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F. SCHLEIERMACHER.

ZWEITEN THEILES ERSTER BAND.

DRITTE AUFLAGE.

BERLIN. DRUCK UND VERLAG VON GEORG REIMER. 1856.

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INHALT.

Seite

117

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PLATONS ΝΥ καὶ κα ἢ.

ZWEITEN THEILES ERSTER BAND.

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EINLEITUNG.

Wi. alle bisher vorgelegten grösseren Gespräche des Platon, so ist auch dieses in Absicht auf seine Hauptbedeutung fast überall missverstanden worden. Denn auch das ist, beim Platon zumal, für ein gänzliches Missverstehen zu rechnen, wenn etwas nur halb verstanden wird, weil wo die Verbindung der Theile unter einander und ihr Verhältniss zum Ganzen verfehlt wird, auch jede richtige Emsicht in das Einzelne und jedes gründliche Verstehen unmöglich wird. Wie nun im Phaidros die Meisten die Rhetorik zu sehr übersahen, und deshalb die Bedeutung des Ganzen schwerlich zu ahnden vermochten: so haben sie hier, gleichfalls von einer zweiten unstreitig späteren Ueberschrift des Gesprächs ‚‚oder von der Rede- kunst” verführt, allzuviel Gewicht auf die Rhetorik gelegt, und alles übrige nur für Abschweifungen und gelegentliche Erörterungen gehalten. Andere wiederum haben auf anderes Einzelne gesehen, etwa auf die vom Kallikles vorgetragene Lehre vom Recht des Stärkeren und auf des Sokrates Widerlegung derselben; oder auf das zu Herabsezung der Poesie beigebrachte, und haben so den klugen Gedanken zusammengefolgert, es enthalte der Gorgias die ersten Grundzüge von demjenigen, was, ich weiss nicht ob sie meinen früher oder später, in den Büchern vom Staate ausführ- licher abgehandelt worden. Ein Gedanke welcher, eben weil er klüger ist, als er weiss, gar nichts bestimmtes aussagt von der besondern Beschaffenheit des Werkes. Denn welches irgend be- deutende des Platon enthielte wol nicht, richtig verstanden, solche Grundzüge? Soviel aber ist ohne weitere Ausführung klar, dass bei jeder von diesen Ansichten der so besonders herausgehobene Theil des Ganzen nur in gar loser Verbindung mit den übrigen erscheint, und dass vornehmlich die Untersuchung über die Natur der Lust, wenn man das Ganze so betrachtet, fast nur als ein

6 GORGIAS.

müssiges wunderlich angeseztes Beiwerk kann angesehen werden. Allein derjenige muss den Platon wenig kennen, der nicht soviel gleich herausfindet, dass wo dergleichen etwas vorkommt, und zwar so tief eingehend, dies gewiss unter allem verhandelten das wich- tigste und der Punkt sein muss, von welchem aus allein auch alles übrige in seinem wahren Zusammenhange kann verstanden, und eben darum auch die innere Einheit des Ganzen gefunden werden. Und auf diese Weise angesehen erscheint eben der Gor- gias als dasjenige Werk, welches an die Spize des zweiten Theils der Platonischen Schriften muss gestellt werden, von dem in der allgemeinen Einleitung behauptet. wurde, dass die dahin gehörigen Dialogen, in der Mitte stehend zwischen den elementarischen und den constructiven, im Allgemeinen nicht mehr so wie jene ersteren von der Methode der Philosophie handelten, sondern von ihrem Object, um es vollständig aufzufassen, und richtig zu unterschei- den, doch aber noch nicht wie diese lezieren die beiden realen Wissenschaften Physik und Ethik eigentlich darzustellen, sondern nur vorbereitend und fortschreiiend zu bestimmen suchten; und dass sie sich durch eine weniger als im ersten Theile gleichförmige, aber besonders künstliche und fast schwere Construction, sowol einzeln als in ihrem Zusammenhange unter einander betrachtet auszeichneten. Diese Ansicht also sei nun hier einleitend in eben diesem zweiten Theil der gesammten Platonischen Werke nochmals ausdrükklich aufgestellt. Wird sie nun auf das vorliegende Ge- spräch unmittelbar angewendet, und seine Stellung ihr gemäss gerechtfertiget: so ist damit zugleich auch alles gesagt, was zum Verständniss desselben vorläufig kann beigebracht werden.

Der Anschauung des Wahren und Seienden, welches eben desbalb das Ewige, und Unveränderliche ist, mit der wie wir ge- sehen haben alle Darstellung der Platonischen Philosophie anfing, steht gegenüber die eben so allgemeine und für das gemeine Den- ken und Sein nicht minder ursprüngliche Anschauung des Wer- denden, ewig Fliessenden und Veränderlichen, unter welcher doch zugleich alles Thun und Denken, wie es in der Wirklichkeit kann

ergriffen werden, mit befasst bleibt. Daher denn die höchste und -

allgemeine Aufgabe der Wissenschaft keine andere ist, als dass jenes Seiende in diesem Werdenden ergriffen, als das Wesentliche und Gute dargestellt, und so der scheinbare Gegensaz zwischen jenen beiden Anschauungen, indem er recht zum Bewussisein ge- bracht wird, zugleich aufgelöst werde. Diese Vereinigung aber zerfällt immer in zwei Momente, auf deren verschiedener Beziehung

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EINLEITUNG. 7

auf einander die Verschiedenheit der Methode beruht. Von der Anschauung des Seienden ausgehend in der Darstellung bis zum Aufzeigen des Scheins fortzuschreiten, und so erst mit der Lösung des Gegensazes zugleich dessen Bewusstsein aufzuregen und zu erklären, das ist die in Beziehung auf die Wissenschaft unmittel- ‚bare Verfahrungsart. Von dem Bewusstsein des Gegensazes aber als einem Gegebenen ausgehend zu jener Anschauung als dem Auflösungsmittel desselben fortzuschreiten, und eben durch die Nothwendigkeit eines solchen Mittels auf sie hinzuleiten, das ist die Weise, welche wir die miltelbare genannt haben, und welche aus vielerlei Ursachen dem der ethisch angefangen hat vornehmlich geziemend, vom Platon in die Mitte ist gestelit worden, als das wahre Bindungs- und Bildungsmitiel von der ursprünglichen An- schauung, mit welcher er elementarisch anhebt, zu der construc- tiven Darstellung, mit welcher er systematisch endiget. Wie sich nun in diesem Gegensaz für die Physik das Wesen und der Schein oder die Wahrnehmung gegen einander verhalten, so für die Ethik das Gute und die Lust oder die Empfindung. Daher wird dann der Hauptgegenstand für den zweiten Theil der Platonischen Werke und ihre gemeinschaftliche Aufgabe, um es in einem Worte zu- sammen zu fassen, die sein, zu zeigen, dass Wissenschaft und Kunst nicht könne ausgefunden sein, sondern nur ein trügerischer Schein von beiden obwalten müsse, überall wo noch jene beiden, das Wesen mit der Erscheinung, und das Gute mit der Lust ver- wechselt werden. Und an der Lösung dieser Aufgabe wird natür- lich auf einem zwiefachen Wege gearbeitet, indem, ohne jedoeh beides in verschiedenen Schriften gänzlich zu trennen, theils das bisher für Wissenschaft und Kunst gehaltene in seinem Unwerth aufgedekkt wird, theils Versuche gemacht werden, eben vom Er- konnen jenes Gegensazes aus das Wesen der Wissenschaft und . Kunst und ihre Grundzüge richtig darzustellen. Der Gorgias nun steht.. deshalb an der Spize dieses Theils, weil er vorbereitend mehr 'bei jenem stehen bleibt als auf dieses sich einlässt, und ganz von der ethischen Seite ausgehend die hier stattfindende

- Verwirrung bei beiden Enden auflasst, bei der innersten Gesinnung, "als der Wurzel, und bei der zu Tage ausgehenden Anmassung, als den Früchten. Dagegen die andern Gespräche sämmtljch theils weiter zurükkgehen in der Betrachtung des scheinbar wissenschaft- lichen, theils weiter vorwärts in der Idee der wahren Wissenschaft, iheils auch andere spätere Folgerungen enthalten, aus dem, was bier zuerst vorbereitet wird.

8 GORGIAS,.

Wie wir nun von hier aus einen natürlichen Zusammenhang erblikken zwischen den beiden Hauptsäzen, welche den Unterred- nern des Sokrates in diesem Gespräche erwiesen werden, dass sie nämlich nur fälschlich sich anmassten an ihrer Redekunst eine Kunst zu besizen, und dass sie in tiefem Irrthum befangen wären bei ihrer Verwechselung des Guten mit dem Angenehmen: so er- klärt sich eben auch hieraus die besondere Art, wie jedes erwiesen wird, und die Anordnung des Ganzen. Denn wo vom Guten die Rede und das ethische Bestreben das herrschende ist, da muss auch, wenn anders Einheit im Ganzen vorhanden sein soll, das Wahre mehr in Beziehung auf die Kunst betrachtet werden, als auf die Wissenschaft. Von der Kunst aber ist hier auch ganz im Allgemeinen die Rede, indem das Gespräch alles umfasst, von ihrem grössten Gegenstande dem Staat bis auf den kleinsten, die Ver- schönerung des sinnlichen Lebens; nur nach seiner Gewohnheit braucht Platon am liebsten das Grösste als Schema und Darstellung des Allgemeinen, und das Kleinere wiederum als Beispiel und Er- läuterung für das Grössere, damit sich niemand in dem Objekt des lezteren, das doch auch immer nur ein Einzelnes bleibt, wider seine Absicht verliere. Die Rhetorik nämlich wird hier, wol zu merken, für die gesammte scheinbare Politik, aber auch nur für sie gebraucht, und deshalb vorzüglich der Eingang des Protagoras, man möchte sagen fast wörtlich, hier wieder aufgenommen, um durch die veränderte Wendung desto sicherer aufmerksam zu ma- chen auf diese näher bestimmende Abweichung von dem früheren Gebrauch des Wortes dort und im Phaidros, und auf die auch hier noch mehr angedeutete als ausgeführte und in Ordnung ge- brachte Absonderung der Sophistik von der Rhetorik, so dass leztere von der Kunstseite der Scheinwissenschaft alles dasjenige enthalten soll, was sich auf das grösste Objekt aller Kunst, den Staat, bezieht, die Sophistik aber, wie anderwärts weiter ausgeführt wird, das scheinbare Verkehr mit den Prineipien selbst enthält. Denn wenn Sokrates auch die Rhetorik nur mit der Rechtspflege, die Sophistik hingegen mit der Gesezgebung vergleicht: so ist doch unstreitig der eigentliche Sinn dieser, dass die Sophistik das Er- kennen der lezten Gründe nachahmen soll, aus denen allerdings das ursprüngliche Gestalten unmittelbar hervorgeht, die Rhetorik aber deren Anwendung auf ein Gegebenes. Gerade dieselbe Be- wandtniss hat es auch nach der alten Idee mit der Gymnastik, an welcher die vollendete Anschauung des menschlichen Körpers mit den Principien seiner Erhaltung und Darstellung eins und dasselbe

EINLEITUNG. 9

ist, dagegen die Rhetorik wie im gewöhnlichen Sinne auch die Politik immer nur Heilkunde bleibt, und auf ein schon vorhan- denes Fehlerhaftes jene Grundsäze anwendet. Hiebei nun, das bloss Scheinbare der Redekunst aufzudekken, hat es Sokrates mit den Künstlern selbst zu tihun, dem Gorgias und Polos. Die Ver-- wechselung des Angenehmen mit dem Guten wird dagegen am Kallikles gezeigt, den eben die gleiche Gesinnung zu ihrem Schüler gemacht hatte, und sodann in dem lezten Abschnitt, worin So- krates alles wiederholt, beides als in Einem Uebel gegründet und auf Ein Bedürfniss hinweisend dargesteli. Doch findet man hier, wie es dem Platon im Ganzen natürlich ist, auch im Einzelnen keine strenge Trennung in den verschiedenen Abschnitten.

In dem ersten nun zeigt Sokrates dem Polos, welchem Platon, wir wissen nicht ob mit grossem Recht, schon einen beschränk- teren Zwekk seiner Belehrungen beilegt, als ginge er nur auf geschikkte Leitung des bürgerlichen Lebens, nicht irgend auf ein Lehren der Tugend aus, diesem zeigt Sokrates aus seiner und der andern Rheioren Handlungsweise selbst, dass Recht und Unrecht, welche er doch als die Gegenstände seiner Kunst anerkennen muss, auch nicht einmal als ein gewusstes irgend in ihr enthalten wäre oder durch sie gegeben würde. Dem Polos aber werden das Wesen und die Verhältnisse der Scheinkunst noch näher aufge- dekkt, und ihm an sich selbst gezeigt, dass in dem Begriffe des Schönen, den er doch nicht als leer von sich weisen, sondern ihm eine eigene Sphäre zugestehen will, das Unrechtthun ärger er- scheine als das Unrechileiden, welches mittelbar auf eine Unter- scheidung des Guten und Angenehmen hinführt. Auch hier liegt die Vergleichung mit dem Protagoras nahe, um zu sehen, welchen Gebrauch Platon bei seinen indirekten Untersuchungen von dem Begriff des Schönen macht, indem er ihn nämlich bloss formell aufstellt, und sich ihn zugeben lässt als einen eigenen, und dann dialektisch sein Verhalten zu den andern gleichartigen, über die man auch materiell übereingekommen, auseinandersezt. Im Pro- tagoras nun war von der scheinbaren Voraussezung der Einerleiheit des Guten und Angenehmen ausgegangen, und es blieb also kein anderes Unterscheidungsmittel übrig, als die Mittelbarkeit oder Unmittelbarkeit des Angenehmen und Unangenehmen in der Zeit, welche aber in der That kein solches sein kann, wie dies im Pro- tagoras selbst und in den ihm angehörigen Gesprächen so viel- seitig ausgeführt wird. In dem Gespräch mit dem Polos wird die Einerleiheit des Guten und Angenehimen unentschiedener gelassen,

10 GORGIAS.

und nur stärker der Unterschied zwischen dem Angenehmen und Nüzlichen vorausgesezt, ohne bestimmt anzunehmen, was ja eben in den früheren Gesprächen schon widerlegt war, dass derselbe nur in der Zeit läge. Woraus denn, sobald der Unterschied zwi- schen dem Guten und Angenehmen ausgemittelt ist, sich von selbst ergiebt, dass der Begriff des Nüzlichen unmittelbar mit dem Guten zusammenhängt.

In der Unterredung mit dem Kallikles geht Sokrates zunächst vornehmlich darauf aus, das Bewusstsein jenes Gegensazes von innen heraus zu erwekken, und ibn zu dem Bekenntniss zu nö- thigen. dass die Behauptung, alles Gute sei im Angenehmen er- schöpft, keine Haltung im innern Bewusstsein habe, sondern dass uns dieses nöthige noch ein anderes Gute ausser dem Angenehmen zu sezen. Und leicht mögen die Versuche, die Sokrates zu diesem Ende mit dem Kallikles anstellt, und die noch wegen der ersten bestimmten Einmischung italischer Weisheit besonders merkwürdig sind, auch an sich das kunstreichste in diesem Werke sein. Mit- gerechnet nämlich die Art, wie sie fehlschlagen, und die eben so wohlberechnete als durch die ganze Schilderung des Kallikles schön herbeigeführte Nothwendigkeit dieses Fehlschlagens, und wie da- durch Sokrates, ohne das was er am liebsten gewollt hätte, die Aufregung des Gefühls, vernachlässigt zu haben, den Vorwurf, dass er sich nachgiebige Gegner schaffe, von sich ablehnt, und zu sei- ner eigentlichen philosophischen Technik der Dialektik zurükk- kehrend die wichtigste Darstellung von der wahren Natur der Lust herbeiführt, wie sie nämlich: als etwas durchaus fliessendes nur im Uebergange von einem Werden zum andern entstehendes auf- gefasst werden kann. Viel zu kunstreich in der That ist dieses alles, viel zu ausführlich durchgenommen und zu genau behandelt als dass man es nur für eine gelegentlich berührte Nebensache und das Politische allein für den eigentlichen Gegenstand des Werkes halten könnte.

Auf diese Auseinandersezung folgt dann, sobald Kallikles einen Unterschied zwischen dem Angenehmen und Guten, wenn auch nur ganz im Allgemeinen eingeräumt hat, der dritte die beiden vorigen verbindende und zusammenfassende Abschnitt, in welchem Sokrates nun der ethischen und vorbereitenden Natur des Werkes gemäss mit einer auf die Gesinnung sich gründenden und sie nıy- thisch aussprechenden Entwikkelung endiget. Will man auch diesen Mythos, was theilweise sehr nahe liegt, mit dem im Phaidros, in wielern ja dieser als Grundmythos ist angerühmt worden, ver-

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gleichen: so ist zu bedenken, dass zum Willen und zur Kunst hier die Zukunft sich gerade so verhält, wie dort die Vergangenheit zur Wissenschaft und zur Erkenntniss, und dass in jenem wie in diesem die Zeit nur Bild ist, das Wesentliche aber die Betrachtung des Geistes, eniblösst von der Persönlichkeit. Wie denn auch Platon zuf das mythische um so weniger will einen solchen Werth legen, dass es historisch genommen werden sollte, da er es an die Volks- mytbologie anschliesst. So fehlt auch die Liebe nicht im. Gorgias, sondern ist hier eben so sehr das leitende Princeip der Staatskunst wie im Phaidros der Bildung der Individuen; nur isi sie, wie we- nigstens wir voraussezen müssen, im Vertrauen auf die im Lysis verhandelten Untersuchungen bereits aus dem mythischen heraus- getreien.

Doch einzelnen Vergleichungen dieser Art dürfen wir nicht folgen; nur leitet das Vergleichen mit dem früheren überhaupt uns auf das zweite noch auszuführende, wie nämlich auch in Beziehung auf das Merkmal der Form Gorgias nicht nur dem zweiten Theil angehört, sondern auch die erste Stelle in demselben einnimmt. Nämlich in der Hauptsache, in der Art wie das Einzelne, die Rhe- torik als Beispiel des leeren Scheins in der Kunst mit dem allge- meineren Zwekke der ganzen Darsiellung, dem Bestreben, den Gegensaz zwischen dem Ewigen und Fliessenden auf der praktischen Seite aufzusuchen, zusammenhängt, hierin irägt der Gorgias bei aller anscheinenden Aehnlichkeit mit dem Phaidros dennoch ganz den Charakter des zweiten Theils. Denn dort wo nur vom Philo- sophiren als Gesinnung und von der Erkenntniss als innerer An- schauung die Rede war, konnte auch nur die Methode als Aeusseres zur Erläuterung dienen. Nun aber durch den Parmenides vorbe- reitet mehr von der Realität der Erkenntniss und von ihren Objekten soll gehandelt werden, wird auch statt der blossen Methode die Kunst als ein Gebildetes und der Zusammenhang der Künste als Aeusseres hingestellt, und die Untersuchung mehr darauf geleitet, ob diesen ein Objekt und was für eins zukomme. Ja wenn man sich die blosse Struktur denken will, lässt sich ein bestimmter Uebergang aufzeigen vom Phaidros durch den Protagoras zum Gor- gias und von diesem zum Euthydemos und Sophistes, wo am stärksten die Schilderung des Negativen hervortritt. Und eben so zieht sich durch alle diese Gespräche immer wachsend und nur als indirekter Gegenstand behandelt der Keim des Positiven hin- durch, die Andeutung der wahren Wissenschaft und Kunst und ihres Objektes, bis dieses zulezt die Verbindung mit dem Negativen

12 GORGIAS.

verlässt und allein hervortritt, womit zugleich die ganze indirekte Behandlung in die entgegengesezte übergeht. So zeigt sich Gorgias offenbar dieser Reihe angehörig, aber auch eben so deutlich ist er das erste Glied derselben, theils wegen der bereits erwähnten Aehn- lichkeit mit der früheren Bildungsweise, theils weil die zulezt er- wähnte Verknüpfung des negativen Gegenstandes mit dem positiven bei weitem nicht so kunstreich ist und verschlungen als in den folgenden Gesprächen, namentlich dem Euthydemos und Sophistes. Ferner sind die Vertheilung der Untersuchung unter Mehrere, und das scheinbare öftere Zurükkkehren zum Anfang, Formen, die in der Folge häufiger und sehr im Grossen vorkommen, und wozu der Lysis und die kleinen zum Protagoras gehörigen - Gespräche nur schwache Annäherungen abgeben.

Hiezu kommt noch, um dem Gorgias seinen Ort zu bestim- men, die kunstreiche Art, wie fast alle früheren Gespräche darin wieder aufgenommen, und theils einzelnes daraus, theils ihr eigent- liches Resultat bald mehr bald minder deutlich eingeflochten werden, und dagegen die ganz unabsichtliche, dem Kenner aber nicht zu verfehlende, wie zu den folgenden dieser Reihe hier schon die Keime eingewikkelt liegen. Jenes ist in Absicht auf den Phaidros und Protagoras im allgemeinen schon berührt worden, liesse sich aber auch noch viel weiter verfolgen, und noch mehrere Bezie- hungen liessen sich im Einzelnen enidekken. 80 könnte sehr leicht aus dem Phaidros dem Platon von andern Sokratikern vornehmlich der Vorwurf gemacht worden sein, dass er die nur auf Täuschung ausgehende Rhetorik, deren Meihode er dort ja verbessern zu wol- len scheint, doch für etwas wolle gelten lassen, das sich Jemand zum Zwekk machen dürfe. Weshalb eben hier die Darstellung ihres nach sittlichen Prineipien einzig möglichen Gebrauchs und des nothwendigen Zusammenhanges der Methode mit der Gesinnung so scharf accentuirt erscheint und so vielseitig wiederholt wird, um zu zeigen wie unmöglich es sei von seinen Grundsäzen aus auf eine andere als die hier aufgestellte Ansicht über diesen Gegen- stand zu kommen. Und im Protagoras konnte man leicht die Dar- stellung sophistischer Selbstgenügsamkeit überladen finden, und zu leichtes Spiel, wenn der Dialogenschreiber seinem Gegner solche Lächerlichkeiten und Unfähigkeiten anbildet. Daher nun hier Gor- gias, wo er sich im gleichen Falle befindet mit Pretagoras, in Absicht auf die Wendung des Gespräches sich weit zahmer und milder beweist, und weniger Gelächter auf sich zieht. Wogegen aber Platon am Polos wenigstens aufs neue zeigt, dass allerdings

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rhetorische undialektische Sophisten unvermögend sind, in der Kunst das Gespräch zu leiten deren sich sein Sokrates rühmt, etwas zu leisten; ein ernstes Spiel mit der Methode, welches aller- dings gewissermassen ein Nachklang aus der ersten Reihe ist, offenbar aber doch hier in einem weit untergeordneteren Verhältniss steht, als ähnliches im Protagoras. So wird ferner aus dem Lysis nicht nur der Begriff des weder gut noch bösen als bekannt auf- genommen; sondern auch was in jenem kleineren Gespräch vor- kommt von der Liebe, die doch beherrscht, einschränkt und zügelt, bekommt hier, wie was im Phaidros von der Natur der Liebe über haupt gesagt war, seine erweiterte Anwendung über das Persönliche hinaus, auch auf die grösseren bürgerlichen Verhältnisse, indem mit fast buchstäblicher Rükkweisung auf den Lysis Liebe zum Volk und Liebe zum Knaben als gleichmässig gesezt wird. Wodureh sich nun auch erst deutlich bewährt, dass mit Recht im Phaidros auf die freilich nicht für Jedermann klar genug vorgetragene Lehre von der Nothwendigkeit eines gleichen Ideals oder Charakters zur Liebe ein eigener Werth gelegt wurde. Hiemit ist noch in Ver- bindung zu sezen jene gegen alles leere Streiten und Belehrenwollen sich auflehnende Ansicht des Platon, dass doch diejenigen, welche sittlich entgegengesezten Grundsäzen folgen, keine Berathschlagung mit einander gemein haben können, eine Ansicht, welche schon im Kriton wörtlich ausgesprochen, hier aber an der ersten Verhandlung des Sokrates mit dem Kallikles anschaulich dargestellt ist, und welche eben auch für den zweiten Theil der Platonischen Werke von dieser Seite her die Vertheidigung der indirekten dialektischen Methode enthält. Ferner lässt Platon in unserm Gespräch den So- krates ausdrükklich anerkennen, was im Laches vorgetragen worden, dass Tapferkeit nicht könne ohne Erkenntniss gedacht werden, sei allerdings seine Meinung, und eben so bestätigt sich hier, was in der Einleitung zum Charmides als das Ergebniss dieses Gesprächs in Absicht auf die Besonnenheit angegeben worden, dass nämlich Sokrates in die Erklärung einstimine, sie sei die Tugend, sofern sie als Gesundheit der Seele anzusehen ist. So auch kommt die Frömmigkeit ganz so hier vor, wie sie im Euthyphron ist bestimmt worden, als Gerechtigkeit gegen die Götter. Alles dieses sind, wenn auch nicht gleich wörtliche, doch fast gleich sichere und entschei- dende Zurükkbeziehungen; und wer sie vergleichend betrachtet, dem wird es wol nicht einfallen, etwa die Ordnung umzukehren, und jene Gespräche für weitere Ausführungen dessen zu halten, was hier gleichsam vorläufig angedeutet worden. Auch für den kleineren

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Hippias könnte, wer sich seiner annehmen wollte, eine Bestätigung im Gorgias finden, wenn er sagte, die am Ende des ersten Ab- schnittes aufgestellte Voraussezung, der Gerechte wolle immer ge- recht handeln, scheine sich weniger auf den schon anderwärts vorgetragenen allgemeinen Sas zu beziehen, dass jeder immer das Gute will, sondern darauf, dass zum Wesen der Gerechtigkeit ins- besondere das Wollen eben so nothiwendig gehöre als das Wissen, und dies sei gerade das natürliche Resultat aus der skeptischen Behandlung des Begriffs der Gerechtigkeit im Hippias. Allein je- der sieht wol, dass diese Beziehung bei weitem nicht so bedeu- tend und sicher ist als die übrigen. Denn eben dieses, dass zum Gerechtsein vorzüglich ein Wollen gehöre, ist etwas so all- gemein anerkanntes, dass es genommen werden kann, ohne sich auf eine frühere Ausführung zu beziehen.

Eben so deutlich nun als die oben angeführten Rükkweisun-

gen auf frühere Werke zeigen sich die Spuren der AÄhndung. oder Vorbereitung auf die mehresten folgenden Gespräche der zweiten Periode, theils in der Anlage des Ganzen, theils an einzelnen Stellen. Die Art nämlich, wie nach aufgestelltem wesentlichen Unterschiede zwischen dem Guten und Angenehmen doch wieder von einer Verbindung beider die Rede ist, weiset hin auf eine noch nicht gelöste Aufgabe, welche in den Gegenstand des Phile- bos, des lezten Gespräches dieser Reihe, verflochten ist. Die Art, wie das Wesen der Scheinkunst aufgefasst, und ihr Gebiet nach den Regein der Dialektik getheilt wird, ist die- erste Ahndung des- sen, was wir im Sopbistes und Staatsmann so kunstvoll und im Grossen ausgeführt finden. Das Dringen auf Absonderung und Entkleidung des Geistes von der Persönlichkeit, und die Art, sie mythisch darzustellen, ist gleichsam Weissagung des Phaidon. 80 dass man hieraus sogar bestimmen kann, was in dieser zweiten Periode unmittelbar von dem Punkt ausgegangen ist, den wir als den Mittelpunkt des Gorgias angegeben haben, und was dagegen entweder zu einer zweiten Formation so zu sagen gehört, oder auf den auch bereits angedeuteten gegenüberstehenden Punkt muss bezogen werden. Nämlich nicht sowol was für Gespräche, son- dern nur von welchen Gesprächen die Hauptmomente; denn ebeti in dieser Verknüpfung beider Gesichtspunkte des theoretischen und praktischen, ohne sie doch mit gänzlicher Aufhebung des Gegen- sazes durchaus zu vereinigen, besteht die noch kunstvollere Form der folgenden Gespräche.

Daher kann auch der Gorgias genau genommen mur als die

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Hälfte von dem Anfang dieses zweiten Theils angesehen werden, und macht nur erst mit dem Theaitetos zusammengenommen den ganzen Anfang aus, indem dieser eben so den Gegensaz zwischen dem Seienden und der Vorstellung behandelt, wie Gorgias den zwischen dem Guten und der Empfindung. Daher kann auch bei dem gänzlichen Mangel irgend bestimmter Angaben über die Zeit der Abfassung, und da die Idee zu beiden Werken fast gleichzeitig entstehen musste, auch beide von ziemlich langem Athem sind, das frühere Erscheinen des Gorgias vor dem Theaitetos nicht ge- radezu festgesezt werden. Vielmehr lässt es sich nur mittelbar aus allerlei Einzelheiten folgern, und es sind eben diese vielfachen Beziehungen auf das Vergangene und Künftige, der Charakter eines allgemeinen Vorspiels, dass ich mich so ausdrükke, und die Ana- logie, dass jeder neue Ansaz des Platon ursprünglich mit dem ethischen anhebt, was das Voranstellen des Gorgias gegen man- cherlei mögliche einzelne Einwendungen rechtfertigt.

Wer jene Spuren und Beziehungen aufgefasst hat, und mit der Art bekannt geworden ist, wie Platon dergleichen zu bezeich- nen pflegt, der findet gewiss selbst noch mehrere andere in- das Einzelne dieses Gespräches häufig verwebt. Für die Uebrigen sei es vergönnt, auf Einiges hievon aufmerksam zu machen. An das- jenige zum Beispiel, was sich in Beziehung auf den Phaidros und Protagoras uns vorher als apologetisch zeigte, schliesst sich auch mehreres an, was wir nur als Berükksichtigung einzelner gegen die bisherigen Platonischen Schriften gemachter Ausstellungen ver- stehen können. Was jedoch hierüber zu sagen wäre, muss immer in den Grenzen der Muthmassung stehen bleiben, und das Beste wird also sein, nur an Ort und Stelle leise Andeutungen darüber zu geben. Vieles Ändere steht in einer so genauen Verbindung mit der Vertheidigung des Sokrates, dass man sagen könnte, es sei alles Wesentliche von dort hier wiederholt, nur über die un- mittelbare persönliche Beziehung erhaben dargestellt. Es scheint aber fast, als habe die Apologie des Sokrates, indem sie so in eine Apologie der sokratischen Gesinnung und Lebensweise über- haupt verwandelt worden, die persönliche Beziehung nicht sowol verloren, als vielmehr nur verändert, und sei eine Apologie des Platon geworden. Am wenigsten möchten wir wol dieser Wieder- holung wegen mit einem Andern glauben, der Gorgias müsse bald nach dem Tode des Sokrates geschrieben sein, weil Platon wol nicht späterhin den Athenern noch einmal die längst bereute Ge- schichte so ausführlich würde vorgeworfen haben. Denn wenn

10 GORGIAS.

man bedenkt, dass dies natürlich auch dem Phaidon gilt: so er- halten wir diese Wiederholungen in eine ganz kurze Zeit bis zum Ekel zusammengedrängt ganz im Widerspruch mit dem Reichthum der Platonischen Composition, ohne irgend einen Zwekk und ohne irgend ein Zeichen, dass Schmerz oder Zorn, wovon sich ja keine Spur irgendwo zeigt, den Platon zu solchen Vorwürfen gegen seine Mitbürger getrieben habe, Dagegen lässt sich die angedeutete Ab- sicht durch Rükkweisung auf das ohnlängst geschehene, sich selbst zu rechifertigen über seine fortdauernde politische Unthätigkeit, zu- gleich aber auch zu zeigen, wie furchtlos er seinen philosophischen Weg fortzusezen denke, diese Absicht lässt sich gar wol denken in etwas späterer Zeit. Wiewol freilich, da Platon, nachdem er eine Zeitlang nach Sokrates Tode mit den übrigen Sokratikern in Megara gelebt, wenigstens nicht auf lange Zeit nach Athen zurükk- gekehrt zu sein scheint, schwerlich eher als nach der Rükkkunft von seiner ersten Reise. Bald nachher aber konnte er reichliche Veranlassungen haben zu Aeusserungen dieser Art. Nämlich wie in der Vertheidigung Sokrates seine Ungunst selbst darstellt, als begonnen mit den Verläumdungen des Aristophanes und ähnlichen falschen Gerüchten von seinen Bestrebungen: so erfuhr etwas ähn- liches auch Platon zeitig genug. Man erinnere sich nur, wie in den Ekklesiazusen des Aristophanes, deren Darstellung man ge- wöhnlich schon in die sieben und neunzigsie Olympiade sezt, die politischen Ansichten und neuen Lehren des Platon durchgenom- men wurden: so wird man leicht begreifen, wie dem Platon ein ähnlicher Erfolg wol kann geahnet haben. Daher denn, um zu- gleich gegen seine in das öffentliche Leben verflochienen Freunde und Verwandten, die vielleicht gehofft hatten seine Reisen sollten ihn von der blossen Betrachtung zurükkführen und der Welt nä- her bringen, gründlich seine beharrliche Zurükkgezogenheit von der Verwaltung eines seiner Meinung nach verderbten Staates, und sein nachtheiliges Urtheil über die Formen desselben zu rechtfertigen, und die Nothwendigkeit zu zeigen, dass man frei müsse über die Staatskunst philosophiren dürfen; daher jene sehr starken Alles im Protagoras überbietenden Ausdrükke gegen die berühmtesten Athe- nischen Staatsmänner von ehedem, mit leiser Schonung der leben- den, als wären sie minder schuldig; daher die Art, wie er sich vom Kallikles den Vorwurf machen lässt, er lakonisire, um zu zei- gen, was man so nenne, gehe schon aus der einfachsten täglichen Erfahrung ganz von selbst hervor. Ja auch was er beiläufig über die Poesie sagt, mag seiner näheren Bestimmung nach dahin ge-

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hören. Manches von dem natürlichen Hass und Neide schlechter Gewalthaber gegen die Weiseren scheint gerade so ausgeführt, um leise rechtfertigend und berichtigend zu berühren, was dem Platon bei seinem ersten Aufenthalt in Sikelien mit dem älteren Diony- 5105 begegnete. Und dies wiederum bringt fast auf die Vermu- thung, dass auch das Beispiel des Archelaos, wenn nicht etwa auch dieser schon so früh Sokratiker um sich hatte und auf ähn- liche Weise mit ihnen verfuhr, derselben Beziehung wegen gewählt worden, um recht stark anzudeuten, wie unmöglich es sei, dass Platon, was man vielleicht schon damals meinte, die Freundschaft eines ungerechten und gewaltthätigen Alleinherrschers sollte gesucht haben. Dies sind aber auch die einzigen allerdings leisen Spuren von der Zeit, wo das Gespräch verfasst worden, welchen man frei- lich wenig trauen dürfte, wenn sie nicht so schön zusammenträfen mit der Stelle, welche ihm zwischen und nach anderen angewiesen werden musste, deren Zeit sich sicherer bestimmen lässt. Es würde dem gemäss zu sezen sein als das erste oder zweite nach Platons Rükkkunft von seiner ersten Reise, so bald nämlich irgend seine Schule so fest gegründet und so weit ausgebreitet war, um den Aristophanes zu einer komischen Darstellung zu reizen. Denn wenn nicht alle Nachrichten von dieser Reise falsch sind, so kann Platon sich vor derselben kaum eine eigentliche Schule gebildet haben.

Einen Einwurf gegen diese Zeitbestimmung aber, den wol ein Klügerer machen konnte, will ieh nicht unierdrükken. Nämlich wir wissen von einem philosophischen Werk des Gorgias, und man wirft sich sehr leicht die Frage auf, wie kann Platon den Gorgias zur Hauptperson eines Gesprächs gemacht haben ohne dieses Werkes auch nur mit einer Sylbe oder dureh eine Anspie- lung zu erwähnen? Sezt man unser Gespräch noch in die Zeit des Sokratischen Prozesses, so hat man die Rechtfertigung sehr leicht, dass Platon es damals noch nicht gekannt hatte; aber diese will nicht vorhalten nach der Rükkkunft von seiner Reise, in- dem er in Sikelien ohnfehlbar die Bekanntschaft dieses Werkes musste gemacht haben. Hier ist nur zweierlei übrig, entweder Platon hat sich gegen seine Gewohnheit in diesem Punkt so genau an die Zeit gehalten, in welche er das Gespräch sezt, dass er des Werkes nicht erwähnt, weil es um die Zeit in Athen noch nicht bekannt war, was sich wol denken lässt, wenn es auch nach Olympiodoros in der 84sten Olymp. geschrieben ist, oder Platon

Plat. W. II. Th. I. Ba. 2

18 GORGIAS.

hat dieses Werk nicht sowol seiner sophistischen Abzwekkung als vielmehr seines ganz rhetorischen Zuschnittes wegen keiner be- sonderen Erwähnung werth gehalten; sondern hat es nur mit un- ter der verderblichen Scheinkunst begriffen, und lässt den Gorgias vielleicht nicht ohne Absicht sagen, dass er sich nichts anderes als ein Redner zu sein rühme.

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KALLIKLES. SOKRATES. CHAIREPHON. GORGIAS. POLOS.

Kallikles. Zum Kriege und zur Schlacht, heisst es, 0 50-447 krates, muss man so zurecht kommen.

Sokrates. Also sind wir wol, was man nennt, nach dem Fest gekommen und verspätet?

Kallikle. Und nach einem gar herrlichen Fest! Denn viel schönes hat uns Gorgias nur ganz vor kurzen zu hören gegeben.

Sokrates. Daran, o Kallikles, ist uns also Chairephon Schuld, der uns nöthigte, auf dem Markte zu verweilen.

Chairephen. Keine grosse Sache, Sokrates, denn ich kann es auch wieder gut machen. Gorgias ist mir freund, und wird es uns auch wol hören lassen, wenn es beliebt jezt, oder wenn du lieber willst ein anderes Mal.

Kallikles. Wie doch, Chairephon, hat Sokrates Lust den Gor- gias zu hören?

Chairephon. Eben dazu ja sind wir gekommen.

Kallikle. Also wenn ihr zu mir kommen wollt nach Hause, denn bei mir wohnt Gorgias: so wird er sich vor euch hören lassen.

Sokrates. Schön, Kallikles. Aber ob er sich wol möchte mit uns ins Gespräch geben? Denn ich will gern von ihm erfahren, was doch die Kunst des Mannes eigentlich vermag, und was das ist, was er ausbietet und lehrt. Was er uns sonst zeigen will, mag er, wie du auclı sagst, ein andermal thun.

Kallikles. Nichts besser als ihn selbst fragen, Sokrates. Auch gehörte ja das mit zu seiner Ausstellung; denn er hiess nur eben Alle drinnen fragen, was einer nur wollte, und auf Alles verhiess er zu antworten.

2

20 GORGIAS.

Sokrates. Sehr wol gesprochen. Frage ihn also, Chairephon,

Chairephon. Was soll ich ihn fragen?

Sokrates. Was er ist.

Chairephon. Wie meinst du das?

Sokrates. Wie wenn er nun einer wäre, der Schuhe verfer- tigte, er dir dann gewiss antworten würde, er wäre ein Leder- Arbeiter. Oder verstehst du nicht, was ich meine?

Chairephon. Ich verstehe und will ihn fragen. Sage mir doch, Gorgias, ist es wahr, was Kallikles sagt, dass du dich er- bietest zu beantworten, was dich einer nur fragt?

Gorgias. Es ist wahr, Chairephon. Auch jezt hatte ich mich

448eben dazu erboten, und ich sage dir, Niemand hat mich mehr et- was neues gefragt seit vielen Jahren.

Chairephon. Du antwortest also gewiss sehr leicht, Gorgias.

Gorgias. Darüber, Chairephon, kannst du ja einen Versuch machen.

Polos. Beim Zeus, wenn du irgend willst, Chairephon, lieber mit mir. Denn Gorgias, dünkt mich, ist wol müde, da er nur eben gar vieles vorgetragen hat.

Chairephon. Wie doch, Polos, meinst du besser als Gorgias antworten zu können?

Polos. Wozu das? wenn nur gut genug für dich.

Chairephon. Zu nichts freilich, Also da du doch willst, so antworte.

Polos. Frage nur.

Chairephon. Ich frage also, wenn Gorgias ein Meister in eben der Kunst wäre, worin sein Bruder Herodikos, wie würden wir ihn dann recht benennen? Nicht eben so wie jenen?

Polos. Allerdings.

Chairephon. Wenn wir also sagten, er wäre ein Arzt, so würden wir uns richtig ausdrükken.

Polos. Ja.

Chairephon. Wäre er aber mit Aristophon, dem Sohne des Aglaophon, oder mit dessen Bruder in einerlei Kunst erfahren, wie würden wir ihn dann wol richtig nennen?

Polos. Offenbar einen Maler.

Chairephon. Nun er aher in was doch für einer Kunst sach- verständig ist, müssen wir ihn wie doch nennen, um ihn richtig zu nennen?

Polos. Chairephon, viele Künste sind unter den Menschen durch Geschikklichkeit geschikkt erfunden. Denn Geschikklichkeit

ρον a ee ας ΜΗΔ

GORGIAS. . 8.

macht, dass unser Leben nach der Kunst geführt wird, Ungeschikkt- heit aber nach der Gunst. Von allen diesen nun ergreift je ein Anderer eine andere und auf andere Weise, die Besten aber auch die besten, zu welchen dann auch Gorgias hier gehört und also Antheil hat an der vortrefflichsten unter den Künsten.

Sokrates. Trefflich gewiss, o Gorgias, scheint Polos gerüstet zu sein auf Reden; allein was er dem Chairephon versprochen hat, leistet er nicht.

Gorgias. Was doch, Sokrates?

Sokrates. Was er gefragt ward, scheint er mir gar nicht zu beantworten,

Gorgias. So frage du ihn, wenn du willst.

Sokrates. Nicht, wofern du selbst antworten wolltest, son- dern dann weit lieber dich. Denn vom Polos ist mir schon aus dem was er gesagt hat deutlich, dass er sich auf die sogenannte Redekunst weit mehr gelegt hat, als auf die Führung des Ge- sprächs.

Polos. Wie so, Sokrates?

Sokrates. Weil du, da Chairephon dich fragt, in welcher Kunst Gorgias ein Meister wäre, seine Kunst zwar rühmst, als ob Jemand sie tadelte, was sie aber ist doch nicht beantwortet hast.

Polos. Habe ich denn nicht geantwortet, sie wäre die vor- trefflichste?

Sokrates. Ja wol. Aber niemand hat ja gefragt, was des Gorgias Kunst werth wäre, sondern was sie wäre, und wie man den Gorgias deshalb nennen müsse. Wie du nun, was dir vorhin Chairephon vorlegte, ihm kürz und gut beantwortet hast, eben s0449 sage doch auch jezt, welches seine Kunst ist, und wie wir ihn zu nennen haben? Oder vielmehr Gorgias, sage du uns selbst, wie wir dich nennen müssen als Meister welcher Kunst?

Gorgias. Der Redekunst, Sokrates.

Sokrates. Einen Redner also müssen wir dich nennen?

Gorgias. Und zwar einen vollkommenen, Sokrates, wenn mich, was ich zu sein mich rühme, wie Homeros sagt, nennen willst.

Sokrates. Das will ich freilich.

Gorgias. So nenne mich demnach.

Sokrates. Sagen wir nicht auch, du vermögest auch Andere dazu zu machen?

Gorgias. Dazu erbiete ich mich ja, nicht nur hier, sondern auch anderwärts.

22 GORGIAS:

Sokrates. Möchtest .du wol, Gorgias, so wie wir jezt mit ein- ander reden, die Sache zu Ende bringen durch Frage und Ant- wort, die langen Reden aber, womit auch schon Polos anfing, für ein andermal versparen? Also was du versprichst darum bringe uns nicht, sondern lass dir gefallen, in der Kürze das gefragte zu beantworten.

Gorgias. Es giebt zwar einige Antworten, Sokrates, die noth- wendig durch lange Reden wollen ertheilt sein; dennoch aber will ich sie versuchen aufs kürzeste. Denn auch dessen rühme ich mich ja, niemand könne kürzer als ich dasselbe sagen.

Sokrates. Dies eben brauche ich, Gorgias. Eben hievon gieb mir ein Meisterstükk von der Kürze, vom Langreden aber ein andermal.

Gorgias. Das will ich thun, und du sollst gestehen, du ha- best nie einen kürzer reden gehört.

Sokrates. Wolan denn, da du behauptest in der Redekunst ein Meister zu sein, und auch einen Ändern zum Redner machen zu können, auf welches denn unter allen Dingen bezieht sich die Redekunst so wie doch die Weberei auf Verfertigung der Gewän- der? nicht wahr?

Gorgias. Ja.

Sokrates. Oder die Tonkunst auf Dichtung der Gesangweisen?

Gorgias. Ja.

Sokrates. Bei der Hera, Gorgias, ich habe meine Freude an deinen Antworten, weil du wirklich antworltest so kurz als nur möglich.

Gorgias. Das denke ich Sokrates auch gehörig zu thun.

Sokrates. Wol gesprochen. Antworte mir nun auch eben so wegen der Redekunst, auf welches unter allen Dingen bezieht sie sich doch als Wissenschaft?

Gorgias. Auf Reden.

Sokrates. Auf was für Reden aber, Gorgias? Etwa auf die, welche den Kranken erklären, bei welcher Lebensweise sie genesen könnten? TER

Gorgias. Nein.

Sokrates. Also doch nicht auf alle Reden bezieht sich die Redekunst?

Gorgias. Freilich nicht.

Sokrates. Aber doch macht sie tüchtig zum Reden.

Gorgias. Ja.

GORGIAS, 23

Sokrates. Nicht auch worüber zu reden, darüber ebenfalls. richtig zu urtheilen?

Gorgias.. Wie anders?

Sokrates. Macht nicht auch die eben angeführte Heilkunst tüchtig, über Kranke sowol richtig zu urtheilen als auch zu reden?

Gorgias. Gewiss.

Sokrates. Auch die Heilkunst also wie es scheint bezieht sich auf Reden?

Gorgias. Ja. 450

Sokrates. Nämlich auf die über Krankheiten?

Gorgias. Allerdings.

Sokrates. Bezieht sich nun nicht auch die Turnkunst auf Reden, nämlich auf die über den guten oder schlechten Zustand des Leibes?

Gorgias. Freilich.

Sokrates. Und gewiss auch mit den übrigen Künsten, o Gor- gias, verhält es sich so, jede hat es auch mit denjenigen Reden zu thun, welche sich auf den Gegenstand beziehen, wovon sie die Kunst ist.

Gorgias. Offenbar.

Sokrates. Wie also, nennst du nicht auch die übrigen Künste Redekünste, da sie es doch auch mit Reden zu thun haben, wenn du diejenige die Redekunst nennen willst, welche es mit Reden zu thun hat?

Gorgias. Weil, o Sokrates, bei den andern Künsten nur auf gewisse Handgriffe und dergleichen Verrichtungen, mit einem Wort die ganze Wissenschaft geht; die Redekunst aber hat nichts der- gleichen handgreifliches, sondern ihre ganze Verrichtung und Voll- führung geht durch Reden. Deshalb lasse ich die Redekunst es mit Reden zu thun haben, ganz richtig erklärend wie ich behaupte.

Sokrates. Merke ich nun etwa, wovon du sie benennen willst? Doch ich werde es wol bald noch genauer wissen; antworte mir nur. Wir haben doch Künste, nicht wahr?

Gorgias. Ja.

Sokrates. Unter diesen nun, glaube ich, sind einige, bei de-

nen das meiste Thätigkeit ist, und dıe nur sehr wenig Rede be- dürfen, einige auch gar keiner, sondern was die Kunst will könnte auch schweigend verrichtet werden, dergleichen die Malerei und dıe Bildnerei sind, und viele andere. Solche scheinst du mir zu bezeichnen als die, zu welchen wie du behauptest die Redekunst nicht gehöre. Oder nicht?

24 GORGIAS.

Gorgias. Vollkommen richtig hast du es aufgefasst, Sokrates, Sokrates. Wiederum andere giebt es unter den Künsten, welche alles durch Rede vollbringen, und That, dass ich es gerade sage, ganz und gar nicht oder doch nur sehr wenig bedürfen, wie das Zählen und Rechnen und die Messkunst und die Kunst des Brettspiels, und viele andere Künste, bei deren einigen die Rede fast zu gleichen Theilen geht mit der That, bei vielen auch mehr eträgt, so dass ganz und gar ihre Verrichtung und Vollbringen in Reden besteht. Von diesen nun dünkst du mich zu meinen sei eine auch die Redekunst.

Gorgias. Ganz richtig.

Sokrates. Aber doch wirst du, denke ich, auch von den ge- nannten keine wollen Redekunst nennen, wiewol du wörtlich so sagtest, die ihr ganzes Geschäft durch Reden vollendende wäre die Redekunst. Und es könnte wol einer folgern, der dir die Worte zum Verdruss kehren wollte, also die Rechenkunst Gorgias nennst du Redekunst. Aber ich glaube nicht, dass du, sei es nun die Messkunst oder die Rechenkunst Redekunst nennst,

451 Gorgias. Und ganz recht glaubst du daran, Sokrates, und verstehst mich ganz richtig.

Sokrates. Wolan denn, so bringe mir nun auch die Antwort, nach der ich fragte, zu Ende. Denn da die Redekunst von die- sen Künsten eine ist, welche sich gar viel der Rede gebrauchen, es aber auch noch andere von derselben Art giebt: so versuche doch zu sagen, woran denn diejenige ihr Geschäft durch Reden vollendet, welche die Redekunst ist? So wie wenn mich Jemand nach irgend einer Kunst von den eben angeführten fragte, O So- krates, was ist denn die Zahlenkunst? ich ihm sagen würde wie du vorhin, eine von den ihr Geschäft durch Reden vollbringenden, und wenn er mich weiter fragte, Woran denn! ich sagen würde, Am geraden und ungeraden wie gross jedes sei. Fragte er aber wieder: Und welche Kunst nennst du denn die Rechenkunst, ich ihm sagen würde, Auch sie ist eine von den Alles durch Reden vollbringenden. Und wenn er weiter fragte, -Woran denn? ich sagen würde, wie es in der Volksversammlung heisst, Alles An- dere wie zuvor, bei der Rechenkunst wie bei der Zahlenkunde, nur soviel ist sie unterschieden, dass die Verhältnisslehre auch betrachtet wie gerades und ungerades unter sich und gegen ein- ander sich verhält der Grösse nach. Und wenn Jemand nach der Sternkunde fragte, und auf meine Erklärung, dass auch diese al- les durch Reden vollbringe, spräche, Aber die Reden der Stern-

GORGIAS, 25

kunde, worauf beziehen sich die? ich sagen würde, Auf die Be- wegung der Gestirne und der Sonne und des Mondes, wie sie sich gegeneinander verhalten an Geschwindigkeit.

Gorgias. Und ganz recht sprächst du, Sokrates.

Sokrates. Wolan, eben so thue also auch du, Gorgias! Die Redekunst ist doch eine von den Alles durch Reden ausführenden und vollbringenden. Nicht wahr?

Gorgias. So ist es.

Sokrates. Sage also von den worauf doch gehenden ist sie eine? Welches ‘unter allen Dingen ist doch dasjenige eigentlich, worauf die Reden sich beziehen, deren die Redekunst sich bedient?

Gorgias. Die wichtigsten, o Sokrates, unter allen mensch- lichen Dingen, und die herrlichsten.

Sokrates. Aber auch dies, Gorgias, ist ja wieder zweifelhaft und noch gar nichts bestimmtes. Du hast ja wol, denke ich, bei Gastmälern Leute jenes Trinklied singen gehört, worin sie aufzäh- len, das beste sei die Gesundheit, und das zweite in Schönheit einherzugehn, und das dritte wie der Dichter des Trinkliedes meint, reich sein ohne Falsch.

Gorgias. Wol habe ich das gehört. Aber wozu führst du es an?

Sokrates. Weil dir nun gleich die Meister in dem was das Trinklied gelobt hat, werden in den Weg treten, der Arzt und der Turnmeister und der Erwerbsmann; und der Arzt zuerst wlrde 452 sagen, O Sokrates, Gorgias hintergeht dich, denn nicht seine Kunst geht auf das wichtigste Gut für die Menschen, sondern die meinige. Wenn ich ihn nun fragte, Und wer bist du, dass du das sagst? so würde er eben sagen, Ein Arzt. Wie meinst du, spräche ich dann, also das Werk deiner Kunst wäre das grösste Gut? Wie sollte denn nicht, Sokrates, würde er vielleicht sagen, die Ge- sundheit dies sein? was für ein grösseres Gut giebt es denn für die Menschen als Gesundheit? Wenn nun nach diesem wiederum der Meister der Leibesübungen sagte, Es sollte mich wundern, So- krates, wenn Gorgias dir ein grösseres Gut von seiner Kunst auf- zeigen könnte, als ich von der meinigen! so würde ich auch zu dem sagen, Und wer bist du denn Mensch, und was ist dein Ge- schäft? Ich -bin der Turnmeister, spräche er, und mein Geschäft ist, die Menschen schön und stark zu machen am Leibe. Und nach diesem sagte dann der Erwerbsmann, wie ich denke recht mit Verachtung aller Andern, Sieh doch zu, Sokrates, ob sich dir irgend ein grösseres Gut zeigt als der Reichthum beim Gorgias

26 GORGIAS.

oder bei irgend wem sonst. Und wie, sprächen wir dann zu ihm, du kannst den mächen? Er bejahte es. Als wer denn? Als Erwerbsmann. Und wie? du hältst also dafür der Reich- thum sei das grösste Gut für den Menschen? sagten wir. Wie sollte ieh nicht! würde er antworten. Aber Gorgias hier, sprä- chen wir, behauptet doch gegen dich, dass seine Kunst ein grös- seres Gut hervorbringe als die deinige. Offenbar würde er dann weiter fragen: Und was ist denn dieses Gut? das beantworte Gor- gias. Wolan denn, Gorgias, denke dir, du werdest so von jenen söwol als von mir gefragt, und beantworte uns, was doch das ist, wovon du behauptest, es sei das grösste Gut für die Menschen, und du der Meister davon.

Gorgias. Was auch in der That das grösste Gut ist, Sokrates, und kraft dessen die Menschen sowol selbst frei sind, als auch über Andere herrschen, jeder in seiner Stadt.

Sokrates. Was meinst du doch eigentlich hiemit?

Gorgias. Wenn man durch Worte zu überreden im Stande ist, sowol an der Gerichtsstätte die Richter, als in der Rathsver- sammlung die Rathmänner und in der Gemeinde die Gemeindemänner, und so in jeder andern Versammlung, die eine Staatsversammlung ist. Denn hast du dies in deiner Gewalt, so wird der Arzt dein Knecht sein, der Turnmeister dein Knecht sein, und von diesem Erwerbsmann wird sich zeigen, dass er Andern erwirbt und nicht sieh selbst, sondern dir, der du verstehst zu sprechen und die Menge zu überreden.

Sokrates. Nun, Gorgias, dünkst du mich aufs genaueste er-

453 klärt zu haben, für was für eine Kunst du die Redekunst hältst; und wenn ich anders etwas verstehe, so sagst du, der Ueberredung Meisterin sei die Redekunst, und ihr ‚ganzes Geschäft und Wesen laufe hierauf hinaus. Oder weisst du noch etwas weiteres zu sa- gen, was die Redekunst vermöge, als Ueberredung in der Seele des Hörenden zu bewirken?

Gorgias. Keinesweges, Sokrates, sondern du scheinst sie mir vollständig erklärt zu haben. Denn dies ist ihre‘ Hauptsache.

Sokrates. So höre denn, Gorgias. Denn ich, das wisse nur, glaube gewiss, wenn irgend wer im Gespräch beabsichtigt, das wirklich zu erforschen wovon die Rede ist, bin ich gewiss auch ein solcher, und ich denke du auch.

Gorgias. Was also weiter, Sokrates?

Sokrates. Ich sage es gleich. Diese durch die Redekunsı entstehende Ueberredung, von der du sprichst, was für eine die

GORGIAS. 27

ist, und in Bezug auf welche Gegenstände sie Ueberredung ist, dies, bedenke nur, weiss ich noch immer nicht recht. Ich ahnde freilich wol was für eine du, wie ich glaube, meinst, und wovon; nichts desto weniger aber werde ich dich doch weiter fragen, was für eine Ueberredung du meinst, dass aus der Redekunst entstehe, und auf welche Gegenstände sie gehe. Weshalb aber, da ich es ja schon ahnde, ich dich noch fragen will, und es nicht selbst sage? Nicht deinetwegen, sondern unsers Gespräches wegen, damit es so fortgehe, dass uns das möglichst deutlich werde, wovon die Rede ist. Denn überlege nur, ob dich nicht dünkt ich habe Recht dich weiter zu fragen. Nämlich wie wenn ich dich gefragt hätte: Welcher Maler ist doch Zeuxis, und du mir gesagt hättest, der Gemälde malt; würde ich dich. dann nicht mit Recht fragen, der was doch für Gemälde malt und wo?

Gorgias. (Gewiss.

Sokrates. Etwa deshalb, weil es auch noch andere Maler giebt, die viele andere Gemälde malen?

Gorgias. Ja.

Sokrates. Wenn aber kein anderer als Zeuxis dergleichen malte, ‚dann wäre deine Antwort gut gewesen.

σον ας. Wie sollte sie nicht?

Sokrates. Wolan denn, auch von der Redekunst sage mir, ob du denkst, die Redekunst allein bewirke Ueberredung oder auch andere Künste? Ich meine nämlich dies, wer irgend etwas lehrt, überredet der in dem was δι" lehrt oder nicht?

Gorgias. Bewahre, sondern ganz gewiss überredet er.

Sokrates. Wenn wir nun wieder auf dieselben Künste zurükk- kommen wie oben, lehrt uns nicht die Zahlenkunde: und der Zah- lenkünstler die Grösse der Zahlen?

Gorgias. Freilich.

Sokrates. Und überredet uns also auch?

Gorgias. Ja.

Sokrates. Also auch die Zahlenkunde ist eine Meisterin der Ueberredung?

Gorgias. So scheint es.

Sokrates. Und wenn uns Jemand fragt, in was für einer Ueberredung und wovon? so werden wir ihm etwa antworten, in einer belehrenden von dem geraden und ungeraden, wie gross es ist. Und auch alle andern eben angeführten Künste werden wir zeigen können, dass sie Meisterinnen der Veberredung sind, und 454 was für einer und wovon? oder niclıt?

28 GORGIAS,

Gorgias. Ja.

Sokrates. Nicht also die Redekunst allein ist Meisterin der Ueberredung.

Gorgias. Freilich nicht.

Sokrates. Da nun nicht sie allein dieses Werk hervorbringt, so möchten wir wol mit Recht, eben wie bei dem Maler, den der dies gesagt, hernach weiter fragen, die Kunst was für einer Ueber- redung und wovon, ist wol die Redekunst? Oder hältst du es nicht für Recht, dies weiter zu fragen?

Gorgias. Ich wol.

Sokrates. So antworile denn, Gorgias, wenn es dich auch so dünkt. i

Gorgias. Jener Ueberredung also sage ich, Sokrates, welche an den Gerichtsstätten vorkommt, und bei den andern Volksver- sammlungen, wie ich auch schon vorhin sagte, und in Beziehung auf das, was gerecht ist und ungerecht.

‚Sokrates. Das ahndete ich auch, dass du diese Ueberredung meintest, Gorgias, und in Beziehung hierauf. Wundere dich aber nur nicht, wenn ich dich auch bald wieder einmal um so etwas frage, was deutlich zu sein scheint, und ich frage doch erst dar- nach. Denn wie gesagt, um in der Ordnung die Rede zu Ende zu bringen, frage ich dergleichen, nicht deinetwegen, sondern damit wir uns nicht gewöhnen, halbverstanden einander das gesagte vor- weg zu nehmen, sondern du deinen Saz ganz nach deiner Ansicht durchführen mögest, wie du selbst willst.

Gorgias. Und ganz recht thust du daran, wie mich dünkt.

Sokrates. So komm denn, lass uns auch dies überlegen: du sagst doch bisweilen, man habe etwas gelernt?

Gorgias. Ο ja: |

Sokrates. Auch man habe etwas geglaubt?

Gorgias. Ich gewiss.

Sokrates. Dünkt dich dies nun einerlei, gelernt haben und geglaubt? erlerntes Wissen und Glauben? oder verschieden?

Gorgias. Ich, Sokrates, meine, es ist verschieden.

Sokrates. Und gar recht, meinst dı. Du kannst es aber hieraus erkennen. Wenn dich Jemand fragte, giebt es wol einen falschen Glauben und einen wahren? Das würdest du bejahen, denke ich?

Gorgias. Ja.

Sokrates. Wie? auch eine falsche Erkenntniss und eine wahre?

Gorgias. Keinesweges.

N δν νονσωνον

GORGIAS. 29

Sokrates. Ofienbar also ist nicht beides einerlei.

Gorgias. Du hast Recht.

Sokrates. Doch aber sind sowol die Wissenden überredet als die Glaubenden.

Gorgias. So ist es.

Sokrates. Willst du also, wir sollen zwei Arten der Ueber- redung sezen, die eine welche Glauben hervorbringt ohne Wissen, die andere aber welche Erkenntniss?

Gorgias. Allerdings.

Sokrates. Welche von beiden Ueberredungen also bewirkt die Redekunst an der Gerichtsstätie und in den andern Volksversamm- lungen in Beziehung auf das gerechte und ungerechte? aus wel- cher das Glauben entsteht ohne Wissen? oder aus welcher das Wissen?

Gorgias. Offenbar doch, Sokrates, aus welcher das Glauben.

Sokrates. Die Redekunst also, Gorgias, ist wie es scheint Meisterin in einer glaubenmachenden nicht in einer belehrenden 455 Ueberredung in Bezug auf gerechtes und ungerechtes ?

Gorgias. Ja.

Sokrates. Also belehrt auch der Redner nicht in den Gerichts- und andern Versammlungen über Recht und Unrecht, sondern macht nur glauben. Auch könnte er wol nicht einen so grossen Haufen in kurzer Zeit belehren über so wichtige Dinge.

Gorgias. Wol nicht.

Sokrates. Wolan denn, lass uns sehen, was wir doch eigent- lich sagen von der Redekunst; denn ich selbst kann noch gar nicht verstehen was ich recht sage. Wenn um Aerzte zu erwählen die Stadt sich versammelt, oder um Schiffsbaumeister, oder eine andere Art von Gewerbsleuten, nicht wahr, dann darf der Redner nicht Rath geben? Denn es ist klar, dass bei jeder Wahl der kunstverständigste muss gewählt werden. Auch nicht, wenn von Erbauung der Mauern die Rede ist, und davon, die Häfen in Stand zu sezen oder die Werfte, sondern dann die Baumeister. Auch nicht wenn die Berathschlagung die Wahl eines Heerführers betrifft, oder die Stellung eines Heeres gegen den Feind, oder die Besiz- nehmung einer Gegend; sondern die Kriegskünstler werden dann Rath ertheilen, nicht die Redekünstler. Oder was meinst du, Gor- gias, hievon? Denn da du behauptest, selbst sowol ein Redner zu sein, als auch Andere zu Redekünstlern zu machen: so ist es ja reclıt was deine Kunst betrifft von dir zu erfragen. Ja glaube nur, dass auch ich jezt zugleich auf das deinige bedacht bin; denn viel-

30 GORGIAS,

leicht ist Mancher hier drinnen gesonnen dein Schüler zu werden, wie ich denn fast mehrere glaube zu bemerken, die aber nur blöde sind dich weiter zu fragen. Wie du also jezt von mir befragt wirst, so denke dir du würdest auch von Jenen gefragt, Was, 9 Gorgias, wird uns dafür werden, wenn wir uns zu dir gesellen? worüber werden wir vermögen der Stadt Rath zu geben? nur über Recht und Unrecht allein, oder auch über das, was Sokrates eben anführte? Versuche also ihnen zu antworten.

Gorgias. So will ich denn versuchen, Sokrates, dir recht deutlich die ganze Kraft der Redekunst aufzudekken. Denn du selbst hast es sehr gut eingeleitet. Nämlich du weisst ja wol, dass diese Werfte und diese Mauern der Athener, und dieser Bau ihrer Häfen auf den Rath des Themistokles entstanden ist, theils auch des Perikles, nicht aber jener Baumeister aller Art.

Sokrates. So sagt man, 0 Gorgias, vom Themistokles; den

456 Perikles aber habe ich noch selbst gehört, als er seine Meinung vortrug wegen.der mittleren Mauer.

Gorgias. Und wenn eine Wahl solcher Männer angesezt ist, wie du .erwähntest, so siehst du doch, dass die Redner die Rath- gebenden sind, und deren Meinung durchgeht in solchen Dingen.

Sokrates. Eben weil ich mich hierüber wundere, Gorgias, frage ich so lange schon, was doch eigentlich das Wesen der Rede- kunst ist. Denn ganz übermenschlich gross dünkt sie mich, wenn ich sie so betrachte.

Gorgias. Wie wenn du erst alles wüsstest, Sokrates, dass sie mit einem Wort alle andern Kräfte zusammengenommen unter sich begreift! Einen auffallenden Beweis will ich dir hievon geben. Nämlich gar oft bin ich mit meinem Bruder oder andern Aerzten zu einem Kranken hingegangen, der entweder keine Arznei nehmen, oder den Arzt nicht wollte schneiden und brennen lassen, und da dieser ihn nicht überreden konnte, habe ich ihn doch überredet durch keine andere Kunst als die Redekunst. Ja ich behaupte, es möge in eine Stadt wohin du willst ein Redekünstler kommen und ein Arzt, und wenn sie vor der Gemeine oder. sonst einer Ver- sammlung redend durchfechten müssten, welcher von beiden zum Arzt gewählt werden sollte: so würde nirgends an den Arzt gedacht werden; sondern der zu reden versteht würde gewählt werden, wenn er wollte. Eben so im Streit gegen jeden andern Sachver- ständigen würde der Redner eher als irgend einer überreden, ihn selbst zu wählen. Denn es giebt nichts, worüber nicht ein Redner überredender spräche als irgend ein Sachverständiger vor dem

GÖRGIAS. 31.

Volke. Die Kraft dieser Kunst ist also in der That eine solche und so grosse. Indessen muss man sich, o Sokrates, der Rede- kunst gebrauchen wie auch jeder andern Streitkunst. Denn aueh anderer Streitkunst muss man sich deshalb nicht gegen alle Men- schen gebrauchen, weil einer den Faustkampf und das Ringen und das Fechten in Waffen so gut gelernt hat, dass er stärker darin ist-als Freunde und Feinde, und muss deswegen nicht seine Freunde schiagen und stossen und tödten. Noch, beim Zeus, wenn einer der den Uebungsplaz besucht hat, und ein tüchtiger Fechter ge- werden ist, hernach Vater und Mutter schlägt, oder sonst einen von Verwandten und Freunden, darf man deshalb nicht die Turn- meister und die Fechtmeister verfolgen, und aus den Städten ver- treiben. Denn diese haben ihre Kunst mitgetheilt, damit man sich ihrer rechtlich bediene gegen Feinde und Beleidiger zur Vertheidi- gung, nicht zum Angriff, und nur jene kehren es um, und bedienen sich der Stärke und der Kunst nicht richtig. Nicht also die Lehrer457 sind böse, noch ist die Kunst hieran Schuld und deshalb böse, sondern die, glaube ich, welche sie nieht richtig anwenden. Das- selbe nun gilt auch von der Redekunst. Vermögend ist freilich der Redner gegen Alle und über Alles so zu reden, dass er den meisten Glauben findet beim Volk, um es kurz heraus zu sagen, worüher er nur will. Deshalb aber soll er doch weder den Aerzten den Ruf entziehen, weil er das wol auszurichten vermöchte, noch andern Sachverständigen den ihrigen, sondern rechtlicher Weise sich auch der Redekunst gebrauchen, eben wie der Streitkunst. Und wenn einer, meine ich, ein Redner geworden ist, und handelt hernach ungerecht vermöge dieser Kraft und Kunst: so muss man, denke ich, nicht seinen Lehrer hassen und aus der Stadt verwei- sen. Denn zu rechtlichem Gebrauch hat dieser sie ihm übergeben; er aber bedient sich ihrer entgegengesezt. Den also, der sie un- richtig anwendet, mag es Recht sein zu hassen und zu vertreiben, nicht aber den, der ihn unterrichtet hat.

Sokrates. Ich denke, Gorgias, auch du wirst schon vielen Unterredungen beigewohnt, und dieses dabei bemerkt haben, dass nicht leicht eine Zusammenkunft so auseinander gehen kann, dass sie dasjenige, worüber sie zu sprechen unternahmen, gemeinschaft- lich bestimmt,. und so einander belehrt und von einander: gelernt hätten: vielmehr wenn sie über etwas uneins sind, und Einer den Andern beschuldigt er rede nicht richtig oder nicht bestimmt, so erzürnen sie sich, und meinen der Andere sage so etwas aus Miss- gunst gegen sie, weil er nämlich nur um seine Ehre sich ereifere

99 GORGIAS.

beim Gespräch, nicht aber den vorliegenden Gegenstand suche. Ja einige gehen zulezt auf die unanständigste Art auseinander mit Schimpfreden, und indem sie dergleichen Dinge einander anzuhören geben, die es sogar den Anwesenden leid machen für sich selbst, dass sie solcher Leute Zuhörer haben sein gewollt. Weshalb nun sage ich dies? Weil mich dünkt, du sagest jezt etwas nicht folge- rechtes, und nicht zusammenstimmend mit dem was du vorher sagtest von der Redekunst. Ich fürchte mich aber dich zu wider- legen, damit du nicht denkest, ich sage es nicht im Eifer auf die Sache, dass sie uns offenbar werde, sondern auf dich. Bist du nun eben ein solcher als ich, so möchte ich dich gern durchfra-

458gen; wo nicht, so würde ich es lassen. Und von welchen bin ich

einer? Von denen, die sich gern überweisen lassen, wenn sie etwas unrichtiges sagen, auch gern selbst überführen, wenn ein Anderer eiwas unrichtiges sagt; nicht unlieber jedoch jenes als dieses. Denn für ein grösseres Gut halte ich jenes um soviel, als es ja besser ist, selbst von dem grössten Uebel befreit zu werden, als einen Andern davon zu befreien. Denn nichts denke ich ist ein so grosses Uebel für den Menschen, als irrige Meinungen über das, wovon jezt die Rede ist unter uns. Behauptest nun auch du ein solcher zu sein, so wollen wir weiter reden; dünkt dich aber dass wir es lassen müssen, so wollen wir es immerhin lassen, und die Unterredung aufheben.

Gorgias. Allerdings behaupte auch ich ein solcher zu sein, wie du jezt vorzeigst, Vielleicht jedoch müssen wir auch auf die Anwesenden Bedacht nehmen. Denn schon lange ehe ihr gekommen seid, habe ich den Anwesenden vieles vorgetragen, und es mag sich leicht auch jezt in die Länge ziehen, wenn wir Gespräch füh- ren. Wir müssen also auch diese bedenken, damit wir nicht Einige hindern, die lieber eiwas anderes vornehmen wollten.

Chairephon. Den Ungestüm dieser Männer hört ihr ja selbst, o Gorgias und Sokrates, wie sehr sie zu hören wünschen, wenn ihr etwas redet, Ich selbst aber möchte ja nie so in Geschäften verwikkelt sein, dass ich solche und so vorgetragene Reden hint- ansezen müsste, weil mir dringender wäre etwas anderes zu. ver- richten.

Kallikles. Bei den Göttern, Chairephon, auch ich, der schon so vielen Unterredungen beigewohnt, weiss nicht, ob ich mich je- mals so ergözt habe als eben jezt: so dass es mir, und wenn ihr euch den ganzen Tag unterreden wollt, immer lieb sein wird,

A TEE ee ie ee

GORGIAS. 33

Sokrates. Von meiner Seite, Kallikles, ist kein Hinderniss, wenn Gorgias nur will.

Gorgias. Unziemlich würde es ja nın sein, Sokrates, wenn ich nicht wollte, zumal ich selbst aufgefordert habe zu fragen, was einer nur Lust hätte. Also, wenn es diesen gefällt, so sprich und frage was du willst.

Sokrates. So höre denn, Gorgias, was mich wundert an dem von dir gesagten, Denn vielleicht hast du ganz recht gesagt, und ich habe nur nicht richtig aufgefasst. Zum Redner, sagst du doch, könnest du einen machen, wenn er bei dir lernen will.

Gorgias. Ja.

Sokrates. Und zwar über jegliches, so dass er die Menge überredet, nicht belehrend jedoch, sondern nur Glauben erregend.

Gorgias. Allerdings.

Sokrates. Denn du sagtest eben, dass auch in Sachen der459

Gesundheit der Redner mehr Glauben finden würde, als der Arzt. Gorgias. Das sagte ich auch; bei der Menge nämlich. Sokrates. Und nicht wahr, dieses bei der Menge heisst bei

denen die nicht wissen? Denn bei den Wissenden wird er doch

nicht mehr Glauben finden als der Arzt?

Gorgias. Darin hast du Recht.

Sokrates. Findet er nun mehr Glauben als der Arzt, so findet er mehr Glauben als der Wissende?

Gorgias. Allerdings.

Sokrates. Ohne ein Arzt zu sein, nicht wahr?

Gorgias. Ja. -

Sokrates. Der Nichtarzt ist aber dessen unkundig, wessen der Arzt kundig ist?

Gorgias. Offenbar.

Sokrates. Der Nichtwissende also findet mehr als der Wis- sende Glauben unter den Nichtwissenden, wenn der Redner mehr Glauben findet als der Arzt. Folgt dies, oder was anders?

Gorgias. Dies folgt hier freilich.

Sokrates. Verhält sich nun nicht auch gegen die andern Künste insgesammt der Redner eben so und die Redekunst? Die Sachen selbst braucht sie nicht zu wissen, wie sie sich verhalten, sondern nur einen Kunstgrifl der Ueberredung ausgefunden zu ha- ben, so dass sie das Ansehn bei den Nichtwissenden gewinnt, mehr zu wissen als die Wissenden.

Gorgias. Ist das nun nicht ein grosser Vortheil, Sokrates,

Plat. W. II. Th. 1. Bd, 3

34 GORGIAS.

dass man ohne andere Künste gelernt zu haben, sondern nur diese einzige, um nichts zurükksteht hinter den Meistern in jenen?

Sokrates. Ob der Redner, weil es sich so mit ihm verhält, zurükksiteht oder nicht hinter jenen Andern, das wollen wir her- nach überlegen, wenn es uns zur Sache dient. Jezt lass uns dieses zuerst bedenken: ob auch, in Absicht des gerechten und unge- rechten, des schönen und unschönen, des guten und üblen, der Redner sich eben so verhält, wie in Hinsicht auf das gesunde und die andern Gegenstände der andern Künste; nämlich dass er von der Sache selbst nicht weiss, was gut ist oder übel, schön oder unschön, gerecht oder ungerecht, sondern nur Ueberredung sich erkünstelt hat, so dass er ein Nichtwissender unter den Nichtwissen- den dafür gilt mehr zu wissen als ein Wissender. Oder ist noth- wendig es zu wissen, und muss dessen schon vorher kundig zu dir kommen, wer die Redekunst von dir lernen soll? Wo aber nicht, wirst dann du, der Lehrer der Redekunst, den Ankömmling dieses nieht lehren, als welches deine Sache nicht ist, sondern ihn nur dahin bringen, dass er der Menge auch dieses zu wissen scheine, ohne es zu wissen, und gut zu Sein scheine, ohne es zu sein? Oder wirst du ganz und gar nicht im Stande sein ihn die Redekunst zu lehren, wenn er nicht hierüber vorher das richtige weiss? oder wie verhält es sich hiemit, Gorgias? Ja, um Zeus

460 willen! dekke nun, wie du vorher sagtest, die ganze Kraft der Redekunst auf, und sprich worin sie besteht!

Gorgias. Ich meine eben, Sokrates, wenn er jenes zufällig noch nicht weiss, so wird er auch das von mir lernen.

Sokrates. Halt! denn das ist vortrefflich gesagt. Wenn du einen zum Redner machen sollst, muss er nothwendig wissen was gerecht ist und ungerecht, es sei nun zuvor schon, oder erst nach- dem er es von dir gelernt?

Gorgias.. Allerdings.

Sokrates. Wie nun? Wer die Baukunst gelernt hat ist der ein Baumeister, oder nicht?

Gorgias. Ja. .

Sokrates. Und wer die Tonkunst ein Tonkünstler?

Gorgias. Ja.

Sokrates. Und wer die Heilkunde ein Heilkundiger, und so auch im iibrigen nach derselben Regel, wer etwas gelernt hat ist ein solcher, wozu jeden diese Erkenntniss macht?

Co, ‚ias. Freilich.

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Sokrates. Also, nach demselben Verhältniss, wer das gerechte gelernt hat, ist gerecht?

Gorgias. Auf alle Weise freilich.

Sokrates. Der Gerechte aber handelt doch gerecht?

Gorgias. Ja.

Sokrates. Also nothwendig, dass der Redekünstler gerecht ist, und der Gerechte gerecht handelt?

Gorgias. So zeigt es sich ja.

Sokrates. Und niemals wird doch der Gerechte wollen Un- recht thun?

Gorgias. Natürlich.

Sokrates. Der Rednerische aber ist unserer Rede zufolge nothwendig gerecht.

Gorgias. Ja.

Sokrates. Niemals also wird der Rednerische wollen Un- recht thun.

Gorgias. Nein, wie es ja scheint.

Sokrates. Erinnerst du dich nun vor kurzem gesagt zu haben, man müsse den Turnmeistern nicht die Schuld geben, noch sie aus der Stadt verweisen, wenn der Faustkämpfer seine Kunst nieht schön gebraucht und unrecht thut? Eben so wenn ein Redner die Redekunst ungerecht gebrauche, müsse man nicht dem Lehrer die Schuld geben, noch ihn aus der Stadt verweisen, sondern dem Unrechithuenden und die Redekunst nicht richtig Anwendenden? Ist das gesagt worden oder nicht?

Gorgias. Es ist gesagt worden.

Sokrates. Nun aber zeigt sich, dass dieser nämliche, der Redekünstlier, niemals unrecht thut. Oder nicht?

Gorgias. So zeigt es sich.

Sokrates. Auch in unsern ersten Reden, o Gorgias, wurde ja gesagt, die Redekunst habe es mit Reden nicht vom geraden und ungeraden zu thun, sondern vom gerechten und ungerechten. Nicht so?

Gorgias. Ja.

Sokrates. Ich nun, als du dies damals sagtest, verstand dich so, die Redekunst könne niemals etwas ungerechtes sein, da ja immer ihre Reden von der Gerechtigkeit handeln. Als du aber bald darauf sagtest, der Redner könne wol auch sich der Rede- kunst ungerecht gebrauchen: so habe ich, hierüber verwundert, und in der Meinung das gesprochene stimme nicht zusammen, 461 jenes gesagt, dass wenn du es für einen Gewinn hieltest überführt

3"

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zu werden, wie ich es dafür halte, es dann lohnte uns weiter zu besprechen, wo aber nicht, wir es besser unterliessen. Und nun wir es noch einmal erwogen haben, siehst du auch selbst, ist wiederum festgestellt worden, dass unmöglich sei der Redner könne die Redekunst ungerecht gebrauchen oder unrecht thun wollen. Dieses nun, wie es sich eigentlich verhalte, zu unter- suchen, dazu, o Gorgias, mag, beim Hunde! eine gar nicht kurze Unterredung erfordert werden.

Polos. Wie doch, Sokrates? Denkst du auch wirklich so über die Redekunst, wie du jezt sprichst? Oder meinst du, weil Gorgias sich geschämt dir darin nicht beizustimmen, dass ein Redner nicht auch das gerechte wissen müsse, und das schöne, und das gute? und dass wenn einer, dies nicht wissend, zu ihm käme, er es ihn lehren müsse? und hernach eben durch dieses Eingeständniss viel- leicht etwas widersprechendes in seine Reden gekommen, daran deine Freude zu haben, nachdem du zu solchen Fragen die Unter- redung hingeleitet. Denn wer meinst du wol würde läugnen wollen, dass er selbst nicht des gerechten kundig sei, und es auch Andere lehren könne? Aber auf dergleichen die Rede hinzuführen ist sehr ungesittet.

Sokrates. Nun, schönster Polos, eben dazu ausdrükklich ha- ben wir ja unsere Freunde und Söhne, damit, wenn wir selbst im höheren Alter uns irren, ihr Jüngeren bei der Hand seid, und uns das Leben wieder berichtiget in That und Wort. Auch jezt also, wenn ich und Gorgias in unserer Rede uns irren, bist du ja bei der Hand, berichtige uns also. Gebühren mag es dir wol. Und ich bin bereit, wenn du glaubst irgend etwas von dem zuge- standenen sei nicht mit Recht zugestanden worden, dir zurükk- zugeben, was du willst, wenn du mir nur Eins beobachtest.

Polos. Was meinst du nur?

Sokrates. Die langen Reden, Polos, wenn du die nur zu- rükkhältst, deren du dich auch zuvor schon bedienen wolltest.

Polos. Wie doch? es soll mir nicht erlaubt sein, zu reden wieviel ich will? >

Sokrates. Das wäre freilich hart für dich, Bester, wenn du solltest nach Athen gekommen sein, wo in ganz Hellas die grösste Freiheit im Reden herrscht, und du allein solltest ihrer eben hier entbehren. Nur nimm auch dagegen, wenn du weitläuftiges redest und das gefragte nicht beantworten willst, wäre es dann nicht wiederum sehr hart für mich, wenn mir nicht erlaubt sein sollte wegzugehen, und dich nicht anzuhören? Also wenn du dich des

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aufgestellten Sazes aunehmen, und ihn berichtigen willst: so nimm,462 wie ich eben sagte, zurükk was dir beliebt, und dann nach der Ordnung fragend und befragt, wie ich und Gorgias, überführe mich und lass dich überführen. ‘Denn du rühmst dich doch auch das- selbe zu verstehen was Gorgias. Oder nicht?

Polos. Das behaupte ich.

Sokrates. Also auch du forderst wol auf, dass man dich frage, was jeder jedesmal will, als der wol versteht zu antworten.

Polos. Allerdings.

Sokrates. So ihue denn auch jezt, welches von beiden du willst; frage oder antworte.

Polos. Wol, das will ich thun. Antworte mir also, Sokrates, da du doch meinst, Gorgias wisse keinen Rath wegen der Rede- kunst, was meinst du denn, dass sie ist?

Sokrates. Fragst du welche Kunst ich behaupte dass sie sei?

Polos. Eben das.

Sokrates. Gar keine, dünkt mich, o Polos, um doch zu dir die Wahrheit zu sagen.

Polos. Sondern was dünkt dich denn die Redekunst zu sein?

Sokrates. Dasjenige, woraus die Kunst hervorgeht, wie du sagst in der Schrift, die ich neulich gelesen. |

Polos. Was meinst du doch wol?

Sokrates. Eine gewisse Uebung meine ich.

Polos. Also eine Uebung dünkt dich die Redekunst zu sein?

Sokrates. Ja, wenn du nicht etwas anderes sagst.

Polos. Und eine Uebung worin?

Sokrates. In Bewirkung einer gewissen Lust und Wohl- gefallens, |

Polos. Dünkt dich also nicht die Redekunst etwas schönes zu sein, wenn man im Stande ist, den Menschen gefällig zu sein?

Sokrates. Wie doch Polos? hast du etwa schon von mir er- fahren, was sie meiner Meinung nach ist, dass du schon das weitere fragst, ob ich sie nicht für etwas schönes halte?

Polos. Habe ich denn nicht erfahren, dass sie deiner Mei- nung nach eine Uebung ist?

Sokrates. Willst du wol, da du auf das Gefälligsein so viel Werth legst, mir auch in einer Kleinigkeit gefällig sein?

Polos. Sehr gern.

Sokrates. So frage mich doch, welche Kunst die Kochkunst mir zu sein scheint?

Polos. Ich frage dich also, welche Kunst ist die Kochkunst?

38 GORGIAS.

Sokrates. Gar keine, o Polos.

Polos. Aber was denn? sprich.

Sokrütes. lch spreche also, eine Uebung.

Polos. Was doch für eine? sage an.

Sokrates. Ich sage also in Bewirkung einer gewissen Lust und Wohlgefallens, o Polos.

Polos. Einerlei ist also Kochkunst und Redekunst?

Sokrates. Keinesweges, sondern nur Theile desselben Be- strebens.

Polos. Was doch für eines?

Sokrates. Wenn es nur nicht unziemlich ist die Wahrheit heraus zu sagen; denn ich trage wirklich Bedenken, des Gorgias wegen es zu sagen, damit er nicht glaube, ich wolle sein eignes Bestreben auf Spott ziehen. Indess, ob dies die Redekunst ist, was Gorgias treibt, weiss ich ja nicht; denn eben jezt aus dem

463 Gespräch ist uns nicht offenbar worden, was er recht meint. Was ich aber die Redekunst nenne, das ist ein Theil einer Sache, die gar nicht unter die schönen gehört.

Gorgias. Was doch für einer, Sokrates? sage es nur ohne mich zu scheuen.

Sokrates. Mich dünkt also, Gorgias, es giebt ein gewisses Bestreben, das künstlerisch zwar gar nicht ist, aber einer dreisten Seele die richtig zu treffen weiss, und schon von Natur stark ist in Behandlung der Menschen; im ganzen aber nenne ich es Schmei- chelei. Diese Bestrebung nun scheint mir viele andere Theile zu haben, wovon einer auch die Kochkunst ist, welche für eine Kunst zwar gehalten wird, wie aber meine Rede lautet, keine Kunst ist, sondern nur eine Uebung und Fertigkeit. Von derselben. nun be- trachte ich als einen Theil auch die Redekunst, und die Puzkunst, und die Sophistik: vier Theile für vier Gegenstände. Wenn also Polos mich ausfragen will, so thue er es. Denn noch hat er mir nicht abgefragt, welcher Theil der Schmeichelei ich meine, dass die Redekunst sei; sondern ohne zu bemerken, dass ich dies noch nicht beantwortet, fragt er schon weiter, ob ich sie nicht für etwas schönes halte. Ich aber werde ihm nicht eher antworien, ob ich die Redekunsi für etwas schönes oder etwas unschönes halte, bis ich ihm zuvor geantwortet habe, was 516 ist. Denn .das wäre nicht recht, Polos. Also wenn du es erfahren willst, so frage, welcher Theil der Schmeichelei ich dann meine dass die Redekunst sei.

Polos. 30 frage ich denn, und antworte du, was für ein Theil.

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Sokrates. Ob du auch wol verstehen wirst, wenn ich ant- worte? Nämlich nach meiner Erklärung ist die Redekunst von einem Theile der Staatskunst das Schaitenbild.

Polos. Wie nun? sagst du, sie sei schön oder unschön?

Sokrates. Unschön. Denn das böse nenne ich unschön, da ich dir doch antworten soll, als wüsstest du schon, was ich meine.

Gorgias. Beim Zeus, Sokrates, verstehe ich doch selbst nicht, was du meinst.

Sokrates. Wol glaublich, Gorgias. Denn ich sage auch noch nichts bestimmtes. Dieser Polos aber ist gar jung und hizig.

Gorgias. Also lass nur diesen, und sage mir, wie du denn meinst, die Redekunst sei von einem Theile der Staatskunst das Schattenbild.

Sokrates. Wol, ich will versuchen zu erklären, was mir die Redekunst zu sein scheint, und wenn sie dies nicht sein sollte, so mag mich Polos widerlegen. Du nennst doch etwas Leib und Seele?

Gorgias. Wie sollte ich nicht.

Sokrates. Und glaubst auch, dass es ein Wohlbefinden giebt464 für jedes von diesen beiden?

Gorgias. Auch das.

Sokrates. Wie aber? auch ein scheinbares Wohlbefinden, das keines ist? Ich meine dergleichen: Viele haben das Ansehn, sich ganz wol zu befinden dem Leibe nach, denen nicht leicht Jemand abmerken würde, dass sie sich nicht wol befinden, ausser ein Arzt etwa und einer von den Turnverständigen.

Gorgias. Ganz recht.

Sokrates. Dergleichen nun, sage ich, giebt es am Leibe und in der Seele, welches macht, dass Leib oder Seele scheint sich wol zu befinden, befindet sich aber deshalb doch nicht so.

Gorgias. Das giebt es.

Sokrates. Wolan denn, wenn ich kann, will ich dir nun deutlicher zeigen was ich meine. Für diese zwei Dinge seze ich zwei Künste, und nenne die für die Seele die Staatskunst; die aber für den Leib kann ich dir nicht so als Eine benennen, son- dern ich seze von dieser Einen Besorgung des Leibes wiederum zwei Theile, die Turnkunst als den einen, die Heilkunst als den andern. So auch in der Staatskunst, gegenüberstehend der Turn- kunst die Gesezgebung, gegenüberstehend aber der Heilkunst die Rechtspflege. So haben je zwei von diesen als auf denselben Gegenstand sich beziehend etwas mit einander gemein, die Heil-

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kunde mit der Turnkunst, und die Rechtspflege mit der Gesez- gebung, doch aber sind sie auch wieder verschieden. Diese vier nun, welche immer mit Hinsicht auf das beste die Angelegenheiten, jene beiden des Leibes, diese beiden der Seele besorgen, bemerkt nun die Schmeichelei, nicht sie erkennt sie, sage ich, sondern sie spürt und trifft sie nur, theilt sich nun selbst in vier Theile, ver- kleidet sich in jene Theile, und stellt sich nun an dasjenige zu sein, worin sie sich. verkleidet; auf das beste aber gar nicht den- kend fängt sie durch das jedesmal angenehmste den Unverstand und hintergeht ihn so, dass sie ihm scheint überaus viel werth zu sein. In die Heilkunst nun verkleidet sich die Kochkunst, und stellt sich an zu wissen, welches die besten Speisen sind für den Leib, so dass wenn vor Kindern oder auch vor Männern, die sa unverständig wären als die Kinder, ein Arzt und ein Koch sich um den Vorzug streiten sollten, wer von beiden sich auf heilsame und schädliche Speisen verstände, der Arzt oder der Koch, könnte der Arzt Hungers sterben. Schmeichelei nun nenne ich das, und behaupte es sei etwas schlechtes, o Polos, denn zu dir sage ich 465 dies, weil es das angenehme zu trefien sucht ohne das beste. Eine Kunst aber läugne ich, dass es sei; sondern nur eine Uebung, weil sie keine Einsicht hat von dem: was sie anwendet, was es wol seiner Natur nach ist, und also den Grund von einem jeden nicht anzugeben weiss; ich aber kann nichts Kunst nennen, was eine unverständige Sache ist. Und bist du etwa hierüber anderer Meinung: so will ich dir Rede stehen. In die Heilkunst also, wie gesagt, verkleidet sich die kochkundige Schmeichelei, in die Turnkunst aber auf eben die Weise die puzkundige, die gar verderblich ist und betrügerisch, unedel und unanständig, und durch Gestalten und Farben und Glätte und Bekleidung die Men- schen so betrügt, dass sie fremde’ Schönheit herbeiziehend, die eigne, welche durch die Kunst der Leibesübungen entsteht, ver- nachlässigen. Um nun nicht weitläuftig zu werden will ich es dir ausdrükken wie die Messkünstler, denn nun wirst du ja wol schon folgen können, nämlich dass wie die Puzkunst zur Turnkunst, so die Kochkunst zur Heilkunst, oder vielmehr so, wie die Puzkunst zur Turnkunst, so die Sophistik zur Gesezgebung, und wie die Kochkunst zur Heilkunst, so die Redekunst zur Rechtspflege. Wie ich nun sage, so stehen sie ihrem Wesen nach aus ein- ander; wie sie aber auch nahe sind, werden sie unter einander gemischt, und in Beziehung auf dasselbe, und wissen selbst nicht, was sie mit sich, noch auch andere Menschen, was sie mit

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ihnen anzufangen haben. Denn wenn die Seele nicht dem Leibe vorstände, sondern dieser sich selbst, dass also von jener nicht Kochkunst und Heilkunst verglichen und unterschieden würden, sondern der Leib selbst nach Maassgabe des für ihn wohlgefälligen urtheilen müsste: so würde es mit jenem Anaxagoreischen gar weit gehen, lieber Polos, denn du bist dieser Dinge ja kundig, nämlich alle Dinge würden alles zugleich sein unter einander ge- mischt, und ungesondert bliebe das gesunde und heilkunstmässige von dem kochkunsimässigen. Was ich nun meine dass die Rede- kunst sei hast du gehört, nämlich das Gegenstükk zur Kochkunst, für die Seele was diese für den Leib. Vielleicht nun habe ich es widersinnig angefangen, dass ich dich nicht wollte lange Reden halten lassen, und nun selbst die Rede ziemlich lang gedehnt habe. Billig aber muss man mir dies verzeihen. Denn als ich kurz re- dete, verstandest du mich nicht, und wusstest nichts anzufangen mit der Antwort,- die ich dir gab, sondern bedurftest einer Erör-466 terung. Wenn nun auch ich mit deinen Antworten nichts werde anzufangen wissen, dann dehne auch du die Rede; weiss ich es aber, so lass mich damit machen, denn so ist es billig. Auch jezt also, wenn du mit dieser Antwort etwas zu machen weisst, 80 thue es.

Polos. Was sagst du also? Schmeichelei dünkt dich die Redekunst zu sein?

Sokrates. Von der Schmeichelei, sagte ich, ein Theil. Hast du kein Gedächtniss in deinen Jahren, Polos, was wirst du denn thun wenn du alt wirst?

Polos. Scheinen dir denn in den Staaten die ausgezeich- neten Redner wie Schmeichler für schlechte Leute schlecht ge- achtet zu werden?

Sokrates. Fragst du da eine Frage, oder ist es der Anfang einer Rede?

Polos. Ich frage.

Sokrates. Nun dann, gar nicht geachtet werden sie, meine ich.

Polos. Wie, nicht geachtet? haben sie nicht am meisten Macht in den Städten’?

Sokrates. Nein, wenn du unter dem Macht haben verstehst, dass es etwas gutes ist für den Vermögenden.

Polos. So verstehe ich es allerdings.

Sokrates. Dann dünkt mich haben die Redner unter allen in der Stadt am wenigsten Macht.

Polos. Wie? tödten sie nicht wie die Tyrannen, wen sie

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wollen, und berauben des Vermögens, und verweisen aus der Stadt, wen ihnen gut dünkt?

Sokrate.. Beim Hunde! Jedoch bin ich zweifelhaft, Polos, bei jedem was du sagst, ob du selbst das sagst und deine Mei- nung darlegst, oder ob du mich fragst.

Polos. Freilich frage ich dich.

Sokrates. Wol, Lieber! Dann fragst du zweierlei zugleich.

Polos. Wie so zweierlei?

Sokrates. Sagtest du nicht jezt gleich so, die Redner tödteten wen sie wollen, und beraubten des Vermögens und verbannten aus der Stadt wen ihnen gut dünkt?

Polos. So sagte ich.

Sokrates. So sage ich dir denn, dass dies zwei Fragen sind, und dass ich dir auf beide antworten will. Ich behaupte nämlich, Polos, Macht haben Redner sowol als Tyrannen eigentlich am we-

nigsten im Staat, weil sie nämlich nichts thun was sie wollen, dass ich es gerade heraus sage; jedoch thun sie freilich was ihnen dünkt das beste zu sein.

Polos. Dies ist ja doch eben das Macht haben das viel ver- mögen.

Sokrates. Nein, wie Polos wenigstens sagt.

Polos. Ich sagte Nein? ich sage eben Ja.

Sokrates. Nein wahrlich, du wol nicht, da du ja sagtest, Macht haben, viel vermögen sei etwas gutes dem der sie hat.

Polos. Das sage ich freilich.

Sokrates. Meinst du also, das sei gut, wenn, was ihn dünkt das beste zu sein, einer ausrichtet, der keine Erkenntniss hat? und nennst du das viel vermögen?

Polos. Nein, das nicht.

Sokrates. Also musst du zeigen, dass die Redner Erkennt- niss haben, und die Redekunst eine Kunst ist, nicht blosse Schmeichelei, mich widerlegend. Wenn du mich aber unwiderlegi

467lässt, so werden die Redner, wenn sie in den Städten thun, was ihnen gut dünkt, und so auch die Tyrannen, hieran nichts gutes besizen. Und Macht haben soll doch wie du behauptest etwas gutes sein. Ausrichten aber was einen bedünkt ohne Erkenntniss, das räumst auch du ein, sei’ ein Uebel. Oder nicht?

Polos. Das räume ich ein.

Sokrates. Wie also sollten wol Redner Macht haben im Staate oder auch Tyrannen, wenn nicht dem Sokrates zuvor vom Polos bewiesen wird, dass sie bewirken was sie wollen?

en

GORGIAS. 45

Polos. Das ist mir ein Mann!

Sokrates.- Ich läugne, dass sie bewirken was sie wollen. Widerlege mich. .

Polos. Hast du nicht eben zugegeben, dass sie bewirken, was ihnen dünkt das beste zu sein?

Sokrates. Das gebe ich auch noch zu.

Polos. So bewirken sie ja, was sie wollen?

Sokrates. Das läugne ich.

Polos. Ohnerachtet sie bewirken was ihnen gut dünkt?

Sokrates. Ja.

Polos. Erbärmliche Sachen sagst du, und ganz ungewaschene.

Sokrates. Ei, theures Freundchen, dass ich dich doch nach deiner Weise anrede, schelte nicht; sondern wenn du verstehst mich zu fragen, so zeige dass ich unrecht habe, wo nicht, so ant- worte selbst.

Polos. Ich will auch antworien, um doch zu sehen was du meinst.

Sokrates. Denkst du denn, dass die Menschen dasjenige wollen was sie jedesmal «thun? oder vielmehr jenes, um deswillen sie dasjenige thun was sie thun? Wie etwa, die Arznei einnehmen von den Aerzten, denkst du, dass die dasjenige wollen, was sie thun, Arzenei nehmen und Schmerzen haben, oder jenes das Ge- nesen, um deswillen sie sie nehmen?

Polos. Offenbar das Genesen, jum deswillen sie die Arznei nehmen].

Sokrates. So auch bei den Schifffahrttreibenden, und die auf anderes Gewerbe ausgehen, ist was sie wollen, nicht dasjenige, was sie jedesmal thun. Denn wer will wol zu Schiffe sein, und in Gefahr schweben und Händel haben? Sondern jenes, denke ich, um deswillen sie zu Schiffe gehen, das Reichwerden; denn um | des Reichthums willen gehen sie zu Schiffe.

Polos. Allerdings.

Sokrates. Ist es nun nicht eben so mit allem, wenn Jemand etwas ım eines Andern willen thut, so will er nicht das, was er thut, sondern das, um deswillen er es thut?

Polos. Ja.

Sokrates. Giebt es nun wol etwas, das nicht entweder gut wäre oder übel, oder zwischen beiden, weder gut.noch übel?

Poios. Eins von diesen ganz notliwendig, Sokrates.

Sokrates. Sagst du nun nicht, dass gut die Weisheit 151 und

44 GORGIAS,

die Gesundheit und der Reichthum, und das übrige der Art, übel aber das Gegentheil hievon?

Polos. Allerdings.

Sokrates. Weder gut noch übel aber meinst du sei der- gleichen, was bisweilen mit dem guten zusammenhängt, bisweilen

468 mit dem Uebel, bisweilen mit keinem von beiden? wie sizen und

gehn, laufen und schiffen; und wiederum wie Stein und Holz und anderes dergleichen. Meinst du nicht dies? oder nennst du etwas anderes weder gut noch böse?

Polos. Nein, sondern dieses.

Sokrates. Thun sie nun etwa dies mittlere um des guten willen, wenn sie es thun, oder das gute um des mittleren willen?

Polos. Das mittlere doch wol um des guten willen.

Sokrates. Dem guten also nachtrachtend gehen wir, wenn wir gehen, in der Meinung dass es besser sei, und wenn wir im Gegentheil stehen, so stehen wir um des nämlichen willen, des guten. Oder nicht?

Polos. Ja.

Sokrates. Also tödten wir auch wenn wir Jemand tödten, und vertreiben und berauben des Vermögens, in der Meinung es sei uns besser dieses zu ihun als nicht?

Polos. Allerdings.

Sokrates. Um des guten willen also thut alles dieses, wer es thut.

Polos. Das gebe ich zu.

Sokrates. Haben wir nun nicht eingestanden, was wir um eines Andern willen thun, dieses selbst wollten wir eigentlich nicht, sondern nur jenes, um deswillen wir es eigentlich thun?

Polos. Unbedenklich.

Sokrates. Also wollen wir nicht hinrichten und des Landes verweisen und des Vermögens berauben, so schlechthin an sich; sondern wenn uns dergleichen nüzlich ist wollen wir es ihun, ist es uns aber schädlich dann nicht. Denn nur das gute wollen wir, wie du behauptest, das weder gut noch üble aber wollen wir nicht, noch auch das üble. Nicht wahr? Dünkt dich dass ich Recht habe, Polos, oder nicht? Warum antworiest du nicht?

Polos. Recht. |

Sokrates. Wenn wir also hierin einig sind, so wird, wenn Jemand einen hinrichten lässt, oder aus dem Staate vertreibt, oder seines Vermögens beraubt, in der Meinung, es sei für ihn selbst besser, es ist aber in der That schlimmer für ihn, dieser zwar allerdings thun, was ihn gut dünkt; nicht wahr?

GORGIAS. 45

Polos. Ja. |

Sokrates. Aber etwa auch was er will, wenn es doch ein Uebel für ihn ist? Was antwortest du nicht?

Polos. Nein also; er scheint mir nicht zu ihun, was er will.

Sokrates. Kann man also wol sagen, ein solcher habe Macht in diesem Staat, wenn doch mächtig sein, wie du einräunftest, etwas gutes ist?

Polos. Man kann es nicht sagen.

Sokrates. Recht also hatte ich, als ich sagte, es könne gar wol ein Mensch, der in der Siadt ausrichtet was ihm bedünkt, dennoch nicht mächtig sein, noch auch ausrichten was er will.

Polos. Also du, Sokrates, wünschtest nicht, dass dir frei stände zu thun was dich gut dünkt in der Stadt, lieber als es nicht zu können, und bist nicht neidisch, wenn du einen siehst, der ums Leben gebracht hat, wen es ihm beliebte, oder des Eigen- thums beraubt, oder ins Gefängniss gesezt?

Sokrates. Meinst du rechtmässig oder unrechtmässig?

Polos. Wie er es auch thue, ist es nicht in beiden Fällen zu beneiden?

Sokrates. Sprich besser, o Polos!

Polos. Wie so?

Sokrates. Man soll ja wol weder die nicht zu beneidenden 469 beneiden, noch die Elenden, sondern die bedauern.

Polos. Und wie? so meinst du, stehe es mit denjenigen, von welchen ich rede?

Sokrates. Wie wol anders?

Polos. Wer also tödten kann, wen es ihm beliebt, der dünkt dich, wenn er ihn mit Recht tödtet, elend zu sein und bedauerns- würdig?

Sokrates. Nein das nicht; aber auch nicht beneidenswerth.

Polos, Behauptetest du nicht eben, er sei ein Elender?

Sokrate.. Von dem unrechtmässig tödtenden, o Freund, und dass er bedauernswürdig wäre dazu; wer aber rechtmässig, wäre auch nicht zu beneiden.

Polos. Vielmehr wer unrechtmässiger Weise sterben muss, ist bedauernswürdig und elend.

Sokrates. Weniger als der ihn tödtet, Polos, und auch we- niger, als der rechtmässiger Weise sterben muss.

Polos. Wie das, Sokrates?

Sokrates. So, wie ja unrecht thun das grösste aller Uebel ist.

Polos. Also dies ist das grösste? nicht unrecht leiden grösser?

46 GORGIAS.

Sokrates. Keinesweges.

Polos. Du also wolltest unrecht leiden lieber als unrecht thun ?

Sokrates. Ich wollte wol keines von beiden; müsste ich aber eines von beiden unrecht thun oder unrecht leiden, so würde ich vorziehen lieber unrecht zu leiden als unrecht zu thun.

Polos. Du also möchtest nicht ein Tyrann sein?

Sokraies. Nein, wenn du darunter dasselbe verstehst wie ich.

Polos. Ich verstehe darunter eben das vorige, dass man Macht habe im Staate was einem gutdünkt auszurichten, zu tödten, zu vertreiben, und alles zu thun nach eignem Wohlgefallen.

Sokrates. O Bester, was ich dir jezt sagen will, das nimm doch recht vor. Wenn ich auf vollem Markt mit einem Dolch unter dem Arm zu dir spräche: 0 Polos, zu einer wunderbaren Gewalt und Herrschaft bin ich jezt gelangt. Denn wenn es mir gefiele, dass irgend einer von diesen Menschen, die du hier siehst, sogleich sterben sollie: so wird der todt sein, von dem es mir gefällt. Und wenn, dass einem der Kopf müsste eingeschlagen werden, so würde er sogleich eingeschlagen sein; und wenn einem cas Kleid zu zerreissen, so wäre es zerrissen. So viel Macht habe ich in dieser Stadt. Wenn du es dann bezweifeltest, und ich dir den Dolch zeigte, so würdest du mir vielleicht sagen: Ja auf diese Art, Sokrates, kann jeder Macht haben. Auf diese Weise müsste auch jedes Haus abbrennen was dir einfiele, und der Athener Schiffswerfie und Galeeren und alle Schiffe, die. der Stadt oder Einzelnen gehören. Aber das heisst nicht mächtig sein, auf diese Art thun was einem gut dünkt. Oder meinst du?

Polos. Nein, so freilich nicht.

Sokrates. Kannst du nun wol sagen, warum du eine solche Macht tadelst?

470 Polos. Das kann ich.

Sokrates. Warum denn? sprich.

Polos. Weil nothwendig wer so zu Werke geht, zu Schaden kommt. N

Sokrates. Und ist das Schadenleiden nicht ein Uebel?

Polos. Freilich.

Sokrates. Also, du Wunderlicher, zeigt sich dir schon wieder das mächtig sein nur da, wo indem einer thut, was ihm bedünkt, auch dies damit verbunden ist, dass er es zu seinem Vortheil thue und dass es gut sei; und eben dies nun, wie es scheint, ist das mächtig sein, wenn aber nicht, und es ein Uebel ist, dann

GORGIAS. 47

ist es ohnmächtig sein. Erwägen wir auch dies. Gestehen wir nicht ein, dass es bisweilen besser ist das zu thun, was wir eben anführten, Menschen zu tödten und zu verbannen und des Eigen- thums zu berauben, bisweilen aber auch nicht?

Polos. Freilich.

Sokrates. Dies also, wie es scheint, wird von- dir nicht min- der als von mir eingestanden.

Polos. Ja. |

Sokrates. Wann also meinst du, dass es besser sei dies zu thun? Sprich, welche Bestimmung sezest du fesi?

Polos. Du, o Sokrates, beantworte doch eben dieses.

Sokrates. Ich also behaupte, o Polos, wenn dir doch lieber ist von mir dies zu hören, dass wenn einer dieses rechtmässig thut, es besser ist, wenn aber unrechtmässig, dann schlimmer.

Polos. Ein schweres Stükk ist es wol dich zu überführen, Sokrates; aber könnte nicht jedes Kind dich überführen, dass du nicht Recht hast?

Sokrates. So werde ich dem Kinde grossen Dank wissen, und gleichen auch dir, wenn du mich überführst und ‘der Thor- heit entledigest. Also lass dirs nicht beschwerlich sein, einem Freunde dich wohlthätig zu erzeigen.

Polos. Wol denn, Sokrates, es ist gar nicht nöthig, dich durch alte Geschichten zu widerlegen; sondern was gestern und ehegestern sich ereignet hat, ist hinlänglich dich zu widerlegen und zu beweisen, dass viele Menschen, welche unrecht thun, glükkselig sind.

Sokrates. Welche Ereignisse nur? |

Polos. Du siehst doch diesen Archelaos, des Perdikkas Sohn, über Makedonien herrschen?

Sokrates. Wenigstens höre ich es doch.

Polos. Dünkt dich nun der glükkselig zu sein oder elend?

Sokrates. Ich weiss nicht. Polos; denn ich habe nie Umgang gehabt mit dem Manne.

Polos. Wie doch? im Umgang würdest du es erkennen; anders aber kannst du von selbst nicht einsehen, dass er glükk- selig ist?

Sokrates. Beim Zeus, nicht recht.

Polos. Offenbar also, Sokrates, wirst du auch nicht einmal vom grossen Könige wissen wollen, dass er glükkselig ist.

Sokrates. Und ganz mit Recht werde ich das sagen. Denn ich weiss ja nicht, wie es um seine Einsicht und Gerechtigkeit steht.

48 GORGIAS.

Polos. Wie? darin also besteht alle Glükkseligkeit?

Sokrates. Wie ich wenigstens sage, Polos. Denn wer recht- schaffen und gut ist, der, behaupte ich, ist glükkselig, sei es Mann oder Frau; wer aber ungerecht und böse, ist elend.

471 Polos. Unglükkselig also ist dieser Archelaos nach deiner Meinung?

Sokrates. Wenn er anders ungerecht ist, Freund.

Polos. Wie sollte er denn nicht ungerecht sein, dem ja von der Herrschaft gar nichts gebührte, die er jezt hat, indem er von einer Mutter geboren ist, welche dem Alketas, dem Bruder des Perdikkas, als Magd gehörte? Nach dem Recht also wäre er des Alketas Knecht, und wollte er gerecht handeln, so müsste er dem Alketas dienen, und wäre dann doch glükkselig, nach deiner Rede. Nun aber ist es wunderbar wie unglükkselig er geworden, weil er so äusserst ungerecht gehandelt hat, indem er zuerst eben diesen seinen Herrn und Ohm zu sich einlud, als wolle er ihm die Herr- schaft übergeben, welche Perdikkas ihm geraubt halte, dann ihn und seinen Sohn Alexandros, seinen eignen Vetter also fast von gleichem Alter mit ihm selbst, beide bewirthete und trunken machte, dann sie auf einen Wagen geworfen bei Nacht fortschaffen und beide umbringen liess, dass niemand weiss wo sie geblieben sind. Und nach solcher ungerechten That merkte er gar nicht, dass er selbst der unglükkseligste Mensch geworden war, und es gereuete ihn auch gar nicht, sondern er wollte noch immer nicht glükkselig werden, dadurch dass er seinen Bruder, den vollbür- tigen Sohn des Perdikkas, ein siebenjähriges Kind, dem nun nach dem Rechte die Regierung zukam, auferzogen, und sie ihm über- geben hätte. Vielmehr liess er diesen bald darauf in eine Pfüze werfen und ertränken, und sagte zu seiner Mutter Kleopatra, er sei einer Gans nachgelaufen und so hineingefallen. Dem zufolge ist er nun, wie er gewiss unter allen in Makedonien am unge- rechtesten gehandelt hat, auch der elendeste aller Makedonier, und nicht der glükkseligste, und es möchte vielleicht mancher Athener, du voran, lieber jeder andere Makedonier ‘sein als Archelaos.

Sokrates. Schon am Anfang unserer Unterredung, o Polos, habe ich dich gelobt, dass mir schien, du habest dich sehr gut in der Redekunst gebildet, wiewol die Kunst des Gesprächs darüber vernachlässigt. Auch jezt, nicht wahr, ist dies nun die Rede, womit jedes Kind mich widerlegen könnte, und ich bin also nun, wie du meinst, durch diese Rede widerlegt mit meiner Behaup- tung, dass wer unrecht handle nicht glükkselig sein könne. Woher

GORGIAS. 43

doch, du Guter? Gebe ich dir doch nichts zu von Allem, was du sagst.

Polos. Du willst eben nicht, denkst aber doch gewiss eben wie ich rede.

Sokrates. Du Seliger, gedenkst eben mich auf rednerische Art zu überführen, wie sie auch an der Gerichtsstätte Beweis zu führen sich einbilden. Denn auch da glaubt ein Theil den andern überführt zu haben, wenn er für seine Behauptung, die er vor- trägt, viele Zeugen aufstellen kann und angesehene, der Gegenpart aber etwa einen aufstellt oder gar keinen. Ein solcher Beweis aber ist gar nichts werih, wo es auf die Wahrheit ankommt. Denn472 gar manches Mal kann einer unter den falschen Zeugnissen vieler erliegen, die für etwas reehtes gehalten werden. So auch jezt in dem was du sagst werden dir meist alie beistimmen, die Athener und die Fremden; und wenn du gegen mich Zeugen aufrufen willst, dass ich Unrecht habe, so werden sich dir dazu hergeben, wenn du willst, Nikias, der Sohn des Nikeratos, sammt seinen Brüdern, von denen die Dreifüsse .herrühren, die neben einander im Diony- sion stehn, auch wenn du willst Arıstokrates, des Skellias Sohn, von welchem wiederum das schöne Weihgeschenk im pythischen Tempel kommt, und wenn du willst das ganze Haus des Perikles, oder welches andere Geschlecht von den hiesigen du auswählen möchtest. Ich aber ganz einzeln gebe es dir nicht zu. Denn du beweisest mir nichis; sondern nur durch Aufstellung vieler falschen Zeugen gegen mich versuchst du mich aus meinem Gut und der Wahrheit hinauszuwerfen. Ich dagegen, wenn ich nicht dich selbst einzeln als Zeugen aufstelle, der mir beistimmen ınuss in dem was ich sage, will mich dann gar nicht dünken lassen, dass ich etwas tüchtiges ausgeführt habe über unsern Gegenstand. Ich glaube aber auch du nicht, wenn nicht ich selbst allein dir Zeug- riss gebe, und du die andern allesammt gehen lässt. Dies ist nun eine Beweisart, wie du dafür hältst und viele Andere; es giebt aber auch eine andere, mit der ich es wiederum halte, Lass sie uns also neben einander stellen und Acht geben, ob sie sich in etwas von einander unterscheiden werden. Ist doch auch das, worüber wir streiten, nichts kleines, sondern fast wol dasjenige, welches zu wissen das schönste, nicht zu wissen aber das un- schönste ist. Denn das wesentliche davon ist doch entweder ein- sehen oder nicht einsehen, wer glükkselig ist und wer nicht. Gleich zuerst also, wovon wir jezt reden, du hältst dafür, es könne ein Mensch glükkselig sein, der unrecht handelt und ungerecht; wenn

Plat. W, II. Th. I. Bd. 4

50 GORGIAS.

du doch dafür hältst, Archelaos sei ungerecht und dabei glükkselig. Nicht wahr, wir sollen denken, dass du dies aunimmst?

Polos. Allerdings.

Sokrates. Ich aber erkläre dies für unmöglich. Ueber dieses Eine sind wir im Streit. Wol. Soll nun der Ungerechte etwa glükkselig sein, wenn ihm Recht widerfährt und Strafe?

Polos. Keinesweges. Denn so wäre er freilich der Elendeste.

Sokrates. Sondern, wenn ihm also nicht Recht widerfährt, dann wird der Ungerechte nach deiner Rede glükkselig sein.

Polos. Das behaupte ich.

Sokrates. Nach meiner Meinung aber, Polos, ist der Un- rechtthuende und Ungerechte auf jeden Kali zwar elend, eiender jedoch, wenn ihm nicht sein Recht widerfährt, und er keine Strafe erleidet für sein Unrecht, weniger elend aber, wenn ihm Recht widerfährt, und er Strafe erleidet von Göttern und Menschen.

Polos. Ungereimtes, o Sokrates, unternımmst du zu behaupten.

Sokrates. Ich will indess doch versuchen auch dich, Freund, dahin zu bringen, dass du dasselbe mit mir behauptest. Denn du

willst mir wol, glaube ich. Worüber wir also uneins sind, das

wäre dies. Sieh du nun selbst. Ich sagte doch wo im vorigen Unrecht thun wäre schlimmer als Unrecht leiden.

Polos. Freilich.

Sokrates. Du aber Unrecht leiden?

Polos. Ja.

Sokrates. Und die Unrechtthuenden, behauptete ich, wären unglükkselig, und wurde von dir widerlegt.

Polos. Ja, beim Zeus.

Sokrates. Wie du wenigstens meinst, Polos.

Polos. Und ganz richtig hoffentlich.

Sokrates. Und du wiederum, die Unrechtthuenden wären glükkselig, wenn sie nämlich keine Strafe litten.

Polos. Allerdings.

Sokrates. Ich aber behaupte, dass gerade diese die unglükk- seligsten sind, die aber Strafe leiden weniger. Willst du. auch dies widerlegen? |

Polos. Dies ist wol nach schwerer zu widerlegen als jenes.

Sokrates. Das nicht, Polos, sondern unmöglich. Denn das wahre kann nie widerlegt werden.

Polos. Wie meinst du? Wenn ein ungerechter Mensch dar- über ergriffen wird, dass er 'etwa ungesezmässiger Gewalt nach- stellt und dann gemartert und verstümmelt wird, ihm die Augen

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GORGIAS. | 51

ausgebrannt, und nicht nur ihm selbst sonst noch grosse und vielfältige Qualen angethan werden, sondern er auch Weib und Kinder eben so behandeln sieht, und zulezt ans Kreuz geschlagen oder mit Pech verbrannt wird, der soll glükkseliger sein, als wenn er unentdekkt hernach als Tyrann aufsteht, und den Staat beherr- schend fortlebt, alles bewirkend was er will, ein beneidenswerther Mann, und glükkselig- gepriesen von den Bürgern und allen An- dern? Dies meinst du sei unmöglich zu widerlegen?

Sokrates. Nun schrekkst du mich wieder, wakkerer Polos, und widerlegst mich nicht; vorher riefst du Zeugen auf. Doch hilf mir ein wenig mich erinnern, ob du sagtest, wenn unrecht- mässig nach der Gewalt strebend.

Polos. So sagte ich.

Sokrates. Glükkseliger wird dann freilich keiner von beiden jemals sein, weder der die Herrschaft unrechtmässig:in Besiz nimmt, noch der die Strafe erleidet. Denn von zwei Elenden kann keiner glükkselig sein; elender aber ist der unentdekkt bleibende und herrschende. Was soll dieses, Polos? du lachst? ist auch dies wieder eine Beweisart, wenn Jemand etwas sägt es zu belachen, und nicht: zu widerlegen?

Polos. Glaubst du denn nicht schon widerlegt zu sein, 80- krates, wenn du solche Dinge behauptest, die kein Mensch zugeben würde? Doch frage einen von diesen!

Sokrate. O Polos, ich bin kein Staatsmann. Ja zu Jahre als es mich traf im Rath zu sizen, und der Stamm den Vorsiz hatte, und ich die Stimmen einsammeln sollte, bereitete ich mir 474 Gelächter, und verstand gar nicht die Stimmen zu sammeln. Also mutne mir auch jezt nicht an Stimmen zu sammeln von den An- wesender. Sondern wenn du keinen bessern Beweis hast als die- sen, wie ıch schon vorhin sagte: so überlass es nun mir meiner- seits, und versuche dich dann an dem Beweise, wie ich glaube dass er sein muss. Nämlich ich verstehe für das was ich sage nur Einen Zeugen aufzustellen, den mit dem ich jedesmal rede, die-Andern alle lass ich gehn, und nur von dem Einen weiss ich die Stimme einzufordern, mit den Andern aber rede ich nicht ein- mal. Sieh also zu, ob du nun auch willst an deinem Theile Rede stehn, und das gefragte beantworten. Ich nämlich glaube, dass ich und du und alle Menschen das Unrechtthun für schlimmer halten als das Unrechtleiden, und das nicht gestraft werden als das gestraft werden.

Polos. ich aber glaube dies weder von mir noch sonst ir-

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52 GORGIAS.

gend einem Menschen. Also du möchtest lieber Unrecht leiden als Unrecht thun?

Sokrates. Auch du wol und alle Andern.

Polos. Weit gefehlt, sondern weder ich, noch du, noch sonst irgend Jemand.

Sokrates. Willst du also antworten?

Polos. Freilich. Denn mich verlangt recht zu wissen, was du nur sagen wirst.

Sokrates. So sage mir denn, damit du es erfahrest, wie wenn ich dich von vorne her fragte, welches von beiden, Polos, scheint dir schlimmer zu sein, das Unrechithun oder das Unrecht- leiden ?

Polos. Mir das Unrechtleiden.

Sokrates. Wie aber nun, welches von beiden hässlicher, das Unrechtthun oder das Unrechtleiden? Antworte.

Polos. Das Unrechtthun.

Sokrates. Also auch schlimmer, wenn hässlicher.

Polos. Keinesweges das.

Sokrates. Ich verstehe. Du hältst dies nicht für einerlei, schönes und gutes, und schlimmes, übles und hässliches.

Polos. Freilich nicht.

Sokrales. Wie aber dies? Alles schöne, wie Körper, Far- ben, Gestalten, Töne, Handlungen, nennst du das so ohne irgend eine Beziehung auf etwas schön? Wie, zuerst schöne Körper, nennst du die nicht entweder in Beziehung auf den Gebrauch schön, wozu jeder nüzlich ist? oder in Beziehung auf eine Lust, wenn sie beim Anschauen den Anschauenden ergözen? Weisst du noch ausser diesem etwas anzugeben über die Schönheit der Körper?

Polos. Ich weiss nichts.

Sokrates. Und nennst du nicht eben so Alles andere, Ge- stalten und Farben entweder einer Lust wegen schön, oder eines Nuzens wegen, oder beider?

Polos. Ich gewiss.

Sokrates. Nicht auch die Töne und‘alles was zur Tonkunst gehört eben so? -

Polos. Ja.

Sokrates. Und gewiss, auch was in Gesezen und Handlungs- weisen schön ist, ist es nicht ausserhalb dieser Beziehung, dass es entweder nüzlich ist oder angenehm oder beides?

Polos. Mich ‚wenigstens dünkt nicht.

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GORGIAS. 59

Sokrates. Eben so isi es wol auch mit der Schönheit der Erkenntnisse?

. Polos. Freilich, und sehr schön erklärst du jezt, Sokrates, 475 indem du das schöne durch die Lust und das gute erklärst.

Sokrates. Also das hässliche im Gegentheil durch Unlust und Uebel?

Polos. Nothwendig.

Sokrates. Wenn also von zwei schönen Dingen eins schöner ist, so ist es, weil es entweder an einem von jenen beiden oder an beiden das andere übertrifft, schöner, entweder an Lust oder an Nuzen, oder an beiden?

Polos. Gewiss.

Sokrates. Und ist von zwei hässlichen das eine hässlicher, so wird es, weil es entweder an Unlust oder Uebel das andere übertrifft, hässlicher sein. Oder folgt dies nicht?

Polos. Ja.

Sokrates. Wol denn, was wurde eben gesagt über das Un- rechtthun und Unrechtleiden? Sagtest du nicht das Unrechtleiden wäre zwar übler, das Unrechtthun aber hässlicher?

Polos. Das sagte ich.

Sokrates. Wenn also das Unrechtthun hässlicher ist als das Unrechtleiden: so ist es entweder unlustiger, und wäre wegen eines Uebermaasses von Unlust hässlicher, oder von Uebel, oder von beiden. Folgt nicht auch dies nothwendig?

Polos. Wie sollte es nicht.

Sokrates, Zuerst lass uns sehen, thut etwa das Unrechtthun es an Unlust dem Unrechtleiden zuvor? und haben die Unrecht- ihuenden mehr Pein als die Unrechtleidenden?

Polos. Keinesweges, Sokrates, doch wol dieses.

Sokrates. An Unlust also übertrifft es nicht? £

Polos. Wol nicht.

Sokrates. Also wenn nicht an Unlust, dann auch nicht mehr an beidem?

Polos. Nein wie sich zeigt.

Sokrates. Es bleibt also nur noch übrig an dem andern von beiden.

Polos. Ja. |

Sokrates. Dein Uebel.

Polos. So scheint es.

Sokrates. WUebertrifft es aber an Uebel, so wäre ja das Un- rechtthun übler als das Unrechtleiden.

84 GORGIAS.

Polos. Offenbar wol.

Sokrates. War aber nicht von den Meisten und auch von. dir im vorigen zugegeben worden, das Unrechtthun sei hässlicher als das Unrechtleiden?

Polos. Ja.

Sokrates. Nun aber hat es sich doch als übler gezeigt.

Polos. So scheint es.

Sokrates. Würdest du also lieber das üblere sowol als häss- lichere wählen, als das was beides weniger ist? Zögere nicht zu antworten, o Polos, denn es wird dir nichts zu Leide geschehen, sondern gieb dich nur beherzt der Rede wie dem Arzte hin, und antworte, und bejahe entweder, oder verneine was ich frage.

Polos. Ich würde es also nicht wählen, Sokrates.

Sokrates. Eiwa irgend sonst Jemand?

Polos. Nein, dünkt mich, nach dieser Rede.

Sokrates. Recht also hatte ich, dass weder ich, noch du, noch sonst ein Mensch lieber würde Unrecht thun wollen als Un- recht leiden; denn es ist übler.

Polos. So zeigt es sich.

Sokrates. Siehst du nun wol, Polos, dass wenn man den einen Beweis neben den andern stellt, wie er ihm gar nicht ähn- lich ist. Denn dir stimmen alle Andern bei, ausser mir; mir aber ist es genug, dass du nur einzig und allein mir beistimmst und Zeugniss giebst, und deine Stimme allein abfordernd lasse ich die

476Andern alle gehn. So demnach verhält sich uns dies. Nächst- dem lass uns nun das, worüber wir zweitens uneinig waren, in Betrachtung ziehn: Wenn man Unrecht gethan Strafe leiden ist das das grösste aller Uebel, wie du meintest, oder ein grösseres sie nicht zu leiden, wie ich meines Theils meinte? Ueberlegen wir es aber so. Strafe leiden und "rechtmässig ‚gezüchtiget wer- den für begangenes Unrecht, ist dir dies beides einerlei?

Polos. Gewiss.

Sokrates. Kannst du nun wol sagen, dass nicht alles gerechte auch schön ist, sofern es gerecht ist? Ueberlege es wol, und sprich.

Polos. Das dünkt mich allerdings, Sokrates.

Sokrates. Bedenke auch dies. Wenn Jemand etwas thut, muss es dann nicht nothwendig auch ein leidendes geben von diesem thuenden?

Palos. Mich: dünkt. |

Sokrates. Und zwar dasselbige leidend, was das thuende

GORGIAS. 55

thut, und auf solche Art wie das thuende thut? Ich meine näm- lich so, wenn Jemand schlägt, wird nothwendig etwas geschlagen?

Polos. Nothwendig.

Sokrates. Und wenn der Schlagende heftig schlägt oder ge- schwind, wird auf dieselbe Weise auch das geschlagene geschlagen.

Polos. Ja.

Sokrates. Ein solches ist also das Leiden in dem Geschla- genen, wie das schlagende thut?

Polos. Gewiss.

Sokrates. Nicht auch wenn Jemand sengt, wird noihwendig etwas gesengt?

Polos. Wie anders.

Sokrates. Und wenn er stark sengt oder schmerzlich, muss eben so das gesengte gesengt werden, wie das sengende sengt?

Polos. Allerdings.

Sokrates. Nicht auch wenn einer schneidet gilt dasselbe, näm- lich etwas wird geschnitten?

Polos. Ja.

Sokrates. Und wenn der Schnitt gross oder tief oder schmerz- lich ist, allemal wird mit solchem Schnitt das geschnittene ge- schnitten, wie das schneidende schneidet.

Polos. Offenbar.

Sokrates. Sieh also zu, ob du im Allgemeinen, was ich eben sagte, von Allem zugiebst, dass wie das thuende thut, so das leidende auch leidet.

Polos. Das gebe ich zu.

Sokrates. Dieses nun zugestanden, ist das Gestraftwerden ein Leiden oder ein Thun?

Polos. Nothwendig, Sokrates, ein Leiden.

Sokrates. Also von einem Thuenden?

Polos. Wie sonst? Von dem Strafenden.

Sokrates. Und der richtig Strafende straft gerecht?

Polos. Ja. A

Sokrates. Gerechtes daran thuend, oder nicht?

Polos. Gerechtes.

Sokrates. Also der Gestrafte, dem Recht widerfährt, leidet gerechtes.

Polos. Offenbar.

Sokrates. Das gerechte aber haben wir zugestanden sei auch schön.

Polos, Allerdings.

56 GÖRGIAS.

Sokrates. Von diesen also thut der Eine schönes, der An- dere aber, der Gezüchtigte, ‚leidet es? Polos. Ja.

477 Sokrates. Wenn aber schönes, dann auch gutes, denn es

ist nämlich entweder angenehm oder nüzlich?

Polos. Nothwendig.

Sokrates. Gutes also leidet der, dem sein Recht widerfährt.

Polos. So scheint es.

Sokrates. Vortheil also erlangt er?

Polos. Ja.

Sokrates. Etwa den Vortheil, welchen ich mir vorstelle, dass er nämlich der Seele nach besser wird, wenn er doch rechtmässig gezüchtiget wird? |

Polos. Wahrscheinlich wol.

Sokrates. Von der Schlechtigkeit der Seele also wird der Strafe leidende entledigt?

Polos. Ja.

Sokrates. Wird er also etwa des grössten Uebels entledigt? Ueberlege es nur so. Wenn man auf den Zustand des Vermögens sieht bei einem Menschen, giebt es da wol eine andere Schlech- tigkeit als die Armuth?

Polos. Nein, sondern Armuth.

Sokrates. Und wie? wenn auf die Beschaffenheit des Leibes, würdest du da die Schwäche Schlechtigkeit nennen, und die Krank- heit und die Hässlichkeit und dergleichen?

Polos. Gewiss.

Sokrates. Und du glaubst doch, dass es auch in der Seele eine Schlechtigkeit giebt?

Polos. Wie sollte es nicht?

Sokrates. Meinst du nun damit nicht die Ungerechtigkeit und den Unverstand und die Feigheit und dergleichen?

Polos. Allerdings. |

Sokrales. Also für das Vermögen, für den Leib und für die Seele als drei verschiedene hast du drei verschiedene Schlechtig- keiten angegeben, Armuth, Krankheit, Ungerechtigkeit? |

Polos. Ja.

Sokrates. Welche nun unter diesen Schlechtigkeiten ist die

hässlichste? Nicht die Ungerechtigkeit und überhaupt die Schlech-.

tigkeit der Seele? Polos. Bei weitem. Sokrates. Wenn 8150 die hässlichste, dann auch die übelste?

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GORGIÄAS. 57

Polos. Wie das, Sokrates?

Sokrates. So. Allemal ist das hässlichste, weil es am mei- sten entweder Unlust oder Schaden oder beides bewirkt, deshalb das hässlichste nach dem vorhin zugestandenen.

Polos. Ganz recht.

Sokrates. Und als das hässlichste haben wir jezt einstimmig die Ungerechtigkeit und die gesammte Schlechtigkeit der Seele angenommen?

Polos. Dafür haben wir sie angenommen.

Sokrates. Also ist sie entweder als das schmerzhafteste durch ihren Ueberschuss an Pein das hässlichste unter diesen, oder durch den an Schaden, oder an beidem.

Polos. Nothwendig.

Sokrates. Ist nun etwa ungerecht und zügellos sein, oder feige und unverständig schmerzhafter als arm sein und krank?

Polos. Das scheint mir nicht auf diese Art.

Sokrates. Also muss durch übermässig grossen Schaden und wunderbares Uebel die Schlechtigkeit der Seele über die andern hervorragend das hässlichste unter allen sein, wenn sie es doch nicht vermöge der Unlust ist, wie du ja sagst.

Polos. Offenbar.

Sokrates. Was aber durch den grössten Schaden, den es verursacht, sich auszeichnet, das wäre ja auch das grösste Uebel unter allen?

Polos. Ja.

Sokrates. Die. Ungerechtigkeit also und die Ungebundenheit, und was sonst noch zur Schlechtigkeit der Seele gehört, ist das grösste unter allen Uebeln.

Polos. So zeigt es sich.

Sokrates. Welche Kunst nun entledigt von der Armuth? Nicht die Erwerbsamkeit?

Polos. Ja. Sokrates. Welche aber von der Krankheit? Nicht die Heil- kunde?

Polos. Natürlich.

Sokrates. Welche aber von der Schlechtigkeit und Ungerech- tigkeit? Kannst du es auf diese Art nicht finden, so betrachte 478 es so. Wohin und zu wem führen wir die Kranken?

Polos. Zum Arzte, Sokrates.

Sokrates. Wohin aber die Unrechtthuenden und Unbändigen?

Polos. Zum Richter meinst du wol?

98 GORGIAS.

Sokrates. Nicht wahr, damit er sie zur Strafe ziehe?

Polos. So meine ich es.

Sokrates. Die aber auf die rechte Art strafen, thun die es nicht mit einer gewissen Anwendung der Gerechtigkeit?

Polos. Offenbar.

Sokrates. Die Erwerbsamkeit also befreit von der Armuth, die Heilkunde von der Krankheit, die Anwendung der Gerechtig- keit beim Strafen, oder die Rechtspflege von der Unbändigkeit und Ungerechtigkeit?

Polos. So zeigt es sich.

Sokrates. Welche ist nun wol von diesen die schönste?

Polos. Von welchen meinst du?

Sokrates. Von Erwerbsamkeit, Heilkunde und Rechtspflege?

Polos. Bei weitem, o Sokrates, hat die Rechtspflege den Vorzug.

Sokrates. Also bewirkt sie entweder am meisten Lust oder am meisten Nuzen oder beides, wenn sie das schönste ist?

Polos. Ja.

Sokrates. Ist es nun etwa angenehm vom Arzte behandelt zu werden, und haben die Vergnügen, welche von ihm behandelt werden?

Polos. Mich dünkt eben nicht.

Sokrates. Aber nüzlich ist es. Nicht wahr?

Polos. Ja.

Sokrates. Denn es befreit von einem grossen Uebel, so dass es wol lohnt den Schmerz aushalten und dann gesund sein.

Polos. Wie sollte es nicht?

Sokrates. Ist nun so, was den Leib betrifft, einer am glükk- seligsten, wenn er vom Arzt geheilt wird, oder wenn er gar nicht krank geworden ist?

Polos. Offenbar, der gar nicht krank ist.

Sokrates. Denn nicht das war Glükkseligkeit, wie es scheint, Erledigung vom Uebel, sondern von vorne, Pur. keine Gemein- schaft damit.

Polos. So ist es. |

Sokrates. Und wie? welcher ist der elendere von zweien, die ein Uebel haben, sei es nun am Leibe oder :an der Seele? der vom Arzt behandelt und des Uebels entlediget wird, oder der nicht vom Arzt behandelt wird, es aber hat.

Polos. Mir scheint, der nicht vom Arzt behandelt wird.

GORGIAS. | 59

Sokrates. War nun nicht bestraft werden die Befreiung von dem grössten Uebel, der Schlechtigkeit der Seele?

Polos. Das war sie.

Sokrates. Denn die Strafe macht besonnener und gerechter, und ihre Verwaltung wird die Heilkunde für diese Schlechtigkeit.

Polos. Ja. |

Sokrates. Der Glükkseligste also ist, der keine Schlechtigkeit in der Seele hat, da diese sich als das grösste Uebel gezeigt hat.

Polos. Offenbar.

Sokrates. Der zweite aber ist der davon befreit wird.

Polos. So scheint es.

Sokrates. Das war aber der, dem man Ermahnungen giebt und Verweise und Strafe.

Polos. Ja.

Sokrates. Am schlechtesten also lebt, wer die Ungerechtig- keit hat, und nicht davon befreit wird.

Polos. So kommt es heraus.

Sokrates. Ist das nun nicht der, welcher durch die grössten Verbrechen und Ausübung der grössten Ungerechtigkeit es dahin

gebracht hat, dass er weder Zurechtweisung noch Züchtigung noch 479

Strafe bekommt, wie du eben sagst, dass Archelaos dieses erreicht habe, und andere Tyrannen, Redner und Gewaithaber?

Polos. So scheint es.

Sokrates. Denn diese, o Bester, haben es beinahe eben da- hin gebracht, als wenn einer, der mit den ärgsten Krankheiten be- haftet ist, es dahin gebracht hätte, sich für diese Sünden an sei- nem Körper von den Aeızten nicht strafen, und sich .nicht von ihnen behandeln zu lassen, aus Furcht wie ein Kind vor dem Brennen und Schneiden, weil es weh thut. Oder scheint es dir nicht auch so?

Polos. Ja wol.

Sokrates. Weil ihm nämlich unbekannt ist, wie es scheint, was es eigentlich mit der Gesundheit und Tüchtigkeit des Körpers auf sich hat. Etwas ähnliches nun scheinen nach dem unter uns ausgemachten, o Polos, auch diejenigen zu thun, weiche die Strafe fliehen. Das schmerzhafte davon nämlich sehen sie ein, gegen das heilsame aber sind sie blind, und wissen nicht wieviel unseliger noch, als ein ungesunder Leib, das ist, keine gesunde Seele zu haben, sondern eine faulige, ungerechte und unheilige. Daher sie denn, um nur ja nicht Strafe zu leiden, und so von dem grössten Uebel befreit zu werden, alles mögliche ihun, auf Geld bedacht

60 GORGIAS.

sind und auf Freunde, und auch darauf, immer möglichst Glauben zu finden, wenn sie reden. Wenn nun das richtig war, was wir vorher angenommen haben, Polos, merkst du wol, was dann aus der Rede folgt, oder sollen wir es doch lieber zusammenrechnen

Polos. Wenn du nicht anders meinst.

Sokrates. Folgt also, dass Ungerechtigkeit und Unrechtthun das grösste Uebel ist?

Polos. Offenbar.

Sokrates. Und als eine Erledigung von diesem Uebel zeigte sich doch das Strafe leiden.

Polos. So scheint es.

Sokrates. Das nicht Strafe leiden aber als ein Dableiben des Uebels? |

Polos. Ja.

Sokrates. Das zweite Uebel der Grösse nach ist also das Unrechtthun; die Ungestraftheit aber beim Unrechtthun ist das erste und grösste unter allen Uebeln.

Polos. Das scheint so.

Sokrates. Stritten wir nun nicht eben hierüber, Freund, in- dem du den Archelaos glükklich priesest, der das ärgste Unrecht gethan, und dennoch keine Art von Strafe erlitten hat; ich aber das Gegentheil meinte, dass, sei es nun Archelaos oder wer sonst für sein Unrechtthun nicht gestraft werde, dieser ganz: vorzüglich vor allen Menschen für elend zu halten sei, und immer der Un- reehtthuende für elender als der Unrechtleidende, und der Nicht- gestrafte als der Gestrafte. War das nicht was ich behauptete?

Polos. Ja.

Sokrates. Und ist nicht bewiesen, dass dies mit Recht be- hauptet wurde? |

Polos. So scheint es.

Sokrates. Wol. Wenn nun dieses wahr ist, Polos, was ist denn der grosse Nuzen der Redekunst? Denn nach dem jezt angenommenen muss jeder sich selbst zuvörderst am meisten da- vor hüten, dass er nicht Unrecht thue, indem er sonst Uebel ge- nug an sich haben wird. Nicht wahr? |

Polos. Freilich.

Sokrates. Thut aber entweder er selbst Unrecht oder ein Anderer von denen, die ihm werth sind: so muss er selbst frei- willig dahin gehn, wo er baldmöglichst bestraft werden kann, zum Richter hineilend, wie man zum Arzte pflegt, damit die Krankheit der Ungerechtigkeit nicht einwurzele und unter sich fresse in der

τ να

GÖRGIAS. 61

Seele und sie unheilbar angreife. Oder was sollen wir sagen, Polos, wenn doch unsere ersten Behauptungen bestehen sollen? ist nicht gewiss, dass nur dieses mit ihnen übereinstimmt, alles andere aber nicht? |

Polos. Was wollten wir auch sagen, Sokrates!

Sokrates. Um also Vertheidigungen vorzubringen für die eigne Ungerechtigkeit oder der Eltern, Freunde und Kinder ihre, oder auch für das unrechthandelnde Vaterland, dazu ist uns die Rede-

kunst nichts nuz, o Polos; es müsste denn etwa Jemand denken zum Gegentheil, um nämlich recht anzuklagen vornehmlich sich selbst, dann aber auch Verwandte und wer sonst von Freunden Unrecht thut, und ja nicht das Unrecht zu verbergen, sondern ans Licht zu bringen, damit der Thäter Strafe leide und gesund werde, und um sich selbst und Andere zu bewegen, dass man nicht feige werde, sondern sich mit zugedrükkten Augen tapfer hinstelle wie vor dem Arzt zum Schneiden und Brennen, immer dem guten und schönen nachjagend, das schmerzhafte aber nicht in Rech- nung bringend, wenn einer unrechtes, was Schläge verdient, be- gangen hat, zum Schlagen sich hergebend, was Gefängniss zum Einkerkern, was Geldbusse zum Bezahlen, was Verbannung zur Flucht, wer aber was den Tod zum Sterben, jeder als erster An- kläger seiner selbst und der Andern, die ihm zugeihan sind, und eben dazu sich der Redekunst bedienend, um durch Bekanntma- chung der Vergehungen von dem grössien Uebel erledigt zu wer- den, von der Ungerechtigkeit. Wollen wir dies sagen, Polos, oder nicht?

Polos. Ungereimt zwar, o Sokrates, scheint es mir wenig- stens; mit dem vorigen indess stimmt es vielleicht wol zusammen.

Sokrates. Also muss entweder auch jenes aufgegeben wer- den, oder dieses folgt nothwendig.

Polos. Ja, so verhält es sich allerdings.

Sokrates. Und dass wir es auf die entgegengesezte Seite kehren, wenn man Jemanden soll übles zufügen, sei es nun ein Feind oder wer sonst, und nur nicht selbst von ihm beleidiget wird, denn davor muss man sich hüten, wenn aber dieser Feind einen Andern beleidigt, muss man auf alle Weise thätig und durch Reden dies bewerkstelligen, dass er ja nicht zur Strafe gezogen werde, noch vor den Richter geführt, kommt er aber dennoch da-481 hin, dann alles mögliche anwenden, dass der Feind entkomme, und ja nicht Strafe leide: vielmehr, hat er viel Geld geraubt, die- ses nicht zurükkgeben müsse, sondern es behalte, und für sich

62 GORGIAS.

und die Seinigen ungerechter und gottloser Weise gebrauche; hat

er etwas todeswürdiges verbrochen, dass er ja nicht sterbe, wo möglich nie, sondern unsterblich sei als ein Böser, zum wenig-

sten aber so lange irgend möglich lebe als ein solcher.‘ Hiezu scheint mir, o Polos, die Redekunst nüzlich zu sein. -Denn für den, der überall nicht Unrecht thun will, dünkt mich ihr Nuzen eben nicht gross zu sein, wenn sie anders irgend einen Nuzen ‚hat, wie sich denn im vorigen nirgend einer gezeigt hat.

Kallikles. Sage mir, Chairephon, meint Sokrates dies im Ernst oder scherzt er?

Chairephon. Mir doch scheint, Kallikles, als sei es ihm ausnehmend Ernst. Doch ist nichts so gut als ihn selbst fragen.

Kallikles. Bei den Göttern, das will ich auch. Sage mir, Sokrates, sollen wir denken -du treibest jezt Ernst oder Scherz? Denn wenn du es 'ernstlich meinst, und das wahr ist was du sagst, so wäre ja wol das menschliche Leben unter uns - ganz verkehrt, und wir thäten in allen Dingen das geräde Gegentheil, wie es scheint, von dem was wir sollten? |

Sokrates. O Kallikles, wenn nieht dem Menschen, Einigen so, Ändern so, dasselbige begegnete, sondern einem etwas ganz eigen-

thümliches vor allen andern: so wäre es nicht leicht, einem An-

dern seinen Zustand zu bezeiehnen. Ich sage dies aber, weil ich bemerke, dass wir beide, ich und du, uns jezt in gleichem Zu- stande befinden. Wir lieben nämlich beide, jeder zwei, ich den Alkibiades,. des Kleinias Sohn und die Phitosophie, du das Atheni-

sche Volk und den Sohn des Pyrilampes. Ich bemerke nun alle-'

128] an dir, so gewaltig du auch sonst bist, dass was immer dein Liebling behaupte, und wie er behaupte, dass sich etwas vörhalte, du ihm niemals widersprechen kannst, sondern umwendest bald so bald so. Denn in der Gemeine, wenn du etwas gesagt hast, und das Volk der Athener meint nicht, dass es sich so verhalte: so wendest du wieder um, und sprichst wie jenes will; und mit dem Sohn des Pyrilampes, dem schönen Jünglinge, geht es dir eben so, nämlich des Lieblings Beschlüssen "und Reden vermagst

du nicht zuwider zu sein. So dass ‘wenn sich Jemand darüber;

was du jedesmal sagst um dieser geliebten Beiden willen, wundern

wollte, wie pngereimt es doch ist, du ihm vielleicht, wenn du die

Wahrheit sagen wolltest, erwiedern würdest, dass wenn nicht Je-

‘32 mand machen könnte, dass dein Liebling aufhöre dergleichen zu

sagen, du auch nicht aufhören würdest dasselbe zu sagen. Denke dir also, dass du nun auch dergleichen von 'mir hören müsstest,

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GORGIAS. 63

und wundere dich nicht, dass ich dir dies sage, sondern mache, dass die Philosophie, mein Liebling, aufhöre es zu sagen. Denn eben sie, lieber Freund, behauptet immer, was du jezt von mir hörst, und sie macht mir weit weniger zu schaffen, als jener an- dere Liebling. Denn dieser Sohn des Kleinias führt freilich bald solche Reden bald solche; die Philosophie aber immer die näm- lichen. Und eben sie sagt das, worüber du dich jezt wunderst; du warest ja auch selbst dabei als es gesagt wurde. Entweder also, widerlege jener das was ich eben behauptete, dass also Un- recht thun und nicht dafür bestraft werden nicht das ärgste aller Uebel sei; oder wenn du dies unwiderlegt lässt, bei dem Hunde, dem ‘Gott der ‘Aegyptier, so wird Kallikles niemals mit dir stim- men, o Kallikles, sondern dir misstönen das ganze Leben hindurch: Und ich wenigstens, du’ Bester, bin der Meinung, dass lieber auch meine Lyra verstiimmt sein und misstönen möge, oder ein Chor den ich anzuführen hätte, und die’ meisten Menschen nicht mit mir einstimmen, sondern mir widersprechen mögen, als dass ich allein mit mir selbst nicht zusammenstimmen, sondern mir wider- sprechen müsste,

Και κίε. O Sokrates, du scheinst blenden zu wollen mit deinen Reden, wie ein rechter Volksschwäzer, auch jezt willst du’ uns hiemit beschwazen, da dem Polos dasselbe begegnet ist, was er vorher dem: Gorgias von dir begegnet zu sein Schuld gab. Er. sagte nämlich, als du den Gorgias gefragt, wenn einer-um die Redekunst von ihm zu lernen zu ihm käme, der das gerechte noch nicht verstände, ob er es ihn lehren würde, habe Gorgias sich geschämt und bejaht, dass er es ihn lehren würde, lediglich wegen der Gesinnung der Menschen, weil sie unwillig werden: würden, wenn Jemand dies läugnete, und durch dieses Eingeständ- niss sei er hernach in die Nothwendigkeit gekommen, sieh selbst‘ zu widersprechen, welches eben deine Freude wäre. Und hierüber hat er dich damals, ganz mit Recht wie mich dünkt, verspottet; jezt aber ist ihm seinerseits eben dasselbe begegnet. Und ich bin nun wieder eben deshalb mit dem Polos unzufrieden, dass er dir eingeräumt hat, das Unrechtthun sei hässlicher als das Unrecht- leiden. Denn gerade durch dieses Eingeständniss ist auch er wie- der von dir verwikkelt worden in den Reden und zum Schweigen gebracht, indem er sich schämte, was er dachte auch zu sagen. Denn in der That, Sokrates, führst du immer, ohnerachtet du be- hauptest die Wahrheit zu suchen, die Rede auf solche verfäng- liche Dinge, die gut sind vor dem Volke vorzubringen, auf: das

64 GORGIAS.

nämlich, was von Natur nicht schön ist, wol aber nach dem Ge- sez. Denn diese beiden stehn sich grösstentheils entgegen, die Natur und das Gesez. Wenn sich nun Jemand schämt und nicht den Muth hat zu sagen was er denkt: so wird er gezwungen sich 483zu widersprechen. Was auch du dir eben recht künstlich abge- merkt hast, und Andere damit übervortheilst in den Reden; wenn Jemand von dem gesezlichen spricht, schiebst du in der Frage das natürliche unter, wenn aber vom natürlichen, dann du das ge- sezliche. So jezt gleich beim Unrechtthun und Unrechtleiden, als Polos vom gesezlich unschöneren sprach, verfolgtest du das ge- sezliche, als wäre es das natürliche. Denn von Natur ist allemal jedes das unschönere, was auch das üblere ist, also das Unrecht- leiden, gesezlich aber ist es das Unrechtthun. Auch ist dies wahr- lich kein Zustand für einen Mann, das Unrechtleiden, sondern für ein Knechtlein, dem. besser wäre zu sterben als zu leben, weil er beleidigt und beschimpft nicht im Stande ist, sich selbst zu helfen, noch einem Andern, der ihm werth ist. Allein ich denke, die die Geseze geben, das sind die Schwachen und der grosse Haufe. In Beziehung auf sich selbst also und das was ihnen nuzt bestimmen sie die Geseze, und das löbliche was gelobt, das tadel- hafte was getadelt werden soll; und um kräftigere Menschen, wel- che mehr haben könnten, in Furcht zu halten, damit diese nicht mehr haben mögen als sie selbst, sagen sie, es sei hässlich und ungerecht, für sich immer auf mehr auszugehn, und das ist nun das Unrechtthun, wenn man sucht mehr zu haben als die Andern. Denn sie selbst, meine ich, sind ganz zufrieden, wenn sie nur gleiches erhalten, da sie die. schlechteren sind. Daher wird nun gesezlich dieses unrecht und hässlich genannt, das mehr zu haben streben als die Meisten, und sie nennen es Unrechtthun. Die Na- tur selbst aber, denke ich, beweiset dagegen, dass es gerecht ist, dass der Ediere mehr habe als der Schlechtere, und der Tüch- tigere als der Untüchtige. Sie zeigt aber vielfältig, dass sich die- ses so verhält, sowol an den übrigen Thieren als auch an ganzen Staaten und Geschlechtern der Menschen, dass däs Recht so be- stimmt ist, dass der Bessere über den Schlechteren herrsche, und mehr habe. Denn nach welchem Recht führte Xerxes Krieg gegen Hellas, oder dessen Vater gegen die Skythen? und tausend ande- res der Art könnte man anführen. Also meine ich, thun sie die- ses der Natur gemäss, und, beim Zeus, auch dem Gesez gemäss, nämlich dem der Natur; aber freilich vielleicht nicht nach dem, welches wir selbst willkührlich machen, die wir die Besten und

GORGIAS. 65

Kräftigsten unter uns gleich von Jugend an, wie man es mit dem Löwen macht, durch Besprechung gleichsam und Bezauberung 434 knechtisch einzwängen, indem wir ihnen immer vorsagen, Alle müssen gleich haben, und dies sei eben das schöne und gerechte, Wenn aber, denke ich, einer mit einer recht tüchtigen Natur zum Manne wird: so schüttelt er das alles ab, reisst sich los, durch- bricht und zertritt alle unsere Schriften und Gaukeleien und Be- sprechungen und widernatürlichen Geseze, und steht auf, offenbar

. als unser Herr, er der Knecht, und eben darin ‚leuchtet recht: deutlich hervor das Recht der Natur. Auch Pindaros scheint mir das, was ich meine, anzudeuten in dem Liede, worin er sagt: Das Gesez, der Sterblichen König und Unsterblichen, und dies, sagt er, führt von Natur herbei rechtfertigend das gewaltsamste mit übermächtiger Hand. Ich zeige es an den Thaten des Hera- kles; denn ungekauft, so ungefähr lautet es, denn ich weiss das Lied selbst nicht, er meint aber, weder gekauft noch geschenkt habe jener des Geryones Stiere weggetrieben, als ob also dieses das von Natur gerechte wäre, dass eben Stiere und alles andre Eigenthum der Schlechteren und Geringeren dem Besseren gebühre, der mehr ist. Dies ist also eigentlich das wahre, und das wirst du auch einsehn, wenn du zum grösseren fortschreitest, und von der Philosophie endlich ablässt. Denn diese, o Sokrates, ist eine ganz artige Sache, wenn Jemand sie mässig betreibt in der Jugend, wenn man aber länger als billig dabei verweilt, gereicht sie den Menschen zum Verderben. Denn wie herrliche Gaben einer auch habe, wenn er über die Zeit hinaus philosophirt, muss er noth- wendig in allem dem unerfahren bleiben, worin erfahren sein muss, wer ein wohlangesehener und ausgezeichneter Mann werden will. Denn sowol in den Gesezen des Staates bleiben sie unerfahren, als auch in der rechten Art, wie man mit Menschen umgehn muss bei allerlei Verhandlungen, eignen und öffentlichen, und mit den Gelüsten und Neigungen der Menschen, und ihrer Gemüthsart überhaupt bleiben sie unbekannt. Gehen sie hernach an ein Ge- schäft, sei es nun für sich oder für den Staat, so machen sie sich lächerlich, wie, glaube ich, auch die Staatsmänner wiederum, wenn sie zu euren Versammlungen und Unterredungen kommen, lächer- lich werden. Denn hier trifft die Rede des Euripides: Darinnen wol Glänzt jeder, drängt auch dazu sich vorzüglich hin Die meiste Zeit gern widmend solcherlei Geschäft Worin er selbst der Beste 483 leicht erfunden wird; worin er aber schlecht ist, das meidet er "πὰ schmäht ‘darauf, das andere hingegen lobt er aus Wohlmeinen

Plat. W. II. Th. 1, Bd.

66 GORGIAS.

mit sich selbst, weil er glaubt, so sich selbst zugleich zu loben. Das richtigste aber, denke ich, ist sich mit beidem einzulassen. Mit der Philosophie nämlich, so weit es zum Unterricht dient, sich einzulassen ist schön, und keinesweges gereicht es einem Jüngling zur Unehre, zu philosophiren. Wenn aber ein schon &l- terer noch philosophirt, Sokrates, so wird das ein lächerliches Ding, und es gemahnt mich mit dem Philosophiren gerade wie mit dem Stammeln und Tändeln. Wenn ich nämlich sehe, dass ein Kind, dem es noch ziemt so zu sprechen, stammelt und tändelt: so. macht mir das Vergnügen, und ich finde es lieblich und natür- lich und dem Alter des Kindes angemessen. Höre ich dagegen ein kleines Kind ganz bestimmt und richfig sprechen, so ist mir das zuwider, es peinigt meine Ohren, und dünkt mich etwas er- zwuüngenes zu sein. Hört man dagegen von einem Manne unvoll- kommne Aussprache, und sieht ihn tändeln, das ist offenbar lä- cherlich und unmännlich, und verdient Schläge. Eben so nun geht es mir mit den Philosophirenden. Wenn ich Knaben und Jüng- linge bei der Philosophie antreffe, so freue ich mich; ich finde dass es ihnen wol ansieht, und glaube, dass etwas edles in sol- ehen ist, den aber der nicht philosophirt halte ich für unedel, und glaube, dass er es nie mit sich selbst auf etwas grosses und schönes anlegen wird. Wenn ich dagegen sche, dass ein Alter noch philosophirt, und nicht davon loskommen kann solcher Mann, o Sokrates, dünkt mich müsste Schläge bekommen. Denn wie ich eben sagte, es findet sich bei solchem Menschen gewiss, wie schöne Gaben er auch von Natur besize, dass er unmännlich ge- worden ist, das Innere der Stadt und die. öffentlichen: Orte flieht, wo doch eret, wie der Dichter sagt, sich Männer hervorihun, und versiekkt in einem Winkel mit drei bis vier Knaben flüsternd sein übriges Leben hinbringt, ohne doch je edel, gross und tüchtig herauszureden. Ich meines Theils, Sokrates, bin dir. gut und ge- wogen; und es mag mir beinahe jezt mit dir gehen wie beim Eu- ripides, dessen ich vorhin schon gedacht, dem Zethos mit dem Amphion. Denn auch ich habe Lust dir‘ dergleichen zu sagen, wie jener seinem Bruder, dass du, Sokrates, versäumst, was du betreiben solltest, und ein Gemüth so herrlicher Natur durch knä- bische Gebehrdung ganz entstellt, dass weder wo das Recht be- rathen wird du richtig vorzutragen weisst, noch scheinbar was 486 und glaublich aufzustellen, noch auch je für Andere, wo Rathen gilt, muthvollen Schluss beschliessen wirst. Und doch, lieber So- krates, aber werde mir nicht böse, denn ich sage es aus Wohl-

GORGIAS. 67

meinen gegen dich, dünkt es dich nicht schmählich, in solchem Zustande zu sein, in welchem du bist, wie ich glaube, und Alle die es immer weiter treiben mit der Philosophie? Denn wenn jezt Jemand dich, oder einen Andern solchen, ergriffe, und ins Gefäng- niss schleppte, behaupiend, du habest etwas verbrochen, da du doch nichts verbrochen hättest: so weisst du wol, dass du nicht wissen würdest, was du anfangen solltest mit dir selbst, sondern dir würde schwindlich werden, und du würdest mit offnem Munde stehn und nicht wissen, was du sagen solltest, Und wenn du dann vor Gericht kämest, und auch nur einen ganz gemeinen und erbärmlichen Menschen zum Ankläger hättest: so würdest du ster- ben müssen, wenn es ihm einfiele auf die Todesstrafe anzutragen. Und doch, Wie könnte das wol weise sein, Sokrates, wenn eine Kunst, Den wohlbegabten Mann ergreifend schlechter macht, dass er weder sich selbst helfen, und aus den grössten Gefahren er- reiten kann, noch sonst einen, wol aber von seinen Feinden aller seiner Habe beraubt werden, und offenbar ehrlos im Staate leben muss? Einen solchen kann man ja, um es derber zu sagen, ins Angesicht schlagen ungestraf. Darum, du Guter, gehorche mir, Hör auf zu lehren, üb’ im Wohlklang lieber dich Von schönen Thaten, in dem, wodurch du weis’ erscheinst, Lass Andern jezt dies ganze herrliche, soll ich es Possenspiel nennen oder Geschwäz, Weshälb dein Haus armselig, leer und verödet steht, und eifere nicht denen nach, die solche Kleinigkeiten untersuchen, sondern die sich Reichthum erwerben und Ruhm, und viel anderes gute.

Sokrates. Wenn ich etwa eine goldne Scele hätte, Kallikles, glaubst du nicht, dass ich gar zu gern von jenen Steinen, an de- nen sie das Gold prüfen, den trefflichsten möchte gefunden haben, gegen welchen ich sie dann halten könnte, und wenn der Stein mir Zeugniss gäbe, dass meine Seele in gutem Stände wäre, nun ganz gewiss wüssle, dass ich zufrieden sein könne, und keiner weiteren Prüfung bedürfe?

Kallikle. Weshalb fragst du das nur, Sokrates?

Sokrates Das will ich dir gleich sagen. Ich glaube näm- lich, nun ich dich gefunden, ein solches Kleinod gefunden zu haben. 2

Kallikle.. Wie so?

Sokrates. Ich weiss gewiss, dass was du mir zugiebst von meinen Meinungen, dieses dann gewiss die Wahrheit selbst ist. Ich denke mir nämlich, wer eine vollständige Prüfung anstellen soll mit einer Seele, ob sie recht lebt oder nicht, muss dreierleiA87

5%

68 GORGIAS.

haben, welches du alles hast, Einsicht, Wohlwollen und Freimü- thigkeit. Denn ich treffe auf gar Viele, welche nicht im Stande sind, mich zu proben, weil sie nicht weise sind wie du. Andere sind zwar weise, wollen mir aber nicht die Wahrheit sagen, weil sie sich meiner nicht so annehmen wie du. Und wiederum diese beiden Fremden, Gorgias und Polos, sind zwar weise und mir auch gewogen, ermangeln aber etwas der Freimüthigkeit, und sind verschämter als billig. Oder wie kann es anders sein, da sie es so weit treiben mit der Verschämtheit, dass sie beide weil sie sich schämen so dreist sind, sich selbst, Angesichts vieler Menschen, zu widersprechen, und das in den wichtigsten Dingen. Du aber hast dieses alles, was die Andern nicht haben. Denn unterrichtet bist du zur Genüge,. wie gewiss die meisten Athener eingestehn würden, und gegen mich bist du wohlmeinend. Woraus ich das schliesse will ich dir sagen. Ich weiss, Kallikles, dass ihr Vier eine Gemeinschaft der Weisheit unter euch errichtet habt, du und Tisandros der Aphidnaier, und Andron der Sohn des Androtion, und Nausikydes der Cholarger. Und ich habe euch einmal be- horcht als ihr berathschlagtet, wie weit man sich mit der Wissen- schaft abgeben müsse, und weiss, dass eine solche Meinung unter euch die Oberhand behielt, man müsse es nicht bis aufs äusserste treiben wollen mit der Philosophie, vielmehr ermahntet ihr euch unter einander, auf eurer Hut zu sein, damit ihr nicht weiser würdet als schikklich, und dadurch unvermerkt in Unglükk ge- rieihet. Da ich nun höre, dass du mir denselben Rath ertheilst wie deinen Vertrautesten: so ist mir dies ein hinreichender Be- weis, dass du es wahrhaft wol mit mir meinst. Dass du aber frei heraus zu reden verstehst ohne dich zu schämen, sagst du ja selbst, und was du vorher sagtest, bezeugt es dir auch. Da- her verhält es sich hiermit jezt offenbar so, wenn du mit mir über etwas in unseren Reden übereinkommst, das wird alsdann hin- länglich erprobt sein durch mich und dich, und es wird nicht nöthig ‚sein, es noch auf eine andere Probe zu bringen. Denn du würdest es ja sonst nicht eingeräumt haben, weder aus Man- gel an Weisheit noch aus Ueberfluss an Scham; noch auch um mich zu betrügen würdest du es ‚einräumen. Denn du bist mir (freund, wie du auch selbst sagst. Gewiss also wird, was ich und du eıngestehe, das höchste Ziel der Richtigkeit haben. Es giebt aber gewiss keine schönere Untersuehung, o Kallikles, als darüber, weshalb du mir eben Vorwürfe machtest, wie nämlich ein Mann sein muss, und wonach er zu streben hat und wie weit, im Alter

Er On N Ve N RE Δ

GORGIAS. 69

sowol als in der Jugend. Denn wenn ich irgendwo nicht richtig48# handle in meinem Leben: so wisse nur, dass ich nicht fehle, sondern in meinem Unversiande. Wie du also schon angefangen hast mich zurechtzuweisen, so lass nicht ab; sondern zeige mir vollständig, was dasjenige ist, dessen ich mich bestreben soll, und auf welche Weise ich es wol erlangen könnte. Und wenn du fin- dest, dass ich dir jezi zwar beistimme, in der Folge aber dasje- nige nicht thue, worin ich dir beigestimmt: so halte mich nur ganz für einen Taugenicht, und ermahne mich niemals wieder nachher, wie einen der nichts werth ist. Wiederhole mir aber noch einmal von Anfang, wie du glaubst, und Pindaros mit dir, dass es sich mit dem Gerechten verhalte, dem der Natur gemäs- sen, dass der Würdigere gewaltsam wegführt, was dem Geringe- ren gehört, und der Bessere über den Schlechteren herrscht, und der Edlere mehr hat als der Gemeinere? ist nach deiner Rede das gerechte etwas anderes, oder habe ich es richtig behalten?

Kallikle. Eben das sagte ich damals, und sage es auch jezt noch.

Sokrates. Meinst du aber dasselbe, wenn du sagst einer ist besser, und wenn du sagst einer ist würdiger? Denn das konnte ich auch schon damals nicht recht verstehn wie du es meintest. Nennst du die würdiger, welche stärker sind, und soll der Schwä- chtere auf den Stärkeren hören, wie mich dünkt dass du auch da- mals zeigtest, dass die grösseren Staaten nach dem natürlichen Recht die kleineren angriffen, weil sie nämlich würdiger sind und stärker, wonach dann würdiger und stärker und besser einerlei wäre? Oder kann man besser sein, aber geringer und schwächer, und würdiger, aber schlechter? oder soll besser und würdiger ei- nerlei besagen? Dieses gerade bestimme mir recht genau, ob das verschieden ist oder einerlei, würdiger und besser und stärker.

Kallikle. So sage ich dir denn ganz bestimmt, dass es einerlei ist.

Sokrates. Sind nun nicht die Vielen von Natur stärker als der Eine, da sie ja auch die Geseze geben für den Einen, wie du auch selbst vorher sagtest?

Kallikles. Wie anders?

Sokrates. Was also den Vielen gesezlich ist, ist es auch den Stärkeren.

Kallikles. Allerdings.

Sokrates. Also auch den Besseren; denn die Stärkeren sind bei weitem die Besseren nach deiner Rede.

70 GORGIAS.

Kallikles. Ja.

Sokrates. Also das bei diesen gesezliche ist von Natur schön, da sie ja eben die Besseren sind?

Kallikle. Das gebe ich zu.

Sokrates. Sezen nun nicht eben die Vielen dieses fest, wie du auch selbst oben sagtest, es sei gerecht das gleiche zu haben, und Unrecht ihun sei unschöner als Unrecht leiden? Ist dies so

489oder nicht? Und dass du hier nur ja nicht darauf ertappt wirst, dass du dich auch schämst. Sezen die Vielen dieses fest oder nicht, dass das gleiche zu haben, und nicht mehr, gerecht sei? Nicht die Antwort hierauf mir vorenthalten, Kallikles, damit wenn du mir beistimmst, ich dann befestiget werde durch dich, weil nun ein Mann, der wol im Stande ist es zu beurtheilen, mir bei- gestimmt hat.

Kallikles. Ja, die Vielen sezen dies so fest.

Sokrates. Also nicht nur dem Geseze nach ist Unrecht thun unschöner als Unrecht leiden, und das gleiche haben gerecht, son- dern auch der Natur nach. So dass du im vorigen nicht magst wahr gesprochen, noch mir mit Recht Schuld gegeben haben, als du sagtest, Gesez und Natur wären einander entgegen, was ich | wol wüsste, und dadurch in meinen Reden den Ändern übervor- | theilte, indem ich, wenn es Jemand nach der Natur meinte, ihn auf das gesezliche führte, wenn aber nach dem Gesez, dann äuf die Natur. .

Kallıkles. Dieser Mann wird nie aufhören, leeres Geschwäz zu treiben. Sage mir, Sokrates, schämst du dich nicht in deinem Alter auf Worte Jagd zu machen, und wenn Jemand in einem Worte fehlt, dies fir einen grossen Fund zu achten? Glaubst du denn, dass ich etwas anderes meine unter dem Bessersein als das würdiger sein? Sage ich dir nicht schon immer, ich seze dies als einerlei, würdiger und besser? Oder glaubst du, ich meine, wenn sich ein Haufen Knechte versammelt, oder allerlei andere Leute, an denen weiter gar nichts ist, als dass sie vielleicht kör- perliche Kräfte haben, und diese es behaupten, dass dann eben dieses das gesezliche sei?

Sokrates. Wol, du weisesier Kallikles! So meinst du es?

Kallikles. Freilich so.

Sokrates. Auch ich vermuthete selbst schon lange, dass du es so ungefähr meintest mit dem würdiger sein, und fragte dich eben weiter, weil ich gern recht genau wissen wollte, wie du es meintest. Denn du hältst doch wol nicht allemal Zwei für besser

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GORGIAS. 1

als Einen, noch deine Knechte für besser als dich, weil sie stär- ker sind als du. Also sage mir noch einmal von Anfang, was du denn: eigentlich verstehst unter den Besseren, wenn doch nicht die Stärkeren. Und.du Wunderlicher, lehre mich etwas sanftmü-: thiger ‚sein, damit ich nicht wegbleibe von dir.

Kallikles. Du spottest wieder, Sokrates.

Sokrates. Nein, beim Zethos, vermittelst dessen du nur kürz- lich soviel Spott ‚mit mir getrieben hast. Also komm und sage mir, wer du meinst dass die Besseren sind.

Kallikles. Die Edleren, meine ich.

Sokrates. Siehst du nun, dass du selbst nur Worte vorbringst und nichts erklärst? Willst du mir nicht sagen, ob du etwa un- ter denen, die würdiger und besser sind, die einsichtsvolleren meinst oder Andere?

Kallikle. Nun ja, eben diese meine ich, beim Zeus, ganz eigentlich.

Sokrates. Oftmals also ist Ein Einsichtsvoller besser als Zehntausend, die ohne Einsicht sind, nach deiner Rede, und die-490 ser muss herrschen, jene aber beherrscht werden, und der herr- schende mehr haben als die beherrschten. Denn dies dünkt mich willst du sagen, und ich mache nicht Jagd auf Worte, wenn der Eine besser ist als die Zehntausend.

Kallikle.. Eben das ist es auch was ich meine. Denn dies, denke ich, ist das gerechte von Natur, dass der Bessere und Ein- sichtsvollere herrsche, und mehr habe als die Schlechteren.

Sokrates. Halt doch hier. Was sagst du nur wieder jezt? Wenn, wie jezt hier, unserer sehr viele zusammen wären, und hätten gemeinschaftlich hier vielerlei Speisen und Getränk, wären aber durcheinander von allerlei Art, Kräftige und Schwächliche, einer aber unter uns wäre der Einsiehtsvollste hierin, weil er ein Arzt wäre, wäre aber selbst, wie es ja wahrscheinlich ist, kräftiger als-Einige, schwächlicher als Andere; nicht wahr, so wäre doch dieser, weil er einsichtsvoller wäre als wir, auch besser und stär- ker hierin?

Kallikles. Freilich.

Sokrates. Müsste er nun etwa von diesen Speisen mehr be- kommen, weil er der Bessere ist? oder müsste er, sofern er herrscht, eben alles vertheilen, sofern er es aber geniesst und verbraucht, für seinen eignen Leib nicht nach dem meisten streben, wenn er nicht Schaden leiden wollte, sondern mehr haben als Einige und weniger als Andere, und wenn er zufälligerweise der Schwächlichste

12 GORGIAS.

wäre, dann gerade am wenigsten, Kallıkles, unter Allen, ohnerachtet er der Beste wäre. Nicht so, mein Guter?

Kallikles. Von Speisen sprichst du und Getränk und Aerz- ten und Possen, ich aber meine das gar nicht.

Sokrates. Sagst du also nicht, dass der Einsichtsvollere der Bessere ist? Sprich doch ja oder nein.

Kallikles. Ja, sage ich. |

Sokrates. Aber nicht, dass der Bessere auch mehr haben | müsse?

Kallikles. Nicht Speise und Trank. |

Sokrates. Ich verstehe. Aber vielleicht Kleider, und wer sich am besten auf das Weben versteht, muss auch das grösste Kleid haben, und am vollständigsten und schönsten angezogen umher- gehn?

Kallikle. Was doch Kleider?

Sokrates. Aber an Schuhen offenbar doch muss wer der Ein- sichtsvollste und Beste hierin ist, auch mehr haben, und der Schuh- macher vielleicht auf die grössten und meisten Sohlen treten?

Kallikle. Was für Geschwäz machst du nun wieder von Schuhen!

Sokrates. Also wenn du dergleichen nicht meinst, dann viel- leicht dieses, wie ein Landmann, der im Akkerbau einsichtsvoll ist und achtungswerth, der muss vielleicht mehr Samen haben, und möglichst vielen auf seinen Akker verbrauchen?

Kallikle. Wie du doch immer wieder dasselbe vorbringst, Sokrates!

Sokrates. Nicht nur das, o Kallikles, sondern auch, wol zu merken, von derselben Sache.

491 Kallikles. Bei den Göttern, du hörst auch gar nicht auf, im- mer von Schustern und Gerbern und Köchen und Aerzten zu re- den, als wenn davon die Rede wäre unter uns.

Sokrates. Willst du also sagen, worin denn der Einsichts- vollere und Bessere mehr haben soll, damit er es auch mit Recht habe? oder willst du weder leiden, dass ich. dir etwas vorlege, noch auch es selbst sagen? τὲ

Kallikles. Aber ich sage es ja schon lange, zuerst wer die Besseren sind, dass ich nicht Schuster meine noch Köche, son- dern die in den Angelegenheiten des Staates einsichisvoll sind, und wissen, wie er gut kann verwaltet werden, und nicht nur ein- sichtsvoll, sondern auch tapfer, so dass sie im Stande sind, was

GORGIAS. 73

sie ersonnen haben, auch auszuführen, und nicht dabei ermüden aus Weichlichkeit des Gemüths.

Sokrates. Siehst du, bester Kallikles, wie es gar nicht das- seibe ist, was du mir Schuld giebst, und was ich wiederum dir? Denn du behauptest von mir, ich sagte immer dasselbe, und ta- delst mich deshalb. Ich aber beschuldige dich im Gegentheil, dass du nie dasselbe sagst von derselben Sache; sondern bald erklärst du, die Besseren, und die Würdigeren, wären die Stärkeren, dann wieder sind es die Einsichtsvolleren; nun aber bringst du schon wieder etwas anderes, indem du gewisse Tapfere für die Besseren ausgiebst, und die Würdigeren. Aber, du Guter, sage es doch einmal fertig heraus, wer denn die Besseren sein sollen und worin?

Kallikle. Aber ich habe es ja schon gesagt, die in den Staatssachen einsichtsvoll sind und tapfer. Denn diesen kommt es zu die Staaten zu beherrschen, und das ist eben das Recht, dass diese mehr haben als die Andern, die Herrschenden als die Be- herrschten.

Sokrates. Auch mehr als sie selbst, Freund ?

Kallikle. Wie meinst du das?

Sokrates. Ich meine, dass doch jeder Einzelne über sich selbst herrscht. Oder ist das gar nicht nöthig, sich selbst be- herrschen, sondern nur die Andern?

Kallikle. Wie meinst du sich selbst beherrschen?

Sokrates. Gar nichts besonders schwieriges, sondern wie es die Leute meinen, besonnen sein und sein selbst mächtig, und die Lüste und Begierden, die jeder in sich hat, beherrschend.

Kallikle.. Wie gutmüthig du bist! Diese Einfältigen meinst du, die Besonnenen!

Sokrates. Warum denn nicht? Wie doch? Das kann ja Je- dermann wissen, dass ich das nicht meine.

Kallikle. Ganz gewiss doch, Sokrates. ‘Denn wie könnte wol ein Mensch glükkselig sein, der irgend wem diente? Sondern das ist eben das von Natur schöne und rechte, was ich dir nun ganz frei heraus sage, dass wer richtig leben will, seine Begier- den muss so gross werden lassen als möglich, und sie nicht ein- zwängen; und diesen, wie gross sie auch sind, muss er dennoch Genüge zu leisten vermögen durch Tapferkeit und Einsicht, und492 worauf seine Begierde jedesmal geht sie befriedigen. Allein dies, meine ich, sind eben die Meisten nicht im Stande, weshalb sie gerade solche Menschen tadeln aus Scham, ihr eignes Unvermö-

74 GORGIAS.

gen verbergend, und sagen, die Ungebundenheit sei etwas schänd- liches, um, wie ich auch vorher schon sagte, die von Natur bes- seren Menschen einzuzwängen; und weil sie selbst ihren Lüsten keine Befriedigung zu verschaffen vermögen, so loben sie die Be- sonnenheit und die Gerechtigkeit, ihrer eigenen Unmännlichkeit wegen. Denn denen, welche entweder schon ursprünglieh. Söhne von Königen waren, oder welche kraft ihrer eigenen Natur ver- mochten sich ein Reich oder eine Macht und Herrschaft zu grün- den, was wäre wol unschöner und übler als die Besonnenheit für diese Menschen, wenn sie, da sie des guten geniessen könnten, und ihnen niemand im Wege steht, sich selbst einen Herren sez- ten, nämlich des grossen Haufens Gesez, Geschwäz und Gericht. Oder wie sollten sie nicht elend geworden sein durch das schöne der Gerechtigkeit und Besonnenheit, wenn sie nun ihren Freunden nichts mehr zuwenden als ihren Feinden, und das, ohnerachtet sie herrschen in ihrem Staat! Sondern der Wahrheit nach,:o Sokra- tes, die du ja behauptest zu suchen, verhält es sich so: Ueppig- keit und Ungehundenheit und Freigebigkeit, wenn sie nur Rükk- halt haben, sind eben Tugend und Glükkseligkeit; jenes.andere aber sind Zierereien, widernatürliche Sazungen, leeres Geschwäz der Leute und nichts werth.

Sokrates. Gar nicht feigherzig, o Kallikles, machst du deinen Ausfall mit grosser Freimüthigkeit. Denn ganz offen sagst du nun: heraus, was die Andern zwar auch denken, aber nicht sagen wol- len. Ich bitte dich daher, ja auf keine Weise nachzulassen, da- mit nun in der That offenbar werde, wie man leben muss. Und. sage mir, die Begierden, sprichst du, 'muss man nicht einzwän- gen, wenn man sein will wie man soll, sondern sie so gross im- mer möglich lassen, und ihnen woher. es auch sei Befriedigung bereiten, und das sei die Tugend.

Kallikles. Das behaupte ich.

Sokrates. Nicht richtig also sagt man die nichts bedürfenden wären glükkselig.

Kallikles. Die Steine wären ja auf diese Art an glükkselig- sten, und die Todten.

Sokrates. Aber doch auch, so wie du es beschreibst, ist das Leben mühselig. Ich wenigstens wollte mich nieht wundern, wenn Euripides Recht hätte, wo er sagt: Wer weiss. ob unser Leben nicht ein Tod nur ist, Gestorben sein dagegen Leben? und ob wir vielleicht in der That todt sind. Was ieh auch sonst schon

493von einem der Weisen gehört habe, dass wir jezt todt wären, und

GORGIAS. | 75

unsere Leiber wären nur unsere Gräber, der Theil der Seele aber, worin die Neigungen sind, wäre ein beständiges Anneigen und Abstossen aufwärts und abwärts, welches ein stattlicher Mann, der Sinnbilder dichtet, einer aus Sikelien wol oder Italien mit dem Worte spielend wegen des Einfüllens. und Fassenwollens ein Fass genannt hat, und die Ausgelassenen Ausgeschlossene, und bei die- sen Ausgeschlossenen könnte nun der Theil der Seele, wo die Neigungen sind, eben wegen der Ungebundenheit und Unhaltbar- keit nicht schliessen, wie ein lekkes Fass, womit er sie der Un- ersättlichkeit wegen verglich. Und ganz. dir enigegengesezt, o Kal- likles, zeigt dieser, dass in der Schatienwelt, woruntier er die Geisterwelt meinte, jene Ausgeschlossenen die Unseligsten wären und Wasser trügen in das lekke Fass mit einem eben so lekken Siebe. Unter dem Siebe aber verstand er, wie der sagt, der.es mir erzählte, die Seele, und die Seele der Ausgelassenen verglich er mit einem Siebe, weil sie lekk wäre und nichts festhalten könne, aus Ungewissheit und Vergesslichkeit.. Dies ist nun gewisser- maassen hinreichend wunderlieh; es macht aber doch deutlich, was. ich dich gern, wenn ich es dir irgend zeigen könnte, überreden möchte zu wechseln, und anstatt des unersätilichen und ausge- lassenen und ungebundenen Lebens das besonnene, und mit dem jedesmal vorhandenen sich begnügende zu wählen. Aber wie ist es nun? überrede ich dich wol, und änderst du deine Behaup- tung dahin, dass die Sittlichen glükkseliger sind als die Ungebun- denen; oder schaffe ich nichts, sondern wenn ich auch noch so- viel dergleichen .dichtete, würdest du doch deine Meinung nicht ändern? |

Kallikles. Dies war richtiger gesprochen, Sokrates.

Sokrates. Wolan, .ich will dir noch ein anderes Bild erklä- ren aus derselben Schule wie das vorige. Gieb Acht, ob du wol dies richtig findest von jeder dieser beiden Lebensweisen, der be- sonnenen und der ungebundenen, wie wenn zwei Menschen jeder viele Fässer hätte. Die des Einen wären dicht und angefüllt eins mit Wein, eins mit Honig, eins mit Milch und viele andere mit vielen andern Dingen; die Quellen aber von dem allen wären spar- sam und schwierig, und gäben nur mit vieler Mühe und Arbeit etwas her. Jener eine nun hätte seine Fässer voll, und leitete nichts weiter hinein, dächte auch gar nicht weiter daran, sondern wäre hierüber ganz rubig. Der andere aber hätte eben wie jener solche Quellen, die zwar etwas hergäben aber mit Mühe, seine Gefässe aber wären lekk und morsch, und er müsste sie Tag und

76 GORGIAS.

Nacht anfüllen oder die ärgste Pein erdulden. Willst du nun;

494 wenn es sich mit diesen beiden Lebensweisen so verhält, dennoch sagen, die des Ungebundenen wäre glükkseliger als die des Sitt- lichen? Ueberrede ich dich etwa hiedurch zuzugeben, das sitt- liche Leben sei besser als das ungebundene, oder überrede ich dich nicht?

Kallikles. Du überredest mich nicht, Sokrates. Denn für je- nen, wenn er seine Fässer voll hat, giebt es gar keine Lust mehr, sondern das heisst eben was ich vorher sagte wie ein Stein leben, wenn alles angefüllt ist weder Lust mehr haben noch Unlust. Son- dern darin besteht eben das angenehm leben, dass recht viel hin- einfliesse. |

Sokrates. So muss doch nothwendig, wenn viel einfliessen soll, auch des Abgehenden viel sein, und gar grosse Oefinungen für die Ausflüsse?

Kallikles. Allerdings.

Sokrates. Das ist wiederum ein Leben wie einer Ente, was du meinst, freilich nicht wie eines Todten oder eines Steins! Sage mir aber, du meinst es dech so, wie hungern, und wenn man hungert essen?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Auch dursten, und wenn man durstet trinken?

Kallikle. Auch; und eben so alle andern Begierden soll man haben und befriedigen können, und so Lust gewinnen und glükkselig leben.

Sokrates. Wol, Bester! Bleibe nur dabei, wie du angefan- gen hast, und dass du ja nicht aus Scham abspringst. Wie es aber scheint, muss auch ich mich nicht schämen. Und so sage mir nur zuerst, ob kräzig sein und das Jukken haben, wenn man sich nur genug schaben kann, und so gekizelt sein Leben hin- bringen, ob das auch heisst glükkselig leben?

Kallikles. Wie abgeschmakkt du immer bist, Sokrates, und offenbar schlechte Kunstgriffe gebrauchst.

Sokrates. Darum eben habe ich auch ‘den Polos und den Gorgias eingeschrekkt und blöde gemacht. Du aber lass dich ja nicht einschrekken und schäme dich auch nicht, sondern ant- worte nur.

Kallikles. So sage ich denn, auch wer sich krazt wird an- genehm leben.

Sokrates. Also wenn angenehm auch glükkselig.

Kallikles. Freilich.

GORGIAS. 77

Sokrates. Etwa wenn ihn nur der Κορέ jukkt, oder noch sonst eiwas? frage ich dich. Siehe wol zu, Kaiiikles, was du ant- worten willst, wenn dich Jemand was hiemit zusammenhängt alles der Reihe nach fragt. Und verhält es sich hiemit so, so kommt heraus das Leben der Knabenschänder ist nicht abscheulich und schändlich und elend. Oder wirst du wirklich wagen zu behaup- ten, dass auch diese glükkselig sind, wenn sie nur vollauf haben, wessen sie bedürfen?

Kallıkle. Schämst du dich nicht, Sokrates, die Rede auf solche Dinge zu bringen? |

Sokrates. Bringe ich sie etwa darauf, Bester? oder der, wel- cher so ohne weiteres behauptet, wer nur Lust habe, gleichviel wie er Lust habe, der sei glükkselig, und keinen Unterschied an-495 giebt, welche Lust gut ist und welche schlecht. Aber auch jezt noch, sage nur, behauptest du das angenehme und das gute sei einerlei, oder es gebe angenehmes was nicht gut ist?

Kallikle. Damil ich also meinen Saz nicht aufgebe, wenn ich sage, es wäre verschieden, so sage ich, es ist einerlei.

Sokrates. &äÄber, Kallikles, du verdirbst die ersten Reden, und kaunsi nicht mehr gehörig mit mir das wahre erforschen, wenn du anders redest, als du es selbst meinst.

Kallikle. Auch dir gilt das, Sokrates.

Sokrates. Also thue weder ich recht, wenn ich dies thue, noch du. Aber Bester, bedenke doch, das ist wol nicht das gute, auf alle Weise nur Lust haben. Denn das eben angedeutete viele schändliche folgt doch offenbar, wenn sich dies so verhält, und noch viel anderes.

Kallikle. Wie du wenigstens glaubst, Sokrates.

Sokrates. Du aber, Kallikles, willst dies in der That durch- sezen?

Kallikles. Das will ich.

Sokrates. Sollen wir also auf den Saz losgehn, als wäre es dir Ernst damit?

Kallikles. Allerdings freilich.

Sokrates. Wolan, wenn es denn so sein soll, so bringe mir doch dieses in Ordnung. Du nennst doch etwas Erkenntniss.

Kallikles. Ja.

Sokrates. Sagtest du nicht auch, dass es eine Tapferkeit gäbe mit‘ Erkenntniss?

Kallikles. Das that ich.

78 GORGIAS.

Sokrates. Nicht wahr, doch als sei die Tapferkeit verschieden ‚von der Erkenntniss, darum nanntest du sie beide?

Kallıkles. Allerdings.

Sokrates. Und wie? sind Lust und Erkenntniss einerlei oder verschieden?

Kallikles. Verschieden doch wol, du weisester Mann.

Sokrates. Auch die Tapferkeit verschieden von der Lust?

Kallikle. Wie anders?

Sokrates. Wolan, lass uns dies wol behalten, dass Kallikles der Acharner gesagt hat, angenehm und gut zwar sei einerlei, Er- kenntniss aber und Tapferkeit von einander sowol als von dem guten verschieden. Sökrates aber von Alopeka giebt dies nicht zu. Oder giebt er es zu?

Kallikles. Er giebt es nicht zu.

Sokrates. Ich glaube aber auch Kallikles nicht, wenn er sich selbst erst recht betrachtet hat. Denn: sage mir doch, die wol leben und die schlecht leben, meinst du nicht, dass diese sich in einem enjgegengesezten Zustande befinden?

Kallikles. Freilich.

Sokrates. Muss nun nicht, wenn beides wirklich einander entgegengesezt ist, es sich auch so damit verhalten, wie es sich mit Gesundheit und Krankheit verhält? Nämlich ein Mensch ist doch nicht zu gleicher Zeit gesund und krank, verliert auch nicht zu gleicher Zeit die Gesundheit und die Krankheit.

Kallikles. Wie meinst du das?

Sokrates. Nimm welches Einzelne du willst am Leibe und

496 betrachte es. Ein Mensch sei krank an den Augen, was man die Augenentzündung nennt.

Kallikles. Güt.

Sokrates. So ist er doch nicht zugleich gesund an denselben?

Kallikles. Auf keine Weise.

Sokrates. Wie aber wenn er nun die Augenentzündung ver- liert, verliert er alsdann auch die Gesundheit der Augen, und hat am Ende beides zugleich verloren?

Kallikles. Ganz und gar nicht.

Sokrates. Es wäre’ auch, denke ich, wunderlich und wider- sinnig. Nicht wahr?

Kallikles. Gar sehr.

Sokrates. Sondern abwechselnd, glaube ich bekommt und verliert er jedes. Nicht wahr?

Kallikles. Gewiss.

GORGIAS. 19

Sokrates. Auch Stärke und Schwäche eben so?

Kallikles: Ja.

Sokrates. Und Schnelligkeit und Langsamkeit?

Aallikles. Eben 50.

Sokrates. Etwa auch das gute und die Glükkseligkeit, und das Gegentheil davon, Uebel und Elend, bekommt und verliert man immer eins um das andere?

Kallikles. Auf alle Weise.

Sokrates. Wenn wir also etwas fänden, was der Mensch zu- gleich verliert und auch hat: so wäre dieses offenbar nicht das gute und das böse. Wollen wir dies annehmen? Bedenke es dir recht gut,"ehe du antwortest.

Kallikle. Ja ganz übermässig nehme ich das an.

Sokrates. So gehe mit mir atıf das vorlin eingestandene zu- rükk. Sagtest du, hungern wäre angenehm öder schmerzlich? ich meine nämlich das Hungern selbst.

Kallikles. Schmerzlich, sagteich; das Essen jedoch wenn man hungert angenehm.

Sokrates. Das denke ich auch. Aber doch das Hungern selbst schmerzlich?

Kallikles. Das gebe ich zu.

Sokrates. Auch wol das Dursten?

Kallikles. Gar sehr.

Sokrates. Soll ich nun noch mehr fragen, oder giebst du zu, dass überall jedes Bedürfniss und Begehren schmerzlich ist?

Kallikles. Ich gebe es zu; frage nur nicht weiter.

Sokrates. Wol! durstend aber trinken, sagst du nicht das sei angenehm ?

Kallikles.. Das sage ich.

Sokrates. In diesem nun, was du sagst, bedeutet doch das durstend, Unlust habend.

Kallikles. Ja.

Sokrates. Das Trinken aber die Befriedigung des Bedürfnisses, und also Lust?

Kallikles. Ja.

Sokrates, Sofern man also trinkt, sagst du, man habe Lust?

Kallikles. Gewiss.

Sokrates. Durstend doch?

Kallikle.. So meine ichs.

Sokrates. Also Unlust habend?

Kallikles. Ja

80 GORGIAS.

Sokrates. Merkst du nun was folgt, dass du sagst, der Un- lust habende habe zugleich Lust, wenn du sagst, der Durstige trinkt? Oder geschieht dieses etwa nicht zugleich in einerlei Raum und Zeit, wie du willst, der Seele oder des Leibes? Denn das, denke ich, macht uns hier keinen Unterschied. Ist es so oder nicht?

aallikles. Es ist so.

Sokrates. Dass aber, wer wol lebt, zugleich auch schlecht

497leben könne, das, sagiest du, wäre unmöglich.

Kallikies. Das sage ich freilich.

Sokrates. Dass aber ein Unlust habender zugleich Lust haben könne, hast du als möglich zugegeben.

Kallikles. So scheint es.

Sokrates. Lust haben ist also nicht gut leben, und Unlust haben nicht schlecht. So dass. das angenehme verschieden ist vom guten.

Kallikles. Ich weiss nicht, was du herausklügelst, Sokrates.

Sokrates. Du weisst es wol, aber du sträubst dich, Kallikles. Und rükke nur noch etwas weiter heraus mit deinen Schwänken, damit du recht sehest, von welcher Weisheit herab du mich zu- rechtweisest. Hört nicht jeder von uns zugleich auf zu dursten und zugleich am Trinken Vergnügen zu haben?

Kallikles. Ich weiss nicht, was du willst.

Gorgias. Nicht also, Kallikles! sondern antworte, auch unsert- wegen, damit die Rede durchgeführt werde.

Kallikles. Aber Sokrates ist immer so, Gorgias, dass er ge- ringfügige und nichtswürdige Dinge ausfragt und widerlegt.

Gorgias. Aber was verschlägt dir das? Auf alle Weise kommt ja das nicht auf deine Rechnung, Kallikles; sondern lass du nur den Sokrates beweisen, wie er will.

Kallikles. So frage denn deine Kleinigkeiten und Jämmerlich- keiten, wenn es dem Gorgias so gut dünkt.

Sokrates. Du bist glükkselig, Kallikles, dass du die grossen Weihen hast vor der kleinen; ich meinte däs ginge nicht an. Wo du also stehn bliebst, das beantworte, ob nicht jeder zugleich auf- hört zu dursten und auch Lust zu haben.

Kallikle. Das gebe ich zu.

Sokrates. Also auch mit dem Hunger und allen andern Be- gierden hört die Lust zugleich auf.

Kallikles. So ist es.

Sokrates. Also hört auch die Unlust und die Lust zugleich auf?

Ι

GORGIAS. 81

Kallikles. Ja.

Sokrates. Aber das gute und böse hört nicht zugleich auf, wie du zugabst; giebst du es aber nun nicht zu?

Kallikles. Ο ja, und was weiter?

Sokrates. Dass demnach, lieber Freund, das gute nicht einer- lei ist mit dem angenehmen, noch das böse mit dem unange- nehmen; denn diese hören beide zugleich auf, jene aber nicht, dass also offenbar beide verschieden sind. Wie sollte also das angenehme mit dem guten einerlei sein, und das unangenehme mit dem bösen? Wenn du lieber willst, betrachte es auch so. Denn ich denke, auch so wird es dir nicht herauskommen. Sieh nur zu. Nennst du die Guten nicht gut, weil ihnen gutes ein- wohnt, wie diejenigen schön, denen Schönheit einwohnt?

Kallikle.. Das thue ich.

Sokrates. Und wie? nennst du die Thörichten und Feigher- zigen Gute? vorher wenigstens nicht, sondern die Tapfern und Einsichtsvollen nanntest du so. Oder nennst du nicht diese gut?

Kallikles. Allerdings.

Sokrates. Und wie? hast du schon ein unverständiges Kind vergnügt gesehn?

Kallikles. O ja.

Sokrates. Einen unverständigen Mann hast du aber noch nicht vergnügt gesehn?

Kallikles. Ich glaube wol, aber wozu das?

Sokrates. Zu nichts; antworte nur,

Kallikles. Ich habe solche gesehn.

Sokrates. Wie? auch Verständige vergnügt und unlustig? 498

Kallikle. O ja. |

Sokrates. Welche haben nun mehr Lust und Unlust, die Vernünftigen oder die Unvernünftigen?

Kallikles. Ich glaube, das wird ziemlich dasselbe sein.

Sokrates. Auch das ist mir genug. Hast du auch schon im Kriege einen Feigherzigen gesehen?

Kallikle. Wie sollte ich nicht.

Sokrates. Wenn nun die Feinde abzogen, welche dünkten dich mehr Freude zu haben, die Feigen oder die Tapfern?

Kallikles. Sie dünkten mich beide mehr zu haben, wo nicht, doch ziemlich gleichviel.

Sokrates. Auch das verschlägt nichts. Es freuen sich also doch auch die Feigen?

Kallikles. Gar sehr.

Plat. W. II. Th. 1. Bd. 6

82 GORGIAS.

Sokrates. Und die Thörichten, wie es scheint?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Kommen aber die Feinde angezogen, haben dann die Feigen allein Unlust, oder auch die Tapfern?

Kallikles. Beide.

Sokrates. Auch gleich sehr?

Kallikle.. Mehr vielleicht die Feigen.

Sokrates. Und wenn sie abziehn, sollten sie nicht mehr Lust haben?

Kallikles. Vielleicht,

Sokrates. Also Lust und Unlust haben die Thörichten und die Einsichtsvollen, die Feigen und die Tapfern gleichmässig, wie du behauptest, und wol die Feigen mehr als die Tapfern.

Kallikle. Das behaupte ich.

Sokrates. Aber doch sind die Einsichtsvollen und die Tapfern gut, die Feigen und Thörichten aber böse?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Gleichviel also haben die Guten und die Bösen Lust und Unlust?

Kallikle. Das behaupte ich.

Sokrates. Sind nun etwa auch die Guten und die Bösen bei- des gleichviel gut und böse, oder auch die Bösen noch mehr gut und böse?

Kallikles. Ja, beim Zeus, ich weiss nicht was du willst.

Sokrates. Weisst du nicht, dass sagtest, die Guten wären gut, weil ihnen gutes einwohnte, die Bösen böse, weil böses; das gute aber wäre die Lust, das böse die Unlust?

Kallikles. Das sagte ich.

Sokrates. Also denen, die sich freuen, wohnt das gute ein, die Lust, wenn sie sich doch freuen.

Kallikle. Wie sollte es nicht.

Sokrates. Also da ihnen gutes einwohnt, sind die gut, welche sich freuen?

Kallikles. Ja. -

Sokrates. Und wie? denen die Schmerz empfinden, wohnt denen nicht böses ein, die Unlust?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Und wegen Einwohnung des bösen, sagst du, sind die Bösen böse. Oder sagst du es nicht mehr?

Kallikles. Noch immer.

<

GORGIAS. 83

Sokrates. Gut aiso sind, die irgend Lust haben: böse, die irgend Schmerzen?

Kallikles. Freilich.

Sokrates. Die mehr sind es mehr, und die weniger weniger, und die gleich sehr, sind 'es gleich sehr”?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Nun sagst du doch, die Einsichtsvollen und Thö- richten, und die Feigen und Tapfern hätten gleich sehr Lust und Unlust, oder auch die Feigen noch mehr.

Kallikles. Das sage ich.

Sokrates. So rechne nun gemeinschaftlich mit mir zusammen, was aus dem Eingestandenen folgt. Denn auch zweimal und drei- mal, sagen sie, dürfe man das schöne vorbringen und erwägen. Gut sei der Einsichtsvolle und Tapfere, sagen wir, nicht wahr? 499

Kallikles. Ja.

Sokrates. Böse der Thörichte und Feige?

Kallikles. Allerdings. |

Sokrates. Gut aber auch wiederum der Vergnügte?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Und schlecht der welcher Pein hat?

Kallikles. Nothwendig.

Sokrates. Gepeinigt aber und. vergnügt, sagst du, sei der Gute und der Schlechte auf gleiche Weise, vielleicht auch der Schlechte noch mehr?

Aallikles. Ja.

Sokrates. Also wird der Schiechte eben so wie der Gute gut und schlecht oder auch noch mehr gut? Folgt nicht dieses und auch jenes vorige, wenn Jemand behauptet gutes und ange- nehmes wäre dasselbe. Ist es nicht nothwendig, Kallikles?

Kallikles. Schon lange höre ich dir so zu, Sokrates, indem ich dir immer alles zugebe, weil ich merke, dass wenn dir Jemand, wäre es auch nur im Scherz, irgend etwas Preis giebt, du dich damit freust wie ein Kind. Also glaubst du wirklich, dass ich, oder sonst irgend ein Mensch meine, es sei nicht einige Lust besser, andere schlechter?

Sokrates. Oh! oh! Kallikles! wie boshaft bist du, und gehst mit mir um wie mit einem Kinde! Bald sagsı du, die Sache ver- halte sich so, bald wieder anders, und hintergehst mich. Und doch glaubte ich anfangs nicht, dass ich absichtlich von dir würde hintergangen werden, da du mir ja wohlwillst; nun aber bin ich betrogen, und muss schon, nach dem alten Spruch, nehmen was

6*

84 GORGIAS.

ich bekommen kann, und aus dem, was du mir giebst, soviel machen als möglich. Es ist also, wie es scheint, und du jezt sagst, so, dass einige Lust gut ist, andere schlecht.

Kallikles. Ja.

Sokrates. Sind nun gut etwa die nüzlichen, schlecht aber die schädlichen?

Kallikles. Freilich.

Sokrates. Und nüzlich sind doch die etwas gules bewirken, schädlich aber die etwas schlechtes?

Kallikles. Das sage ich auch.

Sokrates. Meinst du etwa diese? wie in Beziehung auf den Leib, von der Lust, welche wir anführten am Essen und Trinken, wenn davon einige dem Leibe Gesundheit verschaffen, oder Stärke, oder irgend eine andere Vollkommenheit des Leibes, diese gut sind, die aber das Gegentheil hievon, schlecht?

Kallikles. Freilich.

Sokrates. Ist es nun auch mit der Unlust eben so, dass einige heilsam ist, andere verderblich?

Kallikle.. Wie sollte es nicht.

Sokrates. Also die gute Lust und Unlust muss man wählen und bewirken?

Kallikles. Freilich.

Sokrates, Die schlechte aber nicht?

Kallikles. Offenbar.

Sokrates. Denn um des guten willen müsse man Alles thun, glaubten wir beide, wenn du dich noch erinnerst, ich und Polos. Glaubst du dies etwa mit uns, dass aller Handlungen Ziel das gute

500ist, und dass um seinetwillen alles andre muss gethan werden, nicht aber dieses um des andern willen? Willst du auf unsre Seite treten als der dritte?

Kallikles. Das will ich.

Sokrates. Um des guten willen also muss man alles übrige und so auch das angenehme thun, nicht aber ‚das gute wegen des angenehmen, | |

Kallikles. Freilich.

Sokrates. Ist es nun ‚eiwa Jedermanns Sache, auszuwählen, was unter dem angenehmen gut ist, und was schlecht, oder bedarf es zu jedem eines Kunstverständigen?

Kallikles. Eines Kunstverständigen.

Sokrates. Bringen wir uns nun in Erinnerung, was ich zum Polos und Gorgias sagte. Ich sagte nämlich, es gäbe Vorrichtungen

GORGIAS. 85

von denen einige nur bis zur Lust gingen, und diese allein be- wirkten, vom besseren und schlechteren aber nichts wüssten, an- dere aber erkennien was gut ist, und was schlecht; und so sezte ich unter die auf die Lust gehenden, als die leibliene, des Kochs Geschikklichkeit, nicht Kunst, unter die aber auf das gute gehen- den eben so die Kunst des Arztes. Und nun, beim freundlichen Zeus, o Kallikles, treibe weder selbst Scherz mit mir, und ant- worte nicht gegen deine Meinung, was sich eben trifft, noch we- niger aber nimm was ich sagen werde so an, als scherzte ich. Denn du siehst, dass davon die Rede unter uns ist, worüber es gewiss für jeden Menschen, der nur ein wenig Vernunft hat, nichts ernsthafteres geben kann, nämlich auf welche Weise er leben soll, ob auf diejenige, zu welcher du mich ermunterst, dass ich doch jenes dem Manne geziemende betreiben möchte, im Volke auftreten, die Redekunst ausüben und den Staat verwalien, auf die Art wie ihr ihn eben jezt verwaltet, oder ob er sich zu jener Lebensweise halten solle in der Philosophie, und worin wol diese von der an- dern sich unterscheidet. Vielleicht wäre es nun am besten, wie ich schon vorher versuchte, abzutheilen, und nachdem wir abgetheilt hätten, und mit einander übereingekommen wären, ob dies die beiden Lebensweisen sind, dann überlegen, worin sie sich unter- scheiden, und nach welcher man leben müsse: Vielleicht weisst du aber noch nicht, was ich meine?

Kallikles. Nicht recht.

Sokrates. So will ich es dir noch deutlicher sagen. Nachdem wir übereingekommen, ich und du, es gebe gutes und auch an- genehmes, und das angenehme wäre verschieden von dem guten, für jedes von beiden aber gebe es eine Bemühung und Vorrichtung, zu seinem Besiz zu gelangen, ein Jagen nach dem angenehmen also, und eins nach dem guten. Gleich dies aber gieb mir zu- erst entweder zu, oder läugne es.

Kallikles. Ich gebe es zu.

Sokrates. Wolan, auch darüber, was ich zu diesen sagte, erkläre dich mir, ob dich damals dünkte, dass ich Recht hätte. Ich sagte nämlich, die Kochkunst schiene mir keine Kunst zu sein, sondern nur eine Geschikklichkeit, wol aber die Heilkunst, wobei ich meinte, dass diese die Natur dessen erforscht hätte, was sie besorgt, und den Grund dessen was sie ihut, und von jedem ein- zelnen Rechenschaft geben kann; die ändere aber auf die Lust, 501 auf welche ihre ganze Sorge gerichtet ist, oflenbar ganz kunstlos arbeitet, ohne weder die Natur der Lust erforscht zu haben noch

86 GORGIAS.

ihren Grund, und ganz vernunftlos, dass ich es gerade heraus sage, eine gar nichts berechnende Handthierung und Geschikklichkeit, lediglich eine sich erhaltende Erinnerung dessen was zu geschehen pflegt, wodurch sie eben die Lust herbeischafft. Dieses nun über- lege zuerst, ob du glaubst, es sei mit Grund gesagt, und es gebe wirklich auch eben so verschiedene Beschäftigungen mit der Seele, einige kunstgemässe, welche Fürsorge tragen für das Beste der Seele, andere, welche, dieses vernachlässigend, nur wie dort auf die Lust der Seele bedacht sind, welchermassen ihr die entstehen könnte; darauf aber, welche Lust besser sei, und welche schlechter, weder Acht haben, noch überhaupt um irgend etwas anders sich beküm- mern, als nur wohlgefällig zu sein, gleichviel ob. besser oder schlechter. Mich nun, o Kallikles, dünkt, es gebe solche, und ich wenigstens sage dergleichen sei Schmeichelei, in Beziehung auf den Leib sowol als die Seele und jedes andere, dem Jemand nur dureh Lust gütlich thun will, ohne nachgedacht zu haben über das bessere und schlechtere. Du aber, stellst du hierüber dieselbe Meinung auf wie wir, oder widersprichst du?

Kallikles. Ich nicht, sondern ich räume es ein, damit auch nur deine Rede zu Ende gebracht werde, und ich dem Gorgias zu willen sei.

Sokrates. Soll es nun dergleichen für Eine Seele zwar geben, für zwei oder mehrere aber nicht?

Kallikle. Nein, sondern auch für Zwei und Viele,

Sokrates. Also auch Vielen zu Hauf kann man Wohlgefallen erregen, ohne auf das beste bedacht zu seın..

Kallikles. Das glaube ich wol.

Sokrates. Kannst du nun wol sagen, welches die Beschäfti- gungen sind, die dieses thun? Oder ‚vielmehr wenn du willst, lass mich fragen, und welche dir nun zu‘ diesen zu gehören scheint, von der bejahe es, welche nicht, von der verneine es. Zuerst lass uns die Kunst des Flötenspielens betrachten. Dünkt sie dich nicht eine solche zu sein, Kallikles, dass sie nur unser A οννο sucht, und auf nichts anders bedacht ist? u:

Kallikles. Das dünkt mich.

Sokrates. Nicht auch alle ähnlichen insgesammt, wie das Spiel auf der Lyra in den tonkünstlerischen Wettstreiten ?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Und wie die Ausführung der Chöre und die Dich- tung der Dithyramben, erscheint dir die nicht auch als eine solche? Oder meinst du, Kinesias, der Sohn des Meles, denke im mindesten

GORGIAS. 87

darauf, wie er so etwas sagen will, wodurch seine Zuhörer besser werden? oder nur, wodurch er dem grossen Haufen derselben ge- fallen will?

Kallikle. Das lezte wol ist deutlich genug, vom Kine-502 sias nämlich.

Sokrates. Nun, und sein Vater Meles? glaubst du, der habe auf das beste Rükksicht genommen bei seinem Spiel auf der Lyra? oder er ja wol nicht einmal auf das angenehmste; denn er quälte mit seinem Gesang die Zuhörer. Aber überlege nur, scheint dir nicht das ganze Spiel auf der Lyra und die dithyrambische Dicht- kunst nur zum Vergnügen erfunden zu sein?

Kallikle. Das scheint mir.

Sokrates. Und jene prächtige und bewundernswürdige Dich- tung der Tragödie, worauf wendet die so viel Fleiss? Meinst du, ihr Zwekk und ihre Bemühung sei nur darauf gerichtet den Zu- schauern Wohlgefallen zu erregen, oder auch darauf durchzusezen, dass wenn ihnen etwas zwar angenehm ist und wohlgefällig, aber verderblich, dieses nicht gesagt werde, und wenn dagegen etwas ihnen widerlich ist, aber heilsam, dass sie dieses sage und singe, mögen sie sich nun daran ergözen oder nicht? Auf welches von beiden scheint es dir die tragische Dichtkunst angelegt zu haben?

Kallikles. Es ist ja offenbar, Sokrates, dass sie mehr auf die Lust ausgeht, und darauf den Zuschauern gefällig zu sein.

Sokrates. Dieses aber, o Kallikles, sagten wir eben jezt sei Schmeichelei?

Kallikles. Allerdings.

Sokrates. Wolan, wenn Jemand von jeder Dichtung den Ge- sang wegnimmt, und den Tonfall und das Sylbenmaass, werden nicht, was übrig bleibt, Reden?

Kallikles. Nothwendig.

Sokrates, Und vor einem grossen Haufen Volks werden diese Reden gesprochen?

Kallikles. Freilich.

Sokrates. Also ist die Dichtkunst auch eine Volksbearbeitung.

Kallikle. So scheint es.

Sokrates. Und nicht wahr, wiefern Redekunst ist sie Volks- bearbeitung. Oder scheinen dir nicht die Dichter auf der Schau- bühne Redekunst zu treiben?

Kallikles. Wol freilich.

Sokrates. Jezt also haben wir eine Redekunst gefunden an ein solches Volk, aus Kindern zugleich und Weibern und Männern,

88 GORGIAS,

aus Knechten und Freien, mit welcher wir nicht sehr zufrieden sind; denn wir sagen, sie sei eine Schmeichelei.

Kallikles. . Freilich.

Sokrates. Wie aber die vor dem Volk der Athener? oder überhaupt in Städten vor andern Versammlungen freier Männer? was ist uns doch diese? Scheinen dir etwa die Redner immer in Beziehung auf das beste zu sprechen, dieses im Auge habend, dass die Bürger möglichst gebessert werden durch ihre Reden? oder gehen auch diese nur darauf aus, sich den Bürgern gefällig zu machen, und behandeln ihres eigenen Vortheils wegen den ge- meinsamen vernachlässigend das versammelte Volk wie Kinder, in- dem sie ihm nur Vergnügen zu machen suchen, ob es aber besser oder schlechter werden wird dadurch, sich nicht kümmern?

Kallikles. Das isi nicht mehr so im Allgemeinen zu beant-

503worten; denn es giebt, die was sie sagen aus wahrer Vorsorge

für die Bürger sagen, es giebt aber auch solche, wie du sagst.

Sokrates. Das genügt mir. Denn wenn sich dieses auch theilt: so ist doch der eine Theil Schmeichelei, und schlechte Volksbearbeitung; der andere aber wäre etwas schönes, Besserung zu bewirken für die Seelen der Bürger, und immer durchzusezen, dass man nur das beste rede, mag es angenehmer sein oder un- angenehmer für die Hörer. Aber niemals gewiss hast du diese Redekunst gesehen; oder wenn du einen solchen angeben kannst unter den Rednern, warum hast du ihn mir nicht auch genannt, welcher es sei?

Kallikles. Ja, beim Zeus, ich weiss dir keinen zu nennen, wenigstens unter den jezigen Rednern.

Sokrates. Wie? etwa unter den Alten weisst du einen zu nennen, durch welchen besser geworden zu sein man den Athenern nachsagen kann, seit er angefangen, ‘das Volk zu bearbeiten, da sie vorher schlechter waren? denn ich weiss nicht, wer dieser ist.

Kallikle. Wie? hast du nicht gehört, was für ein vorireff- licher Mann Themistokles gewesen, und Kimon und Miltiades, und dieser Perikles, der erst neuerdings gestorben ist, und den du noch selbst gehört hast? >

Sokrates. Ja, Kallikles, wenn nämlich die, welche du vorher »rintest, die rechte Tugend’ ist, Begierden zu befriedigen, seine eignen und Andrer; wenn aber nicht dies, sondern was wir m dem späteren Theil des Gesprächs genöthiget wurden anzunehmen, nämlich welche Begierden, wenn sie befriediget werden, den Men- schen besser machen, diese zu erfüllen, welche aber schlechter,

a Fa

GORGIAS. 89

die nicht, und dass es hiezu einer Kunst bedürfe; kannst du dann wol sagen, dass irgend einer von diesen Männern ein solcher ge- wesen sei?

Kallikle. Ich weiss nicht mehr, was ich sagen soll.

Sokrates. Wenn du es nur aufrichtig untersuchst, wirst du es schon finden. Lass uns aber so ganz gemach betrachtend zu- sehn, ob einer von diesen ein solcher gewesen ist. Nicht wahr, der rechtschaffene Mann, der um des besten willen sagt was er sagt, der wird doch nicht in den Tag hinein reden, sondern etwas bestimmtes vor Augen habend, so wie auch alle andere Künstler jeder sein eigenthümliches Werk im Auge habend nicht auf Ge- rathewohl zugreifend jedesmal etwas neues an ihr Werk anlegen, sondern damit jedem das, was er ausarbeitet, eine gewisse be- stimmte Gestalt bekomme. Wie wenn du die Maler ansehn willst, die Baumeister, die Schiffbauer, alle andere Arbeiter welche du willst, so bringt jeder jedes, was er hinzubringt, an eine bestimmte Stelle, und zwingt jedes, sich zu dem Ändern zu fügen, und ihm angemessen zu sein, bis er das ganze Werk wohlgeordnet und504 ausgestattet mit Schönheit dargestellt hat. So diese Künstler, und 50 auch jene andern, von denen wir eben sprachen, die es mit dem Leibe zu thun haben, die Aerzte und die Turnmeister, bringen doch so den Leib zu Ordnung und Anstand. Nehmen wir an, dass es sich so verhalte oder nicht?

Kallikle. Das mag immer so sein.

Sokrates. Ein Hauswesen also, in welchem Ordnung und An- stand anzutreffen ist, das wäre ein vollkommenes, in welchem aber Unordnung, das ein schlechtes?

Kallikles. Das gebe ich zu.

Sokrates. Eben 50 auch ein Schiff?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Und dasselbe sagen wir auch von unserm Leibe?

Kallikles. Freilich.

Sokrates. Wie aber die Seele? wird die vollkommen sein, wenn Unordnung in ihr anzutreffen ist, oder auch sie, wenn Ord- nung und Anstand?

Kallikles. Nothwendig ergiebt sich aus dem vorigen auch dieses.

Sokrates. Wie nennt man nun, was für den Leib aus Ord- nung und Anstand sich bildet?

allikle.. Du meinst wol Gesundheit und Stärke?

Sokrates. Die meine ich. Wie aber nun, was der Seele ein-

90 GORGIAS.

gebildet wird durch Ordnung und. Anstand? versuche. doch auch dafür wie. für jenes einen Namen zu finden und auszusprechen.

Kallikle. Warum sagst du es nicht selbst, Sokrates?

Sokrates. Wenn es dir lieber ist, will ich es wol sagen. Aber nur wenn du glaubst, dass ich es richtig sage, stimme mir bei; wenn aber nicht, so widerlege mich, und sieh mir ja nichts nach. Ich meine also, die Ordnungen für den Leib heissen Ge- sundheitsregeln, wodurch in ihm Gesundheit entsteht, und jede andere Tugend des Leibes. Ist das so oder nicht?

Kallikles. Es ist so.

Sokrates. Die Ordnungen aber und Bildungsvorschrifien für die Seele sind Recht und Gesez, vermittelst deren sie rechtlich werden und anständig, und das ist eben Gerechtigkeit und Beson- nenheit. Bejahst du es oder nicht?

Kallikles. Es sei so.

Sokrates. Mit Hinsicht hierauf also wird jener Redner, der rechtschaffene und kunstmässige, sowol alle seine Reden, die er der Seele anbringt, einrichten, als auch seine Handlungen, und was er gewährt wird er gewähren, wo er etwas versagt und eni- zieht wird er es versagen, darauf immer den Sinn gerichtet, wie Gerechtigkeit in die Seele seiner Mitbürger kommen möge, Unge- rechtigkeit aber hinweggeschafft werden, und Besonnenheit hinein- kommen, Ungebundenheit aber hinweggeschafft werden, und so jede andre Tugend hineinkommen, die Untugend aber abziehen. Räumst du dies ein oder nicht?

Kallikles. - Ich räume es ein.

Sokrates. Denn was würde es auch helfen, einem kranken zerrütteten Leibe viele und noch so angenehme Speisen zu reichen, und Getränke oder irgend etwas, was ihm bisweilen um. nichts mehr dient, oder im Gegentheil recht ‚gesprochen, wol noch we- niger. Ist das so oder nicht?

Kallikles. Es sei.

505 Sokrates. Denn ich denke, es lohnt dem Menschen nicht, in einem jämmerlichen Zustande des Leibes fortzuleben, weil er ja so auch nothwendig ein jämmerliches Leben führt. Oder ist es nicht so?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Und nicht wahr, seine Begierden befriedigen, wie wenn er hungert essen soviel er will, und wenn ihn durstet trinken,

das gestatten die Aerzie dem Gesunden wol meistentheils, den

GORGIAS. 91.

Kranken aber lassen sie gerade niemals sich daran sättigen, wonach ihn gelüstet. Dies giebst du doch auch wol zu?

Kallikles. Ja doch.

Sokrates. Und mit der Seele, Bester, ist es nicht eben so? so lange sie noch schlecht ist, weil unvernünftig, unbändig, unge- recht und unfromm, muss man sie zurükkhalten in ihren Begierden, und ihr nicht verstatten, irgend anderes zu thun als wodurch sie besser werden kann? Bejahst du oder nicht?

Kallikles. Ich bejahe.

Sokrates. Denn so ist es ihr selbst wol besser der Seele.

Kallikles. Ja doch.

Sokrates. Und zurükkhalten von dem, was sie begehrt, das heisst doch bändigen und in ‚Zucht halten?

Kallikles. Ja.

Sokrates. In Zucht gehalten werden, das ist also für die Seele besser. als die Unbändigkeit, wie du doch vorher meintest.

Kallikles. Ich weiss nicht was du vorbringst, Sokrates! Frage lieber einen Ändern.

Sokrates. Dieser Mann will sich nicht gefallen lassen, geför- dert zu werden durch eben dieses, wovon die Rede ist, dass man ihn nämlich in Zucht halte.

Kallikle. Auch kümmert mich gar nichts von allem was du sagst, und ich habe dir auch bis jezt nur des Gorgias wegen ge- antwortet.

Sokrates. ΜΟΙ] was wollen wir also machen? Die Rede mitten abbrechen?

Kallikle. Das magst du selbst wissen.

Sokrates. Sagen sie doch, es sei nicht recht, auch nur ein Mährchen in der Mitte stekken zu lassen, sondern man solle ihm einen Kopf aufsezen, damit es nicht ohne Kopf umhergehe. So beantworte doch noch das übrige, damit auch unser Gespräch sei- nen Kopf bekomme.

Kallikle. Wie zudringlich du bist, Sokrates! Wenn du in- dess mir folgen wolltest, liessest du diese Rede fallen, oder sprächst mit einem Andern.

Sokrates. Wer will wol von den Andern? dass wir doch die Rede nicht lassen unvollendet.

Kallikle.. Kannst du sie denn nicht allein zu Ende bringen, sei es nun, dass du zusammenhängend fortsprächest, oder dass du dir selbst antwortetest?

Sokrates. Dass mir noch das Epicharmische widerführe, was

92 GORGIAS.

vorhin zwei Männer sprachen, dazu ich allein genug sei. Indess es mag wol die höchste Noth sein auf diese Art. Wollen wir es jedoch so machen, so denke ich, wir müssen auch alle aus allen Kräften uns bemühen zu erfahren, was wahr ist in ’der Sache, wovon wir sprechen, und was falsch; denn es ist für Alle insge- mein gut, dass dies ans Licht komme. Ich also will es durchgehen, wie ich glaube dass es sich verhält. Wenn aber Einen von euch

506dünkt, ich stimmte mir selbst bei, wo ich nicht sollte: so müsst ihr dazwischentreten und widerlegen. Denn nicht als wüsste ich es, sage ich was ich sage, sondern ich suche es gemeinschaftlich mit euch; so dass, wenn mir derjenige etwas zu sagen scheint, der mir widerstreitet, ich es zuerst einräumen werde. Ich sage jedoch dies nur, falls euch gut dünkt, dass die Rede zu Ende ge- bracht werde; wollt ihr aber das nicht, so lassen wir sie, und gehen auseinander.

Gorgias. Ich meines Theils denke nicht, dass wir schon aus- einander gehen sollten, sondern dass du die Rede durchführest, und ich sehe wol, dass die andern eben dies wünschen. Denn auch ich möchte gar gern hören, wie du das übrige allein durch- nimmst.

Sokrates. Freilich, Gorgias, hätte ich gern noch mit unserm Kallikles weiter gesprochen, bis ich ihm könnte die Rede des Am- phion wieder gegeben haben für die des Zeihos. Da aber du, Kallikles, die Rede nicht willst mit mir zu Ende führen: so merke wenigstens auf und weise mich zurecht, wenn du meinst, dass ich etwas unrichtiges sage. Und wenn du mich überführst, werde ich dir nicht zürnen, wie du mir, sondern als mein grösster Wohlthäter wirst du bei mir angeschrieben stehen.

Kallikles. So sprich nur selbst, Guter, und mache ein Ende.

Sokrates. Höre denn, wie ich von Anfang an alles wieder aufnehme. |

Ist wol das angenehme und das gute einerlei? Nicht ei- nerlei, wie ich und Kallikles übereingekommen sind. Muss nun das angenehme um des guten willen gethan werden, oder das gute um des angenehmen? Das angenehme um des guten. -- Angenehm aber ist das, durch dessen Anwesenheit wir ergözt wer- _ den; gut hingegen, durch dessen Anwesenheit wir gut sind? Gewiss. Gut aber sind wir, und alles Ändere was gut ist, durch irgend einer Tugend Anwesenheit? Dies dünkt mich wenigstens nothwendig, Kalliktes. Die Tugend eines jeglichen Dinges aber, eines Geräthes wie eines Leibes und so auch einer Seele und jeg-

GORGIAS. 93

liches Lebenden, findet sich nicht so von ohngefähr aufs schönste herzu, sondern durch Ordnung, richtiges Verhalten, und durch die Kunst, welche eben einem jeden angewiesen ist. Ist dies wol so? Ich wenigstens bejahe es. Durch Ordnung also wird die Tugend eines jeden festgesezt und in Stand gebracht? Ich würde es bejahen. Eine gewisse eigenthümliche Ordnung also, die sich in einem jeden bildet, macht jeden und jedes gut? So dünkt mich. Auch die Seele also, die ihre eigenthümliche Ordnung und Sitte hat, ist besser als die ungeordnete? Noth- wendig. Die aber Ordnung und Sitte hat, das ist die sitt- liche? Wie anders? Und die sittliche ist die besonnene? Nothwendig. Die besonnene Seele also ist die gute? Ich wenigstens weiss nichts anders zu sagen als dies, lieber Kallikles, 507 weisst du aber etwas, so lehre es mich.

Kallikles. Sprich nur weiter, du Guter.

Sokrates. Weiter also’ sage ich, wenn die besonnene die gute ist: so ist die von der entgegengesezten Beschaffenheit die böse; diese war aber die besinnungslose und ungebundene? Freilich. Der Besonnene aber thut überall was sich gebührt gegen Götter und Menschen; denn er wäre ja nicht besonnen, wenn er das ungebührliche thäte? Das ist: nothwendig so. Thut er nun was sich gebührt gegen Menschen, so thut er das gerechte; und wenn dasselbe gegen die Götter, dann das fromme, und wer gerecht und fromm handelt, der ist nothwendig auch ge- recht und fromm? So ist es. Ja auch tapfer wol nothwen- dig; denn dem Besonnenen ist es nicht eigen, zu suchen oder zu fliehen was sich nicht gebührt, sondern diejenigen Ereignisse und Menschen, Lust und Unlust zu fliehen und zu suchen, welche er soll, und standhaft auszuharren, wo er soll. So dass nothwen- dig, o Kallikles, der besonnene Mann, da er, wie wir gezeigt ha- ben, auch gerecht und tapfer und fromm ist, auch der vollkommen gute Mann sein wird; der Guie aber wird schön und wohl in Al- lem leben, wie er lebt, wer aber wohllebt, wird auch zufrieden und glükkselig sein; der Böse hingegen und der schlecht lebt, elend. Und dies wäre der, welcher dem Besonnenen entgegen- gesezt sich verhält, der Zügellose, welchen du lobtest. So seze ich wenigstens dieses, und behaupte, dass es so wahr ist. Ist dies aber wahr, so muss, wie es scheint, wer glükkselig sein will, die Besonnenheit suchen und üben, die Zügellosigkeit aber fliehen, jeder so weit und schnell er kann; und so dieses vor allen Din- gen zu erlangen suchen, dass er keiner Züchtigung bedürfe, be-

94 GORGIAS.

dürfte er ihrer aber entweder selbst oder einer von seinen Ange- hörigen, sei es ein Einzelner oder der Staat, dann Strafe auflegen und züchtigen, wenn er glükkselig sein will. Dies dünkt mich das Ziel zu sein, auf welches man hinsehen muss bei Führung des Lebens, und alles in eignen und gemeinschaftlichen Angelegenhei- ten darauf hinlenkend so verrichten, dass immer Gerechtigkeit und Besonnenheit dem gegenwärtig bleibe, der glükkselig werden will; nicht aber so, dass man die Begierden zügellos werden lasse, und im Bestreben sie zu befriedigen, ein überschwengliches Uebel, das Leben eines Räubers lebe. Denn weder mit einem andern Men- schen kann ein solcher befreundet sein noch mit Gotlte; denn er kann in keiner Gemeinschaft stehen, wo aber keine Gemeinschaft ist, da kann auch keine Freundschaft sein. Die Weisen aber be- haupien, o Kallikles, dass auch Himmel und Erde, Götter und 508Menschen nur durch Gemeinschaft bestehen bleiben und durch Freundschaft und Schikklichkeit und Besonnenheit und Gerechtig- keit, und betrachten deshalb, o Freund, die Welt als Ein Ganzes und geordnetes, nicht als Verwirrung und Zügellosigkeit. Du aber, wie mich dünkt, merkst hierauf nicht, wiewol du so weise bist, sondern es ist dir entgangen, dass: die geometrische Gleichheit so- viel vermag unter Göttern und Menschen, du aber glaubst, alles komme an auf das Mehr haben, weil du eben die Messkunst ver- nachlässigst. Wol! entweder nun muss uns dieser Saz widerlegt werden, dass nicht durch Gerechtigkeit und Besonnenheit die Glükk- seligen glükkselig sind, und durch Schlechtigkeit die Elenden elend, oder wenn er wahr bleibt, muss man sehen was folgt. Nämlich jenes vorige, Kallikles, folgt Alles, wovon du mich fragtest, ob ich es im Ernst meinte, als ich sagte, dass man, wer nur etwas unrechtes gethan, den anklagen müsse, sich selbst, seinen Sohn, seinen Freund, und dazu die Redekunst gebrauchen. Und was Polos dir schien nur aus Blödigkeit zugegeben zu haben, das war also wahr, dass nämlich das Unrechtthun um wieviel schändlicher, um soviel auch übler wäre als das Unrechtleiden;, und dass wer ein rechter Redner werden wolle, nothwendig gerecht und des Rechts kundig sein müsse, was wiederum Gorgias nach Polos Rede nur aus Blödigkeit soll eingeräumt haben. Verhält sich nun dieses so: so lass uns sehn, wie es wol mit dem steht, was du mir vorwirfst, ob es wol recht gesagt ist oder nicht, dass ich nicht im Stande bin, mir selbst noch irgend einem meiner Freunde und Angehörigen zu helfen oder sie aus den grössten Gefahren zu er- retten, sondern dass ich in eines jeden Gewalt bin, wie die Ehr-

GORGIAS. 95

losen, der nur Lust hat, und wenn er mich auch, was ja das grosse Wort in deiner Rede war, ins Angesicht schlagen wollte oder des Vermögens berauben, oder aus der Stadt vertreiben, oder endlich gar tödten, und sich in solchem Zustande zu befinden doch das schändlichste ist nach deiner Meinung. Meine Meinung dagegen, welche schon oft gesagt worden ist, mag sie aber doch immer noch einmal gesagt werden, ist, ich läugne, Kalliıkles, dass ungerechter Weise ins Angesicht geschlagen zu werden das schänd- lichste ist; eben so auch nicht wenn man mir schnitte, sei es den Leib oder den Beutel, sondern eben das Schlagen selbst mich und das meinige ungerechter Weise, und das Schneiden ist sowol schändlicher als übler. Und stehlen dazu und Entführung zur Knechtschaft und gewaltsamer Einbruch, und überhaupt jedes an- dere Unrecht gegen mich und das meinige, ist für den der es be- geht beides übler und schändlicher, als für mich, an dem es be- gangen wird. Dieses; was sich uns auch schon dort in den frü- heren Reden so gezeigt hatte, wie ich sage, bleibt fest und wol verwahrt, sollte das auch zu derb klingen, mit eisernen und stäh-599 lernen Gründen, wie es ja noch scheint, welche du oder ein noch muthigerer entweder lösen muss, oder es wird nicht möglich sein, anders als ich gethan und doch richtig über die Sache zu reden. Denn ich bleibe immer bei derselben Rede, dass ich zwar nicht weiss, wie sich dies verhält, dass aber von denen, die ich ange- troffen, wie auch jezt, keiner im Stande gewesen ist, etwas An- deres zu behaupten, ohne dadurch lächerlich zu werden. Daher sage ich wiederum, dass es sich so verhält. Und wenn es sich so verhält, und das grösste unter allen Uebeln die Ungerechtigkeit selbst ist für den der Unrecht thut, und noch ein grösseres wo möglich als dieses grösste die Ungestraftheit des Unreehtihuns ist: welche Hülfe müsste dann ein Mensch sich selbst zu leisten un» fähig sein, um dadurch in Wahrheit zum Gespött zu werden? nicht diejenige, welche gerade den grössten Schaden von uns ab- wendet? Ganz nothwendig doch muss es das schmählichste sein, gerade diese Hülfe sich selbst und seinen Freunden und Ange- hörigen nicht leisten zu können, nächstdem aber die gegen das zweite Uebel, und drittens die gegen das dritte; und so fort nach der eigenthümlichen Grösse eines jeden Uebels ist es auch schön, gegen jedes Hülfe leisten zu können, und schmählicht es nicht zu können. Verhält es sich anders, oder so, Kallikles?

Kallikles. Nicht anders.

Sokrates. Unter den beiden nun, dem Unrechtthun und Un-

96 GORGIAS.

rechtleiden ist das grössere Uebel, sagen wir, das Unrechtthun, das kleinere das Unrechtleiden. Was müsste sich nun Jemand wol verschaffen, um diese beiden Vortheile zu geniessen, den nicht Unrecht zu thun, und den nicht Unrecht zu leiden? Das Vermögen oder den Willen? Ich meine nämlich so: Wenn einer nicht will Unrecht leiden, wird er schon deshalb wirklich nicht Unrecht lei- den? oder wird er nur dann, wenn er sich ein Vermögen erworben hat, nicht Unrecht zu leiden, auch wirklich nicht Unrecht leiden?

Kallikles. Das ist ja wol offenbar, wenn ein Vermögen.

Sokrates. Und wie ist es mit dem Unrechtthun? ist es etwa hinreichend, wenn einer nur nicht Unrecht thun will; so dass er dann auch nicht Unrecht thun wird; oder muss auch hiezu ein Vermögen und eine Kunst erworben werden, weil wenn einer diese nicht lernt und übt, er doch Unrecht ihun wird? Warum beant- wortest du mir nicht dieses wenigstens, Kallikles? glaubst du, dass ich und Polos durch eine wahre Nothwendigkeit dahin gebracht worden sind oder nicht in unserm vorigen Gespräch dies einzu- gestehn was wir eingestanden, niemand thäte mit Willen Unrecht, sondern alle Unrechtthuenden thäten ‘'Unrecht wider Willen?

310 Kallikle. Auch das mag so sein, Sokrates, damit du deine Rede zu Ende bringst.

Sokrates. Auch hiezu also, wie es scheint, muss ein Ver- mögen und eine Kunst erworben werden, um nicht Unrecht zu thun ?

' Kallikles. Ja doch.

Sokrates. Welches ist nun die Kunst, durch welche man erreicht, dass man gar nicht oder so wenig als möglich Unrecht leidet? Sieh zu, ob du eben so denkst wie ich. Ich denke näm- lich so. Entweder muss man selbst im Staale herrschen, sei es gesezmässig oder gewaltthätig, oder man muss der bestehenden Gewalt freund sein. |

Kallikles. Siehst du, Sokrates, wie bereit ich bin, dich zu loben, wenn du etwas richtiges vorbringst? Dies scheinst du mir sehr richtig gesagt zu haben.

Sokrates. Erwäge dann auch dies, ob es dir gut gesagt scheint. Freund nämlich dünkt mich einem jeden derjenige am meisten zu sein, von dem es schon die Alten und Weisen sagen, der Aehnliche dem Aehnlichen. Meinst du nicht auch?

Kallikles. Auch ich.

Sokrates. Wenn also ein roher und ungebildeter Mann ir- gendwo eigenmächtig herrscht, wird nicht ein solcher Tyrann, wenn

GORGIAS. 97

es irgend in diesem Staate einen weit besseren Mann giebt, als er selbst ist, diesen fürchten, und ihm nicht von ganzer Seele freund sein können?

Kallikles. So ist es.

Sokrates. Eben so wenig aber auch, wenn Einer weit schlech- ter wäre, dem auch nicht. Denn einen solchen würde der Tyrann verachten, und ihm nicht solche Aufmerksamkeit wie einem Freunde beweisen können.

Kallikles. Auch das ist wahr.

Sokrates. Es bleibt also nur der übrig als der rechte Freund für einen solchen, der ihm gleichgesinnt wäre, dasselbe lobend und tadelnd, und sich dennoch beherrschen lassen und dem Ge- walthabenden unterworfen sein wollte. Dieser wird dann viel in solchem Staate vermögen, und niemand wird ihn ungestraft belei- digen. Steht es nicht so?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Wollte also in dieser Stadt einer von den jüngeren Leuten überlegen, auf welche Weise könnte ich wol zu grosser Macht gelangen, dass mich niemand beleidigte: so wäre dies, wie es scheint, der Weg für ihn, dass er sich gleich von Jugend an ge- wöhnte, dasselbe zu lieben und zu hassen, wie sein Herr, und es darauf anlegte, diesem so ähnlich zu werden als möglich. Nicht so?

Kallikles. Ja. |

Sokrates. Also diesem wird das bewirkt sein in der Stadt, dass er nicht beleidigt werde, und, wie ihr sprecht, viel vermöge?

Kallikles. Allerdings.

Sokrates. Aber eiwa auch dies, dass er selbst nicht Unrecht thue? oder weit gefehlt, wenn er ja einem unrechten Gewalthaber ähnlich sein soll und bei diesem viel vermögen? Sondern, denke ich, im Gegentheil wird ja seine ganze Vorrichtung darauf gehn, dass er im Stande sei, möglichst viel Unrecht zu ihun, und doch nicht bestraft zu werden. Nicht wahr?

Kallikles. Offenbar.

Sokrates. Also das grösste Uebel wird er doch bei sich tra-511 gen, dass er sich nämlich um dieser Nachahmung seines Herrn und dieser Gewalt willen seine Seele zerrüttet und verstümmelt hat?

Kallikles. Ich weiss nicht, wie du jedesmal deine Reden windest und drehst, Sokrates, immer wieder das unterste nach oben. Oder weisst du nicht, dass dieser Nachahmer jenen nicht Nachahmenden tödten, und ihm alles nehmen wird, wäs er hat?

Sokrates. Das weiss ich, mein guter Kallikles, wenn ich etwa Plat. W. Il. Th. 1, Bad. 7

98 GORGIAS.

nieht taub bin, da ich es ja von dir und Polos nur eben mehr als einmal gehört habe, und auch sonst von fast Allen in der Stadt. Aber höre du mich auch; er wird ihn freilich tödten wenn er will; aber er wird dies thun wie ein Böser an einem Guten und Rechischaffenen.

Kallikles. Ist das nun nicht eben das empörendste?

Sokrates. Nicht für den Vernünftigen, wie unsere Rede an- deutet. Oder soll der Mensch nur dafür sorgen, dass er die längstmögliche Zeit lebe, und sich nur der Künste befleissigen, die uns immer aus den Gefahren erreiten, wie auch der Redekunst, deren ich nach deinem Rathe mich befleissigen soll, weil sie uns aushelfen kann vor Gericht?

Kallikle.. Und gewiss, beim Zeus, sehr gut rieth ich dir.

Sokrates. Wie doch, Bester? Hältst du auch die Kunst zu schwimmen für eiwas sehr grosses und vortreffliches ?

Kallikle. Wahrlich, ich nicht.

Sokrates. Aber doch rettet auch sie die Menschen vom Tode, wenn sie in solche Umstände gerathen sind, wobei es dieser Kunst bedarf. Dünkt dich nun diese doch geringfügig, so will ich dir eine grössere als sie nennen, die Kunst der Schifffahrt, welche nicht nur das Leben, sondern auch Leib und Vermögen zugleich aus den äussersten Gefahren rettet, eben. wie die Redekunst. Und diese hält sich doch sehr zurükkgezogen und sittsam, und macht gar nicht grosse Ansprüche in ihrem ganzen Betragen, als ob sie etwas ausserordentliches leistete. Sondern hat sie dasselbe geleistet, was die gerichtliche Vertheidigung: so will sie doch, wenn sie einem aus Aegina glükklich hieher geholfen hat, glaube ich, zwei Obolen verdient haben, wenn aber aus Aegypten oder dem Pontos, wird sie für diese grosse Wohlthat, nachdem sie einen mit Weib und Kind und Habe erhalten und in den Hafen gebracht hat, aufs höchste zwei Drachmen fordern, und er selbst, der diese Kunst besizt und dies geleistet hat, steigt aus und geht am Ufer auf und ab neben seinem Schiffe gar bescheidenen Ansehns. Er weiss nämlich, so denke ich, zu berechnen, dass ihm unbewusst ist, welchen der Schiffsgesellschaft er wirklich Nuzen gestiftet hat, in- dem er sie nicht ertrinken liess, und welchen vielleicht Schaden, da er ja weiss, dass er sie um nichts besser ausgesezt hat als sie

5i2eingestiegen waren, weder dem Leibe noch der Seele nach. Er berechnet also, dass doch unmöglich, wenn ein mit grossen und unheilbaren Leibesübeln Bestrafter nicht ertrank, ein solcher zwar eland daran ist, dass er den Tod nicht gefunden hat, und diesem

GORGIAS. 99

also gar kein Vortheil geschafft ist durch ihn, wer aber mit grossen und unheilbaren Uebeln an der Seele, die soviel mehr als der Leib werth ist, behaftet ist, dem gut sein könne, fort zu leben, und er ihm einen Nuzen verschafft habe, wenn er ihn, gleichviel ob aus der See oder vor Gericht oder wo nur sonst irgend her errettet habe; sondern er weiss, dass es für einen solchen elenden Menschen gar nicht besser ist zu leben, weil er eben schlecht leben muss. Darum ist es auch nicht hergebracht, dass der Schif- fer gross thut, ob er uns gleich beim Leben erhält. Und eben so wenig ja der Kriegsbaumeister, du Wunderlicher, der die Befesti- gungen besorgi, wiewol er bisweilen kein geringerer Helfer ist, als segar der Heerführer, geschweige denn als der Schiffer, und als sonst irgend einer; denn er rettet ja wol bisweilen ganze Städte. Meinst du nicht, der könnte sich ja wol mit dem Sachwalter gleich stellen? Und freilich, Kallikles, wenn er reden wollie wie ihr, und die Sache herausstreichen, er würde euch ganz verschütien. unter seinen Reden und Ermahnungen, dass ihr solltet Kriegsbaumeister werden, und dass alles andere nichts wäre. Zu sagen hätte er genug. Aber du achtest ihn dennoch gering sammt seiner Kunst, ja ordentlich zum Schimpf könntest du ihn den Kriegsbaumeister nennen, und würdest weder seinem Sohn deine Tochter zur Ehe geben, noch die seinige für deinen nehmen wollen. Und doch nach dem, weshalb du dein Geschäft lobst, mit welchem Rechte ‚kannst du ihn und die übrigen, die ich erwähnt, gering achten? Ich weiss du wirst sagen, du wärest ein Besserer, und von Besse- ren her. Allein wenn das bessere nicht das sein soll, was ich so nenne, sondern eben dies die Tugend ist, nur sich selbst und das seinige zu erhalten, wie einer auch sonst sein möge: so wird deine Verachtung lächerlich, gegen den Kriegsbaumeister und den Arzt und alle die andern Künste, welche der Erhaltung wegen ersonnen sind. Also Bester, sieh zu, ob nicht das edle und gute etwas ganz anderes ist, als das Erhalten und Erhaltenwerden, und ob nicht ein Mann, der es wahrhaft ist, eben dieses, nur zu leben so lange es irgend geht, muss dahin gestellt sein lassen, und keines- weges am Leben hängen, sondern dieses Gott überlassend, und mit den Weibern glaubend, dass doch Keiner seinem Schikksal ent- geht, nur auf das nächste sehen, auf welche Weise er während der Zeit, die er nun zu leben hat, am besten leben möge, ob er sich wirklich soll der Regierung ähnlich machen, unter welcher er513 wohnt, und jezt also auch du dem Volke der Athener sollst ähn- lich zu werden suchen so sehr als möglich, wenn du bei ibm +

4100 GORGIAS.

wilist beliebt sein, und viel vermögen in der Stadt. Dies siehe zu, ob es dir wirklich nuzt und mir, damit es uns nicht gehe wie man von den Thessalerinnen sagt, welche den Mond herunter holen, und auch wir mit dem liebsten was wir haben uns dieses erwerben, viel zu vermögen im Staate. Glaubst du aber, irgend ein Mensch könne dir eine solche Kunst mittheilen, welche dich viel vermögend machen kann in dieser Stadt, wenn du auch ihrer Verfassung un- ähnlich bist, gleichviel ob besser oder schlechter: so berathest du dich schlecht, o Kallikles, wie mich dünkt. Denn nicht einmal nur sein Nachahmer musst du sein, sondern schon von Natur ihm ähnlich, wenn du etwas ordentliches erlangen willst in der Freund- schaft des Athenischen Voiks, und so auch wahrlich in der deines Jünglings.. Wer dich also diesem recht ähnlich macht, der macht dich wie du ein Staatsmann zu sein wünschest zu einem solchen Staatsmann und Redner. Denn was nach seinem eignen Sinn ge- sprochen wird, daran freut sich ein jeder, was aber aus einem fremden, das ist ihm zuwider, wenn du nicht etwa anders meinst, edelster Freund. Haben wir etwas hiegegen zu sagen, Kallikles?

Kallikles. Ich weiss nicht, wie mir gewissermassen gut vor- kommt, was du sagst, Sokrates; es geht mir aber doch wie den meisien, ich glaube dir nicht sonderlich.

Sokrates. Jene zwiefache Liebe eben, die du in der Seele hast, o Kallikles, zum Volk und zum Jüngling, steht mir entgegen; aber vielleicht wenn wir öfter und besser dasselbe erwägen wirst du überzeugt werden. Erinnere dich also, dass wir sagten, es gäbe eine zwiefache Vorrichtung um jedes den Leib und die Seele zu behandeln, davon die eine nur um der Lust willen sich damit abgebe, die andere mit Hinsicht auf das beste nicht sich gefällig mache, sondern durchseze. War es das nicht, was wir von ein- ander unterschieden?

Kallikles. Allerdings.

Sokrates. Und die eine, die es nur mit der Lust zu ihun hat, war unedel und nichts anders ihrem Wesen nach als Schmei- chelei. Nicht wahr? eier

Kallikles. Es sei so, wenn du denn willst.

Sokrates. Die andere aber, wenn wir nach Kräften das besser zu machen suchen, was wir behandeln, sei es nun Leib oder Seele?

Kallikles. So war es.

Sokrates. Sollen wir uns also auf diese Weise an die Stadt und die Bürger wagen, dass wir sie behandeln, um sie soviel möglich besser zu machen? Denn ohne dies, wie wir vorher fan-

GORGIAS. 4101

den, ist es unnüz irgend eine andere Wohlthat zu erweisen, wenn nicht die Gesinnung derer gui und schön ist, welche entweder zu grossem Besiz gelangen sollen, oder zur Herrschaft über Andere, oder zu sonst irgend einem Vermögen. Sagen wir dass es sich514 so verhält?

Kallikles. Ja, wenn es dir lieber ist.

Sokrates. Wenn wir nun in die Öffentlichen Geschäfte ein- getreten einander zuredeten, o Kallikles, uns unter den bürger- lichen Angelegenheiten etwa mit dem Bauwesen zu befassen, mit den Mauern, Schiffswerften, oder den wichtigsten heiligen Gebäu- den, müssten wir uns dann nicht zuvor untersuchen und prüfen, zuersi ob wir wol die Sache selbst verstehen oder nicht verstehen, die Baukunst, und von wem wir sie gelernt haben? müssten wir das oder nicht?

Kallikles. Freilich wol.

Sokrates. Und zweitens wol auch dieses, ob wir schon je wenigstens zum häuslichen Gebrauch irgend ein Gebäude aufge- führt haben für einen unserer Freunde oder für uns selbst, und ob dieses gut ist oder schlecht. Und wenn sich aus der Unter- suchung ergiebt, dass wir vortreflliche und berühmte Lehrer ge- habt haben, und viele schöne Gebäude mit unsern Lehrern ge- meinschaftlich aufgeführt, viele auch selbst allein, seitdem wir uns von den Lehrern getrennt: so ziemte es unter solchen Umständen vernünftigen Menschen, sich auch an die öffentlichen Werke zu wagen. Könnten wir aber keinen Lehrer aufzeigen und auch keine Gebäude oder viele zwar aber nichts werthe, dann wäre es doch gewiss unvernünftig, Öffentliche Werke zu unternehmen, und ein- ander dazu aufzumuntern. Wollen wir sagen, dies sei richtig ge- sprochen, oder nicht?

Kallikles,. Freilich.

Sokrates. Nicht auch eben so mit allem übrigen, wenn wir uns zureden wollten, auch die öffentlichen Geschäfte der Aerzte zu übernehmen, als tüchtig in diesem Fach, würden wir uns nicht erst prüfen, ich dich und du mich, lass doch sehn, bei Gott, den Sokrates selbst wie es doch steht mit seiner Gesundheit? oder ob wol schon Jemand durch ihn von einer Krankheit ist befreit wor- den, sei es ein Knecht oder ein Freier; und auf eben die Art würde auch ich dich prüfen, und fänden wir nicht, dass wir je- mals Jemanden gesunder gemacht hätten, weder Fremden noch Bürger, weder Mann noch Weib, beim Zeus, Kallikles, wäre es nicht belachenswerth, wenn dann Menschen noch so thöricht sar

102 GORGIAS,.

könnten, ehe sie nicht erst für sich allein, vieles zwar wie es sieh

eben traf, vieles aber auch richtig und gut ausgeführt und die

Kunst hinlänglich geübt hätten, gleich wie der Töpfer im -Sprich-

wort beim Fasse anzufangen, und sowol sich selbst an die öffent-

lichen Geschäfte zu wagen, als auch Andere eben solche dazu

aufzumuntern? Dünkt es dich nicht unvernünftig, so zu handeln? Kallikle.. Mich wol,

515 Sokrates. Nun aber du selbst, bester Mann, erst eben ange- fangen hast, Staatsgeschäfte zu betreiben, und mich ermahnst und schiltst, dass ich sie nicht betreibe, wollen wir einander nicht prüfen, wolan, hat Kallikles wol schon einen Bürger besser ge- macht? ist einer, der zuvor schlecht war, ungerecht etwa, zügel- los und unvernünftig, durch den Kallikles gut und rechtlich ge- worden, Fremder oder Einheimischer, Knecht oder Freier? Sprich, wenn dich Jemand hierauf prüft, Kallikles, was wirst du sagen? wen wirst du behaupten besser gemacht zu haben durch deinen Umgang? Bedenkst du dich zu antworten, wenn du doch ein sol- ches Werk aufzuzeigen hast aus der Zeit, da du für dich lebtest, ehe du dich ins öffentliche Leben wagtest?

Kallikles. Du willst immer Recht behalten, Sokrates.

Sokrates. Keinesweges aus Rechthaberei, frage ich, sondern in Wahrheit um zu erfahren, wie du denn meinst dass der Staat bei uns müsse verwaltet: werden; ob du wol auf etwas anderes deine Sorgfalt zu wenden denkst, nun du dich der öffentlichen Angelegenheiten annimmst, als darauf, dass wir Bürger immer besser werden? Oder haben wir nicht schon oft eingeständen, dass dies der öffentliche Mann bewirken müsse? Haben wir es eingestanden oder nicht? Antworte. Wir haben es eingestanden, will ich für dich antworten. Wenn also dies der rechtliche Mann seiner Stadt muss zu bewirken suchen: so besinne dich und sage mir noch einmal deine Meinung von jenen Männern, die du vor- hin anführtesi, ob du noch glaubst, dass sie gute Staatsmänner gewesen sind, Perikles und Kimon und Miltiades und Themistokles?

Kallikles. Ich glaube es doch. £

Sokrates. Waren sie also gute Staatsmänner: so hat doch offenbar jeder die Bürger zu besseren gemacht aus, schlechteren. Haben sie das gethan oder nicht?

Kallikles. Sie haben es gethan.

Sokrates. Also da Perikles anfing vor dem Volke zu reden, waren die Athener schlechter, als da er zum lezten Male redete?

Kallikles. Vielleicht.

GORGIAS. 103

Sokrates. Nicht doch vielleicht, Bester, sondern es folgt noth- wendig aus dem eingestandenen, wenn anders jener ein guter Staatsmann war.

Kallikles. Und was weiter?

Sokrates. Nur dies sage mir noch, ob man wirklich der Mei- nung ist, die Athener wären durch den Perikles besser geworden, oder umgekehrt sie wären verderbt worden durch ihn. Denn dazu höre ich wenigstens immer habe Perikles die Athener gemacht, zu einem faulen, feigen, geschwäzigen, geldgierigen Volk, indem er sie zuerst zu Söldlingen erniedriget.

Äallikle.. Das hörst du von denen mit den eingeschlagenen Ohren, Sokrates.

Sokrates. Aber dies doch höre ich nicht nur, sondern wir wissen es beide genau, ich und du, dass Perikles zuerst zwar in gutem Ruf stand, und die Athener keine schimpfliche Klage gegen ihn erkannten, als sie noch schlechter waren, nachdem sie aber durch ihn gut und edel geworden, gegen das Ende seines Lebenszjg haben sie auf Unterschleif gegen ihn erkannt, und hätten ihn bei- nabe am Leben -gestraft, offenbar doch als einen gefährlichen Mann.

Kallikle. Nun? war etwa deshalb Perikles schlecht?

Sokrates. Wenigstens ein solcher Aufseher über Esel, Pferde und Rinder würde für schlecht gehalten werden, der sie keines- weges so überkommen dass sie schlugen, stiessen und bissen, sie aber so hätte verwildern lassen, dass sie nun dieses alles thun. Oder dünkt dich nicht jeder solcher ein schlechter Aufseher über jede Art von Thieren, der sie zahmer bekommt, und sie wilder macht als er sie bekommen hat. Dünkt es dich nicht?

Kallikles. Ja doch, damit ich dir nur den Willen thue.

Sokrates. So tihue mir auch noch den Willen, mir dies zu beantworten, ob der Mensch auch zu den Thieren gehört, oder nieht?

Kallikles. Wie sollte er nicht?

Sokrates. Und Menschen regierte Perikles?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Wie also? sollten sie nicht nach dem eben fest- gesezten gerechter unter ihm geworden sein aus Ungerechteren, wenn er sie doch als ein rechter Staatsmann regierte?

Kallikles. Freilich.

Sokrates. Nun aber sind die Gerechten zahm, wie Homeros sagt. Was, sagst du aber? Nicht eben das?

104 GORGIAS.

Kallikles. Ja.

Sokrates. Und doch hat er sie wilder gemacht, als er sie vorgefunden hatte, und zwar gegen ihn selbst, was er doch am wenigsten wollte.

Kallikles. Willst du, dass ich dir Recht gebe?

Sokrates. Wenn dich dünkt, dass ich Recht habe?

Kallikle. So sei denn dieses sol

Sokrates. Wenn also wilder, dann auch ungerechier und schlechter? |

Kallikles. Es sei.

Sokrates. Also war Perikles kein guter Staatsmann nach die- ser Rede.

Kallikles. Nein, behauptest du freilich.

Sokrates. Beim Zeus, auch du, nach dem, was du mir zu- gegeben hast. Weiter auch wegen des Kimon sage mir doch, haben nicht eben die, deren Bestes er besorgte, ihn aus der Stadt verwiesen, um nur zehn Jahre lang seine Stimme gar nicht zu hören? und haben sie nicht dem Themistokles dasselbe gethan, und ihn noch obenein gänzlich verbannt? Den Miltiades aber, den Sieger bei Marathon, hatten sie schon beschlossen in der Grube umkommen zu lassen, und wäre nicht der Prytane gewe- sen, so würde er auch hineingekommen sein. Und doch würde diesen, wären sie so vorireffllich gewesen wie du behauptest, der- gleichen nicht begegnet sein. Wenigstens einem guten Wagen- führer geht es nicht so, dass er Anfangs zwar nicht herunterfällt vom-=Wagen,. wenn er aber seine Pferde erst eine Zeitlang behan- delt hat, und dadurch auch selbst ein besserer Wagenführer ge- worden ist, dann herabfälli. Dergleichen kommt nicht vor, weder beim Wagenführen noch bei irgend einem andern Geschäft. Oder meinst du?

Kallikles. Nein freilich. Ä

Sokrates. So waren also, wie es scheint, unsere vorigen Re-

517den ganz richtig, dass wir keinen wissen, der ein tüchtiger Staats- mann gewesen wäre in dieser Stadt. Du aber räumtest zwar ein, es gebe keinen unter den jezigen, unter den früheren aber mein- test du doch, und hobest eben diese Männer heraus. Von diesen aber hat sich gezeigt, dass sie den jezigen ganz gleich sind. So dass wenn diese Redner waren, sie weder die wahre Redekunst verstanden haben, denn sonst würden sie nicht durchgefallen sein, noch auch die schmeichlerische.

Kallikles. Aber es fehlt doch sehr viel, Sokrates, dass von

GORGIAS. 105

den jezigen einer solche Dinge ausrichtete, wie von jenen jeder, wer du willst, ausgerichtet hat.

Sokrates. 0 wunderlicher Kallikles, ich tadle ja auch diese Männer nicht, sofern sie Diener des Staats gewesen sind, vielmehr scheinen sie mir weit dienstbeflissener gewesen zu sein als die jezigen, und weit geschikkter, dem Staate dasjenige zu verschaffen, wonach ihn gelüstete. Aber seine Gelüste umstimmen und ihnen nicht nachsehn, sondern durch Ueberredung und durch Gewalt ihn zu dem bewegen, wodurch die Bürger besser werden können, darin, dass ich es gerade heraus sage, waren diese nichts besser als jene, und dies ist doch das einzige Geschäft des rechten und guten Staatsmannes. Allein Schiffe und Mauern und Werfte zu schaffen und vielerlei dergleichen, darin gestehe auch ich dir gern, dass jene weit stärker gewesen sind als diese. Aber lächerlich machen wir uns, ich und du, in unsern Reden. Denn in der gan- zen Zeit, seit wir mit einander sprechen, haben wir noch nicht aufgehört, immer auf dasselbe zurükkzukommen, und nicht zu wis- sen was wir meinen. Ich nämlich denke, du hast oft genug zu- gestanden und eingesehen, dass es wirklich eine solche zwiefache Beschäftigung giebt um den Leib und um die Seele, deren die eine bloss eine dienstbare ist, dass einer im Stande ist, wenn un- sern Leib hungert, Speise herbeizuschaffen, wenn ihn durstet Ge- tränk, wenn er friert Kleider, Dekken, Schuhe, und anderes wozu sonst dem Leibe Lust ankommt. Und wohlbedacht erläutere ich es dir durch dieselben Bilder, damit du es leichter begreifst. Wer nun dies zu verschaffen weiss, als Krämer oder Kaufmann oder Verfertiger dieser Dinge, als Koch, Bäkker, Weber, Schuster, Ger- ber, kein Wunder, dass der sich selbst dünkt der Versorger des Leibes zu sein, und auch den übrigen, jedem nämlich, der nicht weiss, dass es ausser allen diesen eine Kunst giebt, die Heilkunst nämlich und die Turnkunst, welche in Wahrheit die Versorgerin des Leibes ist, und welcher auch gebührt, über alle jene Künste zu herrschen, und sich ihrer Werke zu bedienen, weil sie näm- lich weiss, was das zuträgliche ist und das verderbliche von Speisen und Getränk für die Vollkommenheit des Leibes, die an-518 dern alle aber es nicht wissen. Daher auch jene nur für knech- tisch, dienstbar und unedel gelten in ihren Bemühungen um den Leib, diese aber die Heilkunst und die Turnkunst mit Recht Her- rinnen jener andern sind. Dass ich nun meine, dass dasselbe eben so in Beziehung auf die Seele statt finde, dünkst du mich manchmal recht gut zu verstehen, und giebst es zu, als wüsstest

106 GORGIAS.

du was ich meine; bald darauf aber kommst: du und behauptest, es hätte doch gar iüchtige und treffliche Staatsmänner gegeben unter uns, und als ich frage, welche denn, stellst du mir Men- schen auf, die sich zur Staatskunst vollkommen eben so verhalten, als wenn du mir auf die Frage wegen der Turnkunst, was für ausgezeichnete Männer in Besorgung des Leibes wir wol gehabt haben oder noch haben, ganz eımsihaft antworten wolltest, Thea» rion der Bäkker und Mithaikos, der die Sikelische Kochkunst ge- sehrieben hat, und Sarambos der Schenkwirth, diese wären vor- treffliche Pfleger des Leibes gewesen, denn der eine hätte wun- derschönes Brot geliefert, der andere Speisen, der dritie Wein. Vielleicht nun wärest du dann unwillig geworden, wenn ich dir gesagt hätte, lieber Mensch, du verstehst nichts von der Leibes- pflege, denn du nennst mir nur dienstbare Menschen, die für die Begierden arbeiten, und nichts gutes und schönes hievon verste- hen, die wenn es sich so Lrifft die Leiber der Menschen anfüllend und aufschwemmend, wiewol von ihnen gelobt, ihnen das alte Fleisch auch noch verderben. Die Leute aber werden aus Unkunde nicht diese, von denen sie so bewirthet wurden, beschuldigen, dass sie Ursach an ihren Krankheiten wären und an dem Verlust ihrer bisherigen Wohlbeleibtheit, sondern diejenigen, welche alsdann ge- rade um sie sind und ihnen Rath geben, wenn nämlich die ehe- malige Ueberfüllung ihnen lange hernach Krankheiten zuzieht, da sie ihnen so ganz ohne alle Rükksicht auf die Gesundheit gewährt wurde, diese werden sie beschuldigen und tadeln und ihnen übles zufügen, wenn sie es vermögen; jene früheren aber, die eigent- lich Schuld an dem Uebel sind, werden sie loben. Vollkommen eben so gehst auch du jezt zu Werke, Kallikles, und lobpreisest Menschen, welche Andere auf solche Art bewirthet haben, mit al- lem, wonach sie nur gelüstete, vollauf, und von denen es nun heisst, sie hätten die Stadt zu ihrer Grösse erhoben; dass sie aber eigentlich nur aufgedunsen ist und innerlich anbrüchig durch das Verfahren jener Alten, das merkt man nicht. Denn ohne auf Besonnenheit und Gerechtigkeit zu denken haben sie nur mit. ih- sjgren Häfen und Schiffswerften und Mauern und Zöllen und derlei Possen die Stadt angefüllt. Wenn nun der rechte Ausbruch der Krankheit erfolgen wird, werden sie die derzeitigen Rathgeber an- klagen, den Themistokles aber, den Perikles und Kimon, die Ur- heber des Uebels werden sie lobpreisen, und sich dagegen viel- leicht an dich halten, wenn du dich nicht hütest, und an meinen Freund Alkibiades, wenn ihr ihnen mit dem neuerworbenen auch

GORGIAS. 107

noch das alte verliert, da ihr doch gar nicht die Urheber des Uehels seid, sondern vielleicht nur Mitschuldige. Auch noch et- was ganz unvernünftiges sehe ich jezt vorfallen, und höre auch gleiches von den Alten. Wenn nämlich die Stadt einen von den öffentlichen Männern angreift als unrechtthuend, dann höre ich sie murren und jammern, als müssten sie schrekkliches erdulden; nachdem sie nämlich dem Staate so viele Wohlthaten erzeigt, würden sie nun von ihm ungerechter Weise unglükklich gemacht, nach ihrer Bede. Das ist aber alles falsch. Denn auch gar keinem Vorsteher eines Staates kann von eben diesem Staate, dem er vorsteht, irgend etwas übles ungerechter Weise widerfahren! Nämlich es ist wol ganz dasselbe mit denen, welche sich für Staatsmänner, wie mit denen, welche sich für Sophisten ausgeben. Denn auch die Sophisten, wie weise sie übrigens sind, begehen hierin ungereimtes. Ohnerachtet sie nämlich behaupten, Lehrer der Tugend zu sein, beklagen sie sich doch oft über ihre Schüler, dass diese ihnen Unrecht ihäten, indem sie ihnen Lohn vorenthielien, und sich sonst nicht dankbar gegen sie bewiesen, da sie doch gutes von ihnen empfangen haben. Und was kann wol unvernünftiger sein als diese Rede, dass Menschen, die gut und gerecht geworden sind, denen die Ungerechtigkeit von ihren Lehrern ausgenommen und die Gerechtigkeit eingepflanzt worden, Unrecht thun sollten, vermöge dessen was sie gar nicht mehr haben? Dünkt dich das nicht ungereimt, Freund? Ordent- lich eine Rede zu halten hast du mich gezwungen, Kallikles, weil du nicht antworten wolltest.

Kallikle.. Kannst du denn gar nicht reden, wenn dir nicht Jemand antwortet? |

Sokrates. Es scheint ja doch. Jezt wenigstens habe ich ja meine Reden ziemlich lang gestrekkt, da du mir nicht antworten willst. Aber du Guter, sprich, so lieb du mich hast, dünkt es dich nicht unvernünftig, wenn einer behauptet, er habe einen An- dern gut gemacht, und doch eben diesem vorwirft, dass er, ob- gleich durch ihn gut geworden und jezt wirklich gut, dennoch auch schlecht ist?

Kallikle. Das dünkt mich wol so.

Sokrates. Und hörst du nicht dieses eben diejenigen sagen, welche sich rlühmen, die Menschen zur Tugend zu bilden?

Kallikles. Freilich wol. Aber was willst du auch nur sagen von Menschen, die gar nichts werth sind? 520

Sokrates. Und was willst du nur von jenen sagen, welche behaupten, sie ständen dem Staate vor, und sorgten dafür, dass

108 GORGIAS,

er so gut als möglich werde, und dann doch, wenn es sich trifft, ihn wieder anklagen als Wunder wie schlecht? Meinst du, dass diese irgend besser sind als jene? Ganz dasselbe, o Bester, ist ein Sophist wie ein Redner, oder ihm wenigstens sehr nahe und verwandt, wie ich auch zum Polos sagte; du aber meinst aus Un- kunde, die eine, die Redekunst sei etwas gar schönes, und die andere dagegen verachtest du. Nach der Wahrheit aber ist die Sophistik noch um soviel schöner als die Redekunst, wie die Ge- sezgebung schöner ist als die Rechtspflege, und die Turnkunst schöner als die Heilkunst. Und gerade den Volksmännern und den Sophisten, glaubte ich, stehe es nicht zu, sich über das zu beklagen, was sie selbst unterrichten und bilden, als handle es schlecht gegen sie, oder sie müssen mit derselben Rede zugleich auch sich selbst anklagen, dass sie denen nichts nuz gewesen sind, denen sie sich doch rühmen nüzlich zu sein. Ist es nicht so?

Kallikles. Freilich.

Sokrates. Und gerade ihnen, wie sich zeigt, gebührte es, die Dienste, welche sie leisten können, ohne Lohn zu erweisen, wenn ich anders vorhin Recht hatte. Denn wer in einer andern Sache weiter gefördert ist von Jemand, etwa wer schnellfüssiger geworden ist durch den Turnmeister, der kann vielleicht mit dem Dank durchgehn, wenn der Turnmeister ihn freigestellt, und nicht, über den Lohn mit ihm eins geworden, sobald er ihm die Schnel- ligkeit mitgetheilt, auch sein Geld an sich genommen hat. Denn die Langsamkeit ist nicht das, glaube ich, wodurch die Menschen unrecht thun, sondern die Ungerechtigkeit. Nicht wahr?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Also wenn ihnen Jemand eben dies abnimmt, die Ungerechtigkeit: so darf er ja gar nicht bange sein, dass ihm Un- recht gethan werde; sondern der allein kann es wagen seine Dienst- leistung unbedingt hinzugeben, wer nur wirklich Andere gut ma- chen könnte. Nicht so?

Kallikles. Ich gebe es zu.

Sokrates. Darum ist auch, wie es scheint, in andern Dingen seinen Rath für Geld ertheilen, in Sachen der Baukunst etwa und andern Künsten, gar nichts schändliches. |

Kallikles. So scheint es.

Sokrates. In dieser Angelegenheit aber, auf welche Weise wol Jemand möglichst gut werden könnte, und sein Hauswesen oder seinen Staat gut verwalten, darin wird es für schändlich an-

GORGIAS. 109

gesehen, wenn Jemand seinen Rath versagen wollte, wofern man ihm nicht Geld dafür gäbe. Nicht wahr?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Und offenbar ist doch dies die Ursach, weil unter allen Dienstleistungen diese allein dem Empfangenden das Verlan- gen erregt, wieder hülfreich zu sein. So dass dies ein ganz gutes Kennzeichen ist, wer diesen Dienst gut erwiesen hat, dem wird auch wieder gedient werden, wer aber nicht, dem nicht. Verhält sich dies wirklich so?

Kallikles. Ja.

Sokrates. Zu welcher von beiden Arten den Staat zu behan- deln ermahnst du mich also, das bestimme mir. Zu der, welche es durchsezen will, dass die Athener besser werden, wie es der Arzt macht; oder wie einer, der ihnen dienstbar sein muss, und 521 nur wie es ihnen wohlgefällt, mit ihnen umgeht? Sage es mir aufrichtig, Kallikles! denn es gebührt div, wie du dich freimüthig gezeigt hast gegen mich von Anfang an, auch nun dabei zu be- harren, dass du mir sagst, was du meinst. Rede also auch jezt - rein und dreist heraus.

Kallikle. So sage ich denn, du sollst ihnen diensibar sein.

. Sokrates. Ein Schmeichler also zu werden, du edelster Mann, forderst du mich auf.

Kallıkles. Wenn du lieber ein Mysier heissen willst, Sokra- tes. Denn wenn du dies einmal nicht thun willst

Sokrates. Sage nur nicht, was du schon so oft gesagt hast, dass mich alsdann tödten wird wer Lust hat, damit ich nicht auch wieder sage, ja aber wie ein Schlechter einem Guten wird er mir das thun; auch nicht eiwa, dass er mir nehmen wird was ich habe, damit ich nicht wieder sage, ja aber wenn er es genommen, wird er es nicht zu gebrauchen wissen, sondern wie er es unge- recht genommen hat, so wird er es auch ungerecht gebrauchen, und wenn ungerecht auch schlecht, und wenn schlecht auch zu seinern Schaden.

Kallikles. Wie scheinst du mir doch, Sokrates, zu glauben, dir könne nichts dergleichen begegnen, als ob du weit aus dem Wege wohntest, und nicht etwa könntest von dem ersten besten elenden und ganz schlechten Menschen vor Gericht gezogen werden.

Sokrates. Dann wäre ich wol ganz unvernünftig, Kallikles, wenn ich nicht glaubte, dass in dieser Stadt jedem jedes begeg- nen kann, wie es sich trifft. Aber das weiss ich auch, wenn ich vor Gericht erscheinen muss, und in solche Gefahr komme wie

410 GORGIAS.

du sagst, so wird das ein schlechter Mensch sein, der mich vor- geladen hat; denn kein Guter würde einen unschuldigen Menschen belangen, und es sollte mich gar nicht wundern, wenn ich ster- ben müsste. Soll ich dir sagen, weshalb ich das erwarte?

Kallikles. 0 ja.

Sokrates. lch glaube, dass ich, selb einigen andern wenigern Athenern, damit ich nicht sage ganz allein, mich der wahren Staats- kunst befleissige, und die Staatssachen betreibe ganz allein heut zu Tage. Da ich nun nicht ibnen zum Wohlgefallen rede, was ich jedesmal rede, sondern für das beste, gar nicht für das an- genehmste, und mich nicht befassen will mit den herrlichen Din- gen die du mir anmuthest: so werde ich nichts vorzubringen wis- sen vor Gericht, und es wird mich dasselbe treffen, was ich zum Polos sagte, ich werde nämlich gerichtet werden wie unter Kin- dern ein Ärzt, den der Koch verklagte. Denn bedenke nur, wie sich ein solcher Mensch auf solchen Dingen ertappi vertheidigen wollte, wenn ihn einer anklagte und spräche:- Ihr Kinder, gar viel übles hat dieser Mann euch zugefügt, und auch die jüngsten un- ier euch verderbt er, und ängstiget euch, dass ihr euch nicht zu helfen wisst, mit Schneiden und Brennen und Abmagern und

522Schwizen und mit den bittersten Getränken und lässt euch hun- gern und dursten; gar nicht wie ich eueh immer mit so viel und vielerlei Süssigkeiten. bewirtheie. Was glaubst du wird ein Arzt, wenn er in solcher Noth drin stekkt, wol sagen können? Oder wenn er eiwa die Wahrheit sagte, Ihr Kinder, das alles that ich zu eurer Gesundheit, was meinst du wol würden solche Richter für ein Geschrei erheben? nicht ein grosses?

Kallikles. Fast sollte man es denken.

Sokrates. Glaubst du also nicht, dass er in der grössten Verlegenheit sein wird, was er wol sagen soll?

Kallikles. Freilich. |

Sokrates. Eben so, weiss ich recht gut, würde es mir auch ergehen, wenn ich vor Gericht käme. Denn keine Lust, die ich ihnen bereitet, werde ich ihnen anführen können was sie doch al- lein äls Verdienst und Wohlthat ansehn, ich aber beneide weder die, welche sie ihnen verschaffen, noch die, denen sie verschafft werden. Und wenn einer sagt, ich verderbe die Jugend, dass sie sich nicht zu helfen wisse, oder ich schmähe die Alten durch bit- tere Reden über ihr besonderes Leben und über ihr öffentliches: so werde ich weder die Wahrheit sagen können, nämlich, Mit Recht sage und thue ich das Alles als nämlich euer bestes, ihr

GORGIAS. 411

"Riehter, noch sonst irgend etwas anderes, so dass ich wahrschein- lich, was sich eben trifft, werde leiden müssen.

Kallikles. Glaubst du nun wol, dass es gut stebe um einen Menschen, der sich in soleher Lage befindet im Staate, und un- vermögend ist, sich selbst zu helfen?

Sokrates. Wenn es ihm nur daran nicht fehlt, was du oftmals zugegeben hast, wenn er sich nur dazu verholfen hat, -nichis un- rechtes jemals gegen Menschen oder Götter zu reden und zu ihun. Denn dies ist, wie wir oft einig geworden, die wichtigste Hülfe, die jeder sich selbst zu leisten hat: Wenn mich nun Jemand überführen könnte, dass ich hiezu unvermögend wäre, mir selbst und Andern zu verhelfen, dann würde ich mich schämen, ich möchte dessen nun vor Vielen oder vor Wenigen überwiesen wer- den oder unter Zweien; und wenn ich um dieses Unvermögens willen sterben müsste, das würde mich kränken. Wenn ich aber wegen Mangel an schmeichlerischer Redekunst sterben müsste: so würdest du sehn, das weiss ich gewiss, wie sehr leicht ich den Tod ertrüge. Denn das Sterben selbst fürchtet ja wol niemand, wer nicht ganz und gar unverständig ist und unmännlich; das Un- rechtthun aber fürchtet man. Denn mit vielen Vergehungen die Seele angefillt in die Unterwelt kommen, ist unter allen Uebeln das ärgste. Willst du, so will ich dir auseinander sezen, dass Sich dies wirklich so verhält.

Kallikles. Wol, da du das andere beendiget hast: so füge auch noch dieses hinzu.

Sokrates. So höre denn, wie sie zu sagen pflegen, eine gar schöne Rede, die du zwar für ein Mährchen halien wirst, wie ich glaube, ich aber für Wahrheit. Denn als volle Wahrheit sage ich 523 dir, was ich sagen werde.

Wie also Homeros erzählt, theilten Zeus, Poseidon und Pluton die Herrschaft, nachdem sie sie von ihrem Vater überkommen haiten. Nun war folgendes Gesez wegen der Menschen unter dem Kronos schon immer, besteht auch noch jezt bei den Göttern, dass welcher Mensch sein Leben gerecht und fromm geführt hat, der gelangt nach seinem Tode in die Inseln der Seligen, und lebt dort sonder Uebel in vollkommner Glükkseligkeit; wer aber ungerecht und gottlos, der kommt in das zur Zucht und Strafe bestimmte Gefängniss, welches sie Tartaros nennen. Hierüber nun waren unter dem Kronos, und auch noch später da schon Zeus die Herrschaft hatte, Lebende der Lebenden Richter, und sassen zu Gericht an dem Tage, da Jemand sterben sollte. Schlecht wurden daher die Sachen abgeurtheilt.

412 GORGIAS.

Weshalb denn Pluton und die Vorsteher aus den Inseln der Seligen zum Zeus gingen, und ihm sagten, wie beiderseits bei ihnen un- würdige Menschen ankämen. Da sprach Zeus, Diesem will ich ein Ende machen. Denn jezt freilich wird schlecht geurtheilt, weil, sagte er, die zur Untersuchung gezogenen verhüllt gerichtet werden; denn sie werden lebend gerichtet. Viele nun, sprach er, die eine schlechte Seele haben, sind eingehüllt in schöne Leiber, und Ver- wandischaften und Reichthümer, und wenn dann das Gericht gehegt wird, so siellen sich viele Zeugen ein, um ihnen Zeugniss zu geben, dass sie gerecht gelebt haben. Theils nun werden die Richter von diesen übertäubt, theils richten auch sie selbst verhüllt, da ja ihre Seele ebenfalls hinter Augen, Ohren und dem ganzen Leibe verstekkt ist. Dieses Alles nun steht ihnen im Wege, ihre eignen Verhül- lungen und der zu Richtenden ihre. Zuerst also, sprach er, muss dieses aufhören, dass sie den Tod vorher wissen; denn jezt wissen sie ihn vorher. Auch ist dies schon dem Prometheus angesagt, dass er es ändern soll. Ferner sollen sie gerichtet werden enti- blösst von diesem allen. Wenn sie todt sind nämlich, soll man sie richten. Und auch der Richter soll entblösst sein, ein Todter, um mit der blossgen Seele die blosse Seele eines jeden anzuschauen, plözlich wenn jeder gestorben ist, entblösst von allen Verwandt- schaften, und nachdem sie allen jenen Schmukk auf der Erde zu- rükkgelassen, damit das Gericht gerecht sei. Dies Alles habe ich schon früher eingesehen als ihr, und habe von meinen Söhnen zu Richtern ernannt zwei aus Asia, den Minos und Rhadamanthys, 524und einen aus Europa, den Aiakos. Diese also sobald sie nur werden gestorben sein sollen Gericht halten auf der Wiese am Kreuz- wege, wo die beiden Wege abgehn, der eine nach der Insel der | Seligen, der andere nach dem Tartaros. Und zwar die aus Asia soll Rhadamanthys richten, und die aus Europa Aiakos. Dem Minos aber will ich den Vorsiz übertragen, um die lezie Entscheidung zu thun, wenn jenen beiden etwas allzubedenklich ist, damit das U- | theil, welchen Weg die Menschen zu wandeln haben, vollkommen | gerecht sei. Dies, o Kallikles, halte ich, wie ich es gehört habe, | zuversichtlich für wahr, und erachte, dass daraus folgendes hervor- | gehe. Der Tod ist, wie mich dünkt, nichts anders, als’zweier Dinge Trennung von einander, der Seele und des Leibes. Nachdem sie nun von einander getrennt sind, hat nichts desto weniger noch jedes von beiden fast dieselbe Beschaffenheit,. die es auch hatte, als noch der Mensch lebte. Sowol der Leib hat seine eigenthüm- liche Natur, und alles was er sich angeübt hat, und was ihm zu-

GORGIAS. 113

gestossen ist ganz deutlich. Wie wenn Jemand von Natur, oder durch seine Lebensweise, oder durch beides, einen grossen Leib hatte, so ist auch sein Leichnam noch gross, wenn er todt ist; war er fett, ist auch der Leichnam fett, und alles andere eben so; und mochte einer gern langes Haar tragen, so ist auch der Leich- nam langhaarig. Und wiederum wenn einer ein Züchtling war, und bei seinen Lebzeiten Spuren von Schlägen an seinem Leibe trug, oder von Hieben und andern Wunden, so wird man auch an dem Leichnam des Todten dieses selbige finden können. Und hatte ei- ner irgend zerbrochene oder verrenkte Glieder im Leben, so zeigt sich dies auch bei dem Todten; mit einem Worte, wie der Leib beim Leben behandelt und was ihm zugefügt wurde, das zeigt sich alles oder doch grösstentheils auch nach dem Tode noch einige Zeit. Dasselbe nun dünkt mich auch mit der Seele sich zu be- geben, o Kallikles. Sichtbar ist alles an der Seele, wenn sie vom Leibe enikleidet ist, sowol was ihr von Natur eignete, als auch die Veränderungen, welche der Mensch durch sein Bestreben um dies und jenes in der Seele bewirkt hat. Kommen sie nun vor den Richter, und zwar die aus Asia vor den Rhadamanthys: so stellt Rhadamanthys sie vor sich hin, und beschaut eines jeden Seele, ohne zu wissen wessen sie ist, sondern oft wenn er den grossen König vor sieh hat oder andere Könige oder Fürsten, findet er nichts gesundes an der Seele, sondern durchgepeitscht findet er sie und voller Schwielen von Meineid und Ungerechtigkeit und wie eben jedem seine Handlungsweise sich in der Seele ausgeprägt hat, 525 und findet alles verrenkt von Lügen und Hochmuth und nichts ge- rades daran, weil sie ohne Wahrheit aufgewachsen ist, sondern vor aller Gewaltthätigkeit und Weichlichkeit, Uebermuth und Unmässig- keit im Handeln zeigt sich auch die Seele voll Missverhältniss und Hässlichkeit. Hat er nun eine solche erblikkt: so schikkt er sie ehrios gerade ins Gefängniss, wo sie was ihr zukommt erdulden wird. Dies aber kommt jedem in Strafe verfallenen zu, der von einem Andern auf die rechte Art bestraft wird, dass er entweder selbst besser wird und Vortheil davon hat, oder dass er den Uebri- gen zum Beispiel gereicht, damit Andere, welche ihn leiden sehen, was er leidet, aus Furcht besser werden. Es sind aber die, wel- chen selbst zum Vortheil gereicht, dass sie von Göttern und Men- schen gestraft werden, diejenigen, welche sich durch heilbare Ver- gehungen vergangen haben. Dennoch aber erlangen sie diesen Vor, theil nur durch Schmerz und Pein hier sowol als in der Unterwelt; denn auf andere Weise ist nicht möglich, von der Ungerechtigkeit Plat. W. 11. Th. 1. Du. 9

114 GÖRGIAS.

entledigt zu werden. Welche aber das äusserste gefrevelt haben und durch solche Frevel unheilbar geworden sind, aus diesen wer- den die Beispiele aufgestellt, und sie selbst haben davon keinen Nuzen mehr, da sie unheilbar sind, Andern aber ist es nüzlich, welche sehen, wie diese um ihrer Vergehungen willen die ärgsten, schmerzhaftesten und furchtbarsten Uebel erdulden auf ewige Zeit, offenbar als Beispiele aufgestellt dort in der Unterwelt, im Gefängniss, allen Freviern wie sie ankommen zur Schau und zur Wärnung. Von diesen behaupte ich wird auch Archelaos einer sein, wenn Polos die Wahrheit sagt, und wer sonst noch ein solcher Gewalt- haber ist. Wie ich denn auch glaube, dass meistens diese Bei- spiele von den Tyrannen genommen werden, und den Königen und Fürsten, und denen, welche die öffentlichen Angelegenheiten ver- waltet haben. Denn eben diese begehen vermöge ihrer Macht die grössten und unheiligsten Verbrechen. Das bezeugt auch Homeros, denn Könige und Fürsten hat er in seinen Gedichten angeführt, als; mit immerwährenden Strafen in der Unterwelt belegt, den Tan- talos und Sisyphos und Tityos. Vom Thersites aber und andern geringen Leuten, die auch böse waren, hat niemand gedichtet, dass er wit schweren Strafen behaftet wäre, als ein Unheilbarer. Denn er hatte nicht Macht genug, um ein solcher zu werden; deshalb war er auch glükklicher als die, welche Macht dazu hatten. Son- dern unter den Mächtigen, o Kallikles, finden sich die. Menschen, 526 welche ausgezeichnet böse werden. Nichts hindert freilich, dass nieht auch unter diesen rechtschaffene Männer sich finden, und gar sehr muss man sich ja freuen über die, welche es werden. Denn schwer ist es, o Kallikles, und vieles Lobes werth, bei grosser Ge- walt zum Unrechtthun dennoch gerecht zu leben; und es giebi nur wenige solche. Gegeben aber hat es doch, hier sowol als ander- wärts, und wird auch denke ich noch künftig geben, treffliche Männer in dieser Tugend, alles gerecht zu verwalten, was ihnen Jemand anvertraut. Einer aber ist sogar vorzüglich berühmt, auch unter den andern Hellenen, Aristeides, der Sohn des Lysimachos. Die meisten: aber unter den Mächtigen, o Bester, werden böse, Was ich also sagte, wenn jener Rhadamanthys einen solchen vor sich hat,. so weiss er weiter gar nichts von ihm, nicht wer, noch aus welchem Geschlecht er ist, sondern nur dass er ein Böser ist; und so wie er dies ersehen hat, schikkt er ihn nach dem Tartaros, bezeichnet je nachdem er ihn dünkt heilbar zu sein oder unheilbar, worauf dann jener bei seiner Ankunft das gebührende leiden muss. Erblikkt er aber bisweilen eine andere Seele, die heilig und in

GORGIAS. 115

der Wahrheit gelebt hat, eines eingezogenen Mannes, oder sonst eines, vornehmlich aber meine ich, o Kallikles, eines weisheitlie- benden, der das seinige gethan und nicht vielerlei äusserlich be- trieben hat: so freut er sich, und sendet sie in die Inseln der Se- ligen. Eben so auch Aiakos. Und diese beiden richten einen Stab in der Hand. Nur Minos die Aufsicht führend sizt allein ein gol- denes Zepter haltend, wie Odysseus beim Homeros sich rühmt, ‚er habe ihn gesehn, mit goldenem Zepter geschmükkt die Gestorbenen richtend. Ich meines Theils, Kallıkles, habe mich durch diese Reden überzeugen lassen, und trachte wie ich mich mit möglichst gesun- der Seele dem Richter darstellen will. Was also andern Menschen für Ehre gilt, lasse ich gern fahren, und will der Wahrheit nach- jagend versuchen wirklich so selır ich nur kann als der Beste βουνοὶ zu leben als auch, wenn ich dann sterben soll, zu sterben; er- muntere aber auch die übrigen Menschen alle, so weit ich kann. Daher ich dann meinerseits auch dich ermuntere zu dieser Lebens- weise und diesem Wettstreit, welcher vor allem was man hier so nennt, den Vorzug hat, und es dir zum Schimpf vorrükke, dass du nicht vermögend sein wirst, dir selbst zu helfen, wenn jenes Gericht und jenes Urtheil dir bevorstehi, wovon ich jezt eben ge- sprochen; sondern dass wenn du vor deinen Richter, den Sohn der Aigina, koınmst, und er dieh vornimmt, du dort eben so mit527 offnem Munde stehn und schwindeln wirst, wie ich hier, und dort einer vielleicht dich sogar schmählich ins Angesicht schlagen könnte, und auf alle Weise beschimpfen. Vielleicht nun dünkt dich dies ein Mährchen zu sein, wie ein Mütterchen eins erzählen würde, und du achtest es nichts werth. Und es wäre auch eben nichts besonderes, dies zu verachten, wenn wir nur irgendwie suchend etwas besseres und wahreres finden könnten. Nun aber siehst du ja, dass ihr drei, die weisesten unter den Hellenen heut zu Tage, nicht erweisen konntet, dass man auf eine andere Weise leben müsse, als auf diese, die sich auch dort noch als zuträglich be- währt; sondern unter so vielen Reden, die alle widerlegt wurden, ist diese allein ruhig geblieben, dass man das Unrechtthun mehr scheuen müsse, als das Unrechtleiden, und dass ein Mann vor allem andern darnach streben müsse, nicht dass er scheine gut zu sein, sondern dass er es sei in seinem besonderen Leben sowol als in dem öffentlichen. Wenn aber Jemand schiecht wird in irgend einer Hinsicht, dass er dann muss gezüchtiget werden, und dass dies das zweite Gut ist, nächst dem gerecht sein, es werden, und durch Bestrafung dem Recht Genüge leisten. Und dass man alle Schmei-

116 GORGIAS.

chelei, sowol gegen sicn selbst als gegen Andere, seien es nun Viele oder Wenige, fliehen, und nur auf diese Art auch der Rede- kunst sich bedienen müsse, immer für das Recht, und so auch jedes andern Vermögens. Gieb du also mir Gehör, und folge mir dahin, wo angelangt du gewiss glükkselig sein wirst im Leben und im Tode, wie unsere Rede verheisst, und lass dann immer einen dich verachten als unverständig, und dich beschimpfen wenn er will, ja, beim Zeus, auch jenen schimpflichen Schlag lass dir ge- trost zufügen, denn nichts arges wird dir daran begegnen, wenn du nur in der That edel und treffllich bist und Tugend übend. Hernach erst, nachdem wir uns so gemeinschaftlich geübt, wollen wir, wenn es uns nöthig dünkt, auch der Staatsangelegenheiten uns annehmen, oder worin es uns sonst gut dünkt, wollen wir Rath ertheilen, wann wir erst besser dazu geschikkt sind als jezt. Denn schmählich ist es uns, so beschaffen, wie jezt offenbar geworden ist dass wir sind, noch gross zu prahlen, als wären wir etwas, da wir doch nie einig sind mit uns selbst über dieselbe Sache, und zwar über die wichtigste; so ganz und gar sind wir noch untaug- lich. Zum Führer also lass uns diese Rede gebrauchen, welche uns jezt klar geworden ist, welche uns anzeigt, dass dies die beste Lebensweise sei, in Uebung der Gerechtigkeit und jeder andern Tugend leben und sterben. Dieser also wollen wir folgen, und auch Andere dazu aufrufen, nicht jener, welcher du vertraust und mich dazu aufrufst, denn sie ist nichts werth, o Kallikles.

THEAITETOS

EINLEITUNG,

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Wer nur auf die Schwierigkeiten sieht, welche diesem Ge- spräch, für sich betrachtet und wie es gewöhnlich genommen wird, anhängen, und auf die Sophistereien, deren man es, uneingeweiht in den Zusammenhang, beschuldiget, der mag vielleicht eine aus- führlichere Einleitung in das Verständniss desselben wünschen, als hier anzutreffen ist. Allein vieles wird schon durch den Ort deut- lich, den wir dem Theaitetos anweisen, und durch die unmittelbare Zurükkführung auf das beim Gorgias gesagte. Denn wer sich nur ins Gedächtniss ruft, was dort als der beiden gemeinschaftliche Endzwekk aufgestellt worden, und wie der Gorgias denselben mehr auf der praktischen, der Theaitetos mehr auf der theoretischen Seite zu verfolgen bestimmt ist, dem muss die Verwirrung sich schon sehr auflösen, und er muss eine Ahndung bekommen von dem wirk- lichen Gehalte des Gespräches, in welchem sonst auf den ersten Anblikk jedes das andere aufzuheben, und ohnerachtet von der Er- kenntniss die Rede ist, nichts übrig zu bleiben scheint, als Un- wissenheit: so dass sich ihm zugleich das verschlossene Werk Öff- nen und die Richtigkeit jenes Zusammenhanges und jener ganzen Ansicht bestätigen muss. Ihr zu Folge nämlich muss der Haupt- zwekk des Theaitetos sein zu zeigen, dass keine Wissenschaft kann gefunden werden, wenn man nicht das wahre und das Sein von dem wahrgenommenen und dem wahrnehmbaren oder erscheinen- den gänzlich trennen will. Nur dass hier, weil überall die Wissen- schaften noch nicht so streng gesondert und einzeln bestimmt waren als die Künste, vielmehr an dieses Geschäft nur Platon selbst die erste Hand legte, nicht wie beim Gorgias von dem ganzen System wie dort der Künste so hier der Wissenschaften die Rede ist, son- dern. von dem gemeinschaftlichen Elemente derselben, der Erkennt- niss im strengsten Sinne. Aber nicht nur dieses, sondern es lag

120 THEAITETOS,

auch wie in der Gesinnung so in der Absicht des Platon, bemerk- lich zu machen, dass beide Ausführungen ihrer Natur nach Gegen- stükke zu einander sind, dass das Suchen des guten in der Lust, und das Suchen der reinen Erkenniniss in der sinnlichen Wahr- nehmung in einer und: derselben Denkart gegründet sind, nämlich in der, welche der Gorgias ausführlicher darstellt. Daher auch zeitig gezeigt wird, und Niemanden verwundern sollte, wie dieses hieher kommt, welchen Einfluss die geprüfte Lehre auch äuf die Ideen des guten und schönen und auf ihre Behandlung haben muss, dass für den Anhänger derselben auch die Erkenniniss selbst sich nur auf die Lust zurükkbeziehen kann, und dass, so wie der, welcher nur die Lust sucht, auf eine dem inneren Gefühl selbst wider- sprechende Zerstörung jeder Gemeinschaft hinarbeite, so auch wer statt des Wissens sich mit den sinnlichen Eindrükken begnügt, keine Gemeinschaft finden könne weder der Menschen unter einan- der, noch der Menschen mit den Götlern, sondern in den engen Grenzen seines persönlichen Bewussiseins eingeschlossen und ab- gesondert bleibe. |

Dieses Hinweisen jedoch auf den Zusammenhang des theo- retischen und praktischen, und so auch des Theaitetos und Gorgias findet sich zerstreut fast in allen Theilen des Gesprächs. Jene Dar- stellung hingegen, dass die Erkenntniss nicht dürfe in dem sinn- lichen Gebiet gesucht werden, dass wie die Lust nur im Uebergange von einem entgegengeseztien zum andern entsiehe, so auch die Wahrnehmung ein nicht festzuhaltendes sei, und wer das Wissen auf sie beschränken wolle, auch nicht einmal zu einem Gegenstande gelange, bildet in ihrer Forischreitung den Gliederbau des Ganzen. Daher das Gespräch damit anfängt, zu zeigen, dass die Protago- reische Abläugnung eines gemeinschaftlichen Richtmaasses der Er- kenntniss, und der Herakleitische Saz von dem Flusse aller Dinge, und dem anstatt alles Seins allein übrig. bleibenden Werden, wie auch der hier zuerst und zunächst geprüfte, welcher die Wahr- nehmung und sie allein als Erkenntniss aufstellt, jeder auf den andern zurükkführen, und alle Ein System bilden. Sokrates zeigt dieses, indem er den Säzen selbst aufhilft, und sie gegenseitig durch einander besser unterstüzt, als ihre Urheber selbst gethan hatten, welche zum Theil vielleicht sich selbst und den Zusammen- hang Ihrer Denkart minder vollkommen verstanden. Erst nachdem auf diese Art der Platonische Sokrates die Protagoreische Lehre gegen seine eignen vorläufigen Einwürfe so gut es ging befestiget, und sie anders und verbundener dargestellt, fährt das Gespräch

EINLEITUNG. 121

damit fort, jene Säze ernsthaft anzugreifen und zu zeigen, dass das ‚ganze System, wiefern es doch Erkenntniss sein und gelehrt werden will, in sich selbst zusammenstürze und sein Ziel niemals erreichen könne. So wird zuerst der Saz des Protagoras von zwei Seiten angegriffen, welche das Gespräch selbst um allen Missverstand zu verhüten für siegreich erklärt. Zuerst von Seiten des Widerspruches, der darin liegt, die Meinung zum Richter der Erkenntniss zu machen. Denn so lange nun andere Menschen noch eine Erkenntniss über die Meinung sezen, vernichtet jener Saz sich selbst, indem das Zählen derer, denen etwas wahr erscheint, nun das Maass der Gewissheit wird, und die herrschende Meinung selbst sich auflehnt gegen jenen Werth der Meinung. Dann wird gezeigt, wenn auch für den jedes- maligen Zustand gelten solle, dass was jedem scheint ihm auch sei, es doch nicht gelten könne für das nüzliche, und für Alles was in die Zukunft gehöre. Sollte etwa Jemand in dieser Schluss- art einen Widerspruch finden gegen die Weise, wie sonst schon Platon die Zukunft behandelt hat, indem er zeigte, die Erkenniniss des künftigen sei keine besondere, sondern wer sich in jeder Sache auf das gegenwärtige verstehe, der allein müsse auch die Zukunft beurtheilen können, der würde sich doch im Irrthum befinden. Denn zuerst stellt sich Platon hier in den Gesichtspunkt derer, denen die Zukunft ein besonderes ist, und dann kann doch die ganze Schlussfolge, auf welche Platon hindeuten will, nur gezogen werden, wenn man jenes ältere auch hinzunimmt. Weil nämlich nothwendig nur was der Arzt meint über das künftige Fieber, das wahre ist: so ist auch jenem zufolge nur was der Arzt meint über den gegenwärtigen Gesundheitszustand, das wahre, und also die Erkenntniss desselben unterschieden von der blossen Wahrnehmung. Eine Folgerung, die Platon selbst wol etwas bestimmter würde ge- zogen haben, wäre ‘er nicht forigerissen worden vom Gedränge der. sich häufenden Untersuchungen und Andeutungen, welche doch alle für dieses Gespräch bestimmt waren, wie er denn überhaupt hier viele Folgerungen dem Leser selbst überlässt.

Auf ähnliche Art wird hiernächst auch der Herakleitische Saz, der schon immer in der Darstellung des Protagoreischen mit ent- halten war, für sich. besonders so angegriffen, dass gezeigt wird, in seiner Schärfe genommen könne ihm zufolge weder zum Subject ein Prädicat, noch zum Prädicat ein Subject gefunden und gefügt werden, weil eben während des Findens und Fügens keines mehr dasselbige ist, und auf diese Art, was irgend einer Erkenntniss oder Aussage nur ähnlich ist, zerstört wird. Auch von hier aus führt

122 - THEAITETOS.

eine unmittelbare, wiewol verschwiegene Folgerung ganz nahe an das Platonische Ziel, die nämlich, dass zu diesem Nichtfesthalten- können auch das Subject ein Nichtfestzubaltendes ist, in welchem Sinne für die unmittelbaren Veränderungen:des Körpers auch Platon das blosse und untrügliche Wahrnehmen schon zugegeben hatte. Nach diesem wird endlich auch noch der dem Theaitetos unmittel- bar zugeschriebene Ausdrukk des nämlichen Gedankens besonders widerlegt, und hiebei am meisten auf dasjenige hingedeutet, wo- durch und worin die wahre Erkenntniss allein zu finden ist; indem nämlich Sokrates zeigt, wie das Wahrnehmen selbst gehörig be- trachtet auf eine dem Wesen und der Entstehung nach gänzlich davon verschiedene Thätigkeit hindeute, und wie, wenn man nur davon anfange, den Gedanken des Seins festzuhalten, alsdann sich zeige, dass das Wahrnehmen nicht einmal zum Sein gelange, und die Wahrheit also nothwendig ausserhalb desselben müsse gesucht werden.

Hiedurch nun ist das Gespräch in Beziehung auf die bisher geprüften Säze so weit fortgeführt, als bei seiner indirekten Be- schaffenheit nur möglich war, und nimmt nun eine andere Wen- dung, um das zulezt gefundene näher zu betrachten. So jedoch, dass auch hier, was eben nothwendig zur indirekten Darstellung gehört, von den Ideen abstrahirt, und auch das Sein und die auf- gefundene unmittelbare Thätigkeit der Seele auf das sinnliche Ge- biet und auf das einzelne und besondere zurükkgespielt wird; denn nur in diesem Sinne ist im folgenden überall von der Vorstellung die Rede. Es wird nämlich der neue Saz aufgestellt in Beziehung auf die Frage nach der Erkenntniss, dass sie richtige Vorstellung sei, und zugesehen, ob sie wol auf diesem näher bestimmten Ge- biete liegen könne. Diese Untersuchung erzeugt zuerst einen müh- samen Versuch, das Gebiet der falschen Vorstellung, und mit und aus diesem zugleich das des Wissens zu bestimmen; ein Versuch, den Sokrates doch am Ende für unbefriedigend erklärt, weil doch die falsche Vorstellung zulezt auf einem unbegreiflichen Verkennen der Erkenniniss beruhe, woraus er schliesst, diese müsse vor jener gefunden werden. Auch hieraus erwächst eine sehr entscheidende, nur ebenfalls nicht ausdrükklich gezogene Folgerung, dass die reine Erkanntniss gar nicht auf demselben Gebiet liegen könne mit dem Irrthum, und es in Beziehung auf sie kein Wahr und Falsch gebe, sondern nur ein Haben oder Nichthaben. Nach diesem Versuch nun wird jener Saz selbst sehr kurz abgefertigt durch den aufge- stellten allgemein anerkannten, nnd mittelst des gewählten Beispiels

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wieder auf das praktische und den Gorgias zurükkweisenden Unter- schied zwischen der auch mittelbar zu erlangenden richtigen Vor- stellung, und der allemal und in allen Dingen nur unmittelbaren Erkenntniss.

Dies bahnt ferner den Weg zu dem lezten Versuch, welcher hier angestellt wird, um die Erkenntniss zu begreifen, nämlich von der Annahme aus, sie sei die mit der Erklärung verbundene rich- tige Vorstellung. Auch hier besezt abermals bei weitem den mei- sten Raum eine genau betrachtet nur beiläufige Untersuchung über - ein angenommenes durchaus aber nicht haltbares entgegengeseztes Verhalten des einfachen und des zusammengesezten zu der Er- kenntniss in dem aufgestellten Sinne, und sodann wird wiederum der Saz selbst nach den beiden Bedeutungen der Erklärung, welche Platon vorzüglich unterscheidet, sehr leicht abgefertigt, indem sogar die Widerlegung der lezten auch für die erste gilt.

Wunderbar kunstvoll ist, wenn man diese einzelnen Haupt- glieder gegen einander hält, die gleichförmig durchgeführte Bauart des Ganzen und der einzelnen Theile. Wie verengt erscheint, um gleich bei dem lezten anzufangen, am Ende, verglichen mit dem Anfange, das Gebiet, in welchem die Erkenntniss noch gesucht, wenn gleich auch nicht gefunden wird; und wie nahe ist zulezt, was abgesehen von den Ideen bloss vom sinnlichen Eindrukk aus- geht, bis zu einer täuschenden Aehnlichkeit mit der Erkenntniss gebracht, bis zu welcher es doch niemals sich erheben kann. Es darf gesagt werden, dass diese drei Uebergänge von der blossen Wahrnehmung, wie sie hier dargestellt wird, zur richtigen Vor- stellung überhaupt, und von dieser zu derjenigen, welche ausführ- lich und deutlich genug ist, um eine Erklärung zu gestatten, uns eine Stufenfolge bilden von der schlichtesten und so zu sagen ro- hesten bis zur verfeinertsten Ansicht des gemeinen Bewusstseins, so dass es überall mit seinen Ansprüchen auf Erkenntniss abge- wiesen, und zulezt eine Frage aufgestellt wird, welche offenbar auf die Nothwendigkeit eines entgegengesezten Princips hindeutet, über- all aber auch das Gebiet, wo jenes niedere Bewusstsein wahr ist, ihm angewiesen und das richtige zugestanden und bestimmt wird, was selbst die Formeln enthalten, in denen jene unstatthaften An- sprüche ausgedrükkt werden. Denn man darf keinesweges glauben, was in den verschiedenen Theilen des Gespräches gewonnen wird, durch Ausführung von Einwürfen, welche Sokrates hernach selbst wieder fallen, oder gar durch den Theaitetos widerlegen lässt, oder durch Untersuchungen, die in Beziehung auf den unmittelbar vor-

124 THEAITETOS.

liegenden Gegenstand nur beiläufig sind, und abgebrochen werden, dass dieses auch alles gänzlich fallen solle und nichts sein. Viel- mehr ist dies Alles gar wol: zu verwahren und zu gebrauchen, worauf aber besser für jedes einzelne an seiner Stelle in den An- merkungen kann hingedeutet werden. Gerade so nun ist jeder von den einzelnen Theilen auch gebaut. Der Protagoreische Saz zum Beispiel wird bei jedem neuen Ansaz des Gespräches feiner aus- gearbeitet, und zulezt stellt sich ihm die Frage entgegen von den Meinungen über das zukünftige in der Gegenwart. Eben so wird theils die Vorstellung selbst immer merklicher von der Wahrneh- mung abgelöset, zumal in Beziehung auf die Zahlenlehre, wobei nur ja jeder Leser an den Platonischen Saz denken muss, dessen sich seine Schüler gewiss erinnerten, dass nämlich der Grössenlehre überhaupt die reine Erkenntniss abgehe, und der Rang der höchsten Wissenschaft ihr nicht zukomme. Theils auch wird der Begriff der falschen Vorstellung aus der rohen Gestalt, in der er gewöhnlich sophistisch abgehandelt wurde, durch den vermittelnden der Ver- wechselung ausgeschält. Zulezt aber zerfällt die ganze Erklärung der Erkenntniss durch die Frage, wie wol selbst diejenige richtige Vorstellung Erkenrtniss sein könne, welche am allgemeinsten und authentisch als richtig anerkannt wird. Dasselbe geschieht zulezt dem Begriff der Erklärung, der recht aus der tiefsten Eigenthüm- lichkeit der hellenischen Sprache aufgefasst, und in seinen ver- schiedenen Abstufungen dargestellt wird, für den eigentlichen Zwekk des Gesprächs aber doch weggeworfen wird durch die Frage, wie doch die Vorstellung des eigenthümlichen der Vorstellung überhaupt fehlen oder die Erkenntniss desselben die Erkenntniss überhaupt erklären könne. Ja wie auf diese Art jede einzelne ausführlich und ernsthaft geführte Untersuchung am Ende sehr plözlich ordent- lich verlacht wird: so kann man sagen, das lezte Ende ver- lacht eben so plözlich den Gegenstand des ganzen Gespräches, in wiefern doch auf Erklärung der Erkenntniss die Frage gerichtet war, wenn gleich nach der Verschiedenheit der Zeiten und des Alters dieses Verlachen nicht so triumphirend angekündigt wird als im Protagoras; eine Vergleichung, welche wol leicht jedem einfällt, da in der That die Frage von der Erklärbarkeit der Erkenntniss theoretisch ganz dieselbe ist, wie praktisch die von der Lehrbarkeit der Tugend.

Dieselbe Gleichförmigkeit findet sich noch in einer andern Hinsicht. Wie nämlich fast bei jeder Behandlung einer einzelnen Frage in diesem Gespräch eine Abschweifung vorkommt, in welcher gerade auf das wahre und rechte, welches in der Abhandlung selbst

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nirgends hervortritt, deutlich hingewiesen wird: so ist auch in das Ganze selbst eine grosse Abschweifung gesezt, welche diese An- deutungen in Masse enthält, für die unmittelbare Fortschreitung des Gesprächs aber eine höchst willkührliche Unterbrechung zu sein scheint, nicht ungezwungener herbeigeführt und nicht besser in Maass und Zügel gehalten, als jene wol mit Recht so sehr getadelte im Phaidros, die ganze Stelle nämlich vor der lezten Widerlegung des Protagoreischen Sazes, wo der Unterschied zwischen den Zög- lingen der Philosophie und denen der Rhetorik und ähnlicher Künste gezeichnet wird, und das göttliche, wahre und gute in seiner ei- genthümlichen, der Beschränktheit auf das persönliche ganz ent- gegengesezten Natur hervortritt. Und zwar absichtlich scheint diese Abschweifung bald an den Anfang gestellt, damit wenigstens der aufmerksame Leser einen hellen Punkt habe, vermittelst dessen er sich in den verschlungenen Irrgängen des Gesprächs zurechtfinden könnte.

Dureh diesen schliesst sich nun auch der Theaitetos unmittel- bar und fast einzig unter den früheren Gesprächen als Fortsezung wiewol von dem entgegengesezten Punkte aus an den Parmenides an, wie denn überall andere Beziehungen auf frühere Werke in dem, was zum wesentlichen des Gesprächs gehört, nicht vorkommen. Diese aber sind merkwürdig. Schon die Art, wie nicht nur die Eleatische Lehre der Ionischen, sondern auch Parmenides den übrigen Eleatikern entgegengestellt wird, lässt sich kaum anders verstehen, als dass eben diese übrigen, zumal der besonders genannte Me- lissos, dem Platon eben so sehr von der Wahrheit abzuweichen schienen als die lIonier, denen er doch auch in Vergleich mit denen, welche alles mit Händen greifen wollen, eine wahrhaft philosophische Tendenz zuschreibt. Wenn nämlich die lonier, wie er sich aus- drükkt, auch das unbewegliche bewegten: so wollten vielleicht die Eleatiker meistentheils auch das unaufhaltsame in Ruhe bringen, und nur Parmenides schien durch seinen Gegensaz zwischen dem einzusehenden und dem erscheinenden, von dem uns leider nur rohe Umrisse und einzelne Spuren geblieben sind, den rechten Weg betreten oder wenigstens geahndet zu haben, wiewol auch gegen seine Lehre Platon Ausstellungen machen wird in einem folgenden Gespräch. Auch in dem, was Platon hier von ihm sagt, entdekkt man leicht das Vorhaben, bei einer klinftigen Gelegenheit die Parmenideische Lehre gründlicher zu behandeln, kurz eine An- kündigung dessen, was er hernach im Sophistes geleistet hat. Zu- gleich aber liegt darin fast ein stillschweigendes Preisgeben des

126 THEAITETOS.

Zenon, der von den übrigen, die Sokrates nicht eben grosser Ach- tung würdiget, keinesweges ausgenommen wird, und ein Wink, wie wenig Jemand wagen dürfe, den Parmenides zum Gegenstand seines Spottes zu machen, und wie schwer es wäre, zu dem wah- ren Inhalt seiner Lehre durchzudringen. Beides bezieht sich offen- bar genug auf das gleichnamige Gespräch, und auf mancherlei aus diesen Andeutungen ziemlich leicht zu errathende Missgriffe in dem Verständniss desselben. So kommen auch ohne besondere Er- wähnung desselben anderwärts mehrere von den im Parmenides durchgeführten Gegensäzen wieder vor, zum Theil mit Erläuterungen begleitet über das, was dort in möglichster Kürze kahl hingestellt worden. So dass sich auf alle Weise auch hiedurch die Stellung des Theaitetos zwischen dem Parmenides und Sophistes rechtfertigt. Ausser diesen kommen nur noch, wie sıe im Ganzen liegen, οὐ auch im Einzelnen mehrere Beziehungen auf den Gorgias vor, unter denen auch einzeln betrachtet die, welche ihn voraussezen, bei weitem die Oberland haben über die, welche das Ansehn haben, als müsse der Theaitetos vor den Gorgias gestellt werden.

in zweierlei sind übrigens beide Gegenstükke einander noch besonders ähnlich. Einmal, dass in beiden beiläufig mancherlei ganz gleichartiges vorkommt. So werden auch im Theaitetos grosse Stellen aus der Vertheidigung des Sokrates wiedergebracht und gleichsam commentirt; denn auch auf eine eigne Weise, die doch fast verbürgt, dass er irgend eine kleine Blösse in dieser Hinsicht irgendwo muss gugeben haben, lässt er sich darüber aus, wie höchst natürlich und sehr zu verzeihen einem Philosophen die Unwissenheit sei in allen bürgerlichen Dingen und Gebräuchen. Mögen Sachkundigere entscheiden, ob sich dies auf jene Verthei- digungsrede beziehen könne, oder auf Stellen in irgend einer andern seiner Schriften, oder auf irgend eine Thatsache, von welcher noch Spuren übrig geblieben. Ferner an mehreren Stellen offenbare Ver- theidigung theils seiner indirekten Darstellungsart überhaupt, wie in der Erläuterung über die Hebaminenkunst des. Sokrates, theils gegen mancherlei Vorwürfe gerichtet, die man seinen Schriften muss gemacht haben, und so auch Tadel der Art und Weise, wie manche Gegner vielleicht ihn zu widerlegen suchten. So zum Beispiel kommt er wie im Gorgias auch hier öfters darauf zurükk, dass man nicht aus scheinbaren Folgerungen in philosuphischen Dingen widerlegen müsse, und besonders darauf, unter weichen Bedingungen eigentlich im Dialog ein Saz eines Gegners als widerlegt kann an- gesehen werden. So dass, wenn man diese durch beide Gespräche

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EINLEITUNG. 127

öfters wiederkehrende lebhafte Aeusserungen recht betrachtet, man einen verhaltenen steigenden Unwillen bemerkt, der sich hernach im Euthydemos gründlich Luft zu machen sucht. Zweitens haben beide Gespräche auch in dem philosophischen Gehalt eine Polemik mit einander gemein, die von ganz anderer Art ist, als etwa die frühere gegen die Sophisten. Wie nämlich im Gorgias offenbar unter der Person des Kallikles vornehmlich Aristippos widerlegt wird, in dessen System der Saz, dass es kein gerechtes von Natur gäbe, sondern nur durch willkührliche Festsezung, eine bedeutende Stelle einnahm: so wird auch hier in der ersten Hälfte unter der Person des Protagoras überall vornehmlich auf den Aristippos Rükk- sicht genommen. Dass Aristippos die Sinnen-Eindrükke für ge- wisse Erkenntniss annahm, dass er demohnerachtet ein Zunehmen in.der Vollkommenheit und einen Unterschied des Weisen von den Uebrigen nicht läugnete, erzählen alle unsere Nachrichten, und dies giebt uns. den Schlüssel. dazu wie und warum nun Platon diese: Lehre als Protagoreische, der aber Sokrates aufgeholfen, darstellte, und man findet den Aristippos vorzüglich bezeichnet unter denen, die zwar nicht ganz der Lehre des Protagoras folgten, doch aber vorzüglich auf den Saz, dass es kein gerechtes von Natur gebe,

zurükkkämen; man findet ihn mit seiner Anhänglichkeit an das

Wohlleben in jener grossen Abschweifung dargestellt auf der Seite derer, die sich nicht auf die rechte Art mit der Philosophie be- schäftigen, ja vielleicht lässt man sich gefallen, die Darstellung der sokratischen Hebammenkunst zugleich als eine Protestation an- zusehen, dass jene Weisheit nicht etwa sei vom Sokrates erlernt worden. Kurz eine Menge von Anspielungen entdekken sich, sobald nur Jemand diese Polemik ins Auge gefasst. Aber bewundern muss auch gewiss jeder die Kunst, mit welcher sie in das Ganze so ohne Schaden seiner Allgemeingültigkeit seiner reinwissenschaftlichen Hal- tung verflochten werden, dass man, eben bis auf einzelne Anspie- lungen, die nicht in die Fortschreitung des Ganzen eingreifen, und die sich jeder leicht als Verzierung gefallen lässt, ohne etwas be- sonderes darin finden zu wollen, Alles verstehen kann, ohne sie irgend geahndet zu haben. Die zweite Hälfte giebt starke Veran- lassung, um eine ähnliche Polemik gegen den Antisthenes darin zu vermuthen, von welchem wir, jedoch leider nur im Allgemeinen, wissen, dass er den .Saz behauptet, es sei nicht möglich, irgend einem: Saz mit Erfolg zu widersprechen, eine Polemik, die hier in dem Abschnitt von der falschen Vorstellung erst anzufangen scheint, und: sich anderwärts noch bestimmter und grösser abgesezt hat,

128 THEAITETOS.

Die Beschaffenheit dieses Gegners, und was man von seinen Ver- hältnissen gegen Platon weiss, macht es glaublich, dass Manches auf ihn seine Beziehung hat, was als Vertheidigung erscheint gegen unwissenschaftliche und ungesittete Angriffe. Mehreres mag es noch ausserdem polemisches geben, was vielleicht unmöglich ist noch zu entziffern, bis auf einzelne Spuren etwa. Sonderbar ist vorzüg- lich, was von den Nachfolgern des Herakleitos gesagt wird, ob etwa unter ihrem Namen mehr Andere gemeint sind als sie selbst oder wirklich sie selbst, in welchem Falle man kaum umhin könnte, an einen Aufenthalt des Platon in Ionien zu denken, wahrscheinlich auf jener grossen Reise, als er, einigen Nachrichten zufolge, auch in Persien eindringen wollte.

Geschichtliche Angaben, um die Zeit der Abfassung des Ge- spräches daraus zu bestimmen, sind nicht vorhanden, ausgenommen was eben aus den Anspielungen auf alle jene Verhältnisse unmit- telbar folgt, dass die Schulen des Platon sowol als der meisten andern Sokratiker bereits gebildet gewesen. Auf die Erwähnung des Gefechtes bei Korinthos, in welchem Theaitetos verwundet worden, ist nicht viel zu bauen, sondern das höchste, was daraus kann gefolgert werden, wäre nur, was auch sonst schon gewiss ist, dass das Gespräch nicht kann vor der Mitte der sechs und neunzigsten Olympiade geschrieben sein. Keinesweges aber möchte zu verbürgen sein, dass das erwähnte Gefecht dasselbe gewesen, dessen Xenophon im vierten Buche seiner hellenischen Geschichten erwähnt; vielmehr hätte man leicht eben soviel Ursach an minder bedeutende Vorfälle zu denken, die sich späterhin, als Iphikrates in jener Gegend den Befehl hatte, ‘ereignet haben mögen. Alle Ursach aber haben wir, die Person des Theaitetos, und was von ihm erzählt wird, nur nicht die Wörtlichkeit der gehaltenen Unter- redung, für geschichtlich zu halten. Suidas erwähnt seiner zwiefach, als eines Schülers des Sokrates und als eines Zuhörers des Platon; man sieht offenbar, dass beides auf denselben geht, auch als Phi- losophen und Mathematikers, und weiss, dass er später in Hera- kleia gelehrt. So gedenkt auch Proklos seiner unter den berühmten Mathematikern. Es ergiebt sich hieraus leicht, dass Theaitetos aus der Schule des Sokrates, sofern dieser Ausdrukk vergönnt ist, in die des Platon überging, und wol mit Recht noch als ganz jung bei dem Tode des Sokrates dargestellt wird. Rührend wird aus diesem Gesichtspunkt die mit grosser Liebe entworfene Schilderung, welche Platon theils dem Eukleides theils dem Theodoros in den Mund legt, Denn welcher Weise sollte sich nicht freuen, einen

EINLEITUNG. 129

jungen Freund.wie diesen zu haben und zu verewigen. Was Theai- tetos hier von den Quadratwurzeln vorträgt, hat ganz das Ansehn damals etwas Neues gewesen zu sein, ob aber eine Erfindung des Theaitetos selbst oder eine des Platon, womit er seinen Schüler ausschmükkt, möchte ich nicht leicht bestimmen. Ueber den Theo- doros ist nicht nöthig, etwas zu sagen, da er bekannt genug ist, und da das Einzige, wonach man fragen könnte, warum nämlich gerade er hier ist, und warum Sokrates so in ihn dringt, dass er das Gespräch mit ihm führen möchte, aus dem Gespräch allein nicht befriedigend kann beantwortet werden. Je wahrscheinlicher indess sein Aufenthalt in Athen auch eine Thatsache ist, um desto unwahrscheinlicher wird die Nachricht, dass. Platon ausdrükklich nach Kyrene gegangen, um dort seine Wissenschaft von ihm zu erlernen.

Plat, W. II. Th. I. Bd. 9

142

TBE AI Eu

EUKLEIDES. TERPSION.

-

Eukleides. Kan du so eben erst, o Terpsion, oder bist du schon lange vom Lande hier?

Terpsion. Ziemlich lange schon. Auch habe ich dich gesucht auf dem Markte, und mich gewundert, dass ich dich nicht finden konnte.

Eukleides. Ich war eben nicht in der Stadt.

Terpsion. Wo denn also?

Eukleides. Indem ich an den Hafen hinunterging, begegnete ich dem Theaitetos, der aus dem Lager vor Korinthos nach Athen gebracht ward.

Terpsion. Lebend oder todt?

Eukleides. Lebend, aber kaum noch. Denn schon an einigen Wunden befindet er sich übel, noch mehr aber sezt ihm die Krank- heit zu, welche unter dem Heere herrscht.

Terpsion. Doch nicht die Ruhr?

Eukleides. Eben sie.

Terpsion. Welch ein Mann ist da in Gefahr!

Eukleides. Ja wol ein edler und trefflicher, Terpsion! Auch jezt nur hörte ich noch Einige ihn höchlich rühmen in Be- zug auf die Schlacht.

Terpsion. Das ist nichts unglaubliches, sondern weit wun- derbarer- wäre es, wenn er sich nicht so bewiesen hätte. Jedoch, wie so ist er nicht hier in Megara eingekehrt?

Eukleides. Er eilte .-heimwärts. Denn gebeten habe ich ihn genug und ihm gerathen, allein er wollte nicht. Wie ich ihn nun begleitet, habe ich‘ im Zurükkgehn wieder des Sokrates gedacht, und ihn bewundert, wie weissagend er unter vielen Andern auch

THEAITETOS. 131

von diesem gesprochen hat. Ich glaube, es war kurz vor seinem Tode, als er mit dem Theaiteios, der noch ein anwachsender Jüng- ling war, bekannt ward, und nachdem er mit ihm zusammengewesen und Gespräch gepflogen, grosse Freude hatte an seiner Natur. Da ieh nun nach Athen kam, erzählte er mir die Unterredungen, welche sie gehabt, welche auch sehr verdienen gehört zu werden, und sagte, es könne nicht ausbleiben, dieser müsse ein ausgezeich- neter Mann werden, wenn er nur sein volles Alter erreichte.

Terpsion. Und ganz wahr hat er geredet, ‘wie es scheint. Jedoch könntest du wol erzählen, was für Unterredungen dies gewesen?

Eukleides. Beim Zeus, zum mindesten gewiss nicht so münd- lich. Aber ich zeichnete mir gleich damals, als ich nach Hause143 kam, etwas darüber auf, hernach habe ich bei mehrerer Musse nachgesonnen, und sie aufgesehrieben, und so oft ich nach Athen kam, erfragte ich vom Sokrates, wessen ich mich nicht recht er- innerte, und brachte es in Ordnung, wenn ich wieder hieher kam, so dass fast die ganze Unterredung nachgeschrieben ist.

Terpsion. Ganz recht. Auch sonst habe ich dies schon von dir gehört, und wollte dich immer bitten, sie mir mitzutheilen, es ist aber bis jezt dabei geblieben. Allein was hindert uns, sie jezt durchzugehen? Auf alle Weise thut mir ohnedies Noth, mich aus- zuruhen, da ich vom Lande komme.

Eukleides. Auch ich habe doch den Theaitetos bis zum Erineon begleitet, so dass ich ebenfalls gar nicht ungern ruhte. So lass uns dann gehn, und indess wir der Ruhe pflegen, mag uns der Knabe vorlesen. |

Terpsion. Wol gesprochen.

Eukleides. Dieses hier also, Terpsion, ist das Buch. Ich habe aber das Gespräch solchergestalt abgefasst, nicht dass Sokrates es mir erzählt, wie er es mir doch erzälilt hat, sondern so, dass er wirklich mit denen redet, welche er als Unterredner nannte. Er nannte aber den Messkünstler Theodoros und den Theaitetos. Da- mit nämlich in dem geschriebenen Aufsaz die Nachweisungen zwi-

. schen dem Gespräch nicht beschwerlich fielen, wie wenn er selbst Sokrates geredet das „Da sprach ich” oder ‚Darauf sagte ich,” und von dem Antwortenden „Das gab er zu,” und „Darin wollte er nicht beistimmen,” deshalb habe ich geschrieben, als ob er unmit- telbar mit Jenen redete mit Hinweglassung aller dieser Dinge.

Terpsion. Gar nicht übel, Eukleides.

Eukleides. So nimm denn das Buch, Knabe, und lies.

.— 90"

132 THEAITETOS.

SOKRATES. THEODOROS. THEAITETOS.

Sokrates. Wenn mich die Kyrenaier besonders angingen, 0 Theodoros, so würde ich dich über sie,. und wie es dort steht, befragen, ob es einige giebt unter den jungen Leuten dort, welche in der Grössenlehre oder in einer andern Wissenschaft Fleiss an- wenden. Nun aber, denn ich liebe jene weniger als die hiesigen, und trage ein besonderes Verlangen zu wissen, welche von unsern Jünglingen wahrscheinlich einmal Ehre einlegen werden, also suche ich selbst dieses nach Möglichkeit zu erforschen, und befrage da- rum auch Andere, zu denen ich die Jünglinge gern sich gesellen sehe. Und dich umgeben nicht Wenige, wie du es auch verdienst auch sonst, besonders aber wegen der Messkunst. Wenn dir "also einer aufgestossen ist, der Erwähnung verdient: so wünschte ich es wol zu wissen.

Theodoros. Allerdings, Sokrates, darf ich dir wol gern sagen und du auch gern hören wollen, was für einen Jüngling ich unter euren Bürgersöhnen angetroffen. Denn wäre er etwa schön: so möchte ich wol Furcht genug haben es zu sagen, damit nicht Je- mand meinte, ich hege eine Leidenschaft für ihn. Nun aber, werde mir nur ja nicht böse, ist er eben nicht schön, sondern er gleicht dir mit der aufgeworfenen Nase und den herausiretenden Augen; nur hat er diese Züge nicht so stark als du. Dreist rede ich also,

444und so wisse denn, dass unter allen, mit denen ich jemals bekannt geworden, und ich habe schon sehr Viele um mich gehabt, ich noch nie einen so bewundernswürdig wol geartet angetroffen. Denn dass einer, welcher schnell auffasst, wie schwerlich ein An- derer, zugleich so ausgezeichnet gleichmüthig ist, und überdies be- harrlich mehr als jeder Ändere, solche habe ich nicht geglaubt dass es gebe, auch sehe ich nicht, dass es deren sonst giebt. Sondern die Scharfsinnigen wie dieser, und von schnellem Ver- stande und gutem Gedächtniss, pflegen auch zum Zorn sehr reizbar zu sein, und werden hin und her gerissen wie. Schiffe, eune Ballast, sind auch von Natur mehr heftig als beharrlich, Die Gesezteren aber zeigen sich wiederum gewissermaassen träge zum Lernen und gar sehr vergesslich. Dieser aber schreitet so leicht und sicher und mit Erfolg zu allen Kenntnissen ‚und Untersuchungen, und mit solcher Ruhe, wie sich das Oel ganz geräuschlos ausgiesst, dass zu bewundern ist, :wie er in diesem Alter dergleichen Dinge auf solche Art behandeln kann.

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THEAITETOS. 133

Sokrates. Du giebst treffliche Botschaft! Aber wem gehört er an unter unsern Bürgern?

Theodoros. Gehört habe ich zwar den Namen, ich entsinne mich seiner aber nicht. Allein er ist unter denen, die hier heran kommen, der mittlere. Denn eben hat er mit diesen seinen Freun- den sich draussen gesalbt, nun aber scheinen sie, nachdem sie sich gesalbt, hieher zu kommen. Also sieh zu, ob du ihn kennst.

Sokrates. Ich kenne ihn, es ist der Sohn des Euphronios von Sunion, eines Mannes, Freund, gerade so wie du diesen be- schreibst, auch übrigens sehr wol angesehen, und der ein grosses Vermögen hinterlassen hat. Den Namen des Knaben aber weiss ich nicht.

Theodoros. Dessen Name ist Theaitetos. Das Vermögen indess haben seine Vormünder, glaube ich, ziemlich herunter- gebracht. Dennoch aber ist auch in dem, was Geld betrifft, seine edle Gesinnung zu bewundern.

Sokrates. Du preisest ihn ja herrlich! So heisse ihn dann sich hieher zu uns niedersezen.

Theodoros. Das soll geschehen. 'Theaitetos, hieher zum 80- krates!

Sokrates. Ja auf alle Weise, Theaitetos, damit ich mich auch einmal beschaue, was für ein Gesicht ich wol habe. Denn Theo- doros sagt, es sei dem deiniger ähnlich. Jedoch wenn wir nun beide jeder eine Leier hätten, und er sagte, sie wären gleich ge- stimmt: würden wir ihm das sogleich glauben, oder würden wir erst untersuchen, ob er denn auch ein Tonkundiger wäre, und so eiwas behaupten könne? |

Theaitetos. Das würden wir untersuchen.

Sokrates. Also wenn wir ihn als einen solchen erfänden, würden wir ihm glauben; wenn aber von dieser Kunst verlassen, würden wir ungläubig bleiben?

Theaitetos. Richtig.

Sokrates. Nun aber, meine ich wenigstens, wenn wir über die Aehnlichkeit unserer Gesichtszüge gewiss sein wollen, werden wir wol zusehn müssen, ob er auch ein Maler ist, und also hıer- über etwas behaupten kann oder nicht.

Theaitetos. So scheint es mir.

Sokrates. Ist nun wol Theodoros ein Maler?

Theaitetos. Nicht, dass ich wüsste.

Sokrates. Auch kein Messkünstler?

Theaitetos. Das freilich auf alle Weise, Sokrates.

145

134 THEAITETOS.

Sokrates. Etwa auch ein Sternkundiger, ein Rechner, ein Tonkundiger, und was sonst zu diesen Wissenschaften gehört?

Theaitetos. Ich denke wol.

Sokrates. Wenn er also sagt, dass wir uns irgend körperlich ähnlich sind, er sage es nun lobend oder tadelnd, so ist wol nicht viel darauf zu geben?

Theaitetos. Vielleicht nicht.

Sokrates. Wie aber, wenn er die Seele eines von uns der Tugend und Weisheit wegen lobte: sollte dann nicht einerseits, wer es hört, sich billig Mühe geben, den Gelobten betrachten zu können, dieser aber wiederum sich bereitwillig darstellen?

Theaitetos. In alle Wege, o Sokrates.

Sokrates. So ist demnach, lieber Theaitetos, an dir die Reihe dich darzustellen, an mir aber dich zu beschauen. Denn wisse nur, dass Theodoros schon Viele zwar gegen mich gelobt hat, Fremde sowol als Bürger, noch keinen aber hat er jemals so ge- lobt, als dich jezt eben. |

Theaitetos. Das wäre ja herrlich, Sokrates. Aber sieh zu, dass er es nicht etwa im Scherz gesagt hat.

Sokrates. Das hat Theodoros nicht in der Art. Also nimm nur nicht das eingestandene zurükk unter dem Vorwande, er rede im Scherz, damit er nicht genöthigt werde, ordentlich Zeugniss einzulegen; denn es wird ihn dann gewiss Niemand falschen Zeug- nisses anklagen. Sondern bleibe lieber getrost bei deinem Einge- ständniss. |

Theaitetos. Wol werde ich es so halten müssen, wenn du meinst.

Sokrates. So sage mir denn, lernst du wol bei dem Theodo- ros etwas von der Messkunst?

Theaitetos. Ο ja.

Sokrates. Auch von der Sternkunde und der Tonkunst und den Rechnungen?

Theaitetos. Ich befleissige mich wenigstens.

Sokrates. Auch ich, o Jüngling, bei diesem und Andern, denen ich zutraue, dass sie sich auf etwas hievon verstehen. Dennoch aber, wiewol ich im übrigen ziemlich Bescheid weiss, habe ich Zweifel über eine Kleinigkeit, die ich wol mit dir und diesen untersuchen möchte. Sage mir also, heisst nicht lernen dessen kundiger werden, was man lernt?

Theaitetos. Wie anders!

Sokrates. Und die Kundigen, glaube ich, sind doch durch Wissenschaft kundig?

THEAITETOS. 155

Theaitetos. Ja.

Sokrates. Und das ist doch nichts anderes als Erkenntniss?

Theaitetos. Was denn?

Sokrates. Die Wissenschaft. Oder ist man nicht, wovon man Erkenntniss hat, dessen auch kundig?

Theaitetos. Wie sonst?

Sokrates. Also ist dies einerlei, Wissenschaft und Erkenntniss.

Theaitetos. Ja.

Sokrates. Dies ist nun eben, worüber ich zweifelhaft bin, und was ich durch mich selbst nicht hinreichend ergründen kann, die Erkenntniss, was die wol eigentlich sein mag, Sollten wir es wol bestimmen können? Was sagt ihr? Wer von uns will es zuersti46 erklären? Wenn er aber fehlt, und so jedesmal wer fehlt, soll, wie es die Knaben beim Ballspiel nennen, Esel sizen. Wer aber ohne zu fehlen den Sieg davon trägt, der soll unser König sein, und uns zu beantworten aufgeben, was er will. Warum schweigt ihr? Ich werde doch nicht aus Redelust überlästig, Theodoros, indem ich es darauf anlege, dass ein Gespräch zwischen uns entstehe, und wir einander freund und näher bekannt werden?

Theodoros. Keinesweges, Sokrates, kann das überlästig sein. Sondern heisse einen von den Jünglingen dir antworten, denn ich bin dieser Art zu reden ungewohnt, und mich etwa noch daran zu gewöhnen, habe ich nicht mehr die Jahre. Diesen aber steht es sehr wol an, und sie würden nur um so mehr zunehmen. Denn in der Jugend, das ist wahr, kann man in Allem zunehmen. Lass also wie du angefangen hast nicht ab vom Theaitetos, sondern befrage ihn. |

Sokrates. Du hörst doch, Theaitetos, was Theodoros sagt, welchem du ja, glaube ich, nicht wirst ungehorsam sein wollen; auch würde es wol dem Jüngeren nicht ziemen, einem weisen Manne, wenn er etwas aufgiebt, in solchen Dingen nicht zu gehorchen.

So sage denn gerade und dreist heraus, was denkst du, dass Erkenntniss ist?

Theaitetos. Ich muss wol, Sokrates, wenn ihr es doch ge- bietet. Denn auf jeden Fall, wenn ich auch fehle, werdet ihr es berichtigen.

Sokrates. Allerdings, sofern wir es vermögen.

Theaitetos. Ich glaube also, dass sowol dasjenige, was Jemand vom Theodoros lernen kann, Erkenntnisse sind, die Messkunst nämlich, und die andern, welche du jezt eben genannt hast, als auch auf der andern Seite die Schuhmacherkunst und die Künste

136 THEAITETOS.

der übrigen Handwerker scheinen mir alle und jede nichts anders zu sein als Erkenntniss.

Sokrates. Gar offen und freigebig, Lieber, giebst du mir um Eins gefragt vielerlei, und mannigfaltiges statt des einfachen.

Theaitetos. Wie? was meinst du damit, Sokrates?

Sokrates. Vielleicht nichts; was ich aber meine, will ich dir erklären. Wenn du sagst das Schuhmachen, meinst du damit etwas anderes, als die Erkenntniss von Verfertigung der Schuhe?

Theaitetos. Nichts anderes.

Sokrates. Und wenn du sagst die Tischerei, dann etwas an- deres als die Erkenntniss von Verfertigung hölzerner Gerälhschaften?

Theaitetos. Auch dann nicht.

Sokrates. Jn beiden Fällen also bestimmst du, wovon ein jedes die Erkenntniss ist.

Theaitetlos. Ja.

Sokrates. Das geiragte aber war nicht dieses, wovon es Er- kenntniss gäbe, noch auch wie vielerlei sie wäre. Denn wir frag- ten nicht in der Absicht sie aufzuzählen, sondern um die Erkennt- niss selbst zu begreifen, was sie wol sein mag. Oder ist das nichts gesagt? |

Theaitetos. Allerdings ist es ganz richtig.

147 Sokrates. Erwäge auch dieses. Wenn uns Jemand etwas ganz gemeines, das erste beste, fragte, etwa nach dem Lehm, was der wol wäre, und wir antwortelen ihm, es gäbe Lehm für die Töpfer, und Lehm für die Puppenmacher, und Lehm für die Ziegelstreicher, ob wir uns nicht lächerlich machten.

Theaitetos. Vielleicht wol.

Sokrates. Zuerst nämlich schon, weil wir glaubten, der Fra- gende könne nun aus unserer Antwort die Sache verstehn, wenn wir doch wieder sagten, der Lehm, mögen wir nun hernach hin- zusezen. der Puppenmacher oder welches andern Handwerkers. Oder glaubst du, dass Jemand eine besondere Bezeichnung eines Dinges versteht, von dem er nicht weiss was es ist?

Theaitetos.. Auf keine Weise. ΤᾺ τὶ ;

Sokrates. So versteht also auch Erkenntniss von Schuhen nicht, wer überhaupt nicht weiss, was Erkenntniss ist.

Theaitetos. Freilich nicht.

Sokrates. Also auch was Schuhmachen ist, oder irgend eine andere Kunst, versteht der nicht, der nicht weiss was Erkennt- nıss ist.

Theaitetos. Freilich nicht.

THEAITETOS. 137

Sokrate.. Es ist also eine lächerliche Antwort von dem, welcher gefragt wird, was Erkenntniss ist, wenn er darauf durch den Namen ırgend einer.Kunst antwortet. Denn er antwortet durch eine Erkenniniss von etwas, ohne hiernach gefragt worden zu sein.

Theaitetos. So scheint es.

Sokrates. Dann auch, da er konnte schlicht und kurz ant- worten, beschreibt er einen unendlichen Weg. So wie auch bei der Frage nach dem Lehm konnte er ganz schlicht und einfach sagen, Erde mit Feuchtigkeit gemischt wäre Lehm, für wen aber der Lehm wäre, das konnte er übergehen.

Theaitetos. Leicht, o Sokrates, erscheint es nun. Du magst aber wol nach etwas ähnlichem fragen, wie uns neulich in un- sern Beschäftigungen vorgekommen ist, mir und hier deinem Na- mensgenossen, dem Sokrates.

Sokrates. Was doch war das?

- Theaitetos. Von den Seiten der Vierekke zeichnete uns Theo- doros etwas vor, indem er uns von der des dreifüssigen und fünffüssigen bewies, dass sie als Länge nicht messbar wären durch die einfüssige. Und so ging er jede einzeln durch bis zur sieb- zehnfüssigen, bei dieser hielt er inne. Uns nun fiel so etwas ein, da der Seiten unendlich viele zu sein schienen, wollten wir ver- suchen, sie zusammenzufassen in Eins, wodurch wir diese alle bezeichnen könnten.

Sokrates. Habt ihr auch so etwas gefunden?

Theaitetos. Ich denke wenigstens, betrachte du es nur auch.

Sokrates. So sprich. |

Theaitetos. Wir theilten alle Zahlen insgesammt in zweı Theile. Diejenigen, welche entstehen können durch gleiches gleich- vielmal genommen, nannten wir mit der Gestalt des Vierekkes sie vergleichend, vierekkige und gleichseitige.

Sokrates. Sehr gut.

Theaitetos. Die aber zwischen diesen, wozu auch drei und fünf gehören, und jede, welche nicht kann aus gleichem gleich-148 vielmal genommen entstehn, sondern nur aus einer grösseren Zahl wenigermal oder einer kleineren mehrmal genommen, welche also immer von einer grösseren und einer kleineren Seite eingefasst werden, diese nannten wir mit der länglichen Gestalt sie verglei- chend Jängliche Zahlen.

Sokrates. Vorirefllich. Aber nun weiter.

Theaitetos. Alle Linien nun, welche ein Vierekk bilden von

438 ΤΗΒΑΙΤΕΤΟΒ..

gleichseitiger Zahl in der Fläche, nannten wir Längen, welche aber eins von ungleichseitiger, diese nannten wir Kräfte, weil nämlich sie selbst als Längen nicht durch gleiches Maass mit jenen kön- nen gemessen werden, wol aber die Flächen, welche sie hervor- zubringen die Kraft haben. Ein ähnliches findet nun statt bei den körperlichen Zahlen.

Sokrates. So vortrefflich als möglich, ihr Kinder! Nun wird Theodoros gewiss nicht in die Strafe des falschen Zeugnisses ver- fallen.

Theaitetos. Doch aber, o Sokrates, kann ich, was du von der Erkenniniss fragst, nicht so beantworten, wie das von den Längen und Kräften, obwol du, wie es mir wenigstens scheint, etwas ähnliches suchst, so dass Theodoros doch wieder Unrecht zu haben scheint,

Sokrates. Wie so? wenn er dich nun deines Laufens wegen gelobt und gesagt hätte, er habe noch nie unter den jungen Leu- ien einen so schnellfüssigen ‘angetroffen, und du hernach beim Wettlauf von einem völlig ausgebildeten und sehr schnellen über- wunden würdest, würdest du deshalb glauben, dass er dieh min- der mit Recht gelobt habe?

Theaitetos. Nein, das nicht.

Sokrates. Und glaubst du, dass die Erkennitniss, so wie ich es jezt meinte, zu finden eine Kleinigkeit ist, und nicht vielmehr unter die gar schwierigen Aufgaben gehört?

Theaitetos. Beim Zeus, unter die allerschwierigsten, glaube ich.

Sokrates. So sei nur gutes Muthes deinetwegen, und glaube, dass Theodoros wol Recht gehabt hat. Bestrebe dich aber, wie von andern Dingen, so besonders von der Erkenntniss die Erklä- rung zu finden, was sie eigentlich ist. -

Theaitetos. Sofern es nur am Bestreben liegt, soll sie wol ans Licht kommen.

Sokrates. So komm, denn du hast schon sehr gut vorge- zeichnet, und versuche nur deine Antwort wegen jener Seiten der Vierekke nachahmend, so wie du diese, sd viele es auch sind, unter einen Begriff zusammengefasst hast, so auch die vielerlei Erkenntnisse durch eine Erklärung zu bezeichnen.

Theaitetos. Wisse nur, Sokrates, ich habe oft versucht, die- ses heraus zu finden, da ich die von dir herumgehenden Fragen hörte: aber ich kann weder mich selbst überreden, dass ich etwas genügendes ausgedacht hätte, noch höre ich irgend einen Andern

THEAITETOS. 139

die Sache so, wie du es forderst, erklären. Eben so wenig aber kann ich jemals ablassen darauf zu sinnen.

Sokrates. Du hast eben Geburtsschmerzen, lieber Theaitetos, weil du nicht leer bist, sondern schwanger gehst.

Theaitetos. Das weiss ich weiter nicht; wie es mir aber er- geht, das habe ich dir gesagt.

Sokrates. Also du Lächerlicher hast wol niemals gehört, dass ich der Sohn einer Hebamme bin, einer sehr berühmten und ver-149 wogenen, der Phänarete?

Theaitetos. Das habe ich wol schon gehört.

Sokrates. Eiwa auch, dass ich dieselbe Kunst ausübe, hast du gehört?

Theaitetos. Das keinesweges.

Sokrates. Wisse dann, dem ist also. Verrathe mich aber nicht damit gegen die Andern, denn es weiss niemand von mir, Freund, dass ich diese Kunst besize. Da es nun die Leute nicht wissen: so sagen sie mir auch dieses zwar nicht nach, wol aber, dass ich der wunderlichste aller Menschen wäre, und Alle zum Zweifeln brächte. Gewiss hast du das auch gehört?

Theaitetos. Vielfältig.

Sokrates. Soll ich dir davon die Ursach sagen?

Theaitetos. Allerdings.

Sokrates. WUeberlege dir nur recht alles von den Hebammen, wie es um sie steht, so wirst du leichter merken was ich will. Denn du weisst doch wol, dass keine, so lange sie noch selbst empfängt und gebärt, andere entbindet, sondern nur weiche selbst nicht mehr fähig sind zu gebären thun es.

Theaitetos. So ist es allerdings.

Sokrates. Das soll, wie sie sagen, von der Artemis herrüh- ren, weil dieser, einer Nichtgebärenden, dennoch die Geburtshülfe zu Theil geworden. Nun hat sie zwar den ganz Unfruchtbaren nicht verleihen können, Geburtshelferinnen zu sein, weil die mensch- liche Natur zu schwach ist, um eine Kunst zu erlangen in Din- gen, deren sie ganz unerfahren ist; wol aber hat sie diese Gabe denen, die des Alters wegen nicht mehr gebären, beigelegt, un doch der Aehnlichkeit mit ihr selbst einen Vorzug einzuräumen.

Theaitetos. Das scheint annelmlich.

Sokrates. Ist also wol auch das annehmlich und nothwendig, dass, ob eine schwanger ist oder nicht, besser von den Geburts- helferinnen erkannt wird als von andern?

Theaitetos. Gar sehr.

140 THEAITETOS.

Sokrates. Ja es können auch die Hebammen durch Arznei- mittel und Zaubersprüche die Wehen erregen, und wenn sie wol- len, sie auch wieder lindern, und den Schwergebärenden zur Ge- burt helfen, oder auch das Kind, wenn diese beschlossen haben sich dessen zu entledigen, so lange es noch ganz klein ist, kön- nen sie abtreiben.

Theaitetos. So ist es.

Sokrates. Hast du auch das schon von ihnen vernommen, dass sie ebenfalls die geschikktesten Freiwerberinnen sind, indem sie gründlich zu unterscheiden versiehen, was für eine Frau sich mit was für einem Manne verbinden muss, um die vollkommen- sten Kinder zu erzielen?

Theaitetos. Das habe ich noch nicht so gewusst.

Sokrates. So wisse denn, dass sie sich hiemit noch mehr wissen, als mit dem Nabelschnitt. Ueberlege auch nur. Glaubst du, dass die Pflege nebst Einsammlung der Früchte des Erdbodens, und dann wiederum die Einsicht, welchem Boden man jegliches Gesäme und Gewächs anvertrauen muss, zu einer und derselben Kunst gehören oder zu verschiedenen?

Theaitetos. Nein, sondern zu derselben.

Sokrates. Bei den Frauen aber glaubst du, dass dieses eine andere, und das Einsammeln wieder eine andere Kunst ist?

Theaitetos. Das ist wenigstens nicht wahrscheinlich.

150 Sokrates. Wol nicht, sondern nur wegen des unrechtlichen und unkünstlerischen Zusammenführens der Männer und Frauen, welches man das Kuppeln nennt, enthalten sich die Hebammen als ehrbare Frauen auch des Freiwerbens, aus Furcht, sie möch- ten um dieser Kunst willen in jenen Verdacht gerathen. Denn eigentlich steht es den wahren Geburtshelferinnen auch allein zu, auf die rechte Art Ehen zu stiften.

Theaitetos. Offenbar.

Sokrates. Soviel also hat es mit den Hebammen auf sich; weniger aber doch- als mit meinem Spiel. Denn bei den Frauen kommt es nicht vor, dass sie grösstentheils zwar ächte Kinder ‚ge- bären, bisweilen aber auch Mondskälber, und dass beides schwie- rig wäre zu unterscheiden. Denn wäre dies der Fall: so würde es gewiss die schönste und grösste Kunst der Hebammen sein, zu unterscheiden was etwas rechtes ist, und was nicht. Oder glaubst du nicht?

Theaitetos. Das glaube ich wol.

Sokrates. Von meiner Hebammenkunst nun gilt übrigens al-

THEAITETOS. 141

les, was von der ihrigen; sie unterscheidet sich aber dadurch, dass sie Männern die Geburtshülfe leistet und nicht Frauen, und dass sie für ihre gebärenden Seelen Sorge trägt, und nicht für Leiber. Das grösste aber an unserer Kunst ist dieses, dass 516 im Stande ist zu prüfen, ob die Seele des Jünglings missgestalte- tes und falsches zu gebären im Begriff ist; oder gebildetes und ächtes. Ja auch hierin gebt es mir eben wie den Hebammen, ich gebäre nichts von Weisheit, und was mir bereits Viele vorgewor- fen, dass ich Andere zwar fragte, selbst aber nichts über irgend etwas antwortete, weil ich nämlich nichts kluges wüsste zu ant- worten, darin haben sie Recht. Die Ursach davon aber ist diese, Geburtshülfe leisten nöthiget mich der Gott, erzeugen aber hat er mir gewehrt. Daher bin ich selbst keinesweges etwa weise, habe auch nichts dergleichen aufzuzeigen als Ausgeburt meiner eigenen Seele. Die aber mit mir umgehn, zeigen sich zuerst zwar zum Theil gar sehr ungelehrig; hernach aber bei fortgeseztem Umgange alle denen es der Gott vergönnt wunderbar schnell fortschreitend, wie es ihnen selbst und Andern scheint; und dieses offenbar ohne jemals irgend etwas etwa von mir gelernt zu haben, sondern nur selbst aus sich selbst entdekken sie viel schönes, und halten es fest; die Geburtshülfe indess leisten dabei der Gott und ich. Dies erhellet hieraus. Viele schon haben dies verkennend und sich selbst alles zuschreibend, mich aber verachtend, oder auch selbst von Andern überredet, sich früher als recht war von mir getrennt, und nach dieser Trennung dann theils in Folge schlechter Gesell- schaft nur Fehlgeburten gethan, theils auch das, wovon sie durch mich entbunden worden, durch Verwahrlosung wieder verloren, weil sie die missgestalteten und unächten Geburten höher achte- ten als die rechten; zulezt aber sind sie sich selbst und Andern gar unverständig vorgekommen, von welchen einer Arislides, der151 Sohn des Lysimachos war, und viele Andere mehr. Wenn solche dann wiederkommen, meines Umgangs begehrend, und Wunder was darum thun, hindert mich doch das göttliche, was mir zu widerfahren pflegt, mit Einigen wieder umzugehen; Andern dage- gen wird es vergönnt, und diese nehmen sich wieder auf. Auch darin ergeht es denen, die mit mir umg°hn, wie den Gebärenden; sie haben nämlich Wehen, und wissen sich nicht zu lassen bei Tag und Nzeht weit ärger als jene. Und diese Wehen kann meine Kunst erregen sowol als stillen. So ist es demnach mit diesen beschaffen. Bisweilen aber, o Theaitetos, wenn Einige mir gar nicht recht scheinen schwanger zu sein, solchen, weil ich weiss,

142 THEAITETOS.

dass sie meiner gar nicht bedürfen, bin ich ein bereitwilliger Frei- werber, und mit Gott sei es gesprochen, ich treffe es zur Genüge, wessen Umgang ihnen vortheilhaft sein wird, wie ich denn ihrer schon viele dem Prodikos ausgeihan habe. Viele auch andern weisen und gottbegabten Männern, Dieses habe ich dir, Bester, deshalb so ausführlich vorgetragen, weil ich Vermuthung habe, dass du, wie du es auch selbst meinst, etwas in dir trägst, und Ge- burisschmerzen hast. So übergieb dich also mir, als dem Sohn einer Geburtshelferin und auch selbst der Geburtshülfe kundigen, und was ich dich frage, das beeifere dich so gut du nur kannst zu beantworten. Und wenn ich bei der Untersuchung etwas, was du sagst, für ein Mondskalb und nichts ächtes erfunden habe, also es ablöse und wegwerfe: so erzürne dich darüber nicht, wie die Frauen es bei der ersten Geburt zu thun pflegen. Denn schon Viele, mein Guter, sind so gegen mich aufgebracht gewesen, wenn ieh ihnen eine Posse abgelöset habe, dass sie mich ordentlich hät- ten beissen mögen, und wollen nicht glauben,- dass ich das aus Wohlmeinen thue, weil sie weit entfernt sind einzusehen, dass kein Gott jemals .den Menschen missgünstig ist, und dass auch ich nichts dergleichen aus Uebelwollen thue, sondern mir nur eben keinesweges verstattet ist, falsches gelten zu lassen und wahres unterzuschlagen. i

Versuche also noch einmal von Anfang an, 0 Theailetos, zu sagen, was Erkenniniss ist. Dass du aber nicht kannst, sage nur niemals. Denn so Gott will und du wakker bist, wirst du es wol können.

Theaitetos. Wenn du freilich, Sokrates, solchergestalt zure- dest, wäre es schändlich nicht auf alle ‚Weise muthig zu sagen, was einer eben hat. Mir also ..scheint, wer etwas erkennt, dasje- nige wahrzunehmen, was er erkennt; und wie es mir jezt erscheint, ist Erkenntniss nichts anders als Wahrnehmung.

Sokrates. Gut und wakker, Jüngling. So muss sich deutlich machen, wer etwas erklärt. Wolan, lass uns nun dieses gemein- schaftlich betrachten, ob es eine rechte Geburt ist oder ein Windei. Wahrnehmung sagst du sei Erkenntniss.

Theaitetos. Ja.

Sokrates. Und gar keine schlechte Erklärung scheinst du ge- geben zu haben von der Erkenntniss, sondern welche auch Pro-

152tagoras giebt; nur dass er dieses nämliche auf eine etwas andere Weise ausgedrükkt hat. Er sagt nämlich, der Mensch sei das

THEAITETOS. 143

Mäass aller Dinge, der seienden wie sie sind, der nichtseienden, wie sie nicht sind. Du hast dies doch gelesen? Theaitetos. Oftmals habe ich es gelesen.

Sokrates. Nicht wahr er meint dies so, dass wie ein jedes Ding mir erscheint, ein solches ist es auch mir, und wie es dir erscheint, ein solches ist es wiederum dir. Ein Mensch aber bist . du sowol als ich.

Theaiteios. So meint er es unstreitig.

Sokrates. Wahrscheinlich doch wird ein so weiser Mann nicht Thorheiten reden. Lass uns ihm also nachgehn. Wird nicht bisweilen, indem derselbe Wind weht, den einen von uns frieren, den andern nicht? oder den einen wenig, den andern sehr stark?

Theaitetos. Ja wol.

Sokrates. Sollen wir nun in diesem Falle sagen, dass der Wind an und für sich kalt ist oder nicht kalt? Oder sollen wir dem Protagoras glauben, dass er dem Frierenden ein kalter ist, dem Nichtfrierenden nicht?

Theaitetos. So wird es wol sein müssen.

. Sokrates. Und so erscheint er doch jedem von Beiden? Theaitetos. Freilich. | Sokrates. Dieses Erscheint ist aber eben das Wahrnehmen. Theaitetos. So ist es.

Sokrates. Erscheinung also und Wahrnehmung ist dasselbe in Absicht auf das warme und alles, was dem ähnlich ist? Denn wie ein jeder es wahrnimmt, so scheint es für ihn auch zu sein.

Theaitetos. Das leuchtet ein. |

Sokrates. Wahrnehmung ist also wol immer des seienden und untrüglich, wenn sie ja Erkenntniss ist.

Theaitetos. So scheint es.

Sokrates. Nun so war etwa, bei den Chariten, Protagoras gar überweise, und hat die Sache zwar uns nur durch vielen Ner bel dunkel angedeutet, seinen Schülern aber im geheimen das rechte gesagt?

Theaitetos. Wie doch, Sokrates, meinst du dies?

Sokrates. Ich will es dir sagen, es ist gar keine schlechte Rede, dass nämlich gar nichts ein an und für sich bestimmtes ist, und dass du keinem Dinge mit Recht welche Eigenschaft auch immer beilegen kannst, vielmehr wenn du etwas gross nennst, wird es sich auch klein zeigen, und wenn schwer, auch leicht, und so gleicher Weise in Allem, dass eben nichts weder Ein ge- wesenes ist noch auch irgend wie beschaffen; sondern durch Be-

144 THEAITETOS.

wegung und Veränderung und Vermischung alles unter einander nur wird, wovon wir sagen dass es ist, nicht richtig bezeichnend; denn niemals ist eigentlich irgend etwas, sondern immer nur wird es. Und hierüber mögen denn der Reihe nach alle Weisen, den Parmenides ausgenommen, einig sein, Protagoras sowol als Hera- kleitos und Empedokles und so auch von den Dichtern, die An- führer von beiden Dichtungsarien, Epicharmos der komischen, und der tragischen, Homeros; denn wenn dieser sagt, Dass ich den Vater Okeanos schau und Thetys die Mutter, will er andeuten, dass alles enisprungen ist aus dem Fluss und der Bewegung. Oder scheint er dir nicht dieses zu meinen?

Theaitetos. Allerdings auch mir.

153 Sokrates. Wer dürfte nun wol gegen ein solches Heer und seinen Anführer Homeros etwas bestreiten, ohne sich lächerlich zu machen?

Theaitetos. Leicht ist es nicht, o Sokrates.

Sokrates. Gewiss nicht, Theaitetos. Zumal auch dies noch hinlängliche Beweise sind für diese Behauptung, dass nämlich alle- mal was zu sein scheint und das Werden die Bewegung verur- sacht, das Nichtsein aber und den Untergang die Ruhe. Denn Wärme und Feuer, welche dann wieder die andern Dinge erzeu- gen und in Ordnung halten, werden selbst erzeugt durch Um- schwung und Reibung, diese aber sind Bewegung. Oder sind dies nicht die Entstehungsarten des Feuers?

Theaitetos. Dies sind sie freilich.

Sokrates. Ferner enisprosst ja auch das Geschlecht der Le- benden aus eben den Ursachen.

Theaitetos. Wie anders?

Sokrates. Und wie, der ganze Zustand des Leibes, wird er nicht durch Ruhe und Trägheit zerrüttet, durch Leibesübungen aber und Bewegungen im Ganzen wol erhalten?

Theaitetos. Ja.

Sokrates. Und der Zustand der Seele eben so, pflegt sie nicht durch Lernen und Fleiss, welches Bewegungen sind, Kennt- nisse zu erwerben und festzuhalten und so besser zu werden; durch die Ruhe aber, welche sich in Gedankenlosigkeit und Träg- heit zeigt, nichts zu lernen nicht nur, sondern auch das gelernte zu vergessen?

Theaitetos. Ganz gewiss.

Sokrates. Das ‘gute also ist Bewegung für Seele und Leib, und umgekehrt das Gegentheil davon.

THEAITETOS. 145

Thenitetos. So seheint es.

Sokrates. Soll ich dir nun auch noch die Windstillen anfüh- ren, und was dem ähnlich ist, wie überall die Ruhe Fiulniss und Zerstörung bewirkt, das Gegentheil aber Erhaltung? Und über dies Alles nun noch den lezten Stein hinzutragend beweisen, dass unter der goldenen Kette Homeros nichts anders versteht als die Sonne, und also andeutet, so lange der gesammte Umkreis in Be- wegung ist und die Sonne, so lange sei auch Alles und bleibe wohlbehalten bei Göttern und Menschen, wenn aber dieses einmal wie gebunden stillstände, so würden alle Dinge uniergehn, und, wie man sagt, das unterste zu oberst gekehrt werden ?

Theaitetos. Mir, o Sokrates, scheint er das anzudeutien, was du sagst.

Sokrates. Denke dir also, Bester, die Sache so, zuerst in Beziehung auf die Augen, was du weisse Farbe nennst, dass dies nicht selbst etwas besonderes ist ausserhalb deiner Augen, noch auch in deinen Augen, und dass du ihm ja keinen Ort bestimmst, denn sonst wäre es schon wenn es bestimmt irgendwo wäre, und es beharrte, und würde nicht bloss im Entstehen.

Theaitetos, Aber wie denn?

Sokrates. Folgen wir nur dem eben vorgetragenen Saz, dass nichts an und für sich Ein bestimmies ist, und es wird uns deut- lich werden, dass Schwarz und Weiss und jede andere Farbe aus dem Zusammenstossen der Augen mit der zu ihr gehörigen Bewe- gung entstanden ist, und was wir jedesmal Farbe nennen, wird weder das anstossende sein noch das angestossene, sondern ein dazwischen jedem besonders entstandenes. Oder möchtest du be-154 haupten, dass jede Farbe, eben wie sie dir erscheint, auch einem Hunde oder irgend einem andern Thiere erscheinen werde?

Theaitetos. Beim Zeus, das möchte ieh nicht.

Sokrates. Aber wie? erscheint einem andern Menschen ir- gend etwas gerade eben so wie dir? Bist du davon recht gewiss, oder vielmehr davon, dass etwas nicht einmal dir selbst immer als dasselbe erscheine, da du niemals ganz auf dieselbe Weise dich verhältst.

Theaitetos. Mich dünkt dieses eher als jenes.

Sokrates. - Also wenn das gemessene oder berülrte gross oder roth oder warm wäre: so könnte es nicht dadurch, dass es auf einen Andern träfe, ein anderes werden, indem es sich selbst gar nicht veränderte. Wenn aber wiederum das messende oder berührende jedes von diesen wäre, so könnte es nicht, wenn ein

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146 THEAITETOS.

anderer Gegenstand herankommt oder dem vorigen etwas begegnet, indem jedoch ihm selbst nichts widerfährt, dennoch ein anderes werden. Denn jezt, Freund, werden wir genöthiget, wunderbare und lächerliche Dinge getrost zu behaupten, wie Protagoras, und jeder, der dasselbe, wie er behaupten will, uns vorwerfen würde.

Theaitetos. Wie doch, und was für Dinge meinst du?

Sokrates. Nimm nur ein kleines Beispiel, und du wirsi Al- les wissen, was ich meine. Sechs Bohnen, wenn du vier da- gegen hältst, werden mehr sein als die vier, nämlich noch ein halbes Mal soviel; wenn aber zwölf, dann weniger, nämlich die Hälfte, und man darf nicht einmal leiden, dass etwas anderes behauptet werde. Oder möchtest du es leiden?

Theaitetos. Keinesweges ich.

Sokrates. Wie nun, wenn dich Protagoras oder ein Anderer fragte, Ist es wol möglich, Theaitetos, dass etwas grösser oder mehr werde auf eine andere Weise, als dass es zugenommen hat? was wirst du antworten?

Theaitetos. Wenn ich, o Sokrates, was mir in Beziehung auf diese Frage allein richtig scheint, antworten soll, so werde ich sagen, es ist nicht möglich: wenn aber in Beziehung auf die vo- rige, so werde ich um mich zu hüten, dass ich nichts wider- sprechendes sage, wol antworten, es wäre gar wol möglich.

Sokrates. Sehr gut, Freund, bei der Here, und ganz göit- lich. Jedoch wie mir scheint, wenn du antwortest, es sei mög- lich, wird dir jenes aus dem Euripides begegnen, es wird uns die Zunge freilich unwiderlegt sein, die Seele aber nicht unwiderlegt.

Theaitetos. Ganz wahr.

Sokrates. Wenn wir also von den gewaltigen Weisen wären du und ich, die schon alles durchgeprüft haben in ihrem Gemüth, so würden wir von num an immer weiter nur zum Zeitvertreib einander versuchen und auf sophistische Art einen eben solchen Kampf beginnend jeder den Reden des Andern mit den seinigen ausweichen. Nun wir aber nur schlichte Menschen sind, werden wir doch zuerst die Sache an sich selbst Betrachten wollen, wie das wol beschaffen ist, was wir behaupten, ob es unter einander stimmi, oder vielleicht nichts weniger als das. |

Theaitelos. Auf jede Weise würde ich meines Theils dieses leztere wollen.

Sokrates. Auch ich gewiss. Da es sich nun so verhält, kön- nen wir anders als ganz gelassen in voller Musse die Sache wie-

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der von vorn untersuchen, ohne verdriesslich zu werden, sondern recht aufrichtig uns prüfend, was doch diese Erscheinungen uns eigentlich sind, von denen wir nun die erste untersuchen, und,155 wie ich wenigstens glaube, sagen werden, dass niemals irgend et- was weder mehr noch weniger werde, weder der Masse noch der Zahl nach, so lange, als es sich selbst gleich ist. Nicht so?

Theaitetos. Ja.

Sokrates. Zweitens auch wol, dass wem nichts zugesezi noch auch abgenommen wird, dieses niemals weder wachse noch schwinde, sondern immer gleich bleibe.

Theaitetos. Ganz offenbar.

Sokrates.. Nicht auch das dritte, nämlieh was vorher nicht war, dass dieses doch auch nachher unmöglich sein könne, ohne geworden zu sein und zu werden?

Theaitetos. So scheint es freilich.

Sokrates. Diese drei Behauptungen nun streiten, glaube ich, in unserer Seele mit einander, wenn wir jenes von den Bohnen aussagen, oder wenn wir behaupten, dass ich, der ich diese be- stimmte Grösse habe, ohne weder zu wachsen, noch das Gegen- theil:zu erleiden binnen Jahresfrist, jetzt zwar grösser bin, als du der:Jüngere, hernach aber kleiner, da doch ich von meiner Masse nichts verloren habe, sondern nur du an der deinigen gewonnen hast. Denn ich bin ja hernach, was ich vorher nicht war, ohne es geworden zu ‚sein. Denn ohne werden ist unmöglich geworden zu sein, und da ich nichts von meiner Masse eingebüsst habe, wurde ich ja niemals kleiner. ‚Und mit tausend und aber tausend Sachen verhält es sich eben so, wenn wir dieses wollen gelten lassen. Du kommst doch wol mit, Theaitetos? wenigstens scheinst du mir nicht unerfahren in diesen Dingen zu sein.

Theaitelos. Wahrlich bei den Göttern, Sokrates, ich wundere mich ungemein, wie doch dieses wol sein mag; ja bisweilen, wenn ich recht hineinsehe, schwindelt mir ordentlich.

Sokrates. Theodoros, du Lieber, urtheilt eben ganz richtig von deiner Natur. Denn gar sehr ist dies der Zustand eines Freundes der Weisheit, die Verwunderung; ja es giebt keinen an- dern Anfang der Philosophie als diesen, und wer gesagt hat, Iris sei die Tochter des Thaumas, scheint die Abstammung nicht übel getroffen zu haben. Aber hast du schon inne, wie diese Dinge, zufolge dessen was, wie wir sagen, Protagoras behauptet, sich dennoch wirklich so verhalten können, oder noch nicht?

Theaitetos. Noch nicht recht, glaube ichı.

10*

148 THEAITETOS.

Sokrates. So wirst du es mir wol Dank wissen, wenn ich dir von der Meinung dieses Mannes oder vielmehr vieler berühmter Männer den rechten verborgenen Sinn aufspüren helfe,

Theaitelos. Wie sollte ich dir das nicht Dank wissen, und zwar sehr vielen.

Sokrates. Sieh dich aber wol um, und habe Acht, dass uns nicht einer von den Ungeweihten zuhöre. Dies sind aber die, welche von nichts anderem glaubend, dass es sei, als von dem, was sie recht herzhaft mit beiden Hünden greifen können, das

156 Handeln und das Werden, und alles unsichtbare gar nicht mit unter dem, was ist, wollen gelten lassen,

Theaitetos. Das sind ja verstokkie und widerspenstige Men- schen, Sokrates, von denen du redest.

Sokrates. Jene freilich, Kind, sind sehr roh. Viel preiswür- diger aber sind diese, deren Geheimnisse ich dir jezt mittheilen will. Der Anfang aber, an welchem auch, was wir vorhin sagten, alles hängt, ist bei ihnen der, dass alles Bewegung ist, und anderes ausserdem nichts, von der Bewegung aber zwei Arten, beide der Zahl nach unendlich, deren eine ihr Wesen hat im Wirken, die andere im Leiden, und aus dem Begegnen und der Reibung dieser beiden gegen einander entstehen Erzeugnisse, der Anzahl nach auch unendliche, je zwei aber immer Zwillinge zugleich, das wahrnehmbare und die Wahrnehmung, die immer zugleich hervor- tritt und erzeugt wird mit dem wahrnehmbaren. Die .Wahrneh- mungen nun führen uns Namen wie diese, Gesicht, Gehör, Geruch, Erwärmung und Erkältung, auch Lust und Unlust werden sie ge- nannt, Begierde und Abscheu, und andere giebt es noch, unbe- nannte unzählbare, sehr viele auch noch -benannte. Die Arten des wahrnehmbaren aber sind je eine einer von jenen an- und mit- erzeugi, dem mancherlei Sehen die mancherlei Farben, dem Hören gleichermaassen die Töne, und so den übrigen Wahrnehmungen das übrige ihnen verwandte wahrnehmbare. Was besagt uns nun diese Erzählung, Theaitetos, in Beziehung auf das vorige? Merkst du es wol? κῶς, |

Theaitetos. Noch nicht ganz, Sokrates.

Sokrates. So sieh zu, ob wir es irgendwie hinausführen. Sie will nämlich sagen, dass 'alles dieses, wie wir auch sagten, sich bewegt. In dieser Bewegung aber findet sich Schnelligkeit und Langsamkeit. Soviel nun langsam ist, das hat seine Bewegung an demselben Ort und in Beziehung mit dem nahen, und erzeugt auf diese Weise. Das auf diese Weise erzeugte aber ist langsamer.

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| Was aber schnell, das hat seine Bewegung in Beziehung mit ent- fernterem und erzeugt so, und das so erzeugte ist schneller; denn es geht im Raume fort, und in diesem Fortgehn besteht die Natur seiner Bewegung. Wenn nun ein Auge und ein solches anderes ihm angemessenes zusammentreffen und die Röthe erzeu- gen nebst der ihr mitgeborenen Wahrnehmung, was beides nicht wäre erzeugt worden, wenn eines von jenen beiden auf ein anderes getroffen hätte: dann wird, indem beide sich bewegen, näinlich das Sehen auf Seiten der Augen, die Röthe aber auf Seiten des die Farbe miterzeugenden Gegenstandes, auf der einen Seite das Auge erfüllt mit der Gesichtswahrnehmung, und sieht alsdann, und ist geworden nicht eine Gesichtswahrnehmung sondern ein sehendes Auge; auf der andern Seite wird das die Farbe miterzeugende er- füllt mit der Röthe, und ist geworden auch wiederum nicht die Röthe, sondern ein rothes, sei es nun Holz oder Stein oder wel- chem Dinge sonst begegnet, mit dieser Farbe gefärbt zu sein. Eben so ist nun alles übrige, das harte und warme und alles an- dere auf dieselbe Art zu verstehen, dass es nämlich au und für sich nichts ist, wie wir auch vorher sagten, sondern dass in dem einander Begegnen alles allerlei wird vermöge der Bewegung. Denn157 auch, dass das wirkende etwas ist, und das leidende wiederum etwas, lässt sich an Einem nicht fest und sicher bemerken; denn weder ist etwas ein wirkendes, ehe es mit einem leidenden zu- sammentrifft, noch ein leidendes, ehe mit dem wirkenden; ja auch, was mit dem Einen zusammentrefend ein wirkendes wird, zeigt sich, wenn es auf ein Anderes fällt, als ein leidendes. So dass diesem Allen zufolge, wie wir von-Anfang an sagten, nichts an und für sich ein bestimmtes ist, sondern immer nur wird für ir- gend ein Anderes, das Sein aber überall ausgestossen werden muss, wiewol wir es auch jezt eben aus Gewohnheit und Ungeschikktheit gar oft und viel zu gebrauchen genöhiget waren, und man darf doch nach der Rede der Weisen weder das Etwas zugeben, noch das Wesen, noch Meins, noch Dieses noch Jenes, noch irgend eine andere Bezeichnwig die fest steht: sondern der Natur gemäss muss man nur reden von werdendem und gewirktem, vergehendem und verändertem; 850 dass, wenn Jemand etwas beharrlich sezt durch seine Rede, ein solcher sehr leicht zu Schanden zu machen ist. So muss man sowol von dem einzelnen reden, als auch von dem aus vielem zusammengefassten, durch welches Zusammenfassen man Mensch sagt und Stein und jegliches einzelne hier und seine

150 THEAITETOS.

Gattung. Ist dir dies nun lieblich, Theaitelos, und gefällt es dir dass du davon kosten möchtest?

Theaitetos. lch weiss nicht recht, Sokrates. Denn auch von dir kann ich nicht inne werden, ob du es sagst als deine Meinung, oder ob du mich nur versuchst.

Sokrates. Erinnerst du dich nicht mehr, Lieber, dass ich meines Theils dergleichen gar nicht weiss, auch nichts als das meinige vorbringe, sondern ganz und gar unfruchibar bin in der-

gleichen? Dir aber will ich Geburtshülfe leisten, und deshalb be- spreche ich dich und lege dir zu kosten vor von allerlei Weisheit, bis ich endlich auch deine Meinung mit ans Licht bringe. Ist sie aber ans Licht gebracht, dann wili ich auch gleich sehen, ob sie sich als ein Windei oder als eine gesunde Geburt zeigen wird. Also halte nur aus und sei gutes Muthes, und antworte dreist und tapfer, was dich dünkt über das, wonach ich eben frage.

Theaitetos. So frage denn.

Sokrates. Erkläre dich also noch einmal, ob es dir recht ist, dass gar nicht sein, sondern immer nur werden soll, gutes und schönes und alles, was wir eben durchgegangen sind?

Theaitetos. Freilich scheint mir, wenn ich dich die Sache so erörtern höre, alles ganz erstaunlich gegründet zu sein, und dass es so müsse gedacht werden, wie du es auseinander sezest.

Sokrates. So wollen wir denn auch das nicht zurükklassen, was noch übrig ist davon. Es ist aber noch übrig das von den Träumen und Krankheiten, besonders auch dem Wahnsinn, und was man nennt sich verhören oder sich versehen oder sonst eine Sinnentäuschung. Denn du weisst wol, dass es das Änsehn hat, als könne durch alle diese Fälle einstimmig der Saz widerlegt wer- den, den wir jezi eben durchgegangen sind, und als wären auf alle Weise unsere Wahrnehmungen falsch in diesen Fällen, und

158als fehlte viel daran, dass, was einem jeden erscheint, dasselbe auch sei, sondern ganz im Gegentheil, als sei nichts von dem was erscheint. en

Theaitetos. Vollkommen recht, o Sokrates. ς

Sokrates. Was für eine Ausrede, Jüngling, bleibt also dem noch übrig, welcher sagt, Wahrnehmung sei Erkenntniss, und was jedem erscheine, das sei auch so dem, welchem es erscheint?

Theaitetos. Es fehlt mir der Muth, Sokrates, zu gestehen, dass ich nicht weiss, was ich sagen soll, weil du mich nur vorhin gescholten, als ich dies sagte. Und doch wäre ich in der That nicht vermögend, zu bestreiten, dass die Wahnsinnigen oder die

THEAITETOS. 151

Träumenden nicht falsche Vorstellungen haben, wenn jene Götter zu sein glauben, diese aber geflügelt, und sich im Traume als fliegend vorkommen.

Sokrates. Merkst du auch nicht diesen Einwurf dagegen, be- sonders was Wachen und Schlafen betrifft?

Theaitetos. Welchen doch?

Sokrates. Den du, meine ich, oft gehört haben wirst, wenn man nämlich die Frage aufwirft, was für ein Kennzeichen Jemand wol angeben könnte, wenn einer fragte, jezt gleich gegenwärtig, ob wir nicht schlafen, und Alles was wir vorstellen nur träumen, oder ob wir wachen und wachend uns unterreden?

Theaitetos. Und wahrlich, Sokrates, es ist sehr schwierig, durch was für ein Kennzeichen man es beweisen soll. Denn es folgt ganz genau auf beiden Seiten dasselbe. Denn. was wir. jezt ge- sprochen haben, das können wir eben so gut im Traume zu spre- chen glauben; und wenn wir im Traume über eiwas zu sprechen meinen, so ist ganz wunderbar, wie ähnlich dies jenem ist.

Sokrates. Du siehst also, dass das Bestreiten nicht schwer ist, wenn sogar darüber gestritten werden kann, was Schlaf δ᾽ und was Wachen. Und da die Zeit des Schlafens der des Wachens ziemlich gleich ist, und die Seele in jedem von diesen Zuständen behauptet, dass die ihr jedesmal gegenwärtigen Vorstellungen auf alle Weise wahr sind: so behaupten wir eine gleiche Zeit hindurch, einmal, dass das eine, dann wieder eben so, dass das andere wirklich ist, und beharren beidemal gleich fest auf unserer Meinung.

Theaitetos. Allerdings.

Sokrates. Verhält es sich nun nicht mit Krankheiten und mit dem Wahnsinn eben so, bis auf die Zeit, dass die nicht gleich ist?

Theaitetos. Ganz richtig.

Sokrates. Und wie? soll das wahre aus der Länge und Kürze der Zeit bestimmt werden?

Theaitetos. Lächerlich wäre das ja auf vielerlei Weise!

Sokrates. Hast du aber etwas anderes sicheres, woran du zeigen kannst, welche von diesen Vorstellungen die wahren sind?

Theaitetos. Mich dünkt nicht.

Sokrates. So höre denn von mir, was diejenigen darüber sagen würden, welche behaupten, was jeder vorstellt, sei dem der es vorstellt auch wahr. Sie werden aber, wie ich glaube, uns so befragen. Was ganz und gar von einem andern verschieden ist, o Theaitetos, kann das wol irgend einerlei Vermögen mit jenem haben? und dass wir also ja nicht annehmen, dass das, wovon

152 THEAITETOS.

die Frage ist, in einer Hinsicht doch einerlei ist mit jenem, und nur in einer andern verschieden, sondern nur, dass es ganz ver- schieden ist.

Theaitetos. Es ist ja unmöglich, dass eines mit einem an- dern einerlei, sei es nun Vermögen oder sonst etwas habe, wenn es ganz und gar davon verschieden ist.

159 Sokrates. Muss man nicht auch zugeben, dass ein solches nothwendig unähnlich ist?

Theaitetos. Mir scheint es wenigstens.

Sokrates. Wenn sich also ereignet, dass etwas einem ähnlich wird oder unähnlich, es sei nun sich selbsi oder einem andern, werden wir nicht, wenn es ähnlich wird, sagen, dass es einerlei, wenn aber unähnlich, dass es verschieden wird?

Theaitetos. Notnwendig.

Sokrates. Haben wir nun nicht vorher gesagt, dass es vieler- lei und unzähliges wirkende gebe, und leidendes auch?

Theaitetos. Das haben wir.

Sokrates. Und auch, dass eins mit einem andern und dann wieder mit einem andern sich vermischend nicht beidemal einerlei sondern verschiedenes erzeugen wird?

Theaitetos. Allerdings.

Sokrates. So lass uns denn von dir und mir und allem auf dieselbe Weise sagen, der kranke Sokrates und der gesunde So- krates, sollen wir dies jerem ähnlich nennen oder unähnlich?

Theaitetos. Meinst du dieses Ganze, den kranken Sokrates, jenem Ganzen, dem gesunden Sokrates?

Sokrates. Ganz recht hast du verstanden, so meine ich es,

Theaitetos. Unähnlich dann.

Sokrates. Auch verschieden etwa auf eben die Art wie un- ähnlich? |

Theaiteios. Nothwendig.

Sokrates. Auch von dem schlafenden also, und was wir sonst jezt angeführt haben, wirst du das RIND Fan een

Theaitetos. Ich gewiss.

Sokrates. Wird also nicht jedes seiner Natur nach etwas wirkende, wenn es den gesunden Sokrates trifft, mit einem ver- sohlaiieiinie zu thun haben, und wenn den kranken, wieder mit einem verschiedenen?

Theaitetes. Wie sollte es nicht!

Sokrates. Und verschiedenes werden wir also in beiden Fäl- len zusammen erzeugen, ich der Leidende und jenes das wirkende?

1 j

_ THEAITETOS. 4153

Theaitetos. Wie sonst?

Sokrates. Wenn nun ich der Gesunde Wein trinke: so er- scheint er mir lieblich und süss?

Theaitetos. O ja.

Sokrates. Es haben nämlich alsdann nach dem zuvor einge- räumten das wirkende und das leidende erzeugt, die Süssigkeit und die Wahrnehmung, beide zugleich schwebend. Und zwar hat die Wahrnehmung, welche auf der Seite des Leidenden ist, seine

Zunge wahrnehmend gemacht, die Süssigkeit aber, welche auf der

Seite des Weines um ihn schwebt, hat den Wein für die gesunde Zunge süss zu sein und zu scheinen: gemacht.

Theaitetos. So waren wir allerdings vorher übereingekommen.

Sokrates. Wenn er aber den Kranken trifft, hat er dann nicht zuerst der Wahrheit nach nicht denselben getroffen, da er zu einem dem vorigen unähnlichen gekommen ist?

Theaitetos. Ja. |

Sokrates. Verschiedenes also erzeugen wiederum ein solcher Sokrates und das Trinken des Weines. An der Zunge nämlich die Wahrnehmung der Bitterkeit, an dem Wein aber die werdende und schwebende Bitterkeit, und machen diesen nicht zur Bitterkeit, sondern zu einem bitiern, mich aber nicht zur Wahrnehmung, sondern zu einem Wahrnehmenden.

Theaitetos. Ganz ofienbar.

Sokrates. Also werde sowol ich nichts anderes jemals wer- den, so lange ich so wahrnehme, denn nur eine andere Wahrneh-

mung von etwas anderm macht den Wahrnehmenden zu einem 160

veränderten und andern, ais auch jenes, das auf mich wirkende, wird niemals, sobald es mit einen andern zusammentrifit, dasselbige erzeugend, ein eben solches werden. Denn mit anderm muss es anderes erzeugend ein verändertes werden.

Theaitetos. So ist es.

Sokrates. Eben so wenig aber werde ich für mich selbst ein solcher, noch jenes für sich selbst ein solches werden.

Theaitetos. Natürlich nieht.

Sokrates. Nothwendig also muss sowol ich, wenn ich ein Wabrnehmender werde, es von etwas werden, denn ein Wahrneh- mender zwar aber ein nichts Wahrnehmender zu werden, das ist unmöglich; als auch jenes muss, wenn es süss oder bitter oder etwas dergleichen wird, es nothwendig für einen werden. Denn süss, aber Niemanden süss zu sein, ist unmöglich.

Theaitetos. Allerdings muss es 80 sein.

154 THEAITETOS.

Sokrates. Es bleibt also, glaube ich, übrig, dass wir für ein- ander etwas sind oder werden, je nachdem man nun sein oder werden sagen will, da unser Sein zwar die Nothwendigkeit ver- knüpft, aber weder mit irgend einem andern noch mit uns selbst. Also bleibt übrig, dass es für uns unter einander verknüpft sei. So dass, mag es nun Jemand Sein nennen, er sagen muss, es.sei für etwas oder von etwas, oder in Beziehung auf etwas; oder nenne er es Werden, dann eben so. Dass aber etwas an und für sich etwas gleichviel ob sei oder werde, das darf er weder selbst behaupten, noch wenn ein Anderer dies behauptet es’ annehmen, wie die Rede, welche wir durchgegangen sind, zeigt.

Theaitetos. So ist es: allerdings, Sokrates. - |

Sokrates. Nicht wahr also, wenn das mich zu etwas machende für mich ist, und nicht für einen Anderen: so nehme auch nur ich es wahr, ein Anderer aber nicht?

Theaitetos. Wie anders?

‚Sokrates. Wahr also ist mir meine Wahrnehmung, denn sie ist die meines jedesmaligen Seins. Ich also bin der Richter, nach dem Protagoras, dessen sowol was mir ist wie es ist, als dessen was mir nicht ist wie es nicht ist.

Theaitetos. So scheint es.

Sokrates. Wie also sollte ich, da ich untrüglich Bin und nie fehle, in meiner Vorstellung von dem was ist oder wird, menge nicht auch erkennen, was ich wahrnehme.

Theaitetos. Es lässt sich auf keine Weise anders denken.

Sokrates. Vortrefflich also hast du gesprochen, dass die Er- kenntniss nichts anderes ist als Wahrnehmung; und es fällt in Eines zusammen, dass nach dem Homeros, Herakleitos und ihrem ganzen Stamm Alles sich wie Ströme bewegt, dass nach dem Pro- tagoras, dem sehr weisen, der Mensch das Maass aller Dinge ist, und dass nach dem Theaitetos, wenn dieses sich so verhält, die Wahrnehmung Erkenntniss wird. Nicht wahr, o Theaitetos? wir sagen doch, dass dies Kindlein dein BRINGEN ist, und von mir geholt? oder wie meinst du?

Theaitetos. Nothwendig so, Sokrates.

Sokrates. Dieses haben. wir recht mit Mühe endlich geboren, was es auch nun eigentlich sein mag. Nach der Geburt aber müssen wir nun das wahre Umtragen im Kreise damit vornehmen, indem wir durch weitere Untersuchung erforschen, ob nieht das geborene, vielleicht ohne dass wir es wussten, nicht werth ist auf-

161erzogen zu werden, sondern ein leeres Windei. Oder glaubst du,

᾿ ᾿

THEAITETOS. | 155

dein Kind müsse man auf alle Fälle .auferziehen und nie aussezen?

Oder wirst du es doch ertragen, wenn du siehst, dass es die Prü-

fung nicht besteht, und nicht allzuverdriesslich werden, wenn es _ dir Jemand, ohnerachtet es deine erste Geburt ist, wegnimmt?

Theodoros. Er wird es ertragen, unser Theaitetos, o Sokrates, denn er ist gar nicht hartnäkkig. Also, bei den Göttern, sage, ob es sich nun wieder nicht so verhält.

Sokrates. Offenbar hast du grossen Wohlgefallen an solchen Reden, Theodoros, und bist sehr gut, dass du glaubst, ich wäre gleichsam ein Schazkasten von Behauptungen, und dürfte, ohne Mühe nur eine herausnehmend sagen, dass sich dies wiederum nicht so verhielte. Wie es aber wirklich damit..zugeht, merkst du nicht, dass nämlich keine dieser Behauptungen von mir ausgeht, sondern immer von dem, der sich mit mir unterredet; ich aber weiter nichts weiss als nur dieses wenige, nämlich die Rede eines anderen Weiseren aufzufassen und gehörig zu behandeln. Und so will ich es auch jezt mit diesem versuchen, nicht aber selbst etwas sagen.

Theodoros. Gut berichtiget,*Sokrates, und thue nur 50.

Sokrates. Weisst du also, Theodoros, was mich wundert von deinem Freunde Protagoras?

Theodoros. Was doch?

Sokrates. Das übrige hat mir alles sehr wol gefallen, was er sagt, dass was jedem scheint für ihn auch ist, nur über den Anfang seiner Rede wundere ich mich, dass er nicht gleich seine Wahrheit so beginnt, das Maass aller Dinge sei das Schwein oder der Affe, oder was man noch unter allem was Wahrnehmung hat unvernünftigeres nennen könnte, damit er recht hochsinnig und herabwürdigend begönne zu uns zu reden, indem er zeigte, dass wir zwar ihn bewunderten als einen Gott seiner Weisheit wegen, er aber doch nichts besser wäre an Einsicht als ein halbwachsener Frosch, geschweige denn als irgend ein Anderer unter den Men- schen. Oder was wollen wir sagen, Theodoros? Denn wenn einem jeden wahr sein soll, was er mittelst der Wahrnehmung vorstellt, und weder Einer den Zustand des Andern besser beurtheilen kann, noch auch die Vorstellung des Einen der Andere vermögender ist in Erwägung zu ziehen, ob sie wahr oder falsch ist; sondern, wie schon oft gesagt ist, jeder nur sein eignes für sich vorstellt, und dieses alles richtig und wahr ist: wie soll denn wol, o Freund, nur Protagoras weise sein, so dass er mit Recht auch von Andern zum Lehrer angenommen wird, und das um grossen Lohn; wir

156 THEAITETOS,

dagegen unwissender, so dass wir bei ihm in die Schule gehn müssen, da doch jeder Mensch das Maass seiner eignen Weisheit ist? und wie sollen wir nicht glauben, dass Protagoras dies bloss im Scherz vorbringt? Was nun gar mich betrifft und meine Kunst der Geburtshülfe: so schweige ich ganz davon, welches Gelächter wir billig erregen. Ich glaube aber, es wird auch dasselbige sein mit dem ganzen Geschäft des wissenschaftlichen Unterredens. Denn gegenseitig Einer des Andern Vorstellungen und Meinungen in Be- trachtung ziehen, und zu widerlegen suchen, wenn sie doch alle richtig sind, ist das nicht eine langweilige und überlaute Kinderei, wenn anders die Wahrheit des Protagoras wirklich wahr ist, und nicht nur scherzend aus dem verborgenen Heiligthum des Buches 162 herausgeredet hai.

Theodoros. Der Mann, o Sokrates, ist mein Freund, wie du oben sagtest. Darum möchte ich weder, dass Protagoras durch meine Eingeständnisse widerlegt würde, noch auch möchte ich dir gegen meine eigene Meinung zuwider sein. Deshalb nimm dir nur wieder den Theaitetos vor; schien er dir doch auch vorher sehr aufmerksam zu folgen.

Sokrates. Würdest du denn auch, wenn du nach Lakedämon kämest, Theodoros, zu den Fechtschulen, und dort die Andern entblösst sähest, Einige darunter überdies gar nicht vorzügliche Leute, dennoch lieber dich nicht neben ihnen auskleiden und ihnen deine Gestalt zeigen?

Theodoros. Warum meinst du, dass ich das nicht allerdings vorziehn würde, wenn sie es mir nur vergönnten und sich über- reden liessen? Se wie ich jezt euch zu überreden hoffe, mich zu- schauen zu !assen, und mich, der ich schon ungelenker bin, nicht in den Uebungsplaz hineinzuziehen, sondern lieber mit einem jün- geren und vollsaftigern zu ringen.

Sokrates. Wenn es dir so recht ist, Theodoros, ist es mir auch nicht zuwider, wie man zu sagen pflegt. So muss ich denn wieder zu dem weisen Theaitetos gehn. u:

Sage also, Theaitetos, zuerst was wir jezi eben durchgegangen sind, ob du dich nicht ebenfalls verwunderst, dass sich auf einmal zeigt, du seist nichts schlechter in der Weisheit als einer unter den Menschen oder auch unter den Göttern? Oder glaubst du, dass das Maass des Protagoras weniger von den Göttern gilt, als von den Menschen?

Theaitetos. Beim Zeus keinesweges, und was du jezt fragst, verwundert mich freilich sehr. Denn als wir vorher erörterten,

THEAITETOS. 157

weshall sie wol sagten, was jedem erscheine, das sei auch für den dem es erscheine, fand ich, dass dieses vortreffliich gesagt wäre, nun aber ganz im Gegentheil ist es schnell umgeschlagen.

Sokrates. Du bist eben jung, lieber Sohn, deshalb achtest du schneller auf verfängliche Reden, und giebst ihnen Eingang. Denn Protagoras oder ein Anderer für ihn würde hierauf sagen, Ihr trefflichen Knaben und Greise sizt hier zusammen und führt verfängliche Reden, indem ihr die Götter mit hineinzieht in die Sache, welche ich gänzlich bei Seite seze im Reden sowol als im Schreiben, ob sie sind oder nicht sind, und was auf den grossen Haufen Eindrukk machen würde, wenn er es hörte, dergleichen redet ihr, als wäre es nun etwas schrekkliches, wenn jeder Mensch um gar nichts besser wäre in der Weisheit, als irgend ein Thier. Beweise aber und nothwendige Schlussfolgen führt ihr gar nicht eine einzige an, sondern begnügt euch mit dem scheinbaren, welches doch weder Theodoros noch irgend ein anderer Mess- künstler bei seiner Messkunst anwenden würde, oder er wäre auch gar nichts werih. So überleget nun, du und Theodoros, ob ihr in so wichtigen Dingen solchen Reden Beifall geben wollt, die nur aus Ueberredungskünsten und Wahrscheinlichkeiten zusammen- gesezt sind.

Theaitetos. Dass dieses billig wäre, Sokrates, würdest weder163

du noch auch wir sagen wollen.

Sokrates. Auf eine andere Weise also, wie es scheint, müs- sen wir die Sache betrachten, wie du behauptest und Theodoros.

Theaitetos. Allerdings auf eine andere.

Sokrates. Lasst uns denn auf diese Weise sehen, ob wol Erkenntniss und Wahrnehmung einerlei ist oder verschieden. Denn darauf ging doch unsere ganze Rede aus, und deshalb haben wir so vielerlei Wunderliches aufgeführt. Nicht wahr?

Theaitetos. Allerdings.

Sokrates. Sollen wir also eingestehen, was wir durch Sehen wahrnehmen oder durch Hören, dass wir alles dieses auch zugleich verstehen? Zum Beispiel, Ausländer, deren Sprache wir noch nicht gelernt haben, sollen wir läugnen, dass wir die hören, wenn sie darin sprechen? oder sollen wir sagen, dass wir sie nicht nur hören, sondern auch das verstehen was sie sagen? Eben so, wenn wir Buchstaben noch nicht kennen, ‘doch aber unsere Augen auf sie richten: sollen wir behaupten, dass wir sie nicht sehen, oder dass wir sie auch verstehen, wenn wir sie doch sehen?

Theaitetos. Dasselbige an ihnen, Sokrates, was wir schen

158 THEAITETOS.

und hören, werden wir auch zu verstehen behaupten, dass wir nämlich von lezteren die Gestalt und Farbe sehen und auch er- kennen, von jenen aber die Höhe und Tiefe hören und auch wis- sen; dass wir aber was von beiden die Sprachlehrer und Dolmet- scher lehren, weder wahrnehmen durch das Sehen und Hören, noch also auch verstehen.

Sokrates. Vortrefflich, Theaitetos! und es wäre nicht recht, dir dieses zu bestreiten, damit dir auch der Muth wachse. Aber betrachte auch dieses andere, welches herbeikommt, und sieh zw, wie wir es uns abwehren wollen.

Theaitetos. Was denn?

Sokrates. Dieses, wenn Jemand fragte, ob es wol möglich wäre, dass eiuer etwas, wovon er einmal Erkenntniss erlangt, und wovon er die Erinnerung noch unverloren bei sich bewahrt, dann wann er sich erinnert, eben das doch nicht erkennte, dessen er sich erinnert. Ich bin aber, wie ich merke, sehr weitläuftig, da ich doch nur fragen wollte, ob Jemand, was er erfahren, indem er sich dessen erinnert, doch nicht weiss.

Theaitetos. Und auf welche Weise, Sokrates? Dies wäre ja ein Wunder, was du da sagst.

Sokrates. Bin ich denn etwa irre? Sieh doch zu! Sagst du nicht, das Selen sei ein Wahrnehmen und jeder Anblikk eine Wahrnehmung?

Theaitetos. So sage ich.

Sokrates. Wer nur etwas gesehn hat, der hat eine Erkennt- niss bekommen von dem was er gesehen hat nach unserm jezi- gen Saz?

Theaitetos. Ja.

Sokrates. Wie weiter? Giebst du nicht doch auch eine Er- innerung zu?

Theaitetos. O ja.

Sokrates. An nichts oder an etwas?

Theaitetos. An etwas, versteht sich.

Sokrates. Wol, was einer erfahren und wahrgenommen hat, an etwas davon? ar,

Theaitetos. Woran sonst? |

Sokrates. Und was Jemand gesehen hat, dessen erinnert er sich doch bisweilen ?

Theaitetos. Gewiss erinnert er sich.

Sokrates. Auch indem er die Augen verschliesst? oder hat er es, sobald er dies thut,. vergessen?

THEAITETOS. 159

Theaitetos. Das wäre ja arg, o Sokrates, das zu behaupten,

Sokrates. Und doch müssen wir es, .wenn wir nämlich den 16% vorigen Saz retten wollen; wo nicht, so ist es vorbei mit ihm.

Theaitelos. Auch ich, beim Zeus, merke so etwas, noch be- greife ich es aber nicht ganz genau. Sage mir also wie?

Sokrates. So. Wer sieht, sagen wir, hat Erkenntniss bekom- men davon, was er sieht. Denn Gesicht und Wahrnehmung und Erkenntniss haben wir zugegeben ist einerlei.

Theaitetos. Nun ja.

Sokrates. Wer nun gesehn und Erkenntniss. dessen was er sah bekommen hat, erinnert sich dessen zwar, wenn er auch die Augen verschliesst, sieht es aber dann nicht. Nicht. so?

Theaitetos. Ganz recht. |

Sokrates. Dies Er sieht nicht, heisst. aber soviel als Er er- kennt nicht, wenn doch Er sieht eben soviel ist als Er erkennt.

Theaitetos.: Das ist. richtig.

Sokrates. Es folgt also, dass Jemand das, wovon er Erkennt- niss bekommen hat, indem er sich dessen erinnert, doch. nicht er- kennt, weil er es nicht sieht, eben das, wovon wir gesagt haben, es würde ein Wunder sein, wenn es geschähe,

Theaitetos. Vollkommen recht.

Sokrates. Etwas unmögliches scheint also zu erfolgen, wenn Jemand sagt, Erkenniniss und Wahrnehmung sei dasselbe.

Theaitetos. So scheint es.

Sokrates. Man muss also sagen, jedes von beiden sei ein anderes.

Theaitetos. So wird es sein müssen.

Sokrates. Was ist also wol die Erkenntniss? wir müssen es wie es scheint noch einmal von vorne an erklären.

Allein Theaitetos, was sind wir doch im Begriff zu thun?

Theaitetos. Wie so?

Sokrates. Es kommt mir vor, als ob wir nach Art eines schlechten Hahns, ehe wir noch gesiegt haben, und von der Sache abspringend unser ‚Siegsgeschrei anstimmten.

Theaitetos. Wie so denn?

Sokrates. Gerade als ob es uns nur um des Widerspruchs halber wäre, scheinen wir bloss den Worten nachgehend unsere Gegenbehauptung aufgestellt zu haben, und indem wir durch sol- che Mittel den Saz überwunden ganz zufrieden zu sein; und da wir doch behaupten keine Kunstfechter zu sein, sondern Weisheits-

1

160 THEAITETOS.

freunde, thun wir dennoch unvermerkt gerade dasselbe wie jene gewaltigen Männer.

Theaitetos. Ich verstehe noch immer nicht wie du es meinst.

Sokrates. So will ich denn versuehen, dir deutlich zu ma- chen, was ich doch von der Sache merke. Wir fragten, ob wol, wenn Jemand etwas eriahren hai, und sich dessen erinnert, er es doch nicht erkenne; und nachdem wir gezeigt hatten, dass wer etwas gesehen hat und dann die Augen verschliesst, sich nun des- sen erinnert, es aber nicht mehr sieht, zeigten wir, dass er sich erinnere, aber nicht mehr erkenne; dieses aber sei unmöglich, und so ging die Sache verloren, die Protagoreische sowol als auch zugleich die deinige von Erkenniniss und Wahrnehmung, dass bei- des einerlei ist.

Theaitetos. Offenbar.

Sokrates. Wäre aber, glaube ich, nicht verloren gegangen, Lieber, wenn nur der Vater der andern Lehre noch lebte, sondern dieser würde ihr noch auf vielerlei Art zu Hülfe gekommen sein. Nun aber, da sie verwaiset ist, misshandeln wir sie, zumal auch nicht einmal die Vormünder, welchen Protagoras sie übergeben hat, ihr zu Hülfe kommen wollen, von denen auch Theodoros hier einer ist. Sondern es scheint, wir selbst werden ihr der Billig- keit wegen beistehen müssen.

Theodoros. Nicht ich, Sokrates, sondern vielmehr Kallias, der Sohn des Hipponikos, ist Vormund für seine Angelegenheiten. Ich aber habe mich ziemlich bald aus dem blossen Denken in die

165 Messkunst gerettet. Dennoch aber werde ich es dir Dank wissen,

wenn du ihm beistehst.

Sokrates. Woi gesprochen, Theodoros. So betrachte nun meine Hülfleistung. Nämlich es muss Jemand noch viel gewalti- gere Dinge zugestehen als die vorigen, wenn er nicht genau auf die Worte Acht hat, so wie wir gewöhnlich pflegen zu bejahen oder zu verneinen. Soll ich dir sagen Wie, oder dem Theaitetos?

Theodoros. Beiden gemeinschaftlich, Sokrates. Antworten aber mag dir der jüngere; denn wenn er fehlt,‘ wird es ihm weniger übel stehn. Ε

Sokrates. So will ich denn gleich die gewaltigste Frage vor- bringen. Das ist aber, glaube ich, eine solche: Ist es wol mög- lich, dass derselbe Mensch, der etwas weiss, das was er weiss zugleich auch nicht wisse?

Theodoros. Was wollen wir hierauf antworten, Theaitetos?

Theaitetos. Ich meines Theils halte es für unmöglich.

THEAITETOS. 161

Sokrates. Keinesweges, wenn du nämlich sagst, das. Sehen sei Erkennen. Denn was wilist du mit der verfänglichen Frage machen, wenn du einmal, wie man sagt, in die Falle gegangen bist, und ein zudringlichker Mensch dir mit der Hand das eine Auge zuhält, und dich fragt, ob du mit dem zugehaltenen den Mantel sähest?

Theaitetos. Ich werde sagnn, mit diesem zwar nicht, wol aber mit dem andern.

Sokrates. Also siehst du doch zu gleicher Zeit dasselbe, und siehst es auch nicht,

Theaitetos. Auf gewisse Weise wol.

Sokrates. Ich begehre ja gar nichts, sagt er alsdann, von der Art und Weise, habe auch darnach gar nicht gefragt, sondern nur, ob was du erkennst, du dieses auch nicht erkennst? Nun aber zeigt sich, dass du siehst, was du auch nicht siehst, Und eingestanden hast du vorher, das Sehen sei Erkennen, und das Niehtsehen Nichterkennen. So berechne nun selbst, was dir hier- aus entsteht.

Theaitetos. lch berechne schon, das Gegentheil dessen was ich vorausgesezt.

Sokrates. Wahrscheinlich, du Wunderbarer, würde dir noch mehr dergleichen begegnen, wenn dich Jemand noch ausserdem fragte, ob man wol auch könne scharf erkennen und auch stumpf, oder von nahebei zwar erkennen, von weitem aber nicht, und eben so laut und leise, und tausend dergleichen, was ein leicht- bewaffineter Mann, ein Söldner in Reden in den Hinterhalt legen, und wenn du Erkenntniss und Wahrnehmung als dasselbe gesezt hast, auf das Hören und Riechen und diese Arten von Wahrneh- mungen losgehend dich widerlegen würde, nicht nachlassend son- dern immer eindringend, bis du in Bewunderung seiner verwünsch- ten Weisheit ganz versirikkt würdest, wodurch er dich in seine Gewalt und Gewahrsam bekäme, und dieh dann loslassen würde nur für soviel Geld, als du mit ihm übereinkommen könntest. Was für eine hülfreiche Rede würde also wol, fragst du vielleicht, Protagoras für seine Lehre herbeibringen? Sollen wir nicht ver- suchen, sie vorzutragen?

Theaitetos. Auf alle Weise,

Sokrates. Dieses alles nämlich, was wir jezt um ihm beizu- stehen sagten, und er würde, glaube ich, ziemlich verächtlich ge- rade auf uns eingehn und sprechen, Dieser ehrliche Sokrates, weil166 ein Knäblein sich erschrokken hat, als es gefragt ward, ob wol

Plat. W, II. Th, I. Ba, 11

162 THEAITETOS.

derselbe Mensch derselben Sache sich erinnern und sie doch nicht erkennen könnte, und vor Schrekk es geläugnet, weil es eben nicht vor sich sehen konnte, hat er einen. Mann wie mich her- nach zum Gelächter gemacht in seinen Reden. Die Sache aber, du muthwilligster Sokrates, verhält sich so. Wenn du etwas von dem meinigen durch Fragen untersuchst, und der Gefragte wird, indem er das antwortet was ich. selbst geantwortet hätte, des Irr- thums überführt; “dann werde ich freilich auch überführt. Ant- wortet er aber etwas anderes, dann geschieht es auch ihm dem Gefragten allein. So, um nur bei dem nächsten anzufangen, glaubst du denn, Jemand werde dir zugeben, dass einem die Erinnerung an etwas was ihm begegnete einwohnt als ein eben solcher Zu- stand, wie der, da es ihm begegnete, wiewol es ihm nun nicht inehr begegnet? Weit gefehlt. Oder dass Jemand Bedenken tra- gen werde zu gestehen, es sei möglich, dass derselbe dasselbe wisse und auch nicht wisse? Oder wenn er auch dieses fürchten sollte, dass er jemals zugeben werde, der Veränderte sei noch derselbe, als ehe er verändert ward? Oder vielmehr, es sei i#ber- haupt Jemand Der und nicht vielmehr Die und zwar unzählig viele Werdende, so lange es noch Verunähnlichung giebt, wenn man sich doch hüten soll, dass nicht Einer auf die Worte des Andern Jagd mache. Vielmehr, du Leichtsinniger, würde er sagen, gehe doch tapferer auf das los, was ich eigentlich behaupte, wenn du nämlich, kannst, und widerlege dieses, dass nicht jedem von uns eigenthümliche Wahrnehmungen entstehen, oder dass wenn auch dieses sei, darum doch nicht das erscheinende für jenen allein werde, oder wenn man Sein sagen soll, sei, dem es erscheint. Sprichst du aber von Schweinen und Affen, so beträgst du dich nicht nur selbst als ein Schwein, sondern überredest auch die, welche dir zuhören, sich eben so gegen meine Schrift zu betra- gen, woran du nicht schön handelst. Denn ich behaupte zwar, dass sich die Wahrheit so verhalte, wie ich geschrieben habe, dass nämlich ein jeder von uns das Maass dessen sei,, was ist und was nicht, dass aber dennoch der Eine unendlich viel besser sei als der Andere, eben deshalb weil dem Einen dieses ist und erscheint, dem Andern etwas anderes. Und weit entfernt bin ich, zu be- haupten, dass es keine Weisheit und keinen Weisen gebe; son- dern eben den nenne ich gerade weise, welcher, wem unter uns übles ist und erscheint, die Umwandlung bewirken kann, dass ihm gutes erscheine und sei. Diese Rede aber greife mir nicht wieder bloss bei dem Worte, sondern vernimm erst folgender-

THEAITETOS. 169

maassen noch deutlicher was ich meine. Erinnere dieh nämlich nur, was zum Beispiel in dem vorigen gesagt wurde, dass dem Kranken bitter scheint und ist, was er geniesst, dem Gesunden aber ist und scheint es das Gegentheil. Weiser nun soll man frei- lich keinen von beiden machen, es ist auch nicht möglich; auch darf man nicht klagen, der Kranke sei unversiändig, weil er dies167 so vorstellt, der Gesunde aber weise, weil anders; wol aber muss man jenem eine Umwandlung bewirken auf die andere Seite, denn die andere Beschaffenheit ist die bessere. Eben so ist auch in Sachen des Unterrichts von einer Beschafienheit eine Umwandlung zu bewirken zur andern. Der Arzt nun bewirkt seine Umwand- lung durch Arzeneien, der Sophist aber durch Reden. Und nie- mals hat Einer Einen, der falsches vorstellte, dahin gebracht, her- nach wahres vorzustellen. Denn es ist weder möglich, das was nicht ist vorzustellen, noch überhaupt anderes, als in jedem er- zeugt wird; dieses aber ist immer wahr. Sondern nur demjeni- gen, der, vermöge einer schlechteren Beschaffenheit seiner Seele, auch auf eine ihr verwandte Art vorstellt, kann eine bessere be- wirken, dass er anderes und solche Erscheinungen vorstelle, wel- che dann Einige aus Unkunde das wahre nennen, ich aber nenne nur einiges besser als anderes, wahrer hingegen nenne ich nichts. Und unter den ‚Weisen, lieber Sokrates, die Frösche zu meinen bin ich weit entfernt, sondern in Beziehung auf tbierische Leiber verstehe ich darunter die Aerzte, in Beziehung auf Gewächse die Landleute. Denn ich glaube, dass auch diese den Pflanzen anstatt sehlechter Wahrnehmungen, wenn sie etwa krank sind, heilsame und gesunde Wahrnehmungen und Wahrheiten beibringen, so wie weise und gute Redner wiederum machen, dass den Staaten an- statt des verderblichen das heilsame. gerecht erscheint und ist. Denn was jedem Staate schön und gerecht erscheint, das ist es ihm ja auch, so lange er es dafür erklärt; der Weise aber macht, dass anstatt des bisherigen verderblichen ihnen nun heilsames so erscheint und ist. Auf eben diese Art nun ist auch der Sophist, der diejenigen, welche sich unterrichten lassen, so zu erziehen versteht, allerdings weise und würdig grosse Belohnungen von den Unterrichteten zu empfangen. Und so gilt beides, dass Einige weiser sind als Andere, und dass doch keiner falsches vorstellt, und auch du, magst du nun wollen oder nicht, dir musst gefallen lassen, ein Maass zu sein. Denn hiedurch wird diese Lehre auf- recht erhalten, gegen welche du nun einwenden magst, wenn du aufs neue etwas einzuwenden hast, so dass du in einer Rede das 419

164 THEAITETOS,

Gegentheil durchführst, oder willst du es lieber durch Fragen, auch so. Denn auch das muss der Verständige nicht scheuen, sondern auf alle Weise angreifen. Nur dieses beobachte, betrüge nicht im Fragen. Es ist ja auch die grösste. Unvernunft, wenn einer sagt, es sei ihm nur an der Tugend gelegen, und sich dann doch nicht anders als betrügerisch in seinen Reden beweiset. Be- trügen aber heisst in dieser Sache, wenn Jemand nicht dieses bei- des gänzlich von einander trennt, und anders wenn er nur sirei-. ten will, seine Unterredungen einrichtet, anders aber wieder wenn er untersuchen will, und im ersten Falle zwar immerhin scherzt und überlistet so viel er kann, bei der ordentlichen Untersuchung dagegen ernsthaft ist, und den mit ihm untersuchenden zurecht- weiset, nur diejenigen Fehler ihnı aufzeigend, zu denen er durch 168sich selbst und durch die mit denen er früher umging ist ver-

leitet worden. Wenn du es nun so machst, werden diejenigen, welche sich mit dir unterbalten, sich selbst die Schuld beimessen von ihrer Verwirrung und Ungewissheit, nicht aber dir, und wer- den dir nachgehen und dich lieben, sich selbst aber hassen, und von sich entfliehen in die Philosophie, damit sie Andere werden und nicht länger die bleiben, die sie vorher waren. Wofern du aber, wie die Meisten, das Gegentheil hievon thust: so wirst du auch das Gegentheil erfahren, und die, welche mit dir umgehn, ‚anstatt zu Philosophen vielmehr zu Feinden dieser Sache machen, wenn sie werden älter geworden sein. Wenn du mir aber folgst: so wirst du nicht etwa feindselig oder streitsüchtig, sondern mit gelassenem Gemüth eingehend wirklich untersuchen, wie wir es nur meinen, wenn wir behaupten, dass sich alles bewegt, und dass, was ein jeder vorstellt, für ihn auch ist, den Einzelnen sowol als den Staat. Und hieraus kannst du hernach weiter folgern, ob Er- kenntniss und Wahrnehmung einerlei ist oder verschieden, nicht aber wie vorher bioss aus dem gewohnten Gebrauch der Worte und Bezeichnungen, welche die Leute, wie es eben kommt herunmr ziehen, und dadurch einander vielfältige Verwirrung bereiten.

Dieses, Theodoros, habe ich deinem Freunde zur Hülfe dar- gebracht, nach Vermögen weniges von wenigem; wenn er aber selbst lebte, würde er dem seinigen weit glänzender beigestanden haben. |

Theodoros. Du scherzest, Sokrates; denn du hast dem Manne mit recht jugendlichem Muthe beigestanden.

Sokrates. Wol' gesprochen, Freund. Sage mir aber, hast du wol darauf geachtet, was Protagoras eben sagte, und uns Vorwürfe

νον

THEAITETOS. 165

darüber machte, dass wir, an ein Knäblein unsere Rede richtend, die Furcht dieses Knaben mit gegen ihn gebrauchten im Streit? Nannte er nicht dies einen schlechten Scherz, und wollte, wie er selbst sein Maass aller Dinge sehr tiefsinnig und gründlich behan-

‚delte, dass auch wir ernsthaft umgehn sollten mit seiner Rede?

Theodoros. Wie sollte ich nicht darauf geachtet haben? Sokrates. Wie also? räthst du an, ihm zu folgen? Theodoros. Gar sehr.

Sokrates. Du siehst aber doch, dass dieses sämmtlich Kna- ben sind, dich ausgenommen. Sollen wir also dem Manne folgen, so müssen wir Beide einander fragen und antworten, um seinen Saz ernsthaft zu erwägen, damit er uns wenigstens das nicht vor- werfen könne, dass wir nur spielend mit Kindern seine Rede un- tersucht hätten.

Theodoros. Wie? sollte nicht Theaitetos besser als Viele, die grosse Bärte tragen, der Prüfung eines Sazes nachfolgen können?

Sokrates. Doch aber nicht besser, 0 Theodoros, als du. Denke also nur nicht, dass ich zwar deinem verstorbenen Freunde auf alle Weise zu Hülfe kommen müsse, du aber gar nicht. Son-

dern komm her, o Bester, und gehe ein wenig mit, nur so weit, 169

bis wir sehen, ob du in messkünstlerischen Zeichnungen das Maass sein sollst, oder ob Alle eben so gut als du sich selbst genügen können auch in der Sternkunde und dem übrigen, worin du den Ruf hast, dich auszuzeichnen.

Theodoros. Es ist warlich nicht leicht, Sokrates, wenn man bei dir sizt, nicht Rede stehen zu müssen, und ich habe eben gar sehr vorbeigeschossen, als ich meinte, du. würdest mir wol erlau- ben, mich nicht zu entkleiden, und würdest mich nicht zwingen wie die Lakedaimonier. Du aber scheinst dich gar mehr dem Skirrhon zu nähern. Denn die Lakedaimonier befehlen nur ent- weder sich zu entfernen oder sich zu entkleiden. Du aber scheinst deine Sache mehr nach Art des Antaios durchzuführen; denn wer einmal da ist, den lässt du gar nicht los, bis du ihn gezwungen hast, sich zu entkleiden und in Reden mit dir zu streiten.

Sokrates. Vortrefllich, o Theodoros, hast du meine Krank- heit durch diese Vergleichung beschrieben. Nur dass ich noch wakkerer bin als jene. Denn gar mancher Herakles und Theseus mächtig im Reden hat sich mir schon gestellt, und mich tüchtig zusammengehauen; aber ich lasse deshalb doch nicht ab, eine 80 gewaltige Liebe hat mich ergriffen zu solchen Kampfübungen. Und

166 THEAITRTOS.

so missgönne auch du es mir nicht, dich mit mir zu unterreden zu unserm beiderseitigen Nuzen.

Theodoros. Ich widerspreche nicht länger. Führe mich also wohin du willst; auf alle Weise werde ich hierin das Schikksal, welches du mir anspinnen wirst, ertragen müssen und widerlegt werden. Weiter jedoch nicht, als du vorher bestimmt hast, werde ich mich dir hergeben können.

Sokrates. Auch soweit ist es genug. Und gieb mir nur ja darauf Achtung, dass wir nicht wieder unvermerkt in eine kindi- sche Art von Reden hineingerathen, und uns dies Jemand noch einmal vorrükken könne.

Theodoros. Ich will es wenigstens versuchen, so weit ich kann.

Sokrates. Eben das also lass uns auch jezt wieder zuerst, vornehmen, was vorher, und lass uns sehen, ob wir mit Recht oder mit Unrecht schwierig wurden, und es an dem Saze tadel- ter, dass er einen jeden sich selbst genügend an Einsicht erklärte, da uns denn Protagoras zugab, dass in Absicht ‚auf das hessere und schlechtere Einige Vorzüge hätten, welche daher auch weise wären. Nicht so? |

Theodoros, Ja.

Sokrates. Wenn er nun selbst gegenwärtig dieses zugestan- den hätte, und nicht bloss wir es eingeräumt, die wir ihn vertre- ten: so würde es nicht einmal nöthig sein, noch einmal von vorn anzufangen, um dies zu befestigen. Nun aber könnte vielleicht Jemand behaupten, wir wären nicht bevollmächtiget für ihn etwas zuzugestehn. Daher ist es besser gethan eben dieses noch einmal genauer durchzugehn. Denn es macht keinen geringen Unterschied, ob es sich so verhält, oder anders.

Theodoros. Du hast Recht,

Sokrates. Lass uns daher nirgend anders her, sondern eben aus seinem Saze so kurz als möglich die Zustimmung hiezu ab- leiten. bar

Theodoros. Wie aber?

Sokrates. . So.

Was jeder vorstellt, so sagt er doch, das ist auch für den, der es vorstellt.

Theodoros. Das sagt er freilich.

Sokrates. Also, Protagoras, sprechen auch wir eines Men- schen oder vielmehr aller Menschen Vorstellungen aus, und sagen, dass es keinen, wer es auch sei, gebe, der nicht in einigen Din-

Pr ἐς

THEAITETOS. 167

gen sich selbst für weiser halte als die Andern, in andern aber auch Andere als sich, und dass sie in den grössten Gefahren, wenn sie in Feldzügen, in Krankheiten, auf der See in Noth ge- rathen, sich zu denen, welche in diesen Umständen die Regierung führen, als zu Göttern wenden und auf sie als ihre Retter hoffen, die sich doch durch niehts anderes unterscheiden als durch das Wissen. Und überall im menschlichen Leben ist es voll von sol- chen, welche Lehrer und Gebieter suchen für sich selbst und die andern Geschöpfe und ihre Handlungen, und eben so auch von solchen, welche glauben, dass sie im Stande sind zu lehren, und im Stande zu gebieten. Und in allen diesen Fällen, was können wir anders sagen, als dass die Menschen selbst glauben, es gebe unter ihnen Weisheit und Unverstand?

Theedoros. Nichts anderes.

Sokrates. Halten sie nun nicht die Weisheit für richtige Ein- sicht, den Unverstand aber für falsche Vorstellung?

Theodoros. Wofür sonst?

Sokrates. Was also, o Protagoras, sollen wir mit dieser Rede anfangen? Sollen wir sagen, dass die Menschen immer richtig vorstellen? oder bisweilen richtig, bisweilen falsch? Denn aus beidem ergiebt sich auf jeden Fall, dass sie nicht immer richtig, sondern auf beide Weise vorstellen. Denn bedenke nur, o Theo- doros, ob wol einer von denen, die es mit dem Protagoras hal- ten, oder du selbst behaupten wolltest, dass Niemand glaube, ein- Anderer sei unverständig, und mache sich falsche Vorstellungen?

Theodoros. : Das wäre ja unglaublich, Sokrates.

Sokrates. Und doch kommt in diese Noth der Saz, welcher behauptet, dass der Mensch das Maass aller Dinge ist.

Theodoros. Wie doch?

Sokrates. Wenn du bei dir selbst etwas abgeurtheilt hast, und mir nun deine Vorstellung davon kund thust: so muss nach jenes Behauptung dir zwar dieses Wahrheit sein; steht es aber uns An- dern nicht frei, auch wieder Richter zu sein über dein Urtheil, oder urtheilen wır, dass du immer richtig vorstellst? und werden nicht vielmehr in jedem Fall unzählig Viele gegen dich streiten welehe das’ Gegentheil vorstellen und glauben, dass du falsch meinst und urtheilest?

Theodoros. Ja wol beim Zeus, o Sokrates, unzählig Viele, wie Homeros sagt, und die mir aller Welt Händel erregen.

Sokrates. Wie also? Willst du, wir sollen sagen, dass du dann dir selbst zwar richtig vorstellst, jenen unzähligen aber falsch?

168 THEAITETOS.

Theodoros. So scheint es wenigstens dem Saze nach noih- wendig zu sein. | Sokrates. Wie ist es aber mit dem Protagoras selbst? Wird er nicht gestehen müssen, dass wenn er selbst nicht glaubte, dass der Mensch das Maass ist, noch auch die Leute, wie dann diese es nicht glauben, dass dann diese Wahrheit für Niemanden wäre, die er geschrieben hat? Und wenn er es glaubt, die Leute aber

171es nicht mit ihm glauben: so weisst du doch zuerst, dass sie als-

dann um desto mehr nicht ist als ist, je mehrere nicht so vor- stellen, als so vorstellen?

Theodoros. Allerdings, da sie ja nach Maassgabe der einzel- nen Vorstellungen auch sein wird und nicht sein.

Sokrates. Hernach ist doch dieses das schönste bei der Sache. Er giebt gewissermaassen zu, dass die Meinung der ent- gegengesezt vorstellenden über seine Meinung, vermöge deren sie dafür halten, er irre, wahr ist, indem er ja behauptet, dass Alle was isi vorstellen.

Theodoros. Allerdings. |

Sokrates. So gäbe er also zu, dass seine eigne falsch ist, wenn er eingesteht, dass die Meinung derer wahr ist, die dafür halten, er irre. |

Theodoros. Noihwendig.

Sokrates. Die Andern aber geben von sich nicht zu, dass sie irren?

Theodoros. Ganz und gar nicht.

Sokrates. Er aber gesteht auch dieser Vorstellung wiederum zu, dass sie richtig sei, zufolge dessen, was er geschrieben hat.

Theodoros. So scheint es.

Sokrates. Von Allen also, beim Protagoras angefangen, wird bestritten werden, oder vielmehr von ihm doch zugestanden, wenn er dem, der das Gegentheil von ihm behauptet, zugiebt, er stelle richtig vor, dann muss auch Protagoras selbst einräumen, dass weder ein Hund noch auch der erste beste Mensch das Maass ist, auch nicht für Eine Sache, die er nicht erlernt hat. Nicht so?

Theodoros. So ist es. |

Sokrates. Wenn dies also von Allen bestritten wird: so wäre sie ja Niemanden wahr diese Wahrheit des Protagoras, weder ir- gend einem Ändern, noch auch ihm selbst.

Theodoros. Gar zu heftig, o Sokrates, rennen wir meinen Freund um. Sokrates. Aber, Lieber, es ist ungewiss, ob wir auch etwa

THEAITETOS. 169

a)

i das richtige vorbeirennen. Denn zu glauben ist, dass jener so

| viel ältere auch weiser ist, als wir, und könnte er sich jezt hier hervorarbeiten nur bis an den Hals: so würde er mich sowol, dass ich in den Tag hineingeredet, wie sehr wahrscheinlich, hart be- strafen, als auch dich, dass du Alles eingeräumt, und würde dann wieder untertauchen und davongehen. Indess werden wir uns, denke ich, mit uns selbst begnügen müssen, und nur sagen, was uns jedesmal richtig scheint. So auch jezi. Können wir etwas anderes sagen, als dass jeder, wer es auch sei, dies zugeben müsse, dass Einer weiser ist als Andere, und so auch unwis- sender?

Theodoros. Mich zum wenigsten dünkt es so.

Sokrates. Auch etwa, dass der Saz am besten so bestehen werde, wie wir ihn um dem Protagoras zu helfen entworfen ha- ben, dass vieles zwar einem jeden, wie es ihm scheint, so auch ist, das warme nämlich, das trokkne,. das süsse und alles zu die- ser Art gehörige. Wenn er aber doch einräumen soll, dass in einigen Dingen Einer besser sein soll als der Andere, so würde er am liebsten sagen mögen, dass in Absicht auf das gesunde und ungesunde nicht jedes Weib oder Kind oder Thier im Stande wäre, sich selbst zu heilen durch seine Erkenntniss dessen, was ihm gesund ist, sondern hierin, wenn irgendwo, wäre der Eine besser als der Andere.

Theodoros. So wenigstens scheint es mir.

Sokrates. Eben so auch in bürgerlichen Dingen; das schöne und schlechte, das gerechte und ungerechte, das fromme und un-172 fromme, was in diesen Dingen ein Staat für Meinung fasst und dann feststellt als gesezmässig, das ist es nun auch für jeden in Wahrheit, und in diesen Dingen ist um nichts weiser weder ein Einzelner als der Andere noch ein Staat als der andere. In der Festsezung aber dessen, was ihm zuträglich ist oder nicht 2uträg- lich, hier wiederum wird, wenn irgendwo, zugegeben werden müs- sen, dass ein Rathgeber sich unterscheidet vor dem andern und eines Staates Vorstellung vor des andern in Absicht auf Wahrheit,

᾿ und keinesweges dürfte er wagen zu behaupten, dass, was ein Staat fesisezt als nüzlich für sich, dies ihm auch auf alle Weise nüzen werde. Bei jenem vorher erwähnten aber, dem Recht und Unrecht, dem frommen und gottlosen, wollen sie behaupten, dass nichts in dieser Art schon von Natur eine bestimmte Beschaffen- heit habe, sondern was gemeinsam vorgestellt werde, das werde wahr zu der Zeit wann und so lange als es dafür gehalten werde.

170 THEAITETOS.

Und so viele doch nicht völlig des Protagoras Lehre lehren, hal- ten sich doch hiezu mit ihrer Weisheit. Aber, o Theodoros, wir kommen immer aus einer Untersuchung in die andere, und aus einer kleineren in eine grössere.

Theodoros. Haben wir denn nicht .Musse, Sokrates?

Sokrates. Ja, so scheint es. Deshalb, du herrlicher Mann, habe ich schon oftmals und auch jezt wieder bedacht, wie natür- lich es zugeht, dass die, welche viele Zeit mit wissenschaftlichen Dingen hinbringen, wenn sie einmal in die Gerichtshöfe kommen, als Redner sich lächerlich machen.

Theodoros. Wie meinst du das?

Sokrates. Mir scheint, dass diejenigen, welche sich von Ju- gend auf an den Gerichtsstätten oder dergleichen aufhalten, 185 Vergleich mit denen, welche bei den Wissenschaften und in sol- ‘chen Beschäftigungen erzogen worden, wie Knechte erzogen sind im Vergleich mit Freien.

Theodoros. In wiefern doch?

Sokrates. Im sofern jenen das, was du eben nanntest, die Musse niemals fehlt, und sie ruhig mit Musse ihre Untersuchun- gen anstellen, so wie wir jezt schon die dritte, wie sie eine aus der andern gefolgt sind, anknüpfen; so auch sie, wenn ihnen eine sich eben darbietende besser gefällt, als die bereits vorliegende, und es kümmert sie nichts, ob sie lang oder kurz reden, wenn- sie nur das rechte treffen. - Die Andern aber reden theils immer im Gedränge, denn es treibt sie zur Eile das Wasser welches ab- fliesst, und lässt ihnen nicht zu, worüber sie es am liebsten möch- ten, Untersuchungen anzustellen; sondern der Gegner steht dabei- und hat Zwang für sie und die abgelesenen Punkte, über deren Grenzen hinaus sie nichts reden dürfen. Dann auch beziehen sich ihre Reden immer auf einen ihrer Mitknechte, und sind gerichtet an einen Herrn, welcher vor ihnen sizt und die Gewalt in Händen hat. Und der Streit geht niemals um dies und jenes, sondern immer um die Sache, ja oft geht es um das Leben. So dass sie

173durch alles dieses zwar Scharfsichtig gemacht werden. und gewi- zigt, und sich trefflich darauf verstehn ihrem Herrn mit Worten zu schmeicheln und mit der That zu dienen; aber kleinlich und ungerade sind ihre Seelen. Denn die Knechtschaft von Jugend an hat ihnen das Wachsthum und das freie gerade Wesen benom- men, indem sie sie nöthiget, krumme Dinge zu verrichten, und die noch zarte Seele in grosse Gefahren und Besorgnisse verwik- kelt, welche sie ohne Verlezung des gerechten und wahren nicht

j τὸ 4.

2 THEAITETOS. 171

überstehen können, und daher sogleich zur Lüge und zum gegen- seitigen Unrechtthun sich hinwendend so verbogen und verkrüppelt werden, dass schon nichts gesundes mehr an ihren Seelen ist, wenn sie aus Jünglingen zu Männern werden, wie gewaltig und weise sie auch geworden zu sein glauben. So nun sind diese beschaffen, Theodoros. Die aber von unserer Schaar, willst du, dass wir die auch beschreiben, oder dass wir die lassend uns wiederum zu unserer Rede wenden, damit wir doch nicht die Freiheit und Ungebundenheit unserer Reden, von welchen ich eben sprach, allzustark gebrauchen’?

Theodoros. Keinesweges, Sokrates, sondern beschreiben wollen wir sie. Denn sehr richtig hast du dieses bemerkt, dass wir, die wir uns zu dieser Schaar halten, nicht Knechte unserer Reden sind, sondern die Reden gleichsam unsere Dienstleute, welche es erwarten müssen abgefertigt zu werden, wie es uns gefällt. Denn weder ein Richter, noch wie bei den Dichtern ein Zuschauer, sizt vor uns mit der Befugniss uns zu strafen oder zu befehlen.

Sokrates. So lass uns denn, da es dir so gefällt, von denen reden, welche an der Spize stehen. Denn was sollte ıman auch von denen sagen, welche sich nur auf eine schlechte Art mit der Philosophie beschäftigen?. Jene nun wissen von Jugend auf nicht einmal den Weg auf den Markt, noch wo das Gerichtshaus, noch wo das Versammlungshaus des Raihes ist, noch wo irgend eine andere Staatsgewalt ihre Sizung hält. Geseze aber und Volksbe- schlüsse, geschriebene oder ungeschriebene, sehen sie weder noch hören sie. Das Bewerben der Verbrüderungen um die obrigkeit- liehen Aemter, und die berathschlagenden Zusammenkünfte, und die Feste mit Flötenspielerinnen, dergleichen zu besuchen fällt ihnen auch im Traume nicht ein. Ob ferner Jemand edel oder unedel geboren ist in der Stadt, oder was einem von seinen Vorfahren her übles anhängt von väterlicher oder mütterlieher Seite; davon weiss er weniger, wie man sagt, als wieviel es Sand am Meere giebt. Und von dem allen weiss er nicht einmal, dass er es nicht weiss. Denn er enthält sich dessen nicht, etwa um sich einen Ruf damit zu machen, sondern in der That wohnt nur sein Körper im Staate und hält sich darin auf; seine Seele aber dieses alles für gering haltend und für nichtig schweift verachtend nach Pin- daros überall umher, was auf der Erde und was in ihren Tiefen ist messend, und am Hımmel die Sterne vertheilend, und überali jegliche Natur alles dessen was ist im Ganzen erforschend, zu174 nichts aber von dem, was in der Nähe ist, sich herablassend.

δ.. -

172 THEAITETOS.

Theodoros. Wie meinst du dies, Sokrates?

‚Sokrates. Wie auch den Thales, Theodoros, als er, um die Sterne zu beschauen, den Blikk nach oben gerichtet in den Brun- nen fiel, eine ariige und wizige ihrakische Magd soll verspottet haben, dass er, was am Himmel wäre, wol strebte zu erfahren, was aber vor ihm läge und zu seinen Füssen, ihm unbekannt bliebe. Mit diesem nämlichen Spoite nun reicht man noch immer aus gegen Alle, welche in der Philosophie leben. Denn in der That, ein solcher weiss nichts von seinem Nächsten und Nachbar, nicht nur nicht was er betreibt, sondern kaum ob er ein Mensch ist oder etwa irgend ein anderes Geschöpf. Was aber der Mensch an sich sein mag, und was einer. solchen Natur ziemt anders als alle anderen zu thun und zu leiden, das untersucht er, und lässt es sich Mühe kosten es zu erforschen. Du verstehst mich doch, Theodoros, oder nicht?

Theodoros. Sehr gut; und sehr wahr ist was du sagst.

Sokrates. Daher auch, o Freund, ein solcher, wenn er mit Jemand für sich Geschäfte zu treiben hat, oder auch in öffentlichen Angelegenheiten, wie ich anfangs sagte, wenn er etwa vor Gericht oder sonst irgendwo von dem, was vor den Füssen oder sonst vor aller Augen ist, genöthiget wird zu reden: so erregt. er Gelächter, nicht nur den Thrakierinnen, sondern auch dem übrigen Volk, in- dem er aus Unerfahrenheit in Gruben und in allerlei Verlegenheit hineinfällt, und seine gewaltige Ungeschikktheit erregt die Meinung, er sei unverbesserlich. Denn wo es darauf ankommt, einen mit Schmähungen anzugreifen, weiss er keinen einzeln anzugreifen, indem er von Niemand irgend etwas übles weiss, weil er sich nie darum bekümmert hat. Weil er nun keinen Rath weiss, erscheint er lächerlich. Und wiederum wo gelobt und in prächtigen Worten geredet werden soll von Andern, giebt sich kund, dass er lacht, nicht nur versiellter Weise, sondern ganz ordentlich, und so er- scheint er albern. Denn wo er einen Tyrannen oder König lob- preisen hört, kommt es ihm vor, als hörte er irgend einen Hirten, der Schweine oder Schaafe oder einen Rinderhirten glükklich prei- sen, weil er viel melkt; nur glaubt er, dass jener ein unlenksameres und boshafteres 'Thier hütet und melkt als diese; und dass doch ungesittet und ungebildet ein solcher aus Mangel an Musse nicht minder sein muss als andre Hirten, eingezwängt in seine Mauern eben wie jene in die Hürden auf den Bergen. Hört er. aber von tausend Morgen Landes oder noch mehr, als hätte wer sie besizt ein ungeheuer grosses Besizthum: so dünkt ihn, er höre einer

THEAITETOS. 473

grossen Kleinigkeit erwähnen, gewohnt wie er ist über die ganze Erde zu schauen. Und wenn sie gar die Geschlechter besingen, wie irgend ein Edler sieben reiche Ahnherren habe aufzuweisen: so dünkt ibn, ein sehr kurzsichtiges Lob zu hören von solchen, die nur auf das kleine merken, und aus Unwissenheit nicht ver- mögen immer auf das Ganze zu blikken, noch zu berechnen, dass 175 Grossvater und Vorfahren unzählige Tausende ein jeder gehabt hat, worunter Reiche und Arme, Könige und Knechte, Ausländer und Hellenen oftmals zehntausend können gewesen sein bei dem ersten besten. Aber ein Verzeichniss von fünf und zwanzig Vorfahren für etwas grosses ausgeben, die etwa auf Herakles, den Sohn des Amphitryon, zurükkgehn, das gilt ihm für das ungereimteste in der Kleinlichkeit; und er lacht, dass sie, wie nun hinaufwärts vom Amphitryon der fünf und zwanzigste doch wieder einer war, wie es sich eben traf, und der funfzigste von ihm, dass sie dies nicht einmal vermögen sich vorzurechnen, und sich dadurch das aufge- blasene Wesen einer thörichten Seele zu vertreiben. Wegen alles dessen nun wird ein soleher von der Menge verlacht, indem er bier sich stolz zeigt, wie es ihnen dünkt, dort aber wieder un- wissend in dem, wäs vor seinen Füssen liegt, und rathlos in allem einzeinen. | |

Theodoros. Genau wie es geschieht stellst du es dar, Sokrates.

Sokrates. Zieht er selbst aber Einen zu sich hinauf, Lieber, und will sich Einer ihm versteigen von dem „Ob ich dir hierin Unrecht thue oder du mir” zur Untersuchung der Gerechtigkeit ‚und Ungerechtigkeit selbst, was jede von Ihnen ist, und wodurch sie unter sich und von allem übrigen unterschieden sind, oder von dem „Glükklich ist ein König, der viel Goldes besizt” zu der Frage vom Königthum selbst und überhaupt von menschlicher Glükkseligkeit und Elend, worin beides besteht, und auf welche Weise es der menschlichen Natur zukommt die eine zu erlangen und dem andern zu entgehen, sobald über eins von diesen Dingen ein solcher Kleingeistiger, Scharfsinniger, in Rechtsstreiten Gewand- ter Rede stehen soll, dann bezahlt wiederum er das gleiche; schwindelnd wie er von der Höhe herüberhängt, und von oben herabschauend aus Ungewohntheit der Sache ängstlich und unbe- holfen, der Sprache nicht mächtiger als ein ausländischer Knecht, erregt er den Thrakierinnen zwar nicht Gelächter, auch sonst den Ununterrichteten nicht, denn sie bemerken es nicht, wol aber Al- len, welche nicht wie Leibeigene, sondern auf die entgegengesezte Art aufgewachsen sind. Dies nun, o Theodoros, ist die Weise

174 | THEAITETOS.

eines jeden von beiden, die eine dessen der wahrhaft in Freiheit und Musse auferzogen ist, den du einen Philosophen nennst, und dem es ungestraft hingehen mag, dass er einfältig erscheint, und nichts gilt wo es auf knechtische Dienstleistungen ankommt, dass er etwa nicht versteht das Bündel zu.schnüren, das nachgetragen werden soll, oder eine Speise schmakkhaft zu bereiten, oder auch schmeichlerische Worte; die andere dessen, der alles dieses zwar zierlich und behende zu beschikken weiss, dagegen aber nicht ein- mal seinen Mantel wie ein freier Mann zu tragen versteht, viel weniger in Wohlklang der Rede eingreifend würdig zu preisen das 176 wahrhafte Leben der seligen Gölter und Menschen.

Theodoros. Wenn du, o Sokrates, Alle wie mich überzeugtest von dem was du sagst: so würde mehr Friede und des bösen viel weniger sein unter den Menschen.

Sokrates. Das böse, o Theodoros, kann weder ausgerottet werden, denn es muss immer etwas dem guten enigegengeseztes geben, noch auch bei den Göttern seinen Siz haben. Unter der sterblichen Natur aber, und in dieser Gegend zieht es umher jener Nothwendigkeit gemäss. Deshalb muss man auch trachten, von hier dorthin zu entfliehen aufs schleunigste. Der Weg dazu ist Verähnlichung mit Gott so weit als möglich; und diese Verähn- lichung, dass man gerecht und fromm sei mit Einsicht. Allein, Bester, es ist gar nicht leicht deutlich zu machen, dass nicht aus der Ursache, weshalb die Meisten sagen, dass man die Schlechtig- keit fliehen und der Tugend .nachstreben solle, die eine zu suchen ist und die andere nicht, damit man nämlich nicht böse, sondern gut zu sein scheine. Denn dies ist nur, was man nennt der alten Weiber Geschwäz, wie es mir scheint; das wahre aber wollen wir so vortragen. Goit ist niemals auf keine Weise ungerecht, sondern im höchsten Sinne vollkommen gerecht, und nichts ist ihm ähn- licher, als wer unter uns ebenfalls der gerechteste ist. Und hier- auf geht auch die wahre Meisterschaft eines Mannes, so wie seine Nichtigkeit und Unmännlichkeit. Denn die Erkenntniss hievon ist wahre Weisheit und Tugend, und die Unwissenheit hierin die offenbare Thorheit und Schlechtigkeit. Jegliche andere dafür gel- tende Meisterschaft und Einsicht aber ist, wenn sie in der bürger- lichen Verwaltung sich zeigt, nur etwas gemeines, wenn in den Künsten, etwas unfreies und niedriges. Wer also ungerechtes und gottloses redet und thut, dem ist es bei weitem am besten, man gebe ihm nicht zu, er habe es zur Meisterschaft gebracht mit arg- listigem Wesen; denn sie freuen sich über den Vorwurf, und

THEAITETOS. 175

glauben zu hören, dass sie nicht Thoren sind, unnüze Lasten der Erde, sondern Männer, wie die sein müssen, denen es im Staate wohlgehn soll. So muss man ihnen demnach die Wahrheit sagen, dass sie nur um desto mehr solche sind, wie sie nicht glauben, weil sie es nicht. glauben. Denn unbekannt ist ihnen, was am wenigsten Jemanden unbekannt sein sollte, die Strafe der Unge- rechtigkeit, nämlich nicht was sie dafür halten, Leibesstrafe und Tod, wovon ihnen oft nichts widerfährt beim Unrechtihun, sondern eine, welcher es unmöglich ist zu entfliehen.

Theodoros. Welche meinst du denn?

Sokrates. Zwei Vorbilder, o Freund, sind aufgestellt in der Welt, das göttliche der grössten Glükkseligkeit, und das ungöttliche des Elendes; sie aber sehen nicht, dass es sich so verhält, und werden aus Thorheit und höchstem Unverstande unvermerkt um der ungerechten Handlungen willen diesem ähnlich, immer unähn- licher aber jenem. Wofür sie dann die Strafe leiden, indem sie

ein Leben führen, dem angemessen welchem sie ähnlich geworden. 177

Sagen wir ihnen nun, dass wenn sie von jener Meisterschaft nicht ablassen, dann auch nach geendetem Leben jener von allen Uebeln gereinigle Ort sie nicht aufnehmen werde, sondern sie immer hier ein ihnen wie sie sind ähnliches Leben führen werden, als Böse im bösen lebend: so hören sie das alles doch nur an wie Weise und Ueberkluge, wenn armselige Thoren etwas sagen.

Theodoros. Ganz gewiss, Sokrates.

Sokrates. Ich weiss es, Freund. Eines aber begegnet ihnen doch, dass wenn sie einzeln Rede stehen und Antwort geben sollen von dem was sie tadeln, und sie wirklich tapfer lange genug aus- halten und nicht unmännlich fliehen, dann, mein Guter, endet es wunderlich mit ihnen, dass sie sich selbst nicht gefallen in dem was sie sagen, und dass ihre Redekunst gleichsam ganz zusammen- schrumpft, und sie nicht besser erscheinen als Kinder.

Doch lass uns hievon, da es ohnedies nur beiläufig gesagt war, nun abstehen; wo nicht, so möchte uns immer neu zuströ- mendes die erste Rede ganz verschütten. Lass uns aber zu dem vorigen zurükkkehren, wenn es dir so gelegen ist.

Theodoros. Mir, Sokrates, war nicht minder angenehm, dieses zu hören, dem auch in meinen Jahren leichter ist nachzu- folgen. Gefällt es dir jedoch, so lass uns wieder zurükk gehen.

Sokrates. Waren wir nicht da bei unserer Rede, wo wir sagten, dass diejenigen, welche das bewegliche Sein annähmen, und dass, was jedem jedesmal scheine, auch ihm, dem es scheint,

176 THEAITETOS.

wirklich so sei, dass diese von allem übrigen und so auch vor- züglich vom Recht behaupteten, was ein Staat feststellte als ihm annehmlich, das sei auch für ihn welcher es feststellt recht, so lange er es siehen liesse, dass aber was das gute betrifft doch wol keiner von ihnen so muthig wäre, dass er sich unterstände zu behaupten, auch was ein Siaat, weil er es dafür hielte, als nüz- lich aufstelite, das wäre ihm auch, so lange er es gelten liesse, wirklich nüzlich. Es müsste denn Jemand nur von dem Worte reden, und das wäre ja in Beziehung auf das, was wir meinen, nur ein Scherz. Nicht wahr?

Theodoros. Freilich.

Sokrates. Man rede also nicht von dem Worte, sondern von der Sache, welche unter diesem Namen in Betraehtung gezogen wird.

Theodoros. Freilich nicht.

Sokrates. Was er aber so nennt, das sucht auch jeder Staat bei seiner Gesezgebung zu trefien, und richtet alle Geseze, so viel er nämlich kann und weiss, so nüzlich für sieh selbst ein als

178 möglich. Oder sieht er auf etwas anderes, indem er Geseze giebt?

Theodoros. Gewiss nicht.

Sokrates. Erlangt er es nun auch toi? oder verfehlt nicht auch jeder gar vieles?

Theodoros. Ich glaube, dass sie auch verfehlen.

Sokrates. Noch mehr- würde von hieraus besonders gewiss jeder das nämliche zugeben, wenn man nach der ganzen Gattung fragte, worin auch das nüzliche liegt. Es bezieht sich nämlich allemal auf die künftige Zeit. Denn wenn wir Geseze geben, so geben wir sie, weil sie nüzlich sein sollen auf die nachherige Zeit, und dies nennen wir doch richtig die Zukunft.

Theodoros. Freilich.

Sokrates. Komm also und lass uns den Protageras oder einen Andern, der dasselbe wie er behauptet, also fragen. Der Mensch ist das Maass aller Dinge, wie ihr sagt, Protagoras, des weissen, des schweren, des leichten, kurz aller Dinge ohne Aus- nahme von dieser Ari. Denn er hat das Kennzeichen davon in sich selbst, indem er sie für solches haltend wie ihm begegnet richtig vorstellt für sich selbst und wie sie sind. Ist es nicht so?

Theodoros. Völlig so. |

Sokrates. Sollen wir nun sagen, Protagoras, dass er auch das Kennzeichen dessen was sein wird in sich selbst hat, und dass welcherlei jeder glaubt, dass für ihn sein werde, solcherlei auch ihm dem Glaubenden entsteht? Wie etwa mit der Wärme, wenn

ee.

THEAITETOS, 47

TDIWATWER,

irgend ein Unkundiger glaubt, das Fieber werde ihn ergreifen, und diese Wärme werde ihm entstehen; ein Anderer aber, ein Arzt, glaubte das Gegentheil: sollen wir sagen, die Zukunft werde nach eines von beiden Meinungen ablaufen, oder etwa nach beider? und wird er für den Arzt nicht warm und nicht fieberhaft werden, für sich aber beides?

Theodoros. Lächerlich wäre das ja.

Sokrates. So glaube ich, ist über den künftigen süssen oder herben Geschmakk des Weines die Meinung des Landmanns, nicht aber die des Tonkünstlers entscheidend.

Theodoros. Wie sonst!

Sokrates. Eben so wenig kann wol von dem, was gut oder übel klingen wird, ein Turnmeister eine richtigere Vorstellung ha- ben, als ein Tonkünstler, selbst von dem, was hernach auch ihm, dem Turnmeister, wohlklingend erscheinen wird.

Theodoros. Keinesweges,

Sokrates. So ist auch wenn ein Mahl bereitet wird das Ur- theil dessen der bewirihei wird, und der kein Speisekünstler ist, minder gültig, als des Kochs Urtheil über die daraus zu erwartende Sinnenlust. Denn über das angenehme, was jedem bereits ist oder geworden ist, wollen wir nicht weiter aufs neue einen Streit erre- gen, sondern nur über das, was künftig einem jeden scheinen und sein wird, ob auch da ein jeder für sich selbst der beste Richter ist; oder ob du Protagoras, was jedem von uns vor Gericht durch Reden glaublich gemacht werden kann, besser im voraus vorstellen wirst als irgend ein der Sache Unkundiger?

Theodoros. Ei wol, o Sokrates; hierin eben verhiess er ja vorzüglich besser zu’ sein als irgend einer.

‘Sokrates. Gar recht, du Lieber. Oder es hätte ja gewiss 179 Niemand viel Geld für seine Unterhaltung bezahlt, wenn er seine Zuhörer nicht überredete, dass was in Zukunft scheinen und sein wird, weder ein Seher noch sonst ein Anderer besser beurtheilen könne, als eben er.

Theodoros. Vollkommen wahr.

Sokrates. Gehn nun nicht auch die Gesezgebungen und das nüzliche auf die Zukunft? und muss nicht doch jeder gestehen, dass ein gesezgebender Staat oft das nüzlichste verfehle?

Theodoros. Sicher,

Sokrates. Bescheidentlich also können wir zu deinem Lehrer sagen, dass er nothwendig eingestehen muss, Einer sei weiser als der Ändere, und nur ein solcher sei ein Maass; ich aber der Un-

Plat. W, II. Th. I. Bd. 12

178 THEAITETOS.

wissende könne auf keine Weise gezwungen werden ein Maass zu sein, wie doch nur eben die für ihn gesprochene Rede mich zwang, ich mochte wollen oder nicht, eins zu sein.

Theodoros. An diesem Ort, Sokrates, scheint mir der Saz am besten gefangen zu werden, wie er auch da gefangen ist, wo er die Meinungen Anderer gelten lässt, welche doch offenbar seine Säze nicht für wahr halten wollten.

Sokrates. Noch an vielen andern Orten, Theodoros, kann ein solcher Saz gefangen werden, dass jede Vorstellung eines je- den wahr sein soll. Was aber den gegenwärtigen Zustand eines jeden betrifft, woraus die Wahrnehmungen und die sich auf sie beziehenden Vorstellungen entstehen: so ist es schwerer zu zei- gen, dass diese nicht wahr sein sollen. Oder vielmehr ist das nichis gesagt, und diese sind vielleicht ganz unwiderleglich, so dass diejenigen, welche behaupten, diese wären untrüglich und Erkenntnisse, vielleicht wol das richtige sagen mögen, und also auch unser Theaitetos nicht weit vom Ziele getroffen hat, als er festsezte, dass Wahrnehmung und Erkenntniss dasselbe wären. Wir müssen a!so näher darauf zugehen, wie die für den Protago- ras geführte Veriheidigung uns gebot, und dieses schwebende und bewegliche Dasein noch einmal betrachtend daran klopfen, ob es ganz klingt oder zerbrechen. Der Streit darüber ist ja aber schon iinmer nicht gering gewesen, und nicht unter wenigen.

Theodoros. Warlich keinesweges gering, vorzüglich in Jonien verbreitet er sich gar sehr. Denn die Freunde des Herakleitos sind sehr tapfere Anführer bei der Vertheidigung dieses Sazes.

Sokrates. Um desto mehr, lieber Theodoros, müssen wir von vorn an betrachten so wie sie ihn eigentlich torzeichnen.

Theodoros. Allerdings, Sokrates. Nur dass was .diese He- rakleitischen oder wie du sagst Homerischen' und noch Aelteren betrifft, mit denen zu Ephesos, so’ viel deren der Sache kundig zu sein vorgeben, sich in ein ermsthaftes Gespräch einzulassen nicht besser angeht, als wollte man es mit solchen versuchen, die von bösartigen Thieren zerstochen nicht einen Augenblikk 51}} stehen können; denn ordentlich wie es in ihren Schriften heisst fliessen sie auch, festen Fuss aber zu fassen bei einem Saz und einer Frage, und gelassen jeder nach seiner Ordnung zu fragen und zu antworten, davon ist ihnen weniger verliehen als nichts.

180Ja nicht einmal nichts ist schon zu viel gesagt, so wenig Ruhe ist in diesen Leuten. Sondern wenn du einen etwas. fragst, 80 ziehn sie wie aus ihrem Köcher räthselhafte kleine Sprüchlein her-

THEAITETOS. 179 vor und schiessen diese ab; und willst du dann darüber wieder eine Erklärung wie es gemeint gewesen, so wirst du von einem andern ähnlichen getroffen von ganz neuer Wortverfertigung. Zu Ende bringen wirst du aber nienrals etwas mit einem ven ihnen, noch auch sie selbst unter einander. Sondern sehr genau beob- achten sie dieses, dass ja nichts fest bleibe weder in der Rede noch auch in ihren eignen Seelen, indem sie wie mich dünkt be- sorgen, dies möchte eiwas beharrliches sein, wogegen sie eben so gewaltig streiten, und es überall wo sie nur können vertreiben.

Sokrates. Vielleicht, Theodoros, hast du die Männer nur ge- sehen, wenn sie Krieg führen, bist aber nicht mit ihnen gewesen, wenn sie Frieden halten; denn sie sind dir eben nicht freund. Dergleichen aber glaube ich werden sie in ruhigen Stunden ihren Schülern mittheilen, welche sie sieh ähnlich zu machen suchen.

Theodoros. Was doch für Schülern, du Wunderlicher! Bei diesen wird gar nicht Einer des Andern Schüler, sondern sie wach- sen von selbst auf, jeder woher es ihm eben kommt begeistert, und Einer hält immer den Andern für nichts. Von diesen also wirst du, wie ich schon sagen wollte, niemals eine Antwort erhal- ten, weder gutwillig noch gezwungen; sondern wir müssen sie selbst, als ob wir sie wie eine Aufgabe vorgelegt bekommen hät- ten, in Betrachtung ziehen.

Sokrates. Dies erinnerst du sehr richtig, Haben wir nun nicht die Aufgabe zuerst von den Alten, welche sich mit Hülfe der Dichtkunst den Meisten verbargen, so empfangen, dass der Ursprung von Allem Okeanos und Tethys, Flüsse wären, und dass nichts fest stehe; von den Neueren demnächst, welche weiser sind und alles ganz oflenbar vorzeigen, damit auch die Schuhmacher ihre Weisheit hören und lernen, und aufhören thörichter Weise zu glauben, dass einiges beharrlich sei unter dem was ist, und an- deres sich bewege, sondern von ihnen lernen und sie dafür ehren mögen, dass alles sich bewegt. Beinahe aber hätte ich vergessen, o Theodoros, dass Andere wiederum das gerade Gegentheil von diesem behauptet haben, nämlich das unbewegliche sei der rich- tige Name des Ganzen, und was sonst die Melissos und die Par- menides allen diesen zuwider behaupten, dass alles Eins ist und selbst in sich besteht, indem es keinen Raum hat, worin es sich bewegen könnte. Was nun, Lieber, sollen wir mit allen diesen beginnen? Denn allmählich vorrükkend sind wir unvermerkt in die Mitte zwischen Beide gerathen, und wenn wir uns nicht auf

irgend eine Art zu helfen wissen, dass wir ihnen entfliehen, wer- 12®

180 THEAITETOS.

den wir Strafe geben müssen, wie die, welche auf dem Uebungs-

181 plaz nach der Linie spielen, wenn sie nun von beiden ergriffen nach entgegengesezten Seiten gezogen werden. Ich denke also, wir wollen zuerst jene, auf welche wir anfänglich stiessen, in Be- trachtung ziehen, die Fliessenden, und wenn sich zeigt, dass sie etwas gegründetes sagen, so wollen wir ihnen selbst helfen uns ziehen, und wollen versuchen den Andern zu enikommen. Wenn aber die, welche das Ganze feststellen, etwas richtigeres zu be- haupten scheinen: so wollen wir im Gegentheil zu ihnen fliehen von jenen, die auch das unbewegliche bewegen. Sollte sich aber zeigen, dass beide nichts tüchtiges vorbringen: so würden wir ja lächerlich sein, wenn wir, die wir ganz gewöhnliche Menschen sind, uns selbst zutrauten, etwas rechtes zu sagen, und darüber jenen uralten und höchst weisen Männern abfällig würden. Sieh also zu, Theodoros, ob es gerathen ist, uns in eine so grosse Gefahr hin- einzubegeben.

Theodoros. Auf keine Weise, o Sokrates, wäre es ja jezt noch zu ertragen, wenn wir nicht herausbringen wollten, in wie- fern beide Theile wol Recht haben.

Sokrates. Wir müssen es also erforschen, da es dir so an- gelegen ist.

Der Anfang der Untersuchung aber muss, wie mich dünkt, gemacht werden von der Bewegung, was doch eigentlich darunter verstehend jene sagen, dass alles sich bewegt. Ich will nämlich dieses sagen, ob sie nur Eine Art derselben verstehen, oder, wie mir scheint, Zwei. Nicht mir allein aber soll es so scheinen, son- dern nimm du auch mit Theil daran, damit wir hernach auch ge- meinschaftlich leiden, was uns etwa begegnen soll. Und sage mir, nennst du das Bewegung, wenn etwas einen Ort mit einem an- dern vertauscht oder auch in demselben Orte sich herumdreht?

Theodoros. Das nenne ich so. |

Sokrates. Das sei also die eine Art. Wenn aber etwas an demselben Orte zwar bleibt, dort aber altert oder schwarz wird da es vorher weiss, hart da es weich war, oder irgend eine. an- dere Veränderung erleidet: verdient dies nicht eine andere Art der Bewegung zu heissen?

Theodoros. So scheint es mir.

Sokrates. Es kann nicht anders sein. Diese zwei Arten der Bewegung meine ich also, die Veränderung und die Ortsverwech- selung.

Theodoros. Und ganz Recht thust du daran.

THEAITETOS. 181

Sokrates. Ist nun diese Eintheilung gemacht: so lass uns dann mit denen reden, welche behaupten es bewege sich alles, und sie fragen, Sagt ihr, alles bewege sich auf beiderlei Art, so- wol durch Ortsvertauschung als durch Veränderung, oder einiges auf beiderlei, anderes nur auf einerlei Art?

Theodoros. Beim Zeus, ich weiss es nicht zu sagen; ich glaube aber sie werden behaupten, auf beiderlei Art.

Sokrates. Wenigstens wenn nicht, o Freund, so müsste ih- nen ja bewegtes erscheinen und auch feststehendes, und es wäre ja gar nicht richtiger zu sagen, dass alles sich bewegt, als dass alles feststeht.

Theodoros. Du sprichst vollkommen wahr.

Sokrate. Da nun alles sich bewegen und die Unbeweglich- keit in keinem Dinge anzutreffen sein soll, so muss alles sich im- mer mit jeder Bewegung bewegen.

Theodoros. Nothwendig.

Sokrates. Ziehe nur auch dieses von ihnen in Erwägung. Sagten wir nicht, dass sie die Entstehung der Wärme oder der Röthe oder was du sonst willst, ohngefähr auf diese Art erklär-182 ten, jedes von diesen bewege sich während der Wahrnehmung zwischen dem wirkenden und dem leidenden, und das leidende werde alsdann ein wahrnehmbares, nicht aber eine Wahrnehmung, und das wirkende ein wie beschaffenes, nicht aber eine Beschaf- fenheit. Doch Beschaffenheit ist dir vielleicht ein wunderliches Wort, und du verstehst es nicht so ganz im Allgemeinen ausge- drükkt. So höre es denn im Einzelnen. Das wirkende nämlich wird weder Wärme noch Röthe, sondern ein warmes, ein rothes und so auch im Uebrigen. Denn du erinnerst dich doch aus dem vorigen, dass wir so sagten, nichts sei an und für sich Ein be- stimmtes, also auch nicht das wirkende und leidende, sondern nur durch beider Zusammenkunft die Wahrnehmung und das wahr- nehmbare erzeugend werde das eine ein wie beschaffenes, das andere ein wahrnehmendes.

Theodoros. Ich erinnere mich dessen; wie sollte ich auch nicht?

Sokrates. Das übrige wollen wir nun bei Seite sezen, ob sie es so oder anders meinen, und nur das eine, weshalb wir dieses jezt besprechen, recht festhalten, indem wir sie fragen, Es bewegt sich alles und fliesst, wie ihr sagt, nicht wahr?

Theodoros. Ja.

Sokrates. Und zwar nach beiden Bewegungen, die wir un-

182 THEAITETOS.

terschieden haben, indem es den Ort vertauscht und sich ver- ändert?

Theodoros. Wie sonst? Daessich ja vollständig bewegen soll.

Sokrates. Wenn es nun nur den Ort wechselte, sich aber nicht veränderte, dann könnten wir doch noch sagen, was denn eigentlich seinen Ort wechselnd fliesst. Oder wie sollen wir sagen? |

Theodoros. Gerade 50. ᾿

Sokrates. Da aber auch dieses nicht einmal beharrt, dass

das fliessende roth fliesst, sondern gleichfalls wechselt, so dass.

es auch von eben diesem der Röthe einen Fluss giebt und Ueber- gang zu einer andern Farbe, damit es nicht auf diese Art als ein beharrendes ertappt werde; ist es nun wol möglich, dass man et- was als eine gewisse Farbe benennt, so dass man es richtig be- nenne?

Theodoros. Wie sollte man wol, 0 Sokrates, und eben so wenig irgend etwas ähnliches, da ja alles dem Redenden unter den Händen entschlüpft, als immer fliessend.

Sokrates. Und was sollen wir sagen von der Wahrnehmung welcher Art du immer willst, wie vom Sehen oder Hören, dass sie je darin verharre im Sehen oder Hören?

Theodoros. Wir dürfen es nicht, weil ja alles sich bewegt.

Sokrates. Man darf also nicht mit grösserem Rechte etwas ein Sehen nennen als ein Nichtsehen, und eben so mit jeder an- dern Wahrnehmung, da ja alles auf alle Weise sich bewegt.

Theodores. Freilich nicht.

Sokrates. Nun aber ist Wahrnehmung Erkenniniss, wie wir heide gesagt haben, Theaitetos und ich.

Theodoros. So war es. Fr

Sokrates. Wir haben also, als wir gefragt wurden was Er- kenniniss wäre, durch eiwas geantwortet, was nicht mehr und ei- gentlicher Erkenniniss ist als Nicht-Erkenntniss.

Theodoros. So scheint es euch ergangen. zu sein.

Sokrates. Herrlich ist uns also die Befestigung unserer. Ant- wort gerathen, da wir zu zeigen suchten, es bewege sich alles,

183 damit eben hiedurch jene Antwort als die richtige erschiene. Denn

nun hat sich, wie es scheint, gezeigt, dass, wenn alles sich bewegt, jede Antwort, worauf auch Jemand zu antworten habe, man sage nun es verhalte sich so oder so, gleich richtig ist oder vielmehr wird, damit wir nicht doch noch dieses als beharrlich vorstellen in unserer Rede.

THEAITETOS. ‚483

Theodoros. Du sagst ganz recht.

Sokrates. Ausgenommen, Theodoros, dass ich Se gesagt habe und Nicht so. Denn auch dieses So darf man nicht sagen, weil das So sich nicht bewegt; noch auch Nicht so, denn auch das wäre keine Bewegung; sondern die welche diesen Saz behaupten müssen eine andere Sprache dafür einführen, denn bis jezt noch giebt es für ihre Veraussezung keine Worte, es müsste etwa sein das Auf keine Weise; so möchte es ihnen noch am ehesien zu- sagen ganz unbestimmt ausgedrükkt.

Theodoros. Dies wäre freilich ihre angemessenste Redensart.

Sokrates. So hätten wir also, o Theodoros, einerseits deinen Freund nun abgefertigt, und geben ihm immer nech nicht zu, dass jeder das Maass aller Dinge sein soll, wenn einer nämlich nicht weise und verständig ist; andrerseits werden wir, dass Erkenntniss Wahrnehmung sei, nicht zugeben, nämlieh naeh der Lehre von der Beweglichkeit aller Dinge. Es müsste denn Theaitetes hier noch etwas anderes sagen.

Theodoros. Vortrefilich gesprochen, Sokrates. Denn da dieses zu Ende gebracht ist: so muss auch ich abgefertigt sein als Ant- wortender, nach dem Vertrage, wenn die Verhandlung über den Saz des Protagoras ihr Ende erreicht haben würde.

Theaitetos. Nicht eher jedoch, Theedoros, bis Sokrates mit dir auch diejenigen, welche dagegen behaupten, dass das Ganze stehe, durchgegangen ist, wie ihr euch eben vorgenommen habt.

Theodoros. So jung noch, Theaitetos, und lehrst schon die Alten Unrecht thun und Verträge übertreten? Nein, sondern rüste du dich, wie du für das übrige dem Sokrates Antwort geben willst.

Theaitetos. Wenn er es so will. Aım liebsten jedoch hätte jeh das gehört, was ich eben sagte.

Theodoros. Das heisst Reuter in die Ebene lokken, wenn man den Sokrates auf Reden herausfordert. Frage ihn nur, und du wirst es wol erfahren.

Sokrates. Dennoch dünkt mich, Theodoros, dass ich dem Theaitetos in seinem Begehren nicht willfahren werde.

Theodoros. Warum ihm nicht willfahren?

Sokrates. Den Melissos zwar und die Andern, welche sagen, das Ganze sei Ein unbewegliches, scheue ich, dass wir sie nicht etwas täppisch mustern, minder jedoch sie scheuend, als den einen Parmenides. Parmenides aber ist nach dem lHomeros ehrenwerth mir und zugleich furchtbar. Denn ich habe Gemeinschaft mit dem Manne gehabt noch ganz jung, da er schon alt war, und es oflen-

184 THEAITETOS.

barte sich mir in ihm eine ganz seltene und herrliche Tiefe des Geistes. Ich fürchte daher, dass wir theils was er gesagt nicht verstehen, theils was er damit gemeint noch viel weiter dahinten lassen werden, und was noch mehr ist, dass dasjenige, weshalb

184unsere Rede so weit gegangen ist, nämlich von der Erkenntniss, was sie ist, unausgemacht bleiben werde, wegen aller herzuströ- menden Fragen, wenn man sie hören will, zumal auch schon die unübersehlich vielfältige, die wir jezt aufgerührt haben, wenn man sie nur beiläufig untersuchen will, Ungebühr: leiden, wenn man sie aber hinreichend ausführt, die von der Erkenntniss verdrängen wird. Beides aber darf nicht sein, sondern wir. müssen versuchen, den Theaitetos dessen, womit er schwanger ist über die Erkennt- niss, durch unsere geburtshelferische Kunst. zu entbinden.

Theodoros. Wolan, wenn es dir gut dünkt, müssen wir es also thun.

Sokrates. So erwäge denn, Theaitetos, was das bisher ge- sagte betrifft, auch noch dieses. Wahrnehmung sei Erkenntniss, haltest du geantwortet. Nicht wahr?

Theaitetos. Ja. |

Sokrates. Wenn nun Jemand dich so fragte, Womit doch sieht der Mensch das weisse und schwarze, und womit hört er das hohe und tiefe, würdest du, glaube ich, sagen, Mit den Augen und Ohren.

Theaitetos. Ich gewiss.

Sokrates. Es mit Worten aller Art nicht so genau nehmen, und sie nicht mit Spizfindigkeit aussondern, das ist grösstentheils gar nicht unfein, sondern vielmehr das Gegentheil davon hat etwas unfreies und knechtisches, nur ist es bisweilen doch noihwendig. So ist es auch jezt nölhig, die Antwort die du gegeben hast dabei anzugreifen, in wiefern sie nicht richtig ist. Denn betrachte selbst, welche Antwort richtiger ist, ob das womit wir sehen die Augen sind, oder das vermitielst dessen, und das womit wir hören die Ohren, oder das vermittelst dessen ? |

Theaitetos. Vermittelst dessen wir jegliches wahrnehmen, dünkt mich besser als womit, |

Sokrates. Arg wäre es auch, Sohn, wenn diese mancherlei Wahrnehmungen wie im hölzernen Pferde in uns neben einander lägen, und nicht alle in irgend einem du magst es nun Seele oder wie sonst immer nennen zusammenliefen, mit der wir dann ver- mittelst jener, dass ich so sage, Werkzeuge wahrnehmen was nur wahrnehmbar ist.

THEAITETOS. 185

Theaitetos. Darum dünkt mich auch dieses besser als jenes.

Sokrates. Weshalb aber führe ich dich darauf so genau, ob wir mit einem und demselben in uns vermittelst jezt der Augen das weisse und schwarze, dann der andern wieder anderes auf- fassen, und ob du nicht befragt alle diese auf den Körper zurükk- führen würdest? Doch es ist vielleicht besser, dass du selbst dies beantwortest und erklärst, als dass ich mich für dich in Weitläuf- tigkeit einlasse. So sage mir denn, das vermittelst dessen du warmes, hartes, leichtes, süsses wahrnimmst, sezest du dies nicht alles als zum Leibe gehörig? oder als zu einem andern?

Theaitetos. Zu keinem andern.

Sokrates. Wirst du auch wol zugeben wollen, dass du das- jenige, was du vermittelst des einen Vermögens wahrnimmst, un-185 möglich vermittelst eines andern wahrnehmen könntest; als was vermittelst des Gesichtes, das nicht vermittelst des Gehörs, und was vermittelst des Gehörs, das nicht vermittelst des Gesichtes?

Theaitetos. Wie sollte ich nicht wollen?

Sokrates. Wenn du also über beides etwas denkst, so kannst du dies weder mittelst des einen Werkzeuges noch auch mittelst des andern von beiden wahrgenommen haben?

Theaitetos. Freilich nicht.

Sokrates. Von dem Tone nun und von der Farbe, denkst du nicht von diesen beiden zuerst dieses, dass sie beide sind?

Theaitetos. Das denke ich.

Sokrates. Nicht auch, dass jedes von beiden vom andern verschieden, mit sich selbst aber einerlei ist?

Theaitetos. Freilich.

Sokrates. Und dass sie beide zusammen Zwei sind, jedes von beiden aber Eins.

Theaitetos. Auch dieses.

Sokrates. Bist du nicht auch im Stande, mögen sie nun ein- ander ähnlich sein oder unähnlich, dies zu erforschen?

Theaitetos. Vielleicht.

Sokrates. Dieses alles nun, vermittelst wessen denkst du es von ihnen? Denn weder vermittelst des Gesichtes, noch verm ittelst des Gehörs ist es dir möglich, das gemeinschaftliche von ihnen aufzufassen. Auch dies ist noch ein Beweis mehr für das was wir sagen. Nämlich wenn es möglich wäre zu untersuchen, ob beide salzig sind: so weisst du doch, was du sagen würdest womit du es untersuchtest, und das ist offenbar weder das Gesicht noch das Gehör, sondern etwas anderes.

186 THEAITETOS.

Theaitetos. Was wird es nicht, nämlich das Vermögen ver- mittelst der Zunge.

Sokrates. Ganz recht. Vermittelst wessen wirkt denn nun dasjenige Vermögen, welches dir das in allen und auch in diesen Dingen gemeinschaftliche offenbart, womit du von ihnen das Sein oder Nichtsein aussagst, und das wonach ich jezt.eben fragte? Für dies alles, was für Werkzeuge willst du annehmen, vermittelst deren unser wahrnehmendes jedes davon wahrnimmt?

Theaitetos. Du meinst ihr Sein und Nichtsein, ihre Aehnlich- keit und Unähnlichkeit, Einerleiheit und Verschiedenheit, ferner ob sie Eins sind oder eine andere Zahl. Offenbar begreifst du darunter auch die Frage nach dem geraden und ungeraden, und was damit zusammenhängt, vermittelst welcher Theile des Körpers nämlich wir dies mit der Seele wahrnehmen.

Sokrates. Ganz vortrefflich, o Theaitetos, folgst du mir; denn dies ist es eben, wonach ich frage.

Theaitetos. Aber, beim Zeus, Sokrates, dies wüsste ich nicht zu sagen, ausser dass es mir scheint, als gäbe es überall gar nicht ein solches besonderes Werkzeug für dieses wie für jenes, sondern die Seele scheint mir vermittelst ihrer selbst das gemein- schaftliche in allen Dingen zu erforschen.

Sokrates. Schön bist du, Theaitetos, und gar nicht, wie Theo- doros sagt, hässlich; denn wer so schön spricht, der ist schön und gut. Ausserdem aber, dass dieses schön gesagt war, hast du auch mir eine grosse Wohlthat erwiesen, indem du mir über vieles Reden hinweggeholfen hast, wenn es dir einleuchtet, dass einiges die Seeie selbst vermittelst ihrer selbst erforscht, anderes aber vermittelst der verschiedenen Vermögen des Körpers. Denn eben dieses war es was ich selbst meinte, und wovon ich wünschte, du möchtest es auch meinen.

Theaitetos. Gar sehr leuchtet es mir ein.

Sokrates. Zu welchem von beiden rechnest du nun das Sein? Denn dies ist es doch, was am meisten bei, allem vorkommt?

Theaitetos. Zu dem, was die Seele selbst durch sich selbst aufsucht.

Sokrates. Wol auch 50. die Aehnlichkeit und Unähnlichkeit, das Einerleisein’ und das Verschiedensein?

Theaitetos. Ja.

Sokrates. Und wie das schöne und schlechte, das gute und böse ? |

Theaitetos. Auch hievon besonders dünkt mich die Seeie das

Se .

THEAITETOS. 187

Verhalten gegen einander zu erforschen, indem sie bei.sich selbst das geschehene und gegenwärtige in Verhältniss sezt mit dem künftigen.

Sokrates. Wolan denn! wird sie nicht die Härte des harten und die Weichheit des weichen vermittelst des Getastes wahrnehmen?

Theaitetos. _ Ja.

Sokrates. Aber das Sein von beiden, und was sie sind, und ihre Gegensezung gegen einander und das Wirklich sein dieser Entgegensezung, dies versucht also unsere Seele selbst durch Be- trachtung und Vergleichung zu beurtheilen.

Theaitetos. In alle Wege.

Sokrates. Nicht wahr, jenes wahrzunehmen, was irgend für Eindrükke durch den Körper zur Seele gelangen, das eignet schon Menschen und Thieren von Natur, sobald sie geboren sind, Allein zu den Schlüssen hieraus auf das Sein und den Nuzen gelangen nur schwer mit der Zeit und durch viele Mühe und Unterricht die, welche überall dazu gelangen?

Theaitetos. So ist es allerdings.

Sokrates. Kann nun wol dasjenige das wahre Wesen von eiwas erreichen, was nicht einmal sein Dasein erreicht?

Theaitetos. Unmöglich.

Sokrates. Wovon man aber das wahre Wesen nicht erreicht, kann man davon Erkenntniss haben?

Theaitetos. Wie könnte man doch, Sokrates.

Sokrates. In jenen Eindrükken also ist keine Erkenntniss, wol aber in den Schlüssen daraus. Denn das Sein und das wahre Wesen zu erreichen ist, wie es scheint, nur durch diese möglich, durch jene aber unmöglich.

Theaitetos. Das leuchtet ein.

Sokrates. Willst du nun jenes und dieses dasselbe nennen, da beides so grosse Verschiedenheiten zeigt?

Theaitetos. Das scheint wol nicht billig.

Sokrates. Welchen Namen nun legst du jenen bei, dem Se- hen, Hören, Riechen, Frieren, Warmsein?

Theaitetos. Wahrnehmen nenne ich es. Denn wie anders?

Sokrates. Insgesammt also nennst du dies Wahrnehmung.

Theaitetos. Natürlich.

Sokrates. Welcher, wie wir gesagt haben, nicht verliehen ist bis zum wahren Wesen zu gelangen, da sie ja auch nicht bis zum Sein gelangt’?

Theaitelos, Nicht verliehen.

188 THEAITETOS.

Sokrates. Also auch nicht zur Erkenntniss?

Theaitetos. Nicht füglich.

Sokrates. Auf keine Weise also, Theaitetos, wäre Wahr- nehmung und Erkenntniss dasselbe.

Theaitetos. Es scheint nicht; vielmehr ist es jezt vollkommen deutlich geworden, dass die Erkenntniss etwas anderes ist als die Wahrnehmung. !

Sokrates. Aber wir haben ja doch nicht deshalb angefangen uns zu unterreden, um zu finden was die Erkenntniss nicht ist,

187sondern was sie ist. Indess sind wir doch nun wenigstens so weit vorgeschritten, dass wir sie ganz und gar nicht unter der Wahr- nehmung suchen wollen, sondern unter demjenigen Namen, den die Seele führt, wenn sie sich für sich selbst mit dem was ist beschäftiget.

Theaitetos. Dieses, o Sokrates, wird ja glaube ich das Vor- stellen genannt.

Sokrates. Ganz recht glaubst du, Lieber, und nun sieh wie- der von vorn nach Auslöschung alles vorigen, ob du nun mehr siehst, da du doch bis hieher vorgedrungen bist, und sage noch einmal, was wol die Erkenntniss ist?

Theaitetos. Zu sagen, dass alle Vorstellung es sei, Sokrates, ist unmöglich, indem es auch falsche Vorstellungen giebt. Es mag aber wol die richtige Vorstellung Erkenntniss sein; und dieses will ich nun geantwortet haben. Denn sollte es uns, wenn wir weiter gehen, nicht mehr so scheinen, so wollen wir, wie jezt auch, dann versuchen etwas anderes zu sagen.

Sokrates. Das ist Recht, Theaitetos, und so muss man etwas muthiger reden, als du anfänglich nur allzubedenklich warest zum antworten. Machen wir es so, so werden wir eins von beiden, entweder das finden, worauf wir ausgehn, oder nicht so sehr glau- ben dasjenige zu wissen, was wir keinesweges wissen. Und auch ein solcher Preis wäre schon nicht zu verschmähen. Wie meinst du es aber jezt? Von zwei Arten der Vorstellung, deren die eine die wahre ist, die andere die falsche, erklärst du die wahre für die Erkenntniss? |

Theaitetos. Das thue ich; denn dies leuchtet mir für jezt ein.

Sokrates. Sollen wir über die Vorstellung noch einmal weiter zurükkgehn?

Theaitetos. Worauf meinst du nur?

Sokrates. Es beunruhigt mich jezt sowol als auch sonst schon oft so, dass ich in grosser Verlegenheit deshalb bei mir

THEAITETOS. 189

selbst und auch vor Andern: gewesen bin, dass ich nämlich nicht zu sagen weiss, was für ein Ereigniss doch dieses in uns ist, und wie es uns entsteht.

Theaitelos. Welches denn?

Sokrates. Dass Jemand falsch vorstellt. Und auch jezt über- lege ich noch zweifelhaft, ob wir es so lassen, oder ob wir es auf eine andere Art als vor kurzem nochmals in Erwägung nehmen.

Theaitetos. Warum nicht, Sokrates, wenn es dir nur im min- desten nöthig scheint. Denn gar nicht schlecht habt ihr vorher über die Musse geredet, du und Theodoros, dass uns nichts drängt in dergleichen Dingen.

Sokrates. Ganz recht erinnerst du mich. Vielleicht ist es nicht übel gethan, die Spur noch einmal zu verfolgen. Denn es ist besser, ein Weniges gut, als Vieles ungenügend zu vollbringen.

Theaitetos. Allerdings.

Sokrates. Wie nun, was sagen wir eigentlich? Behaupten wir, dass je eine Vorstellung wirklich falsch sei, und dass der Eine von uns falsch vorstelle, der Andere richtig, so dass sich dies in der Natur so verhalte?

Theaitelos. Das behaupten wir freilich.

Sokrates. Nun findet sich doch dies bei uns in allen Dingen und in jedem einzelnen, dass wir darum wissen, oder dass wir nicht darum wissen. Denn das Lernen und Vergessen als zwischen beiden befindlich will ich für jezt liegen lassen, weil es uns jezt188 gar nicht zur Sache gehört.

Theaitetos. Dann freilich, Sokrates, bleibt nichts übrig für jede Sache, als darum zu wissen oder nicht darum zu wissen.

Sokrates. Ist es nun nicht nothwendig, dass wer vorstellt entweder von dem etwas vorstelle wovon er weiss, oder wovon er nicht weiss?

Theaitetos. Nothwendig.

Sokrates. Dass aber wer etwas weiss dasselbe auch nicht wisse, oder wer nicht weiss wisse ist doch unmöglich.

Theaitetos. Wie sollte es nicht.

Sokrates. Also wer das falsch vorstellt, wovon er weiss, der glaubt wol, dass es nicht dieses ist, sondern etwas anderes, um welches er auch weiss, und um beides wissend kennt er auch wie- der beides nicht?

Theaitetos. Aber das ist ja unmöglich.

Sokrates. Oder das, wovon er nicht weiss, hält er wol für irgend anderes, wovon er ebenfalls nicht weiss, und das hiesse Je-

189

196° THEAITETOS.

manden, der weder vom Sokrates weiss noch vom Theaitetos, käme in den Sinn, Sokrates wäre Theaitetos oder Theaitetos Sokrates.

Theaitetos. Aber wie ginge das?

Sokrates. Doch wird auch Niemand glauben, eiwas wovon er weiss sei etwas wovon .er nicht weiss, noch auch auf der andern Seite, wovon er nicht weiss, das sei etwas wovon er weiss.

Theaitetos. Ein Wunder wäre ja das.

Sokrates. Wie soll also noch einer falsch vorstellen? Denn ausser diesem ist es doch unmöglich etwas vorzustellen, da wir ja von allem entweder wissen oder nicht wissen, und hierin scheint es unmöglich irgendwie falsch vorzustellen.

Theaitetos. Sehr wahr.

Sokrates. Wollen wir nun etwa lieber nicht auf die Art dem nachdenken, was wir suchen, dass wir auf das Wissen oder Nicht- wissen gehn, sondern auf das Sein oder Nichtsein?

Theaitetos. Wie meinst du das?

Sokrates. Ob .nicht etwa schlechthin wer von irgend einer Sache das was nicht ist vorstellt auf jeden Fall falsch vorstellt, wie es auch übrigens in seiner Seele stehen mag.

Theaitetos. Das hat wieder einen guten Anschein, Sokrates.

Sokrates. Wie aber? Was werden wir sagen, Theaitetos, wenn uns Jemand fragt, Ist das auch irgend einem möglich, was ihr sagt? und kann wol einer das was nicht ist vorstellen, sei es nun an und von irgend etwas oder an und für sich selbst? Darauf werden wir wie es scheint sagen müssen, wenn er nicht das wahre glaubt, indem er etwas glaubt. Oder was wollen wir sagen?

Theaitetos. Eben dies.

Sokrates. Findet denn aber auch anderwärts dieses nämliche Stait? |

Theaitetos. Was denn?

Sokrates. Ob wol Jemand sieht, und doch nichts sieht?

Theaitetos. Wie könnte er?

Sokrates. Wenn er nun aber ein Etwas sieht, so sieht er auch wirkliches. Oder glaubst du, das Etwas könne je zu dem nichtwirklichen gehören?

Theaitetos. Ich keinesweges. |

Sokrates. Wer also etwas sieht, der sieht auch wirkliches.

Theaitetos. So scheint es.

Sokrates. Und eben so wer hört, hört Eiwas und wirkliches?

Theaitetos. Ja.

ET ER

THEAITETOS. 191.

Sokrates. Und wer betastet, der betastet Etwas, und wenn Etwas, auch wirkliches.

Theaitetos. Auch das.

Sokrates. Und wer vorstellt, der sollte nicht Etwas vorstellen ?

Theaitetos. Nothwendig.

Sokrates. Und wer Etwas vorstellt, nicht wirkliches?

Theaitetos. Ich gebe es zu.

Sokrates. Wer also vorstellt was nicht ist, der stellt nichts vor?

Theaitetos. So scheint es.

Sokrates. Wer aber nielts vorstellt, der wird gewiss über- haupt gar nicht vorstellen ?

Theaitetos. Offenbar, wie wir sehen.

Sokrates. So ist es demnach nicht möglich das was nicht ist vorzustellen, weder von etwas das ist, noch auch an und für sich?

Theaitetos. Es scheim nicht.

Sokrates. Also muss falsch vorstellen eiwas anderes sein als was nicht ist vorstellen. |

Theaitetos. Etwas anderes, so scheint es.

Sokrates. Weder auf diese Art also, noch so wie wir es Vor her aufgefasst hatten, giebt es eine falsche Vorstellung in uns.

Theaitetos. Nein freilich nicht.

Sokrates. Sondern etwa so wollen wir aussagen, dass dieses geschehe.

Theaitetos. Wie denn?

Sokrates. Als eine verwechselte Vorstellung finde falsche Vor- stellung statt, wenn Jemand etwas wirkliches mit einem andern wirkliehen in Gedanken vertauschend sagt, jenes sei dieses. Denn so stellt er immer etwas wirkliches vor, aber eines statt des an- dern, und indem er das verfehlt worauf er zielte, kann man mit Recht sagen, dass er falsch vorstellt.

Theaitetos. Jezt scheinst du mir vollkommen richtig gesprochen zu haben. Denn wenn sich Jemand etwas anstalt schön hässlich oder anstatt hässlich schön vorstellt, dann hat er wirklich falsch vorgestellt.

Sokrates. Offenbar, Theaitetos, behandelst du mich sehr oben- hin und fürehtest mich gar nicht nıehr.

Theaitetos. Wie so denn?

Sokrates. Du glaubst gar nicht, denke ich, dass ich dieses „wirklich falsch” aufgreifen und dich fragen werde, ob es wol mög- lich ist, dass langsam schnell, oder leicht schwer, ‚oder irgend eines von zwei enigegengesezten nicht nach seiner eignen, sondern nach

492 THEAITETOS.

der Natur seines Gegensazes und sich selbst entgegengesezt werden könne. Doch dieses will ich gehen lassen, damit du nicht ver- geblich dreist gewesen bist. Es gefällt dir aber, wie du sagst, dass falsch vorstellen ein verwechseltes Vorstellen sein soll?

Theaitetos. Mir ja.

Sokrates. Es ist also deiner Meinung nach möglich, etwas als ein anderes und nicht als jenes in Gedanken zu sezen.

Theaitetos. Das ist es auch.

Sokrates. Wenn dies nun Jemandes Seele thut, so muss sie doch nothwendig entweder beides oder das eine denken.

Theaitetos. Nothwendig.

Sokrates. Entweder zugleich oder nach einander.

Theaitetos. Sehr schön.

Sokrates. Und Denken, verstehst du darunter eben das wie ich?

Theaitetos. Was verstehst du darunter?

Sokrates. Eine Rede, welche die Seele bei sich selbst durch- geht über dasjenige was sie erforschen will. Freilich nur als ein Nichtwissender kann ich es dir beschreiben. Denn so schwebt sie mir vor, dass, so lange sie denkt, sie nichts anders thut als sich unterreden, indem sie sich selbst antwortet, bejaht und verneint.

190 Wenn sie aber langsamer oder auch schneller zufahrend nun etwas feststelli, und auf derselbigen Behauptung beharrt, und nicht mehr zweifelt, dies nennen wir dann ihre Vorstellung. Darum sage ich, das Vorstellen ist ein Reden, und die Vorstellung ist eine gespro- chene Rede, nicht zu einem Andern und mit der Stimme, sondern stillschweigend zu sich selbst. Wie aber du?

Theaitetos. Ich auch so.

Sokrates. Wenn also Jemand eins als das andere vorstellt: so sagt er auch wie es scheint zu sich selbst, das eine sei das andere?

Theaitetos. Wie sonst?

Sokrates. So erinnere dich doch, ob du wol jemals zu dir selbst gesagt hast, das schöne sei doch ganz gewiss hässlich und das ungerechte gerecht, oder auch, welches die Summe von allem ist, bedenke ob du wol jemals auch nur versucht hast dich selbst zu überreden, das eine sei doch gewiss das andere? oder ob nicht vielmehr ganz im Gegentheil dir nicht einmal im Schlaf ein- gefallen ist zu dir selbst zu sagen, dass doch ganz gewiss ungerade gerade wäre oder etwas dergleichen?

Theaitetos. Du hast Recht.

Sokrates. Und glaubst du, dass irgend ein Anderer bei ge-

ne

THEAITETOS. 193

sundem Verstande oder auch gar ein Wahnwiziger das Herz habe, ausdrükklich zu sich selbst zu sagen, dass der Ochse doch gewiss ein Pferd wäre, oder Zwei Eins?

Theaitetos. Beim Zeus, ich nicht.

Sokrates. Wenn also das zu sich selbst reden Vorstellen heisst: so wird keiner, der beides aussagt und vorstellt und mit seiner Seele beides aufnimmt, jemals sagen und vorstellen, als ob eins das andere wäre. Und auch du musst jenes Wort von dem einen anstatt des andern fahren lassen; denn ich sage wiederum, so stelle niemand vor, dass das hässliche schön sei oder etwas dergleichen.

Theaitetos. Ich lasse es fahren, und es dünkt mich so wie du sagst.

Sokrates. Wer also beides vorstellt, dem ist es unmöglich eins als das andere vorzustellen.

Theaitetos. So scheint es.

Sokrates. Wer aber nur das eine von beiden vorstellt, das andere aber ganz und gar nicht, der kann doch gewiss niemals vorsiellen, dass das eine das andere sei.

Theaitetos. Du hast Recht. Denn er müsste sonst etwas zu- gleich mit aufnehmen, was er gar nicht vorstellt.

Sokrates. Weder also, wer beides noch wer nur das eine vorstellt, kann verwechselt vorstellen; so dass wer die Erklärung geben will, falsche Vorstellungen wären verwechselte Vorstellungen, der hat nichts gesagt. Denn weder auf diese noch auf die vorher erwähnte Art scheint eine falsche Vorstellung in uns sein zu können.

Theaitetos. Es scheint nicht. |

Sokrates. Jedoch, Theaitetos, wenn sich diese gar nicht zei- gen will als wirklich; so werden wir gezwungen werden, sehr viel unstatthafte Dinge zuzugeben.

Theaitetos. Was für welche doch?

Sokrates. Das will ich dir nicht eher sagen, als ich auf jede mögliche Art versucht habe, die Sache zu erforschen. Denn ich würde mich schämen für uns, wenn wir während dieser Verlegen- heit gezwungen würden einzuräumen was ich meine. Werden wir

es aber gefunden und uns frei gemacht haben, dann wollen wir, 491

selbst in Sicherheit gestellt gegen das Gelächter, davon reden in Beziehung auf die Andern, wie es denen dabei ergehen muss. Müssen wir aber jede Hoffnung aufgeben, dann wollen wir uns,

meine ich, demüthig dem Saz hingeben, wie Seekranke uns zu Plat. W. 11. Th. I, Ba. 13

194 THEAITETOS.

treten und mit uns zu machen was er will. So höre denn was für einen Ausweg ich noch sehe bei unserer Frage.

Theaitelos. Sage nur.

Sokrates. Ich will läugnen, dass wir Recht hatten, als wir einräumten, wovon Jemand wisse, davon sei ihm unmöglich vor- zustellen, dass es etwas sei, wovon er nicht weiss; sondern dies ist allerdings auf gewisse Weise möglich.

Theaitetos. Meinst du etwa das, wovon auch ich damals als wir dies abhandelten vermuthete, es gehöre hieher, dass bisweilen ich, der ich den Sokrates kenne, von fern bei Erblikkung eines Andern, den ich nicht kenne, glauben kann es sei Sokrates, von dem ich doch weiss. Denn in diesem Falle geschieht was du sagst.

Sokrates. Waren wir aber nicht davon abgestanden, weil dar- aus folgt, dass wir etwas, wovon wir wissen, indem wir davon wissen zugleich auch nicht wissen?

Theaitetos. Allerdings.

Sokrates. Lass es uns also nicht so aufstellen, sondern so. Vielleicht wird man es uns so zugeben, vielleicht auch sich wieder dagegen sträuben; allein wir sind in einem solchen Gedränge, dass wir nothwendig jede Rede noch einmal umdrehn und prüfen müs- sen. Sieh also zu, ob ich etwas sage. Ist es möglich, eiwas was man vorher nicht weiss, nachher zu lernen?

Theaitetos. Das ist es freilich.

Sokrates. Also auch ein andermal anderes und wieder anderes?

Theaitetos. Wie sollte es nicht!

I Sokrates. So seze mir nun, damit wir doch ein Wort haben, in unsern Seelen einen wächsernen Guss, welcher Abdrükke auf- nehmen kann, bei dem Einen grösser bei dem Andern kleiner, bei dem Einen von reinerem Wachs bei dem Andern von schmuzige- rem, auch härter bei Einigen und bei Andern feuchter, bei Einigen auch gerade wie er sein muss.

Theaitetos. Ich seze ihn.

Sokrates. Dieser, wollen wir-sagen, sei ein Geschenk von der Mutter der Musen, Mnemosyne, und wessen «wir uns erinnern wollen von dem gesehenen oder gehörten oder auch selbst gedachten, das drükken wir in diesen Guss ab, indem wir ihn den Wahrnehmun- gen und Gedanken unterhalten, wie beim Siegeln mit dem Gepräge eines Ringes. Was sich nun abdrükkt, dessen erinnern wir uns und wissen es, so lange nämlich sein Abbild vorhanden ist. Hai sich aber dieses verlöscht oder ‚hat es gar nicht abgedrukkt werden rekonnt: so vergessen wir die Sache, und wissen sie nicht?

Den

THEAITETOS. 195

Theaitetos. So soll es sein.

Sokrates. Wer nun auf diese Art weiss, und dann etwas be- trachtet was er sieht oder hört, sieh zu, ob der nun auf folgende Weise falsch vorstellen kann.

Theaitetos. Auf welche dann?

Sokrates. Indem er etwas, wovon er weiss, bisweilen für etwas hält, wovon er weiss, bisweilen für etwas, wovon er nicht weiss. Denn dass dies unmöglich sei, haben wir im Vorigen nicht

: Recht gehabt einzuräumen.

Theaitetos. Was sagst du denn jezt davon? Sokrates. 80 muss man davon reden, indem man die Sache

gleich von Anfang an näher bestimmt. Wovon Jemand weiss, in-192

dem er dessen Denkmal in der Seele hat, was er aber nicht wahr- nimmt, dieses für ein anderes zu halten wovon er ebenfalls weiss, indem es dessen Abdrukk hat, was er aber ebenfalls nicht wahr- nimmt, dies ist unmöglich. Wiederum eiwas, wovon er weiss, für etwas zu halten, wovon er nicht weiss noch auch dessen Gepräge hat; eben so wovon er nicht weiss für ein anderes wovon er nicht weiss, oder etwas wovon er nicht weiss für eiwas wovon er weiss. Ferner etwas das er doch wahrnimmt für ein anderes zu halten das er ebenfalls wahrnimmt, oder was er nicht wahrnimmt für ein anderes, was er auch nicht wahrnimmt, oder auch was er nicht wahrnimmt für etwas, das er wahrnimmt. Ferner auch das wovon er weiss und es wahrnimmt, indem er zugleich ein der Wahrneh- mung gemässes Abzeichen davon hat, dieses für ein anderes zu halten, wovon er ebenfalls weiss und es wahrnimmt, indem er ebenfalls zugleich ein der Wahrnehmung gemässes Abzeichen davon hat, das ist, wenn es sein kann, noch unmöglicher als jenes. Fer- ner was er weiss und wahrnimmt, ein richtiges Denkmal davon babend, für ein anderes zu halten wovon er weiss ist ebenfalls unmöglich; und wovon er weiss unter derselben Voraussezung und es wahrnimmt für ein anderes das er wahrnimmt. Eben so, wo- von er weder weiss noch es wahrnimmt, dies für ein anderes wovon er weder weiss noch es wahrnimmt; oder wovon er weder weiss noch es wahrnimmt für etwas wovon er nicht weiss; oder etwas wovon er weder weiss noch es wahrnimmt für etwas das er nicht wahrnimmt. In allen diesen Fällen ist ein Uebermaass von Unmöglichkeit, dass Jemand darin falsch vorstellen sollte. Es bleibt also nur übrig, wenn irgendwo, dass in folgenden Fällen so etwas geschehe. 15*

196 THEAITETOS.

Theaitetos. In welchen nur wol? ob ich vielleicht durch sie der Sache besser inne werde: denn jezt freilich folge ich gar nicht.

Sokrates. Dass er das, wovon er weiss, für etwas anderes halte, wovon er auch weiss und was er eben wahrnimmt; oder auch für etwas, wovon er nicht weiss, das er aber wahrnimmt; oder endlich etwas das er wahrnimmt und wovon er weiss für ein anderes, das er auch wahrnimmt, und wovon er weiss.

Theaitetos,. Nun bleibe ich noch viel weiter zurükk als vorher.

Sokrates. So höre es noch einmal auf diese Art. Ich der ich vom Theodoros weiss, und mich bei mir selbst erinnere, wie er beschaffen ist, und eben so auch vom Theaiteios, sehe sie doch nur bisweilen und dann wieder nicht, beiaste sie und dann wieder nicht? eben so bisweilen höre ich euch oder nehme euch auf eine andere Art wahr; dann aber habe ich auch wieder ganz und gar keine Wahrnehmung von euch, erinnere mich aber eurer nichts desto weniger, und kenne euch bei mir selbst?

Theaitetos. So ist es allerdings.

Sokrates. Merke also von dem was ich sagen will zuerst dieses, dass man dasjenige, wovon man bereits weiss, bisweilen nicht wahrnimmt, bisweilen auch wieder wahrnimmt.

Theaitetos. Richtig.

Sokrates. Kann man nicht auch eben so das, wovon man nicht weiss, bisweilen auch nicht einmal wahrnehmen, dann wieder wahrnehmen allein?

Theaitelos. Auch das verhält sich so.

Sokrates. So sieh nur ob du mir jezt besser folgst. Sokrates

193kennt den Theodoros und Theaitetos, sieht aber keinen von beiden noch auch kommt ihm irgend eine andere Wahrnehmung von ihnen zu; niemals wird er sich in diesem Falle vorstellen, als ob Theai- tetos Theodoros wäre. Habe ich recht oder nicht?

Theaitetos. O ja, ganz recht.

Sokrates. Dies war das erste unter dem was ich aufgestellt habe.

Theaitetos. So war es. Ä

Sokrates. Das zweite nun war, dass wenn ich den einen von euch kenne, den andern aber nicht kenne, und keinen von beiden wahrnehme, ich dann nie auf den Gedanken kommen kann, der, von dem ich weiss, sei der, von dem ich nicht weiss,

Theaitetos. Richtig.

Sokrates. Das. dritte war, dass wenn ich von keinem von beiden weiss, noch auch sie wahrnehme, ich ebenfalls nicht glau-

<

een.

THEAITETOS. 197

wie

ben kann, der eine von dem ich nicht weiss, sei der andere von dem ich ebenfalls nicht weiss. Und so nimm an, du habest der Reihe nach noch einmal auf diese Art gehört alle die vorigen Fälle, in denen ich auf keine Weise in Hinsicht auf dich und den Theo- doros falsch vorstellen kann sowol unter der Voraussezung, dass ich euch beide kenne, als unter der, dass ich euch beide nicht kenne, und unter der, dass ich den einen von euch kenne, den andern aber nicht. Eben so nun mit den Wahrnehmungen, wenn du jezt folgst.

Theaitetos. Jezt folge ich. j

Sokrates. Es bleibt also übrig falsch vorzustellen in dem Falle, wenn ich den Theodoros sowol als dieh kennend, und von euch beiden wie von Siegelringen in jenen Wachs die Abdrükke habend, euch dann von weitem und nicht deutlich genug sehe, und indem ich mir Mühe gebe, das einem jeden zugehörige Ab- zeichen mit der ihm zugehörigen Gesichtswahrnehmung so zu ver- einigen, dass ich diese gleichsam in ihre vorigen Spuren wieder einzuführen suche, damit eine Wiedererkennung erfolge, ich dann dies verfehle, und wie beim Wiederanlegen der Schuhe beide ver- tauschend die Anschauung eines jeden zu dem fremden Abdrukk hinwerfe, oder eben so fehle wie es mit dem Sehen in den Spie- gel ergeht, wo was rechts ist auf die linke Seite hinüberfliesst: dann entsteht die Verwechselung der Vorstellung und das falsch vorstellen.

Theaitetos. Es ist gar nicht zu sagen, Sokrates, wie sehr was bei der Vorstellung vorkommt dem gleicht was du anführst.

Sokrates. Eben so auch ferner wenn ich beide kennend, den einen ausser dem Kennen auch wahrnehme, den andern aber nicht, wenn nämlich meine Kenntniss des einen der Wahrnehmung nicht entsprechend ist, welches ich vorher eben so sagte, und du da- mals nicht verstandest.

Theaitetos. Ich verstand es nicht.

Sokrates. Ich sagte nämlich dieses, dass wer den einen kennt und wahrnimmt, und eine der Wahrnehmung entsprechende Kennt- niss von ihm hat, gewiss niemals glauben wird, dieser sei ein Anderer, den er auch kennt und wahrnimmt, und von dem er ebenfalls eine der Wahrnehmung entsprechende Kenntniss hat. So war es doch?

Theaitetos. 18.

Sokrates. So blieb also eben das jezi angeführte übrig, wo- bei wir behaupten, dass eine falsche Vorstellung entstehen könne,

198 THEAITETOS.

dass nämlich wer beide kennt, und beide sieht oder sonst eine

194 Wahrnehmung von ihnen hat, die Abdrükke von beiden der Wahr- nehmung vielleicht nicht ähnlich besizt, und. so wie ein schlechter Schüze anderswohin treffen und sein Ziel verfehlen kann, welches eben auch falsch genannt wird.

Theaitetos. Und ganz mit Recht.

Sokrates. Also auch wenn nur zu dem einen Abdrukk die Wahrnehmung hinzukommt, zu dem andern aber nicht, und sie den der abwesenden Wahrnehmung dann der anwesenden zuschreibt, in dem allen kann die Seele sich ‚irren. Und mit einem Worte, in dem, wovon Jemand nicht weiss, noch es jemals wahrgenommen hat, findet, wie es scheint, das Irren nicht stait und die falsche Vorstellung, wenn wir anders jezt irgend etwas vernünftiges gesagt haben. In dem aber, wovon wir wissen und was wir wahrnehmen, darin dreht und wendet sich die Vorstellung bald richtig bald falsch gerathend; wenn sie nämlich gerade gegenüber geht und zusam- mengehörige Abbilder und Urbilder mit einander verbindet, wird sie wahr; wenn sie aber verdreht und kreuzweise verbindet, wird sie falsch.

Theaitetos. Das ist vortrefilich gesagt, Sokrates.

Sokrates. Hast du erst auch dieses gehört: so wirst du es noch mehr sagen. Das richtig vorstellen ist doch etwas schönes, das sich irren aber etwas schlechtes?

Theaitetos. Wie sollte es nicht.

Sokrates. Dieses nun sagt man entstehe daher. Wenn Je- mandes Wachs in der Seele stark aufgetragen ist und reichlich und glatt und gehörig erweicht, dann und bei solchen Menschen sind alle aus den Wahrnehmungen kommenden und in dieses Mark der Seele, wie Homeros die ÄAehnlichkeit mit dem Wachs andeu- tend sagt, eingezeichneten Abdrükke, da sie rein sind und Tiefe genug haben, auch dauerhaft, und solche Menschen selbst sind zu- erst gelehrig, dann auch von gutem Gedächiniss, ferner verwechseln sie nicht die Abdrükke der Wahrnehmungen, sondern stellen immer richtig vor. Denn sie können ihre festen und. geräumig gelegenen Abbilder leicht an das ihnen zugehörige vertheilen, was das wirk- liche heisst, und solche Menschen selbst heissen weise. Oder dünkt dich das nicht?

Theaitetos. Ueberaus sehr.

Sokrates. Wenn nun Jemandes Mark rauh ist, welches der in allen Dingen weise Dichter ‚gar loben will, oder wenn es schmu- zig ist md nreht von reinem Wachs, oder auch zu feucht oder zu

5 a

THEAITETOS. 199

hart: so sind die mit dem feuchten gelehrig zwar, aber auch ver- gesslich, die mit dem harten aber das Gegentheil. Die aber haari- ges und rauhes, und sieiniges oder mit Erde und Schmuz ver- mischtes haben, die haben auch undeutliche Abdrükke: undeutlich auch die zu hartes haben, denn sie sind nicht tief genug; undeutlich auch die feuchtes, denn weil sie sich verlaufen, werden sie bald

unkenntlich. Sind sie nun überdies noch aus Mangel an Raum195

übereinander gedrängt, wenn Jemandes Seelchen nur klein ist: so werden sie noch undeutlicher als jene. Also diese nun werden falsch vorstellende; denn wenn sie etwas sehen oder hören oder überdenken, so können sie nicht schnell jedem das seinige zu- weisen, sondern sind langsam, und weil sie falsch anweisen, so versehen und verbören und verdenken sie sich oftmals, und diese heissen unverständig, und man sagt, dass sie sich um das wahre immer betrügen.

Theaitetos. Vortrefflich über alle Maassen, o Sokrates.

Sokrates. Wollen wir also sagen, dass es falsche Vorstellun- gen in uns giebt?

Theaitetos. Ganz stark.

Sokrates. Und auch richtige?

Theaitetos. Auch richtige.

Sokrates. Sollen wir also endlich glauben hinlänglich bewie sen zu haben, dass es diese beiden Arten von Vorstellungen ganz gewiss giebt?

Theaitetos. Vollkommen hinreichend.

Sokrates. Nun wahrlich, Theaitetos, so ist es doch ein böses und höchst widriges Ding um einen Menschen, der nicht von der Stelle zu bringen ist mit seinen Reden.

Theaitetos. Wie so? weshalb sagst du das?

Sokrates. Aus Verdruss über meine Ungelehrigkeit und mein in der That gar nicht zu beschwichtigendes Geschwäz. Denn wie soll man es anders nennen, wenn ein Mensch aus Stumpfsinnigkeit alle seine Reden immer wieder so und so umdreht, und sich nicht überzeugen lässt und gar nicht wieder fortzubringen ist von jedem Saz.

Theaitetos. Aber du, worüber bist du denn verdriesslich ?

Sokrates. Nicht nur verdriesslich bin ich, sondern auch in Angst was ich antworten soll, wenn mich Jemand fragt, Sokra- tes. du hast also die faische Vorstellung gefunden, dass sie nicht in den Wahrnehmungen unter einander noch auch in den Gedanken, sondern in der Verbindung der Wahrnehmungen mit den Gedanken

200 THEAITETOS,

liegt? Ich werde es bejahen, glaube ich, nicht ohne mich ein wenig zu brüsten als hätten wir eiwas sehr schönes gefunden.

Theaitetos. Auch mir, o Sokrates, scheint es gar nichts schlechtes zu sein, was wir jezt eben gezeigt haben.

Sokrates. Nicht wahr, Sokrates, wird er sagen, du meinst dass wir von dem Menschen, den wir uns nur denken, nicht aber ihn sehen, niemals glauben werden, er sei ein Pferd, welches wir auch jezt weder sehen noch betasten, sondern es nur denken, sonst aber nichts von ihm wahrnehmen? ich werde, glaube ich, bejahen, dass wir dieses meinen.

Theaitetos. Und zwar mit Recht.

Sokrates. Wie nun, wird er sagen, die Elf die Jemand nur denkt, wird er wol diesem zufolge niemals können für Zwölf hal- ten, welche er sich auch nur denkt? Komm nur und antworte du.

Theaitetos. Ich werde antworten, dass im Sehen und Betasten wol Jemand die Elf für Zwölf halten kann; von denen aber, welche er nur in Gedanken hat, könnte er sich wol dies niemals vorstellen.

Sokrates. Wie aber? Glaubst du wol es habe einer einmal bei sich selbst etwa Fünf und Sieben, ich meine aber nicht, er

196 406 sich sieben und fünf Menschen vorgenommen zu betrachten oder dergleichen etwas; sondern die Fünf und Sieben selbst, welche wir als Denkmal in jenem Wachsguss angenommen, und von ihnen gesagt haben, es sei unmöglich in Hinsicht ihrer falsch vorzustel- len. Wenn also diese selbst einmal der und jener bei sich be- trachiet hat, zu sich selbst sprechend und sich fragend, wieviel sie wol sind, und der Eine nun seine Meinung dahin gegeben sie machten Elf, der Andere aber Zwölf oder werden sie alle glau- ben und sagen, dass sie Zwölf machen?

Theaitetos. Nein, beim Zeus, sondern Viele auch werden EIf glauben. Und wenn es einer gar bei einer grösseren Zahl ver- sucht, irrt er sich noch leichter; und ich glaube doch, du sprichst eigentlich von jeder Zahl. |

Sokrates. Woran du ganz recht glaubst. Und so überlege dir nun, ob dies etwas anderes sagen will, als dass er diese Zwölf selbst, die im Wachsguss, für Elf hält.

Theaitelos. So scheint es wenigstens.

Sokrates. Kommt es also nun nicht auf die vorige Rede zu- rükk? Denn der, welchem dieses begegnet, hält etwas, wovon er weiss, für etwas anderes, wovon er ebenfalls weiss, welches wir als unmöglich annahmen und eben dadurch bewiesen, dass es keine

THEAITETOS. 201

falsche Vorstellung gebe, damit man nicht annehmen müsste, dass derselbe dasselbe wisse und zugleich auch nicht wisse.

Theaitetos. Ganz richtig.

Sokrates. Wir werden also zeigen müssen, dass das falsch vorstellen etwas anderes ist als eine Verwechselung der Gedanken und der dazu gehörigen Wahrnehmungen. Denn wenn es dies wäre: so würden wir uns nicht in den Gedanken selbst irren. Nun aber giebt es entweder keine falsche Vorstellung, oder es ist mög- lich, dass Jemand das, wovon er weiss, zugleich auch nicht wisse. Welches von beiden wählst du nun?

Theaitetos. Eine schwierige Wahl legst du mir vor, Sokrates!

Sokrates. Beides zugleich aber will doch, wie es scheint, unsere Rede nicht verstatten. Doch aber, denn man muss ja alles wagen, wie wäre es, wenn wir uns erdreisieten, ganz ‚unverschämt zu sein?

Theaitetos. Wie so?

Sokrates. Wenn wir sagen wollten, worin wol eigentlich das Wissen besteht.

Theaitetos. Und was ist dies unverschämtes?

Sokrates. Du scheinst nicht zu bedenken, dass unsere ganze Unterredung von Anfang an eine Frage nach der Erkenntniss ge- wesen ist, als ob also wir nicht wüssien was sie ist.

Theaitetos. Ich bedenke es wol.

Sokrates. Und es scheint dir dennoch nicht unverschämt, dass wir, die wir nicht wissen was Erkenntniss ist, dennoch das Wissen zeigen wollen, worin es besteht? Aber, Theaitetos, schon seit lan- ger Zeit sind wir ganz tief darin verstrikkt, dass wir gar nicht rein und tadellos das Gespräch führen. Denn tausendmal haben wir schon gesagt, wir kennen und wir kennen nicht, wir wissen davon und wissen nicht davon, als ob wir einander hierüber verständen, während wir noch immer nicht wissen, was Erkenniniss ist? Ja auch jezt wieder haben wir uns der Worte bedient nicht wissen und verstehen, als ob es uns ziemte sie zu gebrauchen, wenn uns doch noch die Erkenntniss mangelt.

Theaitetos. Auf welche Art aber willst du denn reden, So- krates, wenn du dich ihrer enthältst?

Sokrates, Ich auf gar keine, da ich bin wie ich bin; wäre 197

ich jedoch ein Streitlustiger, wie denn ein solcher, wenn er auch jezt hier wäre, allerdings behaupten würde er enthielte sich der- selben, und uns was ich sage gar sehr verweisen würde. Da wir nun aber geringe Leute sind, willst du, dass ich es wage zu sagen.

202 TAEAITETOS.

worin wol das Wissen besteht? denn es scheint mir gar sehr zur Sache zu führen.

‚Theaitetos. So wage es also, beim Zeus! und kannst du dieh dieser Worte nicht enthalten, das soll dir gern verziehen sein.

Sokrates. Hast du wol gehört wie sie jezt das Wissen erklären?

Theaitetos. Vielleicht; indess im Augenblikk erinnere ich mich dessen nicht. |

Sokrates. Man sagt nämlieh es sei das Haben der Erkenntniss.

Theaitetos. Richtig.

Sokrates. Wir nun wollen eine kleine Veränderung machen und sagen, der Besiz der Erkenntniss.

Theaitetos. Auf welche Weise meinst. du denn, dass dieses von jenem unterschieden sei?

Sokrates. Vielleicht ist es gar nichts. Höre aber was mir scheint, und prüfe es mit mir.

Theaitetos. Wenn ich es nur werde im Stande sein:

Sokrales. Mir also scheint Besizen und Haben nicht einerlei zu sein. Wie wenn Jemand ein Kleid, das er gekauft und nun allerdings in seiner Gewalt hat, nicht trüge; so werden wir nicht sagen, dass er es an sich habe, sondern dass er es besize.

Theaitetos. Und mit Recht.

Sokrates. Sieh also zu, ob es möglich ist, auch die Erkennt- niss auf diese Art zu besizen zwar, aber nicht zu haben; sondern wie wenn Jemand wilde Vögel, Tauben oder: von anderer Art, ge- jagt und zu Hause einen Taubenschlag bereitet hat, worin er sie hält. Denn auf gewisse Weise würden wir dann sagen können, dass er sie immer hat, da er sie ja besizt. Nicht wahr?

Theattetos. Ja.

Sokrates. In einem andern Sinne aber auch, dass er gar keine hat, sondern dass ihm nur eine Gewalt über sie zukommt, indem er sie in einem ihm eigenthümlichen Behältniss sich unter- würfig gemacht, sie zu nehmen und zu haben, wann er Lust hai, indem er fangen und wieder loslassen kann welche er jedesmal will, und dieses ihm frei steht zu thun so ‘oft es ihm nur gefällt.

Theaitetos. So ist es. |

Sokrates. Wie wir also in dem Vorigen ich weiss nicht mehr was für ein wächsernes Machwerk in der Seele bereiteten, so lass uns jezt in jeder Seele einen Taubenschlag von mancherlei Vögeln anlegen, einige die sich in Heerden zusammenhalten und von andern absondern, andere die nur zu wenigen, noch andere welche einzeln unter allen wie es kommt umberfliegen.

TREAITETOS. 203

Theaitetos. Er sei angelegt. Was wird nun aber daraus?

Sokrates. In der Kindheit muss man sagen sei dieses Be- hältniss leer, und statt der Vögel muss man sich Erkenntnisse denken. Welche Erkenntnisse nun Einer in Besiz genommen und in seinen Schlag eingesperrt hat, von denen sagt man, er habe die Sache, deren Erkenniniss dies war, gelernt oder gefunden, und dies sei eben das Wissen.

Thenitetos. So soll es sein.

Sokrates. Dass er aber, welche von diesen Erkenntnissen er will, jagt und greift, und sie dann festhält und wieder loslässt: 198 siehe nun zu, welchen Namen dieses wird führen müssen, ob denselben wie zuvor da er sie in Besiz nahm, oder einen andern? Du kannst aber hieraus noch deutlicher abnehmen, was ich will. Du nimmst doch eine Rechenkunst an?

Theaitetos. Ja.

Sokrates. Diese denke dir nun als die Jagd nach allen Er- kenntnissen vom geraden und ungeraden.

Theaitetos. So denke ich sie,

Sokrates. Vermittelst dieser Kunst nun, meine ich, hat Je- mand sowol für sich die Erkenniniss der Zahlen in seiner Gewalt, als auch auf Andere überträgt sie vermittelst ihrer wer dies thut.

Theeiletos. Ja.

Sokrates. Und wir sagen, wer sie übergiebt der lehre, und wer sie überkommt der lerne, wer sie aber hat, so dass er sie besizt in jenem Taubenschlage, der wisse.

Theaitetos. - Sehr wol.

Sokrates. Nun merke schon auf das folgende. Wer nun vollkommen ein Rechenkünstler ist, weiss der nicht alle Zahlen? denn die Erkenntnisse von allen Zahlen sind in seiner Seele,

Theaitetos. Wie sonst?

Sokrates. Nun rechnet ein solcher doch wol einmal etwas bei sich entweder Zahlen selbst oder auch etwas anderes ausser ihnen, was Zahl an sich hat.

Theaitetos. Wie sollte er nicht.

Sokrates. Und das Rechnen selbst wollen wir doch als nichts anderes sezen als das Suchen, die wievielste Zahl eine ist.

Theaitetos. Dafür. -

Sokrates. Was er also weiss scheint er zu suchen als ein Nichtwissender, da wir doch eingeräumt haben, dass er alle Zah- Jen wisse. Denn du hörst doch von solchen Streitfragen?

Theaitetos. O ja.

204 THEAITETOS.

Sokrates. Werden wir nun nicht dies mit dem Besiz der Tauben und mit der Jagd auf sie vergleichend sagen, dass es eine doppelte Jagd giebt, die eine vor dem Besiz, des Besizes wegen, die andere für den Besizer, wenn er greifen und in Händen haben will was er schon lange besessen hat. Eben so auch kann Jemand dieses nämliche, wovon er durch Lernen schon seit langer Zeit Erkenntniss hatte und es wusste, doch sich vergegenwärtigen, in- dem er die Erkenntniss einer Sache wieder aufnimmt und festhält, weiche er zwar schon lange besass, sie aber nicht bei der Hand hatte in Gedanken.

Theaitetos. Sehr richtig.

Sokrates. Darnach nun fragte ich eben vorher, mit was für Worten man dies ausdrükken soll, wenn der Rechenkünstler geht um etwas auszurechnen, oder der Sprachkundige etwas zu lesen; als ein Wissender also, geht er in diesem Fall wieder um von sich selbst zu lernen was er weiss?

Theaitetos. Aber das ist ja ungereimt, o Sokrates.

Sokrates. Sollen wir also sagen, er lese oder rechne was er nicht wisse, nachdem wir jenem doch zugeschrieben haben, dass er alle Buchstaben, diesem, dass er alle Zahlen wisse?

Theaitetos. Aber auch das ist ja unvernünflig.

Sokrates. Willst du also dass wir sagen, um die Worte be-

199kümmern wir uns nichts, wohin jeder das Wissen und das Lernen nach seinem Belieben ziehen will; nachdem wir aber festgesezt, etwas anderes sei die Erkenniniss besizen, etwas anderes sie haben: so behaupten wir, es sei zwar unmöglich, dass, was Jemand be- sizti, er auch nicht besize, so dass dies freilich sich niemals ereigne, dass Jemand was er weiss nicht wisse; eine falsche Vorstellung davon zu haben sei jedoch möglich, indem es möglich sei, dass er nicht diese sondern eine andere Erkenntniss statt dieser gefasst hätte, wenn, indem er auf eine von seinen Erkenntnissen Jagd macht, diese durch einander fliegen, und er dann sich vergreift und anstatt der einen eine andere bekommt; wenn er also glaubt Elf sei Zwölf, indem er die Erkenntniss der EIf anstatt der der Zwölf gegriffen, gleichsam seine Holztaube statt seiner Kropftaube.

Theaitetos. Dies lässt sich annehmen.

Sokrates. Greift er aber die welche er greifen wollte, dann irre er sich nicht, sondern stelle vor was ist, und das nun sei die wahre und die falsche Vorstellung; und worüber wir vorher verdriesslich wurden,: das siehe uns gar nicht entgegen? Vielleicht wirst du mir beistimmen, oder was wirst du thun?

THEAITETOS. 205

Theaitetos. Beistimmen.

Sokrates. So wären wir demnach das Nichtwissen dessen, was man weiss, glükklich los. Denn dass wir nicht besässen, was wir besizen, das ereignet sich nun nicht mehr, es mag sich Jemand irren oder nicht. Allein es scheint mir jezt ein noch ärgeres Er- eigniss sich zu zeigen.

Theaitelos. Was denn?

Sokrates. Wenn das Verwechseln der Erkenntnisse die falsche Vorstellung sein soll.

Theaitetos. Wie so?

Sokrates. Zuerst schon dieses, dass Jemand eine Erkenntniss von etwas haben, und doch dieses selbst nicht kennen soll, und zwar nicht durch Unwissenheit, sondern eben vermittelst seiner Erkenntniss, ferner ein anderes als dieses vorstellen und dieses als ein anderes: wie wäre dieses nicht ganz widersinnig, dass in- dem ihr Erkenntniss einwohnt, die Seele doch gar nichts erkenne, sondern alles verkennen sollte. Denn nach demselben Verhältniss hindert nichts, dass nicht auch eine ihr beiwohnende Unwissenheit machen könnte, dass sie eiwas wisse, und eine Blindheit, dass sie etwas sehe, wenn sogar eine Erkenntniss machen kann, dass sie etwas nicht weiss.

Theaitetos. Vielleicht, Sokrates, haben wir eben die Vögel nicht richtig angenommen, indem wir sagten, sie wären sämmtlich Erkenntnisse. Wir hätten vielmehr auch Unkenntnisse annehmen sollen, welche in der Seele mit herumfliegen, und dass der Jagende, indem er bald die Erkenntniss bald die Unkenniniss ergreift, den- selben Gegenstand vermittelst der Unkenniniss falsch, vermittelst der Erkenntniss aber richtig vorstelle?

Sokrates. Es ist nicht leicht, Theaitetos, dich nicht zu loben. Allein was du jezt gesagt hast, das besieh dir doch noch einmal. Es sei nämlich wie du sagst: so wird, wer die Unkenntniss er- griffen hat, wie du behauptest, falsch vorstellen. Nicht wahr?

Theaitetos. Ja.

Sokrates. Er wird aber doch wol nicht glauben falsch vor- zustellen ?

Theaitetos. Wie sollte er?

Sokrates. Sondern richtig, und wird sich verhalten wie ein Wissender dessen, worin er sich doch irrt.

Theaitetos. Wie anders?

Sokrates. Eine Erkenntniss wird er also glauben gegriffen und in der Hand zu haben, und nicht eine Unkenntniss,

200

206 THEAITETOS.

Theaitetos. Offenbar.

Sokrates. Nach einem langen Umwege also befinden wir uns wieder in unserer ersten Verlegenheit. Denn lachend wird jener uns verfolgende Tadler sagen, Wie doch, ihr trefflichen Männer, von beiden wissend, der Erkenniniss und der Unkenntniss, hält er die eine, um welche er weiss, für die andere, um welche er eben- falls weiss? oder von keiner von beiden wissend stellt er die eine, um die er nicht weiss, als eine von jener Art vor, um welche er ebenfalls nicht weiss? Oder hält er die um welche er nicht weiss, für die um welche er weiss? Oder werdet ihr mir wieder sagen, es gebe von den Erkenntnissen und Unkenntnissen wiederum Er- kenntnisse, welche der Besizer in irgend einem andern lächerlichen Taubenschlag oder Wachstafel eingesperrt hat und sie weiss, 50 lange er sie besizt, auch wenn er sie nicht bei der Hand hat in Gedanken? Und so werdet ihr genöthiget sein, tausendmal densel- ben Kreis zu durchlaufen, ohne etwas damit zu gewinnen? Was werden wir hierauf antworten, Theaitetos?

Theaitetos. Ja beim Zeus, Sokrates, ich weiss nicht was dar- auf zu sagen ist.

Sokrates. Macht uns also unsere Rede nicht ganz mit Recht einen Vorwurf, und zeigt uns, dass wir Unrecht thaten, die falsche Vorstellung eher zu suchen als die Erkenntniss, und diese dagegen fahren zu lassen? und dass es unmöglich ist jene zu verstehen, ehe Jemand die Erkenntniss hinlänglich aufgefasst hat, was sie ist?

Theaitetos. Nothwendig, Sokrates, muss man für jezt glauben was du sagst.

Sokrates. Was soll man also wieder von vorne sagen, dass die Erkenntniss sei? Denn wir wollen es doch noch nicht auf- geben? | Theaitetos. Gewiss nicht, wenn du es mir nicht aufkündigst.

Sokrates. So sprich denn, wie sollen wir sie endlich erklären, um am wenigsten uns selbst zu widersprechen?

Theaitetos. Wie wir es in dem vorigen versucht haben, So- krates; ich wenigstens weiss nichts anderes «zu sagen.

Sokrates. Welches meinst du denn?

Theaitetos. Dass richtige Vorstellung Erkenntniss ist. Denn ohne Fehl ist das richtig vorstellen, und was daraus hervorgeht, das geht alles schön und gut Kara

Sokrates. Wer ins Wasser vorangeht, Theaitelos, sagt, es

werde sich ja selbst zeigen. So auch wenn wir weiter gehn und - 201 diesem nachspüren, wird es uns vielleicht, wenn es uns vor die

N I u ET DER

THEAITETOS. 207

Füsse kommt, das gesuchte auch zeigen. Bleiben wir aber stehen, so wird uns nichis deutlich werden.

Theaitetos. Du hast Recht. Lass uns also gehen und unter- suchen.

Sokrates. Dies wol ist eine kurze Untersuchung; denn eine ganze Kunst beweiset dir schon, dass dies nicht die Erkennt- niss ist.

Theaitetos. Wie so, und was für eine?

Sokrates. Die Kunst der vornehmsten an Weisheit, die man Redner und Sachwalter nennt. Denn diese überreden vermittelst ihrer Kunst nicht indem sie lehren, sondern indem sie bewirken, dass man sich vorstellt, was sie eben wollen. Oder hältst du sie für so .bewundernswürdige Meister im Lehren, dass sie wenn Je- mand, ohne dass sonst einer dabei war, seines Geldes beraubt ward oder sonsi Unrecht erlitt, verständen, während ein weniges Wasser verläuft, die wahre Beschaffenheit dessen was diesem geschehen ist, gründlich zu beweisen?

Theaitetos. Keinesweges glaube ich das, sondern dass sie nur überreden.

Sokrates. Heisst aber nicht überreden bewirken, dass etwas auf eine gewisse Art vorgestellt werde?

Theaitetos. Was anders?

Sokrates. Wenn also Richter so wie es sich gehört überredet worden sind in Bezug auf etwas das nur wer es selbst gesehen hat wissen kann, sonst aber keiner: so haben sie dieses nach dem blossen Gehör uriheilend vermöge einer richtigen Vorstellung, aber ohne Erkenntniss abgeurtheilt,. so jedoch dass die Ueberredung richtig gewesen, wenn sie nämlich als Richter gut geurtheilt haben?

Theaitetos. So ist es allerdings.

Sokrates. Nicht aber, o Freund, könnte jemals, wenn richtige . Vorstellung und Erkenntniss einerlei wären, auch der beste Richter und Gerichtshof etwas richtig vorstellen ohne Erkenntniss. Nun aber scheint beides verschieden zu sein.

Theaitetos. Was ıch auch schon einen sagen gehört und es nur vergessen habe, mich aber dessen jezt wieder erinnere. Er sagte nämlich, die mit ihrer Erklärung verbundene richtige Vor- stellung wäre Erkenntniss, die unerklärbare dagegen lüge ausser- halb der Erkenntniss. Und wovon es keine Erklärung gebe, das sei auch nicht erkennbar, und so benannte er dies auch, wovon es aber eine gebe, das sei erkennbar.

Sokrates. Gewiss schön gesagt. Dies erkennbare aber und

208 THEAITETOS.

nicht erkennbare, sage an, wie er es unterschied, ob wir es etwa auf gleiche Weise gehört haben, du und ich.

Theaitetos. Ich weiss nicht ob ich es herausfinden werde; trüge es aber ein Anderer vor, so glaube ich, würde ich wol folgen.

Sokrates. Höre also einen Traum für den andern. Mich nämlich dünkt, dass ich von Einigen gehört habe, die ersten gleich- sam Urbestandtheile, aus denen wir sowol als alles übrige zu- sammeng&sezt sind, liesen keine Erklärung zu; sondern man könne nur jedes von ihnen an und für sich bezeichnen, nicht aber irgend eiwas anderes davon aussagen, weder dass sie seien, noch dass sie nicht seien; denn alsdann würde ihnen doch ein Sein oder Nichtsein schon beigelegt, man dürfe ihnen aber nichts weiter zu-

202sezen, wenn man doch sie allein aussagen wolle. Daher man ihnen

weder das dieses noch das jenes noch das jedes noch das nur, noch dieses noch viel anderes dergleichen zusezen dürfe. Denn eben diese Begriffe laufen überall umher und werden mit allen zu- sammengefügt, immer aber als verschieden von denen, welchen sie beigelegt würden. Jene Dinge müssten aber, wenn es möglich wäre sich über sie zu erklären und jedes seine eigenthümliche Erklärung hätte, ohne alle andern erklärt werden. Nun aber sei es unmöglich, dass irgend eins von den ersten Dingen durch eine Erklärung ausgedrükkt werde; denn es gebe für sie nichts als nur genannt zu werden, sie hätten eben nur einen Namen. Was aber aus diesen schon zusammengesezt wäre, dessen Name wäre, 50 wie es selbst aus mehreren zusammengeflochten ist, ebenfalls zu- sammengeflochten und zu einer Erklärung geworden. Denn Ver- flechtung von Namen sei das Wesen der Erklärung. Auf diese Art also wären die Urbestandtheile unerklärbar und unerkennbar, wahrnehmbar aber; die Verknüpfungen hingegen erkennbar und erklärbar und durch richtige Vorstellung vorstellbar. Wenn nun Jemand ohne Erklärung eine richtige Vorstellung von etwas empfinge: so sei zwar seine Seele darüber im Besiz der Wahrheit; sie er- kenne aber nicht. Denn wer nicht Rede stehen und Erklärung geben könne, der sei ohne Erkenntniss über diesen Gegenstand, Wer aber die Erklärung auch dazu habe, der sei dess allen mächtig, und. habe alles vollständig zur Erkenntniss beisammen. Hast du diesen Traum eben so gehört oder anders?

Theaitetos. Eben so ganz und gar.

Sokrates. Gefällt es dir auch, und sezest du dieses, dass richtige Vorstellung mit Erklärung Erkenntniss ist?

Theaitetos. Offenbar, versteht sich.

; THEAITETOS. 209

E Sokrates. Also hätten wir auf diese Art heute am Tage er- reicht, was seit langer Zeit viele Weisen gesucht und ohne es zu finden alt geworden sind?

Theaitetos. Mir scheint doch, Sokrates, das jezt vorgetragene sehr schön gesagt zu sein.

Sokrates. Es ist auch ganz wahrscheinlich, dass sich die Sache an sich so verhalte. Denn was sollte auch die Erkenntniss sein ohne Erklärung und richtige Vorstellung. Nur Eins will mir an dem gesagten missfallen.

Theaitetos. Was denn?

Sokrates. Gerade was das herrlichste zu sein scheint, dass nämlich die Urbestandtheile unerkennbar wären, alle Arten von Verknüpfungen aber erkennbar.

Theaitetos. Ist dies nicht richtig?

Sokrates. Man muss zusehn. Haben wir doch zu Geiseln für diesen Saz die Beispiele, von denen offenbar, wer dieses alles sagte, ausgegangen ist.

Theaitetos. Was für welche?

Sokrates. Die Urbestandtheile der Schrift und deren Ver- knüpfungen. Oder glaubst du, dass wer aufgestellt, wovon wir reden, auf etwas anderes dabei gesehen hat als hierauf?

Theaitetos. Nein, sondern hierauf.

Sokrates. Prüfen wir es also noch einmal von vorn, oder vielmehr uns selbst, ob wir so oder nicht so lesen gelernt haben. 203 Wolan zuerst, haben also die Silben eine Erklärung, die Buchstaben aber keine?

Theaitetos. Wahrscheinlich.

Sokrates. Vollkommen leuchtet es auch mir ein. Wenn zum Beispiel Jemand so nach der ersten Silbe von Sokrates fragte, O Theaitetos, sprich, was ist So? was wirst du antworten?

Theaitetos. Es ist S und 0.

Sokrates, Hier hast du also die Erklärung der Silbe,

Theaitetos. So ist es.

Sokrates. 80. komm und sage eben so auch die Erklärung des S.

Theaitetos. Und wie sollte wol Jemand die Bestandtheile eines Bestandtheils angeben können? Denn überdies ist das S ein stummer Buchstabe, nur ein Geräusch, als wenn Jemand mit der Zunge zischt. Das B aber hat gar weder ein Geräusch noch einen Laut, und eben so die meisten Buchstaben. So dass hiernach gar

sehr gut gesagt ist, dass sie unerklärbar sind, da selbst die deut- Plat. W. U. Th, 1, Bd. 14

210 THEAITETOS.

lichsten unter ihnen nur einen Laut haben, ganz und gar aber keine Erklärung.

Sokrates. Dieses, Freund, hätten wır also in Ordnung g0- bracht von der Erkenntriss.

Theaitetos. Wir scheinen ja.

Sokrates. Wie aber, dass der Bestandtheil nicht erkennbar ist, wol aber die Verknüpfung, haben wir denn das auch mit Kecht angenommen? J

Theaitetos. Mich dünkt es doch.

Sokrates. Gut denn. Wollen wir sagen, die Silbe sei die zwei Buchstaben, oder, wenn sie aus mehr als zweien besteht, die sämmtlichen? oder sie sei ein besonderes erst aus der Zusammen- sezung von jenen entstandenes?

Theaitetos. Sie sei die sämmtlicben, dünkt mich, werden wir sagen.

Sokrates. So betrachte es einmal an jenen zweien, dem S und O. Beide machen die erste Silbe meines Namens. Wird’ nun nicht, wer diese Silbe kennt, auch jene beiden Buchstaben kennen?

Theaitetos. ‘Wie anders?

Sokrates. Er kennt also das S und O0?

Theaitetos. Ja.

Sokrates. Wie aber? Jeden von beiden erkennt er also nicht, und so, obschon er keinen von beiden erkennt, erkennt er doch beide?

Theaitetos. Das wäre ja toli.und unvernünftig.

Sokrates. Allein wenn es nothwendig ist, dass er jeden er- kennt um beide zu erkennen: so muss ja nothwendig die Buch- staben schon vorher erkennen, wer jemals die Silbe erkennen will, und so wird uns diese schöne Erklärung wieder entschlüff:. und verschwinden.

Theaitetos. Und das ja sehr schnell.

Sokrates. Wir bewachen sie eben nicht gut. Denn wir soll- ten vielleicht gesagt haben, die Silbe wäre nicht die gesaunmten Buchstaben, sondern eine aus jenen entstandene besondere Gattung, welche ihr eignes Wesen und Gestalt für sich hätte und verschie- den wäre von den Buchstaben.

Theaitetos. Ganz gewiss; und es mag sich wol eher so ver- halten als anders.

BSokrates.. Wir müssen zusehen, und richt unmännlicher Weise einen so grossen und herrlichen Saz verrathen.

Theaitetos. Keinesweges.

THEAITETOS. 911

Sokrates. Es sei also, wie wir jezt sagen, die Verknüpfung eine aus den jedesmal sich zusammenfügenden Bestandtheiler ent-204 stehende eigne Gattung, auf gleiche Weise bei den Buchstaben, und auch sonst überall.

Theaitetos. Allerdings.

Sokrates. Also Theile darf es von ihr nicht geben?

Theaitetos. Wie so nicht?

Sokrates. Weil was Theile hat, dessen ganzes ist auch noth- wendig die gesammten Theile. Oder sagst du, auch das ganze sei ein aus den Theilen entstandenes eignes von den gesammten Theilen verschiedenes?

Theaitetos. Das will ich.

Sokrates. Ein gesammies aber und ein ganzes, verstehst du darunter dasselbe, oder unter jedem etwas anderes?

Theaitetos. Dessen bin ich nicht gewiss. Weil du aber immer befiehlst herzhaft zu antworten: so will ich es wagen und sagen, etwas anderes unter jedem.

Sokrates. Die Herzhaftigkeit, o Theaitetos, ist gut, ob aber auch die Antwort, das müssen wir sehen.

Theaitetos. Das müssen wir allerdings.

Sokrates. So wäre also der jezigen Erklärung zufolge das ganze verschieden von dem gesammten.

Theaitetos. Ja.

Sokrates. Wie aber die sämmtlichen und das gesammte, ist dies auch verschieden? Wie wenn wir sagen Eins Zwei Drei Vier Fünf Sechs, und wenn zweimal drei oder dreimal zwei, oder Drei und Zwei und Eins, sagen wir in allen diesen Fällen dasselbige oder in jedem etwas anderes?

Theaitetos. Dasselbe.

Sokrates. Etwas anderes als Sechs?

Theaitetos. Nichts anderes.

Sokrates. In allen diesen Formeln also haben wir ein ge- sammtes die Sechs gefunden?

Theaitetos. Ja.

Sokrates. Und wiederum, meinen wir nichts, wenn wir sagen die sämmtlichen?

Theaitetos. Nothwendig doch etwas.

Sokrates. Etwas anderes etwa als Sechs?

Theaitetos. Nichts anderes.

Sokrates. . In allem also was aus Zahlen besteht nennen wir dasselbe das gesammte und die sämmtlichen.

14*

212 | THEAITETOS.

Theaitetos. So scheint es.

Sokrates. Nun lass uns weiter dieses davon sagen. Die Zahl eines Akker Landes und der Akker ist einerlei?

Theaitetos. Ja.

Sokrates. Und mit dem Stadion eben so?

Theaiteios. Ja. |

Sokrates. Und eben so wol auch die Zahl eines Heeres und das Heer? und mit allen ähnlichen Dingen auf gleiche Art. Denn ihre gesammte Zahl ist auch das gesammte Sein eines jeden von ihnen.

Theaitetos. Ja.

Sokrates. Nun und die Zahl eines jeden, ist die etwas an- deres als seine Theile?

Theaitetos. Nichts.

Sokrates. Und was Theile hat, besteht aus Theilen?

Theaitetos. Offenbar.

Sokrates. Eingestanden ist aber, dass die sämmtlichen Theile das gesammte sind, wenn die gesammie Zahl das gesammte Sein ist.

Theaitetos. So ist es.

Sokrates. Das ganze besteht also nicht aus Theilen? Denn so wäre es ein gesammtes, wenn es die sämmtlichen Theile wäre.

Theaitetos. Es scheint nicht.

Sokrates. Kann aber ein Theil von irgend etwas anderem sein was er ist, als von einem ganzen?

Theaitetos. Von einem gesammten.

Sokrates. Recht mannhaft, o Theaitetos, wehrst du dich. Das 205gesammte aber, ist das nicht eben dieses, ein gesammtes, wenn ihm nichts abgeht?

Theaitelos. Allerdings.

Sokrates. Ist aber nicht eben diesas ein ganzes, dem nirgends nichts abgeht? dem aber etwas abgeht, dieses ein weder ganzes noch gesammites, in Bezug auf beides aus demselben dasselbe geworden ?

Theaitetos. Jezt scheint mir das ganze und das gesammte in nichts mehr verschieden zu sein. =

Sokrates. Sagten wir nun nicht, wo Theile seien, da sei das ganze und gesammte die sämmtlichen Theile?

Theaitetos. Allerdings.

Sokrates. Wiederum, was ich eben wollte, muss nicht die

Silbe, wenn sie nicht die Buchstaben ist, dann auch die Buch-_

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THEAITETOS. 213

staben nicht als ihre Theile haben; oder wenn sie dasselbe ist mit ihnen, dann auch auf gleiche Art wie jene erkennbar sein?

Theaitetos. So ist es.

Sokrates. Und damit dies nicht erfolgen möchte, sezten wir, sie sei etwas von ihnen verschiedenes?

Theaitetos. Ja.

Sokrates. Wie aber, wenn die Buchstaben nicht Theile der Silbe sind, kannst du etwas anderes anführen was Theil derselben

wäre, jedoch nicht die Buchstaben derselben?

Theaitetos. Auf keine Weise, o Sokrates! Denn soll ich ein- ma] Theile von ihr zugeben, dann wäre es lächerlich, die Buch- staben fahren zu lassen und andere aufzusuchen.

Sokrates. Nach dieser Rede also, Theaitetos, wäre die Silbe ganz und gar Ein ungetheiltes Wesen?

Theaitetos. So scheint es.

Sokrates. Erinnere dich nun, Freund, dass wir vor nicht gar langer Zeit zufrieden gewesen sind, und geglaubt haben es sei richtig gesagt, dass von dem ersten, woraus das andere bestände, sich keine Erklärung geben liesse, weil jedes nur für sich wäre unzusammengesezt, und man nicht einmal das Sein hinzufügen und mit Recht davon aussagen könne, noch das Dieses, weil dies alles schon etwas. anderes und fremdes wäre, und aus dieser Ursache nun war das erste unerkennbar und unerklärbar.

Theaitetos. Ich erinnere mich.

Sokrates. Giebt es nun wol eine andere als diese Ursache dafür, dass es etwas einfaches und untheilbares ist? ich wenigstens sehe keine andere.

Theaitetos. Es zeigt sich auch wol keine.

Sokrates. Also fällt die Silbe unter dieselbe Gattung mit jenem, wenn sie keine Theile hat und Ein bestimmtes Wesen ist.

Theaitetos. Auf jede Weise.

Sokrates. Ist nun also die Silbe einerlei mit den vielen Buch- staben und ein ganzes, und diese ihre Theile: so müssen auf gleiche Art die Silben erkennbar und erklärbar sein wie die Buch- staben, da die sämmtlichen Theile sich einerlei gezeigt haben mit dem ganzen?

Theaitetos. Freilich wol.

Sokrates. Ist sie aber Eins und untheilbar: so ist auch die Silbe eben so wol als der Buchstabe unerklärbar und unerkennbar, Denn dieselbe Ursach wird beide zu demselben machen.

Theaitetos. Ich weiss nichts anderes zu sagen,

214 THEAITETOS.

Sokrates. Mit dem also wollen wir es nicht halten, welcher sagt, die Verknüpfung sei erkennbar und erklärbar, der Bestand- theil aber sei das Gegentheil.

Theaitetos. Freilich nicht, wenn wir unserer Rede folgen.

Sokrates. Wie aber? wenn einer das Gegentheil behauptete,

206 würdest du dem nicht lieber beistimmen nach allem, dessen du dir von Erlernung der Buchstaben her bewusst bist?

Theaitetos. Was meinst du?

Sokrates. Dass du beim Lernen nichts anderes thatest als dir Mühe geben, die Buchstaben dem Gesicht nach zu unterschei- den, und eben so auch durch das Gehör jeden einzeln für sich, damit nicht ihre Stellung verwirre, wenn sie gesprochen und ge- schrieben wurden.

Theaitetos. Vollkommen richtig.

Sokrates. Und bei den Kitharisten vollkommen gelernt zu haben, heisst das etwas anderes, als jedem Ton folgen zu können, welcher Saite er angehöre, wovon jeder zugeben wird, dass man es die Urbestandtheile der Tonkunst nennen kann?

Theaitetos. Nichts anders.

Sokrates. Wenn man nun von den Urbestandtheilen und Verknüpfungen, deren wir selbst erfahren sind, auch auf die an- dern schliessen darf: so werden wir sagen müssen, dass die Er- kenntniss der Urbestandtheile viel deutlicher sei ünd viel wirksamer, als die der Verknüpfungen, um jegliche Sache vollkommen zu er- lernen. Und wenn Jemand sagt, die Verknüpfung sei ihrer Natur nach erkennbar, der Urbestandtheil aber nicht: so wollen wir dafür halten er treibe Scherz, es sei nun wissentlich oder unwissentlich.

Theaitetos. Offenbar.

Sokrates. Doch hievon liessen sich noch andere Beweise anführen, wie mich dünkt. Lass uns aber nicht vergessen unsern vorliegenden Gegenstand hernach zu betrachten, was es doch wol sagen soll, dass die zu der richtigen Vorstellung hinzukommende Erklärung die vollkommenste Erkenntniss ist.

Theaitetos. So lass uns denn sehen.

Sokrates. Wolan, in welchem Sinne will er wol hier eigent- Jich die Erklärung gemeint haben. Eines von dreien nämlich muss er, wie es mir scheint, sagen wollen.

Theaitetos. Von welchen dreien?

Sokrates. Das erste wäre dieses, dass man überhaupt seine Gedanken durch die Stimme vermittelst der Haupt- und Zeitwörter deutlich macht, indem man seine Vorstellung wie im Spiegel. oder

THEAITETOS. 215

im Wasser, so in dieser Ausströmung des Mundes ausdrükkt. Oder: scheint dir dies nicht Erklärung zu sein?

Theaitetos. Mir allerdings.

Sokrates. Und von dem, welcher dies ihut, sagen wir, dass er sich über eiwas erklärt.

Theaitetos. Das sagen wir.

Sokrates. Dieses ist nun aber jeder zu thun im Stande schneller oder langsamer, zu äussern, was er von jeder Sache meint, wer nur nicht ganz und gar taub oder stumm ist. Und auf diese Art werden Alle, so viele nur etwas richtig vorstellen, auch damit Erklärung verbinden, und es wird also nirgends mehr eine richtige Vorstellung ‚sein ohne Erkenniniss.

Theaitetos. Richtig.

Sokrates. Lass uns aber deshalb nicht leichisinniger Weise den verurtheilen, dass er nichts gesagt habe, welcher von der Er- kennitniss die Erklärung gegeben hat, welche wir jezt untersuchen. Denn wahrscheinlich hat.er nicht dieses gemeint, sondern dass, wer gefragt wird, was jedes ist, dem Fragenden nach den Bestand- theilen der Sache Rechenschaft geben könne.

Theaitetos. Wie meinst du das, Sokrates?

Sokrates. Wie Hesiodos vom Wagen sagt, die hundert Höl-207 zer des Wagens, die ich freilich nicht zu nennen wüsste, und ich glaube auch du nicht, sondern wir würden uns begnügen, wenn wir gefragı würden was ein Wagen ist, dass wir zu antworten wüssten, Räder, Achsen, Obergestelle, Siz, Joch.

Theaitetos. Sehr zufrieden.

Sokrates. Jener aber würde uns, als wenn wir nach deinem Namen gefragt würden und nur Silbenweise antworteten, auslachen, dass wir zwar richtig vorstellten und sagten was wir sagen, uns aber sehr mit Unrecht einbildeten, Sprachkundige zu sein und von dem Namen Theaitetos die sprachkundige Erklärung zu besizen und zu geben. Mit Erkenntniss aber spreche man nicht eher über etwas, bis man im Stande sei, neben der richtigen Vorstellung alles nach seinen ersten Bestandtheilen zu beschreiben, wie es auch schon oben irgendwo gesagt worden ist.

Theaitetos. Das ist gesagt worden.

Sokrates. So hätten auch wir zwar eine richtige Vorstellung vom Wagen, der aber «las ganze Wesen desselben nach jenen . hundert Hölzern beschreiben könne, der habe, eben weil er dies noch dazu habe, auch noch die Erklärung zu der richtigen Vor- stellung, und sei anstatt cınes bloss Vorstellenden auch ein Kunst-

216 THEAITETOS,.

verständiger und Wissender in Beziehung auf das Wesen des Wa- gens, indem er das ganze nach seinen Bestandtheilen durchgehen könne.

Theaitetos. Scheint dir dieses nun gut, Sokrates?

Sokrates. Ob es dir so scheint, Freund, und du annimmst, dass die Beschreibung eines Dinges nach seinen einzelnen Bestand- theilen Erklärung sei, die aber nach den nächsten oder nach grösse- ren Verknüpfungen Unerklärtes, dies sage mir, damit wir es in Erwägung ziehen.

Theaitetos. Ich nehme es gänzlich an.

Sokrates. Und glaubst etwa, dass Jemand von etwas Erkennt- niss habe, wenn dasselbe bald hiezu ihm zu gehören scheint, bald dazu, oder auch wenn er von demselben Dinge bald dieses vor- stellt, bald jenes? |

Theaitetos. Beim Zeus, ich gewiss nicht.

Sokrates. Und erinnerst dich nicht, dass dieses beim Lernen der Buchstaben dir und Andern im Anfange begegnet ist?

Theailetos. Meinst du, dass wir derselben Silbe bald diesen bald einen andern Buchstaben zugeschrieben, und denselben Buch- staben bald in die gehörige, bald in eine andere Silbe gesezt haben?

Sokrates. Eben dies meine ich.

Theaitetos. Dessen erinnere ich mich sehr wol, beim Zeus, und glaube, dass derjenige bei weitem noch nicht eigentlich weiss, mit dem es sich so verhält.

Sokrates. Wie nun, wenn bei solcher Gelegenheit einer, in- dem er Theaitetos schreibt, ein Th und ein E schreiben zu müssen glaubt und auch wirklich schreibt; wenn er aber Theodoros schrei-

208ben will, ein T und ein E schreiben zu müssen glaubt, und auch wirklich schreibt: soll man sagen, dass er die erste Silbe eures Namens wisse? |

Theaitetos. Wir haben ja nur eben eingestanden, dass der, mit welchem es sich so verhält, noch nicht wisse.

Sokrates. Hindert nun etwas, dass es ihm bei der zweiten, dritten und vierten Silbe auf ähnliche Art gehe?

Theaitetos. Nicht dass ich wüsste.

Sokrates. Wird er nicht alsdann die Beschreibung nach den Bestandtheilen inne habend 'den Namen Theaitetos mit richtiger Vorstellung schreiben, wenn er ihn in der gehörigen Ordnung schreibt ?

Theaitetos. Offenbar.

THEAITETOS. 217

Sokrates. Und dies ohne noch Erkenntniss zu haben, aber richtig vorstellend?

Theaitetos. Ja.

Sokrates. Er hat aber doch die Erklärung nebst richtiger ᾿ Vorstellung; denn er hatte ja beim Schreiben die ganze Reihe der Bestandtheile, welches wir eben Erkenniniss genannt haben.

Theaitetos. Richtig.

Sokrates. So giebt es also, Freund, eine mit der richtigen Vorstellung verbundene Erklärung, welche man noch nicht Erkennt- niss nennen darf.

Theaitetos. So scheint es.

Sokrates. Nur im Traume sind wir also reicher geworden, indem wir glaubten, die richtigste Erklärung der Erkenntniss ge- funden zu haben. Oder sollen wir noch nicht aburtheilen? Denn vielleicht möchte einer die Erklärung nicht so verstehen, sondern nach der noch übrigen von jenen drei Bedeutungen, wovon eine, wie wir sagten, derjenige annehmen müsse, welcher die Erkennt- niss beschriebe als eine richtige Vorstellung mit der Erklärung verbunden.

Theaitetos. Ganz recht erinnerst du. Denn eine ist noch übrig; die erste war gleichsam ein Bildniss des Gedankens durch die Stimme; das eben durchgegangene war der Weg zum ganzen durch die Bestandtheile. Was meinst du aber mit der dritten?

Sokrates. Was die meisten sagen würden, dass man könne ein Merkmal angeben, wodurch sich das gefragte von allen übrigen Dingen unterscheide.

Theaitetos. Was für eine Erklärung kannst du mir in diesem Sinne von irgend etwas geben?

Sokrates. Wie wenn du willst von der Sonne würde es dir, glaube ich, genügen anzunehmen, dass sie das glänzendste ist von allem, was am Himmel um die Erde geht.

Theaitetos. Vollkommen.

Sokrates. Merke auch recht weshalb es gesagt ist. Nämlich, wie wir eben sagten, wenn du das unterscheidende eines Dinges auffassest, wodurch es von den übrigen verschieden ist, so be- haupten Einige, du habest seine Erklärung aufgefasst. So lange du aber nur noch etwas gemeinschaftliches trifist, so würde deine Erklärung auf dasjenige gehn, was zu dieser Gemeinschaftlichkeit gehört.

Theaitetos. Ich verstehe, und es dünkt mich sehr richtig, dieses die Erklärung zu nennen.

218 THEAITETOS.

Sokrates. Wer also nun bei richtiger Vorstellung von irgend etwas auch seinen Unterschied von dem übrigen aufgefasst hat, der wird dann Erkenniniss von demjenigen erlangt haben, wovon er vorher nur Vorstellung hatte.

Theaitetos. So behaupten wir freilich.

Sokrates. Jezt aber, Theaitetos, nun ich zu dem gesagten näher hinzutrete, verstehe ich wie bei den grossen auf die Entfer- nung berechneten Gemälden auch nicht mehr das mindeste davon. 50. lange ich von ferne stand, schien mir etwas damit gesagt zu sein.

Theaitetos. Wie so kommt das?

Sokrates. Ich will es dir deutlich machen, wenn es mir ge-

209lingen wird. Vorausgesezt ich habe eine richtige Vorstellung von dir, so erkenne ich dich doch nur, wenn ich auch noch deine Er- klärung dazu auffasse, wofern aber nicht, so stelle ich dich nur vor:

Theaitetos. Ja.

Sokrutes. Deine Erklärung aber war die Bezeichnung deiner Verschiedenheit.

Theaitetos. So war es.

Sokrates. Als ich dich nun nur vorstellte, nicht wahr, so traf ich mit meinen Gedanken nichts von dem wodurch du dich von Andern unterscheidest?

Theaitetos. Es scheint nicht.

Sokrates. Ich dachte also nur etwas gemeinschaftliches, was du um nichts mehr an dir hast als irgend ein Anderer.

Theaitetos. Nothwendig.

Sokrates. Wolan denn, beim Zeus, wie habe ich doch auf diese Art mehr dich vorgestellt als irgend einen Andern? Denn seze, ich dächte mir, derjenige wäre Theaitetos, der ein Mensch wäre und Nase Mund und Augen hätte, und so jedes der übrigen Glieder; wird nun dieser Gedanke machen, dass ich mir mehr den Theaitetos denke als den Theodoros, oder, wie man zu sagen pflegt, den lezten der Myser? |

Theaitetos. Wie sollte er?

Sokrates. Allein wenn ich mir auch nicht bloss einen Nase und Augen habenden denke, sondern auch wol einen krummnäsi- gen und mit heraustreienden Augen, werde ich dann mehr dich vorstellen, als mich selbst und wer sonst noch so beschaffen ist?

Theaitetos. Um nichts mehr.

Sokrates. Sondern nicht eher, glaube ich, wird Theaitetos in mir vorgestellt werden, bis diese Krummnasigkeit selbst ein sie von andern Krummnasigkeiten, die ich auch schon gesehen, untegschei-

THEAITBTOS. 219

dendes Merkmal in mir abdrükkt und zurükklässt, und so alles übrige, woraus du bestehst, in wie fern dieses nich, auch wenn ich dir morgen begegne, erinnern und machen wird, dass ich mir dich richtig vorstelle.

Theaitetos. Ganz recht.

Sokrates. Also auch die richtige Vorstellung von einem jeden geht schon auf die Verschiedenheit.

Theaitetos. So scheint es ja.

Sokrates. Zur richtigen Vorstellung noch die Erklärung hin- zufügen, was hiesse das also? Denn heisst dies, sich noch das- jenige dazu vorstellen, wodurch etwas sich von dem übrigen unter- scheidet: so ist das ja eine lächerliche Vorschrift.

Theaitetos. Wie so?

Sokrates. Wovon wir schon eine richtige Vorstellung haben in wiefern es sich von dem übrigen unterscheidet, davon sollen wir nun noch eine richtige Vorstellung hinzunehmen, in wiefern es sich von dem übrigen unterscheidet, und so will alles andere Herumdrehen im Kreise, obne dass etwas von der Stelle komme, nichts sagen gegen diese Vorschrift. Man könnte es aber mit mehrerem Recht das Zureden eines Blinden nennen, denn uns zu- reden dass wir doch nehmen möchten was wir schon haben, um das zu erfahren was wir schon vorstellen, das schikkt sich ganz vortrefflich für einen Geblendeten.

Theaitetos. Sprich aber, was wolltest du vorher noch heraus- bringen mit deiner Frage?

Sokrates. Dass wenn auf der andern Seite mit dem Hinzu- fügen der Erklärung ein Einsehen der Verschiedenheit gemeint wäre, nicht nur ein Vorstellen derselben: dann es eine gar herr- liche Sache wäre um diese schönste von den Erklärungen der Er- kenntniss, denn einsehn heisst doch Erkenntniss haben? Nicht wahr?

Theaitetos. Ja.

Sokrates. Wer also gefragt wird was Erkenniniss ist, der soll, wie es scheint, antworten, richtige Vorstellung mit Erkenntniss 210 der Verschiedenheit verbunden. Denn das wäre nun nach jenem das Hinzufügen der Erklärung.

Theaitetos. So scheint es.

Sokrates. Und das ist doch auf alle Weise einfältig, denen, welche die Erkenntniss suchen, zu sagen, sie sei richtige Vorstel- lung verbunden mit Erkenntniss, gleichviel ob des Unterschiedes oder sonst etwas andern. Weder also die Wahrnehmung, o Theai-

220 THEAITETOS.

tetos, noch die richtige Vorstellung, noch die mit der richtigen Vorstellung verbundene Erklärung kann Erkenntniss sein.

Theaitetos. Es scheint nicht.

Sokrates. Sind wir nun noch mit etwas schwanger, Freund, und haben Geburtsschmerzen in Sachen der Erkenntniss? oder haben wir alles ausgeboren?

Theaitetos. Ich beim Zeus habe vermittelst deiner Hülfe so- gar mehr herausgesagt, als ich in mir hatte.

Sokrates. Und unsre Geburtshelferkunst hat von diesem allen gesagt, es wären nur Windeier und nicht werth dass man sie aufziehe.

Theaitelos. Auf alle Weise ja.

Sokrates. Gedenkst du nun, Theaitetos, nach diesem wiederum mit anderem schwanger zu werden: so wirst du, wenn du es wirst, dann besseres bei dir tragen vermöge der gegenwärtigen Prüfung, wenn du aber leer bleibst, denen, welche dich umgeben, weniger beschwerlich sein und sanftmüthiger, und besonnener Weise nicht glauben zu wissen was du nicht weisst. Denn nur so viel vermag diese meine Kunst, mehr aber nicht, noch verstehe ich so etwas wie die andern grossen und bewunderten Männer von jezt und ehedem. Diese geburtshelferische Kunst aber ist meiner Mutter und mir von Gott zugetheilt worden, ihr nämlich für die Frauen, und mir für edle und schöne Jünglinge. Jezt nun muss ich mich in der Königshalle einstellen wegen der Klage, welche Melitos ge- gen mich angestellt hat. Morgen aber, Theaitetos, wollen wir uns wieder hier treffen.

MENON.

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EINLEITUNG,

Wer das Ende des Theaitetos im Auge hat und es mit dem Anfang des Sophistes vergleicht, wo offenbar dieselben Personen wieder zusammenkommen mit bestimmter Rükkweisung auf die dort getroffene Abrede, der wird sich billig wundern, dass nicht auch hier dieses Gespräch unmittelbar auf jenes folgt. Und freilich müssen es sehr triftige Gründe sein, um welcher willen eine so deutliche und absichtlich scheinende Anzeige ausser Acht gelassen wird. Allein eben deshalb sind sie auch von der Art, dass sie vollständig erst dann können eingesehen werden, wenn Jemand vom 'Sophistes aus auf den Theaitetos und das, was durch die gegen- wärtige Anordnung zwischen beide gestellt wird, zurükksehen kann. Nur soviel muss doch Jedermann zugestehen, dass jene Anzeige keine dringende Nothwendigkeit enthält, und die Möglichkeit meh- rere Gespräche zwischen jene beiden einzuschieben nicht ausschliesst. Denn wie leicht kann Platon allerdings zwar die Absicht gehabt haben, was wir jezt im Sophistes finden, unmittelbar nach dem Theaitetos auszuführen, hernach aber entweder durch besondere Veranlassungen dies und jenes noch zuvor zu erörtern aufgefordert worden sein, oder auch eingesehen haben, dass er nicht alles, was nothwendig war, um zu jenen Ergebnissen zu gelangen, in Einem Gespräch gehörig durchnehmen könne, und deshalb hat er dann mehrere kleine dazwischen geknüpft, ohne jenen einmal angedeute-

τ ten Hauptfaden zu zerschneiden. Oder es könnte auch ursprünglich, als er den Theaitetos beendigte, seine Absicht gewesen sein, durch dieselbigen Personen das, was wir jezt im Menon finden, durch- sprechen zu lassen, und dies oder jenes ihn späterhin bewogen haben, hiezu lieber Andere zu wählen, und jene einmal hingewor- fene Andeutung für eine spätere Arbeit zu benuzen. Kurz jener äussere vielfach erklärbare Umstand darf nicht gegen eine innere

224 ΜΕΝΟΝ,

Nothwendigkeit oder auch nur Wahrscheinlichkeit auftreten, sobald nämlich gezeigt werden kann, dass der Menon sich wirklich zu- nächst an den Theaitetos anschliesst, und auf jeden Fall zwischen ihn und den Sophistes muss gesezt werden. Dies aber wird, so weit es sich hier zur Stelle erörtern lässt, hoffentlich durch folgende Zusammenstellung deutlich genug erhellen.

Die erste Andeutung finden wir darin, dass im Theaitetos, wo der Gegensaz zwischen Wissen und Nichtwissen aufgestellt und in Betrachtung gezogen wird, Sokrates sagt, er wolle das Lernen und Vergessen als zwischen beiden liegend für jezt bei Seite sezen, und offenbar so davon redet, als läge darin auch eine Aufgabe, die er nur um seinen Hauptgegenstand nicht zu verlieren für ein anderes Mal aufsparen will.: Gerade. diese Aufgabe nun wird im Menon zur Sprache gebracht, und wer aufinerksam vergleicht, kann sich nun schon um deshalb den Menon nicht mehr vor dem Theal- tetos denken. Nicht anders aber wird sie gelöset, als wie Platon immer vorläufig zu thun pflegt, durch eine mythische Voraussezung, so dass wir hier gerade dasjenige finden, was nach seiner Weise, wenn die Frage einmal aufgeworfen war, zunächst geschehen musste. Da nun im Sophistes sowol als in andern offenbar dieser Reihe angehörigen Gesprächen dieselbe Frage mehr dialektisch und wissen- schaftlich behandelt wird: so kommt natürlich der Menon näher an den Theaitetos und vor jenen zu stehen. Denn wäre, als Platon den Menon schrieb, schon in öffentlichen Darstellungen zur wissen- schaftlichen Lösung dieser Frage soviel von ihm geleistet gewesen als wir in späteren Gesprächen finden werden: so hätte die mythische Behandlung derselben in diesem Gespräch keinen Sinn mehr ge- habt, sondern Platon würde die Leser auf eine andere Art, die wir von ihm auch schon kennen, zu jenen Werken, wo dies bessere geschehen, zurükkgewiesen .haben. Dasselbe ergiebt sich, wenn man eine andere, ebenfalls durch mehrere von diesen Gesprächen hindurchgehende Frage berükksichtiget, nämlich die von der Un- sterblichkeit. Wenn man erwägt, wie diese Idee zuerst im Gorgias und Theaitetos fast nur vorausgesezt und mythisch ausgezeichnet ist, dann hier als Erklärungsgrund einer Thatsache aufgestellt und gleichsam gefordert wird, anderwärts aber und vornehmlich im Phai- don mit einem höheren Grade 'von wissenschaftlicher Anschaulich- keit dargethan und auseinandergesezt: so muss jeder nun schon einigermaassen mit Platons Verfahren bekannt gewordene gestehen, dass nur durch diese, Stellung des Menon jene steigende allmählig bis zum Mittelpunkt durchdringende Klarheit, welche dem Platon

ΤΥ ΨΟΝ Ύ ΨΥ

Γ

. EINLEITUNG. 225

De τ’

eigen ist, in diese Verhandlung kommt, und dass das erste, was Platon nach jener allgemeinen Aufstellung zu thun hatte, eben die- ses war, zu zeigen, er sei berechtigt gewesen, die Unsterblichkeit auf solche Art vorauszusezen, wiefern nämlich alle Wissenschaft und alle Mittheilung mit ihr zugleich steht und fällt. Dies jedoch ist allerdings kein Beweis für diejenigen, welche den Phaidon für ein früheres Werk halten können als den Gorgias. Allein gegen diese können wir uns erst wenden, wenn wir nach unserer Anord- nung jene beiden Gespräche mit einander vergleichen. Behält man nun im Auge auf der einen Seite, wie diese beiden Fragen, die von der Möglichkeit des Lernens und die von der Unsterblich- keit, mit einander in Verbindung gebracht werden, und auf der andern Seite, wie die Frage von der Möglichkeit zur Erkenntniss zu gelangen hier verschränkt ist in die andere von der Möglichkeit zur Tugend zu gelangen und von der Natur der Tugend überhaupt: so sieht man, dass der Menon eben so unmittelbar zum. Gorgias ge- hört wie zum Theaitetos, und dass sich durch ihn die aufgestellte Ansicht von dem Verhältniss dieser beiden Gespräche zu einander noch mehr bestätiget, indem er bestimmt ist, beide noch genauer zusammen zu ziehen und in einander zu verflechten, für diejenigen, welche etwa noch nicht begreifen konnten, wie theils die Haupt- aufgaben beider Gespräche mit einander, theils in jedem von beiden das als Abschweifung vorgetragene mit dem Hauptgegenstande zu- sammenhinge. Und dies bestätiget„jede genauere Betrachtung des Menon, welcher, je näher man ihn mit jenen beiden zusammenhält, um desto dichter sich ihnen anschliesst, und so unmittelbar, dass man sich unmöglich noch etwas anderes dazwischen denken kann. Daher auch kaum etwas mehreres nöthig sein wird, als nur die einzelnen Angaben hinzustellen. Zuerst zeigt sich jedem als leztes wiewol dort nicht bestimmt und ausführlich ausgesprochenes Er- ΄ gebniss des Theaitetos die Aufstellung und Entwikkelung des Be- griffles der richtigen Vorstellung und der aufgezeigte Unterschied zwischen ihr und der eigentlichen reinen Erkenntniss. Dieser wird nun nicht nur im Menon als erwiesen vorausgesezt und ausdrükk- lich unter das Wenige gestellt, wovon Sokrates behaupten möchte, dass er es wisse, sondern es leuchtet ein, dass die entscheidende Behandlung der Frage über die Lehrbarkeit der bürgerlichen Tugend nichts anderes ist als eine unmittelbare Folgerung, ein Gorollarium aus dem Theaitetos, welches, was dieser zulezt herausgebracht, auf den Gegenstand des Gorgias anwendet. Eben so giebt uns der Menon eine unmittelbare Fortsezung des lezteren, indem darin ge- Plat. W. If. Th. 1. Ba. 15

226 MENON.

zeigt wird, dass die Begriffe des. guten und der Tugend so wenig als durch das angenehme im allgemeinen eben so wenig auch durch irgend eine genauer bestimmte Art zum angenehmen zu ge- langen, können bestimmt werden, sondern man beide zusammen- gehörige Begriffe rein für sich von Grund aus behandeln müsse. Und damit die Verbindung nieht übersehen werde, wird der Mit- unterredner aufgeführt als ein Schüler des Gorgias, und ausdrükk- lich auf ein Gespräch des Sokrates mit diesem angespielt. Auch ganz in dem Sinne, wie Gorgias und seine Freunde das schöne eingestehen mussten, antwortet auch Menon. Und so wie das lezte Ergebniss des Theaitetos bestätigend ausgesprochen wird, so wird auch das des Gorgias wiederholt, und gezeigt, es sei noch kein lezies und treibe die Untersuchung höher hinauf.

Dasselbe zeigt sich gleichfalls, wenn man .auf dasjenige sieht, was Nebensache ist oder zu sein scheint; denn auch dieses ist im Menon so durchaus einerlei mit jenen Gesprächen, dass man daraus auf noch fortdauernde gleiche Verhältnisse und Beschäftigungen schliessen muss. Derselbe Gebrauch des mathematischen zu Bei- spielen, wie im Theaitetos, ja sogar der gewählte Gegenstand in sichtbarem Zusammenhange mit jenem. Denn die dem Pythagorei- schen Lehrsaz zum Grunde liegende Aufgabe, die Seite des dop- pelten Vierekks zu finden, ist gerade der Fall, wobei amı unmittel- barsten, und gewiss auch zuerst, die Unmessbarkeit zweier Linien gegen einander ist zur Anschauung gekommen. Diese Stätigkeit des Stoffes, aus welchem die Beispiele genommen werden, kann so wenig zufällig sein, dass man vielmehr dadurch möchte in Ver- suchung geführt werden, dem Beispiel selbst noch einen höheren symbolischen Werth beizuiegen, zumal wenn man bedenkt, dass Platon überall in seinen: Werken Denkzeichen sezt für die Hörer seiner unmittelbaren lebendigen Anweisungen. Doch möge auch dieses nur schwache Vermuthung bleiben oder vielleicht gar vor- eilig sein und falsch; offenbar deutet doch dieser sonst nirgends so vorkommende Gebrauch darauf, dass während der Abfassung beider Gespräche Platon sich zugleich mit demselben Gegenstande, sei es nun inehr in mathematischer oder mehr in. Pythagoreischer Hinsicht, beschäftigte. Ferner hängen die im Menon vorkommenden Beispiele aus der Naturlehre ganz deutlich zusammen mit dem, was im Theaitetos zur Erläuterung der Lehre des Protagoras beigebracht wurde, und sollen vertbheidigend beweisen, dass Sokrates dort wirk- lich im Sinne der Meister jener Schule ihre Lehren vorgeiragen. Und diesen wird hier Gorgias als Schüler des Empedokles aus-

EINLEITUNG. 227

drükklich beigesellt, und auch dadurch auf den innern Zusammen- hang zwischen dem von ihm benannten Gespräch und dem Theaitetos aufmerksam gemacht. Eben so schliesst sich der Menon an beide Gespräche an durch die gleiche Polemik. Denn die Anspielung auf Aristippos den Gastfreund reicher Tyrannen ist nicht zu verkennen, wo Menon der Gastfreund des grossen Königs aussagt, Reichthum zusammenzubringen sei Tugend, ja auch da nicht, wo er die seiner Denkungsart, wie sie Xenophon schildert, nicht angemessene Ein- schränkung macht, dass es nur auf rechtmässige Weise geschehen dürfe. Eben so wird jeder an den Antisthenes denken, wo etwas verächtlich von Allen zugestanden und wiederholt bekräftiget wird, ein Sophist könne die Tugend nicht lehren, welches Antisthenes in einem dem,Platon nicht annehmlichen Sinne behauptete, und wo sogar sein erster Lehrer Gorgias, als der hierauf keine Ansprüche machte, ibm zum Muster vorgestellt wird. Ferner hat der Menon mit dem Theaitetos und Gorgias gemein die gleiche Anspielung auf die Anklage des Sokrates. Wie im Theaitetos ihrer ausdrükklich und zwar ziemlich müssig erwähnt, und sie im Gorgias last ge- weissagt wird, und in beiden manches aus der Vertheidigungsrede sehr merklich wiederkommt: so erscheint hier der künftige Ankläger selbst, und man sieht seinen Zorn entstehen ganz so wie ihn So- krates in der Vertheidigungsrede beschreibt. Und so gleiches Ge- präge tragen diese Anspielungen, dass offenbar die gleiche Veran- lassung hier wie dort zum Grunde gelegen, und Menon in den gleichen Zeitraum mit jenen zusammenfällt. Noch besonders schliesst. sich aber dieses Gespräch dem Gorgias an durch das, was Sokrates dem Anytos abfragt und erzählt von den Athenischen Staatsmännern. Platon giebt sich nämlich das Ansehn aus dem, was er im Gorgias behauptet hatte, umzulenken in eine günstigere Meinung; aber nur scheinbar thut er es mit genug Ironie, die auch am Ende recht hell heraustönt. Es scheint freilich eine ordentliche Ehrenerklärung zu sein, die ihnen Sokrates ausstellt, ehrenwerthe und rechtliche Männer habe es immer viele gegeben unter den Staatskundigen zu Athen, und er wolle hier nur behaupten, dass ihre Tugend nicht auf Erkenntniss beruht habe, und dass dies die Ursach gewesen, warum sie sie auch nicht lehren und mittheilen konnten, und diese Erklärung scheint um so kräftiger, da Sokrates nun in die gelinder gewendete Verurtheilung selbst den Aristeides mit begreift, den er vorher so sehr herausgehoben hatte vor den andern... Allein dieser, den er, was das Mittheilen betrifft, allerdings preiszugeben genö- thiget war, bleibt nun doch von den übrigen Vorwürfen, deren hier 15*

228 ΜΕΝΟΝ,

nicht weiter erwähnt wird, frei, und die Möglichkeit wie er es blei- ben könne, wird aufgestellt, da es doch solche geben kann, bei denen die richtige Vorstellung die sie einmal haben, unwandelbar bleibt; und eben dieses ist hingesiellt als der wahre Werth der nicht von einer ganz durchgebildeten Vernunft begleiteten und also nicht auf eigentlicher Erkenniniss beruhenden Tugend. Die Andern hingegen, denen schon sonst gezeigt worden, dass sie das nüzliche nicht festzuhalten vermochten, werden ganz leise mit ihrer richtigen Vorstellung, die aber nicht bleiben will ohne Erkenntniss, in die gleiche Klasse der Gottbegeisterien gesezt mit den Wahrsagern und Diehtern, und zulezt wird deutlich herausgesagt, wie es hiermit auch anderwärts gemeint gewesen, dass nämlich diese Alle sieh nur wie Schatten verhalten zu dem Einen, wenn es einen solchen gäbe, der da wisse und lehren könne.

Dies führt von selbst auf noch eine andere Aehnlichkeit des Menon mit dem Gorgias. In diesem nämlich fanden wir erklärende Rükkweisungen auf mehrere frühere Gespräche; von dem Menon kann man sagen, dass er fast alle aus der ersten Reihe berührt, und einen grossen Theil ihres gemeinschaftlichen Inhaltes, für wel- chen die Entscheidung gleichsam noch offen gelassen war, mit klaren Worten abschliesst und besiegelt. Dies gilt vornehmlich vom Protagoras und den ihm unmittelbar zugehörigen Gesprächen, und um dieser Beziehung willen wird nun aus dem Protagoras, der schon zu fern lag, als dass Platon nur durch eine oder die andere leise Andeutung auf ihn hinweisen konnte, vieles fast zu wörtlich und zu ausführlich wieder aufgenommen. Hier wird nun gezeigt, was von den Tugenden, wie sie gewöhnlich aufgezählt werden und schon nicht mehr die Eine Tugend sind, zurükkbleibt, wenn man sie von der Erkenntniss trennt; und zugleich wird der ganze Streit, in welchem dort nicht nur Sokrates mit dem Protagoras, sondern auch jeder von beiden mit sich selbst befangen war, über das Er- kenntnisssein und das Lehrbarsein der Tugend, eben durch den vorläufig festgesteliten Unterschied der Erkenntniss und der richtigen Vorstellung gelöset. So nämlich dass gesägt. wird, die höhere Tu- gend beruhe allerdings auf Erkenntniss, aber auf einer höheren auch als jener Berechnung des angenehmen, und sei dann auch lehrbar, in dem Sinne, in welchem dies iiberhaupt gesagt werden könne von dem Erinnern und Aufregen und Beieben der Ideen; die gewöhnliche bürgerliche Tugend aber sei nicht lehrbar, beruhe aber auch grösstentheils. nur auf richtiger Vorstellung, auf einem nicht bis zur wahren Erkenntniss durchgedrungenen Gefühl. Ist uns also

EINLEITUNG. 229

der Menon wegen des zuerst bemerkten unentbehrlich als Grund- lage zu manchem folgenden und als befestigender Schlussstein der Gespräche, welche den Antang der zweiten Reihe bilden: so ist er es auch durch diese Rükkweisungen als Schlüsse} zu manchem noch nicht ausdrükklich aufgelösten in der ersten Reihe,

Auch wird hiedurch der Menon bei einiger Aufmerksamkeit eine neue Bestätigung der bisherigen Anordnung im Ganzen. Denn dass er das Räthsel des Protagoras, und um nur bei dem nament- lich erwähnten stehen zu bleiben, des Laches gemeinschaftlich löst, und so beide Gespräche vor ihn und zusammen müssen gestellt werden, sieht jeder, und kein Verständiger wird etwa das Verhält- niss umkehren und sagen woilen, jene wären später und weitere Ausführungen des hier vorläufig angedeuteten. Dasselbe gilt vom Phaidros, auf welchen auch hier bestimmt genug zurükkgewiesen wird durch eine Annäherung der Diction, die auch ohne irgend wörtliche Uebereinstimmung fast wie eine Anführung auffällt, aber ohne dass aus dem ganz anders gestimmten Ton unseres Gespräches auf eine plumpe Art ausgewichen würde. Auch hier wird Niemand bei Vergleichung beider Stellen eine andere Ansicht möglich finden, als dass der Menon zurükksähe auf den Phaidros, es müsste denn Jemand überall gar kein Verhältniss zwischen der mythischen und philosophischen Darstellung anerkennen wollen, und muthwillig ver- wirren, was von selbst ins Licht zu treten strebt.

Dies ist die Ansicht, welehe man von den ziemlich verwikkel- ten Beziehungen dieses Gesprächs erhält, wenn man sich auf den Haupt- und Ängelpunkt gestellt hat, von welchem aus man allein alles richtig übersehen kann. So ausgerüstet wird es dann auch nicht schwer fallen zu beurtheilen, welche Bewandniss es wol haben kann mit zwei andern sehr weit von dieser entfernten Ansichten.

Die eine war bisher noch nicht eben laut geworden, sondern wurde nur einzeln von zum Theil sehr ehrenwerthen Kennern des Alterthums gehört, könnte aber zu einem ziemlichen Grade von Wahrscheinlichkeit ausgebildet werden, das heisst meiner Ueber- zeugung nach weit besser als Herr Ast seitdem wirklich gethan hat. Diese will nämlich unser Gespräch dem Platon absprechen, weil sie meint, es habe wenig philosophischen Gehalt, der nicht anderwärts bestimmter und besser ausgesprochen wäre, es sei da- her zum Verständniss der Platonischen Philosophie auch ziemlich entbehrlich, und in Absicht auf Anordnung und Behandlung auch des Platon nicht sonderlich würdig. Und gewiss wer sich einmal, weil er das Gespräch nicht in dem gehörigen Zusammenhang be-

230. MENON.

trachtete, von dem ersten überredet hat, der kann leicht das lezte durch manche Einzelheiten belegen, die ihm: nur um: so mehr auf- fallen müssen, je weniger er das Ganze versteht. . Gleich der ab- gebrochene Anfang ohne allen Eingang ist nicht sehr platonisch,. und ein Eingang schien hier um so nothwendiger, als wir nun erst mitten im Gespräeh ganz unerwartet ‚erfahren, dass Anytos von Anfang an mit dabei gewesen, was nirgends im Platon sonst vor- komnit. Auch könnte nur durch einen Eingang die Wendung gerechtfertiget werden, auf welcher der lezte Theil des Gespräches: beruht, dass Menon nach einem Lehrer in der bürgerlichen Tugend verlange; denn in dem Gespräche selbst ist dies nirgend vorbereitet. Mehrere harte Uebergänge und ungleichmässige Fortschritte scheinen sich auch nur durch einen in der Mimik doch nirgends recht her- austretenden Ungestüm erklären zu lassen; und die Aehnlichkeit ınit dem Phaidros und Protagoras könnte um so mebr als eine sehr mittielmässige Nachahmung erscheinen, da sich kaum denken lässt, wie Platon sich könne genöthiget gesehen haben, zum zweiten Male zu thun, wovon er das unfruchtbare schon früher aufgedekkt, nänı- lich nach einer Beschaffenheit der Tugend, ob sie lehrbar ist oder nicht, zu fragen eher als nach ihrer Natur. Von allen diesen Aus- stellungen aber bleibt für den, welcher den philosophischen Gehalt des Gespräches recht gewürdiget hat, dennoch nichts anderes übrig, als dass er ınit uns den Menon für eine von den loseren nicht vollkommen. durehgearbeiteten Darstellungen des Platon halten wird. Denn dies zugegeben begreifen sich alle einzelnen Beschuldigungen, und verschwinden zum Theil, da sie fast durchgängig mit den auf- gezeigten: vielfachen Nebenabsichten des Gespräches zusammentreffen, dessen Vernachlässigung im Einzelnen dem Platon um so eher zu verzeihen ist, da ihm wahrscheinlich im Zusammenhange mit dem Theaitetos die grösseren folgenden Werke schon vorschwebten, und er eilte, zu diesen zu kommen. Und wahrlich nichts ist wol wunderlicher als. wenn man verlangt, dass alle Werke auch eines grossen Meisters von gleicher Vollkommenheit sein sollen, oder die es nicht sind soll er gleich nicht verfertiget haben. Was hingegen den. Vorwurf betrifft, dass in diesem Gespräch gesucht werde, was vor einer andern Untersuchung nicht möglich ist zu finden: 50 steht es damit so arg nicht. Denn durch die Voraussezung, die, Tugend werde nur dann und in so fern lehrbar sein als sie Er- kenntniss ist, wird jene Frage ein Theil der ursprünglichen, was die Tugend an sich. ist oder nicht ist. Und was sonst Herr Ast unplatonische Behauptungen unseres Gespräches nennt, das läufl

EINLEITUNG. 231

theils darauf hinaus, dass er den in Bezug auf den grössten Theil: des Inhaltes nur vorbereitenden Charakter des Gespräches durchaus nieht anerkennen, theils dass er dem Platon nicht gestatten will, die Worte in verschiedenen Gesprächen- in dem einen in engerem in dem anderen in weiterem Sinne, und hier mehr wissenschaftlich dort mehr nach Art’ des gemeinen Lebens zu gebrauchen. Gefiele ihm dies zu erlauben, so könnte er nicht so darüber herfahren, dass die Tugend von der hier die Rede ist von der φρόνησις ge- trennt wird; 'und es würde ihm wicht entgangen sein, dass gerade die Unterscheidung der bürgerlichen Tugend von der Tugend im ‚höheren Sinne hier recht soll angeregt werden. Alles übrige erle- digt sich theils aus dem angeführten, theils scheint es mir keine besondere Berükksichtigung zu verdienen, bei so vielem unläugbar vorirefflichem und platonischem, wovon man einen andern wahr- scheinlichen Verfasser wol nirgends finden möchte.

Die andere der unsern auf andere Weise enigegengesezte An- sicht, welche wir noch zu berükksichtigen haben, ist die bekannte, welche auf den Menon einen grossen ausgezeichneten Werth legt, weil er eın herrliches Uebungsstükk sein soll in der sogenannten Ver- nunftlehre, auch die Sokratische Hebammenkunst darin mit vorzüg- licher Geschikklichkeit ausgeübt sei, und, hat man ihn erst ver- ständig präparirt, gar viel schönes davon den Knäblein in der Schule könne demonstrirt werden. Nur Sehade, dass Platon keine logischen Uebungsstükke zu fertigen pflegte, die eher in dem späten Machwerk der kleinen ihm untergeschobenen Gespräche gefunden werden, und dass, wenn er hier selbt etwas so darzustellen scheint, es nur geschieht, um die ganz andern Absichten dienende Einfüh- rung eines fremdartigen Bestandtheiles doch einigermaassen zu übertünchen. Schade auch, dass wir von seiner Hebammenkunst nach dem Begriff, den er selbst im Theaitetos aufstellt, weit kunst- reichere und fruchtbarere Beispiele finden in den kunstreicheren Gesprächen, und er dieses nur für einen ersten Anfang erklärt, die Vorstellungen zum Bewusstsein zu bringen, und es in der That auch etwas leicht behandelt hat, wie es den mathematischen Ele- menten gebührt im Vergleich mit den philosophischen, an denen er sonst diese Kunst zu üben pflegt. Schade endlich, dass man diesen Menon selbst und ganz nicht eben so leicht präpariren und demonstriren kann als man es mit einzelnen abgerissenen Stükken daraus gethan hat, die man aber dann selbst in ihrer Beziehung auf das Ganze nicht versteht. Daher sind denn auch diese Lob- redner selbst in einem lelırreichen Streite begriffen, welches wol

232 ΜΕΝΟΝ.

eigentlich die Meinung des Platon sein möge über die Lehrbarkeit der Tugend, ob es ihm wol ein Ernst sei mit der ganzen Frage, und ob die Entscheidung, dass sie nur durch göttliche Sehikkung erlangt werde, wol mit andern Aeusserungen des Philosophen zu- sammenstimme. Und viele wahrhaft göttliche Männer sind unter den Streitenden, denen auch, was sie irgend verstehen sollen, aus göttlicher Schikkung kommen muss, weil sie sich darauf gesezt haben, was an anderem hängt, für sich allein zu betrachten, und die ausser einer warnenden Stimme auch noch einer zurufenden und ermunternden bedürfen, um zu hören, wo der Schriftsteller die Antworten ertheilt auf ihre weisen Fragen. Denn verständen sie nur selbst seine Stimme, so würden sie auf drei Stellen besser ge- achtet haben, auf die Art, wie er die ersie Frage stellt, ob die Tugend Erkenntniss sei oder etwas ganz von der Erkenniniss ge- sondertes und verschiedenes; dann auf die Beschränkung, dass in der bürgerlichen Tugend die richtige Vorstellung wol dieselben Dienste leisten könne wie die Erkenniniss, und endlich auf die lezte Aeusserung über den wahren Staatsmann.

Was die Personen beirifft: so wird zwar Anytos, der Ankläger des Sokrates, meines Wissens weder vom Platon noch Xenophon bei seinem Vatersnamen genannt. Diogenes und Athenaios aber halten den Anytos dieses Gesprächs und den Ankläger des Sokrates für einen und denselben, und die ganze Art, wie er hier aufgeführt wird, spricht zu deutlich dafür, dass Platon diesen in Gedanken gehabt, als dass man noch anderer Gewährsmänner bedürfen sollte. Darum ist auch nicht nöthig zu forschen, wer wol die vielen Schrift- sieller sein mögen, bei denen Gedike gefunden, der Ankläger des Sokrates sei ein Sohn des Anthemion gewesen. Menon ist unstreitig derselbe, dessen Xenophon im Feldzuge des Kyros erwähnt, wenn gleich Platon ihn nicht als einen so verworfenen Ruchlosen schildert. Vaterland, Schönheit, Reichthum und die Freundschaft des Thessa- lischen Aristippos, der nicht auch ein zwiefacher wird sein sollen, sind zutreffende Umstände genug.

Tat

MENON

MENON. SOKRATES. EIN KNABE DES MENON. ANYTOS.

Menon. in du mir wol sagen, Sokrates, ob die Tugend 70 gelehrt werden kann? oder ob nicht gelehrt, sondern geübt? oder ob weder angeübt noch angelernt sondern von Natur sie den Men- schen einwohnt oder auf irgend eine andere Art?

Sokrates. Menon, vor diesem waren die Thessalier berühmt unter den Hellenen und wurden bewundert ihrer Reitkunst wegen und ihres Reichthums, nun aber, wie mir scheint, auch der Weis- heit wegen! und nichi die lezten sind darin die Mitbürger deines Freundes Aristippos des Larisäerss. Daran nun ist euch Gorgias Schuld. Denn als er in jene Stadt kam, gewann er zu Liebhabern seiner Weisheit wegen die ersten unter den Aleuaden sowol, zu denen auch dein Liebhaber Aristippos gehört, als unter den übrigen Thessaliern. Und so hat er euch auch diese Gewohnheit ange- wöhnt, dass ihr ohne Scheu und mit edler Zuversicht antwortet, wenn euch Jemand etwas fragt, wie auch zu erwarten ist von denen welche wissen. Denn auch er selbst bot sich ja dar jedem Hel- lenen, was nur jeder wollte ihn zu fragen, und nie liess er einen ohne Antwort. Hier aber, lieber Menon, steht es ganz entgegen- gesezt; es ist ordentlich wie eine Dürre an Weisheit eingetreten, und sie scheint ganz aus unsern Gegenden fort zu euch gezogen 71 zu sein die Weisheit. Wenigstens wenn du hier Jemand so fragen willst, wirst du nicht Einen treffen, der nicht lachte und sagte: Ο Fremdling, du scheinst mich ja für gar glükkselig zu halten, dass ich von der Tugend doch wenigstens wissen soll, ob sie lehr- bar ist, oder auf welche Art man sonst dazu gelangt; ich aber bin 50 weit davon entfernt, zu wissen ob sie lehrbar ist oder nicht lehrbar, dass ich nicht einmal dieses, was die Tugend überall ist,

234 MENON.

ordentlich weiss. Auch mir selbst, Menön, geht es eben so; ich theile die Armuth in dieser Sache mit meinen Landsleuten, und tadle mich genug darüber, dass ich gar nichts von der Tugend weiss. Wovon ich aber gar nicht weiss, was es ist, wie soll ich davon irgend eine besondere Beschaffenheit wissen? Oder dünkt dich das möglich, dass wer den Menon gar nicht kennt wer er ist, doch wissen kann, ob. er schön ist oder reich oder auch nur vor- nehm oder ob ganz das Gegentheil davon? Dünkt dich das möglich?

Menon. Nein freilich. Aber weisst du in der That nicht ein- mal was die Tugend ist, Sokrates? und soll ich das von dir auch zu Hause erzählen?

Sokrates. Nicht nur das, Freund, sondern auch dass mir auch noch kein Anderer vorgekommen ist, der es gewusst hat, so viel mich dünkt. |

Menon. Wie? ist dir Gorgias gar nicht vorgekommen, als er hier war?

Sokrates. O ja.

Menon. Nun, und es: schien .dir nicht, dass er es’ wisse?

Sokrates. Ich habe kein sehr gutes Gedächtniss, Menon, so dass ich jezt im Augenblikk nicht zu sagen weiss wie es mir da- mals schien. Allein vielleicht weiss: er es, und du, was er gesagt hat. Bringe mich also darauf, wie er sie- erklärte; oder wenn du das nicht willst, so sage es selbst. Denn du bist doch gewiss derselben Meinung wie er.

Menon. Das bin ich.

Sokrates. So lassen wir jenen, da er ohnedies abwesend ist. Du selbst aber, Menon, um der Götter willen, was sagst du dass die Tugend ist? Sprich, und vorenthalie es mir nicht, damit ich die glükkseligste Lüge möge gelogen haben, wenn sich zeigt, dass du es weisst und Gorgias, ich aber gesagt habe, mir sei noch nie einer vorgekommen, der es wisse.

Menon. Das ist ja gar nicht schwer zu sagen, Sokrates. Zu- erst, wenn du willst die Tugend des Mannes, so ist es leicht, dass dieses des Mannes Tugend ist, dass er vermöge die Angelegenhei- ten des Staates zu verwalten, und in seiner Verwaltung seinen Freunden wolılzuthun und seinen Feinden weh, sich selbst aber zu hüten, dass ihm nichts dergleichen begegne. Willst du die Tugend des Weibes, so ist auch nicht schwer zu beschreiben, dass sie das Hauswesen gut verwalten muss, alles im Hause gut im Stande halten und dem Manne gehorchend. Eine andere wiederum ἰδὲ die Tugend eines Kindes, sowol Knaben als Mädchen, und eines

MENON. 235

Alten, sei er ein Freier wenn du willst, oder ein Knecht. Und so giebt es noch gar viele andere Tugenden, so dass man nicht in72 Verlegenheit sein kann, von der Tugend zu sagen was sie ist. Denn nach jeder Handlungsweise und jedem Alter hat für jedes Geschäft jeder von uns seine Tugend, und eben so auch, Sokrates, glaube ich mit der Schlechtigkeit.

Sokrates. Gar besonders glükklich, Menon, scheine ich es ge- troffen zu haben, da ich nur eine Tugend suche und einen ganzen Schwarm von Tugenden finde, die sich bei dir niedergelassen. Allein, Menon, um bei diesem Bilde von dem Schwarm zu bleiben, wenn ich dich fragte nach der Natur einer Biene, was sie wol ist, und du sagtest mir, es wären ihrer gar viele und mancherlei; was würdest du mir antworten, wenn ich dich fragte: Meinst du, in sofern wären sie viele und vielerlei und von einander unterschie- den, als sie Bienen sind? oder sind sie hierin wol nicht unter- schieden, sondern nur in etwas anderem, wie in Schönheit, Grösse oder sonst etwas dergleichen? Sage mir, was würdest du antworten auf diese Frage?

Menon. Dieses, dass sie nicht verschieden sind, sofern sie Bienen sind, eine von der andern.

Sokrates. Wenn ich nun hierauf weiter spräche: Sage mir denn eben dieses, worin sie nicht verschieden sind, sondern alle einerlei, was doch dieses ist nach deiner Meinung: so würdest du mir doch wol etwas zu antworten wissen.

Menon. Das würde ich.

Sokrates. So ist es nun auch mit den Tugenden, dass, wenn sie auch viele und mancherlei sind, sie doch sammtlich eine und dieselbe gewisse Gestalt haben, um derentwillen sie eben Tugen- den sind, und eben hierauf wird derjenige hinzusehen haben, der in seiner Antwort auf jene Frage richtig angeben will, was die Tugend eigentlich ist. Oder verstehst du nicht, was ich meine?

Menon. Ich glaube zwar es zu verstehn: aber doch habe ich das wonach gefragt ist, noch nicht so inne, wie ich wollte.

Sokrates. Meinst du aber dieses etwa nur von der Tugend, Menon, dass es eine andere giebt für den Mann, und eine andere für die Frau und so für die Uebrigen? oder auch von der Gesund- heit und von der Grösse und Stärke eben so? Dünkt dich eine andere Gesundheit die des Mannes zu sein und eine andere die der Frau? oder ist es überall derselbe Begriff wenn es Gesundheit ist, mag sie in einem Manne sein, oder in wem sonst immer?

236 MENON.

Menon. Dieselbe dünkt mich wol die Gesundheit des Mannes zu sein und der Frau.

Sokrates. Also auch wol Grösse und Stärke? Wenn eine Frau stark ist, wird sie vermöge desselben Begriffs und derselben Stärke stark sein. Dieses derselben meine ich aber so, dass es der Stärke keinen Unterschied macht in dem Stärkesein, ob sie in einem Manne ist oder in einer Frau. Oder scheint es dir einen Unterschied zu machen?

Menon. Mir nicht.

Sokrates. Der Tugend aber soll es in dem Tugendsein einen

‘73 Unterschied machen, ob sie in einem Knaben ist oder in einem Alten, in einem Manne oder in einer Frau?

Menon. Mir wenigstens schwebt irgendwie vor, dass dieses jenem übrigen nicht mehr ganz ähnlich ist.

Sokrates. Wie doch? sagiest du nicht, die Tugend des Man- nes wäre den Staat wol zu verwalten, die der Frau aber das Hauswesen ?

Menon. Ja.

Sokrates. Ist es nun wol möglich, Staat oder Hauswesen oder was irgend sonst gut zu verwalien, wenn man es nicht be- sonnen und gerecht verwaltet?

Menon. Gewiss nicht.

Sokrates. Wenn sie es nun besonnen und gerecht verwalten: so verwalten sie es doch mit Besonnenheit und Gerechtigkeit?

Menon. Nothwendig.

Sokrates. Dasselbe also bedürfen Beide, wenn sie gut sein sollen, das Weib und der Mann, Gerechtigkeit nämlich und Be- | sonnenheit?

Menon. Offenbar.

Sokrates. Und wie? ein Kind oder Greis, die zügellos wären und ungerecht, könnten die wol gut sein?

Meron. Gewiss nicht.

Sokrates. Wol aber wenn besonnen und gerecht?

Menon. 18. EN

Sokrates. Alle Menschen also sind auf einerlei Art gut. Denn indem sie dasselbe an sich haben, werden sie gut.

Menon. So scheint es. u

Sokrates. Gewiss aber könnten sie, wenn ihre Tugend nicht eine und dieselbe wäre, nicht auf einerlei Art gut sein.

Menon. Nicht füglich.

Sokrates. Da also die Tugend eine und dieselbe ist für Alle:

MENON. 237

so versuche nun auszusprechen und mir in Erinnerung zu bringen, was doch Gorgias sagt dass sie sei, und du mit ihm.

Menon. Was sonst als dass man vermöge über die Menschen zu herrschen, wenn du doch etwas suchst, was durch alles geht.

Sokrates. Das suche ich freilich. Aber ist eben dieses auch die Tugend eines Kindes, Menon, und eines Knechtes, dass er vermöge zu herrschen über seinen Herrn? und dünkt dich noch ein Knecht zu sein wer herrscht?

Menon. Das dünkt mich keinesweges, Sokrates.

Sokrates. Es geht auch freilich nieht, Bester. Denn erwäge auch noch dieses. Du sagst dass man vermöge zu herrschen. ‚Sollen wir nicht hier gleich hinzusezen, gerecht nämlich, ungerecht aber nicht?

Menon. Das glaube ich allerdings. Denn die Gerechtigkeit, o Sokrates, ist Tugend.

Sokrates. Die Tugend, Menon, oder eine Tugend?

Menon. Wie meinst du das?

Sokrates. Wie bei irgend etwas anderem. Zum Beispiel von der Rundung würde ich sagen, sie sei eine Gestalt, nicht so schlechthin die Gestalt. Deshalb nämlich würde ich so sagen, weil es auch noch andere Gestalten giebt.

Menon. Und ganz recht würdest du sagen,: denn auch ich nenne nicht die Gerechtigkeit allein Tugend, sondern auch noch viele andere. |

Sokrates. Was für welche doch? sprich. Wie auch ich dir 74 andere Gestalten nennen könnte, wenn du es fordertest: so nenne auch du mir andere Tugenden.

Menon. Die Tapferkeit also dünkt mich Tugend zu sein, und die Besonnenheit, und die Weisheit, und die Grossmuth und viele andere.

Sokrates. Wiederum also ist uns dasselbe begegnet. Viele Tugenden nämlich haben wir gefunden, da wir nur eine suchen, nur auf eine andere Art als vorhin; die eine aber, die in allen diesen ist, können wir nicht finden.

Menon. ch kann eben noch nicht, wie du Sokrates es suchst, die eine Tugend in allen finden, so wie ich es bei den übrigen Dingen konnte.

Sokrates. Ganz natürlich. Aber ich will einen Versuch machen, uns, wenn ich es vermag, weiter zu bringen. Denn du siehst doch ein, dass es sich so mit jedem verhält. Wenn dieh Jemand nach dem fragte was ich eben anführte, Was ist doch Gestalt, Menon,

238 MENON.

und du ihm sSagtest, das runde, und er dann sagte eben wie ich, Ist das runde die Gestalt oder eine Gestalt, so würdest du wol sagen, eine Gestalt?

Menon. Freilich.

Sokrates. Nicht wahr deswegen, weil es noch andere Gestal- len giebt?

Menon. Ja.

Sokrates. Und wenn er dich weiter fragte, was für welche doch: so würdest du sie nennen?

Menon. Das thäte ich.

Sokrates. Und wiederum wenn er dich über die Farbe glei- chermaassen befragie, was sie ist, und auf deine Antwort, das weisse wäre Farbe, der Fragende dann erwiederte, Ist das weisse die Farbe oder eine Farbe: so würdest du sagen eine Farbe, weil es noch mehrere giebt. |

Menon. Das würde ich sagen.

Sokrates. Und wenn er dich hiesse andere Farben nennen: so würdest du ihm andere nennen, die nicht weniger Farben sind als das weisse.

Menon. Ja.

Sokrates. Wenn er nun, wie ich, die Rede herumnähme und sagte, Immer kommen wir auf vieles; aber nicht also, sondern da du doch dieses viele insgesammt mit Einem Namen benennst und behauptest, jedes davon sei Gestalt, und zwar ohnerachtet sie einander entgegengesezt sind: was ist doch dieses, was das runde nicht minder unter sich begreift als das gerade, was du eben Ge- stalt nennst, und behauptest, das runde sei nicht minder Gestalt als das gerade? Oder meinst du es etwa nicht so?

Menon. Freilich so.

Sokrates. .Wenn du nun so sagst, ‚meinst du dann etwa, das runde sei nicht mehr rund als gerade, und das gerade nicht mehr gerade als rund?

Menon. Keinesweges, Sokrates.

Sokrates. Aber Gestalt, sagst du, sei das runde nicht mehr als das gerade, und das eine nicht mehr als das andere.

Menor. Richtig.

Sokrates. Was ist nun also das, dem Ju diesen eh Ge- stalt beilegst? versuche es zu beschreiben. Wenn du nun dem, der so fragt, sei es nun über die Gestalt. oder über die Farbe, sagtest, Ich verstehe gar nicht einmal was du willst, lieber Mensch, -75noch weiss ich was du meinst: so würde er sich vielleicht wun-

MENON. 289

dern und sagen, Verstehst du nicht, dass ich das suche, was in allen diesen dasselbe ist? Oder wüsstest du es auch hierin nicht anzugeben, wenn dich Jemand fragte, was doch im runden und geraden und dem übrigen was du Gestalt nennst in allem dasselbe ist? Versuche es anzugeben, damit du daran auch eine Uebung habest auf die Antwort über die Tugend.

Menon. Nein, sondern gieb du es an, Sokrates.

Sokrates. Soll ich es dir zu Gefallen thun?

Menon. Freilich.

Sokrates. Wirst du mir dann auch das von der Tugend sa- gen wollen?

Menon. Allerdings.

Sokrates. So will ich mich daran geben; denn es lohnt.

Menon. Allerdings.

‚Sokrates. Wolan denn, ich will versuchen dir zu sagen, was Gestalt ist. Sieh also zu, ob du annimmst: sie sei dieses. Das- jenijge nämlich soll uns Gestalt sein, was allein unter allen Dingen überall die Farbe begleite. Genügt es dir, oder begehrst du es noch anders? denn ich meines Theils ‚wollte mich schon begnügen, wenn du mir auch nur so die Tugend erklärtest.

Menon. Allein dies ist doch sehr einfältig, o Sokrates.

Sokrates. Wie meinst du?

Menon. Dass dasjenige Gestalt ist nach deiner Erklärung, was überall der Farbe folgt.

Sokrates. Gut.

Menon. Wenn nun einer läugnete zu wissen was Farbe ist, sondern darüber eben so im ungewissen wäre wie über die Ge- stalt, was meinst du dann geantwortet zu haben?

Sokrates. Doch das rechte meine ich. Und wäre der Fra- gende einer von jenen Weisen, Streitkünstlern und Wortleehtern: so würde. ich ihm sagen, ich habe nun gesprochen, und wenn ich nicht richtig erklärt habe, so ist nun deine Sache das Wort zu nehmen und mich zu widerlegen. Wäre es aber, dass wir wie du und ich jezt als Freunde mit einander uns zur Belehrung unter- halten wollten, so müsste ich dann freilich sanfter und kunst- mässiger antworten. Dies kunstmässigere mag aber wol sein, dass man nicbt nur das rechte antworte, sondern auch nur durch solche Merkmale, welche der Fragende ebenfalls eingeständig ist zu verstehen. Auf diese Art nun will ich auch versuchen, es dir zu erklären. Sage mir also, nennst du etwas Ende, und meinst damit wie eine Grenze und ein leztes? Alles dergleichen nehme

340 MENON,

ich hier für einerlei. Vielleicht nun würde Prodikos uns zuwider sein; du aber nennst doch auch etwas begrenzt sein und ein Ende haben? nur dieses meine ich und keine krausen Unterschiede weiter.

Menon. Ο ja, ich nenne etwas so, und glaube zu verstehen was du meinst.

Sokrates. Auch Fläche nennst du etwas, und etwas anderes wiederum Körper, eben wie die in der Messkunst?

Menon. Ja, auch das.

76 Sokrates. Hieraus wirst du vielleicht schon verstehen, was ich meine unter der Gestalt. Denn in allen Gestalten sage ich, dass, was den Körper begrenzt, eigentlich die Gestalt ist: so dass ich im aligemeinen sagen möchte, die Gestalt sei die Grenze des Körpers.

Menon. Und was nennst du Farbe, Sokrates?

Sokrates. Du bist übermüthig, Menon! einem alten Mann legst du schwierige Sachen auf zu beantworten, du selbst aber willst dir nicht zurükkrufen und mittheilen, was Gorgias sagt, dass die Tugend sei.

Menon. Aber wenn du mir dies wirst erklärt haben, Sokra- tes, will ich es dir auch gewiss sagen.

Sokrates. Auch verhüllt, o Menon, kann jeder, sobald du nur sprichst, merken, dass du schön bist, und dass du noch Lieb- haber hast.

Menon. Wie so?

Sokrates. Weil du immer nur befiehlst im Gespräch, wie jene Verwöhnten es machen, die ja immer herrisch sind, so lange die Jugend währt. Und vielleicht hast du es auch mir schon ab- gemerki, dass ich den Schönen nicht gewachsen bin. Ich will dir also den Willen thun und antworten. |

Menon. Allerdings thue mir den Willen.

Sokrates. Ist es dir also genehm, dass ich dir nach Gorgias Weise antworte, der du doch am besten folgen wirst?

Menon. Allerdings ist mir das genehm. Wie anders?

Sokrates. Nicht wahr, ihr nehmt gewisse Ausflüsse an aus allem was ist nach Empedokles? |

Menon. Ganz recht.

Sokrates. Und Gänge, in. welche und durch welche die Aus- flüsse gehn?

Menon. Allerdings.

Sokrates. Und dass von den Ausflüssen einige einigen Gän-

MENON. 241

gen angemessen sind, andere aber für dieselbigen zu gross oder zu klein?

Menon. So ist es.

Sokrates. Nun nennst du doch etwas Gesicht?

Menon. Allerdings.

Sokrates. Hieraus nun vernimm was ich meine, sagt Pindaros. Nämlich Farbe’ ist der dem Gesicht angemessene und wahrnehm- bare Ausfluss aus den Gestalten.

Menon. Ganz vortreffllich, Sokrates, dünkst du mich diese Antwort abgefasst zu haben.

Sokrates. Vielleicht ist sie nach einer dir gewohnten Weise abgefasst. Und überdies, glaube ich, merkst du, dass du aus ihr zugleich erklären könntest, was der Schall ist und der Geruch, und viel anderes dieser Art.

Menon. Allerdings.

Sokrates. Es ist nämlich eine gar prächtige Antwort, Menon, darum gefällt sie dir besser als die von der Gestalt.

Menon. Mir wenigstens,

Sokrates. Aber nicht sie, o Sohn des Alexidemos, wie ich meines Theils mich überzeuge, sondern jene ist die bessere. Und auch du, glaube ich, würdest sie nicht dafür halten, wenn du nicht, wie du gestern sagtest, genöthiget wärest, vor den Weihungen fort- zugehn, sondern hier bleiben könntest, um dich einweihen zu lassen.

Menon. Gern bliebe ich, Sokrates, wenn du mir viel derglei- chen sagen wolltest.

Sokrates. Am guten Willen wollte ich es nicht fehlen lassen, sowol deinetwegen als meinetwegen dir dergleichen zu sagen; wenn 77 ich. nur nicht unvermögend sein werde, viel dergleichen zu sagen. Allein nun komm und versuche auch du mir dein Versprechen zu erfüllen und im allgemeinen zu erklären, was die Tugend ist; und höre auf, Vieles aus Einem zu machen, wie man im Scherz zu denen sagt, die etwas zerstossen; sondern gesund lass sie und ganz, und so sage, was die Tugend ist. Die Beispiele dazu hast du ja von mir erhalten.

Menon. So dünkt mich denn, Sokrates, Tugend zu sein, wie der Dichter sagt „sich erfreuen am schönen und es vermögen.” Und dies nenne ich Tugend, dass man dem schönen nachsirebend vermöge es herbeizuschaffen.

Sokrates. Meinst du mit dem, der dem schönen nachstrebt, einen Streber des guten?

Menon. Ganz eigentlich.

Plat. W, II. Th. I, Bd. 16

242 MENON.

Sokrates. Etwa als gäbe es Einige die das böse begehren, und Andere die das gute? und scheinen dir, Bester, nicht Alle das gute zu begehren?

Menon. Nein, mir nicht.

Sokrates. Sondern Einige das böse?

Menon. Ja.

Sokrates. In der Meinung dass es gut sei, willst du sagen, oder gar wissend dass es böse ist begehren sie es doch?

Menon. Beides, dünkt mich.

Sokrates. Glaubst du denn also, Menon, dass Jemand das böse kennend dass es böse ist, es dennoch begehrt?

Menen. Allerdings.

Sokrates. Und was meinst du begehre er? dass es ihm werde?

Menon. Dass es ihm werde. Denn was sonst?

Sokrates. Etwa glaubend, dass das böse dem nuzt dem es zu Theil wird? oder das böse kennend, dass es dem schadet, dem es beiwohnt?

Menon. Einige wol indem sie glauben, das böse nüze, Ändere auch indem sie es kennen, dass es schadet.

Sokrates. Und dünkt dich denn, dass diejenigen das böse erkennen, dass es böse ist, welche glauben das böse nüze?

Menon. Das dünkt mich wol nicht recht.

Sokrates. Ofienbar also begehren jene, welche es nicht er- kennen, schon nicht mehr das böse; sondern das vielmehr, was sie für gut halten, es ist aber eben böse, so dass die, welche das böse nicht erkennen, sondern glauben es sei guies, offenbar das gute begehren. Oder nicht?

Menon. Diese scheinen ja wol.

Sokrates. Und wie, die das böse begehren, und doch dafür halten, wie du behauptest, dass das böse dem schade, dem es zu Theil wird, die erkennen ja doch, dass sie Schaden davon haben werden ?

Menon. Nothwendig.

78 Sokrates. Und diese glauben nicht dass ' die Beschädigten elend sind, sofern sie beschädigt werden?

Menen. Auch das ist nothwendig.

Sokrates. Und nicht, dass die Elenden unselig sind?

Menon. Ich glaube wol.

Sokrates. Giebt es nun wol irgend einen, der elend sein wili und unselig?

Menon. Nein, dünkt mich, Sokrates.

$ I | | MENON. 243

Sokrates. Also, o Menon, will auch Niemand das böse, wenn er doch nicht ein solcher sein will. Denn was hiesse wol anders elend sein, als dem bösen nachsireben, und es erlangen?

Menon. Du scheinst Recht zu haben, Sokrates, und Niemand will das böse.

Sokrates. Sagtest du nun nicht so eben, die Tugend wäre das gute wollen, und es vermögen?

Menon. Das sagte ich.

Sokrates. Ist nun dieses gesagt: so kommt das Wollen Allen zu; und insofern ist keiner besser als der Ändere.

Menon. So scheint es.

Sokrates. Sondern offenbar, wenn Einer besser ist als der Andere, so wäre er in Bezug auf das Können vorzüglicher.

Menon. Allerdings.

Sokrates. Dies also ist, wie es scheint, nach deiner Rede die Tugend, das Vermögen das gute herbeizuschaffen.

Menon. Auf alle Weise, Sokrates, dünkt mich dass’ es sich so damit verhalie, wie du es eben vorstellst.

Sokrates. Lass uns also auch dieses in Augenschein nehmen ob du Recht hast, denn vielleicht magst du Recht haben. Dass man vermag das guie herbeizuschaffen, dies, sagst du, ist Tugend.

Menon. Das sage ich.

Sokrates. Nennst du aber nicht gutes so etwas wie Gesund- heit und Reichthum? ich meine Gold und Silber besizen, und An- sebn und Aemter im Staate. Nennst du etwa andere Dinge gutes als dergleichen?

Menon. Nein, sondern alles dergleichen meine ich.

Sokrates. Wol! Gold also und Silber herbeischaffen ist Tu- gend, wie Menon behauptet der angestammte Gastfreund des grossen Königs! Sezest du nun zu diesem Verfahren etwa noch hinzu auf gerechte und fromme Weise? oder macht dir dies keinen Unter- schied, sondern auch wenn es Jemand ungerechter Weise herbei- schafft, nennst du das doch nicht minder Tugend?

Menon. Mit nichten, Sokrates, sondern Schlechtigkeit.

Sokrates. Auf alle Weise also muss, wie es scheint, bei die- sem Erwerb Gerechtigkeit oder Besonnenheit oder Frömmigkeit da- bei sein, oder-ein anderer Theil der Tugend; wo nicht, so wird er nicht Tugend sein, obschon gutes herbeischaffend.

Menon. Wie könnte er auch wol ohne diese Tugend sein!

Sokrates. Aber Gold und Silber nicht herbeischafflen, wenn

16*

244 MENON.

es nicht gerecht wäre, weder für sich selbst noch für einen Andern, wäre nicht auch dieser Nichterwerb und Mangel Tugend?

Menon. Offenbar wol.

Sokrates. Der Erwerb solcher Güter also wäre um nichts mehr Tugend als ihr Nichterwerb auch; sondern, wie es scheint, was nur mit Gerechtigkeit geschieht, wird Tugend sein, was aber ohne alles dergleichen, das Schlechtigkeit.

79 Menon. Es dünkt mich nothwendig zu sein, so wie du sagst.

Sokrates. Behaupteten wir nun nicht vor kurzem, jedes von diesen sei ein Theil der Tugend, die Gerechtigkeit und die Beson- nenheit, und alles dieses ?

Menon. Ja.

Sokrates. Also, o Menon, scherzest du mit mir.

Menon. Wie so, Sokrates?

Sokrates. Weil ohnerachiet ich dich nur eben gebeten, mir die Tugend weder zu zerbrechen noch zu zerkrümeln, und dir Bei- spiele gegeben, wie du antworten solltest, du unbekümmert um dies alles mir sagst, das sei Tugend, wenn man vermöge gutes herbeizuschaffen mit Gerechtigkeit, welehe wie du selbst behauptest ein Theil der Tugend ist.

Menon. Das behaupte ich.

Sokrates. Also folgt ja aus dem was du eingestehst, alles, was man thut, mit einem Theile der Tugend zu thun, das sei Tu- gend. Denn die Gerechtigkeit, sagst du, sei ein Theil der Tugend, und so jede von diesen.

Menon. Was nun weiter, wenn ich dies behaupte?

Sokrates. Dass ohnerachtet ich dich gebeten mir die ganze Tugend zu erklären, du weit entfernt bist mir zu sagen was sie ist, sondern nur sagst, jede Handlung sei Tugend wenn sie mit einem Theile der Tugend verrichtet wird; als hättest du schon er- klärt was die Tugend ist im ganzen, und als würde ich sie nun schon erkennen, wenn du sie auch nach ihren Theilen zerstükkelst. Also bedarf es wie mich dünkt noch einmal von Anfang an der- selben Frage, o Menon, Was ist denn die Tugend, wenn jede Handlung, in der sich ein Theil der Tugend findet, Tugend sein soll? Denn das sagt derjenige, welcher sagt, dass jede Handlung mit Gerechtigkeit Tugend ist. Oder dünkt dich nicht, dass es noch- mals derselben Frage bedarf, sondern glaubst du, einer kenne einen Theil der Tugend was er ist, der nicht weiss, was sie selbst ist?

Menon. Das denke ich wol nicht.

Sokrates. Denn wenn du dich nur erinnern willst, als ich

MENON. 245

dir vorher antwortete wegen der Gestalt, verwarfen wir eine solche Antwort, welche durch noch zu suchendes und noch nicht einge- standenes antworten wollte.

Menor. Und mit Recht gewiss verwarfen wir sie, o Sokrates.

Sokrates. Also meine auch du nicht, Bester, so lange noch die ganze Tugend, was sie ist, gesucht wird, wenn du ihre Theile in die Antwort hineinbringst, sie dadurch irgend Jemanden deutlich machen zu können, noch auch sonst irgend etwas, wenn du es auf eben die Weise wie dieses erklärst; sondern es wird immer die alte Frage zurükkkehren, was denn die Tugend ist, von der du je- nes sagst, was du sagst. Oder dünkt dich dies nicht gesagt’?

Menon. Mich dünkt es allerdings richtig gesagt.

Sokrates. Antworte also nochmals von vorne, was du sagst dass die Tugend sei, du und dein Freund!

Menon. O Sokrates, ich habe schon gehört, ehe ich noch mit dir zusammengekommen bin, dass du allemal so selbst in Ver- wirrung bist, und auch Andere in Verwirrung bringst. Auch jezt kommt mir vor, dass du mich bezauberst und mir etwas anthust80 und mich offenbar besprichst, dass ich voll Verwirrung geworden bin, und du dünkst mich vollkommen, wenn ich auch etwas scher- zen darf, in der Gestalt und auch sonst jenem breiten Seefisch dem Krampfrochen zu gleichen. Denn auch dieser macht jeden, der ihm nahe kommt und ihn berührt, erstarren. Und so dünkt mich, hast auch du mir jezt etwas ähnliches angethan dass ich erstarre. Denn in der That an Seele und Leib bin ich erstarrt und weiss dir nichts zu antworten; wiewol ich schon tausendmal über die Tugend gar vielerlei Reden gehalten habe vor Vielen, und sehr gut wie mich dünkt. Jezt aber weiss ich überall nicht einmal was sie ist zu sagen. Daher dünkt es mich weislich gehandelt, dass du von hier nicht fortreisest, weder zur See noch sonst. Denn wenn du anderwärts dergleichen als Fremder thälest: so würde man dich vielleicht als einen Zauberer abführen.

Sokrates. Schlau bist du, Menon, und hättest mich beinahe überlistet.

Menon. Wie so, Sokrates?

Sokrates. Ich weiss wol, weshalb du mich so abgebildet hast.

Menon. Weshalb meinst du denn?

Sokrates. Damit ich dich wieder abbilden möchte. Ich weiss das von allen Schönen, dass sie gern mögen abgebildet werden. Denn es gereicht ihnen zum Ruhme, weil auch die Bilder der Schönen, meine ich, schön sind. Aber ich werde dich nicht wıe-

246 MENON.

der abbilden. Ist nun dein Krampffisch selbst auch erstarrt, wenn er andere*erstarren macht, dann gleiche ich ihm; wenn aber nicht, dann nicht. Denn keinesweges bin ich etwa selbst in Ordnung, wenn ich die Andern in Verwirrung bringe; sondern auf alle Weise bin ich selbst auch in Verwirrung, und ziehe nur so die Andern mit hinein. Se auch jezt, was die Tugend ist, weiss ich keines- weges; du aber hast es vielleicht vorher gewusst ehe du mich be- rührtest, jezt indess bist du einem Nichtwissenden ganz ähnlich. Lennoch will ich mit dir erwägen und untersuchen, was sie wol ist.

Menon. Und auf welche Weise willst du denn dasjenige su- chen, Sokrates, wovon du überall gar nicht weisst, was es ist. Denn als welches besondere von allem, was du nicht weisst, willst du es dir denn vorlegen und so suchen? Oder wenn du es auch noch so gut träfest, wie willst du denn erkennen, dass es dieses ist, was du nicht wusstest?

Sokrates. Ich verstehe was du sagen willst, Menon! Siehst du was für einen streitsüchtigen Saz du uns herbringst? Dass nämlich ein Mensch unmöglich suchen kann, weder was er weiss, noch was er nicht weiss. Nämlich weder was er weiss, kann er suchen, denn er weiss es ja, und es bedarf dafür keines Suchens weiter; noch was er nicht weiss, denn er weiss ja dann auch nicht, :was er suchen soll.

81 Menon. Scheint dir das nıcht ein gar schöner Saz zu sein, Sokrates?

Sokrates. Mir gar nicht.

Menon. Kannst du sagen weshalb?

Sokrates O ja! Denn ich habe es von Männern und Frauen, die in göttlichen Dingen gar weise waren.

Menon. Was sagten denn diese?‘

Sokrates. Etwas sehr wahres, meines Erachtens, und schönes.

Menon. Aber was?'und wer waren die es sagten?

Sokrates. Die es sagen, sind Priester und Priesterinnen so viele es deren giebt, denen daran gelegen ist, von dem was sie verwalten Rechenschaft geben zu können. Es sagt es auch Pin- daros und viele andere Dichter, welche göttlicher Art sind. Und was sie sagen, ist folgendes, erwäge aber wol, ob dich dünkt, dass sie wahr reden. Sie sagen nämlich, die Seele des Menschen sei 1: unsterblich, se dass sie jezt zwar ende, was man sterben nennt, und jezt wieder werde, untergehe aber niemals. Und desshalb müsse man aufs heiligste sein Leben verbringen. Denn von welchen Per- sephone schon die Strafen des alten Elendes genommen, deren

ΜΈΝΟΝ, 247

Seelen giebt sie der obern Sonne im neunten Jahre zurükk, aus weichen dann ruhmvolle thatenreiche Könige und an Weisheit die vorzüglichsten Männer hervorgehn, und von da an als heilige He- roen unter den Menschen genannt werden. Wie nun die Seele unsterblich ist und oftmals geboren, und, was hier ist und in der Unterwelt, alles erblikkt- hat: so ist auch nichts, was sie nicht hätte in Erfahrung gebracht, so dass nicht zu verwundern ist, wenn sie auch von der Tugend und allem andern vermag sich dessen zu erinnern was sie ja auch früher gewusst hat. Denn da die ganze Natur unter sieh verwandt ist, und die Seele alles inne ge- habt hat: so hindert nichts, dass wer nur an ein einziges erinnert wird, was bei den Menschen lernen heisst, alles übrige selbst auı:- finde, wenn er nur tapfer ist und nicht ermüdet im Suchen. Denn das Suchen und Lernen ist demnach ganz und gar Erinnerung. Keinesweges also darf man jenem streitsüchtigen Saze folgen; denn er würde uns träge machen, und ist nur den weichlichen Menschen angenehm zu hören; dieser aber macht uns thätig und forschend, welehem vertrauend, dass er wahr sei, ich eben Lust habe mit dir zu untersuchen, was die Tugend ist.

Menon. Ja, Sokrates, aber meinst du dies so schlechthin, dass wir nicht lernen, sondern dass, was wir so nennen, nur ein Er- innern ist? Kannst du mich wol belehren, dass sich dieses so verhält?

Sokrates. Schon eben sagte ich, dass du schlau bist, Menon; auch jezt fragst du, ob ich dich lehren kann, der ich doch be- haupte, es gebe keine Belehrung, sondern nur Erinnerung, damit82 ich nur gleich mit mir selbst im Widerspruch erscheine.

Menon. Nein wahrlich, Sokrates, nicht in solcher Absicht sagte ich es, sondern aus Gewohnheit. Wenn du mir also irgend - wie zeigen kannst, dass es sich so verhält, wie du sagst, so thue es.

Sokrates. Freilich ist dies nicht leicht, ich will es aber doch unternehmen, dir zu Liebe. Rufe mir also von den vielen Dienern hier, welche dich begleiten, irgend einen her, welchen du willst, damit ich es dir an diesem zeige.

Menon. Sehr gern. Du da komm her.

Sokrates. Er ist doch ein Hellene und spricht hellenisch?

Menon. Sehr gut; er ist im Hause aufgezogen.

Sokrates. Merke also wol auf, wie er dir erscheinen wird, ob als erinnerte er sich oder als lernte er von mir.

Menon. Das will ich thun.

248 MENON.

Sokrates. Sage mir also, Knabe, weisst du wol, dass ein Vierekk eine solche Figur ist?

Knabe. Das weiss ich.

Sokrates. Giebt es also ein Vierekk, welches alle diese Sei- ten, deren vier sind, gleich hat?

Knabe. Allerdings.

Sokrates. Hat es nicht auch diese beiden, welche durch die Mitte hindurchgehn, gleich?

Knabe. Ja.

Sokrates. Ein solcher Raum nun kann doch grösser und kleiner sein.

Knabe. Freilich.

Sokrates. Wenn nun diese Seite zwei Fuss hätte und diese auch zwei; wieviel Fuss enthielte das ganze? Ueberlege es dir so. Wenn es hier zwei Fuss hätte, hier aber nur einen, enthielte dann nicht der ganze Raum einmal zwei Fuss?

Knabe. Ja.

Sokraie. Da er nun aber auch hier zwei Fuss hat, wird er nicht von zweimal zwei Fuss?

Knabe. Das wird er.

Sokrates. Zweimal zwei Fuss ist er also?

Knabe. Ja. |

Sokrates. Wieviel nun zweimal zwei Fuss sind, das rechne aus und sage es.

Knabe. Vier, o Sokrates.

Sokrates. Kann es nun nicht einen andern Raum geben,. der das doppelte von diesem wäre, sonst aber ein eben solcher, in dem alle Seiten gleich sind wie in diesem?

Knabe. 0 ja.

Sokrates. Wieviel Fuss muss der:halten?

Knabe. Acht Fuss.

Sokrates. Gut! Nun versuche auch mir zu sagen, wie gross jede Seite in diesem Vierekk sein wird. Nämlich die des ersten ist von zwei Fuss; die aber jenes doppelten?

Knabe. Oftenbar, o Sokrates, zweimal so gross.

Sokrates. Siehst du wol, Menon, wie ich diesen nichts lehre, sondern alles nur frage? Und’ jezt glaubt er zu wissen, wie gross die Seite ist, aus der das achtfüssige Vierekk entstehen wird. Oder denkst du nicht, dass er es glaubt?

Menon. Allerdings.

Sokrates. Weiss er es aber wol?

MENON. 249

Menon. Wol nicht. j Sokrates. Er glaubt aber doch, es entstehe aus der doppelten? Menon. Ja.

Sokrates. Sieh nun zu, wie er sich weiter so erinnern wird, wie man sich erinnern muss. Du aber sage mir, aus der doppel- ten Seite, sagst du entstehe das doppelte Vierekk? ich meine aber ein solches, nicht etwa was hier lang ist, dort aber kurz; sondern 83 es soll nach allen Seiten gleich sein, wie dieses hier, aber das zwiefache von diesem, also achtfüssig. Sieh nun zu, ob du noch meinst, dies werde aus der zwiefachen Seite entstehn?

Knabe. So meine ich.

Sokrates. Wol! dies wird doch die zwiefache von dieser, wenn wir hier noch eine eben so grosse hinzusezen?

Knabe. Allerdings.

Sokrates. Und aus dieser, glaubst du, werde das achtfüssige Vierekk entstehn, wenn wir vier solche nehmen?

Knabe. Ja.

Sokrates. So lass uns von ihr vier gleiche beschreiben. Nicht wahr also, dies wäre, was du für das achtfüssige hältst?

Knabe. Allerdings.

Sokrates. Sind nun nicht in ihm diese Vier, deren jedes diesem. vierfüssigen gleich ist?

Knabe. Ja.

Sokrates. Wie gross ist es also? nicht viermal so gross?

Knabe. Nicht anders.

Sokrates. Ist nun das viermal so grosse das zwiefache?

Knabe. Nein, beim Zeus.

Sokrates. Sondern das wievielfache 7

Knabe. Das vierfache.

Sokrates. Aus der zwiefachen Seite also entsteht uns nicht £ das zwiefache, sondern das vierfache Vierekk.

Knabe. Du hast Recht.

Sokrates. Denn von vier ist das vierfache sechszehn. Nicht?

Knabe. Ja.

Sokrates. Das achtfüssige aber, von welcher Seite entsteht das? Nicht wahr? aus dieser entsteht das vierfache?

Knabe.- Das sage ich auch.

Sokrates. Und das vierfüssige entsteht aus dieser halben?

Knabe. Ja.

Sokrates. Wol. Das achtfüssige aber, ist es nicht von die- sem hier das zwiefache, von diesem aber die Hälfte?

250 MENON.

Knabe. Allerdings.

Sokrates. Muss es also nicht aus einer grösseren Seite ent- stehen als diese, und aus einer kleineren als diese? Oder nicht?

Knabe. Ich wenigstens denke so.

Sokrates. Schön! denn immer nur was du denkst musst du antworten. Und sage mir, hatte nicht diese zwei Fuss, diese aber vier?

Knabe. Ja.

Sokrates. Also muss des achtfüssigen Vierekks Seite grösser sein als diese zweifüssige, und kleiner als die vierfüssige?

Knabe. Das muss sie.

Sokrates. So versuche denn zu sagen, wie gross du meinst dass sie sei.

Knabe. Dreifüssig.

Sokrates. Gut. Wenn sie dreifüssig sein soll, so wollen wir von dieser noch die Hälfte dazunehmen, so wird sie dreifüssig; denn dies ist zwei Fuss, und dies ist ein Fuss, und auf dieser Seite eben so, sind dies zwei, dies einer. Und dies wird hun das Vierekk, welches du meinst.

Knabe. Ja.

Sokrates. Wenn es nun hier drei Fuss hat, und hier auch drei Fuss: so wird das ganze Vierekk von dreimal drei Fuss.

Knabe. Offenbar.

Sokrates. Dreimal drei aber, wieviel Fuss sind das?

Knabe. Neun.

Sokrates. Wieviel Fuss aber sollte das zwiefache halten?

Knabe. Acht.

Sokrates. Auch nicht aus der dreifüssigen Seite also wird uns das achtfüssige Vierekk.

Knabe. Freilich nicht.

Sokrates. Von welcher also, das versuche doch uns genau zu bestimmen; und wenn du es nicht durch Zählen willst, so zeige uns nur von welcher.

84 Knabe. Aber beim Zeus, Sokrates, ich weiss-es nicht.

Sokrates. Siehst du wol, Menon, wie weit er schon fortgeht im Erinnern? Denn zuerst wusste er zwar auch keinesweges, welches die Seite des achtfüssigen Vierekks ist, wie er es auch jezt noch nicht weiss: allein er glaubte damals es zu wissen, und antwortete dreist fort als ein Wissender, und glaubte nicht in Ver- legenheit zu kommen. Nun aber glaubt er schon in Verlegenheit

MENON. 251

zu sein, und wie er es nicht weiss, so glaubt er es auch nicht zu wissen.

Menon. Du hast Recht.

Sokrates. Steht es also nun nicht besser mit ihm in Bezug auf die Sache, die er nicht wusste?

Menon. Auch das dünkt mich.

Sokrates. Indem wir ihn also in Verlegenheit brachten und zum Erstarren, wie der Krampfrochen, haben wir ihm dadurch etwa Schaden gethan?

Menon. Mich dünkt nicht.

Sokrates. Vielmehr haben wir vorläufig etwas ausgerichtet, wie es scheint, damit er heraus finden kann, wie sich die Sache vertält. Denn jezt möchte er es wol gern suchen, da er es nicht weiss; damals aber glaubte er ohne Schwierigkeit vor. vielen οὗ mals gut zu reden über das zwiefache Vierekk, dass es auch eine zwiefach so lange Seite haben müsse.

Menon. So mag es wol sein.

Sokrates. Glaubst du nun, er würde sich vorher bemüht haben, das zu suchen oder zu lernen, was er nicht wissend glaubte zu wissen, ehe er überzeugt er wisse nicht, in Verwirrung gerieth, und sich nach dem Wissen sehnte?

Menon. Nein dünkt mich, Sokrates.

Sokrates. Nuzen hat ihm also das Erstarren gebracht?

Menon. So dünkt mich.

Sokrates. Sieh nun aber auch zu, was er von dieser Ver- legenheit aus mit mir suchend auch finden wird, indem ich ihn immer nur frage und niemals lehre. Und gieb wol Acht, ob du mich je darauf betriffst, dass ich ihn lehre und ihm vortrage, und nicht seine eignen Gedanken nur ihm abfrage. Sage mir du, ist dies nicht unser vierfüssiges Vierekk? verstehst du?

Knabe. Ja.

Sokrate.. Können wir nun nicht hier noch ein gleiches dar- en sezen?

Knabe. Ja. Sokrates. Und auch dies dritte jedem von den beiden gleich? Knabe. Ja.

Sokrates. Können wir nun nicht auch das noch hier in der Ekke ausfüllen’?

Knabe. Allerdings.

Sokrates. Sind dies nun nicht vier gleiche Vierekke?

Knabe. Ja.

252 MENON.

Sokrates. Wie nun? das wievielfache ist wol dies ganze von diesen?

Knabe. Das vierfache.

Sokrates. Wir sollten aber ein ‘zweifaches bekommen, oder erinnerst du dich nicht?

Knabe. Allerdings.

Sokrates. Schneidet nun nicht diese Linie, welche aus einem

85 Winkel in den andern geht, jedes von diesen Vierekken in zwei gleiche Theile?

Knabe. Ja.

Sokrates. Und werden nicht dieses vier gleiche Linien, welche dieses Vierekk einschliessen?

Knabe. Allerdings.

Sokrates. So betrachte nun wie gross wol dieses Vierekk ist?

Knabe. Das verstehe ich nicht.

Sokrates. Hat nicht von diesen vieren von je einem jede Seite die Hälfte nach innen zu abgeschnitten? Oder nicht?

Knabe. Ja.

Sokrates. Wieviel solche sind nun in diesem?

Knabe. Vier.

Sokrates. Wieviel aber in diesem?

Knabe. Zwei.

Sokrates. Vier aber ist von zwei was ‘doch?

Knabe. Das zweifache.

Sokrates. Wievielfüssig ist also dieses?

Knabe. Achtfüssig.

Sokrates. Von welcher Linie?

Knabe. Von dieser,

Sokrates. Von der welche aus einem Winkel in den andern das vierfüssige schneidet?

Knabe. Ja.

Sokrates. Diese nun nennen die Gelehrten die Diagonale; so dass wenn diese die Diagonale heisst, alsdann aus der Diagonale, wie du behauptest, das zwiefache Vierekk entsteht.

Knabe. Allerdings, Sokrates.

Sokrates. Was dünkt dich nun, Menon? hat dieser irgend eine Vorstellung, die nicht sein war, zur Antwort gegeben?

Menon. Nein, nur seine eignen.

Sokrates. Und doch wusste er es vor kurzem noch nicht, wie wir gestanden? | 3

Menon. Ganz recht.

en ΘΝ ΔῸΣ

ΜΕΝΟΝ, 253

Sokrates. Es waren aber doch diese Vorstellungen in ihm. Oder nicht?

Menon. Ja.

Sokrates. In dem Nichtwissenden also sind von dem was er nicht weiss dennoch richtige Vorstellungen. |

Menon. Das zeigt sich.

Sokrates. Und jezt sind ihm nur noch eben wie im Traume diese Vorstellungen aufgeregt. Wenn ihn aber Jemand oftmals um dies nämliche befragt und auf vielfache Art: so wisse nur, dass er am Ende nicht minder genau als irgend ein Anderer um diese Dinge wissen wird.

Menon. Das scheint wol.

Sokrates. Ohne dass ihn also Jemand lehrt sondern nur aus- fragt, wird er wissen, und wird die Erkenntniss nur aus sich selbst hervorgeholt haben.

Menon. Ja.

Sokrates. Dieses nun, selbst aus sich eine Erkenntniss her- vorholen, heisst das nicht sich erinnern?

Menon. Allerdings.

Sokrates, Und hat etwa nicht dieser die Erkenntniss, die er jezt hat, entweder einmal erlangt oder immer gehabt?

Menon. Ja. Ä

Sokrates. Hat er sie nun immer gehabt, so ist er auch im- mer wissend gewesen. Hat er sie einmal erlangt, so hat er sie wenigstens nicht in diesem Leben erlangt. Oder hat Jemand die- sen die Messkunst gelehrt? Denn gewiss wird er mit der ganzen Messkunst eben so verfahren, und mit allen andern Wissenschaften auch. Hat nun Jemand diesen dies alles gelehrt? Denn du musst es ja wol wissen, da er in deinem Hause geboren und erzogen ist?

Menon. Ich weiss schr gut, dass Niemand sie ihn jemals ge- lehrt hat.

Sokrates. Er hat aber diese Vorstellungen; oder nicht?

Menon, Nothwendig, wie man ja sieht.

Sokrates. Wenn er sie aber in diesem Leben nicht erlangt86 hat und daher nicht wusste: so hat er sie ja offenbar in einer andern Zeit gehabt und gelernt.

Menon. - Offenbar.

Sokrates. Ist nun nicht dieses doch die Zeit, wo er kein Mensch war?

Menon. Offenbar.

Sokrates. Wenn also in der ganzen Zeit, wo er Mensch ist

254 MENON.

oder auch wo er es nichi ist, richtige Vorstellungen in ibm sein sollen, welche durch Fragen aufgeregt Erkenntnisse werden, muss dann nicht seine Seele von je her in dem Zusiande des: Gelerni- habens sein? Denn offenbar ist er durch alle Zeit entweder Mensch oder nicht.

Menon. Das ist einleuchtend.

Sokrates. Wenn nun von jeher immer die Wahrheit von allem was ist der Seele einwohnt, so wäre ja die Seele unsterk- lich, so dass du getrost, was du jezt nicht weisst, das heisst aber, ‘dessen du dich nicht erinnerst, trachten kannst zu suchen und dir zurükkzurufen.

Menon. Du scheinst mir, ich weiss nicht wie, vortrefflich zu reden, Sokrates.

Sokrates. Auch mir selbst scheine ich es, o Menon. Und das übrige freilich möchte ich nicht eben ganz verfechten für diese Rede; dass wir aber, wenn wir glauben das suchen zu müssen was wir nicht wissen, besser werden und mannhafter und weniger träge, als wenn wir glauben, was man nicht wisse sei nicht mög- lich zu finden, und man müsse es also auch nicht erst suchen, dafür möchte ich allerdings streiten, wenn ich es könnte, mit Wort und That.

Menor. Auch dies dünkt mich sehr richtig gesagt, Sokrates.

Sokrates. Da wir nun einig darüber sind, dass gesucht wer- den muss was Jemand noeh nicht weiss: willst du dass wir mit einander unternehmen zu suchen, was wol die Tugend ist?

Menon. Gar gern. Jedoch, Sokrates, möchte ich am liebsten jenes, wonach ich zuerst fragte, untersuchen und hören, ob man ihr als etwas lehrbarem nachstreben muss, oder so als wenn von Natur oder auf sonst irgend eine Weise die Tugend den Menschen einwohnte.

Sokrates. Hätte ich zu gebieten, Menon, nicht nur über mich, sondern auch über dich: so würden wir nicht eher überlegen, ob die Tugend lehrbar ist oder nicht, bis wir zuvor, was sie ist, un- tersucht hätten. Allein da du, über dich selbst-zwar gar nicht begehrst zu gebieten um nämlich frei zu bleiben, über mich aber begehrst zu gebieten und auch wirklich gebietest: so muss ich dir nachgeben. Denn was will ich‘ machen? Wie es scheint also, sol- len wir untersuchen, wie 'etwas beschaffen ist, wovon wir noch nicht wissen was es ist. Wenn also auch nicht ganz, so lass mir doch ein wenig nach von deinem Gebot, und gestatte mir, von einer Voraussezung aus dieses zu betrachten, ob sie lehrbar ist

MENON. 255

oder was sonst. Dieses von einer Voraussezung aus meine ich aber so, wie die Messkünstler oft etwas zur Betrachtung ziehn, weun ihnen Jemand eine Frage vorlegt, wie etwa von einer Figur, ob es möglich ist in diesen Kreis dieses Dreiekk einzuspannen, darauf möchte einer sagen, ich weiss noch nicht, ob dieses ein87 solehes ist, aber als eine Voraussezung für die Sache glaube ich folgendes bei der Hand zu haben. Wenn dieses Dreiekk ein sel- ches ist, dass wenn man um seine gegebene Grundlinie den Kreis herumzieht, noch ein eben soleher Raum übrig bleibt als der um- spannte selbst ist, alsdann, dünkt mich, wird etwas anderes erfol- gen, und wiederum eiwas anderes, wenn dies unmöglich ist. In Beziehung auf diese Voraussezung nun will ich dir sagen wie es mit der Einspannung desselben in den Kreis steht, ob sie unmög- lich ist oder nicht. So auch wir in Beziehung auf die Tugend, da wir gar nicht wissen was sie ist noch wie beschaffen, wollen eine Voraussezung machend dieses erwägen, ob sie lehrbar ist oder nicht lehrbar, indem wir so sagen, Wenn sie was doch von dem in der Seele vorkommenden ist, wird sie lehrbar sein oder nicht lehrbar? Zuerst also, wenn sie etwas ganz anderes ist als Erkenniniss, kann sie dann gelehrt werden oder nicht, oder, wie wir eben sagten, in Erinnerung gebracht? Denn es soll uns gleich gelten welches Wortes wir uns bedienen. Also ist sie dann lehr- bar? Oder ist das wol jedem klar, dass nichts anders dem Mensehen kann gelehrt werden als Erkenntniss ?

Menen. Mir wenigstens scheint 'es so.

Sokrates. Wenn nun die Tugend irgend Erkenntniss ist, offenbar ist sie dann lehrbar.

Menon. Wie. sollte sie nicht.

Sokrates. Damit also sind wir bald fertig geworden, dass wenn sie ein solches ist, so ist sie lehrbar; wenn nicht, so nicht.

Menon. Freilich.

Sokrates. Nächstdem nun, wie es scheint, müssen wir unter- suchen, ob die Tugend Erkeuntniss ist oder etwas ganz verschie- denes von der Erkenntniss. h

Menon. Allerdings müssen wir dies zunächst untersuchen.

Sokrates. Wie nun, sagen wir nicht, dass die Tugend gut ist, und bleibt uns nicht diese Voraussezung dass sie gut ist?

Menon. Allerdings.

Sokrates. Also wenn es noch irgend anderes gute giebt was gänzlich getrennt ist von der Erkenntniss, dann könnte vielleicht auch die Tugend nicht Erkenntniss sein; giebt es aber gar kein

256 MENON.

guies was die Erkenntniss nicht unter sich begreift, so dürften wir, wenn wir ahnden, sie sei irgend eine Erkenntniss, ganz rich- tig ahnden.

Menon. Das mag so sein.

Sokrates. Gewiss doch sind wir vermöge der Tugend gut?

Menon. Ja.

Sokrates. Und wenn gut, auch nüzlich; denn alles gute ist nüzlich. Nicht so?

Menon. Ja.

Sokrates. Also ist auch die Tugend nüzlich?

Menon. Nothwendig aus dem eingestandenen.

Sokrates. Betrachten wir also das einzelne durchnehmend, was doch für Dinge es sind, die uns nüzen. Gesundheit sagen wir und Stärke und Schönheit und Reichthum doch wol. Dieses und dergleichen nennen wir doch nüzlich. Nicht so?

Menon. Ja.

Sokrates. Diese nämlichen Dinge aber, sagen wir, schaden auch bisweilen. Oder behauptest du es anders als so?

Menon. Nein, sondern eben so.

88 Sokrates. Bedenke also was wol alle diese Dinge regieren muss, wenn sie uns nüzen sollen, und was, wenn sie uns schaden? Nieht so, wenn rechter Gebrauch, dann nüzen sie, wenn unrechter, dann schaden sie?

Menon. Freilich.

Sokrates. Auch das was in der Seele ist lass uns betrachten. Du nennst doch etwas Besonnenheit und Gerechtigkeit und Tapfer- keit, und Fassungskraft und. Gedächtnis und Edelsinn und alles dergleichen?

Menon. Ja wol.

Sokrates. Betrachtie nun hievon was dir nicht Erkenntniss zu sein scheint, sondern etwas anderes als Erkenntniss, ob das nicht bisweilen schadet und bisweilen nuzt? Wie die Tapferkeit, wenn sie nicht Einsicht ist, sondern nur wie eine gewisse Kühn- heit; nicht so, wenn ein Mensch ohne Vernunft kühn ist, so hat er Schaden; wenn mit Vernunft, dann Nuzen? :

Menon. Ja.

Sokrates. Nicht auch die Besonnenheit eben so und die Ge- lehrigkeit sind, wenn mit Vernunft gelernt und Ordnung gehalten wird, nüzlich, ohne Vernunft aber schädlich? |

Menon. Ganz gewiss.

Sokrates. Also auch überhaupt, alles was die Seele unter-

. ΜΕΝΟΝ, 257

nımmt und aushält, endet, wenn Einsicht dabei regiert, in Glükk- seligkeit, wenn aber Thorheit, in das Gegentheil?

Menon. So scheint es.

Sokrates. Ist nun die Tugend etwas in der Seele, und dem nothwendig zukommt nüzlich zu sein: so muss sie Einsicht sein, weil alles übrige in der Seele an und für sich weder nüzlich ist noch schädlich, und nur durch Hinzukommen der Einsicht oder Thorheit schädlich und nüzlich wird. Also diesem zufolge, wenn die Tugend nüzlich ist, muss sie Einsicht sein.

Menon. So scheint es mir.

Sokrates. So auch mit dem übrigen, Reichthum und der- gleichen, dessen wir vorhin erwähnten, dass es bisweilen gut bis- weilen schädlich wäre, wird nicht eben wie die Vernunft, wenn sie die übrige Seele regiert, das in der Seele nüzlich machte, die Unvernunft aber schädlich: so wiederum die Seele diese Dinge, wenn sie sie richtig gebraucht und regiert, nüzlich machen, wenn aber unrichtig, dann schädlich?

Menon. Freilich.

Sokrates. Recht aber regiert die vernünftige, fehlerhaft und verkehrt die unvernünftige?

Menon. So ist es.

Sokrates. Kann man nun nicht im allgemeinen sagen, dass dem Menschen alles andere, ob es ihm gut sein wird, von der Seele abhange, was aber in der Seele selbst ist, dieses von der Vernunft. Und nach dieser Rede wäre überhaupt Vernunft das89 nüzliche. Und wir sagen die Tugend sei nüzlich.

Menon. Freilich.

Sokrates. Vernunft also, sagen wir, sei Tugend, entweder die ganze oder ein Theil von ihr.

Menon. Mir scheint das gesagte, o Sokrates, gut gesagt zu sein.

Sokrates. Wenn sich nun dieses so verhält, so wären die Guten es wol nicht von Natur.

Menon. Nein, dünkt mich.

Sokrates. Auch dieses würde wol der Fall sein. Wenn die Guten es von Natur wären: so würde es auch welche unter uns geben, welche die von Natur Guten unter der Jugend zu unter- scheiden wüssten, welche wir dann, sobald jene sie angezeigt hätten, aussondern und in der Feste verwahren würden, weit sorg- fältiger sie besiegelnd als das Gold, damit Niemand sie uns ver- derben könne, sondern sobald sie das gehörige Alter erreicht hätten, sie dem Staat nüzlich würden.

Plat. W. II, Th. 1, Bd. 17

258 MENON.

Menon. Ganz natürlich.

Sokrates. Werden nun etwa die Guten, wenn sie nicht von Natur gut sind, es durch Belehrung?

Menon. Das dünkt mich nun schon nothwendig, Sokrates, und es ist auch klar nach unserer Voraussezung, wenn die Tugend Erkenntniss ist, dass sie lehrbar sein muss.

Sokrates. Vielleicht, beim Zeus! Aber dass wir nur dieses nicht etwa mit Unrecht zugegeben haben!

Menon. Es schien uns ja nur noch eben sehr richtig gesagt.

Sokrates. Wenn das nur nicht etwa zu wenig ist, dass es uns noch eben richtig dünkte, sondern es uns auch jezt und her- nach so dünken muss, wofern etwas gesundes daran sein soll.

Menon. Was nun wieder? Was hast du vor Augen, weshaid es dir nicht mehr recht ist und du bezweifelst, ob die Tugend Erkenntniss ist?

Sokrates. Das will ich dir sagen, Menon. Dass die Tugend lehrbar ist, wenn sie Erkenntniss ist, das nehme ich nicht zurükk, als wäre es nicht richtig gesagt; dass sie aber wol nicht kann Erkenntniss sein, sieh zu, ob ich dir scheine, dies mit Recht zu bezweifeln. Nämlich sage mir nur dieses, wenn irgend eine Sache lehrbar ist, nicht nur die Tugend, muss es dann nicht auch Lehrer darin geben und Schüler?

Menon. Das denke ich wol.

Sokrates. Und im Gegentheil, wovon es weder Lehrer noch Schüler giebt, würden wir davon nicht ganz recht vermuthen, wenn wir vermutheten, es sei auch nicht lehrbar?

Menon. Das ist wol richtig. Aber dünkt dich, es gäbe keine Lehrer der Tugend?

Sokrates. Oftmals schon habe ich gesucht, ob es Lehrer der- selben gäbe, und habe alles mögliche gethan und kann sie nicht finden, wiewol ich sie mit Vielen gemeinschaftlich suche, und zwar mit solchen vorzüglich, von denen ich glaube, dass sie am erfah- rensten sind in der Sache. So auch jezt, Menon, sizt wol ganz zur gelegenen Zeit dieser hier bei uns, dem wir Antheil geben wollen an unserer Untersuchung. Und wol mit Recht können wir ihn mit dazuziehen. Denn zuerst hat er selbst einen reichen und verstän- digen Vater, den Anthemion, welcher reich geworden ist nicht von

90ohngefähr oder durch ein Geschenk, wie der Thebaner Ismenias, der nur neuerlich die Schäze des Polykrates bekommen uat; son- dern durch eignen Verstand und Sorgfalt hat er ihn erworben. So auch im übrigen steht er nicht im Ruf ein hochmüthiger Bürger

MENON. 259

zu sein, aufgeblasen und gehässig, sondern in dem eines sittsamen und stattlichen Mannes. Nächstdem hat er auch diesen sehr wol erzogen und gebildet, wie das Athenische Volk glaubt; sie wählen ihn ja wenigstens zu den grössten Würden. Billig also ist es gerade mit solchen die Untersuchung anzustellen.über die Lehrer der Tugend, ob es welche giebt oder nicht und wer sie sind. Untersuche also mit uns, Anytos, mit mir und hier deinem Gastfreund Menon, was für Lehrer es wol für diese Sache geben mag. Erwäge es aber so. Wenn wir wollten, dieser Menon sollte ein guter Arzt werden, zu was für Lehrern möchten wir ihn wol schikken? Nicht zu den Aerzten?

Anytos. Freilich.

Sokrates. Und wollten wir, er solle ein guter Schuhmacher werden, nicht dann zu den .‚Schuhmachern ?

Anytos. Ja.

Sokrates. Und eben so im übrigen?

Anytos. Freilich. |

Sokrates. Auch das sage mir noch hierüber. Wir sagen, wir würden recht daran thun ihn zu Aerzten zu schikken, wenn wir wollten, er solle ein Arzt werden. Wenn wir dies sagen, meinen wir, es sei doch verständiger gehandelt, ihn zu denen zu schikken, welche diese Kunst betreiben, als zu denen, die es nicht thun? und zu denen die eben hiefür Bezahlung nehmen und sich ankün- digen als Lehrer einem jeden, der kommen und lernen will? Nicht wahr, deshalb würden wir gut thun, ihn hinzuschikken.

Anytos. Ja.

/ Sokrates. Wird es nun nicht mit dem Flötenspielen und allem andern eben so sein, dass es grosser Unverstand wäre, wenn man einen zum Flötenspieler machen wollte, ihn doch zu denen, welche diese Kunst zu lehren versprechen und sich dafür bezahlen lassen, nicht schikken zu wollen, sondern irgend Andern beschwerlich zu fallen. und bei denen Unterricht zu suchen, welche sich weder für '

- Lehrer ausgeben noch irgend Schüler haben in der Kunst, worin wir den gern unterrichten liessen, den wir zu ihnen schikken? Dünkt dich das nicht grosser Unverstand zu sein?

Anytos. Beim Zeus mir gewiss, und grosse Ungeschikktheit dazu. Sokrates. Wol gesprochen, und nun kannst du gemeinschaft- lich mit mir Rath pflegen über diesen unsern Gastfreund Menon. Denn dieser, Anytos, sagt schon lange zu mir, es verlange ihn 91 nach derjenigen Weisheit und Tugend, vermöge der die Menschen ihr Hauswesen und ihren Staat gut verwalten, und Bürger und Fremde aufzunehmen und zu entlassen wissen, wie es eines recht- 21%

260 MENON.

lichen Mannes würdig ist. Ueberlege dir also, zu wem wir ihn dieser Tugend wegen am besten hinschikken. Oder offenbar ja nach der vorigen Rede zu denen, welche sich für Lehrer der Tu- gend ausgeben, und sich allen Hellenen insgemein dazu anbieten, wer nur lernen will, auch Bezahlung dafür fesisezen und annehmen.

Anytos. Und was für welche meinst du denn hierunter, Sokrates?

Sokrates. Du weisst es ja wol auch, dass es die sind, welche man Sophisten nennt. |

Anytes. Beim Herakles, Sokrates, sprich besser. Dass doch keinen Verwandten oder Angehörigen und Freund unter den Ein- heimischen oder Fremden solche Raserei ergriffe, zu diesen zu gehn und sich zu verkrüppeln. Denn diese sind doch das offen- bare Verderben und Unglükk derer, die mit ihnen umgehn.

Sokrates. Wie meinst du das, Anytos? Diese allein unter allen denen, welche sich dafür ausgeben, etwas gutes erzeigen zu können, sollten so weit von allen übrigen verschieden sein, dass sie nicht nur dem keinen Vortheil, wie doch die Andern, bringen, was ihnen einer übergiebt, sondern es ganz im Gegentheil ver- derben, und sich dafür doch ohne Hehl Geld geben lassen? Das weiss ich meines Theils nicht, wie ich es dir glauben soll. Denn ich weiss, dass der einzige Protagoras mit. dieser Weisheit mehr Geld erworben hat als Pheidias, der doch so ausgezeichnet schöne Werke verfertigte, und noch zehn andere Bildhauer dazu. Und wunderbar wäre doch, was du sagst, wenn von Schuhflikkern und denen, die Kleider ausbessern, nicht einen Monat lang verborgen bleiben könnte, wenn sie Schuhe und Kleider schlechter zurükk- gäben, als sie sie empfangen haben, sondern diese, wenn sie es so machten, gewiss bald Hungers sterben müssten, vom Protagoras aber ganz Griechenland nicht gemerkt hätte, dass er seine Schüler verderbte, und sie schlechter wegschikkte als er sie empfangen hatte, und das länger als, vierzig Jahre. Denn wie ich. glaube, ist er nahe an siebenzig Jahr alt gestorben und nachdem er vierzig Jahr seine Kunst ausgeübt. Und in dieser ganzen Zeit bis auf den heutigen Tag hat er nicht aufgehört gepriesen zu werden, Und nicht nur Protagoras, sondern noch gar viele andere theils ältere theils noch jezt lebende. Sollen wir nun sagen nach deiner

92Meinung, dass diese wissentlich die Jünglinge hintergehen und ver-

krüppeln, oder auch ohne es selbst zu wissen? und so thöricht sollen wir glauben dass diejenigen sind, welche von Einigen für die weisesten unter den Menschen angesehen werden ?

Anytos. Weit gefehlt, dass diese ihöricht wären, Sokrates;

ΜΕΝΟΝ. 261

sondern nur die Jünglinge, welche ihnen Geld geben, und noch mehr als diese ihre Angehörigen, die es ihnen verstatten. Am allermeisten aber unter allen die Städte, welche sie hereinkommen lassen, und nicht vielmehr jeden austreiben, welcher dergleichen zu thun unternimmt, mag es ein Fremder sein oder ein Bürger. Sokrates. Hat dir etwa einer von den Sophisten etwas zu Leide gethan, Anytos? oder weshalb bist du ihnen so böse? Anytos. Nein, beim Zeus, ich habe mich auch niemals mit

irgend einem von ihnen eingelassen, und wollte es auch keinem

von den Meinigen gestatten.

Sokrates. Du bist also ganz und gar ak mit den Männern?

Anytos. Und wünsche es auch zu bleiben.

Sokrates. Wie kannst denn aber du Wunderlicher von die- ser Sache wissen, ob sie etwas gutes an sich hat oder nur schlech- tes, wenn du ganz unbekannt damit bist?

Anytos. Gar leicht. Diese kenne ich ja doch wol was für Menschen sie sind, mag ich auch selbst mit ihnen unbekannt sein oder nicht.

Sokrates. Du bist eben vielleicht ein Wahrsager, Anyitos. Denn wie du sonst etwas über diese wissen kannst, nach dem was du selbst sagst, begreife ich nicht. Allein wir fragten ja gar nicht danach, wer diejenigen wären, durch die Menon, wenn er zu ihnen ginge, schlecht werden würde. Denn dies, wenn du willst, sollen die Sophisten sein. Sondern jene nenne uns, und mache dich um diesen deinen väterlichen Gastfreund verdient durch Bezeichnung derer, zu welchen er gehen muss in dieser grossen Stadt, um in der Tugend, welche ich nur eben beschrieb, etwas würdiges zu leisten.

Anytos. Warum hast du sie ihm denn nicht bezeichnet?

Sokrates. Die ich für Lehrer hierin hielt habe ich genannt; aber es war nichts gesagt, wie du behauptetest,

Anytos. Darin hast du vielleicht Recht.

Sokrates. Nun sage du ihm doch deinerseits, zu welchem

_ unter den Athenern er gehen soll. Nenne ihm irgend einen Na-

men, welchen du willst!

Anytos. Was braucht er dazu den Namen eines einzelnen Menschen zu hören. Denn auf welchen guten und rechtschaffenen Athener er auch treffe, da ist wol keiner, der ihn nicht besser machen sollte als die Sophisten, wenn er ihm nur folgen will.

Sokrates. Sind denn aber diese guten und rechtschaffenen es von selbst so geworden, ohne bei Jemand gelernt zu haben: und doch im Stande, Andern dasjenige zu lehren, was sie selbst nicht gelernt haben?

262 MENON.

Anytos. Auch sie, denke ich, haben es von den Früheren 93 gelernt, die auch gut und rechtschaffen waren. Oder meinst du nicht, dass es viele rechtschaffene‘ Männer gegeben hat in dieser Stadt?

Sokrates. Ich meines Theils glaube, dass es hier noch jezt solche giebt, die gut und tüchtig sind in bürgerlichen Dingen, und ehedem gewiss nicht minder gegeben hat als jezt: sind sie aber etwa auch gute und tüchtige Lehrer gewesen in dieser ihrer Tu- gend? Denn das ist es ja eben, wovon jezt unter uns die Rede ist; nicht ob es hier rechtschaffene Männer giebt oder nicht, noch ob es deren vorher gegeben hat, sondern ob die Tugend lehrbar ist, das untersuchen wir schon so lange. Und bei dieser Unter- suchung untersuchen wir nun auch dieses, ob die rechtschaffenen Männer von jezt und von ehedem diese Tugend, in welcher sie sich selbst auszeichneten, auch Andern mitzutheilen wussten; oder ob dies nicht mittheilbar ist und nicht überträglich von einem auf den andern. Das ist es, wonäch wir schon so lange fragen ich und Menon. Und dies erwäge du nun nach deiner eignen Rede so. Würdest du nicht vom Themistokles sagen, er sei ein lüchtiger Mann gewesen?

‚Inytos. Ganz vorzüglich.

Sokrates. Also auch ein tüchtiger Lehrer, wenn irgend ein Anderer ein Lehrer in seiner eignen Tugend war, sei er gewesen? Anytos. Das glaube ich allerdings, wenn er gewollt hätte.

Sokrates. Aber meinst du etwa, er habe nicht gewollt dass Andere auch sollten gut und rechtschaffen werden, vorzüglich sein eigner Sohn? Oder meinst du, er habe es ihm missgönnt und ihm absichtlich die Tugend nicht mitgetheilt, in welcher er selbst voll- kommen war? Und hast du nicht gehört, dass Themistokles seinen Sohn Kleophantos gar trefflich im Reiten unterrichten liess, so dass er aufrecht auf dem Pferde stehen, .und so stehend auch vom Pferde herab schiessen, und sonst viel wunderbar künstliches machen konnte, worin jener ihn unterrichten und vollkommen machen liess, so weit es nur irgend von guten Lehrern abhing. Oder hast du dies nicht gehört von den Aeltern?

Anytos. Ich habe es gehört. YA

Sokrates. Also kann wol niemand der Natur seines Sohnes Schuld geben, dass sie wäre untauglich gewesen.

Anytos. Vielleicht wol nicht.

Sokrates. Und wie nun? Dass Kleophantos der Sohn des Themistokles ein tüchtiger und weiser Mann geworden wäre darin, worin sein Vater 68, war, hast du das je von irgend Jemand jung oder alt gehört?

ΜΕΝΟΝ. 263

Anytos. Freilich nicht.

Sokrates. Sollen wir also glauben, er habe in jenen Dingen zwar seinen Sohn unterrichten gewollt, in der Weisheit aber, die er selbst besass, ihn um nichts besser machen als einen seiner Nachbarn, wenn doch die Tugend lehrbar wäre?

Anytos. Nicht füglich, beim Zeus.

Sokrates. Ein solcher Lehrer in der Tugend ist also dieser, von dem du doch gestehst, dass er zu den trefflichsien der älteren Zeit gehöre! Lass uns noch einen andern betrachten, Aristeides 94 den Sohn des Lysimachos. Oder stimmst du nicht darin bei, dass dieser rechischaffen gewesen

Anytos. Ich auf alle Weise.

Sokrates. Liess nun nicht auch dieser seinen Sohn Lysi- machos in allem, wobei es nur auf Lehrer ankam, ganz vorzüglich unter allen Athenern unterrichten: aber dünkt dich, er habe ihn zu einem besseren Manne als irgend einen gemacht? Denn mit diesem bist du woi selbst umgegangen und siehst was für einer er ist. Willst du den Perikles, diesen so herrlich weisen Mann, so weisst du ja, dass er zwei Söhne erzogen hat, den Paralos und Xanthippos.

Anytos. Das weiss ich.

Sokrates. Diese nun hat er, wie auch du weisst, im Reiten unterrichten lassen nicht schlechter als irgend ein Athener, und die Tonkunst und die Leibesübungen und was nur Kunst ist liess er sie lehren nicht schlechter als einer; aber zu tüchtigen Männern wollte er sie etwa nicht machen? ich denke wol er wollte; aber das lässt sich vielleicht nicht lehren! Und damit du nicht etwa glaubst, nur wenige und etwa die schlechtesten unter den Athenern wären unvermögend gewesen hiezu: so erinnere dich, dass Thuky- dides eben auch zwei Söhne erzogen hat, den Melesias und Stepha- nos, und auch diese übrigens gut unterrichtet, dass sie namentlich ‘die besten Ringer waren in Athen. Denn den einen übergab er dem Xanthias, den andern dem Eudoros, welche damals für die vor- trefflichsten Ringer galten. Oder erinnerst du dich dessen nicht?

Anytos. Gar wol, vom Hörensagen.

Sokrates. Ist nun nicht offenbar, dass dieser gewiss nicht seinen Söhnen nur darin, worin der Unterricht Aufwand erforderte, würde Lehrer gehalten haben, :das aber wozu es gar keines Aulf- wandes bedurfte, sie zu tüchtigen Männern zu machen, gerade die- ses sie nicht würde gelehrt haben, wenn es lehrbar wäre? Aber vielleicht war Thukydides nur ein gemneiner Mann und hatte etwa nicht viel Freunde unter den Athenern und Bundesgenossen. Wol

264 MENON.

war er aus einem grossen Hause und vielvermögend in der Stadt und unter den andern Hellenen; so dass, wenn dies nur lehrbar wäre, er gewiss, um seine Söhne tugendhaft zu machen, einen gefunden hätte unter den Einheimischen oder Fremden, wenn er selbst nicht Zeit hatte wegen der Geschäfte des Staates. Aber eben, lieber Anytos, die Tugend mag wol nicht lehrbar sein.

Anytos. Ο Sokrates, du scheinst mir sehr leichthin schlecht von den Menschen zu reden. Ich nun möchte dir wol rathen, wenn du mir folgen willst, dich vorzusehn. Denn, auch anderwärts mag es leichter sein Jemanden böses anzuthun als guies, hier in dieser Stadt ist es gar vorzüglich leicht, Und ich denke, dass du das auch selbst weisst.

Sokrates. O Menon, Anytos scheint mir böse zu sein. Das wundert mich auch nicht. Denn erstlich glaubt er, dass ich diese

95 Männer lästere, und dann hält er sich selbst auch für einen von ihnen. Allein wenn er einmal einsehn wird was es sagen will übles nachreden, dann wird er schon aufhören böse zu sein, jezt aber weiss er es nicht. Du aber sage mir, giebt es nicht auch bei euch gute und rechtschaffene Männer?

Menon. Allerdings.

Sokrates. Wie nun? werfen sich diese wol zu Lehrern auf für die Jugend und sagen, sie wären Lehrer und die Tugend lehrbar?

Menon. Nein wahrlich nicht, sondern manchmal würdest du von ihnen hören, sie wäre lehrbar, manchmal auch wieder, sie wäre es nicht.

Sokrates. Und die sollten wir als Lehrer in dieser Sache an- sehn, die hierüber noch nicht einmal einig sind!

Menon. Nein dünkt mich.

Sokrates. Oder wie, diese Sophisten, die sich allein dafür ausgeben, dünken dich diese Lehrer der Tugend zu sein?

Menon. Eben das, Sokrates, liebe,ich so vorzüglich am Gor- gias, dass du ihn gewiss nie dergleichen versprechen hörst: viel- mehr lacht er auch über die Andern, wenn er es sie versprechen ‚hört. Nur im Reden meint er Andre stark machen zu können.

Sokrates. Also auch du hältst die Sophisten.nicht für Lehrer?

Menon. Ich kann nichts darüber sagen, Sokrates. Denn es ergeht mir wie den meisten; bisweilen glaube ich es, bisweilen auch wieder nicht.

Sokrates. Und du weisst doch, dass nicht nur dir und an- dern Staatsmännern so bisweilen scheint, dies sei lehrbar, biswei- len auch wieder nicht; sondern auch der Dichter Theognis, weisst du doch, sagt dasselbe.

EEE το ὩΣ

ΜΕΝΟΝ. 265

Menon. In was für Versen?

Sokrates. In den Elegien wo er sagt: Also zu denen beim Trunk und beim Mahle geselle dich, denen Suche gefällig zu sein welche die trefflichsten sind, Denn von den Guten ist gutes zu lernen, doch in der Gesellschaft Schlechter verlierest du leicht auch den Verstand den du hast. Merkst du wol, dass er hier von der Tugend spricht als wäre sie lehrbar?

Menon. Offenbar.

Sokrates. Anderwärts aber weicht er davon ab und sagt: Liess der Verstand sich machen und fest einpflanzen den Menschen, Grossen und herrlichen Lohn trügen dann jene davon, die dies ver- stünden; und Nimmer aus gutem Geblüt würde dann einer verrucht In heilbringender Zucht aufwachsend! allein durch Belehrung Schaffst

du den schlechteren Mann nimmer zum Guten dir um. Siehst du 96

wie er hier über dieselbe Sache wiederum das Gegentheil sagt?

Menor. Das ist klar.

Sokrates. Kannst du nun wol irgend etwas andres nennen, worin die welche sich für Lehrer ausgeben, ich will nicht sagen nicht für Lehrer der Andern anerkannt werden, sondern nicht ein- mal dafür, dass sie es selbst verstehen, vielmehr für untauglich in eben der Sache, worin sie Lehrer zu sein behaupten? und wiederum wovon die, welche selbst für gut und tüchtig darin er- kannt werden, bald sagen die Sache sei lehrbar, bald wieder es läugnen? und die in solcher Verwirrung wären über irgend etwas, die, würdest du behaupten, wären ganz eigentlich die Lehrer darin?

Menon. Beim Zeus, das möchte ich nicht.

Sokrates. Wenn also weder die Sophisten, noch die, welche selbst gut und rechtschaffen sind, Lehrer der Tugend sind: so giebt es doch wol offenbar auch keine andere?

Menon. Nein, dünkt mich.

Sokrates. Und wenn keine Lehrer, dann auch keine Schüler?

Menon. Das dünkt mich so zu sein, wie du sagst.

Sokrates. Und darüber waren wir einig, dass etwas worin es weder Lehrer gäbe noch Schüler auch nicht lehrbar wäre.

Menon. Darüber waren wir einig.

Sokrates. Und es zeigen sich doch nirgends Lehrer der Tugend.

Menon. So ist es.

Sokrates. Und wenn keine Lehrer, dann doch auch keine Schüler!

Menon. So scheint es.

Sokrates. Also wäre die Tugend nicht lehrbar.

Menon. Es scheint nicht, wenn wir nämlich unsere Unter-

266 ΜΕΝΟΝ.

suchung richtig geführt haben. So dass ich mich wundere, So- krates, ob es etwa überall keine tugendhaften Männer giebt, oder welches wol die Art und Weise ist wie sie es werden.

Sokrates. Wenigstens, Menon, scheint es fast, dass wir Beide, ich und du, eben nicht sonderliche Leute sind, und dass weder dich Gorgias gehörig unterrichtet hat noch mich Prodikos. Desto mehr also lass uns für uns selbst Sorge tragen und nachforschen, wer uns auf irgend eine Art doch besser machen kann. Ich sage dies nämlich mit Bezug auf unsere bisherige Untersuchung, wobei uns lächerlich genug entgangen ist, dass nicht dann allein, wenn die Erkenntniss herrscht, die Angelegenheiten der Menschen richtig und gut gehen; oder dass, wenn wir dies nicht zugeben wollen, dass es nicht nur durch Erkenntniss allein, sondern auch durch etwas anderes geschehen könne, wir dann vielleicht aufgeben müs- sen einzusehen, wie Menschen tugendhaft werden.

Menon. Wie meinst du dies, Sokrates?

Sokrates. So. Dass die tugendhaften Männer nüzlich sein müssen, dieses haben wir doch wol mit Recht zugegeben, dass es nicht anders sein könne. Nicht wahr?

Menon. Ja.

97 Sokrates. Und dass sie nüzlich sein werden, wenn sie richtig unsere Angelegenheiten leiten, auch das haben wir wol mit Recht zugestanden’?

Menon. Ja.

Sokrates. Dass es aber einem nicht möglich ist richtig zu leiten der nicht Erkenntniss hat, dies mögen wir wol nicht mit Kecht festgesezt haben.

Menon. Wie meinst du es nur mit dem richtig?

Sokrates. Das will ich dir sagen. Wenn einer der den Weg nach Larissa weiss, oder wohin du sonsi willst, vorangeht und die Andern führt, wird er sie nicht richtig und gut führen?

Menon. Gewiss.

Sokrates. Wie aber, wenn einer nur eine richtige Vorstellung davon hätte, welches der Weg wäre, ohne ihn jedoch gegangen zu sein oder ihn eigentlich zu wissen, wird nicht dennoch auch de: riehtig führen ?

Menen. Allerdings.

Sokrates. Und so lange er nur richtige Vorstellung hat von dem, wovon der Andere Erkenntniss: so wird er kein schlechterer Führer sein, er der nur richtig vorstellt, als jener Wissende’?

Menon. Fveilich nicht.

MENON. 267

Sokrates. Wahre Vorstellung also ist zur Richtigkeit des Handelns keine schlechtere Führerin als wahre Einsicht. Und dies ist es nun eben, was wir vorhin übergangen haben bei unserer Untersuchung über die Tugend wie sie wol beschaffen wäre, als wir sagten dass Einsicht allein führen müsse beim richtigen Han- deln, dies thut aber auch richtige Vorstellung.

Menon. So scheint es.

Sokrates. Richtige Vorstellung ist also nicht minder nüzlich als Erkenntniss?

Menon. Ausser jedoch um soviel, 0 Sokrates, dass, wer die Erkenntniss hat, immer zum Ziele trifft, wer aber die richtige Vor- stellung, es bisweilen trifft, bisweilen auch fehlt.

Sokrates. Wie sagst du? wer immer die richtige Vorstellung hat, der sollte es nicht immer treffen, so lange er doch richtig vorstellt?

Menon. Nothwendig, das leuchtet ein, so dass ich mich wun- dere, o Sokrates, wenn sich dieses so verhält, weshalb denn doch die Erkenntniss um soviel höher geschäzt wird als die richüge Vorstellung, ja warum überall die eine von ihnen etwas anderes ist, und die andere wiederum etwas anderes.

Sokrates. Weisst du auch schon, weshaib du dich wunderst? oder soll ich es dir sagen?

Menon. Allerdings sage es mir.

Sokrates. Weil du auf die Bildwerke des Daidalos nicht Acht gegeben hast. Vielleicht aber habt ihr auch keine bei euch.

Menon. Worauf geht nur dieses?

Sokrates. Weil auch diese, wenn sie nicht gebunden sind, davon gehen und fliehen; sind sie aber gebunden, so bleiben sie.

Menon. Was also weiter?

Sokrates. Also ein losgelassenes Werk von ihm zu besizen, das ist nicht eben sonderlich viel werth, gerade wie ein herum- treiberischer Mensch, denn es bleibt doch nicht, ein gebundenes aber ist viel werth, denn es sind gar schöne Werke. Worauf das nun geht? Auf die richtigen Vorstellungen. Denn auch die rich- tigen Vorstellungen sind eine schöne Sache, so lange sie bleiben, und bewirken alles gute; lange Zeit aber pflegen sie nicht zu blei- ben, sondern gehen davon aus der Seele des Menschen, so dass 98 sie doch nicht viel werth sind, bis man sie bindet durch Beziehung des Grundes. Und dies, Freund Menon, ist eben die Erinnerung, wie wir im vorigen zugestanden haben. Nachdem sie aber gebun- den werden, werden sie zuerst Erkenntnisse und dann auch blei- bend, Und deshalb nun ist: die Erkenniniss höher zu schäzen als

268 MENON.

die richtige Vorstellung, und es unterscheidet sich eben durch das Gebundensein die Erkenntniss von der richtigen Vorstellung.

Menon. Beim Zeus, Sokrates, so etwas muss es auch sein.

Sokrates. Wiewol ich auch dies keinesweges sage, als wüsste ich es, sondern ich vermuthe es nur. Dass aber richtige Vorstel- lung und Erkenntniss etwas verschiedenes sind, dies glaube ich nicht nur zu vermuthen; sondern wenn ich irgend etwas behaupten möchte zu wissen, und nur von wenigem möchte ich dies behaup- ten, so würde ich dies eine hieher sezen unter das, was ich weiss.

Menon. Und gewiss hast du Recht daran, Sokrates.

Sokrates. Und wie? hierin nicht auch Recht, dass nämlich, wenn richtige Vorstellung leitet, sie das Werk einer jeden Hand- lung nicht schlechter vollbringt als die Erkenniniss.

Menon. Auch das dünkt mich wahr zu sein.

Sokrates. Also ist für das Handeln die richtige Vorstellung um nichts schlechter oder weniger nüzlich als die Erkenniniss, noch wer die richtige Vorstellung besizt als wer die Erkenntniss.

Menon. So ist es.

Sokrates. Und der rechtschaffene Mann, das stand uns fest, ist nüzlich ?

Menon. Ja.

Sokrate. Wenn nun nicht nur durch Erkenntniss die Men- schen tugendhaft sind und den Staaten nüzlich, die es eben sind, sondern auch durch richtige Vorstellung, und von beiden keines den Menschen von Natur beiwohnt, weder die Erkenntniss noch die richtige Vorstellung; auch keines von beiden erwerblich oder denkst du irgend eines von beiden sei schon von Natur vorhanden?

Menron. Nein, ich nicht.

Sokrates. Wenn also nicht von Natur, so .können auch die Guten es nicht von Natur sein?

Menon. Freilich nicht.

Sokrates. Wenn aber nicht von Natur: so untersuchten wir demnächst, ob es lehrbar wäre.

Menon. Ja. Η͂

Sokrates. Und lehrbar, glaubten wir, würde es, wenn die Tugend Einsicht wäre?

Menon. Ja.

Sokrates. Und wenn sie lehrbar wäre, würde sie auch Einsicht sein?

Menon. Allerdings.

Sokrates. Und wenn es Lehrer für sie gäbe, würde sie lehr- bar sein, wenn aber nicht, dann auch nicht lehrbar?

ΜΕΝΟΝ, 269

Menon. So war 68.

Sokrates. Allein wir kamen überein, es gäbe keine Lehrer für sie?

Menon. Richtig.

Sokrates. Wir kamen also überein, dass sie weder lehrbar wäre noch Einsicht.

Menon. Allerdings.

Sokrates. Aber dass sie gut wäre, stellten wir doch fest?

Menon. Ja.

Sokrates. Und nüzlich und gut wäre das richtig leitende?

Menon. Freilich.

Sokrates. Und richtig leiten könnten nur diese zwei allein, 99 die wahre Vorstellung und die Erkenntniss, und der Mensch, der diese besizt, leite richtig. Denn was durch Zufall wird, wird nicht durch menschliche Leitung; wodurch aber der Mensch Führer ist zum rechten, das seien nur diese beiden, die wahre a und die Erkenntnis?

Menon. So scheint es mir.

Sokrates. Wenn nun die Tugend nicht lehrbar ist: so ist sie auch nicht mehr Erkenntniss.

Menon. Offenbar nicht.

Sokrates. Von den beiden, was gut und nüzlich ist, löset sich also das eine ab, und im bürgerlichen Handeln wäre also die Erkenntniss nicht Führerin.

Menon. Nein, dünkt mich.

Sokrates. Nicht also durch irgend eine Weisheit noch als Weise haben diese Männer die Staaten geleitet, Themistokles und die andern, die Anytos vorher anführte. Daher waren sie auch nicht im Stande, Andere zu solchen zu machen wie sie selbst sind,

- da sie selbst nicht durch Erkenntniss solche waren.

Menon. Es scheint sich wol so zu verhalten, Sokrates, wie du sagst.

Sokrates. Also wenn nicht durch Erkenntniss: so ist richige Vorstellung das übrig bleibende, vermittelst dessen die staatskun- digen Männer die Staaten verwalten, ohne, was wahre Einsicht be- trifit, besser daran zu sein, als die Orakelsprecher und Wahrsager. Denn auch diese sagen viel wahres, wissen aber nichts von dem was sie sagen.

Menon, So mag es wol sein.

Sokrates. Ist es nun nicht Recht, Menon, diese Männer gött- lich zu nennen, welche ohne Vernunft zu gebrauchen vielerlei grosses richlig vollbringen von dem was sie reden und thun?

270 MENON.

Menon. Freilich.

Sokrates. Mit Recht also würden wir sowol die göttlich nennen, deren wir eben erwähnten, die Orakelsprecher und Wahrsager, als auch alle Dichtenden: und auch den Staatsmännern könnten wir nicht am unverdientesten unter diesen dasselbe beilegen, dass sie göttlich sind und begeistert, angehaucht und bewohnt von dem Gotte, wenn sie durch Reden viele grosse Geschäfte glükklich vollbrin- gen, ohne etwas eigentlich zu wissen von dem, worüber sie reden.

Menon. Allerdings wol.

Sokrates. Auch die Weiber, Menon, nennen ja tugendhafte Männer göttlich, und die Lakedaimonier wenn sie einen preisen wollen als einen tugendhaften Mann, so sagen sie, das ist ein göitlicher Mann.

Menon. Und es zeigt sich ja, dass es ganz recht gesagt ist, Sokrates; wiewol Anytos dir vielleicht böse ist über die Rede.

Sokrates. Das kümmert mich wenig. Und mit diesem, Menon, wollen wir noch ein andermal reden. Wenn wir aber jezt in unserer ganzen Untersuchung richtig zu Werke gegangen sind und geredet haben: so entstände die Tugend weder von Natur noch wäre sie lehrbar, sondern durch göttliche Schikkung wohnte sie denen bei, und ohne Vernunft, denen sie beiwohnt. Es müsste

400denn einer von den staatskundigen Männern ein solcher sein, der auch vermöchte einen Andern zum Staatsmann zu machen. Gäbe es aber so einen, den möchte man fast als einen solchen unter den Lebenden beschreiben, wie Homeros sagt, dass Teiresias unter den Todten sei, dass Er allein wahrnimmt, denn Andre sind flat- iernde Schatten. Denn gerade so verhielte sich auch dieser zu den Andern wie zu Schatten ein wirkliches Ding in Beziehung auf die Tugend.

Menon. Ganz vortrefflich, dünkt mich, redest du, Sokrates.

Sokrates. Zufolge dieser Untersuchung also, o Menon, scheint die Tugend durch eine göttliche Schikkung denen einzuwohnen, denen sie einwohnt. Das bestimmtere darüber werden wir aber erst dann wissen, wenn wir, ehe wir fragen, auf welche Art und Weise die Menschen zur Tugend gelangen, zuvor an und für sich untersuchen, was die Tugend ist. Jezt aber ist Zeit, dass ich wo- hin gehe. Du aber suche das, wovon du selbst überzeugt bist, auch deinem Gastfreund Anytos deutlich zu machen, damit er sanft- müthiger werde. Denn wenn du ihn überzeugst, wirst du auch den Athenern nüzlich ‚sein.

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EUTHYDEMOS

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EINLEITUNG,

Sieht man nur auf dasjenige in diesem Gespräch, was das auffallendste ist und das ergözlichste, nämlich auf die Unterredung in welcher Sokrates und Ktesippos, derselbe den wir schon aus dem Lysis kennen, mit den beiden Sophisten Dionysodoros und Euthydemos begriffen sind, wie sie gar nicht dialektisch geführt wird in dem Sinne des Platon, um einander die Gedanken zu be- richtigen und die Wahrheit auszumitteln, sondern ganz vollkommen in der Art eines Wettstreites gearbeitet ist um nur Recht zu be- halten in den Worten; betrachtet man wie vollendet Platon sich auch ‘hierin zeigt, gleich bei dem ersten und einzigen Versuch, wie der Gehalt der aufgeworfenen sophistischen Fragen immer ab- nimmt, und dabei Lust und Uebermuth wächst, bis jener sich zu- lezt in baaren Unsinn auflöst, und diese in die wahnsinnigste Selbsigefälligkeit übergeht, die den Spott der Verständigen und den Beifall der Einfältigen in Eins wirft, und sich nur um so mehr aufbläht; und wie das Ganze mit dem unverholenen Ausbruch eines ganz lustig auspfeifenden Spottes endiget: so wird wol jeder zuerst das Leben und die mimische Kraft des Ganzen bewundern, hernach aber doch den Gegenstand nicht recht des Urhebers würdig finden. Und wenn auch Niemand gerade zweifeln dürfte, ob Platon wol so etwas könnte verfasst haben: so wird doch jeder nach einer be- sonderen Veranlassung fragen zu einer Schrift, die nur als gele- gentlich kann gedacht werden, und wird sich wundern sie in der Reihe der wissenschaftlichen Hervorbringungen aufgeführt zu finden. Allein es ist wunderbar genug, dass man immer auf diesen so- phistischen Mimos allein gesehen hat, da doch jedem das Gespräch etwas wichtigeres, einen ächt philosophischen Gehalt und eine sichtbare Beziehung auf andere platonische Schriften in jener an-

dern Unterredung darbietet, welche, freilich nur zwischen durch Plat. W. II. Th. I. Bd, 18

274 EUTHYDEMOS.

und unterbrochen, Sokrates mit dem Kleinias führt, und welche, wie die bisherigen Gespräche, die Lehrbarkeit der Tugend und die Natur der höchsten Erkenniniss abhandelt.

Man kann diese Unterredung ansehn als eine erläuternde Fort- sezung des Menon, also auch mittelbar des Theaitetos und Gor- gias, wodurch zugleich auf eine indirekte Art derselbe Gegenstand weiter geführt wird. Denn was wir aus den vorigen Gesprächen als ihr eigentliches Ergebniss oft nur gefolgert haben, ohne es wörtlich ausgesprochen zu finden, das wird eben hier wörtlich aus- gesprochen, und, als verstände es sich schon, vorausgesezt. Und die Aufgaben, womit sich die folgenden Gespräche beschäftigen, diese werden hier gefunden und angedeutet. Wodurch denn, wenn es sich wirklich so verhält, diesem Gespräch die Stelle, die wir ihm angewiesen haben, hinlänglich gesichert wird.

Hievon aber kann sich ein jeder leicht überzeugen, wenn er den Gang dieser Unterredung betrachtet, den wir im wesentlichen hier mit wenigen abzeichnen wollen. Vorausgesezt wird dabei gleich Anfangs, was im Gorgias war erwiesen worden, dass: die Lust nicht das gute ist, und daher wird die als gemeinschaftliches Ziel gesuchte Glükkseligkeit, um nur der gewöhnlichen Uebersezung des Wortes Eudaimonia treu zu bleiben, als eine Richtigkeit des Handelns gesezt. Zugleich schliesst sich die Unterredung dem Menonischen Saze an, dass alles, was man gewöhnlich ein Gut nennt, es an und für sich durch den blossen Besiz nicht ist, son- dern es erst wird dadurch, dass es unter die Gewalt der Weisheit kommt um von dieser beherrscht und behandelt zu werden. So- nach wird das zu suchende als Erkenniniss gesezt, wohlbedächtig unter dem höheren Namen der Weisheit, und ohne jener niederen Art, welche dort richtige Vorstellung genannt ward, auch nur zu erwähnen. Dies ist aber keinesweges’' etwa ein Zeichen, als wäre diese Unterscheidung noch nicht gemacht‘ gewesen, oder als wider- spräche Platon sich selbst auf irgend eine Weise bewusst oder unbewusst: sondern der Grund davon ist folgender. Es wird gleich Anfangs, wo Sokrates die Aufgabe aufstellt, beides als einer- lei gesezt oder aufs innigste’verbunden, die Weisheit suchen und sich der Tugend befleissigen. Er will also hiedurch ausdrükklich zeigen, wie er es gemeint habe mit dem, was zulezt im Menon nur hingeworfen wird, dass man allerdings diejenige Tugend und Staatskunst, ohnerachtet sie noch nicht vorhanden gewesen, suchen müsse,. welche von der Weisheit ausgeht, weil ja ohne sie auch jene gemeinere, der an der richtigen Vorstellung genügt, keinen

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EINLEITUNG. 275

Bestand haben könne. Nachdem so das eigentliche Ergebniss des

-Menon ausgesprochen und erläutert worden, wird nun weiter ge-

fragt, welches wol jene Erkenniniss sein müsse; und nachdem zum Theil in Beziehung auf den Gorgias festgesezt worden, sie müsse eine Kunst sein, welche ihren Gegenstand zugleich hervorzubringen und zu gebrauchen wisse, und so mehrere einzelne Künste bei- spielsweise aufgeführt worden, welche in diesem Sinne an sich darstellend sind: so: kommt die Unterredung, weniger auf dem streng wissenschaftlichen Wege des Eintheilens und Aufsuchens, als auf dem unmethodischen des Umhergreifens, zu der wahren Staats- oder königlichen Kunst, als derjenigen, welcher alle andern ihre Werke zum Gebrauch übergeben. Nun aber ist auch das Fortschreiten zu Ende, und die Unterredung lenkt wieder ein in jene bernmende Art der Darstellung, welche nur. Räthsel aufstellt, und sie mit einigen Winken dem Nachdenken des Hörers zur Lö- sung übergiebt. In diesem Sinne nun wird das Werk jener Kunst

gesucht, und es will sich nichts finden, als dass, wenn man doch

bei dem guten immer nach dem Wozu fragen müsse, man sich auch immer im Kreise herumdrehe; in diesem Sinne hatte Sokra-

.tes gleieh Anfangs die Frage aufgeworfen, ob die Weisheit lehren

und Lust zu ihr machen Eins wäre, und Einer Kunst. angehöre; und in eben diesem Sinne wird die Beziehung zwischen dem wah- ren und guten, der Einsicht und der Kunst, so vielfach wieder- holt und ins Licht gesezt. Und so liegt denn in dieser Unterre- dung, wie vorher behauptet worden, einerseits bestätigende Erläu- terung der vorhergegangenen Gespräche, andererseits soll man aufgeregt werden sich bei den dort gemachten Voraussezungen, wie dass die Tugend und die Einsicht das nüzliche seien, nicht zu berubigen, und dadurch wird diese Unterredung vorandeutende Hinweisung auf die folgenden Gespräche, namentlich den Staais- mann und den Philebos; und so erscheint um ihretwillen der Euthydemos als ein keinesweges überflüssiges und gewiss gerade hieher gehöriges Uebergangsglied in dieser Reihe.

Hat man so den wesentlichen Theil des Gespräches gehörig gewürdigt: so wird es leicht, auch von dem übrigen eine andere Ansicht aufzufassen. Es entsteht nämlich von selbst die Frage: Sollte Platon, den wir schon in den Gesprächen, welche dem Euthydemos unmittelbar vorangehn, beilänfig im Streit gefunden haben gegen die Stifter gieichzeitiger Sokratischer Schulen, nun wieder einen allzuspäten Kampf beginnen gegen frühere Sophisten, deren Einfluss und Bestrebungen ohnedies überwunden waren, 5850-

- 18"

276 EUTHYDEMOS.

bald nur die Sokratischen Schulen sich ordentlich gebildet hatten? und diesen überflüssigen Streit sollte er durch einen solchen Auf- wand darstellender Kunst unterstüzen, und sich so wol dabei ge- fallen, als hier offenbar zu Tage liegt? Wer waren denn dieser Dionysodoros und Euthydemos, um solche Aufmerksamkeit zu ver- dienen, und eine solche Behandlung zu erfahren? Mehr als irgend von andern Sophisten, deren im Platon erwähnt wird, schweigt ᾿ von ihnen die Geschichte, so dass man gewiss behaupten kann, sie haben keine Art von Schule irgendwo gebildet, ja dass es scheint, sie sind überall nicht einmal sehr berühmt gewesen. Xenophon gedenkt des Dionysodoros noch aus der Zeit, wo er die Kriegskunst lehrte, woraus man schliessen muss, es sei eine wahre Thatsache, was Sokrates erzählt, dass sie erst dieses, wahrschein- lich jedoch mehr Taktiker als Kunstfechter gewesen sind, und sich nur spät zur philosophirenden Sophistik gewendet haben. Platon selbst führt im Kratylos den Euthydemos an, aber mit einem Saz, der unmittelbar aus den Prineipien der Ionischen Philosophie floss, und aus dem auch gar nicht ein solcher sophistischer Missbrauch geradezu hervorgeht, so dass man an sich gar nicht diesen Euthy- demos in jenem wiederfindet. Auch Aristoteles erwähnt seiner, und freilich bei ein Paar Säzen von der Art, wie wir sie hier fin- den, deren Formel aber doch ihrer Natur nach nur eine scherzhafte Anwendung zulässt, und nie gegen die Philosophie konnte gerichtet werden; daher auch um ihretwillen Euthydemos eine so grausame Behandlung nicht verdient hätte. Dagegen führt Aristoteles fast alle Formeln an, die hier vorkommen, mehrere sogar wörtlich, ohne je des Euthydemos oder seines Bruders dabei zu gedenken, son- dern durchaus schreibt er sie den Eristikern zu. Ueberdies giebt es eine Hauptstelle in unserm Gespräch, wo. die vorgetragenen Fangschlüsse grösstentheils auf den Antisthenischen Saz, dass es keinen Widerspruch gebe, zurükkgeführt werden. Vergleicht man hiemit mehrere einzelne Andeutungen in dem Gespräch und eine andere Stelle des Aristoteles, wo er sagt, auch Gorgias der erste Lehrer des Antisthenes habe schon. gelehrt, mit diesen Dingen umzugehn, aber nicht aus den lezten Gründen, und habe also nur einzelne Vorschriften mitgetheilt, nicht die ganze Kunst selbst: so fällt immer mehr Licht auf das Ganze, und es wird sehr wahrscheinlich, dass Platon unter dem Namen jener beiden So- phisten vielmehr die megarische Schule und den Antisthenes an- gefochten hat. Jene konnte er gern schonen, um der alten Freund- schaft willen, die ihn mit ihrem Stifter verband; und den Antisthenes

EINLEITUNG. 277

konnte er lieber nicht nennen wollen, um das persönliche mög- lichst zu vermeiden und sich seiner unfeinen Behandlung weniger auszusezen. Wobei man freilich, um es richtig zu finden, beden- ken muss, dass den Zeitgenossen vieles sehr verständlich war, und von selbst ın die Augen sprang, was wir nur noch mit Mühe durch mancherlei Verknüpfungen und Vergleichungen entdekken können. Durch den übermüthigen Spott aber leuchtet auf man- cherlei Weise für den aufmerksamen Leser hindurch ein tiefer und bitterer Schmerz über die zeitige Ausartung der Philosophie unter solchen, die sich auch Schüler des Sokrates nennen.

Doch es bleibt auch so noch etwas zu beleuchten und aufzu- lösen. Betrachtet man nämlich genau, was eigentlich hier durch- genommen und nur spottend widerlegt wird: so wird freilich Jeder- mann gestehen, dass die einzelnen Beispiele, wie sie hier vorkom- men, nichts anders verdienen; es ist aber doch nicht zu verkennen, dass die ganze Weberei dieses Lugs und Trugs ihrem Wesen nach nichts anderes war, als der Skepticismus, der die Lehre vom Fluss und vom Werden allgemein und einseitig aufgefasst überall begleitet, in seiner besondern Anwendung auf die Sprache. Wollte also Platon diese sophistische Kunst für sich behandeln, so durfte er entweder nur kurz zeigen, wie genau sie mit jenen schon von ihm widerlegten Principien zusammenhinge, oder er musste in ihren eigenthümlichen Gegenstand, die Sprache, tiefer eindringen, und auch in dieser neben dem beweglichen das unveränderliche und beharrende aufzeigen. Das erste thut er allerdings, aber so, dass der grösste Theil der durchgenommenen Beispiele keine Ver- richtung dabei hat. Auf das leztere scheint er mehr vorläufig hinzudeuten, als wirklich dabei Hand anzulegen, wie es denn auch wirklich noch kaum möglich war; und jeder sieht, dass Platon aus der verschiedenen Beschaffenheit seiner Beispiele zu diesem Behuf die Vortheile nicht zieht, die sie ihm darbieten. Hieraus nun geht offenbar hervor, dass die Beispiele nicht bloss für die Behandlung der Sache selbst da sind, und nicht durch sie sind bestimmt wor- den. Wodurch aber sonst? und hat sich. etwa Platon in dem leeren Spiele gefallen, und es so lange fortgesezt aus reiner Lust an der mimischen Kraft, die er darauf wendete? Man ist wenig- stens nicht genöthiget, hiebei stehen zu bleiben, und dem Platon bei diesem Gespräch ein Verfahren zuzuschreiben, das ihm sonst nicht eigen ist. Denn wenn man die einzelnen Beispiele ihrem Inhalt nach betrachtet: so findet man mehrere darunter, die ganz

278 EUTHYDEMOS.

das Ansehn haben, sich auf Angriffe zu beziehen, die theils gegen die Gedanken, theils gegen die Sprache und den Ausdrukk in frü- heren Schriften des Platon gerichtet waren, indem seine Gegner dies und jenes durch eben solche sophistische Kunstgriffe mochten in Unsinn verdreht haben. Und so finden wir denn, gewiss ohne uns sehr zu verwundern, auch hier dieselbe Polemik und nothge- drungene Selbstveriheidigung wieder, und zwar in ähnlicher Ver- kleidung, wie wir sie schon in den unmittelbar vorhergegangenen Gesprächen fast steigend gefunden hatten; welches denn auch die Beziehung ist, in der bereits in der Einleitung zum Theaitetos auf den Euthydemos aufmerksam gemacht wurde.

Nur dureh dieses alles zusammengenommen lässt sich auch die Einrichtung des Ganzen rechtfertigen vor dem Richterstuhl der höheren Kritik und der philosophischen Gesinnung selbst. Denn sonst könnte es frevelhaft erscheinen, und als ein jede höhere Einsicht aufhebendes Missverhältniss, wenn Jemand den blossen Spott gegen etwas ganz nichtswürdiges und die weitere Beförderung ächt philosophischer Zwekke so in einander flechten will, wie hier geschehen. Ganz ein anderes wird: aber das Verhältniss, wenn auf der einen Seite der Spott nur Einkleidung ist einer Polemik, die auf die Wissenschaft selbst Beziehung hat, und bei der eben durch dieses Verfahren noch das persönliche vermieden wird, und auf der andern auch der wissenschaftliche Gehalt geringer ist als anderwäris, und mehr nur Erläuterungen giebt und einen Ueber- gang bildet, als selbst eignes darstellt. Recht deutlich ist übrigens hier bei dem ersien, nur wiedererzählten, nicht unmittelbar darge- stellten Gespräch, auf welches wir nach dem Theaiteios stossen, wie Platon durch das Bedürfniss dem mimischen Element ein freies Spiel zu verschaffen, welches nicht anders als in der Erzählung möglich war, zu dieser Behandlungsart noihwendig zurükkgeführt wird. Etwas eigenthümliches hat die Einrichtung dieses Gesprächs aber auch noch im Einzelnen nicht nur durch’ das zwiefache ganz von einander abgesonderte innere Gespräch, sondern noch mehr dadurch, dass das äussere zwischen Sokrates und dem Kriton, dem er erzählt, hernach noch beuriheilend fortgesezt wird, was, wiewol es sonst nirgends anzutreffen ist, sehr wol mit der besonderen Künstlichkeit dieses Gespräches zusammenstimmt. Uebrigens ent- hält dieser Anhang auch noch eine eigene Polemik von anderer Beziehung als das Gespräch selbst, gegen die Art nämlich, wie einge gewisse angesehene Klasse die Philosophie, wahrscheinlich

EINLEITUNG. 279

nicht ohne sie mit der Sophistik zusammen zu werfen, ansah und behandelte. Dasselbe war schon im Gorgias angedeutet, vielleicht aber gerade von denen, die es zunächst anging, nicht gehörig ver- standen worden. Darum wird hier theils die Sache gründlicher bestritten, theils die Person deutlicher bezeichnet; und da die Schule des Isokrates die wichtigste dieser Art zu Athen war, so kann man kaum anders denken, als dass der Vorwurf dieser vor- nehmlich gegolten habe.

EUTHYDEMO®OS

KRITON. SOKRATES.

Kriton. Wer war doch der, Sokrates, mit dem du gestern

271im Lykeion Gespräch führtest? Wahrlich, eine so grosse Menge

Menschen stand um euch her, dass, als ich auch hinzuging um zu

hören, ich nichts deutlich verstehen konnte. Doch beugte ich mich

über, um wenigstens zu sehen, da dünkte es mich ein Fremder zu sein mit dem du sprachest. Wer war es doch?

Sokrates. Welchen magst du nur meinen? Denn nicht einer sondern zwei waren es.

Kriton. Der, den ich meine, sass der dritte von dir zur Rechten, und zwischen euch sass des Axiochos Jüngling. Der schien mir ja sich gar sehr aufgenommen zu haben, o Sokrates, und den Jahren nach wol nicht sehr unterschieden zu sein von meinem Kritobulos; aber der ist nur schmächtig, jener aber ganz vollständig und von gar hübschem Ansehn.

Sokrates. Der also, o Kriton, nach welchem du fragst, ist Euthydemos, und der neben mir zur ‘Linken sass, sein Bruder Dionysodoros, der auch seinen Theil hat am Gespräch.

KÄriton. lch kenne keinen von beiden, Sokrates.

Sokrates. Es sind auch wieder ganz neue Sophisten, wie du leicht denken kannst. “ποῦ

Kriton. Woher denn? und was für Weisheit bringen sie?

Sokrates. Ursprünglich sind sie, so viel ich weiss, hier wo her aus Chios; sie waren aber mit zu den Thuriern gezogen, und seitdem sie von dort geflüchtet sind, halten sie sich schon mehrere Jahre in diesen Gegenden auf. Was aber ihre Weisheit betrifft, nach der du fragst, o Kriton, so ist es zu verwundern, was für Alleswisser sie sind. So dass ich meines Theils bis jezt noch

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EUTHYDEMOS. 281

gar nicht wusste, was ein .wahrer Kunstfechter wäre. Diese aber sind die rechten Unüberwindlichen in jeder Art, gar nicht wie jene Akarnanischen Brüder, die sich auch im Fechten zeigten. Denn die verstanden nur körperlich zu fechten. Jene aber sind zuerst körperlich ganz vollkommene Meister, und zwar in der Art zu fechten, die vor allen andern den Vorzug hat, indem sie vor- trefflich verstehn in der Rüstung zu fechten, und auch Andere,

wer nur bezahlen will, geschikkt darin machen. Dann aber auch ?72

im Kampf vor Gericht verstehen sie ganz vollkommen selbst den Streit auszufechten und auch Andere zu unterrichten im reden und auch Reden zu schreiben zum Gebrauch an der Gerichtstätte. Bis jezt nämlich waren sie nur hierin Meister, nun aber haben sie ihrer kunstfechterischen Meisterschaft die Krone aufgesezt. Denn auch in dem Kampf, der ihnen noch unversucht war, haben sie sich jezt so eingeübt, dass auch nicht Einer sich gegen sie auch nur wird erheben können, solche Meisier sind sie geworden im Gespräch zu streiten und zu widerlegen was jedesmal gesagt wird, gleichviel ob es falsch ist oder wahr. Daher nun, Kriton, bin ich auch willens, mich den Männern in die Lehre zu geben; denn sie versprechen, dass sie in kurzer Zeit auch jeden andern eben hier- in auslehren wollen.

Kriton. Und wie, Sokrates? fürchtest du nicht deine Jahre, ob du nicht schon zu alt bist?

Sokrates. Nichts weniger, Kriton! Denn ich habe genug, wor- auf ich mich berufen und verlassen kann, um mich nicht zu fürchten. Denn diese beiden selbst, dass ich es dir nur heraus sage, haben erst als alte Leute den Anfang gemacht in dieser Kunst, nach der ich strebe, in dieser Streitkunst, vor dem Jahre aber oder vor zwei Jahren waren sie noch gar nicht weise. Nur vor dem einen

- ist mir bange, dass ich den Männern nicht’etwa selbst Spott zu-

ziehe, wie dem Lyraspieler Konnos, der mir noch jezt Unterricht giebt im Lyraspielen. Denn die Knaben, die mit mir zur Schule gehen, lachen immer über mich, und den Konnos nennen sie den Altenmannslehrer. Wenn also nur nicht auch den Fremden Jemand einen eben solchen Spottnamen giebt, und sie sich vielleicht eben davor fürchtend mich deshalb nicht annehmen wollen. Dort nun beim Konnos habe ich schon noch einige andere Alte überredet, mit mir zum Unterricht zu gehen, und bier möchte ich es gern eben so machen. Komm du also doch auch mit, und als Lokk- speise können wir vielleicht deine Söhne dazunehmen; denn gewiss um nur die zu bekommen werden sie uns auch schon unterrichten.

282 EUTHYDEMOS.

Kriton. Warum das nicht, Sokrates, wenn du meinst! Zuvor aber erzähle mir doch, worin denn der Männer Weisheit besteht, damit ich sehe, was wir eigentlich lernen werden.

Sokrates. Das soll dir nicht fehlen zu hören; denn ich dürfte wahrlich nicht sagen, dass ich nicht Acht auf sie gegeben hätte. Sondern gar sehr habe ich Acht gegeben und alles gar wol behal- ten, so dass ich versuchen will, dir von Anfang an alles zu erzäh- jen. Nämlich gewiss durch eines Gottes Gunst sass ich noch da, wo du mich sahest, wo sie sich zu entkleiden pflegen, allein, und war schon im Begriff gewesen aufzustehn; indem ich es aber thun wollte, kam mir das gewohnte Zeichen, das göttliche. Also sezte ich mich wieder, und bald darauf traten diese beiden herein, Ev- thydemos und Dienysodoros, und mit ihnen noch viele andere,

273Schüler glaube ich. Wie sie gekommen waren, gingen sie im be- dekkten Gange umher, und mochten kaum zwei oder drei Gänge gemacht haben, als Kleinias kam, von dem du sagst, er habe sich so sehr herausgewachsen, was auch ganz richtig ist. Hinter die- sem nun kamen viele von seinen Verehrern, unter andern auch Ktesippos, ein junger Mann aus der Paianischen Zunft von ganz schönen Naturgaben, nur etwas übermüthig, wie die Jugend pflegt. Als nın Kleinias am Eingange sah, dass ich allein sass, ging er gerade durch, und sezte sich rechts zu mir, wie du auch sagst. Und als Dionysodoros und Euthydemos ihn ansichtig wurden, blie- ben sie zuerst stehen, und sprachen mit einander, wobei sie von Zeit zu Zeit nach uns hinsahn, denn ich gab gar genau Achtung auf sie; endlich kamen sie, und der eine, Euihydemos, sezte sich zu dem Knaben, der andere zu mir, linker Hand. Ich begrüsste sie also als solche, die ich seit langer Zeit nicht gesehn, und sagte dann zuın Kleinias, Diese Männer, Kleinias, sind grosse Meister, hier Euthydemos und Dionysodoros, und ‘das gar nicht in kleinen Dingen, sondern in sehr wichtigen. Alles nämlich was zum Kriege zehört verstehen sie, was nur einem, der ein grosser Feldherr werden will, nöthig ist, die Anordnung und Führung der Heere, und was wer in Waffen fechten will lernen muss.: Auch sind sie im Stande einen dahin zu bringen, dass er vermöge sich selbst zu helfen vor Gericht, wenn ihm Jemand Unrecht.thut. Wie ich nun dieses gesagt, wurde ich‘ von ihnen verhöhnt; wenigstens lachten sie sich einander zu, und Euthydemos sprach, Das ist gar nicht mehr unser Hauptgeschäft, o Sokrates, sondern nur noch beiläufig betreiben wir es. Darüber verwunderte ich mich, und sprach, Dann müsst ihr ja ein ganz herrliches Geschäft haben,

EUTHYDEMOS. 283

wenn solche Dinge euch nur noch das beiläufige sind. Bei den Göttern also, sagt mir, was. ist dieses herrliche? Die Tugend, o Sokrates, sagte er, giauben wir einem jeden aufs beste und schnellste mittheilen zu können. Zeus, sprach ich, was für ein grosses Wort redet ihr! Wie seid ihr zu diesem Funde ge- kommen? Ich dachte noch immer von euch, wie ich nur eben sagte, dass ihr hierin vorzüglich Meister wäret, in Waffen zu fech- ten, und rühmte das auch von euch. Denn als ihr zum ersten Mal hier eingewandert kamt, erinnere ich mich, dass ihr dies an- kündigte. Wenn ihr aber jezt in der That diese Wissenschaft be- sizt: so seid mir gnädig und barmherzig. Denn ordentlich als Götter muss ich euch anreden und euch bitten, das vorher gesagte zu verzeihen. Aber seht doch zu, Euthydemos und Dionysodoros, 274 ob ihr auch wahr gesprochen habt. Denn die Verheissung ist so gross, dass es kein Wunder ist ungläubig zu sein. Sei nur ganz gewiss, Sokrates, sagten sie, dass sich dies so verhält. Dann preise ich euch glükkselig wegen dieses Besizes, weit mehr als den grossen König wegen seiner Macht. Das aber sagt mir nur, ob ihr gesonnen seid, euch mit dieser Weisheit zu zeigen, oder was ihr hierüber beschlossen habt? -— Eben dazu sind wir gekommen, o Sokrates, um sie zu zeigen und zu lehren, wenn Jemand lernen will. Dass dieses Alle wollen werden, welche sie noch nicht besizen, dafür leiste ich euch Bürgschaft, zuerst ich, dann dieser Kleinias und nächst uns Ktesippos hier und diese Andern auch, sprach ich, indem ich auf die Liebhaber des Kleinias zeigte, die sich schon um uns her gestellt hatten. Denn Ktesippos hatte weit vom Kleinias gesessen, wie mich dünkt; wie aber Eu- thydemos indem er mit mir sprach sich vorbeugte, weil nämlich Kleinias zwischen uns sass, benahm er dem Ktesippos die Aussicht “auf ihn. Ktesippos also, der theils seinen Liebling sehen wollte, theils auch gern genau zuhören mag, sprang zuerst auf und stellte sich uns gerade gegenüber. Das thaten denn hernach auch die 4 übrigen, die Liebhaber des Kleinias sowol als die Freunde des Dionysodoros und Euthydemos. Diese also zeigte ich dem Euthy- demos, und sagte, sie alle hätten Lust zu lernen. Ktesippos nun bekannte sich sehr bereitwillig dazu und auch die übrigen, und Alle insgesammt redeten ihnen zu, zu zeigen, was ihre Weisheit eigentlich vermöge. Darauf sagte ich, Euthydemos und Diony- sodoros, auf alle Weise seid doch sowol gegen diese gefällig, als auch mir zu Liebe gebt uns eine Probe. 7war alles wesentliche der Sache selbst uns hier vorzutragen, wäre offenbar kein kleines

νυ εν ον EIER

284 EUTHYDEMOS.

Geschäft; allein soviel sagt mir wenigstens, ob ihr nur den, wel- cher schon überzeugt ist, dass er es von euch lernen muss, zu einem tugendhaften Manne zu machen vermögt, oder auch jenen, der noch nicht daven überzeugt ist, weil er entweder überhaupt die ganze Sache nicht glaubt, dass die Tugend lehrbar ist, oder doch dass ihr nicht Lehrer derselben seid? Sprich, ist dies das Geschäft derselben Kunst, auch den so denkenden zu überzeugen, dass sowol die Tugend lehrbar ist, ais auch ihr diejenigen seid, bei denen einer sie am besten lernen könnte, oder einer andern? Eben derselben, o Sokrates, sprach Dionysodoros. Ihr also, sprach ich, o Dionysodoros, verständet unter den jezt lebenden Menschen am besten zum Streben nach Weisheit und zum Fleiss in der Tugend aufzumuntern? Das glauben wir allerdings, So- 275 krates. Von allem übrigen also, sagte ich, mögt ihr uns ein andermal eine Probe ablegen; nur eben dies eine zeigt uns jezt. Ueberzeugt uns diesen Jüngling hier, dass man die Weisheit suchen und Fleiss auf die Tugend wenden müsse, und werdet dadurch mir und allen diesen gefällig. Denn so steht es mit diesem Kna- ben; ich und alle diese tragen gar grosses Verlangen, dass er ein recht vortrefflicher Mann werden möge. Er ist nämlich des Axiochos Sohn, ein Enkel also des älteren Alkibiades und ein leiblicher Vetter des jezigen, und heisst Kleinias. Nun ist er noch jung; also tragen wir Sorge für ihn, wie billig für die Jugend, dass nicht etwa Jemand früher sein Gemüth zu andern Bestrebun- gen hinlenke und er uns verderbt werde. Ihr beide kommt uns daher höchst gelegen; also wenn ihr nichts dawider habt, so macht einen Versuch mit dem Knaben, und unterredet euch mit ihm in unserer Gegenwart. Als ich ohngefähr eben dieses gesagt, sprach Euthydemos: ganz beherzt und zuversichtlich, Gewiss wir haben nichts dawider, Sokrates, wenn der junge Mensch nur wird ant- worten wollen. Daran, sagte ich, ist er uns ja schon gewöhnt. Denn gar oft reden ihn diese an, und fragen ihn vielerlei und be- sprechen sich mit ihm, so dass er schon ziemlich dreist ist im Antworten. zu Was also nun folgt, o Kriton, wie soll ich dir das nur gut genug erzählen? Denn wahrlich es ist keine kleine Sache, so uner- denklich tiefe Weisheit ordentlich und gehörig wieder vortragen zu können: so dass ich, wie die Dichter, wol nöthig habe, beim An- fang der Erzählung die Musen anzurufen und die Mnemosyne. Euthydemos also begann damit ohngefähr, wie ich glaube. O Klei- nias, welche von beiden unter den Menschen sind denn die welche

ea

EUTHYDEMOS. 285

lernen, die Klugen oder die Dummen? Der Knabe aber, wie es denn eine schwere Frage war, erröthete und sah mich verlegen an. Und da ich merkte, dass er verwirrt war, sprach ich, Nur dreist, Kleinias, und antworte wakker eins von beiden, welches dir ein- leuchtet; denn wahrscheinlich wirst du grossen Nuzen davon ha- ben. Indem bükkte sich Dionysodoros zu mir, und sagte mir leise ins Ohr mit ganz lächelndem Angesicht, Ganz sicher, Sokrates, sage ich dir vorher, was der junge Mensch auch antwortet, er wird zu Schanden gemacht werden. Und noch indem er mir das sagte, hatte auch Kleinias schon geantwortet, so dass ich nicht einmal dem Jüngling zurufen konnte sich vorzusehn. Er hatte

aber geantwortet, die Klugen wären die Lernenden. Da fragte276

Euthydemos weiter, Giebt es auch Lehrer, oder nicht? Das gab er zu. Und die Lehrer sind doch der Lernenden Lehrer, wie der Musikmeister und der Schreibmeister waren doch deine und der andern Knaben Lehrer, und ihr waret Schüler? Das be- jahete er. Nicht wahr nun, als ihr lerntet, wusstet ihr das noch nicht, was ihr lerntet? Nein, sagte er. Waret ihr nun etwa klug damals als ihr das nicht wusstet? Nein freilich, sagte er. Wenn also nicht klug, dann dumm? Freilich wol. Ihr also, als ihr lerntet, was ihr nieht wusstet, lerntet als Dumme? Der Knabe winkte zu. Die Dummen also lernen, o Kleinias, und nicht die Klugen wie du meinst. Als er dies gesagt hatte, er- hoben, wie ein Chor, wenn der welcher es einübt das Zeichen ge- geben hat, so einmüthig alle jene, die den Euthydemos und den Dionysodoros begleitet hatten, ein grosses Getümmel und Gelächter. Und ehe noch der junge Mensch wieder gehörig zu Athem kommen konnte, nahm Dionysodoros das Wort auf und sagte, Wie doch, Kleinias, wenn euch nun der Lehrer etwas vorsagte, welche Knaben

- Jernten dann das vorgesagte, die Klugen oder die Dummen?

Die Klugen, sprach Kleinias. Die Klugen also lernen, und nicht die Dummen, und nicht richtig hast du eben dem Euthydemos ge- antwortet. Auch hier wiederum lachten und lärmten die Ver-

ehrer der beiden Männer und zwar ganz ausnehmend aus Bewun- derung ihrer Weisheit. Wir Andern aber waren ganz betäubt und schwiegen. Als nun Euthydemos merkte, dass wir so betäubt waren, liess er, damit wir ihn noch mehr bewundern sollten, den Knaben noch nicht los, sondern fragte weiter, und wie gute Tänzer drehte er die Frage zweimal auf derselben Stelle herum, und sagte, Welches von beiden lernen denn aber die Lernenden, was sie wissen oder was sie nicht wissen? Da flüsterte mir Dionysodoros aber-

286 ‚EUTHYDEMOS.

mals ganz leise zu, und sagte, Auch das, Sokrates, ist wiederum ein Solches Stükk wie das vorige. Zeus, sprach ich, auch das vorige ja schien uns eine gar herrliche Fragel —- Ja Sokrates, sagte er, wir fragen lauter solche unausweichliche Fragen. Da- her, sprach ich, habt ihr auch, wie man sieht, grossen Ruhm unter euren Schülern. Unterdessen nun hatte Kleinias dem Euthyde- mos geantwortet, die Lernenden lernten, was sie nicht wüssten. Jener aber fragte ihn nach derselben Weise, wie beim vorigen, 277 Wie, sagte er, weisst du nicht die Buchstaben? Ja, sprach er. Und zwar alle? Das bejahte er. Wenn nun Jemand etwas vorsagt, was es auch sei, sagt er nicht Buchstaben vor? Das gesiand er ein. Von dem also, was du weisst, sagt er etwas vor, wenn du sie doch alle weisst. Auch das gestand er ein. Wie also, sprach er, lernst denn du etwa nicht, was e'ner vorsagt, wer aber die Buchstaben nicht weiss, der lernt es? Nein, antwortete er, sondern ich lerne es. Also was du weisst, sprach er, lernst du, wenn du doch sämmtliche Buchstaben weisst? Das gab er zu. Also hast du nicht richtig geantworiet, sagte er. Und noch hatte Euthydemos dieses nicht völlig ausgespro- chen, als Dionysodoros die Rede wie einen Ball abfing, und wieder nach dem Knaben hinwarf, und sagte, Euthydemos hintergeht dich, o Kleinias; denn sage mir, heisst nicht lernen eine Erkenatniss desjenigen bekommen was man lernt? Das gab Kleinias zu. Und wissen, sprach er, heisst das etwas anderes, als eine Erkennt- niss schon haben? Darin stimmte er ein. Niehtwissen also heisst noch nicht Erkenntniss haben? Das gestand. er ihm ein. Welche von beiden nın sind die, die etwas bekommen? die es sehon haben, oder die nicht? Die es nicht haben. Und du hast doch eingestanden, dass zu diesen auch die Nichtwissenden gehören, zu den Nichthabenden? Er winkte zu. Und zu den Bekommenden gehören doch die Lernenden, aber nicht zu deu Habenden? -— Das bejahte er. Die Nichtwissenden also, sprach er, lernen, o Kleinias, aber nicht die Wissenden. Hierauf nun fiel Euthydemos gleichsam den dritten Gang beginnend noch einmal gegen den Jüngling aus. Ich aber, da ich sah, wie ‚der Knabe schon ganz zugederki war, wollte ihm einige Ruhe verschafien, da- mit er nicht verzagte; ich redete ihm daher zu und sagte: Wun- dere dich nicht, Kleinias, wenn diese Reden dir ungewohnt scheinen. Denn du merkst vielleicht nicht, was eigentlich die Fremden mit dir vornehmen, dasselbe nämlich, was bei der Weihung der Kory- kanten geschieht, wenn sie die Einthronung mit demjenigen vorneh-

EUTHYDEMOS. 287

mei, den Sie einweihen wollen. Denn auch dabei ist doch ein Tanz und Scherz, wenn du anders schon eingeweiht bist. So auch diese beiden jezt thun nichts, als dass sie den Chor um dich her- umführen, und gleichsam im Scherz dich umtanzen, bis sie dich bernach einweihen. Jezt also denke dir, dass du nur den ersten Anfang der sophistischen Heiligthümer hörst. Denn das erste muss sein, wie Prodikos sagt, dass man den richtigen Gebrauch der Worte erlerne, wie dir die Fremden nun eben zeigen, dass du nicht wusstest, wie die Menschen das Wort Lernen zwar davon gebrauchen, wenn Einer, der bis dahin noch gar keine Kenntniss ‚eines Gegenstandes hatte, die Kenniniss davon nun bekommt, wie sie aber auch dasselbe gebrauchen, wenn Einer, der diese Keunt- niss schon hat, mit dieser Kenntniss eben diesen Gegenstand be- trachtet, wenn er behandelt oder besprochen wird. Zwar nennt?278 man dies häufiger erfahren als lernen, bisweilen aber doch auch lernen. Dies nun, wie sie dir zeigen, ist dir entgangen, dass das- selbe Wort auf ganz entgegengesezt beschaffene Meuschen geht, auf Wissende und Nichtwissende. Fast eben so war auch das bei der zweiten Frage, als sie dich fragten, welches von beiden wol die Menschen lernten, ob was sie wissen oder was nicht. Der- gleichen nun ist in der Beschäftigung mit Kenntnissen nur Spiel; darum sage ich auch, dass diese mit dir spielen. Spiei nenne ich es aber deshalb, weil, wenn Einer auch vieles und a.les derglei- chen lernte, er doch von den Gegenständen selbst um nichts besser wüsste, wie sie sich verhalten; sondern nur geschikkt sein würde, sein Spiel mit Andern zu treiben, indem er ihnen durch die Viel- deutigkeit der Worte ein Bein unterschlagen und sie umwerfen könnte; wie wenn Jemand einem, der sich sezen will, den Sessel unten wegzieht, und sich dann freut und lacht, weun er ihn rükk- - Jings hinfallen ‚sieht. Dieses also denke dir dass dıe Männer dir . nur zum Scherz angethan haben. Nun aber nach diesem werden sie dir gewiss auch das rechte ernsthafte zeigen. Und das will ich ihnen jezt vorzeichnen, damit sie mir leisten, was sie mir ver- sprochen haben. Sie sagten nämlich, sie wollten uns etwas zeigen von ihrer Kunst das Gemüth anzutreiben; nun aber, dünkt mich, haben sie eben geglaubt erst mit dir scherzen zu müssen. Dieses also möge von euch gescherzt gewesen sein, Dionysodoros und Euthydemos, und vielleicht ist es zur Genlige. Nun aber nach diesem zeigt uns auch wirklich eure Kunst, indem ihr den jungen Menschen aufmuntert, wie man muss auf Weisheit und Tugend Fleiss verwenden. Zuvor aber will ich euch zeigen, wie ich 98

288 EUTHYDEMOS.

mir denke, und in welcher Art ich es von euch zu hören wünsche. Wenn euch nun dünkt, dass ich mich als ein Unkundiger auf eine lächerliche Art dabei anstelle: so ‘lacht mich dennoch nicht aus. Denn nur aus Verlangen eure Weisheit zu hören will ich mir ein Herz fassen, vor euch aufs Gerathewohl und unvorbereitet zu reden. Nehmt euch also zusammen, und hört mich ohne Gespötie an ihr selbst und eure Schüler, und du Sohn des Axiochos antworle mir. Wollen wol wir Menschen alle uns wohl befinden? oder ge- hört schon diese Frage zu dem, wovor mir eben bange war, dem belachenswerthen? Denn unverständig ist es ja wol, dergleichen auch nur zu fragen; denn welcher Mensch wollte sich wol nicht wohl befinden? .Gewiss keiner, antwortete :Kleinias. Gut, 279sprach ich. Nur aber weiter, da wir uns also wohl: befinden wol- len, wie können wir es denn? Etwa wenn wir viel gutes hätten? Oder ist dies noch einfältiger als jenes? denn auch das ist ja deutlich genug, dass es sich so verhält. Darin stimmte er mir bei. Wolan denn, was aber unter allen Dingen ist uns wol gut? Oder ist auch das nicht schwer, und gehört keinesweges ein ausserordentlicher Mann dazu um es zu finden? Denn jeder würde uns ja wol sagen, reich sein wäre gut. Nicht wahr? Freilich, sagte er. Nicht auch gesund sein und schön sein, und das übrige was den Leib betrifft in gutem Stande haben? Das dünkte ihn ebenfalls. Aber ausgezeichnete Geburt, und Macht und Ansehn in seinem Vaterlande ist doch offenbar auch etwas gutes? Das gab er zu. Was, sprach ich, ist uns nun wol noch gutes übrig? Denn was ist wol besonnen sein, und gerecht und tapfer? Wie um Zeus willen glaubst du, Kleinias? werden wir das richtige sezen, wenn wir auch dies als gutes sezen, oder wenn nicht? Denn dies könnte vielleicht Manchem zweifelhaft sein. Du aber, wie meinst du? Gut ist es, sagte Kleinias. Wol, sprach ich, und die Weisheit, in welche Reihe wollen ‘wir die stellen? Unter das gute, oder wie meinst du? Unter das gute. Besinne dich nun, dass wir ja nicht vielleicht etwas gutes auslassen, das der Rede werih wäre. Ich denke ja nicht, sagte Kleinias. Da besann ich mich noch, und sprach, Beim Zeus, hätten wir doch bald das grösste unter allen Gütern ausgelassen. Welches doch? fragte er. Das gute Glükk, o Kleinias, welches Alle auch die ganz schlechten für das grösste unter allem guten halten. Du hast Recht, sprach er. Da besann ich mich wieder anders, und sagte, Beinahe hätten wir uns lächerlich gemacht vor diesen Fremden, ich und du, Sohn des Axiochos! Wie denn so? sprach er. Weil wir

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EUTHYDEMOS. 289

das Glükk schon im vorigen gesezt hatten, und nun noch einmal von demselben reden wollten. Wie ist nur wieder dieses? Das ist ja doch lächerlich, sagte ich, was schon lange dasteht noch einmal hinstellen wollen, und zweimal dasselbe sagen. Wie meinst du das aber? sprach er. Die Weisheit ist ja eben gutes Glükk, das kann ja jedes Kind einsehn. Darüber wunderte er sich, so neu und einfältig ist er noch. Und ich, da ich merkte, dass er sich wunderte, sprach, Weisst du etwa nicht, Kleinias, dass im guten Flötenspielen die Flötenspieler die glükklichsten sind? Das gab er zu. Und, sprach ich, im Schreiben und Lesen der Buchstaben die Schulmeister? Freilich. Und wie in Ge- fahren zur See, glaubst du, dass irgend ein Anderer glükklicher ist als ein weiser Steuermann, sobald man im ganzen spricht? Gewiss nicht. Und wie, wenn du zu Felde gezogen wärest, mit weichem von beiden möchtest du am liebsten Gefahr und Glükk theilen, mit einem weisen Heerführer oder mit einem. ungeschikk-

ten? Mit einem weisen. Und wenn du krank wärest, mit wem möchtest du es lieber wagen, mit einem weisen Arzt oder 280 mit einem ungeschikkiten? Mit einem weisen. Nicht wahr,

weil du glaubst besseres Glükk zu haben, wenn du mit einem weisen zu schaffen hast, als wenn mit einem ungeschikkten? Das gab er zu. Die Weisheit also macht, dass die Menschen in allen Dingen Glükk haben. Denn nie wird einer aus Weisheit etwas verfehlen, sondern immer richtig handeln und es erlangen. Denn sonst wäre es ja keine Weisheit mehr. Und so wurden wir am Ende einig darüber, ich weiss nicht wie, überhaupt verhielte es sich immer so, dass wenn Weisheit da wäre, bei wem sie wäre, der keines guten Glükkes weiter bedürfe.. Nachdem wir nun hierin

᾿ übereingekommen, befragte ich ihn, noch einmal um das vorher

eingestandene, wie es wol damit stände. Wir hatten nämlich ein- gestanden, sprach ich, wenn wir viel gutes hätten, dann würden

wir glükkselig sein und uns wol befinden. Das gab er zu. Würden wir also glükkselig sein vermöge des vorhandenen guten, venn es uns nuzie, oder wenn es uns nicht nuzte? Wenn es

uns nuzte, sprach er. Und würde es uns wol nuzen, wenn wir e: nur hätten, und es nicht gebrauchten? Wie wenn wir viel Spei- sen hätten, ässen aber nicht, oder Getränk und tränken nicht, hät- ten wir dann einen Nuzen davon? Nicht füglich, sprach er. Und wie alle Künstler, wenn ihnen alle Erfordernisse zur Hand wären jedem zu seinem Werk, sie bedienten sich deren aber nicht, würden sich diese dann wol befinden und wol handeln vermöge Plat. W. 11. Th. I. Bd, 19

΄

290 EUTHYDEMOS.

dieses Besizes, weil sie doch alles haben, was ein Künstler haben muss? Wie der Zimmermann, wenn der alle Werkzeuge in Bereit- schaft hätte und auch Holz genug, zimmerte aber nicht; hätte er woi irgend Nuzen von seinem Besiz? Ganz und gar keinen, sprach er. Wie nun, wenn Jemand Reichthum besässe und alles gute, dessen wir vorhin erwähnten, gebrauchte es aber nicht; würde der glükkselig sein durch den Besiz dieses guten? Nicht eben, Sokrates. Wer also glükkselig sein soll, sprach ich, der muss, wie es scheint,. dergleichen Güter nicht nur besizen, sondern auch gebrauchen, oder der Besiz wird ihm zu nichts nuz. Du hast Recht. Ist nun dieses etwa schon hinlänglich, Kleinias, um Jemand glükkselig zu machen, dass er das gute habe und gebrauche? Mich dünkt ja. Etwa nur, sprach ich, wenn er es recht ge- braucht, oder auch wenn nicht? Wenn recht. Wol gespro- chen, sagte ich. Denn weit ärger, denke ich, ist es, wenn Jemand irgend etwas unrecht gebraucht, als wenn er es ganz bei Seite lässt. Denn jenes ist übel, dieses aber weder gut noch übel. Oder 23i wollen wir nicht so sagen? Er räumte es ein. Wie nun? in.jener Behandlung und Gebrauch der Hölzer, giebt es da etwas anderes, was den rechten Gebrauch bewirkt, als die Wissenschaft des Zimmerns? Wol nicht, sagte er. Eben so auch wol in der Behandlung der Gefässe ist es das Wissen, was die Richtigkeit »ewirkt. Das dünkte ihn auch. Also auch wol, sprach ich, im Gebrauch der zuerst angeführten Güter, des Reichthums, der Gesundheit nd Schönheit, war es das Wissen, was zum. richtigen Gebrauch aller dieser Dinge die Behandlung derselben anführt und leitet, oder eiwas anderes? Das Wissen, sagte er. Nicht nur gut Glükk also, sondern auch gut Geschäft, wie es scheint, ge- währt die £rkenntniss dem Menschen. bei jedem Besiz und Betrieb. Er gestand es ein. Ist also wol, beim Zeus, sprach ich, irgend ein anderer Besiz etwas nuz ohne Einsicht und Weisheit? Würde wol ein Mensch Vortheil haben, wenn er auch noch so viel besässe und thäte, der keine Vernunft hat? Oder mehr wenn weni- ges, und er Vernunft hat? Ueberlege es nur-so: Würde er nicht, wenn er weniger thäte, auch weniger fehlen? und wenn er weniger fehlte, sich auch weniger schlecht befinden? und wenn er weniger schlecht lebte, auch weniger'elend sein? Gewiss, sagte er. In welchem Falle nun würde einer wol weniger:thun, wenn er arm wäre, oder reich? Wenn arm, sagte er. Und-wenn er schwach wäre oder wenn stark? Wenn schwach. Und wenn ange- sehen oder unangesehen? Wenn unangesehen. Und würde

a TE VE

EUTHYDEMOS. 291

wol ein Tapferer und Besonnener weniger ihun oder ein Feiger? Ein Feiger. Auch ein Träger thäte wol eher weniger als ein Tnätiger? Das räumte er ein. Und ein Langsamer als ein Rehender? und wer schlecht sieht und hört eher als wer scharf? -— Bergleichen alles gaben wir einander zu. Im allgemeinen also, sprach ich, scheint es, o Kleinias, dass von allem insgesammt, was wir zuerst Güter nannten, nicht in der Art könne die Rede sein, als ob es an und für sich von Natur gut wäre, Sondern, wie es scheint, verhält es sich so: Wenn Thorheit darüber gebietet, sind diese Dinge um so grössere Uebel als ihr Gegentheil, je mehr sie im Stande sind, dem Gebietenden, welches ja ein Uebel ist, Dienst zu leisten; wenn aber Einsicht und Weisheit, dann sind sie grössere Güter; an und für sich aber sind weder die einen noch die andern irgend etwas werth. Offenbar, sprach er, scheint es sich zu verhalten, wie du sagst. Was folgt uns nun aus dem gesagten? Etwas anderes, als dass von allem übrigen nichts weder gut ist noch übel, von diesen zweien aber die Weisheit das gute ist und die Thorheit das Uebel? Das gestand er zu. So lass uns, sagte ich, nun auch noch das übrige betrachten. Da wir nämlich glükkselig zu sein Alle streben, und sich gezeigt hat, dass282 wir dies werden durch den Gebrauch der Dinge, und zwar den richtigen Gebrauch, diese Richtigkeit aber und das glükkliche Ge- lingen uns die Erkenntniss zusichert: so muss demnach, wie man sieht, auf jede Weise ein jeder Mensch dafür sorgen, dass er so weise werde als möglich. Oder nicht? Ja, sagte er. So dass er glaubt, hiemit gebühre ihm weit mehr von seinem Vater versorgt zu werden als mit Geld, und von seinen Vormündern und Freunden, andern sowol als solchen, die sich seine Liebhaber nen- nen, und von Fremden sowol als Bürgern, und dass er also bittet und flelit ihm Weisheit mitzutheilen, und es für nichts schändliches oder strafbares hält, o Kleinias, um deswillen dienstbar und unter- worfen zu sein dem Liebhaber sowol als jedem andern Menschen freiwillig zu jedem ehrenvollen Dienst verhaftet, um nur weise zu werden. Oder, sprach ich, dünkt es dich nicht so? Allerdings, sagte er, dünkt mich vollkommen richtig, was du sagst. Wenn nämlich, Kleinias, sprach ich, die Weisheit lehrbar ist, und sich nicht etwa nur von sclbst bei den Menschen einstellt. Denn dies haben wir noch zu erwägen, und es ist noch nichts darüber fest- gesezt zwischen dir und mir. Ich wenigstens, Sokrates, denke dass sie lehrbar ist. Darüber war ich erfreut, und sagte, Sehr schön gesprochen, bester Mann, und sehr wol hast du daran ge- 19"

292 EUTAYDEMOS.

than, mich einer grossen Untersuchung eben dieses Gegenstandes zu überheben, ob nämlich die Weisheit lehrbar ist oder nicht. Nun also, da du glaubst, sowol dass sie lehrbar ist als auch dass sie allein unter allen Dingen den Menschen selig und gjükklich macht, kannst du wol anders als behaupten, dass man die Weisheit su- chen müsse, und selbst auch gesonnen sein dieses zu thun? Allerdings, sagte er, so sehr als irgend möglich. Als ich nun dieses zu meiner Freude vernommen, sprach ich, Dies also wäre mein Beispiel, Dionysodoros und Euthydemos, wie ich wünsche, dass eine ermahnende Rede sein soll, ganz unkünstlerisch vielleicht, und nur mit Noth gar weitläufig zu Stande gebracht. Welcher von euch beiden nun aber will, der zeige sich uns, indem er eben die- ses nach der Kunst thut. Oder wenn ihr das nicht wollt: so zeigt dem jungen Menschen, was nun zunächst darauf folgt, wobei ich stehen geblieben bin, ob er nämlich jede Erkenntniss erwerben muss, oder ob es irgend eine einzelne giebt, welche er bekommen und dadurch glükkselig und zu einem trefflichen Manne werden muss, und welche dies ist. Denn wie ich schon am Anfang sagte, gar viel ist uns daran gelegen, dass dieser Jüngling weise und gut werde.

283 Dies also sagte ich, o Kriton, und war sehr begierig zu sehen was nun hierauf folgen würde, und gab recht Acht, auf welche Art sie die Rede angreifen, und wobei sie anfangen würden, dem Jüngling zuzureden, dass er Weisheit und Tugend üben solle. Der ältere von ihnen also, Dionysodoros, begann zuerst die Rede, und wir Alle sahen auf ihn in der Erwartung, ganz wunderbare Dinge sogleich zu vernehmen. Was uns denn auch begegnete; denn eine ganz bewundernswürdige Rede, o Kriton, begann der Mann, welche dir wol lohnen wird zu hören, wie aufregend zur Tugend die Rede war. Sage mir doch, sprach er, Sokrates und ihr Uebrigen, die ihr zu wünschen äussert, dass dieser junge Mensch weise werden möge, scherzet ihr nur, indem ihr dieses sagt, oder meint und wünschet ihr es wirklich im Ernst? Da dachte ich, sie hätten wol auch zuerst schon geglaubt, dass wir scherzten, als wir sie beide aufforderten, sich mit dem Knaben zu unterreden, und-dass sie eben deshalb mit ihm gescherzt und nichts ernstliches getrie- ben hätten. Weil ich nun dies dachte, betheuerte ich noch kräf- tiger, dass wir es im höchsten Ernste meinten. Da sagte Diony- sodoros, Bedenke dir es wol, Sokrates, dass du nicht hernach läugnen musst, was du jezt sagst. Ich habe es schon bedacht, sprach ich, und es hat keine Noth, dass ich es jemals abläugnen

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EUTHYDEMOS. 293

sollte. Was sagt ihr also, sprach er, ihr wollt, dass er weise werde? Allerdings. Jezt aber, sprach er, was ist wol Klei- nias, weise oder nicht? Nein, sagt er ja selbst, er ist aber, sprach ich, eben kein Prahler. Und ihr, sprach er, wollt, er soll weise werden, und nicht unweise sein? Das gestanden wir ein. Also der er nicht ist wollt ihr, dass er werde; der er aber jezt ist, dass er nicht mehr sei? Als ich das hörte, ge- rieth ich schon ganz in Verwirrung. Er aber benuzte sogleich meine Verwirrung und sagte weiter Aber wenn ihr wollt, dass er nicht mehr sei, der er ist: so wollt ihr ja, wie es scheint, dass er untergehe. Und das sind mir doch vortreffliche Freunde und Liebhaber, welche so über alles darauf ausgehn dass ihr Liebling untergehe. Und als Ktesippos das hörte, verdross es ihn seines Lieblings wegen, und er sagte: Du Thurischer Fremdling, wenn es nicht zu unfein wäre zu sagen: so wollte ich dir auf den Kopf zusagen, was für eine Absicht du dabei hast, mir und den Ändern das anzulügen, was wie ich meine schon zu sagen frevelhaft ist, dass ich wollte, dieser käme um! Wie doch Kiesippos, sprach Euthydemos, glaubst du, es sei möglich zu lügen? Beim Zeus, ja, antwortete er, wenn ich nicht toll bin. Indem man den Ge- genstand ausspricht, von dem die Rede ist, oder indem man ihn

nieht ausspricht? Indem man ihn ausspricht, sagte er. In-284

dem er ihn nun ausspricht, spricht er doch nicht etwas anderes aus von dem was ist, sondern eben jenes was er ausspricht?

Wie anders? sprach Ktesippos. Und jenes, was er ausspricht, gehört doch auch zu dem was ist, und ist Eins davon abgesondert von dem übrigen? Allerdings. Wer also jenes ausspricht,

spricht aus was ist, und wer spricht was ist, der spricht auch wahres, so dass Dionysodoros, wenn er spricht was ist, auch wahr spricht und dir nichts anlügt. Ja, sagte Ktesippos, aber wer das sagt, Euthydemos, der sagt nicht was ist. Darauf sagte Eu- thydeınos, Aber das nichtseiende, nicht wahr, ist nicht? Es ist nicht. Nicht wahr also, das nichtseiende ist nirgend seiend? Nirgend. Kann nun wol Jemand mit diesem nichtseienden ir- gend etwas thun, so dass er jenes mache, wer es auch sei, das nirgend seiende? Mich dünkt wol nicht, sprach Ktesippos. Wie nun die Redner, wenn sie vor dem Volke sprechen, thun sie

nichts? Sie thun allerdings etwas. Und wenn sie thun, so machen sie auch? Ja. Das Sprechen ist also ein Thun und Machen? Das gab er zu. Also spricht auch Niemand das

was nicht ist, denn er machte es alsdann; du aber hast einge-

294 EUTHYDEMOS.

standen, dass Niemand das nichtseiende machen könne. So dass nach: deiner Rede Niemand falsches spricht, sondern, spricht Diony- sodores, so spricht er auch wahres und was ist. Beim Zeus, Euthydemos, sagte Ktesippos, gewissermaassen spricht er freilich von dem was ist, ‘aber nicht so wie es sich verhält. Was sagst du, Kiesippos, sprach Dionysodoros, giebt es welche, die von den ‚Dingen so sprechen, wie sie sich verhalten? Freilich, sagte je- ner, alle Rechtlichen, und die wahr sprechen. Wie nun? ver- hält sich nicht das gute gut und das schlechte schlecht? Das gab er zu. Und rechtliche Leute, behauptest du, sprechen von den Dingen, wie’sie sich verhalten?:— Das behaupte ich. Also schlecht sprechen die Guten vom schlechten, wenn sie so davon sprechen wie es sich verhält? Ja, beim Zeus, sprach jener, gar sehr, von allen schlechten Menschen, unter welche du, wenn du mir folgst, dich hüten wirst zu gehören, damit die Guten nicht schlecht von dir sprechen. Denn das wisse nur, dass die Guten allerdings von den Schlechten schlecht sprechen. Sprechen sie, sagte Euthydemos, etwa auch von den Grossen gross, und von Jen Warmen warm? —- Allerdings freilich, sprach Ktesippos; und ge- wiss sprechen sie auch von den Frostigen frostig, und sagen auch dass ihre Unterhaltung so ist. Du schimpfst, Ktesippos, sprach Dionysodoros, du schimpfst. Beim Zeus, Dionysodoros, ich nicht, sprach Ktesippos; denn ich bin dir gut. Sordern ich ermahne dich nur als Freund, und gebe mir Mühe dich zu bewegen, dass du nie wieder in meiner Gegenwart so ungeschliffen sagen mögest, 285ich wollte, dass diejenigen umkämen, die ich am höchsten achte. Da mir nun schien, als würden sie zu heftig gegen einander: sc machte ich einen Scherz mit dem Kiesippos, und sagte, Mich dünkt. Ktesippos, wir sollten von den Fremden annehmen was sie sagen, wenn sie uns davon mittheilen: wollen, und uns nicht um Worte streiten. Denn wenn sie verstehen, Menschen auf solche Weise untergehen zu lassen, dass sie sie aus schlechten und un- vernünftigen zu guten und vernünftigen machen; mögen sie nun einen solchen Tod und Untergang selbst erfinden oder von Andern gelernt haben, dass sie einen als einen Schlechten untergehn und als einen Guten wieder hervorkommen lassen; wenn sie dies ver- stehen, und offenbar verstehen sie es, denn sie sagten ja, dies wäre ihre neuerdings erfundene Kunst, die Menschen aus Schlech- ten zu Guten zu machen: so wollen wir ihnen beiden dies zuge- stehen. Mögen sie uns den Knaben umbringen und ihn dann vernünftig machen und uns übrige insgesammt dazu. Wenn aber

TEC EEE .. . -

EUTHYDEMOS. 295

ihr Jüngeren euch fürchtet: so mag wie am Karier an mir der Versuch gemacht werden. Denn ich, da ich ohnedies schon alt bin, bin bereit die Gefahr zu bestehen, und übergebe mich hier dem Dionysodoros wie «der Kolchischen Medeia; er bringe mich um, ja er koche mich wenn er will, und alles was er will soll ihm freistehn, nur bringe er mich als einen guten wieder zum Vorschein. Barauf sagte Ktesippos, Auch ich, o Sokrates, bin bereit mich den Fremden hinzugeben, sogar, wenn sie wollen, mich zu gerben, ärger als sie es schon jezt thun, wenn nur am Ende . nicht aus meinem Fell wie aus des Marsyas ein Schlauch wird, sondern Tugend. Dionysodoros glaubt freilich, ich wäre ihm böse; ich bin ihm aber gar nicht böse, sondern ich widerspreche ihm nur auf das, was er, gar nicht schön wie mich dünkt, gegen mich gesagt hat. Also Dionysodoros, fuhr er fort, nenne das Wider- sprechen nicht Schimpfen; denn Schimpfen ist ganz eiwas anderes. Darauf fiel Dionysodoros ein, Also, Kiesippos, du redest, als gäbe es wirklich ein Widersprechen? Allerdings, sagte er, gar sehr. Und du, Dionysodoros, glaubst etwa nicht, dass es ein Wi- dersprechen giebt? Du wirst doch gewiss nicht zeigen können, sagte jener, dass du je gehört hast Einen dem Andern widerspre- chen! Ganz recht, sagte er, aber lass uns hören, ob ich dir nieht jezt zeige, dass Ktesippos dem Dionysodoros widerspricht. _- Willst du mir also hierüber Rede stehen? Gern, sagte er. Wie also, sprach jener, man kann doch über alle Dinge sprechen? Allerdings. Doch wie jedes ist, oder auch: wie es nicht ist? Wie es ist. Denn wenn du dich erinnerst, haben wir auch 286 nur eben gezeigt, dass Niemand spricht, wie etwas nicht ist. Und was soll das? sprach Ktesippos, widersprechen wir einander deshalb weniger, ich und du? Etwa denn, fragte jener, werden wir einander widersprechen, wenn wir beide wissen, was tiber die Sache zu sagen ist? oder würden wir in diesem Falle doch gewiss einerlei sagen? Das räumte er ein. —- Aber wenn keiner von uns sagt, was über die Sache zu sagen ist, würden wir dann ein- ander widersprechen? oder würde ja so überhaupt der Sache gar nicht erwähnt von keinem von uns? Auch das gab er ebenfalls zu. -— Also etwa, fuhr er fort, wenn ich sage, was über diese Sache zu sagen ist, du aber, was über eine andere, widersprechen wir dann wol einander? Oder spreche ich dann zwar von der Sache, du aber sprichst ganz und gar nicht davon? und wie kann nun wol, wer gar nicht von etwas spricht, dem widersprechen, der davon spricht? Hierauf schwieg Ktesippos. Ich aber war

296 EUTHYDEMOS.

verwundert über die Rede und sprach, Wie meinst du das, Diony- sodoros? denn ich habe diese Rede schon von gar Vielen gehört und wundere mich immer darüber. Denn schon die Schule des Protagoras bediente sich dieses Sazes gar sehr, und noch ältere, Mich aber dünkte es immer eine ganz wunderliche Sache damit zu sein, und dass er nicht nur alle andern umstösst, sondern auch sich selbst. Ich glaube aber, dass ich die eigentliche Bewandtniss davon durch dich aım besten erfahren werde. Nicht wahr, man kann nicht falsches sprechen, dies besagt eigentlich der Saz? Nicht so? Sondern man spricht entweder, und dann auch wahres, oder man spricht nieht? Er gab zu, dass es so wäre. Soll nun etwa falsches zu sprechen zwar nicht möglich sein, vorzustellen aber wol möglich? Auch nicht vorzustellen, sagte er. Also, sprach ich, giebt es auch überall keine falsche Vorstellung? Nein, sagte er. Also auch keinen Unverstand und keine unver- ständigen Menschen? Oder wäre nicht eben das der Unverstand, wenn es welchen gäbe, das Sich irren an den Gegenständen? Freilich, sagte er. Dies aber findet nicht Statt? fragte ich. Nein, sagte er. Sagsi du nun dies etwa nur um zu reden, Dionysodoros, und um etwas wunderliches zu sagen? oder denkst du in der That, dass kein Mensch unverständig ist? So wider- lege du es, sagte er. Findet das denn Statt nach deiner Mei- nung, sprach ich, Widerlegen, wenn sich doch Niemand irrte? Das findet nicht Statt, sagte Euthydemos. Auch hiess ich dir jezt nicht mich widerlegen, sagte Dionysodoros; denn wie könnte Jemand etwas fordern was nicht ist! O Euthydemos, sprach ich, diese überweisen und vorirefflichen Dinge lerne ich freilich nicht recht; aber ich merke doch bald so etwas darin. Vielleicht werde ich dich daher etwas beschwerliches fragen, allein verzeihe es mir; sieh aber. Denn wenn man weder unwahres sprechen kann, noch unrichtiges vorstellen, noch unverständig sein, nicht wahr, so kann 287 man ja auch nicht fehlen, wenn man eiwas thut? Denn was einer thut, das kann er doch nicht verfehlen indem er es thut. Meint ihr es nicht so? Freilich, sagte er. Und hier kommt nun, sprach ich, meine beschwerliche Frage. Denn wenn wir gar nicht fehlen weder im Handeln noch im Reden noch im Denken, wenn sich dies so verhält: so sagt:doch, beim Zeus, ihr, als wessen Lehrer seid ihr denn hieher gekommen? Oder sagtet ihr nicht eben, ihr verständet am besten jedem Menschen, der nur lernen wollte, Tugend mitzutheilen? Also, Sokrates, nahm Dionysodoros das Wort, bist du so altväterisch, dass du jezt wieder vorbringst,

EUTHYDEMOS. 297

was wir vorher sagten? Auch wenn ich vor dem Jahre etwas ge- sagt hätte, würdest du es wieder vorbringen; mit dem aber, was gegenwärtig gesprochen wird, weisst du nichts anzufangen?

, Es ist eben sehr schwer, sagte ich. Ganz natürlich; wird es doch von weisen Männern gesprochen. Denn auch mit diesem lezten ist sehr schwer etwas anzufangen, was du eben sagtest. Nämlich

eben dieses, Ich weiss nichts damit anzufangen, wie meinst du dies, Dionysodoros? offenbar doch wol so, dass ich es nicht zu widerlegen weiss? Oder sage was diese Redensart dir sonst sagen will, Nicht wissen, was man mit einer Rede anfangen soll? Aber, was du da sagst, sprach er, damit ist gewaltig schwer etwas

anzufangen. Antworte mir! Ehe du geantwortet hast? fragte ich. Antwortest du nicht? sprach er. Ist das wol recht so? sprach ich. Ganz recht, antwortete er. Aus welchem Grunde

doch? sprach ich. Oder offenbar aus dem, dass du jezt als ein hochweiser Mann im Reden zu uns gekommen bist, und gar wol weisst, wenn man antworten muss, und wenn nicht; und eben da- her auch jezt nicht das mindeste antwortest, wol wissend, dass du es jezt nicht musst. Du schwazest, sagte er, und denkst nicht ans Antworten. Allein, du Guter, gehorche hübsch und antworte, da du doch zugiebst, dass ich weise bin. Ich werde wol müs- sen, wie es scheint, sprach ich; denn du hast zu befehlen, also frage nur. Also was etwas sagen will, muss das eine Seele haben, oder will auch das unbeseelte etwas sagen? Es muss eine Seele haben. Kennst du also etwa, sprach er, eine Redens- art, die eine Seele hat? Beim Zeus, ich nicht. Wie konntest du also nur eben fragen, was mir wol die Redensart sagen wollte? Wie anders, sprach ich, als dass ich gefehlt habe aus Dumm- | heit! Oder habe ich nicht gefehlt, und war auch das recht gesagt, dass die Redensart etwas sagen wollte? Was meinst du, habe ich gefehlt oder nicht? Denn habe ich nicht gefehlt, so wirst du mich auch nicht widerlegen, wiewol du’ sehr weise bist, und weisst dann auch nichts mit der Rede anzufangen. Habe ich aber gefehlt: so hast du auch so nicht Recht, indem du ja behauptest, man könne nicht fehlen. Und das geht nicht gegen etwas, was du vor dem Jahre gesagt hast. Also, Dionysodoros und Euthydemos, scheint 288 dieser Saz immer auf demselben Flekk zu bleiben, und noch im- mer wie vor alten Zeiten indem er umwirft mitzufallen; und da- gegen, dass ihm dies nicht begegne, scheint nicht einmal eure Kunst ein Mittel ausgefunden zu haben, die doch so ganz bewun- dernswürdig ist in der Genauigkeit des Redens. Darauf sagte

an τ Ὁἱν.

298 EUTHYDEMOS.

Ktesippos, Wunderliche Dinge redet ihr Thurischen Männer oder Chiischen, oder woher und wie ihr sonst am liebsten möget ge- nannt werden, denen so gar nichts darauf ankommt, Unsinn zu ‘reden. Da besorgte ich, es möchte ein Zank entstehen, und besänftigte den Ktesippos wieder, und sagte, Ktesippos, was ich nur eben zum Kleinias sagte, eben dasselbe sage ich auch zu dir, du begreifst nur die Weisheit dieser Fremälinge nicht, wie-bewun- dernswürdig sie ist, und wie sie nur noch nicht Ernst machen wollen,‘ sie uns zu zeigen, sondern den Proteus nachahmen, den Aegyptischen Sophisten, und uns bezaubern. Wir also wollen den Menelaos nachahmen, und nicht ablassen von den Männern, bis sie uns das sehen lassen, womit es ihnen Ernst ist. Denn ich glaube, sie werden uns etwas gar herrliches erscheinen lassen, wean sie erst anfangen Ernst zu machen. Also wollen wir sie bitten und flehen und ihnen zureden, dass sie es uns sehen lassen.

Daher, denke ich, will ich ihnen selbst noch einmal vorzeich- nen, wie ich wünsche, dass sie uns erscheinen mögen. Wo ich nämlich vorber stehen blieb, von da will ich versuchen, ihnen das folgende so gut ich kann durchzunehmen, ob ich sie etwa damit herauslokke, dass sie aus Mitleid und Erbarmen mit mir, wie ich mich anstrenge und es ernstlich nehme, auch selbst Ernst machen. Du aber, Kleinias, sprach ich, erinnere mich doch wo wir vorher stehen blieben. Wie ich glaube dabei: man müsse die Weisheit suchen und philosophiren, wurde zulezt fesigesezt. Nicht wahr? Ja, sagte er. Die Philosophie aber ist der Besiz einer Er- kenniniss. Nicht so? sprach ich. Ja. Was für eine Erkennt- niss müssen wir aber wol haben, um. die rechte zu haben? Ist nicht soviel wenigstens ganz unbedingt gewiss, dass es diejenige sein muss, die uns etwas nuzt? Freilich, sagte er. Würde es uns nun etwas nuzen, wenn wir verständen herumzugehn und zu erkennen, wo das meiste Gold vergraben ist? Vielleicht, sagte er. Aber vorher, sprach ich, haben wir doch dieses er- wiesen, dass es uns nichts hülfe wenn auch ohne weiteres, und ohne erst in der Erde zu graben, uns alles zu Gold würde; so dass wenn wir auch die Steine wüssten zu Gold zu machen, diese Erkenntniss uns nichts werth wäre. Denn wenn wir nicht auch

285 wüssten, das Gold zu brauchen: so würde es uns, wie sich ge- zeigt hatte, gar nichts nuz sein. Oder erinnerst du dich dessen nicht? sprach ich. Sehr wol, sagte er, erinnere ich mich dessen. Eben so wenig, wie es scheint, werden die übrigen Erkennt- nisse uns zu etwas nuz sein, weder die Erwerbkunst noch die

ρεΞ δὲ ναι

EUTHYDEMOS. 299

Heilkunst noch sonst irgend eine, welche etwas hervorzubringen weiss, nicht aber auch das zu gebrauchen, was sie hervorgebracht hat. Nicht so? Er stimmte ein. Ja, auch nicht einmal wenn

.es eine Kunst gäbe unsterblich zu machen, ohne dass man wüsste

die Unsterblichkeit zu gebrauchen: so scheint, auch nicht einmal diese würde etwas nuz sein, wenn man aus dem eingestandenen schliessen darf. Ueber alles dieses kamen wir überein. Einer solehen Erkenntniss also bedürfen wir, schöner Knabe, sprach ich, in welcher das Hervorbringen und das Gebrauchenwissen des her- vorgebrachten beides zusammenfällt. Das scheint wol, sagte er. Weit gefehlt also, dass wir müssten Kitharenmacher sein, und nach einer solchen Erkenntniss trachten. Denn hier ist bei deni- selben Gegenstand die hervorbringende Kunst für sich und die ge- brauchende auch für sich, jede abgesondert von der andern. Denn die Kunst, eine Kithare zu machen, und die, sie zu spielen, sind ganz verschieden von einander. Nicht so? Er bejahete es. Auch des Fiötenmachens also bedürfen wir wol nicht; denn damit ist es wieder eben so? Das dünkte ihn auch. Aber bei den Göttern, sprach ich, wenn wir nun die Kunst Reden zu machen lernten, ob diese es etwa ist, durch welche wir glükkselig sein müssten, wenn wir sie besässen? Das denke ich wol nicht, fiel mir Kleinias ein. Aus welchem Grunde? sprach ich. Ich sehe, sagte er, einige Redenmacher, welche ihre eignen Reden, die sie machen, nicht zu gebrauchen wissen, eben wie die Kitharenmacher

ihre Kitharen; sondern auch hier sind Andere geschikkt, das was ‘jene verfertiget haben zu gebrauchen, welche selbst ihrerseits des

Redenmachens unkundig sind. Offenbar also ist auch bei den Re- den abgesondert die Kunst des Verfertigens von der des Gebrauchs. Du scheinst mir einen hinlänglichen Grund angegeben zu haben,

. sprach ich, dass die Kunst der Redenmacher nicht diese sein kann,

durch deren Besiz einer glükkselig würde. Wiewol ich dachte, hier würde sich uns gewiss die Erkenntniss zeigen, die wir so lange schon suchen. Denn sowol die Männer selbst, die Reden- schreiber, o Kleinias, wenn ich unter ihnen bin, dünken mich im- mer gar weise; als auch ihre Kunst eine gar göttliche und erha- bene. Und das ist auch kein Wunder; denn sie ist ein Theil der Beschwörungskunst, nur um ein weniges beschränkter als jene.

Denn die Beschwörungskunst ist eine Besänftigung der Schlangen, 290

Spinnen, Skorpione und anderer Tbiere und Uebel, jene aber ist für Richter und Gemeindemänner und andere Versammlungen die Besänftigung und Besprechung. Oder, sprach ich, dünkt es dich

΄

300 EUTHYDEMOS.

anders wie? Nein, sagte er, sondern so leuchiet es mir ein, wie du es vorträgst. Wohin also, sprach ich, können wir uns noch wenden, zu welcher Kunst? Ich weiss keinen Rath, sagte er. Aber ich, sprach ich, glaube sie. gefunden zu haben. Was für eine, fragte Kleinias? Die Kriegskunst nämlich dünkt mich vor jeder andern die zu sein, deren Besiz glükkselig macht. Das scheint mir doch. nicht. Wie so? fragte ich. Sie ist ja wol eine Kunst, Jagd zu machen auf Menschen? Nun? und weiter? sprach ich. Keine Art der Jagd aber, sprach er, geht doch auf etwas weiteres als eben auf das Erjagen und Einfangen. Haben sie aber eingefangen was sie jagten: so sind sie selbst nicht im Stande es zu gebrauchen; sondern die Jäger und Fischer über- geben es den Köchen, die Messkünstler aber und Rechner und Sternkundigen, nämlich auch diese sind Jagende, weil sie ja ihre Figuren und Zahlenreihen nicht machen, sondern diese sind schon, und sie finden sie nur auf, wie sie sind; wie also nun diese auch nicht selbst verstehn sie zu gebrauchen, sondern nur zu jagen: so übergeben sie, so viele ihrer nicht ganz unverständig sind, ihre Erfindungen den Dialektikern, um Gebrauch davon zu machen. Wol, sprach ich, du schönster und weisester Kleinias! verhält sich dies so? Freilich, sagte er, und die Heerführer, wenn sie eine Stadt erjagt haben oder ein Heer, übergeben es ja auf dieselbe Weise den Staatsmännern. Denn sie selbst wissen das nicht zu gebrauchen, was sie erjagt haben, eben wie die Wachtelfänger, meine ich, den Wachtelmästern ihren Fang übergeben. Wenn wir also, fuhr er fort, eine solche Kunst gebrauchen, welche, was sie, es sei nun hervorbringend oder auffindend, erworben hat, auch selbst zu gebrauchen weiss, und eine solche nur uns glükkselig machen kann: so müssen wir, sprach er, eine andere suchen als die Kriegskunst.

Kriton. Was sagst du, Sokrates? So hätte dieser Knabe ge- sprochen ?

Sokrates. Glaubst du es nicht, Kriton?

Kriton. Nein, beim Zeus, denn ich denke, -wenn er das ge- sagt hätte, bedürfte er weder des Euthydemos noch sonst irgend eines Menschen zu seiner Unterweisung. |

Sokrates. Ob etwa, beim Zeus, der Ktesippos es war, der es sagte, und ich entsinne mich nur nicht recht?

Kriton. Was doch Ktesippos!

291 Sokrates. Aber das weiss ich doch, dass es weder Dionyso- doros war noch Euthydemos, der das sagte. Oder, bester Kriton,

EUTHYDEMOS. 301

war auch etwa ein ganz Anderer dabei, der dies gesprochen hat? Denn dass ich es gehört habe, weiss ich doch ganz gewiss.

Kriton. Ja, beim Zeus, Sokrates, ein ganz Anderer muss es wol gewesen sein, und ein weit Besserer. Aber was für eine Kunst suchtet ihr nun-noch nach diesen? und habt ihr jene ge- funden oder habt ihr sie nicht gefunden, nach der ihr suchtet?

Sokrates. Woher, Bester, sollten wir sie gefunden haben? Sondern wir machten uns ganz lächerlich. Wie die Kinder, welche den Schwalben nachlaufen, glaubten wir jede Wissenschaft nun gleich zu fangen, und dann flogen sie uns immer weg. Was 50} ich dir von den andern allen erst erzählen? Aber als wir an die königliche Kunst kamen und diese in Betrachtung zogen, ob sie etwa die wäre, welche Glükkseligkeit gewährt und bewirkt: so ge- riethen wir eben da erst in ein neues Labyrinth, und wo wir glaubten am Ende zu sein, mussten wir wieder umwenden, und befanden uns wie am Anfang der Untersuchung, indem uns noch immer eben soviel fehlte, als da wir zuerst die Frage aufwarfen.

Kriton. Wie ist euch das doch begegnet?

Sokrates. Das will ıch dir erklären. Eine und dieselbe schie- nen uns diese beiden zu sein, die Staatskunst und die königliche Kunst.

Kriton. Und weiter.

Sokrates. Und dass dieser Kunst die Kriegskunst und die übrigen die Werke, welche sie verfertigen, in ihre Gewalt über- geben, als welche allein wisse sie zu gebrauchen. Ganz klar also schien sie uns die zu sein, die wir suchten, und die Ursach alles Richtighandelns im Staate, ja recht nach des Aischylos Vers alles lenkend sie allein am Steuer zu sizen des Staats und über alles herrschend alles nüzlich zu machen.

Kriton. Und war das nicht ganz recht gedacht, Sokrates?

Sokrates. Du sollst es richten, Kriton, wenn du auch hören willst, wie es uns nach diesem erging. Wir überlegten es nämlich auch wiederum so. Wolan, diese alles beherrschende königliche Kunst, was für ein Werk bewirkt sie uns denn? Oder etwa keines? Ganz gewiss doch eins, sagten wir zu einander. Hättest du nicht auch so gesagt, Kriton ?

Äriton. Ich gewiss.

Sokrates. Was, würdest du also sagen, wäre ihr Werk? Wie wenn ich dich fragte, indem die Heilkunst nun alles regiert, was sie zu regieren hat, was für ein Werk schafft sie uns? Würdest du nicht antworten, die Gesundheit?

902 EUTHYDEMOS.

Kriton. Ich gewiss.

Sokrates. Und eure Kunst, die Landwirthschaft, wenn die alles regiert, was sie zu regieren hat, was bewirkt sie uns? Wür-

292 dest du nicht sagen, sie verschaffe uns die aus der Erde hervor- gehende Nahrung?

Kriton. Ja.

Sokrates. Wie also die königliche Kunst? wenn sie alles re- giert, worüber sie zu reßieren hat, was bewirkt sie? Vielleicht weisst du nicht sonderlich etwas zu sagen.

Kriton. Nein, beim Zeus.

Sokrates. Auch wir nicht, Kriton. Allein soviel weisst du doch, dass wenn sie die ist, die wir suchen, sie uns nüzlich sein muss?

Kriton. Gewiss.

Sokrates. Also muss sie uns doch eiwas gutes verschaffen?

Kriton. Nothwendig, Sokrates. |

Sokrates. Und gut, waren wir übereingekommen, ich und Kleinias, sei nichts anders als eine gewisse Erkenntniss.

Kriton. Ja, so sagtest du.

Sokrates. Und nicht wahr alles andere, was man als Werke der Staatskunst nennen könnte, und deren wären nun viele, als die Bürger reich zu machen, und frei und ruhig, alles dieses haite sıch gezeigt als weder gut noch böse. Weise aber musste 516. uns machen und Erkenntniss mittheilen, wenn sie die nuzen- schaffende sein soll und die glükkselig machende.

Kriton. So ist es. Wenigstens damals hattet ihr dies fest- gesezt, nach dem was du von dem Gespräch erzählt. hast.

Sokrates. Macht also wol die königliche Kunst die Menschen weise und gut?

Kriton. Warum nicht, Sokrates?

Sokrates. Aber etwa Alle und gut zu allem? und ist sie es etwa die alle Erkenntniss, auch die von der Lederbereitung und vom Zimmern, und alle die andern verleiht?

Kriton. Das glaube ich nicht, Sokrates. .

Sokrates. Also was denn für eine Erkenniniss? mit der wir was doch anfangen? Denn auf alle jene Werke soll sie sich nicht verstehen, die weder gut noch böse sind, und auch keine andere Erkenntniss mittheilen, als nur sich selbst. So müssen wir doch sagen, was sie ist, und was wir mit ihr anfangen? Sollen wir also etwa sagen, die wodurch wir Andere gut machen?

Kriton. Gewiss.

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EUTHYDEMOS. 303

Sokrates. Und wozu sollen uns diese gut sein? und wozu nüzlich? Oder sollen wir noch weiter sagen, diese sollen wieder Andere gut machen, und die wieder Andere? Worin sie aber gut sind, das wird uns nirgends zum Vorschein kommen, da wir ja

alles, was für ein Werk der Staatskunst gehalten wird, verworfen’

haben. Also wird dies offenbar, wie man sagt, das ewige Einerlei, und wie ich sagte, es fehlt uns noch eben so viel, oder gar mehr als zuvor daran, dass wir wüssten, welches doch jene Erkenntniss ist, die uns glükkselig machen würde.

KÄriton. Beim Zeus, Sokrates, wie es scheint, seid ihr in grosse Verlegenheit gerathen?

Sokrates. Deshalb auch, Kriton, weil ich in diese Verlegen-

heit gerathen war, ging ich durch alle Töne, und bat die Fremd-'

linge und flehte sie an wie die Dioskuren, uns zu retten, mich und den jungen Menschen aus dieser Brandung unseres Gesprächs, und nun auf alle Weise Ernst zu machen, und uns im Ernst zu zeigen, weiches doch die Erkenntniss ist, die wir erlangen müss- ten, um das übrige Leben schön zu verbringen.

Kriton. Und wie? verstand Euthydemos sich dazu, sich hier- über hören zu lassen?

Sokrates. Wie sollte.er nicht? und begann gar vornehm seine Rede so.

Soll ieh dieh, o Sokrates, diese Erkenntniss, über welche ihr schon so lange in Verlegenheit seid, lehren, oder soll ich dir zei- gen, dass du sie hast? Ο Glükkseliger, sprach ich, hängt denn dies von dir ab? Freilich, sagte er. Nun so zeige mir, beim Zeus, sprach ich, dass ich sie schon habe; denn das ist ja weit leichter, als wenn ich alter Mann sie erst noch lernen sollte. Wolan denn, so antworte mir, sprach er. Weisst du wol eiwas?

Freilich, sagte ich, und recht viel, Kleinigkeiten wenigstens. Das

genügt, sprach er. Dünkt dich nun möglich, dass irgend etwas das, was es ist, zugleich auch nicht sei? Nein, sondern un- möglieb Und du, sprach er, weisst doch etwas? Ja. Also bist du wissend, wenn du weisst? Ja freilich, um dieses. Einerlei. Aber bist du nicht gezwungen, alles zu wissen, wenn du wissend bist? Nein bei Gott, sagte ich, da ich ja so vieles andere nicht weiss, Also, wenn du etwas nicht weisst, bist du nicht- wissend? Ja, um jenes wol, Lieber, sprach ich. Bist du des- halb weniger nichtwissend, und eben sagtest du, du wärest wis- send? und so bist du was du bist, und bist es auch wieder nicht, ganz auf dieselbe Weise? Wol, sprach ich, Euthydemos. Denn

ἑῷ

93

304 EUTHYDEMOS.

bei dir ist doch einmal Alles schön gesprochen, wie man zu sagen pflegt. Wie besize ich also jene Erkenntniss, welche wir suchten, weil nun also unmöglich ist, dass man dasselbe sei und nicht sei? Nämlich wenn ich Eins weiss, weiss ich alles; denn ich kann ja nicht zugleich wissend sein und nichtwissend. Wenn ich aber alles weiss: so habe ich also auch jene Erkenntniss? Meinst du es so, und ist das die Weisheit davon? Du widerlegst dich ja selbst, Sokrates, sagte er. Und wie, Euthydemos? sprach ich, befindest du dich nicht ganz in demselben Falle? Ich meines Theils, was mir auch immer begegne mit dir gemeinschaftlich und mit unserm Dionysodoros dem theuren Haupte, das soli mich gar nicht ver- driessen. Sage mir doch, wisst ihr nicht auch einiges und ande- res nicht? Keinesweges, Sokrates, sagte Dionysodoros. Wie meint ihr? sprach ich. Also wisst ihr etwa nichts? wol, sprach er. Alles also, sprach ich, wisst ihr, wenn doch irgend 294etwas? Alles, sagte er, und du ebenfalls, wenn du auch nur Eins weisst, weisst alles. Zeus, sprach ich, was sagst du wunderbares, und welch grosses Gut kommt da ans Licht! Und wissen etwa auch alle ändern Menschen alles oder nichts? Sie können ja doch nicht, sagte er, einiges wissen und anderes nicht wissen, und so zugleich wissend sein und nichtwissend. Son- dern wie ist es nun? fragte ich. Alle, sagte er, wissen alles, sobald sie Eins wissen. O0, um der Götter willen, Dionysodoros, sprach ich, denn nun sehe ich offenbar, dass ihr es im Ernst meint, und dass ich euch endlich dahin gebracht habe, Ernst zu machen, ihr Zwei also wisst in der That alles; wie zimmern und gerben? Freilich, sagte er. Aüch schustern? Auch, beim Zeus, und Schuhflikken dazu. Etwa auch dergleichen, wieviel Sterne es giebt, und wieviel Sand? Freilich, sagte er. Also du glaubtest wol wir würden dies nicht bejahen? Da nahm Kte- sippos das Wort und sagte: Um Zeus willen, Dionysodoros, zeige mir doch einen Beweis hievon, woran ich erkennen kann, dass ihr die Wahrheit redet. Was soll ich dir zeigen? sprach er. Weisst du, wieviel Zähne Euthydemos hat, und. Euthydemos, wie- viele du? Ist es dir nicht genug, sprach nun jener, zu hören, dass wir alles wissen? Keinesweges, sagte er, sondern dieses Eine wenigstens beantwortet, und zeigt dass ihr die Wahrheit re- det. Und wenn ihr sagt jeder, wieviel der Andere hat, und es sich zeigt dass ihr es wusstet, wenn wir sie hernach zählen: so wollen wir euch dann auch das übrige glauben. Da sie nun dachten, er triebe Spott, so wollten sie nicht; sondern blieben nur

EUTHYDEMOS. 305

immer dabei, sie wüssten alle Dinge, wie Ktesippos sie einzeln darum befragte. Denn der hatte es nun gar kein Hehl mehr, und ich weiss nicht, wonach er sie zulezt nicht fragte, auch nach dem allerunschikklichsten, ob sie es auch wüssten. Sie aber gingen immer ganz dreist auf die Fragen los, eingestehend, sie wüssten es, wie die wilden Schweine die auf das Messer auflaufen. So dass auch ich, o Kriton, zulezt aus Unglauben mich nicht enthalten konnte den Euthydemos zu fragen, ob Dionysodoros auch das Tan- zen verstände? Und er sagte, allerdings. Doch nicht auch den Messertanz, fragte ich, und das Scheibendrehen in seinem Alter? so weise ist er doch nicht? —- Nichts, sprach jener, was er nicht könnte. Und, sprach ich, wusste er etwa nur jezt alles, oder aueh immer? Auch immer. Auch als ihr kleine Kinder waret und gleich nach eurer Geburt wusstet ihr es? Auch da alles, sagten sie beide zugleich. Und uns dünkte das Ding unglaublich zu sein. Da sagte Euthydemos: Du glaubst es ᾿ wol nicht, Sokrates? Nur, sprach ich, das sehe ich wol, dass295 ihr weise Männer seid. Aber, sagte er, wenn du mir antworten - willst, will ich zeigen, dass auch du diese wunderbaren Dinge von dir eingestehst. O, sprach ich, das wird mir grosse Freude machen, dessen überführt zu werden. Denn wenn’ ich, ohne es gewusst zu haben, weise bin, und du mir dieses zeigen kannst,

] dass ich alles weiss und immer, was für einen grösseren Fund

| könnte ich thun in meinem ganzen Leben? Antworte also, sagte

f er. Frage nur, sprach ich, ich will gewiss antworten. Bist

! du irgend um einiges wissend, Sokrates, oder nicht? Das bin

j ich. Und womit du wissend bist, eben damit weisst du auch? oder mit etwas anderem? Eben damit, sagte ich. Denn ich

denke doch, du meinst die Seele, oder meinst du die nicht? Schämst du dich nicht, Sokrates? sprach er, du bist der Gefragte und machst Gegenfragen? Gut, sprach ich. Aber wie soll ich ‘es machen? Ich will es gern so machen, wie du befiehlst. Wenn ich also nicht weiss was du fragst, befiehlst du, dass ich dann

dennoch antworten soll, und nicht nachfragen? Du denkst dir [ doch etwas bei dem was ich frage? sagte er. ---- ja. Nun so antworte, sprach er, nach dem was du dir dabei denkst. Wie

aber, fragte ich, wenn du nun etwas anderes bei deiner Frage im

Sinne hattest und ich wieder etwas anderes dabei denke, und in

Beziehung hierauf antworte, wirst du denn zufrieden damit sein,

wenn ich, was gar nicht zur Sache gehört, antworte? Ich wol,

sprach er, aber du freilich nicht, wie ich glaube. Nun so will Plat. W. II Th. 1. Ba. 20

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806 EUTHYDEMOS.

ich, beim Zeus, nicht eher antworten, sprach ich, bis ich es ge- hörig erforscht habe. Du willst, sagte er, nur deshalb nieht 50 antworten, wie du es jedesmal verstanden hast, weil du faselst und alberner bist als sich schikkt. Da merkte ich, dass er mir böse war, weil ich das gesagte aus einander sezte, da er mich mit Worten umstellen und fangen wolite. Und ich dachte an den Konnos, wie der mir auch jedesmal böse ist, wenn ich ihm nicht folge, und. sich dann weniger Mühe mit mir giebt, weil er mich für ungelehrig hält. Da ich nun im Sinne hatte, auch bei diesen zur Schule zu gebn: so glaubte ich folgen zu müssen, damit sie mich nicht für widerspenstig hielten, und mich abwiesen. Ich sagte also: Nun, wenn du meinst, Euihydemos, dass ich es so machen soll: so will ich es so machen. Denn wie man die Un- tersuchung im Gespräch führen. muss, verstehst ja auf alle Weise du kunstreicher Mann besser als ich Ungelehrter. Frage mich also noch einmal von Anfang. So antworte noch einmal, sprach er, ob du mit etwas weisst was du weisst, oder nicht? Ja, sagte ich, mit der Seele. Schon wieder, sagte er, sezt der Mann 296etwas hinzu zur Antwort auf die Frage. Ich frage ja nicht, womit du weisst, sondern nur ab mit etwas? Da habe ich schon wie- der, sprach ich, mehr als ich sollte geantworiet aus Ungeschikk. Aber verzeihe es mir, ich will auch nun ganz schlicht antworten, dass ich immer mit etwas weiss was ich weiss. Auch immer, sprach er, mit demselbigen, oder bisweilen mit diesem, bisweilen mit etwas anderem? Immer, wenn ich weiss, sprach ich, mit diesem. Wirst du denn niemals, sagte er, aufhören hinzuzu- sezen? Dass uns sonst nur nicht dieses Immer einen Streich spiele. Uns gewiss nicht, sagte er; sondern wenn ja, 50 ge- schieht es dir. Also antworte. Weisst du immer mit demselbigen? Immer, sprach ich, da doch nun das Wenn weg soll. Also immer weisst du hiemit; und immer wissend weisst du etwa eini- ges hiemit, womit du weisst, anderes mit etwas anderem? oder alles hiemit? Hiemit, sprach ich, alles insgesammt, was ich nur

weiss. Da haben wir es! sagte er, schon wieder kommt der- selbe Zusaz. Ich nehme es schon wieder zurükk, sprach ich, dieses Was ich nur weiss. Gar nichts, sagte er, sollst du da-

von zurükknehmen; ich verlange es gar nicht. Antworte mir nur. Könntest du wol alles insgesammt wissen, wenn du nicht alles wüsstest? Das wäre freilich ein Wunder! sagte ich. Darauf sagte er: Nun seze immer hinzu, was du nur willst! hast du doch eingestanden, dass du alles wüsstest. So scheint es, sprach ich;

EUTHYDEMOS. 307

wenn nämlich dies gar nichts bedeuten soll, das Was ich nür weiss, so weiss ich freilich alles. Also hast du auch eingestan- den, dass du immer weisst mit demselbigen womit du weisst, sei’s auch wenn du weisst oder wie du sonst willst, du hast doch ein- gestanden, -dass du immer weisst und auch alles. Also ist offen- bar, dass du auch wussitest als du ein Kind warest, und als du geboren und. gezeugt wurdest, ja auch ehe du warest und ehe Himmel und Erde war, wusstest du alles insgesammt, wenn du immer. weisst. Und wirst auch, beim Zeus, immer wissen, und alles insgesammt, wenn ich nur will. Möchtest du es dann im- | mer wollen, du vielverehrter Euthydemos! sagte ich, wenn du an- ders in der That Recht hast. Aber ich traue dir nicht recht, dass du es im Stande bist, wenn nicht auch dieser dein Bruder Diony- sodoros mit will; -dann aber vielleicht wol. Sagt mir aber doch, sprach ich, denn im übrigen weiss ich freilich nicht, wie ich euch ΐ das: bestreiten soll, die ihr solche Wunder von Weisheit seid, dass | ie)ı nicht alles weiss, da ihr es ja sagt; dergleichen aber, Euthy- demos, wie soll ich sagen dass ich das weiss, dass rechtsehaffene Männer ungerecht sind? Komm, sage mir, weiss ich das auch, oder weiss ich es nicht? Du weisst es freilich, sagte er, Wie denn? fragte ich. Dass die Rechtschaffenen .nicht ungerecht sind. Das freilich, sagte ich, schon lange. Aber das frage ich297 nicht, sondern dass. die Rechtschaffenen ungerecht sind, wo ich das gelernt habe? Nirgends, sagte Dionysodoros. Also, sprach sch, weiss ich dach dieses nicht. Du verdirbst uns alles, sagte nun Euthydemos zum Dionysodoros. Denn nun wird herauskom- men, dass er nicht weiss, und dass er zugleich wissend ist und nichtwissend. Da erröthete Dionysodoros. Aber du, sprach ich, wie meinst du, Euthydemos? dünkt dich, dass er nicht richtig 3 spreche. dieser Bruder, der alles weiss? Geschwind nahm Dio- nysodoros hier das Wort, und fragte: Also bin ich etwa des Eu- tbydemos Bruder? Lass das, Bester, sprach ich, bis Euthydemos mich gelehrt hat, dass ich weiss, die Rechtschaffenen sind unge- recht, und missgönne mir das Kunststükk nicht. Du entläufst, Sokrates, sagte Dionysodoros, und willst nicht antworten. Ganz natürlich, sprach ich. Denn ich bin schon schwächer als Einer von euch, so dass ich vor beiden zugleich wol nicht umbin kann zu fliehen. Denn ich bin ja um vieles schlechter als Herakles, der ja nicht im Stande war, gegen die Hydra zu kämpfen, diese Sophistin, die so klug war, wenn ihrem Saz ein Kopf abgeschnitten wurde, viele neue statt des einen herauszustrekken, und. zugleich 20"

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308 EUTHYDEMOS.

auch gegen den andern Sophisten, den Seekrebs, der eben erst, dünkt mich, seewärts her angeschwommen gekommen war; SOon- dern als dieser ihn nun auch noch ängstete, und ihn so von links her ansprach und biss, rief Herakles seinen Brudersohn Joleos zu Hülfe. Und der half ihm freilich genug; wenn aber mein Joleos Patrokles käme, der würde nur Uebel ärger machen. Antworte also, sagte Dionysodoros, da du doch dieses selbst vorgebracht hast, ob wol Joleos mehr des Herakles Brudersohn war, als der deinige? Es wird wol das beste sein, Dionysodoros, sprach ich, dass ich dir antworte; denn du lässt doch nicht ab mit Fragen, wiewol ich fast weiss, du ihust es nur aus Neid, um zu hindern, dass Euthydemos mich nicht jenes Kunststükk lehren soll. Ant- worte also, sprach er. So antworie ich denn, dass Joleos des Herakles Brudersohn allerdings war, der meinige aber, meines Er- achtens, ganz und gar nicht ist. Denn nicht Patrokles mein Bruder war sein Vater, sondern der seinige hiess freilich ähnlich genug Iphikles, des Herakles Buder. Patrokles aber, sprach er, ist der deinige? Ja, sagte ich, von mütterlicher Seite, nicht aber von väterlicher. Also ist er dein Bruder und auch nicht dein Bru- der? Von Vaterseite nämlich nicht, Bester; denn sein Vater war Chairedemos, der meinige aber Sophroniskos. Vater also, sprach er, war Sophroniskos und auch Chairedemos? —- Allerdings, sprach ich, jener der meinige und der andere seiner. Also, fragte er, war Chairedemos ein anderer als Vater? —- Als der 298 meinige, ja, sprach ich. War er also eiwa Vater, da er doch ein anderer war als Vater? Oder bist du einerlei mit einem Stein? Ich fürchte wol, sprach ich, unter deinen Händen könnte ich es werden; ich denke aber doch nicht. Also bist du ein an- derer als der Stein? Ein anderer. Und nicht wahr, weil du ein anderer bist als der Stein, bist du nicht Stein? und weil ein anderer als Gold, bist du nicht Gold? Richtig. Also auch Chairedemos, sagte er, wenn er ein anderer ist als Vater, ist nicht Vater. Er scheint, sprach ich, nicht Vater zu sein. Und wenn Chairedemos Vater ist, nahm Euthydemos das’ Wort, so ist wieder- um Sophroniskos ein anderer als Vater, und nicht Vater, so dass du, Sokrates, vaterlos wärest. Da fiel Ktesippos ein und sagte, Eurem Vater aber begegnet wol nicht das nämliche? ist er nicht ein anderer als mein Vater? Weit gefehlt, sprach Euihydemos. Also, fragte jener, derselbe? —- Derselbe freilich. Das wollte ich nicht gar gern.‘ Aber, Euthydemos, fuhr er fort, ist er eiwa nur mein Vater oder auch der übrigen Menschen? Auch der

ET EEE L WEBER EB TE ER

EUTHYDEMOS. 309

übrigen, antwortete er. Oder meinst du, derselbe sei Vater und auch nicht Vater? Das meinte ich freilich, sagte Ktesippos. Wie, fragte jener, also wäre auch Gold zugleich nicht Gold, und ein Mensch nicht Mensch? Wenn du nur nicht, sagte Ktesippos, gerissenes wieder mit gerissenem zusammenknüpfst. Denn das ist

auch eine üble Sache, wenn dein Vater aller Vater ist. Das ist er aber doch, sagte jener. Etwa nur der Menschen, fragte Kie- sippos, oder auch der Pferde und aller übrigen Thiere? Aller,

sagte er. Auch deine Mutter eben so die Mutter von allen? Auch die Muiter. Also ist deine Mutter auch die Mutter der Schweinigel? Auch deine, sagte er. Und du bist also der Bruder der Stinte und der jungen Hunde und der Ferkel? Aber auch du, sagte er. Und obenein ist dein Vater wol gar ein Hund? —- Auch deiner, sagte er. Sogleich, Ktesippos, wenn du mir antworten willst, sagte Dionysodoros, sollst du das zugestehn.

Sage mir, hast du einen Hund? Und das einen recht bösen,

sprach Ktesippos. Hat er auch Junge? Ja, sprach er, eben solche. Deren Vater ist also doch der Hund. Ja wol, sprach er, ich habe selbst gesehn wie er die Hündin beschwängerte, Wie nun, ist der Hund nicht dein? Freilich, sagte er. Und so wie dein, ist er auch Vater; so dass der Hund dein Vater wird, und du der jungen Hunde Bruder. Und sogleich fuhr Dionysodoros weiter fort, damit Klesippos nicht zuvor etwas sagen könnte, und sprach, Und noch dies einzige beantworte mir: Schlägst du wol diesen Hund? Da lachte Ktesippos und antwortete, Ja bei den

Göttern, denn dieh kann ich nicht. Also schlägst du deinen 299

Vater? Mit weit besserem Recht, sagte Ktesippos, möchte ich wol euren Vater schlagen, was er sich doch gedacht hat, so weise Söhne zu zeugen. Aber gewiss Euthydemos, hat wol euer und der Hündchen Vater schon sehr viel gutes dieser eurer Weisheit zu verdanken? Er braucht gar nicht viel gutes, Ktesippos, weder er noch du. Noch auch gewiss du selbst, Euthydemos. --- Noch auch irgend ein anderer Mensch. Denn sage mir nur, Ktesippos, ob du es einem Kranken gut hältst Arzenei zu nehmen, wenn er ihrer bedarf, oder nicht? Oder wenn einer in den Krieg zieht, lie- ber mit Waffen zu gehen als unbewafinet? Ich denke so, ant- worlete er, wiewol ich glaube, du wirst wieder etwas herrliches sagen. Das wirst du am besten wissen, sagte er, antworte nur. Denn da du zugiebst, dass es einem Menschen gut ist, wenn er ihrer bedarf, Arzenei zu nehmen: so muss er also recht viel von diesem guten nehmen, und cs wird ihm vortrefllich bekommen,

310 EUTHYDEMOS.

wenn ihm einer ein ganz Fuder voll Niesewurz klein stiesse und eingäbe. Gar vortrefflich, Euthydemos, wenn der Einnehmende so gross wäre als die delphische Bildsäule. Und, fuhr jener fort, wenn es im Kriege gut ist Waffen zu tragen: se muss man ja wol so viel als nur möglich Spiesse und Schilder haben, wena es ja gut ist? Gewiss, sagte Kiesippos. Und du, Euthydemos, glaubst das wol nicht, sondern nur eins, und einen Spiess? Ja, so glaube ich. Würdest du etwa auch den Geryones und Briareus so bewaffnen? Hierauf, hatte ich geglaubt, verständest du dich besser, da ihr ja Feehtmeister seid, du und dieser Freund. Da schwieg Euthydemos; Dionysodoros aber fragte den Ktesippos in Bezug auf das vorher geantwortete, dünkt es dich nicht auch gut, Gold haben? Freilich, und zwar viel, antwortete Ktesippos. Und bist du nicht der Meinung, dass man gute Sachen immer haben muss und überall? Gar sehr. Und das Gold hältst du doch auch für gut? Das habe ich freilich zugegeben. Also muss man es immer haben und überall, und vornehmlich bei sich. Und der wäre also der glükkseligste, der drei Talente Gold im Bauch hätte, und ein Talent im Schädel und einen Stater in jedem Auge. Sagt man doch auch, sprach Ktesippos, dass das die glükklichsten und trefflichsien Männer sind unter den Skythen, die recht viel Gold haben in ihren Schädeln, auf die Art wie du vor- her den Hund meinen Vater nanniest; und was das wunderbarste ist, sie trinken auch aus diesen ihren eignen vergoldeien Schädeln und sehen inwendig hinein, indem sie ihren eignen Schopf in der 300 Hand halten. Was für Dinge sehen aber wol die Skythen und alle andere Menschen, fragie Euthydemos, die sich zeigen lassen oder die sich nicht zeigen lassen? Die sich zeigen lassen, offen- bar. Also auch du? Auch ich. Siehst du wol unsere Kleider? Ja. Lassen sich die nun wol zeigen? Allerdings, ganz ungemein, sprach Ktesippos. Was denn, fragte jener, las- sen sie sich zeigen? Nichts. Du aber glaubtest es ginge ganz und gar nicht, so gut bist du. Aber, Euthydemos, mich dünkt du träumst ohne zu schlafen, und wenn es irgend möglich ist, zu reden ohne eiwas zu sagen, So thust du es gewiss. Ist das etwa, sprach Dionysodoros,, nieht möglich für Schweigende zu re- den? Ganz und gar nicht, sagte Ktesippos. Auch nicht für Redende zu schweigen? Noch weniger. Wenn du also für Steine, Holz oder Eisen redest, redest du da nicht für Schweigende? -— Keinesweges, antwortete er, wenn ich dabei in der Schmiede herumgehe; denn da schreit das Eisen gewaltig wenn man es an-

EUTHYDEMOS. 311

rührt, so, dass dir hier doch aus übergrosser Weisheit entgangen ist,. dass du nichts sagst. Aber zeigt mir nun auch das andere, wie es wiederum für Redende möglich ist zu schweigen. Und Ktesippos schien mir sehr in Eifer zu sein wegen seines Lieblings. ξ Wenn du schweigst, sprach Euthydemos, schweigst du nicht j für Alle? Ja. Also auch für Redende zugleich schweigst du, ᾿ wenn doch die Redenden unter den Allen begriffen sind. Wie, | fragte Ktesippos, schweigen denn nicht Alle? Nein doch, sagte

Euthydemos. Also, Bester, reden etwa Alle? Ja, die Reden- den. —- Aber, sagte jener, danach fragie ich ja nicht, sondern Alle, ob die reden oder schweigen? Keines von beiden, und beides, sagte hurtig einfallend Dionysedoros, denn mit der Antwort, das weiss ich gewiss, wirst du nichts anfangen können. Da lachte, wie er pflegt, Ktesippos laut auf und sagte: o Euthydemos, dein Bruder hat die Frage doppelt genommen, und ist verloren und überwunden. Da freute sich Kleinias sehr und lachte, so dass dem Ktesippos noch mehr als zehnfach der Muth wuchs. Wie ͵ mich aber dünkt, hatte der schlaue Kiesippos schon von ihnen j selbst eben dieses abgehört. Denn es giebt nirgend sonst noch

solehe Weisheit unter den Menschen. Und ich sagte darauf: Warum

lachst du doch, Kleiniäs, -über so wichtige und schöne Dinge?

Hast du denn schon jemals ein schönes Ding gesehn, Sokrates? fragte Dionysodoros. O ja, sagte ich, viele. Waren die ver-

schieden von dem schönen, sprach er, oder einerlei mit dem

schönen? Da war ich nun wieder auf jeden Fall in der Klemme,

} und dachte, mir geschähe Recht dafür, dass ich gemukkst hätte.

h Dennoch aber sagte ich, Verschieden von dem schönen selbst; aber30l

N jedes hat doch eine- gewisse Schönheit bei sich. Also, sprach er, wenn du einen Ochsen bei dir hast, bist du ein Ochs? und weil du jezt mich bei dir hast, bist du Dionysodoros. Sprich

wenigstens nicht ruchloses, wie das lezte, sagte ich. Aber auf welche Weise, sprach er, kann denn, wenn nun ein verschiedenes Ding zu einem verschiedenen hinzukommt, dies verschiedene das verschiedene sein? Also dagegen, sagte ich, findest du Beden- ken? denn nun unterfing ich mich schon den Männern ihre Weis- heit nachzuahmen, weil ich so grosses Vergnügen daran fand. Wie, sprach er, sollte ich nicht Bedenken haben, ich und alle

andern Menschen, gegen das was nieht ist? Wie meinst du, sprach ich, ist nicht das schöne schön und das hässliche hässlich’? _ Wenn ich es dafür halte, sprach er. Hältst du es also da- für? Freilich, sagte er. Also ist doch auch das einerlei

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312 EUTHYDEMOS.

einerleı und das verschiedene verschieden. Denn das verschiedene ist doch wol nicht das einerlei. Dagegen, dachte ich, würde kein Kind Bedenken finden, dass das verschiedene verschieden ist! Doch Dionysodoros, dies hast du nur mit Willen so übersehen. Denn übrigens dünkt mich, dass wie jeder ausgelernie Künstler was ihm zu fertigen zukommi, so auch ihr das Gespräch ganz vortrefflich ausarbeitiet. Weisst du also, sprach er, was jedem Künstler zu- kommt? Zuerst wem kommt das schmieden zu? Ich weiss, dem Schmidt. Wem Töpfe machen? Dem Töpfer. Und schlach- ten und abledern, und das kleine Fleisch zerlegen, kochen und braten? Dem Koch, sprach ich. Wenn man nun einem thut, was ihm zukommt, so thut man doch Recht? Gewiss. Und dem Koch, sagst du, kommt schlachten und abledern zu? Hast du das zugegeben oder nicht? Freilich habe ich es zugegeben, aber sieh es mir nur nach. Offenbar also, fuhr er fort, wenn Jemand den Koch schlachtet, zerlegt, kocht und bratet: so thut er ihm was ihm zukommt. Und wenn Jemand den Schmidt schmiedet und den Töpfer auf der Scheibe dreht: so thut er ihm was ihm zukommt? Poseidon! rief ich aus, jezt hast du deiner Weis- heit die Krone aufgesezt! Werde ich die wol je so gewinnen, dass sie mir eigen wird? Würdesi du sie wol erkennen, Sokrates, wenn sie dir eigen geworden wäre? Wenn du es willst, sprach ich, dann gewiss. Und wie, sprach er, glaubst du zu erkennen, was dein ist? Wenn du nicht etwa anderes meinst, sagte ich; denn mit dir muss man anfangen und mit dem Euthydemos en- digen. Glaubst du also etwa, dass das dein ist, worüber du zu gebieten hast, und womit du anfangen kannst, was du willst? Zum 302 Beispiel, würdest du glauben, diejenigen Ochsen und Schaafe wären dein, welche du dürftest verkaufen, - verschenken und schlachten welchem Gott du wolltest? und mit denen es sich nicht so ver- hielte, die wären nicht dein? Da merkte ich schon, dass hier- aus wieder eins aufdukken würde von jenen herrlichen Fragestük- ken, und da ich es gern baldmöglichst hören wollte, antwortete ich: Allerdings, so verhält es sich, dergleichen allein ist mein. Und wie? Thiere nennst du doch das, was eine Seele hat? Ja, sprach ich. Du giebst also zu, von den Thieren seien allein diejenigen dein, womit du Macht hast alles das zu thun, was ich eben erwähnte? Das gebe ich zu. Darauf hielt er spötlisch verstellter Weise inne, als ob er auf etwas grosses sänne, und fragte dann, Sage mir, Sokrates, hast du einen väterlichen Zeus? Da alhındete mir schon, dass es kommen würde wie es zulezt

EUTHYDEMOS. 313

auch kam, und ich drehte und wendete mich rathlos und vergeb- lich wie im Neze gefangen, und sagte: Nein, den habe ich nicht, Dionysodoros. So bist du ja ein ganz erbärmlicher Mensch, und gar nicht ein Athener, wenn du weder väterliche Götter hast, noch heiliges, noch sonst eiwas schönes und gutes. Halt, sagte ich, Dionysodoros, sprich besser, und lass mich nicht so hart an als Lehrer. Denn ich habe ja allerdings Altäre und Heiligthümer häusliche und väterliche, und alles was andere Athener von der Art haben. Also andere Athener haben keinen väterlichen Zeus? Nein, sagte ich, diesen Namen führt er bei keinen loniern, weder bei denen, die von dieser Stadt aus anderwärts hingezogen sind, noch ‚bei uns selbst. Sondern väterlich heisst uns Apollon wegen Erzeugung des Ion. Zeus aber wird bei uns nicht väterlich genannt, sondern der Zeus des Gehöftes und der Brüderschafts-

Zeus, und so auch Athene, die Athene der Brüderschaften. Das ist ja genug, sprach Dionysodoros; so hast du doch, wie es scheint, einen Apollon und Zeus und Athene. Ja wol, sagte ich. Also sind doch auch diese deine Götter? Ja, Ahnherrn, sagte ich, und Gebieter. Immer doch deine, sprach er, oder hast du nicht eingestanden, dass sie dein sind? Ich habe es eingestanden,

sagte ieh, denn was will ich machen? Nun sind doch diese Götter Thiere? Denn du hast eingestanden, was eine Seele habe sei Thier. Oder haben diese Götter keine Seele? Sie haben, sprach ich. .Also sind sie doch auch Thiere? Das sind sie. Und von Thieren, gestandest du, wären nur diejenigen dein, welche du Macht hättest zu verschenken, zu verkaufen und zu schlachten welchem Gott du wolltest. Ich habe es eingestanden, sprach ich. Denn ich kann ja doch nicht enischlüpfen, Euthydemos. So komm denn, fuhr er fort, und sage mir gleich, da du bekennst, Zeus sei dein und die andern Götter, ob du sie wol dürftest ver- schenken oder verkaufen, oder was. du sonst wolltest mit ihnen anfangen wie mit andern Thieren? Da lag ich nun, Kriton, von der Rede getroffen sprachlos da. Ktesippos aber wollte mir zu 303 Hülfe kommen, und sagte, Der Popanz Herakles! was für ein schönes Stükk! Wie doch, sprach Dionysodoros, ist Herakles der Popanz, oder der Popanz Herakles? Da rief Ktesippos aus: O Poseidon! was für gewaltige Reden! Ich lasse ab; denn die Männer sind unbezwinglich. Und hier, lieber Kriton, war auch keiner unter den Anwesen- den, der die Rede nicht über die Maassen gelobt hätte, und die beiden erlagen fast dem Lachen und dem lauten Beifall und der

914 EUTHYDEMOS.

Freude, Denn beim vorigen entstand zwar auch schon jedesmal’ gar schönes Gelümmel unter den Freunden des Euihydemos allein: Hierbei aber wollten fast die Säulen im Lykeion mit einstimmen in das Gelümmel, und sich freuen an den Männern: : Und ich selbst war so ergriffen, dass ich gestehen musste, nie so weise Männer gesehen zu haben, und ganz bezwungen und gefangen von ihrer Weisheit wendete ich mich dazu sie beide zu preisen und zu ver- herrlichen, und sagte, O ihr glükkseligen beiden über eure wun- derbaren Gaben, dass ihr eine so grosse Sache so leicht und in so weniger Zeit zu Stande gebracht! Denn unier vielem andern schönen, das sich in euren Reden findet, o Euthydemos und Diony- sodoros, ist dieses fäst das erhabenste, dass ihr euch um die meisten Menschen und um die ernsthaften zumal und die für eiwas gehalten werden nichts kümmert, sondern um die welche euch gleichen nur. Denn das weiss ich gewiss, dass mit diesen Reden nur wenig Menschen recht zufrieden sein möchten, die euch glei- chen; die andern aber haben wol so wenig Verstand davon, dass ich gewiss weiss, sie würden sich mehr schämen, mit solchen Reden Andere zu widerlegen, als selbst dadurch widerlegt zu wer- den. Auch dies ist noch etwas recht leutseliges und gutmüthiges in euren Reden, dass ‚wenn ihr nun läugnet, es sei überall gar nichts schön. oder gut oder auch weiss und was irgend von der Art, oder auch es sei überall nichts vom andern verschieden, ihr dann freilich recht ordentlich den Leuten den Mund zusammennäht, wie Ihr auch selbst sagt; aber nicht nur Anderer ihrem scheint ihr dies anzuthun, sondern auch eurem eignen, .das ist eben das artige davon und benimmt. diesen Reden alles verhasste. Das grösste aber ist, dass diese Sache so beschaffen und von euch recht kunstreich so ausgedacht ist, dass es in gar weniger Zeit jeder Mensch lernen kann. Das habe ich bemerkt und recht Acht gehabt auf den Ktesippos, wie schnell er aus dem Stegereif im 304 Stande war, euch nachzuahmen. Diese künstliche Eigenschaft eures Geschäftes ist nun für das schnellere Ueberliefern freilich gar schön, aber vor vielen Menschen betrieben zu werden eignen sich diese Reden deshalb weniger; sondern, wenn ihr mir wenigstens folgen wollt, werdet ihr euch hüten, vor Vielen so zu reden, damit sie nicht die Kunst allzuschnell erlernen, und euch dann wenig Dank dafür wissen. Sondern redet hübsch meist nur unter euch so; oder wenn ja vor Jemand anderm, nur vor dem, der euch bezahlt. Und eben dies müsst ihr.auch, wenn ihr verständig handeln wollt euren Schülern rathen, ja nie vor keinem andern Menschen, son-

EUTHYDEMOS. 315

dern immer nur vor euch und unter sich diese Kunst zu treiben. Denn es ist nun einmal so, Euthydemos, das seltene ist das gel- tende, und das Wasser ist das allerwohlfeilste, ohnerachtet es das vortrefflichste ist, wie Pindaros sagt. Aber kommt, sprach ich, da- mit ihr auch mich und diesen Kleinias hier gleich aufnehmet. Dies, o Kriton, und einiges andere wenige sprachen wir noch, und gingen dann. Sieh also nun zu, wie du auch zu den beiden Männern kommst, da sie verhiessen, dass sie es jeden lehren könnten, der nur bezahlen wollte, und dass sie keine Gemüthsart noch Alter ausschliessen wollten. Ja was dir besonders wichtig sein muss, sie sagten auch den, der mit dem Erwerb beschäftiget j wäre, hindere nichts ihre Weisheit sich sehr leicht anzueignen. Kriton. Gewiss, Sokrates, bin ich ein grosser Redefreund und mag gern etwas lernen. Indess scheint es fast, dass auch ich einer von denen bin, die dem Euthydemos nieht gleichen ; sondern von jenen, von denen du auch sagtest, dass sie lieber möchten durch solche Reden widerlegt werden ‘als selbst wider- legen. Und obschon es mir gar lächerlich vorkommt dich zurecht- zuweisen: so muss ich dir doch, was ich gehört habe, wieder erzählen. Höre also, dass einer von denen, die von euch gingen, mir begegnete indem ich umher ging, ein Mann der sich sehr klug dünkt, von jenen einer die stark sind in den gerichtlichen Reden, der fragte mich: Nun, Kriton, du hörst nicht zu bei dieser Weis- heit? Nein, beim Zeus. sagte ich, denn auch als ich dabei stand, konnte ich nichts verstehen. wegen des Gedränges. Schade! sprach er, es lohnte wol es zu hören. Wie so? fragte ich. So hättest du, sagte er, Männer reden gehört, welche jezt die wei- sesten sind in dergleichen Reden. Darauf sagte ich: Wie sind sie dir denn vorgekommen? Wie anders, antwortete er, als wie man diese Leute immer hört Possen treiben, und sich um nichiswerthe Dinge eine unwürdige Mühe geben. So sagte er wörtlich. Da sprach ıch: Aber es ist doch eine schöne Sache um die Philosophie. Wie doch schön, sagte er, du Guter? Gar nichts wertb. Vielmehr wenn du auch jezt wärest zugegen gewe- sen, würdest du dich, glaube ich, recht geschämt haben für deinen 305 Freund, so abgeschmakkt war er, sich solchen Menschen hingeben zu wollen, denen gar nichts daran liegt was sie sagen, die sich aber an jedes Wort hängen. Und diese, wie ich eben sagte, sind von den besten jezt. Aber eben, lieber Kriton, die Sache selbst und die Menschen die sich damit abgeben sind ganz schlecht und läeherlich. Mich indess, o Sokrates, dünkt, die Sache selbst

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316 | EUTHYDEMOS.

könne wol weder dieser mit Recht tadeln noch wer sie sonst ta- delt. Allein mit solehen Menschen sich vor vielen andern einlassen zu wollen, das schien er mir mit Recht zu missbilligen.

Sokrates. Kriton, wunderlich sind solche Menschen. Allein ich weiss noch nicht, was ich sagen soll. Zu welchen gehörte der, der dir begegnete und die Philosophie tadelte? war er einer von denen die selbst vor Gericht zu streiten verstehn, ein Redner? oder von denen die solche hinschikken, ein Verfertiger der Reden mit denen die Redner streiten ?

Kriton. Keinesweges ein Redner, beim Zeus, ich.glaube nicht, dass er jemals die Gerichtsstätte- betreien hat. Aber man sagt, dass er die Sache versteht und stark darin ist, und vortreffliche Reden ausarbeitet.

Sokrates. Ich verstehe schon, und eben von diesen wollte ich auch selbst reden. Das sind die Leute, von denen Prodikos sagt, sie siänden auf der Grenze zwischen Philosophen und Staats- männern. Sie glauben aber die Weisesten unter allen zu sein, und ausserdem dass sie es sind auch bei den Meisten dafür zu gelten, so dass wenn sie nicht bei Allen diesen Ruhm davon trügen, ihnen hiebei Niemand im Wege stehe, als die sich mit. der Philosophie beschäftigen. Sie glauben daher, wenn sie diese nur in den Ruf bringen könnten, dass man sie für nichts werth hielte, alsdann sie selbst unbestritten überall den Sieg davon tragen müssten im Rufe der Weisheit. Denn die weisesten wären sie doch in der That; wenn sie aber in der Unterhaltung den kürzeren zögen, so wären es die aus des Euthydemos Schule, von denen sie einge- engt würden. Für weise aber halten sie sich mit grossem Scheine des Rechtes, weil sie sich nämlich mässig mit der Philosophie ein- liessen und mässig mit den Staatsgeschäften, und das aus einem recht scheinbaren Grunde; denn sie liessen sich mit beiden so viel ein als nöthig, und könnten ohne alle Gefahr und Streit die Früchte der Weisheit ärndten.

Kriton. Und wie? dünkt dich etwas damit gesagt zu sein, Sokrates? Denn gewiss doch hat der Männer Rede einen recht stattlichen Schein.

Sokrates. Das hat sie auch in der That, Kriton, mehr Schein als Gedeihn. Denn es ist nicht leicht sie zu überzeugen, dass sei es ein Mensch oder was irgend sonst in der Mitte steht zwischen

306 zwei Dingen und an beiden Theil hat, wenn es aus einem Gut und einem Uebel zusämmengesezt ist, alsdann besser als das eine sein wird, aber schlechter als das andere; wenn aber aus zweierlei

EUTHYDEMOS. 317

guiem, das sich nicht auf denselben Gegenstand bezieht, dann schleehter als jedes von beiden dazu, wozu jedes einzelne von je- nen, woraus es besteht, gut ist; und dass nur was aus zwei Uebeln bestehend, die es nicht in derselben Beziehung sind, sich in der Mitte zwischen beiden befindet, besser sein wird, als jedes von den beiden, woran es Theil hat. Ist nun also die Philosophie gut, und die ausübende Staatskunst auch, aber jede in einer andern Bezie- hung und diese wollen in der Mitte zwischen beiden stehn: so ist nichts damit gesagt; denn sie sind alsdann schlechter als beide. Ist aber die eine etwas gutes und die andere dagegen etwas übles: so sind sie freilich besser als die Einen, aber aueh schlechter als die Andern. Und nur wenn beide etwas schlechtes wären, in die- sem Falle allein hätten sie Recht; sonst aber auf keine Weise. Allein ich glaube nicht, dass sie eingestiehen werden, weder dass beide schlecht sind, noch dass die eine schlecht ist und nur die andere gut. Also sind in der That diese, welche an beiden An- theil haben wollen, schlechter als jeder von beiden darin, in Be- ziehung worauf eben Staatskunst und Philosophie ihren Werth haben; und ohnerachtiet sie der Wahrheit nach die dritten sind, suchen sie doch als die ersten zu erscheinen. Verzeihen muss man ihnen nun wol dieses Verlangen, und ihnen nicht darum zür- nen; sie aber doch nur für das ansehn, was sie wirklich sind. Denn man muss mit jedem vorlieb nehmen, der nur irgend etwas vernünftiges behandelt, und mit wakkerem Ernst durcharbeitet. Kriton. Wegen meiner Söhne nun, o Sokrates, bin ich ja gewiss, wie ich dir auch jedesmal sage, in rechter Verlegenheit, was ich mit ihnen beginnen soll. Der jüngere zwar ist nur noch klein, Kritobulos aber wächst schon heran, und bedarf eines, der ihm forthilf. So oft ich nun mit dir zusammenkomme, ist mir 80 zu Muth, dass es mich grosse Thorheit dünkt, meiner Söhne wegen für viele andere Dinge soviel Sorge getragen zu haben, so- wol für meine Verheirathung, um sie mit einer recht wohlgearteten Mutter zu erzeugen, als auch für mein Vermögen, um sie so wohl- habend als möglich zu machen, wenn ich nun nicht auch für ihren Unterricht sorgen wollte. So oft ich aber auf einen von denen hinsehe, die sich dafür ausgeben Jünglinge zu unterrichten und zu bilden: so werde ich ganz irre und sie dünken mich insgesammt, wenn ich sie recht betrachte, ganz verkehrt zu sein, damit ich dir doch die Wahrheit gerade heraussage, so dass ich nicht weiss wie ich den jungen Menschen zur Philosophie aufmuntern kann. Sokrates. Lieber Kriton, weisst du denn nicht, dass in jedem 307

318 EUTHYDEMOS.

Geschäft der Schlechten viele sind, und diese nichts werth, der Trefflichen hingegen nur wenige, diese dann aber auch alles werth. Oder hältst du die Turnkunst nicht für etwas schönes, und die Haus- haltungskunst, und die Redekunst und die Kriegskunst?

Kriton. Ja wol recht sehr.

Sokrates. Und wie nun? siehst du nicht in jeder die Meisien zu jedem Geschäft sich ganz erbärmlich und lächerlich. anstellen?

Kriton. Ja, beim Zeus, da sprichst du sehr wahr.

Sokrates. Und wolltest nun deshalb du selbst dich allen die- sen Geschäften entziehen, und sie aueh deinen Söhnen nicht ge- statten ?

Kriton. Das wäre ja wol keinesweges recht, Sokrates!

Sokrates. Thue also ja nicht, was sich nicht gebührt, Kriton! Sondern die lass ganz bei Seite, die sich der Philosophie befleissi- gen, ob sie gut sind oder schlecht, und nur die Sache selbst prüfe recht gut und gründlich; und erscheint sie dir als schlecht, sQ mahne jedermann davon ab, nicht nur deine Böhne, erscheint: sie dir aber so, wie sie auch mir vorkommt, so gehe ihr getrost nach und übe sie, du selbst, wie man zu sagen pflegt, und deine Kinder.

ANMERKUNGEN

ZUM GORGIAS

Ν᾽ 9. 2.83. Im Protagoras nun. Man vergleiche Ersten Theiles Ersten Band 8. 208— 211, |

S. 13. 2.6. aus dem Lysis. Es muss dem Leser überlassen bleiben, ob er sich leichter dieses denken kann, oder jenes dass diese Andeutungen dem Verfasser des Lysis vielmehr den Stoff zu seiner Composition gegeben haben. Nur bleibt dieser Verfasser. dann noch immer weit kunstreicher als Herr Ast ihm einräumen will. J

S. 16, 2.5. keine Spurirgendwo zeigt. Für mein Gefühl wenig- siens. Herr Ast meint freilich anders und will mit hieraus schliessen, Platon habe den Gorgias während des sokratiischen Prozesses abgefasst, wo er wol schwerlich die Stimmung haben konnte zu einem so höchst kunst- reichen und, was doch Herr Ast im Ganzen auch zugeben wird, so höchst besonnenen Werk. Doch ich entbalte mich hierüber melır zu sagen, und lasse jedem sachkundigen Leser die Wahl.

Ebend. Z.21. u. 22. in den Ekklesiazusen des Aristophanes, Man sehe die Cominentatoren zu dieser Komödie an verschiedenen Stellen, und ausführlicher über das Ganze Morgenstern. Commentat. de Plaionis republ. p. 76 78. Wollte Jemand einwenden, es wären in dieser Ko- mödie vielleicht nicht soviel Anspielungen auf den Platon als man gewöhn- lich glaubt: so ist doch deutlich genug, dass Philosophen und zwar Sokra- tiker mitgenommen werden, unter welchen er 'mmer um so sicherer mit getrof- fen wurde, als er an Ruhm und Ansehn sich vor den übrigen auszeichnete.

8.17. 2.6. das Beispiel des Archelaos. Athenaios in der bekannten Stelle XI. 507. Ed. Bip. IV, p. 384, schreibt hierüber wunder- liche Dinge, die man ihm doch nachgesprochen, und daraus wenigstens von einem Verhältniss des Platon zum Archelaos, was ganz unmöglich ist, geträumt hat. Die Stelle lautet so: ‚Im Gorgias aber hechelt er nicht nur den durch, nach welchem das Gespräch überschrieben ist, sondern auch Archelaos, den König von Makedonien, nicht nur als von niedriger Herkunft, sondern auch, dass er seinen Herrn und König getödtet hätte. Und dies ist derselbe Platon, von welchem Speusippos sagt, er sei vermöge seiner engen Freundschaft mit dem Archelaos Ursach gewesen, dass Philippos zur Begierung gekommen.” Nachdem nun Athenaios die hieher gehörige Stelle des Speusippos angeführt, fährt er fort: „Ob sich dies aber wirklich so ver- halte, das mag Gott wissen.’ Ja wol mag Gott wissen wie sich dies so verhalten könne, nämlich nicht was Speusippos sagt, sondern was im Athe-

Plat. W. II. Th. 1. Bd, 21

322 ANMERKUNGEN.

naios daraus gefolgert wird, Platon solle vermöge eines vertrauten Verhält- nisses mit dem Archelaos, der in demselben Jahre mit dem Sokrates starb, Ursach gewesen sein, dass zehn Olympiaden später Philippos zur Regierung kam. Und auf welche Weise? man höre. Nämlich Karystias der Pergamener, so erzählt Athenaios, schreibt in seinen Denkwürdigkeiten folgendes. Als Speusippos erfuhr, dass Philippos übel vom Platon spräche, liess er in einen Brief folgendes einfliessen: „Als ob man nicht wüsste, dass Philippos sogar dass er König geworden dem Platon zu verdanken hätte. Denn Platon sandte den Euphraios an den Perdikkas, und dieser bewog ihn, dem Philip- pos einiges Gebiet einzuräumen. Da er nun bier eine bewaffnete Macht unterhielt: so hatte er, als Perdikkas starb, die Mittel in Bereitschaft, und konnte sich in Besiz des Reiches sezen.” Ist nun hier wol mit einem Worte vom Archelaos und einem Verbältniss zu ihm die Rede? Wenn wir nicht aus Schuld einer ungeheuren Verfälschung dem Sophisten Unrecht thun, so hat er den Alketas, den Archelaos tödtete, und den Perdikkas, dem er nachfolgte, und den weit späteren Perdikkas, der vor dem Phil:ppos regierte, alles auf die wunderbarste und unwissendste Art durcheinander geworfen. Zuviei Worte schon, um ein so elendes Gewäsch zu widerlegen. Nur sieht man doch daraus, wie schlechten Autoritäten Athenaios bei dem was er gegen Platon sagt gefolgt ist, oder wie unbedachten Gebrauch er von seinen Collectaneen gemacht hat, ohne nur sich vorzusehen, dass er Namen und Zeiten nicht verwirre. Was übrigens Speusippos sagt, muss, wenn er es wirklich gesagt hat, auch wahr sein, und kann demnächst andern Nachrichten zur Berichtigung und Ergänzung dienen, welche den Philippos bis zum Tode des Perdikkas in Thebä bleiben lassen.

8.19. 2.18. Also wennihrzumirkommen wollt nach Hause. Diese Stelle will mich noch immer hindern anzunehmen, dass Gorgias sich in dem Hause des Kallikles befindet, und das folgende Gespräch dort spielt. Denn zuerst wäre schon der ganze Ausdrukk im Hause selbst wie in der Nähe des Hauses höchst wunderlich. Sokrates nämlich musste schon das Ansehn haben, dort hineingehn zu wollen, nicht etwa vorbei, wo sich Gorgias befand, welches aus dem ersten: Anruf des Kallikles deutlich wird, und das ὅτα» muss nothwendig auf eine andere Zeit gehn, als auf die des Begegnens selbst. Und dann, wo soll doch Kallikles den Sokrates getroffen haben? Soll er selbst im Begriff gewesen sein fortzugehen, die versammelten Gäste im Hause zurükklassend? Es will sich gar keine Athenische Weise dieser Begegnung denken lassen, wenn man das ganze Gespräch in das Haus versezt. Ich meine also, Gorgias befindet sich mit seiner Gesellschaft an einem Öffentlichen Orte, etwa im Lykeion, wo so viele platonische Ge- spräche spielen, und Kallikles hat sich nach geendigter Epideixis des So- phisten von den Andern etwas nach vorne zu entfernt wo er den Sokrates, der eben hineintreten will, anredet. Anders als unter dieser Voraussezuug will nicht alles stimmen.

S. 20. 2. 34. oder mit dessen Bruder. Dies war der berühmte Polygnotos. Er wird hier als noch lebend erwähnt, und wenn wir nicht eine kleine Zeitverwirrung von entgegengesezter Art, als man gewohnt ist, sie beim Platon anzutreffen, annehmen wollen: so muss Polygnotos noch den Anfang der zwei und neunzigsten Olympiade überlebt haben.

ZUM GORGIAS. 323

Ebend. Z.40. viele Künste. Man weiss sowol aus einer späteren Stelle unseres Gesprächs, S. 37. Z. 20. 21., als aus Aristot. Metaph. I, 1., dass dies eine Stelle aus einer Schrift des Polos ist. Wunderbar genug, dass Platon hier dem Polos zuerst seine geschriebenen Worte als schon geschrieben in den Mund legt, und sich hernach doch nicht auf das ge- hörte, sondern nur auf das gelesene beruft.

S. 22. Ζ. 324. ich habe meine Freude. Dies absichtlich wie- derholte Ja_und die Bemerkung darüber kann weder eine Lächerlichkeit auf den Gedanken werfen sollen, noch ein blosser müssiger Scherz sein. Vielleicht Rüchtige Berükksichtigung eines Tadels über Pletons vielfältig abwechselnde Formeln des Bejahens und Verneinens als über etwas Ge- AWUngenes,

8.23. 2.28. handgreifliches. In der Urschrift stehen hier zwei Worte für handgreifliches und Vollführung, welche im Attischen nicht ge- wöhnlich, sondern aus des Gorgias Mundart und Sprachgebrauch genommen waren. In denen der Uebersezung sticht mehr das gezierte und gekünstelte hervor, als das fremde; wahrscheinlich aber wollte Platon auch dies vor- nehmlich nachahmen.

Ebend. Z.40. als diezu welchen. Nur ungern bin ich in der Vebersezuug, durch die Einstimmigkeit der Handschriften bewogen, von der in der früheren Ausgabe zu einer Zeit wo man der Vermnthung mehr einräumen konnte, vorgeschlagenen Aenderung περὶ σὺ φὴς statt περὶ ὡς φὴς wieder abgegangen. Schwer zwar ist das hier sonst immer vom Gegenstand gebrauchte περὶ in dieser Bedeutung zu ertragen.

ἢ, 24. 2.25. woran denn? War schon das vorige schwer, so ist hier die Verwirrung welche das τῶν anrichtet, gar nicht zu ertragen, und ich nehme gern die Hilfe an welche einige Handschriften darbieten,, das τῶν zweimal bei Bekker 8.12. 2.10. so wie das auch von ihm eingeklam- merte yvoors zu löschen.

Ebend. Z. 85. wie es in der Volksversammlung heisst. Für die, welche ich nicht auf den Scholiasten verweisen kann, aus ihm zur Erklärung folgendes: Bei Ausrufung der Verordnungen oder Geseze in der Versammlung nannte der Ausrufer bei der ersten Verordnung und Gesez den Namen des Verordnenden und Vorschlagenden, und seines Vaters Namen und seines Demos, wie etwa: Demosthenes, der Sohn des Demosthenes, der Päanier, bringt in Vorschlag folgende Verordnung. Folgte aber hierauf noch ein Vorschlag von demselben, so sprach der Herold, um nicht un- nüze Worte zu machen: Alles andere wie zuvor, er bringt aber auch noch folgendes in Vorschlag. Diese Erklärung scheint mir doch nicht aus dem Finger gesugen und für diese Stelle’ sehr annehmbar, wenn gleich ander- wärts Phaedo 102 ξυγγραφιχγῶς ἐρεῖν in etwas anderem Sinne von der weitläuftigen Förmlichkeit der Sprache in Verträgen u. dgl. vorkommt.

8. 25. 2.16. jenes Trinklied. 8. Brumck. Anal. 1, 122 unter den Simonideischen.

Die Gesundheit ist das beste jedem Menschen, Zweitens, dass er schön von Gestalt erscheine, Reichsein ohne Falsch das dritte, und endlich Das vierte sich der Jugend freun mit Freunden.

21"

324 ANMERKUNGEN.

Ebend. Z. 23. 24. der Turnmeister. Es war zu erwinscht für den παιδοτρίβης Ein Wort zu haben, als dass ich diese Annäherung hätte von der Hand schlagen können, in der Hoffnung das Wort werde seine ursprüng- liche Deutschheit immer mehr geltend machen, und niemand werde mich anklagen dieses Gebrauchs wegen, als ob ich den Unterschied unserer Lei- besübungen und der hellenischen läugnen wollte.

8.27. 2.6. Weshalb aber, da ich es ja schon ahnde. Alles was in dieser ganzen Stelle ähnliches vorkommt hier und weiter unten 8. 28., ist offenbar Vertheidigung der ganz allmählig fortschreitenden Art, mit der Platon in seinen Gesprächen zu Werke geht. Uebrigens war für den Hauptbegriff, der von Seite 29. an weiter erörtert wird, kein anderes Wort zu finden in der Uebersezung als Ueberredung, so dass Ueberzeugung als eine Unterart der Ueberredung erscheint, was uns freilich fremd klingt. Man muss nur nicht übersehen, dass es nur die durch das Gelernthaben von Andern entstandene Ueberzeugung ist. Die Hauptsache ist eben dies, die durch Andere in Jemand hervorgebrachte Vorstellung, dieser Akt wird Ueberredung im Allgemeinen genannt. Sie ist nun entweder mit 'Erkennt- niss verbunden, Wissen, Gelernthaben, oder ohne Erkenntniss, dann Glauben, Ueberredung im engeren Sinne,

8.29. 2. 81. 32. wenn von Erbauung der Mauern die Rede ist. Man gebe nur nicht dem Sokrates Sophistereien Schuld, als gehe er darauf aus, sich zugeben zu lassen, der Baumeister solle Ratlı geben, ob Mauern und Werfte sollten gebaut werden oder nicht. Die Sache war, wenn auch der Ausdrukk nicht überall genau genug ist, im Gespräch selbst deutlich genug durch das Vorige von der Wahl, und wird es noch mehr durch das Folgende.

S.30. 2.35. 36. zum Arzt gewählt. Ich halte es unbedenklich mit denen Handschriften bei Bekker, welche ῥήτορα nicht lesen, und halte diese Worte für einen ungeschikkten Zusaz. Denn wie soll wol in einer Stadt die Frage vorkommen, ob man nöthig habe einen Redner zu wählen oder ob einen Arzt.

Ss. 31. 2.23. weiler das wolauszurichten vermöchte. Wem dies zu hart klingt, der überseze nach Heindorfs Verbesserung „Deshalb aber, weil er dies kann, soll er doch weder den Aerzten den Ruf entziehn, noch andern etc.” Indess ist es vielleicht nicht minder hart, das τὴν δόξαν ἀφαιρεῖσϑαι so ohne Bestimmung zu lassen.

S.39, 2.10. gar jung und hizig, Höchst wahrscheinlich eine Anspielung darauf, dass πῶλος Füllen heisst; welche jedoch auch wenn sie ausser allem Zweifel gesezt wäre, die Uebersezung selbst nicht wieder- geben könnte. En | ἐς

Ebend. Z. 39. die Gesezgebung. Nach unsern Sprachgebrauch hätte ich die Staatsverwaliung entweder hinzufügen müssen oder auch allein hinstellen um den Sinn von vouoderızn zu erschöpfen. Denn Platon hat hier ohnstreitig alles dasjenige mitgedacht was in den Volksversammlungen auch durch ψηφίσματα ausgemacht wurde. Allein es schien in vieler Hin- sicht besser den Ausdrukk seiner Ableitung nach wiederzugeben, zumal auch die Sache dem aufmerksamen Leser durch die Gegenüberstellung deut- lich genug wird.

ZUM GORGIAS. 325

Ebend. Ζ. 40. die Rechtspflege. Der Uebersezer kann nicht um- hin, hier mit Bekker dız«orıxn zu lesen, und der Menge der Zeugen weniger einzuräumen, zumal sich mancherlei Verleitungsmittel denken lassen. Denn nie braucht Platon sonst διχαιοσύνη als den Namen einer solchen Kunst, wenn er gleich die Gerechtigkeit wie alle andern Tugenden ἐπιστήμη nennt, Was der Scholiast sagt, kann ursprünglich nur Vertheidigung der einen Lesart gegen die andere gewesen sein, und zerstört den Sinn des Platon gänzlich. Denn gemeint ist hier nichts als die Rechtspflege, welche die Gebrechen des Staates heilt, analog der Heilkunst, und weder von dem vertheilenden Recht kann die Rede sein, welches ja auf jede Weise zur Gesezgebung ‘gehört, noch auch von der Thätigkeit der Seele auf sich selbst. Aber eben dieses Bestreben, den Sinn zu erweitern, kann Antheil gehabt haben an der Verbreitung jener Lesart.

8,40. 2.9. fängtsie durch das jedesmal angenehmste den Unverstand. Heusde hat sich hier selbst in seinem eignen Unverstand gefangen, indem er εὔνοιαν sezen will für @yorey. Und so geht es, wenn Jemand auf Verbesserungen Jagd machend den Zusammenhang verabsäumt. Sonst hätte er schon gewusst, dass der Niehtwissende nur unter den Nicht- wissenden für einen Wissenden gilt. Die ganze Stelle hat übrigens Aristo- teles vor Augen gehabt, Khet. I., 2.7. Ed. Bip. p. 40., dessen Umschreibung des Platonischen Ausdrukks die Uebersezung desselben rechtfertigen mag.

Ebend. Z.29. und Bekleidung. Da nichts besseres zur Hand war, schien es leidlicher, dem Aristides, dem doch eigentlich die Handschriften, welche αἰσϑητι lesen, beitreten, zu folgen, als anzunehmen, dass Platon das Allgemeine gerade so, als ob es ein neues Besonderes wäre, dem Uebrigen sollte hinzugefügt haben. Ein anderes wäre, wenn er χαὶ τῇ ἄλλη αἰσϑήσει gesagt hätte. ᾿

Ebend. Ζ. 40. und inBeziehung aufdasselbe. Schwerlich dürfte an dieser Stelle auch dem alten Text etwas fehlen, vielmehr scheinen in demselben die Worte σοφισταὶ καὶ ῥήτορες, wofür auch Bekker sie erklärt, ein Glossem zu sein, und zwar entweder ein unvollständiges oder ein den Sinn entstellendes.. Nämlich wie man theils aus dem Maassstabe des zulezt aufgestellten Verhältnisses selbst sieht, welcher kein anderer ist als der Unterschied zwischen dem Scheine und dem Wesen, theils aus der hinzu- gefügten Erklärung, wie der Leib auch Heilkunst und Kochkunst ver: wechseln würde: so ist hier nicht von der Verinischung der Rhetoren und Sophisten die Rede, sondern von der Vermischung beider mit den wahren Staatsmännern und Rechtskundigen. Dies ist offenbar. Hätte nun das Vermischte selbst, was Platon nicht mehr bezeichnen zu dürfen glaubte, dennoch sollen angeführt werden: so musste es vollständig geschehen, nämlich die Sophisten und die Redner mit Rechtskundigen und mit Gesez- geben. Die Worte ze) περὶ ταῦτα gehören dem Sinne nach mehr zu ὅτε ἐγγὺς ὄντων, „wie diese Künste und Nichtkünste einander doch auch wieder nahe »stelıen und sich auch auf dasselbe beziehen; sie sind aber hier dem φύροντας ἐν τῷ αὐτῷ zur Erklärung hinzugefügt. Durch die getreue Nach- ahmung dieser Stellung ist die Uebersezung etwas undeutlich geworden.

8.41. 2.10. Vielleicht nun habe ich. Dergleichen konnte man an mehreren früheren Platonischen Dialogen ebenfalls ausstellen, und so

326 ANMERKUNGEN.

ist dies wol auch eine allgemeinere Vertheidigung. Auch als Vertheidigung gilt vielleicht in Beziehung auf eine bestimmte Kritik das bald folgende „hast du kein Gedächtniss?” Ebend. Z. 23. 24.

S.43. 2.5. das beste zu sein. Bis auf besseren Rath ist vorläufig das τούτου πρόσϑεν unübersezt geblieben, weil es in der That gar keinen Sinn hat; wie es denn auch Bekker deshalb als verdächtig bezeichnet.

Ebend. Z. 12. 13. nach deiner Weise. Diese liegt in der Asso- nanz zwischen Awore und I/ole, welche die Uebersezung nachgeahmt hat, wahrscheinlich ohne dass es unangezeigt so bemerkt würde, wie der Hellene jenes bemerkte. Denn wir hören dergleichen nur erst in Masse. Andere meinen, es gehe auf den übermässigen gezierten Attikismos, den besonders Fremde annahmen, und sich deshalb häufig solcher eigenthümlich attischer Worte bedienten. Man sehe Lueian. Rhet. praec. Doch dies ist später, und nie konnte wenigstens um des Attikismos willen ein Athener zn einem Dorier sagen: va ποοσείπο;, σὲ χατὰ σέ,

S. 45. Ζ. θ. in diesem Staat. lch wünschte ‚nicht, dass Jemand dies auf Athen zöge; es will vielmehr sagen, in dem Staate, worin er der- gleichen ausrichtete. Aber ἐν τῇ πόλει ohne ταύτῃ oder einen ähnlichen Beisaz würde auf Athen gegangen sein.

8.46. 2. 41. und es ein Uebel ist. Die Uebersezung beschüzt zuerst die gemeine Lesart ἀγαθόν τὲ εἶναι, die auch Bekker beibehalten hat, und wagt dann noch eine kleine Versezung des xz«i vor das zux0r, damit die beiden Glieder, durch welche das σμιχρὸν δύνασϑαι beschrieben wird, nämlich εἰ δὲ un sc. ἕπεται τὸ ὠφέλιμον und εἰ χαχόν ἔστι τὸ πρατ-- zöuevoy jenen beiden entsprechen, durch welche das μέγα ϑύνασϑαι be- schrieben wird, nämlich ὠφελίμως πράττειν und ἀγαϑὸν εἶναι τὸ πραττύ- uerov. Der Simn, welcher sich bei der gewöhnlichen Stellung ergiekt: Wenn aber jene beiden Bedingungen nicht eintreffen, ist auch wenig ver- mögen schon ein Uebel, ist in der That ein wenig frostig. Denn finden jene Bedingungen nicht statt, so giebt Sokrates gar kein δύνασϑαι zu, wie denn auch ourzoor δύνασθαι hier eigentlich heisst ohnmächtig sein; und dass dies ein Uebel wäre, durfte Sokrates dem Polos nicht erst sagen.

ὃ, 47. 2. 30. Wenigstens höre ich. Dies ist wiederum Tadel eines gezierten Ausdrukks, der sich entweder in den Schriften des Polos findet, oder wahrscheinlicher bei einem andern Zeitgenossen, mit dem Platen in näheren Verhältnissen stand, und der sich hierin der oft getadelten Schule des Gorgias nähert.

8. 49. 2.10. Ein solcher Beweis. Offenbar kann hier von dem eigentlichen Zeugenbeweise bei Thatsachen schwerlich die Rede sein; son- dern von einem andern vor Gericht üblichen Zeugenaufstellen, um. allge- meine Urtheile abzugeben, lobende oder tadelnde.

Ebend. Z. 17. Nikias der Sohn des Nikeratos. Wiederum einer von den kleineren Verstössen gegen die Zeit, die man dem Platon leicht verzeihen kann, sie aber doch nicht verschweigen muss. Ueber die Thron- besteigung des Archelaos giebt es zweierlei Angaben, deren eine sie Ol. XCH, 1. die andere Ol. XCII. 3. ansezt, wahrscheinlich daher, weil in diesen beiden Jahren Kallias Archon zu Athen war. Die Sikelische Niederlage, bei welcher Nikias blieb, war Ol. XCI, 4. Dass Sokrates Vorsizer im

ZUM GORGIAS. 327

Rathe war man sehe 8. 51. Z. 26. fällt, wenn man nicht gegen alle Wahrscheinlichkeit annehmen will, er sei es zweimal gewesen, in ΟἹ. XCII, 3. Man sieht, dass auf keinen Fall Nikias, wie doch hier geschicht, als noch lebend kann erwähnt werden, nach der Thronbesteigung des Archelaos, und auch, da die erste Angabe bei weitem die wahrscheinlichere ist, schwerlich jener Begebenheit des Sokrates im Rathe zu Athen. Es scheint mir etwas stumpf dies dadurch auszugleichen, dass bei einem solchen Zeugenanführen auch Verstorbene könnten angeführt werden, und dass eben dieses Sokrates bespotte. Warum führte er dann nicht weit mehr den Perikles selbst an, als das ganze Haus des Perikles, so viel damals noch davon ührig war?

Ebend. Z.25. aus meinem Gut und der Wahrheit. Eine andere Beziehung musste hier hervortreten, um die Auspielung nicht verloren gehen zu lassen. Nämlich ἐχ τῆς οὐσίας ἐχβάλλειν ist der kunstmässige Ausdrukk für die Auspfändung und Emission. So wie nun in der Ursprache mit dieser zwiefachen Bedeutung von ovo/k gespielt wird: so in der Uebersezung mit einer ähnlichen von Gut.

8.51. Ζ. 14. Glükkseliger wird dann freilich. Auch dies müss man nicht bloss ansehn als Tadel der Ausdrükke, welche Platon selbst dem Polos in den Mund legt; sondern theils als allgemeine Verwahrung , dass er selbst nirgends einen εὐδαίμων oder eine εὐδαιμονία zugestehen könne, wo das Gute fehle, theils als Zurechtweisung derer, die sich dies erlaubten, es sei nun wirklich Polos an den er denkt, oder etwa Aristippos.

Ebend. Z. 18. ist auch dies wieder eineBeweisart. Aristoteles sagt Rhet. III. 18, 7. Ed. Bip. p. 398, Gorgias habe die Vorschrift gege- ben, den Ermst der Gegner durch Spott unwirksam zu machen: was sie selbst aber spotteud vortrügen, durch ernste Behandlung zu entkräften.

5, 84. 2.21. wieerihm gar nicht ähnlich ist. Platonischer scheint diese Erklärung, als jene andere „gar nichts ist gegen jenen,” und in eben diesem Sinne ist schon die frühere correspondirende Stelle 8. 49. 2.34.35, übersezt worden. Nur den Unterschied des Verfahrens dekkt Platon auf; das Urtheil überlässt er Andeın, welches von beiden wol mehr bedeute, das ungeprüfte Beistiminen Vieler, oder das errungene des Gegners selbst.

8.57. 2.7. Schlechtigkeit der Seele. Da novnoi«a hier offen- bar in die Stelle von zazi« eintritt, habe ich kein Bedenken getwagen das- selbe Wort in der Uebersezung beizubehalten; dafür habe ich auch hemmach, wo Platon πονηρία ohne Beisaz für Schlechtigkeit der Seele braucht, diesen ganzen Ausdrukk beibehalten. Dass ich für αἰσχρός hässlich und Häss- lichkeit statt unschön und Unschönheit gesezt habe, wird wol niemand tadeln, da das unschöne, ohne uns etwa geläufiger zu sein, gezierter ist und etwas hölzern. Wer bei der einleitenden Stelle 8. 52. 2.19. Du hältst dies nicht für einerlei schön und gut sich nur in der Gel- tung der Ausdrükke festgesezt, und hermach aufgemerkt hat wie der Nuzen und das nüzliche auftritt, der wird sich auch wol durch das deutsche glükklich durchfinden.

Ebend. Z.10. alsdas schmerzhafteste. Nach denen Handschriften bei Bekker welche lesen ἀγνεαρότατόν ἔστι,

8.58. Z.4. mit einer gewissen Anwendung. In der Ueber- sezung konnte nur durch diese, unstreitig in der vorigen Frage stillschwei-

328 ANMERKUNGEN.

gend enthaltene Erklärung , der Uebergang gemacht werden zueiner nicht bloss umschreibenden Uebersezung des Wortes δέκη. |

Ebend. Z. 32. Denn nicht das war Glükkseligkeit. Auch dies besonders, wie schon Manches in dem bisherigen, weiset auf den Lysis zurükk, und dass es dort keinesweges Ernst gewesen mit der Ansicht, dass das Gute nur um eines anhängenden Bösen willen geliebt werde, son- dern dass diese nur vorgetragen worden, eben um aus den Folgerungen, die sich bei der entgegengesezten Voraussezung ergehen, auf die Ursprüng- lichkeit des Guten zu führen.

8.62. 2.26. und den Sohn des Pyrilampes. Das artige Wort- spiel, welches daraus entsteht, dass dieser Sohn Ζῆμος hiess, man sehe Athen. IX, 12. aus Antiphon. musste unübersezt bleiben; die Stelle selbst aber durfte demohnerachtet nicht übergangen werden. Denn sie hat, wie in der Einleitung bereits angedeutet worden, eine höhere Bedeutung. Was nämlich im Phädros als Grund von der Liebe zu Individuen gesezt wird, das soll hier eben auch auf Liebe und Anhänglichkeit an Verfassun- gen angewendet werden.

8.63. 2.5. Denn dieser Sohn des Kleinias, Auch dieser Ge- gensaz scheint nicht bloss dazustehn, um den Scherz vollständig zu machen; sondern hat offenbar etwas hinter sich. Bedenkt man, wie viele Gespräche von den ersten Sokratikern verfasst worden, worin Alkibiades der Mitunter- redner war und die Ueberschrift bergab, und wie leicht schon ein Paar Olympiaden nach des Sokrates Tode deren mehrere können vorhanden ge- wesen sein: so ist der Gegenstand des Spottes nicht Zu verfehlen; es sei nun dass Platon überhaupt aufmerksam machen wollte, wie ungleich und sich selbst unähnlich Verschiedene diesen Mann aufgefasst hatten, oder dass er mehr ein bestimmtes Gespräch im Auge hatte, dessen Alkibiades schon mit sich selbst nicht gut übereinstimmt.

Ebend. Z. 12. dem Gott der Aegyptier. Es scheint, dass es einer authentischen Erklärung dieser in früheren Schriften wol missverstandenen Betheuerungsformel bedurfte, Denn niemand wird wol umgekehrter Weise schliessen wollen, dieses Gespräch müsse das erste sein, worin sie sich findet.

S.64. 2.6.7. wenn Jemand von dem gesezlichen spricht. Kallikles beurtheilt den Sokrates nach der Weise seiner rhetorischen Meister. Mar vergleiche Arist. de Soph. El. cp. 111, 8. Ed. Bip. p. 570, wo von cieser absichtlichen Vertauschung ausführlich geredet und unsere Stelle mit angeführt wird. Unentbehrlich sind wol in der unmittelbar folgenden Erörterung die von Heindorf und Bekker aus Handschriften aufgenom- menen Worte. -- '

Ebend. ζ. 39. der Natur gemäss. Ich habe mich nun nicht länger enthalten in der Uebersezung die Worte τὴν τοῦ διχαίου als, aber freilich sehr alte, Glosse eines Klüglers 'auszulassen, der einen Gegensaz heraus- bringen wollte zu den folgenden τὸν τῆς φύσεως, und uns dadurch die Klarheit des Gedankens verdirbt. Denn φύσις τοῦ δικαίου müsste doch heissen der Begriff, das Wesen des Rechts, und der hat hier gar nichts zu schaffen, kommt auch sonst weiter hier nicht vor. Ganz anders unten 8. 65. Z. 10. St. 484. a, die umgekehrte Redensart τὸ τῆς φύσεως δίκαιον.

ZUM GORGIAS. 329

8.65. 2.18. von Naiur Wegen der hier angeführten pindarischen Worte verweise ich einerseits auf Pind. (arm. III. p. 76 figd., anderseits auf Boeckh in Platonis Hinoem Ὁ. 175 ilgd. Lezterer hat wol bewiesen, dass χατὰ φύσιν oder φύσει dem pindarischen Gedicht angehöre, und dann ist das Wort auch gewiss vom Platon auch hier angeführt worden. Von dem Bekkerschen Text aber, der die gewöhnliche Lesart ἄγει βιαίως τὸ διχαιότατον beibehält, hat sich die Uchersezung entfernt, und sezt auch hier die Worte ἄγει διχιιῶν τὸ βιαιότατον, wie Schneider und Herrmann sie schon gestellt, voraus; nicht nur dem einen Codex folgend, den auch Bekker so anführt, sondern auch dem Aristeides, der, wie dem aufmerksamen Leser nicht entgehn kann, das pindarische «ou« selbst nicht mehr hatte, sondern die Worte des Dichters nur aus unserer Stelle kennt, Denn was er nachher noch weiteres anführt, davon sagt er selbst es sei anderwärts her aus einem der Dithyramben. Also er hat in seinem Platon an unserer Stelle διχαιῶν τὸ Prerörerov gelesen, und dieser allein richtige Text muss erst späterhin grösstentheils verschwunden sein, Dass aber die Worte χατὰ φύσιν ayeı κ. τ. 4. sich nicht unmittelbar an die vorigen γόμος ... ada- ΐ γάτων anschlossen, ist aus unserer Stelle mehr als wahrscheinlich, und also die Einrichtung des Bruchstükks bei Herrmann wol nicht sehr zu-

᾿

verlässig. S. 65. 2. 871. die Rede des Euripides. Dass diese Verse ebenfalls : aus der Antiope sind, bezeugt der Scholiast, ohne welchen auch Barnes

und nach ihm Valkenaer sie, lediglich auf diese Anführung bauend, eben ! dahin gesezt haben; nur dass Valkenaers Vermuthung sie dem Amphion ᾿ beilegt, der Scholiast aber sie dem Zethos zuschreibt. In Absicht der An- ordnung und Begrenzung des metrischen hat sich die Uebersezung an } Valkenaer gehalten. ᾿ 8. 66. ζΖ. 8. Stammeln und Tändeln. Merkwürdig ist in dieser Stelle und in der That sehr der platonischen Weise entgegen, dass das παίζειν gar keinen Gegensaz hat, sondern beidem nur das σαφῶς διαλέγεσθαι entgegensteht. Nur führt keine Abweichung irgend auf die Vermuthung eines Fehlers.

Ebend. Z. 28. wie der Dichter sagt. Ilias XI, 441.

b Ebend. 2.33. dem Zethos mit dem Amphion. Auch hier hat sich die Uebersezung meist an die Valkenaersche Distribution angeschlossen, ᾿ ‚zweifelhaft jedoch über seine weite Trennung der ersten angeführten Verse ᾿ von den lezten.

8.70, 2.34. und diese es beh aupten. Das ὦσιν geht oflenbar wol auf den Saz, den sich Sokrates als die Feststellung der Vielen hatte zugeben lassen, vom gleich haben und der Hässlichkeit des Unrechtthuns;

| daher es hier gar keiner Verbesserung bedarf, auch nicht der Heindorfischen, [ der ich früher gefolgt war.

8. 72. 2. 21. Nicht nur das. Wie ächt Sokratisch dies ist, sieht man aus einer ganz ähnlichen Stelle in Xen. Mem. Socr, IV, 4. 6, wo Sokrates dasselbe auf denselben Vorwurf dem Hippias antwortend einge- führt wird,

8,73. 2.19. Auch mehr als sie selbst. Nicht ganz mit voller Veberzeugung, dass sie uns Platons Hand richtig darstellt, bin ich hier der

330 ANMERKUNGEN.

Bekkerschen Lesung gefolgt. Die Worte ἄρχοντας καὶ ἀρχομένους können freilich sehr leicht Erklärung sein zu dem abgebrochenen und dunkeln «ὑτῶν; aber auf keinen Fall sehen wir, wie aus diesem Text das kann entstanden sein was der Scholiast doch offenbar gelesen hat. Sind aber jene Worte ein Glossem, so sind sie gewiss ein unrichtiges, sondern das αὑτῶν muss man auf πλέον ἔχειν beziehn, wozu schon die Wendung der vorigen Rede des Kallikles eingerichtet ist. Sokrates will beweisen, dass das Mehr haben mit dem Herrschen nicht zusammenhänge, weil so fern einer sich selbst beherrscht er zugieich mehr und weniger haben müsse als er selbst. Dies kommt aber nicht recht heraus. weil Kallikles das Selbst- beherrschen gleich angreift. Dies ist die Ansicht nach der ich übersezt habe.

Ebend. 2.30. Warum denn nicht. Darin bin ich mir untreu ge- worden das οὐ nicht zu löschen, da sich dies nirgends bestätigen will, aber »uv dem Sokrates scheinen mir diese Worte zu gebühren. „Warum soll ieh nicht von ihnen reden? nur dass ich sie nicht für einfältig halte, das kann wol jeder wissen.” Indess ganz sicher bin ich auch bier nicht.

Ss, 74. 2.37.38. wenn Euripides Recht hätte. Ueber diese Veise, die nach Einigen aus dem Phryxos sind, nach Andern aus dem Po- lyidos, hat sich Valkenaer in der Diatribe über die Fragmente des Euripides gar nicht erklärt.

8.75. 2.4. mit dem Worte spielend. Freilich spielend, höchst mühselig aber für den Uebersezer, der sich durch σῶμα und σῆμα, durch πεέϑδω, πιϑανὸς und πέϑος, durch “dns und ἐειδής, durch ἀνόητος und ἀμύητος, lezteres noch doppelsinnig, mit grosser Noth durchschlagen musste, und doch vielleicht noch nöthig hat zu bemerken, dass die Ausgeschlos- senen als Profane sollen den Eingeweihten entgegenstehen. Hätte der Uebersezer deutlicher sagen dürfen, was Platon meinte, als dieser selbst: go würde er im folgenden übersezt haben, in der Schattenwelt, worunter er die Sittenwelt meinte. Uebrigens aber ist es wol sehr wunderlich dieses gerade für heiligen pythagoreischen Ernst zu nehmen, und einen grossen Werth darauf zu legen, was Platon selbst nicht thut, indem er voraussagt, dass er damit nichts ausrichten werde, wie es denn weder Zustimmung des Verstandes hervorbringen kann noch Umwendung des Gemüthes; sondern auch hier ist ein guter Theil leiser Scherz über die wohlgemeinte aber un- fruchtbare Kostbarkeit und Schwerfälligkeit solcher Dinge, und er will zeigen, wie er nicht eher weiter kommt mit seinem Gegner bis er wieder, zu seiner einfachen und schlichten Methode zurükkkehrt. Daher habe auch ich nicht viel Mühe darauf verwandt, ob sich etwa bessere und näher tref- fende Wortspiele ausfinden liessen. Er

S. 76. 2. 17. wie einer Ente. Nicht Uebersezung, sondern Substi- tution. Nach dem Scholiasten sowol als nach dem Timaios ist χαραδριὸς ein Vogel, der mit grosser Geschwindigkeit das Gefressene wieder absondert. Bei uns sind als gefrässig und schnell verdauend unter den Vögeln vor- züglich die Enten bekannt.

S. 78. 2.12. Sokrates aber. Der Scholiast hat hier eine ganz andere und gar nicht schlechte Anordnung der Personen gehabt, nämlieh folgende: Sok. Wolan verschieden. Kall. Sokrates aber von Alopeka giebt dies nicht zu. Oder giebt er es zu? Sok. Er giebt es nicht zu; ich

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ZUM GORGIAS. 331

glaube aber etc. Theils sieht es dem Kallikles ähnlich genug, dass er dem

Sokrates so seine Fragen nachthut, und er bleibt dabei der oben aus dem Aristoteles angeführten Regel seines Lehrers treu. Theils ist dies wahr- scheinlicher, als dass Sokrates in seine Seele den Kallikles antworten lässt.

S. 79. Z. 38. Durstend doch? Wie mir wird es hoffe ich den meisten Lesern gehen, dass sie sich je länger je mehr mit dieser Einrich- tung des Textes aussöhnen werden, die eigentlich auch durch die schon vor Bekker bekannten Bücher gefordert war. Wer aber glauben kann, dass was -in einem platonischen Gespräch auf eine so glänzende Weise auf die Spize gestellt wird, auch wol ein Nebenpunkt für dasselbe sein könne, der nur eben nicht unberührt bleiben durfte, dem wollen wir seine Ken- nerschaft platonischer Art und Weise nicht beneiden. Ich meines Theils lobe mir dafür viel mehr den Olympiodoros, welcher von diesem Theil am meisten ergriffen behauptet, der Zwekk des Gespräches sei περὶ τῶν ἀρχῶν τῶν ἡϑιχῶν διαλεχϑῖναι,

5. 80. 2.33. Dass du die grossen Weihen hast vor den klei- nen. Anspielung auf die grossen und kleinen Mysterien, was in der Uebersezung leicht konnte übersehen werden.

8.81. 2.37. Sie dünktien mich beide. Freilich leiden die Worte keine andere Auslegung als die ihnen Routh gegeben.. Aber zu kurz ist dies ausgedrükkt, und aus dem Scheine der grössern Freude auf jeder Seite folgt die Gleichheit so von selbst, dass sie durch kein εἰ δὲ un als ein zweiter Fall darf herbeigeführt werden, welches εἰ δὲ un ohnedies fast wun- derlich ist, da es voraussezt als wäre über den blossen Schein hinaus ein solches grösseres auf beiden Seiten möglich. Man könnto daher fast ver- muthen, es sei hier noch eine. Wunde zu heilen, ohnerachtet auch Bekkers Handschriften nichts verrathen. Aus dem folgenden erhellt, dass das reo«- πλησέως ohne Zweifel richtig ist, und dass Kallikles vorzüglich ein μᾶλλον auf Seiten des Feigberzigen läugnen wollte.

8. 85. Z.40. offenbar ganz kunstlos. Die edeln Liebhaber und Beschüzer der Kochkunst können hier immer aufkommen gegen Platon und sagen, die wahre Kochkunst erforsche ebenfalls die Natur des Geschmakks- einnes und der schinekkenden Stoffe, und berechne gar wol und gründlich, wie diese mit einander zu verbinden und wie sie dem Sinne anzubringen seien, damit die Lust so stark und lange als möglich genossen werde. Nach demselben Muster werden wir dann auch eine andere und bessere Redekunst erhalten als die von welcher Platon redet, und welche er selbst ausgeübt hat so gut als einer.

8. 86. 2.37. in den tonkünstlerischen Wettstreiten. Mit Recht erinnert der Scholiast daran, dass Platon die Lyra nicht ganz ver- wirft, sondern nur diesen ebenfalls auf Volksbeifall angelegten Gebrauch derselben, und mit diesem kleinen Vorbehalt ist auch bald darauf das ganze Spiel auf der Lyra zu verstehen.

Ebend. Z.41. Kinesias, der Sohn des Meles. Diesen nennt der Scholiast des Aristophanes einen welonorög von Thebä, mit einem Beisaz, der, nicht ohne Anspielung anf seinen Namen, wahrscheinlich von einem Komiker oder Satyriker herrührt. Pherekrates hingegen beim Plutarchos nennt ihn den verfluchten Athener, und spricht von seiner Tonsezung zu

332 ANMERKUNGEN.

Dithyramben, unentschieden ob eignen oder fremden. Suidas sagt von ihm: Dieser war wegen Frevels und Ruchlosigkeit berüchtigt; er war aber ein Dithyrambendichter.

8. 91. 2.41. das Epicharmische. Ganz bei einer ähnlichen Ge- legenheit führt Athenaeos Deipnos. VII. Ed. Bip. III. p. 128. den Vers vollständig so an:

Τὰ πρὸ τοῦ δύ᾽ ἄνδρες ἔλεγον, εἷς ἐγὼν ἀποχρέω.

Was zuvor zwei Männer sprachen, dazu bin ich allein genug. Der Scholiast erklärt es aus einem Drama, wo am Ende zwei Rollen von Einem gespielt werden.

8. 92. 2.22. die Rede des Amphion wieder gegeben haben. Dies spielt an auf eine wahrscheinlich nicht mehr vorhandene Stelle aus der Antiope; ähnlich der, welche Valkenaer früher sezt aus dem Stobäus:

᾿Εγὼ μὲν οὖν ῴδοιμι καὶ λέγοιμί τι

Σοφὸν, ταράσσων μηδὲν ὧν πόλις νοσεῖ. Ὅστις δὲ πράσσει πολλὰ μὴ πράσσειν παρὸν, Μωρὸς παρὸν ζῆν ἡδέως ἀπράγμονα,

8.93. 2.32. schön und wohl in Allem leben. Sehr unvollkom- men wird durch die Uebersezung der Gebrauch des εὖ πράττει» in der Ur- schrift ersezt, da wir in der That nicht immer unter Leben sogleich vorzüglich an die Thätigkeit denken. Allerdings mag in der gemeinen Sprache auch das εὖ πράττειν passiver genommen worden sein, als es Platon hier nehmen will; allein der Zusammenhang verbietet jeden Verdacht, als wollte er eben durch den Ausdrukk irgend etwas erschleichen, oder sonst ein leeres Spiel treiben. Denn er hat ja streng erwiesen, dass das angenehme Leben und das wahre Wohlsein nicht eins und dasselbe sei; und da die Sprache in diesem Ausdrukk so offenbar auf seiner Seite ist, war es ein sehr natürliches Bestreben, dieses geltend zu machen in dem damaligen Kampf mit der Aristip- pischen Schule. Wie Ernst es ihm gewesen, sieht man daraus, dass er das εὖ πράττειν als Gruss anstatt des γαέρειν und ὑγιαίνειν zu einem Symbol seiner Schule machen wollte. Eine frühere Stelle im Charmides macht zu- erst auf diese bessere Tendenz in der Sprache aufmerksam; hier aber wird wol der Gebrauch erst eigentlich begründet.

S. 94. 2.17. die Welt als Ein Ganzes und Geordnetes. Hier ist wieder ein philologisches Spiel ganz verloren gegangen, und nur sehr schwach durch etwas anderes ersezt worden, durch eine Andeutung nur, die auch nicht weiter ausgeführt werden konnte, ohne dem Schriftsteller wenig- stens etwas Fremdes zu leihen. Bei dem Platon nämlich heisst was wir in der ganzen Stelle durch Anstand, hie und da auch einer andern Annäherung zu Liebe durch Sitte übersezt haben, überall z00uos. -

Ebend. Ζ. 20. die geometrische Gleichheit. Nämlich die des geometrischen Verhältnisses. Wie Platon diese zur Bezeichnung des ethi- schen gebraucht, ist bekannt genug; Vielen wol weniger aus seinen eignen Schriften als aus dem Aristoteles. Hier konnte die Anspielung wol nur seinen unmittelbaren Schülern, oder denen Wenigen, die mit den Pythago- reischen Philosophemen bekannter waren, verständlich sein, und kündigt sich auch selbst als eine solche an.

ZUM GORGIAS. 333

S.95. Ζ. 22. dass ich zwar nicht weiss. Niemand wird dies wol von einer Ungewissheit die Sache betreffend verstehen, noch es auch als ironie ansehen wollen, die hier ziemlich schaal wäre, sondern es geht nur auf die bei dieser indirekten Behandlung in der Form noch mangelnde wissenschaftliche Begründung.

S.109. 2.3. wie man von den Thessalerinnen sagt. Nach Suidas nämlich, dass sie zulezt Augen und Füsse verlieren.

Ebend. Z.12. in der deines Jünglings. Auch hier ist in der Urschrift wieder das unübertragbare Wortspiel mit Anuos.

S.101. 2.7. Wenn wir nun ...... einander zuredeten. Niebt zu verkennen ist hier eine allgemeine Achnlichkeit mit einer Stelle im Laches. Man sehe Ersten Theiles Ersten Band $. 227— 229, wörtlich aber kommt nichts wieder als das Sprichwort vom Töpfer, und auch das ist anders gewendet, so dass es schr willkürlich wäre eine Nachbildung an- zunehmen.

5. 108, Ζ. 11. mit den eingeschlagenen Ohren. Die Redensart ist bekannt, wenigstens aus dem Protagoras, als von den Lakonisirenden geltend.

Ebend. Ζ. 40. zahm, wie Homeros sagt. Nicht geradezu will sich das im Homeros finden, sondern nur mittelbar findet es Routh in dem Verse Odyss. VI.120. „Sinds unbändige Horden der Freveler wild und gesezlos?*

5.104, 2.21. wäre nicht der Prytane gewesen. Das Ereigniss wird von andern Schriftstellern nicht erzählt; daher auch wenig darüber zu sagen ist, in wiefern der Prytane eine schon abgestimmte Verurtheilung verhindern konnte.

8.108. 2.17. Und gerade ihnen. Dies weicht so sehr von dem ursprünglichen Zusammenhange ab, in welchem hier die Sophisten nur als Beispiel angeführt wurden, dass ich fast glaube, es habe eine bestimmte Absicht und Beziehung gehabt, am wahrscheinlichsten wol gegen den Aristippos, der zuerst auf die Sokratiker die Schmach soll gebracht haben, dass er bestimmte Bezahlung angenommen von seinen Zuhörern.

8.109. Z.7. wer diesen Dienst gut erwiesen hat. Es ist hier offenbar nur von dem Dienste die Rede, den der Philosoph erweiset. Dem kann nun nicht derselbe Dienst wieder erwiesen werden: denn er ist schon gut. Das ἀγτευπείσεται ist also ganz allgemein zu verstehen. Uebrigens ist hier eine kleine Verwirrung in der Rede der Urschrift, welche, hätte ich auch gekonnt, ich nicht gewagt haben würde nachzubilden, weil ich nicht ganz überzeugt bin, ob sie von Platon herrührt, oder ob man nicht das erste εἰ löschen muss.

Ebend. Z.23. ein Mysier heissen. Diese schwierige Stelle scheint noch immer nicht ganz geheilt. Denn wenn man von Suidas Erklärung ausgeht „Sprüchwort auf die, welche böslich ausgeplündert werden, weil um jene Zeit die Mysier häufig von den Nachbarn geplündert wurden,“ so braucht gar nicht Je/« nothwendig zum Sprüchwort zu gehören, und ist vielmehr schwer darin zu erklären; sondern Mvoög ist einer, der sich geduldig aus- plündern lässt, wie auch anderwärts im Platon vorkommt, Mvowv ἔσχατος. Dass aber durch die Casaubonische und Cornarische Verbesserung die im Timaios befindliche Glosse λεία ihre Stelle im Platon findet, darauf ist um

334 ANMERKUNGEN.

so weniger Werth zu legen, als Timaios, wenn er sie in einem sprüchwört- lichen Zusammenhang gefunden hätte, diesen schwerlich würde übergangen haben. Man könnte also mit weit weniger Unkosten lesen σοι Μυσὸν γε ἥδιον χαλεῖσθαι x. τι A. Bekker, der nichts geändert hat, versteht die Worte so: wenn du durchaus das Ding bei dem schlechtesten Namen nennen willst, den man ihm geben kann. Allein recht befriedigen will mich das auch nicht.

8.111. 2.30. Wie also Homeros erzählt. Wenn Jemand etwas Absichtliches darin suchen will, dass dieser Mythos gegen die Weise des Flaton in die Volksreligion hineingespielt ist wiewol er bei der Art, wie Zeus die Weltherrschaft überkommen, sehr leise vorbeigeht zu einer Zeit, wo Platon, wenigstens von weitem, wie es scheint, auf eine dem So- krates ähnliche Art bedroht war: so will ich ihm darin nicht zuwider sein. Die Anspielung aber auf das Aegyptische Todtengericht ist gar nicht zu verkennen.

S.115. 2.7. Beim Homeros. Odyss. XI. 569; die schon im Minos angezogene Stelle, dessen Verfasser, wie man leicht sehen kann, von hier geschöpft hat.

ZUM THEAITETO®S,

8.121. 2,16. wie sonst schon Platon. Man sehe Ersten Theiles Ersten Band S. 217., und Zweiten Band $. 7. u. 8. und die dahin gehörigen Stellen selbst.

Ν᾿, 128, 2.54. Prokios. In seinem Commentar über das erste Buch des Eukieides, im zweiten Buch.

S.131. 2.13. Aber ich zeichnete mir. Ich möchte. nicht mit einem Freunde sagen, diese Stelle stände hier als Anweisung für die Schüler des Philosophen in Beziehung auf seine eigenen Gespräche, und man könnte schon hieraus schliessen, dass er in dieser Form und nicht in zusammen- hängender Rede gelchrt habe. Vielmehr mag dies nur eine Art von Recht- fertigung sein für die mögliche Entstehung so grosser sokratischer Dialogen nach dem Tode des Sokrates. Ein Bestreben, ihre Aechtheit zu beweisen, ist auch hier nicht zu verkennen.

Ebend. 2.24. bis zum Erineon. Eigner Name einer Gegend, wie man aus Pausan. I. 92. sieht, am Kephissos bei Eleusis, wo Pluton, als er die Persephone raubte, soll hinuntergestiegen sein,

Ebend. 2.30. solchergestalt abgefasst. Hier scheint Platon so bestimmt die Form der nur wiedererzählten Gespräche zu tadeln, und sezt die Unbequemlichkeiten so aus einander, dass man fast berechtiget ist zu dem Schluss, alle Platonischen Gespräche, welche diese Form haben, müss- ten früher abgefasst sein, und Platon sich ihrer nach dem Theaitetos gänz- lich enthalten haben. Und in der That, diesen Grund hätten diejenigen nicht vorbeilassen sollen, welche die Republik gern als eines von den Ju-

TEE EL HEERES REED 5

ZUM THEAITETOS. 335

gendwerken des Platon ansehen möchten. Allein so allgemeine Folgerungen dürfen wol aus dieser Stelle nicht gezogen werden, um so weniger, da man aufzeigen kann, was den Platon zu dieser Form, wenn sie ihm auch be- schwerlich geworden war, von Zeit zu Zeit zurükkführen musste. Sie war ihm nämlich unentbehrlich, um das Mimische anzubringen, das oft die schönste Zierde seiner Werke ist, und nicht selten so genau mit ihrem eigentlichen Zwekke zusammenhängt. Nimmt man hierauf Rükksicht, so könnte dies unserer Anordnung noch zu einer neuen Bestätigung dienen, wenn sie einer bedürfte.. Denn wobei konnte jene Form dem Platon eher beschwerlich geworden sein, als bei dem Parmenides, auf den der Theaite- tos, wenn wir ihn und den Gorgias gleichzeitig sezen, unmittelbar folgt. Und wo wir zunächst Abweichungen finden werden von dem Entschluss, den Platon hier gefasst zu haben scheint, da werden wir auch den ange- zeigten Bewegungsgrund antrefien, so dass auch für eine frühere Abfassung des Phaidon diese Stelle nichts beweisen kann.

5. 133. 2.6. sich draussen gesalbt. Dem Uebersezer wird es wol vergönnt sein, den ἔξω δρόμος hier zu überspringen. Es möchte sonst nur, nachdem Heindorf den verwirrten Scholiasten zurechtgewiesen, noch die schwierige Uhtersuchung übrig sein, warum sich die Knaben nicht in dem ἀλειπτηρίῳ, das doch jedes Gymnasion gehabt zu haben scheint, ge- salbt hatten.

8.134. 2.40.41. durch Wissenschaft kundig. Wen es viel- leicht befremdet, hier ooyf« durch Wissenschaft übersezt zu finden, der be- denke, dass es bei dieser Stelle nur darauf ankommt, von einem unbestimm- ten Ausdrukk im gewöhnlichen Gespräch den Uebergang zu finden zu einem bestimmteren. Es ist also bei dem deutschen Wort eben so wie bei dem griechischen nur an die Bedeutung zu denken, die es im gemeinen Leben führt,

S.135. 2.14. Esel sizen. Der Scholiast spricht, Size Esel wird zu denen gesagt, die irgend worin überwunden worden. Die Redensart aber rührt her von den Knaben beim Ballspiel, welche den Besiegten auf einen Esel sezen.

8.136. 2.32. Oder glaubst du. Sehr deutlich wird wol dies an und für sich in der Uebersezung auclı nicht sein, wiewol sie schon etwas zugegeben, indem sie für ovou« „nähere Bezeichnung” sagt. Die Sache aber ist die, wenn Jemand nicht weiss was Lehm ist, so kann er mich auch nicht verstehen wenn ich dem Lehm einen besondern Namen gebe, und ibn den Ziegelstreicher-Lehnm nenne. Es gäbe allerdings eine leichtere Uebersezung, allein sie hätte sich zu weit entfernt. Auch für Lehm statt πηλὸς kann ich nur um Nachsicht bitten.

8.137. 2.29. welche entstehen können durch. Ich musste mir erlauben hier eineu, wenn auch nicht genauern doch unserer Art die Sache darzustellen angemessenern Ausdrukk zu wählen. Was dem Platon bei dem seinigen zunächst im Sinne lag, ist die Darstellung der Zahlen durch regelmässig gestellte Punkte. Daher ganz wörtlich δυγώμενος ἴσος Ἰσάκις γίγνεσθαι, eine Zahl, welche gleiches gleichviel mal werden, das heisst, welche so gesezt werden kann, dass die Anzahl der Beihen von Punkten der Anzahl der Punkte in jeder Reihe gleich ist. So ist auch der

336 ANMERKUNGEN,

folgende Ausdrukk, ὅσαι τὸν ἰσόπλευρον ἀριϑμὸν τετραγωνίζουσε etwas schwierig, über den Sinn desselben aber überall kein Bedenken. Jeder sieht nämlich, dass was hier Längen heisst, die rationalen, was Kräfte, die ır- rationalen Wurzelgrössen sind; jene nämlich weil sie schon als Linien μήχει der Einheit σύμμειροι sind, diese weil sie es nur als Flächen sind, durch ihre Produkte, δυνάμει, oder wie es ausgedrükkt wird δύνανται. Die Stellen des Eukleides, welche zu vergleichen sind, hat schon Heindorf angeführt. Uebrigens hat es ganz das Ansehn, als ob dieser Sprachgebrauch hier zum ersten Male wäre Öffentlich vorgetragen worden. Sehr ausführlich wird die ganze Sache erläutert in Joh, Wolfg. Müller Commentar über zwei dunkle mathematische Stellen im Platon, Nürnb. 1797, jedoch nicht ganz ohne Missverstand im Einzelnen; wie denn gleich die unsern Worten unmittelbar vorhergehenden τὸν ἀριϑμὸν πάντα δίχα διελάβομεν ganz falsch erklärt sind. |

S.141. 2.23. oder auch selbst. Man darf wol nicht nach diesem αὐτοὶ ein einschieben; sonst entsteht eine Dichotomie, die auf die vor- her angeführten Gründe zurükkgehn müsste, als ob diese ihnen entweder von selbst hätten kommen können oder durch Ueberredung, woraus denn unstatthaftes entsteht. Wol aber möchte ein 7 einzusezen sein nach ἤδη, weil allerdings diese Fälle zusammengenommen ἀγγοήσινψτες χατα- φρογήσαντες einen Gegensaz bilden gegen den lezten 7 αὐτοὶ ὑπ᾽ ἄλλων πεισϑέντες.

Ebend, 2. 40. Bisweilen aber. Auch dies ist wol nicht nur so- kratische Erzählung, sondern mag Bezug haben auf Vorgänge in den er- sten Zeiten der platonischen Schule.

5, 144, 2.4. mögen denn .... einig sein. Gern bin ich der Lesart ξυμφερέσϑων gefolgt, denn man muss gewiss dem Platon Gewalt anthun wenn man den vorigen Dualis auf die Weisen und die Dichter be- ziehn will, da er es eigentlich mit den Weisen allein zu thım hat, und die Dichter ihm nur hintennach einfallen. Auch weiset kein re, das sich so leicht dargeboten hätte, auf diese Verbindung hin.

Ebend. 2.8. Dass ich den Vater. Jdlas. XIV. 201. nach Voss, Eine Untersuchung übrigens, in wiefern Epicharmos das Haupt der komischen und Homeros der tragischen Poesie sein kann, und wie Platon dieses möge gemeint haben, wenn sie auch guten Erfolg verspräche, würde nicht hieher gehören.

Fbend. 2.18. dass nämlich allemal .... die Bewegung. Die eigentliche Beweiskraft dieses nicht genug ausgeführten Bazes, der auf den ersten Anblikk etwas aus dem Wege zu liegen scheint, beruht darin, dass wenn nur durch die Bewegung die Dinge erhalten "werden, so werden sie ja nicht als dieselben erhalten; und wiederum wenn dureh die Ruhe immer zerstört, so kann nichts dasselbe bleiben ohne zerstört zu werden.

S, 145. Z. 6. unter der goldenen Kette. Dieser lezte Stein scheint kein schr entscheidender zu sein, wenn nämlich nicht eine andere homerische Stelle gemeint ist als die bekannte Ilias VIII. 18 folg. von welcher höchstens nur das lezte und ziemlich gezwungen hieher gehören kann. Bei der Redensart τὸν χολοφῶγνα προσβιβάζειν ist die Ueberse- zung dem Scholiasten gefolgt, weniger aus historischer Ueberzeugung als

ZUM THEAITETOS. 991

der grossen Leichtigkeit wegen in einer so geringfügigen Sache. Denn sehr ernsthaft hat es wol Platon nicht gemeint mit diesem mythologischen Beweise; sondern es stekkt wol eher eine uns nicht mehr zugängliche An- spielung dahinter auf einen der solche Beweise zu Hülfe genommen für den grossen Saz.

Ebend. 2.16. etwas besonderes. So ist unstreitig ὅτερόν τι zu verstehen, etwas vom Sehen selbst verschiedenes. Heusde aber mag seinen Fund ἑτέρωϑι selbst verbrauchen. |

8.146. Z. 26. jenes aus dem Euripides. Parodie der bekannten Stelle Hippolyt. 612. γλῶσσ᾽ ὀμώμοχ᾽, δὲ φρὴν ἀνώμοτος, die Zunge schwur, doch unvereidet blieb das Herz.

Ebend. Z. 30. die schon alles durehgeprüft haben. Wie dies gemeint ist geht wol aus dem Verfolg zur Genüge hervor; enthalten aber die Worte eine Anführung, so hat die Uebersezung dies nicht ausdrükken gekonnt.

8.147. 2.16. Diese drei Behauptungen. Man könnte überall das Beispiel von den Bohnen statt der unbequemen ἀστραγάλων der Urschrift und so auch insgesammt diese Säze über die Veränderung der Grössenverhältnisse minder schikklich finden zur Erläuterung, als anderes Einzelne, was Platon anführt. Um desto mehr Wahrscheinlichkeit gewinnt der schon von selbst kommende Gedanke, dass Platon dies herbeigezogen, um einige schwere Stellen des Parmenides deutlich zu machen, die dort. wie es die grosse Gedrängtheit des Ganzen mit sich brachte, nicht ganz fasslich ausgedrükkt sind. Indess haben doch diese mathematischen Bei- spiele näher betrachtet auch an sich einen besonderen Werth. Denn dem oberflächlichen Blikk scheint gerade in den mathematischen Beschäftigungen das Mehr und Weniger oft schlechthin gesezt zu sein, ohne dass es gewor- den wäre; Platon aber führt gewaltsam darauf zurükk dass es ein sclches allemal erst geworden ist durch die Vergleichung. Auch jede Zahi ist, was sie ist, jedesmal entweder im Zunehmen oder im Abnehmen.

Ebend. 2.36. wer gesagt hat. Hesiodos nämlich in der Theogo- nie V. 780. Θαύμαντος ϑυγατὴρ πόδας ὠχέκ Ἶρις, des Thaumas Tochter, die schnell bewegliche Iris. Thaumas wird von ϑαυμάζω abgeleitet, und mit dem Namen Iris ein noch ferner liegendes Spiel getrieben.

- 8.149, Z.1. Was aber schnell. Ob diese Stelle, welche wir nur dem Cornar verdanken, von ihm in Handschriften gefunden worden, oder aus der Conjectur ergänzt ist, mag vielleicht schwer sein zu entscheiden ; wahrscheinlicher aber bleibt das leztere. Schon wegen seiner grossen Freude darüber, dass er die Art der Entstehung der mangelhaften gemeinen Lesart aus seiner Verbesserung selbst nachweisen kann, was ihm freilich selten gelingt bei seinen Muthmaassungen, was er aber trozig verschmäht, wenn er sich auf die Libros berufen kann. Auch wagt er häufig eben so viel, nur freilich oft sehr am, unrechten Orte, um nur die genaueste Pünktlich- keit in der Ausführung des coordinirten oder entgegengesezten herzustellen, wobei er denn oft unkritisch genug dem Platon manches leiht, woran dieser nicht gedacht hat, wie oben die γεύσεις und ϑέξεις, die wir ihm gern über- lassen man vergleiche nur 186. d. deshalb ist auch der Uebersezer lange jeder Möglichkeit nachgegangen, diesen Einschub zu entbehren. Allein

Plat, W. Il, Th. I, Bd. 22

338 ANMERKUNGEN.

diesmal scheint der Mann es besser getroffen zu haben, und was Wunder auch, wenn unter vielen misslungenen Versuchen einer geräth, wo der Zu- sammenhang so viel Hülfe darbietet. Die Unmöglichkeit aber, dass die Stelle ihre rechte Gestalt haben könne ohne diesen Einschub, liegt eigent- lich darin, dass bei der alten Lesart von einem und demselben Gegenstande gesagt wird ἐν τῷ αὐτῷ τὴν κίνησιν ἴσχει und dann wieder φέρεται γὰρ, καὶ ἐν φορᾷ αὐτῶν κίνησις πέφυχεν. Uebrigens muss, freilich unserm Sprachgebrauch zuwider, aber unvermeidlich wie es scheint, χέγησις wiewol das gemeinschaftliche für Bewegung und Veränderung durch erstes Wort wiedergegeben werden, woran hoffentlich schon vom Parmenides her der Leser gewöhnt sein wird. Auch hat der Uebersezer überall das Weiss in Roth verwandelt, um der undeutschen Weisse überhoben zu sein.

Ebend. Z.7. eines von jenen beiden. Es müsste ganz über- flüssig scheinen erst zu erinnern, dass unter diesen beiden zu verstehen ist das Auge und der miterzeugende Gegenstand, wenn nicht der Scholiast es so wunderlich missverstanden hätte von einer Gesichts-Empfindung des Schwarzen, die zu einem wahrnehmbaren Weissen kommen könnte. Man vergleiche nur. oben $. 145. den Saz des Sokrates „Also wenn das etc.”

Ebend. Z. 40. einzelne Thier und seine Gattung. Die Ueber- sezung hat hier, um sich doch einigermaassen zu helfen, das lezte τὲ mehr auf ἕχαστόν gezogen, als auf εἶδος, Denn wenn man es so nimmt wie das erste: so ist eine solche Zusammenstellung von &v9owrros, λίϑος, ζῶον und. εἶδος wahrlich höchst wunderlich,. Wahrscheinlich läse Jedermann lieber mit mir ἄγϑρωπον re τίϑενται zul λίϑον καὶ ζῶον, ἕχαστόν TE χαὶ εἶδος oder χαϑ'᾽ ἕχαστόν τε χαὶ xar εἶδος. man Mensch sezt und Stein und Thier, einzelne und als Gattung, indem ja Mensch, auch der einzelne, schon ein zusammengefasstes ist.

S. 151. 2.16. und wenn wir im Traume, So wenig ich die Heindorfsche Vermuthung ὄναρ ἅττα statt ὄναρ ὀνείρατα verfechten möchte, so wenig konnte ich in der Uebersezung dem Text folgen. Denn der Fall, ‘dass man im Traume Träume erzählt, ist gar nicht so gemein dass er geradehin angeführt werden konnte, und passt eben so wenig genau in den. Zusammenhang.

8.152. 2.28, Unähnlich dann. Wenn man hier nicht die Per- sonen so abtheilt, wie der Uebersezer mit Heindorf und Bekker gethan hat: so geht Theaitetos mit seiner Antwort über die Frage hinaus, und es fällt auch, der Structur nach, ein Nachdrukk auf das ὥσπερ, welcher dem Zu- sammenhange nach nicht darauf liegt. Weiter oben aber 8. 152. Z. 4. „Es ist ja unmöglich” hat sich Heusde ganz unnüz eine Aenderung der Personen erlaubt, lediglich weil er dem sokratischen Knaben eine verstän- dige Antwort missgönnt, deren er doch in diesem Gespräch so viele giebt.

8.153. 2.13. Wenn er aber den Kranken trifft. Eigentlich Gegensaz zu der Stelle 8. 152, Wird also nicht jedes wenn es den gesunden Sokrates trifft ete. In dieser ist freilich noch nicht vom Weine. die Rede, sondern nur in dem zwischen beiden Stellen liegenden, woher er nun 818 Beispiel beibehalten wird; das unbestimmtere Zeitwort hingegen ist aus dieser früheren Stelle heruntergenommen.

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7UM THEAITETOS. 339

Ebend. 2.20. und machen. Dies ἐποιησάτην ist.in der Urschrift sehr hart ausgelassen. Denn das 2yevvno«rny von oben hier suppliren zu wollen, würde den gleichförmigen Sprachgebrauch in der Behandlung dieses ganzen Gegenständes völlig zerstören. Man vergleiche die Stellen S. 149. 2.4. Wenn nun ein Auge, und 8.153. 2.7. Und zwar hat die Wahr- nehmung etc. Die mittleren Glieder, nämlich das wahrnehmbare und die Wahrnehmung werden gemeinschaftlich von den beiden Factoren, dem thä- tigen und dem leidenden, erzeugt. Die Rükkwirkung derselben, oder das Wie- werden des Organs und des Gegenstandes ist keine Erzeugung, son- dern ein nach verschiedenen Seiten gerichtetes Wirken des gemeinschaftlich erzeugten mittleren, und ein auseinandergehendes Werden der beiden Facto- ren. Man sehe unten $. 153. Z. 24. Also werde sowol ich als aueh jenes etc.

S.154. 2.38. das wahre Umtragen. Am fünften Tage wurde das Kind um den Heerd getragen, und dadurch, wie es scheint, förmlich in die Familie aufgenommen. Hier wenigstens beruht offenbar der Ver- gleichungspunkt darauf, dass durch diese Handlung erst entscheidend aus- gesprochen wurde, ob es für eine gesunde Geburt sollte gehalten werden, Der Scholiast sagt, dass das -Kind auch bei dieser Gelegenheit benannt wurde; was aber eigentlich erst bei einem zweiten Fest am siebenten Tage zu geschehen pflegte.

8.155. Z. 25.26. seine Wahrheit so beginnt. Von der Wahr- heit nämlich war auch mehreren Aussagen zufolge ein Buch des Protagoras überschrieben. Platon spielt hier öfters mit diesem Umstand, wobei jedoch zu bemerken ist, dass man die Worte immer auch ohne diese Voraussezung verstehen kann, und dass unter den verlorenen Schriften des Antisthenes auch eine Alndel« vorkommt.

8.157. 2.10. ob sie sind oder nicht sind. Das sind, auch nach dem Diog. Laert., eigne Worte des Protagoras, und nach mehreren Zeug- nissen der Anfang einer seiner Schriften. Wollte man übrigens hier fra- gen, wenn. doch Platon auf diesen Beweis so wenig Werth gelegt, warum er ihn dann erst geführt: so wäre dies so weit von der Sache wie der Scholiast, welcher einfältig genug meint, Sokrates ironisire seinen eignen Beweis, um dem Theaitetos neuen Muth zu machen. Er will ihn als Be- weis nicht geltend machen, und führt auf seine hierüber im Gorgias aufge- stellte Lehre so kurz zurükk, dass man es leicht für Rükkweisung erkennt; er will aber doch die Folgerung bemerklich machen, und beides konnte im Gespräch nicht schöner vereinigt werden.

8.158. 2.7. Vortrefflich Theaitetos. Diese vom Theaitetos so leicht widerlegte Einwendung will Platon, wie man schon hieraus und auch aus der Antwort des Sokrates sieht, keinesweges als eine Sophisterei vorgetragen haben; sondern als etwas zur Sache gehöriges, das er nur dem Leser überlassen will,. selbst weiter zu verfolgen und zu gebrauchen. Es liegt nämlich auch in diesen Dingen ein Element der Erkenntniss, welches nicht auf die Wahrnehmung kann zurükkgeführt werden, und dessen Da- sein doch Niemand abläugnen wird, Alles was Sprache heisst wird als solche durch den Protagoreischen Saz vernichtet, indem sie nur als ein Wunder zusammentreffender Willkür erscheinen kann.

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340 ANMERKUNGEN.

S. 160. Z. 25. aus dem blossen Denken. Im Gegensaz gegen das zu Hülfe nehmen der Anschauung in der Geometrie vermittelst der Fi- guren heisst alles Philosophiren λόγος ψιλός.

8.162. 2.29. nicht nur selbst als ein Schwein. Auch hier scheint eine Anspielung auf irgend eine andere Polemik zu liegen, wahr- scheinlich deren man sich gegen den Platon bedient hatte, eine Aristippische oder Antisthenische. Man sieht sonst nicht die mindeste Bedeutung, und in dem mimischen Werth kann sie nicht liegen. Dasselbe gilt von der Zurechtweisung, welche hier Protagoras dem Sokrates ertheilt über die Be- dingungen, unter denen man glauben könne, einen Abwesenden im Gespräch widerlegt zu haben.

8.163. 2.18. kann eine bessere bewirken. So bleibt die Ueber- sezung bei der gemeinen Lesart χρηστὴ, und entgeht der harten Ellipse und dem Doppelsinn, ob vermöge der besseren Beschaffenheit des Sophisten unmittelbar oder vermöge der durch ihn dem andern eingepflanzten das bes- sere Vorstellen bewirkt wird.

Ebend, 2.27. gesunde Wahrnehmungen und Wahrheiten Ich habe mich nicht enthalten gekonnt die Conjectur ἀληϑείας für ἀληϑεῖς, ohnerachtet auch keines von den Bekkerschen Büchern sie bestätiget, in die Uebersezung aufzunehmen. Denn unmöglich kann Protagoras hier, wo er zeigen will, dass der Unterschied von Weisheit und Unweisheit sich da- mit verträgt, dass alle Wahrnehmungen wahr sind, dennoch von wahren Wahrnehmungen so reden, dass eben wie den gesunden die krankhaften so auch ihnen die falschen müssten gegenüberstehen. Das ἀἐληϑεῖς ist also gewiss und nothwendig falsch. Und näher kann wol keine Verbesserung liegen, als diese, auf welche wir auch durch das re hinter αἰσϑήσεις ge- führt werden, und die den Forderungen des Zusammenhanges so ganz ge- nügt, denn gerade gesunde Wahrheiten und kranke braucht hier Protagoras.

8.164. Z.23.. zu Feinden dieser Sache. Dies sieht unstreitig zurükk auf das was Sokrates, wie er uns im Gorgias erzählte, behorcht hat vom Kallikles und einigen andern, und soll sie entschuldigen, dass bei der sophistischen Behandlung der Untersuchungen es nicht anders möglich sei.

8.165. 2.13. seine Rede. Die Uebersezung liest αὐτοῦ τὸν λόγον statt αὖ τοῦτον τὸν λόγον, eine Veränderung, die sich auch ohne Hand- schriften machen lässt. Denn das αὖ τοῦτον klingt unvermeidlich als ob hier von einem neuen λόγος die Rede wäre; und niemand wird sich wol leicht mit Heindorfs Vertheidigung begnügen, dass das αὖ zu παίζοντες zu ziehen sei. Rs

Ebend. Z. 32. nach Art des Antaios. Verwirrt ist allerdings die- ses plözliche Abspringen vom Skirrhon zum Antaios, der freilich hier das passendere Beispiel ist. Zu erklären aber ist die Sache wol so, dass T'heo- doros dem Sokrates erst die absolute Gewaltthätigkeit scherzend vorwirft -— wie denn Skirrhon keinen Reisenden vorbeiliess, sondern alle ins Meer warf hernach aber dies mildernd näher bestimmt, da ja Antaios es wenig- stens noch auf einen Kampf ankommen liess.

5, 170. Z. 25. das Wasser welches abfliesst. Das in der Wasseruhr, wonach die Dauer der gerichtlichen Reden bestimmt ward. 30

ZUM THEAITETOS. 341

auch zwang ein Gesez die Rede, bei dem Gegenstande der Klage zu bleiben. Hier scheint übrigens eine Anspielung zu sein auf Vorwürfe, die man ihm gemacht über die Länge seiner Dialogen und über deren freie Composition, die.man wahrscheinlich, weil es für eine andere Gattung noch keine Theo- rie gab, rhetorisch beurtheilen wollte.

8.171. Ζ. 81. davon weiss er weniger. Platon hat uns in frü- heren Dialogen Beispiele genug gegeben, dass er guten Bescheid weiss so- wol mit den ihm verwandten als mit den andern edeln Häusern des Vater- landes. Er will aber wol hier ausdrükklich zu erkennen geben, dass er hierauf eben gar keinen Werth legte. Oder sollen wir mit diesen Worten Beweis führen gegen den Charmides, wo Sokrates die edlen Geschlechter so vortrefllich kennt? Und würde nicht vielmehr ein späterer der den Platon so offenbar nachahmen wollte, als er im Charmides müsste nachge- ahmt sein, sich diese Worte wol gemerkt haben? Die £raıpeicı waren Privatverbindungen auf politische Angelegenheiten und Parteien Bezug ha- bend; hier wird ihrer Bemühungen die Aemter an sich zu ziehen erwähnt.

S. 172. Z.21. so erregt er Gelächter. Auch dies sieht aus wie eine Vertheidigung gegen gemachte Vorwürfe. Nur ist uns kein Fall in Piatons Leben bekannt ausser der ihm beigelegten Absicht, den Sokrates, und späterhin den Chabrias zu vertheidigen. Und unter seinen Schriften könnte es nur auf die Apologie gehn, wo aber Zeit sowol als Gegenstand genau scheinen beobachtet zu sein, oder auf Menexenos.

8.173. Z.15. und der funfzigste von ihm. Mit diesen Worten weiss ich nicht recht was zu machen. Will Platon einen andern bezeichnen als den fünf und zwanzigsten vom Amphitryon, so vermisst man ein αὖ oder dergleichen; will er denselben bezeichnen als den funfzigsten von dem Ahnenstolzen so müsste theils beides zusammenstehen, theils würde er wol ἀπ᾿ αὐτῶν geschrieben haben. Sollten sie eine sehr alte Glosse sein zu dem πέντε χαὶ εἰχοστός Doch habe ich sie der Uebersezung nicht entzie- hen wollen auf einen durch so viele Bücher gar nicht begründeten Verdacht.

8.173. 2.28. Glükklich ist ein König. Besser wäre es und dem vorigen angemessener, wenn die Worte erlaubten die Frage so zu fassen: Ob dieser und jener König glükkselig ist, und im Besiz vieles Gol- des. Wenn man etwa dem vorigen ähnlich lesen könnte τίς βασιλεὺς x. τ. }, Doch könnte man beinahe glauben eine Anspielung habe hier die abwei- chende Stellung veranlasst.

8.177. 2.380. wenn er....nicht. Da die Handschriften dieser Stelle nicht helfen wollen: so habe ich doch vorgezogen statt des Hein- dorfischen zn für un, welches auch Bekker in den 'TT’ext genommen hat, das μὴ stehen zu lassen und dagegen das αὑτῷ am Ende zu löschen. Natürlicher und leichter ist dies auf jeden Fall. Denn da Sokrates nur die Antwort des T’heodoros bestätigend aufnimmt, so muss er sich auch an das ὑπισχνεῖτο διαφέρειν αὐτὸς geradezu halten. Auch war das „wenn er gar” in der ersten Auflage der Uebersezung noch eine unerlaubte Nachhilfe, die dem hier gewiss wunderlichen und harten πὴ gegeben wurde.

8.178. Z.31. mit denen zu Ephesos. Man sehe die Einleitung. Welches aber auch die nähere Beziehung sei: so ist das absolut unwissen-

342 ANMERKUNGEN.

schaftliche in den Prineipien und in der Methode der Ionischen Philosophie als eins und unzertrennlich im Verfolg dieser Stelle sehr schön dargestellt.

S.179. 2.34. nämlich das unbewegliche. Ein sehr ähnlicher.

Vers ist in der Füllebornschen Sammlung v. 92, aber doch möchte ich keinesweges so bestimmt entscheiden, es sei derselbe, dass ich aus jenem Vers etwas in dem gewöhnlichen Text zu ändern wagte ohne Handschriften.

S.180. 2.1. wie die, welche auf dem Uebungsplaz. Pollux beschreibt dies Spiel ἑλχυστένδα oder διελκυστίνδα genannt so: Zwei Hau- fen von Knaben ziehn einer den andern, bis der stärkere den andern ein- zeln zu sich herübergebracht hat. Die Beschreibung kommt dem, was hier unter einem andeın Namen angeführt wird, nahe genug, genügt aber doch unserer Stelle nicht völlig, nach der man vielmehr einen dritten Haufen

vermuthen müsste, der zwischen den beiden andern Parten mitten durch zu

laufen sucht, von beiden aber gejagt wird, so dass jeder ihn auf seine Seite zu ziehen strebt. So dass man vielleicht zu früh behauptet hat, διὰ γραμμῆς παίζειν und &xvorivda sei einerlei, wenn man es anders nur aus dieser Stelle gefolgert hat. |

Ebend. Ζ, 9. so wollen wir im Gegentheil. Die Uebersezung hat hier den Knoten, von dem freilich ziemlich gleichgültig ist, wie man ihn löse, gerade durchgeschnitten, und liest παρ᾽ αὐτοὺς ἀπ᾽ αὖ τῶν etc. Fast eben so liest jezt Bekker. Das unbewegliche bewegen, sagt der Scholiast, ist ein Sprüchwort von Frevleın, die an das heilige Hand anlegen; Altäre, Gräber, Grenzen durften nicht gerührt werden. Auch hat hier ein Wortspiel verloren gehen müssen mit dem Worte στασιῶται, welches sowol heisst, die das Ganze feststellen, als auch, die Parteigänger des Ganzen sind, weil nämlich nach jener ionischen Lehre ein Ganzes über- haupt eigentlich nicht statt findet.

Ebend. Z. 25. oder, wie mir scheint, zwei. Dass Platon die beiden Arten von.zfvnoıs, die im Parmenides schon als bekannt vorausge- sezt werden, hier erst construirt, könnte verleiten, jene Stelle für später anzusehn, als die unsrige. Diese ist aber vielmehr Vertheidigung und Er- klärung von jener, wie man aus dem ganzen Ton sieht, namentlich aus dem πάσχωμεν ἄν τι καὶ δέῃ.

Ebend. Ζ. 39. und die Ortsverwechselung. Dies ist auch im weitesten Sinne zu nehmen, und soll sowol die Bewegung im Ort als die Bewegung aus dem Orte bedeuten. Denn nachdem wir Bewegung haben hergeben müssen, um das Ganze zu bezeichnen, können wir es nicht auch für die Hälfte gebrauchen, und haben für diese eben so wenig ein passen- des Zeichen als Platon. |

5,181. 2.19. ohngefähr auf diese Art erklärten. Merkwürdig ist es, wie Platon in def Darstellung dieser Ansicht wechselt, um sie mög- lichst aufs klare zu bringen. Dies ist nun der’ dritte Versuch und gewiss der vollkommenste. Denn in den früheren ist jmmer noch das allgemeine und beharrliche nicht genug vernichtet. Das αἰσϑητὸν an dieser Stelle ist gewiss falsch; allein man kann schwerlich etwas anderes substituiren als αἰσϑαγόμενον, wie es sich auch etwas weiter unten findet, wo eben diese Stelle erklärt wird, Gegen das scharfsinnige αἰσϑητὴν ist einzuwenden, dass

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ZUM THEAITETOS. 343

dieses schwerlich von dem Organe allein konnte gesagt werden, und’ von diesem, nicht von dem ganzen Menschen, muss hier nothwendig die Rede sein.

᾿ς Ebend. 2.24. Doch Beschaffenheit ist dir vielleicht. Um dies zu werstehn, muss man den Schluss machen, dass ποιότης ein vorher unbekanntes Wort hier zum ersten Male von Platon ist gebraucht worden.

8.182. Z. 40. damit wir nicht. Es ist deutlich, dass ‚dieser Zusaz auf die eben vorgenommene Verwandlung des 0097 εἶναι in 0097 γίγνεσϑαι geht. Vun Personen, welche befestigt werden könnten, was doch in αὐτοὺς liegen müsste, ist also gar nicht die Rede, weder von diesen noch jenen; sondern man muss lesen ἵγα un στήσωμεν αὐτοῦ ro τῷ λόγῳ.

8.183. Z.12. geben ihm immer noch nicht zu. Ich habe mich dem οὔπω wieder zugewendet, und erkläre die früher für das Stephanische οὕτω angeführten Gründe für richtig. Die Uebersezung selbst rechtfertigt dieses so, dass ich nichts hinzuzufügen brauche.

Ebend. 2.37. dass wir sie nicht etwa täppisch mustern. Das täppische, plumpe und dabei ungründliche (φορτικὸν) einer solchen σχέψις wird vom Sokrates erklärt durch die folgenden Worte: Ich fürchte daher, dass wir u. s. w.

8.185. 2.2. Weshalb aber. Ich nehme das Ganze als eine Frage, wie sie oft vorkommt, um auf den Zusammenhang, auf die Bedeutung eines neu angeregten Punktes aufmerksam zu machen. Sokrates aber unterbricht sich mit dem ἴσως. Dies alles wird sehr schleppend, wenn man erklärt und interpungirt wie Fiein. Ueberdies enthält das dem εἴ rıyı folgende gar nicht die Absicht der Frage, sondern ihre Theile. Die Absicht ent- wikkelt sich erst nach jener Unterbrechung im weiteren Ausfragen, nämlich um von der Verschiedenheit der sinnlichen Wahrnehmungen und ihrem Zusammenhang mit den Organen auf das zu kommen, was von anderer Art und auf anderem Wege vorgestellt wird.

Ebend. Z. 18. über beides etwas denkst. Schon durch den Ausdrukk, indem er zuerst dıeyosi sagt und hernach αἰσϑάγοιἁ ἄν, führt Platon darauf das Denken gleich von jenen Werkzeugen zu scheiden, mit- "telst deren immer nur einzelne Seiten der Dinge wahrgenommen werden.

8.187. 2.2. das geschehene und gegenwärtige. Dies scheint sich ausschliessend auf das ἀγαθὸν und χαχὸν zu beziehen, wie Platon dieses bisweilen vom χαλὸν und αἰσχρὸν unterscheidet. Aber man wundert sich, wie dieses gerade hier ausführlich herausgehoben wird.

8.188. Z.5. vielmehr ist es jezt. In der Personentheilung bin ich hier der Ald. gefolgt, wie auch Bekker gethan hat. Sokrates fängt weit besser mit dem ἀλλὰ an nach Theaitetos Befriedigung und Freude an der bloss negativen Auflösung; sonst würde schon in dem Ausdrukk die- ser Freude selbst eine Hinweisung darauf liegen, dass es hieran nicht genug sei.

8.188. 2.15. das Vorstellen genannt. Der Verfolg wird diese Uebersezung von δοξάζειν rechtfertigen, welche gleichmässig wenigstens durch zwei Gespräche hindurchgehn muss. Vorläufig bemerke man nur, dass eigentlich hier nichts als die unmittelbaren sinnlichen Eindrükke, die παϑήματα, ausgeschlossen sind, und alles übrige in Eins zusammengefasst werdeu soll, Oben wo Sokrates zuerst aufmerksam darauf machte, dass es

344 ANMERKUNGEN.

noch etwas anderes gäbe, nahm er stärker abstechende Beispiele aus dem Gebiete des διανοεῖσθαι, jezt aber haben wir ein grösseres vor uns.

8.189. 2.23. darum wissen. Platon bedient sich hier eines gar nicht wissenschaftlich bestimmten, überhaupt gar nicht der Wissenschaft beson- ders angeeigneten Ausdrukks aus dem gemeinen Leben, um die Resultate der Wahrnehmung und der Vorstellung zu bezeichnen. Es war keiner vor- handen, der für alle folgenden Fälle in unserer Sprache schikklich gewesen wäre, und eben so wenig wissenschaftliche Anmaassung hätte. Denn von dem eigentlichen Wissen unterscheidet sich dieser durch die Struktur hin- länglich. Die hier ausdrükklich bei Seite gesezte Untersuchung über das Lernen wird das folgende Gespräch, wiewol unter einem etwas verän- derten Gesichtspunkt, aufnehmen. |

8.190. Ζ. 38. ein Etwas. Eine Umkehrung hat sich die Ueber- sezung hier erlaubt, indem sie ἕν nicht „irgend eines” giebt, sondern „ein Etwas.” Die Sprache schien dies zu fordern, und es konnte gewährt wer- den, da der Begriff der Einheit hier auf keinen Fall eine Hauptrolle spielt.

8.191. 2.19. Weder auf diese Art also. Die Vielen, die hier ohnstreitig Sophisterei finden werden, thun dem Platon sehr Unrecht. Sie mögen vornehmlich zurükksehn auf das in der Einleitung schon gesagte, dass es besonders darum zu thun ist, die Erkenntniss- von der Vorstellung des Einzelnen als solchen zu unterscheiden, und mögen dann bedenken, dass sich Platon auf den Standpunkt derjenigen stellt, die eben alles, was über die leztere hinausgehen soll, läugneten, denen also alles vom einzel- nen und von aussen kommt.

S.193. Ζ, 1. oder auch gar ein Wahnwiziger. Man kann diese Unmöglichkeit, wie sie Sokrates aufstellt, getrost auch vom Wahnsinn be- haupten, und es ist keine Ursach etwas zu ändern. Denn indem man im Wahnsinn doch eine Verknüpfung sezt, sezt man auch diese erste Bedin- gung jeder Verknüpfung. Nur das gar hat sich die Uebersezung heraus ge- nommen, und etwas ähnliches vermisst man freilich ungern in der Urschrift.

Ebend. Z. 9. wiederum. Das sehr unbequeme αὐτὸ nimmt sich die Uebersezung heraus in «U zu verwandeln, und das Komma hinter τῆδε zu löschen.

8.194. 2.26. damit wir. doch ein-Wort haben. Die Redensart λόγου ἕνεκα hat freilich auch hier ihre gewöhnliche Bedeutung; allein sie geht nicht auf das, was Sokrates eigentlich zur Anschauung bringen will, sondern nur auf die Bezeichnungsart, und dies rechtfertigt den- Uebersezer. Denn mit dieser war es freilich nicht so ernstlich gemeint, wie es einige pathetische Männer genommen haben.

S. 195. 2.15. was er aber ebenfalls nicht wahrnimmt. Dies. Abwesenheit der Wahrnehmung ist das gemeinschaftliche Merkmal der er- sten vier Fälle, und muss, wo es nicht besonders ausgedrükkt ist, supplirt werden. Aus der Erläuterung sieht man dies deutlich. Eben so ist in den zweiten vier Fällen das Abzeichen, die Erinnerung an frühere Wahrneh- mung ausgeschlossen, und so in der blossen Wahrnehmung bereits einge- standener Weise keine falsche Vorstellung möglich.

S.196. 2.4.5. oder auch für etwas. Heindorf erklärt anders: „oder auch etwas das er nicht weiss aber wahrnimmt, für ein anderes sol-

δ ZUM THEAITETOS. 845

ches, das er kennt und wahrnimmt.” Allein wir haben wol kein Recht an- zunehmen, der zweite Gegenstand sei ausgelassen deshalb, weil er dem ersten gleichnamig ist; denn im lezten Fall findet dies ebenfalls statt, und er ist doch nicht ausgelassen. Auch deutet die Struktur mehr darauf, dass der erste Gegenstand aus dem vorigen zu suppliren ist. Die Erklärung des Uebersezers scheint sich auch dadurch zu bestätigen, dass in der Er- läuterung zuerst der lezte hier aufgestellte Fall belegt und anschaulich gemacht wird, und dann die beiden ersten mit einander verbunden werden.

8.198. Z.28. Mark der Seele. Der deutsche Leser ınag sich hier mit einer eben so entfernten Aehnlichkeit begnügen, wie die, an welche Platon hier den hellenischen mahnt. Denn wenn Homeros das Herz x7o nennt, hat er dabei eben so wenig an χηρὸς gedacht, als Platon seinen Wachsguss wird in das Herz sezen wollen. Die unsrigen mögen dann bei dem Mark lieber an das Him denken. Nur freilich kommt unten eine Stelle, wo dem Homeros gleichsam vorgeworfen wird, dass er das λάσιον χῆρ, die behaarte Brust, rühme, und dazu will sich die Uebersezung nicht fügen.

8. 199. Z. 26. Nun wahrlich. Auch hier wusste die Uebersezung - nicht auf eine so nachdrukklose Weise anzuknüpfen, als die Urschrift. Uebrigens wird wol niemand glauben, dass das Vorige soll hiedurch umge- worfen werden, was mit solchem Fleiss und mit so grosser Genauigkeit durchgeführt worden. Zumal Jedermann gewiss auf den ersten Blikk diese Ausführung unterscheidet von andern Stellen, wo Sokrates eine Zeitlang einer Behauptung hilft, die er bernach widerlegt. Sondern nur die Grenzen für das Gebiet der falschen Vorstellung, welche man den angeführten Beispie- len gemäss zu eng gezogen hatte, sollen erweitert werden, um den Unter- schied dieses Gebietes von dem der Erkenntniss noch genauer zu bestimmen, und besonders auch der Mathematik ihren Ort anzuweisen. Das wunderliche Bestreben des Sokrates, den Theodoros lieber als den Theaitetos ins Ge- spräch zu ziehn, welches so schwer zu verstehen ist, wenn man es nicht bloss mimisch und müssig deuten will, habe ich mir immer hieraus erklärt, dass Platon dadurch die Aufmerksamkeit desto mehr auf das wenige richten wollte, was er über die Mathematik sagt, und was für seine wissenschaft- liche Ansicht von so grosser Bedeutung ist.

8.201. 2.37. Ich auf gar keine. Auch dies scheint sich auf einen Vorwurf zu beziehen, der dem Platon gemacht worden; etwa dass er undefinirte Worte gebrauche oder dergleichen.

8. 208. 2.32. Zahlen selbst. Bekker hat zwar das ἐγτὸς im Text beibehalten; allein die Uebersezung hat sich an das αὐτὰ einiger Hand- schriften, welches nämlich statt αὐτοὺς τοὺς ἀριϑμοὺς steht, und den Ge- gensaz bildet zu dem ἄλλοτι τῶν ἔξω ὅσα ἔχει ἀριϑμόν. Dieser Gegensaz fehlt nach der gewöhnlichen Lesart und darf nicht füglich fehlen; wogegen durch das ἐντὸς das πρὸς αὑτὸν, was doch hier nur ein Nebenpunkt ist, viel zu stark accentuirt wird. Ausser dem aber ist mir auch noch das vor αὐτὸς verdächtig, indem es einen Gegensaz zu dem πρὸς αὐτὸν erwar- ten lässt, der im folgenden nicht liegt und auch für die Sache nichts aus- tragen würde, wenn nicht etwa die ursprüngliche Hand diese war N αὐτὰ πρὸς αὑτὸν, ἄλλοτε x. τ. 4,

346 ANMERKUNGEN.

8. 205. 2.8. Wenn das Verwechseln. Sehr richtig hat Heindorf aufmerksam darauf gemacht, dass dies besser noch an der vorigen Rede des Sokrates hinge, und die unmittelbar vorhergehende Frage dann weg- fiele. Bestimmter konnte übrigens indirekt nicht auf die Natur der Er- kenntniss im Gegensaz der Vorstellung aufmerksam gemacht werden, als durch diese Darlegung, dass unmöglich in der Erkenntniss der Grund liegen könne erstlich sie falsch anzuwenden, und dann noch das falsche für richtig zu halten. Von hier aus übersieht man daher auch, wenn man die Winke über die Natur der Zahlen zu benuzen weiss, am klarsten das Gebiet der platonischen δόξα.

8. 206. 2.39. Wer ins Wasser vorangeht. Der Scholiast sagt: Auf das was durch die Erfahrung erkannt werden muss. Denn als Einige in einen Fluss stiegen, um hinüberzugehn, fragte einer den Vorangehenden, ob das Wasser tief wäre, und der antwortete, das wird es selbst zeigen.

S. 207. 2.23. Wenn also Richter. Dies ist offenbar Vertheidigung des Gorgias, aus welchem man die Consequenz ziehn konnte, alles sei also Unrecht, was durch die dort geschilderte Ueberredung ohne Wissen be- wirkt worden.

Ebend. Z. 32. und Gerichtshof. Wenn das Wort διχαστήριον nicht eine Randglosse ist, was sich doch nicht recht erklären lässt: so ge- hört es gewiss hierher, und die Uebersezung wollte es lieber wandern lassen als löschen.

Ebend. 2.38. Und wovon es keine Erklärung gebe. Gewiss ist aus dieser Stelle, dass ἐπιστητὸν damals ein neues Wort war, und zwar ein nicht Platonisches. Wem aber das Wort, und also wahrscheinlich auch die hier in Betracht gezogene Erklärung. der Erkenntniss zukomme, ist nicht auszumiiteln. Eben deshalb aber darf man um so eher glauben der megarischen Schule.

8. 208. 2.29. die Verknüpfungen hingegen. Nämlich Silben und Verknüpfungen überhaupt ist ein und dasselbe Wort; eben so auch Buchstab und Urbestandtheil.

8. 211. 2.25. Wie wenn wir sagen. Es dürfte schwer sein, diese verderbte Stelle gründlich und mit sicherer Hand zu. heilen. Soviel ist offenbar, eiumal muss in dem folgenden τὸ πᾶν herauskommen, und das andere Mal τὰ πάγτα; hier steht beidemal πάντα. Ob aber das πᾶν aus dem ersten n&yre τὰ ἕξ zu machen ist, oder aus dem lezten τὰ πάτα AE- yovres, wo vielleicht noch mehr verderbt ist, das möchte schwer zu ent- scheiden sein. Nämlich es ist schwer, dass auf οὐδὲν λέγομεν die Antwort sein soll Avayxn, wenn doch gemeint wird, dass etwas gesagt werde durch diesen Unterschied. So dass man hier fast das ἄλλο einschieben möchte hinter οὐδὲν, was schon Stephanus vermuthet hat. Doch hat sich die Uebersezung dessen enthalten und lieber an dem ἀγάγχη etwas gekünstelt; denn der Fortschritt ist so richtiger. Darum nun ist es wol besser, dieses unberührt zu lassen und oben statt πάγτα τὰ FE lieber πᾶν τι τὰ ἕξ zu lesen.

8. 212. 2.18. das gesammte Sein. Die Uebersezung glaubt hier τὸ ὃν πᾶν von oben wiederholen zu müssen.

S. 214. 2.55. wol hier eigentlich die Erklärung. Hier muss- ten wir dem ‘gewöhnlichen schon bestimmteren Gebrauch des deutschen

ZUM THEAITETOS. 347

Wortes durch eine andere Redensart erweiternd zu Hülfe kommen, um, so weit 'es nöthig war, einigermaassen den grossen Umfang des griechischen λόγος zu erreichen.

8.215. Z.21. Wie Hesiodos vom Wagen sagt. Tagewerk V. 454. Kennt doch der Tropf nicht einmal die hundert Hölzer des Wagens.

S. 218. 2.7. wie bei den grossen auf die Entfernung be- rechneten Gemälden. S8o hilft sich in Nebendingen dieser Art der Unwissende. Denn bis Kunstverständige etwas sicheres über diese oxı«- γραφίέα entscheiden, nehmen wir aus den verschiedenen Stellen dieses her- aus, was auch hieher vorzüglich passt, dass dies etwas unserer Decorations- malerei annäherndes war.

8. 219. Z.2. in wiefern dieses. Unwissend worauf das bezogen werden könne, da es auf σιμότης nicht bezogen werden darf, denn es wird ja eben noch etwas anderes erfordert, habe ich gelesen, wie gleich unten 7 διαφέρει τι.

ZUM ΜΕΝΟΝ.

5. 282, 2.28. Sohn des Anthemion. Plutarchos erzählt ein Ge- schichtchen von der Liebe des Anytos zum Alkibiades, das eine Mal von Anytos, dem Ankläger des Sokrates, das andere Mal von Anytos, dem Sohne des Anthemion. Allein auf dieses. Geschichtchen möchte nicht viel zu bauen sein: denn es scheint fast mit dem zu streiten, was in der Xenophontischen Vertheidigung des Sokrates erwähnt wird, dass des Anytos Sohn zur Zeit jener Anklage noch ein unerwachsener Knabe gewesen, und mit dem Schluss, den man aus dieser Stelle verbunden mit dem Menon ziehen muss, dass Anytos Vater erst allmälig durch ein weitläuftiges Gewerbe zu Reichthum gelangt war, daher es schwerlich seinem Sohne in jüngeren Jahren einfallen konnte, den Liebhaber des Alkibiades zu machen.

Ebend. Ζ. 29. Derselbe, dessen Xenophon. Wenn aber Gedike glaubt, er könne derselbe sein, der auch im ersten Buche des 'Thukydides vorkommt, und dieser Menon, der bei dem Feldzuge des Kyros seiner ju- gendlichen Schönheit die Befehlshaberstelle verdankte, habe auch schon im Anfang des Peloponnesischen Krieges ein Heer angeführt, so mag er sich darüber mit der Zeit verständigen.

8.233. 2.13. Aleuaden. Angesehenes und machthabendes Thessa- lisches Geschlecht zu Larisa, von dem Stammvater Aleuas so genannt. Philostratos erzählt übrigens’ bestimmt, der Ruhm des Gorgias habe unter den Thessaliern angefangen, wer weiss aber, ob er es anders woher hat als aus dieser Stelle.

8. 235. Ζ. 9, niedergelassen. Die Uebersezung selbst mag den gewöhnliohen Text rechtfertigen gegen Gedike, welcher meint, Platon lasse den Sokrates sagen, er habe einen aufgejagten Schwarm gefunden. Kein Wunder freilich, dass eine solche Schönheit, die sich nicht einmal Plutar-

348 ANMERKUNGEN.

chos erlaubt, nur angedichtet ist. Kaum ist aber auch die Verbesserung nöthig, die der Bipontinische Revisor anbringt, xe/uevov statt κειμένων.

Ebend. Z. 31. Oder verstehst du nicht. In der That versteht ınan nicht was Platon meint, wenn man sich hier über die langweilige Auseinandersezung des Unterschiedes zwischen dem allgemeinen und be- sondern beklagt, da die ganze Stelle offenbar gegen diejenigen gerichtet ist, welche sonst wol das allgemeine verstehend nur einen allgemeinen Begriff der Tugend läugneten.

8. 238. 2.25. was ist doch dieses. Ohnerachtet auch bei Bekker alle Handschriften dieses ö,rı lesen, muss die Uebersezung doch sich hier der graden Frage bedienen; auch muss man doch zuviel vor dem ὅ,τι er- gänzen, das gar leicht aus dem vorigen kann entstanden sein,

8.239. 2.17. soll uns Gestalt sein. Cornar nnd Gedike träumen hier wunderliche Dinge, wenn dem einen χρῶμα soviel bedeuten soll als σῶμα, der andere gar dieses statt jenes hineinsezen will. Man gebe nur Achtung, wie sich die Definition zu der folgenden besseren verhält, und bedenke, dass Platon hier überall die atomistische Philosophie im Auge hat: so kann man an der Richtigkeit des Textes nicht zweifeln. Doch wo- zu sich bei dergleichen aufhalten, Besser ist es noch gelegentlich auf- merksam darauf zu machen, dass auch hier Platon auf Ausstellungen Rükk- sicht zu nehmen, und ihnen gewissermaassen nachzugeben scheint, die man gegen eine von ihm aufgestellte Erklärung gemacht hatte; eine so unvoll- ständige etwa, wie die im Theaitetos auch nur beispielsweise gegebene von der Sonne. |

Ebend. Z. 25. Sokrates. Gut. Etwas verdächtig ist es, dass Menon sich hier unterbrechen lässt, noch dazu ohne seinen Vordersaz in eine Frage eingekleidet zu haben, und dass Sokrates die Wiederholung seiner Erklärung mit einem εἶεν bekräftigt, da Menon eben so gut dieses εἶεν sagen könnte. Gefälliger wäre dann folgendes: „Dass nach deiner Erklärung das- jenige Gestalt sein soll, was überall der Farbe folgt, möchte sein: wenn nun aber u. 8. w.

Ebend, Z. 38. der Fragende. Auch Bekker hat zwar keine Ab- weichung zu ἐρωτώμεγος bemerkt, ich bin aber doch auch jezt dem Cornar und Fiein gui rogat treu geblieben. ‘Denn Sokrates kann doch hier wirklich das Verhältniss nur so ausdrükken, wie es in dem gegebenen Mo- ment des Gespräches steht.

S.241. 2.16. eine gar prächtige Antwort. Man braucht hier wol nicht viel Künste zu suchen, oder besonders daran zu denken, dass Empedokles dem Platon, wo dieser so abtheilt, doch zur tragischen Poesie gehören würde mehr als zur komischen. Sondern man denke nur an die Kernsprüche in dem beliebten Euripides, die auch sehr schön ins Auge fallen, näher betrachtet aber nicht befriedigen, oft nicht einmal bestimmt können aufgefasst werden. Dass die Erklärung übrigens den Prineipien des Empedokles gemäss ist, leidet keinen Zweifel; eben so gewiss aber kann man aus der ganzen Aft, wie Platon sie aufstellt und einige Eitelkeit damit treibt, den Schluss machen, dass sie nicht sowol wörtlich aus dem Empedokles genommen ist, als vielmehr das von ihm gesagte ergänzt und weiter verfolgt. Wie denn schulgerechte Erklärungen überall nicht im

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ZUM MENON. 349

Empedokles zu suchen sind. Schon die Worte ἴσως γάρ σοι χατὰ συνήϑειαν εἴρηται besagen dieses. Ja es erhellt auch, um nicht auf den Timaios im voraus zu verweisen, fast schon aus der Art, wie Aristoteles περὶ αἰσϑήσεως Cap. II. und III. davon spricht. Denn was der Verfasser des Werkes de plac. phil. IV. 9. sagt, ist gewiss aus unserer Stelle selbst. Die Freunde nun, welche den Menon als ein logisches Uebungsstükk behandeln, sollten nicht übersehen haben, dass Sokrates an dieser Definition wenigstens das rühmt, dass sie zugleich die Form für andere Erklärungen gleichartiger Gegenstände enthält. Wenn Sokrates sagt, dem Menon gefalle diese Er- klärung der Farbe besser als die der Gestalt: so meint er unstreitig die zweite Erklärung der Gestalt, die noch jezt von den Mathematikern ge- braucht wird, über welche aber Menon stillschweigend hinweggegangen war.

Ebend. Z. 36. wie der Dichter sagt. Fragment aus einem nicht anzugebenden Lyriker. Das δύνασθαι ist an sich nicht zu verstehen; alsc musste die Uebersezung schon die folgende Erklärung des Philosopher. δυνατὸν εἶναι πορίζεσϑαι als authentisch annehmen. Die weitere Erörte- rung über diese Stelle steht in offenbarer Beziehung mit Gorgias $. 42 folgd.

S. 243. 2.3. Dem bösen nachstreben. Offenbare Parodie der vorigen Erklärung der Tugend.

8. 244. 2.26. Wenn ich dies behaupte. Ti οὖν δὴ τοῦτο λέγω; so lesen unsere Ausgaben und auch alle Handschriften bei Bekker. Freilich sehr gegen den gewöhnlichen Gebrauch dieser und ähnlicher Formeln. Man gewinnt aber wenig, wenn man mit Heusde diese Worte dem Sokrates giebt. Denn dieser unterbricht freilich nicht selten seine Rede mit so'chen Formeln, aber doch allemal nur, wenn er aufmerksam machen will auf die Folgen eines dem ersten Anblikk nach nicht zur Sache gehörigen Sazes, den er vorgetragen. Indess bedarf es keiner Aenderung, um die Ueber- sezung den Worten angemessen zu finden; man ergänze sie sich nur in Gedanken τὸ οὖν δὴ ὃν τοῦτο λέγω αὐτό, um alles in der Ordnung zu finden.

Ebend. Z. 34. wenn jede Handlung. Es darf wol nicht erst ge. zeigt werden, wie nothwendig es war, mit Ficin εἰ zu lesen statt ἢ, wie auch nun Bekker aus einigen Spuren hergestellt hat.

8. 245. Z. 38. damit ich dich wieder abbilden möchte, Wenn man diese Stelle recht betrachtet, und vergleicht was Sokrates weiter unten von den Früchten des Erstarrens rühmt: so kann man fast nicht zweifeln, es muss sich Jemand gegen die eigenthümliche Weise des Plato- nischen Sokrates gerade dieser Vergleichung bedient haben. Das obige von der Gestalt bezieht sich auf die kurze untersezte Figur des Sokrates.

8. 246. 2.40. denn von welchen Persephone, Man ist aus dem, was Sokrates hier sagt, wol schwerlich berechtigt, dies Fragment auch nur mit einiger Zuversicht dem Pindaros zuzuschreiben, noch weniger zu untersuchen, wie dieser zu den Pythagoreischen Ideen gekommen ist, da man gar nicht behaupten kann, dass alles dies eigenthümlich pythagoreisch ist. Doch sehe wer sich hierüber näher unterrichten will, die Pindarischen Fragmente in der Heyneschen Ausgabe, und Schneider Versuch über Pindars Leben und Schriften p. 58, Ueber die Anneigung dieser Stelle zum Phaidros sehe man die Einleitung. Auch kurz vorher ist schon eine Stelle

350 ANMERKUNGEN.

fast wörtlich aus Phaidros s. B. 1. S.65f. Nirgend aber wird wol ein un- befangener Leser nur eine schlechte Nachahmung jenes Gesprächs finden, sondern vielmehr eine zwekkmässige Rükkweisung auf dasselbe.

8. 247. Z.5. was hier ist und in der Unterwelt. Nachdenken soll man billig darüber, weshalb wol hier des himmlischen nicht erwähnt ist; aber dann wird man es auch begründet genug finden, und nicht deshalb den Platon hier nicht anerkennen wollen, weil er nicht überall alles sagt. |

8.248. Z.15. wenn es hier zwei Fuss hätte. εἰ ἦν ταύτῃ zu lesen anstatt εἰ ἐν ταύτῃ hat zuerst Wolf gelehrt, und dies ist unstreitig das richtige; daher es auch Bekker, jedoch wie es scheint ohne Hand- schriften, aufgenommen. Hoffentlich wird übrigens nicht nöthig sein, diese einfache Sache erst durch eine Zeichnung zu erläutern. Sokrates zeichnet zuerst ein Vierekk, dessen Seite zweifüssig angenommen wird, und durchschneidet es parallel mit der Grundlinie und Höhe von den Puncten aus, wo er die Abtheilung der Füsse angedeutet hatte. Dann sezt er an die Grundlinie und Höhe noch zweifüssige Linien an mit Andeutung des grossen Vierekkes, welches er hernach noch einmal förmlich aus seinen vier Theilen zusammensezt. Zulezt zieht er die Diagonalen dieser einzelnen Theile von ihren oberen und inneren Ekken aus, so dass die äusseren Winkel, welche zugleich das grosse Vierekk bilden, ungetheilt bleiben, woraus denn das ‚gesuchte Vierekk entsteht.

Ebend. Z. 36. wie ich diesen. Ich lese τοῦτον für τούτων, weil jenes zu fehlen, dieses ganz überflüssig zu sein scheint. Bekker hat dies seitdem aus Handschriften in den Text genommen, und so bleibt es billig stehn. Sonst kann doch auch recht gut οὐδὲν τούτων den Gegensaz κὰ πάντα bilden, und das folgende οὗτος das hier fehlende mit vertreten.

8.249. 2.38. und das vierfüssige. Unbezweifelt scheint hier die Verbesserung des Cornar τετράπουν statt τέταρτον, welches deshalb auch Bekker ohne Handschriften aufgenommen, bat. Man vermisst offenbar das Vierfüssige zwischen dem Sechzehnfüssigen,, das er nur der Kürze wegen das Vierfache nennt, und dem Achtfüssigen. Auch wäre es höchst ungenau, nachdem er das Sechzehnfüssige das Vierfache genannt hat, nun das Vierfüssige, welches offenbar die Einheit ist, zu jener Vierfachheit wie- der das Viertel zu nennen. Und um so etwas zu gewinnen, sollen wir uns ohne Analogie τέταρτον schlechthin für den vierten Theil geben lassen.

8.250. Ζ. 82. und wenn du es nicht durch Zählen willst. Hier sowol als auch vorher und nachher legt Sokrates dem Knaben so sehr die Vorstellungen unter, dass von einer Selbsterzeugung‘, wobei er nur die Kunst der Hebamme ausübte, gar nicht die Rede sein kann. Auch meint Sokrates dies nicht, sondern nur dass die Leichtigkeit, womit dem Knaben die Gedanken einleuchten, zeigen soll, dass sie ihm nicht erst eingepflanzt worden.

8. 251. 2.14. damals aber glaubte er. Wie Menon, dem hier parodirt wird, was er oben von sich sagte: „Wiewol ich schon tausendmal.” etwas weiter unten .Z. 19. was er u. s. w. möchte ich statt. ὅτε xa} ἀνευρήσει lesen ὅ, τι χαί,

ZUM MENON. 351

S. 252. 2.7. Schneidet nun nicht. Cornar hatte den unstatthaften Text aus der bald folgenden Stelle ἀπὸ τῆς x γωγίας εἷς γωγέαν τειγούσης so verbessert γραμμὴ dx γωγίας eis ywvlav τείνουσα, welches theils weit genug von den Zügen abweicht, theils mit dem unmittelbar folgenden. τέμνουσα einen fast unerträglichen Missklang bildet. Weit schöner daher Wolfs Verbesserung γραμμὴ Teiveı; wenn man sich nicht damit vertragen will, nur das lästige zıy« des alten Textes zu löschen, und die Worte ἐχ γωγίας εἰς γωνίαν ganz für sich als Beschreibung der Linie an- zusehen, welche Sokrates eben zieht.

Ebend. Z. 19. Wieviel solche. Diese τηλικαῦτα nämlich sind. die abgeschnittenen Hälften des vierfüssigen Vierekkes, und das τοῦτο der ver- sten Frage ist das ganze von den Diagonalen eingeschlossene Vierekk, nach dessen Grösse gefragt wird; das τόδε der. folgenden Frage gilt eins von den kleinern vierfüssigen Vierekken. Hierauf aber wird der Fortschritt gerade hier, wo.die lezte Folgerung gezogen werden soll, zu schnell und abgebrochen, und man könnte fast denken, es wären ein Paar Fragen durelı ähnliche Endung oder sonst wie ausgefallen. So etwa würde man nichts vermissen. 2. Τὰ δὲ τέτταρα τοῖν δυοῖν τί ἐστι; TI. “ιπλάσια. Z. Tode οὖν ποσαπλάσιον γίγνεται τούτου; IT. «“ΤΠιπλάσιον. Σ. Τοῦτο δὲ τὸ τετρά- novy χωρίον ἦν. Tode οὖν ποσάπουν γίγνεται; Es würde, wie man sieht, nur eine Abirrung des Auges vorausgesezt von dem einen τόδε οὖν zu dem andern. Wollte man hingegen unter dem τηλιχαῦτα die vier vierfüssigen Vierekke und unter dem τούτῳ das grosse sechzehnfüssige verstehen, unter - dem τῷδε der zweiten Frage aber das achtfüssige: so wird die Fortschrei- tung noch unregelmässiger.

5.253. Z.5. richtige Vorstellungen. Die hierauf folgenden Worte περὶ τούτων ὧν οὐχ οἶδεν, die eine ganz müssige Wiederholung des περὶ ὧν ἄν μὴ εἰδὴ enthalten, hat die Uebersezung ausgelassen, und Bekker, da sie nirgend fehlen wollen, eingeklammert. Durch noch einen

' Zusaz, wie Gedike wollte, scheint ihnen doch nicht können geholfen zu

werden. 8.254. Z.1. oder auch. Das 7 nach χρόνον möchte ich lieber missen, und also auch übersezen und wo er es nicht war. Unmit-

telbar darauf schliesse man nicht etwa aus der Uebersezung durch Fra-

gen, dass ich die Cornarische Verbesserung ἐρωτήσεσιν noch festhalten

will, auch nachdem die richtigere Wolfische ἐρωτήσει durch eine Hand- schrift bestätigt von Bekker in den Text genommen ist; sondern nur das deutsche scheint hier die Verwandlung des αἱ in «ti ganz übersehen zu haben.

Ebend, Z.15. Und das übrige freilich möchte ich. Man ver- gleiche den ganz ähnlichen Ausdrukk im Gorgias 527. a. χαὶ οὐδέν y ἂν ϑαυμαστὸν ἦν, so wird man leicht einsehen, dass auch hier unter dem, was Sokrates nicht verfechten möchte, vornehmlich die Zeitbestimmung zu verstehen ist, und mag es auch sein, da er doch so allgemein spricht, der Ausdrukk der ἀνάμνησις selbst, wiefern auch in ihm Zeitbestimmung und persönliches enthalten ist; keinesweges aber das Innere dieser Lehre, wie es hier ausgedrükkt ist,

8.255. 2.7. Wenn dieses Dreiekk ein solches ist. Ueber den wahren Sinn dieser schwierigen Stelle und las was vielleicht im Texte

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zu ändern sein möchte, etwas sicheres zu bestimmen, dies mag vielleicht erst einer spätern Uebereinkunft der Mathematiker und Sprachkundigen vorbehalten sein. Dem Uebersezer liegt nur ob, von seiner Ansicht Rechen- schaft abzulegen, welche, da ihm die ihm bekannt gewordenen gar nicht genügten, noch eine Meinung zu den bisherigen hinzuthut. Das Problem selbst überzeugt er sich vollkommen richtig ausgedrükkt zu haben; der Sinn der Worte kann kein anderer sein als dieser; es ist auch mathematisch begreiflich, der Text zeigt keine Spur von Verdorbenheit, und wenn man unter solchen Umständen, um die Auflösung, wo er eher mangelhaft sein mag, zu berichtigen, auch die Aufgabe selbst erst ändern wollte, so wäre dies ein wunderbarer Frevel, weil dadurch jede feste Grundlage, auf der man bauen könnte, zugleich mit zerstört würde. Auch zu solehen Will- kürlichkeiten sind wir nicht berechtiget, wie Sydenham sie begeht, welche: meint, ganz gegen die Grundbedeutung des Wortes, &yzeiveıy wäre von dem ἐγγράφειν so unterschieden, dass jenes nur darauf ginge, ob überhaupt die eingetragene Figur in der umgebenen Raum habe, ohne gerade ihre Umrisse mit ihren Ekken zu berühren, als welches das eigenthümliche von ἐγγρά: φεῖν wäre, Der Unterschied, wenn nicht das eine bloss ein früherer und das andere ein späterer Sprachgebrauch ist,. kann aber nur darin bestehn, dass ἐγγράφειν zu brauchen ist, wenn die einzuzeichnende Figur nicht selbst gegeben ist, sondern nur das Gesez ihrer Construction; ἐντείγειν dagegen, wenn sie selbst schon vorhanden ist. Kurz eben so wie unser in dem Kreise beschreiben und in den Kreis eintragen. Nun ist aber keine andere Lösung jener Aufgabe im allgemeinen möglich als folgende. Ein gegebenes Dreiekk kann in einen gegebenen Kreis eingespannt werden, wenn die Entfernung von seinen Winkelpunkten nach dem Durchschnitts- punkte der auf die Mitte seiner Seiten gezogenen Perpendikel dem Halb- messer des Kreises gleich ist. Diese Bedingung selbst ist aber gar nicht möglich in den Worten unseres Textes zu finden, oder ohne gänzliche Zer- störung hineinzulegen; auch hätte allerdings Platon, wenn dies darin läge keine Voraussezung angegeben, und er hätte also kein Beispiel aufgestellt zu dem Verfahren, welches er erläutern wollte. Auf einer unmittelbaren Folgerung aber aus jener allgemeinen Formel beruht die Erklärung, welche in dem bereits beim Theaitetos angezogenen Commentar über zwei dunkle mathematische Stellen im Platon von Müller gegeben ist. An dem mathematischen derselben möchte daher auch nichts auszusezen sein; philologisch aber ist sie nicht haltbar. Denn wollte man sich auch ὑποτείνει» in dem aufgestellten Sinne anstatt παρατεέρμειν gefallen lassen: so ist es doch bei der gegebenen Stellung der Worte ganz unmöglich, τὴν δοϑεῖσαν und γραμμὴν von einander zu trennen, so dass jenes auf den Durchmesser des Kreises ginge, dieses aber auf eine Seite des Dreiekks. Daher und aus andern Gründen, welche hier anzuführen zu weitläuftig wäre, war von dieser Erklärung kein Gebrauch zu machen. Neben ihr aber verdienen die Versuche, welche der Biesterschen Ausgabe angehängt sind, nicht einmal genannt zu werden. Was sich dagegen dem Uebersezer sehr leicht darbot, ist der Gedanke, dass Sokrates nur den Kreis zeichnete, den er noch nicht hatte; das Dreiekk aber, von welchem er die Frage auf- warf, ein schon vorhandenes war, nämlich eines von jenen vier, welche

ZUM MENON. 353

zusammen das doppelte Vierekk bilden, deren Rechtwinklichkeit also vor- ausgesezt wird, und als deren Grundlinie vermöge ihrer Stellung allemal die Hypotenuse erscheint. So dass sich die Aufgabe aus einer allgemei- neren in eine speciellere verwandelt, nämlich in die von Einspannung eines gegebenen rechtwinkligen Dreiekks τόδε τὸ χωρίον τρίγωνον. Vom ersten besten konnten diese Worte nicht gebraucht werden, wenn nicht die Aufgabe eine so allgemeine werden sollte, für die eine viel künstlichere Voraussezung hätte gemacht werden müssen, als möglicher Weise in dem folgenden liegen kann, in einen so eben gezeichneten εἰ τόγδε τὸν κύχλον Kreis. Diese nun hat ihre besondere Auflösung, und hängt überdies, was hier auch in Betracht kommt, mit der verigen sowol als mit der mathematischen Stelle im T'heaitetos zusammen. Die Auflösung aber ist bekanntlich diese, das rechtwinklige Dreiekk kann in den Kreis eingespannt werden, wenn seine Hypotenuse dem Durchmesser desselben gleich ist, und diese lässt sich ohne grosse Schwierigkeit, wiewol nicht ohne alle Aende- rung, in unserm Texte aufzeigen. Und wenn sich der Uebersezer gleich nicht getrauet genau anzugeben, wie dies am richtigsten und zugleich spar- samsten geschehen könne: so kann und muss er doch den Weg angeben, der von einem Wiederhersteller des Textes zu betreten wäre, dem diese Ansicht der Sache gefiele. Sokrates sagt nämlich: Wenn das Dreiekk so beschaffen ist und τοιοῦτον ist hier ganz an seiner Stelle, weil es, auch die Rechtwinkligkeit vorausgesezt, hiebei keinesweges bloss auf den Flächen- inhalt ankommt, dass wenn man um die gegebene Linie die Hypote- nuse als Grundlinie desselben den Kreis herumzieht welches eben soviel sagen will als versucht die Hypotenuse als Sehne desselben hinein- zutragen, alsdann noch ein eben solcher Raum des Kreises übrig bleibt, als der durch die Linie eingefasste selbst ist d. h. wenn die Hypotenuse sich als Diameter zeigt, alsdann dünkt mich, wird das eine erfolgen, die Einspannung, wenn aber jenes nicht möglich ist, keine solche Theilung des Kreises durch die Hypotenuse erfolgen kann, alsdann wird das andere er- folgen, die Einspannung wird unmöglich sein. Man sieht, es entsteht auf diese Art eine solche Voraussezung wie Sokrates sie will, aus welcher für den gegebenen Fall im allgemeinen bejaht und verneint wird. Grosser Veränderungen im Text bedarf es auch nicht; denn das παρὰ in περὶ ver- wandeln wollte schon jeder, der ‚die Aufgabe verstand, nur dass leider auch die neuverglichenen Handschriften hier gar nichts an die Hand geben, und daun, dass τὸν χύχλον etwas hart müsste supplirt werden, ist wol auch bei jeder Erklärung unvermeidlich, die nicht sehr weit über das Einspannen des Dreiekks in den Kreis, von dem doch eigentlich die Rede ist, hinaus gehen will. Denn wie sollte es doch möglich sein, dass hiebei der Kreis gar nicht vorkäme? Was man etwa sonst noch vorzüglich dieser Erklärung entgegenstellen könnte, wäre, dass eine sehr einfache Sache sehr künstlich ausgedrükkt wäre, und dass Platon dies weit kürzer und leichter, so wie hier nebenbei geschehen, könnte ausgedrükkt haben. Dies ist aber wirklich nur der Fall, wenn man sich den Durchmesser des Kreises ausdrükklich mitgegeben denkt, welches nicht der Fall ist bei einer auf dem Sande der Palüstra aus freier Hand gezogenen Figur. Doch die Erklärung mag für sich selbst reden, und sehen wieviel Beifall sie sich gewinnen kann. Plat. W. 11, Th. 1. Bd, 23

354 ANMERKUNGEN.

Seitdem ist ein neuer Erklärungsversuch dieser Stelle erschienen in Molweide Commentationes mathematico - philologieae ires. Lips. MDCCOXIJI. der gewiss von einem so tüchtigen Mathematiker kommend alle Aufmerksamkeit verdient, und dem auch ich von dem mathematischen darin ergriffen gewiss geneigt war unbedingten Beifall zu geben. Nur leider scheint mir näher be- trachtet das philologische darin auch nicht haltbar zu sein. Denn nicht zu gedenken, dass den Ausdrukk: ein ähnliches Dreiekk an der Grundlinie des gegebenen entwerfen, wol nicht leicht Jemand anders verstehen kann als von einem Dreiekk, in welchem dann die zweite Seite der zweiten gleichliegenden des gegebenen gleichlaufend wird, und dass also Platon den Leser auf eine ganz falsche Spur abgeleitet hätte, so kann ich unmöglich dieses zugeben, dass der Ausdrukk τοιοῦτον οἷον σι. τ. ὃ. d. γ. παρατεί- varıa ἐλλείπειν τοιούτῳ soviel heissen sollte als τοιοῦτον ὥστε ἀλλὸ τοι- odroy π. τ. d. ἀ. γ. παριτείγαντα τοῦτο ἐλλείπειν τοιούτῳ u. 5. w. Und so scheint mir die Sache auch durch diese sonst sehr schäzbare und ver- dienstliche Bemühung noch nicht weiter gebracht zu sein, sondern dieser Erklärung wol eben soviel entgegen zu stehn als der meinigen, gegen welche indess Herr Molweide den Schreib-" oder Drukkfehler des Textes nicht sollte geltend gemacht haben, vermöge dessen nach dem Einspannen des Dreiekkes in den Kreis noch ein eben solcher Kreis übrig bleiben soll, da diesem Missverstand in der Anmerkung schon hinreichend begegnet ist. Ausführlicheres über andere Erklärungen findet jeder am besten bei Molweide. |

Ebend. 2.17. Wenn sie was doch von dem in der Seele u. s. w. Da in dem Nachsaz der verneinende Fall mit angeführt ist: so sollte er nach der platonischen Genauigkeit in solchen Dingen auch in dem angeführt sein, der die Bedingung ausdrükkt εἰ ὁποῖόν τι ἐστὶν οὐχ ἔστι τῶν ete., was auch sehr leicht kann ausgefallen sein. Etwas weiter unten kommt er vollständig vor, ὅτι τοιοῦδε μὲν ὄντος διδαχτὸν, un τοιοῦδε δ᾽ οὐ.

S. 256. 2.37. Nicht auch die Besonnenheit. Vielleicht wäre es besser gewesen, hier von der gewohnten Uebersezung des Wortes σω- yg000vn abzugehen, weil-es uns zu fremd ist von einer Besonnenheit ohne Vernunft zu hören. Man erinnere sich aber nur aus dem Charmides der gewöhnlichen Gebrauchsweise des Wortes im gemeinen Leben, um hie- bei eben so wenig anzustossen, als wenn dasselbe von der Tapferkeit ge- sagt wird.

Ebend. 2.41. alles was die Seele unternimmt. Unmöglich schien es unserer Sprache in gleicher Kürze genau der Urschrift zu ent- sprechen. ἐπιχειρήματα sind Handlungen in wie fern -eine mannigfaltige Thätigkeit auf einen bestimmten Zwekk gerichtet dazu gehört; χαρτερήματα in wiefern Widerstand gegen das, was sich als Hinderniss entgegenstellen will, nothwendig ist; kurz jenes sind Handlungen, in wie fern sich oopl« und δικαιοσύνη dabei zeigen, dieses in wiefern σωφροσύνη und ἀνδρία. --- In der ganzen Stelle ist yoovnoıg, je nachdem es unserer Sprache ange- messener schien, bald Vernunft, bald Einsicht übersezt. Dies ist gegründet in dem unmittelbar vorhergehenden, wo Platon eben so verwechselt, und was er das eine Mal ausdrükkt εἰ μή ἐστιν φρόνησις ἀνδρία hernach so erklärt, ὅταν avev νοῦ ϑαῤῥῇ ἄνθρωπος.

ZUM MENON. 359

S. 257. Z. 34. Auch dieses. Eine solche Unterscheidungskunst nimmt aber Platon doch hernach an, und also auch in gewissem Sinne ein Gutsein von Natur. Auch dieses ist also ganz dem mittelbar andeutenden Charakter dieser Gespräche gemäss, und eine Vorbereitung auf die Art, wie er in der Folge die einzelnen für sich gesezt einseitigen Ansichten zu- sammenfasst.

Ebend. Ζ. 41. dem Staat. Der Uebersezung war es hier beschwer- lich die Mehrzahl ταῖς πόλεσιν nachzubilden, die jedoch gewiss nicht ganz leer, sondern darin begründet ist, dass Sokrates hier mit einem Frem- den redet.

S. 258. 2.16. ‘dass die Tugend lehrbar ist. Die Art, wie sich hier Sokrates versieht, soll offenbar nicht nur das Gewicht des folgenden Einwurts begrenzen, damit man ilın nieht, wie dennoch geschehen ist, in einer zu grossen Ausdehnung soll gelten lassen, sondern hat auch Beziehung auf frühere Missdeutungen, die theils vielleicht das Ende des Protagoras, theils die Streitpunkte mit dem Antisthenes betrafen.

S. 258. 2.38. wie der Thebaner Ismenias. Dies ist ein in der Geschichte ziemlich bekannter Name; man muss aber die beiden, an welche man hier denken könnte, wol von einander unterscheiden. Von dem einen erzählt Plutarchos, er sei mit dem Pelopidas zugleich ΟἹ. 103, 2. an den grossen König geschikkt worden, und Diodoros nennt ihn überhaupt einen vertrauten Freund und Thatengenossen des Pelopidas, Betrachtet man aber, wie damals dieser vorzüglich sich die Gunst des Königes erworben, so erscheint Ismenias auf jeden Fall nur als eine Nebenperson, und es ist nicht zu vermuthen, dass er damals ein so bedeutendes Geschenk daven- getragen. Ein anderer und früherer ist der Ismenias, welcher, als die Spar-_ taner die Feste von Thebä besezt hielten, Ol. 99, 3., als Haupt der Gegen- partei zum Tode verurtheilt und hingerichtet wurde, wie Xenophon Hell. V, 2, 25. 36. berichte. Von demselben nun erzählt er Hell. III, 5, \., dass zu der Zeit, da Agesilaos in Asien glükklich im Kriege war, und alles darauf ankam, den Lakedaimoniern anderwärts zu thun zu machen, Tithrau- stes, der Nachfolger des Tissaphernes, durch Timokrates den Rhodier unter einige Häupter der Städte Thebä wobei eben Ismenias namentlich an- geführt wird Korinthos und Argos über funfzig Talente Silbers habe ver- theilen lassen, um sie zum Kriege gegen die Lakedaimonier zu bewegen, der auch bald darauf erfolgte, und in welchem nach Diodoros XIV. Ismenias die thebanischen Truppen befehligte. Plutarchos erzählt dieselbe Geschichte I, 1021., wiewol er die Namen jener Männer nicht anführt und den Abge- schikkten Hermokrates nennt. Dies muss Ol. 96, 1 oder 2 geschehen sein, und wäre dann die Begebenheit,-auf welche Tlaton hier anspielt; wenn man nicht die Summe, die auf Ismenias Antheil kam, doch zu klein findet für diesen Ausdrukk. Tithraustes liess von Sardes aus die Summen vertheilen, und wenn es noch etwas gab, was man die Schäze des Polykrates nennen kann, und die Redensart nicht vielmehr sprüchwörtlich ist, wie man doch gar sehr glauben muss, wenn man das Ende des Polykrates und die weitere Geschichte von Samos bedenkt, so muss sich dieses in Klein-Asien befunden haben. Von den: jüngeren Ismenias hingegen glaubt Sydenlham sei bier die Rede; dieser nämlich habe die Sschüze des Polykrates von den Nachkommen

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356 ANMERKUNGEN.

des Orontes, seines Mörders, geerbt, nnd durch die Gnade des Artaxerxes auch wirklich erhalten. Dies ist aber eine blosse Erfindung, und nur schlecht wird dadurch der Ausdrukk gerechtfertigt, dass Ismenias diese Schäze geschenkt erhalten. Auf jeden Fall aber haben wir wieder einen von jenen kleinen Anachronismen, indem Platon den Sokrates von etwas nach seinem Tode erfolgtem sprechen lässt; woraus zugleich folgt, dass das . γεωστὶ auf die Zeit der Abfassung gehen muss, und auch diese Angabe stimmt, wenn man es mit dem veworl nur nicht strenger nimmt als nöthig ist, mit der Stelle überein, die wir dem Gespräch angewiesen haben.

8.259. 2.40. Bürger und Fremde aufzunehmen und zu ent- lassen. Etwas wunderlich steht hier das kleine unter dem grossen, und mächt sich verdächtig, auch irgend eine persönliche Beziehung zu haben.

S. 260. 2.31. Denn wieich glaube. Auch dies gehört so wenig hieher, dass es wol nur einer besondern Veranlassung seinen Plaz verdankt. Hatte man etwa dem Platon vorgeworfen, er habe den Protagoras in un- rechte Zeit gesezt? Wie dem aber auch sei, so ist gewiss diese bestimmte Angabe das Resultat einer möglichst sorgfältigen Nachforschung, und kann bei den streitenden Nachrichten von der Lebenszeit des Mannes zum Leit- faden dienen. Nach den auf uns gekommenen Nachrichten stark Protagoras Ol. XCII, 1 oder 2; war er also damals siebzig Jahre, so war er nur zwölf Jahre älter als Sokrates. Man sehe was über den Unterschied ihres Alters und dessen Behandlung beim Protagoras gesagt worden.

S. 261. 2.8. ich habe mich auch niemals. Wie ich glaube, dass im Theaitetos und Gorgias die Verhältnisse des Sokrates vom Platon auf seine eignen sind angewendet und gedeutet worden: so glaube ich, auch hier liegt eine Beziehung auf Gegner, wahrscheinlich mehr politische als philosophische, die ihn eben so wenig kannten, sondern nur vom Hören- sagen urtheilen, wie hier Anytos von den Sophisten. Denn deutlich genug sagt er selbst beim Wiedereinlenken, dass dies eigentlich nicht hieher ge- höre. Auch die lezte Rede des Anytos leidet vielleicht eine solche Deutung auf Platons Besorgnisse. Uebrigens beginnen hier die häufigen Remi- niscenzen aus dem Protagoras, die unmöglich alle einzeln können nachge- wiesen werden. Am besten findet sie jeder bei einer Vergleichung beider Gespräche, die ohnedies eben so unterhaltend als für die Verständigung nüzlich sein wird.

S. 263. 2.16. Denn mit diesem bist du wol selbst. In diesem Umgang scheint auch etwas schwieriges zu sein, wenn man nicht dem Any- tos, sehr unwahrscheinlich, gleiches Alter mit dem Sokrates geben, oder annehmen will, jene beiden, Lysimachos und Melesias, hätten sich nicht mit dem grössten Recht im Laches ihres Alters gerühmt.

Ebend. 2.27. und etwa die schlechtesten unterden en. Diese Stelle ist der Uebersezer geständig nicht ordentlich zu verstehen, wenn man nicht sagen will, es sei eine Nachlässigkeit, bei deren Erklärung man nicht viel Mühe verlieren müsse. Denn in welchem Sinne, der zugleich einen scheinbaren Grund zu dieser Unfähigkeit abgeben könnte, darf man Perikles, Themistokles und Aristides pavlor«rovg nennen? und ihnen den Thukydides so entgegensezen, dass gleich in die Augen falle, dieser sei kein solcher (φαῦλος. Vergeblich denkt man an geringe Herkunft oder

ee - ee Ar τὶ

ZUM MENON. 357

an Volkspartei; denn nur etwas weiter unten wird φαῦλος ganz deutlich erklärt, dass es ein im Winkel lebender und unangesehener Mann ist. Auch das δυγατούς, was mehrere Handschriften haben für ἀδυνάτους, bietet gar keine Hülfe, und so bleibt hier für mich auf jeden Fall etwas uner- klärtes übrig, und auch wol für Andere, die das, was Buttmann hierüber im Index sagt, nicht befriediget.

3.264. 2.10. mag es leichter sein. Da Bekker das ῥᾷον für ὑᾳδίον, wiewol ohne Handschriften aufgenommen hat, habe ich auch diese Uebersezung aus den Anmerkungen in deu Text hinaufgerükkt.

S. 265. 2.1. In was für Versen. Auch eine solche Frage sind wir nicht gerade gewohnt beim Platon; aber wer wird darin etwas anders als eine kleine Vernachlässigung erkennen ? Nur wenn grössere zusammen- treffende Bedenken da sind, und wo auch die Sprache im Ganzen etwas fremdes hat, darf man solche Einzelheiten geltend machen.

8. 266. Z. 29. Wenn einer der den Weg. Das eben bemerkte gilt auch hievon. Denn auch dieses Beispiel hätte leicht besser gewählt werden können, indem schon die Kenntniss dessen der den Weg gegangen ist, insofern keine Erkenntniss im eigentlichen Sinn ist, sondern oft gerade einer der eine solche Kenntniss anderwärts her hat, sich zu jenem verhalten kann, wie ein Wissender. Aber es ist auch weniger Beispiel als Bild, durch den bildlichen Ausdrukk des Führens und Leitens veranlasst.

5. 267. 2.23. auf die Bildwerke des Daidalos. Für die nicht hellenischen Leser nur das, was sich im Scholiasten findet. „Auf die älte- „sten Meister, welche lebende Körper mit verschlossenen Augen und nicht „getrennten Beinen bildeten, sondern die Füsse dicht an einander stehend, „folgte Daidalos, ein vortrefllicher Künstler in Bildsäulen, der diesen zuerst „die Augenlieder aufschloss, so dass sie schienen zu sehen, und die Füsse „auseinander stellte, so dass man meinte, sie gingen, und deshalb soll man „sie gebunden haben, damit sie nicht flöhen, als ob sie nämlich auf diese „Art wirklich wären belebt worden. Daher nun sagt Platon, den gebunde- „nen glichen die richtigen Vorstellungen, den freien und losen aber die „falschen.” Welches leztere übrigens Platon keinesweges gesagt hat.

8.268. Z.26. keines von beiden erwerblich. Seit Cornar hat

- Jedermann diese Worte οὐδ᾽ ἐπίχτητα wie Bekker jezt aus vielen Hand-

schriften richtig gesezt hat, statt des falschen οὔτ᾽ herauswerfen wollen als dem Zusammenhang zuwider; und freilich ist von beiden, der Erkennt- niss und der richtigen Vorstellung, noch gar nicht erwiesen worden, dass sie nicht erworben wären, und nur auf οὐδέτερον τούτοιν können die Worte gehen, so dass allerdings alles leichter fortschritte, wenn sie fehl- ten. Allein da kein Zeugniss zu Hülfe kommt, so muss man das ἐπέχτητα im strengsten Sinne nehmen, wie es im Phaidros in einem weiteren vor- kommt, so hier im engsten von dem was willkürlich erworben werden kunn. Denn im Phaidros ist, auch wenn dort Sokrates nicht in seiner eig- nen Person spricht, imıner nur von der späteren Entwikklung die Rede. Dass übrigens auch die Frage, ob nicht etwa die Tugend, denn von der ist unmittelbar hier nicht die Rede, sondern die Erkenntniss und die richtige Vorstellung dem Menschen von Natur einwohne, hier nicht aus- führlich behandelt, sundern kurzweg verneint wird, kann wol dem Gespräch

358 ANMERKUNGEN.

nicht zum Vorwurf gereichen, Denn so wie hier die Frage allein gemeint sein kann, ist kein Streit darüber möglich.

Ebend. 2.33. ob es lehrbar wäre. Lieber will ich so übersezen, und dieses es auf ein aus dem vorigen herauszunehmendes Gutsein bezie- hen, als hier schon ἀρετὴ als Subjekt ansehen. Die Fortschreitung ist rei- ner und der ganze Zusammenhang tritt besser heraus.

8.269. Z.18. so ist sie auch nicht mehr Erkenntniss. Ich lese οὐδ᾽ ἐπιστήμη δὴ ἔτι γίγνεται, worauf sich hernach das folgende be zieht εὐδοξία δὴ τὸ λοιπὸν γίγνεται. Es ist nie gesagt oder gefragt wor- den, ob die Tugend durch Erkenntniss entstehe, sondern ob sie Erkenntnis;, sei, und also durch Belehrung entstehe. Auch ist ἐπιγίγγεσϑαι hier sonst gar nicht vorgekommen. Bekker hat diese: Aenderung, jedoch wie es scheint ohne Handschriften, in den Text genommen. -— Dagegen in der bald darauf folgenden auch schon angezogenen Stelle muss man allerdings aus demselben Grunde wie auch Bekker thut -— lesen Οὐχοῦν &? μὴ ἐπιστήμη, weil es Wiederholung des vorigen οὐ δι᾿ ἐπιστήμην ὄντες ist, wie auch schon Stephanus gesehen hat. Nur kann füglich auch εὐδοξίᾳ stehn bleiben, auf das folgende N χρώμενοι bezogen, und braucht nicht, wie Stephanus wollte, in den Nominativ verwandelt zu werden.

8.270. 2.25. wie Homeros sagt. Odyss. X, 49.

ZUM EUTHYDENMNO®OS.

Seite 273. 2.20. Und wenn auch niemand. Selbst Herrn Ast's seitdem bekannt gewordene Verwerfung geht doch nicht hievon aus, son- dern nur weil Platon die Eristiker so oft gelegentlich durchzieht, glaubt er nicht, dass er noch ein besonderes Gespräch diesem Zweckk könne ge- widmet haben. Als ob nicht von vielen Dingen Platon hier gelegentlich handelte, dort aber ausdrükklich; und als.ob nicht seine Gespräche die- ser Art immer gar vielerlei Zwekke hätten, und nicht bloss einen. Wie aber Her» Ast nur eitle Mühe findet nach irgend einem andern Gehalt und Zwekk in diesem Gespräch zu forschen, und wie genau er es desfalls durchforscht und dargelegt hat, das liegt neken meiner Einleitung nun zu Tage, und jeder mag prüfen und wählen. Wollte man aber scherzen, so dürfte man sagen, man wolle es sich nicht unlieb sein lassen, wenn noch einer ausser dem Platon gefunden werde, dem man ein solches Gespräch wie dieses zuschreiben könne.

S.276. Z.11. Xenophon. Im.dritten Buch der Denkw. des Sokr. Cap. I.

Ebend. Z.16. im Kratylos. Bald zu Anfang. Ed. Step. p. 386. d.

Ebend. 2.20. Auch Aristoteles. De Soph. El. cp. XX. Hd. Bip. III. p. 599., womit zu vergleichen Rhet. II., cap. AXIV. Ed. Bip. Vol, IV. #.'292.

Ebend. 2.33. eine andere Stelle. De Soph. El. cap. AXXIV. Ed. Bip., Vol. III. p.639. Uebrigens hat, wo ich nicht irre, schon Tennemann

ZUM EUTHYDEMOS. 359

die Vermuthung geäussert, wo Platon dieser ὀψιμαϑῶν erwähne, da sei Antisthenes gemeint. Man sieht, wie dieses wol unmittelbar auf seiner Euthydemos geht, in wiefern aber doch jene Muthmassung auch wieder gegründet ist.

8.279. 2.2. im Gorgias. Man sehe Seite 68.

S.280. 2.13. nur schmächtig. Nicht unrichtig ist, was Herr Ast bemerkt, in σχληφρὸς liege mit, dass einer jünger aussche als er ist, wel- ches eben mit dem schmächtigen in diesem Alter zusammenhängt; nur weitläuftiger werden, um dies handgreiflicher auszudrükken, wollte die Uebersezung nicht. Uebrigens finden sich in jedem platonischen Ge- spräch und in den ächtesten mehr als in den mit Recht verdächtigen ein- zelne seltene Ausdrükke und Wendungen, so dass hierauf schwer ist einen Klagepunkt zu begründen.

Ebend. Z.24. seitdem sie von dort geflüchtet sind. Dies geht gewiss auf die bekannte Begebenheit, die Vertreibung der Athenischen Par- thei aus Thurii, Ol. 91, 4 oder 92, 1, welche auch den Lysias nach Athen brachte, und es ist nicht die geringste Veranlassung, wie der englische Herausgeber und Uebersezer thut, an. eine besondere Vertreibung dieser höchst unschädlichen Sophisten zu denken. Was wieder im Athenaios Lib. XI. Ed. Schweigh. p. 382. Cas.507. bei dieser Gelegenheit dem Pla- ton vorgeworfen wird, stimmt wie gewöhnlich nicht einmal mit den Wor- ten überein.

8.281. Ζ. 1. ein wahrer Kunstfechter. Die Uebersezung hat sich hier die Freiheit genommen, ein Allgemeines zu geben anstatt eines Beson- deren. Im Text steht ein wahrer παγχρατιαστὴς, Meister im παγχράτιον, einer aus zwei andern Arten des Kampfs zusammengesezten Leibesühung. Vielleicht nicht mit grossem Rechte; denn es mögen leicht eben in diesem besondern noch mancherlei Anspielungen liegen, aber nur für den, der das Nähere weiss. ὅ, εἶεν aber mit Heusde zu lesen statt ὅτε scheint noth- wendig, wie auch Bekker geschrieben hat. Die ὁπλομαχία kennen wir schon aus dem Laches und sonst. Es ist übrigens zu bemerken, dass nach einer Erzählung im Diogenes Laert. VI, 4. Antisthenes selbst sich athletischer Geschikklichkeiten gerühmt hat.

8,282. Z.11. das gewohnte Zeichen. Offenbar treibt Sokrates hier selbst etwas Scherz mit seinem göttlichen Zeichen, dass es ihn abgehalten vom Gehen, ehe die weisen Männer bereingekommen, als würde ihm sonst ein grosses Glükk entgangen sein. Den englischen Herausgeber macht sein feierlicher Ernst hier ganz übermässig scharfsinnig. Er meint nämlich, das Zeichen sei deshalb geschehen, damit Sokrates den schönen Jüngling, den Kleinias, retten könnte, dass er nicht in die Hände dieser Sophisten fiele.

8.283. Z.2. die Tugend. Man erinnere sich, wie Antisthenes sie für lebrbar erklärte, und mit diesem Lehren eine Dialektik verband, die, wie es scheint, nahe an die sophistische grenzte.

Ebend. 2.26. Denn Ktesippos. Die Verbesserung des Cornar ἐπε- σχότει für Zneoxöneı ist nun genugsam durch Handschriften bestätigt; und kurz vorher ist aller Mangelhaftigkeit der Struktur, und der Nothwendigkeit, wie ich früher wollte, ein ὃς nach διαλεγόμενος einzuschieben, hinreichend abgeholfen durch das von Bekker nach ὡς eingeschobene δ᾽,

360 ANMERKUNGEN,

8.284. 2.7. derselben Kunst. Diese Frage knüpft sichtlich an das Resultat des Menon, dass die bürgerliche Tugend von der richtigen Vorstel- lung ausgehe. Eine solche Tugend nämlich kann auch wol sich mittheilen, aber etwas über die Tugend eigentlich lehren kann sie nicht.

Ebend. Z. 21. Enkel also des. älteren Alkibiades. Dieser ältere Alkibiades war der Grossvater des berühmten, und hatte zwei Söhne, Kleinias, den Vater des Alkibiades und Kleinias, und Axiochos, den Vater unseres Kleinias.

8.285. 2.29. etwas vorsagte. Dies ist unstreitig der Sinn von ὅπο- στοματίζειν. Denn effenbar ist von etwas dem Lernen vorgängigen und auf das Lernen sich beziehenden die Rede, und man muss bedenken, dass die Kinder ihre Bücher nicht mitbrachten zur Schule. Das folgende, dass die Wissenden lernen, führt Aristoteles nebst der Auflösung, welche Sokra- tes davon giebt, fast wörtlich an de Soph. El. cap. IV. 3. Ed. Bip. III. p. 526.

S. 286. 2.41. die Einthronung. Aus den Lexicographen lernt man wenig mehr als aus unserer Stelle selbst, dass dieses ein wahrscheinlich be- deutungslos gewordener Gebrauch war, der nun nur noch ein müssiges Vor- spiel der Einweihung selbst voranging. Und mit dieser Vergleichung thut Sokrates den Sophisten eine ermunternde Ehre an.

S. 287. 4.15. häufiger erfahren. Erfahren ist freilich keine Ueber- sezung für $uvyıEyaı, wie wir das Wort gewöhnlich nehmen, mehr von der Richtigkeit einer gewissen Geistesthätigkeit als von ihrer Beschaffenheit und ihrem Wesen selbst. Wir sehn aber hier aus den zusammenstimmen- den Zeugnissen des Platon und Aristoteles, dass gerade das leztere, nicht das erstere, den eigentlichen Gehalt des Wortes ausmacht. Im Gegensaz also gegen das ursprüngliche u«vdaveıy kann es nichts anders bedeuten, als das Auffassen eines neuen Besonderen, das aber unter ein schon be- kanntes Allgemeines gehört. Und grade in diesem Gegensaz bedienen wir uns auch des in der Uebersezung gebrauchten Wortes; das Allgemeine habe ich schon gewusst, das Einzelne aber jezt erfahren.

Ebend. Z.32. das rechte ernsthafte. Bekker hat Heindorfs Ver- muthung αὐτὰ τὰ aufgenommen, und nach. dieser habe ich nun übersezt, da ich vorher, jedoch ohne es genau wiederzugeben, αὖ τὰ σπονϑαῖα las.

8.288. 2.8. Menschen alle uns wohl befinden. Man sehe die Anm. zu 8.93. Auch hier ist an kein sophistisches Wortspiel zu denken, und weit entfernt, den gewöhnlich angenommenen Unterschied verbergen zu wollen, zieht Sokrates ihn ans Licht und vernichtet ihn ordentlich.

Ebend. Z. 37. auch die ganz schlechten. -Dies ist offenbar eine Anspielung auf den Aristippos, dem das Glükk ein Gut war. Vielleicht hat auch, wie denn diese beiden sich beständig berühren, Antisthenes etwas ähnliches gesagt, da es sich wenigstens bei seinen Nachfolgern den Stoikern bestimmt findet. Auch eine frühere Stelle, dass Einige wol zweifelhaft sein könnten, die Tugend unter die Güter zu sezen, ist wol zunächst ein Seitenblikk auf den Aristippos. Die ganze Widerlegung dieser Ansicht, die εὐτυχία als etwas eignes zu sezen, schliesst sich einer Stelle im Menon an, wo Sokrates die εὐτυχέκ im Sinne hat, ohne sie zu nennen, und sie proble- matisch als etwas gelten lässt, nur dass sie in der sittlichen Berathung

ZUM EUTHYDEMOS. 361

keinen Plaz finden könne, lid. Steph. 99. a, bei uns 8.269. Z.15f. Hier betrachtet er sie nun ordentlich und nach seiner Weise sehr etymologisch man sehe 280. a. εὐτυχέστερον πράττειν, und bald darauf ὀρϑῶς πράττειν χαὶ τυγχάγειν und führt sie auch auf die ἐπιστήμη zurükk. Auch von hier aus zeigt sich also ganz bestimmt der Zusammenhang zwischen Gor- gias, Menon, Euthydemos, und. was noch mehr sagen will, die erste An- deutung von dem eigentlichen Wesen der Platonischen Staatskunst, wie sie sich im Staatsmann und in den Büchern vom Staate weiter entwikkelt. 8.289. 2.9. im guten Flötenspielen. Hier konnte die Uebersezung nicht erreichen, wie in der Urschrift der Ausdrukk εὐπραγία περὶ αὐλημά- των die Beziehung auf das εὐπράττειν wiederbringt; und ich kann nur hier aufmerksam darauf machen. Vorzüglich Herrn Ast, der indem er mich be- lehren will, εὐπραγία sei nicht Wohlleben, nur zeigt, dass er den rechten Umfang des Wortes nicht gefasst hat. Ich verweise auf das zu 8. 93. gesagte.

Ebend. Z.27. bei wem sie wäre. ἂν παρῇ statt ὅταν hat Routh aus einer treflichen handschriftlichen Anmerkung des Casaubonus, und auch Bekker hat es aufgenommen.

Ebend. Z.41. wol befinden und wol handeln. 80 musste sich die Uebersezung hier helfen, da in diesem Zusammenhange das eungarreıv zu bestimmt auf das Handeln hinweiset. |

8.290. 2.33. Oder mehr wenn weniges. Dass wir das δὲ des Stephanischen Textes nur einem klügelnden Abschreiber verdanken, der je- doch nur den Gegensaz stärker herausheben wollte, dies haben die Bekker- schen Handschriften bestätigt. Aber das un welches ich wünschte will sich nirgends finden. Man sehe nur dieses als einen verdeutlichenden Zusaz an, der nicht weiter ausgeführt wird, sondern nur das erste. Wer etwa stuzt unter dem, was besser ist nicht zu haben, wenn man keine Vernunft hat, auch die Tapferkeit und die Besonnenheit zu finden, der sehe zurükk auf den Menon, p. 88. δ. bei uns 8. 256. wo Sokrates schon eben so die popu- lären nicht ethisirten Vorstellungen auf diese Art von den höheren ausschei- det, und dadurch das Resultat der früheren Untersuchungen im Laches und Charmides geradezu ausspricht.

a 8. 291. 2.30. für nichts schändliches. Ich vermag keine Klarheit

in diesen Saz zu bringen, als wenn ich lese οὐδὲν αἰσχρὸν ὃν, und dieses als ein neues Glied auf das erste zurükkbeziehe za) οἰόμενον οὐδὲν αἰσχρὸν ὃν et. Wer mit Heindorf ohne dies fertig zu werden meint, der erlaube die unentbehrliche Hülfe wenigstens der Uebersezung.

8.292. 2.9. wie ich wünsche. Da Handschriften τὸν προτρεπτιχὸν λόγον geben, keine aber wie es scheint οἵων liest, so würde ich nicht wie Bekker, sondern lieber οἷον ἐπιϑυμῶ τὸν προτρεπτιχὸν λόγον εἶναι ge- schrieben haben.

8. 293. Z. 15. auf den Kopf zusagen. OÖhnerachtet des Casmubo- nus man sehe Bouth p. 325. halte ich es doch hier mit den übrigen Auslegern. In der Bedeutung, wie Casaubonus und Routh wollen, müsste dieser Rede des Ktesippos ein Schimpfwort des Sophisten vorangegangen sein, das er ihm gerade zurükkgeben konnte, ein Fall der, wie man sieht, gar nicht statt findet, Und was hat deun Ktesippos gesagt, wenn er spricht,

362 ANMERKUNGEN.

Wäre es nicht zu grob, so würde ich sagen, ich gebe es dir auf deinen Kopf zurükk? hat er sich so die Grobheit gespart? Nach unserer Uebersezung aber spart er sie allerdings. Er meint nämlich, der Sophist wolle nur ihn und die andern Liebhaber dem Kleinias verhasst machen, um ihn für sich selbst und auf seine Art zum Liebling zu gewinnen, und dies war ihm zu unfein gerade heraus zu sagen. Auch hat das 6, τε μαϑὼν gar nichts, worauf es sich beziehn kann, wenn man es nicht mit dem εἶπον ἄν σοι in Verbindung bringt.

S. 295. 2.4. der Kolchischen Medeia. Dies bezieht sich, wie der Scholiast ganz richtig erinnert, auf die Erzählung, dass diese die Töchter des Pelias überredet habe, ihren Vater zu kochen, damit er sich wieder ver- jünge. Schr verständig erklärt die Fabel als eine misslungene Heilung Palaephatus de iner. hist. 44.

Ebend. Z. 21. Ganz recht, sagte er. Die Stelle ist nicht ohne Schwierigkeit, und mit der veränderten Personen -Eintheilung, die Heusde vorschlägt, wird sie nur verändert, nicht vermindert. Wie unser Text lau- tet, sieht man nicht recht, ein, wie Ktesippus dem Dionysodoros auf das Obige antworten kann, AAn9n λέγεις. Man müsste denn annehmen, er habe geglaubt, Dionysodoros wolle ein Wortspiel machen mit dem Zeigen.

Ebend. 2.32. wenn keiner von uns sagt. In der Uebersezung musste hier, um den Charakter des Ganzen zu erhalten, die Uebereinstim- mung verloren gehn zwischen dieser Stelle und dem lezten Abschnitt des Theaitetos. Denn die Urschrift hat hier ebenfalls das vieldeutige λόγος,

Ebend. Z. 39. du aber spriehst ganz und gar nicht davon. Dieses davon bat die Uebersezung nur ergänzt; der Sinn aber erfordert es. Denn wenn angenommen wird, der Andere spreche von einer andern Sache, so kann nicht gesagt werden er spreche gar nicht.

S.296. 2.24. Auch hiess ich dir jezt. Man sieht wiederum nicht, wie dies kann gesagt werden, wenn nicht auf eine mögliche Verschieden- keit zwischen ἐλέγχειν und ἐξελέγχειν hingedeutet wird. Aber könnte das nicht mit einen Worte bestimmter geschehen sein? Denn so ganz von selbst fiel es gewiss auch dem Athenischen Leser nicht ein. Fiein giebt die Worte noch dem Euthydemos, hat also ἐχέλευεν gelesen; aber das ἔφη und ἐγὼ, sollte es ihm ganz gefehlt haben? und wenn man mit Heusde statt Jıov. liest ὡς Jıor., oder wg ὃ, wie es doch heissen müsste: so verlezt Euthydemos die brüderliche 'Treue und lässt den Bedrängten allein stek- ken. Bei dem folgenden muss man an den Theaitetos zurükkdenken, wo der Saz, es gäbe keinen Irrthum, mit dem, Einer sei doch weiser als der Andere, künstlich in Uebereinstimmung gebracht wurde. Hier zeigt nun Sokrates, dass dies streng genommen auch nicht geht, weil es aus densel- ben Voraussezungen auch kein ἐξαμαρτάνειν giebt, wenn kein ıyevdsodr.

Ebend. Z. 32. Denn was einer thut. Auch hier muss man wol eigentlich ein οὕτως ergänzen, nämlich indem er weder falsch vorstellt noch unverständig ist.

5. 297. 2.7. wie meinst du dies? Man lese τέ ποτὲ λέγεις statt 6, te ποτὲ λέγεις. In den folgenden Worten hat Bekker aus einer Hand- schrift glükklich geholfen durch 44)” 6 av. Nur wollte ich er hätte auch aus dem τούτῳ τῷ der Handschriften gewagt τούτῳ zu schreiben statt τοῦτο

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ZUM EUTHYDEMOS. 363

τὸ. Denn dies wäre dann ganz gesund und leicht 444’ σὺ λέγεις, ἔφη,

τούτῳ πάγυ 2. τ. ).

Ebend. Ζ. 27. was mir wol die Redensart sagen wollte. Gewiss wird hier ungesalzener Tadel persifllirt, gegen solche und ähnliche Redens- arten, dass sich Platon ihrer in seinen Schriften bediente.

Ebend. 2. 87. und noch immer. Wer sieht nicht, dass Platon bier auf seine Behandlung des Sazes im Theaitetos zurükkweiset?

8.299. Z.11. dass wir müssten. Ich lese δεῖν εἶναι mit Heindorf statt δεινοὺς εἶναι, was auch Bekker in den Text genommen.

Ebend. Z. 26. welche selbst ihrerseits. Ausser dem λογοποιεῖν statt λυροποιεῖν, welches Routh schon hat, wird noch erfordert das Prono- men οἱ statt des Artikels οὗ, welches beides Bekker ebenfalls aufgenom- men. Uebrigens ist dies ein kleiner nicht zu verachtender Zusaz zum Gorgias.

8.300. 2.14. nämlich auch diese. Auch hier liegt dieselbe Tendenz zum Grunde, die mathematischen Wissenschaften aus dem Gebiet der höch- sten Erkenntniss auszusondern.

Ebend. Z.24. eben wie die Wachtelfänger. Schwerlich steht die- ses Gleichniss hier ohne eine strafende Rükksicht auf das Verfahren der mächtigeren griechischen Staaten gegen die kleineren, die sich in einer Ab- hängigkeit von ihnen befanden.

Ebend. 2.31. So hätte dieser Knabe. Die gauze Stelle ist offen- bar nur Ironie entweder über Ausstellungen dagegen, wie er Knaben und Jünglinge in seinen Gesprächen brauchte, oder über die Art anderer dialo- gisirenden Sokratiker. In der Regel sind Platons keinesweges übermässig klug; der Theaitetos konnte indess vielleicht Veranlassung geben zu einem solchen Tadel. Platon treibt es nun hier absichtlich etwas arg, sei es um zu zeigen, wie leicht er dies bisweilen behandle, sei es um Andere zu ver- höhnen die den befragten Jünglingen alle Weisheit in den Mund legten. Doch ist das leztere das unwahrscheinlichere. Unbegreiflich aber ist es, wie ınan in diesem Zusammenhange unter dem τὴς τῶν χρειττόνων eın höheres Wesen verstehen will. Abgeschmakkteres als dies könnte Platon wol nichts gesagt haben.

38.301. 2.9. den Schwalben. Es ist wol zu verzeihen, dass sich die

Uebersezung hier unserer Art zu ‚reden genähert hat, zumal der Uebersezer

weder zu entscheiden noch Vereinigung zu treffen weiss zwischen dem Scho- liasten, dem χορυδὸς eine Wachtelart ist, und Schneider, der sie alauda cristata übersezt.

Ebend. Z, 27. nach des Aischylos Vers. Am Anfang der Sieben gegen Thebä, aber von Platon abgelenkt von den kunstverständigen Bür- gern, denen es dort zugerufen wird, auf die Kunst selbst.

8.303. 2.6. das ewige Einerlei. Ein beständiges im Kreise her- umgehn, wobei man immer wieder auf denselben Punkt zurükkkommt. Das ist der Sinn, den der Zusammenhang fordert, wenn man es nur auf den lezten Theil der Untersuchung bezieht. Zur Noth liesse sich indess auch die erste Auslegung des Scholiasten hören, wenn man annimmt, Sokrates verspotte sich und den Kleinias, dass sie mit so sichern Hoffnungen die Untersuchung angefangen und nun doch nichts zu Stande gebracht hätten

364 ANMERKUNGEN.

Wie aber nun dies oder jenes aus dem Sprüchwort Ζιὸς Κόρινϑος her- vorgeht, das scheint, ohnerachtet des Scholiasten und dessen was Erasmus beibringt, bis jezt noch verborgen zu sein.

Ebend. 2.35. Aber bist du nicht u. 5. w. Ich kann dies nicht an- ders als fragend fassen; denn zu diesem Ziele, dass er alles wissen müsse wenn etwas, will Euthydemos den Sokrates führen, und nur weil er die Frage, wie freilich voraus gesehen, verneinend beantwortet, führt er ihn dahin, dass er dann gegen die Voraussezung zugleich wissend sei und nicht wissend. Soll hingegen Euthydemos selbst aussagen, es sei nicht nothwen- dig alles zu wissen, so giebt er ja das zugleich wissend und nichtwissend sein selbst zu, und sezt sich ausser Stand dem Sokrates zu zeigen, dass er die gesuchte Erkenntniss schon habe. Heindorf hat die fragende Interpunc- tion stillschweigend aufgenommen; Bekker hingegen ist dem gewöhnlichen Text, den auch Ficinus ausdrükkt, treu geblieben. Wenige Zeilen darauf in der Folgerung und so bist du habe ich die frühere Aenderung, die lezten Worte abzutrennen und dem Sokrates zu geben, wieder zurükkgenom- men; nur ungern gestehe ich, weil sich in den Handschriften keine Unter- stüzung fand.

8.305. 2.10. den Messertanz. Fast dasselbe, was wir auch von unsern Aequilibristen sehen. Ausführlicher beschreibt ihn Xenoph. Symp. Cap. II, 11. Wenn aber Routh meint, dass ebend. ZI, 12. auch das be- schrieben werde, was hier heisst ἐπὶ τροχοῦ dıreisder, so irrt er sich. Denn dort ist nur von einzelnen schweren Stellungen die Rede, welche im Tanz vorkamen, und diese können durch unsere Worte nicht angedeutet werden So dass hier nur aufs Gerathewohl und der Kürze wegen nur unbestimmt übersezt ist. Denn angedeutet ist doch wol in den Worten ein sich selbst auf oder an der Scheibe oder dem Rade herum drehen,

Ebend. Z. 13, Auch immer. Dies scheint einen schlechten Spott überspotten zu sollen, den man mit der ἀγάμνησις getrieben.

Ebend. 2.33. befiehlst du. Auch hier bin ich der fragenden Inter- punction bei Heindorf treu geblieben. Wenn Sokrates nicht gefragt, son- dern, sei es auch nur ironisch, gleich angenommen hätte; so würde Euthy- demos schwerlich seine Forderung noch gerechtfertigt haben.

8.306. Z.15. besser als ich. So habe ich übersezt, ohne deshalb Cornar’s Verbesserung anzunehmen, der vor ἰδιώτου einschieben will ἐμοῦ ὄντος, was gar nicht nöthig ist.

Ebend. Ζ. 19. Ich frage ja nicht. Man sehe über diese ganze Stelle, über die Forderung, dass Sokrates nichts antworten soll als ja oder nein, den Aristoteles de Soph. El. Cap. XVII, 2.3. Ed. Bip. III, p. 586.seq.

Ebend. Ζ. 41. dass du alles wüsstest. Hier muss man offenbar πάντα γὰρ ὃμολ, lesen. Denn dies ist eine Folgerung, welche er sucht, und ἅπαντα nämlich ἅγ᾽ ἐπίσταμαι --- wovon aber der Sophist abstra- hirt, war die Voraussezung. Es erhellt auch aus des Sokrates Antwort, wo man aber mit einer kleinen Aenderung lesen muss πάντα δή.

8.308. 2.3. von links her. Man erinnere sich an zwei Stellen im Anfang des Gespräches, worin erwähnt wird, Dionysodoros habe dem So- krates zur Linken gesessen. Dann auch früher an das bekannte Sprüch- wort πρὸς δύο οὐδ «Ηραχλῆς.

ZUM EUTHYDEMOS. 365

Ebend. Z.15. Patrokles mein Bruder. Warum soll auch dieses Prunken mit einem sonst unbekannten Umstand, also als gesuchte Gelehr- samkeit ein Kennzeichen der Unächtheit sein, da Platon absichtlich auch in den ächtesten Gesprächen so manches Einzelne anbringt von des Sokra- tes Aeusserlichkeiten und Verhältnissen? Dasselbe findet auch auf den Kon- nos seine Anwendung. Allein 8. 308. Ζ. 6. möchte auch ich mit Hein- dorf den Patrokles für unächt halten, wenn man nicht noch einen Patrokles annehmen will, der des anderen Sohn war.

8.309. 2.5. Gerissenes wieder mit Gerissenem. So ganz ab- weichen vom Text und etwas nur von weitem Achnliches an die Stelle sezen, heisst freilich die Sache aufgeben. Denn wer mag nur erst entschei- den, ob das Sprüchwort heisst λέγον λίνῳ συγνάτιτειν oder οὐ λίγον λίνῳ, und dann, worauf es eigentlich geht! Die beste mag wol die Erklärung des Simpl. sein τὰ οὐ συγχλώϑεσϑαι πειφυχότα συγκλώϑειν, welche eben- falls das οὐ aus dem Sprüchwort ausschliesst. Zu dem folgenden ver- gleiche man Arist. de Soph. El. Cap. V, 2. 3. und XXIV, 1.2. Ed. Bip. Vol. III. p. 532 und 610.

Ebend. Z.21. dass der Hund dein Vater wird. Dies kommt wörtlich vor in der zulezt angezogenen Stelle des Aristoteles.

Ebend. 2.33. Denn sage mir nur. Man vergleiche Arist. de Soph. El. Cap. IV, p. 529.

Ebend. Ζ. 41. vortrefflich bekommen. Mit dem ἐχεῖ weiss ich fast nichts zu machen als es zu löschen.

8.310. Ζ. 7. sondern nur eins. Man vergleiche Arist. het. II, 24. p. 292. Eine besondere Anspielung ist auch in dieser sophistischen Dia- tribe über das viele Gute nicht zu verkennen.

Ebend. Ζ. 27. die sich zeigen lassen. Ganz ohne Veränderung konnte es bei diesem Wortspiel nicht abgehn, wenn doch die Hauptsache, die Verwechselung des activen und passiven und einigermassen der Inhalt des Beispiels sollten beibehalten werden.

Ebend. Z.34. und wenn es. Es ist wol kaum zu vermeiden, dass man nicht, wie auch Bekker gethan mit Stephanus, ein εἰ einschieben und lesen muss χαὶ el oiovre. Ktesippos nämlich sagt dies in Bezug auf den: früheren Saz der Sophisten, und nimmt das μηδὲν λέγειν in der gewöhn- lichen Bedeutung. Dionysodoros aber fasst es wörtlich auf.

Ebend. Z. 36. für Schweigende. Hier hat die Uebersezung noch mehr Veränderung hervorgebracht, und weniger die Genauigkeit der Sprache bewahrt. Der Text spielt mit schweigend reden, und von etwas reden was schweigt, welches ich nicht wusste auf deutsch gleich auszudrükken. Man sehe nach Arist. de Soph. El. Cap. IV,6. p.528, und Cap. XIX, 4. p. 597.

8.311. 2.15. hat die Frage doppelt genommen. Ganz bestimmt lässt sich schwerlich der Sinn des Wortes ἐξαμῳοτερίζειν angeben, da es leider in dem so oft angezogenen Buche des Aristoteles nicht vorkommt. Zu der Glosse des Timaios ‚eine Rede zur Zweideutigkeit drehen” muss man gewiss noch die Worte des Suidas hinzunehmen ‚so dass man auf beide Arten verliert.” Denn sonst könnte Ktesippos wenig damit gewonnen haben, dem Sophisten das vorzuworfen, dessen er sich vornehmlich rühmte. Die Sache scheint nur zu sein, dass er die zwiefache Antwort allgemein

Plat. W. 11. Th. I, Bd. 24

366 ANMERKUNGEN ZUM EUTHYDEMOS.

ausgedrükkt, und nicht wie Aristoteles 2. 6, p. 597, vorschreibt, gesagt hat ἐστὶ μὲν ὡς ναὶ, ἔστι δὲ χαὶ ὡς οὔ.

Ebend. Z.40. Wenn ich es dafür halte. Hier lässt Platon den Sophisten, auch sehr unnüz, eine Vorsichtsmaassregel gebrauchen, die Arist. auch anrühmt de Soph. El. XVII, 11. p. 591.

8.312. 7.12. was ihm zukommt. Auch dieser Fall wird erwähnt

in demselben Buche p. 597.

8.313. 2.10. diesen Namen führt er. Man sehe, was Routh zu dieser Stelle anmerkt. Man muss nur davon ausgehn, dass Platon, was er so bestimmt sagt wie dieses, muss gewusst haben. Die Stelle aus den Bü- chern von den Gesezen beweist nichts dagegen; denn da spricht Platon nicht als Athbener, sondern als Kreter, die ja wol einen Ζεὺς πατρῷος haben mussten. Und die Stelle in den Wolken des Aristophanes kann vielleicht gar die sein, über die Platon hier spottet. Denn das ist offenbar, dass er hier Jemand, wer es sei, lächerlich machen will, der sich dieses Ausdrukks bedient hatte.

Ebend. Ζ. 21. sind doch diese Götter Thiere. Dem Worte, wie- wol es beschränkter ist in seinem Gebrauch als das Hellenische ζῶον, war nicht auszuweichen. Theils musste eben so übersezt werden, wo der Sophist durch Zusammenstellung von Definition und Beispiel den Sokrates fangen will; theils steht vielleicht die Stelle in mittelbarer Beziehung auf andere, wo Platon die Götter ζῶα genannt hat.

Ebend. Z. 35. Ist Herakles der Popanz. _ Auch dies lezte und jämmerlichste konnte nur ziemlich frei wiedergegeben werden. Die Täu- schung beruht übrigens schwerlich auf der Prosodie oder dem Accent, wic Routh meint, sondern der Sophist nimmt die beiden Vocativen für Appo- sition.

S. 315. Z.4. wie Pindaros sagt. In dem bekannten Anfang der ersten Olympischen Ode. Das σπάγιον τίμιον war durch kein deutsches Sprüchwort wiederzugeben; genug wenn der halbe Reim nur gewissermassen den sprüchwörtlichen Ton erhalten hat.

S. 317, Ζ. 28. mit jedem vorlieb nehmen. Recht bedeutend wird erst dieser Schluss, wenn man dabei, wie schon die Einleitung zu verste- hen gab, an den Isokrates denkt, und an die Hoffnungen, welche Platon früher von ihm gefasst hatte,

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