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Nietzsche's Werke

Erste Abtheilung Band II

Menschliches Allzumenschliches

Erster Band

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Alfred Ivröner Verlag in Leipzig 1917

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Menschliches Allzumenschliches

Ein Buch für freie Geister

Von

Friedrich Nietzsche

Erster Band

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Alfred Kröner Verlag in Leipzig- 1917

ÜbersetzunjJ^srecht vorbehalten.

Das nachfolgende Facsimile ist die getreue Reproduction eines von Nietzsche ursprünglich für das „Menschliche, Allzumenschliche" bestimmten Epilogs.

Germany

Menschliches Allzumenschhches

Erster Band

Inhalt.

Seite

Vorrede 3

Erstes Hauptstück; Von den ersten und letzten

Ding-en 15

Zweites Hauptstück: Zur Geschichte der morali- schen Empfindung"en 55'

Drittes Hauptstück : Das religiöse Leben .... 113

Viertes Hauptstück: Aus der Seele der Künstler

und Schriftsteller 155

Fünftes Hauptstück: Anzeichen höherer und nie- derer Cultur 209

Sechstes Hauptstück: Der Mensch im Verkehr , . 269

Siebentes Hauptstück: Weib und Kind 299

Achtes Hauptstück: Ein Blick auf den Staat . . . 323

Neuntes Hauptstück: Der Mensch mit sich allein 361

Unter Freunden. Ein Nachspiel 415

Aphorismen-Register 421

Nachbericht 431

Niftzsche, Werke Band II.

VORREDE.

Es ist mir oft genug und immer mit grossem Be- fremden ausgedrückt worden, dass es etwas Gemein- sames und Auszeichnendes an allen meinen Schriften gäbe, von der „Geburt der Tragödie" an bis zum letzthin veröffentlichten „Vorspiel einer Philosophie der Zukunft": sie enthielten allesammt, hat man mir gesagt. Schlingen und Netze für unvorsichtige Vögel und beinahe eine beständige unvermerkte Aufforderung zur Umkehrung gewohnter Werthschätzungen und geschätzter Gewohn- heiten. Wie? Alles nur menschlich -allzumenschlich? Mit diesem Seufzer komme man aus meinen Schriften heraus, nicht ohne eine Art Scheu und Misstrauen selbst gegen die Moral, ja nicht übel versucht und ermuthigt, einmal den Fürsprecher der schlimmsten Dinge zu machen: wie als ob sie vielleicht nur die bestverleumdeten seien? Man hat meine Schriften eine Schule des Verdachts ge- nannt, noch mehr der Verachtung, glücklicherweise auch des Muthes, ja der Verwegenheit. In der That, ich selbst glaube nicht, dass jemals Jemand mit einem gleich tiefen Verdachte in die Welt gesehn hat, und nicht nur als gelegentlicher Anwalt des Teufels, sondern ebenso sehr, theologisch zu reden, als Feind und Vorforderer

I*

4 -

Gottes; und wer etwas von den Folgen erräth, die in jedem tiefen Verdachte liegen, etwas von den Frösten und Ängsten der Vereinsamung, zu denen jede unbe- dingte Verschiedenheit des Blicks den mit ihr Be- hafteten verurtheilt, wird auch verstehn, wie oft ich zur Erholung von mir, gleichsam zum zeitweiligen Selbst- vergessen, irgendwo unterzutreten suchte in irgend einer Verehrung oder Feindschaft oder Wissenschaftlich- keit oder Leichtfertigkeit oder Dummheit; auch warum ich, wo ich nicht fand, was ich brauchte, es mir künstlich erzwingen, zurechtfälschen, zurechtdichten musste ( und was haben Dichter je Anderes gethan? und wozu wäre alle Kunst in der Welt da?). Was ich aber immer wieder am nöthigsten brauchte, zu meiner Cur und Selbst -Wiederherstellung, das war der Glaube, nicht dergestalt einzeln zu sein, einzeln zu sehn, ein zau- berhafter Argwohn von Verwandtschaft und Gleichheit in Auge und Begierde, ein Ausruhen im Vertrauen der Freundschaft, eine Blindheit zu Zweien ohne Verdacht und Fragezeichen, ein Genuss an Vordergründen, Ober- flächen, Nahem, Nächstem, an Allem, was Farbe, Haut und Scheinbarkeit hat. Vielleicht, dass man mir in die- sem Betrachte mancherlei „Kunst", mancherlei feinere Falschmünzerei vorrücken könnte: zum Beispiel, dass ich wissentlich -willentlich die Augen vor Schopenhauer's blindem Willen zur Moral zugemacht hätte, zu einer Zeit, wo ich über Moral schon hellsichtig genug war; ins- gleichen dass ich mich über Richard Wagner's unheil- bare Romantik betrogen hätte, wie als ob sie ein Anfang und nicht ein Ende sei; insgleichen über die Griechen, insgleichen über die Deutschen und ihre Zukunft und es gäbe vielleicht noch eine ganze lange Liste solcher Insgleichen? Gesetzt aber, diess Alles wäre wahr und

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mit gutem Grunde mir vorgerückt, was wisst ihr davon, was könntet ihr davon wissen, wie viel List der Selbst- Erhaltung, wie viel Vernunft und höhere Obhut in sol- chem Selbst-Betruge enthalten ist, und wie viel Falsch- heit mir noch noth thut, damit ich mir immer wieder den Luxus meiner Wahrhaftigkeit gestatten darf? . . . Genug, ich lebe noch; und das Leben ist nun einmal nicht von der Moral ausgedacht: es will Täuschung, es

lebt von der Täuschung aber nicht wahr? da

beginne ich bereits wieder und thue, was ich immer gethan habe, ich alter Immoralist und Vogelsteller und rede unmoralisch, aussermoralisch, „jenseits von Gut und Böse«?

2.

So habe ich denn einstmals, als ich es nöthig hatte, mir auch die „ft^eien Geister" erfunden, denen die- ses schwermüthig-muthige Buch mit dem Titel „Mensch- liches, Allzumenschliches" gewidmet ist: dergleichen „ft"eie Geister" giebt es nicht, gab es nicht, aber ich hatte sie damals, wie gesagt, zur Gesellschaft nöthig, um guter Dinge zu bleiben inmitten schlimmer Dinge (Ivrankheit, Vereinsamung, Fremde, acedia, Unthätigkeit) : als tapfere Gesellen und Gespenster, mit denen man schwätzt und lacht, wenn man Lust hat zu schwätzen und zu lachen, und die man zum Teufel schickt, wenn sie langweilig werden, als ein Schadenersatz für mangelnde Freunde. Dass es dergleichen freie Geister einmal geben könnte, dass unser Europa unter seinen Söhnen von Morgen und Übermorgen solche muntere und verwegene Gesellen haben wird, leibhaft und handgreiflich und nicht nur, wie in meinem Falle, als Schemen und Einsiedler- Schattenspiel: daran möchte ich am wenigsten zweifeln.

6 ~

Ich sehe sie bereits kommen, langsam, langsam; und vielleicht thue ich etwas, um ihr Kommen zu beschleu- nigen, wenn ich zum Voraus beschreibe, unter welchen Schicksalen ich sie entstehn, auf welchen Wegen ich sie kommen sehe?

3.

Man darf vermuthen, dass ein Geist, in dem der Typus „freier Geist" einmal bis zur Vollkommenheit reif und süss werden soll, sein entscheidendes Ereigniss in einer grossen Loslösung gehabt hat, und dass er vor- her um so mehr ein gebundener Geist war und für immer an seine Ecke und Säule gefesselt schien. Was bindet am festesten? welche Stricke sind beinahe unzerreissbar? Bei Menschen einer hohen und ausgesuchten Art werden es die Pflichten sein: jene Ehrfurcht, wie sie der Jugend eignet, jene Scheu und Zartheit vor allem Altverehrten und Würdigen, jene Dankbarkeit für den Boden, aus dem sie wuchsen, für die Hand, die sie führte, für das Heilig- thum, wo sie anbeten lernten, ihre höchsten Augen- blicke selbst werden sie am festesten binden, am dauernd- sten verpflichten. Die grosse Loslösung kommt für solchermaassen Gebundene plötzlich, wie ein Erdstoss: die junge Seele wird mit Einem Male erschüttert, los- gerissen, herausgerissen, sie selbst versteht nicht, was sich begiebt. Ein Antrieb und Andrang waltet und wird über sie Herr wie ein Befehl; ein Wille und Wunsch erwacht, fortzugehn, irgend wohin, um jeden Preis; eine heftige gefährliche Neugierde nach einer unentdeckten Welt flammt und flackert in allen ihren Sinnen. „Lieber sterben als hier leben" so klingt die gebieterische Stimme und Verführung: und diess „hier", diess „zu Hause" ist Alles, was sie bis dahin geliebt hatte I Ein plötzlicher

7

Schrecken und Argwohn gegen Das, was sie hebte, ein ßUtz von Verachtung gegen Das, was ihr „Pflicht" hiess, ein aufrührerisches willkürHches vulcanisch stossendes Verlangen nach Wanderschaft, Fremde, Entfremdung, Erkältung, Ernüchterung, Vereisung, ein Hass auf die Liebe, vielleicht ein tempelschänderischer Griff und Blick rückwärts, dorthin, wo sie bis dahin anbetete und liebte, vielleicht eine Gluth der Scham über das, was sie eben that, und ein Frohlocken zugleich, dass sie es that, ein trunkenes inneres frohlockendes Schaudern, in dem sich ein Sieg verräth ein Sieg? über was? über wen? ein räthselhafter fragenreicher fragwürdiger Sieg, aber der erste Sieg immerhin: dergleichen Schlimmes und Schmerzliches gehört zur Geschichte der grossen Los- lösung. Sie ist eine Krankheit zugleich, die den Men- schen zerstören kann, dieser erste Ausbruch von Kraft und Willen zur Selbstbestimmung, Selbst -Werthsetzung, dieser Wille zum freien Willen: und wie viel Krankheit drückt sich an den wilden Versuchen und Seltsamkeiten aus, mit denen der Befreite, Losgelöste sich nunmehr seine Herrschaft über die Dinge zu beweisen sucht! Er schweift grausam umher, mit einer unbefriedigten Lüsternheit; was er erbeutet, muss die gefährliche Span- nung seines Stolzes abbüssen; er zerreisst, was ihn reizt. Mit einem bösen Lachen dreht er um, was er verhüllt, durch irgend eine Scham geschont findet: er versucht, wie diese Dinge aussehn, wenn man sie umkehrt. Es ist Willkür und Lust an der Willkür darin, wenn er viel- leicht nun seine Gunst dem zuwendet, was bisher in schlechtem Rufe stand, wenn er neugierig und ver- sucherisch um das Verbotenste schleicht. Im Hinter- gründe seines Treibens und Schweifens denn er ist unruhig und ziellos unterwegs wie in einer Wüste

steht das Fragezeichen einer immer gefährlicheren Neu- gierde. „Kann man nicht alle Werthe umdrehn? und ist Gut vielleicht Böse? und Gott nur eine Erfindung und Feinheit des Teufels? Ist Alles vielleicht im letzten Grunde falsch? Und wenn wir Betrogene sind, sind wir nicht ebendadurch auch Betrüger? müssen wir nicht auch Betrüger sein?" solche Gedanken führen und verführen ihn, immer weiter fort, immer OL'eiter ab. Die Einsamkeit umringt und umringelt ihn, immer drohender, würgender, herzzuschnürender, jene furchtbare Göttin und maier saeva cupidinum aber wer weiss es heute, was Einsamkeit ist? . . .

Von dieser krankhaften Vereinsamung, von der Wüste solcher Versuchs -Jahre ist der Weg noch weit bis zu jener ungeheuren überströmenden Sicherheit und Gesundheit, welche der Krankheit selbst nicht entrathen mag, als eines IMittels und Angelhakens der Erkenntniss, bis zu jener reifen Freiheit des Geistes, welche ebenso- sehr Selbstbeherrschung und Zucht des Herzens ist und die Wege zu vielen und entgegengesetzten Denkweisen erlaubt , bis zu jener inneren Umfänglichkeit und Ver- wöhnung des Überreichthums , welche die Gefahr aus- schliesst, dass der Geist sich etwa selbst in die eignen Wege verlöre und verliebte und in irgend einem Win- kel berauscht sitzen bliebe, bis zu jenem Überschuss an plastischen ausheilenden nachbildenden und wieder- herstellenden Kräften , welcher eben das Zeichen der grossen Gesundheit ist, jener Überschuss, der dem freien Geiste das gefährliche Vorrecht giebt, auf den Versuch hin leben und sich dem Abenteuer anbieten zu dürfen: das Meisterschafts- Vorrecht des freien Geistes!

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Dazwischen mögen lange Jahre der Genesung liegen, Jahre voll vielfarbiger schmerzlich - zauberhafter Wand- lungen, beherrscht und am Zügel geführt durch einen zähen Willen zur Gesundheit, der sich oft schon als Gesundheit zu kleiden und zu verkleiden wagt. Es giebt einen mittleren Zustand darin, dessen ein Mensch solchen Schicksals später nicht ohne Rührung eingedenk ist: ein blasses feines Licht und Sonnenglück ist ihm zu eigen, ein Gefühl von Vogel - Freiheit , Vogel -Umblick, Vogel- Übermuth, etwas Drittes, in dem sich Neugierde und zarte Verachtung gebunden haben. Ein „freier Geist". diess kühle Wort thut in jenem Zustande wohl, es wärmt beinahe. Man lebt, nicht mehr in den Fesseln von Liebe und Hass. ohne Ja, ohne Nein, fi-ei willig nahe, freiwillig ferne, am liebsten entschlüpfend, ausweichend, fort- flattemd, wieder weg, wieder empor fliegend; man ist verwöhnt, wie Jeder, der einmal ein ungeheures Vielerlei unter sich gesehn hat, und man ward zum Gegen- stück Derer, welche sich um Dinge bekümmern, die sie nichts angehn. In der That, den freien Geist gehen nun- mehr lauter Dinge an und wie viele Dinge 1 , welche ihn nicht mehr bekümmern . . .

5-

Ein Schritt weiter in der Genesung: und der freie Geist nähert sich wieder dem Leben, langsam freilich, fast widerspänstig, fast misstrauisch. Es wird wieder wärmer um ihn, gelber gleichsam; Gefühl und Mitgefühl bekommen Tiefe, Thauwinde aller Art gehen über ihn weg. Fast ist ihm zu Muthe, als ob ihm jetzt erst die Augen für das Nahe aufgiengen. Er ist verwundert und sitzt stille: wo war er doch? Diese nahen und nächsten

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Dinge: wie scheinen sie ihm verwandelt! welchen Flaum und Zauber haben sie inzwischen bekommen! Er blickt dankbar zurück, dankbar seiner "Wanderschaft, seiner Härte und Selbstentfremdung, seinen Fernblicken und Vogelflügen in kalte Höhen. Wie gut, dass er nicht wie ein zärtlicher dumpfer Eckensteher immer „zu Hause", immer „bei sich" gebheben ist! Er war ausser sich: es ist kein Zweifel. Jetzt erst sieht er sich selbst , und welche Überraschungen findet er dabei! Welche uner- probten Schauder! Welches Glück noch in der Müdigkeit, der alten Krankheit, den Rückfällen des Genesenden! Wie es ihm gefällt, leidend stillzusitzen, Geduld zu spinnen, in der Sonne zu liegen! Wer versteht sich gleich ihm auf das Glück im Winter, auf die Sonnenflecke an der Mauer! Es sind die dankbarsten Thiere von der Welt, auch die bescheidensten, diese dem Leben wieder halb zugewendeten Genesenden und Eidechsen: es giebt solche unter ihnen, die keinen Tag von sich lassen, ohne ihm ein kleines Loblied an den nachschleppenden Saum zu hängen. Und ernstlich geredet: es ist eine gründhche Cur gegen allen Pessimismus (den Krebsschaden alter Idealisten und Lügenbolde, wie bekannt ), auf die Art dieser freien Geister krank zu werden, eine gute Weile krank zu bleiben und dann, noch länger, noch länger, gesund, ich meine „gesünder" zu werden. Es ist Weis- heit darin, Lebens-Weisheit, sich die Gesundheit selbst lange Zeit nur in kleinen Dosen zu verordnen.

Um jene Zeit mag es endlich geschehn, unter den plötzlichen Lichtern einer noch ungestümen, noch wech- selnden Gesundheit, dass dem freien, immer freieren

Geiste sich das Räthsel jener grossen Loslösung zu ent- schleiern beginnt, welches bis dahin dunkel, fragwürdig, fast unberührbar in seinem Gedächtnisse gewartet hatte. Wenn er sich lange kaum zu fragen wagte „warum so abseits? so allein? Allem entsagend, was ich verehrte? der Verehrung selbst entsagend? warum diese Härte, dieser Argwohn, dieser Hass auf die eigenen Tugenden?" jetzt wagt und fragt er es laut und hört auch schon etwas wie Antwort darauf. „Du solltest Herr über dich werden, Herr auch über die eigenen Tugenden. Früher waren sie deine Herrn; aber sie dürfen nur deine Werk- zeuge neben andren Werkzeugen sein. Du solltest Ge- walt über dein Für und Wider bekommen und es ver- stehn lernen, sie aus- und wieder einzuhängen, je nach deinem höheren Zwecke. Du solltest das Perspectivische in jeder Werthschätzung begreifen lernen die Ver- schiebung, Verzerrung und scheinbare Teleologie der Horizonte und was Alles zum Perspecti vischen gehört; auch das Stück Dummheit in Bezug auf entgegengesetzte Werthe und die ganze intellectuelle Einbusse, mit der sich jedes Für, jedes Wider bezahlt macht. Du solltest die nothwendige Ungerechtigkeit in jedem Für und Wider begreifen lernen, die Ungerechtigkeit als unab- lösbar vom Leben, das Leben selbst als bedingt durch das Perspectivische und seine Ungerechtigkeit. Du soll- test vor Allem mit Augen sehn, wo die Ungerechtigkeit immer am grössten ist: dort nämlich, wo das Leben am kleinsten, engsten, dürftigsten, anfänglichsten entwickelt ist und dennoch nicht umhin kann, sich als Zweck und Maass der Dinge zu nehmen und seiner Erhaltung zu Liebe das Höhere, Grössere, Reichere heimlich und klein- lich und unablässig anzubröckeln und in Frage zu stel- len, — du solltest das Problem der Rangordnung mit

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Augen sehn, und wie Macht und Recht und Umfäng- Uchkeit der Perspective mit einander in die Höhe wach- sen. Du solltest" genug, der freie Geist weiss nun- mehr, welchem „du sollst" er gehorcht hat, und auch, was er jetzt kann, was er jetzt erst darf. . .

7. Dergestalt giebt der freie Geist in Bezug auf jenes Räthsel von Loslösung sich Antwort und endet damit, indem er seinen Fall verallgemeinert, sich über sein Er- lebniss also zu entscheiden. „Wie es mir ergieng, sagt er sich, muss es Jedem ergehn, in dem eine Aufgabe leibhaft werden und „zur Welt kommen" will. Die heim- liche Gewalt und Noth wendigkeit dieser Aufgabe wird unter und in seinen einzelnen Schicksalen walten gleich einer unbewussten Schwangerschaft, lange, bevor er diese Aufgabe selbst in's Auge gefasst hat und ihren Namen weiss. Unsre Bestimmung verfügt über uns, auch wenn wir sie noch nicht kennen; es ist die Zukunft, die unserm Heute die Regel giebt. Gesetzt, dass es das Problem der Rangordnung ist, von dem wir sagen dürfen, dass es unser Problem ist, wir freien Geister: jetzt, in dem Mittage unsres Lebens, verstehn wir es erst, was für Vorbereitungen, Umwege, Proben, Versuchungen, Verkleidungen das Problem nöthig hatte, ehe es vor uns aufsteigen durfte, und wie wir erst die vielfachsten und widersprechendsten Noth- und Glücksstände an Seele und Leib erfahren mussten, als Abenteurer und Welt- umsegler jener inneren Welt, die „Mensch" heisst, als Aus- messer jedes „Höher" und „Übereinander", das gleichfalls „Mensch" heisst überallhin dringend, fast ohne Furcht, nichts verschmähend, nichts verlierend, alles auskostend.

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alles vom Zufälligen reinigend und gleichsam aussiebend bis wir endlich sagen durften, wir freien Geister: „Hier ein neues Problem! Hier eine lange Leiter, auf deren Sprossen wir selbst gesessen und gestiegen sind, die wir selbst irgendwann gewesen sind! Hier ein Höher, ein Tiefer, ein Unter -uns, eine unge- heure lange Ordnung, eine Rangordnung, die wir sehen: hier unser Problem!"

8.

Es wird keinem Psychologen und Zeichendeuter einen Augenblick verborgen bleiben, an welche Stelle der eben geschilderten Entwicklung das vorliegende Buch gehört (oder gestellt ist ). Aber wo giebt es heute Psychologen? In Frankreich, gewiss; vielleicht in Russ- land; sicherlich nicht in Deutschland. Es fehlt nicht an Gründen, wesshalb sich diess die heutigen Deutschen so- gar noch zur Ehre anrechnen könnten: schlimm genug für Einen, der in diesem Stücke undeutsch geartet und ge- rathen ist! Diess deutsche Buch, welches in einem weiten Umkreis von Ländern und Völkern seine Leser zu finden gewusst hat es ist ungefähr zehn Jahr unterwegs und sich auf irgend welche Musik und Flötenkunst ver- stehn muss, durch die auch spröde Ausländer-Ohren zum Horchen verführt werden, gerade in Deutschland ist diess Buch am nachlässigsten gelesen, am schlechtesten gehört worden: woran liegt das? „Es verlangt zu viel, hat man mir geantwortet, es wendet sich an Men- schen ohne die Drangsal grober Pflichten, es will feine und verwöhnte Sinne, es hat Überfluss nöthig, Überfluss an Zeit, an HeUigkeit des Himmels und Herzens, an ottum im verwegensten Sinne: lauter gute Dinge, die

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wir Deutschen von Heute nicht haben und also auch nicht geben können." Nach einer so artigen Antwort räth mir meine Philosophie, zu schweigen und nicht mehr weiter zu fragen; zumal man in gewissen Fällen, wie das Sprüchwort andeutet, nur dadurch Philosoph bleibt, dass man schweigt.

Nizza, im Frühling 1886.

Erstes Hauptstück: Von den ersten und letzten Dingen,

Chemie der Begriffe und Empfindungen. -- Die philosophischen Probleme nehmen jetzt wieder fast. in allen Stücken dieselbe Form der Frage an wie vor zwei- tausend Jahren: wie kann Etwas aus seinem Gegensatz entstehen, zum Beispiel Vernünftiges aus Vernunftlosem, Empfindendes aus Todtem, Logik aus Unlogik, interesse- loses Anschauen aus begehrlichem Wollen, Leben für Andere aus Egoismus, Wahrheit aus Irrthümern? Die metaphysische Philosophie half sich bisher über diese Schwierigkeit hinweg, insofern sie die Entstehung des Einen aus dem Andern leugnete und für die höher gewertheten Dinge einen Wunder -Ursprung annahm, unmittelbar aus dem Kern und Wesen des „Dinges an sich" heraus. Die historische Philosophie dagegen, welche gar nicht mehr getrennt von der Naturwissen- schaft zu denken ist, die allerjüngste aller philosophischen Methoden , ermittelte in einzelnen Fällen (und vermuth- lich wird dicss in allen ihr Ergebniss sein), dass es keine Gegensätze sind, ausser in der gewohnten Übertreibung der populären oder metaphysischen Auffassung, und dass ein Irrthum der Vernunft dieser Gegenüberstellung zu Grunde liegt: nach ihrer Erklärung giebt es, streng gefasst, weder ein unegoistisches Handeln, noch ein völlig interesseloses Anschauen, es sind beides nur Subli-

Ni etliche, Werlcp Band U. 2

miningen, bei denen das Grundelement fast verflüchtigt erscheint und nur noch für die feinste Beobachtung sich als vorhanden erweist. Alles, was wir brauchen und was erst bei der gegenwärtigen Höhe der einzelnen Wissenschaften uns gegeben werden kann, ist eine Chemie der moralischen, religiösen, ästhetischen Vorstel- lungen und Empfindungen, ebenso aller jener Regungen, welche wir im Gross- und Klein verkehr der Cultur und Gesellschaft, ja in der Einsamkeit an uns erleben: wie, wenn diese Chemie mit dem Ergebniss abschlösse, dass auch auf diesem Gebiete die herrlichsten Farben aus niedrigen, ja verachteten Stoffen gewonnen sind? Werden Viele Lust haben , solchen Untersuchungen zu folgen ? Die Menschheit liebt es, die Fragen über Herkunft und Anfänge sich aus dem Sinne zu schlagen: muss man nicht fast entmenscht sein, um den entgegengesetzten Hang in sich zu spüren?

Erbfehler der Philosophen. Alle Philosophen haben den gemeinsamen Fehler an sich, dass sie vom gegenwärtigen Menschen ausgehen und durch eine Ana- lyse desselben an's Ziel zu kommen meinen. Unwill- kürlich schwebt ihnen ,,der Mensch" als eine aeterna veritas , als ein Gleichbleibendes in allem Strudel, als ein sichres Maass der Dinge vor. Alles, was der Philo- soph über den ^Menschen aussagt, ist aber im Grunde nicht mehr als ein Zeugniss über den Menschen eines sehr beschränkten Zeitraums. Mangel an historischem Sinn ist der Erbfehler aller Philosophen; manche sogar nehmen unversehens die allerjüngste Gestaltung des Menschen, wie eine solche unter dem Eindruck bestimmter

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Religionen, ja bestimmter politischer Ereignisse entstanden ist, als die feste Form, von der man ausgehen müsse. Sie wollen nicht lernen, dass der Mensch geworden ist, dass auch das Erkenntnissvermögen geworden ist; wäh- rend Einige von ihnen sogar die ganze Welt aus diesem Erkenntnissvermögen sich herausspinnen lassen. Nun ist alles Wesentliche der menschlichen Entwicklung in Urzeiten vor sich gegangen, lange vor jenen vier tausend Jahren, die wir ungefähr kennen; in diesen mag sich der Mensch nicht viel mehr verändert haben. Da sieht aber der Philosoph „Instincte" am gegen- wärtigen Menschen und nimmt an, dass diese zu den unveränderlichen Thatsachen des Menschen gehören und insofern einen Schlüssel zum Verständniss der Welt über- haupt abgeben können: die ganze Teleologie ist darauf gebaut, dass man vom Menschen der letzten vier Jahr- tausende als von einem ewigen redet, zu welchem hin alle Dinge in der Welt von ihrem Anbeginne eine natür- liche Richtung haben. Alles aber ist geworden; es giebt keine ewigen Thatsachen: sowie es keine absoluten Wahrheiten g^ebt Demnach ist das historische Philosophiren von jetzt ab nöthig und mit ihm die Tugend der Bescheidung.

Schätzung der unscheinbaren Wahrheiten. Es ist das Merkmal einer hohem Cultur, die kleinen un- scheinbaren Wahrheiten, welche mit strenger Methode gefunden wurden, höher zu schätzen als die beglücken- den und blendenden Irrthümer, welche metaphysischen und künstlerischen Zeitaltem und Menschen entstammen. Zunächst hat man gegen erstere den Hohn auf den Lippen,

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als könne hier gar nichts Gleichberechtigtes gegen ein- ander stehen: so bescheiden, schlicht, nüchtern, ja schein- bar entmuthigend stehen diese, so schön, prunkend, be- rauschend, ja vielleicht beseligend stehen jene da. Aber das Mühsam-Errungene, Gewisse, Dauernde und desshalb für jede weitere Erkenntniss noch Folgenreiche ist doch das Höhere, zu ihm sich zu halten ist männlich und zeigt Tapferkeit Schlichtheit Enthaltsamkeit an. Allmählich wird nicht nur der Einzelne, sondern die gesammte Menschheit zu dieser Männlichkeit emporgehoben werden, wenn sie sich endlich an die höhere Schätzung der haltbaren, dauerhaften Erkenntnisse gewöhnt und allen Glauben an Inspiration und wundergleiche Mittheilung von Wahrheiten verloren hat. Die Verehrer der For- men freilich, mit ihrem Maassstabe des Schönen und Er- habenen, werden zunächst gute Gründe zu spotten haben, sobald die Schätzung der unscheinbaren Wahrheiten und der wissenschaftliche Geist anfängt zur Herrschaft zu kommen: aber nur weil entweder ihr Auge sich noch nicht dem Reiz der schlichtesten Form erschlossen hat oder weil die in jenem Geiste erzogenen Menschen noch lange nicht völlig und innerlich von ihm durch- drungen sind, so dass sie immer noch gedankenlos alte Formen nachmachen (und diess schlecht genug, wie es Jemand thut, dem nicht mehr viel an einer Sache lieg^). Ehemals war der Geist nicht durch strenges Denken in Anspruch genommen, da lag sein Ernst im Ausspinnen von Symbolen und Formen. Das hat sich verändert; joner Ernst des Symbolischen ist zum Kennzeichen der niederen Cultur geworden. Wie unsere Künste selber immer intellectualer, unsre Sinne geistiger werden, und wie man zum Beispiel jetzt ganz anders darüber urtheilt, was sinnlich wohltönend ist als vor hundert Jahren: so

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werden auch die Formen unseresLebens immer geistiger, für das Auge älterer Zeiten vielleicht hässlicher, aber nur weil es nicht zu sehen vermag, wie das Reich der inneren, geistigen Schönheit sich fortwährend vertieft und erweitert und inwiefern uns Allen der geistreiche Blick jetzt mehr gelten darf als der schönste Gliederbau und das erhabenste Bauwerk.

4.

Astrologie und Verwandtes. Es ist wahr- scheinlich, dass die Objecte des religiösen, moralischen und aesthetischen Empfindens ebenfalls nur zur Oberfläche der Dinge gehören, während der Mensch gerne glaubt, dass er hier wenigstens an das Herz der Welt rühre; er täuscht sich, weil jene Dinge ihn so tief beseligen und so tief unglücklich machen, und zeigt also hier denselben Stolz wie bei der Astrologie. Denn diese meint, der Sternenhimmel drehe sich um das Loos des Menschen; der morahsche Mensch aber setzt voraus, Das, was ihm wesentlich am Herzen liege, müsse auch Wesen und Herz der Dinge sein.

5.

Missverständniss des Traumes. Im Traum glaubte der Mensch in den Zeitaltern roher uranfäng- licher Cultur eine zweite reale Welt kennen zu lernen; hier ist der Ursprung aller Metaphysik. Ohne den Traum hätte man keinen Anlass zu einer Scheidung der Welt gefunden. Auch die Zerlegung in Seele und Leib hängt mit der ältesten Auffassung des Traumes zusammen, ebenso die Annahme eines Seelenscheinleibes, also die Herkunft alles Geisterglaubens und wahrscheinlich auch

22

des Götterglaubens. „Der Todte lebt fort; denn er er- scheint dem Lebenden im Traume": so schloss man ehe- dem, durch viele Jahrtausende hindurch.

6.

Der Geist der Wissenschaft im Theil, nicht im Ganzen mächtig. Die abgetrennten kleinsten Gebiete der Wissenschaft werden rein sachlich behandelt: die allgemeinen grossen Wissenschaften dagegen legen, als Ganzes betrachtet, die Frage eine recht unsach- liche Frage freilich auf die Lippen: wozu? zu wel- chem Nutzen? Wegen dieser Rücksicht auf den Nutzen werden sie, als Ganzes, weniger unpersönlich als in ihren Theilen behandelt. Bei der Philosophie nun gar, als bei der Spitze der gesammten Wissenspyramide, wird un- willkürlich die Frage nach dem Nutzen der Erkenntniss überhaupt aufgeworfen, und jede Philosophie hat unbe- wusst die Absicht, ihr den höchsten Nutzen zuzu- schreiben. Desshalb giebt es in allen Philosophien so \del hochfliegende Metaphysik und eine solche Scheu vor den unbedeutend erscheinenden Lösungen der Physik; denn die Bedeutsamkeit der Erkenntniss für das Leben soll so gross als möglich erscheinen. Hier ist der Antago- nismus zwischen den wissenschaftlichen Einzelgebieten und der Philosophie. Letztere will, was die Kunst will, dem Leben und Handeln möglichste Tiefe und Bedeutung geben; in ersteren sucht man Erkenntniss und Nichts weiter was dabei auch herauskomme. Es hat bis jetzt noch keinen Philosophen gegeben, unter dessen Händen die Philosophie nicht zu einer Apologie der Er- kenntniss geworden wäre; in diesem Punkte wenigstens ist ein Jeder Optimist, dass dieser die höchste Nützlich-

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keit zugesprochen werden müsse. Sie alle werden von der Logik tyrannisirt: und diese ist ihrem Wesen nach Optimismus.

7. Der Störenfried in der Wissenschaft. Die Philosophie schied sich von der Wissenschaft, als sie die Frage stellte: welches ist diejenige Erkenntniss der Welt und des Lebens, bei welcher der Mensch am glücklichsten lebt? Diess geschah in den sokratischen Schulen: durch den Gesichtspunkt des Glücks unterband man die Blut- adern der wissenschaftlichen Forschung und thut es heute noch.

8.

Pneumatische Erklärung der Natur. Die Metaphysik erklärt die Schrift der Natur gleichsam pneu- matisch, wie die Kirche und ihre Gelehrten es ehemals mit der Bibel thaten. Es gehört sehr viel Verstand dazu, um auf die Natur dieselbe Art der strengen Erklärungskunst anzuwenden, wie jetzt die Philologen sie für alle Bücher geschaffen haben: mit der Absicht, schlicht zu verstehen, was die Schrift sagen will, aber nicht einen doppelten Sinn zu wittern, ja vorauszusetzen. Wie aber selbst in Betreff der Bücher die schlechte Er- klärungskunst keineswegs völlig überwunden ist und man in der besten gebildeten Gesellschaft noch fort- während auf Überreste allegorischer und mystischer Aus- deutung stösst: so steht es auch in Betreff" der Natur ja noch viel schlimmer.

9.

Metaphysische Welt. Es ist wahr, es könnte eine metaphysische Welt geben ; die absolute Möglichkeit

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davon ist kaum zu bekämpfen. Wir sehen alle Dinge durch den Menschenkopf an und können diesen Kopf nicht abschneiden; während doch die Frage übrig bleibt, was von der Welt noch da wäre , wenn man ihn doch abgeschnitten hätte. Diess ist ein rein wissenschaftliches Problem und nicht sehr geeignet, den Menschen Sorge zu machen; aber Alles, was ihnen bisher metaphysische Annahmen werthvoll, schrcckenvoll , lustvoll gemacht, was sie erzeugt hat, ist Leidenschaft, Irrthum und Selbstbetrug; die allerschlechtesten Methoden der Erkenntniss, nicht die allerbesten, haben daran glauben lehren. Wenn man diese Methoden, als das Fundament aller vorhandenen Religionen und Metaphysiken, auf- gedeckt hat, hat man sie widerlegt. Dann bleibt immer noch jene Möglichkeit übrig; aber mit ihr kann man gar nichts anfangen, geschweige denn, dass man Glück, Heil und Leben von den Spinnenfäden einer solchen Möglich- keit abhängen lassen dürfte. Denn man könnte von der metaphysischen Welt gar nichts aussagen als ein Anderssein, ein uns unzugängliches, unbegreifliches Anderssein; es wäre ein Ding mit negativen Eigen- schaften. — Wäre die Existenz einer solchen Welt noch so gut bewiesen, so stünde doch fest, dass die gleich- gültigste aller Erkenntnisse eben ihre Erkenntniss wäre: noch gleichgültiger als dem Schiffer in Sturmesgefahr die Erkenntniss von der chemischen Analysis des Wassers sein muss.

IG.

Harmlosigkeit der Metaphysik in der Zu- kunft. — Sobald die Religion Kunst und Moral in ihrer Entstehung so beschrieben sind, dass man sie voll- ständig sich erklären kann, ohne zur Annahme meta-

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physischer Eingriffe am Beginn und im Verlaufe der Bahn seine Zuflucht zu nehmen, hört das stärkste Interesse an dem rein theoretischen Problem vom „Ding an sich" und der „Erscheinung" auf. Denn wie es hier auch stehe: mit Religion Kunst und Moral rühren wir nicht an das „Wesen der Welt an sich" ; wir sind im Bereiche der Vorstellung, keine „Ahnung" kann uns weitertragen. Mit voller Ruhe wird man die Frage, wie unser Welt- bild so stark sich von dem erschlossenen Wesen der Welt unterscheiden könne, der Physiologie und der Ent- wicklungsgeschichte der Organismen und Begriffe über- lassen.

II.

Die Sprache als vermeintliche Wissenschaft. Die Bedeutung der Sprache für die Entwicklung der Cultur liegt darin, dass in ihr der Mensch eine eigne Welt neben die andere stellte, einen Ort, welchen er für so fest hielt, um von ihm aus die übrige Welt aus den Angeln zu heben und sich zum Herren derselben zu machen. Insofern der Mensch an die Begriffe und Namen der Dinge als an aeternae veritates durch lange Zeitstrecken hindurch geglaubt hat, hat er sich jenen Stolz angeeignet, mit dem er sich über das Thier erhob: er meinte wirklich in der Sprache die Erkenntniss der Welt zu haben. Der Sprachbildner war nicht so be- scheiden zu glauben, dass er den Dingen eben nur Be- zeichnungen gebe, er drückte vielmehr, wie er wähnte, das höchste Wissen über die Dinge mit den Worten aus; in der That ist die Sprache die erste Stufe der Bemühung um die Wissenschaft. Der Glaube an die gefundene Wahrheit ist es auch hier, aus dem die mächtigsten Kraftquellen geflossen sind. Sehr nachträglich jetzt

erst dämmert es den Menschen auf, dass sie einen un- geheuren Irrthum in ihrem Glauben an die Sprache pro- pagirt haben. Glücklicherweise ist es zu spät, als dass es die Entwicklung der Vernunft, die auf jenem Glauben beruht, wieder rückgängig machen könnte. Auch die Logik beruht auf Voraussetzungen, denen Nichts in der wirklichen Welt entspricht, z. B. auf der Voraussetzung der Gleichheit von Dingen, der Identität desselben Dings in verschiedenen Punkten der Zeit: aber jene Wissen- schaft entstand durch den entgegengesetzten Glauben (dass es dergleichen in der wirklichen Welt allerdings gebe). Ebenso steht es mit der Mathematik, welche gewiss nicht entstanden wäre, wenn man von Anfang an gewusst hätte, dass es in der Natur keine exact ge- rade Linie, keinen wirklichen Kreis, kein absolutes Grössenmaass gebe.

12.

Traum und Cultur. Die Gehirnfunction, welche durch den Schlaf am meisten beeinträchtigt wird, ist das Gedächtniss: nicht dass es ganz pausirte aber es ist auf einen Zustand der Unvollkommenheit zurückgebracht, wie es in Urzeiten der Menschheit bei Jedermann am Tage und im Wachen gewesen sein mag. Willkürlich und verworren, wie es ist, verwechselt es fortwährend die Dinge auf Grund der flüchtigsten Ähnlichkeiten: aber mit derselben Willkür und Verworrenheit dichteten die Völker ihre Mythologien, und noch jetzt pflegen Reisende zu beobachten, wie sehr der Wilde zur Vergesslichkeit neigt, wie sein Geist nach kurzer Anspannung des Ge- dächtnisses hin und her zu taumeln beginnt und er, aus blosser Erschlaffung, Lügen und Unsinn hervorbringt. Aber wir Alle gleichen im Traume diesem Wilden; das

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schlechte Wiedererkennen und irrthümliche Gleichsetzen ist der Grund des schlechten Schliessens, dessen wir uns im Traume schuldig machen: so dass wir, bei deutlicher Vergegenwärtigung eines Traumes, vor uns erschrecken, weil wir so viel Narrheit in uns bergen. Die voll- kommne Deutlichkeit aller Traum -Vorstellungen, welche den unbedingten Glauben an ihre Realität zur Voraus- setzung hat, erinnert uns wieder an Zustände früherer Menschheit, in der die Hallucination ausserordentlich häufig war und mitunter ganze Gemeinden, ganze Völker gleichzeitig ergrifif. Also: im Schlaf und Traum machen wir das Pensum früheren Menschenthums noch einmal durch.

13.

Logik des Traumes. Im Schlafe ist fort- während unser Nervensystem durch mannichfache innere Anlässe in Erregung, fast alle Organe secerniren und sind in Thätigkeit, das Blut macht seinen ungestümen Kreislauf, die Lage des Schlafenden drückt einzelne Glieder, seine Decken beeinflussen die Empfindung ver- schiedenartig, der Magen verdaut und beunruhigt mit seinen Bewegungen andere Organe, die Gedärme win- den sich, die Stellung des Kopfes bringt ungewöhnhche Muskellagen mit sich, die Füsse, unbeschuht, nicht mit den Sohlen den Boden drückend, verursachen das Gefühl des Ungewöhnlichen ebenso wie die andersartige Be- kleidung des ganzen Körpers, alles diess, nach seinem täglichen Wechsel und Grade, erregt durch seine Ausser- gewöhnlichkeit das gesammte System bis in die Gehirn- function hinein: und so giebt es hundert Anlässe für den Geist, um sich zu verwundern und nach Gründen dieser Erregung zu suchen: der Traum aber ist das

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Suchen und Vorstellen der Ursachen für jene er- regten Empfindungen, das heisst der vermeintlichen Ur- sachen. Wer zum Beispiel seine Füsse mit zwei Riemen umgürtet, träumt wohl, dass zwei Schlangen seine Füsse umringein: diess ist zuerst eine Hypothese, sodann ein Glaube, mit einer begleitenden bildlichen Vorstellung und Ausdichtung: „diese Schlangen müssen die causa jener Empfindung sein, welche ich, der Schlafende habe," so urtheilt der Geist des Schlafenden. Die so erschlossene nächste Vergangenheit wird durch die erregte Phantasie ihm zur Gegenwart. So weiss Jeder aus Erfahrung, wie schnell der Träumende einen starken an ihn dringenden Ton, zum Beispiel Glockenläuten , Kanonenschüsse in seinen Traum verflicht, das heisst aus ihm hinterdrein erklärt, so dass er zuerst die veranlassenden Umstände, dann jenen Ton zu erleben meint. Wie kommt es aber, dass der Geist des Träumenden immer so fehl greift, während derselbe Geist im Wachen so nüchtern behutsam und in Bezug auf Hypothesen so skeptisch zu sein pflegt? so dass ihm die erste beste Hypothese zur Erklärung eines Gefühls genügt, um sofort an ihre Wahr- heit zu glauben? (Denn wir glauben im Traume an den Traum, als sei er Realität, das heisst wir halten unsre Hypothese für völlig erwiesen.) Ich meine: wie jetzt noch der Mensch im Traume schlicsst , schloss die Menschheit auch im Wachen viele Jahrtausende hin- durch: die erste causa, die dem Geiste einfiel, um irgend Etwas, das der Erklärung bedurfte, zu erklären, genügte ihm und galt als Wahrheit (So verfahren nach den Er- zählungen der Reisenden die Wilden heute noch.) Im Traum übt sich dieses uralte Stück Menschenthum in uns fort, denn es ist die Grundlage, auf der die höhere Vernunft sich entwickelte und in jedem Menschen sich

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noch entwickelt: der Traum bringt uns in ferne Zustände der menschlichen Cultur wieder zurück und giebt ein Mittel an die Hand, sie besser zu verstehen. Das Traum- denken wird uns jetzt so leicht, weil wir in ungeheuren Entwicklungsstrecken der Menschheit gerade auf diese Form des phantastischen und wohlfeilen Erklärens aus dem ersten beliebigen Einfalle heraus so gut eingedrillt worden sind. Insofern ist der Traum eine Erholung für das Gehirn, welches am Tage den strengern Anforderungen an das Denken zu genügen hat, wie sie von der höheren Cultur gestellt werden. Einen verwandten Vorgang können wir geradezu als Pforte und Vorhalle des Traumes noch bei wachem Verstände in Augenschein nehmen. Schliessen wir die Augen, so producirt das Gehirn eine Menge von Lichteindrücken und Farben, wahrscheinlich als eine Art Nachspiel und Echo aller jener Licht- wirkungen, welche am Tage auf dasselbe eindringen. Nun verarbeitet aber der Verstand (mit der Phantasie im Bunde) diese an sich formlosen Farbenspiele sofort zu bestimmten Figuren Gestalten Landschaften belebten Gruppen. Der eigentliche Vorgang dabei ist wiederum eine Art Schluss von der Wirkung auf die Ursache; in- dem der Geist fragt: woher diese Lichteindrücke und Farben, supponirt er als Ursachen jene Figuren Ge- stalten: sie gelten ihm als die Veranlassungen jener Farben und Lichter, weil er, am Tage, bei offenen Augen, ge- wohnt ist, zu jeder Farbe, jedem Lichteindruck eine ver- anlassende Ursache zu finden. Hier also schiebt ihm die Phantasie fortwährend Bilder vor, indem sie an die Ge- sichtseindrücke des Tages sich in ihrer Production anlehnt, und gerade so macht es die Traumphantasie: das heisst die vermeintliche Ursache wird aus der Wirkung er- schlossen und nach der Wirkung vorgestellt: alles diess

so- mit ausserordentlicher Schnelligkeit, so dass hier wie beim Taschenspieler eine Verwirrung des Urtheils entstehen und ein Nacheinander sich wie etwas Gleichzeitiges, selbst wie ein umgedrehtes Nacheinander ausnehmen kann. Wir können aus diesen Vorgängen entnehmen, wie spät das schärfere logische Denken, das Strengnehmen von Ursache und Wirkung entwickelt worden ist, wenn unsere Vernunft- und Verstandesfiinctionen jetzt noch unwill- kürlich nach jenen primitiven Formen des Schliessens zurückgreifen und wir ziemlich die Hälfte unseres Lebens in diesem Zustande leben. Auch der Dichter, der Künstler schiebt seinen Stimmungen und Zuständen Ursachen unter, welche durchaus nicht die wahren sind; er erinnert insofern an älteres Menschenthum und kann uns zum Verständnisse desselben verhelfen.

14.

Miterklingen. Alle stärkern Stimmungen bringen ein Miterklingen verwandter Em.pfindungen und Stimmungen mit sich: sie wühlen gleichsam das Gedächt- niss auf; es erinnert sich bei ihnen Etwas in uns und wird sich ähnhcher Zustände und deren Herkunft be- wusst. So bilden sich angewöhnte rasche Verbindungen von Gefühlen und Gedanken, welche zuletzt, wenn sie blitzschnell hinter einander erfolgen, nicht einmal mehr als Complexe, sondern als Einheiten empfunden wer- den. In diesem Sinne redet man vom moralischen Ge- fühle, vom religiösen Gefühle, wie als ob diess lauter Einheiten seien: in Wahrheit sind sie Ströme mit hundert Quellen und Zuflüssen. Auch hier, wie so oft, ver- bürgt die. Einheit des Wortes Nichts für die Einheit der Sache.

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15-

Kein Innen und Aussen in der Welt. Wie Demokrit die Begrifife Oben und Unten auf den unend- lichen Raum übertrug, wo sie keinen Sinn haben, so die Philosophen überhaupt den Begriff „Innen und Aussen" auf Wesen und Erscheinung der Welt; sie meinen, mit tiefen Gefühlen komme man tief in's Innre, nahe man sich dem Herzen der Natur. Aber diese Gefühle sind nur insofern tief, als mit ihnen, kaum bemerkbar, gewisse complicirte Gedanken gruppen regelmässig erregt werden, welche wir tief nennen; ein Gefühl ist tief, weil wir den begleitenden Gedanken für tief halten. Aber der „tiefe" Gedanke kann dennoch der Wahrheit sehr ferne sein, wie zum Beispiel jeder metaphysische; rechnet man vom tiefen Gefühle die beigemischten Gedankenelemente ab, so bleibt das starke Gefühl übrig und dieses verbürgt Nichts für die Erkenntniss als sich selbst, ebenso wie der starke Glaube nur seine Stärke, nicht die Wahrheit des Geglaubten beweist.

i6.

Erscheinung und Ding an sich. Die Philo- sophen pflegen sich vor das Leben und die Erfahrung vor Das, was sie die Welt der Erscheinung nennen wie vor ein Gemälde hinzustellen, das Ein für alle Mal entrollt ist und unveränderlich fest denselben Vorgang zeigt: diesen Vorgang, meinen sie, müsse man richtig ausdeuten, um damit einen Schluss auf das Wesen zu machen, welches das Gemälde hervorgebracht habe: also auf das Ding an sich, das immer als der zureichende Grund der Welt der Erscheinung angesehen zu werden pflegt. Dagegen haben strengere Logiker, nachdem sie

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den Begriff des Metaphysischen scharf als den des Unbedingten, folglich auch Unbedingenden festgestellt hatten, jeden Zusammenhang zwischen dem Unbedingten (der metaphysischen Welt) und der uns bekannten Welt in Abrede gestellt: so dass in der Erscheinung eben durchaus nicht das Ding an sich erscheine, und von jener auf dieses jeder Schluss abzulehnen sei. Von beiden Seiten ist aber die Möglichkeit übersehen, dass jenes Gemälde Das, was jetzt uns Menschen Leben und Erfahrung heisst allmählich geworden ist, ja noch völlig im Werden ist und desshalb nicht als feste Grösse betrachtet werden soll, von welcher aus man einen Schluss über den Urheber (den zureichenden Grund) machen oder auch nur ablehnen dürfte. Dadurch, dass wir seit Jahrtausenden mit moralischen, ästhetischen, religiösen Ansprüchen, mit blinder Neigung, Leidenschaft oder Furcht in die Welt geblickt und uns in den Unarten des unlogischen Denkens recht ausgeschwelgt haben, ist diese Welt allmählich so wundersam bunt, schrecklich, bedeutungstief, seelenvoll geworden, sie hat Farbe bekommen, aber wir sind die Coloristen gewesen: der menschliche Intellect hat die Erscheinung erscheinen lassen und seine irrthümlichen Grundauffassungen in die Dinge hineingetragen. Spät, sehr spät besinnt er sich: und jetzt scheinen ihm die Welt der Erfahrung und das Ding an sich so ausserordentlich verschieden und getrennt, dass er den Schluss von jener auf dieses ablehnt

oder auf eine schauerlich geheimnissvolle Weise zum Aufgeben unseres Intellectes, unseres persönlichen Willens auffordert: um dadurch zum Wesenhaften zu kommen, dass man wesenhaft werde. Wiederum haben Andere alle charakteristischen Züge unserer Welt der Erscheinung

das heisst der aus intellectuellen Irrthümern heraus-

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gesponnenen und uns angeerbten Vorstellung von der Welt zusammengelesen und, statt den Intellect als Schuldigen anzuklagen, das Wesen der Dinge als Ursache dieses thatsächlichen , sehr unheimlichen Weltcharakters angeschuldigt und die Erlösung vom Sein gepredigt. Mit all diesen Auffassungen wird der stätige und mühsame Process der Wissenschaft, welcher zuletzt einmal in einer Entstehungsgeschichte des Denkens seinen höchsten Triumph feiert, in entschei- dender Weise fertig werden, dessen Resultat vielleicht auf diesen Satz hinauslaufen dürfte: Das, was wir jetzt die Welt nennen, ist das Resultat einer Menge von Irr- thümern und Phantasien, welche in der gesammten Ent- wicklung der organischen Wesen allmählich entstanden, in einander verwachsen sind und uns jetzt als aufgesammelter Schatz der ganzen Vergangenheit vererbt werden, als Schatz: denn der Werth unseres Menschenthums ruht darauf. Von dieser Welt der Vorstellung vermag uns die strenge Wissenschaft thatsächlich nur in geringem Maasse zu lösen wie es auch gar nicht zu wünschen ist , insofern sie die Gewalt uralter Gewohnheiten der Empfindung nicht wesentlich zu brechen vermag: aber sie kann die Geschichte der Entstehung jener Welt als Vorstellung ganz allmählich und schrittweise aufhellen und uns wenigstens für Augenblicke über den ganzen Vorgang hinausheben. Vielleicht erkennen wir dann, dass das Ding an sich eines homerischen Gelächters werth ist: dass es so viel, ja Alles schien und eigenthch leer, nämlich bedeutungsleer ist.

17.

Metaphysische Erklärungen. Der junge Mensch schätzt metaphysische Erklärungen, weil sie ihm

Nietzsche, Werke Band n »

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in Dingen, welche er unangenehm oder verächtlich fand, etwas höchst Bedeutungsvolles aufweisen; und ist er mit sich unzufrieden, so erleichtert sich diess Gefühl, wenn er das innerste Welträthsel oder Weltelend in Dem wiedererkennt, was er so sehr an sich missbilligt. Sich unverantwortlicher fühlen und die Dinge zugleich interes- santer finden das gilt ihm als die doppelte Wohlthat, welche er der Metaphysik verdankt. Später freilich be- kommt er Misstrauen gegen die ganze metaphysische Erklärungsart; dann sieht er vielleicht ein, dass jene Wirkungen auf einem anderen Wege ebenso gut und wissenschaftlicher zu erreichen sind: dass physische und historische Erklärungen mindestens ebenso sehr jenes Gefühl der Un Verantwortlichkeit herbeiführen, und dass jenes Interesse am Leben und seinen Problemen vielleicht noch mehr dabei entflammt wird.

i8.

Grundtragen der Metaphysik. Wenn einmal die Entstehungsgeschichte des Denkens geschrieben ist, so wird auch der folgende Satz eines ausgezeichneten Logikers von einem neuen Lichte erhellt dastehen: „Das ursprüngliche allgemeine Gesetz des erkennenden Sub- jects besteht in der inneren Nothwendigkeit, jeden Gegen- stand an sich, in seinem eigenen Wesen als einen mit sich selbst identischen, also selbstexistirenden und im Grunde stäts gleichbleibenden und unwandelbaren, kurz als eine Substanz zu erkennen." Auch dieses Gesetz, welches hier „ursprünglich" genannt wird, ist geworden: es wird einmal gezeigt werden, wie allmählich, in den niederen Organismen, dieser Hang enstoht: wie die blöden Maulwurfsaugen dieser Organisationen zuerst

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Nichts als immer das Gleiche sehen: wie dann, wenn die verschiedenen Erregungen von Lust und Unlust bemerk- barer werden, allmählich verschiedene Substanzen unter- schieden werden, aber jede mit Einem Attribut, das heisst ' einer einzigen Beziehung zu einem solchen Organismus. Die erste Stufe des Logischen ist das Urtheil: dessen Wesen besteht, nach der Feststellung der besten Logiker, im Glauben. Allem Glauben zu Grunde liegt die Em- pfindung des Angenehmen oder Schmerzhaften in Bezug auf das empfindende Subject. Eine neue dritte Empfindung als Resultat zweier vorangegangenen ein- zelnen Empfindungen ist das Urtheil in seiner niedrigsten Form. Uns organische "Wesen interessirt ursprünglich Nichts an jedem Dinge, als sein Verhältniss zu uns in Bezug auf Lust und Schmerz. Zwischen den Momenten, wo wir uns dieser Beziehung bewusst werden, den Zuständen des Empfindens, liegen solche der Ruhe, des Nichtempfindens: da ist die Welt und jedes Ding für uns interesselos, wir bemerken keine Veränderung an ihm (wie jetzt noch ein heftig Interessirter nicht merkt, dass Jemand an ihm vorbeigeht). Für die Pflanze sind gewöhnlich alle Dinge ruhig, ewig, jedes Ding sich selbst gleich. Aus der Periode der niederen Organismen her ist dem Menschen der Glaube vererbt, dass es gleiche Dinge giebt (erst die durch höchste Wissenschaft aus- gebildete Erfahrung widerspricht diesem Satze). Der Ur- glaube alles Organischen von Anfang an ist vielleicht sogar, dass die ganze übrige Welt Eins und unbewegt ist. Am fernsten liegt für jene Urstufe des Logischen der Gedanke an Causalität: ja jetzt noch meinen wir im Grunde, alle Empfindungen und Handlungen seien Acte des freien Willens; wenn das fühlende Individuum sich selbst betrachtet, so hält es jede Empfindung, jede

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Veränderung für etwas Isolirtes, das heisst Unbeding- tes, Zusammenhangloses: es taucht aus uns auf, ohne Verbindung mit Früherem oder Späterem. "Wir haben Hunger, aber meinen ursprünglich nicht, dass der Orga- nismus erhalten werden will, sondern jenes Gefühl scheint sich ohne Grund und Zweck geltend zu machen, es isolirt sich und hält sich für willkürlich. Also: der Glaube an die Freiheit des Willens ist ein ursprünghcher Irrthum alles Organischen, so alt, als die Regungen des Logischen in ihm existiren; der Glaube an unbedingte Substanzen und an gleiche Dinge ist ebenfalls ein ur- sprünglicher, ebenso alter Irrthum alles Organischen. Insofern aber alle Metaphysik sich vornehmlich mit Sub- stanz und Freiheit des Willens abgegeben hat, so darf man sie als die Wissenschaft bezeichnen, welche von den Grundirrthümern des Menschen handelt doch so, als wären es Grundwahrheiten.

19.

Die Zahl. Die Erfindung der Gesetze der Zahlen ist auf Grund des ursprünglich schon herrschenden Irr- thums gemacht, dass es mehrere gleiche Dinge gebe (aber thatsächlich giebt es nichts Gleiches), mindestens dass es Dinge gebe (aber es giebt kein „Ding"). Die Annahme der Vielheit setzt immer schon voraus, dass es Etwas gebe, das vielfach vorkommt: aber gerade hier schon waltet der Irrthum, schon da fingiren wir Wesen, Einheiten, die es nicht giebt. —Unsere Empfindungen von Raum und Zeit sind falsch, denn sie führen, consequent geprüft, auf logische Widersprüche. Bei allen wissen- schaftlichen Feststellungen rechnen wir unvermeidlich immer mit einigen falschen Grössen: aber weil diese

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Grössen wenigstens constant sind, wie zum Beispiel unsere Zeit- und Raumempfindung, so bekommen die Resultate der Wissenschaft doch eine vollkommene Strenge und Sicherheit in ihrem Zusammenhange mit einander; man kann auf ihnen fortbauen bis an jenes letzte Ende, wo die irrthümliche Grundannahme, jene Constanten Fehler, in Widerspruch mit den Resultaten treten, zum Beispiel in der Atomenlehre. Da fühlen wir uns immer noch zur Annahme eines „Dinges" oder stoff- lichen „Substrats", das bewegt wird, gezwungen, während die ganze wissenschaftliche Procedur eben die Aufgabe verfolgt hat, alles Dingartige (Stoffliche) in Bewegungen aufzulösen: wir scheiden auch hier noch mit unserer Empfindung Bewegendes und Bewegtes und kommen aus diesem Cirkel nicht heraus, weil der Glaube an Dinge mit unserem Wesen von Alters her verknotet ist. Wenn Kant sagt „der Verstand schöpft seine Gesetze nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor", so ist diess in Hinsicht auf den Begriff der Natur völlig wahr, welchen wir genöthigt sind mit ihr zu verbinden ( Natur = Welt als Vorstellung, das heisst als Irrthum), welcher aber die Aufsummirung einer Menge Irrthümer des Verstandes ist. Auf eine Welt, welche nicht unsere Vorstellung ist, sind die Gesetze der Zahl völlig unanwendbar: diese gelten allein in der Menschen- Welt.

20.

Einige Sprossen zurück. Die eine, gewiss sehr hohe Stufe der Bildung ist erreicht, wenn der IMensch über abergläubische und religiöse Begriffe und Ängste hinauskommt und zum Beispiel nicht mehr an die lieben Englein oder die Erbsünde glaubt, auch vom Heil der

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Seele zu reden verlernt hat: ist er auf dieser Stufe der Befreiung, so hat er auch noch mit höchster Anspannung seiner Besonnenheit die Metaphysik zu überwinden. Dann aber ist eine rückläufige Bewegung nöthig: er muss die historische Berechtigung, ebenso die psychologische in solchen Vorstellungen begreifen, er muss erkennen, wie die grösste Förderung der Menschheit von dorther gekommen sei und wie man sich, ohne eine solche rück- läufige Bewegung, der besten Ergebnisse der bisherigen Menschheit berauben würde. In Betreff der philo- sophischen Metaphysik sehe ich jetzt immer Mehrere, welche an das negative Ziel (dass jede positive Meta- physik Irrthum ist) gelangt sind, aber noch Wenige, welche nun wieder einige Sprossen rückwärts steigen; man soll nämlich über die letzte Sprosse der Leiter wohl hinausschauen, aber nicht auf ihr stehen wollen. Die Auf- geklärtesten bringen es nur so weit, sich von der Meta- physik zu befreien und mit Überlegenheit auf sie zurück- zusehen: während es doch auch hier, wie im Hippodrom, noth thut, um das Ende der Bahn herumzubiegen.

21.

Muthmaasslicher Sieg der Skepsis. Man lasse einmal den skeptischen Ausgangspunkt gelten: gesetzt, es gäbe keine andere, metaphysische Welt und alle aus der Metaphysik genommenen Erklärungen der uns einzig bekannten Welt wären unbrauchbar für uns, mit welchem Blick würden wir dann auf Menschen und Dinge sehen? Diess kann man sich ausdenken, es ist nützlich, selbst wenn die Frage, ob etwas Metaphysisches wissenschaft- lich durch Kant und Schopenhauer bewiesen sei, einmal abgelehnt würde. Denn es ist nach historischer Wahr-

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scheinlichkeit sehr gut möglich, dass die Menschen einmal in dieser Beziehung im Ganzen und Allgemeinen skeptisch werden; da lautet also die Frage: wie wird sich dann die menschliche Gesellschaft, unter dem Ein- fluss einer solchen Gesinnung gestalten? Vielleicht ist der wissenschaftliche Beweis irgend einer metaphy- sischen Welt schon so schwierig, dass die Menschheit ein Misstrauen gegen ihn nicht mehr los wird. Und wenn man gegen die Metaphysik Misstrauen hat, so giebt es im Ganzen und Grossen dieselben Folgen, wie wenn sie direct widerlegt wäre und man nicht mehr an sie glauben dürfte. Die historische Frage in Betreff einer unmetaphysischen Gesinnung der Menschheit bleibt in beiden Fällen dieselbe.

22,

Unglaube an das „inonumentuut aere peren- ntus". Ein wesentlicher Nachtheil, welchen das Auf- hören metaphysischer Ansichten mit sich bringt, liegt darin, dass das Individuum zu streng seine kurze Lebens- zeit in's Auge fasst und keine stärkeren Antriebe empfängt, an dauerhaften, für Jahrhunderte angelegten Institutionen zu bauen; es will die Frucht selbst vom Baume pflücken, den es pflanzt, und desshalb mag es jene Bäume nicht mehr pflanzen, welche eine jahrhundertlange gleichmässige Pflege erfordern und welche lange Reihenfolgen von Geschlechtern zu überschatten bestimmt sind. Denn metaphysische Ansichten geben den Glauben, dass in ihnen das letzte endgültige Fundament gegeben sei, auf welchem sich nunmehr alle Zukunft der Menschheit niederzulassen und anzubauen genöthigt sei; der Einzelne fördert sein Heil, wenn er zum Beispiel eine Kirche, ein

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Kloster stiftet, es wird ihm, so meint er, im ewigen Fortleben der Seele angerechnet und vergolten, es ist Arbeit am ewigen Heil der Seele. Kann die Wissen- schaft auch solchen Glauben an ihre Resultate erwecken? In der That braucht sie den Zweifel und das Misstrauen als treuesten Bundesgenossen; trotzdem kann mit der Zeit die Summe der unantastbaren, das heisst alle Stürme der Skepsis, alle Zersetzungen überdauernden Wahrheiten so gross werden (zum Beispiel in der Diätetik der Ge- sundheit), dass man sich darauf hin entschliesst, „ewige" Werke zu gründen. Einstweilen wirkt der Contrast unseres aufgeregten Ephemeren-Daseins gegen die lang- athmige Ruhe metaphysischer Zeitalter noch zu stark, weil die beiden Zeiten noch zu nahe gestellt sind; der einzelne Mensch selber durchläuft jetzt zu viele innere und äussere Entwicklungen, als dass er auch nur auf seine eigene Lebenszeit sich dauerhaft und Ein für alle Mal einzurichten wagt. Ein ganz moderner Mensch, der sich zum Beispiel ein Haus bauen will, hat dabei ein Gefühl, als ob er bei lebendigem Leibe sich in ein Mausoleum vermauern wolle.

23.

Zeitalter der Vergleichung. Je weniger die Menschen durch das Herkommen gebunden sind, um so grösser wird die innere Bewegung der Motive, um so grösser wiederum, dem entsprechend, die äussere Unruhe, das Durcheinanderfluthen der Menschen, die Polyphonie der Bestrebungen. Für wen giebt es jetzt noch einen strengen Zwang, an einen Ort sich und seine Nach- kommen anzubinden? Für wen giebt es überhaupt noch etwas streng Bindendes? Wie alle Stilarten der Künste

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neben einander nachgebildet werden, so auch alle Stufen und Arten der ]\Ioralität, der Sitten, der Culturen. Ein solches Zeitalter bekommt seine Bedeutung dadurch, dass in ihm die verschiedenen Weltbetrachtungen Sitten Culturen verglichen und neben einander durchlebt werden können; was früher, bei der immer localisirten Herrschaft jeder Cultur, nicht möglich war, entsprechend der Ge- bundenheit aller künstlerischen Stilarten an Ort und Zeit, Jetzt wird eine Vermehrung des ästhetischen Gefühls endgültig unter so vielen der Vergleichung sich dar- bietenden Formen entscheiden: sie wird die meisten nämlich alle, welche durch dasselbe abgewiesen werden absterben lassen. Ebenso findet jetzt ein Auswählen in den Formen und Gewohnheiten der höheren Sittlich- keit statt, deren Ziel kein anderes als der Untergang der niedrigeren Sittlichkeiten sein kann. Es ist das Zeit- alter der Vergleichung! Das ist sein Stolz aber billigerweise auch sein Leiden. Fürchten wir uns vor diesem Leiden nicht 1 Vielmehr wollen wir die Aufgabe, welche das Zeitalter uns stellt, so gross verstehen, als wir nur vermögen: so wird uns die Nachwelt darob segnen eine Nachwelt, die ebenso sich über die ab- geschlossnen originalen Volks-Culturen hinaus weiss, als über die Cultur der Vergleichung, aber auf beide Arten der Cultur als auf verehrungswürdige Alterthümer mit Dankbarkeit zurückblickt.

24.

Möglichkeit des Fortschritts. Wenn ein Ge- lehrter der alten Cultur es verschwört, nicht mehr mit Menschen umzugehen, welche an den Fortschritt glauben, so hat er Recht Denn die alte Cultur hat ihre Grösse

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und Güte hinter sich und die historische Bildung zwingt Einen, zuzugestehen, dass sie nie wieder frisch werden kann; es ist ein unausstehlicher Stumpfsinn oder ebenso unleidliche Schwärmerei nöthig, um diess zu leugnen. Aber die Menschen können mit Bewusstsein be- schliessen, sich zu einer neuen Cultur fortzuentwickeln, während sie sich früher unbewusst und zufällig ent- wickelten: sie können jetzt bessere Bedingungen für die Entstehung der Menschen, ihre Ernährung Erziehung Unterrichtung schaffen, die Erde als Ganzes ökonomisch verwalten, die Kräfte der Menschen überhaupt gegen einander abwägen und einsetzen. Diese neue bewusste Cultur tödtet die alte, welche als Ganzes angeschaut ein unbewusstes Thier- und Pflanzenleben geführt hat; sie tödtet auch das Misstrauen gegen den Fortschritt er ist möglich. Ich will sagen: es ist voreilig und fast unsinnig, zu glauben, dass der Fortschritt nothwendig erfolgen müsse; aber wie könnte man leugnen, dass er möglich sei? Dagegen ist ein Fortschritt im Sinne und auf dem Wege der alten Cultur nicht einmal denkbar. Wenn romantische Phantastik immerhin auch das Wort „Fortschritt" von ihren Zielen (z. B. abgeschlossenen originalen Volks-Culturen) gebraucht: jedenfalls entlehnt sie das Bild davon aus der Vergangenheit; ihr Denken und Vorstellen ist auf diesem Gebiete ohne jede Origi- nalität.

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Privat- und Welt-Moral. Seitdem der Glaube aufgehört hat, dass ein Gott die Schicksale der Welt im Grossen leite und trotz aller anscheinenden Krüm- mungen im Pfade der Menschheit sie doch herrlich hinaus- führe, müssen die Menschen selber sich ökumenische, die

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ganze Erde umspannende Ziele stellen. Die ältere Moral, namentlich die Kant's, verlangt vom Einzelnen Hand- lungen, welche man von allen Menschen wünscht: das war eine schöne naive Sache ; als ob ein Jeder ohne Weiteres wüsste, bei welcher Handlungsweise das Ganze der Menschheit wohlfahre, also welche Handlungen überhaupt wünschenswerth seien; es ist eine Theorie wie die vom Freihandel, voraussetzend, dass die allgemeine Harmonie sich nach eingebornen Gesetzen des Besserwerdens von selbst ergeben müsse. Vielleicht lässt es ein zukünftiger ÜberbHck über die Bedürfnisse der Menschheit durchaus nicht wünschenswerth erscheinen, dass alle Menschen gleich handeln, vielmehr dürften im Interesse ökumenischer Ziele für ganze Strecken der Menschheit specielle, viel- leicht unter Umständen sogar böse Aufgaben zu stellen sein. Jedenfalls muss, wenn die Menschheit sich nicht durch eine solche bewusste Gesammtregierung zu Grunde richten soll, vorher eine alle bisherigen Grade über- steigende Kenntniss der Bedingungen derCultur, als wissenschaftlicher Maassstab für ökumenische Ziele, gefunden sein. Hierin liegt die ungeheure Aufgabe der grossen Geister des nächsten Jahrhunderts.

26.

Die Reaction als Fortschritt. Mitunter erscheinen schroffe gewaltsame und fortreissende , aber trotzdem zurückgebliebene Geister, welche eine vergangene Phase der Menschheit noch einmal heraufbeschwören: sie dienen zum Beweis, dass die neuen Richtungen, welchen sie entgegenwirken, noch nicht kräftig genug sind, dass Etwas an ihnen fehlt: sonst würden sie jenen Beschwörern besseren Widerpart halten. So zeugt zum Beispiel Luthers

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Reformation dafür, dass in seinem Jahrhundert alle Regungen der Freiheit des Geistes noch unsicher, zart, jugendlich waren; die Wissenschaft konnte noch nicht ihr Haupt erheben. Ja die gesammte Renaissance erscheint wie ein erster Frühling, der fast wieder weggeschneit wird. Aber auch in unserem Jahrhundert bewies Schopen- hauer's Metaphysik, dass auch jetzt der wissenschaftliche Geist noch nicht kräftig genug ist: so konnte die ganze mittelalterlich christliche Weltbetrachtung und Mensch- Empfindung noch einmal in Schopenhauer's Lehre trotz der längst errungenen Vernichtung aller christlichen Dogmen eine Auferstehung feiern. Viel Wissenschaft klingt in seine Lehre hinein, aber sie beherrscht dieselbe nicht, sondern das alte wohlbekannte „metaphysische Be- dürfniss". Es ist gewiss einer der grössten und ganz unschätzbaren Vortheile, welche wir aus Schopenhauer gewinnen, dass er unsre Empfindung zeitweilig in ältere, mächtige Betrachtungsarten der Welt und Menschen zu- rückzwingt, zu welchen sonst uns so leicht kein Pfad führen würde. Der Gewinn für die Historie und die Gerechtigkeit ist sehr gross: ich glaube, dass es jetzt Niemandem so leicht gelingen möchte, ohne Schopen- hauer's Beihülfe dem Christenthum und seinen asiatischen Verwandten Gerechtigkeit widerfahren zu lassen: was namentlich vom Boden des noch vorhandenen Christen- thums aus unmöglich ist. Erst nach diesem grossen Er- folge der Gerechtigkeit, erst nachdem wir die historische Betrachtungsart, welche die Zeit der Auf- klärung mit sich brachte, in einem so wesentlichen Punkte corrigirt haben, dürfen wir die Fahne der Aufklärung die Fahne mit den drei Namen: Petrarca, Erasmus, Vol- taire — von Neuem weiter tragen. Wir haben aus der Reaction einen Fortschritt gemacht.

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Ersatz der Religion. Man glaubt einer Philo- sophie etwas Gutes nachzusagen, wenn man sie als Ersatz der Religion für das Volk hinstellt In der That bedarf es in der geistigen Ökonomie gelegentlich über- leitender Gedankenkreise; so ist der Übergang aus Re- v/ ligion in wissenschaftliche Betrachtung ein gewaltsamer gefährlicher Sprung, Etwas, das zu widerrathen ist. In- sofern hat man mit jener Anempfehlung Recht. Aber endlich sollte man doch auch lernen, dass die Bedürfnisse, welche die ReMgion befriedigt hat und nun die Philo- sophie befriedigen soll, nicht unwandelbar sind; diese selbst kann man schwächen und ausrotten. Man denke zum Beispiel an die christliche Seelennoth, das Seufzen über die innere Verderbtheit, die Sorge um das Heil alles Vorstellungen, welche nur aus Irrthümern der Vernunft herrühren und gar keine Befriedigung, sondern Vernichtung verdienen. Eine Philosophie kann entweder so nützen, dass sie jene Bedürfnisse auch be- friedigt oder dass sie dieselben beseitigt; denn es sind angelernte, zeitlich begrenzte Bedürfnisse, welche auf Voraussetzungen beruhen, die denen der "Wissenschaft widersprechen. Hier ist, um einen Übergang zu machen, die Kunst viel eher zu benutzen, um das mit Empfin- dungen überladne Gemüth zu erleichtern; denn durch sie werden jene Vorstellungen viel weniger unterhalten als durch eine metaphysische Philosophie. Von der Kunst aus kann man dann leichter in eine wirkHch befreiende philosophische Wissenschaft übergehen.

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Verrufene Worte. Weg mit den bis zum Über- druss verbrauchten Wörtern Optimismus und Pessimismus! Denn der Anlass sie zu gebrauchen, fehlt von Tag zu Tag mehr; nur die Schwätzer haben sie jetzt noch so unumgänglich nöthig. Denn wesshalb in aller Welt sollte Jemand Optimist sein wollen, wenn er nicht einen Gott zu vertheidigen hat, welcher die beste der Welten ge- schaffen haben muss, falls er selber das Gute und Voll- kommene ist. welcher Denkende hat aber die Hypo- these eines Gottes noch nöthig? Es fehlt aber auch jeder Anlass zu einem pessimistischen Glaubensbekenntniss, wenn man nicht ein Interesse daran hat, den Advocaten Gottes, den Theologen oder den theologisirenden Philo- sophen, ärgerlich zu werden und die Gegenbehauptung kräftig aufzustellen: dass das Böse regiere, dass die Unlust grösser sei als die Lust, dass die Welt ein Mach- werk, die Erscheinung eines bösen Willens zum Leben sei. Wer aber kümmert sich jetzt noch um die Theologen ausser den Theologen? Abgesehen von aller Theologie und ihrer Bekämpfung liegt es auf der Hand, dass die Welt nicht gut und nicht böse, geschweige denn die beste oder die schlechteste ist, und dass diese Begriffe „gut" und „böse" nur in Bezug auf Menschen Sinn haben, ja vielleicht selbst hier, in. der Weise, wie sie gewöhnlich gebraucht werden, nicht berechtigt sind: der schimpfenden und verherrlichenden Weltbetrachtung müssen wir uns in jedem Falle entschlagen.

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Vom Dufte der Blüthen berauscht Das Schiff der Menschheit , meint man , hat einen immer

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stärkeren Tiefgang, je mehr es belastet wird; man glaubt, je tiefer der Mensch denkt, je zarter er fühlt, je höher er sich schätzt, je weiter seine Entfernung von den anderen Thieren wird je mehr er als das Genie unter den Thieren erscheint um so näher werde er dem wirklichen Wesen der Welt und deren Erkenntniss kommen: diess thut er auch wirklich durch die Wissen- schaft, aber er meint diess noch mehr durch seine Religionen und Künste zu thun. Diese sind zwar eine Blüthe der Welt, aber durchaus nicht der Wurzel der Welt näher, als der Stengel ist: man kann aus ihnen das Wesen der Dinge gerade gar nicht besser verstehen, obschon diess fast Jedermann glaubt. Der Irrthum hat den Menschen so tief, zart, erfinderisch gemacht, eine solche Blüthe, wie Religionen und Künste, herauszutreiben. Das reine Erkennen wäre dazu ausser Stande gewesen. Wer uns das Wesen der Welt enthüllte, würde uns Allen die unangenehmste Enttäuschung machen. Nicht die Welt als Ding an sich, sondern die Welt als Vor- stellung (als Irrthum) ist so bedeutungsreich, tief, wunder- voll. Glück und Unglück im Schoosse tragend. Diess Resultat führt zu einer Philosophie der logischen Weltverneinung: welche übrigens sich mit einer praktischen Weltbejahung ebenso gut wie mit deren Gegentheile vereinigen lässt.

30.

Schlechte Gewohnheiten im Schliessen. Die gewöhnlichsten Irrschlüsse der Menschen sind diese: eine Sache existirt, also hat sie ein Recht. Hier wird aus der Lebensfähigkeit auf die Zweckmässigkeit, aus der Zweckmässigkeit auf die Rechtmässigkeit geschlossen.

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Sodann: eine Meinung beglückt, also ist sie die wahre, ihre Wirkung ist gut, also ist sie selber gut und wahr. Hier legt man der Wirkung das Prädicat beglückend, gut im Sinne des Nützlichen, bei und versieht nun die Ursache mit demselben Prädicat gut, aber hier im Sinne des Logisch-Gültigen. Die Umkehrung der Sätze lautet: eine Sache kann sich nicht durchsetzen, erhalten, also ist sie unrecht; eine Meinung quält, regt auf, also ist sie falsch. Der Freigeist, der das Fehlerhafte dieser Art zu schliessen nur allzu häufig kennen lernt und an ihren Folgen zu leiden hat, unterliegt oft der Verführung, die entgegengesetzten Schlüsse zu machen, welche im All- gemeinen natürlich ebenso sehr Irrschlüsse sind: eine Sache kann sich nicht durchsetzen, also ist sie gut; eine Meinung macht Noth, beunruhig^, also ist sie wahr.

31.

Das Unlogische nothwendig. Zu den Dingen, welche einen Denker in Verzweiflung bringen können, gehört die Erkenntniss, dass das Unlogische für den Menschen nöthig ist, und dass aus dem Unlogischen vieles Gute entsteht. Es steckt so fest in den Leiden- schaften, in der Sprache, in der Kunst, in der Religion und überhaupt in Allem, was dem Leben Werth verleiht, dass man es nicht herausziehen kann, ohne damit diese schönen Dinge heillos zu beschädigen. Es sind nur die allzu naiven Menschen, welche glauben können, dass die Natur des Menschen in eine rein logische verwandelt werden könne; wenn es aber Grade der Annäherung an dieses Ziel geben sollte, was würde da nicht Alles auf diesem Wege verloren gehen müssen! Auch der ver- nünftigste Mensch bedarf von Zeit zu Zeit •wieder der

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Natur, das heisst seiner unlogischen Grundstellung zu allen Dingen.

32. Ungerechtsein nothwendig. Alle Urtheile über den Werth des Lebens sind unlogisch entwickelt und desshalb ungerecht. Die Unreinheit des Urtheils liegt erstens in der Art, wie das Material vorliegt, näm- lich sehr unvollständig, zweitens in der Art, wie daraus die Summe gebildet wird, und drittens darin, dass jedes einzelne Stück des Materials wieder das Resultat unreinen Erkennens ist und zwar diess mit voller Nothwendigkeit. Keine Erfahrung zum Beispiel über einen Menschen, stünde er uns auch noch so nah, kann vollständig sein, so dass wir ein logisches Rec!it zu einer Gesammt- abschätzung desselben hätten; alle Schätzungen sind voreilig und müssen es sein. Endlich ist das Maass, womit wir messen, unser Wesen, keine unabänderliche Grösse, wir haben Stimmungen und Schwankungen, und doch müssten wir uns selbst als ein festes Maass kennen, um das Verhältniss irgend einer Sache zu uns gerecht abzuschätzen. Vielleicht wird aus alledem folgen, dass man gar nicht urtheilen sollte; wenn man aber nur leben könnte, ohne abzuschätzen, ohne Abneigung und Zuneigung zu haben! denn alles Abgeneigtsein hängt mit einer Schätzung zusammen, ebenso alles Geneigtsein. Ein Trieb zu Etwas oder von Etwas weg, ohne ein Gefühl davon, dass man das Förderliche wolle, dem Schädlichen ausweiche, ein Trieb ohne eine Art von erkennender Abschätzung über den Werth des Zieles existirt beim Menschen nicht. Wir sind von vornherein unlogische und daher ungerechte Wesen und können diess erkennen: diess ist eine der grössten und unauf- lösbarsten Disharmonien des Daseins.

Nietzsche, Werke Band Tl. *

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33.

Der Irrthum über das Leben zum Leben nothwendig. Jeder Glaube an Werth und Würdig- keit des Lebens beruht auf unreinem Denken; er ist allein dadurch möglich, dass das Mitgefühl für das allgemeine Leben und Leiden der Menschheit sehr schwach im Individuum entwickelt ist. Auch die selte- neren Menschen, welche überhaupt über sich hinaus denken, fassen nicht dieses allgemeine Leben, sondern abgegrenzte Theile desselben in's Auge. Versteht man es , sein Augenmerk vornehmlich auf Ausnahmen , ich meine auf die hohen Begabungen und die reichen Seelen zu richten, nimmt man deren Entstehung zum Ziel der ganzen Weltentwicklung und erfreut sich an deren Wirken, so mag man an den Werth des Lebens glauben, weil man nämlich die anderen Menschen dabei über- sieht: also unrein denkt. Und ebenso, wenn man zwar alle Menschen in's Auge fasst, aber in ihnen nur eine Gattung von Trieben, die weniger egoistischen, gelten lässt und sie in Betreff der anderen Triebe entschuldigt: dann kann man wiederum von der Menschheit im Ganzen etwas hoffen und insofern an den Werth des Lebens glauben: also auch in diesem Falle durch Unreinheit des Denkens. Mag man sich aber so oder so verhalten, man ist mit diesem Verhalten eine Ausnahme unter den Menschen. Nun ertragen aber gerade die aller- meisten Menschen das Leben, ohne erheblich zu murren, und glauben somit an den Werth des Daseins, aber gerade dadurch, dass sich Jeder allein will und behauptet, und nicht aus sich heraustritt wie jene Ausnahmen: alles Ausserpersönliche ist ihnen gar nicht oder höchstens als ein schwacher Schatten bemerkbar. Also darauf allein

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beruht der Werth des Lebens für den gewöhnlichen, alltäglichen Menschen, dass er sich wichtiger nimmt als die Welt Der grosse Mangel an Phantasie, an dem er leidet, macht, dass er sich nicht in andere Wesen hinein- fOhlen kann und daher so wenig als möglich an ihrem Loos und Leiden theilnimmt Wer dagegen wirklich daran theilnehmen könnte, müsste am Werthe des Le- bens verzweifeln; gelänge es ihm, das Gesammtbewusst- sein der Menschheit in sich zu fassen und zu empfinden, er würde mit einem Fluche gegen das Dasein zusammen- brechen, — denn die Menschheit hat im Ganzen keine Ziele, folglich kann der Mensch, in Betrachtung des ganzen Verlaufs, nicht darin seinen Trost und Halt finden, sondern seine Verzweiflung. Sieht er bei Allem, was er thut, auf die letzte Ziellosigkeit der Menschen, so bekommt sein eigenes Wirken in seinen Augen den Charakter der Vergeudung. Sich aber als Menschheit (und nicht nur als Individuum) ebenso vergeudet zu fühlen, wie wir die einzelne Blüthe von der Natur ver- geudet sehen, ist ein Gefühl über alle Gefühle. Wer ist aber desselben fähig? Gewiss nur ein Dichter: und Dichter wissen sich immer zu trösten.

34.

Zur Beruhigung. Aber wird so unsere Philo- sophie nicht zur Tragödie? Wird die Wahrheit nicht dem Leben, dem Besseren feindlich? Eine Frage scheint uns die Zunge zu beschweren und doch nicht laut werden zu wollen: ob man bewusst in der Unwahrheit bleiben könne? oder, wenn man dies müsse, ob da nicht der Tod vorzuziehen sei? Denn ein Sollen giebt es nicht mehr; die Moral, insofern sie ein Sollen war, ist ja durch

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unsere Betrachtungsart ebenso vernichtet wie die Religion, Die Erkenntniss kann als Motive nur Lust und Unlust, Nutzen und Schaden bestehen lassen: wie aber werden diese Motive sich mit dem Sinne für Wahrheit ausein- andersetzen? Auch sie berühren sich ja mit Irrthümem (insofern wie gesagt Neigung und Abneigung und ihre sehr ungerechten Messungen unsere Lust und Unlust wesentlich bestimmen). Das ganze menschliche Leben ist tief in die Unwahrheit eingesenkt: der Einzelne kann es nicht aus diesem Brunnen herausziehn, ohne dabei seiner Vergangenheit aus tiefstem Grunde gram zu werden, ohne seine gegenwärtigen Motive, wie die der Ehre, ungereimt zu finden und den Leidenschaften, welche zur Zukunft und zu einem Glück in derselben hindrängen, Hohn und Verachtung entgegenzustellen. Ist es wahr, bliebe einzig noch eine Denkweise übrig, welche als persönliches Ergebniss die Verzweiflung, als theoretisches eine Philosophie der Zerstörung nach sich zöge? Ich glaube, die Entscheidung über die Nach- wirkung der Erkenntniss wird durch das Temperament eines Menschen gegeben: ich könnte mir ebenso gut wie jene geschilderte und bei einzelnen Naturen mögliche Nachwirkung eine andere denken, vermöge deren ein viel einfacheres, von Affecten reineres Leben entstünde, als das jetzige ist: so dass zuerst zwar die alten Motive des heftigeren Begehrens' noch Kraft hätten, aus alter vererbter Gewöhnung her, allmählich aber unter dem Einflüsse der reinigenden Erkenntniss schwächer würden. Man lebte zuletzt unter den Menschen und mit sich wie in der Natur, ohne Lob, Vorwürfe, Ereiferung, an Vielem sich wie an einem Schauspiel weidend, vor dem man sich bisher nur zu fürchten hatte. Man wäre die Emphasis los und würde die Anstachelung des Gedankens,

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dass man nicht nur Natur oder mehr als Natur sei, nicht weiter empfinden. Freilich gehörte hierzu, wie gesagt, ein gutes Temperament, eine gefestete, milde und im Grunde frohsinnige Seele, eine Stimmung, welche nicht vor Tücken und plötzlichen Ausbrüchen auf der Hut zu sein brauchte und in ihren Äusserungen Nichts von dem knurrenden Tone und der Verbissenheit an sich trüge jenen bekannten lästigen Eigenschaften alter Hunde und Menschen, die lange an der Kette gelegen haben. Viel- mehr muss ein Mensch, von dem in solchem Maasse die gewöhnlichen Fesseln des Lebens abgefallen sind, dass er nur desshalb weiter lebt, um immer besser zu erkennen, auf Vieles , ja fast auf Alles , was bei den an- deren Menschen Werth hat, ohne Neid und Verdruss verzichten können, ihm muss als der wünschenswertheste Zustand jenes freie, furchtlose Schweben über Menschen, Sitten, Gesetzen und den herkömmlichen Schätzungen der Dinge genügen. Die Freude an diesem Zustande theilt er gerne mit und er hat vielleicht nichts Anderes mitzutheilen worin freilich eine Entbehrung, eine Ent- sagung mehr liegt Will man aber trotzdem mehr von ihm, so wird er mit wohlwollendem Kopfschütteln auf seinen Bruder hinweisen, den freien Menschen der That, und vielleicht ein wenig Spott nicht verhehlen: denn mit dessen „Freiheit" hat es eine eigene Bewandniss.

Zweites Hauptstück:

Zur Geschichte der moraHschen Empfindungen.

35. Vortheile der psychologischen Beobachtung. Dass das Nachdenken über Menschliches, Allzu- menschliches — oder wie der gelehrtere Ausdruck lautet: die psychologische Beobachtung zu den Mitteln gehöre, vermöge deren man sich die Last des Lebens erleichtern könne, dass die Übung in dieser Kunst Geistesgegenwart in schwierigen Lagen und Unterhaltung inmitten einer langweiligen Umgebung verleihe, ja dass man den dornen- vollsten und unerfreulichsten Strichen des eigenen Lebens Sentenzen abpflücken und sich dabei ein wenig wohler fühlen könne: das glaubte man, wusste man in früheren Jahrhunderten. Warum vergass es dieses Jahrhundert, wo wenigstens in Deutschland, ja in Europa die Armuth an psychologischer Beobachtung durch viele Zeichen sich zu erkennen giebt? Nicht gerade in Roman Novelle und philosophischer Betrachtung diese sind das "Werk von Ausnahmemenschen ; schon mehr in der Beurtheilung öflfentlicher Ereignisse und Persönlichkeiten: vor Allem aber fehlt die Kunst der psychologischen Zergliederung und Zusammenrechnung in der Gesellschaft aller Stände, in der man wohl viel über LIenschen, aber gar nicht über den Menschen spricht. Warum doch lässt man sich den reichsten und harmlosesten Stoff der Unterhal- tung entgehen? Warum liest man nicht einmal die

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grossen Meister der psychologischen Sentenz mehr? denn, ohne jede Übertreibung gesprochen: der Gebildete in Europa, der La Rochefoucauld und seine Geistes- und Kunstverwandten gelesen hat, ist selten zu finden; und noch viel seltener Der, welcher sie kennt und sie nicht schmäht. Wahrscheinlich wird aber auch dieser unge- wöhnHche Leser viel weniger Freude an ihnen haben, als die Form jener Künstler ihm geben sollte; denn selbst der feinste Kopf ist nicht vermögend, die Kunst der Sentenzen-Schleiferei gebührend zu würdigen, wenn er nicht selber zu ihr erzogen ist, in ihr ge wetteifert hat Man nimmt, ohne solche praktische Belehrung, dieses Schaffen und Formen für leichter als es ist, man fühlt das Gelungene und Reizvolle nicht scharf genug heraus. Desshalb haben die jetzigen Leser von Sentenzen ein verhältnissmässig unbedeutendes Vergnügen an ihnen, ja kaum einen Mund voll Annehmlichkeit, so dass es ihnen ebenso geht wie den gewöhnlichen Betrachtern von Kameen: als welche loben, weil sie nicht lieben können und schnell bereit sind zu bewundern, schneller aber noch, fortzulaufen.

36.

Einwand. Oder sollte es gegen jenen Satz, dass die psychologische Beobachtung zu den Reiz- Heil- und Erleichterungs-Mitteln des* Daseins gehöre, eine Gegen- rechnung geben? Sollte man sich genug von den unan- genehmen Folgen dieser Kunst überzeugt haben, um jetzt mit Absichtlichkeit den Blick der sich Bildenden von ihr abzulenken? In der That, ein gewisser blinder Glaube an die Güte der menschlichen Natur, ein einge- pflanzter Widerwille vor der Zerlegung menschlicher Handlungen, eine Art Schamhaftigkeit in Hinsicht auf

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die Nacktheit der Seele mögen wirklich für das gesammte Glück eines Menschen wünschenswerthere Dinge sein als jene in einzelnen Fällen hülfreiche Eigenschaft der psychologischen Scharfsichtigkeit; und vielleicht hat der Glaube an das Gute, an tugendhafte Menschen und Handlungen, an eine Fülle des unpersönlichen Wohl- wollens in der Welt die Menschen besser gemacht, inso- fern er dieselben weniger misstrauisch machte. Wenn man die Helden Plutarch's mit Begeisterung nachahmt und einen Abscheu davor empfindet, den Motiven ihres Han- delns anzweifelnd nachzuspüren, so hat zwar nicht die Wahrheit, aber die Wohlfahrt der menschlichen Ge- sellschaft ihren Nutzen dabei: der psychologische Irrthum und überhaupt die Dumpfheit auf diesem Gebiete hilft der Menschlichkeit vorwärts, während die Erkenntniss der Wahrheit vielleicht durch die anregende Kraft einer Hypothese mehr gewinnt, wie sie La Rochefoucauld der ersten Ausgabe seiner „Sentences et maximes morales" vorangestellt hat: „Ce que le monde nomme vertu n'est d'ordtnatre qu'unfa7it6me formd par nos passtons, ä qui on donne un nom honnete pour faire impunSmefit ce qu'on veut." La Rochefoucauld und jene anderen fran- zösischen Meister der Seelenprüfung (denen sich neuer- dings auch ein Deutscher, der Verfasser der „Psycholo- gischen Beobachtungen" zugesellt hat) gleichen scharf zielenden Schützen, welche immer und immer wieder in's Schwarze treffen aber in's Schwarze der mensch- lichen Natur. Ihr Geschick erregt Staunen, aber endlich venvünscht vielleicht ein Zuschauer, der nicht vom Geiste der Wissenschaft sondern der Menschenfreundlichkeit geleitet wird, eine Kunst, welche den Sinn der Ver- kleinerung und Verdächtigung in die Seelen der Men- schen zu pflanzen scheint.

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Trotzdem. Wie es sich nun mit Rechnung und Gegenrechnung verhalte: in dem gegenwärtigen Zustande einer bestimmten einzelnen Wissenschaft ist die Aufer- weckung der moralischen Beobachtung nöthig geworden, und der grausame Anblick des psychologischen Secir- tisches und seiner Messer und Zangen kann der Menschheit nicht erspart bleiben. Denn hier gebietet jene WissenschaÄ, welche nach Ursprung und Geschichte der sogenannten moralischen Empfindungen fragt und welche im Fort- schreiten die verwickelten sociologischen Probleme auf- zustellen und zu lösen hat die ältere Philosophie kennt die letzteren gar nicht und ist der Untersuchung von Ursprung und Geschichte der moralischen Empfindungen unter dürftigen Ausflüchten immer aus dem Wege gegangen. Mit welchen Folgen: das lässt sich jetzt sehr deutlich überschauen, nachdem an vielen Beispielen nachgewiesen ist, wie die Irrthümer der grössten Philo- sophen gewöhnlich ihren Ausgangspunkt in einer falschen Erklärung bestimmter menschlicher Handlungen und Empfindungen haben, wie auf Grund einer irrthümlichen Analysis, zum Beispiel der sogenannten unegoistischen Handlungen, eine falsche Ethik sich aufbaut, dieser zu Gefallen dann wiederum Religion und mythologisches Unwesen zu Hülfe genommen werden, und endlich die Schatten dieser trüben Geister auch in die Physik und die gesammte Weltbetrachtung hineinfallen. Steht es aber fest, dass die Oberflächlichkeit der psychologischen Beobachtung dem menschlichen Urtheilen und Schliessen die gefährlichsten Fallstricke gelegt hat und fort- während von Neuem legt, so bedarf es jetzt jener Ausdauer der Arbeit, welche nicht müde wird, Steine

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auf Steine, Sternchen auf Steinchen zu häufen, so bedarf es der enthaltsamen Tapferkeit, um sich einer solchen bescheidenen Arbeit nicht zu schämen und jeder Missachtung derselben Trotz zu bieten. Es ist wahr: zahllose einzelne Bemerkungen über Menschliches und Allzumenschliches sind in Kreisen der Gesellschaft zuerst entdeckt und ausgesprochen worden, welche ge- wohnt waren, nicht der wissenschaftlichen Erkenntniss, sondern einer geistreichen Gefallsucht jede Art von Opfer darzubringen; und fast unlösbar hat sich der Duft jener alten Heimath der moralistischen Sentenz ein sehr verführerischer Duft der ganzen Gattung angehängt: so dass seinetwegen der wissenschaftliche Mensch un- willkürlich einiges Misstrauen gegen diese Gattung und ihre Ernsthaftigkeit merken lässt Aber es genügt, auf die Folgen zu verweisen: denn schon jetzt beginnt sich zu zeigen, welche Ergebnisse ernsthaftester Art auf dem Boden der psychologischen Beobachtung aufwachsen. Welches ist doch der Hauptsatz, zu dem einer der kühn- sten und kältesten Denker, der Verfasser des Buches „Über den Ursprung der moralischen Empfindungen" vermöge seiner ein- und durchschneidenden Analysen des menschlichen Handelns gelangt? „Der moralische Mensch, sagt er, steht der intelligiblen (metaphysischen) "Welt nicht näher als der physische Mensch." Dieser Satz, hart und schneidig geworden unter dem Hammer- schlag der historischen Erkenntniss, kann vielleicht ein- mal, in irgendwelcher Zukunft, als die Axt dienen, welche dem „metaphysischen Bedürfniss" der Menschen an die Wurzel gelegt wird, ob mehr zum Segen als zum Fluche der allgemeinen Wohlfahrt, wer wüsste das zu sagen? aber jedenfalls als ein Satz der erheblichsten Folgen, fruchtbar und furchtbar zugleich, und mit jenem

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Doppelgesichte in die Welt sehend, welches alle grossen Erkenntnisse haben.

38.

Inwiefern nützlich. Also: ob die psycholo- gische Beobachtung mehr Nutzen oder mehr Nachtheil über die Menschen bringe, das bleibe immerhin unentschieden; aber fest steht, dass sie nothwendig ist, weil die Wissen- schaft ihrer nicht entrathen kann. Die Wissenschaft aber kennt keine Rücksichten auf letzte Zwecke, ebenso wenig als die Natur sie kennt: sondern wie diese gelegentlich Dinge von der höchsten Zweckmässigkeit zu Stande bringt, ohne sie gewollt zu haben, so wird auch die ächte Wissenschaft, als die Nachahmung der Natur in Begriffen, den Nutzen und die Wohlfahrt der Menschen gelegentlich, ja vielfach fördern und das Zweck- mässige erreichen aber ebenfalls, ohne es gewollt zu haben. Wem es aber bei dem Anhauche einer solchen Betrachtungsart gar zu winterlich zu Muthe wird, der hat vielleicht nur zu wenig Feuer in sich: er möge sich indess umsehen und er wird Krankheiten wahrnehmen, in denen Eisumschläge noth thun, und Menschen, welche so aus Gluth und Geist „zusammengeknetet" sind, dass sie kaum irgendwo die Luft kalt und schneidend genug für sich finden. Überdiess: wie allzu ernste Einzelne und Völker ein Bedürfhiss nach Leichtfertigkeiten haben, wie andere, allzu Bewegliche und Erregbare zeitweilig schwere niederdrückende Lasten zu ihrer Gesundheit nöthig haben: sollten wir, die geistigeren Menschen eines Zeitalters, das ersichtlich immer mehr in Brand geräth, nicht nach allen löschenden und külilenden Mitteln, die es giebt, greifen müssen, damit wir wenigstens

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so stätig, harmlos und massig bleiben, als wir es noch sind, und so vielleicht einmal dazu brauchbar werden, diesem Zeitalter als Spiegel und Selbstbesinnung über sich zu dienen? *

39.

Die Fabel von der intelligiblen Freiheit. Die Geschichte der Empfindungen, vermöge deren wir Jemanden verantwortHch machen, also der sogenannten moralischen Empfindungen, verläuft in folgenden Haupt- phasen. Zuerst nennt man einzelne Handlungen gut oder böse ohne alle Rücksicht auf deren Motive, sondern allein der nützlichen oder schädlichen Folgen wegen. Bald aber vergisst man die Herkunft dieser Bezeichnungen und wähnt, dass den Handlungen an sich, ohne Rück- sicht auf deren Folgen, die Eigenschaft „gut" oder „böse" innewohne: mit demselben Irrthume, nach welchem die Sprache den Stein selber als hart, den Baum selber als grün bezeichnet also dadurch, dass man, was Wirkung ist, als Ursache fasst Sodann legt man das Gut- oder Böse-sein in die Motive hinein und betrachtet die Thaten an sich als moralisch zwei- deutig. Man geht weiter und giebt das Prädicat gut oder böse nicht mehr dem einzelnen Motive, sondern dem ganzen Wesen eines Menschen, aus dem das Motiv, wie die Pflanze aus dem Erdreich, heraus- wächst So macht man der Reihe nach den Menschen für seine Wirkungen, dann für seine Handlungen, dann für seine Motive und endlich für sein Wesen verant- wortHch. Nun entdeckt man schliesslich, dass auch dieses Wesen nicht verantwortlich sein kann, insofern es ganz und gar nothwendige Folge ist und aus den

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Elementen und Einflüssen vergangener und gegenwärtiger Dinge concrescirt: also dass der Mensch für Nichts verantwortlich zu machen ist, weder für sein Wesen, noch seine Motive, noch seine Handlungen, noch seine Wirkungen. Damit ist man zur Erkenntnis gelangt, dass die Geschichte der moralischen Empfindungen die Geschichte eines Irrthums, des Irrthums von der Verantwortlichkeit ist: als welcher auf dem Irrthum von der Freiheit des Willens ruht. Schopenhauer schloss dagegen so: weil gewisse Handlungen Unmuth („Schuldbewusstsein") nach sich ziehen, so muss es eine Verantwortlichkeit geben; denn zu diesem Unmuth wäre kein Grund vorhanden, wenn nicht nur alles Handeln des Menschen mit Nothwendigkeit verliefe wie es thatsächlich, und auch nach der Einsicht dieses Philosophen, verläuft , sondern der Mensch selber mit derselben Nothwendigkeit sein ganzes Wesen erlangte was Schopenhauer leugnet. Aus der Thatsache jenes Un- muthes glaubt Schopenhauer eine Freiheit beweisen zu können, welche der Mensch irgendwie gehabt haben müsse, zwar nicht in Bezug auf die Handlungen, aber in Bezug auf das Wesen: Freiheit also so oder so zu sein, nicht so oder so zu handeln. Aus dem esse, der Sphäre der Freiheit und Verantwortlichkeit, folgt nach seiner Meinung das pperari, die Sphäre der strengen Causalität, Nothwendigkeit und Un Verantwortlichkeit Jener Unmuth beziehe sich zwar scheinbar auf das operari insofern sei er irrthümlich , in Wahrheit aber auf das esse, welches die That eines freien Willens, die Grundursache der Existenz eines Individuums sei: der Mensch werde Das, was er werden wolle, sein Wollen sei früher als seine Existenz. Hier wird der Fehlschluss gemacht, dass aus der Thatsache des Unmuthes

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die Berechtigung, die vernünftige Zulässigkeit dieses Unmuthes geschlossen wird; und von jenem Fehlschluss aus kommt Schopenhauer zu seiner phantastischen Consequenz der sogenannten intelligiblen Freiheit. Aber der Unmuth nach der That braucht gar nicht vernünftig zu sein: ja er ist es gewiss nicht, denn er ruht auf der irrthümlichen Voraussetzung, dass die That eben nicht noth wendig hätte erfolgen müssen. Also: weil sich der Mensch für frei hält, nicht aber weil er frei ist, empfindet er Reue und Gewissensbisse. Überdiess ist dieser Unmuth Etwas, das man sich abgewöhnen kann, bei vielen Menschen ist er in Bezug auf Handlungen gar nicht vorhanden, bei welchen viele andere Menschen ihn empfinden. Er ist eine sehr wandelbare, an die Entwicklung der Sitte und Cultur geknüpfte Sache und vielleicht nur in" einer verhältnissmässig kurzen Zeit der Weltgeschichte vorhanden. Niemand ist für seine Thaten verantwortlich, Niemand für sein Wesen; richten ist soviel als ungerecht sein. Diess gilt auch, wenn das Individuum über sich selbst richtet. Der Satz ist so hell wie Sonnenücht und doch geht hier Jedermann lieber in den Schatten und die Unwahrheit zurück: aus Furcht vor den Folgen.

40.

Das Über-Thier. Die Bestie in uns will belogen werden; Moral ist Nothlüge, damit wir von ihr nicht zerrissen werden. Ohne die Irrthümer, welche in den Annahmen der Moral liegen, wäre der Mensch Thier geblieben. So aber hat er sich als etwas Höheres genommen und sich strengere Gesetze auferlegt. Er hat

Nie tische, Werke Band II. C

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desshalb einen Hass gegen die der Thierheit näher gebliebenen Stufen: woraus die ehemalige Missachtung des Sclaven, als eines Nicht-Menschen, als einer Sache zu erklären ist.

41.

Der unveränderliche Charakter. Dass der Charakter unveränderlich sei, ist nicht im strengen Sinne wahr; vielmehr heisst dieser beliebte Satz nur soviel, dass während der kurzen Lebensdauer eines Menschen die einwirkenden Motive nicht tief genug ritzen können, um die aufgeprägten Schriftzüge vieler Jahrtausende zu zerstören. Dächte man sich aber einen Menschen von achtzigtausend Jahren, so hätte man an ihm sogar einen absolut veränderlichen Charakter: so dass eine Fülle verschiedener Individuen sich nach und nach aus ihm entwickelte. Die Kürze des menschlichen Lebens verleitet zu manchen irrthümlichen Behauptungen über die Eigen- schaften des Menschen.

42.

Die Ordnung der Güter und die Moral. Die einmal angenommene Rangordnung der Güter, je nachdem ein niedriger höherer höchster Egoismus das Eine oder das Andere will, entscheidet jetzt über das Moralisch-sein oder Unmoralisch-sein. Ein niedriges Gut (zum Beispiel Sinnengenuss) einem höher geschätzten (zum Beispiel Gesundheit) vorziehn gilt als unmoralisch, ebenso Wohlleben der Freiheit vorziehn. Die Rang- ordnung der Güter ist aber keine zu allen Zeiten feste und gleiche; wenn Jemand Rache der Gerechtigkeit vor- zieht, so ist er nach dem Maassstabe einer früheren Cultur moralisch, nach dem der jetzigen unmoralisch.

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„Unmoralisch" bezeichnet also, dass Einer die höheren feineren geistigeren Motive, welche die jeweilen neue Cultur hinzugebracht hat, noch nicht oder noch nicht stark genug empfindet: es bezeichnet einen Zurückge- bliebenen, aber immer nur dem Gradunterschied nach. Die Rangordnung der Güter selber wird nicht nach moralischen Gesichtspunkten auf- und umgestellt; wohl aber wird nach ihrer jedesmaligen Festsetzung darüber entschieden, ob eine Handlung morahsch oder un- moralisch sei.

43. Grausame Menschen als zurückgeblieben. Die Menschen, welche jetzt grausam sind, müssen uns als Stufen früherer Culturen gelten, welche übrig geblieben sind: das Gebirge der Menschheit zeigt hier einmal die tieferen Formationen, welche sonst versteckt liegen, offen. Es sind zurückgebliebene Menschen, deren Gehirn, durch alle möglichen Zufälle im Verlaufe der Vererbung, nicht so zart und vielseitig fortgebildet worden ist Sie zeigen uns, was wir Alle waren, und machen uns erschrecken: aber sie selber sind so wenig verantwortlich, wie ein Stück Granit dafür, dass es Granit ist. In unserem Gehirne müssen sich auch Kinnen und Windungen finden, welche jener Gesinnung ent- sprechen, wie sich in der Form einzelner menschlicher Organe Erinnerungen an Fischzustände finden sollen. Aber diese Rinnen und Windungen sind nicht mehr das Bett, in welchem sich jetzt der Strom unserer Empfin- dung wälzt

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Dankbarkeit und Rache. Der Grund, wess- halb der Mächtige dankbar ist, ist dieser. Sein Wohl-

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thäter hat sich durch seine Wohlthat an der Sphäre des Mächtigen gleichsam vergriffen und sich in sie ein- gedrängt: nun vergreift er sich zur Vergeltung wieder an der Sphäre des Wohlthäters durch den Act der Dank- barkeit. Es ist eine mildere Form der Rache. Ohne die Genugthuung der Dankbarkeit zu haben, würde der Mächtige sich unmächtig gezeigt haben und fürderhin dafür gelten. Desshalb stellt jede Gesellschaft der Guten, das heisst ursprünglich der Mächtigen, die Dankbarkeit unter die ersten Pflichten. Swift hat den Satz hin- geworfen, dass Menschen in demselben Verhältniss dank- bar sind, wie sie Rache hegen.

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Doppelte Vorgeschichte von Gut und Böse. Der Begriff gnt und böse hat eine doppelte Vorgeschichte : nämlich einmal in der Seele der herrschenden Stämme und Kasten. Wer die Macht zu vergelten hat, Gutes mit Gutem, Böses mit Bösem, und auch wirklich Ver- geltung übt, also dankbar und rachsüchtig ist, der %\'ird gut genannt; wer unmächtig ist und nicht vergelten kann, gilt als schlecht. Man gehört als Guter zu den „Guten", einer Gemeinde, welche Gemeingefühl hat, weil alle Einzelnen durch den Sinn der Vergeltung mit ein- ander verflochten sind. Man gehört als Schlechter zu den „Schlechten", zu einem Haufen unterworfener, ohn- mächtiger Menschen, welche kein Gemeingefühl haben. Die Guten sind eine Kaste, die Schlechten eine Masse wie Staub. Gut und schlecht ist eine Zeitlang so viel wie vornehm und niedrig, Herr und Sclave. Dagegen sieht man den Feind nicht als böse an: er kann ver- gelten. Der Troer und der Grieche sind bei Homer

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beide gut Nicht Der, welcher uns Schädliches rufQgt, sondern Der, welcher verächtlich ist, gilt als schlecht In der Gemeinde der Guten vererbt sich das Gute; es ist unmöglich, dass ein Schlechter aus so gutem Erdreiche hervorwachse. Thut trotzdem Einer der Guten etwas, das der Guten unwürdig ist, so verfallt man auf Aus- flüchte; man schiebt zum Beispiel einem Gott die Schuld zu, indem man sagt: er habe den Guten mit Verblendung und Wahnsinn geschlagen. Sodann in der Seele der Unterdrückten, Machtlosen. Hier gilt jeder andere Mensch als feindlich, rücksichtslos, ausbeutend, grausam, listig, sei er vornehm oder niedrig. Böse ist das Charakter- wort far Mensch, ja für jedes lebende Wesen, welches man voraussetzt, zum Beispiel für einen Gott; mensch- lich, göttlich gilt so viel als teuflisch, böse. Die Zeichen der Güte Hülfbereitschaft Mitleid werden angstvoll als Tücke, Vorspiel eines schrecklichen Ausganges, Be- täubung und Überlistung aufgenommen, kurz als ver- feinerte Bosheit. Bei einer solchen Gesinnung des Ein- zelnen kann kaum ein Gemeinwesen entstehen, höchstens die roheste Form desselben: so dass überall, wo diese Auffassung von Gut und Böse herrscht, der Untergang der Einzelnen, ihrer Stämme und Rassen nahe ist Unsre jetzige Sittlichkeit ist auf dem Boden der herr- schenden Stämme und Kasten aufgewachsen.

46.

Mitleiden stärker als Leiden. Es giebt Fälle, wo das Mitleiden stärker ist als das eigentliche Leiden. Wir empfinden es zum Beispiel schmerzlicher, wenn einer unserer Freunde sich etwas Schmähliches zu Schul- den kommen lässt, als wenn wir selbst es thun. Einmal

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nämlich glauben wir mehr an die Reinheit seines Charak- ters als er; sodann ist unsere Liebe zu ihm, wahrschein- lich eben dieses Glaubens wegen, stärker als seine Liebe zu sich selbst. Wenn auch wirklich sein Egoismus mehr dabei leidet als unser Egoismus, insofern er die üblen Folgen seines Vergehens stärker zu tragen hat, so wird das Unegoistische in uns diess Wort ist nie streng zu verstehen, sondern nur eine Erleichterung des Ausdrucks doch stärker durch seine Schuld betroffen als das Unegoistische in ihm.

47. Hypochondrie. Es giebt Menschen, welche aus Mitgefühl und Sorge für eine andere Person hypochon- drisch werden; die dabei entstehende Art des Mitleidens ist nichts Anderes als eine Krankheit. So giebt es auch eine christliche Hypochondrie, welche jene einsamen religiös bewegten Leute befällt, die sich das Leiden und Sterben Christi fortwährend vor Augen stellen.

48. Ökonomie der Güte. Die Güte und Liebe als die heilsamsten Kräuter und Kräfte im Verkehre der Menschen sind so kostbare Funde, dass man wohl wünschen möchte, es werde in der Verwendung dieser balsamischen Mittel so ökonomisch wie möglich verfahren : doch ist diess unmöglich. Die Ökonomie der Güte ist der Traum der verwegensten Utopisten.

49. Wohlwollen. Unter die kleinen, aber zahllos häufigen und desshalb sehr wirkungsvollen Dinge, auf

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welche die "Wissenschaft mehr Acht zu geben hat als auf die grossen seltenen Dinge, ist auch das Wohlwollen zu rechnen; ich meine jene Äusserungen freundlicher Gesinnung im Verkehr, jenes Lächeln des Auges, jene Händedrücke, jenes Behagen, von welchem für gewöhnlich fast alles menschliche Thun umsponnen ist. Jeder Lehrer, jeder Beamte bringt diese Zuthat zu dem, was für ihn Pflicht ist, hinzu; es ist die fortwährende Bethätigung der MenschHchkeit, gleichsam die Wellen ihres Lichtes, in denen Alles wächst; namentlich im engsten Kreise, innerhalb der Familie, grünt und blüht das Leben nur durch jenes Wohlwollen. Die Gutmüthigkeit, die Freund- lichkeit, die Höflichkeit des Herzens sind immerquellende Ausflüsse des unegoistischen Triebes und haben viel mächtiger an der Cultur gebaut, als jene viel berühmteren Äusserungen desselben, die man Mitleiden Barmherzig- keit und Aufopferung nennt. Aber man pflegt sie gering- zuschätzen, und in der That: es ist nicht gerade viel Unegoistisches daran. Die Summe dieser geringen Dosen ist trotzdem gewaltig, ihre gesammte Kraft gehört zu den stärksten Kräften. Ebenso findet man viel mehr Glück in der Welt, als trübe Augen sehen: wenn man nämlich richtig rechnet und nur alle jene Momente des Behagens, an welchen jeder Tag in jedem, auch dem bedrängtesten Menschenleben reich ist, nicht vergisst

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Mitleiden erregen wollen. La Rochefoucauld trifft in der bemerkenswerthesten Stelle seines Selbst- Portraits (zuerst gedruckt 1658) gewiss das Rechte, wenn er alle Die, welche Vernunft haben, vor dem Mitleiden warnt, wenn er räth, dasselbe den Leuten aus dem Volke

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zu überlassen, die der Leidenschaften bedürfen (weil sie nicht durch Vernunft bestimmt werden), um so weit gebracht zu werden, dem Leidenden zu helfen und bei einem Unglück kräftig einzugreifen; während das Mit- leiden, nach seinem (und Plato's) Urtheil, die Seele ent- kräfte. Freilich solle man Mitleid bezeugen, aber sich hüten es zu haben: denn die Unglücklichen seien nun einmal so dumm, dass bei ihnen das Bezeugen von Mitleid das grösste Gut von der Welt ausmache. Vielleicht kann man noch stärker vor diesem Mitleid- haben warnen, wenn man jenes Bedürfniss der Unglück- lichen nicht gerade als Dummheit und intellectuellen Mangel, als eine Art Geistesstörung fasst, welche das Unglück mit sich bringt (und so scheint es ja La Roche- foucauld zu fassen), sondern als etwas ganz Anderes und Bedenklicheres versteht. Vielmehr beobachte man Kinder, welche weinen und schreien, damit sie bemitleidet werden, und desshalb den Augenblick abwarten, wo ihr Zustand in die Augen fallen kann; man lebe im Verkehr mit Kranken und geistig Gedrückten und frage sich, ob nicht das beredte Klagen und Wimmern, das Zur -Schau- tragen des Unglücks im Grunde das Ziel verfolgt, den Anwesenden weh zu thun: das Mitleiden, welches Jene dann äussern, ist insofern eine Tröstung für die Schwachen und Leidenden, als sie daran erkennen, doch wenigstens noch Eine Macht zu haben, trotz aller ihrer Schwäche: die Macht, wehe zu thun. Der Un- glückliche gewinnt eine Art von Lust in diesem Gefühl der Überlegenheit, welches das Bezeugen des Mitleids ihm zum Bewusstsein bringt; seine Einbildung erhebt sich, er ist immer noch wichtig genug, um der Welt Schmerzen zu machen. Somit ist der Durst nach Bemitleidet-werden ein Durst nach Selbstgenuss, und zwar auf Unkosten

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der Mitmenschen; es zeigt den Menschen in der ganzen Rücksichtslosigkeit seines eigensten lieben Selbst: nicht aber gerade in seiner „Dummheit", wie La Rochefoucauld meint. Im Zwiegespräche der Gesellschaft werden Dreiviertel aller Fragen gestellt, aller Antworten ge- geben, um dem Unterredner ein klein wenig weh zu thun; desshalb dürsten viele Menschen so nach Gesell- schaft: sie giebt ihnen das Gefühl ihrer Kraft. In solchen unzähligen aber sehr kleinen Dosen, in welchen die Bosheit sich geltend macht, ist sie ein mächtiges Reiz- mittel des Lebens: ebenso wie das Wohlwollen, in gleicher Form durch die Menschenwelt hin verbreitet, das allezeit bereite Heilmittel ist. Aber wird es viele Ehrliche geben, welche zugestehen, dass es Vergnügen macht, weh zu thun? dass man sich nicht selten damit unterhält und gut unterhält , anderen Menschen wenigstens in Gedanken Kränkungen zuzufügen und die Schrotkömer der kleinen Bosheit nach ihnen zu schiessen? Die Meisten sind zu unehrlich und ein paar Menschen sind zu gut, um von diesem, pudendum Etwas zu wissen; diese mögen somit immerhin leugnen, dass Prosper Merimee Recht habe, wenn er sagt: „Sachez ausst qu'il n'y a rien de plus commun que de faire le mal pour le platstr de le faire."

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Wie der Schein zum Sein wird, Der Schau- spieler kann zuletzt auch beim tiefsten Schmerz nicht aufhören, an den Eindruck seiner Person und den ge- sammten scenischen Effect zu denken, zum Beispiel selbst beim Begräbniss seines Kindes; er wird über seinen eigenen Schmerz und dessen Äusserungen weinen, als sein eigner Zuschauer. Der Heuchler, welcher immer

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ein und dieselbe Rolle spielt, hört zuletzt auf Heuchler zu sein zum Beispiel Priester, welche als junge Männer gewöhnlich be-^nisst oder unbewusst Heuchler sind, wer- den zuletzt natürlich und sind dann wirkhch, ohne alle AfFectation, eben Priester; oder wenn es der Vater nicht so weit bringt, dann vielleicht der Sohn, der des Vaters Vorsprung benutzt, seine Gewöhnung erbt. Wenn Einer sehr lange und hartnäckig Etwas scheinen will, so wird es ihm zuletzt schwer, etwas Anderes zu sein. Der Beruf fast jedes Menschen, sogar der des Künstlers, beginnt mit Heuchelei, mit einem Nachmachen von Aussen her, mit einem Copiren des Wirkungsvollen. Der, welcher immer die Maske freundlicher Mienen trägt, muss zuletzt eine Gewalt über wohlwollende Stimmungen bekommen, ohne welche der Ausdruck der Freundlichkeit nicht zu erzwingen ist, und zuletzt wieder bekommen diese über ihn Gewalt, er ist wohlwollend.

52.

Der Punkt der Ehrlichkeit beim Betrüge. Bei allen grossen Betrügern ist ein Vorgang bemerkens- werth, dem sie ihre Macht verdanken. Im eigentlichen Acte des Betrugs, unter all den Vorbereitungen, dem Schauerlichen in Stimme Ausdruck Gebärden, inmitten der wirkungsvollen Scenerie überkommt sie der Glaube an sich selbst: dieser ist es, der dann so wunder gleich und bezwingend zu den Umgebenden spricht. Die Reli- gionsstifter unterscheiden sich dadurch von jenen grossen Betrügern, dass sie aus diesem Zustande der Selbsttäu- schung nicht herauskommen: oder sie haben ganz selten einmal jene helleren Momente, wo der Zweifel sie über- wältigt; gewöhnlich trösten sie sich aber, diese helleren

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Momente dem bösen Widersacher zuschiebend. Selbst- betrug muss da sein, damit Diese und Jene grossartig wirken. Denn die Menschen glauben an die Wahrheit alles dessen, was ersichtlich stark geglaubt wird.

53.

Angebliche Stufen der Wahrheit. Einer der gewöhnlichen Fehlschlüsse ist der: weil Jemand wahr und aufrichtig gegen uns ist, so sagt er die Wahrheit. So glaubt das Kind an die Urtheile der Eltern, der Christ an die Behauptungen des Stifters der Kirche. Ebenso ^vill man nicht zugeben, dass alles Jenes, was die Men- schen mit Opfern an Glück und Leben in früheren Jahr- hunderten vertheidigt haben. Nichts als Irrthümer waren: vielleicht sagt man, es seien Stufen der Wahrheit gewesen. Aber im Grunde meint man, wenn Jemand ehrlich an Etwas geglaubt und für seinen Glauben gekämpft hat und gestorben ist, wäre es doch gar zu unbillig, wenn eigentlich nur ein Irrthum ihn beseelt habe. So ein Vor- gang scheint der ewigen Gerechtigkeit zu widersprechen ; desshalb decretirt das Herz empfindender Menschen immer wieder gegen ihren Kopf den Satz: zwischen moralischen Handlungen und intellectuellen Einsichten muss durchaus ein nothwendiges Band sein. Es ist leider anders; denn es giebt keine ewige Gerechtigkeit

54.

Die Lüge. Wesshalb sagen zu allermeist die Menschen im alltäglichen Leben die Wahrheit? Gewiss nicht, weil ein Gott das Lügen verboten hat. Sondern erstens: weil es bequemer ist; denn die Lüge erfordert

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Erfindung, Verstellung und Gedächtniss. (Wesshalb Swift sagt: wer eine Lüge berichtet, merkt selten die schwere Last, die er übernimmt; er muss nämlich, um Eine Lüge zu behaupten, zwanzig andere erfinden.) Sodann: weil es in schlichten Verhältnissen vortheilhaft ist, direct zu sagen: ich will diess, ich habe diess gethan, und der- gleichen; also weil der Weg des Zwangs und der Au- torität sicherer ist als der der List. Ist aber einmal ein Kind in verwickelten häuslichen Verhältnissen auf- gezogen worden, so handhabt es ebenso natürlich die Lüge und sagt unwillkürlich immer Das, was seinem In- teresse entspricht; ein Sinn für Wahrheit, ein Widerwille gegen die Lüge an sich ist ihm ganz fremd und unzu- gänglich, und so lügt es in aller Unschuld.

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Des Glaubens wegen die Moral verdächtigen.

Keine Macht lässt sich behaupten, wenn lauter Heuchler sie vertreten; die katholische Kirche mag noch so viele „weltliche" Elemente besitzen, ihre Kraft beruht auf jenen auch jetzt noch zahlreichen priesterlichen Naturen, welche sich das Leben schwer und bedeutungstief machen, und deren Blick und abgehärmter Leib von Nachtwachen Hungern glühendem Gebete, vielleicht selbst von Geissei- hieben redet; diese erschüttern die Menschen und machen ihnen Angst: wie, wenn es nöthig wäre, so zu leben?

diess ist die schauderhafte Frage, welche ihr Anblick auf die Zunge legt. Indem sie diesen Zweifel verbreiten, gründen sie immer von Neuem wieder einen Pfeiler ihrer Macht; selbst die Freigesinnten wagen es nicht, dem derartig Selbstlosen mit hartem Wahrheitssinn zu wider- stehen und zu sagen: „Betrogner du, betrüge nicht!"

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Nur die Differenz der Einsichten trennt sie von ihm, durchaus keine Differenz der Güte oder Schlechtigkeit; aber was man nicht mag, pflegt man gewöhnlich auch ungerecht zu behandeln. So spricht man von der Schlau- heit und der verruchten Kunst der Jesuiten, aber über- sieht, welche Selbstüberwindung jeder einzelne Jesuit sich auferlegt und wie die erleichterte Lebenspraxis, welche die jesuitischen Lehrbücher predigen, durchaus nicht ihnen, sondern dem Laienstande zu Gute kommen soll. Ja man darf fragen, ob wir Aufgeklärten bei ganz gleicher Taktik und Organisation ebenso gute Werk- zeuge, ebenso bewundernswürdig durch Selbstbesiegung Unermüdlichkeit Hingebung sein würden.

56.

Sieg der Erkenntniss über das radicale Böse. Es trägt Dem, der weise werden will, einen reich- lichen Gewinn ein, eine Zeitlang einmal die Vorstellung vom gründlich bösen und verderbten Menschen gehabt zu haben: sie ist falsch, wie die entgegengesetzte; aber ganze Zeitstrecken hindurch besass sie die Herrschaft, und ihre Wurzeln haben sich bis in uns und unsere Welt hinein verästet Um uns zu begreifen, müssen wir sie begreifen; um aber dann höher zu steigen, müssen wir über sie hinwegsteigen. Wir erkennen dann, dass es keine Sünden im metaphysischen Sinne giebt; aber, im gleichen Sinne, auch keine Tugenden; dass dieses ganze Bereich sittlicher Vorstellungen fortwährend im Schwanken ist, dass es höhere und tiefere Begriffe von Gut und Böse, Sittlich und Unsittlich giebt. Wer nicht viel mehr von den Dingen begehrt, als Erkenntniss der- selben, kommt leicht mit seiner Seele zur Ruhe und wird

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höchstens aus Unwissenheit, aber schwerlich aus Begehr- lichkeit fehlgreifen (oder sündigen, wie die Welt es heisst). Er wird die Begierden nicht mehr verketzern und aus- rotten wollen; aber sein einziges, ihn völlig beherrschendes Ziel, zu aller Zeit so gut wie möglich zu erkennen, wird ihn kühl machen und alle Wildheit in seiner An- lage besänftigen. Überdiess ist er eine Menge quälen- der Vorstellungen losgeworden, er empfindet Nichts mehr bei dem Worte Höllenstrafen, Sündhaftigkeit, Un- fähigkeit zum Guten: er erkennt darin nur die ver- schwebenden Schattenbilder falscher Welt- und Lebens- betrachtungen.

57.

Moral als Selbstzertheilung des Menschen. Ein guter Autor, der wirklich das Herz für seine Sache hat, wünscht, dass Jemand komme und ihn selber da- durch vernichte, dass er dieselbe Sache deutlicher dar- stelle und die in ihr enthaltenen Fragen ohne Rest be- antworte. Das liebende Mädchen wünscht, dass sie die hingebende Treue ihrer Liebe an der Untreue des Ge- liebten bewähren könne. Der Soldat wünscht, dass er für sein siegreiches Vaterland auf dem Schlachtfeld falle: denn in dem Siege seines Vaterlandes siegt sein höchstes Wünschen mit. Die Mutter giebt dem Kinde, was sie sich selber entzieht, Schlaf, die beste Speise, unter Um- ständen ihre Gesundheit, ihr Vermögen. Sind diess Alles aber unegoistische Zustände? Sind diese Thaten der Moralität Wunder, weil sie nach dem Ausdrucke Schopenhauer's „unmöglich und doch wirklich" sind? Ist es nicht deutlich, dass in all diesen Fällen der Mensch Etwas von sich, einen Gedanken, ein Verlangen, ein Erzeugniss mehr liebt als etwas Anderes von sich.

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dass er also sein Wesen zertheilt und dem einen Theil den anderen zum Opfer bringt? Ist es etwas wesentlich Verschiedenes, wenn ein Trotzkopf sagt: ,4ch will lieber über den Haufen geschossen werden, als diesem Menschen da einen Schritt aus dem Wege gehn"? Die Neigung zu Etwas (Wunsch, Trieb, Verlangen) ist in allen genannten Fällen vorhanden; ihr nachzugeben, mit allen Folgen, ist jedenfalls nicht „unegoistisch". In der Moral behandelt sich der Mensch nicht als tndividmim, sondern als dividuum.

58.

Was man versprechen kann. Man kann Handlungen versprechen, aber keine Empfindungen; denn diese sind unwillkürlich. Wer Jemandem verspricht, ihn immer zu lieben oder immer zu hassen oder ihm immer treu zu sein, verspricht Etwas, das nicht in seiner Macht steht; wohl aber kann er solche Handlungen versprechen, welche zwar gewöhnlich die Folgen der Liebe, des Heisses, der Treue sind, aber auch aus anderen Motiven entspringen können: denn zu einer Handlung führen mehrere Wege und Motive. Das Versprechen, Jemanden immer zu lieben, heisst also: so lange ich dich liebe, werde ich dir die Handlungen der Liebe erweisen; liebe ich dich nicht mehr, so wirst du doch dieselben Hand- lungen, wenn auch aus anderen Motiven, immerfort von mir empfangen: so dass der Schein in den Köpfen der Mitmenschen bestehen bleibt, dass die Liebe unverändert und immer noch dieselbe sei. Man verspricht also die Andauer des Anscheines der Liebe, wenn man ohne Selbstverblendung Jemandem immerwährende Liebe gelobt

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59.

Intellect und Moral. Man muss ein gutes Gedächtniss haben , um gegebene Versprechen halten zu können. Man muss eine starke Klraft der Einbildung haben, um Mitleid haben zu können. So eng ist die Moral an die Güte des Intellects gebunden.

60.

Sich rächen wollen und sich rächen. Einen Rachegedanken haben und ausführen heisst einen heftigen Fieberanfall bekommen, der aber vorübergeht: einen Rachegedanken aber haben, ohne Kraft und Muth ihn auszuführen, heisst ein chronisches Leiden, eine Vergiftung an Leib und Seele mit sich herumtragen. Die Moral, welche nur auf die Absichten sieht, taxirt beide Fälle gleich; für gewöhnlich taxirt man den ersten Fall als den schlimmeren (wegen der bösen Folgen, welche die That der Rache vielleicht nach sich zieht). Beide Schätz- ungen sind kurzsichtig.

61.

Warten-können. Das Warten -können ist so schwer, dass die grössten Dichter es nicht verschmäht haben, das Nicht-warten-können zum Motiv ihrer Dich- tungen zu machen. So Shakespeare im Othello, Sophokles im Ajax: dessen Selbstmord ihm, wenn er nur einen Tag noch seine Empfindung hätte abkühlen lassen, nicht mehr nöthig geschienen hätte, wie der Orakelspruch andeutet; wahrscheinlich würde er den schrecklichen Einflüsterungen der verletzten Eitelkeit ein Schnippchen geschlagen und zu sich gesprochen haben: wer hat denn nicht schon, in

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meinem Falle, ein Schaf für einen Helden angesehn? ist es denn so etwas Ungeheures ? Im Gegentheil, es ist nur etwas allgemein Menschliches Ajax durfte sich dergestalt Trost zusprechen. Die Leidenschaft will nicht warten; das Tragische im Leben grosser Männer liegt häufig nicht in ihrem Conflicte mit der Zelt und der Niedrigkeit ihrer Mitmenschen, sondern in ihrer Unfähig- keit, ein Jahr, zwei Jahre ihr Werk zu verschieben; sie können nicht warten. Bei allen Duellen haben die zurathenden Freunde das Eine festzustellen, ob die be- theiligten Personen noch warten können: ist diess nicht der Fall, so ist ein Duell vernünftig, insofern Jeder von Beiden sich sagt: „entweder lebe ich weiter, dann muss Jener augenblicklich sterben, oder umgekehrt." Warten hiesse in solchem Falle an jener furchtbaren Marter der verletzten Ehre angesichts ihres Verletzers noch länger leiden: und diess kann eben mehr Leiden sein, als das Leben überhaupt werth ist

62.

Schwelgerei der Rache. Grobe Menschen, welche sich beleidigt fühlen, pflegen den Grad der Be- leidigung so hoch als möglich zu nehmen und erzählen die Ursache mit stark übertreibenden Worten, um nur in dem einmal erweckten Hass- und Rachgefühl sich recht ausschwelgen zu können.

63.

Werth der Verkleinerung. Nicht wenige, vielleicht die allermeisten Menschen haben, um ihre Selbst- achtung und eine gewisse Tüchtigkeit im Handeln bei

Nietzsche, Werke Band II. 6

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sich aufrecht zu erhalten, durchaus nöthig, alle ihnen bekannten Menschen in ihrer Vorstellung herabzusetzen und zu verkleinern. Da aber die geringen Naturen in der Überzahl sind und es sehr viel daran liegt, ob sie jene Tüchtigkeit haben oder verlieren, so

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Der Aufbrausende. Vor Einem, der gegen uns aufbraust, soll man sich in Acht nehmen wie vor Einem, der uns einmal nach dem Leben getrachtet hat: denn dass wir noch leben, das liegt an der Abwesen- heit der Macht zu tödten; genügten Blicke, so wäre es längst um uns geschehn. Es ist ein Stück roher Cultur, durch Sichtbarwerdenlassen der physischen Wildheit, durch Furchterregen Jemanden zum Schweigen zu bringen. Ebenso ist jener kalte Blick, welchen Vornehme gegen ihre Bedienten haben, ein Überrest jener kastenmässigen Abgrenzungen zwischen Mensch und Mensch, ein Stück rohen Alterthums; die Frauen, die Bewahrerinnen des Alten, haben auch diess survtval treuer bewahrt.

65.

Wohin die Ehrlichkeit führen kann. Jemand hatte die üble Angewohnheit, sich über die Motive, aus denen er handelte und die so gut und so schlecht waren wie die Motive aller Menschen, gelegentlich ganz ehrlich auszusprechen. Er erregte erst Anstoss, dann Verdacht, wurde allmählich geradezu verfehmt und in die Acht der Gesellschaft erklärt, bis endlich die Justiz sich eines so verworfenen Wesens erinnerte , bei Gelegenheiten , wo sie sonst kein Auge hatte, oder dasselbe zudrückte. Der

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Mangel an Schweigsamkeit über das allgemeine Geheim- niss und der unverantwortliche Hang zu sehen, was Keiner sehen will sich selber , brachten ihn zu Gefängniss und frühzeitigem Tod.

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Sträflich, nie gestraft Unser Verbrechen gegen Verbrecher besteht darin, dass wir sie wie Schufte behandeln.

67.

Sancta simplicitas der Tugend. Jede Tugend hat Vorrechte : zum Beispiel diess, zu dem Scheiterhaufen eines Verurtheilten ihr eigenes Bündchen Holz zu liefern.

68.

Moralität und Erfolg. Nicht nur die Zuschauer einer That bemessen häufig das Morahsche oder Unmo- ralische an derselben nach dem Erfolge: nein, der Thäter selbst thut diess. Denn die Motive und Absichten sind selten deutlich und einfach genug, und mitunter scheint selbst das Gedächtniss durch den Erfolg der That getrübt, so dass man seiner That selber falsche Motive unter- schiebt oder die unwesentlichen Motive als wesentliche behandelt. Der Erfolg giebt oft einer That den vollen ehrlichen Glanz des guten Gewissens, ein Misserfolg legt den Schatten von Gewissensbissen über die achtungs- würdigste Handlung. Daraus ergiebt sich die bekannte Praxis des Politikers, welcher denkt: „gebt mir nur den Erfolg: mit ihm habe ich auch alle ehrlichen Seelen auf meine Seite gebracht und mich vor mir selber ehrlich

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gemacht" Auf ähnliche Weise soll der Erfolg die bessere Begründung ersetzen. Noch jetzt meinen viele Gebildete, der Sieg des Christenthums über die griechi- sche Philosophie sei ein Beweis für die grössere Wahr- heit des ersteren obwohl in diesem Falle nur das Gröbere und Gewaltsamere über das Geistigere und Zarte gesiegt hat. Wie es mit der grösseren Wahrheit steht, ist daraus zu ersehen, dass die erwachenden Wissen- schaften Punkt um Punkt an Epikur's Philosophie ange- knüpft, das Christenthum aber Punkt um Punkt zurück- gewiesen haben.

69.

Liebe und Gerechtigkeit. Warum überschätzt man die Liebe zu Ungunsten der Gerechtigkeit und sagt die schönsten Dinge von ihr, als ob sie ein viel höheres Wesen als jene sei? Ist sie denn nicht ersicht- lich dümmer als jene? Gewiss, aber gerade desshalb um so viel angenehmer für Alle. Sie ist dumm und besitzt ein reiches Füllhorn; aus ihm theilt sie ihre Gaben aus, an Jedermann, auch wenn er sie nicht verdient, ja ihr nicht einmal dafür dankt. Sie ist unparteiisch wie der Regen, welcher, nach der Bibel und der Erfahrung, nicht nur den Ungerechten, sondern unter Umständen auch den Gerechten bis auf die Haut nass macht

70.

Hinrichtung. Wie kommt es, dass jede Hin- richtung uns mehr beleidigt als ein Mord? Es ist die Kälte der Richter, die peinliche Vorbereitung, die Ein- sicht, dass hier ein Mensch als Mittel benutzt wird, um andre abzuschrecken. Denn die Schuld wird nicht be-

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straft, selbst wenn es eine gäbe: diese liegt in Erziehern Eltern Umgebungen, in uns, nicht im Mörder ich meine die veranlassenden Umstände.

71.

Die Hoffnung. Pandora brachte das Fass mit den Übeln und öffnete es. Es war das Geschenk der Götter an die Menschen, von Aussen ein schönes ver- führerisches Geschenk und „Glücksfass" zubenannt. Da flogen all die Übel, lebendige beschwingte Wesen heraus: von da an schweifen sie nun herum und thun den ^lenschen Schaden bei Tag und Nacht. Ein einziges Übel war noch nicht aus dem Fass herausgeschlüpft: da schlug Pandora nach Zeus' Willen den Deckel zu, und so blieb es darin. Für immer hat der Mensch nun das Glücksfass im Hause und meint Wunder was für einen Schatz er in ihm habe; es steht ihm zu Diensten, er greift darnach, wenn es ihn gelüstet; denn er weiss nicht, dass jenes Fass, welches Pandora brachte, das Fass der Übel war, und hält das zurückgebliebene Übel für das grösste Glücksgut - - es ist die Hoffnung. Zeus wollte nämlich, dass der Mensch, auch noch so sehr durch die anderen Übel gequält, doch das Leben nicht wegwerfe , sondern fortfahre , sich immer von Neuem quälen zu lassen. Dazu giebt er dem Menschen die Hoffnung: sie ist in Wahrheit das übelste der Übel, weil sie die Qual der Menschen verlängert.

72. Grad der moralischen Erhitzbarkeit unbe- kannt — Daran dass man gewisse erschütternde An- blicke und Eindrücke gehabt oder nicht gehabt hat, zum

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Beispiel eines unrecht gerichteten, getödteten oder ge- marterten Vaters, einer untreuen Frau, eines grausamen feindlichen Überfalls, hängt es ab , ob unsere Leiden- schaften zur Glühhitze kommen und das ganze Leben lenken oder nicht. Keiner weiss, wozu ihn die Umstände, das Mitleid, die Entrüstung treiben können, er kennt den Grad seiner Erhitzbarkeit nicht. Erbärmliche kleine Verhältnisse machen erbärmlich; es ist gewöhnlich nicht die Quantität der Erlebnisse, sondern ihre Qualität, von welcher der niedere und höhere Mensch abhängt, im Guten und Bösen.

73. Der Märtyrer wider Willen. In einer Partei gab es einen Menschen, der zu ängstlich und feige war, um je seinen Kameraden zu widersprechen: man brauchte ihn zu jedem Dienst, man erlangte von ihm Alles, weil er sich vor der schlechten Meinung bei seinen Gesellen mehr als vor dem Tode fürchtete; es war eine erbärm- liche schwache Seele. Sie erkannten diess und machten auf Grund der erwähnten Eigenschaften aus ihm einen Heros und zuletzt gar einen Märtyrer. Obwohl der feige Mensch innerlich immer Nein sagte, sprach er mit den Lippen immer Ja, selbst noch auf dem Schaffot, als er für die Ansichten seiner Partei starb: neben ihm nämlich stand einer seiner alten .Genossen , der ihn durch Wort und Blick so tyrannisirte , dass er wirklich auf die an- ständigste Weise den Tod erlitt und seitdem als Märtyrer und grosser Charakter gefeiert wird.

74. Alltags-Maassstab. Man wird selten irren, wenn man extreme Handlungen auf Eitelkeit, mittel-

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massige auf Gewöhnung und kleinliche auf Furcht zurück- führt.

75.

Missverständniss über die Tugend. Wer die Untugend in Verbindung mit der Lust kennen gelernt hat wie Der, welcher eine genusssüchtige Jugend hinter sich hat bildet sich ein, dass die Tugend mit der Unlust verbunden sein müsse. Wer dagegen von seinen Leiden- schaften und Lastern sehr geplagt worden ist, ersehnt in der Tugend die Ruhe und das Glück der Seele. Daher ist es möglich, dass zwei Tugendhafte einander gar nicht verstehen.

76.

Der AskeL Der Asket macht aus der Tugend eine Noth.

77.

Die Ehre von der Person auf die Sache über- tragen. — Man ehrt allgemein die Handlungen der Liebe und Aufopferung zu Gunsten des Nächsten, wo sie sich auch immer zeigen. Dadurch vermehrt man die Schätzung der Dinge, welche in jener Art geliebt werden oder für welche man sich aufopfert: obwohl sie vielleicht an sich nicht viel werth sind. Ein tapferes Heer überzeugt von der Sache, für welche es kämpft.

78.

Ehrgeiz ein Surrogat des moralischen Ge- fühls, — Das moralische Gefühl darf in solchen Naturen nicht fehlen, welche keinen Ehrgeiz haben. Die Ehr-

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geizigen behelfen sich auch ohne dasselbe, mit fast gleichem Erfolge. Desshalb werden Söhne aus be- scheidenen, dem Ehrgeiz abgewandten Familien, wenn sie einmal das moralische Gefühl verlieren, gewöhnlich in schneller Steigerung zu vollkommenen Lumpen.

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Eitelkeit bereichert. Wie arm wäre der mensch- liche Geist ohne die Eitelkeit! So aber gleicht er einem wohlgefüllten und immer neu sich füllenden Waaren- magazin, welches Käufer jeder Art anlockt: Alles fast können sie finden, Alles haben, vorausgesetzt dass sie die gültige Münzsorte (Bewunderung) mit sich bringen.

So.

GreisundTod. Abgesehen von den Forderungen, welche die ReUgion stellt, darf man wohl fragen: warum sollte es für einen altgewordenen Mann, welcher die Abnahme seiner Kräfte spürt, rühmlicher sein, seine langsame Erschöpfung und Auflösung abzuwarten, als ihr mit vollem Bewusstsein ein Ziel zu setzen? Die Selbsttödtung ist in diesem Falle eine ganz natürliche naheliegende Handlung, welche als ein Sieg der Vernunft billigerweise Ehrfurcht erwecken sollte: und auch erweckt hat, in jenen Zeiten, als die Häupter der griechischen Philosophie und die wackersten römischen Patrioten durch Selbsttödtung zu sterben pflegten. Die Sucht da- gegen, sich mit ängstlicher Berathung von Ärzten und peinUchster Lebensart von Tag zu Tage fortzufristen, ohne Kraft, dem eigentlichen Lebensziel noch näher zu kommen, ist viel weniger achtbar. Die Religionen

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sind reich an Ausflüchten vor der Forderung der Selbst- tödtung: dadurch schmeicheln sie sich bei Denen ein, welche in das Leben verliebt sind.

8i.

Irrthümer des Leidenden und des Thäters. Wenn der Reiche dem Armen ein Besitzthum nimmt (zum Beispiel ein Fürst dem Plebejer die Geliebte), so entsteht in dem Armen ein Irrthum; er meint, Jener müsse ganz verrucht sein, um ihm das Wenige, was er habe, zu nehmen. Aber Jener empfindet den Werth eines einzelnen Besitzthums gar nicht so tief, weil er gewöhnt ist viele zu haben: so kann er sich nicht in die Seele des Armen versetzen und thut lange nicht so sehr Un- recht, als dieser glaubt. Beide haben von einander eine falsche Vorstellung. Das Unrecht des Mächtigen, welches am meisten in der Geschichte empört, ist lange nicht so gross, wie es scheint. Schon die angeerbte Empfindung, ein höheres Wesen mit höheren Ansprüchen zu sein, macht ziemlich kalt und lässt das Gewissen ruhig: wir Alle sogar empfinden, wenn der Unterschied zwischen uns und einem andern Wesen sehr gross ist, gar nichts mehr von Unrecht und tödten eine Mücke zum Beispiel ohne jeden Gewissensbiss. So ist es kein Zeichen von Schlechtigkeit bei Xerxes (den selbst alle Griechen als hervorragend edel schildern), wenn er dem Vater seinen Sohn nimmt und ihn zerstückeln lässt, weil dieser ein ängstliches, ominöses Misstrauen gegen den ganzen Heer- zug geäussert hatte: der Einzelne wird in diesem Falle wie ein unangenehmes Insect beseitigt: er steht zu niedrig, um länger quälende Empfindungen bei einem Weltherr- scher erregen zu dürfen. Ja, jeder Grausame ist nicht

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in dem Maasse grausam, als es der Misshandelte glaubt; die Vorstellung des Schmerzes ist nicht dasselbe wie das Erleiden desselben. Ebenso steht es mit dem unge- rechten Richter, mit dem Journalisten, welcher mit kleinen Unredlichkeiten die öffentliche Meinung irreführt. Ur- sache und Wirkung sind in allen diesen Fällen von ganz verschiedenen Empfindungs- und Gedankengruppen um- geben; während man unwillkürlich voraussetzt, dass Thäter und Leidender gleich denken und empfinden, und gemäss dieser Voraussetzung die Schuld des Einen nach dem Schmerz des Andern misst.

82.

Haut der Seele. Wie die Knochen Fleischstücke Eingeweide und Blutgefässe mit einer Haut umschlossen sind, die den Anblick des Menschen erträglich macht, so werden die Regungen und Leidenschaften der Seele durch die Eitelkeit umhüllt: sie ist. die Haut der Seele.

83.

Schlaf der Tugend. Wenn die Tugend ge- schlafen hat, wird sie frischer aufstehen.

84.

Feinheit der Scham. Die Menschen schämen sich nicht, etwas Schmutziges zu denken, aber wohl, wenn sie sich vorstellen, dass man ihnen diese schmutzigen Gedanken zutraue.

gi -^

85.

Bosheit ist selten. Die meisten Menschen sind viel zu sehr mit sich beschäftigt, um boshaft zu sein.

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Das Zünglein an der Wage. Man lobt oder tadelt, je nachdem das Eine oder das Andre mehr Gelegenheit giebt, unsre Urtheilskraft leuchten zu lassen.

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Lucas 18,14 verbessert. Wer sich selbst er- niedrigt, will erhöhet werden.

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Verhinderung des Selbstmordes. Es giebt ein Recht, wonach wir einem Menschen das Leben nehmen, aber keines, wonach wir ihm das Sterben nehmen : diess ist nur Grausamkeit

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Eitelkeit. Uns liegt an der guten Meinung der Menschen, einmal weil sie uns nützlich ist, sodann weil wir ihnen Freude machen wollen (Kinder den Eltern, Schüler den Lehrern und wohlwollende Menschen über- haupt allen übrigen Menschen). Nur wo Jemandem die gute Meinung der Menschen wichtig ist, abgesehn vom Vortheil oder von seinem Wunsche, Freude zu machen, reden wir von Eitelkeit. In diesem Falle will sich der

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Mensch selber eine Freude machen, aber auf Unkosten seiner Mitmenschen, indem er diese entweder zu einer falschen Meinung über sich verführt oder es gar auf einen Grad der „guten Meinung" absieht, wo diese allen Anderen peinlich werden muss (durch Erregung von Neid). Der Einzelne will gewöhnlich durch die Meinung Anderer die Meinung, die er von sich hat, beglaubigen und vor sich selber bekräftigen; aber die mächtige Ge- wöhnung an Autorität eine Gewöhnung, die so alt als der Mensch ist bringt Viele auch dazu, ihren eigenen Glauben an sich auf Autorität zu stützen, also erst aus der Hand Anderer anzunehmen: sie trauen der Urtheilskraft Anderer mehr als der eigenen. Das In- teresse an sich selbst, der Wunsch, sich zu vergnügen erreicht bei dem Eitlen eine solche Höhe, dass er die Anderen zu einer falschen allzu hohen Taxation seiner selbst verführt und dann doch sich an die Autorität der Anderen hält: also den Irrthum. herbeiführt und doch ihm Glauben schenkt. Man muss sich also eingestehen, dass die eitlen Menschen nicht sowohl Anderen ge- fallen wollen als sich selbst, und dass sie so weit gehen, ihren Vortheil dabei zu vernachlässigen: denn es liegt ihnen oft daran, ihre Mitmenschen ungünstig feindlich neidisch, also schädlich gegen sich zu stimmen, nur um die Freude an sich selber, den Selbstgenuss zu haben.

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Grenze der Menschenliebe. Jeder, welcher sich dafür erklärt hat, dass der Andere ein Dummkopf, ein schlechter Geselle sei, ärgert sich, wenn Jener schhess- lich zeigt, dass er es nicht ist

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Moraltt^ larmoyante. Wie viel Vergnügen macht die Moralität! Man denke nur, was fiir ein Meer angenehmer Thränen schon bei Erzählungen edler, gross- müthiger Handlungen geflossen ist! Dieser Reiz des Lebens würde schwinden, wenn der Glaube an die völlige UnVerantwortlichkeit überhand nähme.

Ursprung der Gerechtigkeit. Die Gerechtig- keit (BilHgkeit) nimmt ihren Ursprung unter ungefähr gleich Mächtigen, wie diess Thukydides (in dem furchtbaren Gespräche der athenischen und melischen Gesandten) richtig begriffen hat: wo es keine deut- lich erkennbare Übergewalt giebt und ein Kampf zum erfolglosen gegenseitigen Schädigen würde, da entsteht der Gedanke, sich zu verständigen und über die beiderseitigen Ansprüche zu verhandeln: der Charakter des Tausches ist der anfängliche Charakter der Gerechtigkeit. Jeder stellt den Andern zufrieden, indem Jeder bekommt, was er mehr schätzt als der Andre. Man giebt Jedem, was er haben will, als das nunmehr Seinige, und empfängt ^^^g'^g'en das Gewünschte. Gerechtigkeit ist also Ver- geltung und Austausch unter der Voraussetzung einer ungefähr gleichen Machtstellung: so gehört ursprünglich die Rache in den Bereich der Gerechtigkeit, sie ist ein Austausch. Ebenso die Dankbarkeit Gerechtigkeit geht natürlich auf den Gesichtspunkt einer einsichtigen Selbsterhaltung zurück, also auf den Egoismus jener Überlegung: „wozu sollte ich mich nutzlos schädigen und mein Ziel vielleicht doch nicht erreichen?" Soviel

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vom Ursprung der Gerechtigkeit. Dadurch dass die Menschen, ihrer intellectuellen Gewohnheit gemäss, den ursprünglichen Zweck sogenannter gerechter, billiger Handlungen vergessen haben und namentlich, weil durch Jahrtausende hindurch die Kinder angelernt worden sind, solche Handlungen zu bewundern und nachzuahmen, ist allmählich der Anschein entstanden, als sei eine ge- rechte Handlung eine unegoistische: auf diesem Anschein aber beruht die hohe Schätzung derselben, welche über- diess, wie alle Schätzungen, fortwährend noch im Wachsen ist: denn etwas Hochgeschätztes wird mit Aufopferung erstrebt, nachgeahmt, vervielfältigt, und wächst dadurch, dass der Werth der aufgewandten Mühe und Beeiferung von jedem Einzelnen noch zum Werthe des geschätzten Dinges hinzugeschlagen wird. Wie wenig moralisch sähe die Welt ohne die Vergesslichkeit aus! Ein Dichter könnte sagen, dass Gott die Vergesslichkeit als Thür- hüterin an die Tempelschwelle der Menschenwürde hin- gelagert habe.

93.

Vom Rechte des Schwächeren. Wenn sich Jemand unter Bedingungen einem Mächtigeren unter- wirft, zum Beispiel eine belagerte Stadt, so ist die Gegen- bedingung die, dass man sich vernichten, die Stadt ver- brennen und so dem Mächtigen eine grosse Einbusse machen kann, Desshalb entsteht hier eine Art Gleich- stellung, auf Grund welcher Rechte festgesetzt werden können. Der Feind hat seinen Vortheil an der Er- haltung. — Insofern giebt es auch Rechte zwischen Sclaven und Herren, das heisst genau so weit als der Besitz des Sclaven seinem Herrn nützlich und wichtig ist. Das Recht geht ursprünglich so weit, als Einer

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dem Anderen werthvoU wesentlich unverlierbar unbesiegbar und dergleichen erscheint. In dieser Hinsicht hat auch der Schwächere noch Rechte, aber geringere. Daher das berühmte unusqiiisque tantum juris habet, quantum fotentia valet (oder genauer: quantum potentia valere creditur).

94.

Die drei Phasen der bisherigen Moralität. Es ist das erste Zeichen, dass das Thier Mensch geworden ist, wenn sein Handeln nicht mehr auf das augenblick- liche Wohlbefinden, sondern auf dauerndes sich be- zieht, der Mensch also nützlich, zweckmässig wird: da bricht zuerst die freie Herrschaft der Vernunft heraus. Eine noch höhere Stufe ist erreicht, wenn er nach dem Princip der Ehre handelt; vermöge desselben ordnet er sich ein, unterwirft sich gemeinsamen Em- pfindungen, und das erhebt ihn hoch über die Phase, in der nur die persönlich verstandene Nützlichkeit ihn leitete: er achtet und will geachtet werden, das heisst: er begreift den Nutzen als abhängig von dem, was er über Andere, was Andere über ihn meinen. Endlich handelt er, auf der höchsten Stufe der bisherigen Moralität, nach seinem Maassstabe über die Dinge und Menschen, er selber bestimmt für sich und Andere, was ehrenvoll, was nützlich ist; er ist zum Gesetzgeber der Meinungen geworden, gemäss dem immer höher ent- wickelten Begriff des Nützlichen und Ehrenhaften. Die Erkenntniss befähigt ihn, das Nützlichste, das heisst den allgemeinen dauernden Nutzen, dem persönlichen, die ehrende Anerkennung von allgemeiner dauernder Geltung der momentanen voranzustellen; er lebt und handelt als CoUectiv-Individuum.

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Moral des reifen Individuums. Man hat bisher als das eigentliche Kennzeichen der moralischen Handlung das Unpersönliche angesehn; und es ist nach- gewiesen, dass zu Anfang die Rücksicht auf den allge- meinen Nutzen es war, derentwegen man alle unpersön- lichen Handlungen lobte und auszeichnete. Sollte nicht eine bedeutende Umwandlung dieser Ansichten bevor- stehen, jetzt wo immer besser eingesehn wird, dass gerade in der möglichst persönlichen Rücksicht auch der Nutzen für das Allgemeine am grössten ist: so dass gerade das streng persönliche Handeln dem jetzigen Begriff der Moralität (als einer allgemeinen Nützlichkeit) entspricht? Aus sich eine ganze Person machen und in Allem, was man thut, deren höchstes Wohl in's Auge fassen das bringt weiter als jene mitleidigen Regungen und Handlungen zu Gunsten Anderer. Wir Alle leiden freilich noch immer an der allzugeringen Beachtung des Persönlichen an uns, es ist schlecht aus- gebildet — gestehen wir es uns ein: man hat vielmehr unsern Sinn gewaltsam von ihm abgezogen und dem Staat, der Wissenschaft, dem Hülfebedürftigen zum Opfer angeboten, wie als ob es das Schlechte wäre, das ge- opfert werden müsste. Auch jetzt wollen wir für unsere Mitmenschen arbeiten, afcer nur sow^eit, als wir unsern eignen höchsten Vortheil in dieser Arbeit finden, nicht mehr, nicht weniger. Es kommt nur darauf an, was man als seinen Vortheil versteht; gerade das unreife, unentwickelte, rohe Individuum wird ihn auch am rohesten verstehen.

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96.

Sitte und sittlich. Moralisch sittlich ethisch sein heisst Gehorsam gegen ein altbegründetes Gesetz oder Herkommen haben. Ob man mit Mühe oder gern sich ihm unterwirft, ist dabei gleichgültig, genug dass man es thut. »Gut" nennt man Den , welcher wie von Natur, nach langer Vererbung, also leicht und gern das Sittliche thut, je nachdem diess ist (zum Beispiel Rache übt, wenn Rache-üben wie bei den älteren Griechen zur guten Sitte gehört). Er wird gut genannt, weil er „wozu" gut ist; da aber Wohlwollen Mitleiden und dergleichen in dem Wechsel der Sitten immer als „gut wozu", als nützlich empfunden wurde, so nennt man jetzt vornehmlich den Wohlwollenden Hülfreichen „gut". Böse ist „nicht sittlich" (unsittlich) sein, Unsitte üben, dem Herkommen widerstreben, wie vernünftig oder dumm dasselbe auch sei; das Schädigen des Nächsten ist aber in allen den Sittengesetzen der verschiednen Zeiten vornehmlich als schädlich empfunden worden, so dass wir jetzt namentlich bei dem Wort „böse** an die freiwillige Schädigung des Nächsten denken. Nicht das „Egoistische" und das „Unegoistische" ist der Grundgegensatz, welcher die Menschen zur Unterscheidung von Sittlich und Unsittlich, Gut und Böse gebracht hat, sondern: Gebundensein an ein Herkommen, Gesetz, und Lösung davon. Wie das Herkommen entstanden ist, das ist dabei gleichgültig, jedenfalls ohne Rücksicht auf Gut und Böse oder irgend einen immanenten kategorischen Imperativ, sondern vor Allem zum Zweck der Erhaltung einer Gemeinde, eines Volkes: jeder abergläubische Brauch, welcher auf Grund eines falsch gedeuteten

Nietzsche, Werke Band H. -

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Zufalls enstanden ist, erzwingt ein Herkommen, dem zu folgen sittlich ist; sich von ihm lösen ist nämlich gefährlich, für die Gemeinschaft noch mehr schädlich als für den Einzelnen (weil die Gottheit den Frevel und jede Verletzung ihrer Vorrechte an der Ge- meinde und nur insofern auch am Individuum straft). Nun wird jedes Herkommen fortwährend ehrwürdiger, je weiter der Ursprung abliegt, je mehr dieser ver- gessen ist; die ihm gezollte Verehrung häuft sich von Generation zu Generation auf, das Herkommen wird zuletzt heilig und erweckt Ehrfurcht; und so ist jedenfalls die Moral der Pietät eine viel ältere Moral als die, welche unegoistische Handlungen ver- langt

97.

Die Lust in der Sitte. Eine wichtige Gattung der Lust und damit der Quelle der Moralität entsteht aus der Gewohnheit. Man thut das Gewohnte leichter, besser, also lieber, man empfindet dabei eine Lust, und weiss aus der Erfahrung, dass das Gewohnte sich bewährt hat, also nützlich ist; eine Sitte, mit der sich leben lässt, ist als heilsam, förderlich bewiesen, im Gegensatz zu allen neuen, noch nicht bewährten Versuchen. Die Sitte ist demnach die Vereinigung des Angenehmen und des Nützlichen, überdiess macht sie kein Nachdenken nöthig. Sobald der Mensch Zwang ausüben kann übt er ihn aus, um seine Sitten durchzusetzen und einzuführen, denn für ihn sind sie die bewährte Lebensweisheit Ebenso zwingt eine Gemeinschaft von Individuen jedes einzelne zur selben Sitte. Hier ist der Fehlschluss: weil

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man sich mit einer Sitte wohl fühlt oder wenigstens weü man vermittelst derselben seine Existenz durchsetzt, so ist diese Sitte nothwendig, denn sie gilt als die einzige Möglichkeit, unter der man sich wohl fühlen kann; das Wohlgefühl des Lebens scheint allein aus ihr hervorzu- wachsen. Diese Auffassung des Gewohnten als einer Bedingung des Daseins wird bis auf die kleinsten Einzel- heiten der Sitte durchgeführt: da die Einsicht in die wirkliche Causalität bei den niedrig stehenden Völkern und Culturen sehr gering ist, sieht man mit aber- gläubischer Furcht darauf, dass Alles seinen gleichen Gang gehe; selbst wo die Sitte schwer hart lästig ist, wird sie ihrer scheinbar höchsten Nützlichkeit wegen be- wahrt Man weiss nicht, dass derselbe Grad von Wohl- befinden auch bei anderen Sitten bestehen kann und dass selbst höhere Grade sich erreichen lassen. Wohl aber nimmt man wahr, dass alle Sitten, auch die härtesten, mit der Zeit angenehmer und milder werden, und dass auch die strengste Lebensweise zur Gewohnheit und damit zur Lust werden kann.

98. Lust und socialer Instinct. Aus seinen Bezieh- ungen zu anderen Menschen gewinnt der Mensch eine neue Gattung von Lust zu jenen Lustempfindungen hinzu, welche er aus sich selber nimmt; wodurch er das Reich der Lustempfindung überhaupt bedeutend umfänglicher macht. Vielleicht hat er mancherlei, das hierher gehört, schon von den Thieren her überkommen, welche er- sichtlich Lust empfinden, wenn sie mit einander spielen, namentlich die Mütter mit den Jungen. Sodann gedenke man der geschlechthchen Beziehungen , welche jedem

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Männchen ungefähr jedes Weibchen interessant in An- sehung der Lust erscheinen lassen und umgekehrt. Die Lustempfindung auf Grund menschlicher Beziehungen macht im Allgemeinen den Menschen besser; die gemein- same Freude, die Lust mitsammen genossen erhöht die- selbe, sie giebt dem Einzelnen Sicherheit, macht ilin gut- müthiger, löst das Misstrauen, den Neid: denn man fühlt sich selber wohl und sieht den Andern in gleicherweise sich wohl fühlen. Die gleichartigen Äusserungen der Lust erwecken die Phantasie der Mitempfindung, das Gefühl etwas Gleiches zu sein: dasselbe thun auch die gemeinsamen Leiden, dieselben Unwetter Gefahren Feinde. Darauf baut sich dann wohl das älteste Bünd- niss auf: dessen Sinn die gemeinsame Beseitigung und Abwehr einer drohenden Unlust zum Nutzen jedes Ein- zelnen ist. Und so wächst der sociale Instinct aus der Lust heraus.

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Das Unschuldige an den sogenannten bösen Handlungen. Alle „bösen" Handlimgen sind motivirt durch den Trieb der Erhaltung oder, noch genauer, durch die Absicht auf Lust und Vermeiden der Unlust des Individuums; als solchermaassen motivirt aber nicht böse. „Schmerz bereiten an siph" existirt nicht, ausser im Gehirn der Philosophen, ebensowenig „Lust bereiten an sich" (Mitleid im Schopenhauerischen Sinne). In dem Zu- stand vor dem Staate tödten wir das Wesen, sei es Affe oder Mensch, welches uns eine Frucht des Baumes vorwegnehmen will, wenn wir gerade Hunger haben und auf den Baum zulaufen: wie wir es noch jetzt bei Wanderungen in unwirthlichen Gegenden mit dem Thiere thun würden. Die bösen Handlungen, welche uns jetzt

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am meisten empören, beruhen auf dem Irrthume, dass der Andere, welcher sie uns zufügt, freien Willen habe, also dass es in seinem Belieben gelegen habe, uns diess Schlimme nicht anzuthun. Dieser Glaube an das Belieben erregt den Hass, die Rachlust, die Tücke, die ganze Verschlechterung der Phantasie, während wir einem Thiere viel weniger zürnen, weil wir diess als unverant- wortlich betrachten. Leid thun nicht aus Erhaltungstrieb, sondern zur Vergeltung ist Folge eines falschen Unheils und desshalb ebenfalls unschuldig. Der Einzelne kann im Zustande, welcher vor dem Staat liegt, zur Abschreckung andere Wesen hart und grausam be- handeln: um seine Existenz durch solche abschreckende Proben seiner Macht sicher zu stellen. So handelt der Gewaltthätige , Mächtige, der ursprüngliche Staaten- gründer, welcher sich die Schwächeren unterwirft. Er hat dazu das Recht, wie es jetzt noch der Staat sich nimmt; oder vielmehr: es giebt kein Recht, welches diess hindern kann. Es kann erst dann der Boden für alle Moralität zurecht gemacht werden, wenn ein grösseres Individuum oder ein Collectiv- Individuum, zum Beispiel die Gesellschaft der Staat, die Einzelnen unterwirft, also aus ihrer Vereinzelung herauszieht und in einen Verband einordnet. Der Moralität geht der Zwang voraus, ja sie selber ist noch eine Zeitlang Zwang, dem man sich, zur Vermeidung der Unlust, fügt. Später wird sie Sitte, noch später freier Gehorsam, endlich beinahe Instinct: dann ist sie wie alles lang Gewöhnte und Natürliche mit Lust verknüpft und heisst nun Tugend.

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Scham. Die Scham existirt überall, wo es ein „Mysterium" giebt; diess aber ist ein religiöser Begriff,

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welcher in der altern Zeit der menschlichen Cultur einen grossen Umfang hatte. Überall gab es umgrenzte Gebiete, zu welchen das göttliche Recht den Zutritt versagte ausser unter bestimmten Bedingungen: zu allererst ganz räumlich, insofern gewisse Stätten vom Fusse der Un- eingeweihten nicht zu betreten waren und in deren Nähe Diese Schauder und Angst empfanden. Diess Gefühl wurde vielfach auf andere Verhältnisse übertragen , zum Beispiel auf die geschlechtlichen Verhältnisse, welche als ein Vorrecht und Adyton des reiferen Alters den Blicken der Jugend, zu deren Vortheil, entzogen werden sollten: Verhältnisse, zu deren Schutz und Heilighaltung viele Götter thätig und im ehelichen Gemache als Wächter aufgestellt gedacht wurden. (Im Türkischen heisst dess- halb diess Gemach Harem „Heiligthum", wird also mit demselben Worte bezeichnet, welches für die Vorhöfe der Moscheen üblich ist.) So ist das Königthum als ein Centrum, von wo Macht und Glanz ausstrahlt, dem Unterworfenen ein Mysterium voller Heimlichkeit und Scham: wovon viele Nachwirkungen noch jetzt, unter Völkern, die sonst keineswegs zu den verschämten ge- hören, zu fühlen sind. Ebenso ist die ganze Welt innerer Zustände, die sogenannte „Seele" auch jetzt noch für alle Nicht- Philosophen ein Mysterium, nachdem diese endlose Zeiten hindurch als göttlichen Ursprungs, als gött- lichen Verkehrs würdig geglaubt wurde: sie ist demnach ein Adyton und erweckt Scham.

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Richtet nicht Man muss sich hüten, bei der Betrachtung früherer Perioden nicht in ein ungerechtes Schimpfen zu gerathen. Die Ungerechtigkeit in der

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Sclaverei, die Grausamkeit in der Unterwerfung von Personen und Völkern ist nicht mit unserem Maasse zu messen. Denn damals war der Instinct der Gerechtigkeit noch nicht so weit gebildet. Wer darf dem Genfer Cal- vin die Verbrennung des Arztes Servet vorwerfen! Es war eine consequente, aus seinen Überzeugungen fliessende Handlung, und ebenso hatte die Inquisition ein gutes Recht; nur waren die herrschenden Ansichten falsch und ergaben eine Consequenz, welche uns hart erscheint, weil uns jene Ansichten fremd geworden sind. Was ist übrigens Verbrennen eines Einzelnen im Vergleich mit ewigen Höllenstrafen für fast Alle ! Und doch beherrschte diese Vorstellung damals alle Welt, ohne mit ihrer viel grösseren Schrecklichkeit der Vorstellung von einem Gotte wesentHch Schaden zu thun. Auch bei uns werden politische Sectirer hart und grausam behandelt, aber weil man an die Nothwendigkeit des Staates zu glauben ge- lernt hat, so empfindet man hier die Grausamkeit nicht so sehr wie dort, wo wir die Anschauungen verwerfen. Die Grausamkeit gegen Thiere bei Kindern und Italiänern geht auf Unverständniss zurück; das Thier ist namentlich durch die Interessen der kirchlichen Lehre zu weit hinter den Menschen zurückgesetzt worden. Auch mildert sich vieles Schreckliche und Unmenschliche in der Ge- schichte, an welches man kaum glauben möchte, durch die Betrachtung, dass der Befehlende und der Ausführende andere Personen sind: ersterer hat den Anbhck nicht und daher nicht den starken Phantasie-Eindruck, letzterer gehorcht einem Vorgesetzten und fühlt sich unverant- wortlich. Die meisten Fürsten und Militärchefs erscheinen, aus Mangel an Phantasie, leicht grausam und hart, ohne es zu sein. Der Egoismus ist nicht böse, weil die Vorstellung vom „Nächsten" das Wort ist christ-

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liehen Ursprungs und entspricht der Wahrheit nicht in uns sehr schwach ist, und wir uns gegen ihn beinahe wie gegen Pflanze und Stein frei und unverantwortHch fühlen. Dass der Andere leidet, ist zu lernen: und völlig kann es nie gelernt werden.

I02.

„Der Mensch handelt* immer gut." Wir klagen die Natur nicht als unmoralisch an, wenn sie uns ein Donnerwetter schickt und uns nass macht: warum nennen wir den schädigenden Menschen unmoraHsch? Weil wir hier einen willkürlich waltenden freien Willen, dort Nothwendigkeit annehmen. Aber diese Unter- scheidung ist ein Irrthum. Sodann: selbst das absicht- liche Schädigen nennen wir nicht unter allen Umständen unmoralisch; man tödtet zum Beispiel eine Mücke unbe- denklich mit Absicht, bloss weil uns ihr Singen missfällt, man straft den Verbrecher absichtlich und thut ihm Leid an, um uns und die Gesellschaft zu schützen. Im ersten Falle ist es das Individuum, welches, um sich zu erhalten oder selbst um sich keine Unlust zu machen, absichtUch Leid thut; im zweiten der Staat. Alle Moral lässt ab- sichtliches Schadenthun gelten bei Nothwehr: das heisst wenn es sich um die Selbsterhaltung handelt! Aber diese beiden Gesichtspunkte genügen, um alle bösen Handlungen, gegen Mensqhen von Menschen ausgeübt, zu erklären: man wiU für sich Lust oder will Unlust abwehren; in irgend einem Sinne handelt es sich immer um Selbst erhaltung. Sokrates und Plato haben Recht: was auch der Mensch thue, er thut immer das Gute, das heisst: Das was ihm gut (nützlich) scheint, je nach dem Grade seines Intellectes, dem jedesmaligen Maasse seiner Vernünftigkeit.

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I03.

Das Harmlose an der Bosheit Die Bosheit hat nicht das Leid des Anderen an sich zum Ziele, son- dern unsem eigenen Genuss, zum Beispiel als Rache- gefühl oder als stärkere Nervenaufregung. Schon jede Neckerei zeigt, wie es Vergnügen macht, am Anderen unsere Macht auszulassen und zum lustvollen Gefühle des Übergewichts zu bringen. Ist nun das Unmoralische daran, Lust auf Grund der Unlust Andrer zu haben? Ist Schadenfreude teuflisch, wie Schopenhauer sagt? Nun machen wir uns in der Natur Lust durch Zerbrechen von Zweigen, Ablösen von Steinen, Kampf mit wilden Thieren, und zwar um unserer Kraft dabei bewusst zu werden. Das Wissen darum, dass ein Andrer durch uns leidet, soll also hier dieselbe Sache, in Bezug auf welche wir uns sonst unverantwortlich fühlen, unmoralisch machen? Aber wüsste man diess nicht, so hätte man die Lust an seiner eigenen Über- legenheit auch nicht dabei, diese kann eben sich nur im Leide des Andern zu erkennen geben, zum Beispiel bei der Neckerei. Alle Lust an sich selber ist weder gut noch böse; woher sollte die Bestimmung kommen, dass man, um Lust an sich selber zu haben, keine Un- lust Anderer erregen dürfe? Allein vom Gesichtspunkte des Nutzens her, das heisst aus Rücksicht auf die Folgen, auf eventuelle Unlust, wenn der Geschädigte oder der stellvertretende Staat Ahndung und Rache er- warten lässt: nur Diess kann ursprünglich den Grund abgegeben haben, solche Handlungen sich zu versagen. Das Mitleid hat ebensowenig die Lust des Andern zum Ziele, als wie gesagt die Bosheit den Schmerz des Andern an sich. Denn es birgt mindestens zwei (viel-

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leicht viel mehr) Elemente einer persönlichen Lust in sich und ist dergestalt Selbstgenuss : einmal als Lust der Emotion, welcher Art das Mitleid in der Tragödie ist, und dann, wenn es zur That treibt, als Lust der Be- friedigung in der Ausübung der Macht Steht uns über- diess eine leidende Person sehr nahe, so nehmen wir durch Ausübung mitleidvoller Handlungen uns selbst ein Leid ab. Abgesehen von einigen Philosophen, so haben die Menschen das Mitleid in der Rangfolge moralischer Empfindungen immer ziemlich tief gestellt: mit Recht

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Nothwehr, Wenn man überhaupt die Nothwehr als moralisch gelten lässt, so muss man fast alle Äusser- ungen des sogenannten unmoralischen Egoismus auch gelten lassen: man thut Leid an, raubt oder tödtet, um sich zu erhalten oder um sich zu schützen, dem persön- lichen Unheil vorzubeugen; man lügt, wo List und Verstellung das richtige Mittel der Selbsterhaltung ist. Absichtlich schädigen, wenn es sich um unsere Existenz oder Sicherheit (Erhaltung unseres Wohlbe- findens) handelt, wird als moralisch concedirt; der Staat schädigt selber unter diesem Gesichtspunkt, wenn er Strafen verhängt. Im unabsichtlichen Schädigen kann natürlich das Unmoralische nicht liegen, da regiert der Zufall. Giebt es denn eine Art des absichtlichen Schädigens, wo es sich nicht um unsere Existenz, um die Erhaltung unseres Wohlbefindens handelt? Giebt es ein Schädigen aus reiner Bosheit, zum Beispiel bei der Grausamkeit? Wenn man nicht weiss, wie weh eine Handlung thut, so ist sie keine Handlung der Bosheit; so ist das Kind gegen das Thier nicht boshaft, nicht

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böse: es untersucht und zerstört dasselbe wie sein Spiel- zeug. Weiss man aber je völlig, wie weh eine Hand- lung einem Andern thut? So weit unser Nervensystem reicht, hüten wir uns vor Schmerz: reichte es weiter, nämlich bis in die Mitmenschen hinein, so würden wir Niemandem ein Leides thun (ausser in solchen Fällen, wo wir es uns selbst thun, also wo wir uns der Heilung halber schneiden, der Gesundheit halber uns mühen und an- strengen). Wir seh Hessen aus Analogie, dass etwas Jemandem weh thut, und durch die Erinnerung und die Stärke der Phantasie kann es uns dabei selber übel werden. Aber welcher Unterschied bleibt immer zwischen dem Zahnschmerz und dem Schmerze (Mitleiden), welchen der Anblick des Zahnschmerzes hervorruft ! Also : bei dem Schädigen aus sogenannter Bosheit ist der Grad des erzeugten Schmerzes uns jedenfalls unbekannt; insofern aber eine Lust bei der Handlung ist (Gefühl der eignen Macht, der eignen starken Erregung), geschieht die Handlung, um das Wohlbefinden des Individuums zu er- halten, und fällt somit unter einen ähnlichen Gesichts- punkt wie die Nothwehr, die Nothlüge. Ohne Lust kein Leben; der Kampf um die Lust ist der Kampf um das Leben. Ob der Einzelne diesen Kampf so kämpft, dass die Menschen ihn gut, oder so, dass sie ihn böse nennen, darüber entscheidet das Maass und die Beschaffenheit seines Intellects.

105.

Die belohnende Gerechtigkeit. Wer voll- standig die Lehre von der völligen Unverantwortlichkeit begriffen hat, der kann die sogenannte strafende und be- lohnende Gerechtigkeit gar nicht mehr unter den Begriff

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der Gerechtigkeit unterbringen: falls diese darin be- steht, dass man Jedem das Seine giebt. Denn Der, welcher gestraft wird, verdient die Strafe nicht: er wird nur als Mittel benutzt, um fürderhin von gewissen Hand- lungen abzuschrecken; ebenso verdient Der, welchen man belohnt, diesen Lohn nicht: er konnte ja nicht anders handeln, als er gehandelt hat. Also hat der Lohn nur den Sinn einer Aufmunterung für ihn und Andere, um also zu späteren Handlungen ein Motiv abzugeben; das Lob wird dem Laufenden in der Rennbahn zugerufen, nicht Dem, welcher am Ziele ist. Weder Strafe noch Lohn sind Etwas, das Einem als das Seine zukommt; sie werden ihm aus Nützlichkeitsgründen gegeben, ohne dass er sie mit Gerechtigkeit zu beanspruchen hätte. Man muss ebenso sagen „der Weise belohnt nicht, weil gut gehandelt worden ist", als man gesagt hat „der Weise straft nicht, weil schlecht gehandelt worden ist, sondern damit nicht schlecht gehandelt werde". Wenn Strafe und Lohn fortfielen, so fielen die kräftigsten Motive, welche von gewissen Handlungen weg, zu gewissen Handlungen hin treiben, fort; der Nutzen der Menschen erheischt ihre Fortdauer; und insofern Strafe und Lohn, Tadel und Lob am empfindlichsten auf die Eitelkeit wirken, so erheischt derselbe Nutzen auch die Fortdauer der Eitelkeit.

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Am Wasserfall. Beim Anblick eines Wasser- falls meinen wir in den zahllosen Biegungen Schlängel- ungen Brechungen der Wellen Freiheit des Willens und Belieben zu sehen; aber Alles ist nothwendig, jede Bewegung mathematisch auszurechnen. So ist es auch bei den menschlichen Handlungen; man müsste jede

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einzelne Handlung vorher ausrechnen können, wenn man allwissend wäre, ebenso jeden Fortschritt der Erkenntniss, jeden Irrthum, jede Bosheit, Der Handelnde selbst steckt freilich in der Illusion der Willkür ; wenn in einem Augen- blick das Rad der Welt still stände und ein allwissender rechnender Verstand da wäre, um diese Pause zu be- nützen, so könnte er bis in die fernsten Zeiten die Zukunft jedes Wesens weitererzählen und jede Spur bezeichnen, auf der jenes Rad noch rollen wird. Die Täuschung des Handelnden über sich, die Annahme des freien Willens gehört mit hinein in diesen auszu- rechnenden Mechanismus.

107.

UnVerantwortlichkeit und Unschuld. Die völlige UnVerantwortlichkeit des Menschen für seine Handlungen und sein Wesen ist der bitterste Tropfen, welchen der Erkennende schlucken muss, wenn er gewohnt war, in der Verantwortlichkeit und der Pflicht den Adelsbrief seines Menschthums zu sehen. Alle seine Schätzungen Auszeichnungen Abneigungen sind dadurch entwerthet und falsch geworden: sein tiefstes Gefühl, das er dem Dulder, dem Helden entgegenbrachte, hat einem Irrthume gegolten; er darf nicht mehr loben, nicht tadeln, denn es ist ungereimt, die Natur und die Nothwendigkeit zu loben und zu tadeln. So wie er das gute Kunstwerk liebt, aber nicht lobt, weil es Nichts für sich selber kann, wie er vor der Pflanze steht, so muss er vor den Hand- lungen der Menschen, vor seinen eignen stehen. Er kann Kraft Schönheit Fülle an ihnen bewundern, aber darf keine Verdienste darin finden : der chemische Process und der Streit der Elemente, die Qual des Ivranken, der

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nach Genesung lechzt, sind ebenso wenig Verdienste als jene Seelenkämpfe und Nothzustände , bei denen man durch verschiedene Motive hin- und hergerissen wird, bis man sich endlich für das mächtigste entscheidet wie man sagt (in Wahrheit aber, bis das mächtigste Motiv über uns entscheidet). Alle diese Motive aber, so hohe Namen wir ihnen geben, sind aus denselben Wurzeln gewachsen, in denen wir die bösen Gifte woh- nend glauben; zwischen guten und bcsen Handlungen giebt es keinen Unterschied der Gattung, sondern höch- stens des Grades. Gute Handlungen sind sublimirte böse; böse Handlungen sind vergröberte, verdummte gute. Das einzige Verlangen des Individuums nach Selbstgenuss (sammt der Furcht, desselben verlustig zu gehen) befriedigt sich unter allen Umständen, der Mensch mag handeln, wie er kann, das heisst wie er muss: sei es in Thaten der Eitelkeit, Rache, Lust, NützHchkeit, Bosheit, List, sei es in Thaten der Aufopferung, des Mitleids, der Erkennt- niss. Die Grade der Urtheilsfähigkeit entscheiden, wohin Jemand sich durch diess Verlangen hinziehen lässt; fort- während ist jeder Gesellschaft, jedem Einzelnen eine Rangordnung der Güter gegenwärtig, wonach er seine Handlungen bestimmt und die der Anderen beurtheilt. Aber dieser Maassstab wandelt sich fortwährend, viele Handlungen werden böse genannt und sind nur dumm, weil der Grad der Intelligenz, welche sich für sie ent- schied, sehr niedrig war. Ja in einem bestimmten Sinne sind auch jetzt noch alle Handlungen dumm, denn der höchste Grad von menschlicher Intelligenz, der jetzt er- reicht werden kann, ^vird sicherlich noch überboten wer- den: und dann wird, bei einem Rückblick, all unser Handeln und Urtheilen so beschränkt und übereilt er- scheinen, wie uns jetzt das Handeln und Urtheilen zurück-

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gebliebener wilder Völkerschaften beschränkt und über- eilt vorkommt. Diess Alles einzusehen kann tiefe Schmerzen machen, aber darnach giebt es einen Trost: solche Schmerzen sind Geburtswehen. Der Schmetterhng will seine Hülle durchbrechen, er zerrt an ihr, er zerreisst sie: da blendet und verwirrt ilin das unbekannte Licht, das Reich der Freiheit. In solchen Menschen, welche jener Traurigkeit fähig sind wie wenige werden es sein ! , wird der erste Versuch gemacht, ob die Mensch- heit aus einer moralischen sich in eine weise Mensch- heit umwandeln könne. Die Sonne eines neuen Evangeliums wirft ihren ersten Strahl auf die höchsten Gipfel in der Seele jener Einzelnen: da ballen sich die Nebel dichter als je, und neben einander lagert der hellste Schein und die trübste Dämmerung. Alles ist Nothwendigkeit so sagt die neue Erkenntniss ; und diese Erkenntniss selber ist Nothwendigkeit. Alles ist Unschuld: und die Erkenntniss ist der Weg zur Einsicht in diese Unschuld. Sind Lust, Egoismus, Eitelkeit noth- wendig zur Erzeugung der moralischen Phänomene und ihrer höchsten Blüthe, des Sinnes für Wahrheit und Gerechtigkeit der Erkenntniss, war der Irrthum und die Verirrung der Phantasie das einzige Mittel, durch welches die Menschheit sich allmählich zu diesem Grade von Selbsterleuchtung und Selbsterlösung zu erheben ver- mochte — wer dürfte jene Mittel geringschätzen? Wer dürfte traurig sein, wenn er das Ziel, zu dem jene Wege führen, gewahr wird? Alles auf dem Gebiete der Moral ist geworden, wandelbar, schwankend, Alles ist im Flusse, es ist wahr: aber Alles ist auch im Strome: nach Einem Ziele hin. Mag in uns die vererbte Gewohnheit des irrthümhchen Schätzens, Liebens, Hassens immerhin fortwalten, aber unter dem Einfluss der wachsenden Er-

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kenntniss wird sie schwächer werden: eine neue Gewohn- heit, die des Begreifens, Nicht -Liebens, Nicht- Hassens, Überschauens , pflanzt sich allmählich in uns auf dem- selben Boden an und wird in Tausenden von Jahren viel- leicht mächtig genug sein, um der Menschheit die Kraft zu geben, den weisen unschuldigen (unschuld-bewussten) Menschen ebenso regelmässig hervorzubringen, wie sie jetzt den unweisen, unbiUigen, schuldbewussten Menschen das heisst die nothwendige Vorstufe, nicht den Gegensatz von jenem hervorbringt.

Drittes Hauptstück: Das religiöse Leben.

Nietzsche, Werke Band 11.

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Der doppelte Kampf gegen das Übel. Wenn uns ein Übel trifft, so kann man entweder so über dasselbe hinwegkommen, dass man seine Ursache hebt, oder so, dass man die Wirkung, welche es auf unsere Empfindung macht, verändert : also durch ein Um- deuten des Übels in ein Gut, dessen Nutzen vielleicht erst später ersichtlich sein wird. Religion und Kunst (auch die metaphysische Philosophie) bemühen sich, auf die Änderung der Empfindung zu wirken, theils durch Änderung unsres Urtheils über die Erlebnisse (zum Beispiel mit Hülfe des Satzes: „wen Gott lieb hat, den züchtigt er"), theils diirch Erweckung einer Lust am Schmerz, an der Emotion überhaupt (woher die Kunst des Tragischen ihren Ausgangspunkt nimmt). Je mehr Einer dazu neigt, umzudeuten und zurechtzulegen, um so weniger wird er die Ursachen des Übels in's Auge fassen und beseitigen; die augenblickliche Milderung und Nar- kotisirung, wie sie zum Beispiel bei Zahnschmerz ge- bräuchlich ist, genügt ihm auch in ernsteren Leiden. Je mehr die Herrschaft der Religionen und aller Kunst der Narkose abnimmt, um so strenger fassen die Menschen die wirkliche Beseitigung der Übel in's Auge: was fi*eilich schlimm für die Tragödiendichter ausfällt denn zur Tragödie findet sich immer weniger Stoff, weil das Reich des unerbittlichen unbezwinglichen Schicksals

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immer enger wird , noch schlimmer aber für die Priester: denn diese lebten bisher von der Narkotisirung menschlicher Übel.

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Gram ist Erkenntniss. Wie gern möchte man die falschen Behauptungen der Priester, es gebe einen Gott, der das Gute von uns verlange, Wächter und Zeuge jeder Handlung, jedes Augenblickes, jedes Ge- dankens sei, der uns liebe, in allem Unglück unser Bestes wolle, wie gern möchte man diese mit Wahr- heiten vertauschen, welche ebenso heilsam, beruhigend und wohlthuend wären wie jene Irrthümerl Doch solche Wahrheiten giebt es nicht; die Philosophie kann ihnen höchstens wiederum metaphysische Scheinbarkeiten (im Grunde ebenfalls Unwahrheiten) entgegensetzen. Nun ist aber die Tragödie die, dass man jene Dogmen der Re- ligion und Metaphysik nicht glauben kann, wenn man die strenge Methode der Wahrheit im Herzen und Kopfe hat, anderseits durch die Entwicklung der Menschheit so zart reizbar leidend geworden ist, um Heil- und Trostmittel der höchsten Art nöthig zu haben; woraus also die Gefahr entsteht, dass der Mensch sich an der erkannten Wahrheit verblute. Diess drückt Byron in unsterblichen Versen aus:

Sorrow ts knowledge: they who know the most Must mourn the deepest o'er the fatal truth, The Tree 0/ Knowledge ts not that of Life.

Gegen solche Sorgen hilft kein Mittel besser, als den feierlichen Leichtsinn Horazens, wenigstens für die schlimmsten Stunden und Sonnenfinsternisse der Seele, heraufzubeschwören und mit ihm zu sich selber zu sagen:

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quid aeternis minorenn consilüs animum f atigas?

cur non sub alta vel platano vel hac pinu jacentes

Sicherlich aber ist Leichtsinn oder Schwermuth jeden Grades besser als eine romantische Rückkehr und Fahnen- flucht, eine Annäherung an das Christenthum in irgend einer Form: denn mit ihm kann man sich, nach dem gegenwärtigen Stande der Erkenntniss, schlechterdings nicht mehr einlassen, ohne sein intellectuales Ge- wissen heillos zu beschmutzen und vor sich und Anderen preiszugeben. Jene Schmerzen mögen peinlich genug sein: aber man kann ohne Schmerzen nicht zu einem Führer und Erzieher der Menschheit werden; und wehe Dem, welcher diess versuchen möchte und jenes reine Gewissen nicht mehr hätte!

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Die Wahrheit in der Religion. In der Periode der Aufklärung war man der Bedeutung der Religionen nicht gerecht geworden, daran ist nicht zu zweifeln: aber ebenso steht fest, dass man, in dem darauf folgenden Widerspiel der Aufklärung, wiederum um ein gutes Stück über die Gerechtigkeit hinausgieng, indem man die Religionen mit Liebe, selbst mit Verliebtheit be- handelte und ihnen zum Beispiel ein tieferes, ja das alier- tiefste Verständniss der Welt zuerkannte; welches die Wissenschaft nur des dogmatischen Gewandes zu ent- kleiden habe, um dann in unmythischer Form die „Wahr- heit" zu besitzen. Religionen sollen also diess war die Behauptung aller Gegner der Aufklärung sensu alle- gorico, mit Rücksicht auf das Verstehen der Menge, jene

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uralte Weisheit aussprechen, welche die Weisheit an sich sei, insofern alle wahre Wissenschaft der neueren Zeit immer zu ihr hin, statt von ihr weg geführt habe: so dass zwischen den ältesten Weisen der Menschheit und allen späteren Harmonie, ja Gleichheit der Einsichten walte und ein Fortschritt der Erkenntnisse falls man von einem solchen reden wolle sich nicht auf das Wesen, sondern die Mittheilung desselben beziehe. Diese ganze Auffassung von Religion und Wissenschaft ist durch und durch irrthümlich; und Niemand würde jetzt noch zu ihr sich zu bekennen wagen, wenn nicht Schopen- hauer's Beredsamkeit sie in Schutz genommen hätte: diese laut tönende und doch erst nach einem Menschen- alter ihre Hörer erreichende Beredsamkeit. So gewiss man aus Schopenhauer's religiös-moralischer Menschen- und Weltdeutung sehr viel für das Verständniss des, Christenthums und anderer Religionen gewinnen kann so gewiss ist es auch, dass er über den Werth der Religion für die Erkenntniss sich geirrt hat. Er selbst war darin ein nur zu folgsamer Schüler der wissenschaftlichen Lehrer seiner Zeit, welche allesammt der Romantik huldigten und dem Geiste der Aufklärung abgeschworen hatten; in unsere jetzige Zeit hineingeboren, hätte er unmöglich vom sensus allegoricus der Reli- gion reden können; er würde vielmehr der Wahrheit die Ehre gegeben haben, wie er es pflegte, mit dem Worte: noch nie hat eine Religion, weder mittel- bar noch unmittelbar, weder als Dogma noch als Gleichniss, eine Wahrheit enthalten. Denn aus der Angst und dem Bedürfniss ist eine jede ge- boren, auf Irrgängen der Vernunft hat sie sich in's Dasein geschlichen; sie hat vielleicht einmal, im Zustande der Gefährdung durch die Wissenschaft, irgend eine philo-

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sophische Lehre in ihr System hineingelogen, damit man sie später darin vorfinde: aber diess ist ein Theologen- kunststück, aus der Zeit, in welcher eine Religion schon an sich selber zweifelt. Diese Kunststücke der Theologie (welche freilich im Christenthum, als der Religion eines gelehrten, mit Philosophie durchtränkten Zeitalters, sehr früh schon geübt wurden) haben auf jenen Aberglauben vom sensus allegoricus hingeleitet, noch mehr aber die Gewohnheit der Philosophen (namentlich der Halbwesen, der dichterischen Philosophen und der philosophirenden Künstler), alle die Empfindungen, welche sie in sich vorfanden, als Grundwesen des Menschen überhaupt zu behandeln und somit auch ihren eigenen religiösen Empfin- dungen einen bedeutenden Einfluss auf den Gedankenbau ihrer Systeme zu gestatten. Weil die Philosophen viel- fach unter dem Herkommen religiöser Gewohnheiten, oder mindestens unter der altvererbten Macht jenes „meta- physischen Bedürfnisses" philosophirten, so gelangten sie zu Lehrmeinungen, welche in der That den jüdischen oder christlichen oder indischen Religionsmeinungen sehr ähnlich sahen, ähnlich nämlich, wie Kinder den Müttern zu sehen pflegen: nur dass in diesem Falle die Väter sich nicht über jene Mutterschaft klar waren, wie diess wohl vorkommt sondern in der Unschuld ihrer Verwunderung von einer Familien-Ähnlichkeit aller Re- ligion und Wissenschaft fabelten. In der That besteht zwischen den Religionen und der wirklichen Wissenschaft nicht Verwandtschaft, noch Freundschaft, noch selbst Feindschaft: sie leben auf verschiedenen Sternen. Jede Philosophie, welche einen religiösen Kometenschweif in die Dunkelheit ihrer letzten Aussichten hinaus erglänzen lässt, macht Alles an sich verdächtig, was sie als Wissenschaft vorträgst: es ist diess Alles vermuthlich

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ebenfalls Religion, wenngleich unter dem Aufputz der Wissenschaft. Übrigens: wenn alle Völker über ge- wisse religiöse Dinge, zum Beispiel die Existenz eines Gottes, übereinstimmten (was beiläufig gesagt in Betreff dieses Punktes nicht der Fall ist), so würde diess doch eben nur ein Gegenargument gegen jene behaupteten Dinge, zum Beispiel die Existenz eines Gottes, sein: der consensus gentium und überhaupt hominum kann billiger- weise nur einer Narrheit gelten. Dagegen giebt es einen consensus omnium sapientium gar nicht, in Bezug auf kein einziges Ding, mit jener Ausnahme, von welcher der Goethe'sche Vers spricht:

Alle die Weisesten aller der Zeiten Lächeln und winken und stimmen mit ein: Thöricht, auf Bess'rung der Thoren zu harrenl Kinder der Klugheit, o habet die Narren Eben zum Narren auch, wie sich's gehört I

Ohne Vers und Reim gesprochen und auf unseren Fall angewendet: der consensus sapientium besteht darin, dass der consensus gentium einer Narrheit gilt.

III.

Ursprung des religiösen Cultus. Versetzen wir uns in die Zeiten zurück, in welchen das religiöse Leben am kräftigsten aufblühte, so finden wir eine Grund- überzeugung vor, welche wir jetzt nicht mehr theilen und derentwegen wir ein für alle Mal die Thore zum religiösen Leben uns verschlossen sehen: sie betrifft die Natur und den Verkehr mit ihr. Man weiss in jenen Zeiten noch nichts von Naturgesetzen; weder für die Erde noch für den Himmel giebt es ein Müssen; eine Jahreszeit, der Sonnenschein, der Regen kann kommen

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oder auch ausbleiben. Es fehlt überhaupt jeder Begriff der natürlichen Causalität. Wenn man rudert, ist es nicht das Rudern, was das Schiff bewegt, sondern Rudern ist nur eine magische Ceremonie, durch welche man einen Dämon zwingt, das Schiff zu bewegen. Alle Erkrankungen, der Tod selbst ist Resultat magischer Einwirkungen. Es geht bei Krankwerden und Sterben nie natürlich zu; die ganze Vorstellung vom „natürlichen Hergang" fehlt, sie dämmert erst bei den älteren Griechen, das heisst in einer sehr späten Phase der Menschheit, in der Conception der über den Göttern thronenden Moira. Wenn Einer mit dem Bogen schiesst, so ist immer noch eine irrationelle Hand und Kraft da- bei; versiegen plötzlich die Quellen, so denkt man zuerst an unterirdische Dämonen und deren Tücken; der Pfeil eines Gottes muss es sein, unter dessen unsichtbarer Wirkung ein Mensch auf einmal niedersinkt. In Indien pflegt (nach Lubbock) ein Tischler seinem Hammer, seinem Beil und den übrigen Werkzeugen Opfer darzu- bringen; ein Brahmane behandelt den Stift, mit dem er schreibt, ein Soldat die Waffen, die er im Felde braucht, ein Maurer seine Kelle, ein Arbeiter seinen Pflug in gleicher Weise. Die ganze Natur ist in der Vorstellung religiöser Menschen eine Summe von Handlungen be- wusster und wollender Wesen , ein ungeheurer Complex von Willkürlichkeiten. Es ist in Bezug auf Alles was ausser uns ist, kein Schluss gestattet, dass irgend Etwas so und so sein werde, so und so kommen müsse; das ungefähr Sichere, Berechenbare sind wir: der Mensch ist die Regel, die Natur die Regellosig- keit — dieser Satz enthält die Grundüberzeugimg, welche rohe, religiös productive Urculturen beherrscht. Wir jetzigen Menschen empfinden gerade völlig umgekehrt: je

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reicher jetzt der Mensch sich innerlich fühlt, je polyphoner sein Subject ist, um so gewaltiger wirkt auf ihn das Gleichmaass der Natur; wir Alle erkennen mit Goethe in der Natur das grosse Mittel der Beschwichtigung für die moderne Seele, wir hören den Pendelschlag der grössten Uhr mit einer Sehnsucht nach Ruhe, nach Heimisch- und Stillewerden an, als ob wir dieses Gleichmaass in uns hineintrinken und dadurch zum Genuss unser selbst erst kommen könnten. Ehemals war es umgekehrt: denken wir an rohe, frühe Zustände von Völkern zurück oder sehen wir die jetzigen Wilden in der Nähe, so finden wir sie auf das stärkste durch das Gesetz, das Herkommen bestimmt: das Individuum ist fast automatisch an dasselbe gebunden und bewegt sich mit der Gleichförmigkeit eines Pendels. Ihm muss die Natur die unbegrifFene schreckliche geheimnissvolle Natur als das Reich der Freiheit, der Willkür, der höheren Macht erscheinen, ja gleichsam als eine übermenschliche Stufe des Daseins, als Gott. Nun aber fühlt jeder Ein- zelne solcher Zeiten und Zustände, -wie von jenen Will- kürlichkeiten der Natur seine Existenz, sein Glück, das der Familie, des Staates, das Gelingen aller Unterneh- mungen abhängen: einige Naturvorgänge müssen zur rechten Zeit eintreten, andere zur rechten Zeit ausbleiben. Wie kann man einen Einfluss auf diese furchtbaren Un- bekannten ausüben, wie" kann man das Reich der Frei- heit binden? so fragt er sich, so forscht er ängstlich: giebt es denn keine Mittel, jene Mächte ebenso durch ein Herkommen und Gesetz regelmässig zu machen, wie du selber regelmässig bist? Das Nachdenken der magie- und wundergläubigen Menschen geht dahin, der Natur ein Gesetz aufzulegen : und kurz ge- sagt, der religiöse Cultus ist das Ergebniss dieses Nach-

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denkens. Das Problem, welches jene Menschen sich vorlegen, ist auf das engste verwandt mit diesem: wie kann der schwächere Stamm dem stärkeren doch Gesetze dictiren, ihn bestimmen, seine Handlungen (im Verhalten zum schwächeren) leiten? Man wird zuerst sich der harmlosesten Art eines Zwanges erinnern, jenes Zwanges, den man ausübt, wenn man Jemandes Neigung erworben hat. Durch Flehen und Gebete, durch Unter- werfung, durch die Verpflichtung zu regelmässigen Ab- gaben und Geschenken, durch schmeichelhafte Verherr- lichungen ist es also auch möglich, auf die Mächte der Natur einen Zwang auszuüben, insofern man sie sich geneigt macht: Liebe bindet und wird gebunden. Dann kann man Verträge schliessen, wobei man sich zu be- stimmtem Verhalten gegenseitig verpflichtet, Pfänder stellt und Schwüre wechselt. Aber viel wichtiger ist eine Gattung gewaltsameren Zwanges, durch Magie und Zauberei. Wie der Mensch mit Hülfe des Zauberers einem stärkeren Feind doch zu schaden weiss und ihn vor sich in Angst erhält, wie der Liebeszauber in die Ferne wirkt, so glaubt der schwächere Mensch auch die mächtigeren Geister der Natur bestimmen zu können. Das Hauptmittel aller Zauberei ist, dass man Etwas in Gewalt bekommt, das Jemandem zu eigen ist, Haare, Nägel, etwas Speise von seinem Tisch, ja selbst sein Bild, seinen Namen. Mit solchem Apparate kann man dann zaubern; denn die Grundvoraussetzung lautet: zu allem Geistigen gehört etwas Körperliches; mit dessen Hülfe vermag man den Geist zu binden, zu schädigen, zu vernichten; das Körperliche giebt die Handhabe ab, mit der man das Geistige fassen kann. So wie nun der Mensch den Menschen bestimmt, so bestimmt er auch irgend einen Naturgeist; denn dieser hat auch sein

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Körperliches, an dem er zu fassen ist. Der Baum und, verglichen mit ihm, der Keim, aus dem er entstand, dieses räthselhafte Nebeneinander scheint zu beweisen, dass in beiden Formen sich ein und derselbe Geist eingekörpert habe, bald klein, bald gross. Ein Stein, der plötzlich rollt, ist der Leib, in wechem ein Geist wirkt; liegt auf einsamer Haide ein ungeheurer Block, so erscheint es unmöglich, an Menschenkraft zu denken, die ihn hierher gebracht habe, so muss also der Stein sich selbst hinbewegt haben, das heisst: er muss einen Geist beherbergen. Alles, was einen Leib hat, ist der Zauberei zugänglich, also auch die Naturgeister, Ist ein Gott geradezu an sein Bild gebunden, so kann man auch ganz directen Zwang (durch Verweigerung der Opfernahrung, Geissein, In -Fesseln -legen und Ähnliches) gegen ihn ausüben. Die geringen Leute in China umwinden, um die fehlende Gunst ihres Gottes zu ertrotzen, das Bild desselben, der sie in Stich gelassen hat, mit Stricken, reissen es nieder, schleifen es über die Strassen durch Lehm- und Düngerhaufen; „du Hund von einem Geiste, sagen sie, wir Hessen dich in einem prächtigen Tempel wohnen, wir vergoldeten dich hübsch, wir fütterten dich gut, wir brachten dir Opfer und doch bist du so undankbar." Ähnliche Gewalt- maassregeln gegen Heiligen- und Muttergottesbilder, wenn sie etwa bei Pestilenzen oder Regenmangel ihre Schuldigkeit nicht thun wollten, sind noch während dieses Jahrhunderts in katholischen Ländern vorgekommen. Durch alle diese zauberischen Beziehungen zur Natur sind unzähHge Ceremonien in's Leben gerufen; und end- lich, wenn der Wirrwarr derselben zu gross geworden ist, bemüht man sich, sie zu ordnen, zu systematisiren , so dass man den günstigen Verlauf des gesammten Ganges

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der Natur, namentlich des grossen Jahres-Kreislaufs, sich durch einen entsprechenden Verlauf eines Proceduren- Systems zu verbürgen meint. Der Sinn des religiösen Cultus ist, die Natur zu menschlichem Vortheil zu be- stimmen und zu bannen, also ihr eine Gesetzlichkeit einzuprägen, die sie von vornherein nicht hat; während in der jetzigen Zeit man die Gesetzlichkeit der Natur erkennen will, um sich in sie zu schicken. Kurz, der religiöse Cultus ruht auf den Vorstellungen der Zauberei zwischen Mensch und Mensch; und der Zauberer ist älter als der Priester. Aber ebenso ruht er auf anderen und edleren Vorstellungen; er setzt das sympathische Verhältniss von Mensch zu Mensch, das Dasein von Wohlwollen, Dankbarkeit, Erhörung Bitten- der, von Verträgen zwischen Feinden, von Verleihung der Unterpfänder, von Anspruch auf Schutz des Eigen- thums voraus. Der Mensch steht auch in sehr niederen Culturstufen nicht der Natur als ohnmächtiger Sclave gegenüber, er ist nicht nothwendig der willenlose Knecht derselben: auf der griechischen Stufe der Rehgion, be- sonders im Verhalten zu den olympischen Göttern, ist sogar an ein Zusammenleben von zwei Kasten, einer vornehmeren, mächtigeren und einer weniger vornehmen zu denken; aber beide gehören ihrer Herkunft nach irgendwie zusammen und sind Einer Art, sie brauchen sich vor einander nicht zu schämen. Das ist das Vor- nehme in der griechischen Religiosität.

112.

Beim Anblick gewisser antiker Opfergeräth- schaften. Wie manche Empfindungen uns verloren gehen, ist zum Beispiel an der Vereinigung des Possen-

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haften, selbst des Obscönen mit dem religiösen Gefühl zu sehen: die Empfindung für die Möglichkeit dieser Mischung schwindet, wir begreifen es nur noch historisch, dass sie existirte, bei den Demeter- und Dionysosfesten, bei den christlichen Osterspielen und Mysterien: aber auch wir kennen noch das Erhabene im Bunde mit dem Burlesken und dergleichen, das Rührende mit dem Lächerlichen verschmolzen: was vielleicht eine spätere Zeit auch nicht mehr verstehen wird.

113.

Christenthum als Alterthum. "Wenn wir eines Sonntag Morgens die alten Glocken brummen hören, da fragen wir uns: ist es nur möglich! diess gilt einem vor zwei Jahrtausenden gekreuzigten Juden, welcher sagte, er sei Gottes Sohn. Der Beweis für eine solche Behauptung fehlt. Sicherlich ist innerhalb unserer Zeiten die christliche Religion ein aus ferner Vorzeit hereinragendes Alterthum, und dass man jene Behauptung glaubt während man sonst so streng in der Prüfung von Ansprüchen ist , ist vielleicht das älteste Stück dieses Erbes. Ein Gott, der mit einem sterblichen Weibe Kinder erzeugt; ein Weiser, der auffordert, nicht mehr zu arbeiten, nicht mehr Gericht zu halten, aber auf die Zeichen des bevorstehenden Weltuntergangs zu achten; eine Gerechtigkeit, die den Unschuldigen als stell- vertretendes Opfer annimmt; Jemand, der seine Jünger sein Blut trinken heisst; Gebete um Wunderein griffe; Sün- den an einem Gotte verübt, durch einen Gott gebüsst; Furcht vor einem Jenseits, zu welchem der Tod die Pforte ist ; die Gestalt des Kreuzes als Symbol inmitten einer Zeit, welche die Bestimmung und die Schmach des Kreuzes

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nicht mehr kennt wie schauerlich weht uns diess Alles, wie aus dem Grabe uralter Vergangenheiten an! Sollte man glauben, dass so Etwas noch geglaubt wird?

114.

Das Ungriechische im Christenthum. Die Griechen sahen über sich die homerischen Götter nicht als Herren und sich unter ihnen nicht als Knechte, wie die Juden. Sie sahen gleichsam nur das Spiegelbild der gelungensten Exemplare ihrer eignen Kaste , also ein Ideal, keinen Gegensatz des eignen Wesens. Man fühlt sich mit einander verwandt, es besteht ein gegenseitiges Interesse, eine Art Symmachie. Der Mensch denkt vor- nehm von sich, wenn er sich solche Götter giebt, und stellt sich in ein Verhältniss, wie das des niedrigeren Adels zum höheren ist; während die italischen Völker eine rechte Bauern -Religion haben, mit fortwährender Ängstlichkeit gegen böse und launische Machtinhaber und Quälgeister. Wo die olympischen Götter zurück- traten, da war auch das griechische Leben düsterer und ängstlicher. Das Christenthum dagegen zerdrückte und zerbrach den Menschen vollständig und versenkte ihn wie in tiefen Schlamm: in das Gefühl völliger Ver- worfenheit Hess es dann mit Einem Male den Glanz eines göttlichen Erbarmens hineinleuchten, so dass der Überraschte, durch Gnade Betäubte einen Schrei des Entzückens ausstiess und für einen Augenblick den ganzen Himmel in sich zu tragen glaubte. Auf diesen krankhaften Excess des Gefühls, auf die dazu nöthige tiefe Kopf- und Herz-Corruption wirken alle psycholo- gischen Erfindungen des Christenthums hin: es will ver- nichten, zerbrechen, betäuben, berauschen, es will nur

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Eins nicht: das Maass, und desshalb ist es im tiefsten Verstände barbarisch, asiatisch, unvornehm, ungriechisch.

115-

Mit Vortheil religiös sein. Es giebt nüchterne und gewerbstüchtige Leute, denen die Religion wie ein Saum höheren Menschthums angestickt ist: diese thun sehr wohl, religiös zu bleiben, es verschönert sie. Alle Menschen, welche sich nicht auf irgend ein Waffenhand- werk verstehen Mund und Feder als Waffen einge- rechnet — , werden servil: für solche ist die christliche Religion sehr nützlich, denn die Servilität nimmt dann den Anschein christlicher Tugenden an und wird er- staunlich verschönert. Leute, welchen ihr tägliches Leben zu leer und eintönig vorkommt, werden leicht religiös: diess ist begreiflich und verzeihlich; nur haben sie kein Recht, Religiosität von Denen zu fordern, denen das tägliche Leben nicht leer und eintönig verfliesst.

ii6.

Der Alltags-Christ. Wenn das Christenthum mit seinen Sätzen vom rächenden Gotte, der allgemeinen Sündhaftigkeit, der Gnadenwahl und der Gefahr einer ewigen Verdammniss Recht hätte, so wäre es ein Zeichen von Schwachsinn und Charakterlosigkeit, nicht Priester Apostel oder Einsiedler zu werden und mit Furcht und Zittern einzig am eignen Heile zu arbeiten; es wäre un- sinnig, den ewigen Vortheil gegen die zeitliche Bequem- lichkeit so aus dem Auge zu lassen. Vorausgesetzt dass überhaupt geglaubt wird, so ist der Alltags-Christ eine erbärmliche Figrir, ein Mensch, der wirklich nicht bis

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drei zählen kann , und der übrigens , gerade wegen seiner geistigen Unzurechnungsfähigkeit, es nicht ver- diente, so hart bestraft zu werden, wie das Christenthum ihm verheisst.

117.

Von der Klugheit des Christenthums. Es ist ein Kunstgriif des Christenthums, die völlige Unwür- digkeit, Sündhaftigkeit und Verächtlichkeit des Menschen überhaupt so laut zu lehren, dass die Verachtung der Mitmenschen dabei nicht mehr möglich ist. „Er m.ag sündigen, wie er wolle, er unterscheidet sich doch nicht wesentlich von mir: ich bin es, der in jedem Grade un- würdig und verächtlich ist," so sagt sich der Christ. Aber auch dieses Gefühl hat seinen spitzigsten Stachel verloren, weil der Christ nicht an seine individuelle Ver- ächtlichkeit glaubt: er ist böse als Mensch überhaupt und beruhigt sich ein wenig bei dem Satze: wir Alle sind Einer Art.

118.

Personenwechsel. Sobald eine Religion herrscht, hat sie alle Die zu ihren Gegnern, welche ihre ersten Jünger gewesen wären.

119.

Schicksal des Christenthums. Das Christen- thum entstand, um das Herz zu erleichtern; aber jetzt muss es das Herz erst beschweren, um es nachher er- leichtern zu können. Folglich wird es zu Grunde gehen.

Nietrsclie. Werke Band H. Q

I30

I20.

Der Beweis der Lust. Die angenehme Meinung wird als wahr angenommen: diess ist der Beweis der Lust (oder, wie die Kirche sagt, der Beweis der Kraft), auf welchen alle Religionen so stolz sind, während sie sich dessen doch schämen sollten. Wenn der Glaube nicht selig machte, so würde er nicht geglaubt werden: wie wenig wird er also wertli seinl

121.

Gefährliches Spiel. Wer jetzt der religiösen Empfindung wieder in sich Raum giebt, der muss sie dann auch wachsen lassen, er kann nicht anders. Da verändert sich allmählich sein Wesen, es bevorzugt das dem religiösen Element Anhängende Benachbarte, der ganze Umkreis des Urtlieilens und Empfindens wird um- wölkt, mit religiösen Schatten überflogen. Die Empfin- dung kann nicht still stehen; man nehme sich also in Acht.

122.

Die blinden Schüler. So lange Einer sehr gut die Stärke und Schwäche seiner Lehre, seiner Kunst- art, seiner Religion kennt, ist deren Kraft noch gering. Der Schüler und Apostel, welcher für die Schwächep der Lehre, der Religion und so weiter, kein Auge hat, ge- blendet durch das Ansehen des Meisters und durch seine Pietät gegen ihn, hat desshalb gewöhnlich mehr Macht als der Meister. Ohne die blinden Schüler ist noch nie der Einfluss eines Mannes und seines Werkes gross ge- worden. Einer Erkenntniss zum Siege verhelfen heisst

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oft nur: sie so mit der Dummheit verschwistem , dass das Schwergewicht der letzteren auch den Sieg für die erstere erzwingt.

123.

Abbruch der Kirchen. Es ist nicht genug an Rehgion in der Welt, um die ReUgionen auch nur zu vernichten.

124.

Sündlosigkeit des Menschen. Hat man begrififen, wie „die Sünde in die Welt gekommen" ist, nämhch durch Irrthümer der Vernunft, vermöge deren die Menschen unter einander, ja der einzelne Mensch sich selbst für viel schwärzer und böser nimmt, als es thatsächlich der Fall ist, so wird die ganze Empfindung sehr erleichtert, und Menschen und Welt erscheinen mit- unter in einer Glorie von Harmlosigkeit, dass es Einem von Grund aus wohl dabei wird. Der Mensch ist in- mitten der Natur immer das Klind an sich. Diess Kind träumt wohl einmal einen schweren beängstigenden Traum ; wenn es aber die Augen aufschlägt, so sieht es sich immer wieder im Paradiese.

125.

Irreligiosität der Künstler. Homer ist unter seinen Göttern so zu Hause und hat als Dichter ein solches Behagen an ihnen, dass er jedenfalls tief un- religiös gewesen sein muss; mit Dem, was der Volks- glaube ihm entgegenbrachte einen dürftigen, rohen, zum Theil schauerlichen Aberglauben , verkehrte er so frei, wie der Bildhauer mit seinem Thon, also mit der- selben Unbefangenheit, welche Äschylus und Aristophanes

9*

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besassen und durch welche sich in neuerer Zeit die grossen Künstler der Renaissance, sowie Shakespeare und Goethe auszeichneten.

126.

Kunst und Kraft der falschen Interpreta- tion. — Alle die Visionen Schrecken Ermattungen Entzückungen des Heiligen sind bekannte Krankheits- Zustände , welche von ihm , auf Grund eingewurzelter religiöser und psychologischer Irrthümer, nur ganz anders, nämlich nicht als Krankheiten, gedeutet werden. So ist vielleicht auch das Dämonion des Sokrates ein Ohrleiden, das er sich gemäss seiner herrschenden moralischen Denkungsart nur anders, als es jetzt ge- schehen würde, auslegt. Nicht anders steht es mit dem Wahnsinn und Wahnreden der Propheten und Orakel- priester; es ist immer der Grad von Wissen, Phantasie, Bestrebung, Moralität in Kopf und Herz der Inter- preten, welcher daraus so vi^ gemacht hat. Zu den grössten Wirkungen der Menschen, welche man Genies und Heilige nennt, gehört es, dass sie sich Interpreten erzwingen, welche sie zum Heile der Menschheit mi ss- verstehen.

127.

Verehrung des Wahnsinns. Weil man be- merkte, dass eine Erregung häufig den Kopf heller machte und glückliche Einfälle hervorrief, so meinte man, durch die höchsten Erregungen werde man der glück- lichsten Einfälle und Eingebungen theilhaftig: und so verehrte man den Wahnsinnigen als den Weisen und Orakelgebenden. Hier liegt ein falscher Schluss zu Grunde.

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128.

Verheissun gen der Wissenschaft. Die moderne Wissenschaft hat als Ziel: so wenig Schmerz wie möglich, so lange Leben als möghch also eine Art von ewiger SeUgkeit, freilich eine sehr bescheidene in Vergleich mit den Verheissungen der Religionen.

129.

Verbotene Freigebigkeit. Es ist nicht genug Liebe und Güte in der Welt, um noch davon an ein- gebildete Wesen wegschenken zu dürfen.

130.

Fortleben des religiösen Cultus im Gemüth. Die katholische Kirche, und vor ihr aller antike Cultus, beherrschte das ganze Bereich von Mitteln, durch welche der Mensch in ungewöhnliche Stimmungen versetzt wird und der kalten Berechnung des Vortheils oder dem reinen Vernunft-Denken entrissen wird. Eine durch tiefe Töne erzitternde Kirche, dumpfe, regelmässige, zurückhaltende Anrufe einer priesterlichen Schaar, welche ihre Spannung unwillkürlich auf die Gemeinde überträgt und sie fast angstvoll lauschen lässt, wie als wenn eben ein Wunder sich vorbereitete, der Anhauch der Architektur, welche als Wohnung einer Gottheit sich in's Unbestimmte aus- reckt und in allen dunklen Räumen das Sich-Regen der- selben fürchten lässt wer wollte solche Vorgänge den Menschen zurückbringen, wenn die Voraussetzungen dazu nicht mehr geglaubt werden? Aber die Resultate von dem Allen sind trotzdem nicht verloren: die innere Welt

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der erhabenen gerührten ahnungsvollen tiefzerknirschten hoffnungsseligen Stimmungen ist den Menschen vornehm- lich durch den Cultus eingeboren worden ; was jetzt davon in der Seele existirt, wurde damals, als er keimte, wuchs und blühte, gross gezüchtet

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Religiöse Nachwehen. Glaubt man sich noch so sehr der Religion entwöhnt zu haben, so ist es doch nicht in dem Grade geschehen, dass man nicht Freude hätte, religiösen Empfindungen und Stimmungen ohne begrifflichen Inhalt zu begegnen, zum Beispiel in der Musik; und wenn eine Philosophie uns die Berechtigung von metaphysischen Hoffnungen, von dem dorther zu erlangenden tiefen Frieden der Seele aufzeigt und zum Beispiel von „dem ganzen sicheren Evangelium im Blick der Madonna bei Raffael" spricht, so kommen wir solchen Aussprüchen und Darlegungen mit besonders herzlicher Stimmung entgegen: der Philosoph hat es hier leichter, zu beweisen, er entspricht mit Dem, was er geben will, einem Herzen, welches gern nehmen will. Daran be- merkt man, wie die weniger bedachtsamen Freigeister eigentlich nur an den Dogmen Anstoss nehmen, aber recht wohl den Zauber dpr religiösen Empfindung kennen ; es thut ihnen wehe, letztere fahren zu lassen, um der ersteren willen. Die wissenschaftliche Philosophie muss sehr auf der Hut sein, nicht auf Grund jenes Bedürf- nisses — eines gewordenen und folglich auch vergäng- lichen Bedürfnisses Irrthümer einzuschmuggeln: selbst Logiker sprechen von „Ahnungen" der Wahrheit in Moral und Kunst (zum Beispiel von der Ahnung, „dass das Wesen der Dinge Eins ist"): was ihnen doch ver-

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boten sein sollte. Zwischen den sorgsam erschlossenen Wahrheiten und solchen „geahnten" Dingen bleibt un- überbrückbar die Kluft, dass jene dem Intellect, diese dem Bedürfniss verdankt werden. Der Hunger beweist nicht, dass es zu seiner Sättigung eine Speise giebt, aber er wünscht die Speise. „Ahnen" bedeutet nicht das Dasein einer Sache in irgend einem Grade erkennen, sondern dasselbe für möglich halten, insofern man sie wünscht oder fürchtet; die „Ahnung" trägt keinen Schritt weit in's Land der Gewissheit. Man glaubt unwill- kürlich, die religiös gefärbten Abschnitte einer Philo- sophie seien besser bewiesen als die anderen; aber es ist im Grunde umgekehrt, man hat nur den inneren Wunsch, dass es so sein möge, also dass das Beseligende auch das Wahre sei. Dieser Wunsch verleitet uns. schlechte Gründe als gute einzukaufen.

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Von dem christlichen Erlösungsbedürfniss. Bei sorgsamer Überlegung muss es möglich sein, dem Vorgang in der Seele eines Christen, welchen man Er- lösungsbedürfniss nennt, eine Erklärung abzugewinnen, die frei von Mythologie ist: also eine rein psychologische. Bis jetzt sind freilich die psychologischen Erklärungen religiöser Zustände und Vorgänge in einigem Verrüfe gewesen, insoweit eine sich frei nennende Theologie auf diesem Gebiete ihr unerspriessliches Wesen trieb: denn bei ihr war es von vornherein, so wie es der Geist ihres Stifters, Schleiermacher's, vermuthen lässt, auf die Er- haltung der christlichen Religion und das Fortbestehen der christlichen Theologie abgesehn; als welche in den psychologischen Analysen der religiösen „Thatsachen"

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einen neuen Ankergrund und vor Allem eine neue Beschäftigung gewinnen sollte. Unbeirrt von solchen Vorgängern wagen wir folgende Auslegung des bezeich- neten Phänomens. Der Mensch ist sich gewisser Hand- lungen bewusst, welche in der gebräuchlichen Rangord- nung der Handlungen tief stehen, ja er entdeckt in sich einen Hang zu dergleichen Handlungen, der ihm fast so unveränderlich wie sein ganzes Wesen erscheint. Wie gern versuchte er sich in jener andern Gattung von Handlungen, welche in der allgemeinen Schätzung als die obersten und höchsten anerkannt sind, wie gern fühlte er sich voll des guten Bewusstseins, welches einer selbstlosen Denkweise folgen soll! Leider aber bleibt es eben bei diesem Wunsche: die Unzufriedenheit darüber, demselben nicht genügen zu können, kommt zu allen übrigen Arten von Unzufriedenheit hinzu, welche sein Lebensloos überhaupt oder die Folgen jener böse ge- nannten Handlungen in ihm erregt haben; so dass eine tiefe Verstimmung entsteht, mit dem Ausblick nach einem Arzte, der diese und alle ihre Ursachen zu heben vermöchte. Dieser Zustand würde nicht so bitter empfunden werden, wenn der Mensch sich nur mit andern Menschen unbefangen vergliche: dann nämlich hätte er keinen Grund, mit sich in einem besondern Maasse unzufrieden zu sein, er trüge eben nur an der allgemeinen Last der menschlichen Unbefriedigung und Unvollkommenheit. Aber er vergleicht sich mit einem Wesen, welches allein jener Handlungen fähig ist, die unegoistisch genannt werden, und im fortwährenden Bewusstsein einer selbstlosen Denkweise lebt, mit Gott; dadurch dass er in diesen hellen Spiegel schaut, erscheint ihm sein Wesen so trübe, so ungewöhnlich verzerrt. Sodann ängstigt ihn der Gedanke an dasselbe

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Wesen, insofern dieses als strafende Gerechtigkeit vor seiner Phantasie schwebt: in allen möglichen kleinen und grossen Erlebnissen glaubt er seinen Zorn, seine Droh- ungen zu erkennen, ja die Geisseischläge seines Richter- und Henkerthums schon vorzuempfinden. Wer hilft ihm in dieser Gefahr, welche durch den Hinblick auf eine unermessliche Zeitdauer der Strafe an Grässliclikeit alle anderen Schrecknisse der Vorstellung überbietet?

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Bevor wir diesen Zustand in seinen weiteren Folgen uns vorlegen, wollen wir uns doch eingestehen, dass der Mensch in diesen Zustand nicht durch seine „Schuld" und „Sünde", sondern durch eine Reihe von Irrtliümern der Vernunft gerathen ist, dass es der Fehler des Spiegels war, wenn ihm sein Wesen in jenem Grade dunkel und hassenswerth vorkam, und dass jener Spiegel sein Werk, das sehr unvollkommene Werk der menschlichen Phan- tasie und Urtheilskraft war. Erstens ist ein Wesen, welches einzig rein unegoistischer Handlungen fähig wäre, noch fabelhafter als der Vogel Phönix; es ist deut- lich nicht einmal vorzustellen, schon desshalb weil der ganze Begriff „unegoistische Handlung" bei strenger Untersuchung in die Luft verstiebt. Nie hat ein Mensch Etwas gethan, das allein für Andere und ohne jeden persönlichen Beweggrund gethan wäre; ja wie sollte er Etwas thun können, das ohne Bezug zu ihm wäre, also ohne innere Nöthigung (welche ihren Grund doch in einem persönlichen Bedürfniss haben müsste)? Wie vermöchte das ego ohne ego zu handeln? Ein Gott, der dagegen ganz Liebe ist, wie gelegentlich angenommen wird, wäre keiner einzigen unegoistischen

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Handlung fähig: wobei man sich an einen Gedanken Lichtenberg's, der freiHch einer etwas niedrigeren Sphäre entnommen ist, erinnern sollte: „Wir können unmöglich für Andere fühlen, wie man zu sagen pflegt; wir fühlen nur für uns. Der Satz klingt hart, er ist es aber nicht, wenn er nur recht verstanden wird. Man liebt weder Vater, noch Mutter, noch Frau, noch Künd, sondern die angenehmen Empfindungen, die sie uns machen", oder wie La Rochefoucauld sagt: „si on croit aivier sa maitresse p07ir l'amour d'elle, on est bien troinp^." Wesshalb Hand- lungen der Liebe höher geschätzt werden als andere, nämlich nicht ihres Wesens, sondern ihrer Nützlichkeit halber, darüber vergleiche man die schon vorher er- wähnten Untersuchungen „über den Ursprung der mora- lischen Empfindungen". Sollte aber ein Mensch wünschen, ganz wie jener Gott Liebe zu sein. Alles für Andre, Nichts für sich zu thun und zu wollen, so ist letzteres schon desshalb unmöglich, weil er sehr Viel für sich thun muss, um überhaupt Anderen Etwas zu Liebe thun zu können. Sodann setzt es voraus, dass der Andre Egoist genug ist, um jene Opfer, jenes Leben für ihn, immer und immer wieder anzunehmen: so dass die Menschen der Liebe und Aufopferung ein Interesse an dem Fortbestehen der liebelosen und aufopferungsunfähigen Egoisten haben, und die höchste Moralität, um bestehn zu können, förmlich die Existenz der Unmoralität er- zwingen müsste (wodurch sie sich fi-eilich selber auf- heben würde). Weiter: die Vorstellung eines Gottes beunruhigt und demüthigt so lange, als sie geglaubt wird, aber wie sie entstanden ist, darüber kann bei dem jetzigen Stande der völkervergleichenden Wissen- schaft kein Zweifel mehr sein; und mit der Einsicht in diese Entstehung fällt jener Glaube dahin. Es geht dem

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Christen, welcher sein Wesen mit dem Gottes vergleicht, so wie dem Don Quixote, der seine eigene Tapferkeit unterschätzt, weil er die Wunderthaten der Helden aus den Ritterromanen im Kopfe hat: der Maasstab, mit dem in beiden Fällen gemessen wird, gehört in's Reich der Fabel. Fällt aber die Vorstellung Gottes weg, so auch dcis Gefühl der „Sünde" als eines Vergehens gegen götthche Vorschriften, als eines Fleckens an einem gottgeweihten Geschöpfe. Dann bleibt wahrscheinlich noch jener Unmuth übrig, welcher mit der Furcht vor Strafen der weltlichen Gerechtigkeit oder vor der Miss- achtung der Menschen sehr verwachsen und verwandt ist, der Unmuth der Gewissensbisse: der schärfste Stachel im Gefühl der Sünde ist immerhin abgebrochen, wenn man einsieht, dass man sich durch seine Handlungen wohl gegen menschliches Herkommen, menschliche Satz- ungen und Ordnungen vergangen habe, aber damit doch nicht das „ewige Heil der Seele" und ihre Beziehung zur Gottheit gefährdet habe. Gelingt es dem Menschen zu- letzt noch, die philosophische Überzeugung von der unbedingten Nothwendigkeit aller Handlungen und ihrer völligen UnVerantwortlichkeit zu gewinnen und in Fleisch und Blut aufzunehmen, so verschwindet auch jener Rest von Gewissensbissen.

134.

Ist nun der Christ, wie gesagt, durch einige Irr- thümer in das Gefühl der Selbstverachtung gerathen, also durch eine falsche unwissenschaftliche Auslegung seiner Handlungen und Empfindungen, so muss er mit höchstem Erstaunen bemerken, wie jener Zustand der Verachtung, der Gewissensbisse, der Unlust überhaupt, nicht anhält, wie gelegentlich Stunden kommen, wo ihm diess Alles

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von der Seele weggeweht ist und er sich wieder frei und muthig fühlt. In Wahrheit hat die Lust an sich selber, das Wohlbehagen an der eigenen Kraft, im Bunde mit der nothwendigen Abschwächung jeder tiefen Erregung den Sieg davongetragen: der Mensch liebt sich wieder, er fühlt es, aber gerade diese Liebe, diese neue Selbstschätzung kommt ihm unglaublich vor, er kann in ihr allein das gänzlich unverdiente Herabströmen eines Gnadenglanzes von Oben sehen. Wenn er früher in allen Begebnissen Warnungen, Drohungen, Strafen und jede Art von Anzeichen des göttlichen Zornes zu erblicken glaubte, so deutet er jetzt in seine Erfahrungen die göttliche Güte hinein: diess Ereigniss kommt ihm liebevoll, jenes wie ein hülfreicher Fingerzeig, ein drittes und namentlich seine ganze freudige Stimmung als Be- weis vor, dass Gott gnädig sei. Wie er früher im Zu- stande des Unmuthes namentlich seine Handlungen falsch ausdeutete, so jetzt namentlich seine Erlebnisse; die getröstete Stimmung fasst er als Wirkung einer ausser ihm waltenden Macht auf, die Liebe, mit der er sich im Grunde selbst liebt, erscheint als göttliche Liebe; Das, was er Gnade und Vorspiel der Erlösung nennt, ist in Wahrheit Selbstbegnadigung, Selbsterlösnng.

135-

Also: eine bestimmte falsche Psychologie, eine ge- wisse Art von Phantastik in der Ausdeutung der Motive und Erlebnisse ist die nothwendige Voraussetzung davon, dass Einer zum Christen werde und das Bedürfniss der Erlösung empfinde. Mit der Einsicht in diese Verirrung der Vernunft und Phantasie hört man auf, Christ zu sein.

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136. Von der christlichen Askese und Heiligkeit So sehr einzelne Denker sich bemüht haben, in den seltenen Erscheinungen der Moralität, welche man As- kese und Heiligkeit zu nennen pflegt, ein Wunderding hinzustellen, dem die Leuchte einer vernünftigen Er- klärung in's Gesicht zu halten beinahe schon Frevel und Entweihung sei: so stark ist hinwiederum die Ver- führung zu diesem Frevel. Ein mächtiger Antrieb der Natur hat zu allen Zeiten dazu geführt, gegen jene Erscheinungen überhaupt zu protestiren; die Wissen- schaft, insofern sie wie gesagt eine Nachahmung der Natur ist, erlaubt sich wenigstens gegen die behauptete Unerklärbarkeit , ja Unnahbarkeit derselben Einsprache zu erheben. Freilich gelang es ihr bis jetzt nicht: jene Erscheinungen sind immer noch unerklärt, zum grossen Vergnügen der erwähnten Verehrer des moralisch -Wun- derbaren. Denn, allgemein gesprochen: das Unerklärte soll durchaus unerklärlich, das Unerklärliche durchaus unnatürlich, übernatürlich, wunderhaft sein so lautet die Forderung in den Seelen aller Religiösen und Meta- physiker (auch der Künstler, falls sie zugleich Denker sind); während der wissenschaftliche Mensch in dieser Forderung das „böse Princip" sieht. Die allgemeine erste Wahrscheinlichkeit, auf welche man bei Betrachtung von Heiligkeit und Askese zuerst geräth, ist diese, dass ihre Natur eine complicirte ist: denn fast überall, innerhalb der physischen Welt sowohl wie in der mora- lischen, hat man mit Glück das angeblich Wunderbare auf das Complicirte, mehrfach Bedingte zurückgeführt. Wagen wir es also, einzelne Antriebe aus der Seele der Heiligen und Asketen zunächst zu isoliren und zum Schluss sie uns in einander verwachsen zu denken.

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137.

Es giebt einen Trotz gegen sich selbst, zu dessen sublimirtesten Äusserungen manche Formen der Askese gehören. Gewisse Menschen haben nämlich ein so hohes Bedürfniss, ihre Gewalt und Herrschsucht aus- zuüben, dass sie, in Ermangelung anderer Objecte oder weil es ihnen sonst immer misslungen ist, endlich darauf verfallen, gewisse Theile ihres eigenen Wesens, gleichsam Ausschnitte oder Stufen ihrer selbst zu tyrannisiren. So bekennt sich mancher Denker zu Ansichten, welche er- sichtlich nicht dazu dienen, seinen Ruf zu vermehren oder zu verbessern; Mancher beschwört förmlich die Missachtung Anderer auf sich herab, während er es leicht hätte, einfach durch Stillschweigen, ein geachteter Mann zu bleiben; Andere widerrufen frühere Meinungen und scheuen es nicht, fürderhin inconsequent genannt zu werden: im Gegentheil, sie bemühen sich darum und be- nehmen sich wie übermüthige Reiter, welche das Pferd, erst wenn es wild geworden , mit Schweiss bedeckt, scheu gemacht ist, am liebsten mögen. So steigt der Mensch in gefährlichen Wegen auf die höchsten Gebirge, um über seine Ängstlichkeit und seine schlotternden Kniee Hohn zu lachen; so bekennt sich der Philosoph zu Ansichten der Askese, Demuth, Heiligkeit, in deren Glänze sein eigenes Bild auf das ärgste verhässlicht wird. Dieses Zerbrechen seiner selbst, dieser Spott über die eigene Natur, dieses spernere se sperni, aus dem die Religionen so viel gemacht haben, ist eigentlich ein sehr hoher Grad der Eitelkeit. Die ganze Moral der Berg- predigt gehört hierher: der Mensch hat eine wahre Wollust, sich durch übertriebene Ansprüche zu verge- waltigen und dieses tyrannisch fordernde Etwas in seiner

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Seele nachher zu vergöttern, In jeder asketischen Moral betet der Mensch einen Theil von sich als Gott an und hat dazu nöthig, den übrigen Theil zu diabolisiren.

138.

Der Mensch ist nicht zu allen Stunden gleich mora- lisch, diess ist bekannt: beurtheilt man seine Moralität nach der Fähigkeit zu grosser aufopfernder Entschliessung und Selbstverleugnung (welche, dauernd und zur Gewohn- heit geworden, Heiligkeit ist), so ist er im Affect am moralischsten; die höhere Erregung reicht ihm ganz neue Motive dar, welcher er, nüchtern und kalt wie sonst, viel- leicht nicht einmal fähig zu sein glaubte. Wie kommt diess? Wahrscheinlich aus der Nachbarschaft alles Grossen und Hocherregenden: ist der Mensch einmal in eine ausserordentHche Spannung gebracht, so kann er ebenso- wohl zu einer furchtbaren Rache, als zu einer furchtbaren Brechung seines Rachebedürfnisses sich entschliessen. Er will, unter dem Einflüsse der gewaltigen Emotion, jedenfalls das Grosse Gewaltige Ungeheure, und wenn er zufällig merkt, dass ihm die Aufopferung seiner selbst ebenso oder noch mehr genugthut als die Opferung des Anderen, so wählt er sie. EigentHch liegt ihm also nur an der Entladung seiner Emotion; da fasst er wohl, um seine Spannung zu erleichtern, die Speere der Feinde zusammen und begräbt sie in seine Brust. Dass in der Selbstverleugnung, und nicht nur in der Rache, etwas Grosses liege, musste der Menschheit erst in langer Gewöhnung anerzogen werden; eine Gottheit, welche sich selbst opfert, war das stärkste, wirkungsvollste Symbol dieser Art von Grösse. Als die Besiegung des schwerst zu besiegenden Feindes, die plötzliche Bemei-

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sterung eines Affectes als Diess erscheint diese Verleugnung und insofern gilt sie als der Gipfel des Moralischen. In Wahrheit handelt es sich dabei nur um die Vertauschung der einen Vorstellung mit der andren, während das Gemüth seine gleiche Höhe, seinen gleichen Fluthstand behält. Ernüchterte, vom Affect ausruhende Menschen verstehen die Moralität jener Augen- blicke nicht mehr, aber die Bewunderung Aller, die jene miterlebten, hält sie aufrecht; der Stolz ist ihr Trost, wenn der Affect und das Verständniss ihrer That weicht. Also: im Grunde sind auch jene Handlungen der Selbst- verleugnung nicht moralisch, insofern sie nicht streng in Hinsicht auf Andere gethan sind; vielmehr giebt der Andre dem hochgespannten Gemüth nur eine Gelegenheit, sich zu erleichtern, durch jene Verleugnung.

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Auch der Asket sucht sich das Leben leicht zu machen: und zwar gewöhnlich durch die vollkommene Unterordnung unter einen fremden Willen oder unter ein umfängliches Gesetz und Ritual; etwas in der Art, wie der Brahmane durchaus Nichts seiner eigenen Be- stimmung überlässt und sich in jeder Minute durch eine heilige Vorschrift bestimmt. Diese Unterordnung ist ein mächtiges Mittel, um über sich Herr zu werden; man ist beschäftigt, also ohne Langeweile, und hat doch keine Anregung des Eigenwillens und der Leiden- schaften dabei: nach vollbrachter That fehlt das Gefühl der Verantwortung und damit die Qual der Reue. Man hat ein für alle Mal auf eigenen Willen verzichtet, und diess ist leichter, als nur gelegentlich einmal zu ver- zichten; so wie es auch leichter ist, einer Begierde ganz

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zu entsagen als in ihr Maass zu halten. Wenn wir uns der jetzigen Stellung des Mannes zum Staat erinnern, so finden wir auch da, dass der unbedingte Gehorsam bequemer ist als der bedingte. Der Heilige also erleich- tert sich durch jenes vöUige Aufgeben der Persönlichkeit sein Leben, und man täuscht sich, wenn man in jenem Phänomen das höchste Heldenstück der Moralität be- wundert Es ist in jedem Falle schwerer, seine Persön- lichkeit ohne Schwanken und Unklarheit durchzusetzen, als sich von ihr in der erwähnten Weise zu lösen ; über- diess verlangt es viel mehr Geist und Nachdenken.

140.

Nachdem ich in vielen der schwerer erklärbaren menschlichen Handlungen Äusserungen jener Lust an der Emotion an sich gefunden habe, möchte ich auch in Betreff der Selbstverachtung, welche zu den Merkmalen der Heiligkeit gehört, und ebenso in den Handlungen der Selbstquälerei (durch Hunger und Geisseischläge, Ver- renkungen der Glieder, Erheuchelung des Wahnsinns usw.) ein Mittel erkennen, durch welches jene Naturen gegen die allgemeine Ermüdung ihres Lebenswillens (ihrer Nerven) ankämpfen: sie bedienen sich der schmerzhaftesten Reiz- mittel und Grausamkeiten, um für Zeiten wenigstens aus jener Dumpfheit und Langeweile aufzutauchen, in welche ihre grosse geistige Indolenz und jene geschilderte Unter- ordnung unter einen fremden Willen sie so häufig ver- fallen lässt

141.

Das gewöhnlichste Mittel, welches der Asket und Heilige anwendet, um sich das Leben doch noch erträg-

Nietxsche, Werke Band H. lO

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lieh und unterhaltend zu machen, besteht in gelegent- lichem Kriegführen und in dem Wechsel von Sieg und Niederlage. Dazu braucht er einen Gegner und findet ihn in dem sogenannten .inneren Feinde". Namentlich nützt er seinen Hang zur Eitelkeit, Ehr- und Herrsch- sucht, sodann seine sinnlichen Begierden aus, um sein Leben wie eine fortgesetzte Schlacht und sich wie ein Schlachtfeld ansehen zu dürfen, auf dem gute und böse Geister mit wechselndem Erfolge ringen. Bekanntlich wird die sinnliche Phantasie durch die Regelmässigkeit des geschlechtlichen Verkehrs gemässigt, ja fast unter- drückt; umgekehrt durch Enthaltsamkeit oder Unordnung im Verkehre entfesselt und wüst. Die Phantasie vieler christlicher Heiligen war in ungewöhnlichem Maasse schmutzig; vermöge jener Theorie, dass diese Begierden wirkliche Dämonen seien, die in ihnen wütheten, fühlten sie sich nicht allzusehr verantwortlich dabei: diesem Ge- fühle verdanken wir die so belehrende Aufrichtigkeit ihrer Selbstzeugnisse. Es war in ihrem Interesse, dass dieser Kampf in irgend einem Grade immer unterhalten wurde, weil durch ihn wie gesagt ihr ödes Leben unter- halten wurde. Damit der Kampf aber wichtig genug erscheine, um andauernde Theilnahme und Bewunderung bei den Nicht-Heiligen zu erregen, musste die Sinnlich- keit immer mehr verketzert und gebrandmarkt werden, ja die Gefahr ewiger Verdammniss wurde so eng an diese Dinge geknüpft, dass höchst wahrscheinlich ganze Zeitalter hindurch die Christen mit bösem Gewissen Kinder zeugten, wodurch gewiss der Menschheit ein grosser Schade angethan worden ist. Und doch steht hier die Wahrheit ganz auf dem Kopfe: was für die Wahrheit besonders unschicklich ist. Zwar hatte das Christenthum gesagt: jeder Mensch sei in Sünden empfangen und geboren, und

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im unausstehlichen Superlativ-Christenthum des Calderon erscheint dieser Gedanke noch einmal zusammen geknotet und verschlungen, als die verdrehteste Paradoxie, die es giebt, in dem bekannten Verse:

die grösste Schuld des Menschen

ist, dass er geboren wa-rd. In allen pessimistischen Religionen wird der Zeugnngsact als schlecht an sich empfunden, aber keineswegs ist diese Empfindung eine allgemein-menschliche, selbst nicht einmal das Urtheil aller Pessimisten ist sich hierin gleich. Empedokles zum Beispiel weiss gar nichts vom Beschämenden Teuflischen Sündhaften in allen erotischen Dingen; er sieht vielmehr auf der grossen Wiese des Unheils nur eine einzige heil- und hoffnungsvolle Erscheinung, die Aphrodite; sie gilt ihm als Bürgschaft, dass der Streit nicht ewig herrschen, sondern einem milderen Dämon einmal das Scepter überreichen werde. Die christlichen Pessimisten der Praxis hatten, wie gesagt, ein Interesse daran, dass eine andere Meinung in der Herrschaft blieb; sie brauchten für die Einsamkeit und die geistige Wüstenei ihres Lebens einen immer lebendigen Feind: und einen allgemein anerkannten Feind, durch dessen Bekämpfung und Überwältigung sie dem Nicht-Heiligen sich immer von Neuem wieder als halb unbegreifliche, übernatürliche Wesen darstellten. Wenn dieser Feind endlich, in Folge ihrer Lebensweise und ihrer zerstörten Gesundheit, die Flucht für immer ergriff, so verstanden sie es sofort, ihr Inneres mit neuen Dämonen bevölkert zu sehen. Das Auf- und Niederschwanken der Wagschalen Hochmuth und Demuth unterhielt ihre grübelnden Köpfe so gut wie der Wechsel von Begierde und Seelenruhe. Damals diente die Psychologie dazu, alles Menschliche nicht nur zu verdächtigen, sondern zu lästern, zu geisscln, zu kreuzigen : man wollte sich möglichst schlecht und böse

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finden, man suchte die Angst um das Heil der Seele, die Verzweiflung an der eigenen Kraft. Alles Natürliche, an welches der Mensch die Vorstellung des Schlechten, Sündhaften anhängt (wie er es zum Beispiel noch jetzt in Betreff des Erotischen gewöhnt ist), belästigt, ver- düstert die Phantasie, giebt einen scheuen Blick, lässt den Menschen mit sich selber hadern und macht ihn unsicher, vertrauenslos gegen sich selbst. Selbst seine Träume bekommen einen Beigeschmack des ge- quälten Gewissens. Und doch ist dieses Leiden am Natürlichen in der Realität der Dinge völlig unbegrün- det: es ist nur die Folge von Meinungen über die Dinge. Man erkennt leicht, wie die Menschen dadurch schlechter werden, dass sie das Unvermeidlich-Natürliche als schlecht bezeichnen und später immer als so beschaffen empfinden. Es ist der Kunstgriff der Religionen und Metaphysiken, welche den Menschen als böse und sündhaft von Natur wollen, ihm die Natur zu verdächtigen und so ihn selber schlecht zu machen: denn so lernt er sich als schlecht empfinden, da er das Kleid der Natur nicht ausziehn kann. Allmählich fühlt er sich, bei einem langen Leben im Natürlichen, von einer solchen Last von Sünden be- drückt, dass übernatürliche Mächte nö!hig werden, um diese Last heben zu können: und damit ist das schon besprochene Erlösungsbedürfniss auf den Schauplatz getreten, welches gar keiner wirklichen, sondern nur einer einge- bildeten Sündhaftigkeit entspricht. Man gehe die einzelnen moralischen Aufstellungen der Urkunden des Christenthums durch und man wird überall finden, dass die Anforderungen überspannt sind, damit der Mensch ihnen nicht genügen könne: die Absicht ist nicht, dass er moralischer werde, sondern dass er sich möglichst sündhaft fühle. Wenn dem Menschen diess Gefühl nicht ange-

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nehm gewesen wäre wozu hätte er eine solche Vorstellung erzeugt und sich so lange an sie gehängt? Wie in der antiken Welt eine unermessliche Kraft von Geist und Erfindungsgabe verwendet worden ist, um die Freude am Leben durch festliche Culte zu mehren: so ist in der Zeit des Christenthums ebenfalls unermesslich viel Geist einem anderen Streben geopfert worden: der Mensch sollte auf alle Weise sich sündhaft fühlen und dadurch überhaupt erregt, belebt, beseelt werden. Erregen, beleben, beseelen, um jeden Preis ist das nicht das Losungswort einer erschlafften überreifen übercul- tivirten Zeit? Der Kreis aller natürlichen Empfindungen war hundertmal durchlaufen, die Seele war ihrer müde geworden: da erfanden der Heilige und der Asket eine neue Gattung von Lebensreizen. Sie stellten sich vor Aller Augen hin, nicht eigentlich zur Nachahmung für Viele, sondern als, schauderhaftes und doch entzückendes Schauspiel, welches an jenen Grenzen zwischen Welt und Überwelt aufgeführt wurde, wo Jedermann damals bald himmlische Lichtblicke bald unheimliche, aus der Tiefe lodernde Flammenzungen zu erblicken glaubte. Das Auge des Heiligen, hingerichtet auf die in jedem Betracht furcht- bare Bedeutung des kurzen Erdenlebens, auf die Nähe der letzten Entscheidungen über endlose neue Lebens- strecken, dieses verkohlende Auge in einem halb ver- nichteten Leibe machte die Menschen der alten Welt bis in alle Tiefen erzittern; hinblicken, schaudernd weg- blicken, von Neuem den Reiz des Schauspiels spüren, ihm nachgeben, sich an ihm ersättigen, bis die Seele in Gluth und Fieberfrost bebt, das war die letzte Lust, welche das Alterthum erfand, nachdem es selbst gegen den Anblick von Thierhetzen und Menschen- kämpfen stumpf geworden war.

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142.

Um das Gesagte zusammenzufassen: jener Seelen- zustand, dessen sich der Heilige oder Heiligwerdende erfreut, setzt sich aus Elementen zusammen, welche wir Alle recht wohl kennen, nur dass sie sich unter dem Einflüsse anderer als religiöser Vorstellungen anders ge- färbt zeigen und dann den Tadel der Menschen ebenso stark zu erfahren pflegen, wie sie, in jener Verbrämung mit Religion und letzter Bedeutsamkeit des Daseins, auf Bewunderung, ja Anbetung rechnen dürfen, mindestens in früheren Zeiten rechnen durften. Bald übt der Heihge jenen Trotz gegen sich selbst, der ein naher Verwandter der Herrschsucht um jeden Preis ist und auch dem Ein- samsten noch das Gefühl der Macht giebt; bald springt seine angeschwellte Empfindung aus dem Verlangen, seine Leidenschaften dahinschiessen zu lassen, über in das Ver- langen, sie wie wilde Rosse zusammenstürzen zu machen, unter dem mächtigen Druck einer stolzen Seele; bald will er ein völliges Aufhören aller störenden quälenden reizen- den Empfindungen, einen wachen Schlaf, ein dauerndes Ausruhen im Schoosse einer dumpfen, thier- und pflanzen- haften Indolenz; bald sucht er den Kampf und entzündet ihn in sich, weil ihm die Langeweile ihr gähnendes Ge- sicht entgegenhält: er geisselt seine Selbst Vergötterung mit Selbstverachtung und Grausamkeit, er freut sich an dem wilden Aufruhr seiner Begierden, an dem scharfen Schmerz der Sünde, ja an der Vorstellung des Verloren- seins; er versteht es, seinen Affecten, zum Beispiel dem der äussersten Herrschsucht, einen Fallstrick zu legen, so dass er in den der äussersten Erniedrigung übergeht und seine aufgehetzte Seele durch diesen Contrast aus allen Fugen gerissen wird; und zuletzt: wenn es ihn gar

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nach Visionen, Gesprächen mit Todten oder göttlichen Wesen gelüstet, so ist es im Grunde eine seltene Art von Wollust, welche er begehrt, aber vielleicht jene Wol- lust, in der alle anderen in einen Knoten zusammen- geschlungen sind. Novalis, eine der Autoritäten in Fragen der Heiligkeit durch Erfahrung und Instinct, spricht das ganze Geheimniss einmal mit naiver Freude aus: „Es ist wunderbar genug, dass nicht längst die Association von Wollust, Religion und Grausamkeit die Menschen aufmerksam auf ihre innige Verwandtschaft und gemeinschaftliche Tendenz gemacht hat."

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Nicht Das, was der Heilige ist, sondern Das, was er in den Augen der Nicht-Heiligen bedeutet, giebt ihm seinen welthistorischen Werth. Dadurch dass man sich über ihn irrte, dass man seine Seelenzustände falsch auslegte und ihn von sich so stark als möglich abtrennte, als etwas durchaus Unvergleichliches und Fremdartig- Übermenschliches dadurch gewann er die ausserordent- liche Kraft, mit welcher er die Phantasie ganzer Völker, ganzer Zeiten beherrschen konnte. Er selbst kannte sich nicht; er selbst verstand die Schrift seiner Stim- mungen Neigungen Handlungen nach einer Kunst der Interpretation, welche ebenso überspannt und künstlich war, wie die pneumatische Interpretation der Bibel. Das Verschrobene und Kranke in seiner Natur, mit ihrer Zusammenkoppelung von geistiger Armuth, schlechtem Wissen, verdorbener Gesundheit, überreizten Nerven, blieb seinem Blick ebenso wie dem seiner Beschauer verborgen. Er war kein besonders guter Mensch, noch weniger ein besonders weiser Mensch: aber er bedeu-

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tete etwas, das über menschliches Maass in Güte und Weisheit hinausreiche. Der Glaube an ihn unterstützte den Glauben an Göttliches und Wunderhaftes, an einen religiösen Sinn alles Daseins, an einen bevorstehenden letzten Tag des Gerichtes. In dem abendlichen Glänze einer Weltuntergangs-Sonne, welche über die christüchen Völker hinleuchtete, wuchs die Schattengestalt des Heili- gen in's Ungeheure: ja bis zu einer solchen Höhe, dass selbst in unserer Zeit, die nicht mehr an Gott glaubt, es noch Denker giebt, welche an den Heihgen glauben.

144.

Es versteht sich von selbst, dass dieser Zeichnung des Heiligen, welche nach dem Durchschnitt der ganzen Gattung entworfen ist, manche Zeichnung entgegen- gestellt werden kann, welche eine angenehmere Em- pfindung hervorbringen möchte. Einzelne Ausnahmen jener Gattung heben sich heraus, sei es durch grosse Milde und Menschenjfreundlichkeit , sei es durch den Zauber ungewöhnHcher Thatkraft; andere sind im höch- sten Grade anziehend, weil bestimmte Wahnvorstellungen über ihr ganzes Wesen Lichtströme ausgiessen: wie es zum Beispiel mit dem berühmten Stifter des Christenthums der Fall ist, der sich für den eingebornen Sohn Gottes hielt und desshalb sich sündlos fühlte; so dass er durch eine Einbildung die man nicht zu hart beurtheilen möge, weil das ganze Alterthum von Göttersöhnen wim- melt — dasselbe Ziel erreichte, das Gefühl völliger Sündlosigkeit, völliger Unverantwortlichkeit, welches jetzt durch die Wissenschaft Jedermann sich erwerben kann! Ebenfalls habe ich abgesehn von den indischen Heiligen, welche auf einer Zwischenstufe zwischen dem

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christlichen Heiligen und dem griechischen Philosophen stehen und insofern keinen reinen Typus darstellen: die Erkenntniss, die Wissenschaft soweit es eine solche gab , die Erhebung über die anderen Menschen durch die logische Zucht und Schulung des Denkens wurde bei den Buddhisten als ein Kennzeichen der Heiligkeit ebenso gefordert, wie dieselben Eigenschaften in der christlichen Welt, als Kennzeichen der Unheiligkeit, ab- gelehnt und verketzert werden.

Viertes Hauptstück:

Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller

145- Das Vollkommene soll nicht geworden sein. Wir sind gewöhnt, bei allem Vollkommenen die Frage nach dem Werden zu unterlassen: sondern uns des Gegenwärtigen zu freuen, wie als ob es auf einen Zauber- schlag aus dem Boden aufgestiegen sei. Wahrscheinlich stehen wir hier noch unter der Nachwirkung einer ur- alten mythologischen Empfindung. Es ist uns beinahe noch so zu Muthe (zum Beispiel in einem griechischen Tempel wie der von Pästum), als ob eines Morgens ein Gott spielend aus solchen ungeheuren Lasten sein Wohn- haus gebaut habe: andere Male, als ob eine Seele urplötz- lich in einen Stein hineingezaubert sei und nun durch ihn reden wolle. Der Künstler weiss, dass sein Werk nur voll wirkt, wenn es den Glauben an eine Improvisation, an eine wundergleiche Plötzlichkeit der Entstehung erregt; und so hilft er wohl dieser Illusion nach und führt jene Elemente der begeisterten Unruhe, der blind greifenden Unordnung, des aufhorchenden Träumens beim Beginn der Schöpfung in die Kunst ein, als Trugmittel, um die Seele des Schauers oder Hörers so zu stimmen, dass sie an das plötzliche Hervorspringen des Vollkommenen glaubt Die Wissenschaft der Kunst hat dieser Illusion, wie es sich von selbst versteht, auf das bestimmteste zu widersprechen und die Fehlschlüsse und Verwöhnungen

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des Intellects aufzuzeigen, vermöge deren er dem Künstler in das Netz läuft.

146.

Der Wahrheitssinn des Künstlers. Der Künstler hat in Hinsicht auf das Erkennen der Wahr- heiten eine schwächere Moralität als der Denker; er will sich die glänzenden, tiefsinnigen Deutungen des Lebens durchaus nicht nehmen lassen und wehrt sich gegen nüchterne, schlichte Methoden und Resultate. Scheinbar kämpft er für die höhere Würde und Bedeutung des Menschen; in Wahrheit will er die für seine Kunst wir- kungsvollsten Voraussetzungen nicht aufgeben, also das Phantastische Mythische Unsichere Extreme, den Sinn für das Symbolische, die Überschätzung der Person, den Glauben an etwas Wunderartiges im Genius: er hält also die Fortdauer seiner Art des Schaffens für wichtiger als die wissenschaftliche Hingebung an das Wahre in jeder Gestalt, erscheine diese auch noch so schlicht.

147.

Die Kunst als Todtenbeschwörerin. Die Kunst versieht nebenbei die Aufgabe zu conserviren, auch wohl erloschene Verblichene Vorstellungen ein wenig wieder aufzufärben; sie flicht, wenn sie diese Aufgabe löst, ein Band um verschiedene Zeitalter und macht deren Geister wiederkehren. Zwar ist es nur ein Scheinleben wie über Gräbern, welches hierdurch ent- steht, oder wie die Wiederkehr geliebter Todten im Traume, aber wenigstens für Augenblicke wird die alte Empfindung noch einmal rege und das Herz klopft nach

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einem sonst vergessenen Tacte. Nun muss man wegen dieses allgemeinen Nutzens der Kunst dem Künstler selber es nachsehen, wenn er nicht in den vordersten Reihen der Aufklärung und der fortschreitenden Ver- männlichung der Menschheit steht: er ist zeitlebens ein Kind oder ein Jüngling geblieben und auf dem Standpunkt zurückgehalten, auf welchem er von seinem Kunsttriebe überfallen wurde; Empfindungen der ersten Lebensstufen stehen aber zugestandener Maassen denen früherer Zeitläufte näher als denen des gegenwärtigen Jahrhunderts. Unwillkürlich wird es zu seiner Aufgabe, die Menschheit zu verkindlichen: diess ist sein Ruhm und seine Begrenztheit

148.

Dichter als Erleichterer des Lebens. Die Dichter, sofern auch sie das Leben der Menschen er- leichtern woUen, wenden den Blick entweder von der mühseligen Gegenwart ab oder verhelfen der Gegenwart durch ein Licht, das sie von der Vergangenheit her- strahlen machen, zu neuen Farben. Um diess zu können, müssen sie selbst in manchen Hinsichten rückwärts ge- wendete Wesen sein: so dass man sie als Brücken zu ganz fernen Zeiten und Vorstellungen, zu absterbenden oder abgestorbenen Religionen und Culturen gebrauchen kann. Sie sind eigentlich immer und nothwendig Epi- gonen. Es ist freilich von ihren Mitteln zur Erleichterung des Lebens einiges Ungünstige zu sagen: sie beschwich- tigen und heilen nur vorläufig, nur für den Augenblick; sie halten sogar die Menschen ab, an einer wirklichen Verbesserung ihrer Zustände zu arbeiten, indem sie gerade die Leidenschaft der Unbefriedigten, welche zur That drängen, aufheben und palliativisch entladen.

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Der langsame Pfeil der Schönheit Die edelste Art der Schönheit ist die, welche nicht auf ein- mal hinreisst, welche nicht stürmische und berauschende Angriffe macht (eine solche erweckt leicht Ekel), sondern jene langsam einsickernde, welche man fast unbemerkt mit sich fortträgt und die Einem im Traum einmal wiederbegegnet, endlich aber, nachdem sie lange mit Bescheidenheit an unserem Herzen gelegen, von uns ganz Besitz nimmt, unser Auge mit Thränen, unser Herz mit Sehnsucht füllt. Wonach sehnen wir uns beim An- blick der Schönheit? Darnach, schön zu sein: wir wähnen, es müsse viel Glück damit verbunden sein. Aber das ist ein Irrthum.

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Beseelung der Kunst. Die Kunst erhebt ihr Haupt, wo die Religionen nachlassen. Sie übernimmt eine Menge durch die Religion erzeugter Gefühle und Stimmungen, legt sie an ihr Herz und wird jetzt selber tiefer, seelenvoller, so dass sie Erhebung und Begeisterung mitzutheilen vermag, was sie vordem noch nicht konnte. Der zum Strome angewachsene Reichthum des religiösen Gefühls bricht immer wieder aus und will sich neue Reiche erobern: aber die wachsende Aufklärung hat die Dogmen der Religion erschüttert und ein gründliches Misstrauen eingeflösst: so wirft sich das Gefühl, durch die Aufklärung aus der religiösen Sphäre hinausgedrängt, in die Kunst ; in einzelnen Fällen auch auf das politische Leben, ja selbst direct auf die Wissenschaft. Überall, wo man an menschlichen Bestrebungen eine höhere düstere Färbung wahrnimmt, darf man vermuthen , dass Geister-

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grauen, Weihrauchduft und Kirchenschatten daran hängen geblieben sind.

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AVodurch das Metrum verschönert. Das Metrum legt Flor über die Realität; es veranlasst einige Künstlichkeit des Geredes und Unreinheit des Denkens; durch den Schatten, den es auf den Gedanken wirft, verdeckt es bald, bald hebt es hervor. Wie Schatten nöthig ist, um zu verschönern, so ist das „Dumpfe" nöthig, um zu verdeutlichen. Die Kunst macht den Anblick des iebens erträglich, dadurch dass sie den Flor des unreinen Denkens über dasselbe legt

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Kunst der hässlichen Seele. Man zieht der Kunst viel zu enge Schranken, wenn man verlangt, dass nur die geordnete, sittlich im Gleichgewicht schwebende Seele sich in ihr aussprechen dürfe. Wie in den bildenden Künsten so auch giebt es in der Musik und Dichtung eine Kunst der hässUchen Seele, neben der Kunst der schönen Seele; und die mächtigsten Wirkungen der Kunst, das Seelen-Brechen Steine-Bewegen und Thiere- Vermenschlichen ist vielleicht gerade jener Kunst am meisten gelungen.

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Die Kunst macht dem Denker das Herz schwer. Wie stark das metaphysische Bedürfniss ist, und wie sich noch zuletzt die Natur den Abschied von ihm schwer macht, kann man daraus entnehmen, dass noch im Freigeiste, wenn er sich alles Metaphysischen

Nietzsche, Werke Band n. II

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entschlagen hat, die höchsten Wirkungen der Kunst leicht ein Miterklingen der lange verstummten, ja zerrissenen metaphysischen Saite hervorbringen, sei es zum Bei- spiel, dass er bei einer Stelle der neunten Symphonie Beethoven's sich über der Erde in einem Sternendome schweben fühlt, mit dem Traume der Unsterblichkeit im Herzen: alle Sterne scheinen um ihn zu flimmern und die Erde immer tiefer hinabzusinken. Wird er sich dieses Zustandes bewusst, so fühlt er wohl einen tiefen Stich im Herzen und seufzt nach dem Menschen, welcher ihm die verlorene Geliebte, nenne man sie nun Religion oder Metaphysik, zurückführe. In solchen Augenblicken wird sein intellectualer Charakter auf die Probe gestellt.

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Mit dem Leben spielen. Die Leichtigkeit und Leichtfertigkeit der homerischen Phantasie war nöthig, um das übermässig leidenschaftliche Gemüth und den überscharfen Verstand der Griechen zu beschwichtigen und zeitweilig aufzuheben. Spricht bei ihnen der Ver- stand: wie herbe und grausam erscheint dann das Leben! Sie täuschen sich nicht, aber sie umspielen absichtlich das Leben mit Lügen. Simonides rieth seinen Landsleuten, das Leben wie ein Spiel zu nehmen ; der Ernst war ihnen als Schmerz allzubekannt (das Elend der Menschen ist ja das Thema, über welches die Götter so gern singen hören), und sie wussten, dass einzig durch die Kunst selbst das Elend zum Genüsse werden könne. Zur Strafe für diese Einsicht waren sie aber von der Lust zu fabu- liren so geplagt, dass es ihnen im Alltagsleben schwer wurde, sich von Lug und Trug frei zu halten, wie alles Poetenvolk eine solche Lust an der Lüge hat und oben-

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drein noch die Unschuld dabei. Die benachbarten Völker fanden das wohl mitunter zum Verzweifeln.

155.

Glaube an Inspiration, Die Künstler haben ein Interesse daran, dass man an die plötzlichen Ein- gebungen, die sogenannten Inspirationen glaubt; als ob die Idee des Kunstwerks , der Dichtung , der Grund- gedanke einer Philosophie wie ein Gnadenschein vom Himmel herableuchte. In Wahrheit producirt die Phan- tasie des guten Künstlers oder Denkers fortwährend, Gutes, Mittelmässiges und Schlechtes, aber seine Ur- theilskraft, höchst geschärft und geübt, verwirft, wählt aus, knüpft zusammen; wie man jetzt aus den Notiz- büchern Beethoven's ersieht, dass er die herrlichsten Melo- dien allmählich zusammengetragen und aus vielfachen Ansätzen gewissermaassen ausgelesen hat. Wer weniger streng scheidet und sich der nachbildenden Erinnerung gern überlässt, der wird unter Umständen ein grosser Improvisator werden können ; aber die künstlerische Improvisation steht tief im Verhältniss zum ernst und mühevoll erlesenen Kunst gedanken. Alle Grossen waren grosse Arbeiter, unermüdlich nicht nur im Erfinden, son- dern auch im Verwerfen, Sichten, Umgestalten, Ordnen.

156.

Nochmals die Inspiration. Wenn sich die Productionskraft eine Zeitlang angestaut hat und am Ausfliessen durch ein Hemmniss gehindert worden ist, dann giebt es endlich einen so plötzlichen Ergiiss, als ob eine unmittelbare Inspiration, ohne vorhergegangenes

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innres Arbeiten, also ein Wunder sich vollziehe. Diess macht die bekannte Täuschung aus, an deren Fort- bestehen, wie gesagt, das Interesse aller Künstler ein wenig zu sehr hängt. Das Capital hat sich eben nur angehäuft, es ist nicht auf Ein Mal vom Himmel ge- fallen. Es giebt übrigens auch anderwärts solche schein- bare Inspiration, zum Beispiel im Bereiche der Güte, der Tugend, des Lasters.

157-

Die Leiden des Genius und ihr Werth. Der künstlerische Genius will Freude machen , aber wenn er auf einer sehr hohen Stufe steht, so fehlen ihm leicht die Geniessenden; er bietet Speisen, aber man will sie nicht. Das giebt ihm ein unter Umständen lächerlich - rührendes Pathos; denn im Grunde hat er kein Recht, die Menschen zum Vergnügen zu zwingen. Seine Pfeife tönt, aber Niemand will tanzen: kann das tragisch sein? Vielleicht doch. Zuletzt hat er als Compensation für diese Entbehrung mehr Vergnügen beim Schaffen, als die übrigen Menschen bei allen andern Gattungen der Thätigkeit haben. Man empfindet seine Leiden übertrieben, weü der Ton seiner Klage lauter, sein Mund beredter ist; und mitunter sind seine Leiden wirklich sehr gross, aber nur desshalb, weil sein Ehr- geiz, sein Neid so gross i-st. Der wissende Genius, wie Kepler und Spinoza, ist für gewöhnlich nicht so begehr- lich und macht von seinen wirklich grösseren Leiden und Entbehrungen kein solches Aufheben. Er darf mit grösserer Sicherheit auf die Nachwelt rechnen und sich der Gegenwart entschlagen; während ein Künstler, der diess thut, immer ein verzweifeltes Spiel spielt, bei dem ihm wehe um's Herz werden muss. In ganz seltenen

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Fällen dann, wenn im selben Individuum der Genius des Könnens und des Erkennens und der moralische Genius sich verschmelzen kommt zu den erwähnten Schmerzen noch die Gattung von Schmerzen hinzu, welche als die absonderlichsten Ausnahmen in der Welt zu nehmen sind: die ausser- und überpersönlichen, einem Volke, der Menschheit, der gesammten Cultur, allem leidenden Dasein zugewandten Empfindungen: welche ihren Werth durch die Verbindung mit besonders schwie- rigen und entlegenen Erkenntnissen erlangen (Mitleid an sich hat wenig Werth). Aber welchen Maassstab, welche Goldwage giebt es für deren Ächtheit? Ist es nicht fast geboten, misstrauisch gegen Alle zu sein, welche von Empfindungen dieser Art bei sich reden?

158- Verhängniss der Grösse. Jeder grossen Erscheinung folgt die Entartung nach, namentlich im Bereiche der Kunst. Das Vorbild des Grossen reizt die eitleren Naturen zum äusserlichen Nachmachen oder zum Überbieten; dazu haben alle grossen Begabungen das Verhängniss volle an sich, viele schwächere Kräfte und Keime zu erdrücken und um sich herum gleichsam die Natur zu veröden. Der glücklichste Fall in der Ent- wicklung einer Kunst ist der, dass mehrere Genie's sich gegenseitig in Schranken halten; bei diesem Kampfe wird gewöhnlich den schwächeren und zarteren Naturen auch Luft und Licht gegönnt _

159- Die Kunst dem Künstler gefährlich. Wenn die Kunst ein Individuum gewaltig ergreift, dann zieht

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es dasselbe zu Anschauungen solcher Zeiten zurück, wo die Kunst am kräftigsten blühte, sie wirkt dann zurück- bildend. Der Künstler kommt immer mehr in eine Verehrung der plötzlichen Erregungen, glaubt an Götter und Dämonen, durchseelt die Natur, hasst die Wissen- schaft, wird wechselnd in seinen Stimmungen wie die Menschen des Alterthums und begehrt einen Umsturz aller Verhältnisse, welche der Kunst nicht günstig sind, und zwar diess mit der Heftigkeit und Unbilligkeit eines Kindes. An sich ist nun der Künstler schon ein zurückbleibendes Wesen, weil er beim Spiel stehen bleibt, welches zur Jugend und Kindheit gehört: dazu kommt noch, dass er allmählich in andere Zeiten zurückgebildet wird. So entsteht zuletzt ein heftiger Antagonismus zwischen ihm und den gleichalterigen Menschen seiner Periode und ein trübes Ende; so wie, nach den Erzäh- lungen der Alten , Homer und Äschylus in Melancholie zuletzt lebten und starben.

1 60.

Geschaffene Menschen. Wenn man sagt, der Dramatiker (und der Künstler überhaupt) schaffe -wirk- lich Charaktere, so ist diess eine schöne Täuschung und Übertreibung, in deren Dasein und Verbreitung die Kunst einen ihrer ungewollten, gleichsam überschüssigen Triumphe feiert In der That verstehen wir von einem wirklichen lebendigen Menschen nicht viel und gene- ralisiren sehr oberflächKch, wenn wir ihm diesen und jenen Charakter zuschreiben: dieser unsrer sehr un- vollkommenen Stellung zum Menschen entspricht nun der Dichter, indem er ebenso oberflächliche Ent- würfe zu Menschen macht (in diesem Sinne „schafft").

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als unsere Erkenntniss der Menschen oberflächlich ist. Es ist viel Blendwerk bei diesen geschaffenen Charak- teren der Künstler; es sind durchaus keine leibhaftigen Naturproducte , sondern ähnlich wie die gemalten Men- schen ein wenig allzu dünn, sie vertragen den Anblick aus der Nähe nicht. Gar wenn man sagt, der Charakter des gewöhnlichen lebendigen Menschen widerspreche sich häufig, der vom Dramatiker geschaffene sei das Urbild, welches der Natur vorgeschwebt habe, so ist diess ganz falsch. Ein wirklicher ISIensch ist etwas ganz und gar Noth wendiges (selbst in jenen sogenannten Widersprüchen), aber wir erkennen diese Nothwendigkeit nicht immer. Der erdichtete Mensch, das Phantasma, will etwas Nothwendiges bedeuten, doch nur vor Solchen, welche auch einen wirklichen Menschen nur in einer rohen, unnatürlichen Simplification verstehen: so dass ein paar starke, oft wiederholte Züge, mit sehr viel Licht darauf und sehr viel Schatten und Halbdunkel herum, ihren Ansprüchen vollständig genügen. Sie sind also leicht bereit, das Phantasma als wirkHchen, nothwendigen Menschen zu behandeln, weil sie gewöhnt sind, beim wirkHchen Menschen ein Phantasma, einen Schattenriss, eine willkürliche Abbreviatur für das Ganze zu nehmen. Dass gar der Maler und der Bildhauer die „Idee" des Menschen ausdrücke, ist eitel Phantasterei und Sinnen- trug: man wird vom Auge tyrannisirt, wenn man so etwas sagt, da dieses vom menschlichen Leibe selbst nur die Oberfläche, die Haut sieht; der innere Leib ge- hört aber eben so sehr zur Idee. Die bildende Kunst will Charaktere auf der Haut sichtbar werden lassen; die redende Kunst nimmt das Wort zu demselben Zwecke, sie bildet den Charakter im Laute ab. Die Kunst geht von der natürlichen Unwissenheit des Menschen über

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sein Innres (in Leib und Charakter) aus: sie ist nicht für Physiker und Philosophen da.

i6i.

Selbstüberschätzung im Glauben an Künstler und Philosophen. Wir Alle meinen, es sei die Güte eines Kunstwerks, eines Künstlers bewiesen, wenn er uns ergreift, erschüttert. Aber da müsste doch erst unsre eigne Güte in Urtheil und Empfindung bewiesen sein: was nicht der Fall ist. Wer hat mehr im Reiche der bildenden Kunst ergriffen und entzückt als Bernini, wer mächtiger gewirkt als jener nachdemo- sthenische Rhetor, welcher den asianischen Stil einführte und durch zwei Jahrhunderte zur Herrschaft brachte? Diese Herrschaft über ganze Jahrhunderte beweist Nichts für die Güte und dauernde Gültigkeit eines Stils; dess- halb soll man nicht zu sicher in seinem guten Glauben an irgend einen Künstler sein: ein solcher ist ja nicht nur der Glaube an die Wahrhaftigkeit unserer Empfin- dung, sondern auch an die Unfehlbarkeit unseres Urtheils, während Urtheil oder Empfindung oder beides selber zu grob oder zu fein geartet, überspannt oder roh sein können. Auch die Segnungen und Beseligungen einer Philosophie, einer Religion beweisen für ihre Wahrheit nichts: ebensowenig als 'das Glück, welches der Irr- sinnige von seiner fixen Idee her geniesst, etwas für die Vemünftigkeit dieser Idee beweist

162.

Cultus des Genius aus Eitelkeit. Weil wir gut von uns denken, aber doch durchaus nicht von uns

169

erwarten, dass wir je den Entwurf eines RafFaelischen Gemäldes oder eine solche Scene wie die eines Shake- speare'schen Drama's machen könnten, reden wir uns ein, das Vermögen dazu sei ganz übermässig wunderbar, ein ganz seltner Zufall oder, wenn wir noch religiös eth- pfinden, eine Begnadigung von Oben. So fördert unsere Eitelkeit, unsere Selbstliebe den Cultus des Genius: denn nur wenn dieser ganz fem von uns gedacht ist, als ein finraculum, verletzt er nicht (selbst Goethe, der Neidlose, nannte Shakespeare seinen Stern der fernsten Höhe; wobei man sich jenes Verses erinnern mag: „die Sterne die begehrt man nicht"). Aber von jenen Einflüsterungen unserer Eitelkeit abgesehen, so erscheint die Thätigkeit des Genie's durchaus nicht als etwas Grundverschiedenes von der Thätigkeit des mechanischen Erfinders, des astro- nomischen oder historischen Gelehrten, des Meisters der Taktik. Alle diese Thätigkeiten erklären sich, wenn man sich Menschen vergegenwärtigt, deren Denken in Einer Richtung thätig ist, die Alles als Stoff benützen, die immer ihrem inneren Leben und dem Anderer mit Eifer zusehen, die überall Vorbilder Anreizungen er- blicken, die in der Combination ihrer Mittel nicht müde werden. Das Genie thut auch nichts, als dass es erst Steine setzen, dann bauen lernt, dass es immer nach Stoff sucht und immer an ihm herumformt. Jede Thätig- keit des Menschen ist zum Verwundem complicirt, nicht nur die des Genie's: aber keine ist ein „Wunder". Woher nun der Glaube, dass es allein beim Künstler Redner und Philosophen Genie gäbe? dass nur sie „In- tuition" haben? (womit man ihnen eine Art von Wunder- Augenglas zuschreibt, mit dem sie direct in's „Wesen" sehen!) Die Menschen sprechen ersichtlich dort allein von Genius, wo ihnen die Wirkungen des grossen In-

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tellects am angenehmsten sind und sie wiederum nicht Neid empfinden wollen. Jemanden „göttlich" nennen heisst: „hier brauchen wir nicht zu wetteifern". Sodann: alles Fertige Vollkommene wird angestaunt, alles Wer- dende unterschätzt. Nun kann Niemand beim Werk des Künstlers zusehen, wie es geworden ist; das ist sein Vortheil, denn überall, wo man das Werden sehen kann, wird man etwas abgekühlt. Die vollendete Kunst der Darstellung weist alles Denken an das Werden ab; es tyrannisirt als gegenwärtige Vollkommenheit. Dess- halb gelten die Künstler der Darstellung vornehmlich als genial, nicht aber die wissenschaftlichen Menschen. In Wahrheit ist jene Schätzung und diese Unterschätzung nur eine Kinderei der Vernunft.

163.

Der Ernst des Handwerks. Redet nur nicht von Begabung, angeborenen Talenten! Es sind grosse Männer aller Art zu nennen, welche wenig begabt waren. Aber sie bekamen Grösse, wurden „Genies" (wie man sagt), durch Eigenschaften, von deren Mangel Niemand gern redet, der sich ihrer bewusst ist: sie hatten Alle jenen tüchtigen Handwerker-Ernst, welcher erst lernt, die Theile vollkommen zu bilden, bis er es wagt, ein grosses Ganzes zu machen ; sie gaben sich Zeit dazu, weil sie mehr Lust am Gutmachen des Kleinen, Nebensächlichen hatten als an dem Effecte eines blendenden Ganzen. Das Re- cept zum Beispiel, wie Einer ein guter Novellist werden kann, ist leicht zu geben, aber die Ausfuhrung setzt Eigenschaften voraus, über die man hinwegzusehen pflegt, wenn man sagt „ich habe nicht genug Talent". Man mache nur hundert und mehr Entwürfe zu Novellen,

lyi

keinen länger als zwei Seiten, doch von solcher Deutlich- keit, dass jedes Wort darin nothwendig ist; man schreibe täglich Anekdoten nieder, bis man es lernt, ihre präg- nanteste, wirkungsvollste Form zu finden; man sei uner- müdlich im Sammeln und Ausmalen menschlicher Typen und Charaktere; man erzähle vor Allem so oft es möglich ist und höre erzählen, mit scharfem Auge und Ohr für die Wirkung auf die anderen Anwesenden; man reise wie ein Landschaftsmaler und Costümzeichner; man ex- cerpire sich aus einzelnen Wissenschaften alles Das, was künstlerische Wirkungen macht, wenn es gut dargestellt wird; man denke endlich über die Motive der mensch- lichen Handlungen nach, verschmähe keinen Fingerzeig der Belehrung hierüber und sei ein Sammler von der- gleichen Dingen bei Tag und Nacht. In dieser mannich- fachen Übung lasse man einige zehn Jahre vorübergehen: was dann aber in der Werkstätte geschaffen wird, darf auch hinaus in das Licht der Strasse. Wie machen es dagegen die Meisten? Sie fangen nicht mit dem Theile, sondern mit dem Ganzen an. Sie thun vielleicht einmal einen gnten Griff, erregen Aufmerksamkeit und thun von da an immer schlechtere Griffe, aus guten natürlichen Gründen. Mitunter, wenn Vernunft und Charakter fehlen, um einen solchen künstlerischen Lebensplan zu gestalten, übernimmt das Schicksal und die Noth die Stelle derselben und führt den zukünftigen Meister schrittweise durch alle Bedingungen seines Handwerks.

164.

Gefahr und Gewinn im Cultus des Genius. Der Glaube an grosse, überlegene, fruchtbare Geister ist nicht nothwendig, aber sehr häufig noch mit jenem ^kt\z-

172

oder halbreligiösen Aberglauben verbunden, dass jene Geister übermenschlichen Ursprungs seien und gewisse wunderbare Vermögen besässen, vermittelst deren sie ihrer Erkenntnisse auf ganz anderem Wege theilhaftig würden als die übrigen Menschen. Man schreibt ihnen wohl einen unmitttelbaren Bhck in das Wesen der Welt, gleichsam durch ein Loch im Mantel der Erscheinung, zu und glaubt, dass sie ohne die Mühsal und Strenge der Wissenschaft, vermöge dieses wunderbaren Seherblickes, etwas Endgültiges und Entscheidendes über Mensch und Welt mittheilen könnten. So lange das Wunder im Bereiche der Erkenntniss noch Gläubige findet, kann man vielleicht zugeben, dass dabei für die Gläubigen selber ein Nutzen herauskomme, insofern diese, durch ihre unbedingte Unterordnung unter die grossen Geister, ihrem eigenen Geiste für die Zeit der Entwickelung die beste Disciplin und Schule verschaffen. Dagegen ist mindestens fraglich, ob der Aberglaube vom Genie, von seinen Vorrechten und Sondervermögen für das Genie selber von Nutzen sei, wenn er in ihm sich einwurzelt Es ist jedenfalls ein gefährliches Anzeichen, wenn den Menschen jener Schauder vor sich selbst überfällt, sei es nun jener berühmte Cäsaren -Schauder oder der hier in Betracht kommende Genie-Schauder; wenn der Opfer- duft, welchen man billigerweise allein einem Gotte bringt, dem Genie in's Gehirn dringt, so dass er zu schwanken und sich für etwas Übermenschliches zu halten beginnt. Die langsamen Folgen sind: das Gefühl der Unverant- wortlichkeit, der exceptionellen Rechte, der Glaube, schon durch seinen Umgang zu begnadigen, wahnsinnige Wuth bei dem Versuche, ihn mit Anderen zu vergleichen oder gar ihn niedriger zu taxiren, das Verfehlte seines Werkes in's Licht zu setzen. Dadurch dass er aufhört.

173

Kritik gegen sich selbst zu üben, fällt zuletzt aus seinem Gefieder eine der Schwungfedern nach der anderen aus: jener Aberglaube gräbt die Wurzeln seiner Kraft an und macht ihn vielleicht gar zum Heuchler, nachdem seine Kraft von ihm gewichen ist. Für grosse Geister selbst ist es also wahrscheinlich nützlicher, wenn sie über ihre Kraft und deren Herkunft zur Einsicht kommen, wenn sie also begreifen, welche rein menschlichen Eigen- schaften in ihnen zusammengeflossen sind, welche Glücks- umstände hinzutraten: also einmal anhaltende Energfie, entschlossene Hinwendung zu einzelnen Zielen, grosser persönlicher Muth, sodann das Glück einer Erziehung, welche die besten Lehrer Vorbilder Methoden frühzeitig darbot. Freilich, wenn ihr Ziel ist, die grösstmögliche Wirkung zu machen, so hat die Unklarheit über sich selbst und jene Beigabe eines halben Wahnsinns immer viel gethan; denn bewundert und beneidet hat man zu allen Zeiten gerade jene Kraft an ihnen, vermöge deren sie die Menschen willenlos machen und zum Wahne fort- reissen, dass übernatürliche Führer vor ihnen her giengen. Ja, es erhebt und begeistert die Menschen, Jemanden im Besitz übernatürlicher Kräfte zu glauben: insofern hat der Wahnsinn, wie Plato sagt, die grössten Segnungen über die Menschen gebracht. In einzelnen seltenen Fällen mag dieses Stück Wahnsinn wohl auch das Mittel gewesen sein, durch welches eine solche nach allen Seiten hin excessive Natur fest zusammengehalten wurde: auch im Leben der Individuen haben die Wahnvorstellungen häufig den Werth von Heilmitteln, welche an sich Gifte sind; doch zeigt sich endlich, bei jedem „Genie", das an seine Göttlichkeit glaubt, das Gift in dem Grade, als das „Genie" alt wird: man möge sich zum Beispiel Napoleon's erinnern, dessen Wesen sicherlich gerade durch seinen

174

Glauben an sich und seinen Stern und durch die aus ihm fliessende Verachtung der Menschen zu der mäch- tigen Einheit zusammenwuchs, welche ihn aus allen modernen Menschen heraushebt, bis endlich aber dieser selbe Glaube in einen fast wahnsinnigen Fatalismus über- gieng, ihn seines Schnell- und Scharfblicks beraubte und die Ursache seines Unterganges wurde.

165.

Das Genie und das Nichtige. Gerade die originellen, aus sich schöpfenden Köpfe unter den Künstlern können unter Umständen das ganz Leere und Schaalehervorbringen,während die abhängigeren Naturen, die sogenannten Talente, voller Erinnerungen an alles mögliche Gute stecken und auch im Zustand der Schwäche etwas Leidliches produciren. Sind die Originellen aber von sich selber verlassen, so giebt die Erinnerung ihnen keine Hülfe: sie werden leer.

166.

Das Publicum. Von der Tragödie begehrt das Volk eigentlich nicht mehr, als recht gerührt zu werden, um sich einmal ausweinen zu können ; der Artist dagegen, der die neue Tragödie -sieht, hat seine Freude an den geistreichen technischen Erfindungen und Kunstgriffen, an der Handhabung und Vertheilung des Stoffes, an der neuen Wendung alter Motive, alter Gedanken. Seine Stellung ist die ästhetische Stellung zum Kunstwerk, die des Schaffenden; die erstbeschriebene, mit alleiniger Rücksicht auf den Stoff, die des Volkes. Von dem Menschen dazwischen ist nicht zu reden, er ist weder

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Volk noch Artist und weiss nicht, was er will: so ist auch seine Freude unklar und gering.

167.

Artistische Erziehung des Publicums. Wenn dasselbe Motiv nicht hundertfältig durch verschiedene Meister behandelt wird, lernt das Publicum nicht über das Interesse am Stofif hinauskommen; aber zuletzt wird es selbst die Nuancen, die zarten neuen Erfindungen in der Behandlung dieses Motivs fassen und geniessert, wenn es also das Motiv längst aus zahlreichen Be- arbeitungen kennt und dabei keinen Reiz der Neuheit, der Spannung mehr empfindet

Der Künstler und sein Gefolge müssen Schritt halten. Der Fortgang von einer Stufe des Stils zur anderen muss so langsam sein, dass nicht nur die Künstler, sondern auch die Zuhörer und Zuschauer ihn mitmachen und genau wissen, was vorgeht. Sonst ent- steht auf einmal jene grosse Kluft zwischen dem Künstler, der auf abgelegener Höhe seine Werke schafft, und dem Publicum, welches nicht mehr zu jener Höhe hinaufkann und endlich missmuthig wieder tiefer hinabsteigt. Denn wenn der Künstler sein Publicum nicht mehr hebt, so sinkt es schnell abwärts, und zwar stürzt es um so tiefer und gefährlicher, je höher es ein Genius getragen hat, dem Adler vergleichbar, aus dessen Fängen die in die Wolken hinaufgetragene Schildkröte zu ilirem Unheil hin abfällt

176

lög.

Herkunft des Komischen. Wenn man erwägt, dass der Mensch manche hunderttausend Jahre lang ein im höchsten Grade der Furcht zugängliches Thier war, und dass alles Plötzliche Unerwartete ihn kampfbereit, vielleicht todesbereit sein hiess, ja dass selbst später, in socialen Verhältnissen, alle Sicherheit auf dem Erwarteten, auf dem Herkommen in Meinung und Thätigkeit beruhte, so darf man sich nicht wundern, dass bei allem Plötz- lichen Unerwarteten, in Wort und That, wenn es ohne Gefahr und Schaden hereinbricht, der Mensch ausgelassen wird, in's Gegentheil der Furcht übergeht: das vor Angst zitternde zusammengekrümmte Wesen schnellt empor, entfaltet sich weit der Mensch lacht. Diesen Über- gang aus momentaner Angst in kurzdauernden Über- muth nennt man das Komische. Dagegen geht im Phänomen des Tragischen der Mensch schnell aus grossem, dauerndem Übermuth in grosse Angst über; da aber unter Sterblichen der grosse dauernde Übermuth viel seltener als der Anlass zur Angst ist, so giebt es viel mehr des Komischen als des Tragischen in der Welt; man lacht viel öfter, als dass maii erschüttert ist

170.

Künstler-Ehrgeiz. Die griechischen Künstler, zum Beispiel die Tragiker, dichteten, um zu siegen ; ihre ganze Kunst ist nicht ohne Wettkampf zu denken: die hesiodische gute Eris, der Ehrgeiz, gab ihrem Genius die Flügel. Nun verlangte dieser Ehrgeiz vor Allem, dass ihr Werk die höchste Vortrefiflichkeit vor ihren eigenen Augen erhalte, sowie sie also die Vortrefflich-

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keit verstanden, ohne Rücksicht auf einen herrschenden Geschmack und die allgemeine Meinung über das Vor- trefFHche an einem Kunstwerk; und so blieben Aschylus und Euripides lange Zeit ohne Erfolg, bis sie sich endlich Kunstrichter erzogen hatten, welche ihr Werk nach den Maassstäben würdigten, welche sie selber anlegten. So- mit erstreben sie den Sieg über Nebenbuhler nach ihrer eigenen Schätzung, vor ihrem eigenen Richterstuhl, sie wollen wirkhch vortrefflicher sein; dann fordern sie von Aussen her Zustimmung zu dieser eignen Schätzung, Bestätigung ihres Urtheils. Ehre erstreben heisst hier „sich überlegen machen und wünschen, dass es auch öffentlich so erscheine". Fehlt das Erstere und wird das Zweite trotzdem begehrt, so spricht man von Eitelkeit. Fehlt das Letztere und wird es nicht vermisst, so redet man von Stolz.

171.

Das Nothwendige am Kunstwerk. Die, welche so viel von dem Nothwendigen an einem Kunst- werke reden, übertreiben, wenn sie Künstler sind, in majorem artts gloriain, oder wenn sie Laien sind, aus Unkenntniss. Die Formen eines Kunstwerks, welche seine Gedanken zum Reden bringen, also seine Art zu sprechen sind, haben immer etwas Lässliches, wie alle Art Sprache. Der Bildhauer kann viele kleine Züge hinzuthun oder weglassen: ebenso der Darsteller, sei es ein Schauspieler oder, in Betreff der Musik, ein Virtuos oder Dirigent. Diese vielen kleinen Züge und Ausfeilungen machen üim heut Vergnügen, morgen nicht, sie sind mehr des Künstlers als der Kunst wegen da, denn auch er bedarf, bei der Strenge und Selbstbezwingung, welche die Darstellung des Hauptgedankens von ihm fordert,

Nietzsche, Werke Band 11. 12

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gelegentlich des Zuckerbrods und der Spielsachen, um nicht mürrisch zu werden.

172.

Den Meister vergessen machen. Der Ciavier- spieler, der das Werk eines Meisters zum Vortrag bringt, wird am besten gespielt haben, wenn er den Meister vergessen Hess und wenn es so erschien, als ob er eine Geschichte seines Lebens erzähle oder jetzt eben Etwas erlebe. Freilich: wenn er nichts Bedeutendes ist, wird Jedermann seine Geschwätzigkeit verwünschen, mit der er uns aus seinem Leben erzählt. Also muss er verstehen, die Phantasie des Hörers für sich einzunehmen. Daraus wiederum erklären sich alle Schwächen und Narrheiten des „Virtuosenthums".

173- Corriger la fortune. Es giebt schlimme Zu- fälligkeiten im Leben grosser Künstler, welche zum Beispiel den Maler zwingen, sein bedeutendstes Bild nur als flüchtigen Gedanken zu skizziren oder zum Beispiel Beethoven zwangen, uns in manchen grossen Sonaten (wie in der grossen B-dur) nur den ungenügenden Ciavier- auszug einer Symphonie zu hinterlassen. Hier soll der späterkommende Künstler das Leben der Grossen nach- träglich zu corrigiren suchen: was zum Beispiel Der thun würde, welcher, als ein Meister aller Orchester Wirkungen, uns jene, dem Ciavier - Schein tode verfallne Symphonie zum Leben erweckte.

174. Verkleinern. Manche Dinge, Ereignisse oder Personen vertragen es nicht, im kleinen Maassstabe

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behandelt zu werden. Man kann die Laokoon - Gruppe nicht zu einer Nippesfigur verkleinern; sie hat Grösse nothwendig. Aber viel seltener ist es, dass etwas von Natur Kleines die Vergrösserung verträgt; wesshalb es Biographen immer noch eher gelingen wird, einen grossen Mann klein darzustellen, als einen kleinen gross.

175- Sinnlichkeit in der Kunst der Gegenwart. Die Künstler verrechnen sich jetzt häufig, wenn sie auf eine sinnliche Wirkung ihrer Kunstwerke hinarbeiten; denn ihre Zuschauer oder Zuhörer haben nicht mehr ihre vollen Sinne und gerathen, ganz wider die Absicht des Künstlers , durch sein Kunstwerk in eine „Heiligkeit" der Empfindung, welche der Langweiligkeit nahe ver- wandt ist. Ihre Sinnlichkeit fängt vielleicht dort an, wo die des Künstlers gerade aufhört, sie begegnen sich also höchstens an Einem Punkte.

176. Shakespeare als Moralist. Shakespeare hat über die Leidenschafl;en viel nachgedacht und wohl von seinem Temperamente her zu vielen einen sehr nahen Zugang gehabt (Dramatiker sind im Allgemeinen ziemlich böse Menschen). Aber er vermochte nicht, wie Montaigne, darüber zu reden, sondern legte die Beobachtungen über die Passionen den passionirten Figuren in den Mund: was zwar wider die Natur ist, aber seine Dramen so gedankenvoll macht, dass sie alle anderen leer erscheinen lassen und leicht einen allgemeinen Widerwillen gegen sie erwecken. Die Sentenzen Schiller's (welchen fast immer falsche oder unbedeutende Einfälle zu Grunde

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liegen) sind eben Theatersentenzen und wirken als solche sehr stark: während die Sentenzen Shakespeare's seinem Vorbilde Montaigne Ehre machen und ganz ernsthafte Gedanken in geschliffener Form enthalten, desshalb aber für die Augen des Theaterpublicums zu fem und zu fein, also unwirksam sind,

177- Sich gut zu Gehör bringen. Man muss nicht nur verstehen gut zu spielen, sondern auch sich gut zu Gehör zu bringen. Die Geige in der Hand des grössten Tileisters giebt nur ein Gezirp von sich, wenn der Raum zu gross ist ; man kann da den Meister mit jedem Stümper verwechseln.

178. Das Unvollständige als das Wirksame. Wie Relieffiguren dadurch so stark auf die Phantasie wirken, dass sie gleichsam auf dem Wege sind, aus der Wand herauszutreten und plötzlich, irgendwodurch ge- hemmt, Halt machen: so ist mitunter die reliefartig un- vollständige Darstellung eines Gedankens, einer ganzen Philosophie wirksamer als die erschöpfende Ausführung: man überlässt der Arbeit des Beschauers mehr, er wird aufgeregt. Das was in so starkem Licht und Dunkel vor ihm sich abhebt, fortzubilden, zu Ende zu denken und jenes Hemmnis selber zu überwinden, welches ihrem völligen Heraustreten bis dahin hinderlich war.

179. Gegen die Originalen. Wenn die Kunst sich in den abgetragensten Stoff kleidet, erkennt man sie am besten als Kunst

Ibl

i8o.

Collectivgeist. Ein guter Schriftsteller hat nicht nur seinen eignen Geist, sondern auch noch den Geist seiner Freunde.

i8i.

Zweierlei Verkenn ung. Das Unglück scharf- sinniger und klarer Schriftsteller ist, dass man sie für flach nimmt und desshalb ihnen keine Mühe zuwendet: und das Glück der unklaren, dass der Leser sich an ihnen abmüht und die Freude über seinen Eifer ihnen zu Gute sclireibt.

182.

Verhältniss zur Wissenschaft. Alle Die haben kein wirkliches Interesse an einer Wissenschaft, welche erst dann anfangen für sie warm zu werden, wenn sie selbst Entdeckungen in ihr gemacht haben.

183.

Der Schlüssel. Der Eine Gedanke, auf den ein bedeutender Mensch, zum Gelächter und Spott der Un- bedeutenden, grossen Werth legt, ist für ihn ein Schlüssel zu verborgenen Schatzkammern, für jene nicht mehr als ein Stück alten Eisens.

184.

Unübersetzbar. Es ist weder das Beste, noch das Schlechteste an einem Buche, was an ihm unüber- setzbar ist.

l82 --

185.

Paradoxien des Autors. Die sogenannten

Paradoxien des Autors, an welchen ein Leser Anstoss

nimmt, stehen häufig gar nicht im Buche des Autors,

sondern im Kopfe des Lesers.

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186.

Wi t z. Die witzigsten Autoren erzeugen das kaum bemerkbare Lächeln.

187.

Die Antithese. Die Antithese ist die enge Pforte, durch welche sich am liebsten der Irrthum zur Wahrheit schleicht

Denker als Stilisten. Die meisten Denker schreiben schlecht, weil sie uns nicht nur ihre Gredanken, sondern auch das Denken der Gedanken mittheilen.

189.

Gedanken im Gedicht. Der Dichter führt seine Gedanken festlich . daher, auf dem Wagen des Rhythmus: gewöhnhch desshalb, weil diese zu Fuss nicht gehen können.

190.

Sünde wider den Geist des Lesers. Wenn der Autor sein Talent verleugnet, bloss um sich dem Leser gleich zu stellen, so begeht er die einzige Todsünde, welche ihm Jener nie verzeiht: falls er nämlich etwas

davon merkt. Man darf dem Menschen sonst alles Böse nachsagen: aber in der Art, wie man es sag^, muss man seine Eitelkeit wieder aufzurichten wissen.

191.

Grenze der Ehrlichkeit. Auch dem ehrlich- sten Schriftsteller entfällt ein Wort zu viel, wenn er eine Periode abrunden will.

192.

Der beste Autor. Der beste Autor wird der sein, welcher sich schämt, Schriftsteller zu werden.

193. Drakonisches Gesetz gegen Schriftsteller. Man sollte einen Schriftsteller als einen Missethäter ansehen, der nur in den seltensten Fällen Freisprechung oder Begnadigung verdient: das wäre ein Mittel gegen das Überhandnehmen der Bücher.

194. Die Narren der modernen Cultur. Die Narren der mittelalterlichen Höfe entsprechen unsern Feuille- tonisten; es ist dieselbe Gattung Menschen, halbvernünftig, witzig, übertrieben, albern, mitunter nur dazu da, das Pathos der Stimmung durch Einfälle, durch Geschwätz zu mildern und den allzu schweren, feierlichen Glocken- klang grosser Ereignisse durch Geschrei zu übertäuben; ehemals im Dienste der Fürsten und Adligen, jetzt im Dienste von Parteien (wie in Partei -Sinn und Partei- Zucht ein guter Theil der alten Unterthänigkeit im Ver-

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kehr des Volks mit dem Fürsten jetzt noch fortlebt). Der ganze moderne Litteratenstand steht aber den Feuilletonisten sehr nahe, es sind die „Narren der mo- dernen Cultur", welche man milder beurtheilt, wenn man sie als nicht ganz zurechnungsfähig nimmt. Schrift- stellerei als Lebensberuf zu betrachten, sollte billiger- weise als eine Art Tollheit gelten.

195. Den Griechen nach. Der Erkenntniss steht es gegenwärtig sehr im Wege, dass alle Worte durch hundertjährige Übertreibung des Gefülils dunstig und aufgeblasen geworden sind. Die höhere Stufe der Cultur, welche sich unter die Herrschaft (wenn auch nicht unter die Tyrannei) der Erkenntniss stellt, hat eine grosse Er- nüchterung des Gefühls und eine starke Concentration aller Worte von Nöthen; worin uns die Griechen im Zeit- alter des Demosthenes vorangegangen sind. Das Über- spannte bezeichnet alle modernen Schriften; und selbst wenn sie einfach geschrieben sind, so werden die Worte in denselben noch zu excentrisch gefühlt. Strenge Überlegung, Gedrängtheit, Kälte, Schlichtheit, selbst ab- sichtlich bis an die Grenze hinab, überhaupt An -sich- halten des Gefühls und Schweigsamkeit das kann allein helfen. Übrigen» ist diese kalte Schreib- und Gefühlsart, als Gegensatz, jetzt sehr reizvoll: und darin liegt freilich eine neue Gefahr. Denn die scharfe Kälte ist so gut ein Reizmittel als ein hoher Wärmegrad.

196.

Gute Erzähler schlechte Erklärer. Bei guten Erzählern steht oft eine bewunderungswürdige psycho-

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logische Sicherheit und Consequenz, soweit diese in den Handlungen ihrer Personen hervortreten kann, in einem geradezu lächerlichen Gegensatz zu der Ungeübtheit ihres psychologischen Denkens: so dass ihre Cultur in dem einen Augenblicke ebenso ausgezeichnet hoch als im nächsten bedauerlich tief erscheint. Es kommt gar zu häufig vor, dass sie ihre eigenen Helden und deren Handlungen ersichtlich falsch erklären, es ist daran kein Zweifel, so unwahrscheinlich die Sache klingt. Viel- leicht hat der grösste Ciavierspieler nur wenig über die technischen Bedingungen und die specielle Tugend Un- tugend Nutzbarkeit und Erziehbarkeit jedes Fingers (daktylische Ethik) nachgedacht und macht grobe Fehler, wenn er von solchen Dingen redet.

197.

Die Schriften von Bekannten und ihre Leser. Wir lesen Schriften von Bekannten (Freunden und Feinden) doppelt , insofern fortwährend unsere Er- kenntniss daneben flüstert: „das ist von -ihm, ein Merkmal seines innerenWesens, seiner Erlebnisse, seiner Begabung", und wiederum eine andere Art Erkenntniss dabei fest- zustellen sucht, was der Ertrag jenes Werkes an sich ist, welche Schätzung es überhaupt, abgesehn von seinem Verfasser, verdient, welche Bereicherung des Wissens es mit sich bringt. Diese beiden Arten des Lesens und Erwägens stören sich, wie es sich von selbst versteht, gegenseitig. Auch eine Unterhaltung mit einem Freunde wird dann erst gute Früchte der Erkenntniss zeitigen, wenn Beide endUch nur noch an die Sache denken und vergessen, dass sie Freunde sind.

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198.

Rhythmische Opfer. Gute Schriftsteller ver- ändern den Rhythmus mancher Periode bloss desshalb, weil sie den gewöhnlichen Lesern nicht die Fähigkeit zuerkennen, den Tact, welchem die Periode in ihrer ersten Fassung folgte, zu begreifen: desshalb erleichtem sie es ihnen, indem sie bekannteren Rhythmen den Vor- zug geben. Diese Rücksicht auf das rhythmische Un- vermögen der jetzigen Leser hat schon manche Seufzer entlockt, denn ihr ist Viel schon zum Opfer gefallen. Ob es guten Musikern nicht ähnlich ergeht?

199.

Das Unvollständige als künstlerisches Reiz- mittel. — Das Unvollständige ist oft wirksamer als die Vollständigkeit, so namentlich in der Lobrede: für ihren Zweck braucht man gerade eine anreizende Unvoll- ständigkeit, als ein irrationales Element, welches der Phantasie des Hörers ein Meer vorspiegelt und gleich einem Nebel diei gegenüberliegende Küste also die Begrenztheit des zu lobenden Gegenstandes verdeckt. Wenn man die bekannten Verdienste eines Menschen erwähnt und dabei ausführlich und breit ist, so lässt diess immer den Arg-wohn aufkommen, es seien die einzigen Verdienste. Der vollständig Lobende stellt sich über den Gelobten, er scheint ihn zu übersehen. Desshalb wirkt das Vollständige abschwächend.

200.

Vorsicht im Schreiben und Lehren. Wer erst geschrieben hat und die Leidenschaft des Schreibens

- i87 -

in sich fühlt, lernt fast aus Allem, was er treibt und erlebt, nur Das noch heraus, was schriftstellerisch mit- theilbar ist. Er denkt nicht mehr an sich, sondern an den Schriftsteller und sein Publicum: er will die Einsicht, aber nicht zum eigenen Gebrauche. Wer Lehrer ist, ist meistens unfähig, etwas Eigenes noch für sein eigenes Wohl zu treiben, er denkt immer an das Wohl seiner Schüler, und jede Erkenntniss erfreut ihn nur, so weit er sie lehren kann. Er betrachtet sich zuletzt als einen Durchweg des Wissens und überhaupt als Mittel, so dass er den Ernst für sich verloren hat.

20T.

Schlechte Schrift steller noth wendig. Es wird immer schlechte Schriftsteller geben müssen, denn sie entsprechen dem Geschmack der unentwickelten unreifen Altersclassen ; diese haben so gut ihr Bedürfniss wie die reifen. Wäre das menschliche Leben länger, so würde die Zahl der reif gewordenen Individuen über- wiegend oder mindestens gleich gross mit der der un- reifen sein ; so aber sterben bei weitem die Meisten zu jung, das heisst es giebt immer viel mehr unent- wickelte Intellecte mit schlechtem Geschmack. Diese begehren überdiess mit der grösseren Heftigkeit der Jugend nach Befriedigung ihres Bedürfnisses: und sie erzwingen sich schlechte Autoren.

202.

Zu nah und zu fern. Der Leser und der Autor verstehen sich häufig desshalb nicht, weil der Autor sein Thema zu gut kennt und es beinahe langweilig findet,

so dass er sich die Beispiele erlässt, die er zu Hunderten weiss; der Leser aber ist der Sache fremd und findet sie leicht schlecht begründet, wenn ihm die Beispiele vorenthalten werden.

203.

Eine verschwundene Vorbereitung- zur Kunst. An Allem, was das Gymnasium trieb, war das Werth- vollste die Übung im lateinischen Stil: diese war eben eine Kunstübung, während alle andren Beschäftigungen nur das Wissen zum Zweck hatten. Den deutschen Aufsatz voranzustellen ist Barbarei : denn wir haben keinen mustergültigen , an öfFentUcher Beredsamkeit emporgewachsenen deutschen Stil; will man aber durch den deutschen Aufsatz die Übung im Denken fördern, so ist es gewiss besser, wenn man einstweilen von Stil dabei überhaupt absieht, also zwischen der Übung im Denken und der im Darstellen scheidet. Letztere sollte sich auf mannichfache Fassung eines gegebenen Inhalts beziehen und nicht auf selbständiges Erfinden eines Inhalts. Die blosse Darstellung bei gegebenem Inhalte war die Aufgabe des lateinischen Stils, für welchen die alten Lehrer eine längst verloren gegangene Feinheit des Gehörs besassen. Wer ehemals gut in einer mo- dernen Sprache schreiben, lernte, verdankte es dieser Übung (jetzt muss man sich nothgedrungen zu den älteren Franzosen in die Schule schicken). Aber noch mehr: er bekam einen Begriff von der Hoheit und Schwierigkeit der Form überhaupt und wurde für die Kunst auf dem einzig richtigen Wege vorbereitet, durch Praxis.

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204.

Dunkles und Überhelles neben einander.-- Schriftsteller, welche im Allgemeinen ihren Gedanken keine Deutlichkeit zu geben verstehen, werden im Ein- zelnen mit Vorliebe die stärksten übertriebensten Be- zeichnungen und Superlative wählen: dadurch entsteht eine Lichtwirkung, wie bei Fackelbeleuchtung auf ver- worrenen Waldwegen.

205.

Schriftstellerisches Malerthum. Einen be- deutenden Gegenstand wird man am besten darstellen, wenn man die Farben zum Gemälde aus dem Gegen- stande selber wie ein Chemiker nimmt und sie dann wie ein Artist verbraucht: so dass man die Zeichnung aus den Grenzen und Übergängen der Farben erwachsen lässt. So bekommt das Gemälde Etwas von dem hin- reissenden Naturelement, welches den Gegenstand selber bedeutend macht

206.

Bücher, welche tanzen lehren. Es giebt Schriftsteller, welche dadurch, dass sie Unmögliches als möglich darstellen und vom Sittlichen und Genialen so reden, als ob beides nur eine Laune, ein Belieben sei, ein Gefühl von übermüthiger Freiheit hervorbringen, wie wenn der Mensch sich auf die Fussspitzen stellte und vor innerer Lust durchaus tanzen müsste.

207.

Nicht fertig gewordene Gedanken. Ebenso wie nicht nur das Mannesalter, sondern auch Jugend und

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Kindheit einen Werth an sich haben und gar nicht nur als Durchgänge und Brücken zu schätzen sind, so haben auch die nicht fertig gewordenen Gedanken ihren Werth. Man muss desshalb einen Dichter nicht mit subtiler Auslegung quälen und sich an der Unsicherheit seines Horizontes vergnügen; wie als ob der Weg zu mehreren Gedanken noch offen sei. Man steht an der Schwelle; man wartet wie bei der Ausgrabung eines Schatzes: es ist als ob ein Glücksfund von Tiefsinn eben gemacht werden sollte. Der Dichter nimmt Etwas von der Lust des Denkers beim Finden eines Hauptgedankens vorweg und macht uns damit begehrlich, so dass wir nach diesem haschen : der aber gaukelt an unserem Kopf vorüber und zeigt die schönsten Schmetterlingsflügel und doch entschlüpft er uns.

208.

Das Buch fast zum Menschen geworden. Jeden Schriftsteller überrascht es von Neuem, wie das Buch, sobald es sich von ihm gelöst hat, ein eignes Leben für sich weiterlebt; es ist ihm zu Muthe, als wäre der eine Theil eines Insectes losgetrennt und gienge nun seinen eigenen Weg weiter. Vielleicht vergisst er es fast ganz, vielleicht erhebt er sich über die darin nieder- gelegten Ansichten, vielleicht selbst versteht er es nicht mehr und hat jene Schwingen verloren, auf denen er damals flog, als er jenes Buch aussann: währenddem sucht es sich seine Leser, entzündet Leben, beglückt, erschreckt, erzeugt neue Werke, wird die Seele von Vorsätzen und Handlungen kurz: es lebt wie ein mit Geist und Seele ausgestattetes Wesen und ist doch kein Mensch. Das glücklichste Los hat der Autor ge- zogen, welcher, als alter Mann, sagen kann, dass Alles,

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was von lebenzeugenden kräftigenden erhebenden auf- klärenden Gedanken und Gefühlen in ihm war, in seinen Schriften noch fortlebe, und dass er selber nur noch die graue Asche bedeute, während das Feuer überallhin gerettet und weiter getragen sei. Erwägt man nun gar, dass jede Handlung eines Menschen, nicht nur ein Buch, auf irgend eine Art Anlass zu anderen Handlungen Entschlüssen Gedanken wird, dass Alles, was geschieht, unlösbar fest sich mit Allem, was geschehen wird, ver- knotet, so erkennt man die wirkhche Unsterblichkeit, die es giebt, die der Bewegung: was einmal bewegt hat, ist in dem Gesammtverbande alles Seienden, wie in einem Bernsteine ein Insekt, eingeschlossen und verewigt.

209.

Freude im Alter. Der Denker und ebenso der Künstler, welcher sein besseres Selbst in Werke ge- flüchtet hat, empfindet eine fast boshafte Freude, wenn er sieht, wie sein Leib und Geist langsam von der Zeit angebrochen und zerstört werden, als ob er aus einem Winkel einen Dieb an seinem Geldschranke arbeiten sähe, während er weiss, dass dieser leer ist und alle Schätze gerettet sind.

210.

Ruhige Fruchtbarkeit. Die geborenen Aristo- kraten des Geistes sind nicht zu eifrig; ihre Schöpfungen erscheinen und fallen an einem ruhigen Herbstabend vom Baume, ohne hastig begehrt, gefördert, durch Neues verdräng^ zu werden. Das unablässige Schaffenwollen ist gemein und zeigt Eifersucht Neid Ehrgeiz an. Wenn man Etwas ist, so braucht man eigenthch Nichts

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zu machen und thut doch sehr Viel. Es giebt über dem „productiven" Menschen noch eine höhere Gattung.

21 I.

Achilles und Homer. Es ist immer wie zwischen Achilles und Homer: der Eine hat das Er- lebniss, die Empfindung, der Andre beschreibt sie. Ein wirklicher Schriftsteller giebt dem Affect und der Erfahrung Anderer nur Worte, er ist Künstler, um aus dem Wenigen, was er empfunden hat, Viel zu errathen. Künstler sind keineswegs die Menschen der grossen Leidenschaft, aber häufig geben sie sich als solche, in der unbewussten Empfindung, dass man ihrer gemalten Leidenschaft mehr traut, wenn ihr eignes Leben für ihre Erfahrung auf diesem Gebiete spricht Man braucht sich ja nur gehen zu lassen, sich nicht zu beherrschen, seinem Zorn, seiner Begierde offenen Spielraum zu gönnen: so- fort schreit alle Welt: wie leidenschaftlich ist er! Aber mit der tief wühlenden, das Individuum anzehrenden und oft verschlingenden Leidenschaft hat es etwas auf sich: wer sie erlebt, beschreibt sie gewiss nicht in Dramen, Tönen oder Romanen. Künstler sind häufig zügel- lose Individuen, soweit sie eben nicht Künstler sind: aber das ist etwas Anderes.

212.

Alte Zweifel über die Wirkung der Kunst. Sollten Mitleid und Furcht wirklich, wie Aristoteles will, durch die Tragödie entladen werden, so dass der Zuhörer kälter und ruhiger nach Hause zurückkehre? Sollten Geistergeschichten weniger furchtsam und abergläubisch

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machen? Es ist bei einigen physischen Vorgängen, zum Beispiel bei dem Liebesgenuss, wahr, dass mit der Be- friedigung eines Bedürfnisses eine Lindenmg und zeit- weilige Herabstimmung des Triebes eintritt. Aber die Furcht und das Mitleid sind nicht in diesem Sinne Be- dürfnisse bestimmter Organe, welche erleichtert werden wollen. Und auf die Dauer wird selbst jeder Trieb durch Übung in seiner Befriedigung gestärkt, trotz jener periodischen Linderungen. Es wäre möglich, dass Mitleid und Furcht in jedem einzelnen Falle durch die Tragödie gemildert und entladen würden : trotzdem könnten sie im Ganzen durch die tragische Einwirkung überhaupt grösser werden, und Plato behielte doch Recht, wenn er meint, dass man durch die Tragödie insgesammt ängstlicher und rührseliger werde. Der tragische Dichter selbst würde dann nothwendig eine düstere furchtvolle Weltbetrachtung und eine weiche reizbare thränen- süchtige Seele bekommen; auch würde es zu Plato's Meinung stimmen, wenn die tragischen Dichter und ebenso die ganzen Stadtgemeinden, welche sich be- sonders an ihnen ergötzen, zu immer grösserer Maass- und Zügellosigkeit ausarten. Aber welches Recht hat unsre Zeit überhaupt, auf die grosse Frage Plato's nach dem moralischen Einfluss der Kunst eine Antwort zu geben? Hätten wir selbst die Kunst wo haben wir den Einfluss, irgend einen Einfluss der Kunst?

213.

Freude am Unsinn. Wie kann der Mensch Freude am Unsinn haben ? So weit nämlich auf der Welt gelacht wird, ist diess der Fall; ja man kann sagen, fast überall wo es Glück g^ebt, giebt es Freude am Unsinn.

Nietzfche, Werke Band H. jt

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Das Umwerfen der Erfahrung in's Gegenthcil, des Zweck- mässigen in's Zwecklose, des Nothwendigen in's Beliebige, doch so, dass dieser Vorgang keinen Schaden macht und nur einmal aus Übermuth vorgestellt wird, ergetzt, denn es befreit uns momentan von dem Zwange des Nothwendigen, Zweckmässigen und Erfahrungsgemässen, in denen wir für gewöhnlich unsere unerbittUchen Herren sehn; wir spielen und lachen dann, wenn das Erwartete (das gewöhnlich bange macht und spannt) sich ohne zu schädigen entladet. Es ist die Freude der Sclaven am Saturnalienfeste.

214.

Veredelung der Wirklichkeit. Dadurch, dass die Menschen in dem aphrodisischen Triebe eine Gottheit sahen und ihn mit anbetender Dankbarkeit in sich wirkend fühlten, ist im Verlaufe der Zeit jener Affect mit höheren Vorstellungsreihen durchzogen und dadurch thatsächlich sehr veredelt worden. So haben sich einige Völker, vermöge dieser Kunst des Idealisirens, aus Krankheiten grosse Hülfsmächte der Cultur ge- schaffen: zum Beispiel die Griechen, welche in früheren Jahrhunderten an grossen Nerven-Epidemien (in der Art der Epilepsie und des Veitstanzes) litten und daraus den herrlichen Typus der Bacchantin herausgebildet haben. Die Griechen besassen "nämlich nichts weniger als eine vierschrötige Gesundheit; ihr Geheimniss war, auch die Krankheit, wenn sie nur Macht hatte, als Gott zu verehren.

215. Musik. Die Musik ist nicht an und für sich so bedeutungsvoll für unser Innres, so tief erregend, dass sie als unmittelbare Sprache des Gefühls gelten dürfte;

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sondern ihre uralte Verbindung mit der Poesie "hat so viel Symbolik in die rhythmische Bewegung, in Stärke und Schwäche des Tones gelegt, dass wir jetzt wähnen, sie spräche direct zum Innern und käme aus dem Innern. Die dramatische Musik ist erst möglich, wenn sich die Tonkunst ein ungeheures Bereich symbolischer Mittel erobert hat, durch Lied Oper und hundertfältige Versuche der Tonmalerei. Die „absolute !Musik" ist ent- weder Form an sich, im rohen Zustand der Musik, wo das Erklingen in Zeitmaass und verschiedener Stärke überhaupt Freude macht, oder die ohne Poesie schon zum Verständniss redende Symbolik der Formen, nach- dem in langer Entwicklung beide Künste verbunden waren und endlich die musikalische Form ganz mit Be- griffs- und Gefühlsfäden durchsponnen ist. Menschen, welche in der Entwicklung der Musik zurückgeblieben sind, können dasselbe Tonstück rein formalistisch em- pfinden, wo die Fortgeschrittenen Alles symbohsch ver- stehen. An sich ist keine Musik tief und bedeutungsvoll, sie spricht nicht vom „Willen", vom „Dinge an sich"; das konnte der Intellect erst in einem Zeitalter wähnen, welches den ganzen Umfang des inneren Lebens für die musikalische Symbolik erobert hatte. Der Intellect selber hat diese Bedeutsamkeit erst in den Klang hinein- gelegt: wie er in die Verhältnisse von Linien und Massen bei der Architektur ebenfalls Bedeutsamkeit ge- legt hat, welche aber an sich den mechanischen Gesetzen ganz fremd ist

216.

Gebärde und Sprache. Alter als die Sprache ist das Nachmachen von Gebärden, welches unwillkürlich vor sich geht und jetzt noch, bei einer allgemeinen Zu-

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rückdrängung der Gebärdensprache und gebildeten Be- herrschung der Muskeln, so stark ist, dass wir ein be- wegtes Gesicht nicht ohne Innervation unseres Gesichtes ansehen können (man kann beobachten, dass fingirtes Gähnen bei Einem, der es sieht, natürliches Gähnen her- vorruft). Die nachgeahmte Gebärde leitete Den, der nachahmte, zu der Empfindung zurück, welche sie im Gesicht oder Körper des Nachgeahmten ausdrückte. So lernte man sich verstehn: so lernt noch das Kind die JMutter verstehn. Im Allgemeinen mögen schmerzhafte Empfindungen wohl auch durch Gebärden ausgedrückt worden sein, welche Schmerz ihrerseits verursachen (zum Beispiel durch Haarausraufen, Die-Brust-schlagen, gewaltsame Verzerrung und Anspannung der Gesichts- muskeln). Umgekehrt: Gebärden der Lust waren selber lustvoll und eigneten sich dadurch leicht zum Mittheilen des Verständnisses (Lachen als Äusserung des Gekitzelt- werdens, welches lustvoll ist, diente wiederum zum Aus- druck anderer lustvoller Empfindungen). Sobald man sich in Gebärden verstand, konnte wiederum eine Sym- bolik der Gebärde entstehen: ich meine, man konnte über eine Tonzeichensprache sich verständigen, so zwar, dass man zuerst Ton und Gebärde (zu der er symbolisch hinzutrat), später nur den Ton hervorbrachte. Es scheint sich da in früher Zeit Dasselbe oftmals ereignet zu haben, was jetzt vor unseren Augen und Ohren in der Entwicklung der Musik, namentlich der dramatischen Musik, vor sich geht: während zuerst die Musik, ohne erklärenden Tanz und Mimus (Gebärdensprache), leeres Geräusch ist, wird durch lange Gewöhnung an jenes Nebeneinander von Musik und Beweg-ung das Ohr zur sofortigen Ausdeutung der Tonfiguren eingeschult und kommt endlich auf eine Höhe des schnellen Verstand-

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nisses, wo es der sichtbaren Bewegung gar nicht mehr bedarf und den Tondichter ohne dieselbe versteht. Man redet dann von absoluter Musik, das heisst von Musik, in der Alles ohne weitere Beihülfe sofort sym- bolisch verstanden wird.

217.

Die Entsinnlichung der höheren Kunst. Unsere Ohren sind, vermöge der ausserordentlichen Übung des Intellects durch die Kunstentwicklung der neuen Musik, immer intellectualer geworden. Desshalb ertragen wir jetzt viel grössere Tonstärke, viel mehr „Lärm", weil wir viel besser eingeübt sind, auf die Vernunft in ihm hinzuhorchen, als unsere Vorfahren. Thatsächlich sind nun alle unsere Sinne eben dadurch, dass sie immer gleich nach der Vernunft, also nach dem „es bedeutet" und nicht mehr nach dem „es ist" fragen, etwas abgestumpft worden: wie sich eine solche Abstumpfung zum Beispiel in der unbedingten Herrschaft der Temperatur der Töne verräth; denn jetzt gehören Ohren, welche die feineren Unterscheidungen, zum Beispiel zwischen eis und des, noch machen, zu den Ausnahmen. In dieser Hinsicht ist unser Ohr vergröbert worden. Sodann ist die hässliche, den Sinnen ursprünglich feindselige Seite der Welt für die Musik erobert worden; ihr Machtbereich namentlich zum Ausdruck des Erhabenen Furchtbaren Geheimniss- vollen hat sich damit erstaunlich erweitert: unsere Musik bringt jetzt Dinge zum Reden, welche früher keine Zunge hatten. In ähnlicher Weise haben einige Maler das Auge intellectualer gemacht und sind weit über Das hinausgegangen, was man früher Farben- und Formen- freude nannte. Auch hier ist die ursprünglich als hässlich geltende Seite der Welt vom künstlerischen Verstände

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erobert worden. Was ist von alledem die Consequenz? Je gedankenfähiger Auge und Ohr werden, um so mehr kommen sie an die Grenze, wo sie unsinnlich werden; die Freude wird in's Gehirn verlegt, die Sinnesorgane selbst werden stumpf und schwach, das Symbolische tritt immer mehr an Stelle des Seienden und so gelangen wir auf diesem Wege so sicher zur Barbarei, wie auf irgend einem anderen. Einstweilen heisst es noch: die Welt ist hässlicher als je, aber sie bedeutet eine schönere Welt, als je gewesen. Aber je mehr der Ambraduft der Bedeutung sich zerstreut und verflüchtigt, um so seltener werden Die, welche ihn noch wahrnehmen: und die Übrigen bleiben endlich bei dem Hässlichen stehen und suchen es direct zu geniessen, was ihnen aber immer misslingen muss. So giebt es in Deutschland eine doppelte Strömung der musikalischen Entwicklung: hier eine Schaar von Zehntausend mit immer höheren zarteren Ansprüchen und immer mehr nach dem „es bedeutet" hinhörend, und dort die ungeheure Überzahl, welche alljährlich immer unfähiger wird, das Bedeutende auch in der Form der sinnlichen Hässlichkeit zu verstehen und desshalb nach dem an sich Hässlichen und Ekel- haften, das heisst dem niedrig Sinnlichen, in der Musik mit immer mehr Behagen greifen lernt

218.

Der Stein ist mehr Stein als früher. Wir verstehen im Allgemeinen Architektur nicht mehr, wenig- stens lange nicht in der Weise, wie wir Musik verstehen. Wir sind aus der Symbolik der Linien und Figuren herausgewachsen, wie wir der Klangwirkungen der Rhe- torik entwöhnt sind, und haben diese Art von Mutter-

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milch der Bildung nicht mehr vom ersten Augenblick unseres Lebens an eingesogen. An einem griechischen oder christlichen Gebäude bedeutete ursprünglich Alles etwas, und zwar in Hinsicht auf eine höhere Ordnung der Dinge: diese Stimmung einer unausschöpf liehen Be- deutsamkeit lag um das Gebäude gleich einem zauber- haften Schleier. Schönheit kam nur nebenbei in das System hinein, ohne die Grundempfindung des Unheimlich- Erhabenen, des durch Götternähe und Magie Geweihten wesentlich zu beeinträchtigen; Schönheit milderte höch- stens das Grauen aber dieses Grauen war überall die Voraussetzung. Was ist uns jetzt die Schönheit eines Gebäudes? Dasselbe wie das schöne Gesicht einer geistlosen Frau: etwas Maskenhaftes.

219.

Religiöse Herkunft der neueren Musik. Die seelenvolle Musik entsteht in dem wiederherge- stellten Katholicismus nach dem Tridentiner Concil, durch Palestrina, welcher dem neu erwachten innigen und tief bewegten Geiste zum Klange verhalf; später, mit Bach, auch im Protestantismus, soweit dieser durch die Pietisten vertieft und von seinem ursprünglichen dogmatischen Grundcharakter losgebunden worden war. Voraussetzung und nothwendige Vorstufe für beide Entstehungen ist die Befassung mit Musik, wie sie dem Zeitalter der Renaissance und Vor-Renaissance zu eigen war, namentlich jene ge- lehrte Beschäftigung mit Musik, jene im Grunde wissen- schaftliche Lust an den Kunststücken der Harmonik und Stimmführung. Andererseits musste auch die Oper vor- hergegangen sein: in welcher der Laie seinen Protest gegen eine zu gelehrt gewordene kalte Musik zu er-

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kennen gab und der Polyhymnia wieder eine Seele schenken wollte. Ohne jene tiefreligiöse Umstimmung, ohne das Ausklingen des innerlichst - erregten Gemüths wäre die Musik gelehrt oder opernhaft geblieben; der Geist der Gegenreformation ist der Geist der modernen Musik (denn jener Pietismus in Bach's Musik ist auch eine Art Gegenreformation). So tief sind wir dem reli- giösen Leben verschuldet. Die Musik war die Gegen- renaissance im Gebiete der Kunst; zu ihr gehört die spätere Malerei der Carracci, zu ihr vielleicht auch der Barockstil: mehr jedenfalls als die Architektur der Re- naissance oder des Alterthums, Und noch jetzt dürfte man fragen : wenn unsere neuere Musik die Steine bewe- gen könnte, würde sie diese zu einer antiken Architektur zusammensetzen? Ich zweifle sehr. Denn Das, was in dieser Musik regiert, der Affect, die Lust an erhöhten weitgespannten Stimmungen, das Lebendig- werden- wollen um jeden Preis, der rasche Wechsel der Empfindung, die starke Reliefwirkung in Licht und Schatten, die Nebeneinanderstellung der Ekstase und des Naiven, das hat Alles schon einmal in den bildenden Künsten regiert und neue Stilgesetze geschaffen: es war aber weder im Alterthum noch in der Zeit der Renaissance.

220.

Das Jenseits in der Kunst. Nicht ohne tiefen Schmerz gesteht man sich ein, dass die Künstler aller Zeiten in ihrem höchsten Aufschwünge gerade jene Vorstellungen zu einer himmlischen Verklärung hinauf- getragen haben, welche wir jetzt als falsch erkennen: sie sind die Verherrlicher der religiös-philosophischen Irr- thümer der Menschheit, und sie hätten diess nicht sein

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können ohne den Glauben an die absolute Wahrheit derselben. Nimmt nun der Glaube an eine solche Wahr- heit überhaupt ab, verblassen die Regenbogenfarben um die äussersten Enden des menschlichen Erkennens und Wähnens: so kann jene Gattung von Kunst nie wieder aufblühen, welche wie die dtvina commedia , die Bilder Raffael's, die Fresken Michelangel o's . die gothischen Münster nicht nur eine kosmische sondern auch eine metaphysische Bedeutung der Kunstobjecte voraussetzt. Es wird eine rührende Sage daraus werden, dass es eine solche Kunst, einen solchen Künstlerglauben ge- geben habe.

221.

Die Revolution in der Poesie. Der strenge Zwang, welchen sich die französischen Dramatiker auf- erlegten, in Hinsicht auf Einheit der Handlung, des Ortes und der Zeit, auf Stil, Vers- und Satzbau, Auswahl der Worte und Gedanken, war eine so wichtige Schule, wie die des Contrapunkts und der Fuge in der Entwick- lung der modernen Musik oder wie die Gorgianischen Figuren in der griechischen Beredsamkeit. Sich so zu binden kann absurd erscheinen; trotzdem giebt es kein anderes Mittel, um aus dem Naturalisiren herauszukommen, als sich zuerst auf das allerstärkste (vielleicht allerwill- kürlichste) zu beschränken. Man lernt so allmählich mit Grazie selbst auf den schmalen Stegen schreiten, welche schwindelnde Abgründe überbrücken, und bringt die höchste Geschmeidigkeit der Bewegung als Ausbeute mit heim: wie die Geschichte der Musik vor den Augen aller Jetztlebenden beweist. Hier sieht man, wie Schritt für Schritt die Fesseln lockerer werden, bis sie endlich ganz abgeworfen scheinen können: dieser Schein ist

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das höchste Ergebniss einer nothwendigen Entwicklung in der Kunst. In der modernen Dichtkunst gab es keine so glückliche allmähliche Herauswicklung aus den selbst- gelegten Fesseln. Lessing machte die französische Form, das heisst die einzige moderne Kunstform, zum Gespött in Deutschland und verwies auf Shakespeare; und so verlor man die Stätigkeit jener Entfesselung und machte einen Sprung in den Naturalismus das heisst in die Anfänge der Kunst zurück. Aus ihm versuchte sich Goethe zu retten, indem er sich immer von Neuem wieder auf verschiedene Art zu binden wusste; aber auch der Begabteste bringt es nur zu einem fortwähren- den Experimentiren, wenn der Faden der Entwicklung einmal abgerissen ist. Schiller verdankt die ungefähre Sicherheit seiner Form dem unwillkürlich verehrten, wenn auch verleugneten Vorbilde der französischen Tragödie und hielt sich ziemlich unabhängig von Lessing (dessen dramatische Versuche er bekanntlich ablehnte). Den Franzosen selber fehlten nach Voltaire auf einmal die grossen Talente, welche die Entwicklung der Tragödie aus dem Zwange zu jenem Scheine der Freiheit fort- geführt hätten; sie machten später nach deutschem Vor- bilde auch den Sprung in eine Art von Rousseau'schem Naturzustand der Kunst und experimentirten. Man lese nur von Zeit zu Zeit Voltaire's Mahomet, um sich klar vor die Seele zu stellen,. was durch jenen Abbruch der Tradition ein für alle Mal der europäischen Cultur ver- loren gegangen ist. Voltaire war der letzte der grossen Dramatiker, welcher seine vielgestaltige, auch den grössten tragischen Gewitterstürmen gewachsene Seele durch griechisches Maass bändigte, er vermochte Das, was noch kein Deutscher vermochte, weil die Natur des Franzosen der griechischen viel verwandter ist als die

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Natur des Deutschen ; wie er auch der letzte grosse Schriftsteller war, der in der Behandlung der Prosa-Rede griechisches Ohr, griechische Künstler-Gewissenhaftigkeit, griechische Schlichtheit und Anmuth hatte; ja wie er einer der letzten Menschen gewesen ist , welche die höchste Freiheit des Geistes und eine schlechterdings unrevolu- tionäre Gesinnung in sich vereinigen können, ohne in- consequent und feige zu sein. Seitdem ist der moderne Geist mit seiner Unruhe, seinem Hass gegen Maass und Schranke, auf allen Gebieten zur Herrschaft gekommen, zuerst entzügelt durch das Fieber der Revolution und dann wieder sich Zügel anlegend, wenn ihn Angst und Grauen vor sich selber anwandelte, aber die Zügel der starren Logik, nicht mehr die des künstlerischen Maasses. Zwar geniessen wir durch jene Entfesselung eine Zeitlang die Poesien aller Völker, alles an verborgenen Stellen Aufgewachsene, Urwüchsige, Wildblühende, Wunderlich- Schöne und Riesenhaft -Unregelmässige, vom Volksliede an bis zum „grossen Barbaren" Shakespeare hinauf; wir schmecken die Freuden der Localfarbe und des Zeit- costüms, die allen künstlerischen Völkern bisher fremd waren; wir benutzen reichlich die „barbarischen Avan- tagen" unserer Zeit, welche Goethe gegen Schiller geltend macht, um die Formlosigkeit seines Faust in das gün- stigste Licht zu stellen. Aber auf wie lange noch? Die hereinbrechende Fluth von Poesien aller Stile aller Völker muss ja allmählich das Erdreich wegschwemmen, auf dem ein stilles verborgenes Wachsthum noch möglich gewesen wäre; alle Dichter müssen ja experimentirende Nachahmer, wagehalsige Copisten werden, mag ihre Kraft von Anbeginn noch so gross sein. Das Publicum endlich, welches verlernt hat, in der Bändigung der darstellen- den Kraft, in der organisirenden Bewältigung aller Kunst-

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mittel die eigentliche künstlerische That zu sehn, muss immer mehr die Kraft um der Kraft willen, die Farbe um der Farbe willen, den Gedanken um des Gedankens willen, die Inspiration um der Inspiration willen schätzen, es wird demgemäss die Elemente und Bedingungen des Kunstwerks gar nicht, wenn nicht isolirt, ge- messen und zu guterletzt die natürliche Forderung stellen, dass der Künstler sie ihm auch isolirt darreichen müsse. Ja, man hat die „unvernünftigen" Fesseln der französisch- griechischen Kunst abgeworfen, aber unver- merkt sich daran gewöhnt, alle Fesseln, alle Beschrän- kung unvernünftig zu finden; und so bewegt sich die Kunst ihrer Auflösung entgegen und streift dabei was freilich höchst belehrend ist alle Phasen ihrer Anfänge, ihrer Kindheit, ihrer Unvollkommenheit, ihrer einstmaligen Wagnisse und Ausschreitungen: sie inter- pretirt, im Zu-Grunde-gehen, ihre Entstehung, ihr Werden. Einer der Grossen, auf dessen Instinct man sich wohl verlassen kann und dessen Theorie nichts weiter als ein dreissig Jahre Mehr von Praxis fehlte, Lord Byron hat einmal ausgesprochen: „Was die Poesie im Allge- meinen anlangt, so bin ich, je mehr ich darüber nach- denke, immer fester der Überzeugung, dass wir alle- sammt auf dem falschen Wege sind, Einer wie der Andere. Wir folgen Alle einem innerlich falschen revo- lutionären System unserö oder die nächste Generation wird noch zu derselben Überzeugung gelangen." Es ist diess derselbe Byron, welcher sagt: „Ich betrachte Shakespeare als das schlechteste Vorbild, wenn auch als den ausserordentlichsten Dichter." Und sagt im Grunde Goethe's gereifte künstlerische Einsicht aus der zweiten Hälfte seines Lebens nicht genau Dasselbe? jene Einsicht, mit welcher er einen solchen Vorsprung über

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eine Reihe von Generationen gewann, dass man im Grossen Ganzen behaupten kann, Goethe habe noch gar nicht gewirkt und seine Zeit werde erst kommen? Gerade weil seine Natur ihn lange Zeit in der Bahn der poetischen Revolution festhielt, gerade weil er am gründ- lichsten auskostete, was Alles indirect durch jenen Ab- bruch der Tradition an neuen Funden, Aussichten, Hülfsmitteln entdeckt und gleichsam unter den Ruinen der Kunst ausgegraben worden war, so wiegt seine spätere Umwandelung und Bekehrung so Viel: sie be- deutet, dass er das tiefste Verlangen empfand,, die Tradition der Kunst wieder zu gewinnen und den stehen gebliebenen Trümmern und Säulengängen des Tempels mit der Phantasie des Auges wenigstens die alte Voll- kommenheit und Ganzheit anzudichten, wenn die Kraft des Arms sich viel zu schwach erweisen sollte, zu bauen, wo so ungeheure Gewalten schon zum Zerstören nöthig waren. So lebte er in der Kunst ds in der Er- innerung an die walire Kunst: sein Dichten war zum Hülfsmittel der Erinnerung, des Verständnisses alter längst entrückter Kunstzeiten geworden. Seine For- derungen waren zwar in Hinsicht auf die Kraft des neuen Zeitalters unerfüllbar; der Schmerz darüber wurde aber reichlich durch die Freude aufgewogen, dass sie einmal erfüllt gewesen sind und dass auch wir noch an dieser Erfüllung theilnehmen können. Nicht Indivi- duen, sondern mehr oder weniger idealische Masken; keine Wirklichkeit, sondern eine allegorische Allgemein- heit; Zeitcharaktere, Localfarben zum fast Unsichtbaren abgedämpft und mythisch gemacht; das gegenwärtige Empfinden und die Probleme der gegenwärtigen Ge- sellschaft auf die einfachsten Formen zusammengedrängt, ihrer reizenden spannenden pathologischen Eigenschaften

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entkleidet, in jedem andern als dem artistischen Sinn wirkungslos gemacht; keine neuen Stoffe und Charak- tere, sondern die alten längstgewohnten in immerfort währender Neubeseelung und Umbildung: das ist die Kunst, so wie sie Goethe später verstand, so wie sie die Griechen, ja auch die Franzosen übten.

222.

Was von der Kunst übrig bleibt. Es ist wahr, bei gewissen metaphysischen Voraussetzungen hat die Kunst viel grösseren Werth, zum Beispiel wenn der Glaube gilt, dass der Charakter unveränderlich sei und das Wesen der Welt sich in allen Charakteren und Handlungen fortwährend ausspreche: da wird das Werk des Künstlers zum Bild des ewig Beharrenden, während für unsere Auffassung der Künstler seinem Bilde immer nur Gültigkeit für eine Zeit geben kann, weil der Mensch im Ganzen geworden und wandelbar und selbst der einzelne Mensch nichts Festes und Be- harrendes ist. Ebenso steht es bei einer andern meta- physischen Voraussetzung: gesetzt dass unsere sichtbare Welt nur Erscheinung wäre, wie es die Metaphysiker annehmen, so käme die Kunst der wirklichen Welt ziem- lich nahe zu stehen: denn zwischen der Erscheinungswelt und der Traumbild- Welt des Künstlers gäbe es dann gar zu viel Ähnliches; und die übrigbleibende Verschieden- heit stellte sogar die Bedeutung der Kunst höher als die Bedeutung der Natur, weil die Kunst das Gleichförmige, die Typen und Vorbilder der Natur darstellte. Jene Voraussetzungen sind aber falsch: welche Stellung bleibt nach dieser Erkenntniss jetzt noch der Kunst ? Vor Allem hat sie durch Jahrtausende hindurch gelehrt, mit Interesse

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und Lust auf das Leben in jeder Gestalt zu sehen und unsere Empfindung so weit zu bringen , dass wir endlich rufen: „wie es auch sei, das Leben, es ist gutl" Diese Lehre der Kunst, Lust am Dasein zu haben und das Menschenleben wie ein Stück Natur, ohne zu heftige Mit- bewegung, als Gegenstand gesetzmässigcr Entwicklung anzusehen, diese Lehre ist in uns hineingewachsen, sie kommt jetzt als allgewaltiges Bedürfniss des Er- kennens wieder an's Licht. Man könnte die Kunst auf- geben, würde damit aber nicht die von ihr gelernte Fähigkeit einbüssen: ebenso wie man die Religion auf- gegeben hat, nicht aber die durch sie erworbenen Ge- müths-Steigerungen und Erhebungen. Wie die bildende Kunst und die Musik der Maassstab des durch die Religion wirkhch erworbenen und hinzugewonnenen Ge- fühls-Reichthums ist, so würde nach einem Verschwinden der Kunst die von ihr gepflanzte Intensität und Vielartig- keit der Lebensfreude immer noch Befriedigung fordern. Der wissenschaftliche Mensch ist die Weiterentwicklung des künstlerischen.

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Abendröthe der Kunst. Wie man sich im Alter der Jugend erinnert und Gedächtnissfeste feiert, so steht bald die Menschheit zur Kunst im Verhältniss einer rührenden Erinnerung an die Freuden der Jugend. Vielleicht dass niemals früher die Kunst so tief und seelenvoll erfasst wurde als jetzt, wo die Magie des Todes dieselbe zu umspielen scheint. Man denke an jene griechische Stadt in Unteritalien, welche an Einem Tage des Jahres noch ihre griechischen Feste feierte, unter Wehmuth und Thränen darüber, dass immer mehr die ausländische Barbarei über ihre mitgebrachten Sitten

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triumphire; niemals hat man wohl das Hellenische so genossen, nirgendswo diesen goldenen Nektar mit solcher Wollust geschlürft als unter diesen absterbenden Helle- nen, Den Künstler wird man bald als ein herrliches Überbleibsel ansehen und ihm, wie einem wunderbaren Fremden, an dessen Kraft und Schönheit das Glück früherer Zeiten hieng, Ehren erweisen, wie wir sie nicht leicht Unsersgleichen gönnen. Das Beste an uns ist vielleicht aus Empfindungen früherer Zeiten vererbt, zu denen wir jetzt auf unmittelbarem Wege kaum mehr kommen können; die Sonne ist schon hinuntergegangen, aber der Himmel unseres Lebens glüht und leuchtet noch von ihr her, ob wir sie schon nicht mehr sehen.

Fünftes Hauptstück:

Anzeichen höherer und niederer Cultur.

Niftuche, Werkp Band 11.

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224.

Veredelung durch Entartung. Aus der Ge- schichte ist zu lernen, dass der Stamm eines Volkes sich am besten erhält, in dem die meisten Menschen lebendigen Gemeinsinn in Folge der Gleichheit ihrer gewohnten und undiscutirbaren Grundsätze, also in Folge ihres gemeinsamen Glaubens haben. Hier erstarkt die gute, tüchtige Sitte, hier wird die Unterordnung des Individuums gelernt und dem Charakter Festigkeit schon als Angebinde gegeben und nachher noch anerzogen. Die Gefahr dieser starken, auf gleichartige charaktervolle Individuen gegründeten Gemeinwesen ist die allmählich durch Vererbung gesteigerte Verdummung, welche nun einmal aller Stabilität wie ihr Schatten folgt. Es sind die ungebundeneren, viel unsichereren und morahsch schwächeren Individuen, an denen das geistige Fort- schreiten in solchen Gemeinwesen hängt: es sind die Menschen, die Neues und überhaupt Vielerlei ver- suchen. Unzählige dieser Art gehen, ihrer Schwäche wegen, ohne sehr ersichtliche Wirkung zu Grrunde; aber im Allgemeinen, zumal wenn sie Nachkommen haben, lockern sie auf und bringen von Zeit zu Zeit dem sta- bilen Elemente eines Gemeinwesens eine Wunde bei. Gerade an dieser wunden und schwach gewordenen Stelle wird dem gesammten Wesen etwas Neues gleich-

14*

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sam inoculirt; seine Kraft im Ganzen muss aber stark genug sein, um dieses Neue in sein Blut aufzunehmen und sich zu assimiliren. Die abartenden Naturen sind überall da von höchster Bedeutung, wo ein Fortschritt erfolgen soll; jedem Fortschritt im Grossen muss eine theilweise Schwächung vorhergehen. Die stärksten Na- turen halten den Typus fest, die schwächeren helfen ihn fortbilden. Etwas Ähnliches ergiebt sich für den einzelnen Menschen; selten ist eine Entartung, eine Verstümmelung, selbst ein Laster und überhaupt eine körperliche oder sittliche Einbusse ohne einen Vortheil auf einer andern Seite. Der kränkere Mensch zum Beispiel wird vielleicht, inmitten eines kriegerischen und unruhigen Stammes, mehr Veranlassung haben, für sich zu sein und dadurch ruhiger und weiser zu werden, der Einäugige wird Ein stärkeres Auge haben, der Blinde wird tiefer in's Innere schauen und jedenfalls schärfer hören. Insofern scheint mir der berühmte Kampf um's Dasein nicht der einzige Gesichtspunkt zu sein, aus dem das Fortschreiten oder Stärkerwerden eines Menschen, einer Rasse erklärt werden kann. Vielmehr muss zweierlei zusammen kommen: einmal die Mehrung der stabilen Kraft durch Bindung der Geister im Glauben und Ge- meingefühl; sodann die Möglichkeit zu höheren Zielen zu gelangen, dadurch dass entartende Naturen und, in Folge derselben, theilweise Schwächungen und Verwun- dungen der stabilen Kraft vorkommen; gerade die schwächere Natur, als die zartere und freiere, macht alles Fortschreiten überhaupt möglich. Ein Volk, das irgendwo anbröckelt und schwach wird, aber im Ganzen noch stark und gesund ist, vermag die Infection des Neuen aufzunehmen und sich zum Vortheil einzuverleiben. Bei dem einzelnen Menschen lautet die Aufgabe der Er-

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Ziehung so: ihn so fest und sicher hinzustellen, dass et als Ganzes gar nicht mehr aus seiner Bahn abgelenkt werden kann. Dann aber hat der Erzieher ihm Wunden beizubringen oder die Wunden, welche das Schicksal ihm schlägt, zu benutzen, und wenn so der Schmerz und das Bedürfniss entstanden sind, so kann auch in die ver- wundeten Stellen etwas Neues und Edles inoculirt werden. Seine gesammte Natur wird es in sich hinein nehmen und später, in ihren Früchten, die Veredelung spüren lassen. Was den Staat betrifft, so sagt Macchiavelli, dass „die Form der Regierungen von sehr geringer Bedeutung ist, obgleich halbgebildete Leute anders denken. Das grosse Ziel der Staatskunst sollte Dauer sein, welche alles Andere aufwiegt, indem sie weit werthvoUer ist als Freiheit". Nur bei sicher begründeter und verbürgter grösster Dauer ist stätige Entwickelung und veredelnde Inoculation überhaupt möglich. Freilich wird gewöhnlich die gefahrliche Genossin aller Dauer, die Autorität, sich dagegen wehren.

225.

Freigeist ein relativer Begriff. Man nennt Den einen Freigeist, welcher anders denkt, als man von ihm auf Grund seiner Herkunft Umgebung, seines Standes und Amtes oder auf Grund der herrschenden Zeitansichten erwartet Er ist die Ausnahme, die ge- bundenen Geister sind die Regel; diese werfen ihm vor, dass seine freien Grundsätze ihren Ursprung entweder in der Sucht aufzufallen haben, oder gar auf freie Hand- lungen, das heisst auf solche, welche mit der gebundenen Moral unvereinbar sind, schliessen lassen. Bisweilen sagt man auch, diese oder jene freien Grundsätze seien aus Verschrobenheit und Überspanntheit des Kopfes herzu-

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leiten; doch spricht so nur die Bosheit, welche selber an Das nicht glaubt, was sie sagt, aber damit schaden will: denn das Zeugniss für die grössere Güte und Schärfe seines Intellects ist dem Freigeist gewöhnlich in's Ge- sicht geschrieben, so lesbar, dass es die gebundenen Geister gut genug verstehen. Aber die beiden andern Ableitungen der Freigeisterei sind redlich gemeint; in der That entstehen auch viele Freigeister auf die eine oder die andere Art Desshalb könnten aber die Sätze, zu denen sie auf jenen Wegen gelangten, doch wahrer und zuverlässiger sein als die der gebundenen Geister. Bei der Erkenntniss der Wahrheit kommt es darauf an, dass man sie hat, nicht darauf, aus welchem Antriebe man sie gesucht, auf welchem Wege man sie gefunden hat. Haben die Freigeister Recht, so haben die ge- bundenen Geister Unrecht, gleichgültig, ob die ersteren aus Unmoralität zur Wahrheit gekommen sind, die an- deren aus Moralität bisher an der Unwahrheit festge- halten haben. Übrigens gehört es nicht zum Wesen des Freigeistes, dass er richtigere Ansichten hat, sondern vielmehr dass er sich von dem Herkömmlichen gelöst hat, sei es mit Glück oder mit einem Misserfolge. Für gewöhnlich wird er aber doch die Wahrheit oder min- destens den Geist der Wahrheitsforschung auf seiner Seite haben: er fordert Gründe, die Anderen Glauben.

226.

Herkunft des Glaubens. Der gebundene Geist nimmt seine Stellung nicht aus Gründen ein, sondern aus Gewöhnung; er ist zum Beispiel Christ, nicht weil er die Einsicht in die verschiednen Religionen und die Wahl zwischen ihnen gehabt hätte, er ist Engländer, nicht weil

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er sich für England entschieden hat. sondern er fand das Christenthum und das Engländerthum vor und nahm sie an ohne Gründe, wie Jemand, der in einem Weinlande geboren wurde, ein Weintrinker wird. Später, als er Christ und Engländer war, hat er vielleicht auch einige Gründe zu Gunsten seiner Gewöhnung ausfindig ge- macht; man mag diese Gründe umwerfen, damit wirft man ihn in seiner ganzen Stellung nicht um. Man nöthige zum Beispiel einen gebundenen Geist, seine Gründe gegen die Bigamie vorzubringen, dann wird man erfahren, ob sein heiliger Eifer für die Monogamie auf Gründen oder auf Angewöhnung beruht. Angewöhnung geistiger Grundsätze ohne Gründe nennt man Glauben.

227.

Aus den Folgen auf Grund und Ungrund zurückgeschlossen. Alle Staaten und Ordnungen der Gesellschaft: die Stände, die Ehe, die Erziehung, das Recht, alles diess hat seine Kraft und Dauer allein in dem Glauben der gebundenen Geister an sie» also in der Abwesenheit der Gründe, mindestens in der Abwehr des Fragens nach Gründen. Das wollen die gebundenen Geister nicht gern zugeben und sie fohlen wohl, dass es ein pudendum ist. Das Christenthum, das sehr unschuldig in seinen intellectuellen Einfällen war, merkte von diesem pudendum Nichts, forderte Glauben und Nichts als Glauben und wies das Verlangen nach Gründen mit Leidenschaft ab; es zeigte auf den Erfolg des Glaubens hin: ihr werdet den Vortheil des Glaubens schon spüren, deutete es an, ihr sollt durch ihn selig werden. That- sächlich verfährt der Staat ebenso, und jeder Vater erzieht in gleicher Weise seinen Sohn: halte diess nur für wahr,

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sagt er, du wirst spüren, wie gnt diess thut. Diess be- deutet aber, dass aus dem persönlichen Nutzen, den eine Meinung einträgt, ihre Wahrheit erwiesen werden soll; die Zuträglichkeit einer Lehre soll für die intellec- tuelle Sicherheit und Begründetheit Gewähr leisten. Es ist diess so, wie wenn der Angeklagte vor Gericht spräche; mein Vertheidiger sag^ die ganze Wahrheit, denn seht nur zu, was aus seiner Rede folgt: ich werde freigesprochen. Weil die gebundenen Geister ihre Grundsätze ihres Nutzens wegen haben, so vermuthen sie auch beim Freigeist, dass er mit seinen Ansichten ebenfalls seinen Nutzen suche und nur Das für wahr halte, was ihm gerade frommt. Da ihm aber das Ent- gegengesetzte von dem zu nützen scheint, was seinen Landes- oder Standesgenossen nützt, so nehmen diese an, dass seine Grundsätze ihnen gefährlich sind; sie sagen oder fühlen: er darf nicht Recht haben, denn er ist uns schädlich.

228.

Der starke, gute Charakter. Die Gebundenheit der Ansichten, durch Gewöhnung zum Instinct geworden, führt zu Dem, was man Charakterstärke nennt. Wenn Jemand aus wenigen, aber immer aus den gleichen Mo- tiven handelt, so erlangen seine Handlungen eine grosse Energie; stehen diese Handlungen im Einklänge mit den Grundsätzen der gebundenen Geister, so werden sie anerkannt und erzeugen nebenbei in Dem, der sie thut, die Empfindung des guten Gewissens. Wenige Motive, energisches Handeln und gutes Gewissen machen Das aus, was man Charakterstärke nennt. Dem Charakter- starken fehlt die Kenntniss der vielen Möglichkeiten und Richtungen des Handelns; sein Intellect ist unfrei, ge-

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bunden, weil er ihm in einem gegebenen Falle vielleicht nur zwei Möglichkeiten zeigt; zwischen diesen muss er jetzt, gemäss seiner ganzen Natur, mit Nothwendigkeit wählen, und er thut diess leicht und schnell, weil er nicht zwischen fünfzig Möglichkeiten zu wählen hat Die erziehende Umgebung will jeden Menschen unfrei machen, indem sie ihm immer die geringste Zahl von Möglich- keiten vor Augen stellt. Das Individuum wird von seinen Erziehern behandelt, als ob es zwar etwas Neues sei, aber eine Wiederholung werden solle. Erscheint der Mensch zunächst als etwas Unbekanntes , nie Dage- wesenes, so soll er zu etwas Bekanntem, Dagewesenem gemacht werden. Einen guten Charakter nennt man an einem Kinde das Sichtbarwerden der Gebundenheit durch das Dagewesene; indem das Kind sich auf die Seite der gebundenen Geister stellt, bekundet es zuerst seinen erwachenden Gemeinsinn; auf der Grundlage dieses Ge- meinsinns aber wird es später seinem Staate oder Stande nützhch.

229.

Maass der Dinge bei den gebundenen Geistern. Von vier Gattungen der Dinge sagen die gebundenen Geister, sie seien im Rechte. Erstens: alle Dinge, welche Dauer haben, sind im Recht; zweitens: alle Dinge, welche uns nicht lästig fallen, sind im Recht; drittens: alle Dinge, welche uns Vortheil bringen, sind im Recht; viertens: alle Dinge, für welche wir Opfer gebracht haben, sind im Recht. Letzteres erklärt zum Beispiel, wesshalb ein Krieg, der wider Willen des Volkes begonnen wurde, mit Begeisterung fortgeführt wird, so- bald erst Opfer gebracht sind. Die Freigeister, welche ihre Sache vor dem Forum der gebundenen Geister

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führen, haben nachzuweisen, dass es immer Freigeister gegeben hat, also dass die Freigeisterei Dauer hat, so- dann, dass sie nicht lästig fallen wollen, und endlich, dass sie den gebundenen Geistern im Ganzen Vortheil bringen ; aber weil sie von diesem Letzten die gebundenen Geister nicht überzeugen können, nützt es ihnen nichts, den ersten und zweiten Punkt bewiesen zu haben.

230.

Esprit fort. Verglichen mit Dem, welcher das Herkommen auf seiner Seite hat und keine Gründe für sein Handeln braucht, ist der Freigeist immer schwach, namentlich im Handeln; denn er kennt zu viele Motive und Gesichtspunkte und hat desshalb eine unsichere, ungeübte Hand. Welche Mittel giebt es nun, um ihn doch verhältnissmässig stark zu machen, so dass er sich wenigstens durchsetzt und nicht wirkungslos zu Grunde geht? Wie entsteht der starke Geist (esprit fort)? Es ist diess in einem einzelnen Falle die Frage nach der Erzeugung des Genius. Woher kommt die Energie, die unbeugsame Kraft, die Ausdauer, mit welcher der Ein- zelne, dem Herkommen entgegen, eine ganz individuelle Erkenntniss der Welt zu erwerben trachtet?

231.

Die Entstehung des Genie's. Der Witz des Gefangenen, mit welchem er nach Mitteln zu seiner Be- freiung sucht, die kaltblütigste und langwierigste Be- nützung jedes kleinsten Vortheils kann lehren, welcher Handhabe sich mitunter die Natur bedient, um das Genie ein Wort, das ich bitte, ohne allen mythologischen

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und religiösen Beigeschmack zu verstehen zu Stande zu bringen: sie fängt es in einen Kerker ein und reizt seine Begierde, sich zu befreien, auf das äusserste. Oder mit einem anderen Bilde: Jemand, der sich auf seinem Wege im Walde völlig verirrt hat, aber mit un- gemeiner Energie nach irgend einer Richtung hin in's Freie strebt, entdeckt mitunter einen neuen Weg, welchen Niemand kennt: so entstehen die Genies, denen man Originalität nachrühmt. Es wurde schon erwähnt, dass eine Verstümmelung, Verkrüppelung , ein erheblicher Mangel eines Organs häufig die Veranlassung dazu giebt, dass ein anderes Organ sich ungewöhnlich gut entwickelt, weil es seine eigene Function und noch eine andere zu versehen hat. Hieraus ist der Ursprung mancher glän- zenden Begabung zu errathen. Aus diesen allge- meinen Andeutungen über die Entstehung des Genius mache man die Anwendung auf den speciellen Fall, die Entstehung des vollkommenen Freigeistes.

232.

Vermuthung über den Ursprung der P>ei- geisterei. Ebenso wie die Gletscher zunehmen, wenn in den Äquatorialgegenden die Sonne mit grösserer Gluth als früher auf die Meere niederbrennt, so mag auch wohl eine sehr starke, um sich greifende Freigeisterei Zeugniss dafür sein, dass irgendwo die Gluth der Em- pfindung ausserordentlich gewachsen ist

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Die Stimme der Geschichte. Im Allgemeinen scheint die Geschichte über die Erzeugung des Genius

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folgende Belehrung zu geben: Misshandelt und quält die Menschen so ruft sie den Leidenschaften Neid, Hass und Wetteifer zu treibt sie zum Äussersten, den Einen wider den Andern, das Volk gegen das Volk, und zwar durch Jahrhunderte hindurch! Dann flammt vielleicht, gleichsam aus einem bei Seite fliegenden Funken der dadurch entzündeten furchtbaren Energie, auf Ein Mal das Licht des Genius empor; der Wille, wie ein Ross durch den Sporn des Reiters wild gemacht, bricht dann aus und springt auf ein anderes Gebiet über. Wer zum Bewusstsein über die Erzeugung des Genius käme und die Art, wie die Natur gewöhnlich dabei verfährt, auch praktisch durchführen wollte, würde gerade so böse und rücksichtslos wie die Natur sein müssen. Aber viel- leicht haben wir uns verhört.

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Werth der Mitte des Wegs. Vielleicht ist die Erzeugung des Genius nur einem begrenzten Zeit- räume der Menschheit vorbehalten. Denn man darf von der Zukunft der Menschheit nicht zugleich alles Das er- warten, was ganz bestimmte Bedingungen irgend welcher Vergangenheit allein hervorzubringen vermochten; zum Beispiel nicht die erstaunlichen Wirkungen des religiösen Gefühls. Dieses selbst hat seine Zeit gehabt und vieles sehr Gute kann nie wieder wachsen, weil es allein aus ihm wachsen konnte. So wird es nie wieder einen reli- giös umgrenzten Horizont des Lebens und der Cultur geben. Vielleicht ist selbst der Typus des Heiligen nur bei einer gewissen Befangenheit des Intellectes möglich, mit der es, wie es scheint, für alle Zukunft vorbei ist Und so ist die Höhe der Intelligenz vielleicht einem ein-

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zelnen Zeitalter der Menschheit aufgespart gewesen: sie trat hervor und tritt hervor, denn wir leben noch in diesem Zeitalter, als eine ausserordentliche, lang an- gesammelte Energie des Willens sich ausnahmsweise auf geistige Ziele durch Vererbung übertrug. Es wird mit jener Höhe vorbei sein, wenn diese Wildheit und Energie nicht mehr gross gezüchtet werden. Die Mensch- heit kommt vielleicht auf der Mitte ihres Weges, in der mittleren Zeit ihrer Existenz, ihrem eigentlichen Ziele näher als am Ende. Es könnten Kräfte, durch welche zum Beispiel die Kunst bedingt ist, geradezu aussterben; die Lust am Lügen, am Ungenauen, am Symbolischen, am Rausche, an der Ekstase könnte in Missachtung kommen. Ja, ist das Leben erst im vollkommenen Staate geordnet, so ist aus der Gegenwart gar kein Motiv zur Dichtung mehr zu entnehmen, und es würden allein die zurückgebliebenen Menschen sein, welche nach dichter- ischer Unwirklichkeit verlangten. Diese würden dann jedenfalls mit Sehnsucht rückwärts schauen, nach den Zeiten des unvollkommenen Staates, der halb-barbarischen Gesellschaft, nach unseren Zeiten.

235.

Genius und idealer Staat in Widerspruch. Die Socialisten begehren für möglichst Viele ein Wohl- leben herzustellen. Wenn die dauernde Heimath dieses Wohllebens, der vollkommene Staat, wirklich erreicht wäre, so würde durch dieses Wohlleben der Erdboden, aus dem der grosse Intellect und überhaupt das mächtige Individuum wächst, zerstört sein: ich meine die starke Energie. Die Menschheit würde zu matt geworden sein, wenn dieser Staat erreicht ist, um den Genius noch er-

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zeugen zu können. Alüsste man somit nicht wünschen, dass das Leben seinen gewaltsamen Charakter behalte und dass immer von Neuem wieder wilde Kräfte und Energien hervorgerufen würden? Nun will das warme, mitfühlende Herz gerade die Beseitigung jenes gewalt- samen und wilden Charakters, und das wärmste Herz, das man sich denken kann, würde eben darnach am leidenschaftlichsten verlangen: während doch gerade seine Leidenschaft aus jenem wilden und gewaltsamen Charak- ter des Lebens ihr Feuer, ihre Wärme, ja ihre Existenz genommen hat; das wärmste Herz will also Beseitigung seines Fundamentes, Vernichtung seiner selbst, das heisst doch: es will etwas Unlogisches, es ist nicht intelligent. Die höchste Intelligenz und das wärmste Herz können nicht in Einer Person beisammen sein, und der Weise, welcher über das Leben das Urtheil spricht, stellt sich auch über die Güte und betrachtet diese nur als Etwas, das bei der Gesammtrechnung des Lebens mit abzu- schätzen ist. Der Weise muss jenen ausschweifenden Wünschen der unintelligenten Güte widerstreben, weil ihm an dem Fortleben seines Typus und an dem end- lichen Entstehen des höchsten Intellects gelegen ist; mindestens wird er der Begründung des „vollkommenen Staates" nicht förderlich sein, insofern in ihm nur ermattete Individuen Platz haben. Christus dagegen, den wir uns einmal als das wärmste Herz denken wollen , förderte die Verdummung der Menschen, stellte sich auf die Seite der geistig Armen und hielt die Erzeugung des grössten Intellectes auf: und diess war consequent. Sein Gegen- bild, der vollkommene Weise diess darf man wohl vorhersagen wird ebenso nothwendig der Erzeugung eines Christus hinderlich sein. Der Staat ist eine kluge Veranstaltung zum Schutz der Individuen gegen ein-

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ander: übertreibt man seine Veredelung, so wird zuletzt das Individuum durch ihn geschwächt, ja aufgelöst also der ursprüngliche Zweck des Staates am gründ- lichsten vereitelt

236.

Die Zonen der Cultur. Man kann gleichniss- weise sagen, dass die Zeitalter der Cultur den Gürteln der verschiedenen Klimata entsprechen, nur dass diese hinter einander und nicht, wie die geographischen Zonen, neben einander liegen. In Vergleich mit der gemässigten Zone der Cultur , in welche überzugehen unsere Aufgabe ist, macht die vergangene im Ganzen Grossen den Ein- druck eines tropischen Klima's. Gewaltsame Gegen- sätze, schroffer Wechsel von Tag und Nacht, Gluth und Farbenpracht, die Verehrung alles Plötzlichen Geheim- nissvollen Schrecklichen, die Schnelligkeit der herein- brechenden Unwetter, überall das verschwenderische Überströmen der Füllhörner der Natur: und dagegen, in unserer Cultur, ein heller, doch nicht leuchtender Himmel, reine ziemlich gleich verbleibende Luft, Schärfe, ja Kälte gelegentlich: so heben sich beide Zonen gegen einander ab. Wenn wir dort sehen, wie die wüthendsten Leidenschaften durch metaphysische Vorstellungen mit unheimlicher Gewalt niedergerungen und zerbrochen wer- den, so ist es uns zu Muthe, als ob vor unseren Augen in den Tropen wilde Tiger unter den Windungen unge- heurer Schlangen zerdrückt würden ; unserem geistigen Klima fehlen solche Vorkommnisse, unsre Phantasie ist gemässigt, selbst im Traume kommt uns Das nicht bei, was frühere Völker im Wachen sahen. Aber sollten wir über diese Veränderung nicht glücklich sein dürfen, selbst zugegeben, dass die Künstler durch das Verschwinden

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der tropischen Cultur wesentlich beeinträchtigt sind und uns Nicht-Künstler ein wenig zu nüchtern finden? Inso- fern haben Künstler wohl das Recht, den „Fortschritt" zu leugnen, denn in der That: ob die letzten drei Jahr- tausende in den Künsten einen fortschreitenden Verlauf zeigen, das lässt sich mindestens bezweifeln; ebenso wird ein metaphysischer Philosoph wie Schopenhauer keinen Anlass haben den Fortschritt zu erkennen, wenn er die letzten vier Jahrtausende in Bezug auf metaphysische Philosophie und Religion überblickt. Uns gilt aber die Existenz der gemässigten Zone der Cultur selbst als Fortschritt.

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Renaissance und Reformation. Die italiä- nische Renaissance barg in sich alle die positiven Ge- walten, welchen man die moderne Cultur verdankt: also Befreiung des Gedankens, Missachtung der Autoritäten, Sieg der Bildung über den Dünkel der Abkunft, Be- geisterung für die Wissenschaft und die wissenschaftliche Vergangenheit der Menschen, Entfesselung des Indivi- duums, eine Gluth der Wahrhaftigkeit und Abneigung gegen Schein und blossen Effect (welche Gluth in einer ganzen Fülle künstlerischer Charaktere hervorloderte, die Vollkommenheit in ihren Werken und Nichts als Voll- kommenheit mit höchster sittlicher Reinheit von sich forderten); ja die Renaissance hatte positive Kräfte, welche in unserer bisherigen modernen Cultur noch nicht wieder so mächtig geworden sind. Es war das goldene Zeitalter dieses Jahrtausends, trotz allen Flecken und Lastern. Dagegen hebt sich nun die deutsche Refor- mation ab als ein energischer Protest zurückgebliebener Geister, welche die Weltanschauung des Mittelalters noch

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keineswegs satt hatten und die Zeichen seiner Auflösung, die ausserordentliche Verflachung und Veräusserlichung des religiösen Lebens, statt mit Frohlocken, wie sich gebührt, mit tiefem Unmuthe empfanden. Sie warfen mit ihrer nordischen Kraft und Halsstarrigkeit die Menschen wieder zurück , erzwangen die Gegenreformation , das heisst ein katholisches Christenthum der Nothwehr, mit den Gewaltsamkeiten eines Belagerungszustandes, und verzögerten um zwei bis drei Jahrhunderte ebenso das völlige Erwachen und Herrschen der Wissenschaften, als sie das völlige In-Eins- Verwachsen des antiken und des modernen Geistes vielleicht für immer unmöglich machten. Die grosse Aufgabe der Renaissance konnte nicht zu Ende gebracht werden, der Protest des inzwischen zurück- gebliebenen deutschen Wesens (welches im Mittelalter Vernunft genug gehabt hatte , um immer und immer wieder zu seinem Heile über die Alpen zu steigen) verhinderte diess. Es lag in dem Zufall einer ausser- ordentlichen Constellation der Politik, dass damals Luther erhalten blieb und jener Protest Kraft gewann: denn der Kaiser schützte ihn, um seine Neuerung gegen den Papst als Werkzeug des Druckes zu verwenden, und ebenfalls begünstigte ihn im Stillen der Papst, um die protestantischen Reichsfürsten als Gegengewicht gegen den Kaiser zu benutzen. Ohne diess seltsame Zusammen- spiel der Absichten wäre Luther verbrannt worden wie Huss und die Morgenröthe der Aufklärung vielleicht etwas früher und mit schönerem Glänze, als wir jetzt ahnen können, aufgegangen.

238. Gerechtigkeit gegen den werdenden Gott Wenn sich die ganze Geschichte der Cultur vor den

Nietzsche. Wprkp B.in I H. [p

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Blicken aufthut, als ein Gewirr von bösen und edlen, wahren und falschen Vorstellungen, und es Einem beim Anblick dieses Wellenschlags fast seekrank zu Muthe wird, so begreift man, was für ein Trost in der Vorstellung eines werdenden Gottes liegt: dieser enthüllt sich immer mehr in den Verwandlungen und Schicksalen der Menschheit, es ist nicht Alles blinde Mechanik, sinn- und zweckloses Durcheinanderspielen von Kräften. Die Vergottung des Werdens ist ein metaphysischer Aus- blick — gleichsam von einem Leuchtthurm am Meere der Geschichte herab , an welchem eine allzuviel historisirende Gelehrtengeneration ihren Trost fand; dar- über darf man nicht böse werden, so irrthümlich jene Vorstellung auch sein mag. Nur wer wie Schopenhauer die Entwicklung leugnet, fühlt auch Nichts von dem Elend dieses historischen Wellenschlags und darf dess- halb, weil er von jenem werdenden Gotte und dem Bedürfniss seiner Annahme Nichts weiss, Nichts fühlt, billigerweise seinen Spott auslassen.

239.

Die Früchte nach der Jahreszeit. Jede bessere Zukunft, welche man der Menschheit anwünscht, ist noth- wendi gerweise auch in manchem Betracht eine schlechtere Zukunft: denn es ist Schwärmerei zu glauben, dass eine höhere neue Stufe der Menschheit alle die Vorzüge früherer Stufen in sich vereinigen werde und zum Bei- spiel auch die höchste Gestaltung der Kunst erzeugen müsse. Vielmehr hat jede Jahreszeit ihre Vorzüge und Reize für sich und schliesst die der anderen aus. Das, was aus der Religion und in ihrer Nachbarschaft ge- wachsen ist, kann nicht wieder wachsen, wenn diese

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zerstört ist; höchstens können verirrte, spät kommende Absenker zur Täuschung darüber verleiten, ebenso wie die zeitweilig ausbrechende Erinnerung an die alte Kunst: ein Zustand, der wohl .das Gefühl des Verlustes, der Entbehnmg verräth, aber kein Beweis für die Kraft ist, aus der eine neue Kunst geboren werden könnte.

240.

Zunehmende Severität der Welt Je höher die Cultur eines Menschen steigt, um so mehr Gebiete entziehen sich dem Scherze, dem Spotte. Voltaire war für die Erfindung der Ehe und der Kirche von Herzen dem Himmel dankbar: als welcher damit so gut für unsere Aufheiterung gesorgt habe. Aber er und seine Zeit, und vor ihm das sechzehnte Jahrhundert, haben diese Themen zu Ende gespottet; es ist Alles, was jetzt Einer auf diesem Gebiete noch witzelt, verspätet und vor Allem gar zu wohlfeil, als dass es die Käufer be- gehrlich machen könnte. Jetzt fragt man nach den Ursachen; es ist das Zeitalter des Ernstes. Wem liegt jetzt noch daran, die Differenzen zwischen Wirklichkeit und anspruchsvollem Schein, zwischen dem, was der Mensch ist und was er vorstellen will, in scherzhaftem Lichte zu sehen; das Gefühl dieser Contraste wirkt als- bald ganz anders, wenn man nach den Grründen sucht. Je gründUcher Jemand das Leben versteht, um so weniger wird er spotten, nur dass er zuletzt vielleicht noch über die „Gründlichkeit seines Verstehens" spottet

241. Genius der Cultur. Wenn Jemand einen Genius der Cultur imaginiren wollte, wie würde dieser beschaffen

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sein? Er handhabt die Lüge, die Gewalt, den rücksichts- losesten Eigennutz so sicher als seine Werkzeuge, dciss er nur ein böses dämonisches Wesen zu nennen wäre; aber seine Ziele, welche hier und da durchleuchten, sind gross und gut. Es ist ein Centaur, halb Thier, halb Mensch, und hat noch Engelsflügel dazu am Haupte.

242.

Wunder-Erziehung. Das Interesse an der Er- ziehung wird erst von dem Augenblick an grosse Stärke bekommen, wo man den Glauben an einen Gott und seine Fürsorge aufgiebt: ebenso wie die Heilkunst erst erblühen konnte, als der Glaube an Wunderkuren auf- hörte. Bis jetzt glaubt aber alle Welt noch an die Wunder -Erziehung: aus der grössten Unordnung, Ver- worrenheit der Ziele, Ungunst der Verhältnisse sah man ja die fruchtbarsten mächtigsten Menschen erwachsen: wie konnte diess doch mit rechten Dingen zugehen? Jetzt wird man bald auch in diesen Fällen näher zu- sehen, sorgsamer prüfen: Wunder wird man dabei niemals entdecken. Unter gleichen Verhältnissen gehen fortwährend zahlreiche Menschen zu Grunde, das ein- zelne gerettete Individuum ist dafür gewöhnlich stärker geworden, weil es diese* schlimmen Umstände vermöge unverwüstlicher eingeborener Kraft ertrug und diese Kraft noch geübt und vermehrt hat: so erklärt sich das Wunder. Eine Erziehung, welche an kein Wunder mehr glaubt, wird auf dreierlei zu achten haben: erstens, wie viel Energie ist vererbt? zweitens, wodurch kann noch neue Energie entzündet werden? drittens, wie kann das Individuum jenen so überaus vielartigen Ansprüchen der Cultur angepasst werden, ohne dass diese es beunruhigen

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und seine Einartigkeit zersplittern kurz, wie kann das Individuum in den Contrapunkt der privaten und öffentlichen Cultur eingereiht werden, wie kann es zu- gleich die Melodie führen und als Melodie begleiten?

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Die Zukunft des Arztes. Es giebt jetzt keinen Beruf, der eine so hohe Steigerung zuliesse, wie der des Arztes; namentlich nachdem die geistlichen Ärzte, die sogenannten Seelsorger, ihre Beschwöiningskünste nicht mehr unter öffentlichem Beifalle treiben dürfen und ein Gebildeter ihnen aus dem Wege geht. Die höchste geistige Ausbildung eines Arztes ist jetzt nicht erreicht, wenn er die besten neuesten Methoden kennt und auf sie eingeübt ist und jene fliegenden Schlüsse von Wir- kungen auf Ursachen zu machen versteht, derentwegen die Diagnostiker berühmt sind; er muss ausserdem eine Beredsamkeit haben, die sich jedem Individuum anpasst und ihm das Herz aus dem Leibe zieht, eine Männlich- keit, deren Anblick schon den ICleinmuth (den Wurmfrass aller Kranken) verscheucht, eine Diplomaten-Geschmeidig- keit im Vermitteln zwischen Solchen, welche Freude zu ihrer Genesung nöthig haben und Solchen, die aus Ge- sundheitsgründen Freude machen müssen (und es können), die Feinheit eines Polizeiagenten und Advocaten, die Ge- heimnisse einer Seele zu verstehen, ohne sie zu ver- rathen, kurz ein guter Arzt bedarf jetzt der Kunst- griffe und Kunstvorrechte aller anderen Berufsclassen : so ausgerüstet ist er dann im Stande, der ganzen Gesell- schaft ein Wohlthäter zu werden, durch Vermehrung guter Werke, geistiger Freude und Fruchtbarkeit, durch Verhütung von bösen Gedanken Vorsätzen Schurkereien

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(deren ekler Quell so häufig der Unterleib ist), durch Herstellung einer geistig-leiblichen Aristokratie (als Ehe- stifter und Eheverhinderer), durch wohlwollende Ab- schneidung aller sogenannten Seelenqualen und Ge- wissensbisse: so erst wird er aus einem „Medicinmann" ein Heiland und braucht doch keine Wunder zu thun; hat auch nicht nöthig, sich kreuzigen zu lassen.

244.

In der Nachbarschaft des Wahnsinns. Die Summe der Empfindungen Kenntnisse Erfahrungen, also die ganze Last der Cultur, ist so gross geworden, dass eine Überreizung der Nerven- und Denkkräfte die all- gemeine Gefahr ist, ja dass die cultivirten Classen der europäischen Länder durchweg neurotisch sind und fast jede ihrer grösseren Familien in einem Gliede dem Irr- sinn nahe gerückt ist. Nun kommt man zwar der Ge- sundheit jetzt auf alle Weise entgegen; aber in der Hauptsache bleibt eine Verminderung jener Spannung des Gefühls, jener niederdrückenden Cultur- Last von Nöthen, welche, wenn sie selbst mit schweren Einbussen erkauft werden sollte, uns doch zu der grossen Hoffnung einer neuen Renaissance Spielraum giebt. Man hat dem Christenthum , den Philosophen Dichtern Musikern eine Überfülle tief erregender Empfindungen zu danken: damit diese uns nicht überwuchern, müssen wir den Geist der Wissenschaft beschwören, welcher im Ganzen etwas kälter und skeptischer macht und namentlich den Gluth- strom des Glaubens an letzte endgültige Wahrheiten ab- kühlt; er ist vornehmlich durch das Christenthum so wild geworden.

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245- Glockenguss der Cultur. Die Cultur ist ent- standen wie eine Glocke, innerhalb eines Mantels von gröberem gemeinen Stoffe: Unwahrheit Gewaltsamkeit, unbegrenzte Ausdehnung aller einzelnen Ich's, aller einzelnen Völker, waren dieser Mantel. Ist es an der Zeit, ihn jetzt abzunehmen? Ist das Flüssige erstarrt, sind die guten nützlichen Triebe, die Gewohnheiten des edleren Gemüthes so sicher und allgemein geworden, dass es keiner Anlehnung an Metaphysik und die Irr- thümer der Religionen mehr bedarf, keiner Härten und Gewaltsamkeiten als mächtigster Bindemittel zwischen Mensch und Mensch, Volk und Volk? Zur Beant- wortung dieser Frage ist kein Wink eines Gottes uns mehr hülfreich: unsere eigne Einsicht muss da ent- scheiden. Die Erdregierung des Menschen im Grossen hat der Mensch selber in die Hand zu nehmen, seine „Allwissenheit" muss über dem weiteren Schicksal der Cultur mit scharfem Auge wachen.

246.

Die Cyclopen der Cultur. Wer jene zerfurchten Kessel sieht, in denen Gletscher gelagert haben, hält es kaum für möglich, dass eine Zeit kommt, wo an der- selben Stelle ein Wiesen- und Waldthal mit Bächen darin sich hinzieht. So ist es auch in der Geschichte der ^lenschheit; die wildesten Kräfte brechen Bahn, zunächst zerstörend, aber trotzdem war ihre Thätigkeit nöthig, damit später eine mildere Gesittung hier ihr Haus auf- schlage. Die schrecklichen Energien Das, was man das Böse nennt sind die cyclopischen Architekten und Wegebauer der Humanität.

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247-

Kreislauf des Menschenthums. Vielleicht ist das ganze Menschthum nur eine Entwicklungsphase einer bestimmten Thierart von begrenzter Dauer: so dass der Mensch aus dem Affen geworden ist und wieder zum Affen werden wird, während Niemand da ist, der an diesem verwunderlichen Komödien -Ausgang irgend ein Interesse nehme. So wie mit dem Verfallo der römischen Cultur und seiner wichtigsten Ursache, der Ausbreitung des Christenthums, eine allgemeine Verhäss- lichung des Menschen innerhalb des römischen Reiches überhand nahm, so könnte auch durch den einstmaligen Verfall der allgemeinen Erdcultur eine viel höher ge- steigerte Verhässlichung und endlich Verthierung des Menschen, bis in's Affenhafte, herbeigeführt werden. Gerade weil wir diese Perspective in's Auge fassen können, sind wir vielleicht im Stande, einem solchen Ende der Zukunft vorzubeugen.

248.

Trostrede eines desperaten Fortschritts. Unsere Zeit macht den Eindruck eines Interim-Zustandes ; die alten Weltbetrachtungen, die alten Culturen sind noch theilweise vorhanden, die* neuen noch nicht sicher und gewohnheitsmässig und daher ohne Geschlossenheit und Consequenz. Es sieht aus, als ob Alles chaotisch würde, das Alte verloren gienge, das Neue nichts tauge und immer schwächlicher werde. Aber so geht es dem Sol- daten, welcher marschieren lernt: er ist eine Zeit lang unsicherer und unbeholfener als je, weil die Muskeln bald nach dem alten System bald nach dem neuen be-

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wegt werden und noch keins entscliieden den Sieg be- hauptet. Wir schwanken, aber es ist nötlüg, dadurch nicht ängstlich zu werden und das Neu-Errungene etwa preiszugeben. Überdiess können wir in's Alte nicht zurück, wir haben die Schiffe verbrannt; es bleibt nur übrig, tapfer zu sein , mag nun dabei diess oder jenes herauskommen. Schreiten wir nur zu, kommen wir nur von der Stelle! Vielleicht sieht sich unser Gebahren doch einmal wie Fortschritt an; wenn aber nicht, so mag Friedrich's des Grossen Wort auch zu uns gesagt sein und zwar zum Tröste: Ak, mon eher Sulzer, vous ne connaissez pas assez cette race maudite, ä laquelle nous appartenons.

249.

An der Vergangenheit der Cultur leiden. Wer sich das Problem der Cultur klar gemacht hat, leidet dann an einem ähnlichen Gefühle wie Der, welcher einen durch unrechtmässige Mittel erworbenen Reich- thum ererbt hat, oder wie der Fürst, der durch Gewalt- that seiner Vorfahren regiert. Er denkt mit Trauer an seinen Ursprung und ist oft beschämt, oft reizbar. Die ganze Summe von Kraft, Lebenswillen, Freude, welche er seinem Besitze zuwendet, balancirt sich oft mit einer tiefen Müdigkeit: er kann seinen Ursprung nicht ver- gessen. Die Zukunft sieht er wehmüthig an: seine Nach- kommen, er weiss es voraus, werden an der Vergangenheit leiden wie er.

250.

Manieren. Die guten Manieren verschwinden in dem Maasse, in welchem der Einfluss des Hofes und einer abgeschlossenen Aristokratie nachlässt; man kann diese

234

Abnahme von Jahrzehend zujahrzehend deutlich beobachten, wenn man ein Auge für die öffentlichen Acte hat: als welche ersichtlich immer pöbelhafter werden. Niemand versteht mehr, auf geistreiche Art zu huldigen und zu schmeicheln; daraus ergiebt sich die lächerliche Thatsachc, dass man in Fällen, wo man gegenwärtig Huldigungen darbringen muss (zum Beispiel einem grossen Staats- manne oder Künstler), die Sprache des tiefsten Gefülils, der treuherzigen ehrenfesten Biederkeit borgt aus Verlegenheit und Mangel an Geist und Grazie. So er- scheint die öffentliche festliche Begegnung der IVIenschen immer ungeschickter, aber gefühlvoller und biederer, ohne diess zu sein. Sollte es aber mit den Manieren immerfort bergab gehen? Es scheint mir vielmehr, dass die Manieren eine tiefe Curve machen und wir uns ihrem niedrigsten Stande nähern. Wenn erst die Ge- sellschaft ihrer Absichten und Principien sicherer ge- worden ist, so dass diese formbildend wirken (während jetzt die angelernten Manieren früherer formenbiidender Zustände immer schwächer vererbt und angelernt werden), so Avird es Manieren des Umgangs, Gebärden und Aus- drücke des Verkehrs geben, welche so nothwendig und schhcht natürlich erscheinen müssen, als es diese Ab- sichten und Principien sind. Die bessere Vertheilung der Zeit und Arbeit, die zur Begleiterin jeder schönen Mussezeit umgewandelte gymnastische Übung, das ver- mehrte und strenger gewordene Nachdenken, welches selbst dem Körper Klugheit und Geschmeidigkeit giebt, bringt diess Alles mit sich. Hier könnte man nun freilich mit einigem Spotte unserer Gelehrten gedenken, ob denn sie, die doch Vorläufer jener neuen Cultur sein wollen, sich in der That durch bessere Manieren aus- zeichnen? Es ist diess wohl nicht der Fall, obgleich ihr

Geist willig genug dazu sein mag: aber ihr Fleisch ist schwach. Die Vergangenheit derCultur ist noch zu mächtig in ihren Muskeln: sie stehen noch in einer unfreien Stel- lung und sind zur Hälfte weltliche Geistliche, zur Hälfte abhängige Erzieher vornehmer Leute und Stände, und überdiess durch Pedanterie der Wissenschaft, durch ver- altete geistlose Methoden verkrüppelt und unlebendig gemacht. Sie sind also, jedenfalls ihrem Körper nach und oft auch zu Dreiviertel ihres Geistes, immer noch die Höflinge einer alten, ja greisenhaften Cultur und als solche selber greisenhaft; der neue Geist, der gelegentüch in diesen alten Gehäusen rumort, dient einstweilen nur dazu, sie unsicherer und ängstlicher zu machen. In ihnen gehen sowohl die Gespenster der Vergangenheit als die Gespenster der Zukunft um: was Wunder, wenn sie dabei nicht die beste Miene machen, nicht die gefälligste Haltung haben?

251.

Zukunft der Wissenschaft. Die Wissenschaft giebt Dem, welcher in ihr arbeitet und sucht, viel Ver- gnügen, Dem, welcher ihre Ergebnisse lernt, sehr we- nig. Da allmähUch aber alle wichtigen Wahrheiten der Wissenschaft alltäghch und gemein werden müssen, so hört auch dieses wenige Vergnügen auf: so wie wir beim Lernen des so bewunderungswürdigen Einmaleins längst aufgehört haben, uns zu freuen. Wenn nun die Wissenschaft immer weniger Freude durch sich macht und immer mehr Freude, durch Verdächtigung der tröst- Hchen Metaphysik Religion und Kunst, nimmt: so ver- armt jene grösste Quelle der Lust, welcher die Menschheit fast ihr gesammtes Menschthum verdankt. Desshalb muss eine höhere Cultur dem Menschen ein Doppelgehirn,

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gleichsam zwei Hirnkammern geben, einmal um Wissen- schaft, sodann um Nicht -Wissenschaft zu empfinden: neben einander liegend, ohne Verwirrung, trennbar, ab- schliessbar; es ist diess eine Forderung der Gesundheit. Im einen Bereiche liegt die Kraftquelle, im anderen der Regulator: mit Illusionen Einseitigkeiten Leidenschaften muss geheizt werden, mit Hülfe der erkennenden Wissen- schaft muss den bösartigen und gefährlichen Folgen einer Überheizung vorgebeugt werden. Wird dieser Forderung der höheren Cultur nicht genügt, so ist der weitere Verlauf der menschlichen Entwicklung fast mit Sicherheit vorherzusagen: das Interesse am Wahren hört auf, je weniger es Lust gewährt; die Illusion, der Irrthum, die Phantastik erkämpfen sich Schritt um Schritt, weil sie mit Lust verbunden sind, ihren ehemals behaup- teten Boden: der Ruin der Wissenschaften, das Zurück- sinken in Barbarei ist die nächste Folge; von Neuem muss die Menschheit wieder anfangen, ihr Gewebe zu weben, nachdem sie es, gleich Penelope, des Nachts zer- stört hat. Aber wer bürget uns dafür, dass sie immer wieder die ICraft dazu findet?

252.

Die Lust am Erkennen. Wesshalb ist das Er- kennen, das Element des Forschers und Philosophen, mit Lust verknüpft? Erstens und vor Allem, weil man sich dabei seiner ICraft bewusst wird, also aus demselben Grunde, aus dem gymnastische Übungen, auch ohne Zu- schauer, lustvoll sind. Zweitens, weil man, im Verlauf der Erkenntniss, über ältere Vorstellungen und deren Vertreter hinauskommt, Sieger wird oder wenigstens es zu sein glaubt. Drittens, weil wir uns durch eine noch so

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kleine neue Erkenntniss über Alle erhaben und uns als die Einzigen fühlen, welche hierin das Richtige wissen. Diese drei Gründe zur Lust sind die wichtigsten, doch giebt es, je nach der Natur des Erkennenden, noch viele Nebengründe. Ein nicht unbeträchtliches Ver- zeichniss von solchen giebt, an einer Stelle, wo man es nicht suchen würde, meine paränetische Schrift über Schopenhauer: mit deren Aufstellungen sich jeder er- fahrene Diener der Erkenntniss zufrieden geben kann, sei es auch, dass er den ironischen Anflug, der auf jenen Seiten zu liegen scheint, weg"wünschen wird. Denn wenn es wahr ist, dass zum Entstehen des Gelehrten „eine Menge sehr menschlicher Triebe und Triebchen zu- sammengegossen werden muss", dass der Gelehrte zwar ein sehr edles, aber kein reines Metall ist und „aus einem verwickelten Geflecht sehr verschiedener Antriebe und Reize besteht": so gilt doch dasselbe ebenfalls von Ent- stehung und Wesen des Künstlers Philosophen mora- lischen Genie's und wie die in jener Schrift glorificirten grossen Namen lauten. Alles Menschliche verdient in Hinsicht auf seine Entstehung die ironische Betrach- tung: desshalb ist die Ironie in der Welt so überflüssig.

253. ,

Treue als Beweis der Stichhaltigkeit Es ist ein vollkommenes Zeichen für die Güte einer Theorie, wenn ihr Urheber vierzig Jahre lang kein Misstrauen gegen sie bekommt; aber ich behaupte, dass es noch keinen Philosophen gegeben hat, welcher auf die Philo- sophie, die seine Jugend erfand, nicht endlich mit Gering- schätzung — mindestens mit Argwohn herabgesehen hätte. Vielleicht hat er aber nicht öfientlich von dieser

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Umstimmung gesprochen , aus Ehrsucht oder wie es bei edlen Naturen wahrscheinlicher ist aus zarter Schonung seiner Anhänger.

254.

Zunahme des Interessanten. Im Verlaufe der höhern Bildung wird dem Menschen Alles interessant, er weiss die belehrende Seite einer Sache rasch zu finden und den Punkt anzugeben, wo eine Lücke seines Den- kens mit ihr ausgefüllt oder ein Gedanke durch sie be- stätigt werden kann. Dabei verschwindet immer melir die Langeweile, dabei auch die übermässige Erregbarkeit des Gemüths. Er geht zuletzt, wie ein Naturforscher unter Pflanzen, so unter Menschen herum und nimmt sich selber als ein Phänomen wahr, welches nur seinen erkennenden Trieb stark anregt.

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Aberglaube im Gleichzeitigen. Etwas Gleichzeitiges hängt zusammen, meint man. Ein \'er- wandter stirbt in der Ferne, zu gleicher Zeit träumen wir von ihm also! Aber zahllose Verwandte sterben und wir träumen nicht" von ihnen. Es ist wie bei den Schiffbrüchigen, welche Gelübde thun : man sieht später im Tempel die Votivtafeln Derer, welche zu Grunde giengen, nicht. Ein Mensch stirbt, eine Eule krächzt, eine Uhr steht still, alles in Einer Nachtstunde: sollte da nicht ein Zusammenhang sein? Eine solche Vertraulich- keit mit der Natur, wie diese Ahnung sie annimmt, schmeichelt den Menschen. Diese Gattung des Aber- glaubens findet sich in verfeinerter Form bei Historikern

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und Culturmalern wieder, welche vor allem sinnlosen Nebeneinander, an dem doch das Leben der Einzelnen und der Völker so reich ist, eine Art Wasserscheu zu haben pflegen.

256.

Das Können, nicht das Wissen, durch die Wissenschaft geübt. Der Werth davon, dass man zeitweilig eine strenge Wissenschaft streng betrieben hat, beruht nicht gerade in deren Ergebnissen: denn diese werden, im Verhältniss zum IMeere des Wissens- werthen, ein verschwindend kleiner Tropfen sein. Aber es ergiebt einen Zuwachs an Energie, an Schlussver- mögen , an Zähigkeit der Ausdauer ; man hat gelernt, einen Zweck zweckmässig zu erreichen. Insofern ist es sehr schätzbar, in Hinsicht auf Alles, was man später treibt, einmal ein wissenschaftlicher JMensch ge- wesen zu sein.

257-

Jugendreiz der Wissenschaft. Das Forschen nach Wahrheit hat jetzt noch den Reiz, dass sie sich überall stark gegen den grau und langweilig gewordenen Irrthum abhebt; dieser Reiz verliert sich immer mehr. Jetzt zwar leben wir noch im Jugendzeitalter der Wissenschaft und pflegen der Wahrheit wie einem schönen Mädchen nachzugehen; wie aber, wenn sie eines Tages zum ältlichen, mürrisch blickenden Weibe geworden ist? Fast in allen Wissenschaften ist die Grundeinsicht entweder erst in jüngster Zeit gefunden oder wird noch gesucht; wie anders reizt diess an, als wenn alles Wesentliche gefunden ist und nur noch eine kümmerliche Herbstnachlcse dem Forscher übrig bleibt

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(welche Empfindung man in einigen historischen Disciplinen kennen lernen kann).

258.

Die Statue der Menschheit. Der Genius der Cultur verfährt wie CeUini, als dieser den Guss seiner Perseus- Statue machte: die flüssige Masse drohte nicht auszureichen, aber sie sollte es: so warf er Schüsseln und Teller und was ihm sonst in die Hände kam, hinein. Und ebenso wirft jener Genius Irrthümer Laster Hoff- nungen Wahnbilder und andere Dinge von schlechterem wie von edlerem Metalle hinein, denn die Statue der Menschheit muss herauskommen und fertig werden; was liegt daran, dass hier und da geringerer Stoff verwendet wurde ?

259.

Eine Cultur der Männer. Die griechische Cultur der classischen Zeit ist eine Cultur der Männer. Was die Frauen anlangt, so sagt Perikles in der Grabrede Alles mit den Worten: sie seien am besten, wenn unter Männern so wenig als möglich von ihnen gesprochen werde. Die erotische Beziehung der Männer zu den Jünglingen war in einem unserem Verständniss unzugäng- lichen Grade die nothwendige , einzige Voraussetzung aller männlichen Erziehung (ungefähr wie lange Zeit alle höhere Erziehung der Frauen bei uns erst durch die Liebschaft und Ehe herbeigeführt wurde); aller Idealismus der Kraft der griechischen Natur warf sich auf jenes Verhältniss , und wahrscheinlich sind junge Leute niemals wieder so aufmerksam, so liebevoll, so durchaus in Hinsicht auf ihr Bestes (virtus) behandelt worden wie im sechsten und fünften Jahrhundert also

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gemäss dem schönen Spruche Hölderlin's „denn hebend giebt der Sterbhche vom Besten". Je höher dieses Ver- hältniss genommen wurde, um so tiefer sank der Verkehr mit der Frau: der Gesichtspunkt der Kandererzeugung und der Wollust Nichts weiter kam hier in Betracht; es gab keinen geistigen Verkehr, nicht einmal eine eigent- liche Liebschaft. Erwägt man femer, dass sie selbst vom Wettkampfe und Schauspiele jeder Art ausgeschlossen waren so bleiben nur die rehgiösen Culte als einzige höhere Unterhaltung der Weiber. Wenn man nun allerdings in der Tragödie Elektra und Antigone vor- führte, so ertrug man diess eben in der Kunst, obschon man es im Leben nicht mochte: so wie wir jetzt alles Pathetische im Leben nicht vertragen, aber in der Kunst gern sehen, Die Weiber hatten weiter keine Aufgabe als schöne machtvolle Leiber hervorzubringen, in denen der Charakter des Vaters möglichst ungebrochen weiter lebte, und damit der überhand nehmenden Nervenüber- reizung einer so hochentwickelten Cultur entgegenzu- wirken. Diess hielt die griechische Cultur verhältniss- mässig so lange jung; denn in den griechischen Müttern kehrte immer wieder der griechische Genius zur Natur zurück.

260.

Das Vorurtheil zu Gunsten der Grösse. Die Menschen überschätzen ersichtlich alles Grosse und Her- vorstechende. Diess kommt aus der bewussten oder un- bewussten Einsicht her, dass sie es sehr nützlich finden, wenn Einer alle Kraft auf Ein Gebiet wirft und aus sich gleichsam Ein monströses Organ macht. Sicherlich ist dem Menschen selber eine gleichmässige Ausbildung seiner Kräfte nützlicher und glückbringender; denn jedes

Nietzsche, Werke Band 11. 16

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Talent ist ein Vampyr, welcher den übrig-en Kräften Blut und Kraft aussaugt, und eine übertriebene Produc- tion kann den begabtesten Menschen fast zur Tollheit bringen. Auch innerhalb der Künste erregen die extremen Naturen viel zu sehr die Aufmerksamkeit; aber es ist auch eine viel geringere Cultur nöthig, um von ihnen sich fesseln zu lassen. Die Menschen unterwerfen sich aus Gewohnheit Allem, was Macht haben will.

261.

Die Tyrannen des Geistes. Nur wohin der Strahl des Mythus fällt, da leuchtet das Leben der Griechen; sonst ist es düster. Nun berauben sich die griechischen Philosophen eben dieses Mythus: ist es nicht, als ob sie aus dem Sonnenschein sich in den Schatten, in die Düsterkeit setzen wollten? Aber keine Pflanze geht dem Lichte aus dem Wege; im Grunde suchten jene Philosophen nur eine hellere Sonne, der Mythus war ihnen nicht rein, nicht leuchtend genug Sie fanden diess Licht in ihrer Erkenntniss, in dem, was Jeder von ihnen seine „Wahrheit" nannte. Damals aber hatte die Erkenntniss noch einen grösseren Glanz ; sie war noch jung und wusste noch wenig von allen Schwierigkeiten und Gefahren ihrer Pfade; sie konnte damals noch hoffen, mit einem einzigen Sprung an den Mittelpunkt alles Seins zu kommen und von dort aus das Räthsel der Welt zu lösen. Diese Philosophen hatten einen handfesten Glauben an sich und ihre „Wahrheit" und warfen mit ihr alle ihre Nachbarn und Vorgänger nieder; Jeder von ihnen war ein streitbarer gewaltthätiger Tyrann. Vielleicht war das Glück im Glauben an den Besitz der Wahrheit nie grösser in der Welt, aber auch

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nie die Härte, der Übermuth, das Tyrannische und Böse eines solchen Glaubens. Sie waren Tyrannen, also Das, was jeder Grieche sein wollte und was jeder war, wenn er es sein konnte. Vielleicht macht nur Solon eine Ausnahme; in seinen Gedichten sagt er es, wie er die persönliche Tyrannis verschmäht habe. Aber er that es aus Liebe zu seinem Werke, zu seiner Gesetzgebung; und Gesetzgeber sein ist eine sublimirtere Form des Tyrannenthums. Auch Parmenides gab Gesetze, wohl auch Pythagoras und Empedokles; Anaximander grün- dete eine Stadt. Plato war der fleischgewordne Wunsch, der höchste philosophische Gesetzgeber und Staaten- gTünder zu werden; er scheint schrecklich an der Nicht- erfüllung seines Wesens gelitten zu haben, und seine Seele wurde gegen sein Ende hin voll der schwärzesten Galle. Je mehr das griechische Phüosophenthum an Macht verlor, um so mehr litt es innerlich durch diese Galligkeit und Schmähsucht; als erst die verschiedenen Secten ihre Wahrheiten auf den Strassen verfochten, da waren die Seelen aller dieser Freier der Wahrheit durch Eifer- und Geifersucht völlig verschlammt, das tyrannische Element wüthete jetzt als Gift in ihrem eigenen Körper. Diese vielen kleinen Tyrannen hätten sich roh fressen mögen; es war kein Funke mehr von Liebe und allzu- wenig Freude an ihrer eigenen Erkenntniss in ihnen übrig geblieben. Überhaupt gilt der Satz, dass Tyrannen meistens ermordet werden und dass ihre Nachkommen- schaft kurz lebt, auch von den Tyrannen des Geistes. Ihre Geschichte ist kurz, gewaltsam, ihre Nachwirkung bricht plötzlich ab. Fast von allen grossen Hellenen kann man sagen, dass sie zu spät gekommen scheinen, so von Äschylus, von Pindar, von Demosthenes, von Thukydides; ein Geschlecht nach ihnen und dann ist

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es immer völlig vorbei. Das ist das Stürmische und Unheimliche in der griechischen Geschichte. Jetzt zwar bewundert man das Evangelium der Schildkröte. Ge- schichtlich denken heisst jetzt fast so viel, als ob zu allen Zeiten nach dem Satze Geschichte gemacht worden wäre: „möglichst wenig in möglichst langer Zeit!" Ach, die griechische Geschichte läuft so rasch! Es ist nie wieder so verschwenderisch, so maasslos gelebt worden. Ich kann mich nicht überzeugen, dass die Geschichte der Griechen jenen natürlichen Verlauf genommen habe, der so an ihr gerühmt wird. Sie waren viel zu mannich- fach begabt dazu, um in jener schrittweisen Manier allmählich zu sein, wie es die Schildkröte im Wettlauf mit Achilles ist: und das nennt man ja natürhche Ent- wicklung. Bei den Griechen geht es schnell vorwärts, aber eben so schnell abwärts; die Bewegung der ganzen Maschine ist so gesteigert, dass ein einziger Stein, in ihre Räder geworfen , sie zerspringen macht. Ein solcher Stein war zum Beispiel Sokrates; in einer Nacht war die bis dahin so wunderbar regelmässige, aber freihch allzu schleunige Entwicklung der philosophischen Wissenschaft zerstört. Es ist keine müssige Frage, ob nicht Plato, von der sokratischen Verzauberung frei geblieben, einen noch höheren Typus des philosophischen Menschen ge- funden hätte, der uns auf immer verloren ist. Man sieht in die Zeiten vor ihm wie in eine Bildner -Werkstätte solcher Typen hinein. Das sechste und fünfte Jahrhundert scheint aber doch noch mehr und Höheres zu verheissen, als es selber hervorgebracht hat; aber es blieb bei dem Verheissen und Ankündigen. Und doch giebt es kaum einen schwereren Verlust als den Verlust eines Typus, einer neuen, bis dahin unentdeckt gebliebenen höchsten Möglichkeit des philosophischen Lebens. Selbst

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von den älteren Typen sind die meisten schlecht über- liefert; es scheinen mir alle Philosophen von Thaies bis Demokrit ausserordentlich schwer erkennbar; wem es aber gelingt diese Gestalten nachzuschafFen, der wandelt unter Gebilden von mächtigstem und reinstem Typus. Diese Fähigkeit ist freilich selten, sie fehlte selbst den späteren Griechen, welche sich mit der Kunde der älteren Philosophie befassten ; Aristoteles zumal scheint seine Augen nicht im Kopfe zu haben, wenn er vor den Be- zeichneten steht. Und so scheint es, als ob diese herr- lichen Philosophen umsonst gelebt hätten, oder als ob sie gar nur die streit- und redelustigen Schaaren der sokratischen Schulen hätten vorbereiten sollen. Es ist hier wie gesagt eine Lücke, ein Bruch in der Ent- wicklung; irgend ein grosses Unglück muss geschehen sein, und die einzige Statue, an welcher man Sinn und Zweck jener grossen bildnerischen Vorübung erkannt haben würde, zerbrach oder misslang: was eigentlich ge- schehen ist, ist für immer ein Geheimniss der Werkstätte geblieben. Das, was bei den Griechen sich ereignete dass jeder grosse Denker im Glauben daran, Besitzer der absoluten Wahrheit zu sein, zum Tyrannen wurde, so dass auch die Geschichte des Geistes bei den Griechen jenen gewaltsamen übereilten und gefährHchen Charakter bekommen hat, den ihre politische Geschichte zeigt , diese Art von Ereignissen war damit nicht erschöpft: es hat sich vieles Gleiche bis in die neueste Zeit hinein be- geben, obwohl allmählich seltener und jetzt schwerlich mehr mit dem reinen naiven Gewissen der griechischen Philosophen. Denn im Ganzen redet jetzt die Gegenlehre und die Skepsis zu mächtig, zu laut Die Periode der Tyrannen des Geistes ist vorbei. In den Sphären der höheren Cultur wird es freilich immer eine Herrschaft

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geben müssen aber diese Herrschaft liegt von jetzt ab in den Händen der OHgarchen des Geistes. Sie bilden, trotz aller räumlichen und politischen Trennung, eine zusammengehörige Gesellschaft, deren Mitglieder sich erkennen und anerkennen, was auch die öffentliche Meinung und die Urtheile der auf die Masse wirkenden Tages- und Zeitschriftsteller für Schätzungen der Gunst und Abgunst in Umlauf bringen mögen. Die geistige Überlegenheit, welche früher trennte und verfeindete, pflegt jetzt zu binden: wie könnten die Einzelnen sich selbst behaupten und auf eigener Bahn, allen Strömungen entgegen, durch das Leben schwimmen, wenn sie nicht ihres Gleichen hier und dort unter gleichen Bedingungen leben sähen und deren Hand ergriffen, im Kampfe eben- so sehr gegen den ochlokratischen Charakter des Halb- geistes und der Halbbildung, als gegen die gelegentlichen Versuche, mit Hülfe der Massenwirkung eine Tyrannei aufzurichten? Die OHgarchen sind einander nöthig, sie haben an einander ihre beste Freude, sie verstehen ihre Abzeichen aber trotzdem ist ein Jeder frei, er kämpft und siegt an seiner Stelle und geht lieber unter, als sich zu unterwerfen.

262.

Homer. Die grösste Thatsache in der griechischen Bildung bleibt doch die, dass Homer so frühzeitig pan- hellenisch wurde. Alle geistige und menschliche Freiheit, die die Griechen erreichten, geht auf diese Thatsache zurück. Aber zugleich ist es das eigentliche Verhängniss der griechischen Bildung gewesen, denn Homer ver- flachte, indem er centrahsirte, und löste die ernsteren Instincte der Unabhängigkeit auf. Von Zeit zu Zeit

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erhob sich aus dem tiefsten Grunde des Hellenischen der Widerspruch gegen Homer; aber er blieb immer siegreich. Alle grossen geistigen Mächte üben neben ihrer befreienden Wirkung auch eine unterdrückende aus; aber freilich ist es ein Unterschied, ob Homer oder die Bibel oder die Wissenschaft die Menschen tyrannisiren.

263.

Begabung. In einer so hoch entwickelten Mensch- heit, wie die jetzige ist, bekommt von Natur Jeder den Zugang zu vielen Talenten mit; jeder hat angeborenes Talent, aber nur Wenigen ist der Grad von Zähigkeit Ausdauer Energie angeboren und anerzogen, so dass er wirklich ein Talent wird, also wird, was er ist, das heisst: es in Werken und Handlungen entladet

264.

Der Geistreiche entweder überschätzt oder unterschätzt. Unwissenschaftliche aber begabte Menschen schätzen jedes Anzeichen von Geist, sei es nun, dass er auf wahrer oder falscher Fährte ist; sie wollen vor Allem, dass der Mensch, der mit ihnen ver- kehrt, sie gut mit seinem Geist unterhalte, sie ansporne, entflamme, zu Ernst und Scherz fortreisse und jedenfalls vor der Langenweile als kräftigstes Amulet schütze. Die wissenschaftlichen Naturen wissen dagegen, dass die Be- gabung, allerhand Einfälle zu haben, auf das strengste durch den Geist der Wissenschaft gezügelt werden müsse; nicht Das, was glänzt scheint erregt, sondern die oft unscheinbare Wahrheit ist die Frucht, welche er vom Baume der Erkenntniss zu schütteln wünscht Er darf

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wie Aristoteles, zwischen „Langweiligen" und „Geist- reichen" keinen Unterschied machen, sein Dämon führt ihn durch die Wüste ebenso wie durch tropische Vege- tation, damit er überall nur an dem Wirklichen Halt- baren Ächten seine Freude habe. Daraus ergiebt sich, bei unbedeutenden Gelehrten, eine Missachtung und Ver- dächtigung des Geistreichen überhaupt, und wiederum haben geistreiche Leute häufig eine Abneigrmg gegen die Wissenschaft; wie zum Beispiel fast alle Künstler.

265.

Die Vernunft in der Schule. Die Schule hat keine wichtigere Aufgabe, als strenges Denken, vor- sichtiges Urtheilen, consequentes Schliessen zu lehren: desshalb hat sie von allen Dingen abzusehen, die nicht für diese Operationen tauglich sind, zum Beispiel von der Religion. Sie kann ja darauf rechnen, dass menschliche Unklarheit, Gewöhnung und Bedürfniss später doch wieder den Bogen des allzustraffen Denkens abspannen. Aber so lange ihr Einfluss reicht, soll sie Das erzwingen, was das Wesentliche und Auszeichnende am Menschen ist: „Vernunft und Wissenschaft, des Menschen aller- höchste Kraft" wie wenigstens Goethe urtheilt Der grosse Naturforscher von Baer findet die Überlegen- heit aller Europäer im Vergleich zu Asiaten in der ein- geschulten Fähigkeit, dass sie Gründe für Das, was sie glauben, angeben können, wozu diese aber völlig unfähig sind. Europa ist in die Schule des consequenten und kritischen Denkens gegangen, Asien weiss immer noch nicht zwischen Wahrheit und Dichtung zu unterscheiden und ist sich nicht bewusst, ob seine Überzeugungen aus eigener Beobachtung und regelrechtem Denken oder aus

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Phantasien stammen. Die Vernunft in der Schule hat Europa zu Europa gemacht: im Mittelalter war es auf dem Wege, wieder zu einem Stück und Anhängsel Asiens zu werden also den wissenschaftlichen Sinn, welchen es den Griechen verdankte, einzubüssen."

266.

Unterschätzte Wirkung des gymnasialen Unterrichts. Man sucht den Werth des Gym- nasiums selten in den Dingen, welche wirklich dort ge- lernt und von ihm unverlierbar heimgebracht werden, sondern in denen, welche man lehrt, welche der Schüler sich aber nur mit Widerwillen aneignet, um sie so schnell er darf von sich abzuschütteln. Das Lesen der Classiker das giebt jeder Gebildete zu ist so, wie es überall getrieben wird, eine monströse Procedur: vor jungen Menschen, welche in keiner Beziehung dazu reif sind, von Lehrern, welche durch jedes Wort, oft durch ihr Erscheinen schon einen Mehlthau über einen guten Autor legen. Aber darin liegt der Werth, der gewöhn- lich verkannte dass diese Lehrer die abstracte Sprache der höheren Cultur reden, schwerfällig und schwer zum Verstehen, wie sie ist, aber eine hohe Gymnastik des Kopfes; dass Begriffe Kunstausdrücke Methoden Anspielungen in ihrer Sprache fortwährend vorkommen, welche die jungen Leute im Gespräche ihrer Angehörigen und auf der Gasse fast nie hören. Wenn die Schüler nur hören, so wird ihr Intellect zu einer wissenschafthchen Betrachtungsweise unwillkürlich prä- formirt. Es ist nicht möglich, aus dieser Zucht, völlig unberührt von der Abstraction, als reines Naturkind herauszukommen.

2ÖO 267.

Viele Sprachen lernen. Viele Sprachen lernen füllt das Gedächtniss mit Worten statt mit That- sachen und Gedanken, während diess ein Behältniss ist, welches bei jedem Menschen nur eine bestimmt be- grenzte Masse von Inhalt aufnehmen kann. Sodann schadet das Lernen vieler Sprachen, insofern es den Glauben, Fertigkeiten zu haben, erweckt und thatsächlich auch ein gewisses verführerisches Ansehen im Verkehr verleiht; es schadet sodann auch indirect, dadurch dass es dem Erwerben gründlicher Kenntnisse und der Ab- sicht, auf redliche Weise die Achtung der Menschen zu verdienen, entgegenwirkt. Endlich ist es die Axt, welche dem feineren Sprachgefühl innerhalb der Muttersprache an die Wurzel gelegt wird: diess wird dadurch unheilbar beschädigt und zu Grunde gerichtet. Die beiden Völker, welche die grössten Stilisten erzeugten, Griechen und Franzosen, lernten keine fremden Sprachen. Weil aber der Verkehr der Menschen immer kosmopolitischer werden muss und zum Beispiel ein rechter Kaufmann in London jetzt schon sich in acht Sprachen schriftlich und mündlich verständlich zu machen hat, so ist freilich das Viele- Sprachen - lernen ein nothwendiges Übel; weiches aber, zuletzt zum Äussersten kommend, die Menschheit zwingen wird, ein Heilmittel zu finden: und in irgend einer fernen Zukunft wird es eine neue Sprache, zuerst als Handels- sprache dann als Sprache des geistigen Verkehrs überhaupt, für Alle geben, so gewiss als es einmal Luft-Schifffahrt giebt. Wozu hätte auch die Sprachwissen- schaft ein Jahrhundert lang die Gesetze der Sprachen studiert und das Nothwendige Werthvolle Gelungene an jeder einzelnen Sprache abgeschätzt!

2.S1

268.

Zur Kriegsgeschichte des Individuums. Wir finden in ein einzelnes Menschenleben, welches durch mehrere Culturen geht, den Kampf zusammengedrängt, welcher sich sonst zwischen zwei Generationen, zwischen Vater und Sohn, abspielt: die Nähe der Verwandtschaft verschärft diesen Kampf, weil jede Partei schonungslos das ihr so gut bekannte Innre der anderen Partei mit hineinzieht; und so wird dieser Kampf im einzelnen Individuum am erbittertsten sein ; hier schreitet jede neue Phase über die frühere mit grausamer Ungerechtigkeit und Verkennung von deren Mitteln und Zielen hinweg.

269.

Um eine Viertelstunde früher. Man findet gelegentlich Einen, der mit seinen Ansichten über seiner Zeit steht, aber doch nur um so viel, dass er die Vulgär- ansichten des nächsten Jahrzehends vorwegnimmt. Er hat die öffentliche Meinung eher, als sie öffentlich ist, das heisst: er ist einer Ansicht, die es verdient trivial zu werden, eine Viertelstunde eher in die Arme gefallen als Andere. Sein Ruhm pflegt aber viel lauter zu sein als der Ruhm der wirklichen Grossen und Überlegenen.

270.

Die Kunst zu lesen. Jede starke Richtung ist einseitig; sie nähert sich der Richtung der geraden Linie und ist wie diese ausschliessend ; das heisst sie berührt nicht viele andere Richtungen, wie dies schwache Parteien und Naturen in ihrem wellenhaften Hin- und

252

Hergehen thun: das muss man also auch den Philo- logen nachsehen, dass sie einseitig sind. Herstellung und Reinhaltung der Texte nebst der Erklärung derselben, in einer Zunft jahrhundertlang fortgetrieben, hat endlich jetzt die richtigen Methoden finden lassen; das ganze Alittelalter war tief unfähig zu einer streng philologischen Erklärung, das heisst zum einfachen Verstehenwollen dessen, was der Autor sagt, es war etwas, diese Methoden zu finden, man unterschätze es nicht! Alle Wissenschaft hat dadurch erst Continuität und Stätigkeit gewonnen, dass die Kunst des richtigen Lesens, das heisst die Philologie, auf ihre Höhe kam.

271.

Die Kunst zu schliessen. Der grösste Fort- schritt, den die Menschen gemacht haben, liegt darin, dass sie richtig schliessen lernen. Das ist gar nicht so etwas Natürliches, wie Schopenhauer annimmt, wenn er sagt: „zu schliessen sind Alle, zu urtheilen Wenige fähig", sondern ist spät erlernt und jetzt noch nicht zur Herrschaft gelangt. Das falsche Schliessen ist in älteren Zeiten die Regel: und die Mythologie aller Völker, ihre Magie und ihr Aberglaube, ihr religiöser Cultus, ihr Recht sind die unerschöpflichen Beweis-Fundstätten für diesen Satz.

272.

Jahresringe der individuellen Cultur. Die Stärke und Schwäche der geistigen Productivität hängt lange nicht so an der angeerbten Begabung, als an dem mitgegebenen Maasse von Spannkraft. Die meisten jungen Gebildeten von dreissig Jahren gehen um diese

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Fruhsonnenwende ihres Lebens zurück und sind für neue geistige Wendungen von da an unlustig. Desshalb ist dann gleich wieder zum Heile einer fort und fort wach- senden Cultur eine neue Generation nöthig, die es nun aber ebenfalls nicht weit bringt: denn um die Cultur des Vaters nachzuholen, muss der Sohn die an geerbte Energie, welche der Vater auf jener Lebensstufe, als er den Sohn zeugte, selber besass, fast aufbrauchen; mit dem kleinen Überschuss kommt er weiter (denn weil hier der Weg zum zweiten Male gemacht wird, geht es ein wenig leichter und schneller vorwärts; der Sohn ver- braucht, um dasselbe zu lernen, was der Vater wusste, nicht ganz so viel Kraft). Sehr spannkräftige Männer wie zum Beispiel Goethe durchmessen so viel, als kaum vier Gene- rationen hinter einander vermögen; desshalb kommen sie aber zu schnell voraus , so dass die anderen Menschen sie erst in dem nächsten Jahrhundert einholen, vielleicht nicht einmal völlig, weil durch die häufigen Unterbrech- ungen die Geschlossenheit der Cultur, die Consequenz der Entwicklung geschwächt worden ist. Die gewöhn- lichen Phasen der geistigen Cultur, welche im Verlauf der Geschichte errungen ist, holen die Menschen immer schneller nach. Sie beginnen gegenwärtig in die Cultur als religiös bewegte Kinder einzutreten und bringen es vielleicht im zehnten Lebensjahre zur höchsten Lebhaftig- keit dieser Empfindungen, gehen dann in abgeschwäch- tere Formen (Pantheismus) über, während sie sich der Wissenschaft nähern; kommen über Gott Unsterblichkeit und dergleichen ganz hinaus, aber verfallen den Zaubern einer metaphysischen Philosophie. Auch diese wird ihnen endlich unglaubwürdig; die Kunst scheint dagegen immer mehr zu gewähren, so dass eine Zeitlang die Meta- physik kaum noch in einer Umwandlung zur Kunst

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oder als künstlerisch verklärende Stimmung übrig bleibt und fortlebt. Aber der wissenschaftliche Sinn wird immer gebieterischer und führt den Mann hin zur Naturwissen- schaft und Historie und namentlich zu den strengsten Methoden des Erkennens, während der Kunst eine immer mildere und anspruchslosere Bedeutung zufällt. Diess Alles pflegt sich jetzt innerhalb der ersten dreissig Jahre eines Mannes zu ereignen. Es ist die Recapitulation eines Pensums, an welchem die Menschheit vielleicht dreissigtausend Jahre sich abgearbeitet hat.

273.

Zurückgegangen, nicht zurückgeblieben. Wer gegenwärtig seine Entwicklung noch aus religiösen Empfindungen heraus anhebt und vielleicht längere Zeit nachher in Metaphysik und Kunst weiterlebt, der hat sich allerdings ein gutes Stück zurückbegeben und be- ginnt sein Wettrennen mit anderen modernen Menschen unter ungünstigen Voraussetzungen: er verliert scheinbar Raum und Zeit. Aber dadurch, dass er sich in jenen Bereichen aufhielt, wo Gluth und Energie entfesselt werden und fortwährend Macht als vulcanischer Strom aus unversiegter Quelle strömt, kommt er dann, sobald er sich nur zur rechten Zeit von jenen Gebieten getrennt hat, um so schneller vorwärts, sein Fuss ist beflügelt, seine Brust hat ruhiger länger ausdauernder athmen ge- lernt. — Er hat sich nur zurückgezogen, um zu seinem Sprunge genügenden Raum zu haben: so kann selbst etwas Fürchterliches Drohendes in diesem Rückgange liegen.

255 -

274-

Ein Ausschnitt unseres Selbst als künst- lerisches Object. Es ist ein Zeichen überlegener Cultur, gewisse Phasen der Entwicklung, welche die geringeren Menschen fast gedankenlos durchleben und von der Tafel ihrer Seele dann wegwischen, mit Be- wusstsein festzuhalten und ein getreues Bild davon zu entwerfen: diess ist die höhere Gattung der Maler- kunst, welche nur Wenige verstehen. Dazu wird es nöthig, jene Phasen künstlich zu isoliren. Die historischen Studien bilden die Befähigung zu diesem Malerthum aus, denn sie fordern uns fortwährend auf, bei Anlass eines Stückes Geschichte eines Volkes oder Menschen- lebens — uns einen ganz bestimmten Horizont von Ge- danken, eine bestimmte Stärke von Empfindungen, das Vorwalten dieser, das Zurücktreten jener vorzustellen. Darin, dass man solche Gedanken- und Gefühlssysteme aus gegebenen Anlässen schnell reconstruiren kann, wie den Eindruck eines Tempels aus einigen zufällig stehen gebliebenen Säulen und Mauerresten, besteht der historische Sinn. Das nächste Ergebniss desselben ist, dass wir unsere Mitmenschen als ganz bestimmte solche Systeme und Vertreter verschiedener Cultviren verstehen, das heisst als nothwendig, aber als verän- derlich. Und wiederum: dass wir in unserer eigenen Ent- wicklung Stücke heraustrennen und selbständig hinstellen können.

275-

Cyniker und Epikureer. Der Cyniker er- kennt den Zusammenhang zwischen den vermehrten und stärkeren Schmerzen des höher cultivirten Menschen und

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der Fülle von Bedürfnissen; er begreift also, dass die Menge von Meinungen über das Schöne vSchickliche Geziemende Erfreuende ebenso sehr reiche Genuss-, aber auch Unlustquellen entspringen lassen musste. Gemäss dieser Einsicht bildet er sich zurück, indem er viele dieser Meinungen aufgiebt und sich gewissen An- forderungen der Cultur entzieht; damit gewinnt er ein Gefühl der Freiheit und der Kräftigung, und allmählich, wenn die Gewohnheit ihm seine Lebensweise erträglich macht, hat er in der That seltnere und schwächere Unlustempfindungen als die cultivirten Menschen und nähert sich dem Hausthier an; überdiess empfindet er Alles im Reiz des Contrastes und schimpfen kann er ebenfalls nach Herzenslust: so dass er dadurch wieder hoch über die Empfindungswelt des Thieres hinaus- kommt. — Der Epikureer hat denselben Gesichtspunkt wie der Cyniker; zwischen ihm und Jenem ist gewöhn- lich nur ein Unterschied des Temperamentes. Sodann benutzt der Epikureer seine höhere Cultur, um sich von den herrschenden Meinungen unabhängig zu machen; er erhebt sich über dieselben, während der Cyniker nur in der Negation bleibt. Er wandelt gleichsam in wind- stillen wohlgeschützten halbdunklen Gängen, während über ihm, im Winde, die Wipfel der Bäume brausen und ihm verrathen, wie heftig bewegt da draussen die Welt ist. Der Cyniker dagegen geht gleichsam nackt draussen im Windeswehen umher und härtet sich bis zur Gefühl- losigkeit ab.

276.

Mikrokosmus und Makrokosmus der Cultur. Die besten Entdeckungen über die Cultur macht der Mensch in sich selbst, wenn er darin zwei heterogene

2S7

Mächte waltend findet. Gesetzt, es lebe Einer ebenso- sehr in der Liebe zur bildenden Kunst oder zur Musik, als er vom Geiste der Wissenschaft fortgerissen wird, und er sehe es als unmöglich an , diesen Widerspruch durch Vernichtung der einen und volle Entfesselung der anderen Macht aufzuheben: so bleibt ihm nur übrig, ein so grosses Gebäude der Cultur aus sich zu gestalten, dass jene beiden Mächte, wenn auch an verschiedenen Enden desselben, in ihm wohnen können, während zwischen ihnen versöhnende Mittelmächte, mit überwie- gender Kraft, um nöthigenfalls den ausbrechenden Streit zu schlichten, ihre Herberge haben. Ein solches Ge- bäude der Cultur im einzelnen Individuum wird aber die grösste Ähnlichkeit mit dem Culturbau in ganzen Zeit- perioden haben und eine fortgesetzte analogische Be- lehrung über denselben abgeben. Denn überall, wo sich die grosse Architektur der Cultur entfaltet hat, war ihre Aufgabe, die einander widerstrebenden Mächte zur Eintracht vermöge einer übermächtigen Ansammlung der weniger unverträglichen übrigen Mächte zu zwingen, ohne sie desshalb zu unterdrücken und in Fesseln zu schlagen.

277.

Glück und Cultur. Der Anblick der Um- gebungen unserer Kindheit erschüttert uns: das Garten- haus , die Kirche mit den Gräbern , den Teich und den Wald diess sehen wir immer als Leidende wieder. Mitleid mit uns selbst ergreift uns, denn was haben wir seitdem Alles durchgelitten! Und hier steht Jegliches noch so still, so ewig da: nur wir sind so anders, so bewegt; selbst etliche Menschen finden wir wieder, an welchen die Zeit nicht mehr ihren Zahn gewetzt hat

Ni etliche, Werke Band II. I7

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als an einem Eichbaume: Bauern, Fischer. "VValdbewohncr sie sind dieselben. Erschütterung, Selbstmitleid im Angesichte der niederen Cultur ist das Zeichen der höheren Cultur; woraus sich ergiebt, dass durch diese das Glück jedenfalls nicht gemehrt worden ist. Wer eben Glück und Behagen vom Leben ernten will, der mag nur immer der höheren Cultur aus dem Wege gehen. ^

278.

Gleichniss vom Tanze. Jetzt ist es als das entscheidende Zeichen grosser Cultur zu betrachten, wenn Jemand jene Kraft und Biegsamkeit besitzt, um ebenso rein und streng im Erkennen zu sein als, in anderen Momenten, auch befähigt, der Poesie Religion und Metaphysik gleichsam hundert Schritt vorzugeben und ihre Gewalt und Schönheit nachzuempfinden. Eine solche Stellung zwischen zwei so verschiedenen An- sprüchen ist sehr schwierig, denn die Wissenschaft drängt zur absoluten Herrschaft ihrer Methode, und wird diesem Drängen nicht nachgegeben, so entsteht die andere Gefahr eines schwächlichen Auf- und Nieder- schwankens zwischen verschiedenen Antrieben. Indessen: um wenigstens mit einem Gleichniss einen Bhck auf die Lösung dieser Schwierigkeit zu eröffnen, möge man sich doch daran erinnern, dass der Tanz nicht dasselbe wie ein mattes Hin- und Hfertaumeln zwischen verschiedenen Antrieben ist. Die hohe Cultur wird einem kühnen Tanze ähnlich sehen: wesshalb, wie gesagt, viel Kraft und Geschmeidigkeit noth thut.

279. Von der Erleichterung des Lebens. Ein Hauptmittel, um sich das Leben zu erleichtern, ist das

259

Idealisiren aller Vorgänge desselben; man soll sich aber aus der Malerei recht deutlich machen, was idealisiren heisst Der Maler verlangt, dass der Zuschauer nicht zu genau, zu scharf zusehe, er zwingt ihn in eine ge- wisse Feme zurück, damit er von dort aus betrachte; er ist genöthigt, eine ganz bestimmte Entfernung des Betrachters vom Bilde vorauszusetzen; ja er muss sogar ein ebenso bestimmtes Maass von Schärfe des Auges bei seinem Betrachter annehmen; in solchen Dingen darf er durchaus nicht schwanken. Jeder also, der sein Leben idealisiren will, muss es nicht zu genau sehen wollen und seinen Blick immer in eine gewisse Ent- fernung zurückbannen. Dieses Kunststück verstand zum Beispiel Goethe.

280.

Erschwerung als Erleichterung und umge- kehrt — Vieles, was auf gewissen Stufen des Menschen Erschwerung des Lebens ist, dient einer höheren Stufe als Erleichterung, weil solche Menschen stärkere Er- schwerungen des Lebens kennen gelernt haben. Ebenso kommt das Umgekehrte vor: so hat zum Beispiel die Religion ein doppeltes Gesicht, je nachdem ein Mensch zu ihr hinaufbückt, um von ihr sich seine Last und Noth abnehmen zu lassen, oder auf sie hinabsieht, wie auf die Fessel, welche ihm angelegt ist, damit er nicht zu hoch in die Lüfte steige.

281.

Die höhere Cultur wird nothwendig miss- verstanden. — Wer sein Instrument nur mit zwei Saiten bespannt hat, wie die Gelehrten, welche ausser dem Wissenstriebe nur noch einen anerzogenen reli-

17*

26o --

giösen haben, der versteht solche Menschen nicht, welche auf mehr Saiten spielen können. Es liegt im Wesen der höheren, vielsaitigeren Cultur, dass sie von der niederen immer falsch gedeutet wird; wie diess zum Beispiel geschieht, wenn die Kunst als eine ver- kappte Form des Religiösen gilt. Ja Leute, die nur religiös sind, verstehen selbst die Wissenschaft als Suchen des religiösen Gefühls, so wie Taubstumme nicht wissen, was Musik ist, wenn nicht sichtbare Bewegung.

2^2.

Klagelied. Es sind vielleicht die Vorzüge unserer Zeiten, welche ein Zurücktreten und eine gelegentliche Unterschätzung der vtta contemplativa mit sich bringen. Aber eingestehen muss man es sich, dass unsere Zeit arm ist an grossen Moralisten , dass Pascal , Epiktet, Seneca, Plutarch wenig noch gelesen werden, dass Arbeit und Fleiss sonst im Gefolge der grossen Göttin Ge- sundheit — mitunter wie eine Krankheit zu wüthen scheinen. Weil Zeit zum Denken und Ruhe im Denken fehlt, so erwägt man abweichende Ansichten nicht mehr: man begnügt sich sie zu hassen. Bei der ungeheuren Beschleunigung des Lebens wird Geist und Auge an ein halbes oder falsches Sehen und Urtheilen gewöhnt, und Jedermann gleicht den Reisenden, welche Land und Volk von der Eisenbahn aus kennen lernen. Selbständige und vorsichtige Haltung der Erkenntniss schätzt man beinahe als eine Art Verrücktheit ab; der Freigeist ist in Verruf gebracht, namentlich durch Gelehrte, welche an seiner Kunst, die Dinge zu betrachten, ihre Gründlichkeit und ihren Ameisenfleiss vermissen und ihn gern in einen einzelnen Winkel der Wissenschaft bannen möchten

201

Während er die ganz andere und höhere Aufgabe hat, von einem einsam gelegenen Standorte aus den ganzen Heerbann der wissenschaftUchen und gelehrten Menschen zu befehligen und ihnen die Wege und Ziele der Cultur zu zeigen. Eine solche Klage, wie die eben abge- sungene, wird wahrscheinlich ihre Zeit haben und von selber einmal, bei einer gewaltigen Rückkehr des Genius der Meditation, verstummen.

2S3.

Hauptmangel der thätigen Menschen. Den Thätigen fehlt gewöhnlich die höhere Thätigkeit: ich meine die individuelle. Sie sind als Beamte Kaufleute Gelelirte, das heisst als Gattungswesen thätig, aber nicht als ganz bestimmte einzelne und einzige Menschen; in dieser Hinsicht sind sie faul. Es ist das Unglück der Thätigen, dass ihre Thätigkeit fast immer ein wenig unvernünftig ist. Man darf zum Beispiel bei dem geld- sammelnden Banquier nach dem Zweck seiner rastlosen Thätigkeit nicht fragen: sie ist unvernünftig. Die Thätigen rollen, wie der Stein rollt, gemäss der Dummheit der Mechanik. Alle Menschen zerfallen, wie zu allen Zeiten so auch jetzt noch, in Sclaven und Freie; denn wer von seinem Tage nicht zwei Drittel für sich hat, ist ein Sclave, er sei übrigens wer er wolle; Staatsmann Kaufmann Beamter Gelehrter.

284.

Zu Gunsten der Müssigen. Zum Zeichen dafür, dass die Schätzung des beschaulichen Lebens abgenommen hat, wetteifern die Gelehrten jetzt mit den thätigen Menschen in einer Art von hastigem Genüsse,

202

SO dass sie also diese Art. zu geniessen, höher zu schätzen scheinen als die, welche ihnen eigentlich zukommt und welche in der That viel mehr Genuss ist. Die Gelehrten schämen sich des otiiivi. Es ist aber ein edel Ding um Müsse und Müssiggehen. Wenn Müssiggang wirklich der Anfang aller Laster ist, so befindet er sich also wenigstens in der nächsten Nähe aller Tugenden ; der müssige Mensch ist immer noch ein besserer Mensch als der thätige. Ihr meint doch nicht, dass ich mit Müsse und Müssiggehen auf euch ziele, ihr Faulthiere?

285.

Die moderne Unruhe. Nach dem Westen zu wird die moderne Bewegtheit immer grösser, so dass den Amerikanern die Bewohner Europa's insgesammt sich als ruheliebende- und geniessende Wesen darstellen, während diese doch selbst wie Bienen und Wespen durcheinander fliegen. Diese Bewegtheit wird so gross, dass die höhere Cultur ihre Früchte nicht mehr zeitigen kann: es ist, als ob die Jahreszeiten zu rasch auf ein- ander folgten. Aus Mangel an Ruhe läuft unsre Civili- sation in eine neue Barbarei aus. Zu keiner Zeit haben die Thätigen, das heisst die Ruhelosen, mehr gegolten. Es gehört desshalb zu den nothwendigen Correcturen, welche man am Charakter der Menschheit vornehmen muss, das beschauliche Element in grossem Maasse zu verstärken. Doch hat schon jeder Einzelne, welcher in Herz und Kopf ruhig und stetig ist, das Recht zu glauben, dass er nicht nur ein gutes Temperament, sondern eine allgemein nützliche Tugend besitze und durch die Bewahrung dieser Tugend sogar eine höhere Aufgabe erfülle.

203

286.

Inwiefern der Thätige faul ist. Ich glaube, dass Jeder über jedes Ding, über welches Meinungen möglich sind, eine eigene Meinung haben muss, weil er selber ein eigenes nur einmaliges Ding ist, das zu allen andern Dingen eine neue , nie dagewesene Stellung einnimmt. Aber die Faulheit, welche im Grunde der Seele des Thätigen liegt, verhindert den Menschen, das Wasser aus seinem eigenen Brunnen zu schöpfen. Mit der Freiheit der Meinungen steht es wie mit der Gesundheit: beide sind individuell, von beiden kann kein allgemein gültiger Begriff aufgestellt werden. Das, was das eine Individuum zu seiner Gesundheit nöthig hat, ist für ein anderes schon Grund zur Erkrankung, und manche ]\Iittel und Wege zur Freiheit des Geistes dürfen höher entwickelten Naturen als Wege und Mittel zur Unfreiheit gelten.

287.

Censor vitae. Der Wechsel von Liebe und Hass bezeichnet für eine lange Zeit den inneren Zustand eines Menschen, welcher frei in seinem Urtheil über das Leben werden will; er vergisst nicht und trägt den Dingen Alles nach, Gutes und Böses. Zuletzt, wenn die ganze Tafel seiner Seele mit Erfahrungen voll ge- schrieben ist, wird er das Dasein nicht verachten und hassen, aber es auch nicht lieben, sondern über ihm liegen, bald mit dem Auge der Freude bald mit dem der Trauer, und wie die Natur bald sommerlich bald herbst- lich gesinnt sein.

204

288. Nebenerfolg. Wer ernstlich frei werden will, wird dabei ohne allen Zwang die Neigung zu Fehlern und Lastern mit verlieren ; auch Ärger und Verdruss werden ihn immer seltener anfallen. Sein Wille nämlich will Nichts angelegentlicher als erkennen und das Mittel dazu, das heisst: den andauernden Zustand, in dem er am tüchtigsten zum Erkennen ist.

289.

Werth der Krankheit. Der Mensch, der krank zu Bette liegt, kommt mitunter dahinter, dass er für gewöhnlich an seinem Amte Geschäfte oder an seiner Gesellschaft krank ist und durch sie jede Besonnenheit über sich verloren hat: er gewinnt diese Weisheit aus der Müsse, zu welcher ihn seine Krankheit zwingt.

290.

Empfindung auf dem Lande. Wenn man nicht feste, ruhige Linien am Horizonte seines Lebens hat , Gebirgs- und Waldlinien gleichsam , so wird der innerste Wille des Menschen selber unruhig, zerstreut und begehrlich wie das Wesen des Städters: er hat kein Glück und giebt kein Glück.

291.

Vorsicht der freien Geister. Freigesinnte, der Erkenntniss allein lebende Menschen werden ihr äusser- liches Lebensziel, ihre endgültige Stellung zu Gesellschaft und Staat bald erreicht finden und zum Beispiel mit einem kleinen Amte oder einem Vermögen, das gerade

265

zum Leben ausreicht, gerne sich zufrieden geben; denn sie werden sich einrichten so zu leben, dass eine grosse Verwandlung der äusseren Güter, ja ein Umsturz der politischen Ordnungen ihr Leben nicht mit umwirft. Auf alle diese Dinge verwenden sie so wenig wie möglich an Energie, damit sie mit der ganzen angesammelten Kraft und gleichsam mit einem langen Athem in das Element des Erkennens hinabtauchen. So können sie hoffen, tief zu tauchen und auch wohl auf den Grund zu sehen. Von einem Ereigniss wird ein solcher Geist gerne nur einen Zipfel nehmen, er liebt die Dinge in der ganzen Breite und Weitschweifigkeit ihrer Falten nicht: denn er will sich nicht in diesen verwickeln. Auch er kennt die Wochentage der Unfreiheit, der Abhängig- keit, der Dienstbarkeit. Aber von Zeit zu Zeit muss ihm ein Sonntag der Freiheit kommen, sonst wird er das Leben nicht aushalten. Es ist wahrscheinlich, dass selbst seine Liebe zu den Menschen vorsichtig und etwas kurzathmig sein wird, denn er will sich nur, so weit es zum Zweck der Erkenntniss nöthig ist, mit der Welt der Neigungen und der Blindheit einlassen. Er muss darauf vertrauen, dass der Genius der Gerechtigkeit et- was für seinen Jünger und Schützling sagen wird, wenn anschuldigende Stimmen ihn arm an Liebe nennen soll- ten. — Es giebt in seiner Lebens- und Denkweise einen verfeinerten Heroismus, welcher es verschmäht, sich der grossen Massen- Verehrung, wie sein gröberer Bruder es thut, anzubieten, und still durch die Welt und aus der Welt zu gehen pflegt. Was für Labyrinthe er auch durch- wandert, unter welchen Felsen sich auch sein Strom zeitweilig durchgequält hat kommt er an's Licht, so geht er hell, leicht und fast geräuschlos seinen Gang und lässt den Sonnenschein bis in seinen Grund hinab spielen.

266

2Q2.

Vorwärts. Und damit vorwärts auf der Bahn der Weisheit, guten Schrittes, guten Vertrauens! Wie du auch bist, so diene dir selber als Quell der Erfahrung! Wirf das Missvergnügen über dein Wesen ab, verzeihe dir dein eignes Ich, denn in jedem Falle hast du an dir eine Leiter mit hundert Sprossen, auf welchen du zur Erkenntniss steigen kannst. Das Zeitalter, in welches du dich mit Leidwesen geworfen fühlst, preist dich selig dieses Glückes wegen; es ruft dir zu, dass dir jetzt noch an Erfahrungen zu Theil werde, was Menschen späterer Zeiten vielleicht entbehren müssen. Missachte es nicht, noch religiös gewesen zu sein; ergründe es völlig, wie du noch einen ächten Zugang zur Kunst gehabt hast. Kannst du nicht gerade mit Hülfe dieser Erfahrungen ungeheuren Wegstrecken der früheren Menschheit verständnissvoller nachgehen? Sind nicht gerade auf dem Boden, welcher dir mitunter so missfällt, auf dem Boden des unreinen Denkens, viele der herrlichsten Früchte älterer Cultur auf- gewachsen? Man muss Religion und Kunst wie Mutter und Amme geliebt haben sonst kann man nicht weise werden. Aber man muss über sie hinaus sehen, ihnen entwachsen können; bleibt man in ihrem Banne, so versteht man sie nicht. Ebenso muss dir die Historie vertraut sein und das vorsichtige Spiel mit den Wag- schalen: „einerseits andererseits." Wandle zurück, in die Fussstapfen tretend, in welchen die Menschheit ihren leidvollen grossen Gang durch die Wüste der Vergangen- heit machte: so bist du am gewissesten belehrt, wohin alle spätere Menschheit nicht wieder gehen kann oder darf Und indem du mit aller Kraft voraus erspähen willst, wie der Knoten der Zukunft noch geknüpft wird,

~ 267 -

bekommt dein eigenes Leben den Werth eines Werk- zeuges und Mittels zur Erkenntniss. Du hast es in der Hand zu erreichen, dass all dein Erlebtes: die Versuche Irrwege Fehler Täuschungen Leidenschaften, deine Liebe und deine Hoffnung, in deinem Ziele ohne Rest auf- gehen. Dieses Ziel ist, selber eine nothwendige Kette von Cultur-Ringen zu werden und von dieser Noth- wendigkeit aus auf die Nothwendigkeit im Gange der allgemeinen Cultur zu schliessen. Wenn dejn Blick stark genug geworden ist, den Grund in dem dunklen Brunnen deines Wesens und deiner Erkenntnisse zu sehen, so werden dir vielleicht auch in seinem Spiegel die fernen Sternbilder zukünftiger Culturen sichtbar werden. Glaubst du, ein solches Leben mit einem solchen Ziele sei zu mühevoll, zu ledig aller Annehmlichkeiten? So hast du noch nicht gelernt, dass kein Honig süsser als der der Erkenntniss ist, und dass die hängenden Wolken der Trübsal dir noch zum Euter dienen müssen, aus dem du die Milch zu deiner Labung melken wirst Kommt das Alter, so merkst du erst recht, wie du der Stimme der Natur Gehör gegeben, jener Natur, welche die ganze Welt durch Lust beherrscht: dasselbe Leben, welches seine Spitze im Alter hat, hat auch seine Spitze in der Weisheit, in jenem milden Sonnenglanz einer beständigen geistigen Freudigkeit; beiden, dem Alter und der Weis- heit, begegnest du auf Einem Bergrücken des Lebens: so wollte es die Natur. Dann ist es Zeit und kein An- lass zum Zürnen, dass der Nebel des Todes naht. Dem Lichte zu deine letzte Bewegung; ein Jauchzen der Erkenntniss dein letzter Laut.

Sechstes Hauptstück; Der Mensch im Verkehr.

293- Wohlwollende Verstellung. Es ist häufig im Verkehre mit Menschen eine wohlwollende Verstellung nöthig, als ob wir die Motive ihres Handelns nicht durchschauten.

294.

Copien. Nicht selten begegnet man Copien bedeutender Menschen; und den Meisten gefallen, wie bei Gemälden so auch hier, die Copien besser als die Originale.

295. Der Redner. Man kann höchst passend reden und doch so, dass alle Welt über das Gegentheil schreit: nämlich dann, wenn man nicht zu aller Welt redet

296.

Mangel an Vertraulichkeit. Mangel an Vertraulichkeit unter Freunden ist ein Fehler, der nicht gerügt werden kann, ohne unheilbar zu werden.

297. Zur Kunst des Schenkens. Eine Gabe aus- schlagen .zu müssen, bloss weil sie nicht auf die rechte Weise angeboten wurde, erbittert gegen den Geber.

272

298.

Der gefährlichste Parteimann. In jeder Partei ist Einer, der durch sein gar zu gläubiges Aus- sprechen der Partei grün dsätze die Übrigen zum Ab- fall reizt.

299.

Rathgeber des Kranken. Wer einem Kran- ken seine Rathschläge giebt, erwirbt sich ein Gefühl von Überlegenheit über ihn, sei es dass sie angenommen oder dass sie verworfen werden. Desshalb hassen reiz- bare und stolze Kranke die Rathgeber noch mehr als ihre Krankheit

300.

Doppelte Art der Gleichheit. Die Sucht nach Gleichheit kann sich so äussern, dass man ent- weder alle Anderen zu sich hinunterziehn möchte (durch Verkleinern Secretiren Beinstellen) oder sich mit Allen hinauf (durch Anerkennen Helfen Freude an fremdem Gelingen).

301.

Gegen Verlegenheit. Das beste Mittel, sehr verlegenen Leuten zu Hülfe zu kommen und sie zu be- ruhigen, besteht darin, dass man sie entschieden lobt

302.

Vorliebe für einzelne Tugenden. Wir legen nicht eher besondern Werth auf den Besitz einer Tu- gend, bis wir deren völlige Abwesenheit an unserem Gegner wahrnehmen.

^73

303-

Warum man widerspricht. Man widerspricht oft einer Meinung-, während uns eigentlich nur der Ion, mit dem sie vorgetragen wurde, unsympathisch ist.

304.

Vertrauen und Vertraulichkeit. Wer die Vertraulichkeit mit einer anderen Person geflissentlich zu erzwingen sucht, ist gewöhnlich nicht sicher darüber, ob er ihr Vertrauen besitzt. Wer des Vertrauens sicher ist, legt auf Vertraulichkeit wenig Werth.

305-

Gleichgewicht der Freundschaft, Manch- mal kehrt, im Verhältniss von uns zu einem andern Menschen, das rechte Gleichgewicht der Freundschaft zurück, wenn wir in unsre eigne Wagschale einige Gran Unrecht legen.

306.

Die gefährlichsten Ärzte. Die gefährlichsten Arzte sind die, welche es dem geborenen Arzte als ge- borene Schauspieler mit vollkommener Kunst der Täu- schung nachmachen.

307.

Wann Paradoxien am Platze sind. Geist- reichen Personen braucht man mitunter, um sie für einen Satz zu gewinnen, denselben nur in der Form einer un- geheuerUchen Paradoxie vorzulegen.

Nietzsche, Werke Band 11. lg

274

3o8.

Wie muthige Leute gewonnen werden. Muthige Leute überredet man dadurch zu einer Hand- lung, dass man dieselbe gefährlicher darstellt als sie ist,

309-

Artigkeiten. Unbeliebten Personen rechnen wir die Artigkeiten, welche sie uns erweisen, zum Ver- gehen an.

310.

Warten lassen. Ein sicheres Mittel, die Leute aufzubringen und ihnen böse Gedanken in den Kopf zu setzen, ist: sie lange warten zu lassen. Diess macht un- moralisch.

311-

Gegen die Vertraulichen. Leute, welche uns ihr volles Vertrauen schenken, glauben dadurch ein Recht auf das unsrige zu haben. Diess ist ein Fehlschluss; durch Geschenke erwirbt man keine Rechte.

312.

Ausgleichsmittel. Es genügt oft, einem Andern, dem man einen Nachtheil zugefügt hat, Gelegenheit zu einem Witz über uns zu geben, um ihm persönliche Genugthuung zu schaffen, ja um ihn für uns gut zu stimmen.

313- Eitelkeit der Zunge. Ob der Mensch seine schlechten Eigenschaften und Laster verbirgt oder mit

275

Offenheit sie eing"esteht, so wünscht doch in beiden Fällen seine Eitelkeit einen Vortheil dabei zu habfen: man beachte nur. wie fein er unterscheidet, vor wem er jene Eigenschaften verbirg^, vor wem er ehrlich und offen- herzig wird.

3M. Rücksichtsvoll Niemanden kränken. Nie- manden beeinträchtigen wollen kann ebensowohl das Kennzeichen einer gerechten als einer ängstlichen Sinnes- art sein.

315. Zum Disputiren erforderlich. Wer seine Ge- danken nicht auf Eis zu legen versteht, der soll sich nicht in die Hitze des Streites begeben.

316. Umgang und Anmaassung. Man verlernt die Anmaassung, wenn man sich immer unter verdienten Menschen weiss; allein sein pflanzt Übermuth. Junge Leute sind anmaassend, denn sie gehen mit Ihresgleichen um, welche alle nichts sind, aber gerne viel bedeuten.

317. Motiv des Angriffs. Man greift nicht nur an, um Jemandem weh zu thun, ihn zu besiegen, sondern vielleicht auch nur, um sich seiner Kraft bewusst zu werden.

318. Schmeichelei. Personen, welche unsere Vorsicht im Verkehr mit ihnen durch Schmeicheleien betäuben

i8*

276

wollen, wenden ein gefährliches Mittel an, g-leicbsam ein^n Schlaftrunk, welcher, wenn er nicht einschlätert, nur um so mehr wach erhält

319.

Guter Briefschreiber. Der, welcher keine Bücher schreibt, viel denkt und in unzureichender Gesell- schaft lebt, wird gewöhnlich ein guter Briefschreiber sein.

320.

Am hässlichsten. Es ist zu bezweifeln, ob ein Vielgereister irgendwo in der Welt hässlichere Gegenden gefunden hat als im menschlichen Gesichte.

321. Die Mitleidigen. Die mitleidigen, im Unglück jederzeit hülfreichen Naturen sind selten zugleich die sich mitfreuenden: beim Glück der Anderen haben sie Nichts zu thun, sind überflüssig, fühlen sich nicht im Besitz ihrer Überlegenheit und zeigen desshalb leicht Missvergnügen.

322. Verwandte eines Selbstmörders. Verwandte eines Selbstmörders rechnen es ihm übel an, dass er nicht aus Rücksicht auf ihren Ruf am Leben geblieben ist

323-

Undank vorauszusehen. Der, welcher etwas Grosses schenkt , findet keine Dankbarkeit ; denn der Beschenkte hat schon durch das Annehmen zu viel Last

277

324- In geistloser Gesellschaft. Niemand dankt dem geistreichen Menschen die Höflichkeit, wenn er sich einer Gesellschaft gleichstellt, in der es nicht höflich ist, Geist zu zeigen.

325. Gegenwart von Zeugen. Man springt einem Menschen, der in's Wasser fällt, noch einmal so gern nach, wenn Leute zugegen sind, die es nicht wagen.

326.

Schweigen. Die für beide Parteien unange- nehmste Art, eine Polemik zu erwidern, ist, sich ärgern und schweigen: denn der Angreifende erklärt sich das Schweigen gewöhnlich als Zeichen der Verachtung.

327. Das Geheimniss des Freundes. Es wird Wenige geben, welche, wenn sie um Stoff zur Unter- haltung verlegen sind, nicht die geheimeren Angelegen- heiten ihrer Freunde preisgeben.

328.

Humanität Die Humanität der Berühmtheiten des Geistes besteht darin, im Verkehre mit Unberühmten auf eine verbindliche Art Unrecht zu behalten.

329- Der Befangene. Menschen, die sich in der Gesellschaft nicht sicher fühlen, benutzen jede Gelegen-

278

heit, um an einem Nahegestellten, dem sie überlegnen sind, diese Überlegenheit öffentlich, vor der Gesellschaft, zu zeigen, zum Beispiel durch Neckereien.

330- Dank. Eine feine Seele bedrückt es, sich Jeman- den zum Dank verpflichtet zu wissen; eine grobe, sich Jemandem.

331- Merkmal der Entfremdung. Das stärkste Anzeichen von Entfremdung der Ansichten bei zwei Menschen ist diess, dass beide sich gegenseitig einiges Ironische sagen, aber keiner von beiden das Ironische daran fühlt.

332.

Anmaassung bei Verdiensten. Anmaassung bei Verdiensten beleidigt noch mehr als Anmaassung von Menschen ohne Verdienst : denn schon das Verdienst beleidigt.

333. Gefahr in der Stimme. Mitunter macht uns im Gespräch, der Klang der eignen Stimme verlegen und verleitet uns zu Behauptungen, welche gar nicht unsern Meinungen entsprechen.

334. Im Gespräche. Ob man im Gespräche dem Andern vornehmlich Recht giebt oder Unrecht, ist durch- aus die Sache der Angewöhnung: das Eine wie das Andre hat Sinn.

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335.

Furcht vor dem Nächsten. Wir furchten die feindsehge Stimmung des Nächsten, weil wir befürchten, dass er durch diese Stimmung hinter unsere HeimHch- keiten kommt

336.

Durch Tadel auszeichnen. Sehr angesehene Personen ertheilen selbst ihren Tadel so, dass sie uns damit auszeichnen wollen. Es soU uns aufmerksam machen, wie angelegentlich sie sich mit uns beschäftigen. Wir verstehen sie ganz falsch, wenn wir ihren Tadel sachlich nehmen und uns gegen ihn vertheidigen ; wir ärgern sie dadurch und entfremden uns ihnen.

337.

Verdruss am Wohlwollen Anderer, Wir irren uns über den Grad, in welchem wir uns gehasst, gefürchtet glauben: weil wir selber zwar gut den Grad unserer Abweichung von einer Person Richtung Partei kennen, jene Andern aber uns sehr oberflächlich kennen und desshalb auch nur oberflächhch hassen. Wir be- gegnen oft einem Wohlwollen, welches uns unerklärlich ist; verstehen wir es aber, so beleidigt es uns, weil es zeigt, dass man uns nicht ernst, nicht wichtig genug nimmt.

338.

vSich kreuzende Eitelkeiten. Zwei sich begeg- nende Personen, deren Eitelkeit gleich gross ist, behalten hinterdrein von einander einen schlechten Eindruck, weil jede so mit dem Eindruck beschäftigt war, den sie bei

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dem Anderen hervorbrin gen wollte, dass der Andere auf sie keinen Eindruck machte; beide merken endlich, dass ihr Bemühen verfehlt ist, und schieben dem Anderen die Schuld zu.

339.

Unarten als gute Anzeichen. Der überlegene Geist hat an den Tactlosigkeiten Anmaassungen , ja Feindseligkeiten ehrgeiziger Jünglinge gegen ihn sein Vergnügen; es sind die Unarten feuriger Pferde, welche noch keinen Reiter getragen haben und doch in Kurzem so stolz sein werden, ihn zu tragen.

3-40.

Wann es rathsam ist, Unrecht zu behalten. Man thut gut, gemachte Anschuldigungen, selbst wenn sie uns Unrecht thun, ohne Widerlegung hinzunehmen, im Fall der Anschuldigende darin ein noch grösseres Unrecht unserseits sehen würde, wenn wir ihm wider- sprächen und etwa gar ihn widerlegten. Freilich kann Einer auf diese Weise immer Unrecht haben und immer Recht behalten und zuletzt mit dem besten Gewissen von der Welt der unerträglichste Tyrann und Quälgeist werden; und was vom Einzelnen gilt, kann auch bei ganzen Classen der Gesellschaft vorkommen.

341.

Zu wenig geehrt. Sehr eingebildete Personen, denen man Zeichen von geringerer Beachtung gegeben hat, als sie erwarteten, versuchen lange sich selbst und Andere darüber irre zu führen und werden spitzfindige

28l

Psychologiker, um heraus zu bekommen, dass der Andere sie doch genügend geehrt hat: erreichen sie ihr Ziel nicht, reisst der Schleier der Täuschung, so geben sie sich einer um so grösseren Wuth hin.

342.

Urzustände in der Rede nachklingend. In der Art, wie jetzt die Männer im Verkehre Behaup- tungen aufstellen, erkennt man oft einen Nachklang der Zeiten, wo dieselben sich besser auf Waffen als auf irgend Etwas verstanden: sie handhaben ihre Behaup- tungen bald wie zielende Schützen ihr Gewehr , bald glaubt man das Sausen und Kllirren der Klingen zu hören; und bei einigen Männern poltert eine Behauptung herab wie ein derber Knüttel. Frauen dagegen sprechen so wie Wesen, welche Jahrtausende lang am Webstuhl Sassen oder die Nadel führten oder mit Kindern kindisch waren.

343-

Der Erzähler. Wer Etwas erzählt, lässt leicht merken, ob er erzählt, weil ihn das Factum interessirt, oder weil er durch die Erzählung interessiren will. Im letzteren Falle wird er übertreiben, Superlative ge- brauchen und Ähnliches thun. Er erzählt dann gewöhn- lich schlechter, weil er nicht so sehr an die Sache als an sich denkt.

344.

Der Vorleser. Wer dramatische Dichtungen vorliest, macht Entdeckungen über seinen Charakter: er findet für gewisse Stimmungen und Scenen seine Stimme

2>i2

natürlicher als für andere, etwa für alles Pathetische oder für das Scurrile, während er vielleicht im gewöhn- lichen Leben nur nicht Gelegenheit hatte, Pathos oder Scurrilität zu zeigen.

345.

Eine Lustspiel-Scene, welche im Leben vorkommt. Jemand denkt sich eine geistreiche Meinung über ein Thema aus, um sie in einer Gesell- schaft vorzutragen. Nun würde man im Lustspiel an- hören und ansehen, wie er mit allen Segeln an den Punkt zu kommen und die Gesellschaft dort einzuschiffen sucht, wo er seine Bemerkung machen kann: wie er fortwährend die Unterhaltung nach Einem Ziele schiebt, gelegentlich die Richtung verliert, sie wiedergewinnt, endlich den Augenblick erreicht: fast versagt ihm der Athem und da nimmt ihm Einer aus der Gesellschaft die Bemerkung vom Munde weg. Was wird er thun? Seiner eigenen Meinung opponiren?

346.

Wider Willen u nhöflich. Wenn Jemand wider Willen einen Andern unhöflich behandelt, zum Beispiel nicht grüsst, weil er ihn -nicht erkennt, so wurmt ihn diess, obschon er nicht seiner Gesinnung einen Vorwurf machen kann; ihn kränkt die schlechte Meinung, welche er bei dem Andern erzeugt hat, oder er fürchtet die Folgen einer Verstimmung, oder ihn schmerzt, den Andern ver- letzt zu haben also Eitelkeit, Furcht oder Mitleid können rege werden, vielleicht auch alles zusammen.

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347-

Verräther-Meisterstück. Gegen den !Mitver- schworenen den kränkenden Argw^ohn zu äussern, ob man nicht von ihm verrathen werde, und diess gerade in dem Augenblick, wo man selbst Verrath übt, ist ein Meisterstück der Bosheit, weil es den Andern persönlich occupirt und ihn zwingt, eine Zeitlang sich sehr unver- dächtig und offen zu benehmen: so dass der wirkliche Verräther sich freie Hand gemacht hat.

348.

Beleidigen und beleidigt werden. Es ist weit angenehmer, zu beleidigen und später um Ver- zeihung zu bitten, als beleidigt zu werden und Ver- zeihung zu gewähren. Der, welcher das Erste thut, giebt ein Zeichen von Macht und nachher von Güte des Charakters. Der Andre, wenn er nicht als inhuman gelten will, muss schon verzeihen; der Genuss an der Demüthigung des Andern ist dieser Nöthigung wegen gering.

349- Im Disput. "Wenn man zugleich einer anderen Meinung widerspricht und dabei seine eigene entwickelt, so verrückt gewöhnlich die fortwährende Rücksicht auf die andere Meinung die natürliche Haltung der eigenen: sie erscheint absichtlicher schärfer, vielleicht etwas über- trieben.

350.

Kunstgriff. Wer etwas Schwieriges von einem Anderen erlangen will, muss die Sache überhaupt nicht

. 284

als Problem fassen, sondern schlicht seinen Plan hinlegen, als sei er die einzige Möglichkeit; er muss es verstehen, wenn im Auge des Gegners der Einwand , der Wider- spruch dämmert, schnell abzubrechen und ihm keine Zeit zu. geben.

351- Gewissensbisse nach Gesellschaften. Warum haben wir nach gewöhnlichen Gesellschaften Gewissensbisse? Weil wir wichtige Dinge leicht ge- nommen haben, weil wir bei der Besprechung von Per- sonen nicht mit voller Treue gesprochen oder weil wir geschwiegen haben, wo wir reden sollten, weil ^wir ge- legentlich nicht aufgesprungen und fortgelaufen sind, kurz, weil wir uns in der Gesellschaft benahmen, als ob wir zu ihr gehörten.

352. Man wird falsch beurtheilt. Wer immer dar- nach hinhorcht, wie er beurtheilt wird, hat immer Ärger. Denn wir werden schon von Denen, welche uns am nächsten stehen („am besten kennen"), falsch beurtheilt. Selbst gute Freunde lassen ihre Verstimmung mitunter in einem missgüustigen Worte aus; und würden sie unsre Freunde sein, wenn sie uns genau kennten? Die Urtlieile der Gleichgültigen thun sehr weh, weil sie so unbefangen, fast sachlich klingen. Merken wir aber gar, dass Jemand, der uns feind ist, uns in einem geheim gehaltenen Punkte so gut kennt, wie wir uns, wie gross ist dann erst der Verdrussl

353- Tyrannei des Portraits. Künstler und Staats- männer, die schnell aus einzelnen Zügen das ganze Bild

- 285 -

eines Menschen oder Ereignisses combiniren, sind am meisten dadurch ungerecht, dass sie hinterdrein ver- langen, das Ereigniss oder der Mensch müsse wirklich so sein, wie sie es malten; sie verlangen geradezu, dass Einer so begabt, so verschlagen, so ungerecht sei, wie er in ihrer Vorstellung lebt.

354-

Der Verwandte als der beste Freund. Die Griechen, die so gut wussten, was ein Freund sei sie allein von allen Völkern haben eine tiefe, vielfache philo- sophische Erörterung der Freundschaft; so dass ihnen zuerst, und bis jetzt zuletzt, der Freund als ein lösens- werthes Problem erschienen ist , diese selben Griechen haben die Verwandten mit einem Ausdrucke bezeich- net, welcher der Superlativ des Wortes „Freund" ist. Diess bleibt mir unerklärlich.

355.

Verkannte Ehrlichkeit. Wenn Jemand im Ge- spräche sich selber citirt („ich sagte damals", „ich pflege zu sagen"), so macht diess den Eindruck der Anmaassung, während es häufig gerade aus der entgegengesetzten Quelle hervorgeht, mindestens aus Ehrlichkeit, welche den Augenblick nicht mit den Einfällen schmücken und herausputzen wiU, welche einem früheren Augenblicke angehören.

356.

Der Parasit. Es bezeichnet einen völligen Mangel an vornehmer Gesinnung, wenn Jemand lieber in Abhängigkeit, auf Andrer Kosten leben will, um

286

nur nicht arbeiten zu müssen, gewöhnlich mit einer heim- lichen Erbitterung gegen Die, von denen er abhängt. Eine solche Gesinnung ist viel häufiger bei Frauen als bei Männern, auch viel verzeihlicher (aus historischen Gründen).

357-

Auf dem Altar der Versöhnung. Es giebt Umstände, wo man eine Sache von einem Menschen nur so erlangt, dciss man ihn beleidigt und sich ver- feindet: dieses Gefühl, einen Feind zu haben, quält ihn so, dass er gern das erste Anzeichen einer milderen Stimmung zur Versöhnung benützt und jene Sache auf dem Altar dieser Versöhnung opfert, an der ihm früher so viel gelegen war, dass er sie um keinen Preis geben wollte.

358.

Mitleid fordern als Zeichen der Anmaassung. Es giebt Menschen, welche, wenn sie in Zorn gerathen und die Anderen beleidigen, dabei erstens verlangen, dass man ihnen Nichts übel nehme, und zweitens, dass man mit ihnen Mitleid habe, weil sie so heftigen Paroxys- men unterworfen sind: so weit geht die menschliche Anmaassung.

359-

Köder. „Jeder Mensch hat seinen Preis" das ist nicht wahr. Aber es findet sich wohl für Jeden ein Köder, an den er anbeissen muss. So braucht man, um manche Personen für eine Sache zu gewinnen, dieser Sache nur den Glanz des Menschenfreundlichen Edlen Mildthätigen Aufopfernden zu geben und welcher

28;

Sache könnte man ihn nicht geben! : es ist das Zuckerwerk und die Näscherei ihrer Seele; andere haben anderes.

360.

Verhalten beim Lobe. Wenn gute Freunde die begabte Natur loben, so wird sie sich öfters aus Höflichkeit und Wohlwollen darüber erfreut zeigen, aber in Wahrheit ist es ihr gleichgültig. Ihr eigentliches Wesen ist ganz träge dagegen und um keinen Schritt dadurch aus der Sonne oder dem Schatten, in dem sie liegt, herauszuwälzen; aber die Menschen wollen durch Lob eine Freude machen und man würde sie betrüben, wenn man sich über ihr Lob nicht freute.

361.

Die Erfahrung des Sokrates. Ist man in einer Sache Meister geworden , so ist man gewöhnlich eben dadurch in den meisten anderen Sachen ein völliger Stümper geblieben; aber man urtheilt gerade umgekehrt, wie diess schon Sokrates erfuhr. Diess ist der Übelstand, welcher den Umgang mit Meistern unangenehm macht

362.

Mittel der Vertheidigung. Im Kampf mit der Dummheit werden die billigsten und sanftesten Menschen zuletzt brutal. Sie sind damit vielleicht auf dem rechten Wege der Vertheidigung; denn an die dumme Stirn gehört, als Argument, von Rechtswegen die geballte Faust. Aber weil, wie gesagt, ihr Charakter sanft und billig ist, so leiden sie durch diese Mittel der Nothwehr hiehr, als sie Leid zufügen.

363.

Neugierde. "Wenn die Neugierde nicht wäre, würde wenig für das Wohl des Nächsten gethan werden. Aber die Neugierde schleicht sich unter dem Namen der Pflicht oder des Mitleidens in das Haus des Unglücklichen und Bedürftigen. Vielleicht ist selbst an der vielbe- rühmten Mutterliebe ein gut Stück Neugierde.

364.

Verrechnung in der Gesellschaft Dieser wünscht interessant zu sein durch seine Urtheile, Jener durch seine Neigungen und Abneigungen, der Dritte durch seine Bekanntschaften, ein Vierter durch seine Ver- einsamung — und sie verrechnen sich Alle. Denn Der, vor dem das Schauspiel aufgeführt wird, meint selber dabei das einzig in Betracht kommende Schauspiel zu sein.

365.

Duell. Zu Gunsten aller Ehrenhändel und Duelle ist zu sagen, dass, wenn Einer ein so reizbares Gefühl hat, nicht leben zu wollen, wenn Der und Der das und das über ihn sagt oder denkt, er ein Recht hat, die Sache auf den Tod des Einen oder des Anderen ankom- men zu lassen. Darüber, dass er so reizbar ist, ist gar nicht zu rechten, damit sind wir die Erben der Ver- gangenheit, ihrer Grösse sowohl wie ihrer Übertrei- bungen, ohne welche es nie eine Grösse gab. Existirt nun ein Ehrenkanon, welcher Blut an Stelle des Todes gelten lässt, so dass nach einem regelmässigen Duell das Gemüth erleichtert ist, so ist diess eine grosse Wohlthat.

289

weil sonst viele Menschenleben in Gefahr wären. So eine Institution erzieht übrigens die Menschen in Vor- sicht auf ihre Äusserungen und macht den Umgang mit ihnen möglich.

366.

Vornehmheit und Dankbarkeit. Eine vor- nehme Seele wird sich gern zur Dankbarkeit verpflichtet fühlen und den Gelegenheiten, bei denen sie sich ver- pflichtet, nicht ängstlich aus dem Wege gehen; ebenso wird sie nachher gelassen in den Äusserungen der Dank- barkeit sein; während niedere Seelen sich gegen alles Verpflichtetwerden sträuben oder nachher in den Äusser- ungen ihrer Dankbarkeit übertrieben und allzu sehr be- flissen sind. Letzteres kommt übrigens auch bei Personen von niederer Herkunft oder gedrückter Stellung vor: eine Gunst, ihnen erwiesen, deucht ihnen ein Wunder von Gnade.

367-

Die Stunden der Beredsamkeit Der Eine hat um gut zu sprechen Jemanden nöthig, der ihm ent- schieden und anerkannt überlegen ist, der Andere kann nur vor Einem, den er überragt, völlige Freiheit der Rede und glückliche Wendungen der Beredsamkeit finden: in beiden Fällen ist es derselbe Grund; Jeder von ihnen redet nur gut, wenn er sans gene redet, der Eine, weil er vor dem Höheren den Antrieb der Con- currenz, des Wettbewerbs nicht fühlt, der Andere eben- falls desshalb, angesichts des Niederen. Nun giebt es eine ganz andere Gattung von Menschen, die nur gut reden, wenn sie im Wetteifer, mit der Absicht zu siegen, reden. Welche von beiden Gattungen ist die ehr-

Nietzsche, Werke UanJ II. lg

290

geizigere: die, welche aus erregter Ehrsucht gut, oder die, welche aus eben diesem Motive schlecht oder gar nicht spricht?

368.

Das Talent zur Freundschaft. Unter den Menschen, welche eine besondere Begabung zur Freund- schaft haben, treten zwei Typen hervor. Der Eine ist in einem fortwährenden Aufsteigen und findet für jede Phase seiner Entwicklung einen genau zugehörigen Freund. Die Reihe von Freunden, welche er auf diese Weise erwirbt, ist unter sich selten in Zusammenhang, mitunter in Misshelligkeit und Widerspruch: ganz dem entsprechend, dass die späteren Phasen in seiner Ent- wicklung die früheren Phasen aufheben oder beein- trächtigen. Ein solcher Mensch mag im Scherz eine Leiter heissen. Den anderen Typus vertritt Der, welcher eine Anziehungskraft auf sehr verschied ne Charaktere und Begabungen ausübt, so dass er einen ganzen Eüreis von Freunden gewinnt; diese aber kommen dadurch selber unter einander in freundschaftliche Be- ziehung, trotz aller Verschiedenheit. Einen solchen Men- schen nenne man einen Kreis: denn in ihm muss jene Zusammengehörigkeit so verschiedener Anlagen und Naturen irgendwie vorgebildet sein. Übrigens ist die Gabe, gute Freunde zu Haben, in manchem Menschen viel grösser als die Gabe, ein guter Freund zu sein.

369.

Taktik im Gespräch. Nach einem Gespnäch mit Jemandem ist man am besten auf den Mitunter- redner zu sprechen, wenn man Gelegenheit hatte, seinen

291

Geist, seine Liebenswürdigkeit vor ihm im ganzen Glänze zu zeigen. Diess benutzen kluge Menschen, welche Je- manden sich günstig stimmen wollen, indem sie bei der Unterredung ihm die besten Gelegenheiten zu einem guten Witz und dergleichen zuschieben. Es wäre ein lustiges Gespräch zwischen zwei sehr Klugen zu denken, welche sich gegenseitig günstig stimmen wollen und sich desshalb die schönen Gelegenheiten im Gespräch hin und her zuwerfen, während keiner sie annimmt: so dass das Gespräch im Ganzen geistlos und unliebenswürdig verhefe, weil Jeder dem Anderen die Gelegenheit .zu Geist und Liebenswürdigkeit zumese.

370-

Entladung des Unmuths, Der Mensch, dem etwas misslingt, führt diess Missling^n lieber auf den bösen Willen eines Anderen als auf den Zufall zurück. Seine gereizte Empfindung wird dadurch erleichtert, eine Person und nicht eine Sache sich als Grund seines Miss- lingens zu denken; denn an Personen kann man sich rächen, die Unbilden des Zufalls muss man hinunter- würgen. Die Umgebung eines Fürsten pflegt desshalb, wenn diesem etwas misslungen ist, einen einzelnen Menschen als angebliche Ursache ihm zu bezeichnen und im Interesse aller Höflinge aufzuopfern; denn der Miss- muth des Fürsten würde sich sonst an ihnen Allen aus- lassen, da er ja an der Schicksalsgöttin selber keine Rache nehmen kann.

371-

Die Farbe der Umgebung annehmen. Warum ist Neigung und Abneigung so ansteckend, dass

19*

292

man kaum in der Nähe einer stark empfindenden Person leben kann, ohne wie ein Gefäss mit ihrem Für und Wider angefüllt zu werden? Erstens ist die völlige Ent- haltung des Urtheils sehr schwer, mitunter für unsere Eitelkeit geradezu unerträglich ; sie trägt da gleiche Farbe mit der Gedanken- und Empfindungsarmuth oder mit der Ängstlichkeit, der Unmännlichkeit: und so werden wir wenigstens dazu fortgerissen, Partei zu nehmen, viel- leicht gegen die Richtung unserer Umgebung, wenn diese Stellung unserem Stolze mehr Vergnügen macht. Gewöhn- lich aber das ist das Zweite bringen wir uns den Übergang von Gleichgültigkeit zu Neigung oder Ab- neigung gar nicht zum Bewusstsein, sondern allmählich gewöhnen wir uns an die Empfindungsweise unserer Um- gebung, und weil sympathisches Zustimmen und Sich- verstehen so angenehm ist, tragen wir bald alle Zeichen und Parteifarben dieser Umgebung.

372.

Ironie. Die Ironie ist nur als pädagogisches Mittel am Platze, von Seiten eines Lehrers im Verkehr mit Schülern irgend welcher Art: ihr Zweck ist De- müthigung Beschämung, aber von jener heilsamen Art, welche gute Vorsätze erwachen lässt und Dem, welcher uns so behandelte, Verehrung Dankbarkeit als einem Arzte entgegenbringen heisst. Der Ironische stellt sich unwissend und zwar so gut, dass die sich mit ihm unter- redenden Schüler getäuscht sind und in ihrem guten Glauben an ihr eigenes Besserwissen dreist werden und sich Blossen aller Art geben; sie verlieren die Behutsam- keit und zeigen sich, wie sie sind, bis in einem Augen- blick die Leuchte, die sie dem Lehrer in's Gesicht hielten.

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ihre Strahlen sehr demüthigend auf sie selbst zurück- fallen lässt. Wo ein solches Verhältniss, wie zwischen Lehrer und Schüler, nicht stattfindet, ist sie eine Un- art, ein gemeiner Affect. Alle ironischen Schriftsteller rechnen auf die alberne Gattung von Menschen, welche sich gerne allen Anderen mit dem Autor zusammen über- legen fühlen wollen, als welchen sie für das Mundstück ihrer Anmaassung ansehen. Die Gewöhnung an Ironie, ebenso wie die an Sarkasmus verdirbt übrigens den Charakter, sie verleiht allmähhch die Eigenschaft einer schadenfrohen Überlegenheit: man ist zuletzt einem bissigen Hunde gleich , der noch das Lachen gelernt hat, ausser dem Beissen.

373.

Anmaassung, Vor Nichts soll man sich so hüten als vor dem Aufwachsen jenes Unkrauts, welches Anmaassung heisst und uns jede gute Ernte verdirbt; denn es giebt Anmaassung in der Herzlichkeit, in den Ehrenbezeigxingen, in der wohlwollenden Vertraulichkeit, in der Liebkosung, im freundschaftlichen Rathe, im Ein- gestehen von Fehlern, in dem Alitleiden für Andere, und alle diese schönen Dinge erregen Widerwillen, wenn jenes Kraut dazwischen wächst. Der Anmaassende, das heisst Der, welcher mehr bedeuten will als er ist oder gilt, macht immer eine falsche Berechnung. Zwar hat er den augenblicklichen Erfolg für sich , insofern die Menschen, vor denen er anmaassend ist, ihm gewöhnlich das Maass von Ehre geben, welches er fordert, aus Angst oder Bequemlichkeit; aber sie nehmen eine schlimme Rache dafür, insofern sie ebensoviel, als er über das Maass forderte, von dem Werthe subtrahiren, den sie ihm

294

bis jetzt beilegten. Es ist Nichts, was die Menschen sich theurer bezahlen lassen, als Demüthigung. Der An- maassende kann sein wirkliches grosses Verdienst so in den Augen der x\nderen verdächtigen und kleinmachen, dass man mit staubigen Füssen darauf tritt. Selbst ein stolzes Benehmen sollte man sich nur dort erlauben, wo man ganz sicher sein kann, nicht missverstanden und als anmaassend betrachtet zu werden, zum Beispiel vor Freunden und Gattinnen. Denn es giebt im Verkehre mit Menschen keine grössere Thorheit als sich den Ruf der Anmaassung zuzuziehn; es ist noch schlimmer, als wenn man nicht gelernt hat, höflich zu lügen.

374- Zwiegespräch. Das Zwiegespräch ist das voll- kommene Gespräch, weil Alles, was der Eine sagt, seine bestimmte Farbe, seinen Klang, seine begleitende Ge- bärde in strenger Rücksicht auf den Anderen, mit dem gesprochen wird, erhält, also dem entsprechend, was beim Brief verkehre geschieht, dass ein und derselbe zehn Arten des seelischen Ausdrucks zeigt, je nachdem er bald an Diesen, bald an Jenen schreibt. Beim Zwie- gespräch giebt es nur eine einzige Strahlenbrechung des Gedankens: diese bringt der Mitunterredner hervor als der Spiegel, in welchem wir unsere Gedanken möglichst schön wiedererblicken wollen. Wie aber ist es bei zweien, bei dreien und mehr Mitunterrednern ? Da verliert noth- wendig das Gespräch an individualisirender Feinlieit, die verschiedenen Rücksichten kreuzen sich, heben sich auf; die Wendung, welche dem Einen wohltut, ist nicht nach der Sinnesart des Anderen. Desshalb wird der IMensch im Verkehr mit Mehreren gezwungen, sich auf sich

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zurückzuziehen., die Thatsachen hinzustellen, wie sie sind, aber jenen spielenden Äther der Humanität den Gegen- ständen zu nehmen, welcher ein Gespräch zu den ange- nehmsten Dingen der Welt macht. Man höre nur den Ton, in welchem IMänner im Verkehre mit ganzen Gruppen von Männern zu reden pflegen, es ist als ob der Grund- bass aller Rede der sei: „das bin ich, das sage ich, nun haltet davon, was ihr wollt!" Diess ist der Grund, wesshalb geistreiche Frauen bei Dem, welcher sie in der Gesellschaft kennen lernte, meistens einen befremdenden, peinlichen, abschreckenden Eindruck hinterlassen: es. ist das Reden zu Vielen , vor Vielen , welches sie aller geistigen Liebenswürdigkeit beraubt und nur das be- wusste Beruhen auf sich selbst, ihre Taktik und die Absicht auf öffentlichen Sieg in grellem Lichte zeigt: während dieselben Frauen im Zwiegespräche wieder zu Weibern werden und ihre geistige Anmuth wiederfinden.

375.

Nachruhm. Auf die Anerkennung einer fernen Zukunft hoffen hat nur Sinn, wenn man die Annahme macht, dass die Menschheit wesenthch unverändert bleibe und dass alles Grosse nicht für Eine, sondern für alle Zeiten als gross empfunden werden müsse. Diess ist aber ein Irrthum; die Menschheit, in allem Empfinden und Urtheilen über Das, was schön und gut ist, ver- wandelt sich sehr stark : es ist Phantasterei, von sich zu glauben, dass man eine Meile Wegs voraus sei und dass die gesammte Menschheit unsere Strasse ziehe. Zudem: ein Gelehrter, der verkannt wird, darf jetzt bestimmt darauf rechnen, dass seine Entdeckung von Anderen auch gemacht wird und dass ihm besten Falls einmal

296

spät von einem Historiker zuerkannt wird, er habe diess und jenes auch schon gewusst, sei aber nicht im Stande gewesen, seinem Satze Glauben zu verschaffen. Nicht- anerkannt-werden wird von der Nachwelt immer als Mangel an Kraft ausgelegt. Kurz, man soll der hoch- müthigen Vereinsamung nicht so leicht das Wort reden. Es giebt übrigens Ausnahmefälle; aber gewöhnlich sind es unsere Fehler Schwächen und Narrheiten, welche die Anerkennung unserer grossen Eigenschaften verhindern.

376.

Von den Freunden. Überlege nur mit dir selber einmal, wie verschieden die Empfindungen, wie getheilt die Meinungen, selbst unter den nächsten Be- kannten sind; wie selbst gleiche Meinungen in dem Kopf deiner Freunde eine ganz andere Stellung oder Stärke haben als in deinem; wie hundertfältig der An- lass kommt zum Missverstehen, zum feindseligen Aus- einanderfliehen. Nach alledem wirst du dir sagen: wie unsicher ist der Boden, auf dem alle unsere Bündnisse und Freundschaften ruhen, wie nahe sind kalte Regen- güsse oder böse Wetter, wie vereinsamt ist jeder Mensch! Sieht Einer diess ein und noch dazu, dass alle Meinungen und deren Art und Stärke bei seinen Mitmenschen ebenso nothwendig und unverantwortlich sind wie ihre Hand- lungen, gewinnt er das Auge für diese innere Noth wendig- keit der Meinungen aus der unlösbaren Verflechtung von Charakter Beschäftigung Talent Umgebung so wird er vielleicht die Bitterkeit und Schärfe der Em- pfindung los, mit der jener Weise rief: „Freunde, es giebt keine Freunde!" Er wird sich vielmehr ein- gestehen: ja es giebt Freunde, aber der Irrthum, die

207

Täuschung über dich führte sie dir zu; und Schweig-en müssen sie gelernt haben, um dir Freund zu bleiben; denn fast immer beruhen solche menschliche Beziehungen darauf, dass irgend ein paar Dinge nicht gesagt werden, ja dass an sie nie gerührt wird: kommen diese Steinchen aber in's Rollen, so folgt die Freundschaft hinterdrein und zerbricht. Giebt es Menschen, welche nicht tödtlich zu verletzen sind, wenn sie erführen, was ihre vertrautesten Freunde im Grunde von ihnen wissen? Indem wir uns selbst erkennen und unser Wesen selber als eine wandelnde Sphäre der Meinungen und Stimmungen an- sehen, und somit ein wenig geringschätzen lernen, bringen wir uns wieder in's Gleichgewicht mit den Übrigen. Es ist wahr, wir haben gute Gründe, jeden unserer Be- kannten, und seien es die grössten, gering zu achten ; aber ebenso gute, diese Empfindung gegen uns selber zu kehren. Und so wollen wir es mit einander aus- halten, da wir es ja mit uns aushalten; und vielleicht kommt Jedem auch einmal die freudigere Stunde, wo er ruft:

„Freunde, es giebt keine Freunde!" so rief der sterbende Weise;

„Feinde, es giebt keinen Feind!" ruf ich, der lebende Thor.

Siebentes Hauptstück: Weib und Kind.

377-

Das vollkommene Weib. Das vollkommene Weib ist ein höherer Typus des Menschen als der voll- kommene Mann: auch etwas viel Seltneres. Die Naturwissenschaft der Thiere bietet ein Mittel, diesen Satz wahrscheinlich zu machen.

378. Freundschaft und Ehe. Der beste Freund wird wahrscheinlich die beste Gattin bekommen, weil die gute Ehe auf dem Talent zur Freundschaft beruht

379. Fortleben der Eltern. Die unaufgelösten Dissonanzen im Verhältniss von Charakter und Gesinnung der Eltern klingen in dem Wesen des Kindes fort und machen seine innere Leidensgeschichte aus.

380.

Von der Mutter her. Jedermann trägt ein Bild des Weibes von der Mutter her in sich: davon wird er bestimmt, die Weiber überhaupt zu verehren oder sie geringzuschätzen oder gegen sie im Allgemeinen gleich- gültig zu sein.

i02 ~- 381.

Die Natur corrigiren. Wenn man keinen guten Vater hat, so soll man sich einen anschaffen.

382.

Väter und Söhne. Väter haben viel zu thun, um es wieder gut zu machen, dass sie Sohne haben.

383.

Irrthum vornehmer Frauen. Die vornehmen Frauen denken, dass eine Sache gar nicht da ist, wenn es nicht möglich ist, von ihr in der Gesellschaft zu sprechen.

384-

Eine Männer-Krankheit. Gegen die Männer- Krankheit der Selbstverachtung hilft es am sichersten, von einem klugen Weibe geliebt zu werden.

385.

Eine Art der Eifersucht Mütter sind leicht eitersüchtig auf die Freunde ihrer Söhne, wenn diese be- sondere Erfolge haben. Gewöhnlich liebt eine Mutter sich mehr in ihrem Sohne als den Sohn selber.

386.

Vernünftige Unvernunft. In der Reife des Lebens und des Verstandes überkommt den Menschen das Gefühl, dass sein Vater Unrecht hatte, ihn zu zeugen.

303

38?. Mütterliche Güte. Manche Mutter braucht glückliche geehrte Kinder, manche unglückliche: sonst kann sich ihre Güte als Mutter nicht zeigen.

388.

Verschiedene Seufzer. Einige Männer haben über die Entführung ihrer Frauen geseufzt, die meisten darüber, dass Niemand sie ihnen entführen wollte.

389. Liebesheirathen. Die Ehen, welche aus Liebe geschlossen werden (die sogenannten Liebesheirathen), haben den Irrthum zum Vater und die Noth (das Bedürf- niss) zur Mutter.

390- Frauenfreundschaft. Frauen können recht gut mit einem Manne Freundschaft schliessen; aber um diese aufrecht zu erhalten dazu muss wohl eine kleine physische Antipathie mithelfen.

391- Langeweile. Viele Menschen , namentlich Frauen, empfinden die Langeweile nicht, weil sie niemals ordentlich arbeiten gelernt haben.

392. Ein Element der Liebe. In jeder Art der weiblichen Liebe kommt auch etwas von der mütter- Uchen Liebe zum Vorschein.

304

393-

Die Einheit des Orts und das Drama. Wenn die Ehegatten nicht beisammen lebten, würden die guten Ehen häufiger sein.

394.

Gewöhnliche Folgen der Ehe. ^ Jeder Um- gang, der nicht hebt, zieht nieder und umgekehrt; dess- halb sinken gewöhnlich die Männer etwas, wenn sie Frauen nehmen, während die F"rauen etwas gehoben werden. Allzu geistige Männer bedürfen ebenso sehr der Ehe als sie ihr wie einer widrigen Medicin wider- streben.

395-

Befehlen lehren. Kinder aus bescheidnen Familien muss man ebenso sehr das Befehlen durch Er- ziehung lehren wie andere Kinder das Gehorchen.

396.

Verliebt werden wollen. Verlobte, welche die Convenienz zusammengefügt hat, bemühen sich häufig, verliebt zu werden, um über den Vorwurf der kalten, berechnenden Nützlichkeit hinwegzukommen. Ebenso bemühen sich Solche, die ihres Vortheils wegen zum Christenthum umlenken, wirklich fromm zu werden; denn so wird das religiöse Mienenspiel ihnen leichter.

397.

Kein Stillstand in der Liebe. Ein Musiker, der das langsame Tempo liebt, wird dieselben Ton-

305

stücke immer langsamer nehmen. So giebt es in keiner Liebe ein Stillstehen.

398.

Schamhaftigk eit Mit der Schönheit der Frauen nimmt im Allgemeinen ihre Schamhaftigkeit zu.

3Q9-

Ehe von gutem Bestand. Eine Ehe, in der Jedes durch das Andere ein individuelles Ziel erreichen will, hält gut zusammen, zum Beispiel wenn die Frau durch den Mann berühmt, der Mann durch die Frau be- liebt werden wilL '

400.

Proteus-Natur. Weiber werden aus Liebe ganz zu dem, als was sie in der Vorstellung der Männer, von denen sie geliebt werden, leben.

401.

Lieben und besitzen. Frauen lieben meistens einen bedeutenden Mann so, dass sie ihn allein haben wollen. Sie würden ihn gern in Verschluss legen, wenn nicht ihre Eitelkeit widerriethe: diese will, dass er auch vor Anderen bedeutend erscheine.

402.

Probe einer guten Ehe. Die Güte einer Fhe bewährt sich dadurch, dass sie einmal eine „Ausnahme" verträgt.

Nietzsche, Werke Band Tl. 20

2,ob

403.

Mittel, Alle zu Allem zu bringen. Man kann Jedermann so durch Unruhen Ängste Überhäufung von Arbeit und Gedanken abmatten und schwach machen, dass er einer Sache, die den Schein des Complicirten hat, nicht mehr widersteht, sondern ihr nachgiebt, das wissen die Diplomaten und die Frauen.

404.

Ehrbarkeit und Ehrlichkeit. Jene Mädchen, welche allein ihrem Jugendreize die Versorgung für's ganze Leben verdanken wollen und deren Schlauheit die gewitzigten Mütter noch souffliren, wollen ganz Dasselbe wie die Hetären, nur dass sie klüger und unelirlicher als diese sind.

405.

Masken. Es giebt Frauen, die, wo man bei ihnen auch nachsucht, kein Inneres haben, sondern reine Masken sind. Der Mann ist zu beklagen, der sich mit solchen fast gespenstischen, nothwendig unbefriedigenden Wesen einlässt, aber gerade sie vermögen das Verlangen des Mannes auf das stärkste zu erregen: er sucht nach ihrer Seele und sucht 'immerfort.

406.

Die Ehe als langes Gespräch. Man soll sich beim Eingehen einer Ehe die Frage vorlegen: glaubst du, dich mit dieser Frau bis in's Alter hinein gut zu unterhalten? Alles Andere in der Ehe ist transi-

307

torisch, aber die meiste Zeit des Verkehrs gehört dera Gespräche an.

407. Mädchenträume. Unerfahrene Mädchen schmei- cheln sich mit der Vorstellung, dass es in ihrer Macht stehe, einen Mann glücklich zu machen; später lernen sie, dass es so viel heisst als: einen Mann geringschätzen, wenn man annimmt, dass es nur eines Mädchens be- dürfe, um ihn glücklich zu machen. Die Eitelkeit der Frauen verlangt, dass ein Mann mehr sei als ein glück- licher Gatte.

408.

Aussterben von Faust und Gretchen. Nach der sehr einsichtigen Bemerkung eines Gelehrten ähneln die gebildeten Männer des gegenwärtigen Deutschlands einer Mischung von Mephistopheles und Wagner, aber durchaus nicht Fausten: welchen die Grossväter (in ihrer Jugend wenigstens) in sich rumoren fühlten. Zu ihnen passen also um jenen Satz fortzusetzen aus zwei Gründen die Gretchen nicht Und weil sie nicht mehr begehrt werden, so sterben sie, scheint es, aus.

409.

Mädchen als Gymnasiasten. Um Alles in der Welt nicht noch unsere Gymnasialbildung auf die Mädchen übertragen! Sie, die häufig aus geistreichen wissbegierigen feurigen Jungen Abbilder ihrer Lehrer macht I

410.

Ohne Nebenbuhlerinnen. Frauen merken es einem Manne leicht an, ob seine Seele schon in licbitz

3o8

genommen ist; sie wollen ohne Nebenbuhlerinnen geliebt sein und verargen ihm die Ziele seines Ehrgeizes, seine politischen Aufgaben, seine Wissenschaften und Künste, wenn er eine Leidenschaft zu solchen Sachen hat. Es sei denn, dass er durch diese glänze, dann erhoffen sie, im Falle einer Liebesverbindung mit ihm, zugleich einen Zuwachs ihres Glanzes; wenn es so steht, be- günstigen sie den Liebhaber.

411.

Der weibliche Intellect. Der Intellect der "Weiber zeigt sich als voUkommne Beherrschung, Gegen- wärtigkeit des Geistes , Benutzung aller Vortheile. Sie vererben ihn als ihre Grundeigenschaft auf ihre KJnder, und der Vater giebt den dunkleren Hintergrund des Willens dazu. Sein Einfiuss bestimmt gleichsam Rhyth- mus und Harmonie, mit denen das neue Leben abgespielt werden soll; aber die Melodie desselben stammt vom Weibe. Für Solche gesagt, welche etwas sich zurecht zu legen wissen: die Weiber haben den Verstand, die Männer das Gemüth und die Leidenschaft. Dem wider- spricht nicht, dass die Männer thatsächlich es ifÜt ihrem Verstände so viel weiter bringen: sie haben die tieferen, gewaltigeren Antriebe; diese tragen ihren Verstand, der an sich etwas Passives ist, so weit. Die Weiber wundern sich im Stillen oft über die grosse Verehrung, welche die Männer ihrem Gemüthe zollen. Wenn die Männer vor Allem nach einem tiefen, gemüthvollen Wesen, die Weiber aber nach einem klugen, geistesgegenwärtigen und glänzenden Wesen bei der Wahl ihres Ehegenossen suchen, so sieht man im Grunde deutlich, wie der Mann nach dem idealisirten Manne, das Weib nach dem ideali-

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sirten Weibe sucht, also nicht nach Ergänzung, sondern nach Vollendung der eigenen Vorzüge.

412.

Ein Urtheil Hesiod's bekräftigt. Ein Zeichen für die Klugheit .der Weiber ist es, dass sie es fast überall verstanden haben , sich ernähren zu lassen , wie Drohnen im Bienenkorbe. Man erwäge doch aber, was das ursprünglich bedeuten will und warum die Männer sich nicht von den Frauen ernähren lassen. Gewiss weil die männliche Eitelkeit und Ehrsucht grösser als die weibliche Klugheit ist; denn die Frauen haben es ver- standen , sich durch Unterordnung doch den über- wiegenden Vortheil, ja die Herrschaft zu sichern. Selbst das Pflegen der Kinder könnte ursprünglich von der Klugheit der Weiber als Vorwand benutzt sein, um sich der Arbeit möghchst zu entziehen. Auch jetzt noch verstehen sie, wenn sie wirklich thätig sind, zum Bei- spiel als Haushälterinnen, davon ein sinneverwirrendes Auflieben zu machen: so dass von den Männern das Verdienst ihrer Thätigkeit zehnfach überschätzt zu werden pflegt

413. Die Kurzsichtigen sind verliebt. Mitunter genügt schon eine stärkere Brille, um den Verliebten zu heilen; und wer die Kraft der Einbildung hätte, um ein Gesicht, eine Gestalt sich zwanzig Jahre älter vorzustellen, gienge vielleicht sehr ungestört durch das Leben.

414.

Frauen im Ilass. Im Zustande des Hasses sind Frauen gefährlicher als Männer; einmal weil sie

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durch keine Rücksicht auf Billigkeit in ihrer einmal erregten feindseligen Empfindung gehemmt werden, sondern ungestört ihren Hass bis zu den letzten Con- sequenzen anwachsen lassen, sodann weil sie darauf eingeübt sind, wunde Stellen (die jeder Mensch, jede Partei hat) zu finden und dorthinein zu stechen: wozu ihnen ihr dolchspitzer Verstand treffliche Dienste leistet (während die Männer beim Anblick von Wunden zurück- haltend, oft grossmüthig und versöhnüch gestimmt werden).

415.

Liebe. Die Abgötterei, welche die Frauen mit der Liebe treiben, ist im Grund und ursprünglich eine Erfindung der Klugheit, insofern sie ihre Macht durch alle jene Idealisirungen der Liebe erhöhen und sich in den Augen der Männer als immer begehrenswerther dar- stellen. Aber durch die jahrhundertelange Gewöhnung an diese übertriebene Schätzung der Liebe ist es ge- schehen, dass sie in ihr eignes Netz gelaufen sind und jenen Ursprung vergessen haben. Sie selber sind jetzt noch mehr die Getäuschten als die Männer, und leiden desshalb auch mehr an der Enttäuschung, welche fast nothwendig im Leben jeder Frau eintreten wird sofern sie überhaupt Phantasie und Verstand genug hat, um getäuscht und enttäuscht werden zu können.

416.

Zur Emancipation der Frauen. Können die Frauen überhaupt gerecht sein, wenn sie so gewohnt sind zu lieben, gleich für oder wider zu empfinden? Daher sind sie auch seltener für Sachen, mehr für

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Personen eingenommen: sind sie es aber für Sachen, so werden sie sofort deren Parteigänger und verderben damit die reine unschuldige Wirkung derselben. So entsteht eine nicht geringe Gefahr, wenn ihnen die Politik und einzelne Theile der Wissenschaft anvertraut werden (zum Beispiel Geschichte). Denn was wäre seltener als eine Frau, welche wirklich wüsste, was Wissenschaft ist? Die besten nähren sogar im Busen gegen sie eine heim- liche Geringschätzung, als ob sie irgend wodurch ihr überlegen wären. Vielleicht kann diess Alles anders werden, einstweilen ist es so.

417.

Die Inspiration im Urtheile der Frauen. Jene plötzlichen Entscheidungen über das Für oder Wider , welche Frauen zu geben pflegen , die blitz- schnellen Erhellungen persönlicher Beziehungen durch ihre hervorbrechenden Neigungen und Abneigungen, kurz die Beweise der weiblichen Ungerechtigkeit sind von liebenden Männern mit emem. Glanz amgeben worden, als ob alle Frauen Inspirationen von Weisheit hätten, auch ohne den delphischen Kessel und die Lor- beerbinde : und ihre Aussprüche werden noch lange nachher wie sibyllinische Orakel interpretirt und zurecht- gelegt. Wenn man aber erwägt, dass für jede Person, für jede Sache sich etwas geltend machen lässt, aber ebenso gut auch etwas gegen sie, dass alle Dinge nicht nur zwei-, sondern drei- und vierseitig sind, so ist es beinahe schwer, mit solchen plötzhch^n Entscheidungen gänzlich fehl zu greifen; ja man könnte sagen: die Natur der Dinge ist so eingerichtet, dass die Frauen immer Recht behalten.

i^2

418.

Sich lieben lassen. Weil die eine von zwei liebenden Personen gewöhnlich die liebende, die andere die geliebte Person ist, so ist der Glaube entstanden, es gäbe in jedem Liebeshandel ein gleichbleibendes Maass von Liebe: je mehr eine davon an sich reisse, um so weniger bleibe für die andere Person übrig. Ausnahms- weise kommt es vor, dass die Eitelkeit jede der beiden Personen überredet, sie sei die, welche geliebt werden müsse; so dass sich beide lieben lassen wollen: woraus sich namentlich in der Ehe mancherlei halb drollige halb absurde Scenen ergeben.

419-

Widersprüche in weiblichen Köpfen. Weil die Weiber so viel mehr persönlich als sachhch sind, vertragen sich in ihrem Gedankenkreise Richtungen, die logisch mit sich im Widerspruche sind: sie pflegen sich eben für die Vertreter dieser Richtungen der Reihe nach zu begeistern und nehmen deren Systeme in Bausch und Bogen an; doch so, dass überall dort eine todte Stelle entsteht, wo eine neue Persönlichkeit später das Übergewicht bekommt. Es kommt vielleicht vor, dass die ganze Philosophie im' Kopf einer alten Frau aus lauter solchen todten Stellen besteht

420.

Wer leidet mehr? Nach einem persönlichen Zwiespalt und Zanke zwischen einer Frau und einem Manne leidet der eine Theil am meisten bei der Vor-

313

Stellung, dem anderen wehe gethan zu haben; während jener am meisten bei der Vorstellung leidet, dem anderen nicht genug wehe gethan zu haben, wesshaib er sich bemüht, durch Thränen, Schluchzen und verstörte Mienen, ihm noch hinterdrein das Herz schwer zu machen.

421.

Gelegenheit zu weiblicher Grossmuth. Wenn man sich über die Ansprüche der Sitte einmal in Ge- danken hinwegsetzt, so könnte man wohl erwägen ^ ob nicht Natur und Vernunft dea Mann auf mehrfache Ver- heirathung nach einander anweist, etwa in der Gestalt, dass er zuerst im Alter von zweiundzwanzig Jahren ein älteres Mädchen heirathet, das ihm geistig und sittlich überlegen ist und seine Führerin durch die Gefahren der zwanziger Jahre (Ehrgeiz Hass Selbstver- achtung, Leidenschaften aller Art) werden kann. Die Liebe Dieser würde später ganz in das iMütterliche über- treten, und sie ertrüge es nicht nur, sondern förderte es auf die heilsamste Weise, wenn der Mann in den dreissiger Jahren mit einem ganz jungen Mädchen eine Verbindung eingienge, dessen Erziehung er selber in die Hand nähme. Die Ehe ist für die zwanziger Jahre ein nöthiges, für die dreissiger ein nützliches, aber nicht nöthiges Institut: für das spätere Leben wird sie oft schädlich und befördert die geistige Rückbildung des Mannes.

422.

Tragödie der Kindheit. Es kommt vielleicht nicht selten vor, dass edel- und hochstrebende Menschen iliren härtesten Kampf in der Kindheit zu bestehen

314

haben: etwa dadurch, dass sie ihre Gesinnung gegen einen niedrig denkenden, dem Schein und der Lügnerei ergebenen Vater durchsetzen oder fortwährend, wie Lord Byron, im Kampfe mit einer kindischen und zornwüthigen Mutter leben müssen. Hat man so etwas erlebt, so wird man sein Leben lang es nicht verschmerzen, zu wissen, wer Einem eigentlich der grösste, der gefähr- lichste Feind gewesen ist.

423-

Eltern-Thorheit. Die gröbsten Irrthümer in der Beurtheilung eines Menschen werden von dessen Eltern gemacht: diess ist eine Thatsache, aber wie soll man sie erklären? Haben die Eltern zu viele Erfahrung von dem Kinde und können sie diese nicht mehr zu einer Einheit zusammenbringen? Man bemerkt, dass Reisende unter fremden Völkern nur in der ersten Zeit ihres Aufent- haltes die allgemeinen unterscheidenden Züge eines Volkes richtig erfassen; je mehr sie das Volk kennen lernen, desto mehr verlernen sie, das Typische und Unter- scheidende an ihm zu sehen. Sobald sie nah - sichtig werden, hören ihre Augen auf fern -sichtig zu sein. Sollten die Eltern desshalb falsch über das Kind urtheilen, weil sie ihm nie fern genug gestanden haben? Eine ga,nz andere Erklärung wäre folgende: die Menschen pflegen über das Nächste, was sie umgiebt, nicht mehr nachzudenken, sondern es nur hinzunehmen. Vielleicht ist die gewohnheitsmässige Gedankenlosigkeit der Eltern der Grund, wesshalb sie, einmal genöthigt über ihre Kinder zu urtheilen, so schief urtheilen.

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424.

Aus der Zukunft der Ehe. Jene edlen frei- gesinnten Frauen, welche die Erziehung und Erhebung des weiblichen Geschlechts sich zur Aufgabe stellen, sollen Einen Gesichtspunkt nicht übersehen: die Ehe in ihrer höheren Auffassung gedacht, als Seelenfreundschaft zweier Menschen verschiedenen Geschlechts, also so, wie sie von der Zukunft erhofft wird, zum Zweck der Er- zeugung und Erziehung einer neuen Generation ge- schlossen, — eine solche Ehe, welche das Sinnliche gleichsam nur als ein seltnes gelegentliches Mittel für einen grössern Zweck gebraucht, bedarf wahrscheinlich, wie man besorgen muss, einer natürlichen Beihülfe, des Concubinats. Denn wenn aus Gründen der Gesundheit des Mannes das Eheweib auch zur alleinigen Befriedigung des geschlechtlichen Bedürfnisses dienen soll, so wird bei der Wahl einer Gattin schon ein falscher, den ange- deuteten Zielen entgegengesetzter Gesichtspunkt maass- gebend sein: die Erzielung der Nachkommenschaft wird zufällig, die glückliche Erziehung höchst unwahrscheinlich. Eine gute Gattin, welche Freundin, Gehülfin, Gebärerin, Mutter, Familienhaupt, Verwalterin sein soll, ja vielleicht abgesondert von dem Manne ihrem eigenen Geschäft und Amt vorzustehen hat kann nicht zugleich Concubine sein: es hiesse im Allgemeinen zu viel von ihr verlangen. Somit könnte in Zukunft das Umgekehrte dessen ein- treten, was zu Perikles' Zeiten in Athen sich begab, die Männer, welche damals an ihren Eheweibern nicht viel mehr als Concubinen hatten, wandten sich nebenbei zu den Aspasien, weil sie nach den Reizen eine; köpf- und herzbefreienden Geselligkeit verlangten wie eine solche nur die Anmuth und geistige Biegsamkeit der Frauen

Sid

zu schaffen vermag. Alle menschlichen Institutionen, wie die Ehe, gestatten nur einen massigen Grad \'on praktischer Idealisirung, widrigenfalls sofort grobe Re- meduren nöthig werden.

425- Sturm- und Drangperiode der Frauen. Man kann in den drei oder vier civilisirten Ländern Europa's aus den Frauen durch einige Jahrhunderte von Erziehung Alles machen, was man will, selbst Männer, freilich nicht in geschlechtlichem Sinne, aber doch in jedem anderen Sinne. Sie werden unter einer solchen Einwirkung einmal alle männlichen Tugenden und Stär- ken angenommen haben, dabei allerdings auch deren Schwäclien und Laster mit in den Kauf nehmen müssen: so viel, wie gesagt, kann man erzwingen. Aber wie werden wir den dadurch herbeigeführten Zwischenzustand aushalten, welcher vielleicht selber ein paar Jahrhunderte dauern kann, während denen die weiblichen Narrheiten und Ungerechtigkeiten, ihr uraltes Angebinde, noch die Übermacht über alles Hinzugewonnene, Angelernte be- haupten? Diese Zeit wird es sein, in welcher der Zorn den eigentlich männlichen Afifect ausmacht, der Zorn darüber, dass alle Künste und Wissenschaften durch einen unerhörten Dilettantismus überschwemmt und ver- schlammt sind, die Philosophie durch sinnverwirrendes Geschwätz zu Tode geredet, die Politik phantastischer und parteiischer als je, die Gesellschaft in voUer Auf- lösung ist, weil die Bewahrerinnen der alten Sitte sich selber lächerlich geworden und in jeder Beziehung ausser der Sitte zu stehen bestrebt sind. Hatten nämlich die Frauen ihre grösste Macht in der Sitte, wonach werden sie greifen müssen, um eine ähnliche Fülle der Macht

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wiederzugewinnen, nachdem sie die Sitte aufgegeben haben?

426.

Freigeist und Ehe. Ob die Freigeister mit Frauen leben werden? Im Allgemeinen glaube ich, dass sie, gleich den wahrsagenden Vögeln des Alterthums, als die Wahrdenkenden, Wahrheit-Redenden der Gegen- wart es vorziehen müssen, allein zu fliegen.

427.

Glück der Ehe. Alles Gewohnte zieht ein immer fester werdendes Netz von Spinneweben um uns zusammen; und alsobald merken wir, dass die Fäden zu Stricken geworden sind und dass wir selber als Spinne in der Mitte sitzen, die sich hier gefangen hat und von ihrem eignen Blute zehren muss. Desshalb hasst der Freigeist alle Gewöhnungen und Regeln, alles Dauernde und Definitive, desshalb reisst er, mit Schmerz, das Netz um sich immer wieder auseinander: wiewohl er in Folge dessen an zahlreichen kleinen und grossen Wunden leiden wird denn jene Fäden muss er von sich, von seinem Leibe, seiner Seele abreissen. Er muss dort lieben lernen, wo er bisher hasste: und umgekehrt. Ja es darf für ihn nichts Unmöghches sein, auf dasselbe Feld Drachenzähne auszusäen, auf welches er vorher die Füllhörner seiner Güte ausströmen liess. Daraus lässt sich abnehmen, ob er für das Glück der Ehe ge- schaffen ist

428.

Zu nahe. Leben wir zu nahe mit einem Men- schen zusammen, so geht es uns so, wie wenn wir einen

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guten Kupferstich immer wieder mit blossen Fingern anfassen: eines Tages haben wir schlechtes beschmutztes Papier und nichts weiter mehr in den Händen. Auch die Seele eines Menschen wird durch beständiges An- greifen endlich abgegriffen; mindestens erscheint sie uns endlich so wir sehen ihre ursprüngliche Zeich- nung und Schönheit nie wieder. Man verliert hnmer durch den allzuvertraulichen Umgang mit Frauen und Freunden ; und mitunter verliert man die Perle seines Lebens dabei.

429.

Die goldene Wiege. Der Freigeist wird immer aufathmen, wenn er sich endlich entschlossen hat, jenes mutterhafte Sorgen und Bewachen, mit welchem die Frauen um ihn walten, von sich abzuschütteln. Was schadet ihm denn ein rauherer Luftzug, den man so ängstlich von ihm wehrte, was bedeutet ein wirklicher Nachtheil, Verlust, Unfall, eine Erkrankung Verschuldung Bethörung mehr oder weniger in seinem Leben, verglichen mit der Unfreiheit der goldncn Wiege, des Pfauen- schweif-Wedels und der drückenden Empfindung, noch dazu dankbar sein zu müssen, weil er wie ein Säugling gewartet und verwöhnt wird? Desshalb kann sich ihm die Milch, welche die mütterliche Gesinnung der ihn um- gebenden Frauen reicht, so leicht in Galle verwandeln.

430.

Freiwilliges Opferthier. Durch Nichts erleich- tern bedeutende Frauen ihren Männern, falls diese berühmt und gross sind, das Leben so sehr, als dadurch dass sie gleichsam das Gefäss der allgemeinen Ungunst und ge-

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legentlichen Verstimmung- der übrigen Menschen werden. Die Zeitgenossen pflegen ihren grossen Männern viel Fehlgriffe und Narrheiten, ja Handlungen grober Unge- rechtigkeit nachzusehen, wenn sie nur Jemanden finden, den sie als eigentliches Opferthier zur Erleichterung ihres Gemüthes misshandeln und schlachten dürfen. Nicht selten findet eine Frau den Ehrgeiz in sich, sich zu dieser Opferung anzubieten, und dann kann freilich der Mann sehr zufrieden sein, falls er nämlich Egoist genug ist, um sich einen solchen freiwilligen Blitz- Sturm- und Regenableiter in seiner Nähe gefallen zu lassen,

431. Angenehme Widersacher. Die naturgemässe Neigung der Frauen zu ruhigem, gleichmässigem, glück- Uch zusammenstimmenden Dasein und Verkehren, das ölgleiche und Beschwichtigende ihrer Wirkungen auf dem Meere des Lebens arbeitet unwillkürlich dem hero- ischeren inneren Drange des Freigeistes entgegen. Ohne dass sie es merken, handeln die Frauen so, als wenn man dem wandernden Mineralogen die Steine vom Wege nimmt, damit sein Fuss nicht daran stosse während er gerade ausgezogen ist, um daran zu stossen.

432. Missklang zweier Consonanzen. Die Frauen wollen dienen und haben darin ihr Glück: und der Frei- geist will nicht bedient sein und hat darin sein Glück.

433. Xanthippe. Sokrates fand eine Frau, wie er sie brauchte aber auch er hätte sie nicht gesucht, falls

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er sie gut genug gekannt hätte: so weit wäre auch der Heroismus dieses freien Geistes nicht gegangen. That- sächlich trieb ihn Xanthippe in seinen eigenthümlichen Beruf immer mehr hinein, indem sie ihm Haus und Heim unhäuslich und unheimlich machte: sie lehrte ihn, auf den Gassen und überall dort zu leben, wo man schwätzen und müssig sein konnte, und bildete ihn damit zum grössten athenischen Gassen-Dialektiker aus: der sich zu- letzt selber mit einer zudringlichen Bremse vergleichen musste, welche dem schönen Pferde Athen von einem Gotte auf den Nacken gesetzt sei, um es nicht zur Ruhe kommen zu lassen.

434-

Für die Ferne blind. Ebenso wie die Mütter eigentlich nur Sinn und Auge für die äugen- und sinn- fälligen Schmerzen ihrer Kinder haben, so vermögen die Gattinnen hoch strebender Männer es nicht über sich zu gewinnen, ihre Ehegenossen leidend, darbend und gar miss- achtet zu 'sehen, während vielleicht alles diess nicht nur die Wahrzeichen einer richtigen Wahl ihrer Lebens- haltung, sondern schon die Bürgschaften dafür sind, dass ihre grossen Ziele irgendwann einmal erreicht werden müssen. Die Frauen intriguiren im Stillen immer gegen die höhere Seele ihrer Männer; sie wollen dieselbe um ihre Zukunft, zu Gunsten "einer schmerzlosen, behaglichen Gegenwart, betrügen.

435-

Macht und Freiheit. So hoch Frauen ihre ^länner ehren, so ehren sie doch die von der Gesellschaft anerkannten Gewalten und Vorstellungen noch mehr: sie sind seit Jahrtausenden gewohnt, vor allem Herrschenden

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gebückt, die Hände auf die Brust gefaltet, einherzugehen und missbilligen alle Auflehnung gegen die öffentliche Macht. Desshalb hängen sie sich, ohne es auch nur zu beabsichtigen, vielmehr wie aus Instinct, als Hemmschuh in die Räder eines freigeisterischen unabhängigen Stre- bens und machen unter Umständen ihre Gatten auf's Höchste ungeduldig, zumal wenn diese sich noch vor- reden, dass Liebe es sei, was die Frauen im Grunde dabei antreibe. Die Mittel der Frauen missbilligen und grossmüthig die Motive dieser Mittel ehren das ist Männer- Art und oft genug Männer -Verzweiflung.

436.

Cetenivi censeo. Es ist zum Lachen, wenn eine GeseDschaft von Habenichtsen die Abschaffung des Erb- rechts decretirt, und nicht minder zum Lachen ist es, wenn Kinderlose an der praktischen Gesetzgebung eines Landes arbeiten: sie haben ja nicht genug Schwer- gewicht in ihrem Schiffe, um sicher in den Ocean der Zukunft hineinsegeln zu können. Aber ebenso ungereimt erscheint es, wenn Der, welcher die allgemeinste Er- kenntniss und die Abschätzung des gesammten Daseins zu seiner Aufgabe erkoren hat, sich mit persönlichen Rücksichten auf dne Familie, auf Ernährung, Sicherung, Achtung von Weib und I<jnd, belastet und vor sein Teleskop jenen trüben Schleier aufspannt, durch welchen kaum einige Strahlen der fernen Gestirnwelt hindurch- zudringen vermögen. So komme auch ich zu dem Satze, dass in den Angelegenheiten der höchsten philosophi- schen Art alle Verheiratheten verdächtig sind.

Nietzsche, Werke Band Tl.

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437-

Zuletzt. Es giebt mancherlei Arten von Schier- ling, und gewöhnlich findet das Schicksal eine Gelegen- heit, dem Freigeiste einen Becher dieses Giftgetränkes an die Lippen zu setzen um ihn zu „strafen", wie dann alle Welt sagt. Was thuen dann die Frauen um ihn? Sie werden schreien und wehklagen und vielleicht die Sonnenuntergangs-Ruhe des Denkers stören: wie sie es im Gefängniss von Athen thaten. „O Kriton, heisse doch Jemanden diese Weiber da fortführen 1" sagte end- lich Sokrates.

Achtes Hauptstück:

Ein Blick auf den Staat.

438.

Um das Wort bitten. Der demagogische Charakter und die Absicht, auf die Massen zu wirken, ist gegenwärtig allen politischen Parteien gemeinsam: sie alle sind genöthigt, der genannten Absicht wegen, ihre Principien zu grossen Alfresco-Dummheiten umzu- wandeln und sie so an die Wand zu malen. Daran ist nichts mehr zu ändern, ja es ist überflüssig, auch nur einen Finger dagegen aufzuheben; denn auf diesem Gebiete gilt, was Voltaire sagt: qtiand la populace se mele de raisonner , tottt est perdu. Seitdem diess ge- schehn ist , muss man sich den neuen Bedingungen fügen, wie man sich fügt, wenn ein Erdbeben die alten Grenzen und Umrisse der Bodengestalt verrückt und den Werth des Besitzes verändert hat. Überdiess: wenn es sich nun einmal bei aller Politik darum handelt, mög- lichst Vielen das Leben erträglich zu machen, so mögen immerhin diese Möglichst -Vielen auch bestimmen, was sie unter einem erträglichen Leben verstehen; trauen sie sich den Intellect zu, auch die richtigen Mittel zu diesem Ziele zu finden, was hülfe es daran zu zweifeln? Sie wollen nun einmal ihres Glücks und Unglücks eigene Schmiede sein; und wenn dieses Gefühl der Selbstbe- stimmung, der Stolz auf die fünf sechs Begriffe, welche ihr Kopf birgt und zu Tage bringt, ihnen in der That

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das Leben so angenehm macht, dass sie die fatalen Folgen ihrer Beschränktheit gern ertragen: so ist wenig einzuwenden, vorausgesetzt dass die Beschränktheit nicht so weit geht, zu verlangen, es solle Alles in diesem Sinne zur Pohtik werden, es solle Jeder nach solchem Maassstabe leben und wirken. Zuerst nämlich muss es Einigen mehr als je erlaubt sein, sich der Pohtik zu enthalten und ein wenig bei Seite zu treten: dazu treibt auch sie die Lust an der Selbstbestimmung; und auch ein kleiner Stolz mag damit verbrnden sein, zu schweigen, wenn zu Viele oder überhaupt nur Viele reden. Sodann muss man es diesen Wenigen nachsehen, wenn sie dcis Glück der Vielen, verstehe man nun darunter Völker oder Bevölkerungsschichten, nicht so v/ichtig nehmen und sich hier und da eine ironische Miene zu Schulden kommen lassen; denn ihr Ernst liegt anderswo, ihr Glück ist ein anderer Begriif, ihr Ziel ist nicht von jeder plumpen Hand, welche eben nur fünf Finger hat, zu umspannen. Endlich kommt was ihnen gewiss am schwersten zugestanden wird, aber ebenfalls zugestanden werden muss von Zeit zu Zeit ein Augenblick, wo sie aus ihrer schweigsamen Vereinsamung heraustreten und die Kraft ihrer Lungen wieder einmal versuchen: dann rufen sie nämlich einander zu wie Verirrte in einem Walde, um sich einander zu erkennen zu geben und zu ermuthigen; wobei freilich Mancherlei laut wird, was den Ohren, für welche es nicht bestimmt ist, übel klingt. Nun, bald darauf ist es wieder stille im Walde, so stille, dass man das Schwirren Summen und Flattern der zahllosen Insecten, welche in, über und unter ilim leben, wieder deutlich vernimmt.

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439-

Cultur und Kaste. Eine höhere Cultur kann allein dort entstehen, wo es zwei unterschiedene Kasten der Gesellschaft giebt: die der Arbeitenden und die der Müssigen, zu wahrer Müsse Befähigten; oder mit stär- kerem Ausdruck: die Kaste der Zwangs- Arbeit und die Kaste der Frei-Arbeit Der Gesichtspunkt der Vertheilung des Glücks ist nicht wesentlich, wenn es sich um die Erzeugung einer höheren Cultur handelt; jedenfalls aber ist die Kaste der Müssigen die leidensfähigere leiden- dere, ihr Behagen am Dasein ist geringer, ihre Aufgabe grösser. Findet nun gar ein Austausch der beiden Kasten statt, so, dass die stumpferen, ungeistigeren Familien und Einzelnen aus der oberen Kaste in die niedere herabgesetzt werden und wiederum die freieren Menschen aus dieser den Zutritt zur höheren erlangen: so ist ein Zustand erreicht, über den hinaus man nur noch das offene Meer unbestimmter Wünsche sieht. So redet die verkUngende Stimme der alten Zeit zu uns; aber wo sind noch Ohren, sie zu hören?

440.

Von Geblüt. Das, was Männer und Frauen von Geblüt vor Anderen voraus haben und was ihnen un- zweifelhaftes Anrecht auf höhere Schätzung giebt, sind zwei durch Vererbung immer mehr gesteigerte Künste: die Kunst, befehlen zu können, und die Kunst des stolzen Gehorsams. Nun entsteht überall, wo das Be- fehlen zum Tagesgeschäft gehört (wie in der grossen Kaufmanns- und Industrie -Welt), etwas Ahnliches wie jene Geschlechter „von Geblüt", aber ihnen fehlt die vor-

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nehme Haltung im Gehorchen, welche bei jenen eine Erbschaft feudaler Zustände ist und die in unserm Cultur- Klima nicht mehr wachsen will.

441.

Subordination. Die Subordination, welche im Alilitär- und Beamtenstaate so hoch geschätzt wird, wird uns bald ebenso unglaublich werden, wie die geschlossene Taktik der Jesuiten es bereits geworden ist; und wenn diese Subordination nicht mehr möglich ist, lässt sich eine Menge der erstaunlichsten Wirkungen nicht mehr erreichen, und die Welt wird ärmer sein. Sie muss schwinden, denn ihr Fundament schwindet: der Glaube an die unbedingte Autorität, an die endgültige Wahrheit; selbst in Militärstaaten ist der physische Zwang nicht ausreichend; sie hervorzubringen, sondern die angeerbte Adoration vor dem Fürstlichen wie vor etwas Über- menschlichem, — In freieren Verhältnissen ordnet man sich nur auf Bedingungen unter, in Folge gegenseitigen Vertrags, also mit allen Vorbehalten des Eigennutzes.

442.

Volks beere. Der grösste Nachtheil der jetzt so verherrlichten Volksheere besteht in der Vergeudung von Menschen der höchsten Civihsation; nur durch die Gunst aller Verhältnisse giebt es deren überhaupt wie sparsam und ängstlich sollte man mit ihnen umgehen, da es grosser Zeiträume bedarf, um die zufälligen Be- dingungen zur Erzeugung so zart organisirter Gehirne zu schaffen 1 Aber wie die Griechen in Griechenblut wüthe- ten, so die Europäer jetzt in Europäerblut; und zwar

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werden relativ am meisten immer die Höchstgebildeten zum Opfer gebracht, Die welche eine reichliche und gute Nachkommenschaft verbürgen: Solche nämlich stehen im Kampfe voran, als Befehlende, und setzen sich überdiess, ihres höheren Ehrgeizes wegen, den Gefahren am meisten aus. Der grobe Römer-Patriotismus ist jetzt, wo ganz andere und höhere Aufgaben gestellt sind als patrta und honos, entweder etwas Unehrliches oder ein Zeichen der Zurückgebliebenheit.

443.

Hoffnung als Anmaassung. Unsere gesell- schaftliche Ordnung wird langsam wegschmelzen, wie es alle frühere Ordnungen gethan haben, sobald die Sonnen neuer Meinungen mit neuer Gluth über die Menschen hinleuchteten. Wünschen kann man diess Wegschmelzen nur, indem man hofft: und hoffen darf man vernünftigerweise nur, wenn man sich und seines- gleichen mehr Kraft in Herz und Kopf zutraut als den Vertretern des Bestehenden. Gewöhnlich also wird diese Hoffnung eine Anmaassung, eine Überschätzung sein.

444.

Krieg. Zu Ungunsten des Kriegs kann man sagen: er macht den Sieger dumm, den Besiegten bos- haft. Zu Gunsten des Krieges: er barbarisirt in beiden eben genannten Wirkungen und macht dadurch natür- licher; er ist für die Cultur Schlaf oder Winterszeit, der Mensch kommt kräftiger zum Guten und Bösen aus ihm heraus.

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445- Im Dienste des Fürsten. Ein Staatsmann wird, um völlig rücksichtslos handeln zu können, am besten thun, nicht für sich, sondern für einen Fürsten sein Werk auszuführen. Vom Glänze dieser allgemeinen Uneigen- nützigkeit wird das Auge des Beschauers geblendet, so dass er jene Tücken und Härten, welche das Werk des Staatsmannes mit sich bringt, nicht sieht.

446.

Eine Frage der Macht, nicht des Rechts. Für Menschen, welche bei jeder Sache den höheren Nutzen in's Auge fassen, giebt es bei dem Socialismus, falls er wirklich die Erhebung der Jahrtausende lang Gedrückten Niedergehaltenen gegen ihre Unterdrücker ist, kein Problem des Rechts {mit der lächerlichen weichlichen Frage: „wie weit soll man seinen Forder- ungen nachgeben?"), sondern nur ein Problem der Alacht („wie weit kann man seine Forderungen be- nutzen?"); also wie bei einer Naturmacht, zum Beispiel dem Dampfe, welcher entweder von dem Menschen in seine Dienste, als Maschinengott, gezwungen wird oder, bei Fehlern der Maschine das heisst Fehlern der mensch- Hchen Berechnung im Bau derselben, sie und den Menschen mit zertrümmert. Um jene Machtfrage zu lösen, muss man wissen, wie stark der Socialismus ist, in welcher Modification er noch als mächtiger Hebel innerhalb des jetzigen politischen Kräftespiels benutzt werden kann; unter Umständen müsste man selbst Alles thun, ihn zu kräftigen. Die Menschheit muss bei jeder grossen Kraft und sei sie die gefährlichste

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daran denken, aus ihr ein Werkzeug ihrer Absichten zu machen. Ein Recht gewinnt sich der Sociahsmus erst dann, wenn es zwischen den beiden Mächten, den \^eitretern des Alten und Neuen, zum Kriege gekommen zu sein scheint, wenn aber dann das kluge Rechnen auf möglichste Erhaltung und Zuträglichkeit auf Seiten beider Parteien das Verlangen nach einem Vertrag ent- stehen lässt. Ohne Vertrag kein Recht. Bis jetzt giebt es aber auf dem bezeichneten Gebiete weder Krieg noch Verträge, also auch keine Rechte, kein „Sollen".

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Benutzung der kleinsten Unredlichkeit. Die Macht der Presse besteht darin, dass jeder Einzelne, der ihr dient, sich nur ganz wenig verpflichtet und ver- bunden fühlt. Er sagt für gewöhnlich seine Meinung, aber sagt sie einmal auch nicht, um seiner Partei oder der Politik seines Landes oder endlich sich selber zu nützen. Solche kleine Vergehen der Unredhchkeit oder vielleicht nur einer unredlichen Verschwiegenheit sind von dem Einzelnen nicht schwer zu tragen, doch sind die Folgen ausserordentlich, weil diese kleinen Ver- gehen von Vielen zu gleicher Zeit begangen werden. Jeder von Diesen sagt sich: „für so geringe Dienste lebe ich besser, kann ich mein Auskommen finden; durch den Mangel solcher kleinen Rücksichten mache ich mich unmöglich." Weil es beinahe sittlich gleich- gültig erscheint, eine Zeile, noch dazu vielleicht ohne Naroensur^rschrift, mehr zu schreiben oder nicht zu schreiben, so kann Einer, der Geld und Einfluss hat, jede Meinung zur öffentlichen machen. Wer da weiss, dass die meisten Menschen in Kleinigkeiten schwach sind, und

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seine eigenen Zwecke durch sie erreichen will, ist immer ein gefährlicher Mensch.

448. Allzu lauter Ton bei Beschwerden. Da- durch dass ein Nothstand (zum Beispiel die Gebrechen einer Verwaltung, Bestechhchkeit und Gunstwillkür in politischen oder gelehrten Körperschaften) stark über- trieben dargestellt wird, verliert zwar die Darstellung bei den Einsichtigen ihre Wirkung, aber wirkt um so stärker auf die Nichteinsichtigen (welche bei einer sorgsamen maassvollen Darlegung gleichgültig geblieben wären). Da diese aber bedeutend in der Mehrzahl sind und stärkere Willenskräfte, ungestümere Lust zum Handeln in sich beherbergen, so wird jene Übertreibung zum Anlass von Untersuchungen Bestrafungen Versprechen und Reorganisationen. Insofern ist es nützlich, Noth- stände übertreibend darzustellen.

449. Die anscheinenden Wettermacher der Politik. Wie das Volk bei Dem, welcher sich auf das Wetter versteht und es um einen Tag voraussagt, im Stillen annimmt, dass er das Wetter mache, so legen selbst Gebildete und Gelehrte mit einem Aufwand von aber- gläubischem Glauben grossen Staatsmännern alle die wichtigen Veränderungen und Conjuncturen , welche während ihrer Regierung eintraten, als deren eigenstes Werk bei, wenn es nur ersichtlich ist, dass Jene etwas davon eher wussten als Andere und ihre Berechnung darnach machten: sie werden also ebenfalls als Wetter- macher genommen und dieser Glaube ist nicht das geringste Werkzeug ihrer Macht.

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Neuer und alter Begriff der Regierung. Zwischen Regierung und Volk so zu scheiden, als ob hier zwei getrennte Machtsphären, eine stärkere höhere mit einer schwächeren niederen, verhandelten und sich vereinbarten, ist ein Stück vererbter politischer Empfin- dung, welches der historischen Feststellung der Macht- verhältnisse in den meisten Staaten noch jetzt genau entspricht. Wenn zum Beispiel Bismarck die constitutio- nelle Form als einen Compromiss zwischen Regierung und Volk bezeichnet, so redet er gemäss einem Princip, welches seine Vernunft in der Geschichte hat (ebendaher freilich auch den Beisatz von Unvernunft, ohne den nichts Menschliches existiren kann). Dagegen soll man nun lernen gemäss einem Princip, welches rein aus dem Kopfe entsprungen ist und erst Geschichte machen soll , dass Regierung nichts als ein Organ des Volkes sei, nicht ein vorsorgliches, verehrungswürdiges „Oben" im Verhältniss zu einem an Bescheidenheit gewöhnten „Unten". Bevor man diese bis jetzt unhistorische und willkürliche, wenn auch logischere Aufstellung des Be- griffs Regierung annimmt, möge man doch ja die Folgen erwägen: denn das Verhältniss zwischen Volk und Re- gierung ist das stärkste vorbildliche Verhältniss, nach dessen Muster sich unwillkürlich der Verkehr zwischen Lehrer und Schüler, Hausherrn und Dienerschaft, Vater und Familie, Heerführer und Soldat, Meister und Lehr- ling bildet. Alle diese Verhältnisse gestalten sich jetzt, unter dem Einflüsse der herrschenden constitutionellen Regierungsform, ein wenig um: sie werden Compro- misse. Aber wie müssen sie sich verkehren und ver- schieben, Namen und Wesen wechseln, wenn jener

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allerneuste Begriff überall sich der Köpfe bemeistert hat! wozu es aber wohl ein Jahrhundert noch brau- chen dürfte. Hierbei ist Nichts mehr zu wünschen als Vorsicht und langsame Entwicklung.

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Gerechtigkeit als Parteien-Lockruf. Wohl können edle (wenn auch nicht gerade sehr einsichtsvolle) Vertreter der herrschenden Classe sich geloben: wir wollen die Menschen als gleich behandeln, ihnen gleiche Rechte zugestehen. Insofern ist eine socialistische Denkungsweise, welche auf Gerechtigkeit ruht, mög- lich; aber wie gesagt nur innerhalb der herrschenden Classe , welche in diesem Falle die Gerechtigkeit mit Opfern und Verleugnungen übt. Dagegen Gleichheit der Rechte fordern, wie es die Socialisten der unter- worfenen Kaste tliun, ist nimmermehr der Ausfluss der Gerechtigkeit, sondern der Begehrlichkeit. Wenn man der Bestie blutige Fleischstücke aus der Nähe zeigt und wieder wegzieht, bis sie endlich brüllt: meint ihr, dass diess Gebrüll Gerechtigkeit bedeute?

452.

Besitz und GerecTitigkeit. Wenn die Socia listen nachweisen , dass die Eigenthums-Vertheilung in der gegenwärtigen Menschheit die Consequenz zahlloser Ungerechtigkeiten und Gewaltsamkeiten ist , und in summa die Verpflichtung gegen etwas so unrecht Be- gründetes ablehnen: so sehen sie nur et\vas Einzelnes. Die ganze Vergangenheit der alten Cultur ist aut Gewalt Sclaverei Betrug Irrthum aufgebaut; wir können aber

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uns selbst, die Erben aller dieser Zustände, Ja die Con- crescenzen aller jener Vergangenheit, nicht wegdecre- tiren und dürfen nicht ein einzelnes Stück herausziehn wollen. Die ungerechte Gesinnung steckt in den Seelen der Nicht-Besitzenden auch, sie sind nicht besser als die Besitzenden und haben kein moralisches Vorrecht, denn irgend wann sind ihre Vorfahren Besitzende gewesen. Nicht gewaltsame neue Vertheilungen sondern allmäh- liche UmschafiFungen des Sinnes thun noth, die Gerechtig- keit muss in Allen grösser werden, der gewaltthätige Instinct schwächer.

. 453.

Der Steuermann der Leidenschaften. Der Staatsmann erzeugt öffentliche Leidenschaften, um den Gewinn von der dadurch erweckten Gegenleidenschaft zu haben. Um ein Beispiel zu nehmen : so weiss ein deutscher Staatsmann wohl, dass die katholische Kirche niemals mit Russland gleiche Pläne haben wird, ja sich viel lieber mit den Türken verbünden würde als mit ihm; ebenso weiss er, dass Deutschland alle Gefahr von einem Bündnisse Frankreichs mit Russland droht. Kann er es nun dazu bringen, Frankreich zum Herd und Hort der katholischen Kirche zu machen, so hat er diese Gefahr für eine lange Zeit beseitigt. Er hat demnach ein Interesse daran, Hass gegen die Katholiken zu zeigen und durch Feindseligkeiten aller Art die Bekenner der Autorität des Papstes in eine leidenschaftliche politische Macht zu verwandeln , welche der deutschen Politik feindlich ist und sich naturgemäss mit Frankreich als dem Widersacher Deutschland's verschmelzen muss: sein Ziel ist ebenso nothwendig die Katholisirung Frank- reichs, als Mirabeau in der Dekatholisirung das Heil

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seines Vaterlandes sah. Der eine Staat will also die Verdunkelung von Millionen Köpfen eines anderen Staates, um seinen Vortheil aus dieser Verdunkelung zu ziehen. Es ist diess dieselbe Gesinnung, welche die republi- canische Regierungsform des nachbarlichen Staates le däsordre orga7iis6, wie Merimee sagt aus dem alleinigen Grunde unterstützt, weil sie von dieser an- nimmt, dass sie das Volk schwächer, zerrissener und kriegsunfähiger mache.

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Die Gefährlichen unter den Umsturz-Geistern. Man theile Die, welche auf einen Umsturz der Gesell- schaft bedacht sind, in Solche ein, welche für sich selbst, und in Solche, welche für ihre Kinder und Enkel etwas erreichen wollen. Die Letzteren sind die Gefährlicheren; denn sie haben den Glauben und das gute Gewissen der Uneigennützigkeit. Die Anderen kann man abspeisen: dazu ist die herrschende Gesellschaft immer noch reich und klug genug. Die Gefahr beginnt, sobald die Ziele unpersönlich werden; die Revolutionäre aus unpersön- lichem Interesse dürfen alle Vertheidiger des Bestehenden als persönlich interessirt ansehen und sich d esshalb ihnen überlegen fühlen.

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Politischer Werth der Vaterschaft. Wenn der Mensch keine Söhne hat, so hat er kein volles Recht, über die Bedürfnisse eines einzelnen Staatswesens mit- zureden. Man muss selber mit den Anderen sein Liebstes daran gewagt haben: das erst bindet an den Staat fest; man muss das Glück seiner Nachkommen in's Auge

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fassen, also vor Allem Nachkommen haben, um an allen Institutionen und deren Veränderung rechten natürlichen Antheil zu nehmen. Die Entwicklung der höheren Moral hängt daran, dass Einer Söhne hat; diess stimmt ihn unegoistisch, oder richtiger: es erweitert seinen Egoismus der Zeitdauer nach und lässt ihn Ziele über seine indi- viduelle Lebenslänge hinaus mit Ernst verfolgen.

456.

Ahnenstolz. Auf eine ununterbrochene Reihe guter Ahnen bis zum Vater herauf darf man mit Recht stolz sein nicht aber auf die Reihe; denn diese hat Jeder. Die Herkunft von guten Ahnen macht den ächten Geburtsadel aus; eine einzige Unterbrechung in jener Kette , Ein böser Vorfahr also, hebt den Geburtsadel auf. Man soll Jeden, welcher von seinem Adel redet, fragen: hast du keinen gewaltthätigen habsüchtigen ausschwei- fenden boshaften grausamen Menschen unter deinen Vorfahren? Kann er darauf in gutem Wissen und Ge- wissen mit Nein antworten, so bewerbe man sich um seine Freundschaft

457.

Sclaven und Arbeiter. Dass \v\t mehr Werth auf Befriedigung der Eitelkeit als auf alles übrige Wohl- befinden (Sicherheit, Unterkommen, Vergnügen aller Art) legen, zeigt sich in einem lächerlichen Grade daran, dass Jedermann (abgesehen von politischen Gründen) die Auf- hebung der Sclaverei wünscht und es aufs Ärgste ver- abscheut, Menschen in diese Lage zu bringen: während Jeder sich sagen muss, dass die Sclaven in allen Be- ziehungen sicherer und glücklicher leben als der moderne

Nietische, Werke Rand II. 22

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Arbeiter, dass Sclavenarbeit sehr wenig- Arbeit im Ver- hältniss zu der des „Arbeiters" ist. Man protestirt im Namen der „Menschenwürde": das ist aber, schlichter ausgedrückt, jene Hebe Eitelkeit, welche das Nicht-gleich- gestellt - sein, das öffentlich -niedriger -geschätzt -werden als das härteste Loos empfindet. Der Cyniker denkt anders darüber, weil er die Ehre verachtet: und so war Diogenes eine Zeitlang Sclave und Hauslehrer.

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Leitende Geister und ihre Werkzeuge. Wir sehen grosse Staatsmänner und überhaupt alle Die, welche sich vieler Menschen zur Durchführung ihrer Pläne bedienen müssen, bald so bald so verfahren: ent- weder wählen sie sehr fein uud sorgsam die zu ihren Plänen passenden Menschen aus und lassen ihnen dann verhältnissmässige grosse Freiheit, weil sie wissen, dass die Natur dieser Ausgewählten sie eben dahin treibt, wohin sie selber Jene haben wollen; oder sie wählen schlecht, ja nehmen, was ihnen unter die Hand kommt, formen aber aus jedem Thone etwas für ihre Zwecke Taugliches. Diese letzte Art ist die gewaltsamere, sie begehrt auch unterwürfigere Werkzeuge; ihre Menschen- kenntniss ist gewöhnlich viel geringer, ihre Menschen- verachtung grösser als bei den erstgenannten Geistern, aber die Maschine, welche sie construiren, arbeitet ge- meinhin besser als die Alaschine aus der Werkstätte jener.

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Willkürliches Recht nothwendig. Die Juristen streiten, ob das am vollständigsten durchgedachte

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Recht oder das am leichtesten zu verstehende in einem Volke zum Siege kommen solle. Das erste, dessen höchstes Muster das römische ist, erscheint dem Laien als unverständlich und desshalb nicht als Ausdruck seiner Rechtsempfindung. Die Volksrechte, zum Beispiel die germanischen, waren grob abergläubisch unlogisch, zum Theil albern, aber sie entsprachen ganz bestimmten vererbten heimischen Sitten und Empfindungen. Wo aber Recht nicht mehr, wie bei uns, Herkommen ist, da kann es nur befohlen. Zwang sein; wir haben Alle kein herkömmliches Rechtsgefühl mehr, desshalb müssen wir uns Willkürsrechte gefallen lassen, die der Aus- druck der Nothwendigkeit sind, dass es ein Recht geben müsse. Das logischste ist dann jedenfalls das annehm- barste, weil es das unparteilichste ist: zugegeben selbst, dass in jedem Falle die kleinste Maasseinheit im Verhältniss von Vergehen und Strafe willkürhch ange- setzt ist.

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Der grosse ISIann der Masse. Das Recept zu dem, was die Masse einen grossen Mann nennt, ist leicht gegeben. Unter allen Umständen verschaffe man ihr etwas, das ihr sehr angenehm ist, oder setze ihr erst in den Kopf, dass diess und jenes sehr angenehm wäre, und gebe es ihr dann. Doch um keinen Preis sofort: sondern man erkämpfe es mit grösster Anstrengung oder scheine es zu erkämpfen. Die Masse muss den Eindruck haben, dass eine mächtige, ja unbezwingliche Willenskraft da sei; mindestens muss sie da zu sein scheinen. Den starken Willen bewundert Jedermann, weil Niemand ihn hat und Jedermann sich sagt, dass, wenn er ihn hätte, es für ihn und seinen Egoismus keine

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Grenze mehr gäbe. Zeigt sich nun, dass ein solcher starker Wille etwas der Masse sehr Angenehmes be- wirkt, statt auf die Wünsche seiner Begehrlichkeit zu hören, so bewundert man noch einmal und wünscht sich selber Glück. Im Übrigen habe er alle Eigenschaften der Masse: um so weniger schämt sie sich vor ihm, um so mehr ist er populär. Also: er sei gewaltthätig nei- disch ausbeuterisch intrigant schmeichlerisch kriechend aufgeblasen, je nach Umständen Alles.

461.

Fürst und Gott. Die Menschen verkehren mit ihren Fürsten vielfach in ähnlicher Weise wie mit ihrem Gotte, wie ja vielfach auch der Fürst der Repräsentant des Gottes, mindestens sein Oberpriester war. Diese fast unheimliche Stimmung von Verehrung und Angst und Scham war und ist viel schwächer geworden, aber mit- unter lodert sie auf und heftet sich an mächtige Personen überhaupt. Der Cultus des Genius ist ein Nachklang dieser Götter- Fürsten -Verehrung. Überall, wo man sich bestrebt, einzelne Menschen in das Übermenschliche hin- autzuheben, entsteht auch die Neigung, ganze Schichten des Volkes sich roher und niedriger vorzustellen, als sie wirklich sind.

462.

Meine Utopie. In einer besseren Ordnung der Gesellschaft wird die schwere Arbeit und Noth des Lebens Dem zuzumessen sein, welcher am wenigsten durch sie leidet, also dem Stumpfsten, und so schritt- weise aufwärts bis zu Dem, welcher für die höchsten sublimirtesten Gattungen des Leidens am empfindlichsten

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ist und desshalb selbst noch bei der grössten Erleich- terung des Lebens leidet

463.

Ein Wahn in der Lehre vom Umsturz. Es giebt politische und sociale Phantasten, welche feurig und beredt zu einem Umsturz aller Ordnungen auf- fordern, in dem Glauben, dass dann sofort das stolzeste Tempelhaus schönen Menschenthums gleichsam von selbst sich erheben werde. In diesem gefährlichen Traume klingt noch der Aberglaube Rousseau's nach, welcher an eine wundergleiche ursprüngliche, aber gleichsam verschüttete Güte der menschlichen Natur glaubt und den Institutionen der Cultur, in Gesellschaft Staat Er- ziehung, alle Schuld jener Verschüttung beimisst. Leider weiss man aus historischen Erfahrungen, dass jeder solche Umsturz die wildesten Energien als die längst begrabenen Furchtbarkeiten und Maasslosigkeiten fernster Zeitalter von Neuem zur Auferstehung bringt: dass also ein Um- sturz wohl eine Kraftquelle in einer matt gewordenen Menschheit sein kann, nimmermehr aber ein Ordner, Baumeister, Künstler, Vollender der menschlichen Natur. Nicht Voltaire 's maassvolle, dem Ordnen Reinigen und Umbauen zugeneigte Natur, sondern Rousseau's leidenschaftliche Thorheiten und Halblügen haben den optimistischen Geist der Revolution wachgerufen, gegen den ich rufe: „Acrasez V infame!" Durch ihn ist der Geist der Aufklärung und der fortschreitenden Entwicklung auf lange verscheucht worden: sehen wir zu ein Jeder bei sich selber ob es möglich ist, ihn wieder zurückzurufen!

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464.

Maass. Die volle Entschiedenhei?Nles Denkens und Forschens, also die Freigeisterei zur Eigenschaft des Charakters geworden, macht im Handeln massig: denn sie schwächt die Begehrlichkeit, zieht viel von der vorhandenen Energie an sich, zur Förderung geistiger Zwecke, und zeigt das Halbnützliche oder Unnütze und Gefährliche aller plötzlichen Veränderungen.

465.

Auferstehung des Geistes. Auf dem poli- tischen Kränkenbette verjüngt ein Volk gewöhnlich sich selbst und findet seinen Geist wieder, den es im Suchen und Behaupten der Macht allmählich verlor. Die Cultur verdankt das Allerhöchste den politisch geschwächten Zeiten.

466.

Neue Meinungen im alten Hause. Dem Umsturz der Meinungen folgt der Umsturz der Institu- tionen nicht sofort nach, vielmehr wohnen die neuen Meinungen lange Zeit im verödeten und unheimlich ge- wordenen Hause ihrer Vorgängerinnen und conserviren es selbst, aus Wohnungshoth.

467.

Schulwesen. Das Schulwesen wird in grossen Staaten immer höchstens mittelmässig sein, aus dem- selben Grunde, aus dem in grossen Küchen besten Falls mittelmässig gekocht wird.

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468.

Unschuldige Corruption. In allen Instituten, in welche nicht die scharfe Luft der öffentlichen Kritik hineinweht, wächst eine unschuldige Corruption auf, wie ein Pilz (also zum Beispiel in gelehrten Körperschaften und Senaten).

469.

Gelehrte als Politiker. Gelehrten, welche Pohtiker werden, wird gewöhnlich die komische Rolle zugetheilt, das gute Gewissen einer Politik sein zu müssen.

470.

Der Wolf hinter dem Schafe versteckt Fast jeder Politiker hat unter gewissen Umständen ein- mal einen ehrlichen Mann so nöthig, dass er gleich einem heisshungrigen Wolfe in einen Schafstall bricht: nicht aber, um dann den geraubten Widder zu fressen, sondern um sich hinter seinen wolligen Rücken zu verstecken.

471.

Glückszeiten. Ein glückliches Zeitalter ist dess- halb gar nicht möglich, weil die Menschen es nur wünschen wollen, aber nicht haben wollen, und jeder Einzelne, wenn ihm gute Tage kommen, förmlich um Unruhe und Elend beten lernt. Das Schicksal der Men- schen ist auf glückliche Augenblicke eingerichtet jedes Leben hat solche , aber nicht auf glückhche Zeiten. Trotzdem werden diese als „das Jenseits der Bercre" in der Phantasie des Menschen bestehen bleiben.

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als Erbstück der Urväter; denn man hat wohl den Be- griflf des Glückszeitalters seit uralten Zeiten her jenem Zustand entnommen, in dem der Mensch, nach ge- waltiger Anstrengung durch Jagd und Krieg, sich der Ruhe übergiebt, die Glieder streckt und die Fittige des Schlafes um sich rauschen hört. Es ist ein falscher Schluss, wenn der Mensch jener alten Gewöhnung ge- mäss sich vorstellt, dass er nun auch nach ganzen Zeiträumen der Noth und Mühsal jenes Zustandes des Glücks in entsprechender Steigerung und Dauer theilhaftig werden könne.

472.

Religion und Regierung. So lange der Staat oder, deutlicher, die Regierung sich als Vormund zu Gunsten einer unmündigen Menge bestellt weiss und um ihretwillen die Frage erwägt, ob die Religion zu erhalten oder zu beseitigen sei: wird sie höchst wahrscheinlich sich immer für die Erhaltung der Religion entscheiden. Denn die Religion befriedigt das einzelne Gemüth in Zeiten des Verlustes, der Entbehrung, des Schreckens, des Misstrauens, also da, wo die Regierung sich ausser Stande fühlt, direct etwas zur Linderung der seelischen Leiden des Privatmanns zu thun: ja selbst bei allge- meinen unvermeidlichen und zunächst unabwendbaren Übeln (Hungersnöthen Geldkrisen Kriegen) gewährt die Religion eine beruhigte abwartende vertrauende Haltung der Menge. Überall, wo die nothwendigen oder zu- fälligen Mängel der Staatsregierung oder die gefährlichen Consequenzen dynastischer Interessen dem Einsichtigen sich bemerklich machen und ihn widerspänstig stimmen, werden die Nicht - Einsichtigen den Finger Gottes zu

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sehen meinen und sich in Geduld den Anordnungen von Oben (in welchem Begriff göttliche und menschliche Regierungsweise gewöhnlich verschmelzen) unterwerfen: so wird der innre bürgerliche Friede und die Conti- nuität der Entwicklung gewahrt. Die Macht, welche in der Einheit der Volksempfindung, in gleichen Meinungen und Zielen für Alle liegt, wird durch die Religion be- schützt und besiegelt, jene seltnen Fälle abgerechnet, wo eine Priesterschaft mit der Staatsgewalt sich über den Preis nicht einigen kann und in Kampf t^iitt. Für gewöhnlich wird der Staat sich die Priester zu gewinnen wissen, weil er ihrer allerprivatesten verborgenen Er- ziehung der Seelen benöthigt ist und Diener zu schätzen weiss, welche scheinbar und äusserlich ein ganz anderes Interesse vertreten. Ohne Beihülfe der Priester kann auch jetzt noch keine Macht „legitim" werden: wie Napoleon begriff. So gehen absolute vormundschaft- liche Regierung und sorgsame Erhaltung der Religion noth wendig zusammen. Dabei ist vorauszusetzen, dass die regierenden Personen und Classen über den Nutzen, welchen ihnen die Religion gewährt, aufgeklärt werden und somit bis zu einem Grade sich ihr überlegen fühlen, insofern sie dieselbe als Mittel gebrauchen: wesshalb hier die Freigeisterei ihren Ursprung hat. Wie aber, wenn jene ganz verschiedene Auffassung des Begriffes der Regierung, wie sie in demokratischen Staaten gelehrt wird, durchzudringen anfängt? Wenn man in ihr Nichts als das Werkzeug des Volkswillens sieht, kein Oben im Vergleich zu einem Unten, sondern lediglich eine Func- tion des alleinigen Souverains, des Volkes? Hier kann auch nur dieselbe Stellung, welche das Volk zur Reli- gion einnimmt, von der Regierung eingenommen werden ; jede Verbreitung von Aufklärung wird bis in ihre Ver-

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treter hineinklingen müssen, eine Benutzung und Aus- beutung der religiösen Triebkräfte und Tröstungen zu staatlichen Zwecken wird nicht so leicht möglich sein (es sei denn, dass mächtige Parteiführer zeitweilig einen Einfluss üben, welcher dem des aufgeklärten Despotismus ähnlich sieht). Wenn aber der Staat keinen Nutzen mehr aus der Religion selber ziehen darf oder das Volk viel zu mannichfach über religiöse Dinge denkt, als dass es der Regierung ein gleichartiges einheitliches Vorgehen bei religiösen Maassregeln gestatten dürfte, so wird nothwendig sich der Ausweg zeigen, die Religion als Privatsache zu behandeln und dem Gewissen und der Gewohnheit jedes Einzelnen zu überantworten. Die Folge ist zu allererst diese, dass das religiöse Empfinden ver- stärkt erscheint, insofern versteckte, und unterdrückte Regungen desselben, welchen der Staat unwillkürlich oder absichtlich keine Lebensluft gönnte, jetzt hervor- brechen und bis in's Extrem ausschweifen; später er- weist sich, dass die Religion von Secten überwuchert wird und dass eine Fülle von Drachenzähnen in dem Augenblick gesäet worden ist, als man die Religion zur Privatsache machte. Der Anblick des Streites, die feind- selige Blosslegung aller Schwächen religiöser Bekennt- nisse lässt endlich keinen Ausweg mehr zu, als dass jeder Bessere und Begabtere die Irreligiosität zu seiner Privatsache macht: als \vielche Gesinnung nun auch in dem Geiste der regierenden Personen die Überhand be- kommt und, fast wider ihreil "Willen, ihren Maassregeln einen rehgionsfeindlichen Charakter giebt. Sobald diess eintritt , wandelt sich die Stimmung der noch religiös bewegten Menschen, welche früher den Staat als etwas halb oder ganz Heihges adorirten , in eine entschieden staatsfeindliche um; sie lauern den Maassregeln der

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Regierung auf, suchen zu hemmen, zu kreuzen, zu be- unruhigen so viel sie können, und treiben dadurch die Gegenparteien, die irreligiösen, durch die Hitze ihres "Wider- spruchs in eine fast fanatische Begeisterung für den Staat hinein; wobei im Stillen noch mitwirkt, dass in diesen Kreisen die Gemüther seit der Trennung von der Religion eine Leere spüren und sich vorläufig durch die Hingebung an den Staat einen Ersatz, eine Art von Ausfüllung zu schaffen suchen. Nach diesen vielleicht lange dauernden Übergangskämpfen entscheidet es sich endlich, ob die religiösen Parteien noch stark genug sind, um einen alten Zustand heraufzubringen und das Rad zurückzudrehen: in welchem Falle unvermeidlich der aufgeklärte Despotismus (vielleicht weniger aufgeklärt und ängstlicher als früher) den Staat in die Hände be- kommt, — oder ob die religionslosen Parteien sich durch- setzen und die Fortpflanzung ihrer Gegnerschaft, einige Generationen hindurch, etwa durch Schule und Erziehung, untergraben und endlich unmöglich machen. Dann aber lässt auch bei ihnen jene Begeisterung für den Staat nach: immer deutlicher tritt hervor, dass mit jener reli- giösen Adoration , für welche er ein Mysterium , eine überweltliche Stiftung ist , auch das ehrfürchtige und pietätvolle Verhältniss zu ihm erschüttert ist. Fürderhin sehen die Einzelnen immer nur die Seite an ihm, wo er ihnen nützlich oder schädlich werden kann, und drängen sich mit allen Mitteln heran, um Einfluss auf ihn zu be- kommen. Aber diese Concurrenz wird bald zu gross, die Menschen und Parteien wechseln zu schnell, stürzen sich gegenseitig zu wild vom Berge wieder herab, nach- dem sie kaum oben angelangt sind. Es fehlt allen Maassregeln, welche von einer Regierung durchgesetzt werden, die Bürgschaft ihrer Dauer; man scheut vor

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Unternehmungen zurück, welche auf Jahrzehende, Jahr- hunderte hinaus ein stilles Wachsthum haben müssten, um reife Früchte zu zeitigen. Niemand fühlt mehr eine andere Verpflichtung gegen ein Gesetz als die, sich augen- blicklich der Gewalt, welche ein Gesetz einbrachte, zu beugen: sofort geht man aber daran, es durch eine neue Gewalt, eine neu zu bildende Majorität zu unterminiren. Zuletzt man kann es mit Sicherheit aussprechen muss das Misstrauen gegen alles Regierende, die Einsicht in das Nutzlose und Aufreibende dieser kurzathmigcn Kämpfe die Menschen zu einem ganz neuen Entschlüsse drängen: zur Abschaffung des Staatsbegriifs , zur Auf- hebung des Gegensatzes „privat und öffentlich". Die Privatgesellschaften ziehen Schritt vor Schritt die Staats- geschäfte in sich hinein: selbst der zäheste Rest, welcher von der alten Arbeit des Regierens übrig bleibt (jene Thätigkeit zum Beispiel, welche die Privaten gegen die Privaten sicher stellen soll), wird zu allerletzt einmal durch Privatunternehmer besorgt werden. Die Miss- achtung, der Verfall und der Tod des Staates, die Entfesselung der Privatperson (ich hüte mich zu sagen: des Individuums) ist die Consequenz des demokratischen Staatsbegriffs; hier liegt seine Mission. Hat er seine Aufgabe erfüllt die wie alles Menschliche viel Ver- nunft und Unvernunft im Schosse trägt , sind alle Rückfälle der alten Krankheit überwunden, so wird ein neues Blatt im Fabelbuche der Menschheit entrollt, auf dem man allerlei seltsame Historien und vielleicht auch einiges Gute lesen wird. Um das Gesagte noch einmal kurz zu sagen: das Interesse der vormundschaftlichen Regierung und das Interesse der Religion gehen mit einander Hand in Hand, so dass, wenn letztere abzu- sterben beginnt, auch die Grundlage des Staates er-

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schütten wird. Der Glaube an eine göttliche Ordnung der politischen Dinge, an ein Mysterium in der Existenz des Staates ist religiösen Ursprungs: schwindet die Re- ligion, so wird der Staat unvermeidlich , seinen alten Isis- schleier verlieren und keine Ehrfurcht mehr erwecken. Die Souverainetät des Volkes, in der Nähe gesehen, dient dazu, auch den letzten Zauber und Aberglauben auf dem Gebiete dieser Empfindungen zu verscheuchen; die mo- derne Demokratie ist die historische Form vom Verfall des Staates. Die Aussicht, welche sich durch diesen sichern Verfall ergiebt, ist aber nicht in jedem Betracht eine unglückselige: die Klugheit und der Eigennutz der Menschen sind von allen ihren Eigenschaften am besten ausgebildet; wenn den Anforderungen dieser Kräfte der Staat nicht mehr entspncht, so wird am wenigsten das Chaos eintreten, sondern eine noch zweckmässigere Er- findung, als der Staat es war, zum Siege über den Staat kommen. Wie manche organisirende Gewalt hat die Menschheit schon absterben sehen: zum Beispiel die der Geschlechtsgenossenschaft, als welche Jahrtausende lang viel mächtiger war als die Gewalt der Familie, ja längst, bevor diese bestand, schon waltete und ordnete. Wir selber sehen den bedeutenden Rechts- und Macht- gedanken der Familie , welcher einmal , so weit wie römisches Wesen reichte, die Herrschaft besass, immer blasser und ohnmächtiger werden. So wird ein späteres Geschlecht auch den vStaat in einzelnen Strecken der Erde bedeutungslos werden sehen eine Vorstellung, an welche viele Menschen der Gegenwart kaum ohne Angst und Abscheu denken können. An der Verbreitung und Verwirkhchung dieser Vorstellur.g zu arbeiten, ist freilich ein ander Ding: man muss sehr anmaassend von seiner Vernunft denken und die Geschichte kaum halb

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verstehen, um schon jetzt die Hand an den Pflug zu legen, während noch Niemand die Samenkörner auf- zeigen kann, welche auf das zerrissene Erdreich nachher gestreut werden sollen. Vertrauen wir also „der Klug- heit und dem Eigennutz der Menschen", dass jetzt noch der Staat eine gute Weile bestehen bleibt und zerstöre- rische Versuche übereifriger und voreiliger Halbwisser abgewiesen werden!

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Der Socialismus in Hinsicht auf seine Mittel. Der Socialismus ist der phantastische jüngere Bruder des fast abgelebten Despotismus, den er beerben will; seine Bestrebungen sind also im tiefsten Verstände reactionär. Denn er begehrt eine Fülle der Staatsge- walt, wie sie nur je der Despotismus gehabt hat, ja er überbietet alles Vergangene dadurch, dass er die förm- liche Vernichtung des Individuums anstrebt: als welches ihm wie ein unberechtigter Luxus der Natur vorkommt und durch ihn in ein zweckmässiges Organ des Ge- meinwesens umgebessert werden soll. Seiner Ver- wandtschaft wegen erscheint er immer in der Nähe aller excessiven Machtentfaltungen, wie der alte typische Socialist Plato am Hofe des sicilischen Tyrannen; er wünscht (und befördert unter Umständen) den cäsarischen Gewaltstaat dieses Jahrhunderts, weil er, wie gesagt, sein Erbe werden möchte. Aber selbst diese Erbschaft würde für seine Zwecke nicht ausreichen , er braucht die aller- unterthänigste Niederwerfung aller Bürger vor dem unbedingten Staat, wie niemals etwas Gleiches existirt hat; und da er nicht einmal auf die alte religiöse Pietät gegen den Staat mehr rechnen darf, vielmehr an deren Beseitigung unwillkürlich fortwährend arbeiten muss

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nämlich weil er an der Beseitigung aller bestehenden Staaten arbeitet , so kann er sich nur auf kurze Zeiten, durch den äussersten Terrorismus, hier und da einmal auf Existenz Hoffnung machen. Desshalb be- reitet er sich im Stillen zu Schreckensherrschaften vor und treibt den halbgebildeten Massen das Wort „Ge- rechtigkeit" wie einen Nagel in den Kopf, um sie ihres Verstandes völlig zu berauben (nachdem dieser Ver- stand schon durch die Halbbildung sehr gelitten hat) und ihnen für das böse Spiel, das sie spielen sollen/ein gutes Gewissen zu schaffen. Der Socialismus kann dazu dienen, die Gefahr aller Anhäufungen von Staats- gewalt recht brutal und eindringlich zu lehren und in- sofern vor dem Staate selbst Misstrauen einzuflössen. Wenn seine rauhe Stimme in das Feldgeschrei: „soviel Staat wie möglich" einfällt, so wird dieses zunächst dadurch lärmender als je: aber bald dringt auch das entgegengesetzte mit um so grösserer Kraft hervor: „so wenig Staat wie möglich".

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Die Entwicklung des Geistes vom Staate gefürchtet. Die griechische Polis war, wie jede organisirende politische Macht, ausschli essend und miss- trauisch gegen das Wachsthum der Bildung; üir ge- waltiger Grundtrieb zeigte sich fast nur lähmend und hemmend für dieselbe. Sie wollte keine Geschichte, kein Werden in der Bildung gelten lassen; die in dem Staats- gesetz festgestellte Erziehung sollte alle Generationen verpflichten und auf Einer Stufe festhalten. Nicht anders wollte es später auch noch Plato für seinen idealen Staat. Trotz der Polis entwickelte sich also die Bildung:

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indirect freilich und wider Willen half sie mit, weil die Ehrsucht des Einzelnen in der Polis auf's Höchste ang-e- reizt wurde, so dass er, einmal auf die Bahn geistiger Ausbildung gerathen, auch in ihr bis in's letzte Extrem fortgieng. Dagegen soll man sich nicht auf die Ver- herrlichungsrede des Perikles berufen: denn sie ist nur ein grosses optimistisches Trugbild über den angeblich nothwendigen Zusammenhang von Polis und athenischer Cultur; Thukydides lässt sie, unmittelbar bevor die Nacht über Athen kommt (die Pest und der Abbruch der Tra- dition), noch einmal wie eine verklärende Abendröthe aufleuchten, bei der man den schlimmen Tag vergessen soll, der ihr vorangieng.

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Der europäische Mensch und die Vernich- tung der Nationen. Der Handel und die Industrie, der Bücher- und Briefverkehr, die Gemeinsamkeit aller höheren Cultur, das schnelle Wechseln von Haus und Landschaft, das jetzige Nomadenleben aller Nicht -Land- besitzer — diese Umstände bringen nothwendig eine Schwächung und zuletzt eine Vernichtung der Nationen, mindestens der europäischen, mit sich: so dass aus ihnen allen, in Folge fortwährender Kreuzungen, eine Misch- rasse, die des europäischen Menschen, entstehen muss. Diesem Ziele wirkt jetzt, bewusst oder unbewusst, die Abschliessung der Nationen durch Erzeugung nationaler Feindseligkeiten entgegen, aber langsam geht der Gang jener Mischung dennoch vorwärts, trotz jenen zeitweiligen Gegenströmungen: dieser künstliche Nationalismus ist übrigens so gefährlich, wie der künstliche Katholicismus es gewesen ist, denn er ist in seinem Wesen ein gewalt-

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sanier Noth- und Belagerungszustand, welcher von Wenigen über Viele verhängt ist, und braucht List Lüge und Gewalt, um sich in Ansehen zu halten. Nicht das Interesse der Vielen (der Völker), wie man wohl sagt, sondern vor Allem das Interesse bestimmter Fürsten- dynastien, sodann das bestimmter Classen des Handels und der Gesellschaft, treibt zu diesem Nationalismus; hat man diess einmal erkannt, so soll man sich nur unge- scheut als guten Europäer ausgeben und durch die That an der Verschmelzung der Nationen arbeiten: wo- bei die Deutschen durch ihre alte bewährte Eigenschaft, Dolmetscher und Vermittler der Völker zu sein, mitzuhelfen vermögen. Beiläufig: das ganze Problem der Juden ist nur innerhalb der nationalen Staaten vor- handen, insofern hier überall ihre Thatkräftigkeit und höhere Intelligenz, ihr in langer Leidensschule von Ge- schlecht zu Geschlecht angehäuftes Geist- und Willens- Capital in einem neid- und hass erweckenden Maasse zum Übergewicht kommen muss, so dass die litterarische Unart fast in allen jetzigen Nationen überhand nimmt und zwar je mehr diese sich wieder national gebärden , die Juden als Sündenböcke aller möglichen öffentlichen und inneren Übelstände zur Schlachtbank zu führen. Sobald es sich nicht mehr um Conservirung von Nationen, sondern um die Erzeugung einer möglichst kräftigen europäischen Mischrasse handelt, ist der Jude als Ingredienz ebenso brauchbar und erwünscht als irgend ein anderer nationaler Rest. Unangenehme, ja ge- fährliche Eigenschaften hat jede Nation, jeder Mensch: es ist grausam zu Verlagen, dass der Jude eine Aus- nahme machen solle. Jene Eigenschaften mögen sogar bei ihm in besonderem Maasse gefährlich und ab- schreckend sein ; und vielleicht ist der jugendliche Börsen-

Nietzscbe, Werke Band 11.

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Jude die widerlichste Erfindung des Menschengeschlechtes überhaupt. Trotzdem möchte ich wissen, wie viel man bei einer Gesammtabrechnung einem Volke nachsehen muss, welches, nicht ohne unser Aller Schuld, die leid- vollste Geschichte unter allen Völkern gehabt hat, und dem man den edelsten Menschen (Christus), den reinsten Weisen (Spinoza), das mächtigste Buch und das wirkungsvollste Sittengesetz der Welt verdankt. Über- diess: in den dunkelsten Zeiten des Mittelalters, als sich die asiatische Wolkenschicht schwer über Europa gelagert hatte, waren es jüdische Freidenker, Gelehrte und Arzte, welche das Banner der Aufklärung und der geistigen Unabhängigkeit unter dem härtesten persönlichen Zwange festhielten und Europa gegen Asien vertheidigten ; ihren Bemühungen ist es nicht am wenigsten zu danken, dass eine natürlichere, vernunftgemässere und jedenfalls un- m)rthische Erklärung der Welt endlich wieder zum Siege kommen konnte und dass der Ring der Cultur, welcher uns jetzt mit der Aufklärung des griechisch-römischen Alterthums zusammenknüpft, unzerbrochen blieb. Wenn das Christenthum Alles gethan hat, um den Occident zu Orientalisiren, so hat das Judenthum wesentHch mit dabei geholfen, ihn immer wieder zu occidentalisiren: was in einem bestimmten Sinne so viel heisst, als Europa's Aufgabe und Geschichte zu einer Fortsetzung der griechischen zu machen.

47Ö.

Scheinbare Überlegenheit des Mittelalters. Das Mittelalter zeigt in der Kirche ein Institut mit einem ganz universalen, die gesammte Menschheit in sich be- greifenden Ziele, noch dazu einem solchen, welches den

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vermeintlich höchsten Interessen derselben galt: dagegen gesehen machen die Ziele der Staaten und Nationen, welche die neuere Geschichte zeigt, einen be- klemmenden Eindruck; sie erscheinen kleinlich, niedrig, materiell, räumhch beschränkt. Aber dieser verschiedne Eindruck auf die Phantasie soll unser Urtheil ja nicht bestimmen; denn jenes universale Institut entsprach er- künstelten, auf Fictionen beruhenden Bedürfnissen, welche es, wo sie noch nicht vorhanden waren, erst erzeugen musste (Bedürfniss der Erlösung); die neuen Institute helfen wirklichen Nothzuständen ab; und die Zeit kommt, wo Institute entstehen , um den gemeinsamen wahren Bedürfnissen aller Menschen zu dienen und das phan- tastische Urbild, die katholische Kirche, in Schatten und Vergessenheit zu stellen.

477.

Der Krieg unentbehrlich. Es ist eitel Schwär- merei und Schönseelenthum, von der Menschheit noch viel (oder gar: erst recht viel) zu erwarten, wenn sie verlernt hat Kriege zu führen. Einstweilen kennen wir keine anderen Mittel, wodurch »mattwerdenden Völkern jene rauhe Energie des Feldlagers, jener tiefe unper- sönliche Hass, jene Mörder- Kaltblütigkeit mit gutenj Gewissen, jene gemeinsame organisirende Gluth in der Vernichtung des Feindes , jene stolze Gleichgültigkeit gegen grosse Verluste, gegen das eigene Dasein und das der Befreundeten, jenes dumpfe erdbebenhafte Erschüttern der Seele ebenso stark und sicher mitgetheilt werden könnte, wie dicss jeder grosse Krieg thut: von den hier hervorbrechenden Bächen und Strömen, welche freilich Steine und Unrath aller Art mit sich wälzen und die

23*

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Wiesen zarter Culturen zu Grunde richten, werden nach- her unter günstigen Umständen die Räderwerke in den Werkstätten des Geistes mit neuer Kraft umgedreht Die Cultur kann die Leidenschaften, Laster und Bosheiten durchaus nicht entbehren. Als die kaiserlich geword- nen Römer der Kriege etwas müde wurden, versuchten sie aus Thierhetzen, Gladiatorenkämpfen und Christen- verfolgnngen sich neue Kraft zu gewinnen. Die jetzigen Engländer, welche im Ganzen auch dem Kriege abgesagt zu haben scheinen, ergreifen ein andres Mittel, um jene entschwindenden Kräfte neu zu erzeugen: jene gefähr- lichen Entdeckungsreisen, Durchschiffungen, Erkletter- ungen, zu wissenschaftlichen Zwecken, wie es heisst. unternommen, in Wahrheit, um überschüssige Kraft aus Abenteuern und Gefahren aller Art mit nach Hause zu bringen. Man wird noch vielerlei solche Surrogate des Krieges ausfindig machen, aber vielleicht gerade durch sie immer mehr einsehen, dass eine solche hoch cultivirte und daher nothwendig matte Menschheit, wie die jetzige Europa's, nicht nur der Kriege, sondern der grössten und' furchtbarsten Kriege also zeitweiliger Rückfälle in die Barbarei bedarf, um nicht an den Mitteln der Cultur ihre Cultur und ihr Dasein selber einzubüssen.

. 478.

Fleiss im Süden und Norden. Der Fleiss ent- steht auf zwei ganz verschiedne Arten. Die Hand- werker im Süden werden fleissig, nicht aus Erwerbstrieb, sondern aus der beständigen Bedürftigkeit der Andern. Weil immer Einer kommt, der ein Pferd beschlagen, einen Wagen ausbessern lassen will, so ist der Schmied fleissig. Käme Niemand, so würde er auf dem Meirkte

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herumlungern. Sich zu ernähren, das hat in einem frucht- baren Lande wenig Noth, dazu brauchte er nur ein sehr geringes Maass von Arbeit, jedenfalls keinen Fleiss; schliesslich würde er betteln und zufrieden sein. Der Fleiss englischer Arbeiter hat dagegen den Erwerbssinn hinter sich: er ist sich seiner selbst und seiner Ziele be- wusst und will mit dem Besitz die Macht, mit der Macht die grösstmögliche Freiheit und individuelle Vor- nehmheit.

479-

Reichthum als Ursprung eines Geblütsadels. Der Reichthum erzeugt nothwendig eine Aristokratie der Rasse, denn er gestattet die schönsten Weiber zu wählen, die besten Lehrer zu besolden, er gönnt dem Menschen Reinlichkeit, Zeit zu körperlichen Übungen und vor Allem Abwendung von verdumpfender körper- licher Arbeit. Soweit verschafft er alle Bedingungen, um, in einigen Generationen, die Menschen vornehm und schön sich bewegen, ja selbst handeln zu machen: die grössere Freiheit des Gemüths, die Abwesenheit des Erbärmlich -Kleinen, der Erniedrigung vor Brodgebern, der Pfennig - Sparsamkeit. Gerade diese negative Eigenschaften sind das reichste Angebinde das Glücks für einen jungen Menschen ; ein ganz Armer richtet sich gewöhnlich durch Vornehmheit der Gesinnung zu Grunde, er kommt nicht vorwärts und erwirbt nichts, seine Rasse ist nicht lebensfähig. Dabei ist aber zu bedenken, dass der Reichthum fast die gleichen Wirkungen ausübt, wenn Einer dreihundert Thaler oder dreissigtausend jähr- lich verbrauchen darf: es giebt nachher keine wesentliche Progression der begünstigenden Umstände mehr. Aber weniger zu haben, als Knabe zu betteln und sich zu er-

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niedrigen, ist furchtbar: obwohl für Solche, welche inr Glück im Glänze der Höfe, in der Unterordnung unter Mächtige und Einflussreiche suchen oder welche Kirchen- häupter werden wollen, es der rechte Ausgangspunkt sein mag. ( Es lehrt, gebückt sich in die Höhlen- gänge der Gunst einzuschleichen.)

480. Neid und Trägheit in verschiedener Richtung. Die beiden gegnerischen Parteien, die socialistische und die nationale oder wie die Namen in den verschiedenen Ländern Europa's lauten mögen , sind einander würdig: Neid und Faulheit sind die bewegenden Mächte in ihnen beiden. In jenem Heerlager will man so wenig als mög- lich mit den Händen arbeiten, in diesem so wenig als möglich mit dem Kopf; in letzterem hasst und neidet man die hervorragenden, aus sich wachsenden Einzelnen, welche sich nicht gutwillig in Reih und Glied zum Zwecke einer Massenwirkung stellen lassen; in ersterem die bessere, äusserlich günstiger gestellte Kaste der Ge- sellschaft, deren eigentliche Aufgabe, die Erzeugung der höchsten Culturgüter, das Leben innerlich um so viel schwerer und schmerzensreicher macht. Gelingt es frei- lich, jenen Geist der Massenwirkung zum Geiste der höheren Classen der Gesellschaft zu machen, so sind die socialistischen Schaaren ganz im Rechte, wenn sie auch äusserlich zwischen sich und jenen zu nivelliren suchen, da sie ja innerlich, in Kopf und Herz, schon mit ein- ander nivellirt sind. Lebt als höhere Menschen und thut immerfort die Thaten der höheren Cultur, so gesteht euch Alles, was da lebt, euer Recht zu, und die Ordnung der Gesellschaft, deren Spitze ihr seid, ist gegen jeden bösen Blick und Griff gefeit!

359 --

48i.

Grosse Politik und ihre Einbussen, Ebenso wie ein Volk die grössten Einbussen, welche Krieg und I^egsbereitschaft mit sich bringt, nicht durch die Unkosten des Kriegs , die Stauungen in Handel und Wandel erleidet, ebenso nicht durch die Unterhaltung der stehenden Heere so gross diese Einbussen auch jetzt sein mögen, wo acht Staaten Europa's jährlich die Summe von zwei bis drei Milliarden darauf verwenden , sondern dadurch, dass Jahr aus Jahr ein die tüchtigsten kräftigsten arbeitsamsten Männer in ausserordentlicher Anzahl ihren eigentlichen Beschäftigungen und Berufen entzogen werden, um Soldaten zu sein: ebenso erleidet ein Volk, welches sich anschickt grosse Politik zu treiben und unter den mächtigsten Staaten sich eine entschei- dende Stimme zu sichern, seine grössten Einbussen nicht darin, worin man sie gewöhnlich findet Es ist wahr, dass es von diesem Zeitpunkte ab fortwährend eine Menge der hervorragendsten Talente auf dem „Altar des Vaterlandes" oder der nationalen Ehrsucht opfert, während früher diesen Talenten, welche jetzt die Politik ver- schling^, andere Wirkungskreise offen standen. Aber ab- seits von diesen öffentlichen Hekatomben, und im Grunde viel grauenhafter als diese, begiebt sich ein Schauspiel, welches fortwährend in hunderttausend Acten gleichzeitig sich abspielt: jeder tüchtige arbeitsame geistvolle stre- bende Mensch eines solchen nach politischen Ruhmes- kränzen lüsternen Volkes wird von dieser Lüsternheit beherrscht und gehört seiner eigenen Sache nicht mehr wie früher völlig an : die täglich neuen Fragen und Sorgen des öffentlichen Wohls verschUngen eine täg- liche Abgabe von dem Kopf- und Herz-Capitale jedes

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Bürgers: die Summe aller dieser Opfer und Einbussen an individueller Energie und Arbeit ist so ungeheuer, dass das politische Aufblühen eines Volks eine geistige Ver- armung und Ermattung, eine geringere Leistungsfähigkeit zu Werken, welche grosse Concentration und Einseitigkeit verlangen, fast mit Nothwendigkeit nach sich zieht^ Zu- letzt darf man fragen: lohnt sich denn alle diese Blüthe und Pracht des Ganzen (welche ja doch nur als Furcht der anderen Staaten vor dem neuen Coloss und als dem Auslande abgerungene Begünstigung der nationalen Handels- und Verkehrs -Wohlfahrt zu Tage tritt), wenn dieser groben und buntschillernden Blume der Nation alle die edleren zarteren geistigeren Pflanzen und Ge- wächse, an welchen ihr Boden bisher so reich war, zum Opfer gebracht werden müssen?

482.

Und nochmals gesagt. Öffentliche Meinungen private Faulheiten.

Neuntes Hauptstück:

Der Mensch mit sich allein.

a83.

Feinde der Wahrheit. Überzeugungen sind gefährhchere Feinde der Wahrheit als Lügen.

484.

Verkehrte Welt Man kritisirt einen Denker schärfer, wenn er einen uns unangenehmen Satz hinstellt; und doch wäre es vernünftiger, diess zu thun, wenn sein Satz uns angenehm ist.

485. Charaktervoll. Charaktervoll erscheint ein Mensch weit häufiger, weil er immer seinem Tempera- ment, als weil er immer seinen Principien tolgt.

486.

Das Eine, was noth thut. Eins muss man haben: entweder einen von Natur leichten Sinn oder einen durch Kunst und Wissen erleichterten Sinn.

487.

Die Leidenschaft für Sachen. Wer seine Leidenschaft auf Sachen .{Wissenschaften Staatswohl Culturinteressen Künste) richtet, entzieht seiner Leiden-

364

Schaft für Personen viel Feuer (selbst wenn sie Ver- treter jener Sachen sind, wie Staatsmänner, Philosophen, Künstler Vertreter ihrer Schöpfungen sind).

488.

Die Ruhe in der That. Wie ein Wasserfall im Sturz langsamer und schwebender wird, so pflegt der grosse Mensch der That mit mehr Ruhe zu han- deln, als seine stürmische Begierde vor der That es erwarten Hess.

489.

Nicht zu tief. Personen, welche eine Sache in aller Tiefe erfassen, bleiben ihr selten auf immer treu. Sie haben eben die Tiefe an's Licht gebracht: da giebt es immer viel Schümmes zu sehen.

490.

Wahn der Idealisten. Alle Idealisten bilden sich ein, die Sachen, welchen sie dienen, seien wesent- lich besser als die andern Sachen in der Welt, und wollen nicht glauben, dass wenn ihre Sache überhaupt gedeihen soll, sie genau desselben übel riechenden Düngers bedarf, welchen ' alle andern menschlichen Un- ternehmungen nöthig haben.

491.

Selbstbeobachtung. - Der Mensch ist gegen sich selbst, gegen Auskundschaftung und Belagerung durch sich selber sehr gut vertheidigt, er vermag ge- wöhnlich nicht mehr von sich als seine Aussenwerke

- 365 -

Avahrzunehmen. Die eigentliche Festung ist ihm unzu- gänglich, selbst unsichtbar, es sei denn, dass Freunde und Feinde die Verräther machen und ihn selber auf geheimem Wege hineinführen.

492.

Der richtige Beruf. Männer halten selten einen Beruf aus, von dem sie nicht glauben oder sich einreden, er sei im Grunde wichtiger als alle anderen. Ebenso geht es Frauen mit ihren Liebhabern.

493.

Adel der Gesinnung. Der Adel der Ge- sinnung besteht zu einem grossen Theil aus Gutmüthig- keit und Mangel an Misstrauen und enthält also gerade Das, worüber sich die gewinnsüchtigen und erfolgreichen Menschen so gerne mit Überlegenheit und Spott er- gehen.

494.

Ziel und Wege. Viele sind hartnäckig in Bezug auf den einmal eingeschlagnen Weg, Wenige in Bezug auf das Ziel.

495.

Das Empörende an einer individuellen Lebensart. Alle sehr individuellen Maassregeln des Lebens bringen die Menschen gegen Den, der sie er- greift, auf; sie fühlen sich durch die aussergewöhnliche Behandlung, welche Jener sich angedeihen lässt, er- niedrigt, als gewöhnliche Wesen.

366 ^

496.

Vorrecht der Grösse. Es ist das Vorrecht der Grösse, mit geringen Gaben hoch zu beglücken.

497-

Unwillkürlich vornehm. . Der Mensch beträgt sich unwillkürlich vornehm, wenn er sich gewöhnt hat, von den Menschen Nichts zu wollen und ihnen immer zu geben.

498.

Bedingung des Heroenthums. Wenn Einer zum Helden werden will, so muss die Schlange vorher zum Drachen geworden sein, sonst fehlt ihm sein rechter Feind.

499.

Freund. Mitfreude, nicht Mitleiden, macht den Freund.

500.

Ebbe und Fluth zu benutzen. Man muss zum Zwecke der Erkenntniss, jene innere Strömung zu benutzen wissen, welche uns zu einer Sache hinzieht, und wiederum jene, welche uns, nach einer Zeit, von der Sache fortzieht.

501.

Freude an sich. „Freude an der Sache" so sagt man: aber in Wahrheit ist es Freude an sich vermittelst einer Sache.

36?

502.

Der Bescheidene. Wer gegen Personen be- scheiden ist , zeigt gegen Sachen (Stadt Staat Gesell- schaft Zeit Menschheit) um so stärker seine Anmaassung. Das ist seine Rache.

503.

Neid und Eifersucht. Neid und Eifersucht sind die Schamtheile der menschlichen Seele. Die Vergleichung kann vielleicht fortgesetzt werden.

504-

Der vornehmste Heuchler. Gar nicht von sich zu reden, ist eine sehr vornehme Heuchelei.

505-

Verdruss. Der Verdruss ist eine körperliche Krankheit, welche keineswegs dadurch schon gehoben ist, dass die Veranlassung zum Verdrusse hinterdrein be- seitigt wird.

506.

Vertreter der Wahrheit. Nicht wenn es gefährlich ist die Wahrheit zu sagen , findet sie am seltensten Vertreter, sondern wenn es langweilig ist

507-

Beschwerlicher noch als Feinde. Die Personen, von deren sympathischem Verhalten wir nicht unter allen Umständen überzeugt sind , während uns

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irgend ein Grund (z. B. Dankbarkeit) verpflichtet, den Anschein der unbedingten Sympathie unserseits auf- recht zu erhalten, quälen unsere Phantasie viel mehr als unsere Feinde.

508.

Die freie Natur. Wir sind so gerne in der freien Natur, weil diese keine Meinung über uns hat

509-

Jeder in Einer Sache überlegen. In civilisirten Verhältnissen fühlt sich Jeder jedem Andern in Einer Sache wenigstens überlegen: darauf beruht das allge- meine Wohlwollen, insofern Jeder einer ist, der unter Umständen helfen kann und desshalb sich ohne Scham helfen lassen darf.

510.

Trostgründe. Bei einem Todesfall braucht man zumeist Trostgründe, nicht sowohl um die Gewalt des Schmerzes zu lindern, als um zu entschuldigen, dass man sich so leicht getröstet fühlt

511.

Die Überzeugungstreuen. Wer viel zu thun hat, behält seine allgemeinen Ansichten und Standpunkte fast unverändert bei. Ebenso Jeder, der im Dienst einer Idee arbeitet: er wird die Idee selber nie mehr prüfen, dazu hat er keine Zeit mehr; ja es geht gegen sein Interesse, sie überhaupt noch für discutirbar zu halten.

3^9 --

512. Moralität und Quantität Die höhere Moralität des einen Menschen im Vergleich zu der eines anderen liegt oft nur darin , dass die Ziele quantitativ grösser sind. Jenen zieht die Beschäftigung mit dem Kleinen, im engen Kreise, nieder.

513.

Das Leben als Ertrag des Lebens. Der Mensch mag sich noch so weit mit seiner Erkenntriiss ausrecken, sich selber noch so objectiv vorkommen: zuletzt trägt er doch nichts davon als seine eigne Bio- graphie.

514. Die eherne Nothwendigkeit. Die eherne Nothwendigkeit ist ein Ding, von dem die Menschen im Verlauf der Geschichte einsehen, dass es weder ehern noch nothwendig ist

515- Aus der Erfahrung. Die Unvernunft einer Sache ist kein Grund gegen ihr Dasein, vielmehr eine ßedingxmg desselben.

516.

Wahrheit Niemand stirbt jetzt an tödtlichen Wahrheiten: es giebt zu viele Gegengifte.

517.

Grundeinsicht Es gicbt keine prästabilirte Harmonie zwischen der Förderung der Wahrheit und dem Wohle der Menschheit

Nietzsche, Werke Band Tl. 24

370

5i8.

Menschenloos. Wer tiefer denkt, weiss, dass er immer Unrecht hat, er mag handeln und urtheilen, wie er will.

519.

Wahrheit als Circe. Der Irrthum hat aus Thieren Menschen gemacht; sollte die Wahrheit im Stande sein, aus dem Menschen wieder ein Thier zu machen ?

520.

Gefahr unsrer Cultur. Wir gehören einer Zeit an, deren Cultur in Gefahr ist, an den Mitteln der Cultur zu Grunde zu gehen.

521.

Grösse heisst: Richtung-geben. Kein Strom ist durch sich selber gross und reich: sondern dass er so viele Nebenflüsse aufnimmt und fortführt, das macht ilin dazu. So steht es auch mit allen Grössen des Geistes. Nur darauf kommt es an, dass Einer die Richtung an- giebt, welcher dann so viele Zuflüsse folgen müssen ; nicht darauf, ob er von Anbeginn arm oder reich begabt ist

522.

Schwaches Gewissen. ^Menschen, welche von ihrer Bedeutung für die Menschheit sprechen, haben in Bezug auf gemeine bürgerliche Rechtlichkeit, im Halten von Verträgen Versprechungen ein schwaches Gewissen.

371

523-

Geliebt sein wollen. Die Forderung, geliebt zu werden, ist die grösste der Anmaassungen,

524-

Menschen Verachtung. Das unzweideutigste Anzeichen von einer Geringschätzung der Menschen ist diess, dass man Jedermann nur als Mittel zu seinem Zwecke oder gar nicht gelten lässt.

525.

Anhänger aus Widerspruch. Wer die Men- schen zur Raserei gegen sich gebracht hat, hat sich immer auch eine Partei zu seinen Gunsten erworben.

526.

Erlebnisse vergessen. Wer viel denkt, und zwar sachhch denkt, vergisst leicht seine eigenen Erleb- nisse, aber nicht so die Gedanken, welche durch jene hervorgerufen wurden.

527.

Festhalten einer Meinung. Der Eine hält eine Meinung fest, weil er sich etwas darauf einbildet, von selbst auf sie gekommen zu sein , der Andre , weil er sie mit Mühe gelernt hat und stolz darauf ist, sie be- griffen zu haben: Beide also aus Eitelkeit

24*

-' 372

528.

Das Licht scheuen. Die gute That scheut ebenso ängstUch das Licht als die böse That: diese fürchtet, durch das Bekanntwerden komme der Schmerz (als Strafe), jene fürchtet, durch das Bekanntwerden schwinde die Lust (jene reine Lust an sich selbst näm- lich , welche sofort aufhört , sobald eine Befriedigung der Eitelkeit hinzutritt).

529.

Die Länge des Tages. Wenn man viel hinein- zustecken hat, so hat ein Tag hundert Taschen.

530.

Tyrannengenie. Wenn in der Seele eine un- bezwingliche Lust dazu rege ist, sich tyrannisch durch- zusetzen, und das Feuer beständig unterhält, so wird selbst eine geringe Begabung (bei Politikern Künstlern) allmählich zu einer fast unwiderstehlichen Naturgewalt.

531.

Das Leben des Feindes. Wer davon lebt, einen Feind zu bekämpfen, hat ein Interesse daran, dass er am Leben bleibt.

532-

Wichtiger. Man nimmt die unerklärte dunkle Sache wichtiger als die erklärte helle.

373

533-

Abschätzung erwiesener Dienste. Dienst- leistungen, die uns Jemand erweist, schätzen wir nach dem Werthe, den Jener darauf legt, nicht nach dem, welchen sie für uns haben.

534. Unglück. Die Auszeichnung, welche im Unglück liegt (als ob es ein Zeichen von Flachheit Anspruchs- losigkeit Gewöhnlichkeit sei, sich glückhch zu fühlen), ist so gross, dass wenn Jemand Einem sagt: „aber wie glücklich Sie sindl" man gewöhnlich protestirt.

535- Phantasie der Angst. Die Phantasie der Angst ist jener böse äffische Kobold, der dem Menschen gerade dann noch auf den Rücken springt, wenn er schon am schwersten zu tragen hat.

536-

Werth abgeschmackter Gegner. Man bleibt mitunter einer Sache nur desshalb treu, weil ihre Gegner nicht aufhören abgeschmackt zu sein.

527-

Werth eines Berufs. Ein Beruf macht ge- dankenlos; darin liegt sein grösster Segen. Denn er ist eine Schutzwehr, hinter welche man sich, wenn Bedenken und Sorgen allgemeiner Art Einen anfallen, erlaubter- maassen zurückziehen kann.

374

538. Talent. Das Talent manches Menschen erscheint geringer, als es ist, weil er sich immer zu grosse Auf- gaben gestellt hat.

539- Jugend. Die Jugend ist unangenehm; denn in ihr ist es nicht möglich oder nicht vernünftig, productiv zu sein, in irgend einem Sinne.

540.

Zu grosse Ziele. Wer sich öffentlich grosse Ziele stellt und hinterdrein im Geheimen einsieht, dass er dazu zu schwach ist, hat gewöhnlich auch nicht Kraft genug, jene Ziele öffentlich zu widerrufen, und wird dann unvermeidlich zum Heuchler.

541. Im Strome. Starke Wasser reissen viel Gestein und Gestrüpp mit sich fort, starke Geister viel dumme und verworrene Köpfe.

542. Gefahren der geistigen Befreiung. Bei der ernstlich gemeinten geistigen Befreiung eines Menschen hoifen im Stillen auch seine Leidenschaften und Be- gierden, sich ihren Vortheil zu ersehen.

543- Verkörperung des Geistes. Wenn Einer viel und klug denkt, so bekommt nicht nur sein Gesicht, sondern auch sein Körper ein kluges Aussehen.

375

544- Schlecht sehen und schlecht hören. Wer wenig sieht, sieht immer weniger; wer schlecht hört, hört immer Einiges noch dazu.

545.

Selbstgenuss in der Eitelkeit. Der Eitle will nicht sowohl hervorragen, als sich hervorragend fühlen, desshalb verschmäht er kein Mittel des Selbstbetrugs und der Selbstüberlistung. Nicht die Meinung der An- deren, sondern seine Meinung von Deren Meinung liegt ihm am Herzen.

546.

Ausnahmsweise eitel. Der für gewöhnlich Selbstgenugsame ist ausnahmsweise eitel und für Ruhm und Lobsprüche empfänglich, wenn er körperlich krank ist. In dem Maasse, in welchem er sich verliert, muss er sich aus fremder Meinung, von Aussen her, wieder zu gewinnen suchen.

547.

Die „Geistreichen". Der hat keinen Geist, welcher den Geist sucht

543.

Wink für Parteihäupter. Wenn man die Leute dazu treiben kann, sich öffentlich für etwas zu erklären, so hat man sie meistens auch dazu gebracht, sich innerlich dafür zu erklären; sie wollen fürderhin als consequent erfunden werden.

376

549-

Verachtung. Die Verachtung- durch Andere ist dem Menschen empfindlicher als die durch sich sellDst.

550.

Schnur der Dankbarkeit. Es giebt sclavische Seelen, welche die Erkenntlichkeit für erwiesene Wohl- thaten so weit treiben, dass sie sich mit der Schnur der Dankbarkeit selbst erdrosseln.

551-

Kunstgriff des Propheten. Um die Hand- lungsweise gewöhnlicher Menschen im Voraus zu er- rathen, muss man annehmen, dass sie immer den min- desten Aufwand an Geist machen, um sich aus einer unangenehmen Lage zu befreien.

552.

Das einzige Menschenrecht. Wer vom Her- kömmlichen abweicht, ist das Opfer des Aussergewöhn- lichen; wer im Herkömmlichen bleibt, ist der Sclave desselben. Zu Grunde gerichtet wird man auf jeden Fall

553.

Unter das Thier hinab. Wenn der Mensch vor Lachen wiehert, übertrifft er alle ihiere durch seme Gemeinheit.

577

554.

Halbwissen. Der, welcher eine fremde Sprache wenig spricht, hat mehr Freude daran als Der, welcher sie gnt spricht Das Vergnügen ist bei den Halb- wissenden.

555-

Gefährliche Hülfbereitschaft. Es giebt Leute, welche das Leben den Menschen erschweren wollen, aus keinem andern Grunde, als um ihnen hinterdrein ihre Recepte zur Erleichterung des Lebens, zum Beispiel ihr Christenthum, anzubieten.

556.

Fleiss und Gewissenhaftigkeit, Fleiss und Gewissenhaftigkeit sind oftmals dadurch Antagonisten, dass der Fleiss die Früchte sauer vom Baume nehmen will, die Gewissenhaftigkeit sie aber zu lange hängen lässt, bis sie herabfallen und sich zerschlagen.

557.

Verdächtigen. Menschen, welche man nicht leiden kann, sucht man sich zu verdächtigen.

558.

Die Umstände fehlen. Viele Menschen warten ihr Leben lang auf die Gelegenheit, auf ihre Art gut zu sein.

37Ö

559-

Mangel an Freunden. Der Mangel an Freunden lässt auf Neid oder Anmaassung schliessen. Mancher verdankt seine Freunde nur dem glücklichen Umstände, dass er keinen Anlass zum Neide hat.

560.

Gefahr in der Vielheit. Mit einem Talente mehr steht man oft unsicherer, als mit einem weniger: wie der Tisch besser auf drei als auf vier Füssen steht.

561.

Den Andern zum Vorbild. Wer ein gutes Beispiel geben will, muss seiner Tugend ein Gran Narr- heit zusetzen: dann ahmt man nach und erhebt sich zu- gleich über den Nachgeahmten, was die Menschen lieben,

562.

Zielscheibe sein. Die bösen Reden Anderer über uns gelten oft nicht eigentlich uns, sondern sind die Äusserungen eines Argers, einer Verstimmung aus ganz anderen Gründen.

563.

Leicht resignirt. Man leidet wenig an ver- sagten Wünschen, wenn man seine Phantasie geübt hat, die Vergangenheit zu verhässlichen.

379

564- In Gefahr. IMan ist am meisten in Gefalir, über- fahren zu werden, wenn man eben einem Wagen aus- gewichen ist.

565.

Je nach der Stimme die Rolle. Wer ge- zwungen ist lauter zu reden, als er gewohnt ist (etwa vor einem Halb -Tauben oder vor einem grossen Audi- torium), übertreibt gewöhnlich die Dinge, welche er mitzutheilen hat. Mancher wird zum Verschwörer, böswilligen Nachredner, Intriganten, bloss weil seine Stimme sich am besten zu einem Geflüster eignet.

566.

Liebe und Hass. Liebe und Hass sind nicht blind, aber geblendet vom Feuer, das sie selber mit sich tragen.

567. Mit Vortheil angefeindet Menschen, welche der Welt ihre Verdienste nicht völlig deutlich machen können, suchen sich eine starke Feindschaft zu erwecken. Sie haben dann den Trost, zu denken, dass diese zwischen ihren Verdiensten und deren Anerkennung stehe und dass mancher Andere dasselbe vermuthe: was sehr vor- theilhaft für ihre Geltung ist

568.

Beichte. Man vergisst seine Schuld, wenn man sie einem Andern gebeichtet hat, aber gewöhnlich ver- gisst der Andere sie nicht

38o

569.

Selbstgenüg-samkeit. Das goldene Vliess der Selbstgenügsamkeit schützt gegen Prügel, aber nicht gegen Nadelstiche.

570.

Schatten in der Flamme. Die Flamme ist sich selber nicht so hell als den Andern, denen sie leuchtet: so auch der Weise.

571.

Eigene Meinungen. Die erste Meinung, welche vms einfällt, wenn wir plötzlich über eine Sache befragt werden, ist gewöhnlich nicht unsere eigene, sondern nur die landläufige, unsrer Kaste, Stellung, Abkunft zuge- hörige; die eignen Meinungen schwimmen selten obenauf.

572.

Herkunft des Muthes. Der gewöhnliche Mensch ist muthig und unverwundbar wie ein Held, wenn er die Gefahr nicht sieht, für sie keine Augen hat. Um- gekehrt: der Held hat die einzig verwundbare Stelle auf dem Rücken, also dort, wo er keine Augen hat.

573-

Gefahr im Arzte. Man muss für seinen Arzt geboren sein, sonst geht man an seinem Arzt zu Grunde.

- 38i

574- Wunderliche Eitelkeit. Wer dreimal mit Dreistigkeit das Wetter prophezeit hat und Erfolg hatte, der glaubt im Grunde seiner Seele ein wenig an seine Prophetengabe. Wir lassen das Wunderliche Irrationelle gelten, wenn es unserer Selbstschätzung schmeichelt.

575. Beruf. Ein Beruf ist das Rückgrat des Lebens.

576. Gefahr persönlichen Einflusses. Wer fühlt, dass er auf einen Andern einen grossen innerlichen Einfluss ausübt, muss ihm ganz freie Zügel lassen, ja gelegentliches Widerstreben gern sehen und selbst her- beiführen: sonst wird er unvermeidlich sich einen Feind machen.

577. Den Erben gelten lassen. Wer etwas Grosses in selbstloser Gesinnung begründet hat, sorgt dafür, sich Erben zu erziehen. Es ist das Zeichen einer tyrannischen und unedlen Natur, in allen möglichen Erben seines Werks seine Gegner zu sehen und gegen sie im Stande der Nothwehr zu leben.

578. Halbwissen. Das Halbwissen ist siegreicher al? das Ganzwis3en: es kennt die Dinge einfacher, als sie sind, und macht daher seine Meinung fasslichcr und überzeugender.

302

579- Nicht geeignet zum Parteimann. Wer viel denkt, eignet sich nicht zum Parteimann: er denkt sich zu bald durch die Partei hindurch.

580. Schlechtes Gedächtniss. Der Vortheil des schlechten Gedächtnisses ist, dass man dieselben guten Dinge mehrere Male zum ersten Mal geniesst

581. Sich Schmerzen machen. Rücksichtslosigkeit des Denkens ist oft das Zeichen einer unfriedHchen inneren Gesinnung, welche Betäubung begehrt.

582.

Märtyrer. Der Jünger eines Märtyrers leidet mehr als der Märtyrer.

5S3. Rückständige Eitelkeit. Die Eitelkeit mancher Menschen, die es nicht nöthig hätten eitel zu sein, ist die übrig gebliebene und gross gewachsene Gewohnheit aus der Zeit her, wo sie noch kein Recht hatten, an sich zu glauben, und diesen Glauben erst von Anderen in kleiner Münze einbettelten.

584- Punctum salicns der Leidenschaft. Wer im Begriff ist, in Zorn oder in einen heftigen LiebesafFect

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zu gerathen, erreicht einen Punkt, wo die Seele voll ist wie ein Gefäss: aber doch muss ein Wassertropfen noch hinzukommen, der gnte Wille zur Leidenschaft (den man gewöhnlich auch den bösen nennt). Es ist nur diess Pünktchen nötliig, dann läuft das Gefäss über.

585.

Gedanke desUnmuths. Es ist mit den Menschen wie mit den Kohlenmeilern im Walde. Erst wenn die jungen Menschen ausgeglüht haben und verkohlt sind gleich jeneu, dann werden sie nützlich. So lange sie dampfen und rauchen, sind sie vielleicht interessanter, aber unnütz und gar zu häufig unbequem. Die Menschheit verwendet schonungslos jeden Einzelnen als Material zum Heizen ihrer grossen Maschinen: aber wozu dann die Maschinen, wenn alle Einzelnen (das heisst die Mensch- heit) nur dazu nützen, sie zu unterhalten? Maschinen, die sich selbst Zweck sind ist das die umana commediaf

586.

Vom Stundenzeiger des Lebens. Das Leben besteht aus seltenen einzelnen Momenten von höchster Bedeutsamkeit und unzählig vielen Intervallen, in denen uns besten Falls die Schattenbilder jener Momente um- schweben. Die Liebe, der Frühling, jede schöne Me- lodie, das Gebirge, der Mond, das Meer Alles redet nur einmal ganz zum Herzen: wenn es überhaupt je ganz zu Worte kommt. Denn viele Menschen haben jene Momente gar nicht und sind selber Intervalle und Pausen in der Symphonie des wirklichen Lebens.

384

587.

Angreifen oder eingreifen. Wir machen häufig den Fehler, eine Richtung oder Partei oder Zeit lebhaft anzufeinden, weil wir zufällig nur ihre veräusser- lichte Seite, ihre Verkümmerung oder die ihnen noth- wendig anhaftenden „Fehler ihrer Tugenden" zu sehen bekommen, vielleicht weil wir selbst an diesen vor- nehmlich theilgenommen haben. Dann wenden wir ihnen den Rücken und suchen eine entgegengesetzte Richtung; aber das Bessere wäre, die starken guten Seiten aufzu- suchen oder an sich selber auszubilden. Freilich gehört ein kräftigerer Blick und besserer Wille dazu, das Wer- dende und Unvollkommene zu fördern, als es in seiner Unvollkommenheit zu durchschauen und zu verleugnen.

588.

Bescheidenheit. Es giebt wahre Bescheiden- heit (das heisst die Erkenntniss, dass wir nicht unser eigenes Werk sind); und recht wohl geziemt sie dem grossen Geiste, weil gerade er den Gedanken der völligen UnVerantwortlichkeit (auch für das Gute, was er schafft) fassen kann. Die Unbescheidenheit des Grossen hasst man nicht, insofern er seine Kraft fülilt, sondern weil er seine Kraft dadurch erst erfahren will, dass er die An- deren verletzt, herrisch behandelt und zusieht, wie weit sie es aushalten. Gewöhnlich beweist diess sogar den Mangel an sicherem Gefühl der Kraft und macht somit die Menschen an seiner Grösse zweifeln. Insofern ist Unbescheidenheit vom Gesichtspunkte der Ivlugheit aus sehr zu widerrathen.

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589. Des Tages erster Gedanke. Das beste Mittel, jeden Tag gut zu beginnen, ist: beim Erwachen daran zu denken, ob man nicht wenigstens Einem Menschen an diesem Tag eine Freude machen könne. Wenn diess als ein Ersatz für die religiöse Gewöhnung des Gebetes gelten dürfte, so hätten die Mitmenschen einen Vortheil bei dieser Änderung.

590. Anmaassung als letztes Trostmittel. Wenn man ein Missgeschick, seinen intellectueUen Mangel, sein« Kj-ankheit sich so' zurecht legt, dass man hierin sein vorgezeichnetes Schicksal, seine Prüfung oder die ge- heimnissvolle Strafe für früher Begangenes sieht, so macht man sich sein eignes Wesen dadurch interessant und erhebt sich in der Vorstellung über seine Mitmen- schen. Der stolze Sünder ist eine bekannte Figur in allen kirchlichen Secten.

591. Vegetation des Glücks. Dicht neben dem Wehe der Welt, und oft auf seinem vulcanischen Boden, hat der Mensch seine kleinen Gärten des Glücks ange- legt. Ob man das Leben mit dem Blicke dessen be- trachtet, der vom Dasein Erkenntniss allein will, oder Dessen, der sich ergiebt und resignirt, oder Dessen, der an der überwundenen Schwierigkeit sich freut, überall wird er etwas Glück neben dem Unheil aufgesprosst finden und zwar um so mehr Glück, je vulcanischer der Boden war; nur wäre es lächerlich, zu sagen, dass mit diesem Glück das Leiden selbst gerechtfertigt sei.

Nietzsche, Werke Band II. je

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592.

Die Strasse der Vorfahren. Es ist vernünftig, wenn Jemand das Talent, auf welches sein Vater oder Grossvater Mühe verwendet hat, an sich selbst weiter ausbildet und nicht zu etwas ganz Neuem umschlägt; er nimmt sich sonst die Möglichkeit, zur Vollkommenheit in irgend einem Handwerk zu gelangen. Desshalb sagt das Sprüchwort: „Welche Strasse sollst du reiten? die deiner Vorfahren."

593-

Eitelkeit und Ehrgeiz als .Erzieher. So lange Einer noch nicht zum Werkzeug des allgemeinen menschlichen Nutzens geworden ist, mag ihn der Ehr- geiz peinigen; ist jenes Ziel aber erreicht, arbeitet er mit Nothwendigkeit wie eine Maschine zum Besten Aller, so mag dann die Eitelkeit kommen; sie wird ihn im Klei- nen vermenschlichen, geselliger erträglicher nachsichtiger machen, dann wenn der Ehrgeiz die grobe Arbeit (ihn nützlich zu machen) an ihm vollendet hat

594.

Philosophische Neulinge. Hat man die Weis- heit eines Philosophen eben eingenommen, so geht man durch die Strassen mit dem Gefühle, als sei man umge- schaffen und ein grosser Mann geworden; denn man findet lauter Solche, welche diese Weisheit nicht kennen, hat also über Alles eine neue unbekannte Entscheidung vorzutragen: weil man ein Gesetzbuch anerkennt, meint man jetzt auch sich als Richter gebärden zu müssen.

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595-

Durch Missfallen gefallen. Die Menschen, welche lieber auffallen und dabei missfallen wollen, be- gehren dasselbe wie Die, welche nicht auffallen und gefallen wollen, nur in einem viel höheren Grade und indirect, vermitteist einer Stufe, durch welche sie sich scheinbar von ihrem Ziele entfernen. Sie wollen Einfluss und Macht, und zeigen desshalb ihre Überlegenheit, selbst so, dass sie unangenehm empfunden wird; denn sie wissen, dass Der, welcher endlich zur Macht gelangt ist, fast in Allem was er thut und sagt, gefällt und dass selbst, wo er missfällt, er doch noch zu gefallen scheint. Auch der Freigeist, und ebenso der Gläubige, wollen Macht, um durch sie einmal zu gefallen; wenn ihnen ihrer Lehre wegen ein übles Schicksal, Verfolgung Kerker Hinrichtung droht, so freuen sie sich des Ge- dankens, dass ihre Lehre auf diese Weise der Menschheit eingeritzt und eingebrannt wird; sie nehmen es hin als ein schmerzhaftes aber kräftiges, wenngleich spät wir- kendes Mittel, um doch noch zur Macht zu gelangen.

596.

Casus bellt und Ahnliches. Der Fürst, wel- cher zu dem gefassten Entschlüsse, Krieg mit dem Nach- bar zu führen, einen casus belli ausfindig macht, gleicht dem Vater, der seinem Kinde eine Mutter unterschiebt, welche fürderhin als solche gelten soll. Und sind nicht fast alle öffentlich bekannt gemachten Motive unserer Handlungen solche untergeschobene Mütter?

25*

~ 388 597.

Leidenschaft und Recht. Niemand spricht leidenschaftHcher von seinem Rechte als Der, welcher im Grunde seiner Seele einen Zweifel an seinem Rechte hat. Indem er die Leidenschaft auf seine Seite zieht, will er den Verstand und dessen Zweifel betäuben: so gewinnt er das gute Gewissen und mit ihm den Erfolg bei den Mitmenschen.

598.

Kunstgriff des Entsagenden. Wer gegen die Ehe protestirt, nach Art der kathohschen Priester, wird diese nach ihrer niedrigsten gemeinsten Auffassung zu verstehen suchen. Ebenso wer die Ehre bei den Zeitgenossen von sich abweist, wird deren Begriff niedrig fassen; so erleichtert er sich die Entbehrung und den Kampf dagegen. Übrigens wird Der, welcher sich im Ganzen viel versagt, sich im Kleinen leicht Indulgenz geben. Es wäre möglich, dass Der, welcher über den Beifall der Zeitgenossen erhaben ist, doch die Befriedi- gung kleiner Eitelkeiten sich nicht versagen will.

599-

Lebensalter der Anmaassung. Zwischen dem sechsundzwanzigsten und dem dreissigsten Jahre liegt bei begabten Menschen die eigentliche Periode der Anmaass- ung; es ist die Zeit der ersten Reife, mit einem starken Rest von Säuerlichkeit. Man fordert auf Grund dessen, was man in sich fühlt, von Menschen, welche nichts oder wenig davon sehen, Ehre und Demüthigung, und rächt sich, weil diese zunächst ausbleiben, durch jenen

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Blick, jene Gebärde der Anmaassung, jenen Ton der Stimme, die ein feines Ohr und Auge an allen Produc- tionen jenes Alters, seien es Gedichte, Philosophien oder Bilder und Musik, wiedererkennt. Altere erfahrene Männer lächeln dazu und mit Rührung gedenken sie dieses schönen Lebensalters, in dem man böse über das Geschick ist, so viel zu sein und so wenig zu scheinen. Später scheint man wirklich mehr aber man hat vielleicht den guten Glauben verloren, viel zu sein: man bleibe denn zeitlebens ein unverbesserlicher Narr der Eitelkeit.

600.

Trügerisch und doch haltbar. Wie man, um an einem Abgrund vorbeizugehen oder einen tiefen Bach auf einem Balken zu überschreiten, eines Geländers bedarf, nicht um sich daran festzuhalten denn es würde sofort mit Einem zusammenbrechen sondern um die Vorstellung der Sicherheit für das Auge zu erwecken: so bedarf man als Jüngling solcher Personen, welche uns unbewusst den Dienst jenes Geländers erweisen. Es ist wahr, sie würden uns nicht helfen, wenn wir uns wirklich in grosser Gefahr auf sie stützen wollten, aber sie geben die beruhigende Empfindung des Schutzes in der Nähe (zum Beispiel Väter Lehrer Freunde, wie sie, aUe drei, gewöhnlich sind).

601.

Lieben lernen. Man muss lieben lernen, gtltig sein lernen, und diess von Jugend auf; wenn Erziehung und Zufall uns keine Gelegenheit zur Übung dieser Empfindungen geben, so wird unsere Seele trocken und

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selbst zum Verständniss jener zarten Erfindungen liebe- voller Menschen ungeeignet. Ebenso muss der Hass gelernt und genährt werden, wenn Einer ein tüchtiger Hasser werden will: sonst wird auch der Keim dazu allmählich absterben.

Ö02.

Die Ruine als Schmuck. Solche, die viele geistige Wandlungen durchmachen, behalten einige An- sichten und Gewohnheiten früherer Zustände bei, welche dann wie ein Stück unerklärlichen Alterthums und grauen Mauerwerks in ihr neues Denken und Handeln hineinragen: oft zur Zierde der ganzen Gegend.

003.

Liebe und Ehre. Die Liebe begehrt, die Furcht meidet Daran liegt es, dass man nicht zugleich von derselben Person, wenigstens in demselben Zeiträume, geliebt und geehrt werden kann. Denn der Ehrende erkennt die Macht an, das heisst er fürchtet sie: sein Zustand ist Ehr-furcht. Die Liebe aber erkennt keine Macht an. Nichts was trennt, abhebt, über- und unter- ordnet. Weil sie. nicht ehrt, so sind ehrsüchtige Menschen insgeheim oder öffentlich gegen das Geliebtwerden wider- spänstig.

604.

Vorurtheil für die kalten Menschen. Menschen, welche rasch Feuer fangen, werden schnell kalt und sind daher im Ganzen unzuverlässig. Desshalb giebt es für alle Die, welche immer kalt sind oder so sich stellen, das günstige Vorurtheil, dass es besonders

391

vertrauenswerthe zuverlässige Menschen seien: man ver- wechselt sie mit Denen, welche langsam Feuer fangen und es lange festhalten.

605.

Das Gefährliche an freien Meinungen. Das leichte Befassen mit freien Meinungen giebt einen Reiz, wie eine Art Jucken; giebt man ihm mehr nach, so fängt man an, die Stellen zu reiben; bis zuletzt eine ofEhe schmerzende Wunde entsteht, das heisst: bis die freie Meinung uns in unserer Lebensstellung, unsern menschhchen Beziehungen zu stören, zu quälen beginnt.

606.

Begierde nach tiefem Schmerz. Die Leiden- schaft lässt, wenn sie vorüber ist, eine dunkle Sehnsucht nach sich selber zurück und wirft, im Verschwinden noch, uns einen verführerischen Blick zu. Es muss doch eine Art von Lust gewährt haben, mit ihrer Geissei geschlagen worden zu sein. Die massigeren Empfindungen er- scheinen dagegen schaal; man will, wie es scheint, die heftigere Unlust immer noch lieber als die matte Lust

607.

Unmuth über Andere und die Welt. Wenn wir, wie so häufig, unseren Unmuth an Andern aus- lassen, während wir ihn eigentlich über uns empfinden, er- streben wir im Grunde eine Umnebelung und Täuschung unseres Urtheils: wir wollen diesen Unmuth a posteriori motiviren, durch die Versehen, Mängel der Anderen, und

392

uns selber so aus den Augen verlieren. Die religiös strengen Menschen, welche gegen sich selber unerbitt- liche Richter sind, haben zugleich am meisten Übles der Menschheit überhaupt nachgesagt: ein Heiliger, welcher sich die Sünden und den Anderen die Tugenden vor- behält, hat nie gelebt: ebensowenig wie Jener, welcher nach Buddha's Vorschrift sein Gutes vor den Leuten ver- birgt und ihnen sein Böses allein sehen lässt

608.

Ursache und Wirkung verwechselt. Wir suchen unbewusst die Grundsätze und Lehrmeinungen, welche unserem Temperamente angemessen sind, so dass es zuletzt so aussieht, als ob die Grundsätze und Lehr- meinungen unsern Charakter geschaffen, ihm Halt und Sicherheit gegeben hätten: während es gerade umgekehrt zugegangen ist. Unser Denken und Urtheilen soll nach- träglich, so scheint es, zur Ursache unseres Wesens ge- macht werden: aber thatsächlich ist unser Wesen die Ursache, dass wir so und so denken und urtheilen. Und was bestimmt uns zu dieser fast unbewussten Ko- mödie? Die Trägheit und Bequemlichkeit und nicht am wenigsten der Wunsch der Eitelkeit, durch und durch als consistent, in Wesen und Denken einartig erfunden zu werden: denn diess erwirbt Achtung, giebt Vertrauen und Macht.

609.

Lebensalter und Wahrheit. Junge Leute lieben das Interessante und Absonderliche, gleichgültig wie wahr oder falsch es ist. Reifere Geister lieben Das an der Wahrheit, was an ihr interessant und absonder-

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lieh ist Ausgereifte Köpfe endlich lieben die Wahrheit auch in Dem, wo sie schlicht und einfältig erscheint und dem gewöhnlichen Menschen Langeweile macht, weil sie gemerkt haben, dass die Wahrheit das Höchste an Geist, was sie besitzt, mit der Miene der Einfalt zu sagen pflegt

6io.

Die Menschen als schlechte Dichter. So wie schlechte Dichter im zweiten Theil des Verses zum Reime den Gedanken suchen, so pflegen die Menschen in der zweiten Hälfte des Lebens, ängstlicher geworden, die Handlungen, Stellungen, Verhältnisse zu suchen, welche zu denen ihres früheren Lebens passen, so dass äusserlich Alles wohl zusammenklingt: aber ihr Leben ist nicht mehr von einem starken Gedanken beherrscht und immer wieder neu bestimmt, sondern an die Stelle desselben tritt die Absicht, einen Reim zu finden.

6ii.

Langeweile und Spiel. Das Bedürfniss zwingt uns zur Arbeit, mit deren Ertrage das Bedürfniss ge- stillt wird; das immer neue Erwachen der Bedürfnisse gewöhnt uns an die Arbeit. In den Pausen aber, in welchen die Bedürfnisse gestillt sind und gleichsam schlafen, überfällt uns die Langeweile. Was ist diese? Es ist die Gewöhnung an Arbeit überhaupt, welche sich jetzt als neues, hinzukommendes Bedürfniss geltend macht; sie wird um so stärker sein, je stärker Jemand gewöhnt ist zu arbeiten, vielleicht sogar, je stärker Jemand an Bedürfnissen gelitten hat. Um der Langenweile zu entgehen, arbeitet der Mensch entweder über das Maass

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seiner sonstigen Bedürfnisse hinaus oder er erfindet das Spiel, das heisst die Arbeit, welche kein anderes Be- dürfniss stillen soll als das nach Arbeit überhaupt. Wer des Spieles überdrüssig geworden ist und durch neue Bedürfnisse keinen Grund zur Arbeit hat, den überfällt mitunter das Verlangen nach einem dritten Zustand, welcher sich zum Spiel verhält wie Schweben zum Tanzen, wie Tanzen zum Gehen nach einer seligen ruhigen Be- wegtheit: es ist die Vision der Künstler und Philosophen von dem Glück.

612.

Lehre aus Bildern. Betrachtet man eine Reihe Bilder von sich selber, von den Zeiten der letzten Kind- heit bis zu der der Mannesreife, so findet man mit einer angenehmen Verwunderung, dass der Mann dem Kinde ähnlicher sieht als der Mann dem Jünglinge: dass also wahrscheinlich, diesem Vorgange entsprechend, inzwischen eine zeitweilige Alienation vom Grundcharakter einge- treten ist, über welche die gesammelte geballte Kraft des Mannes wieder Herr wurde. Dieser Wahrnehmung entspricht die andre, dass alle die starken Einwirkungen von Leidenschaften Lehrern politischen Ereignissen, welche in dem Jünglingsalter uns herumziehen, später wieder auf ein festes Maass zurückgeführt erscheinen: gewiss, sie leben und wirken in uns fort, aber das Grundempfinden und Grundmeinen hat doch die Über- macht und benutzt sie wohl als Kraftquellen, nicht aber mehr als Regulatoren, wie diess wohl in den zwanziger Jahren geschieht. So erscheint auch das Denken und Empfinden des Mannes dem seines kindlichen Lebens- alters wieder gemässer und diese innere Thatsache spricht sich in der erwähnten äusseren aus.

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6i3. Stimmklang der Lebensalter. Der Ton, in dem Jünglinge reden loben tadeln dichten, missfällt dem Ältergewordenen, v/eil er zu laut ist, und zwar zugleich dumpf und undeutlich wie der Ton in einem Gewölbe, der durch die Leerheit eine solche Schallkraft bekommt; denn das Meiste, was Jünglinge denken, ist nicht aus der Fülle ihrer eigene; i Natur herausgeströmt, sondern ist Anklang, Nachklang von dem, was in ihrer Nähe gedacht geredet gelobt getadelt worden ist. Weil aber die Empfindungen (der Neigung und Abneigung) viel stärker als die Gründe für jene in ihnen nachklingen, so entsteht, wenn sie ihre Empfindung wieder laut werden lassen , jener dumpfe hallende Ton , welcher für die Abwesenheit oder die Spärlichkeit von Gründen das Kennzeichen abgiebt. Der Ton des reiferen Alters ist streng, kurz abgebrochen, massig laut, aber, wie alles deutlich Articulirte, sehr weit tragend. Das Alter endlich bringt häufig eine gewisse Müde und Nachsicht in den Klang und verzuckert ihn gleichsam: in manchen Fällen freilich versäuert sie ihn auch.

614. Zurückgebliebene und vorwegnehmende Menschen. Der unangenehme Charakter, welcher voller Misstrauen ist, alles glückliche Gelingen der Mitbewerbenden und Nächsten mit Neid fühlt, gegen ab- weichende Meinungen gewaltthätig und aufbrausend ist, zeigt, dass er einer frühem Stufe der Cultur zugehört, also ein Überbleibsel ist: denn die Art, in welcher er mit den Menschen verkehrt, war die rechte und zutreffende für die Zustände eines Faustrecht -Zeitalters; es ist ein

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zurückgebliebener Mensch. Ein anderer Charakter, welcher reich an Mitfreude ist, überall Freunde gewinnt, alles Wachsende und Werdende liebevoll empfindet, alle Ehren und Erfolge Anderer mitgeniesst und kein Vor- recht, das Wahre allein zu erkennen, in Anspruch nimmt, sondern voll eines bescheidenen Misstrauens ist, das ist ein vorwegnehmender Mensch, welcher einer höheren Cultur der Menschen entgegenstrebt. Der unangenehme Charakter stammt aus den Zeiten, wo die rohen Funda- mente des menschlichen Verkehrs erst zu bauen waren, der andere lebt auf deren höchsten Stockwerken, mög- lichst entfernt von dem wilden Thier, welches in den Kellern, unter den Fundamenten der Cultur einge- schlossen, wüthet und heult.

615.

Trost für Hypochonder. Wenn ein grosser Denker zeitweilig hypochondrischen Selbstquälereien unterworfen ist, so mag er sich zum Tröste sagen: „es ist deine eigene grosse Kraft , von der dieser Parasit sich nährt und wächst; wäre sie geringer, so würdest du weniger zu leiden haben." Ebenso mag der Staats- mann sprechen, wenn Eifersucht und Rachegefühl, über- haupt die Stimmung des bellum omniuvi contra omnes, zu der er als Vertreter einer Nation nothwendig eine starke Begabung haben muss, sich gclegentUch auch in seine persönlichen Beziehungen eindrängt und ihm das Leben schwer macht,

616.

Der Gegenwart entfremdet. Es hat grosse Vortheile, seiner Zeit sich einmal in stärkerem Maasse

397

zu entfremden und gleichsam von ihrem Ufer zurück in den Ocean der vergangnen Weltbetrachtungen ge- trieben zu werden. Von dort aus nach der Küste zu blickend, überschaut man wohl zum ersten Male ihre gesammte Gestaltung und hat, wenn man sich ihr wieder nähert, den Vortheil, sie besser im Ganzen zu verstehen als Die, welche sie nie verlassen haben.

617.

Auf persönlichen Mängeln säen und ernten. Menschen wie Rousseau verstehen es, ihre Schwächen Lücken Laster gleichsam als Dünger ihres Talentes zu benutzen. Wenn Jener die Verdorbenheit und Ent- artung der Gesellschaft als leidige Folge der Cultur beklagt, so liegt hier eine persönliche Erfahrung zu Grunde; deren Bitterkeit giebt ihm die Schärfe seiner allgemeinen Verurtheilung und vergiftet die Pfeile, mit denen er schiesst; er entlastet sich zunächst als In- dividuum und denkt ein Heilmittel zu suchen, das direct der Gesellschaft, aber indirect und vermittelst jener, auch ihm zu Nutze ist.

618.

Philosophisch gesinnt sein. Gewöhnlich strebt man darnach, für alle Lebenslagen und Ereignisse eine Haltung des Gemüths, eine Gattung von An- sichten zu erwerben, das nennt man vornehmlich philosophisch gesinnt sein. Aber für die Bereicherung der Erkenntniss mag es höheren Werth haben, nicht in dieser Weise sich zu uniformiren, sondern auf die leise Stimme der verschiednen Lebenslagen zu hören; diese

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bringen ihre eigenen Ansichten mit sich. So nimmt man erkennenden Antheil am Leben und Wesen Vieler, in- dem man sich selber nicht als starres beständiges Eines Individuum behandelt.

619.

Im Feuer der Verachtung. Es ist ein neuer Schritt zum Selbständigwerden , wenn man erst An- sichten zu äussern wagt , die als schmählich für Den gelten, welcher sie hegt; da pflegen auch die Freunde und Bekannten ängsthch zu werden. Auch durch dieses Feuer muss die begabte Natur hindurch; sie gehört sich hinterdrein noch viel mehr selber an.

620.

Aufopferung. Die grosse Aufopferung wird, im Falle der Wahl, einer kleinen Aufopferung vorge- zogen: weil wir für die grosse uns durch Selbstbewun- derung entschädigen , was uns bei der kleinen nicht möglich ist.

621.

Liebe als Kunstgriff Wer etwas Neues wirk- lich kennen lernen will (sei es ein Alensch, ein Ereig- niss, ein Buch), der thut gut, dieses Neue mit aller möglichen Liebe aufzunehmen, von Allem, was ihm daran feindlich anstössig falsch vorkommt, schnell das Auge abzuwenden, ja es zu vergessen: so dass man zum Bei- spiel dem Autor eines Buches den grössten Vorsprung giebt und geradezu , wie bei einem Wettrennen , mit klopfendem Herzen danach begehrt, dass er sein Ziel erreiche. Mit diesem Verfaliren dringt man nämlich der

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neuen Sache bis an ihr Herz bis an ihren bewegenden Punkt: und diess heisst eben sie kennen lernen. Ist man so weit, so macht der Verstand hinterdrein seine Restrictionen ; jene Überschätzung, jenes zeitweilige Aus- hängen des kritischen Pendels war eben nur der Kunst- griff, die Seele einer Sache herauszulocken.

622.

Zu gut und zu schlecht von der Welt denken. Ob man zu gut oder zu schlecht von den Dingen denkt, man hat immer den Vortheil dabei, eine höhere Lust ein- zuernten: denn bei einer vorgefsissten zu guten Meinung legen wir gewöhnlich mehr Süssigkeit in die Dinge (Er- lebnisse) hinein, als sie eigentlich enthalten. Eine vor- gefasste zu schlechte Meinung verursacht eine angenehme Enttäuschung: das Angenehme, das an sich in den Dingen lag, bekommt einen Zuwachs durch das An- genehme der Überraschung. Ein finsteres Tempera- ment wird übrigens in beiden Fällen die umgekehrte Erfahrung machen.

623.

Tiefe Menschen. Diejenigen, welche ihre Stärke in der Vertiefung der Eindrücke haben man nennt sie gewöhnlich tiefe Menschen , sind bei allem Plötzlichen verhältnissmässig gefasst und entschlossen: denn im ersten Augenblick war der Eindruck noch flach, er wird dann erst tief. Lange vorhergesehene, erwartete Dinge oder Personen regen aber solche Naturen am meisten auf und machen sie fast unfähig, bei der end- lichen Ankunft derselben noch Gegenwärtigkeit des Geistes zu haben. '

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624.

Verkehr mit dem höheren Selbst. Ein Jeder hat seinen gnten Tag, wo er sein höheres Selbst findet; und die wahre Humanität verlangt, Jemanden nur nach diesem Zustande und nicht nach den Werktagen der Unfreiheit und Knechtung zu schätzen. Man soll zum Beispiel einen Maler nach seiner höchsten Vision, die er zu sehen und darzustellen vermochte, taxiren und ver- ehren. Aber die Menschen selber verkehren sehr ver- schieden mit diesem ihrem höheren Selbst und sind häufig ihre eigenen Schauspieler, insofern sie Das, was sie in jenen Augenblicken sind, später, immer wieder nachmachen. Manche leben in Scheu und Demuth vor ihrem Ideale und möchten es verleugnen : sie furchten ihr höheres Selbst, weil es, wenn es redet, anspruchsvoll redet. Dazu hat es eine geisterhafte Freiheit, zu kommen und fortzubleiben wie es will; es wird desswegen häufig eine Gabe der Götter genannt, während eigentlich alles Andere Gabe der Götter (des Zufalls) ist: jenes aber ist der Mensch selber.

625.

Einsame Menschen. Manche Menschen sind so sehr an das Alleinsein mit sich selber gewöhnt, dass sie sich gar nicht mit Anderen vergleichen, sondern in einer ruhigen freudigen Stimmung, unter gnten Ge- sprächen mit sich, ja mit Lachen ihr monologisches Leben fortspinnen. Bringt man sie aber dazu, sich mit Anderen zu vergleichen, so neigen sie zu einer grübelnden Unter- schätzung ihrer selbst: so dass sie gezwungen werden müssen , eine gute gerechte Meinung über sich erst von Andern wieder zu lernen: und auch von dieser

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erlernten Meinung werden sie immer wieder etwas ab- ziehen und abhandeln wollen, Man muss also gewissen Menschen ihr Alleinsein gönnen und nicht so albern sein, wie es häufig geschieht, sie desswegen zu bedauern.

626.

Ohne Melodie. Es giebt ^lenschen, denen ein stätiges Beruhen in sich selbst und ein harmonisches Sich-zurecht-legen aller ihrer Fähigkeiten so zu eigen ist, dass ihnen jede Ziele setzende Thätigkeit widerstrebt. Sie gleichen einer Musik, welche aus lauter langge- zogenen harmonischen Accorden besteht, ohne dass je auch nur der Ansatz zu einer gegliederten bewegten Melodie sich zeigte. Alle Bewegung von Aussen her dient nur, dem Kahne sofort wieder sein neues Gleich- gewicht auf dem See harmonischen Wohlklangs zu geben. Moderne Menschen werden gewöhnlich auf's Ausserste ungeduldig, wenn sie solchen Naturen begegnen, aus denen Nichts wird, ohne dass man von ihnen sagen dürfte, dass sie Nichts sind. Aber in einzelnen Stim- mungen erregt ihr Anblick jene ungewöhnliche Frage: wozu überhaupt Melodie? Warum genügt es uns nicht, wenn das Leben sich ruhevoll in einem tiefen See spiegelt? Das Mittelalter war reicher an solchen Na- turen als unsere Zeit. Wie selten trifft man noch auf Einen, der so recht froh und friedlich mit sich auch im Gedränge fortleben kann, zu sich redend wie Goethe: „das Beste ist die tiefe Stille, in der ich gegen die Welt lebe und wachse, und gewinne, was sie mir mit Feuer und Schwert nicht nehmen können."

Nietzsche, Werke Band 11. 26

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627.

Leben und Erleben. Sieht man zu, wie Ein- zelne mit ihren Erlebnissen ihren unbedeutenden all- täglichen Erlebnissen umzugehen wissen, so dass diese zu einem Ackerland werden, das dreimal des Jahres Frucht trägt; während Andere und wie Viele! durch den Wogenschlag der aufregendsten Schicksale, der mannichfaltigsten Zeit- und Volksströmungen hindurch- getrieben werden und doch immer leicht, immer oben- auf, wie Kork, bleiben: so ist man endlich versucht, die Menschheit in eine Minorität (Minimalität) Solcher ein- zutheilen, welche aus Wenigem Viel zu machen ver- stehen, und in eine Majorität Derer, welche aus Vielem Wenig zu machen verstehen; ja man trifft auf jene um- gekehrten Hexenmeister , welche , statt die Welt aus Nichts, aus der Welt ein Nichts schaffen.

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Ernst im Spiele. In Genua hörte ich zur Zeit der Abenddämmerung von einem Thurme her ein langes Glockenspiel: das wollte nicht enden und klang wie unersättlich an sich selber , über das Geräusch der Gassen in den Abendhimmel und die Meerluft hinaus, so schauerlich, so kindisch zugleich, so wehmuthsvoll. Da gedachte ich der Worte Plato's und fühlte sie auf Ein Mal im Herzen: alles Menschliche insgesammt ist des grossen Ernstes nicht werth; trotz- dem —

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62g.

Von der Überzeugung und der Gerechtigkeit Das, was der Mensch in der Leidenschaft sagt, ver- spricht, beschhesst, nachher in Kälte und Nüchternheit zu vertreten diese Forderung gehört zu den schwersten Lasten, welche die Menschheit drücken. Die Folgen des Zornes, der aufflammenden Rache, der begeisterten Hin- gebung in alle Zukunft hin anerkennen zu müssen das kann zu einer um so grösseren Erbitterung gegen diese Empfindungen reizen, je mehr gerade mit ihnen allerwärts und namentlich von den Künstlern ein Götzen- dienst getrieben wird. Diese züchten die Schätzung der Leidenschaften gross und haben es immer gethan; freilich verherrlichen sie auch die furchtbaren Genugthuungen der Leidenschaft, welche Einer an sich selber nimmt, jene Racheausbrüche mit Tod, Ver- stümmelung, freiwilliger Verbannung im Gefolge, und jene Resignation des zerbrochnen Herzens. Jedenfalls halten sie die Neugierde nach den Leidenschaften wach, es ist als ob sie sagen wollten: „ihr habt ohne Leidenschaften gar Nichts erlebt". Weil man Treue geschworen, viel- leicht gar einem rein fingirten Wesen wie einem Gotte, weil man sein Herz hingegeben hat, einem Fürsten, einer Partei, einem Weibe, einem priesterlichen Orden, einem Künstler, einem Denker, im Zustande eines ver- blendeten Wahnes, welcher Entzückung über uns legte und jene Wesen als jeder Verehrung, jedes Opfers würdig erscheinen Hess ist man nun unentrinnbar fest gebunden? Ja, haben wir uns denn damals nicht selbst betrogen? War es nicht ein hypothetisches Ver- sprechen, unter der freilich nicht laut gewordnen Vor- aussetzung, dass jene Wesen, denen wir uns weihten,

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wirklich die Wesen sind, als welche sie in unserer Vor- stellung erschienen? Sind wir verpflichtet, unseren Irr- thümern treu zu sein, selbst mit der Einsicht, dass wir durch diese Treue an unserm höhern Selbst Schaden stiften? Nein, es giebt kein Gesetz, keine Verpflich- tung der Art; wir müssen Verräther werden, Untreue üben, unsere Ideale immer wied^- preisgeben. Aus einer Periode des Lebens in die andere schreiten wir nicht, ohne diese Schmerzen des Verraths zu machen und auch daran wieder zu leiden. Wäre es nöthig, dass wir uns, um diesen Schmerzen zu entgehen, vor den Aufwallungen unserer Empfindung hüten müssten? Würde dann die Welt nicht zu öde, zu gespenstisch für uns werden? Vielmehr wollen wir uns fragen, ob diese Schmerzen bei einem Wechsel der Überzeugung noth wendig sind oder ob sie nicht von einer irrthümlichen Meinung und Schätzung abhängen. Warum bewundert man Den, welcher seiner Überzeugung treu bleibt, und verachtet Den, welcher sie wechselt? Ich fürchte, die Antwort muss sein: weil Jedermann voraussetzt, dass nur Motive gemeineren Vortheils oder persönliche Angst einen solchen Wechsel veranlassen. Das heisst: man glaubt im Grunde, dass Niemand seine Meinungen verändert, so lange sie ihm vortheilhaft sind, oder wenigstens so lange sie ihm keinen Schaden bringen. Steht es aber so, so liegt darin ein schlimmes Zeugniss über die in- tellectuelle Bedeutung aller Überzeugungen. Prütien wir einmal, wie Überzeugungen entstehen, und sehen wif zu, ob sie nicht bei weitem überschätzt werden: dabei wird sich ergeben, dass auch der Wechsel von Überzeugungen unter allen Uniständen nach falschem Maasse bemessen wird und dass wir bisher zu viel an diesem Wechsel zu leiden pflegten.

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630.

Überzeugung ist der Glaube, in irgend einem Punkte der Erkenntniss im Besitz der unbedingten Wahrheit zu sein. Dieser Glaube setzt also voraus, dass es un- bedingte Wahrheiten gebe; ebenfalls, dass jene voll- kommenen Methoden gefunden seien, um zu ihnen zu gelangen; endlich, dass Jeder, der Überzeugungen habe, sich dieser vollkommenen Methoden bediene. Alle drei Aufstellungen beweisen sofort, dass der Mensch der Überzeugungen nicht der Mensch des wissenschaftlichen Denkens ist; er steht im Alter der theoretischen Un- schuld vor uns und ist ein Klind, wie erwachsen er auch sein mag. Ganze Jahrtausende aber haben in jenen kindlichen Voraussetzungen gelebt, und aus ihnen sind die mächtigsten Kraftquellen der Menschheit hervor- geströmt. Jene zahllosen Menschen, welche sich für ihre Überzeugungen opferten, meinten es für die unbedingte Wahrheit zu thun. Sie Alle hatten Unrecht darin: wahr- scheinlich hat noch nie ein Mensch sich für die Wahrheit geopfert; mindestens wird der dogmatische Ausdruck seines Glaubens unwissenschaftlich oder halbwissenschaftlich ge- wesen sein. Aber eigentlich wollte man Recht behalten, weil man meinte. Recht haben zu müssen. Seinen Glauben sich entreissen lassen, das bedeutete vielleicht seine ewige Seligkeit in Frage stellen. Bei einer Ange- legenheit von dieser äussersten Wichtigkeit war der „Wille" gar zu hörbar der Souffleur des Intellects. Die Voraussetzung jedes Gläubigen jeder Richtung war, nicht widerlegt werden zu können; erwiesen sich die Gegen- gründe als sehr stark, so blieb ihm immer noch übrig, die Vernunft überhaupt zu verlästern und vielleicht gar das „credo quia absurdum est" als Fahne des äussersten

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Fanatismus aufzupflanzen. Es ist nicht der Kampf der Meinungen, welcher die Geschichte so gewaltthätig ge- macht hat, sondern der Kampf des Glaubens an die Meinungen, das heisst der Überzeugungen. Wenn doch alle Die, welche so gross von ihrer Überzeugung dachten, Opfer aller Art ihr brachten und Ehre, Leib und Leben in ihrem Dienste nicht schonten, nur die Hälfte ihrer Kraft der Untersuchung gewidmet hätten, mit welchem Rec;At3 sie an dieser oder jener Überzeugung hiengen, auf welchem Vv''ege sie zu ihr gekommen seien: wie friedfertig sähe die Geschichte der Menschheit aus! Wieviel mehr des Erkannten würde es geben! Alle die grausamen Scenen bei der Verfolgung der Ketzer jeder Art wären uns aus zwei Gründen erspart geblieben: einmal weil die Inquisitoren vor Allem in sich selbst in- quirirt hätten und über die Anmaassung, die unbedingte Wahrheit zu vertheidigen , hinausgekommen wären; so- dann weil die Ketzer selber so schlecht begründeten Sätzen, wie die Sätze aller religiösen Sectirer und „Rechtgläubigen" sind, keine weitere Theilnahme ge- schenkt haben würden, nachdem sie dieselben untersucht hätten.

631.

Aus den Zeiten her, «in welchen die Menschen daran gewöhnt waren, an den Besitz der unbedingten Wahr- heit zu glauben, stammt ein tiefes Missbehagen an allen skeptischen und relativistischen Stellungen zu irgend- welchen Fragen der Erkenntniss; man zieht meistens vor, sich einer Überzeugung, welche Personen von Autorität haben (Väter Freunde Lehrer Fürsten), auf Gnade und Ungnade zu ergeben, und hat, wenn man diess nicht thut, eine Art von Gewissensbissen. Dieser Hang ist

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ganz begreiflich und seine Folgen geben kein Recht zu heftigen Vorwürfen gegen die Entwicklung der mensch- lichen Vernunft. Allmähhch muss aber der wissenschaft- hche Geist im Menschen jene Tugend der vorsichtigen Enthaltung zeitigen, jene weise Mässigung, welche im Gebiet des praktischen Lebens bekannter ist als im Gebiet des theoretischen Lebens, und welche zum Beispiel Goethe im Antonio dargestellt hat, als einen Gegen- stand der Erbitterung für alle Tasso's, das heisst für die unwissenschaftlichen und zugleich thatlosen Naturen. Der Mensch der Überzeugungen hat in sich ein Recht, jenen Menschen des vorsichtigen Denkens, den theoretischen Antonio, nicht zu begreifen ; der wissenschaftliche Mensch hinwiederum hat kein Recht, jenen desshalb zu tadeln, er übersieht ihn und weiss ausserdem, im bestimmten Falle, dass Jener sich an ihn noch anklammem wird, so wie es Tasso zuletzt mit Antonio thut.

632.

Wer nicht durch verschiedene Überzeugungen hin- durchgegangen ist, sondern in dem Glauben hängen bleibt, in dessen Netz er sich zuerst verfieng, ist unter allen Umständen, eben wegen dieser Unwandelbarkeit, ein Vertreter zurückgebliebener Culturen; er ist gemäss diesem Mangel an Bildung (welche immer Bild- barkeit voraussetzt) hart, unverständig, unbelehrbar, ohne Milde, ein ewiger Verdächtiger, ein Unbedenklicher, der zu allen Mitteln greift seine Meinung durchzusetzen, weil er gar nicht begreifen kann, dass es andre Meinungen geben müsse; er ist, in solchem Betracht, vielleicht eine Kraftquelle und in allzu frei und schlaff" gewordenen Culturen sogar heilsam, aber doch nur, weil er kräftig

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anreizt, ihm Widerpart zu halten: denn dabei wird das zartere Gebilde der neuen Cultur, welche zum Kampf mit ihm gezwungen ist, selber stark.

Ö33-

Wir sind im Wesentlichen noch dieselben Menschen, wie die des Reformations-Zeitalters: wie sollte es auch anders sein? Aber dass wir uns einige Mittel nicht mehr erlauben, um mit ihnen unserer Meinung zum Siege zu verhelfen, das hebt uns gegen jene Zeit ab und be- weist, dass wir einer höheren Cultur angehören. Wer jetzt noch, in der Art der Reformations-Menschen, Meinungen mit Verdächtigungen, mit Wuthausbrüchen bekämpft und niederwirft, verräth deutlich, dass er seine Gegner ver- brannt haben würde , falls , er in anderen Zeiten gelebt hätte, und dass er zu allen Mitteln der Inquisition seine Zuflucht genommen haben würde, wenn er als Gegner der Reformation gelebt hätte. Diese Inquisition war damals vernünftig, denn sie bedeutete nichts Anderes als den allgemeinen Belagerungszustand, welcher über den ganzen Bereich der Kirche verhängt werden musste und der, wie jeder Belagerungszustand, zu den äussersten Mitteln berechtigte, unter der Voraussetzung nämlich (welche wir jetzt nicht mehr mit jenen Menschen theilen), dass man die Wahrheit, in der Kirche, habe und um jeden Preis mit jedem Opfer, zum Heile der Menschheit, bewahren müsse. Jetzt aber giebt man Niemandem so leicht mehr zu, dass er die Wahrheit habe: die strengen Methoden der Forschung haben genug Misstrauen und Vorsicht verbreitet, so dass Jeder, welcher gewaltthätig in Wort und Werk Meinungen vertritt, als ein Feind unserer jetzigen Cultur, mindestens als ein Zurückge-

409

bliebener empfunden wird. In der That: das Pathos. dass man die Wahrheit habe, gilt jetzt sehr wenig im Verhältniss zu jenem freilich milderen und klangloseren Pathos des Wahrheit-Suchens, welches nicht müde wird, umzulernen und neu zu prüfen.

634.

Übrigens ist das methodische Suchen der Wahrheit selber das Resultat jener Zeiten, in denen die Über- zeugungen mit einander in Fehde lagen. Wenn nicht dem Einzelnen an seiner „Wahrheit", das heisst an seinem Rechtbehalten gelegen hätte, so gäbe es über- haupt keine Methode der Forschung; so aber, bei dem ewigen Kampf der Ansprüche verschiedener Einzelner auf unbedingte Wahrheit, gieng man Schritt für Schritt weiter, um unumslössliche Principien zu finden, nach denen das Recht der Ansprüche geprüft und der Streit geschlichtet werden könne. Zuerst entschied man nach Autoritäten, später kritisirte man sich gegenseitig die Wege und Mittel, mit denen die angebhche Wahrheit gefunden worden war; dazwischen gab es eine Periode, wo man die Consequenzen des gegnerischen Satzes zog und vielleicht sie als schädlich und unglücklich machend erfand: woraus dann sich für Jedermanns Urtheil er- geben sollte, dass die Überzeugung des Gegners einen Irrthum enthalte. Der persönliche Kampf der Denker hat schliesslich die Methoden so verschärft, dass wirklich Wahrheiten entdeckt werden konnten und dass die Irrgänge früherer Methoden vor Jedermanns Blicken biosgelegt sind,

4^o

635.

Im Ganzen sind die wissenschaftlichen Methoden mindestens ein ebenso wichtiges Ergebniss der Forschung als irgend ein sonstiges Resultat: denn auf der Einsicht in die Methode beruht der wissenschaftliche Geist, und alle Resultate der Wissenschaft könnten, wenn jene Methoden verloren giengen , ein erneutes Überhand- nehmen des Aberglaubens und des Unsinns nicht ver- hindern. Es mögen geistreiche Leute von den Ergeb- nissen der Wissenschaft lernen, so viel sie wollen : man merkt es immer noch ihrem Gespräche und nament- lich den Hypothesen in demselben an, dass ihnen der wissenschaftliche Geist fehlt: sie haben nicht jenes in- stinctive Misstrauen gegen die Abwege des Denkens, welches in der Seele jedes wissenschaftlichen Menschen in Folge langer Übung seine Wurzeln eingeschlagen hat. Ihnen genügt es, über eine Sache überhaupt irgend- eine Hypothese zu finden, dann sind sie Feuer und Flamme für dieselbe und meinen, damit sei es gethan. Eine Meinung haben heisst bei ihnen schon: dafür sich fanatisiren und sie als Überzeugung fürderhin sich an's Herz legen. Sie erhitzen sich bei einer unerklärten Sache für den ersten Einfall ihres Kopfes, der einer Erklärung derselben ähnlich sieht: woraus sich, nament- lich auf dem Gebiete der Politik, fortwährend die schlimmsten Folgen ergeben. Desshalb sollte jetzt Jedermann mindestens eine Wissenschaft von Grund aus kennen gelernt haben : dann weiss er doch, was Methode heisst und wie nöthig die äusserste Besonnenheit ist. Namentlich ist den Frauen dieser Rath zu geben; als welche jetzt rettungslos die Opfer aller Hypothesen sind, zumal wenn diese den Eindruck des Geistreichen Hin-

4"

reissenden Belebenden Kräftigenden machen. Ja bei g& nauerem Zusehen bemerkt man, dass der allergrösste Theil aller Gebildeten noch jetzt von einem Denker Über- zeugungen und Nichts als Überzeugungen begehrt, und dass allein eine geringe Minderheit Gewissheit will. Jene wollen stark fortgerissen werden, um dadurch selber einen Kraftzuwachs zu erlangen; diese Wenigen haben jenes sachliche Interesse, welches von persönhchen Vortheilen, auch von dem des erwähnten Kraftzuwachses absieht. Auf jene bei weitem überwiegende Classe wird überall dort gerechnet, wo der Denker sich als Genie benimmt und bezeichnet, also wie ein höheres Wesen dreinschaut, welchem Autorität zukommt Inso- fern das Genie jener Art die Gluth der Überzeugungen unterhält und Misstrauen gegen den vorsichtigen und bescheidenen Sinn der Wissenschaft weckt, ist es ein Feind der Wahrheit, und wenn es sich auch noch so sehr als deren Freier glauben sollte.

636. Es giebt freilich auch eine ganz andre Gattung der Genialität, die der Gerechtigkeit; und ich kann mich durch- aus nicht entschhessen , dieselbe niedriger zu schätzen als irgend eine philosophische, politische oder künstle- rische Genialität. Ihre Art ist es, mit herzhchem Un- willen Allem aus dem Wege zu gehen, was das Urtheil über die Dinge blendet und verwirrt; sie ist folglich eine Gegnerin der Überzeugungen, denn sie will Jedem, sei es ein Belebtes oder Todtes, Wirkliches oder Gedachtes, das Seine geben und dazu muss sie es rein erkennen; sie stellt daher jedes Ding in das beste Licht und geht um dasselbe mit sorgsamem Auge herum. Zuletzt wird sie selbst ihrer Gegnerin, der blinden oder

412

kurzsichtigen „Überzeugung" (wie Männer sie nennen: bei Weibern heisst sie „Glaube"), geben, was der Überzeugung ist um der Wahrheit willen.

637.

Aus den Leidenschaften wachsen die Meinungen; die Trägheit des Geistes lässt diese zu Überzeu- gungen erstarren. Wer sich aber freien, rastlos lebendigen Geistes fühlt, kann durch beständigen Wechsel diese Erstarrung verhindern; und ist er gar insgesammt ein denkender Schneeballen, so wird er überhaupt nicht Meinungen, sondern nur Gewissheiten und genau be- messene Wahrscheinlichkeiten in seinem Kopfe haben. Aber wir, die wir gemischten Wesens sind und bald vom Feuer durchglüht, bald vom Geiste durchkältet sind, wollen vor der Gerechtigkeit knien, als der einzigen Göttin, welche wir über uns anerkennen. Das Feuer in uns macht uns für gewöhnlich ungerecht und, im Sinne jener Göttin, unrein; nie dürfen wir in diesem Zu- stande ihre Hand fassen, nie liegt dann das ernste Lächeln ihres Wohlgefallens auf uns. Wir verehren sie als die verhüllte Isis unseres Lebens; beschämt bringen wir ihr unsern Schmerz als Busse und Opfer dar, wenn das Feuer uns brennt und verzehren wiU. Der Geist ist es, der uns rettet, dass wir nicht ganz verglühen und verkohlen; er reisst uns hier und da fort von dem Opfer- altare der Gerechtigkeit oder hüUt uns in ein Gespinnst aus Asbest. Vom Feuer erlöst, schreiten wir dann, durch den Geist getrieben, von Meinung zu Meinung, durch den Wechsel .der Parteien, als edle Verräther aller Dinge, die überhaupt verrathen werden können, und dennoch ohne ein Gefühl von Schuld.

413

638.

Der Wanderer. Wer nur einigermaassen zur Freiheit der Vernunft gekommen ist, kann sich auf Erden nicht anders fühlen denn als Wanderer, wenn auch nicht als Reisender nach einem letzten Ziele: denn dieses giebt es nicht. Wohl aber will er zusehen und die Augen dafür offen haben, was Alles in der Welt eigentlich vorgeht; desshalb darf er sein Herz nicht allzufest an alles Einzelne anhängen; es muss in ihm selber etwas Wanderndes sein, das seine Freude an dem Wechsel und der Vergänglichkeit habe. Freilich werden einem solchen Menschen böse Nächte kommen, wo er müde ist und das Thor der Stadt, welche ihm Rast bieten sollte, verschlossen findet; vielleicht, dass noch dazu, wie im Orient, die Wüste bis an das Thor reicht, dass die Raubthiere bald ferner bald näher her heulen, dass ein starker Wind sich erhebt, dass Räuber ihm seine Zugthiere wegführen. Dann sinkt für ihn wohl die schreckliche Nacht wie eine zweite Wüste auf die Wüste, und sein Herz wird des Wanderns müde. Geht ihm dann die Morgensonne auf, glühend wie eine Gottheit des Zorns, öffnet sich die Stadt, so sieht er in den Ge- sichtern der hier Hausenden vielleicht noch mehr Wüste, Schmutz, Trug, Unsicherheit als vor den Thoren und der Tag ist fast schlimmer als die Nacht. So mag es wohl einmal dem Wanderer ergehen; aber dann kommen, als Entgelt , die wonnevollen Morgen anderer Gegenden und Tage, wo er schon im Grauen des Lichtes die Musenschwärme im Nebel des Gebirges nahe an sich vorübertanzen sieht, wo ihm nachher, wenn er still, in dem Gleichmaass der Vormittagsseele, unter Bäumen sich ergeht, aus deren Wipfeln und Laub verstecken heraus

4M

lauter gute und helle Dinge zugeworfen werden, die Gre- schenke aller jener freien Geister, die in Berg, Wald und Einsamkeit zu Hause sind und welche, gleich ihm, in ihrer bald fröhlichen bald nachdenklichen Weise, Wanderer und Philosophen sind. Geboren aus den Geheimnissen der Frühe, sinnen sie darüber nach, wie der Tag zwischen dem zehnten und zwölften Glockenschlage ein so reines, durchleuchtetes, verklärt-heiteres Gesicht haben könne; sie suchen die Philosophie des Vormittages.

Unter Freunden.

Ein NachsoieL

I.

Schön ist's, mit einander schweigen, Schöner, mit einander lachen, Unter seidenem Himmels-Tuche Hingelehnt zu Moos und Buche Lieblich laut mit Freunden lachen Und sich weisse Zähne zeigen.

Macht' ich's gut, so woll'n wir schweigen; Macht' ich's schlimm , so woll'n wir lachen Und es immer schlimmer machen, Schlimmer machen, schlimmer lachen, Bis wir in die Grube steigen.

Freunde! Ja! So soll's geschehn? Amen! Und auf Wiedersehn 1

Nietische, Werke Band n. fj

2.

Kein Entschuld'genl Kein Verzeihen! Gönnt ihr Frohen, Herzens -Freien Diesem unvernünft'gen JJuche Ohr und Herz und Unterkunft! Glaubt mir, Freunde, nicht zum Fluche "Ward mir meine Unvernunft!

Was ich finde, was ich suche .

Stand das je in einem Buche?

Ehrt in mir die Narren -Zunft!

Lernt aus diesem Narrenbuche,

Wie Vernunft kommt „zur Vernunft"!

Also, Freunde, soll's g-eschehn? Amen! Und auf Wiedersehn 1

Aphorismen - Register, Nachbericht, Lesarten -Verzeichniss.

Aphorismen-Register.

I. Von den ersten

SdU

Chemie der Begriffe und Em- pfindungen 17

Erbfehler der Philosophen . .18 Schätzung der unscheinbaren

Wahrheiten 19

Astrologie und Verwandtes . .21 Missverständniss des Traumes . 21 Der Geist der Wissenschaft im

Theil, nicht im Ganzen mächtig 22 Der Störenfried in der Wissen- schaft 23

Pneimiatische Erklärung der Natur 23 Metaphysische Welt .... 23 Harmlosigkeit der Metaphysik in

der Zukunft . .... 24

Die Sprache als vermeintliche

Wissenschaft 25

Traum und Cultur 26

Logik des Traumes . . . .27

Miterklingen 30

Kein Innen und Aussen in der Welt 31

und letzten Dingen.

8«I«i

Erscheinung und Ding an sich . 31 Metaphysische Erklärungen . .33 Grundfragen der Metaphysik . 34

Die Zahl 36

Einige Sprossen zurück . . .37 Miithmaasslicher Sieg der Skepsis 38 Unglaube an das „monumentum

aere perennius" 39

Zeitalter der Vergleichung . . 40 Möglichkeit des Fortschritts . .41 Privat- und Welt-Moral ... 42 Die Reaction als Fortschritt . 43 Ersatz der Religion ... .45

Verrufene Worte 46

Vom Dufte der Blüthen berauscht 46 Schlechte Gewohnheiten im

Schliessen 47

Das Unlogische nothwendig . . 48 Ungerechtsein nothwendig . . 49 Der Irrthum über das Leben zum

Leben nothwendig .... 50 Zur Beruhigung 51

IL Zur Geschichte der moralischen Empfindungen.

Der unveränderliche Charakter . 66 Die Ordnung der Güter und

die Moral 66

Grausame Menschen als zurück- gebliebene 67

Dankbarkeit und Rache ... 67 Doppelte Vorgeschichte von Gut und Böse 68

Vortheile der psychologischen Beobachtung .... .57

Einwand 58

Trotzdem 60

Inwiefern nützlich 62

Die Fabel von der intelligiblen

Freiheit 63

Das Über-Thier 65

422

Mitleiden stärker als Leiden

Hypochondrie

Ökonomie der Güte ....

Wohlwollen

Mitleiden erregen wollen . . Wie der Schein zum Sein wird Der Punkt der Ehrlichkeit beim

Betrüge

Angebliche Stufen der Wahrheit

Die Lüge

Des Glaubens wegen die Moral

verdächtigen

Sieg der Erkenntniss über das

radicale Böse

Moral als Selbstzerthailung des

Menschen

Was man versprechen kann Intellect und Moral .... Sich rächen wollen und sich rächen

Warten -können

Schwelgerei der Rache . . , Werth der Verkleinerung . .

Der Aufbrausende

Wohin die Ehrlichkeit führen

kann

Sträflich, nie gestraft .... San da simplicitas der Tugend Moralität und Erfolg .... Liebe und Gerechtigkeit . . .

Hinrichtung

Die Hoffnung

Grad der moralischen Erhitzbar-

keit unbekannt

Der Äfärtyrer wider Willen . .

Alltags-Maassstab

Missverständniss über die Tugend Der Asket

Die Ehre von der Person auf die

Sache übertragen 87

Ehrgeiz ein Surrogat des mora- lischen Gefühls 87

Eitelkeit bereichert 88

Greis und Tod 88

Irrthümer des Leidenden und

des Thäters 89

Haut der Seele 90

Schlaf der Tugend 90

Feinheit der Scham .... 90

Bosheit ist selten 91

Das Zünglein an der Wage . .91 Lucas 18, 14 verbessert . . .91 Verhinderung des Selbstmordes 91

Eitelkeit 91

Grenze der Menschenliebe . . 92 Moraliti larmoyante .... 93 Ursprung der Gerechtigkeit . . 93 Vom Rechte des Schwächeren . 94 Die drei Phasen der bisherigen

Moralität 95

Moral des reifen Individuums . 96

Sitte und sittlich 97

Die Lust in der Sitte ... 98 Lust und socialer Instinct . . 99 Das Unschuldige an den so- genannten bösen Handlungen 100

Scham 10 1

Richtet nicht! 102

„Der Mensch handelt immer gut" 104 Das Harmlose an der Bosheit 105

Nothwehr 106

Die belohnende Gerechtigkeit . I07

Am Wasserfall 108

UnVerantwortlichkeit und Un - schuld 109

IIL Das religiöse Leben.

Der doppelte Kampf gegen das

Übel 115

Gram ist Erkenntniss . . .116 Die Wahrheit in der Religion 1 1 7

Ursprung des religiösen Cultus 120 Beim Anblick gewisser antiker

Opfergeräthschaften . . .125 Christenthum als Alterthum . i 26

Das Ungriechische im Christen- thum

Mit Vortheil religiös sein . .

Der Alltags-Christ

Von der Klugheit des Christen- thums

Personenwechsel

Schicksal des Christenthums

Der Beweis der Lust . . . .

Gefährhches Spiel

Die blinden Schüler . . . .

Abbruch der Kirchen . . .

Sündiosigkeit des Menschen .

127 128 128

129 129 129 130 130

130 131 131

SelU

Irreligiosität der Künstler . .131 Kunst und Kraft der falschen

Interpretation 132

Verehrung des Wahnsinns . .132 Verheissungen der Wissenschaft 133 Verbotene Freigebigkeit . . -133 Fortleben des religiösen Cultus

im Gemüth 133

Religiöse Nach wehen . . .134 Von dem christlichen Erlösungs-

bedürfniss 135

Von der christlichen Askese und

Heiligkeit 141

IV. Aus der Seele der Künstler und Schriftsteller.

Das Vollkommene soll nicht ge- worden sein 157

Der Wahrheitssinn des Künstlers 1 58

Die Kunst als Todtenbeschwö rerin

Dichter als Erleichterer des Lebens

Der langsame Pfeil der Schön heit

Beseelimg der Kunst . . .

Wodurch das Metrum ver »chönert

Kunst der hässlichen Seele

Die Kunst macht dem Denke das Herz schwer .

Mit dem Leben spielen .

Glaube an Inspiration

Nochmals die Inspiration

Die Leiden des Genius ihr Werth ....

Verhängniss der Grösse .

Die Kunst dem Künstler fährlich

Geschaffene Menschen

Selbstüberschätmni; im Glauben an Künstler und Philosophen 168

Cultus des Genius aus Eitelkeit 168

Der Ernst des Handwerks . .170

und

ge-

158

159

160

160

161 161

161 162 163 163

164 165

«65 166

Gefahr und Gewinn im Cultus

des Genius 171

Das Genie und das Nichtige . 174

Das Publicum 174

Artistische Erziehung des Publi-

cums 175

Der Künstler und sein Gefolge

müssen Schritt halten . . .175 Herkunft des Komischen . .176

Künstler- Ehrgeiz 176

Das Nothwendige am Kunst- werk 177

Den Meister vergessen machen 178 Corriger la fortune . . . .178

Verkleinem 178

Sinnlichkeit in der Kunst der

Gegenwart 179

Shakespeare als Moralist . .179 Sich gut zu Gehör bringen . 180 Das Unvollständige als das

Wirksame 180

Gegen die Originalen . . .180

Collectivgeist 181

Zweierlei Verkennung . . .181 VerhSltniss zur Wissenschaft . 181

Der Schlüssel i8|

Unübersetzbar 181

Paradoxien des Autors . , . 1S2

424 -

Wit2

Die Antithese

Denker als Stilisten . . . . Gedanken im Gedicht . . , Sünde wider den Geist des Lesers Grenze der Ehrlichkeit . .

Der beste Autor

Drakonisches Gesetz gegen

Schriftsteller

Die Narren der modernen Cultur Den Griechen nach . . . . Grute Erzähler schlechte Erklärer Die Schriften von Bekannten

und ihre Leser .... Rhythmische Opfer . . , Das Unvollständige als küust

lerisches Reizmittel . . Vorsicht im Schreiben und Leh ren Schlechte Schriftsteller noth

wendig

Zu nah und zu fern . . . Eine verschwundene Vorberei

tung zur Kunst . . . Dunkles und Überhelles neben

einander ......

8elt« 182

182

182

X82

182

183 183

183 183

184

184

185

186

186 186

187

187

188 189

Schriflstellerisches Malerthum . 189

Bücher, welche tanzen lehren . 189

Nicht fertig gewordene Gedanken 189 Das Buch fast zum Menschen

geworden 190

Freude im Alter 191

Ruhige Fruchtbarkeit . . .191 Achilles und Homer . . . .192 Alte Zweifel über die Wirkung

der Kunst 192

Freude am Unsinn .... 193

Veredelung der Wirklichkeit . 194

Musik 194

Gebärde und Sprache . . .195 Die Entsinnlichung der höheren

Kunst 197

Der Stein ist mehr Stein als

früher 198

Religiöse Herkunft der neueren

Musik 199

Das Jenseits in der Kunst . , 200

Die Revolution in der Poesie. 201

Was von der Kunst übrig bleibt 206

Abendröthe der Kunst . . . 207

V. Anzeichen höherer und niederer Cultur.

Veredelung durch Entartung .211 Freigeist ein relativer Begriff . 213 Herkunft des Glaubens . . .214 Aus den Folgen auf Grund und

Ungrund zurückgeschlossen . 215 Der starke, gute Charakter . .210 Maass der Dinge bei den ge- bundenen Geistern . . . .217

Esprit fort 218

Die Entstehimg des Genie's . 218 Vermuthung über den Ursprung

der Freigeisterei . . . .219

Die Stimme der Geschichte . 219

Werth der Mitte des Wegs . 220

Genius und idealer Staat in

Widerspruch 221

Die Zonen der Cultur . . .223 Renaissance und Reformation . 224 Gerechtigkeit gegen den wer- denden Gott 225

Die Früchte nach der Jahreszeit 226 Zunehmende Severität der Welt 227

Genius der Cultur 227

Wunder -Erziehung . . . .228 Die Zukunft des Arztes. . .229 In der Nachbarschaft des Wahn- sinns 230

Glockenguss der Cullur . . .231 Die Cyclopen der Cultur . .231 KrcisKiuf des MenscheiUhums . 232 Trostrede eines desperaten Fort- schritts 232

4-25

An derVerganpenheit der Cultur

leiden 233

Manierea 233

Zukunft der Wissenschaft . .235 Die Lust am Erkennen . . . 236 Treue als Beweis der Stichhaltig- keit 237

Zunahme des Interessanten . . 238 Aberglaube im Gleichzeitigen . 238 Das Können, nicht das Wissen,

durch die Wissenschaft geübt 239 Jugendreiz der Wissenschaft . 239 Die Statue der Menschheit . 240 Eine Cultur der Männer , .240 Das Vorurtheil zu Gunsten der

Grösse 241

Die Tyrannen des Geistes . .242

Homer 246

Begabung 247

Der Geistreiche entweder über- schätzt oder unterschätzt . . 247 Die Vernunft in der Schule . 248 Unterschätzte Wirkung des gym- nasialen Unterrichts . . .249 Viele Sprachen lernen . . .250 Zur Kriegsgeschichte des Indi- viduums 251

Um eine Viertelstunde früher . 251 Die Kunst zu lesen . . . .251 Die Kunst zu seh Hessen . .252

Jahresringe der individuellen

Cultur 252

Zurückgegaugen , nicht zurück- geblieben 254

Ein Ausschnitt unseres Selbst

als künstlerisches Object . .255 Cyniker und Epikureer . . .255 Mikrokosmus und Mal^rokosmus

der Cultur 256

Glück und Cultur 257

Gleichniss vom Tanze . . . 258 Von der Erleichterung des

Lebens 258

Erschwerung als Erleichterung

und umgekehrt 259

Die höhere Cultur wird noth- wendig missverstanden . .259

Klagelied 260

Hau[)tmangel der tbätigen Men- schen 261

Zu Gunsten der Mü-:sigen . .261 Die moderne Unruhe . . . .262 Inwiefern der Thätige faul ist 263

Censor vitae 263

Nebenerfolg 264

Werth der Krankheit . . . 264 Empfindung auf dem l^nde . 264 Vorsicht der freien Geister . . 264 Vorwärts 2b6

VI. Der Mensch im Verkehr.

Wohlwollende Verstellung . .271

Copien 271

Der Redner 271

Mangel an Vertraulich.keit . .271 Zur Kunst des Schenkens . .271 Der gefährlichste Parteimann . 272 Rathgeber des Kianken . . .272 Doppelte Art der Gleichheit . 272 Gegen Verlegenheit . . . .272 Verhebe für einzelne Tugenden 272 Warum man widerspricht . .273

Vertrauen und Vertraulichkeit . 273 Gleichgewicht der P>eundschaft 273 Die gefährhchsten Ärzte . .273 Wann Paradoxien am Platze sind 273 Wie muthige Leute gewonnen

werden 274

Artigkeiten 274

Warten lassen 274

Gegen die Vertraulichen . . .274

Ausgleichsmittel 274

j EitcUceit der Zunge .... 274

426

Balt«

Rücksichtsvoll 275

Zum Disputiren erforderlich . 275 Umgang und Anmaassung . .275 Motiv des Angriffs . . . .275

Schmeichelei 275

Guter Briefschreiber . . . .276

Am hässlichsten 276

Die Mitleidigen 276

Ver\vandte eines Selbstmörders 276 Undank vorauszusehen . . . 276 In geistloser Gesellschaft . - 2';j Gegenwart von Zeugen . . .277

Schweigen 277

Das Geheimniss des Freundes 277

Humanität 277

Der Befangene 277

Dank 278

Merkmal der Entfremdung . .278 Anmaassung bei Verdiensten . 278 Gefahr in der Stimme . . . 278

Im Gespräche 278

Furcht vor dem Nächsten . .279 Durch Tadel auszeichnen . . 279 Verdruss am Wohlwollen Anderer 279 Sich kreuzende Eitelkeiten . .279 Unarten als gute Anzeichen . 280 Wann es rathsam ist, Unrecht

zu behalten 280

Zu wenig geehrt 280

Urzustände in der Rede nach- klingend 281

Der Erzähler 281

Der Vorleser 281

Eine Lustspiel-Scene, welche im Leben vorkommt .... 282

Wider Willen unhöflich . .282 Verräther -Meisterstück . . . 283 Beleidigen und beleidigt werden 283

Im Disput 283

Kunstgriff 283

Gewissensbisse nach Gesell -

Schäften 284

Man wird falsch beurtheilt . 284 Tyrannei des Portraits . . . 284 Der Verwandte als der beste

Freund 285

Verkannte Ehrlichkeit . . . 285

Der Parasit 285

Auf dem Altar der Versöhnung 286 Mitleid fordern als Zeichen der

Anmaassung 286

Köder 286

Verhalten beim Lobe . . .287 Die Erfahrung des Sokrates . 287 Mittel der Vertheidigung . .287

Neugierde 288

Verrechnung in der Gesellschaft 288

Duell 288

Vornehmheit und Dankbarkeit 289 Die Stunden der Beredsamkeit 289 Das Talent zur Freundschaft . 290 Taktik im Gespräch .... 290 Entladung des Unmuths . .291 Die Farbe der Umgebung an- nehmen 291

Ironie 292

Anmaassung . 293

Zwiegespräch ...... 294

Nachruhm 295

Von den Freunden .... 296

VII. Weib und Kind.

Das vollkommene W'cib

. . 301

Irrthum vornehmer Frauen

. 302

Freundschaft und Ehe

. . 301

Eine Männer-Krankheit

. 302

Fortleben der Eltern

. . 301

Eine Art der Eifersucht

. 302

Von der Mutter her •. .

. . 301

Vernünftige Unvernunft

. 302

Die Natur corrigiren . .

. . 302

Mütterliche Güte . . .

. 303

Väter und Sühne . . .

. . 302

Verschiedene Seufzer . .

. 30.^

Liebesheirathen

Frauenfreundschaft . . . .

Langeweile

Ein Element der Liebe . . . Die Einheit des Orts und das

Drama

Gewöhnliche Folgen der Ehe .

Befehlen lehren

Verliebt werden wollen . . Kein Stillstand in der Liebe .

Scham haftigkeit

Ehe von gutem Bestand . .

Proteus-Natur

Lieben und besitzen . . . . Probe einer guten Ehe . . . Mittel, Alle zu Allem zu bringen Ehrbarkeit rmd Ehrlichkeit . .

Masken

Die Ehe als langes Gespräch .

Mädchenträume

Ausslerben von Faust und

Gretcben

Mädchen als Gymnasiasten Ohne Nebenbuhlerinnen . . Der weibliche Intellect . . . Ein Urtheil Hesiod's bekräftigt Die Kurzsichtigen sind verhebt Frauen im Hass

4^7

SelU

303 303

303

304 304 304 304 304 305 305 305 305 305 306 306 306 306 307

307 307 307 308

309 309

Liebe 310

Zur Emancipation der Frauen . 310 Die Inspiration im Urtheile der

Frauen 311

Sich lieben lassen 312

Widersprüche in weiblichen

Köpfen 312

Wer leidet mehr? . . . .312 Gelegenheit zu weiblicher Gross-

muth 313

Tragödie der Kindheit . . .313

Elterii-Thorheit 314

Aus der Zukunft der Ehe , .315 Sturm- und Drangperiode der

Frauen 316

Freigeist und Ehe . . . .317

Glück der Ehe 317

Zu nahe 317

Die goldene Wiege . . . -318 FreiwilUges Opferthier . . .318 Angenehme Widersacher . .319 Missklang zweier Consonanzen 319

Xanthippe 319

Für die Ferne blind . . . .320 Macht und Freiheit . . . .320

Ceterutn censeo 321

Zuletzt 322

VIIL Ein Blick auf den Staat

Um das Wort bitten . . .325

Cultur und Kaste 327

Von Geblüt 327

Subordination . . . . .328

Volksheere 328

Hoffnung als Anmaassung . .329

Krieg 329

Im Dienste des Fürsten . .330 Eine Frage der Macht, nicht

des Rechts 330

Benutzung der kleinsten Unred- lichkeit 331

Allzu lauter Ton bei Beschwerden 332

Die anscheinenden Wettermacher der Politik 332

Neuer und alter Begriff der Regierung 333

Gerechtigkeit als Parteien -Lock- ruf 334

Besitz und Gerechtigkeit . .334

Der Steuermann der Leiden- schaften 335

Die Gefährlichen unter den Um- sturz-Geistern 336

Politischer Werlh der Vaterschaft 336

Ahnenstolz 337

Sclaven und Arbeiter . . Leitende Geister und ihre Werk- zeuge 338

Willkürliches Recht nothwendig 338 Der grosse Mann der Masse . 339 Fürst und Gott . . ^ . . 340

Meine Utopie 340

Ein Wahn in der Lehre vom

Umsturz 341

Maass 342

Auferstehung des Geistes . . 342 Neue Meinungen im alten

Hause 342

Schulwesen 342

Unschuldige Corruption . . . 343 Gelehrte als Politiker . . . 343 Der Wolf hinter dem Schafe versteckt 343

428

Srtt»

. 337

Glückszeiten 343

Religion und Regierung . . 344 Der Socialismus in Hinsicht auf

seine Mittel 350

Die Entwicklung des Geistes

vom Staate gefürchtet . .351 Der europäische Mensch und

die Vernichtung der Nationen 352 Scheinbare Überlegenheit des

Mittelalters 354

Der Krieg unentbehrhch . . 355

Fleiss im Süden und Norden . 356 Reichthum als Ursprung eines

Geblütsadels 357

Neid und Trägheit in verschie- dener Richtung 358

Grosse Politik und ihre Einbussen 359

Und nochmals gesagt . . . 360

IX. Der Mensch mit sich allein.

Feinde der Wahrheit . . .363

Verkehrte Welt 363

Charaktervoll 363

Das Eine, was noth thut . . 363 Die Leidenschaft für Sachen . 363 Die Ruhe in der That . . . 3f'4

Nicht zu tief 364

Wahn der Idealisten . . . .364

Selbstbeobachtung 364

Der richtige Beruf .... 365 Adel der Gesinnung . . . . 3(j5

Ziel und Wege 365

Das Empörende an einer indi- viduellen Lebensart . . .365 Vorrecht der Grösse . . . .366 Unwillkürlich vornehm . . . 366 Bedingung des Heroenthums . 366

Freund 366

Ebbe und Fluth zu benutzen . 366

Freude an sich 306

Der Bescheidene 367

Neid und Eifersucht . . . .367 Der vornehmste Heuchler . . 367

Verdruss 367

Vertreter der Wahrheit . . . 367 Beschwerlicher noch als Feinde 367

Die freie Natur 368

Jeder in Einer Sache überlegen 368

Trostgründe 368

Die Überzeugungstreuen . . 368 Moralität und Quantität . . . 369 Das Leben als Ertrag des Lebens 369 Die eherne Nothwendigkeit . 369 Aus der Erfahrung .... 369

Wahrheit 369

Grundeinsicht 369

Menschenloos 370

Wahrheit als Circe . . . .370 Gefahr unserer Cultur . . .370 Grösse heisst: Rirhtung-geben 370 Schwaches Gewissen .... 370 Geliebt sein wollen . . . .371 Menschenverachtung . . . .371 Anhänger aus Widerspruch . 371 Erlebnisse vergessen . . . .371 Festhalten einer Meinung . .371

4

Balte

Das Licht scheuen . . . .372 Die Länge des Tages , . .372

Tyrannengenie 372

Das Leben des Feindes . . .372

Wichtiger 372

Abschätzung erwiesener Dienste 373

Unglück 373

Phantasie der Angst . . . .373 Werth abgeschmackter Gegner 373 Werth eines Berufs .... 373

Talent 374

Jugend 374

Zu grosse Ziele 374

Im Strome 374

Gefahren der geistigen Befreiung 374 Verkörperung des Geistes . .374 Schlecht sehen und schlecht hören 375 Selbstgenuss in der Eitelkeit . 375 Ausnahmsweise eitel . . . »375 Die „Geistreichen" . . . -375 "Wink für Parteihäupter . . -375

Verachtung 376

Schnur der Dankbarkeit . . 376 Kunstgriff des Propheten . .376 Das einzige Menschen recht . 376 Unter das Thier hinab . . .376

Halbwissen 377

Gefährliche Hülfbereitschaft . 377 Fleiss und Gewissenhaftigkeit . 377

Verdächtigen 377

Die Umstände fehlen . . . 377 Mangel an Freunden , . .378 Gefahr In der Vielheit . . .378 Den Andern zum Vorbild . .378

Zielscheibe sein 378

Leicht resignirt 378

In Gefahr 379

Je nach der Stimme die Rolle 379

Liebe und Hass 379

Mit Vortheil angefeindet . .379

Beichte 379

Selbstgenügsamkeit .... 3S0 Schatten in der Flamme . . 3S0

29

Sdte

I Eigene Meinuugen .... 380 Herkunft des Muihes . . .380

Gefahr im Arzte 380

Wunderliche Eitelkeit . . .381

Beruf 381

Gefahr persönlichen Einflusses 381 Den Erben gelten lassen . .381

Halbwissen 381

Nicht geeignet zum Parteimann 382 Schlechtes Gedächtniss . . .382 Sich Schmerzen machen . . .382

Märtyrer 382

Rückständige Eitelkeit . . .382 Punctum saliens derLeidenschaft-382 Gedanke des Unmuths . . . 383 Vom Stundenzeiger des Lebens 383 Angreifen oder eingreifen . . 384

Bescheidenheit 384

Des Tages erster Gedanke . . 385 Anmaassung als letztes Trost- mittel 385

Vegetation des Glücks . . .385 Die Strasse der Vorfahren . .386 Eitelkeit und Ehrgeiz als Er- zieher 386

Philosophische Neulinge , Durch 2^1issfallen gefallen . Casus belli und Ähnliches . Leidenschaft und Recht . . Kunstgriff des Entsagenden Lebensalter der Anmaassung Trügerisch und doch haltbar

Lieben lernen 389

Die Ruine als Schmuck . . . 390

Liebe und Ehre 390

Vorurtheil für die kalten Men- schen

Das Gefährliche an freien Mein- ungen

nach tiefem Schmerz 391 über Andere und die

386 387 387 388 388 388 389

390

391

Begierde

Unmuth

Welt

Ursache

und Wirkung ver-

391

wechselt 39»

430

Seite

Seite

Lebensalter und Wahrheit . . Die Menscheu als schlechte

Dichter

Langeweile und Spiel . Lehre aus Bildern .... Stimmklang der Lebensalter Zurückgebliebene und vorweg

nehmende Menschen . Trost für Hypochonder . Der Gegenwart entfremdet . Auf persönlichen Mängeln säen

und ernten

Philosophisch gesinnt sein . Im Feuer der Verachtung .

392

393 393 394 395

395 396 396

397 397 398

Aufopferung 398

Liebe als Kunstgriff .... 398 Zu gut und zu schlechN von der

Welt denken 399

Tiefe Menschen 399

Verkehr mit dem höheren Selbst 400 Einsame Menschen .... 400

Ohne Melodie 401

Leben und Erleben .... 402

Ernst im Spiele 402

Von der Überzeugung und der

Gerechtigkeit 403

Der Wanderer 413

Nachbericht.

Wer das allmähliche Erscheinen von Nietzsche's Schriften miterlebt hat, wird sich entsinnen, welches Befremden 1878 Menschliches, Allzu- menschliches erregte. Man wollte Nietzsche kaum wiedererkennen, man sah in diesem Buch einen Bruch mit Nietzsche's eigner Vergangenheit. Gleichwohl hängt dies Buch mit den vorhergehenden zusammen, es wächst aus ihnen, ja in ihm leben die Rudimente einer schon 1873 mitgeplanten Unzeitgemässen Betrachtung fort, dsren Titel „Der Weg zur Freiheit", später „Der Freigeist" lautete (siehe Bd. X, S. 475, 477).

Mit dieser Betrachtung sollte nach Nietzsche's ursprünglicher Absicht der auf mindestens 13 Nummern angelegte Cyklus der Unzeitgemässen ge- krönt werden. Nietzsche's Entwicklung lief aber rascher, als die Zeit, welche er bei seinem mühevollen Amt und seiner wechselnden Gesundheit für die Ausarbeitung der ganzen Reihe erübrigen konnte: er gedachte jähr- lich zwei solcher Betrachtungen zu fertigen, der Cyklus würde ihn demnach bis 1879 in Anspruch genommen haben. Thatsächlich sind auch die ersten drei Unzeitgemässen in ungefähr halbjährigen Fristen geschrieben; aber über der Ausarbeitung vertieften und weiteten sich die Themen mehr, als von Anfang an abzusehen war (schon die dritte erfuhr im Lauf der Nieder- schrift wichtige Umge-iaitungen), sodass die als vierte geplante „Wir Philo- logen" iheils wegen ihres reichen und schwer zu bewältigenden Materials, theils aus äusseren Gründen (s. die Anmerkung zu S. 309 des i. Bandes der Ges. Briefe Nietzsche's, 3. Aufl.) nicht zu Stande kam und die jetzige vierte (Rieh. Wagner in Bayreuth) aus ähnlichen und anderen Gründen gleichfalls beinahe ohne Abschluss geblieben wäre, wenn nicht Aufmunte- rung und Anlässe von Aussen diesen doch noch herbeigeführt hätten.

Im Frühjahr 1876 notirt sich N. abermals zwei Titel -Verzeichnisse der noch zu schreibenden Unzeitgemässen (gedruckt in Bd. X, S. 477).

432

überschaut man dieselben, so erkennt man in ihnen zum Theil die Auf- schriften der neun Hauptstücke von Menschliches, Alizumenschliches wieder, zum Theil auch Capitelüberschriften aus dem Aphorismenheft „Die Pflug- schar" (Bd. XI, S. 396). Der Inhalt dieses Heftes („Die Pflugschar") ist mir von Nietzsche vor und nach seiner Rückkehr von den ersten Bay- reuther Nibelungen-Aufführungen, im Juni, Juli und September 1876 dictirt worden. Die dort erlebte Erschütterung seines Glaubens an Wagner's Ideal, welcher eine ähnliche Erschütterung bereits im Januar 1874 voraus- gegangen war (s. Bd. X, S. 5 18 f.), hatte ihn zu einer umfassenden Neu- prüfting seiner Gedanken über alle menschlichen Dinge gedrängt. Und so kam während des nun folgenden Urlaubsjahres in Sorrent und in den Alpen jene umfangreiche Sammlung fragmentarischer Aufzeichnungen zu Stande, welche den ganzen Kreis von Nietzsche's nunmehr antiromantischem und übernationalem Denken umschreibt. Alle Themen der noch geplanten Un- zeitgemässen klingen darin auf Einmal an, in einer Sprache, die man an Nietzsche nicht gewohnt war, die aber als Vorstufe seines späteren Stiles nicht wegzudenken ist.

Genauere und ausführliche Angaben über die ersten Notizbücher, Hefte, Pläne und sonstigen Niederschriften zu Menschliches, AUzumenschüches („Sorrentiner Papiere" u. s. w.) enthält der Nachbericht zum XL Band der Gesammtausgabe, welcher Band eine Fülle bedeutender Nachträge zu M. A. I und II bringt. Ueber die innere Geschichte der Wandlung Nietzsche's um das Jahr 1876 wolle man „Das Leben Friedr. N.'s" von Elisabeth Förster-Nietzsche II. Band S. 245 315 nachlesen.

Als Nietzsche am 31. August 1877 von seinem einjährigen Urlaub nach Basel zurückgekehrt war, übernahm ich sofort die Abschrift der in den mitgebrachten Manuscripten kenntlich gemachten Aphorismen und Sen- tenzen. Hierauf begann eine mehrere Wochen dauernde gemeinsame Re- vision des Textes und die Betitelung der Aphorismen, Die endgültige Einreihung der Stücke unter neun Capitel-Überschriften erfolgte gegen Mitte Januar 1878. Am 28. Januar ging das Manuscript an Nietzsche's damaligen Verleger Ernst Schmeitzner in Schloss-Chemnitz ab. Das Titelblatt der ersten Ausgabe trug folgenden Zusatz

„Dem Andenken Voltaire's

geweiht

zur Gedächtniss-Feier seines Todestages,

des 30. Mai 1778."

Auf der Rückseite des Titelblattes war mit kleinen Lettern gedruckt:

„Dieses monologische Buch, welches in Sorrent während eines Winter- aufenthaltes (1876 auf 1877) entstand, würde jetzt der Öffentlichkeit nicht übergeben werden, wenn nicht die Nähe des 30. Mai 1878 den

433

"Wunsch allzu lebhaft erregt hätte, einem der grSssten Befreier des Geistes xar rechten Stunde eine persönliche Huldigung darzubringen."

Im Buche selbst kommt Voltaire nur in Aph. 221, 240, 438 und 463 vor. Ein (dem gegenwärtigen Band in Facsimile beigefügter) als Epilog des Buches gedachter Aphorismus, der nochmals an Voltaire's Sterbetag anknüpft, wurd« von Nietzsche beiseite gelegt. Sodann war hinter dem Titelblatt der ersten Ausgabe folgende Seite aus Descartes' Meditattones de prima philosophia eingeschaltet:

„An Stelle einer Vorrede.

eine Zeit lang erwog ich die verschiedenen Beschäftigungen, denen ^sich die Menschen in diesem Leben überlassen, und machte den Ver- „such, die beste von ihnen auszuwählen. Aber es thut nicht noth, hier „zu erzählen, auf was für Gedanken ich dabei kam: genug, dass für meinen „Tbeil mir nichts besser erschien, als wenn ich streng bei meinem Vor- nhaben verbliebe, das heisst: wenn ich die ganze Frist des Lebens dar- „auf verwendete, meine Vernunft auszubilden und den Spuren der Wahr- „heit in der Art und Weise, welche ich mir vorgesetzt hatte, nachzugehen. „Denn die Früchte, welche ich auf diesem Wege schon gekostet hatte, „waren derart, dass nach meinem Urtheile in diesem Leben nichts An- ngenehmeres, nichts UnschuliHgeres gefunden werden kann; zudem Hess „mich jeder Tag, seit ich jene Art der Betrachtung zu Hülfe nahm, etwas „Neues entdecken, das immer von einigem Gewichte und durchaus nicht „allgemein bekannt war. Da wurde endlich meine Seele so voll von „Freudigkeit, dass alle übrigen Dinge ihr nichts mehr anthun konnten. Aus dem Lateinischen des Cartesius."

Diese herrliche Stelle, wie auch die "Widmung zu Voltaire's Gedächtniss und der Vorvermerk, fiel weg, als Nietzsche im Jahre 1886 eine neue Ausgabe des Buches bei E. W. Fritzsch in Leipzig veranstaltete und sie mit der jetzigen, psychologisch so wichtigen Vorrede und dem Schluss- gedicht „Unter Freunden" bereicherte.

Der gegenwärtige Druck (10. 12. Tausend) giebt den Text in der Fassung wieder, wie ihn die Urausgabe enthielt. Zwar existiren zwei Handexemplare mit vielerlei Bleistift- Eintragungen Nietzsche's, von der Aufnahme dieser Änderungen hat man jedoch abgesehen und dafür im Folgenden ein Verzeichniss derselben aufgestellt. Maassgebend für dies Ver- fahren waren folgende Gesichtspunkte.

Die Änderungen in beiden Handexemplaren gehören verschiedenen Zeiten und Entwicklungsstadien Nietzsche's an, sie sind zum Theil beim absichtslosen Wiederlesen, zum Theil aber auch im Hinblick auf eine radi- kale "Umgestaltung des Buches vorgenommen. An eine solche Umgestaltung Nietische, Werke Band II. 28

434

dachte Nietzsche vorübergehend z. B. im Herbst 1885, als er das damals schon fertig vorliegende „Jenseits von Gut und Böse" (welches, wiederum verändert, erst 1886 gedruckt wurde) mit dem Inhalte des „Menschlichen" verquicken und als Ein Buch herausgeben wollte. Noch im jetzt vorliegen- den „Jenseits" behandeln die ersten Aphorismen dieselben Themen wie die ersten Aphorismen des „Menschlichen". Der Aphorismus 2 des „Jenseits" z. B. (mit der Frage: „wie könnte etwas aus seinem Gegensatz entstehen?") weist ganz auf den Aphorismus i des „Menschlichen" und ist sicher das Ergebniss erneuter Befassung mit den Problemen des „Menschlichen", wie andrerseits die unten S. 432 f.) unter C abgedruckten Umarbeitungen der ersten drei Aphorismen von „Menschliches" für das im erwähnten Sinne geplante „Jenseits" bestimmt waren.

Unmöglich aber konnte Nietzsche bei diesem Vorhaben verweilen; die Menge neu zuströmender Gedanken war zu gross, als dass er sich mit der Umformung eines älteren Werkes hätte lange aufhalten dürfen. Und so Hess er das Angefangene liegen, wissend dass sein Werk, auch wenn es seinem eigenen litterarischen Geschmack hie und da nicht mehr genügen mochte, doch als Dokument einer entscheidenden Epoche seines Denker- lebens auch in seiner ersten Gestalt von bleibendem Werth sein werde.

Demgemäss, und weil die Grenze zwischen den etwa aufzunehmenden und den nicht aufzunehmenden Änderungen Nietzsche's unmöglich zu ziehen war, hat man das Werk von den Änderungen getrennt gehalten.

Weimar, September 1905.

Peter Gast

Lesarten -Verzeichniss.

(Seiten und Zeilen sind nach der vorliegenden Ausgabe angegeben. Cursivdruck bezeichnet die neu eingesetzten oder unterstrichenen Wörter, die Streichungen, [ ] die Zusätze des Herausgebers.)

' A.

Textänderungen Nietzsche's in einem Exemplar der ersten Ausgabe von 1878.

S. 18 f.:

2.

Erbfehler der Philosophen. Alle Philosophen haben den gemeinsamen Fehler an sich, dass sie vom gegenwärtigen Menschen ausgehen und durch eine Prüfung und Zerlegung desselben an's Ziel aller Menschenkenntniss zu kommen meinen. Unwillkürlich schwebt ihnen „der Mensch" als eine aeterna veritas, als ein Gleichbleibendes

435

in allem Strudel des Werdens, als ein sichres Maass der Dinge vor. Zuletzt ist aber Alles, was der Philosoph über „den Menschen" aussagt, . . im Grunde nicht mehr, als ein Zeugniss über den Menschen eines . . beschränkten Zeitraums und vielleicht eines noch beschränkteren Erd'lVinkels? Mangel an historischem Sinn war bisher . . der Erb- fehler aller Philosophen; auch heute noch nehmen sie unversehens die allerjüngste Gestaltung des europäischen Menschen, wie eine solche unter dem Eindruck und Druck .... bestimmter politischer und wirthschaft- licher Ereignisse entstanden ist und entsteht, als die feste Form, von der man ausgehen müsse . . . ,; während .... alles Wesentliche der menschlichen Entwicklung in Urzeiten vor sich gegangen ist, lange vor jenen 4000 Jahren, die wir ungefähr kennen; in diesen mag sich der Mensch nicht wesentlich mehr verändert haben. Umgekehrt urtheilt der Philosoph: er nimmt „Instincte" am gegenwärtigen Menschen wahr und nimmt sofort an, dass alles Instinctive zu den unveränderlichen Thatsachen des Menschen gehöre und insofern einen Schlüssel zum Ver- ständniss des Daseins überhaupt abgeben müsse: die ganze Teleologie ist darauf gebaut, dass man vom Menschen der letzten vier Jahrtausende als von einem ewigen redet, zu welchem hin alle Dinge in der Welt von ihrem Anbeginne eine natürliche Richtung haben. Aber Alles ist geworden; es giebt gar keine ewisen Thatsachen: weshalb es auch keine ewigen Wahrheiten giebt. Demnach ist Geschichte für den Philosophen von jetzt ab nöthig und mit der Geschichte die Tugend des Historikers: Pescheidenheit.

S. 20 Z. 5 v. u. : jener Ernst im Symbolischen

S, 21 Z. 5 v. o.: der geistreiche innige Blick

S. 21 Z. 10 f. V. c: des religiösen, moralischen, . . aesthelischen und l^ gischen Empfindens

S. 31 f.:

16.

Erscheinung und Ding an sich. Die Philosophen pflegen sich vor das Leben und die Erfahrung vor das, was sie die Welt der Erscheinung nennen wie vor ein Gemälde hinzustellen, das Ein für alle Mal entrollt ist und unveränderlich fest denselben Vorgang zeigt: diesen Vorgang, meinen sie, müsse man richtig ausdeuten, um damit einen Schluss auf das AVesen zu machen, welches das Gemälde hervor- gebracht habe: aus jener Wirkung also auf diese Ursache^ auf das Unbedingte, das immer als der zureichende Grund der Welt der Er- scheinung angesehen zu werden pflegt. Dagegen muss man, [indem man] den Begriff des Metaphysischen scharf als den des Unbedingten, y«/^- lich auch Unbedingenden hinstellt, umgekehrt gerade jeden Zu- sammenhang zwischen dem Unbedingten (der metaphysischen Welt) und

28*

436

der uns bekannten "Welt in Abrede stellm: so dass in der Erscheinung eben durchaus nicht das Ding an sich erscheint, und von jener auf dieses jeder Schluss abzulehnen \ist\. Von der ersten Seite wird der Thatbesta7id ignorirt, dass jenes Gemälde das, was jetzt uns Menschen Leben und Erfahrung heisst allmählich geworden ist, ja noch völlig im Werden ist und deshalb nicht als feste Grösse betrachtet werden sollte, von welcher aus man einen Schluss über den Urheber (den zu- reichenden Grund) machen oder auch nur ablehnen dürfte. Dadurch, dass wir seit Jahrtausenden mit moralischen, aesthetischen, religiösen An- sprüchen, mit blinder Neigung, Leidenschaft oder Furcht in die "Welt geblickt und uns in den Unarten des unlogischen Denkens recht aus- geschwelgt haben, ist diese Welt allmählich so wundersam bunt, schreck- lich, bedeutungstief, seelenvoll geworden, sie hat Farbe bekommen, aber wir sind die Coloristen gewesen: der menschliche Intellect, auf Grund der Tnenschlichen Bedürfnisse , der menschlichen Affecte, hat diese „Erscheinung" erscheinen lassen und seine irrthümlichen Grund- auffassungen in die Dinge hineingetragen. [Zweite Hälfte unverändert.]

S. 34 Z. 14 V. o. : Gefühl der Unverantwortlichkeit, der persönlichen Ent- lastung herbeiführen,

S. 50 Z. 2 V. u. : ist ihnen . . höchstens als ein schwacher Schatten be- merkbar.

S. 51 f.: [Im Aphorismus 34 sind folgende Theile eingeklammert: S. 51 Z. 7 V. u. „Wird" bis Z. 6 v. u. „feindlich?". Z. 3 v. u. „oder," bis Z. 2 V. u. „sei?" Z. 2 V. u. „Denn" bis S. 52 Z. 8 v. o. „bestimmen)." Z. I2f. , wie der Ehre,".]

S. 52 Z. 9 V. o.: tief in die Unwahrkeit eingesenkt;

S. 52 Z. 16 und 15 V. u.: eine Philosophie der Auflösung, Auseinander' lösung. Selbst -Vernichtung nach sich zöge?

S. 57f.:

35. Von der moralistischen Oberflächlichkeit in Deutsch- land. — Dass das Nachdenket über Menschliches, Allzumenschliches , . .zu den Mitteln gehöre, vermöge deren man sich die Last des Lebens erleichtern könne, dass die Übimg in dieser Kunst Geistesgegen- wart in schwierigen Lagen und Unterhaltung inmitten einer langweiligen Umgebung verleihe, ja dass man den dornenvollsten und unerfreulichsten Strichen des eigenen Lebens Sentenzen abpflücken und sich dabei ein wenig wohler fühlen könne: das glaubte man, wusste man in früheren Jahrhunderten. Warum vergass es dieses Jahrhundert, wo wenigstens in Deutschland .... die moralistische Armseligkeit durch viele Zeichen sich zu erkennen giebt? Ja, man möchte zweifeln, ob Deutschland über- haupt bisher schon „moralisirt"' hat Man gebe Acht auf die

437

Beiirtheilung öffentlicher Ereignisse und Persönlichkeiten: man erwäge den Erfolg, welchen lächerlich-enge, altjiingfernhafte Bücher (zum Beispiel Vilmar's Litteraturgeschichte ocUr Janssen [haben,] vor Allem aber gestehe man sich ein, wie die Kunst und auch die Lust der psy- chologischen Zergliederung und Zusamraeurechnung in der Gesellschaft aller deutschen Stände fehlt, in der man wohl viel über Menschen, aber gar nicht über den Menschen spricht. Warum doch lässt man sich den reichsten und harmlosesten Stoff der Unterhaltung entgehen? Warum liest man nicht einmal die grossen Meister der psychologischen Sentenz mehr? denn, ohne jede Übertreibung gesprochen: der Ge- bildete in Deutschland, der Larochefoucauld und seine Geistes- und Kunst- verwandten bis hin zum letzten grossen Moralisten Stendhal gelesen hat, ist selten zu finden; und noch viel seltener der, welcher sie kennt und sie nicht schmäht. Wahrscheinlich wird aber auch dieser ungewöhn- liche Leser viel weniger Freude an ihnen haben, als die Form jener Künstler ihm geben sollte; denn selbst der feinste Kopf ist nicht ver- mögend, die Kunst der Sentenzen-Schleiferei gebührend zu würdigen, wenn er nicht selber zu ihr erzogen ist, in ihr gewetteifert hat gleich mir: man vergebe mir den Anspruch, unter Deutschen eine Ausnahme tu sein. Man nimmt, ohne solche praktische Belehrung, dieses Schaffen und Formen für leichter als es ist, man fühlt das Gelungene und Reiz- volle nicht scharf genug heraus. Deshalb haben die deutschen Leser von Sentenzen ein verhältnissmässig unbedeutendes Vergnügen an ihnen, ja kaum einen Mund voll Annehmlichkeit, so dass es ihnen ebenso geht wie den gewöhnlichen Betrachtern von Kameen: als welche loben, weil sie nicht lieben können, und schnell bereit sind zu bewundem, schneller aber noch, fortzulaufen.

S. 59 unten ist als Schluss des Aphorismus 36 angefügt (vgl. S. 61 Z. 4 bis 15 V. 0.):

Zuletzt ist auch das noch wahr: zahllose einzelne Bemerkungen über Menschliches und Allzumenschiiches sind in Kreisen der Gesellschaft zu- erst entdeckt und ausgesprochen worden, welche gewohnt waren, nicht der wissenschaftlichen Erkenntniss, sondern einer geistreichen Gefallsucht jede Art von Opfern darzubringen; und fast unlösbar hat sich der Duft jener alten Heimat der moralistischen Sentenz ein sehr verführerischer Duft der ganzen Gattung angehängt: so dass seinetwegen der wissen- schaftliche Mensch unwillkürlich einiges Misstrauen gegen diese Gattung und ihre Ernsthaftigkeit merken lässt.

S. 60 f.

37- Trotzdem. Wie es sich nun mit Rechnung und Gegenrechnung verhalte: in dem gegenwärtigen Zustande der Philosophie ist die Auf-

- 438 _

erweckung der tnoralistischen Beobachtung nöthig . ., und der grausame Anblick des psychologischen Secirtisches und seiner Messer und Zangen kann der Menschheit nicht erspart bleiben Z)ie ältere Philo- sophie .... ist der Untersuchung von Ursprung und Geschichte der vtenschlichen Werthschätzungen unter dürftigen Ausflüchten immer aus dem Wege gegangen. Mit welchen Folgen: das lässt sich jetzt sehr deutlich überschauen, nachdem an vielen Beispielen nachgewiesen ist, wie die Irrthümer der grössten Philosophen gewöhnlich ihren Ausgangspunkt in einer falschen Erklärung bestimmter menschlicher Handlungen und Empfindungen haben, wie auf Grund einer irrthümlichen Analysis, zum Beispiel der sogenannten unegoistischen Handlungen, eine falsche Ethik sich aufbaut, dieser zu Gefallen dann wiedenmi Religion und mytho- logisches Unwesen zu Hülfe genommen werden, und endlich die Schatten dieser trüben Geister auch in die Physik und die gesammte Weltbetrach- tung hineinfallen. Steht es aber fest, dass die moralistische Oberflächlich- keit dem menschlichen Urtheilen und Schliessen bisher die gefahrlichsten Fallstricke gelegt hat vmd fortwährend von Neuem legt, so bedarf es jetzt jener Ausdauer der Arbeit, welche nicht müde wird. Steine auf Steine, Steinchen auf Steinchen zu häufen, so bedarf es der enthaltsamen Tapferkeit, um sich einer solchen bescheidenen Arbeit nicht zu schämen und jeder Missachtung derselben Trotz zu bieten. . . .

[Am rechten Rande steht hier Allmählich hat sich mir Diese vier Worte sind der Anfang des Aphor. 6 in „Jenseits v. G. u. B.", woraus zu entnehmen ist, dass die von Nietzsche gemachten Änderungen und Ein klammer ungen (s. zu S. 62 u. 63) sich wahrscheinlich auf die S. 424 erwähnte Verquickung des Inhalts von „Menschl., Allzum." und „Jenseits" zu einem neuen Buche, beziehen.]

S. 62 f.: Aphorismus 38 ist vom zweiten Satze an eingeklammert und durchgestrichen. Der erste Satz sollte anscheinend (mit der Variante „nicht fnehr enlrathen kann" am Schlüsse) an den Anfang des vorher- gehenden Aphorismus gestellt werden, ist dann aber auch gestrichen.]

S. 63 Z. 12 V. o.: der nützlichen oder schädlichen Folgen wegen, welche sie für die Gemeinde, haben. [Dieser Zusatz ist, anscheinend nachträg- lich, eingeklammert.]

S. 63 Z, 14 f. V. u.: also dadurch, dass man, was Folge ist, als Ur- sache fasst.

S. 64 Z. 6 f. V. o.: dass die Geschichte der moralischen Werthschätzungen zugleich die Geschichte eines Irrthums,

S. 64 Z. 14 18 V. o.; wie es doch auch nach der Meinung dieses Philosophen verläuft sondern der Mensch selber mit derselben Noth- wendigkeit gerade dieser Mensch wäre, der er ist was Schopenhauer leugnet.

439

S. 64 Z. 2 V. u. bis S. 65 Z. 10 V. o. : Hier wird, abgesehen von der eigffitlichen Tollheit der letztgegebenen Behauptung, der Fehlschluss ge- macht, dass aus der Thatsache des Unmuthes schon die Berechtigung, die vernünftige Zulässigkeit dieses Unmuthes geschlossen wird; erst von jenem Fehlschluss aus kommt Schopenhauer zu seiner phantastischen Consequenz der sogenanuten intelligiblen Freiheit. (An der Entstehung dieses Fabelwesens sind Plato und Kant zu gleichen Theilen mitschuldig.) Aber der ünmuth nach der That braucht noch gar nicht vernünftig zu sein: ja er ist es gewiss nicht, denn er ruht auf der irrthümlichen Vor- aussetzung, dass die That eben nicht nothwendig hätte erfolgen müssen. Also: nur weil sich der Mensch für frei hält, nicht aber weil er frei ist, empfindet er Reue und Gewissensbisse.

[Der Schluss des Aphorismus von „Aber der Unmuth" (S. 65 Z. 4) an ist eingeklammert.]

S. 66 Z. 3 V. o.: als eines A'bcrÄ-Nicht-Menschen , [der Schluss des Apho- rismus von „woraus" (S. 66 Z. 2) an ist eingeklammert.]

S. 66 Z. 10 v. o. : die einwirkenden netten Motive

S. 67 Z. 6 f. V. o.: wird nicht nach moralischen Gesichtspunkten auf- und umgestellt;

S. 96: [Die Nummer des Aphorismus 95 ist eingeklammert.]

S. 97:

96.

Sitte und sittlich. Moralisch, sittlich, tugendhaft sein heisst Gehorsam gegen ein altbegründetes Gesetz und Herkommen üben. Ob man mit Mühe oder gern sich ihm unterwirft, ist dabei lange Zeit gleich- gültig, genug dass man es thut. „Gut" nennt man endlich den, welcher wie von Natur, nach langer Vererbung, also leicht und gern das Sitt- liche thut, je nachdem dies ist (zum Beispiel Rache übt, wenn Rache- üben, wie bei den älteren Griechen, zur guten Sitte gehört). Er wird gut genannt, weil et „wozu" gut ist; da aber Wohlwollen, Mitleiden, Rücksicht, Mässigung und dergleichen in dem Wechsel der Sitten zu- letzt immer als „gut wo^u", als nützlich empfunden wurde, so nennt man später vornehmlich den Wohlwollenden , Hülfreichen „gut" anfänglich standen andere und wichtigere Arten des Nützlichen in [oder im von Nietzsche nicht beendet]. Böse ist „nicht sittlich" (un- sittlich) sein, Unsitte üben, dem Herkommen widerstieben, wie ver- nünftig oder dumm dasselbe auch sei; das Schädigen der Gemeinde (und des in ihr begriffenen „Nächsten'y ist aber in allen den Sittengesetzen der verschiedenen Zeiten vornehmlich als die eigentliche „Unsitte" empfunden worden, so dass wir jetzt . . bei dem Wort „böse" zuerst an die freiwillij^e Schädigung des Nächsten und deit Gemeinschaf t denken. Nicht das „Egoistische" und das „Unegoistische'' ist der Grundgegen-

44^

satz, welcher die Menschen zur Unterscheidung von Sittlich und Un- sittlich, Gut und Böse gebracht hat, sondern: Gebundensein an ein Herkommen, Gesetz, und Lösung davon. Wie das Herkommen entstanden ist, das ist dabei gleichgültig, jedenfalls ohne Rücksicht auf Gut und Böse oder irgend einen immanenten kategorischen Imperativ, sondern vor Allem zum Zweck der Erhaltung einer Gemeinde, einer Geschlechtsgenossenschaft, eines Volkes;

[Der Schluss ist unverändert. Der zweite Satz des Aphorismus, Ton „„Gut" bis „gehört)." ist eingeklammert.]

S. IOC f.: [Der Aphorismus 99 ist theilweise eingeklammert: zunächst vom Titel bis zum Gedankenstrich S. 100 Z. i v. u., sodann von diesem Gedankenstrich an bis zum "Worte „unschuldig." S. lOl Z. 10 v. 0.]

S. loi Z. 13 V. u.r wenn ein stärkeres Individuum

S. 103 Z. 17 und 16 V. u.: zu glauben gewohnt \isi\, so empfindet man

S. 103 f.: [Der Schluss des Aphorismus loi ist von „Der Egoismus" S. 103 Z. 2 V. u. an eingeklammert.]

S. 104: [Die Nummer des Aphorismus io2 ist eingeklammert.]

S. 107: [Der Schluss des Aphorismus 104 ist von „Ohne Lust" an ein- geklammert.]

S. 116 Z. 6 V. o. : die falschen Behauptungen der homines religiosi,

S. 116 Z. 10 und 9 V. u. : dass der Mensch sich an der erkannten Wahr- heit, richtiger: am durchschauten Irrthum verblute.

S. 120 Z. 12 V. u. : dass der consensus gentium nur einer Narrheit gelten kann.

S. 121 Z. 2 V. u. bis S. 122 Z. 9 V. o. : Wir jetzigen Menschen emp- finden gerade . . umgekehrt: je reicher jetzt der Mensch sich innerlich fühlt, je polyphoner die Musik und der Lärm seiner Seele ist, um so gewaltiger wirkt auf ihn das Gleichmaass der Natur; wir Alle erkennen mit Goethe in der Natur das grosse Mittel der Beschwichtigimg für die moderne Seele, wir hören den Pendelscblag dieser grössten Uhr mit einer Sehnsucht nach Ruhe, nach Heimisch- und Stillewerden an, als ob wir dieses Gleichmaass in uns hineintrinken und dadurch erst zum Genuss unser selbst . . kommen könnten.

S. 126 Z. 15 12 V. u. : ein aus einer sehr fernen Vorzeit hereinragendes Alterthum, und dass man ihrer Behauptung überhaupt yioch glaubt während man sonst so streng in der Prüfung von Ansprüchen geworden ist ,

S. 136 Z. 6 und 5 v. u.: welches allein jener Handlungen fÄhig sein soll, die unegoistisch genannt werden,

S. 137 Z. 5 und 4 v. u. : (welche ihren Grund doch immer in einem per- sönlichen BedürfnftS haben mussj?

S. 137 Z. 2 und I V. u.: wie ein solcher gelegentlich angenommen wird,

441

S. 138 Z. II 15 V. o. : [Der Satz über R^e ist eingel<lammert.]

S. 138 Z. 16 V. u.: so ist letzteres auch noch aus dem Grunde unmöglich,

S. 141 Z. 16 und 15 V. u.: soll durchaus unerklärlich,

S. 143 Z. 8 f. V. o, : (welche, dauernd und zur Gewohnheit geworden, Heiligkeit heisst),

S. 237 Z. I f. V. o.: über Alle erheben und uns nunrnehr als die Ein- zigen fühlen,

S. 347 Z. 2 V. u.: von einer solchen Regierung

S. 348 Z. 9 V. o. ; gegen alles dergestalt Regierende,

S. 353 Z. 10 8 V. u. : Sobald es sich nicht mehr um Conservirung (oder Errichtung ) von Nationen, sondern um die Erzeugung und Züchtung einer möglichst kräftigen europäischen Mischrasse handelt,

S. 354 S. 6v. o.: den //<fÄfz^o//!lf/tf» Menschen (Christus), den r*tA/jcAa^<f«j/«/ Weisen (Spinoza),

S. 410 Z. 9 V. o.: Es mögen seihst geistreiche Leute

S. 410 Z. 14 II V. u.: Eine Meinung haben heisst bei ihnen schon: sofort auch sich für sie fanatisiren und sie endlich als Überzeugung . . sich an's Herz legen.

S. 413 erster Satz: Wer nur einigermaassen zur Freiheit der Vernunft kommen will, darf sich auf Erden lange Zeit nicht anders fühlen denn als Wanderer und nicht einmal als Reisender nach einem letzten Ziele: denn dieses giebt es nicht.

B.

Textänderungen Nietzsche's in einem Exemplar der Neuen Ausgabe von 1886.

S. 17 Z. 5 V. o. : aus seinem Gegensatz

S. 17 Z. 8 f . V. o. : Leben für Andere aus Selbstsucht,

S. 17 Z. 9 15: Die metaphysische Philosophie half sich bisher über diese Schwierigkeit hinweg, insofern sie einfach die Entstehung des Einen aus dem Andern leugnete und für die höher gewertheten Dinge einen eigenen Ursprung annahm, unmittelbar aus dem An-sich der Dinge her- aus. Die Philosophie des Werdens dagegen,

S. 140 Z. 3 5 Z. o.: im Bunde mit der nothwendigen Abschwächung jeder tiefen Erregung durch die Zeit, den Sieg davongetragen:

S. 225 Z. 6 und 5 V, u. : Huss,

S. 228 Z. 8 und 7 V. u. : und diese Kraft dabei noch geübt und ver- mehrt bat:

S. 290 Z. 6 und 5 T. u.; in manchem Menschen . . . grösser

S. 359 Z. 8 f. V. 0.: die Summe von fünf Milliarden

442

C.

Anfang

einer geplanten Totalumarbeitung

aus dem Herbst 1885.

I.

Chemie der Begriffe und Werthgefühle. Die philo- sophischen Probleme nehmen jetzt wieder fast in allen Stücken dieselbe Form der Frage an, wie vor zweitausend Jahren: wie kann etwas aus seinem Gegensatz entstehen, zum Beispiel Vernünftiges aus Ver- nunftlosem, Empfindendes aus Todtem, Logik aus Unlogik, interesseloses Anschauen aus begehrlichem Wollen, Leben für Andere aus Selbstsucht, Wahrheit aus Irrthümern? Die metaphysische Philosophie half sich bis- her über diese Schwierigkeit hinweg, insofern sie einfach die Entstehung des Einen aus dem Andern leugnete und für die höher gewertheten Dinge einen eigenen Ursprung annahm, unmittelbar aus dem An-sich der Dinge heraus. Eine umgekehrte Philosophie dagegen, .... die allerjüngste und radikalste , die es bisher gegeben hat, eine eigentliche Philosophie des Werdens, welche an ein „An-sick^^ überhaupt nicht glaubt und folglich ebensowohl dem Begriffe „Sein" als dem Begriffe „Ersclieimcng^^ das Bürgerrecht verweigert : eine solche antitnetaphy- sische Philosophie hat mir in einzelnen Fällen wahrscheinlich gemacht ( und vermuthlich wird dies in allen ihr Ergebniss sein), dass jene Fragestellung falsch ist, dass es jene Gegensätze gar nicht giebt, an welche die bisherige Philosophie geglaubt hat, verführt durch die Sprache und die in ihr gebietende Nützlichkeit der Ver grober unsr und Vereinfachung, kurz, dass man vorerst eine Chemie der Grund- begriffe nöthig hat, diese als ge-vorden und noch werdend voraus- gesetzt. Um mit solchen groben und viereckigen Gegenüberstellungen wie „egoistisch" und „unegoistisch", „Begierde" und „Geistigkeit", „lebendig" und „todt", Wahrheit" und „Irrthum", ein für alle Mal fertig zu werden, bedarf es einer mikroskopischen Psychologie ebenso- sehr als einer Geübtlieit in aller Art historischer Perspektiven-Optik, wie eine solche bisher noch nicht da war und nicht einmal erlaubt war. Philosophie, so wie ich sie will und verstehe, hatte bisher das Gewissen gegen sich: die moralischen, religiösen und ästhetischen Imperative sagten Nein zu einer Methodik der Forschung, welche hier verlangt wird. Man muss sich vorerst von diesen Imperativen gelöst haben: man muss, wider sein Gewissen, sein Gewissen selbst secirt haben ... Die Historie der Begriffe uud der Begriffs -Venvand- lung unter der Tyrannei der Werthgefühle versteht ihr das? Wer

443 --

hat Ltist und Muth genng, solchen Untersuchungen zu folgen? Jetzt, wo es vielleicht zur Höhe der erreichten Vermenschlichung selbst gehört, dass der Mensch einen Widerstand fühlt gegen die Geschichte setner Anfänge, dass er kein Auge haben will gegen alle Art pudenda origo: muss man nicht beinahe unmenschlich sein, nm gerade in der umge- kehrten Richtung sehen, suchen, entdecken zu wollen?

Der Erbfehler der Philosophen. Bisher litten die Philo- sophen allesammt an dem gleichen Gebrechen, sie dachten unhisto- risch, widerhistorisch. Sie giengen vom . . Menschen aus, den ihre Zeit und Umgebung ihnen darbot, am liebsten sogar von sich und von sich allein; sie glaubten schon durch eine Selbst-Analysis zum .Ziel zu kommen, zu einer Kenntniss „des Menschen". Ihre eigenen Werth- gefühle (oder die ihrer Kaste, Rasse, Religion, Gesundheit) galten ihnen als unbedingtes Werthmaass ; nichts war ihnen fremder und wider- licher als jene Selbstentsagung des eigentlich wissenschaftlichen Gewissens: als welches in einer wohlwollenden Verachtung der Person, jeder Person, jeder Personal-Perspektive seine Freilieit geniesst. Diese Philosophen waren vorallererst Personen; jeder sogar empfand bei sich „ich bin die Person selber", gleichsam die aeterno veritas vom Menschen, „Mensch afi sich". Aus dieser unhistorischen Optik, die sie gegen sich selber übten, ist die grösste Zahl ihrer Irrthiimer abzu- leiten, — vor allem der Grundirrthiim, überall das Seiende zu suchen, überall Seiendes voratiszusetzen, überall IVechsel, Wandel, Widerspruch mit Geringschätzung zu behandeln. Selbst unter dem Druck einer von der Historie beherrschten Cultur ( wie es die deutsche Cultur an der Wende des Jahrhunderts war) wird sich der typische Philosoph mindestens noch als Ziel des ganzen Werdens, auf welches alle Dinge von Anbeginn ihre Richtung nehmen, präsentiren: dies war das Schauspiel, welches seiner Zeit Hegel dem erstaunten Europa bot.

Schätzung der unscheinbaren Wahrheiten. Es ist das Merkmal eines stärkeren und stolzeren Geschmacks, so leicht es sich auch als dessen Gegentheil ausnimmt, die kleinen unscheinbaren vor- sichtigen Wahrheiten, welche mit strenger Methode gefunden wurden, höher zu schätzen als jene weiten sch'vebenden umschleiernden Allgemein- heiten , nach denen das Bedürfniss religiöser oder künstlerischer Zeitalter greift. Menscfien, deren intellektuelle Zucht zurückgeblieben ist oder, aus guten Gründen, zurückgehalten werden muss ( der

444

Fall der IVeiber) haben gegen jene kleinen Gewissheiten etwas wie Hohn auf den Lippen; einem Künstler zum Beispiel sagt eine physio- logische Entdeckung nichts: Grund genug für ihn, gering von ihr zu denken. Solche Rückständige , welche gelegentlich die Richter tu spielen sich beikommen lassen ( die drei Rückständigsten grossen Stils, welche unsere Zeit aufzuweisen hat, haben es alle drei gethan: Victor Hugo für Frankreich, Carlyle für England ^ Wagner für Deutschland), weisen mit Ironie darauf hin [bricht ab].

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