einfluß auf Raupe und Puppe, p. 87; der- selbe Effekt auf verschiedene Weise hervorgerufen, p. SS; die Arten schutz- bedürftiger Gattungen ahmen ganz verschiedene Vorbilder nach, p. 55; Elym- nias undularis, p. SS; Grad ‘der Ähnlichkeit mit dem Vorbild, p- 87; in beiden Geschlechtern, p. SO; mehrere Nachahmer derselben immunen Art, p- S4; Papilio Merope, p- 9; "Papilio Turnus, p. 92; Parasitismus ruft Mimikry hervor, p. 97; Ringe immuner Arten, p. 93; Seltenheit mimetischer Arten, p: 90; starke Abweichung mimetischer Arten von ihren Verwandten, p. 9. Mischlinge bei Pflanzen, II, p- 49. Mitose, p. 236. MOoEBIUS, p. 221. Monismus, II, p. 329. Monogonie, p- 218. MONTGOMERY, Über Reduktion der Chromosomen, II, p. 37. MORGAN, Versuche über Regeneration, II, p- 6, 12. Morphologische Merkmale, rein in Germinalselektion wurzelnd, II, p. 112; Streit um ihre Existenz hinfällig, II, p. 112; II, p. 259. Mortox, THoMAs, Über Degeneration der Kinder von Trinkern, II, p. 59. MÜLLER, FRITZ, "Duftschuppen p. 177; über Mimikry, p. 93; über Pflanzen und Ameisen, p. 142; Beziehungen zwischen Ontogenese und Phylogenese, II, p. 135. MÜLLER, JOHANNES, Sehen der Insekten, p. 176. Musiksinn des Menschen, II, p. 125. Mutationstheorie von DE VRIES, II, p. 266. N. Nachtfalter, Schutzfärbung, p. 64. NÄGELI, CARL VON, über die Annahme einer bestimmt gerichteten Variation, II, p- 257; Einwurf gegen die Entstehung der Blumen mittelst Selektion, p. 164; über den Ground von Ei und Samen, p. 277, seine Hieraciumver- suche, II, p. 228; Versöhnung von Nägelis und Darwins Ansichten durch Germinalselektion, II, p. 278; über bestimmt gerichtete Variation, II, p. 522; Zahl kleinster Lebensteilchen in einem Moner, II, p. 308. Nahrung, verändernder Einfluß der, II, p. 224; Verhältnis von Nahrung und Menge der Individuen einer Art, p. 58. NATHUSIUS, v., Inzuchtversuche, II, p. 194. Naturzüchtung, nicht direkt beobachtbar, p. 48; philosophische Bedeutung der —, p- 47; Allmacht der —, II, p. 292; — unter dem Einfluß der Isolierung, II, p. 244. Nebenidioplasma, p. 313. Neo-Lamarckismus, p. 198. Neotaxis, II, p. 34. Nervenbahnen in bezug auf Instinkte, II, p. 61. NOORDUYN, Rückschlag bei Kanarienvögeln, II, p. +7. Normalziffer einer Art, p. 59. Notodonta, Schutzfärbung, p. 67. NUSSBAUM, M., Regenerationsversuche an Protozoen, p. 278; über Kontinuität der Keimzellen, p. 335; Infektion der Eizellen bei Hydra, II, p. 59. OÖ. ÖKENS Naturphilosophie, p. 18 . Öntogenese, Beziehungen zur Phylogenese, II, p. 134; Zurückrücken der phyletischen Stadien in der In I, .p: 149; Verdichtung der Phylogenese zur O., II, p. 156. Orchideen, Befruchtung der, II, p. 315. Ordensbänder, Anpassungsfärbungen der einzelnen Arten, II, p. 260. Organe, rudimentäre, II, p. 189. OÖSBORN, Vermeintliche paläontologische Belege für das Lamareksche Prinzip, II, p. 67. Ovarien, p. 230. Ovogene Determinanten, p. 317. P. PACKARD, Schwund nutzloser Teile, II, p. 110. Palingenese, II, p. 145. Pandorina, Fortpflanzung, p. 209, 219. Pangenesis, II, p. 53. Index. 341 Panmixie, II, p. 9. Papilio Meriones und Merope, p. 90; P. Merope, p. 78, 319; P. Turnus, schwarze und gelbe Weibchen, p. 92. Parthenogenese, Entdeckung der P., p. 248; ausnahmsweise und künstliche P., p. 251; fakultative P. bei Bienen Be ihre Korrektion in bezug auf das ne II, p. 197; Receptaculum seminis bei männerlosen Cyprisarten, II, p. 196; reine P., p. 267; Vorteile der P., II, p. 204; Wirkungen der P. im Vergleich mit denen der Inzucht, II, p. 195 u. f.: Wechsel von P. mit zweigeschlechtlichen Generationen (Heterogonie), II, p. 204. Personalselektion, Fernwirkung der, II, p. 168. PETRUNKEWITSCH, A., teifeteilungen vom Bienenei, p. 251, 276. PFEFFER, Rolle der Apfelsäure bei der Befruchtung der Farne, p. 223. Pflanzen, Befruchtung der höheren, II, p. 210; fleischfressende —, p. 100; und zwar Aldrovandia, p. 115; Dionaea, p. 114; Drosera, p. 113; Lathraea, p. 112; Ne- penthes, p. 111; Pinguieula, p. 113; Utrieularia, p. 110. Pflanzengallen, II, p. 227. PFLÜGER-BORN, Kreuzungsversuche, II, p. 194. Phasmiden, ihre Regenerationskraft, II, p. 15. Phylogenese, ihre Verdichtung zur Ontogenese, II, 156. Phylogenetische Veränderung” der Raupe und des Schmetterlings unabhängig von- einander, p. 290. Physiologus, der, p. 10. PıcrEt, Turbanaugen bei den Männcheu von Eintagsfliegen, p. 17. Plastogamie als Vorstufe der Befruchtung, II, p. 154. i PLATE, Über die tropische Wirkung des funktionellen Reizes, p. 204. PLarEaus Blumenv ersuche, p. 162. Piiwtvs, p. 9. Polymorphismus, seine idioplasmatische Wurzel, p. 318. ‘Polyommatus Phlaeas, Dimorphismus der Raupen, p. 297; Klimavarietäten, II, p. 229. Postgeneration von ROUX, p. 332. POUCHET, Urzeugung, II, p. 306. PouULToN, Uber fakultative Farbenanpassung bei Raupen, p. 317, II, p. 255; über Mimikry, p- SS. Präformation und Epigenese, p. 287. Primordialmännchen der Cirrhipedien, II, p. 205. Protozoen, Chromosomen bei, II, p. 181. Psychisches Vermögen der Lebewesen, Il, p. 328. Q. (UETELETT, Amphigonie als Ursache von Mittelbildungen, II, p. 170. R. Radiolarien, Kieselskelette, II, p. 272. Rand, Versuche über Regeneration an Hydra, p. 5. Rankenfüßer, II, p. 202. Rassenbildung auf Anpassung beruhend beim Nußhäher, II, p. 251; auf Grund von Germinalselektion, II, p. 121. RATH, O. vom, Über künstlich angezüchtete Instinkte, II, p. 62; über den Einfluß königlicher Nahrung auf Drohnenlarven, II, p. 78. RAUBER, Über Kontinuität der Keimzellen, p. 335. Raupen, Schutzzeichnung, p. 56; biogenetisches Gesetz, II, p. 149. Ray, JoHs, Begriff der Art p. 12. Reaktionen, primäre und sekundäre, II, p. 233. Reblaus, Fortpflanzung der, II, p. 209. Reduktionsteilung, s. Reifeteilung. Regeneration, II, p. 1; atavistische, Il, p. 24; Auslösung der ‚„ U, p. 21; Auto- tomie, II, p. 14; — bei Hydra, II, p. 4; — bei Hydroidpolypen, II, p. 7; — bei Pflanzen, II, p S, 29; bei Planarien, II, p. 6, 12; — bei See- sternen, II, p. 23; — bei Vögeln, II, p. 12; bei Wirbeltieren, II, p. 8; bei Würmern, Il, p. 9; — der Tritonlinse, II, p. 16; eine Anpassungserscheinung, p- 7; die Kernsubstanz erstes Organ für —, Il, p. 26; phyletische Entstehung der —, II, p. 20; progressive —, II, p. 26; — Determinanten, II, p. 23; Kraft, Schwund der --, II, p. 13; und Knospung, Il, p. a7; Beziehung zur Verletzbarkeit eines Teils, II, p. 7; unzweckmäßige —, II, 22. Reifeteilung, p. 241; Notwendigkeit derselben, p. 248: bei Daten, p. 258: der Eizelle, p. 244; der Samenzelle, p. 246; Einfluß der —, II, p. 331. 342 Index. REINKE, Gegen die „Maschinentheorie“ des Lebens, p. 325; über Regeneration, II, p- 28; Dominantenlehre, p. 328. Richtungskörper, p. 240. Rırey, Befruchtung der Yukka durch die Yukkamotte, p. 167. RITZEMA-BoSs, Versuche an Mäusen, II, p. 56. ROMANES, Isolierungstheorie, II, p. 235; physiologische Selektion, Il, p. 283; über Panmixie, II, p. 98. tOSENTHAL, Versuche mit Mäusen, II, p. 506. tOUX, WILHELM, Mosaiktheorie, p. 310, 332; Furchung des Froscheies, p. 332; Kampf der Teile p. 199; Postgeneration, p. 332. tudimentäre Organe beim Menschen, II, p. 159. Rückbildung eines typischen Organs kein ontogenetischer, sondern ein phylogenetischer Vorgang, II, D.77u.t; funktionsloser Teile, theoretische Erklärung, I, p.9S, 101. RÜCKERT, Kernsubstanz bei Copepoden, II, p. 36. Rückschlag, II, p. 45; bei Datura, II, p. 47; bei den Tauben, II, p. 47; beim Pferd, II, p. 48; bei Kanarienvögeln, Zusatz, II, p. 48. S. Säuger, Anpassung der Säuger an das Wasserleben, II, p. 279. SAMASSA, Über Furchung des Froscheies, p. 399- Samenzellen, p. 222; Anpassungen derselben, p. 225. SARASIN, Celebesschnecken, II, p. 251. Saturnia, Verpuppung, p. 131. SCHAUDINN, Befruchtung bei Coeceidien, II, p: 179; Reifeteilung beim Sonnentierchen, p- 260. SCHIMPER, Pflanzen und Ameisen, p. 142. SCHLEIDEN-SCHWANN, Entdeckung der Zelle, b- 22. SCHMANKEWITSCH, Versuche mit Artemia, II, 28: Schmarotzer, Anpassungskraft derselben, II, p. 391. Schmetterlinge, ihre Feinde, p. Sl; Trutzzeichnungen, p. 58; Kälteaberrationen, Il, p. 230; Erblichkeit derselben, II, p. 231; endemische Arten, II, p. 239; polare und alpine a Il, p. 240; Tagfalter der malaiischen Region, II, p. 24H. SCHMIDT, OSKAR, Il, p. 27 Schneekenschichten, N II, .p.- 256. SCHNEIDER, Entdeckung der Kernteilungsfigur, p. 237. SCHÜTT, Diatomeen, II, p. 272. SE Anteil der Belichtung, p. 64; Hebomoja, p. ‘2; Kallima, P- 69, p: 192; Notodanta, p. 67; wi p- 69; stets nur relativ schützend, p. 53, 7. Schutzvorrichtungen bei Pflanzen, p. 99; Alpengestände, p. 104; ätherische Öle, p. 100; chemische Stoffe, p- 106: Dornen, p. 101, 103; Gifte, p. 100; Haare, p- 102; Priganagestrüpp, p. 104; Raphiden, p. 107; Schutz gegen kleine Feinde, p. 105; Traganthstrauch, p. 105. Schutzzeichnungen der Raupen, p. 56. SCHWARZ, Muschelkrebse, p- 225. Schwinden nichtgebrauchter Teile, II, p. 101; ungleich vorschreitend, II, p. 110. SEITZ, Ein Fall von Mimikry, p. 95. Selbstbefruchtung bei Pflanzen, II, p. 212; Den Einfluß, II, p. 216; Wechsel von Selbst- und Kreuzbefruchtung, II, p. 202. Selbsterhaltungstrieb, p. 119. Selektion, sexuelle, p. 171; aufblasbare Vogelhörner, p. 187; Düfte und Duftschuppen, p- 176; Ersatz des Schmuckes dureh Liebeswerbung, p. 182; Fehlen sekundärer (eschlechtscharaktere bei niederen Tieren, p. 155; Gesang der Cicaden und Vögel, p. 180; Kleinheit gewisser Männchen, p. 185; Mannigfaltiekeit des Schmuckes sukzessive erworben (Kolibris), p. 181; Prinzip der Mode tätig bei phyletischer Umfärbung, p. 191; Sehen der Schmetterlinge, p. 176; Spezies- und Brunstdüfte, p. 179; Spürorgane der männlichen Insekten und Krebse, D- 182; Turbanaugen der Ephemeriden, p. 187; Übertragung männlicher Charaktere auf die Weibchen, ‚p. 159; Waffen der Mi A für den Kampf um die Weibehen, p. 185, Überzahl der Männchen, p. 173; Vorrichtungen zum Fangen der Weibehen, p. 183; Wählen der W an p- 174; Weibehendüfte, p. 179; Zeiehnungsmuster bei Tagfaltern, p. 193; S. im Zusammenhang mil Isolierung, IKen: 222, 244 u. f.; Zusammenfassung, p. 194. Selektionsvorgänge, Stufen der, II, p. 223; Ineinandergreifen derselben, II, p. 223; Leitung der gesamten Evolution durch sie, II, p. 223. Selektionswert, Ian 112, 20: Sexnalcharaktere, sekundäre in Germinalselektion wurzelnd, II, 111, p. 120 u. f., 242 u. f. Sexuelle Selektion, s. Selektion, sexuelle. Index. 343 Sexuelle Züchtung bei Isolierung, II, p. 242 SIEDLECKY, Kopulation bei Coceidium proprium, II, p. 183. SIMROTH, Raublungenschnecken, II, p. 253; Anm. SLEVOGT, Über Vögel als Sehmetterlingsvertilger, p- 81. SLUITER, Über Symbiose, p. 139. SMERINTHUS, Raupenzeichnung, II, p. 150, 155. SOMMER, Über künstliche Epilepsie bei Meerschweinchen, II, p- 58. Spanner, Raupen der, Rindennachahmung, p. 294. SPENCER, HERBERT, Keimsubstanz aus gleichartigen Teilchen, p. 290; über „Units“ kleinste Lebensteilchen, p. 301; Schutzvorrichtungen der Pflanzen auf Selektion zu beziehen, II, p. 66. Spermarien, p. 230. Spermatozoen, s. Zoospermien. Spermogene Determinanten, p. 317. Spezialforschung, Periode der, p. 21. Spezies als Kristall, II, p. 282. Sphingidenraupen, biologischer Wert ihrer Zeichnung, p. 61; Ontogenese und Phylo- genese der Zeichnung, II, p. 149. Sphinx convolvuli, doppelte Anpassung der Raupe, p. 60; S. euphorbiae, var. Nicaea. reine Raupenlokalform, p. 296. Sprengel, Befruchtung der Blumen durch Insekten, p. 150. Stabheuschrecken, p. 7+. STANDFUSS, Kälteversuche mit re 11,:P. 238. Steinheimer Schnecken, II, p. 256. STELLER, Über die Seekuh (Rhytina Stelleri), II, p. 63. Sterbliehkeit der Vielzelligen, p. 211; Ursachen derselben, p. 214. STRASBURGER, Befruchtung der Phanerogamen, p- 256. ST. HILAIRE, Lehre von der Einheit des Bauplans, p. 15. STUHLMNN, Über Zoospermien der Muschelkrebse, p. 225. SWAMMERDAM, p. 12. Symbiose, Armleuchterbaum und Ameisen, p- 142; Einsiedlerkrebse und Hydroid- polypen, p. 136; Einsiedlerkrebse und Seerosen, p. 135; Entstehung der Sym- biosen, p. 146; Flechten, p. 144; Fischehen und Seerosen, p. 139; grüne Amöbe, p. 141; güner Süßwasserpolyp, p- 140; Nostoe und Azolla, p. 147; Seerosen und gelbe Algen, p. 142; Wurzelpilze, p. 146. r Tagfalter, Schutzfärbungen, p. 62. Talente, spezifische des Menschen, bezogen auf Germinalselektion, II, p. 125; be- ruhen auf einer Kombination von Geistesgaben, II, p. 127 Taubenrassen, p. 28. Teilung, Beweis für erbungleiche Kernteilung (die männlichen und weiblichen Eier der Reblaus), p. 309; Vermehrung durch —, II, p. 1. Teilungsapparat des Eies, p. 236, 252. Termiten, II, p. 83. TICHOMIROFF, Künstliche Parthenogenese, p. 251, 272. Tod, natürlicher p. 212; 214. TREVIRANUS als Begründer der Entwieklungslehre, p. 16, über Gattungsunterschiede, Hp. 297. TRIMEN, Beobachtungen über Immunität der Acraeiden p. 8». Tropismen bei Pflanzen, II, p. 232. Trunksucht, II, p. 59. U. Unsterblichkeit, potentielle der Protozoen, p. 211, II, p. 176 u. f. Unvollkommenheit der Anpassungen, p. 169. Urzeugung, Allgemeines, II, p. 305; Bedingungen für dieselbe, II, p. 309; nur bei unsichtbar kleinen Organismen möglich, II, p. 308; Ort derselben, II, p. 310; Unmöglichkeit ihrer Erweisung oder Widerlegung durch das Experiment, II, p. 307. V. Vanessa, einheimische Arten mit Schutzfärbung, p. 62 u. f., 195. Variabilität, fluktuierende, II, p. 275. Variation, alle in letzter Instanz quantitativ, II, p. 128; bestimmt gerichtete, II, p- 100, 279; doppelte Wurzel der V., Il, p. 161; nach aufwärts gerichtete V., II, p. 104; spiel- oder sprungweise V., II, p. 118, 121; Wurzel der erblichen 0.0. 10. 344 Index. Variationsperioden, II, p. 247. Vererbung erworbener Eigenschaften, II, p. 53 (s. auch Lamarcksches Prinzip); V. funktioneller Abänderung, II, p. 55; Vererbungsrichtung, Wechsel der V. in der Ontogenese, II, p. 42; Vererbungssubstanz, p. 235, 279; Überwiegen des einen Elters im Kind, II, p. 41; V. vom Elter auf das Kind, II, p. 32; V. von Verstümmelungen unerwiesen, II, p. 55; V. bei Bastarden, II, p. 4. Verjüngung des Lebens, Annahme einer, p. 266. Vernichtungsziffer, p. 39. Verstümmelungen, vermeintliche Vererbung von, II, p. 55. VIRCHOW, RUDOLPH, Zur Vererbung von Verstümmelungen, II, p. 52. Vitalismus, II, p. 309. VOECHTING, Einfluß des Lichtes auf die Blütenproduktion, II, p. 232; über Regene- ration, II, p. 28. Vögel, auf Anpassung beruhend, II, p. 265. VOIGT, WALTER, Regenerationsversuche, II, p. 6; an Planarien, II, p. 21. VoIt, KARL vo, Einfluß der Ernährung auf die Körpergröße, II, p. 225. Volvoeineen, Fortpflanzung, p. 210, 219. Voraussagen auf Grund der Entwicklungslehre, p. 3. VRIES, DE, asymmetrische Häufigkeitskurven, II, p. 174; Mutationstheorie, II, p. 266; Pangentheorie, p. 311. W. WAGNER, FRANZ voN, Regeneration von Lumbrieulus, II, p. 24. WAGNER, MORITZ, Über den Einfluß der Isolierung, H, p. 238. WaHr, BRUNO, Über nachembryonale Entwicklung von Eristalis, p. 326. Wale, durch Anpassung entstanden, Il, p. 262. WALLACE, Über die Immunität der Heliconiden, p. S3; über die Ursachen der Schmuck- färbungen, p. 172. | WASMANN, ERICH S. J., Über Zwischenformen beı Ameisen, II, p. 79; über Laut- äußerungen bei Ameisen, II, p. 71. ® Webervögel, II, p. 244. Wechselsterilität, ohne große Bedeutung für dauernde Veränderung, II, p. 292. Weiterentwieklung, Bestreben der Arten sich auszubreiten, II, p. 321; die Mannig- faltigkeit der Lebensformen unbeschränkt, II, p. 327; Gleichnis vom Wanderer, II, p. 323; Herabsinken von der Höhe, II, p. 315; Stammbaum der Organismen, II, p- 325; Stufen der Weiterentwicklung, II, p. 315. WHEELER, Rolle der Zentrosphäre im Ei von Myzostoma, p. 253. WIEDERSHEIM, Rudimentäre Organe des Menschen, II, p. 159. WIESNER, Über kleinste Lebensteilchen, p. 301. Wiırson, Furchungsprozeß bei Anneliden, p. 333. WINKLER, Hans, Versuche über künstliche Parthenogenese, p. 252, 273; über Me- rogonie, p. 281. WOLFF, K. von, als Begründer. der epigenetischen Entwicklungstheorie, p. 287. WOLFF, Regeneration der Tritonlinse, II, p. 16. } WROUGHTON, ROBERT, Wahrnehmung von Tönen bei indischen Ameisen, II, p. «1. WÜRTEMBERGER, Formreihen bei Ammoniten, II, p. 149. Wüstentiere, sympathische Färbung, p. 52. Xenien, II, p. 50. Xylina, Schutzfärbung, p. 6). 2 ZEHNDER, Aufbau der lebenden Substanz aus Fistellen, II, p. 182; Entstehung des Polymorphismus bei Ameisen nicht auf das Lamareksche Prinzip beziehbar, II, p.S4; Anhänger des Lamarckschen Prinzips, II, p. St u. f.; über das Skelett der Gliedertiere, II, p. SS; Wirkung der Amphimixis, II, p. 187. Zellteilung, erbeleiche und erbungleiche, p. 306; erbungleiche bei den Ctenophoren, p- 333; erbungleiche, Beweise dafür, p. 309. ZIEGLER, ERNST, Über Mißbildungen, II, p. 116. ZIEGLER, E. H., Versuche über Merogonie am Seeigelei, p. 280. 7034, Versuche mit in Furchung begriffenen Meduseneiern p. 332. Zoospermien, p. 223, 224, 228; ihre Anpassung beruht auf Personalselektion, p- 229, Zufall, Vernichtung durch —, p. 37, 40, 43. & Zwillinge, identische, 11, p. 38. Zwittertum bei Pflanzen, II, p. 210; bei Tieren, II, p. 201; Vorteile des Zwittertums, I, p. 201. . Druck von A. Kämpfe, Jena. { € rung der Tafeln. Ben 5 4 Ak | Daun ,. Fig. Fig. Fig. Fig. Fig. Fig. Fig. Fig. Fig. Fig. Fig. TAFEL/E ı. Papilio Merope, Männchen, Afrika. 2. Dieselbe Art, eine der mimetischen Weibchenformen. Danais Chrysippus, Afrika, immunes Vorbild von Fig. 2. Papilio Merope, zweite mimetische Weibchenform, Südafrika. Amauris niavius, Südafrika, immunes Vorbild von Fig. 4. Papilio Merope, dritte mimetische Weibchenform, Südafrika. Amauris Echeria, Südafrika, immunes Vorbild von Fig. 6. ey au» Danais Erippus, immunes Vorbild von Fig. 9, mittleres Nord- amerika. g. Limenitis Archippus, mittleres Nordamerika, Nachahmerin der vorigen Art. ıo. Danais Erippus, a Raupe und b Puppe. ıı. Limenitis Archippus, a Raupe und b Puppe. ER ei - — (4 CA er Rn I A A 9 m TATEPFaRE Fig. 12—ı5. Ein aus vier immunen Arten zusammengesetzter „Mimicry- Fig. Fig. Fig. Fig. Fig. Fig. ring“, welcher drei verschiedenen Familien und vier verschiedenen Gattungen angehört: Fig. ı2. Heliconius Eucrate aus Bahia. Fig. 13. Lycorea Halia aus Bahia. Fig. 14. Mechanitis Lysimnia aus Bahia. Fig. ı5. Melinaea Ethra aus Bahia. ı6 und 17. Perhybris Pyrrha, Männchen und Weibchen, „Weiß- linge“* (Pieriden) Südamerikas, von welchen das Weibchen eine der immunen Helikoniden nachahmt, während das Männchen nur auf der Unterseite dazu einen Anfang zeigt. ı8 und ıg. Dismorphia Astynome, Männchen und Weibchen; ebenfalls aus der Familie der „Weißlinge*, aber auch Nachahmer immuner Helikoniden; nur das Männchen zeigt noch eine weiße Stelle auf dem Hinterflügel als letzten Rest der Weißlingsfärbung. 20. Elymnias Phegea aus Westafrika; aus der Familie der Sa- tyriden, Nachahmerin der folgenden Art. 21. 22. 23: von Fig. Acraea Gea, immune Art Westafrikas. Danais Genutia, immune Danaide von Ceylon. Elymnias undularis, Weibchen, eine der Nachahmerinnen Fig. 22, deren Männchen ganz verschieden und in Tafel III, 24, abgebildet ist. eismann, Vorträge. 2. Aufl. Tafel II » Fig. Fig. Fig. Fig. Fig. Fig. Fig. Fig. TATEE IE 24. Elymnias undularis, Männchen des in Fig. 23 abgebildeten mimetischen Weibcehens. 25. Euploea binotata immune Art Indiens, Vorbild von: 26. Elymnias Leucocyma, Männchen, dessen Weibchen (Fig. 28) die: 27. Euploea Midamus ziemlich gut kopiert. 29. Danais vulgaris, immune Danaide Indiens. 30. Elymnias Lais, Nachahmerin der vorigen Art, doch nur aut der Oberseite, während die Unterseite noch die ursprüngliche Schutzfärbung, ein faulendes Blatt darstellend, beibehalten hat. 31. Tenaris bioculatus aus der Papuaregion. 32. Elymnias Agondas, Nachahmerin der vorigen Art aus dem- selben Wohngebiet. D Fe I Ze Wei iD Mi En e._ AUG 191997 PLEASE DO NOT REMOVE CARDS OR SLIPS FROM THIS POCKET TL—————— UNIVERSITY OF TORONTO LIBRARY TLLLL—L—————————en IDEE EA NLE, . NT LE rn a are sv Tel nah Verein en er, laute ar ... u a LT FAT a nat . ‘ at vr Mei, Ra ee u Du ’r I [ Fr} ERS - r E es, RL EE PR URN _ Er ; re nn er [2 5 I eure se hiye «, Kenne ’ eier ne wer “ warden r ji ver IR KBLLE SSL IT EEEF SAFE DH nf [u # bot uni DE Va DEAL UT AT ST EN ARHR, HARAH Dielen PERM Dune One. Tr Werde " rErIree rer Fa ö Ser [2 art) Viren ugieig ba, BEL FD ET ET 5 >. he L) \eteung. KELELILIT III 2 ' F . we, - 4 \ ML KALTE ir, 17 N H - ’ 2 Ber RHHAE I ’ ’ ‘ war imadir, ms Wera br VER R Hin eh teeigiag arsEusnn sh aretisan enter tiber hshene hin, Bf BaE% hemiwme ehren rryeherann ah LE Pe IH En ae » ae Art tereit, Mahl “ Dar > ee 61 LELIER I TPIP RER x N. AA * ERSTER LES DE EEG [2 “reg D DER 7 \ . ’ Y LTE LEE 2 F ’ r zen e ei, 2 rien IH R Bu Kaestiiheı Werner BL I EI DPI ER Te ELLI 170 I ‘ DI ZEN KL NG [4 E # Tor, Yanern Le = "Fr HER LE CER } a Pe * Ay kunde eine LTE LESER TITEFT RR vg Der d R DEAL RI EAN NNER a ehe: er iin > KT Er Ze Ze Nur hairirar LEI ITS EL LET EEE DE DEP 0 ELLI II a DE Free Miliyrinaneiiiihessen f a TE Da Tee rt MD Dar Bars In a RES RRTT NE a PMIDSANEERIG NE ELFIRRETER I 280200 DE a DER 1 KERLE TE TIITE Se Dub ET SEP TER Pia aair pr NETZ RE I SUP Tre PT rd BRAUN UL, a LE IE I I6 Be ADEHHSEVE ARE ran Krrubae roman Date FIN ELIELLTGEET UFER \ Ben Er Ana NEL. EHTIBAIEMNSTERIE SE THAA HH 689 Pa r RI te TEE re: 4 3 MERAN NT EIEzE VIE ter >. Fate A BLRLAEL ET LFI TRITT IP Eee 4 “ Human: LIT IE IE 144 ar yerıdır Sn ap AADIERUN erden VERRRIERLLITEER TIER OF TO TRER TR ELLIETT TEST } Hase Jeiran- ‘ LEE TH Bet re np raren wer . ;* Isrunt KEN Bun Ai r Syst, 0 NAtapaa- 1 his tanasın ANNE, ) F ’ LIT EITee ee Maiızyy LINIEN TITEL , . RIP Sri na rlanat 5» yrmiirnz ! wu HALF IGL DELETE TR ar PRASSATER SEIN NE 24 ul ar »+ WI. mr, ERDE m saerzrni y. ’ z v Arie Varitm EIRIACHAL TE NIEREN VrSDTAN And An batss nun au Pen Sn nur rgr eg HRHRRRIN Kaaterppirss - N a, nur EA ALEREFTTTTEITTE REN EU IAN SIR Dupn IE SE TIER Prinanan in 7 TETSRN DSL NOS a nz ame Lan AaB La LI Or DT et VENENPIDERNES SEHEN In pam a I IE Het yamayıı ed 1 LI HUN IBHRTE ERIK TRIER TIER, re , . ar AU BUNFATSTLIGER Ihn. \a0a7) I Teer mfeptunss, ri N vinhen een LLIL ILL eig » Any ajermantısı ‘ MM j vun una e 4 Av IR N £ Bl KLEIN TOT EEE 3 PIE TEE ran, ” LARSLTEReTT h ’ DELTEnTeRN Yen hin Vanaruy 5 . ‘ ? DILIL ALT ICH N b' DEAN In 6 v \ . LE PTN ”" Ywinmtieg hen h % a Y ‘ Maas chin usa De teren Wurst nintanns, [1 h x 4 EEE TE SIE Feen A LET ymıııa a. Iukaannıtaa uud. nen [% verarfı u. 1 h ASLLITE WERL TTaT VER KABEL TI SU HEIL EI Ir Yınıymaze, A Tann LEI REN POP BC U DIL FLSESSITETE “rind Ka Ta IE HE TE IT I de * ERLITT IT Te PANSabNndan, IE ErTe NaaNahhnnn spanien a Asaıae LEITENDEN I rar * KaLEEEE TE . D Kun), . BI LLILEL Dre det rn peLL TAT EDEN DENT Wra rer er {fi LBEHTITL PIE ER Pr rer wa DEN EISSIT II RE EL ee N VISA REG stone hau haban ns Aakıdayısaen, x Mrrigdsnslen.esch nd DICH IC HCHIT ter Tec er RP TR Aubshräsh cu, aa a Nr an ININSERN DRM u EHRE Hanse es kahanın jan) LsN Js, TR EEE IZ EIT En u zn f \ iR ELEL TI SIE Er IT ere a Pac Pi ver ArEeı PIE mn LH In N Dtiparge, urmaaı ra Araihrihan i % + Wannen x Ktor ch Yyıa nd Orr Aue} arm KIEL IE Er Br een KILTITT EC IN ur an,“ 'r, IT PLICHLIOFL HEN IHN 1 Sarlersuun 4 R tt AKHNNNKERHN se nenne,