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in zwei Banden
Erster Band
492340
1.9 2 2
S. FISCHER / VERLAG / BERLIN
Ausgewahlt , ubertragen und eingeteitel von Hans Reisiger
Mil vier Bildnissen
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Erste bis vierte Anflage Alle Rechte vorbehalten
EINLEITUNG
. . . Vor all meinen hochfahrenden Gedichten steht mein wahres Ich noch irnmer unberiihrt, unausgesprochen,
Weit abseits, meiner spottend mil spottisch-begliickwiinschendem Neigen und Griifien,
Mit fernher schallendem, ironischem Gelachter iiber jedes Wort, das ich schrieb.
ATLANTISCHE WIEGE
Paumanok
Meerschbnheit ! hingestreckt, besonnt!
Die eine Seite von deinem innern Ozean bespiilt, voll reichen Handels, Dampf-
und Segelschiffen, Die andre vom atlantischen Wind gekiifit, wild oder zart, — gewaltige Riimpfe
dunkel gleitend in die Feme;
Eiland voll siifler Quellen trinkbaren Wassers — Boden und Luft gesund ! Eiland der salzigen Kiiste, Luft und Flut!
Von Montauk Point
Ich stehe wie auf eines machtigen Adlers Schnabel, Ostwarts die See einatmend, schauend (nichts als Himmel und See), Die hiipfenden Wellen, Schaum, die Schiffe in der Feme, Landsiichtige Unrast schneegekrauselter Kronen, Die ewiglich die Kiisten suclit.
Walt Whitman wurde am 3i. Mai des Jahres 1819 auf der Farm West Hills nahe der kleinen Hafenstadt Huntington auf der Insel Long Island geboren. Welcherart war das Fleisch und Blut, in dem diese neue Seele sich inkarnierte? und welcherart die irdische Umgebung, in der sie die Augen aufschlug und heran- wuchs? — Die Antwort auf beide Fragen umschliefit ein mehr- fach und stark Gedoppeltes.
Zwei Blutstrome tralen sich in Walt Whitman, beide pulsierend von Auswandererlust, von Drang nach neuer Welt, beide kraftig her- vorsprudelnd aus gesicherter Scholle, gespeist aus reinen und tiefen Quellen gesunder Geschlechter. Yon England her der eine : Bauern- blut, gereift unter den freiheitlichen Strahlen der elisabethanischen Sonne, die damals, mit dem 17. Jahrhundert, iiber dem Inselreich aufstieg und unter deren Jahrzehnte wahrendem Friedenslicht die bis- her in innerer Zerrissenheit vergeudeteii Krafte zum erstenmal in freu- diger Geschlossenheit und Tatkraft nach auBen hin gewandt wurden.
IX
Getragen und geadelt war dieser Drang in die Welt durch den starken und geraden Charakter der Generation. Etwas von dem jugendlichen Glanz und Uberschwang, der die wandernden Goten umflugelte, war mit diesen Mannern; Kameradschaft, Freigebigkeit, Ruhm- liebe, die sicb zu kindlicher Prahlsucht steigerte, gingen laut und frohlich zusammen mit tiefer Frommigkeit, mit gliihendem Glauben an die freie Menschennatur, an das eigene Ich und das der an- deren, mit einer Hingabe an die eigenen Ideale bis in den Tod. Sie gingen mit Lust in die Welt, weil sie ihre eigene Welt mit sicb trugen. So griindeten sie Virginia, die erste Kolonie zu Ebren der jungfraulichen Konigin, und verpflanzten die Keime zur Wesens- art des spateren und heutigen Amerikaners in die Neue Welt. So wandte sich eine ihrer Scharen aucb weiter nordlich nach Con- necticut. ,,True Love", ,,Treue Liebe" war der kindlich-schone Name des Scbiffes, mit dem sie iiber den Ozean fubren, und einer der Ihren hiefi Zachariab Whitman und war der Sobn des alten, daheimgebliebenen elisabetbanischen Bauern Abijah Whitman. Er wurde Prediger in Milford, Conn., denn tatkraftige Frommigkeit wobnte in ihnen dicbt neben der bandfesten Abenteurerlust. Sein Sobn Joseph Whitman setzte mit vielen anderen um 1660 iiber den schmalen Sund hiniiber nach der Insel, die Long Island ge- tauft wurde. Dort batten Vorlaufer bereits ein Gebiet den einge- borenen Indianern um sechs Rocke, secbs Paar Schuhe, sechs Axte, Perlenschnuren und dergleichen abgekauft und an einer der tiefen Buchten das Hafenstadtchen Huntington, zu deutsch Jagerstadt, gegriindet. Auf den Hugeln siidlich der Stadt waren Farmen an- gelegt worden, und eine von ihnen, die Farm West Hills, erwarb Joseph Whitman.
Wahrend des folgenden Jahrhunderts wtichs diese elisabetha- nische Erobererrasse, die die Weite und Freiheit des Atlantischen Ozeans und die unbandige Fruchtbarkeit des neuen Kontinents in der Brust trug, zu immer stolzerem Selbstgefiihl, das schlieBlich im Unabhangigkeitskrieg gegen das Mutterland seinen Ausdruck fand. Nun blitzen die Waften und donnern die Musketen und Kanonen in das Whitmansche Blut. Die Romantik der Indepen- denten schlagt hinein. Ein Urenkel Josephs fallt in der Schlacht bei Brooklyn, der inzwischen am Westrande der Insel, New York gegenuber, emporgewachsenen Stadt; die Nacht darauf fiihrt
Washington den Rest seiner geschlagenen Truppen im Schutze des Nebels iiber den East River. Ein anderer Urenkel, Jesse Whitman, heiratet die Nichte eines der gefiirchtetsten Fiihrer der Indepen- denten, des Majors Brush, der in englischem Kerker verdorrt. Jesses eigene Mutter reitet, braun, breit, mannisch, die qualmende Tabakspfeife zwischen den Zahnen, auf die Schlachtfelder mit und fiihrt, mit Fliichen nicht sparend, Biichse und Sabel. Aber nun gleitet ein sanfterer Strom in das Blut. Jesses Erwahlte ist ein feines, damenbaftes Madchen von stiller Klugheit. Eine Lehrerin. Sie so- won! als ihr Gatte neigten dem Quakertum zu, und beide waren herzlich befreundet mit dem damaligen Fiihrer dieser Sekte, Elias Hicks. Und so hielt es auch Walter Whitman, einer von Jesses vielen Sohnen, der Vater Walt Whitmans.
Walter Whitman, 1789 geboren, erbte die Farm West Hills. Er erlernte jedoch in New York auch das Handvverk eines Zimmer- manns und baute Holzhauser und Scheunen. Er war ein Riese an Gestalt, wortkarg, ernst, verschlossen, von kindlicher Unbeholfen- heit in Umgang und Gesprach, tiichtig in seiner Arbeit, aber nicht gerade von gliicklicher Hand in seinen Geschaften, eigen- sinnig und zuweilen jahzornig. Das starke Blut seiner Rasse scheint in ihm zu einem gewissen Stillstand gekommen zu sein, und es bedurhe eines anderen, heiBeren und tieferen Zustroms, um die Mischung zustande zu bringen, aus der der grofke Dichter und Verkiinder einer neuen Welt geboren werden konnte.
Dieser andere, miitterliche Strom hatte seine gesunde Quelle in Holland. Die Hollander batten die Stadt New-Amsterdam, das spatere New York, gegriindet und waren, ebenfalls um die Mitte des 17. Jahrhunderts, auch auf die Insel Long Island hiniiber- gekommen und waren so, von Westen nach Osten vorriickend, dem englisch-puritanischen Einwandererstrom , der von Norden her kam, begegnet. Ihre Farmen grenzten an die Farmen des Gebietes von Huntington, und der Major Cornelius van Velsor war der Nachbar der WThitmans auf West Hills.
Ein belles Licht breiter Behaglichkeit liegt uber diesen besitzes- frohen Familien, und die ganze duftende Frische und Sauberkeit Hollands. In ihren schmucklos freundlichen Heimstatten mit den blankgescheuerten, mit weifiem Sand besireuten Dielen, mit ihrem Zinngerat und ihren beruhmten Punschen hausten sie auch in der
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neuen Heimat voll unerschutterlicher Ruhe, Gesundheit, Bedacht- samkeit und Tiichtigkeit, in rotbackigem Selbstgefuhl und Eigen- sinn. Hinter unbewegten, inassigen Gesichtern saugten sie mit stillen, bellblauen, kleinen Augen in aller Ruhe die Erscheinungen der Welt in sich und verarbeiteten sie in einem Innern, das sich unerwarteterweise gern dem Ubersinnlichen offnete — ein Zug, der sich bei den in Amerika geborenen Hollandern noch verstarkte.
Die Staaten New York und Pennsylvania sind noch heute tief von diesem hollandischen Blut durchsetzt. Es bildete den tiich- tigen Grundstoff, mit dem sich alle die just in diesen Staaten hin- zukommenden unsteten und leidenschaftlichen Elemente zu einer lebenskraftigen Mischung verbinden konnten. Zumal in den dor- tigen Landgemeinden bildet die Bevolkerung hollandischen Blutes den festen Kern. Und in den 8 tad ten New York, Brooklyn, Albany gilt hollandische Abstammung als eine Art Adelsbrief.
Der Major Cornelius van Velsor war ein Urbild des Hollanders, wohlbeleibt, behaglich, rotbackig. Wenn er mit seiner Tochter Louisa durch die Felder ritt, so konnte sie niemand sehen, ohne die beiden sogleich an Gestalt, Gesicht und Farbe als Hollander zu erkennen. Und dennoch hatte diese Tochter noch ein anderes, leidenschaftlicheres, unruhigeres Blut in sich.
Die Gattin des Majors und Mutter Louisas war Naomi Williams. Sie war ein Kind des grofien wallisischen Geschlechts der Williams, das seit alters der Seefahrt verschworen war. Ihr Vater, Kapitan John Williams, fand seinen Tod in der See. Ebenso sein einziger Sohn. Die Walliser waren von jeher eine geistig bewegte, phantasie- volle Rasse, durch deren Sinn und Blut das Meer sicherlich mit ganz anderem, damonischerem Wellenschlag rauschte als durch das der schwergewichtigen Hollander. Und vielleicht wurde in den Seelentiefen dieses Geschlechts der erste Funke geschlagen zu der schopferischen Flamme, die in Walt Whitmans Brust aus- brach. Und die See, deren Rauschen ihm zwischen Kindheit und Mannheit zu so gewaltiger, mystischer Stimme anschwoll, hatte vielleicht in noch gebrochenen Lauten ihr Geheimnis von Leben und Tod schon in diese ruhelosen Seelen gelallt.
Inbriinstiger sicherlich auch als die von alters landsassigen Whit- mans batten diese Williams sich dem Quakertum zugewandt, und die freie Lehre vom ,,inneren Licht" mag ihnen in den Einsamkeiten
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Louisa (Van Velsor) Whitman
des We wenngl
des Weltmeers zu einem um so innigeren Besitz geworden sein, wenngleich der Kapitan John Williams, \\ahrscheinlich wegen seiner Heirat mit einer Nicht-Quakerin, aus der Sekte austral.
Vielleicht war es zu einem Teil die gemeinsame Neigung zu dieser Lehre, die den stillen Riesen Walter Whitman mit der Tochter seines Nachbarn, der a4jahrigen Louisa van Velsor, in tieferem Sinne zusammenfuhrte. Er vermahlte sich mit ihr im .Jahre 1816 und hauste zunachst sieben Jahre lang auf seiner Farm. Schon \\ahrend der ersten Jahre baute er, unweit von dem alten Whitmanschen Stammhaus, ein neues Wohnhaus, das noch heute steht: ein kleines, behagliches, zweistockiges Haus, das YOU den freundlich braunen Scheunen und Schuppen der Farm um- geben ist. Hier wurde ihm nach dreijahriger Ehe sein zweiter Sohn geboren, der nach dem Vater Walter, abgekiirzt Walt, ge- nannt wurde.
Walt Whitman war einer der begnadeten Menschen, die bis in ihr hohes Alter in eine starke und warme Muttersphare geborgen bleiben. Inmitten aller wilden und herrlichen Gesichte und Lei- denschaften der freien, vielgestaltigen Welt, die ihm an die ein- same Brust stiirmten, war in ihm doch allezeit das unsichtbare Kinderlacheln der Zugehorigkeit zu der Wesenheit, aus der er ge- boren war und zu der er sich nur zuriickzuwenden brauchte, um immer wieder, trotz Furchen im Antlitz und grauem Haar und Bart, wie ein Knablein in sie einzugehen. Die Blutwarme seiner freudigen Verkiindung einer schonen , stolzen, ,,athletischen", Melektrischen" Menschheit, die keusch, zartlich, mitfiihlend ware und ,,stromend wie die Natur", stammt gleichsam unmittelbar aus dem Mutterschofi, aus dem er selber ins Leben gehoben worden : ,,wohlgezeugt und aufgezogen von einer vollkommenen Mutter". Mutter gebaren Manner, und herrliche, liebesstarke, an Seele und Leib wohlgestaltete Mutter zu schaffen, ist ihm das Urgebot einer neuen Menschheit. Der Mutterschofi ist die Pforte, an der sich die zahllosen Keime zu neuen Saaten drangen, und in alle Welten- zukunft hinein ringt sich Geburt aus Geburt und Wiedergeburt, immer neues Sein aus Mutterspharen hervor.
Vor der Mutter ist das Kleinste groB und das Grofite und Da- monischste kindlich schlicht und natiirlich wie ein Blick oder Kufi. Vielleicht stromt ein Teil der Kraft, mit der Whitman selber
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alles in der Welt, Grofies wie Kleines, umfafh und durch die Macht der Liebe lebendig miteinander verbriidert und gleichmacht - vielleicht stromt ein Teil dieser Kraft aus dem Gliick der Gleich- berechtigung aller seiner eigenen Wesensseiten , Gedanken und Werke vor der miitterlicben Liebe. Und seine Zuriickweisung alles Sichduckens und Schamens in den Seelen der Menschen war so stark und ruhevoll entschieden, weil er selber nie in seinem Leben iiber irgend etwas, was in ibm sich regte, jene blasse und scheue Zerknirscbung zu fiihlen gebraucht, die dem aufrechten Wachstum so sebr schadet: Denn vor dem verstehenden und adeln- den Blick der Mutter hatte es immer wie ein offenes Buch ge- legen. Und obwohl nur wenige der Psalmenstrophen seiner Gesange unmittelbar an seine Mutter gerichtet sind, lebt docb der Gedanke reiner und hoher Mutterschaft so stark durch sein ganzes Werk hindurch, dafi man es beinahe in seiner Gesamtheit als ein einziges groCes Weihelied an die Gebarerin anseben kann, an ,,das har- monische Wesensbild der Erde, die Vollendung, uber die keine Philosophic hinausgehen kann, noch will, die rechte Mutter der Menschen ft.
Schauen wir so klar in die Tiefe des Wesentlichen, so will es nicht viel bedeuten, dafi wir nur wenig Einzelheiten aus dem Leben von Louisa Whitman wissen. Die sie gekannt haben, schil- dern sie als eine iibermittelgroBe , sehr wohlgebaute, reiche An- ziehungskraft ausstromende Frau, allezeit, bis in ihr hohes Alter, von jenem wundervollen, unbestimmbaren Hauch reiner Frische umgeben, der auch Walt Whitman so besonders zu eigen war. Sie vereinte in sich die ernste Wiirde und Zuriickhaltung ihrer Quakerin-Mutter mit der vollbliitigen Heiterkeit des alten Majors Kate (Cornelius) van Velsor. Sie war eine ausgezeichnete Reiterin und verstand sich gut aufs Erzahlen und Schildern, wogegen Lesen und Schreiben nicht so recht ihre Sache war und ihr Miihe machte. Ihr ovales, von dunklem Haar und schneeweiBer Haube umrahmtes Gesicht war immer von einem verhaltenen, stillen Humor er- leuchtet. Sie schenkte ihrem Manne acht Kinder* und wurde nahezu achtzig Jahre alt, in fast vollkommener Gesundheit, in alien
* Jesse, geb. 1818, Walt, geb. 1819, Mary Elisabeth, geb i8ai, Hannah Louisa, geb. 1828 (Walts Lieblingsschwester), Andrew, geb. 1827, George, geb. 1829, Thomas Jefferson, geb. i833, und Edward, geb. i835.
XIV
Sorgen und erschiitterndem Erleben tatig und liebevoll bis an ihren Tod (1878).
Die Landschaft, in die die Augen des Kindes blickten, war die einer Insel am Rande des Weltmeers und am Rande einer neuen Welt.
Long Island streckt sicb von der Bucht von New York aus von Westen nacb Osten 200 km lang und durchschnittlich 20 km breit in den Atlantischen Ozean. Es ahnelt der Gestalt eines Fisches; ,,fishshaped Paumanok", Bfischfbrmiges Paumanok", nennt es Whit- man selbst mit dem seither beriihmt gewordenen alien indiani- schen Namen : das westliche, New York anblickende Ende, auf dem Brooklyn liegt, stellt den Kopf dar, und das ostliche Ende spaltet sicb, als Schwanz, in zwei Halbinseln, deren siidlicbe der Auslaufer der Hiigelkette ist, die sicb als Riickgrat durcb die ganze Insel, der Nordkiiste entlang, hinziebt und in einem kiihnen Vor- gebirge, Montauk Point, ins Meer springt, von einem Leucbtturm gekront.
An einer der zahlreichen Buchten dieser hiigligen Nordkiiste liegt die kleine Stadt Huntington und oberbalb von ihr, auf den Hiigel- bangen, die Farm West Hills. Hier ist das Land fruchtbar und reich, wahrend nacb Siiden bin die Hohenkette in gelinde ab- fallende sandige Flacben verebbt, die zum Teil von Kiefern und kargem Graswuchs bedeckt sind und in breiten, seichten Lagunen enden, die die Heimat der Heerscharen von Wasservogeln und Fischen sind. Ibnen vorgelagert leucbtet ein schmaler Streifen Sandes, eine Art Lido, aus dem Meere, auf den die atlantiscben Sturmwogen berabdonnern. Hier an den Siidbucbten der Insel wohnt eine ozeaniscb abgehartete Rasse von Fiscbern, die aucb Hummern-, Austern- und Muscbelfang treiben.
Vor der europaischen Besiedelung war Paumanok von Rotbauten bewobnt, die in den Waldern mit den Wolfen um die WTette jagten. Robben, Scbildkroten, Scbwertfische, Pelikane bevolkerten das langgestreckte, einsame Gestade, aus den atlantischen Gewassern stiegen die Fontanen der Walfische, und Wracks gestrandeter Scbiffe moderten in den sumpfigen Bucbten.
Mit der Triebkraft der Rassen im Blut, die sich eine neue Welt sucbten und zahmten, wucbs Walt Whitman bier unter einem weitbin freien Meereshimmel zwischen Hiigeln auf, die das ewige
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atlantische Rauschen wie Muscheln in sich, fingen - - auf einer noch von Urfrische betauten Insel, die von den gliihenden Sommer- sonnen dieser Zone (Long Island liegt auf der Breite Neapels !) be- strahlt und von gewaltigen Winlerslurmen umbraust wurde. Wohl ein Schauplatz fiir den Neubeginn einer von starkem, frommern Staunen iiber ihr eigenes Erstlingsdasein auf dieser wunderbaren Welt bebenden Seele; ein aus der wirren Fiille der Alien Welt abgeriickter Vorposten vor neuen Horizonten, wohl geeignet, um von ihm aus auf beide Wei ten und auf das eine grofie Daseins- wunder den neugeborenen Blick Adams zu werfen und sicb die Lungen zu fiillen mit der Witterung einer neuen Menschbeitsluft.
Eine iippige Natur drangte sich zwischen den ewig brand enden Wassern dem Kinde ans Herz mit den tausendfaltigen Formen ihrer belebten und unbelebten Wesen. Ein Paradies von Blumen vvuchs um die Wege der alien Farm. Eichen, Kastanien, Zedern, Akazien, NuBbaume umrauscblen sie. Kobl- und Maisfelder leuch- teten ibm in die Augen. Weinberge gliihlen auf den Hohen. Zahl- lose Grillen geiglen, Fiichse schniirten zwischen den Feldern, hun- derl Vogelarten pfiffen und floielen in den Hecken und Wipfeln.
Auf einem wildbewachsenen Hugel nahe dem alien Slammhaus lagen die grauen, inschriftlosen Grabsteine der Whitmans, bei denen der Knabe oflrnals im ersien griinen Dammer des Lebens zwischen den Denkmalern des Todes saB.
Long Island blieb die eigenlliche Heimat Walt Whitmans wah- rend seines ganzen Lebens, abgesehen von zwei grb'Beren Reisen in das Innere Amerikas und von den Jahren des Sezessionskrieges, die ihn nach Washington und auf die siidlichen Schlachtfelder fiihrten. Wahrend dieses 78 jahrigen Lebens sah er die zerstreuleri, durch widerslrebende Inleressen zerrissenen Slaalen zu einer mach- tigen Nation zusammenwachsen, deren Bevolkerung bei seinern Tode fast siebenmal so grofi war wie in seiner Kindheit. Auf seiner Insel selber durchleble er den gewalligen ProzeB des Herauswach- sens der amerikanischen GroBstadt aus dem Lande. Er sah Brooklyn, in seiner Kinderzeit eine mitllere Landstadt am Westende von Long Island, wahrend der fblgenden Jahre anschwellen und sich mit dem gegeniiber, jenseits des Easl River, liegenden New York zu einer menschenwimmelnden, brausenden Sladleinheil von nie gesehener Lebens- und Arbeitskraft zusammenschweiBen.
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In den \verdenden Stadten Amerikas atmete, starker als in euro- paischen Stadten, die Kraft des Landes. Keinerlei driickende Luft von t)berlieferung und Vergangenheit lag auf ihnen; alles war selbstgeschaffen und fur jeden; und hier, im dichteren Gedrange jugendlich riicksichtslosen materiellen Wettstreits, blitzte die eigen- tiimliche amerikanische Idealitat, aus freien Horizonten sich zu- sammenballend, nur urn so blanker und leidenscbaftlicher auf.
In der starken Brust Walt Whitmans selber \vurde alle Fiille stadtischen Gewiihls gleichsam durch das reine, gesunde Gewebe landgeborner Wesenheit hindurchgefiltert. Er war ein lebendiges Teil in dem gewaltigen amerikanischen Epos von Stadt und Land. Was ihm in die Obren brauste und in die Augen drangte, drohnende Straften, Tausende von Gesichtern und Gestalten, von Seelen, die ihn anblickten, verbriiderte sich in ihm rnit dem nie verstummenden Rauschen von See und Wald und dem Licht unendlichen Himmels zu dem Gefiihl von dem einen freudigen Wunder alles Lebens.
II Vthitmn
ZWISCHEN STADT UND LAND
Maun air atta
Rechter und edler Name meiner Stack,
Ureingeborener Sehopf'ungsname voller Schbnheit, dessen Sinn ist:
Felsgegriindetes Eiland,
Kiisten, wo allzeit frbhlich schlagen her und hin die hurtigen Wogeii der See.
Schon im Jahre 1828, im Mai, kurz vor Walts viertem Geburts- tag, gab sein Vater die Farm West Hills auf und zog mit seiner Familie nach Brooklyn, das damals noch eine rechte Landstadt mit grofien Ulmen an den Strafien und mit Ziegel- und Holzhausern war. Bereits wahrend des ersten Jahres, das die Whitmans dort verbrachten, wuchs die Stadt um 1 5o Hauser, an deren Bau Walter Whitman als Zimmermann sich beteiligte.
Ein lebhaftes Hin und Her von Fahrbooten vermittelte den Ver- kehr zwischen Brooklyn und dem gro'Beren New York, mit dem es damals noch nicht durch die beriihmten beiden riesigen Briicken verbunden war. Hier am Wasser trieb sich der heranwachsende Knabe mit stiller, schaulustiger Begeisterung herum, und bis in sein hohes Alter blieben die Fahren eine besondere Liebe Whit- mans, die in einem seiner schonsten Gesange, ,,Auf der Brooklyn- Fahre", ihren starken, mystisch durchleuchteten Ausdruck fand.
Im August 1824 feierten die beiden Schwesterstadte den Besuch des Generals Lafayette, und es wird erzahlt, da6 der alte Freiheits- held bei der Grundsteinlegung einer Bibliothek in Brooklyn den kleinen Walt, der im Gedrange eingepfercht stand, hochgehoben und gekiifit habe.
Mit sechs Jahren besuchte Walt die offentliche Schule in Brook- lyn und die Sonntagsschule. In den Sommerferien verbrachte er mit seinen Geschwistern manche Tage auf dem Lande, in der Um- gebung der alten Heimat West Hills.
XVIII
Es liegt im tiefsten Wesen Walt Whitmans, dafi der dammrige Wunderglanz der Kindheit, der Glanz des ersten wonnigen Staunens iiber das Sein nie in ihm erlosch; dafi sich niemals in seiner Seele die Tore schlossen, die den meisten Menschen, ehe sie sich noch dessen versehen, eines Tages mit hafilichem Alltagsknarren die Be- reiche der Friihe versperren und sie zu Gefangenen machen in einer entzauberten Welt, in der alle Dinge durch die furchtbare, zahe Macht der Gewohnung verdorren und die Seele nur dumpf von Augenblick zu Augenblick hastet oder schleicht. Inmitten eines Daseins, vor dem wir stundlich bis ins Herz vor Staunen beben miiBten, ringt sich diese heilige Kraft nur schwer aus den miBbrauchten Seelen, und sie wissen den Erstlingsglanz nicht mehr zu fin den, in dem ihnen doch einmal Blume oder Vogel, Wind oder Stille, Nahe und Weite, das Lebende um sie her und ihr eigenes Ich erschien. Die Kraft des Staunens, die die hochste Kraft der Menschenseele und die Quelle aller Religion und alles Schopfe- rischen ist, wuchs in W7alt Whitman ungebrochen und unverengt aus dem Blut seiner Kindheit in das Blut seiner Mannheit; dieses Staunen der Seele, das zugleich Ruhe und Geborgenheit just im Unbegreiflichen ist, dem man doch fiir ewig zugehort.
So fluten auch allenthalben aus der Dichtung Walt Whitmans ungebrochene Strahlen in die wonnevollen Dammergriinde seiner Kindheit zuriick, und die ratlosen Kindertranen, die der Knabe vor der einsamen Gewalt der Nacht und des unendlichen, finstern Meeres bei den nur halb verstandenen Liebes- und Todesklagen der Drossel geweint, funkeln wie Tau iiber den Gesangen des Mannes.
Tief und reich und leidenschaftlich ist das Erleben jedes Kindes, und wem es nicht spaterhin durch die karge Grellheit des Alltags ausgeloscht wird, dem pulsiert es im Blut bis in den Tod. Und miifiig die Frage herkommlicher Lebensbetrachtung, ,,ob damals schon?" und dergleichen. Kann ich von meiner Kindheit in Zungen reden, so bin ich Kind und Mann in einem, eine leibgewordene, ungebrochene Seele.
Es war ein Kind, das ausging jeden Tag,
Und was es zuerst erblickte, das wurde es,
Und das wurde ein Teil von ihm fiir den Tag oder fiir einen Teil des Tags
Oder fiir viele Jahre oder weite Kreise von Jahren.
"• XIX
Der friihe Flieder wurde ein Teil dieses Kinds,
Und Gras und weifie und rote Winden und weifler und roter Klee
und das Lied des Phoebevogels, Und die Lammer des dritten Monds und der hellrosa Wurf der Sau,
das Fohlen der Stute, das Kalb der Kuh, Und die larmende Brut im Farmhof oder am sumpfigen Rand des
Teichs, Und die Fische, die so seltsam da unten schwebten, und das schone,
seltsame Nafi, Und die Wasserpflanzen mit ihren flachen lieblichen Kopfen, alle
wurden sie Teile von ihm.
Die sprieCende Saat des vierten und fiinften Monats wurde Teil von
ihm, Sprossen der Wintersaat und hellgelben Korns und die efibaren Wur-
zeln im Garten, Und die Apfelbaume, bedeckt mit weifiem Blust und die Friichte her-
nach und Waldbeeren und das gewohnlichste Unkraut am Wege, Und der alte Trinker, der aus dem Wirtshaus nach Hause schwankte,
wo er bis spat am Abend gehockt,
Und die Schullehrerin, die vorbeiging auf ihrem Weg zur Schule, Und die freundlichen Knaben, die vorbeigingen, und die zankischen
Knaben, Und die saubern, frischwangigen Madchen und der barfiiflige Neger-
knabe mit seiner Schwester, Und all der Wechsel von Stadt und Land, wohin immer es kam.
Seine eigenen Eltern, der Vater, der es erzeugt, und sie, die ihn
empfangen in ihrem SchoB und ihn geboren, Sie gaben dem Kinde mehr von sich selbst, als dies, Sie gaben ihm auch spater noch taglich von sich, sie wurden Teil
von ihm.
Die Mutter daheim, die die Speisen still auf den Abendtisch setzte, Die Mutter mit milden Worten, mit sauberer Haube und sauberem
Gewand, der frische Duft, der von ihr und ihren Kleidern wehte,
wenn sie vorbeiging, Der Vater, stark, selbstgeniigsam, mannlich, bose, argerlich, ungerecht,
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Der Streit, Has schnelle, laute Wort, Rede und Widerrede,
Die hauslichen Gepflogenheiten, die Sprache, die Geseiligkeit, der
Hausrat, das sehnsiichlig schwellende Herz, Zartlichkeit, die sich nicht scheut, sich zu zeigen; die Empfindung
der Wirklichkeit und der Gedanke, ob sie am Ende vielleicht un-
wirklich sei, Die Zvveifel bei Tag und die Zweifel bei Nacht, das wunderliche Ob
und Wie, Ob das, was so erscheint, aucb so ist, oder sind es alles nur Blitze
und Flecken? Manner und Frauen, die schnell in den StraBen dra*ngen, sind sie
nicht Blitze und Flecken, was sind sie dann? Die StraBen selber und die Fassaden der Hauser, und Waren in den
Fenstern, Fahrzeuge, Gespanne, die aus schweren Balken gefiigten Werften, das
gewaltige Hin und Her der Fahren, Das Dorf auf den Hohen, von fernher leuchtend im Sonnenuntergang
der FluB dazwischen, Schatten, Aureole und Dunst, das Licht, das auf weiBe und braune
Da'cher und Giebel fallt, zwei Meilen weit entfernt, Der Schoner nabebei, der schlafrig mit der Flut treibt, das kleine
Boot dahinter an losem Tau, Die hurtigen, sich iiberstiirzenden Wellen, Die Schichten buntfarbiger Wolken, der lange braunliche Streifen
einsam fiir sich, das Stuck klaren Himmels, darin er regungslos
liegt, Der Band des Horizontes, die fliegendeSeekrahe, derDuft von salziger
Marsch und Uferschlamm, Sie alle wurden Teil des Kinds, das ausging jeden Tag, und jetzt
noch geht, und gehn wird jeden Tag in Ewigkeit.
Starker und schlichter als in den letzten Zeilen dieses Gesanges laGt sich die fortlanfende Einheit staunenden Schauens durch das ganze Sein hindurch nicht ausdriicken. Das Schauen weitet sich dem Mann iiber die Welt der Kindheit hinaus, umfaGt die ganze Erde und alle Raume, in denen andere Sonnen und Erden rollen, und umfaBt die Unendlichkeit, deren Geheimnis alles Sichtbare durchdringt und tragt. Aber die Seele dieses Schauens bleibt
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dieselbe und das Allernachste und Alltaglichste wird nicht wunder- loser, sondern immer tiefer eingebettet in das Wunder des ganzen Seins. Der ratselhafte Wesenshauch, der die braunliche Wolken- bank im klaren Himmelssee umwittert, bleibt derselbe Hauch Gottes, der um die Toten streicht, die das Auge des Dichters mitten im Ge- drange des Lebens in Schwarmen schaut, oder der um die heiBen Leiber von Mann und Weib duftet, die sich in den Schauern der Zeugung vereinen.
Quakerinbrunst erschutterte auch den Knaben. Seine Eltern, obwobl der Sekte der ,,Freunde" nicht zugehorig, standen ihrer Lehre doch aus freier Neigung jederzeit nahe und bewahrten ihrem damaligen Oberhaupt, Elias Hicks, die Freundschaft, die schon den GroBvater Whitman mit ihm verbunden hatte. Der leidenschaft- liche alte Hicks verteidigte zu jener Zeit die alte, voile Freiheit der Lehre gegen die orthodoxere Richtung des Quakertums. Die Bibel- lehren und die Gestalt Christi selbst nahm er nur als etwas Ge- schichtliches, das erst aus dem eigenen Innern einer jeden einzelnen Menschenseele neugeboren und verwirklicht werden miisse. In jedem Menschen, lehrte er, wohnt Gott, und mu6 von jedem ins BewuBtsein emporgehoben werden. Ein jeder mufi sein ,,inneres Licht" zum leuchten bringen. Aber eben dieses in kiihner Freiheit von alien Dogmen entzundete Einzellicht vereint sich dann in natiir- licher Gemeinschaftskraft mit dem Geisteslicht a Her Wesen und Dinge; denn der Geist ist ein und derselbe in alien.
Der greise Begeisterte muBte im Jahre 1828 der bibelstrengeren Richtung weichen und wurde aus der Sekte ausgestoBen. Kurz da- nach, etwa drei Monate vor seinem Tode, predigte er zum letzten Male im Ballsaal von Worrisons Hotel auf der Brooklyn-Hohe vor einer dichtgedrangten Menge, unter der sich auch die Eltern Whit- mans und er selber, der neunjahrige Knabe, befanden.
Es ist mehr als eine anekdotische Kuriositat, wenn sich dem Knaben die Erscheinung des machtigen, tiefbewegten alten Pre- digers unvergeBlich ins Gedachtnis pragte. Indem seine des Schauens schon so frohen Augen die gebieterische, in Quakertracht gekleidete Gestalt, das verziickte Antlitz mit dem glattgescheitelten langen Haar, der hohen Stirn und der Habichtsnase in sich tranken und seine Ohren die, wenn auch vielleicht noch unverstandenen, gliihenden Worte iiber ,,die Bestimmung des Menschen" aufsogen,
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wurde ihm zum erstenmal dunkel und feurig das Herz erschiittert von der Personlichkeitsgewalt eines hohen Menschen und von dem Anspruch letzter, innigster Freiheit der eigenen Seele.
In vielen unbewufiten elektrischen Stromen geriet tief Verwandtes in ilim in Schwingung; Eigenschaften, die hernach in dem Mann und Greis sich offenbarten als die Grundelemente seiner eigenen Lebenshaltung. Er selber liebte es, in spateren Jahren das Quake- rische in sich zu betonen. Das Oinnere Licht", die Intuition der Seele, blieb ihm der Leitstern alles Tuns und Den kens; die Selbst- achtung, und durch sie bedingt die Achtung vor jedem Mitmenschen war ihm immerdar Lebenselement, die Luft, in der er atmete; wenn ihn die Erhohung und schauende Einsamkeit der Individualitat nicht zur Vereinsamung, sondern zu warmstem, stromendem Ge- meinschaftsgefiihl, zu jener von durchgeistigtem Eros gliihenden Kameradschaft fiihrte und zu dem Begriff wahrer Demokratie, als der freien Gemeinschaft selbstfreudiger und selbstbeherrschter hb'chstentwickelter Einzelrnenschen, des Mgottlichen Durchschnitts" (ein Leitmotiv all seiner Dichtung), so schwingt hier der alte quake- rische Grundton von der geistigen Einheit und Gleichheit aller ins GottesbewuBtsein Eingetretenen mit.
Auch in seinem personlichen Verhalten und Sein offenbarte sich die Rassengemeinschaft mit den alten tfFreunden"; wie denn wohl jedes Ethos die Ziige seiner Rasse tragt. Seine Aufrichtigkeit und Schlichtheit, seine Gelassenheit, seine Sell weigsamkeit, seine Freund- lichkeit gegen Jedermann, seine Gleichgiiltigkeit gegen geltende Gesellschaftsregeln , — all das waren echte Quakereigenschaften. Zumal nachdem das vulkanische Feuer seiner Mannesjahre in ge- waltigen Gesangen aus ihm hinausgeschleudert war, breitete sich immer mehr die Herrschaft eines milderen, sternenhaften Lichtes an seinem Himmel aus. Es sei jedoch schon hier bemerkt, daB es ein tiefer Irrtum ware, sich Whitman auch wahrend der Zeit seines leidenschafllichsten und kiihnsten SchafFens etwa als eine Art Ge- waltmenschen vorzustellen. Das tiefiste Element just seiner Wild- heit ist Stille, und er vennag das Rucksichtsloseste auszusprechen, well in seiner Sprache und Stimme immerdar der Klang mystischer Zartheit mitbebt, der Klang, mit dem die Seele mit sich selber ein- sanie Zwiesprache halt. Jede starke Bekennerkraft stammt aus den Regionen des Schweigens und der Scheu. Die beruhmten Worte
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Emersons, mil denen er ein Exemplar der zweiten Auflage der ,,Grashalme" (i856) an Carlyle schickte: ,,Das Buch hat furchtbare Augen und Biiffelstarke", deuten nur auf ein Element des Werkes,das dem allezeit salonfahigen Emerson am starksten fiihlbar wurde. In Wahrheit beben auch die wildesten Zeilen dieser Gesange noch von der Jnbrunst, mit der sie dem Schweigen einer schweren, zarten, keuschen, frommen Natur abgerungensind, und zwiscben ihnen blitzt immer wieder ein seltsames, lassig-wehes Lacheln auf, der Schatten einer Handbewegung, die gleichsam sageri will: Wozu reden wir? was sind Worte? horst du nicht die Sprache des Lautlosen allenthalben durch sie hindurch? — Wenn Whitman selber etwa am SchluB des wGesangs von mir selbst" von seinem ,,barbarischen Raubvogelscbrei" spricht, den er iiber die Dacher der Welt scballen laBt, so ist das ein dicbterisches Stimmungsbild im Finale dieser gewaltigen Rhapsodic, wo ihm gewissermafien in der Fiille des Gefiihls von Leben und Tod der Atem ausgeht und er nur noch stammelnd am Rande des Sonneriuntergangs steht, wo Korper- und Geisteswelt, Endlichkeit und Unendlichkeit ihm wie in flockigen, gliihenden Wolkenfetzen zerfliefien und irgendwo in seiner Seele etwas so Einsam-Wehes und Seliges schreit, wie es wohl wirklich aus dem abendlichen Ruf eines Falken tonen mag. (Mir klingt die letzte Zeile jenes herrlichen Gedichtes von Gottfried Keller im Ohr: ,,Fern, wild und weh der Falken Stimmen klangen".) Die Riicksichts- losigkeit Whitmans ist ja nichts Gewolltes, Erzwungenes, Jahes; sondern nur das ruhige, natiirliche Fortschreiten in dem reinen Aussprechen und Anreden aller Dinge und Gefiihle, und just die vielbefehdeten Gesange, die der Liebe der Geschlechter und der Yerherrlichung des Geschlechts geweiht sind, strahlen von Einsam- keit, Stille und Reinheit. Eben durch dieses Aussprechen, durch diesen lebendigen Klang einer mannhaft keuschen Stimme werden alle diese Gefiihle geklart, geheiligt und in die voile Natihlichkeit des Seins emporgehoben. Es weht ein Duft um sie, nicht weniger frisch, als der den Knaben aus den Gewandern seiner Mutter streifte. Mit elf Jahren wurde der kleine Walt in das Euro eines Rechts- anwalts gesteckt. Obwohl sich der Chef seiner freundlich annahm, ja sogar fur ihn bei einer Leihbibliothek abonnierte, hielt der Knabe es nicht lange bei ihm aus. Schon im nachsten Jahre fmden wir ihn als Setzerlehrling in einer Druckerei, also an einem Ort, wo hundert-
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faltige Kunde von dem Geschehen jedes Tages ihn streifte und jenes intime Interesse an den Freuden und Leiden der wachsenden Doppelstadt Brooklyn-New York in ihm geweckt und genahrt vvurde, das ihn fiir die koinrnenden Jahre so recht zu einem Grofistadter und Burger ,,seiner" Stadt machte. Er erlernte das Druckerhandwerk griindlich und fand dabei auch im Laufe der Zeit Gelegenheit zu allerhand kleinen Ergiissen in Versen und Prosa, die zum Teil in geachteten Wochenblattern gedruckt wurden. In all seinem Tun blieb ihm eine gevvisse Lassigkeit zu eigen, die Gelassenheit der Naturen, deren Bestes nicht in Betriebsamkeit, sondern in aufnehmender Stille reift. Bei allem, was ihn zum Verweilen lockte, verweilte er mit pflanzlicher Werderuhe, und die hunderttausend Zungen stadtischen Lebens rauschten ihm wie Schilfgefluster oder wie der Donner der See in die Seele, immerdar als Chor innerhalb der groOen Einheit alles Seins. Er wehrt sich in den ,,Demokratischen Ausblicken" einmal ausdriicklich gegen dieTrennung von ,,Natur" und wStadt"; seine Sinne werden nicht abgestumpft oder iiberreizt durch das Treiben der Strafien, sondern sehen es mit eben der Frische an, wie Meer, Luft und Wald.
Und der Pulsschlag dieser unbandig sich entfaltenden Doppel- stadt war wahrlich kein zahmer und friedlicher. Alles vibrierte von Zukunft. New York selber zahlte damals schon 200000 Ein- wohner und wuchs von Jahr zu Jahr. Menschen aller Rassen strom- ten. dem herrlichsten aller Seehafen zu und mischten ihr Blut stiir- misch mit der alten englischen Einwandererrasse. Sonnenglut und Winterkalte dieser kontrastreichen Zone leuchtete und schnob durch die StraBen. Broadway wimmelte schon damals von tausenderlei Fahrzeugen, Postwagen, Omnibussen, Kutschen, Reitern, zum Teil viel farbiger und gestaltenreicher, als heute. Breites demokratisches Treiben erfullte ihn. Das Grau gewaltiger Steinbriicken, die Riesen- formen der Wolkenkratzer fehlten noch; daftir leuchteten die Back- steinbauten farbiger und lustiger, und auch das gelegentliche Wiiten der Feinde menschlicher Siedelung wurde zum furchtbaren Fest. Der Feuerruf lockte Tausende mit seinem Getose der Glocken und Homer herbei zu der flammenden Arena, wo die rotbcrockten Feuer- wehrleute inmitten der verschlungenen Eingeweide von Spritzen- schlauchen, Leitern, Haken, Stricken ihre Arbeit auf Leben und Tod verrichteten. Im Dezember i835 brannten aliein i3 Morgen
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alter Gebaude in drei Tagen bis auf die Grundmauern ab. Mehr als einmal horen wir in Whitmans Gesangen den Feuerlarm gellen! Theater offneten sich am Abend, vor alien das riesige, 3ooo Zu- schauer fassende Bowery-Theater, wo beriihmte englische Gaste vor einer kindlich begeisterten, tobenden Volksmenge von Arbeitern und Handwerkern spiel ten, als Gefeiertster der groBe Booth, den der etwa 1 5 jahrige Whitman dort zum erstenmal als Richard den Dritten sah, — zum erstenmal durchschauert von der Macht kiinst- lerischen Ausdrucks, lebendigen Worts, beseelter Gebarde. Immei wieder nur riickblickend konnen wir in die Erschutterungen seiner Jugend hineinleuchten, — konnen wir uns vorstellen, wie die Ge- walt gesprochenen Wortes ihn treffen muBte, der bis in die spaten Mannesjahre hinein fast ebenso stark wie zum Dichter, sich zum Redner berufen glaubte, zum groBen Volksredner, der ,,mit mach- tiger Zunge Amerika fiihren, Amerika bezwingen" konnte!
Unterhalb des gewaltigen materiellen Aufschwunges der jungen amerikanischen Staaten begannen immerleidenschaftlicherdieGegen- satze zu branden, von deren Ausgleich letzten Endes alle Zukunft der Union abhing. Man mufi daran denken, in wie hohem Grade die politischen Grundlagen Amerikas rein ideell und doktrinar waren. Zwei Nanien, Thomas Jefferson und Alexander Hamilton, bezeich- nen die Gegensatzlichkeit zweier Grundanschauungen aller staat- lichen, ja iiberhaupt jeder Gemeinschaftsbildung. Jefferson, der Vater der demokratischen Partei, vom Geiste Rousseaus erfullt, lehrte die Anwendung des Ideals volliger individueller Freiheit und Unbeschranktheit auf die staatliche Gemeinschaft. Die Einheit der Union diirfe die Rechte der Einzelstaaten auch nicht um ein Jota verkiirzen, genau wie jedes einzelne Individium unabanderlich frei und souveran sein miisse. Hamilton dagegen war sozusagen demo- kratischer Aristokrat; er verachtete das ,,Volk" an sich und sah alles Heil nur in einer starken einheitlichen Bindung, in der Kraf- tigung und dem Ausbau der Union, des Foderalismus. Beide Dok- trinen, in einer rein ideellen Sphare wohl versohnbar, losten im lebendigen Leben der Staaten Fragen aus, die stiirmisch gegen- einander prallten. Und zwar wurden diese Fragen immer mehr zu Kampfparolen des Siidens gegen den Norden.
Der industrielle Norden wuchs schneller als der vorwiegend Ge- treide und Baumwolle pflanzende Siiden. Industrie braucht Schutz
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und starken Zusammenschlufi; der immer starker sich entwickelnde Unionsgedanke aufierte sich im Norden unter anderem durch das Verlangen nach Schutzzoll. Der Siiden, in partikularistisch-agra- rischer Gelassenheit gegeniiber dem Unionsgedanken, durchweg demokratisch im Sinne Jeffersons, vviinschte keinerlei Hindernisse fiir seine Ausfuhr. Er empfand das Verlangen des Nordens nach einer die ganze Union umfassenden Zollschranke als eine fodera- listische AnmaBung gegeniiber dem natiirlichen Recht der Einzel- staaten. Dazu kam eine andere Frage, an sich zweiten Ranges, aber vermoge der ihr innewohnenden rein menschlichen Wucht ge- eignet, zum Schlagwort zu werden: die Sklavenfrage.
Im Grunde widersprach die Sklaverei, die in den Siidstaaten im Schwange war, dem demokratischen Grundsatz von der Gleichheit aller Individ uen, und in der Tat wurde diese Frage spaterhin die Ursache zu einer Spaltung der Demokratischen Partei. Das Auf- bliihen des Baumwollhandels hing jedoch so wesentlich — wenig- stens der im Siiden landlaufigen Meinung nach — von der Bei- behaltung der Sklaverei (oder der „ Institution", wie man eupbe- mistisch sagte) ab, daB das im Norden immer lauter werdende Verlangen nach „ Abolition", nach Abschaffung der Sklaverei wie- derum nur als Angriff des iibermiitigen Nordens gegen die Grund- rechte des Siidens empf'unden wurde. Jedoch, wie gesagt, ein grofier Teil der Demokratischen Partei selber war zwar fur den Freihandel, aber dennoch eben falls gegen die Sklaverei. Und iiber- haupt war in lebendigem Wachstum aller Krafte des jungen Staatenbundes das Gefiihl der Zusammengehorigkeit und des Stolzes auf die Zukunft der Union dermafien in standigem Zu- nehmen begriffen, dafi vorlaufig noch jeder Sezessionsgedanke zuriickgewiesen wurde. Es kam in der Tariffrage ein Kompromifi zustande, und Sud-Carolina, das allein mit Sezession gedroht hatte, unterwarf sich einem etwas gemilderten Schutzzoll.
Inmitten all dieser lebendig auf ihn eindringenden Stromungen war Walt Whitman zu einem langgliedrigen, siebzehnjahrigen Burschen herangewachsen, der sich in allerhand journalistischer Fedet fertig- keit geiibt und im Umgang mit Menschen sich vielerlei Erfahrung und Bildung angeeignet hatte.
Mit einer der jahen Wendungen, die in seinem Leben nicht selten sind, kehrte er im Jahre i836, im Friihling, der Stadt den
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Riicken und ging in die atlantische Stille von Long Island zuruck. Er Heft sich zunachst als Dorfschulmeister in dem kleinen Stadt- chen Babylon nieder; fiir einen jungen, landgeborenen Amerikaner der damaligen Zeit eine nicht eben sebr erstaunliche Berufsver- anderung. Babylon lag an der groOen Bucht des Siidgestades der Insel, von wo er im Norden die blaue Hiigelkette oberhalb Hun- tingtons sehen konnte.
Man mag in dem Entschlufi, fiir mehrere Jahre — mit Unter- brechung — den Beruf eines Lehrers auszuiiben, die Lust an per- sonlicher, unmittelbarer Wirkung erkennen, etwas von jenem Eros, der vielleicht in jeder Neigung zur Padagogik lebendig ist. Jeden- falls kam bei Wbitmans Lehrertum das Leibhaftige seiner Wesen- heit nicht zu kurz; alle Aussagen friiherer Schiiler von ihm sind sich einig darin, daft seine eigentliche erzieherische Wirkung in seiner Personlichkeit lag, in der unbestimmbaren, frischen, reinen Anziehungskraft, die von ihm ausstromte, in voller Gelassenheit und Freundlichkeit, unbeeintrachtigt durch schulmeisterliches Ge- haben und Launen. Seine Stellung zu den teilweise mit ihm gleich- altrigen Schiilern war eine ungezwungene Mischung von Ka- meradschaft und Autoritat. In den freien Stunden trieb er sich mit den Madchen und Knaben auf der Lagune und auf See herum, beim Fisch-, Krabben- und Muschelfang, immer umatmet von dem Tang- und Salzgeruch und der vielbewegten Weite der at- lantischen Kiiste, immer im Angesicht der ruhelosen Unendlich- keit des Ozeans, von der er spater selbst sagte, daB sie ihm von friiher Jugend an das Gebot zugerauscht habe, sie nicht nur in einer Dichtung zu verherrlichen, sondern eine Dichtung zu schaffen, die selber so wie das Meer ware.
Im Friihling des Jahres i838 finden wir ihn wieder in Hunting- ton, wo er eine Wochenschrift ,,Der Long Islander" griindete, die heute noch erscheint. Er war Drucker, Redakteur und Verleger zugleich. Er hatte sich eine Presse und Typen gekauft und seine Druckerei in der oberen Etage eines Gebaudes eingerichtet, das heute ein Stall ist. In diesem etwa vier Seiten starken Wochen- blatt brachte er seine politischen und moralischen Anschauungen mit Lebhaftigkeit und Scharfe zum Ausdruck. Vor allem wandte er sich gegen die Sklaverei, gegen den Alkohol und gegen die Todesstrafe. Eine puritanische Neigung zum Moralisieren war
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stark ausgepriigt. Er selber hatte es sich damals zum Gesetz ge- macht, nicht za trinken, zu rauchen und zu fluchen, ebenso kam ihm schon damals, wie sein gaj^es Leben lang, niemals ein schliipf- riges Wort, ein zweideutiger Witz oder dergleichen iiber die Lippen. Sein Gefiihl fur personliche Wiirde und Beherrschtheit war alle- zeit lebendig. Das hohe Pathos seiner spateren Dichtung warf sein klares Licht voraus; dieses Pathos, das so gar nicht der grofien Worte bedurfte, sondern im Gegenteil die ungezwungenste All- tagssprache, den Stimmklang des eigenen leibhaftigen Fleisches und Blutes suchte.
Er hatte sich ein Wagelchen und ein Pferd beschafft und fuhr damit auf der Insel umher, urn den Lesern sein Wochenblatt ins Haus zu bringen. Alles in allein eine frohliche, selbstandige, leben- dige Tatigkeit, die er sich so immer wieder in tastenden Versuchen zu schaffen bemiiht war. Immer aber so frei von aller Betriebsam- keit und allem wirklichen Geschaftsgeist, immer so dem Ruhe- vollen, \7erweilenden, Lassigen, Aufnehmenden zugetan, daB ihm kein rechter auBerer Erfolg bliihen wollte. Das Erscheinen des Blattes wurde immer unregelmaBiger, bis endlich die Abonnenten die Geduld verloren und ihn im Stich lieBen, so daB die Redaktion geschlossen wurde und der ,,Long Islander" erst nach einem Jahr wieder unter anderer Leitung erschien.
Whitman selber war wieder Schulmeister in Babylon geworden und blieb es noch zwei Jahre lang. Der Drang nach etwas ande- rem, breiter und starker und eigenartiger Wirkendem, trieb ihn jedoch auch schon wahrend dieser Zeit zu politischer Betatigung. Er trat bei der Wahlversammlung von 1840 selber als Redner auf und sprach fur die Prasidentschaftskandidatur van Burens, der von der Demokratischen Partei aufgestellt war, aber derjenigen Richtung angehorte, die die Abschaffung der Sklaverei verlangte. Es zog ihn nun immer starker in die bewegtere Welt zuriick, und im Sommer 1841 trat er in die Druckerei der ,,New World" in New York als Setzer und Mitarbeiter ein. Er gehorte seit- dem zwanzig Jahre lang der Genossenschaft der New Yorker Drucker an.
Es kam nun eine lange Zeit vielfaltiger journalistischer Tatig- keit fur Whitman. Er schrieb, nachdem er seinen ersten Publi- kumserfolg mit einer Novelle, ,,Der Tod in der Schulstube", die
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in der „ Tribune" erschien, errungen hatte, eine lange Reihe kleiner Erzahlungen, Skizzen und Gedichte, die in allerhand Tages- und Wochenblattern erschienen, allesamt ohne dichterischen Wert und, obwohl aus jeweils aufrichtigen Oberzeugungen entsprungen, den- nocb durchaus sentimental und ohne Eigenart in ibrer Wirkung. Er schwang sich sogar zu einem groBen, ziemlich kiimmerlich zu- sammengestoppelten Tendenz-Roman gegen die Trunksucbt auf, „ Franklin Evans" benannt, der in zwanzigtausend Exemplaren ge- druckt werden konnte und von dem er spater mit lassiger Ironic sagte, er babe ihn mit Hilfe schaumenden Gerstensaftes in einer Bierstube am Broadway geschrieben.
Es war, als ob die wahre Natur und Sprache Whitmans sich in diesen sieben Jahren hatte durchringen miissen durch den schemen- haften Wust der wurzellosen Schreibsprache zweiten und dritten Aufgusses. Hie und da blitzte in einem Aufsatz, in einem Gedicht, in einer Novelle ein Wort oder Satz auf, der von einer anderen, neuen, unverfalschten Natiirlichkeit strahlte. Aber im allgemeinen liefi nichts an diesen Erzeugnissen den wahren Walt Whitman ahnen. Ja, die Probleme von Gut und Bose, mit denen er sich herumschlug und die er an etwas krampfhaft konstruierten Fallen demonstrierte, gingen ihm zwar offenbar ehrlich nahe, blieben aber dennoch in der Spha're eines gewissen leidigen Moralisierens haften. Trotz alledem lebte in der Art, wie er sich diese diisteren Zusammenhange schuf, die das Gute im Bosen verstrickten, etwas Kindlich-Demonstratives, Missionshaft-Primitives , das nicht ganz ohne Beziehung zum Tonfall seiner spateren Gesange war. Jeden- f'alls aber waren diese wie fiir eine puritanische Fibel geschaffenen Erzeugnisse Schalen um den wiirzigen, langsam reifenden Kern seines Wesens, die sich leichter abstreifen lieCen, als etwa lite- rarisch raffinierte Kunstprodukte.
Irgendwie blieb er damit doch in der Sphare lebendiger Wir- kung, und das leidenschaftlich bewegte politische Leben tat das seine, ihn darin zu erhalten. Er kam durch seine Beziehungen zur „ Democratic Review" haufig in das Hauptquartier der Demo- kratischen Partei, Tammany Hall, wo er mit vielen der bedeutend- sten Politiker und Schriftsteller zusammentraf, und im Jahre 1846 wurde er zum Herausgeber der grofien demokratischen Tages- zeitung „ Brooklyn Daily Eagle" ernannt.
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Die Druckerei seiner Zeitung lag in der Nahe der Fahre, und dieser Platz an der ewig pulsierenden Schlagader, die die beiden Seestadte verband, war ihm von Herzen recht.
Denn wenn wir auch in seiner schriftstellerischen Tatigkeit dieser Jahre etwas, zwar nicht eigentlich Abwegiges, so doch noch Dumpfes, Befangenes empfinden, so blieb sein leibhaftiges Wesen und Sein doch in stetem, fruchtbarem und natiirlicbem Wachstum begriffen. Alle die tausend Keime der Dinge, die er in sicb auf- nahm, scblugen an und sproBten in der Warme seiner Seele, un- beeintrachtigt von der Schreibarbeit des Tages. Im steten Wechsel zwischen Stadt und Land — denn er streifte an jedem Wochen- ende drauBen in Long Island herum — wuchsen ihm alle Wesen- heiten dieser Erdenheimat uppig und wunderbar ineinunder, und ob er sich in das herbe Gras der Kuste schmiegte oder in das Ge- wimmel der StraBen tauchte, immer geschah es mit der gleichen Lust der Zugehorigkeit ; die stumme Umarmung der Natur loste ebenso wie die brausende Nahe seiner Mitmenschen die Wonne seines eigenen Fleisches und Blutes und das wohlige Daseinsstaunen seiner Seele aus, und irgendwie wuchs lauilos die reine Sprache, jenes Ersilings-Anreden aller Dinge in ihm immer machtiger, zu dem er sich noch erst dunkel berufen fiihlte; und das Antlitz jener Gottheit, die er mit zarten Worten spa'ter als die hochste feierte, der Wahrheit, begann sich ihm immer klarer zu entschleiern. Die hochste Beseligung, deren der Mensch fahig ist, das Gefiihl des Behaustseins im eigenen Ich, im Wunder des beschrankten und doch unendlichen Raume des eigenen Leibes und der eigenen Seele, entfaltete sich immer bewuBter in ihm. ,,In unseren besten Stun- den", sagt er spa'ter in den ,,Demokratischen Ausblicken", Msteigt ein BewuBtsein, ein Gedanke in uns aul, unabhangig, hoch iiber allem anderen, gelassen wie die Sterne, in ewigem Glanz. Das ist der Gedanke der Identitat, — der deinigen fur dich, wer du auch seist, wie der meinigen fur mich. Wunder der Wunder, iiber alien Ausdruck erhaben, geistigster und duftigster aller Erdentraume, und doch die festeste Grundtatsache und der Zugang zu allem Ge- schehen. In solchen andachtigen Stunden, inmitten der bedeut- samen Wunder von Himmcl und Erde, (bedeutsam nur wegen meines Ich im Mittelpunkt), fallen alle Glaubensbekenntnisse und Ronventionen ab und werden belanglos vor dieser einfachen Idee.
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In der Erleuchtung wirklichen Schauens nimmt sie allein Besitz von uns und hat allein Wert fur uns. Wie der schattenhafte Zwerg im Marchen dehnt sie sich, einmal entfesselt und erkannt, iiber die ganze Erde aus und reicht bis an das Dach des Himmels."
Im stetig \verdendenGefiihl dieser ,,Grundtatsache" in der eigenen Brust und im lebendigen Ausstromen dieses Gefuhls durch die ge- sunde, warme Leibhaftigkeit seines Korpers hindurch schlenderte er in wacher, elektriscb bebender Lassigkeit durch das Getummel der brausenden Stadt, iiberall aufnehmend, Licht, Scbatten, Laute, Far- ben, Gutes und Boses wie mit empfindlichen Antennen in sich emp- fangend, und iiberall Wohlgefiihl, Sympathie, Magnetismus ver- schenkend, an geistige Menschen wie an das einfache Volk, Freund mit alien, nicht geschwatzig, betriebsam, sondern schweigsam, ge- lassen, mehr schauend, als redend, und alien, bei denen er halt machte oder denen er die Hand auf die Schulter legte, das wohl- tuende Gefiihl der Bedeutsamkeit und des Sinnes ihrer Tatigkeit, ihres Berufs oder Handwerks vermittelnd. Er kannte die Kapitane und Mannschaften der Fahrboote, war befreundet mit den Omni- buskutschern und liebte es leidenschaftlich, neben ihnen hoch auf dem Bock sitzend durch das vielgestaltige Gewiihl des Broadway zu fahren. Er ging in die Theater, den Zirkus, die Bibliotheken und Museen; er war unter der Volksmenge, die im Jahre 1842 Dickens bewillkommnete oder staunend die erste Lokomotive be- jubelte, die auf dem neuen Schienenstrang von Buffalo her ankam. Er besuchte Gerichtssale, Gefangnisse, Bordells, — durch keinen Schatten irgendeines Vorurteils von irgendeinem Menschenwesen geschieden, gar keines Vorurteils fahig, sondern immer nur schauend, mitfiihlend, aufnehmend, im stillen Besitz jenes wunderbaren Etwas, das sich in keine Dumpfheit menschlichen Fur und Widers hinein- zerren lafk, sondern durch alles hindurchgeht wie der Geist wach- gewordenen Lebens selber, wahrend sein Herz schon in stummer Sprache die Worte redete, die er noch nicht in Laute zu iiber- setzen vermochte, — ja die er vielleicht in all seinen Gesangen, die wie keine zuvor die transparente Kraft der Andeutung ent- falteten, dennoch niemals ganz iibersetzt hat, wie er denn selber, in dem ,,Lied von der rollenden Erde", die Worte preist, die keine Worte der Menschensprache sind, sondern die lautlos in Erde und Himmel und Welten wie in den Ziigen eines Mundes oder in einer
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(ichiirde rulien. Ja, noch in spateren Jahren konnte er von deni (Jefiihl des ewig Unaussprechlichen so iiberwaltigt werden, dafi er jene weh-grimmigen, vom herrischen Gelachter aufierster Einsain- kcit durchschiitterten Strophen schrieb, die ich dieser Einleitung ;ils Motto vorangestellt habe, • Gelachter, das zu horen uns von dem wahren Wesen all seines Dichtens mehr offenbart, als alle wohlgeordnete Betrachtung. Denn was anderes lacht dariri, als dieselbe Kraft, die im All zugleich schafft und zerstort, die nach Gestalt ringt und in der Gestalt selber, ja in der hochsten, die sie zu bilden vermochte, der leiblich-seelischen Menscbengestalt selber, jubelnd, wild, selig das Gestaltlose griiBt? Und so erst verspiiren wir jenen von tiefster Bedingtheit bebenden Klang in Whitmans vvunderbarem Alltagspathos, der aus dem Wagnis stammt, trotz- dem Worte zu bilden, in Worte das UnfaDbare zu fassen.
Wir fu'hlen im Steigen dieser Werdejahre, wie die Hiillen, die die starken, saftstrotzenden Knospen seiner Dichtung noch um- schlieBen, von verhaltener Triebkraft beben und bereit sind, iiber Nacht aufzubrechen, wenn noch die letzte warme Zeugungswelle iiber sie haucht. Und sie kam mit dem Friihling des Jahres 1848.
Ill NM.ini.ju I
SCDLICHE GLUT
O magnetischer Suden!
O magnetischer Siiden ! o gleifiender wiirziger Siiden ! mein Siideu !
O feuriger Sinn, o iippiges Blut, TrieLkraft und Liebe ! Bose und Gut !
O mir so lieb ! . . . \Viederum gleite ich in Florida auf durchsichtigen Seen, ich gleite auf
dem Okeechobee, ich streife durch das Hiigelland oder durch lieb-
liche Lichtungen oder dichte Forste, Ich sehe die Papageien in Waldern, ich sehe den Melonenbaum und den
bliihenden Eisenholzbaum ; Wiederum, an Deck meines Kustenschoners, segle ich an Georgia hin
und segle an Carolina hin, Ich sehe, wo die immergriine Eiche wachst, die gelbe Pinie, der duftende
Lorbeerbaum, die Zitrone und Orange, die Zypresse, die zierliche
Zwergpalme, Ich fahre an rauhen Vorgebirgen vorbei und biege in den Pamlico-Sund
durch schmale Zufahrt und schaue ins Land hinein ;
O die Baumwollstaude ! Die spriefienden Reis-, Zucker- und Hanffelder ! Die dornenbewehrte Kaktee, der Lorbeerbaum mit groGen weiGen Bliiten, Die Bergkette in der Feme, die unberiihrte tlppigkeit, die alien Walder,
beladen mit Misteln und hangenden Flechten, Der Harzduft und das ernste Dunkel, die schauernde Stille der Natur
(hier in diesen dichten Siimpfen tragt der Freibeuter seine Flinte und
hat der Fluchtling seine versteckte Hiitte). O der fremde Zauber dieser nur halb erforschten, halb undurchdringlichen
Siimpfe, durchwimmelt von Reptilen, widerhallend vom Bellen des
Alligators, von den traurigen Lauten der Nachteule und Wildkatze,
und von dem Schnarren der Klapperschlange, Der Spottvogel, der Gaukler Amerikas, der den ganzen Vormittag singt
und singt durch die mondhelle Nacht,
Der Kolibri, der wilde Truthahn, der Waschbar, das Opossum; Ein Kornfeld in Kentucky, das hohe, geschmeidige, langblattrige Korn,
schlank, schvvankend, hellgriin, gefiedert, mit herrlichen Ahren, jede
wohlgeborgen in ihrer Hiilse ; O rnein Herz! o zartliche, wilde Schlage, ich kann sie nicht aushalten,
.ich will fort ! . . . O unbezwingliche Sehnsucht! O ich will wiederkehren nach Alt-Tennessee
und nie wieder wandern.
XXXIV
Obwohl die Eigentiimer des „ Daily Eagle" der Richtung der Demokratischen Partei angehorten, die die Rechte der Einzelstaaten um jeden Preis gewahrt wissen wollte und also jeden Eingriff der Union in die Sklavenfrage als eine Herausforderung des Siidens be- trachtete, war Whitman dennoch nicht gewillt, aus seiner Stellung zu dieser immer brennender \verdenden Frage ein Hehl zu machen. Die daraufhin erfolgende Kritik der Eigentiimer der Zeitung an seiner Gesinnung beantwortete er mit einer Kiindigung, so \venig er auch materiell in der Lage war, einen sicberen Posten leicbtbin aufzugeben.
Den leidenschaftlichsten und dicbterisch bedeutsamsten Ausdruck batte er seinem Abscbeu gegen die Sklaverei in einem Gedicht uBlutgeld" gegeben, das in der „ Tribune" erscbienen war, unter- zeichnet ,,Paumanok". Hier loste er sich zum erstenmal aus her- kommlichen Versmafien und goC seinen Grimm in freie Rhyth- men, und zum erstenmal klingt bier ein Stimmton, der die kom- inende Dichtung Whitmans verkiindet, noch ringend, gleichsam mit einer schweren Zunge, die erst reden lernt, aber doch deutlicb vernehmbar. Das Gedicht wurde in spateren Jahren in den Sammel- band der Prosaschriften Whitmans, in einen kleinen Anhang von Jugendarbeiten aufgenommen. Das gliihende Gefiihl Whitmans fur die Leiden der Sklaven kommt in den ,,Grashalmen" des ofteren zu leidenschaftlichem Ausdruck, dann freilich von jedem Beige- schmack der Aktualitat befreit.
Das Gedicht lautet:
BLUTGELD
,Schuldig am Leib und Blute Christi'
Einst, als die Zeit erfiillt war,
Dafi der wundervolle Gott, Jesus, sein Werk auf Erden beenden sollte,
Ging Judas bin und verkaufte den jungen Gottessohn
Und liefi sich bezahlen fur seinen Leib.
i»« XXXV
Fluck traf die Tat, nock eke der SckweiC der krallenden Hand ver-
trocknet war,
Und Finsternis furckte sick iiber clem, der das Ebenbild Gottes ver-
sckackert,
Wo er king in der Luft, als sckleuderte die Erde ihn von ikrer Brust
Und wiese der Himmel ikn zuriick,
Von eigner Hand gekenkt.
Mil langen Sckatten sind die Kreislaufte sckweigend vorgeriickt Seit jenen alten Tagen, — und manck ein Beutel sackte indessen ein Sein Siindengeld, gleick jenem fiir Marias Sokn.
Und immer nock zischt die Frage:
,,Was wollt ihr mir geben, so will ich diesen Menschen an euck ver-
raten ?" Und sie sckliefien den Handel und zaklen die Silberlinge.
Blick' ker, Erloser,
Blick' ker, Auferstandener von den Toten, Gber die Wipfel des Paradieses; Sieke dick selber immer nock in Banden, Miikselig und beladen tragst du wiederum Mensckengestalt, Du vvirst gesckmakt, gegeifielt, in Ketten gelegt, Geketzt von der frecken Herde der andern,
Mil Stangeii und Sckwertern droken die willigen Diener der Obrigkeit, Wieder umringen sie dick, toll vor teuflisckem HaB ; Die Hande der Merige strecken sick aus nack dir, wie Geicrklauen, Die Niedertracktigsten speien dir ins Gesickt, sie scklagen dick mil
den flachen Ha'nden ; Wand, blutig und gefesselt ist dein Leib, Zu Tode betriibt ist deine Seele.
Blutzeuge der Qual, Bruder von Sklaven,
Mil deinem Preis ist deines Ebenbildes Preis nock nickt bezaklt,
Und immer nock sckachert Isckariot.
xxx^7I
Iin Janiiar i(S{8 scliicd Whitman ;m> sc.iiiem Kedaktionsposten, und iin Februar desselben Jahres* geschah es, dafi er eines Abends im Foyer des alien Broadway-Theaters einem Herrn aus dem Siiden vorgestellt wurde, der ihm von der Griindung einer neuen Zeitung, deni „ Crescent", in New Orleans sprach und ihn kurzerhand a Is Mitherausgeber engagierte.
Je wacher und leidenschaftlicher in Whitman das Geftihl der Zugehorigkeit zu der Rasse seiner Neuen Welt geworden war und die alte, nun ins Seelisch-Menschliche ubertragene Pionierlust, in und mit dieser Rasse bier auf riesigem, jungfraulichem Kontinent das Neuland des Menschen zu entdecken und zu erobern, aus diesem vielgestaltig-kraftstrotzenden Schopfungslehm die hoheren, vollkommenen Sohne und Tochter dieser Neuen Welt und somit der ganzen Erde zu schaffen, um so starker muBte es ihn verlocken, nun auch jenen so ganz andersartigen , machtigen Teil dieser amerikanischen Heimat kennenzulernen, der in den Siidstaaten der Union verkorpert war.
Je mehr ihm durch eben jene Kraft des Staunens die Welt des Stoffs zum Si nn bi Id wurde, das von geistiger Unendlichkeit durch- leuchtet ist, das heifit mit anderen Worten, je defer er alle Erschei- nungen liebte um des Wunders ihrer Existenz willen, je ergreifender und wonnevoller ihm alle Wesen und Dinge aufleuchteten als traumhaft farbige, faGbare, bewegte, leidende und beseligte Realitat inmitten der evvigen, einigen Realitat des Unsichtbaren, — um so tiefer mufite ihn ein weiterer Schritt in diese leibhaftige Erschei- nungswelt erschiittern, zumal in einen Teil dieser Welt, der mit aller bliihenden Schopfungspracht, mit neuen Farben und Du'ften, neuen Klangen, Gebarden und Charakteren, mit neuer Sonnenkraft und Zeugungsfulle sich vor ihm auftat.
Denn der Siiden der \7ereinigten Staaten war vom Norden ebenso weltverschieden, wie etwa die Lander des siidlichen Mittelmeers von Norddeutschland sind, ja in manchem Sinne wohl noch mehr.
* Die Jahreszahl ist uinstritten. Whitman selhst ^ibt in seinen autobiographischen Notizen einmal das Jalir 1848, eiumal das Jahr 1849 ''"' sc'nen Aufenthalt in New Orleans an.
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Whitman fuhr aus dem noch rauhen Februar seiner Zone in den iippigsten Friihling hinein.
Es bedarf kaum eines Hinweises, mit wie ganz anderem Ge* fiihl ein Mann eine eigene Reise iiber einen Teil dieser Erde empfindet, der gewohnt ist, sich der Weltraumslage und der tag« lichen und jahrlichen Bewegung dieser Erde bewufit zu sein. Wenn er auf dem Ohio entlang durch die erst neubesiedelten Staaten Ohio, Indiana, Kentucky und Illinois, die noch von Ur- waldfrische gleichsam darnpften und dufteten, in den Vater der Gewasser, den Mississippi hineinfuhr, so breitete sich das ganze Leben dieses gewaltigen Stromes vor seiner Seele aus, der mit seinen reichen Nebenstromen das Ackerland von halb Amerika bewassert und den er als die wahre Schlagader der Neuen Welt ansah, um die sich das innerste Leben einer herrlichen Menschenzukunft grup- pieren miiBte. Die geographische GroBe rief ebenbiirtige geistige und dichterische GroBe zuerst noch dunkel und drangvoll in ihm zum Wettstreit auf, — irgend etwas ganz Neues, Unmittelbares, Eroberer- starkes, alle alteren Kulturen Fortfiihrendes, Vollendendes, oder wenigstens ihnen Gleichwertiges.
Mit solcher Werde-Unruhe mischte sich andere Bewegtheit, per- sonlicher, heifier, dammriger: vielleicht altes wallisisches Blutsfieber von den Ahnen her, das die gelassene Leidenschaftlichkeit seiner Natur zum ersten Mai mit heiBeren Wiirzen durchbrannte. Die alles Sein lockende und losende Kraft des Siidens stromte ihm entgegen. Die WTonnen, die starken Naturen mit Wehen nahen, verkiindeten sich seiner Seele von ferae, seiner Seele, die nicht anders konnte, als sich allem offnen, was von drauBen nach EinlaB und von drinnen nach AuslaB drangte. Eine Luft schlug ihm entgegen, in der tausend bisher noch nicht entfaltete Sprossen und Triebe sich plotzlich mit unbandiger Lust regten und streckteri, und in der ihn die Ahnung von der Macht iiberwaltigte, die ihm von nun an das Leben alles Lebens werden sollte, die Urkraft des Weltalls, das beseelte Mysterium aller Neugeburt, die Macht des Geschlechtes, der Zeugung.
Seine Unruhe fand einen noch befangenen, zahm gereimten und gewissermafien lehrhaften Ausdruck in einem Gedicht, das er wah- rend der Fahrt auf dem Mississippi schrieb und in dem er den „ Strom der Jugend" anruft und den Steuermann, der auf ihm
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das Schiff lenkt, vor iippigern Erschlaffen and sorgloser Wollust warnt.
Im schopferischen Werdegang offnen sich p lot/1 id i Spharen, die mil einem Male eine Heimatluft um den Genius atmen und in denen alles, was sich bisher auf keine Weise sagen oder gestalten lieB, nun mil der Erstlingsfrische und dem geheimnisvollen, vieldeutigen, herben Zauber Gestalt annimmt, mit dem es im Innersten erabnt und geschaut wurde.
Die Dinge bebalten denselben Namen, aber er klingt anders. ,,Baum" ist nicht mehr ,,Baum", ,,Hand und Mund" nicht mehr ,,Hand und Mund", ,,Herz" nicht mehr ,,Herz"; Wonnen der Neu* geburt beginnen zu waken.
In eine solche Sphare trat Whitman offenbar mit diesem Friih- ling 1848 ein.
Sie stand unter dem Zeichen einer Liebe, deren Starke und Glut wir nur eben aus dieser ihrer Wirkung auf seine Dichter- kraft und aus einigen wenigen Anzeichen ahnen konnen, da er selbst bis an seinen Tod den Schleier des Geheimnisses dariiber gebreitet hat. Weder vor- noch nachher ist uns von einem Herzens- erlebnis Whitmans etwas bekannt, und es scheint in der Tat, als ob dies die einzige groBe Leidenschaft seines Lebens gewesen ist; wie ja denn auch das Gesetz der Einmaligkeit iiber all seinem Wesen und Schaffen zu walten scheint: der allesumspannenden Einmaligkeit, die wie in einer grofien Umarmung sich mit dem Dasein vermahlt. Denn es sei schon hier gesagt, daB seine Dich- tung, nachdem sie einmal ihre Ausdrucksform gefunden hatte, sich in einem machtigen vulkanischen Ausbruch verschleuderte, dem zwar immer wieder noch Feuerstrome folgten, die jedoch ebensogut nur gleichartige Teile der ersten Glut batten sein konnen. Damit soil nicht gesagt sein, daB wir nicht fruhere und spatere Epochen an seinen Gesangen gut zu unterscheiden vermochten. Jedoch ge- hort dazu schon eine ziemlich genaue Kenntnis Whitmans; eine Einteilung seines Schaffens in verschiedene , jeweils in sich ge- schlossene, aufbauende Ringe und Kreise, wie etwa die aus Goethes Werk sich ergebende, ist bei ihm nicht denkbar. Die Maschen seines zuerst nur 96 Seiten starken Buches waren so weit gewebt, daB er die vielen noch folgenden Gesange in sie verteilen konnte. Er sang das eine groBe, freilich vielfaltige Thema, das im Grunde
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weder Anfang noch Ende hat. So konnte er denn auch etvva an den Schlufi der dritten Auflage von 1860 bereits das Gedicht ,,Leb- wohl" stellen, das wie der Abschied eines sterbenden Greises klingt, obwobl er es als Vierzigjahriger schrieb, und das er aucb in den ganz spaten Auflagen der MGrashalme" ohne irgendeine storende Wirkung mit Fug wiederum an den SchluB stellen durfte und stellte. Er zog die Umrisse seines Werkes von vornherein so weit und geraumig, als hatte er einen visionaren Vorausblick iiber sein gesamtes Schaffen gehabt.
Das New Orleans von damals war ein Gemisch aus Frankreich, Spanien, \7enedig und Amerika.
In weicber, iippiger Luft lag es, halb modern, halb altertum* lich, an den Golf von Mexiko gedrangt, mit seiner katholischen Kathedrale, die von tausend wirren Ziegeldachern, Galerien und Hofen umlagert und von einer Fiille siidlandischer Blumen und Baume umduftet war. Musik und Gesang, weiche kreolische Laute lagen in der Luft. Priester wandelten in langen Gewandern durch die Strafien, in denen sich ein Durcheinander von Pflanzern, Handlern, Abenteurern drangte. In strengerer Abgesondertbeit schloB sich die vornehmste Aristokratie der Neuen Welt zusammen. Nirgends in den Staaten lebte ein so feudaler Kastengeist wie hier, — gemildert durch die Weichheit der Zone, durch die all- gemeine Frohlichkeit, die sich in hunter Romantik mit Tanzen, Karnevals, Duellen, Liebesabenteuern austobte. In der Gesellschaft wurde viel franzosisch gesprochen. An der Seite der Stadt je- doch, die nach dem Mississippi bin lag, brodelte das SchifFer- und Matrosenviertel, mit zahllosen Spelunken, Kneipen und Spiel- hollen, eine wilde, von Verbrechern durchlungerte Welt. Und bin und her in der Stadt trieb eine verwegene Kiinstler- und Literaten- boheme ihr leichtsinniges Wesen.
Aus einigen sparlichen miindlichen und brieflichen Andeutungen Whitmans geht nun hervor, daB er hier in dieser bewegten, schonen Stadt eine Fran traf, die er ebenso leidenschaftlich liebte wie sie ihn.
Wer es war und in welchen Kreisen er sie kennen lernte, ob in der Gesellschaft oder im Volk, wissen wir nicht. Die meisten Biographen nahmen bisher an, es sei eine Dame der siidlichen Aristokratie gewesen, deren Liebe zu einem Journalisten und
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Handwerker aus dein Norden ein so ungeheuerlicher Bruch mil den Anschauungen ihrer Klasse war, daB an eine Heirat nicht zn denkeri war. Whitman reiste nach drei Monaten plotzlich aus New Orleans ab und kehrte in den Norden zuru'ck; und diese flucht- artige Abkehr wird gedeutet als Folge etwa des Einschreitens der Verwandten der Dame, denen etwas von ihrem Verhaltnis zu Whit- man zu Ohren gekommen war. Das lebenslange Schweigen des Dichters iiher alle Einzelheiten dieses tiefgreifenden Erlebnisses, das so sehr im Widerspruch steht zu seinem sonstigen freien Aus- sprechen aller Dinge, die ihn bewegten, ware dann als eine viel- leicht von den Verwandten geforderte, vielleicht auch freiwillige Riicksichtnahme zu erklaren. Neuere Biographen glauben keinen Grund fur eine solche Deutung zu sehen und meinen, diese Ge- liebte habe ebensogut eine Frau aus dem Volk sein konnen, die ihn, wie so viele Hunderte in New York, eben nur als ,,Walt" kannte und ihn liebte, ohne zu fragen und etwas anderes von ihm zu for- dern, als Gegenliebe. Aus dem einen, ja wohl einzigen Gedicht Whitmans, das einem personlichen, besonderen Liebeserlebnis gilt und das zweifellos auf die Zeit in New Orleans zu deuten ist, nam- lich dem Gedicht ,,Einst kam ich durch eine volkreiche Stadt" (in den ,,Kindern Adams") ergibt sich in jener Hinsicht auch keinerlei bestimmte Deutung. Es spricht nur fur die Starke seines Gefiihls und fast noch mehr des Gefiihls der Frau. Es gibt ein paar AuBe- rungen Whitmans, die mit aller Bestimmtheit aussprechen, daB er noch einige Male in den Siiden zuru'ck kehrte. Nun ist uns aber sein Leben nach der Veroffentlichung der ,,Grashalme" (i855) so bis in alle Einzelheiten bekannt, daB wir von diesen Besuchen wissen inuBten, wenn sie nach i855 stattgefunden batten. Wir konnen sie also schlechterdings nur in die Jahre zwischen 1 848 (49) und 1 855 unterbringen, die weniger offen vor uns liegen. Da es unter an- derem auch durch Whitmans eigene Aussage bekannt ist, daB er sechs Kinder hatte, nimmt man an, daB er also in jenen Jahren des 6'fteren seine Geliebte wiedersah. Ob das gerade zu jener ersten Deutung passen wiirde, es habe sich um eine von den Verwandten streng behiitete Dame der Gesellschaft gehandelt, lasse ich dahingestellt. Neuere Biographen neigen zu der Annahme, diese sechs SproBlinge stammten gewifi nicht von derselben Mutter. Vor allem glauben sie das aus der Stelle eines Briefes Whitmans an den ihm befreundeten
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englischen Kritiker Addington Symonds zu erkennen, wo Whit- man schreibt: ,,Ich habe sechs Kinder gehabt — zwei da von sind gestorben — babe ein lebendes Enkelkind im Siiden, einen feinen Buberi, der mir gelegentlich scbreibt — Umstande (Riicksichten auf die Vermogenslage der Kinder) haben uns intimere Beziebungen unmoglicb gemacht." Es scbeint, mit anderen Worten, daB den Kindern ein gewisses Vermogen entzogen worden ware, wenn Whitmans Vaterschaft anerkannt worden ware; ein Umstand, der zu- gleich gewisse torichte Vorwiirfe entkraftet, Whitman habe sich, ahnlich wie Rousseau, nicht um seine Kinder gekiimmert. Aus der Wendung ,;habe ein Enkelkind im Siiden" schlieBen nun jene neueren Kritiker, daB er auch noch andere Enkelkinder im Norden gehabt habe, also Kinder von einer oder mehreren anderen Frauen. Andrer- seits scheint mir grade dieser Hinweis auf Vermogensumstande denn doch sehr stark gegen die Annahme zu sprechen, jene Frau sei irgendein anonymes Weib aus dem Volke gewesen.
Wie dem auch sei, — wer immer sich defer in Whitmans Werde- gang einfuhlt, wird in der Liebe zu dieser siidlichen Frau das eigentlich einzige erschiitternde Herzenserlebnis des Dichters emp- finden miissen; alles iibrige kann getrost weiterer biographischer Forschung iiberlassen bleiben*.
Whitman verliefi also New Orleans, nachdem er das ganze viel- faltige Leben der Stadt in sich atifgenommen hatte, am 25. Mai, zur Freude seines funfzehnjahrigen Bruders Jeff, den er als Heifer in der Druckerei mitgenommen hatte und dem das siidliche Klima schlecht bekam.
So kurz die Zeit gewesen war, so fuhr er doch als ein anderer wieder den Mississippi hinauf und durch den Missouri, dann nach dem jungen Chikago, durch die grofien Seen Michigan, Huron und Erie bis zum Niagarafall und in das siidliche Kanada, und schliefilich auf dem Hudson wieder nach New York zuruck. Die Fahrt dauerte fiinf herrliche Sommerwochen, in deren Glanz viele helle, aufbliihende Stadte an den Ufern an ihm voriiberzogen, im Hintergrunde immer die riesigen, von Fruchtbarkeit strotzenden Siedellander.
* Wahrend ich diese Zeilen in Druck gebe, wird soeben ein Buch des New Yorker Professors Emmery Holloway angekiindigt, das neues Material zu dieser Frage bringen soil. Es liegt zur Zeit noch nicht vor.
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Im ganzen war er fast vier Monate von New York-Brooklyn weggewesen und hatte siebzehn Staaten der Union mit eigenen Augen gesehen, so daB sie MTeil von ihm" wurden, gleichwie a lies, was das Kind erblickte, ,,das ausging jeden Tag". Mit der unverganglichen Nachglut des Siidens im Blut kehrte er heim nach Manhattan.
FRUCHT
Koinm, sagte meine Seele,
LaO uns nun solche Verse schreiben fur meinen Leib (denn vvir sind eins),
DaB, sollt' ich unsichtbar nach meinem Tode wiederkehren,
Oder in andern Spharen, lange lange bin,
Ich ewiglich mil freudigem Lacheln weitersingen mag,
Fur irgendeine Schar von Freunden neu anstimmend
(Im Einklang mit der Erde Boden, Baumen, Winden, stiirmischen Wogen),
Ewig und ewig zu meinen Versen inich bekennend, —
Gleichwie ich jetzt und bier zum erstenmal,
Zeichnend fiir Leib und Seele, meinen Namen vor sie seize:
Walt Whitman.
Anlafilich des Krieges gegen Mexiko hatte sich die demokratische Partei endgiiltig gespalten; die Richtung, die gegen Ausdehnung der Sklaverei auf die eroberten mexikanischen Gebiete stimmte, war ausgeschieden. Ihre Mitglieder, zu denen auch Whitman ge- horte, nannten sich jetzt ,,Freiland-Demokraten". Die Grundsatze dieser Richtung vertrat Whitman in einer Tageszeitung, „ Freeman", die er selber griindete und in Brooklyn herausgab. Sie ging aber schon nach einem Jahr wieder ein, wahrscheinlich \veil der Heraus- geber von allzuviel andersartigen Ideen erfiillt war, um sie erfolgreich zu leiten. So entschlofi Whitman sich kurzerhand, die journa- listische Tagesarbeit an den Nagel zu hangen, und da sein Vater just um diese Zeit zu krankeln anfing, trat er in sein Geschaft ein, das darin bestand, kleine Holzhauser in Brooklyn ini Rohbau zu errichten und auf Fertigstellung zu verkaufen. Bei dem schnellen Wachstum der Stadt war das ein eintragliches Geschaft, und Whit- man war bald auf dem Wege, ein reicher Mann zu werden.
Wenn es nun zwar wohl auch eine etwas verklarende Deutung iibereifriger Bewunderer ist, zu sagen, das Geldverdienen sei ihm zuwider gewesen, und er habe, urn der Armut treu zu bleiben, seine Bautatigkeit bald wieder eingestellt, so ist doch soviel wahr,
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daB ein hnhercs Interesse dieses ersprieBliche Handvverk wahrend dcr folgenden Jahre iminer mehr in den Hintergrund drangte und ihn so beanspruchte, daB er, unbekiiminert um Gewinn oder Verlust, jederzeit dem Drang nach MuBe und Freiheit nachgab, nicht immer zur Freude des besorgten, ein wenig verbitterten Vaters.
Dieses Interesse war nichts Geringeres, als der feste EntschluB, dem amerikanischen Volke, das ihm nun auf seiner Heise in leib- haftiger Breite, Frische und \7ielfaltigkeit nahe gekommen war, den geistig-dichterischen Ausdruck zu geben, der seiner Eigenart und Jugendkraft gerecht wurde und der gleichsam die Bibel einer durch und durch modernen, demokratischen Menschheit darstellen sollte. Mit alien bewufken Sinnen richtete er die Krafte dieser sieben Jahre, die nocb bis zum Erscheinen der ,,Grashalme" ver- gingen, auf dies Ziel.
Dieser Drang, die Wesenheit seines Volkes geistig darzustellen und gleichzeitig durch diese Darstellung die hochsten Krafte in ihm zu erwecken, war die natiirliche Emanation seines starken, nacli Ausdruck ringenden Gefiihls von dem Wunder und der Erstmalig- keit seines eigenen Seins, in das er ja, mit verwandtem Fleisch und Blut, alle die tausend Erscheinungen und Regungen, Freuden und Leiden der Rasse aufgesogen hatte und immer welter Tag fur Tag aufsog.
Der heiBe Adel leidenschaftlicher Liebe, vielleicht zugleich mit der Schwermut der Entsagung, die ihn aber nicht niederdriickte, sondern noch hoher in die Sphare des Allgemeinen hob, mag ihn noch urigeduldiger aus dem Tagesbetrieb der Zeitungsredaktion hinausgedrangt haben durch die Fiille der neuerwachten Empfin- dungen, die nach Zeit und Ruhe verlangten, um durchgefiihlt und zur Reife gebracht zu werden. Man fiihlt, wie eine Dichtung, die so ganz aus dem Seienden, Verweilenden stammt, in diesen sich zur Erfiillung steigernden Jahren alles andere an sich reiBen und auftrinken muBte. Der /imrnermannsberuf brachte schon mehr MuBe und Beschaulichkeit; die feste, schlichte Gegenstandlichkeit der Handarbeit, der Aufenthalt in frischer Luft, die reale Zugehorig- keit zum leiblichen Leben und Werden der Stadt selber, die er be- dingte, forderten den inneren ZusammenschluB des Geriistes der Gedanken. Jedesmal, wenn ein Hol/bau fertig war, gonnte sich
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Whitman eine oft wochenlange Ferienzeit, wahrend der er sich in die Natur zuriickzog, um auf der Insel herumzustreifen und am Strande in der Sonne zu liegen, zu baden, zu lesen und zu dekla- mieren. Hier erprobte er die ersten Versuche zu seinen Gesangen an der Natur selber. Er suchte in ihnen den Rhythmus, der dem der See antwortete.
Aucb bei der Arbeit hatte er immer ein Buch oder eine Zeitschrift oder Zeitung in der Tasche. Er war sein Leben lang ein eifriger Zeitungsleser. Sie vermittelte ihm das Gefiihl von realer Vielheit, von lebendigem Geschehen, aus ihr horte er das dumpfe Brausen der Menge und ibres Ineinanderbrandens , das er so liebte, jenes ,,enmasse", dem er sicb und seine Dichtung verschwor. Er las die alten Klassiker, Aschylos und Sopbokles, Plato, las Dante und Shakespeare und Ossian, den Don Quichote und die Nibelungen, und was ihm sonst an Biichern in die Hande kam. Von fruher Jugend an waren ihm ,,Tausendundeine Nacht" und die Balladen Scotts lieb und vertraut. Er selber sagt, er sei in jiingeren Jahren so recht ein alles verschlingender Biicherfresser gewesen; eine Fest- stellung, die vielleicht ein wenig ubertrieben ist.
Gleichzeitig las er eifrig, wenn auch freilich ohne jedes System, naturwissenschaftliche und philosophische Werke. Wissensehaft und Philosophic empfand er — immer aus der innersten Sphare reiner Daseinsschau heraus — durchaus nicht als Gegensatz zur Poesie, vielmehr als nahrend und fruchtbar fur sie. Die Wissen- sehaft machte ihm die erschaute Welt nur noch reicher und viel- faltiger, die Philosophic bedeutete ihm Vereinheitlichung des Viel- faltigen. Die Zweiheit von Selbst und Nichtselbst, von Subjekt und Objekt wurde ihm lebendig zusammengehalten durch das wahre wlch", durch den Weltgeist, der Subjekt und Objekt gleicherweise durchflutet. In diesem Sinne ist die sich durch seine Gesange hin- durchziehende Dreiheit: ,,Ich, meine Seele und mein Leib", ,,selt- sames Trio", zu verstehen. Fur diese aus seinem lebendigen Seiri geborene Anschauung fand Whitman die mit Leidenschaft begriiCte Bestatigung in dem Kern der Philosophic Hegels. Das innerste Prinzip dieser Philosophic ist die Versohnung der Gegensatze. Jedes endliche Ding ist es selbst und doch nicht es selbst; denn dadurch, dafi es in Beziehung steht zu dem, was es begrenzt, tragt es das Ele- ment seiner Auflosung in sich. Die Seele kann nicht durch die
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Materie vernichtet werden, denn die Materie ist nur eine Objek- tivation der Seele. Das Bose ist bose nur fiir unsere Anscbauung; fur das „ Absolute" sind Leid und Tod nur notwendige Stufen im ewigen Fortschritt. Das Bose ist der Schatten des Guten. Die ewige Wabrheit tragt es mit sich fort, um es endlich ganz im Guten auf- gehen zu lassen. Im Bereiche der Menschheit sind unsere Ktirper nur ein Teil der objektiven Inkarnation Gottes. Da die Seele un- teilbar ist, ist das, was unsern Korper und Geist beseelt, zugleicb Allseele. Dies ist bei Whitman gemeint mit der mystischen Inden- tifikation seines »Ich" mit dem Absoluten; und hierin liegt der Grund zu der Gleichstellung von Seele und Leib. Seele und Leib, beide Gott-Substanz, bilden im Meere der Unendlichkeit eine Einzel- idee, die zugleicb absolut und individual ist.
Diese ganze Anscbauung, deren weiterer Verzweigung ich bier nicbt nachgebe, ist bei Whitman durchaus nicht systematisch ausgebaut; sie blitzt nur im groGen Strom seiner Ich-Gesange hie und da in kronkreten Worten auf, die mit unbekiimmerter Unmittelbarkeit et\va aus Hegel oder Schelling oder griechischer Philosophic iiber- nommen sind, und rauscht nur groB und weit und wortlos hinter allem. Denn die ,,verzehrende Lust", von der er ,,rasend" ist, ist nicht das Verlangen, einen philosopbischen Gedankenaufbau zu er- richten, sondern seine Wesenheit selber mit mystischer Kraft zum Ausdruck zu bringen, in der die Wirklicbkeit, der lebendige Traum des Seins pulsiert. Das Wunder der ,,Identitat", das Wun- der des Absoluten, des ,,wahren Ich" im individuellen Ich, der in- einander verscblungenen Endlichkeit und Unendlichkeit lebt in ihm, klopft im Herzschlag jeder Sekunde, schaut, hort, fiihlt, riecht, denkt, jubelt, leidet in ihm und alien seinen Sinnen. Die Worte, nach denen er ringt, sind Andeutungen auf die ewig laut- losen, ewig wahren Worte; er sucht jedes von ihnen so ganz mit dem Arom seiner eigenen stauneuden Wesenheit zu durchtranken, dafi durch sie, durch ihr leidenschaftliches Gedrange oder durch ihre zarteste, bebende Vereinsamung in irgendeinem hingefliisterten Satz die Sphare heraufbeschworen werde, in der allein erst das wahre Verstehen dessen, was er meint, moglich ist: die Sphare einer tief naturlichen Ekstase, jener Ekstase, die uns alle angesichts des unerhorten Wunders unseres Daseins taglich und stundlich in Bann halten miifite und von der aus uns jegliche Alltagsgleichgultigkeit,
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jede Beruhigtheit in der Sphare fragwurdiger Vertrautheit mit heute und morgen eigentlich als das groBte und dumpfste Wunder er- scheinen muBte.
Daher auch die immerwahrende Hindeutung darauf, dafi er ganz etwas anderes sei, als seine Leser vielleicht znnachst denken mogen; daB er ihnen standig und mit jedern Wort entgleite, aber dennoch ,,irgendwo" ruhig und gelassen auf sie warte. Denn das, was da wartet, ist eben das mystisch-natiirliche BewuBtsein vom wahren, allgemeinen, absoluten Ich, das im Leser sowohl wie in ihm selber lebt und zu dem hinzufiihren der ganze Sinn seines Dichtens ist. Daher ist es auch so schwer, etwas iiber Whitman auszusagen auBerhalb der Sphare, die er selber eben erst schafft und die erst fiihlbar macht, worum es sich eigentlich handelt. Daher die Trans- parenz seiner Worte, das seltsam Erregende, Erstmalige, Neugeborene in und unter ihnen. Daher auch die besondere, erschiitternde Ge- walt des Wortes ,,Liebe", das alle seine Gesange durchtont; der Liebe, die nichts anderes ist, als eben die bebende Warme und das alles Zeugens und Gebarens frohe Zugehorigkeitsgefiihl zu der im Unendlichen schwebenden, vom Unendlichen durchfluteten Leib- haftigkeit, das sich zu seiner hochsten, zartesten, feurigsten Inten- sitat steigert im Kameradschaftsgefuhl. Der bedeutende englische Kritiker und Gelehrte John A. Symonds schrieb: „ Whitman ist in der Tat im hochsten Grade verwirrend fur die Kritik. Uber ihn reden ist wie iiber das Universum reden . . . Er gleicht dem Uni- versum, nicht nur, weil er so weit und umfassend ist, sondern weil er ungreifbar, entweichend, auf den ersten Blick widerspruchsvoll und in gewissem Sinne formlos ist." (,,Walt Whitman", Seite 33.) Alles ist ihm die Wesenheit, das Arom, der Daseinszauber seines Buches; am liebsten ware es ihm, der Leser, der Liebende, der Kamerad triige es bei sich in der Rocktasche, so daB es an seiner IJiifte ruhte und nur recht nahe bei ihm ware; denn es ist kein Buch, ,,wer dies beriihrt, beriihrt einen Mann". Es ist auch nicht in die Zeit eingeschlossen ; Jahrhunderte und Jahrtausende, rollende Kreislaufte sind wesenlos im ewig seienden Fluten der Wahrheit. Die ewige Wiederkehr ist die ewige Gegenwart.
Dr. Richard M. Bucke, der erste und immer noch grundlegende Biograph Whitmans (und andere Betrachter nach ihm) mochte es so deuten, als ob dieses universale Daseinsgefuhl Whitman um
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diese Zeit in jaher, niystischer Erleuchtung eines Tages iiber- koinmen hatte, an jenem Sommermorgen wahrscheinlich, dessen Erleben Whitman im fiinften Satz des ,,Gesangs von mir selbst" in lachelndem Zwiegesprach mil seiner Seele nachtastet, zu der er redet:
Ich gedenke, wie einst wir lagen an solch einem durchsichtigen
Sommermorgen, Wie du dein Haupt quer iiber meine Lenden legtest und dich leise
iiber mich kehrtest Und das Hemd streiftest von meinem Brustbein und tauchtest deine
Zunge in mein entblofites Herz Und hinaufreichtest, bis du meinen Bart fuhltest, und hinabreichtest,
bis du meine Fiifle hieltest.
Alsbald erhob und breitete sich um mich der Friede und das \Vissen,
das hoher ist als alle Beweisgriinde der Erde, Und ich weiB, da6 die Hand Gottes die Gewahr fur meine eigene
Hand ist, Und ich weifi, dafl der Geist Gottes der Bruder meines eignen
Geistes ist, Und daft alle Manner, die je geboren, auch meine Bruder sind, und
die Weiber meine Schwestern und Liebsten;
Und da6 der Richtkiel der Schopfung Liebe ist, Und zahllos Halme aufgerichtet oder geneigt auf den Feldern, Und Ameisen braun in den winzigen Lochern an ihren \Vurzeln, Und moosiger Schorf der Schlupfwinkel von Wiirmern, Steinhaufen, Hollunder, Ronigskerzen und Scharlachbeeren.
Diese Biographenart, eine solche mit dem ganzen Wesen von Kind aut emporwachsende Empfindungs- und Bewufitseinskraft in eine bestimmte Stunde der Erleuchtung zu drangen, scheint mir jedoch etwas allzu programmatisch, selbst wenn man es so deutet, daB mit dieser Stunde nicht der Inhalt, wohl aber die letzte Inten- sitat dieser Offenbarung geboren worden sei. Die Intensitat Whit- mans ist ein Werden von Tag zu Tag, in ihrer Einheit immer lebendig, nur immer weiter ausgreifend, in sich hinein und in die Welt umber; und die Empfindungskraft des Kindes angesichts der
IV Whitman I XLIX
nachtlichen See und im Lauschen auf den Liebes- und Todes- gesang des Vogels (,,Aus der ewig schaukelnden Wiege . . ."), 1st an VVesen und Starke dieselbe, wie die einer solchen sommer- lichen Seelenstunde des Mannes. Auch daB etwa das Erwachen der Ausdruckskraft, die Geburt der Worte in diese Stunde zu ver- legen sei, ware eine engherzige Deutung ; seine eigenste Sprache wuchs Whitman in all diesen Jahren langsam, in vielen Versuchen und Miihen heran und war kein vom Heiligen Geist jah herab- geschicktes Zungenlallen, sondern ein in strenger Arbeit errungenes Kunstmittel, das er immer wieder und wieder dem, was er inner- lich klingen horte, immer reiner anzupassen suchte.
In volliger Verkennung Whitmans hat man auch bei uns — irre gefuhrt durch schlechte Obertragungen — von dem ,,roben Golde" geredet, das Whitman gleichsam wild und formlos um sich her schleudere. Wenn er selber sagt, er bringe nur den Stoff zu neuen Gesangen, so meint er natiirlich etwas ganz anderes, viel Tieferes, nicht etwa, daB er diesen Stoff in roher Form brachte. Es ist ein rechtes Armutszeugnis, wenn gewisse Kritiker es fiir notig halten, darauf hinzuweisen, daB Whitman mit friiheren, wohlgereimteri Gedichten und auch mit einigen, sich metrischer Form wieder an- nahernden Altersgesangen seine Fahigkeit zu kunstgerechter Form bewiesen babe, daB also doch so etwas wie Absicht in der Freiheit seiner Rhythmen liegen musse*. Whitman selber weist in einem seiner Prosaaufsatze Reim und Metrik als Kunstmittel fur die neue demokratisch-kosmische Dichtung, die er einleitet, ausdriicklich zuriick, da nur die freie rhythmische Sprache sich der unendlichen Bewegtheit der neuen Themen anzupassen vermoge.
Das Werdende in ihm erfiillte Whitman von Jahr zu Jahr aus- schlieBlicher. Es konnte geschehen, daB er lohnende Bauauftrage
* Es wiirde hier zu weit fiihren, im ganzen und einzelnen auf die Frage der Form Whitmans einzugehen. Ich hofFe, soweit es iiberhaupt mbglich ist, in meiner Ubertragung das wunderbar Atmende im Rhythmus dieser Gesange, das jah Hineilende, Ubersturzte, dann wieder wie atemlos Innehaltende, in zartem Verweilen sich dammrig-zartlich bis an alle Fernen des Seins Ausbreitende, und all die hundertfaltigen Lautfarbungen, Tonfaille vom Schrei bis zum Fliistern einigermafien unverdorben wiedergegeben zu haben. Ich weise im iibrigen hier nur auf die ausgezeichnete Kritik von Whitmans Stil und Form bin, die Basil de SeMincourt in seinem Buche „ Walt Whitman, Eiue kritische Studie" (London 1914) gegeben hat.
Bildnis von i855 aus der Erstausgabe der ,,Grashalme"
unberiicksichtigt liefi und einfach davonging, seinen Gedanken nach. Die Familie lebte in auskommlichen, aber doch knappen Verhaltnissen. Die Krankheit des Vaters wurde iinmer ernster. Drei der Briider, George, JefF und Edward, ha If en mil verdienen, und die Mutter und Walts Lieblingssch wester Hannah schalteten im Hause. Der alteste Bruder scheint als Arbeiter auswarts gelebt zu haben, und die zweite Schwester Mary war vermutlich schon verheiratet. Die wachsende Gleichgiiltigkeit Walts gegen die Be- diirfnisse des Tages wird sicherlich oft mit Sorge und Onmut be- trachtet worden sein, wenn auch die immer gleicbe Liebe ihn um- gab und man immer noch in den meisten Angelegenheiten ihn um Rat fragte.
Im Jahre i853, zwei Jahre vor dem Tode des Vaters, machte Whitman mit ihm einen Besuch in Huntington, damit er dort noch einmal sein altes Heim sahe.
Im Friihjahr 1 855 gab er die Zimmerei endgiiltig auf, um sein Manuskript abzuschlieOen, und im Friihsommer ging er in eine kleine Druckerei, wo er es mit eigener Hand setzte. Anfang Juli, wenige Tage bevor der Vater starb, war er damit fertig. Am 6. Juli zeigte er es in der ,,New York Tribune" an. Es kostete zwei Dollars, obwohl es nur ein schmaler Band von 95 Seiten war, ziemlich groB irn Format, seegriin gebunden, mit dem gold- gedruckten Titel wGrashalme" auf dem Einband. Diese Ausgabe gehort heute zu den kostbarsten Seltenheiten.
Die Familie kummerte sich um das Ereignis nicht sonderlich und wurde sich auch wohl nicht darum gekiimmert haben, wenn der Tod des Vaters nicht alle Gedanken und Gefuhle beherrscht hatte. Man kann sich die Stimmnng selbst etwa der liebevollen Mutter gegen dieses wWerk" vorstellen, dem zuliebe ihr Walt wahrend der letzten Monate zu einem rechten Faulenzer geworden war, der am Morgen aufstand, wann es ihm paBte, zum Essen zu spat kam und oft tagelang kaiiin zu sehen war.
Das Buch bestand aus einem langen Vorwort oder Manifest iiber die neue Dichtung und den neuen Dichter (siehe Prosaschriften !) und zwolf Gedichien gleichsam als Beispielen dafiir. Der Verfasser war nicht genannt, nur prangte gegeniiber dem Titelblatt das seit- her beriihmte Bild, auf dem Whitman in Giirtel und Hemd, mit breitem Schlapphut, die eine Hand in der Tasche, die andere leicht
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in die Hiifte gestiitzt, in lassiger Haltung zu sehen ist, — das ,,rowdy-Portrat" , \vie emporte Kritiker es nannten. Es ware ver- fehlt, in dieser Aufmachung des Buches eine Pose zu sehen, wie Unverstandige es getan haben; vielmehr ist sie der Ausdruck einer amerikanisch-kindlichen Unmittelbarkeit und Resolutheit, vielleicht nicht ganz frei von einem Beigeschmack jener dort iiblichen Art von Reklame, die den zu tJberzeugenden gleichsani am Rockknopf faBt und nicht locker laBt. Liegt ja doch auch in Whitmans Dich- tung selber in einem unendlich hoheren, vergeistigten Sinne etwas von diesem unmittelbaren ,,Herankriegen" des Horers, von diesem direkten Anreden im allernatiirlichsten Tonfall der Welt, so dafi zum Beispiel Basil de Selincourt einen gewissen Kreis dieser Ge- sange als „ conversational poems", etwa als ,,Gesprachsgedichte" bezeichnet.
Die einzelnen Gedichte hatten keine Sondertitel. Das erste und groBte, in der nachsten Auflage ,,Walt Whitman" und spaterhin MGesang von mir selbst" genannte, bildete den wesentlichen Haupt- teil des Buches. Unter den iibrigen waren besonders bedeutungs- voll ,,Die Schlafer", die ,,Gesichter" und ,,Es war ein Kind, das ausging jeden Tag". Wir sehen hier wiederum jene Weitmaschig- keit der ganzen Anlage, denn die zuletzt genannten Gesange riickten spater viel weiter hinter neueingeschobene zuriick.
Whitman hatte erwartet, sein Buch wiirde als Erfiillung oder wenigstens als verheiBungsvoller Versuch zur Erfiillung der zweifellos damals lebendigen Sehnsucht nach einem ur-amerikani- schen Dichter begriiBt werden, als Beginn einer Loslosung von europaischer Literatur, der Amerika bisher nichts Eigenartiges ent- gegenzustellen hatte, aufier etwa in gewissem Grade die Schriften und Gedichte Emersons, der aber selbst einmal, als man ihn als neuen amerikanischen Dichter ansprach, mit den Worten abge- wehrt hatte: ,,Der neue amerikanische Dichter wird ganz anders aussehen ! "
Wenn also Whitman auch auf Widerspruch, ja Emporung ge- wisser Leute gefaBt war, so hatte er doch eines nicht erwartet: Gleichgiiltigkeit. Gerieten nun auch einige Zeitungskritiker der- maBen in Wut iiber das Buch, daB sie den Verfasser als ent- sprungenen Tollhausler bezeichneten , der ofFentlich gepeitscht werden miisse, und anderes mehr, so verharrten die meisten doch
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nurin geringschatzigem Schweigen, und das Publikum selber kiim- merte sich kaum uin das grasgriine Monstrum.
Die Neue Welt, die in ihrer Existenz und deren Formen selber einen Komplex neuer Ideen darstellt, ist dennoch neuen Ideen, wenigstens geistigen, nicht giinstig gesinnt. Es fehlt ihr an einer Menschenklasse, die ihrem Charakter und ihrer Tradition nacb auf neue Horizonte begierig ist und sich mit Lust auf den Marsch begibt, wenn sie von irgendeinem Sehenden verkiindet werden. Walt Whitman selber wurde in breiterem MaBe und mit Leiden- schaft erst von England und danach von Deutschland und Frank- reich her anerkannt, und noch heute hat Amerika im groBen und ganzen nichts Besseres zu tun gewuBt, als ihn durch mechanische Verherrlichung unschadlich zu machen.
Es ware naturlich ganz verkehrt und kurzsichtig, etwa, wie es geschehen ist, Whitman einen Vorwurf daraus zu machen, daB just auch das breite Volk, an das er seine Dichtung vor allem ge- richtet wissen will, wohl am allerwenigsten zu seiner Leserschaft zu rechnen ist. Denn das Gewaltig-Volkstumliche, an das er sich wendet, ist ebensogut ein Teil seines Wesens, und bei Schop- fungen von solchem Ewigkeitsgehalt kann man schlechterdings nicht fragen : wem sind sie gesungen oder geschrieben? sondern sie entstehen und dauern in der Welt und im All und stromen ihre Wirkung aus, wie ein Wehkorper sein Licht ausstromt.
Was Whitman an Zukunftskraft und Jugendfrische und Stoff zu erhohterDemokratie — einer Gemeinschaft voll entfalteter, selbst- bewuBter und selbsibeherrschter, liebevoller Menschen — in Amerika empBndet, war und ist zweifellos vorhanden; sonst hatte das Verwandle in ihm nicht mit solcher Inbrunst sich dieser Wesenheit zugewendet. DaB er in seinem Ich etwas zum hochsten Menschlichen Gesteigertes, freudig Gottbegeistertes daraus macht, was zunachst iiber jene Wesenheit hinausgeht und von ihr nicht mit der briiderlichen Lust aufgenommen wurde, die Whitman er- wartet hatte, ist eine andere Frage, die mit dem Wert und der Macht seiner Dichtung nichts zu tun hat. Wir diirfen nicht vergessen, daB auch der Begriff Amerika fur ihn ein Symbol, oder besser ein ,,Idol" ist, das wahre Urbild der leibhaftigen Erscheinung Amerika. Kaum je vor ihm hat jemand so erbarmungslos und klar die Schaden und Schwachen Amerikas erkannt und gebrandmarkt,
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wie er etwa in seinen ,,Demokratischen Ausblicken". Dennoch blieb sein Glaube an die tieferen Krafte seiner Rasse unerschiittert, weil er selber ja dieser Rasse war und fiihlte, daft das Neue, Zu- kunfthafte in ihm eben doch wieder urspriinglich amerikaniscb war. Jeder Genius wirkt in und mit dem Stoff seiner Rasse und Zeit und erhebt sicb ins Zeitlose nur aus ihr heraus.
Dafi vielleicht die Alte Welt das Herrliche, was Whitman aus dieser Rasse heraus verkiindet, zunachst kraft ihrer Sehnsucht starker und deutlicher empfand, sagt nichts gegen Amerika und ge- gen Whitmans Amerika-Idealismus. Wenn auch der Landmann viel- leicht die Wesenheit des Landes und der Natur voller verkorpert. so lebt doch in der Sehnsucht des Stadters nach der Natur ein ebenbiirtiges Element, das die Herrlichkeit der Natur von an- derer Seite her zum Seelenerlebnis macht. Ahnlich liegt das Ver- haltnis der Alten Welt zur Neuen.
Whitman war erfullt von dem Gedanken, dafi der wahre Dichter, wie er ihn begriff, in keinerlei Gegensatz zu dem lebendigen Leben in Fleisch und Blut steht, dafi sein Dichten gar nicht etwa mehr oder wertvoller ist, als das reine Dasein gesunder, froher, tatiger, liebender Menschenkinder selbst und daB er sein erhabenstes Ge- dicht und seinen reichsten Wohllaut im eigenen Korper, in den ,,stummen Linien seiner Lippen und seines Gesichts und zwischen den WTimpern seiner Augen und in jedem Gelenk und jeder Be- wegung" tragen miisse. War freilich auch ein lebhafter Ehrgeiz und Verlangen nach Anerkennung in ihm lebendig, das ihn sogar zu manchem ungeduldigen Schritt drangte, den er besser nicht getan hatte, so gab ihm jene Uberzeugung doch Ruhe genug, um die literarischen Kritiken mit Gleichmut iiber sich ergehen zu lassen. ,,Im ganzen bekannten Universum", sagt er in der herrlichen Vorrede zur Erstausgabe, ,,lebt ein wahrhaft Liebender, und das ist der grofite Dichter. Er brennt in ewiger Leidenschaft, ist unbekiimmert darum, was ihm das Schicksal bringt, Zufall, Gluck oder Ungluck, und empfangt laglich und stiindlich seinen kostlichen Lohn.ft - ,,Als mein Buch", erzahlte er in spateren Jahren einem Freunde, wallenthalben einen solchen Sturm von Wut und Schmahungen wachrief, machte ich mich davon, an das Ost-Ende von Long- Island und verbrachte den Spatsommer und den ganzen Herbst - den gliicklichsten meines Lebens — in der Nahe von Shelter
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Island und Peconic Bay. Dann ging ich wieder nach New York zuriick mil dem verstarkten EntschluB, in dem ich auch nie wieder wankend wurde, mit meinem dichterischen Unternehmen auf meine Weise fortzufahren und es, so gut ich konnte, zu Ende zu fiihren."
Ein Amerikaner jedoch, und nicht der schlechteste, wurde so- gleich von dem Geist dieser ,,Grashalme" tief ergriffen: und das war Emerson: Emerson, der selber in so vieler Uinsicht ahnliche Gedanken in seinen Schriften zum Ausdruck gebracht hatte, wenn auch nicht mit der Kraft personlicher Verwirklichung dessen, was er mit Worten klarzumachen suchte. Es ist wohl kaum zu be- zweifeln, daB Emersons Biicher Whitman den letzten Antrieb zur Gestaltung seiner Ideen gegeben batten. Im einzelnen auf diese Wirkung einzugehen, wurde hier zu weit fiihren. Genug, zu sagen, dafi eben jene Kraft Whitmans, alien seinen Worten die geheim- nisvoll erregende Wirklichkeit einzufloBen, die aus dem Zauber seines Seins kam, Emerson fehlte und durch seine mehr intellek- tuelle Art nicht ersetzt werden konnte.
Emerson also richtete aus seinem Heim in Concord bei Boston am 21. Juli 1 855 jenen beriihmten Brief an Whitman, der so lautete:
,,Werter Herr, -- ich bin nicht blind gegen den Wert der wunderbaren Gabe Ihrer MGrashalme". Ich hake sie fiir die auBerordentlichste Probe von Geist und Weisheit, die Amerika noch je beigebracht hat. Sie zu lesen, macht mich sehr gliick- lich, denn groBe Kraft macht uns gliicklich. Das Buch begegnet sich mit der Forderung, die ich seit jeher gegen unsere anschei- nend so unfruchtbare und karge Natur erhebe, in dem Sinne, daB zuviel Handarbeit oder ein allzu wassriges Temperament unsern westlichen Geist gedunsen und gemein macht. Ich be- gluckwiinsche Sie zu Ihren freien und tapferen Gedanken. Ich habe groBe Freude daran. Ich finde unvergleichliche Dinge un- vergleichlich gut gesagt, just so, wie es richtig ist. Ich finde jene Kiihnheit der Behandlung darin, die uns so entziickt und zu der nur eine starke Empfindung begeistern kann.
Ich griiBe Sie zum Beginn eincr grofien Laufbahn, hinter der indessen irgendwie schon ein weites Feld der Vorbereitung liegen muB, nach solch einem Start zu urteilen. Ich rieb meine
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Augen ein wenig, um zu sehen, ob dieser Sonnenstrahl keine Tauschung sei; aber der solide Geist des Buches ist eine leib- haftige GewiBheit. Es hat das Beste, was ein Bucb haben kann, namlich es starkt und ermutigt.
Ich wu6te bis gestern abend, als ich es in einer Zeitung an- gezeigt fand, nicht, ob ich den Namen als wirklich und giiltig der Post anvertrauen konnte. Ich babe den Wunsch, meinen Wohltater zu sehen, und fiihlte niich lebhaft versucht, meine Arbeiten zu unierbrechen und nach New York zu kommen, um Ihnen meine Wertschatzung auszusprechen.
R. W. Emerson."
Emerson, der damals 62 Jahre alt war, hatte diesen Brief nicht in einem ersten Impuls, sondern nach reiflicher Uberlegung meh- rerer Tage geschrieben. Er schickte auch Leute, die ihn in Con- cord besuchten, nach Brooklyn, um Whitman kennenzulernen, mil den Worten: ,,Unter uns ist ein Mann erstanden." Ein Wort, das an den spateren Ausspruch Abraham Lincolns erinnert, als ihm Whitman gezeigt wurde: ,,Well, er ist ein Mann."
Einer dieser Sendlinge Emersons, Mr. M. Conway, der Whitman im September i855 auFsuchte, hat einen Bericht dariiber fur seine Freunde geschrieben, der zwar fiir unseren Geschmack ein wenig feuilletonistisch ist, aber doch ein lebhaftes und durchaus wahr- heitsgetreues Bild vermittelt.
wEs war", erzahlt Conway, ,,eines Sonntags im Hochsommer, als ich durch die nahezu endlosen, eintonigen StraBen pilgerte, die in das ,,fischf6rmige Paumanok" hinausfiibrten, und der Weg, den man mir gewiesen hatte, fuhrte zu dem allerletzten Hause vor der groBen Stadt, — einem kleinen, zweistockigen Holzhaus. Aufmein dreimaliges Klopfen offtiete eine stattliche alte Dame die Tiir, just weit genug, um mich sorgfaltig betrachten zu konnen, und fragte nach meinem Begehren. Ich hatte sogleich den Eindruck, daB seine Mutter — denn als diese gab sie sich zu erkennen — besorgt war, es handle sich um einen Polizeiagenten, der nach ihrem Sohn suchte wegen seines verwegenen Buches. SchlieBlich jedoch deutete sie nach einer offentlichen Promenadenanlage bin, in deren Mitte ein Hiigel lag, und sagte mir, ich wurde ihren Sohn dort finden. Es war ein auBerordentlich heiBer Tag, das Thermometer zeigte fast 1 00° (Fahrenheit), die Sonne gliihte herab, wie sie nur auf dem
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sandigen Long Island gliihen kann. Die Anlage hatte keinen ein- zigen Bauni oder Schutz, und ich dachte bei mir, daB wahrlich nur ein leidenschaftlicher Feueranbeter an einem solchen Tage bier zu finden sein konne. Zuerst konnte ich nirgends ein menschliches Wesen gewaliren; aber als icb mich eben wieder zum Weggeben \venden wollte, sail ich, auf den Riicken gestreckt und gerade in die furchtbare Sonne hineinschauend, den Mann, den ich suchte. Mit seiner grauen Kleidung, seinem graublauen Hemd, seinem eisen- grauen Haar, seinem dunkeln, sonnverbrannten Gesicht und bloBen Hals lag er auf dem braun-weiBen Gras — denn die Sonne hatte das Griin ausgebrannt — und glich so der Erde, auf der er ruhte, daB er wie ein Teil von ihr aussah und von einem Voriibergehenden leicht ubersehen vverden konnte. Ich naherte mich ihm, nannte meinen Namen und den Grund, weshalb ich ihn hier aufsuchte, und fragte ihn, ob er die Sonne nicht einigermaBen heiB fande? - ^Durchaus nicht zu heiB," war seine Antwort; und er gestand mir, daB dies einer seiner Lieblingsplatze und seine Lieblingslage sei, um MGedichte zu machen". Er ging darauf mit mir in sein Haus und fiihrte mich durch die engen Flure in sein Zimmer. Ein kleines Zimmer, ungefiihr 1 5 FuB iin Quadrat, mit einem einzigen Fenster, das auf die ode Einsamkeit der Insel blickte; ein schmales Belt, ein Waschtisch mit einem kleinen Spiegel dariiber, ein Tisch aus Fichtenholz mit Feder, Tinte und Papier darauf; ein alter Stich, Bacchus darstellend, hing an der Wand, und gegeniiber ein ahn- licher von Silen: dies bildete die sichtbare Umgebung Walt Whit- mans; offenbar war nicht ein einziges Buch in dem Zimmer . . .
Wir verbrachten den Rest des Tages damit, auf Staten Island umherzustreifen und zu ,,schlendern", wo wir Schatten und einen meilenweiten, herrlichen Strand batten. Beim Baden wurde ich durch eine gewisse Eihabenheit des Mannes beriihrt, die mich an das Bacchusbild in seinem Zimmer denken lieB. Ich sah jetzt, daB die Sonne sein Gesicht und seinen Hals rotbraun uberzogen hatte und daB sein Korper von heller Frische war, rein und edel, die Gestalt auf- fallig zugleich durch ihre feinen Linien und durch jene Anmut der Bewegung, deren Trager ein wohlgebildeter und wohlgefugter Knochenbau ist. Sein Ropf war ein reines Eirund; sein (braunes) Haar, stark mit Grau gemischt, war kurz geschnitten und bildete saint dem Bart einen seltsamen Gegensatz zu der fast kindlichen
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Fiille und Heiterkeit seines Gesichts. Diese Heiterkeit indessen kam aus den stillen, lichtblauen Augen, und iiber ihnen zogen sich drei oder vier tiefe Querfurchen, die das Leben gegraben hatte. Irgend- welche Inbrunst gewahrte ich erst an ihm, als er ins Wasser kam, das er mit der Begeisterung eines Liebenden umarmte. Wenn er iiber Dinge sprach, die ihn tiefer interessierten, wurde seine immer milde und klare Stimme langsamer und seine Lider batten die Neigung, sich iiber seine Augen herabzusenken. Man konnte durch- aus in jedem Augenblick die Wirklichkeit jedes Wortes und jeder Bewegung des Mannes fiihlen, und zugleich das iiberraschende Zartgefiihl eines, der mit seiner Feder freier war, als selbst Mon- taigne.
Nachdem ich mich mit Walt verabredet hatte, ihn im Laufe der Woche wiederzutreffen und mit ihm durch die StraBen New Yorks zu schlendern, ging ich, und konnte diese Nacht fast gar nicht schlafen vor lauter Gedanken an meine neue Bekanntschaft. Er hatte mich so magnetisiert, mich so mit etwas gleichsam Un- definierbarem erfullt, daB es mir damals schien, als bestande die einzige Leben sweisheit darin, ein blaues Hemd und eine Bluse an- zuziehen und in Mannahatta und Paumanok umherzustreifen, — vzu schlendern und meine Seele zu Gast zu laden", um die Worte meines neuen Freundes zu gebrauchen. Die Zeit wurde mir sehr lang und der Anblick der glanzenden Stadt matt, wahrend ich auf die nachste Zusammenkunft wartete, voll Spannung, ob er mir beim Wiedersehen noch ebenso groB erscheinen wurde, Ich fand ihn an dem festgesetzten Morgen in einer Brooklyner Druckerei beim Setzen eines Aufsatzes der ,,Demokralischen Revue", der fur die Uberlegenheit von Walt Whitmans Dichtung iiber die Tenny- sons eintrat und den er (da er alles Fur und Wider ganz tat) als Anhang zu seiner nachsten Auflage abdrucken wollte. Er trug immer noch die Arbeiterkleidung, in der er, wie er sagte, aufge- wachsen war und die beizuhalten er bequem fand. Es wurde mir klar, als ich mit ihm durch die StraGen ging und auf der Fahre fuhr, daB er ein Fiirst incognito unter seinen Bekannten der nie- deren Rlasse war. Alle Augenblicke kam einer auf ihn zu, ergriffbe- geistert seine Hand und lachte und plauderte (er selber aber lachte nicht ein einziges Mai, ja ich habe ihn in der Tat nie auch nur lacheln sehen). Da ich neugierig war, ob Leute dieser Klasse irgendwie
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seinen Wert zu schatzen wiifJten, nahm ich einen Arbeiter in gerippten Hosen beiseite, den ich in it ihm hatte sprechen sehen, und fragte ihn: ,,\Visseri Sie, vver der Mann dort ist?" — ,,Das ist Walt Whitman". — ,,Rennen Sie ihn schon lange?" — wViele Jahre." — ,,\Vas fiir ein Mensch ist das?" — ,,Ein erstklassiger Kerl ist Walt. Reiner kennt Walt, aber alle habeti ihn gern." . . . Ich fragte noch mehrere andere, fand aber keinen, der irgend etwas von seinem Buch wufite, obwohl alle stolz darauf waren, mit ihm be- kannt zu sein. Unvergleichlich war die Mischung von Unbekiim- mertheit und scharfer Beobachtung in ihm, wahrend wir so durch die SiraBen schlenderten.
Im Tombs-Gefangnis besuchten wir die Gefangenen, und das Zu- trauen und die Redseligkeit, mit der sie zu ihm kamen und ihm ihre Kiimmernisse ausschiitteten, als ob er ein Mann in Amt und Wiirden ware, war ganz seltsam. An einem Fall nahm er beson- deren Anteil. Der Mann, gegen den ein Verfahren wegen eines geringfiigigen Verbrechens schwebte, war in eine sehr schlechte und ungesunde Zelle gesperrt worden. Nachdem er ihn angehort hatte, machte Walt kehrt und ging geradenwegs zu dem Gefangnisdirektor, erstattete ihm Bericht und schlofi: ,,Nach meiner Meinung ist es eine verdammte Schande." Der Direktor war zuerst verbliifft iiber dieses Auftreten eines hergelaufenen Mannes in Arbeiterkleidung, dann betrachtete er ihn von Kopf bis zu Fu6, als iiberlegte er, ob er ihn verhaften solle, wobei der Anklager ruhig dastand und dem Direktor mit strengem Freimut in die Augen sah. Walt siegte in diesem Blickduell, und ohne ein weiteres Wort rief der Direktor einen Beamten und befahl ihm, den Gefangenen in einen besseren Raum zu bringen."
Diese Kameradschaft Whitmans mit den Gefangenen von New- York, insbesondere auch des grofien Zuchthauses Sing-Sing, ist durchaus eine Tatsache. Die eigenartige persdnliche Macht, die spater wahrend des Krieges auch alle Arzte und Lazarettbeamten bewog, ihn frei und nach seinem Belieben iiberall aus und ein gehen zu lassen, obwohl er keinerlei Amt oder Posten hatte, waltete von jeher in ihm.
Der Lebensbeschreibung Dr. Buckes entnehme ich noch einige andere personliche Berichte iiber Whitmans damalige Art und Erscheinung.
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„ Whitmans Erscheinung pflegte viel Aufsehen unter den Passa- gieren zu erregen, wenn er auf das Fahrboot kam. Er war gute sechs FuB hoch, mit dem Kcrperbau eines Gladiators, ein grauer, iippiger Bart mischte sich mit dem Haar seiner breiten, leicht ent- bloBten Brust. In seinen wohlgewascbenen, karierten Hemdsarmeln, die Hosen oft in die Stiefelschafte gesteckt, den edlen Kopf von einem riesigen schwarzen oder hellen weichen Filzhut bedeckt, ging er einher mit angeboren majestatischem Schritt, ein echtes Vor- bild von Natiirlichkeit und Unabhangigkeit. Ich glaube kaum, daB die Art, wie er sich damals kleidete, absichtlich exzeritrisch war; er hatte einen tiefen Widerwillen gegen alles Auffallige und alien Schein, und ich kann mir denken, daB er einfach das anzog, was handlich, sauber, sparsam und bequem war. Seine markante Er- scheinung rief indessen trotzdem die verschiedensten Fragen bei den Passagieren, die ihn nicht kannten, wach."
,,In der Pennsylvania Avenue oder der siebenten oder vierzehnten StraBe, oder vielleicht an einem Sonntag auf dem Vorstadtweg nach Rock Greek oder auf den Hiigeln von Arlington oder an den Ufern des Potomac kann man einer kraftvollen Gestalt begegnen, die mit festem, aber gemachlichem Schritt einhergeht, sechs FuB hoch, gekleidet in Blau oder Grau, mit gelbgrauem Schlapphut, breitem Hemdkragen, grauweiBem, vollem, welligem Bart, mit einem Gesicht, rot wie ein Apfel, blauen Augen und mit einem Aussehen von animalischer Gesundheit, das eher auf Jagd und Schiffahrt als auf ein Amt im Ministerium oder auf den Arbeits- tisch eines Schriftstellers schlieBen laBt. In der Tat, der Mann, den wir beschreiben, holt sich in seiner Dichtung, seinen Lebens- formen, ja selbst in seiner Philosophic seine Krafte offenbar aus einer standiger Beziehung zu den Einflussen von Meer und Himmel, Waldern und Steppen und ihren Gesetzeri und zu Menschen, die in Einklang mit ihnen leben, wahrend weder die iiblichen Salons der Gesellschaft noch die Sphare gelehrter Bibliotheken ihm etwas anhaben konnen."
,,Walt Whitmans Rleidung war jederzeit auBerst einfach. Er trug gewohnlich bei gutem Wetter einen hellgrauen Anzug aus guter Wolle. Das einzig Besondere an seiner Kleidung war, daB er niemals eine Kravatte trug, sondern immer Hemden mit sehr breitem Umlegekragen, deren vorderer Knopf fiinf oder sechs Zoll
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tiefer als iiblich saG, so da6 die Kehle und der obere Teil der Brust freiblieb. Im iibrigen kleidete er sich durcbaus gediegen, sauber, schhcht und unauffallig. Alles, was er trug, und iiberbaupt alles an ihm, war jederzeit peinlich sauber. Seinen Kleidern niochte man vielleicht (wie es in der Tat der Fall war) ansehen, dafi sie viel getragen waren, oder sie mochten sogar zerrissen und durch- gescheuert sein, aber sie waren nie schmutzig. In der Tat, ein kost- liches Arom von Sauberkeit war immer eine der Besonderheiten des Mannes; es war seinen Kleidern, seinem Atem, seinem ganzen Korper, seinem Essen und Trinken, seinem Gesprach zu eigen, und jeder, der aucb nur eine Stunde mit ihm zusammen war, mufite spu'ren, dafi es seinen Geist und sein Leben durchdrang und in Wahrheit der Ausdruck einer Reinheit war, die ebensogut physisch wie moral isch und moraliscb wie physisch war."
,,Lethargisch bei einem Interview, passiv und aufnehmend, ein bewundernswerter Zuhorer, niemals in Hast, voll der Haltung eines, der MuCe genug hat, allezeit in vollkommener Ruhe, schlicht und geradezu im Umgang, voll Liebe fur das einfache, gewohnliche Volk, „ einer, der Rohen und Gebildeten auf gleiche Weise begegnet", mafiig, keusch, milde, liebevoll und herzlich, von vielen Freunden geliebt, mit einer sommerlich-vaterlichen Seele, die aus all seinem Betragen und aus jedem Blick hervorscheint, ist er nicht im ge- ringsten der MBarbar", fur den ihn gewisse Leute so gern hielten. Peinlich wie ein Brahmine von honer Kaste in bezug auf seine Nahrung und seine persbnliche Sauberkeit und Ordnung, gut ge- kleidet, mit grauer, offener Brust, mit einer tiefen, sympathischen Stimme und einem freundlichen, lebhaften Blick, macht er den Eindruck besten Bluts und bester Herkunft. Er erinnert einen an die ,,ersten Manner", die ,,Anfanger"; er hat das primitive Aussehen eines, der im Freien lebt, — nicht so sehr durch vielen Aufenthalt in frischer Luft, wie durch angeborene Rasseneigenschaft, — ein Aus- sehen, das mit Erde, Meer und Gebirge verwandt ist, und er wird, wie jiingst ein Vorkampfer seiner Sache schrieb, ,,gewohnlich fur einen tiichtigen Handwerker oder Giiterpacker oder Schiffer oder sonst irgendeinen Arbeiter von Qualitat genommen." Seine Phy- siognomic zeigt hochst ausgesprochene Ziige, Ziige nach wahrhaft antikem Schnilt, wie sie aus modernen Gesichtern fast verschvvunden sind, erkennbar an dem starken, breiten Ansatz seiner Nase, seinen
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hohen, geschwungenen Brauen und an dem Fehlen jeglicher Wol bung seiner Stirn, — ein Gesicht, das sich dem Typus griechischer Statuen annahert. Er bedeutet nicht Intellekt allein, sondern Leben; und man fiiblt, daft sein SchafFen sicb mehr durch Ein- fiihlen und Aufsaugen, als durch angestrengte intellektuelle Vor- gange vollzieht, — durch die Ausstromung von Kraft viel mehr, als durch ihre direkte und totale Anwendung."
,,JahreIang haben Tausende von Menschen in New York, Boston, New Orleans und spater in Washington einen Mann von auffallen- der, mannlicher Schonheit — einen Dichter — von machtvoller und ehrwiirdiger Erscheinung gesehen, wie ich selber ihn vor zwei Stunden erst gesehen habe: im Einklang, sozusagen, mit den Stra- Cen unserer amerikanischen Stadte und wie geschaffen fiir diesen Hintergrund und diese Umgebung ihrer flutenden Bevolkerung und ihrer weiten und reichen Fassaden; einen Mann, groB, gelassen, herrlich gebaut; meist in die lassige, grobe und immer malerische Tracht des Volkes gekleidet . . . und mit unbekummertem, stolzem, Schritt iiber das Pflaster schreitend, Sonnenlicht und Schatten um sich her. Den dunklen Schlapphut, den er meistens tragt, hielt er, als ich ihn sah, in der Hand, da es sehr heiB war; reiches Licht, wie ein Maler es gewahlt haben wurde, lag auf seinem bloBen, majestatischen, homerisch groBen Haupt und auf seinen starken Schultern und gab ihm die Erhabenheit antiker Skulpturen. Ich sah sein Gesicht, klar, stolz, froulich, bluhend und zugleich ernst; die Brauen von edlen Furchen iiberschrieben; die Zu'ge kraftig und wohlgeformt, mit festblickenden, blauen Augen; die Brauen und Lider von jener reinen Bogenform, die man selten sieht, auGer an den antiken Biisten; das reiche Haar und der wollige Bart ganz grau, wodurch das jugendliche Aussehen des erst Funfundvierzig- jahrigen einen Anstrich von Alter bekommt; die Einfachheit und Reinheit seiner Kleidung, die billig und schlicht, aber fleckenlos ist, von dem schneeweiBen, umgeschlagenen Hemdkragen bis zu den blankgeputzten Stiefeln, und einen leisen, frischen Hauch aus- stromt; die ganze Gestalt von Mannlichkeit wie von einem Nimbus umgeben und in ihrer vollkommenen Gesundheit und Kraft den erhabenen Zauber eines siarken Menschen atmend."
Die Wiederholung derselben Eindrucke in diesen Berichten bezeugt ihre Sta'rke. Manches darin mag etwas ubertrieben betont
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klingen. Aber solcherlei Aussagen iiber einen ergreifenden, groBen Menschen sind eben befeuert von dem unaussprecblichen Gefiihl der in Worten nicht zu fassenden Gewalt der Person, und wir inb'gen daran denken, wie wir etwa vor einem groBen Kunstwerk, das wir bisher nur aus bewundernden Beschreibungen kannten, von seiner Scblicbtbeit und Selbstverstandlichkeit erscbiiitert wer- den, wenn wir ihm leibhafiig gegeniibersiehen. In uhnlicher Weise miissen wir solche Beschreibungen in die Sphare Whitmans selber projizieren, um ein wahres Geftilil seiner Wesenheit zu bekommen.
Aus dieser auGerordentlichen Wirkung seiner Personlichkeit her- aus, an die er seit jeher gewb'hnt war und in deren Unmittelbarkeit und taglichem Verstromen er lebte, miissen wir auch die kraftige Ungeduld versteben, die ihn angesichts des MiBerfolges seines Buciies dazu drangte, sich gleicbsam personlich dafiir ein/usetzen und es gewissermafien dem Publikum in die Hand zu zwingen, — so gelassen aucb in hoherem Sinne Whitman dem Schicksal seine Dichtung vertraute und seine Zuhorerschaft ebensogut in den Jahr- bunderten der Zukunft wuBte, wie in der Gegenwart. Sein ameri- kanisch-robustes Tagesgefiihl rief die Instinkte personlicben Ein- tretens fiir seine Sacbe wach, die ihm ja bewuBterweise Sache der Menschheit war. Ich schickedies vora us, weil Whitman aus der Art, wie er im Jahre 1866 die zweite Auflageauf den Markt brachte, in einem trivialeren Sinne nicht unberechtigte Vorwurfe gemacht worden sind.
Die neue Ausgabe war um zwanzig Gesange vermehrt. Vor allein erschien darin das gewaltige ,,BegruBungsgedicht'c aller Volker der Erde, ,,Salut au monde" , das ,,Lied von der rollenden Erde", MGesang bei Sonnenuniergang", der MGesang vom Beil" und zwei Gesange, die den Kern der in den nachsten Jahren voll gestalteten ^Kinder Adams" bildeten und zum erstenmal das Thema Geschlecht rait aller Kiihnheit anschlugen.
In einem Anhang druckte Whitman jenen Brief Emersons ab, und zwar, was von Gegnern meist verschwiegen wurde, auf Dran- gen von C. A. Dana, dem Herausgeber der ,New York Sun", einem nahen Freunde Emersons. Ferner fiigte er einen offenen Antvvort- brief an Emerson bei, der freilich zu den unglucklicbsten AuBerungen Whitmans gehort, und setzte iiberdies aut'die Ruckseite des Buches die Worte Emersons: MIch begriiBe Sie zum Beginn einer groBen Laufbahn. — R. W. Emerson."
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Alles in allem eine nicht sehr wiirdige Art von Selbstankiindigung, die denn auch aus der nachsten Ausgabe sofort wieder verschwand. Die Behauptung, Emerson sei dadurch aufs tiefete verstimmt ge- wesen, ist unrichtig. Seine Beziehung zu Whitman blieb bis zuletzt sehr herzlich; er besuchte ihn wiederholt und sprach sich freimiitig iiber diejenigen neuen Gedichte aus, mit denen er nicht einver- standen war.
Die Ausgabe erregte naturgemaB viel mehr Aufsehen und auch einen noch viel wilderen Sturrn der Entriistung, der besonders jenen Keimgesangen der „ Kinder Adams" gait. Ursprunglich war alles fur einen groBen Absatz des Buches vorgesehen, aber die New Yorker Buchhandler zogen sich vor der offentlichen Meinung zu- riick, und so blieb das Buch, nachdem das erste Tausend verkauft war, vergriffen.
In seinem natiirlichen Drang nach Wirkung auf sein Volk, der aus dem Gefiihl und der Erfahrung von der Kraft seiner Person- lichkeit entsprang, stiegen nun alte Gedanken wieder in Whitman empor, die ihn seit dem Erwachen des Sinns fur die Gesamtheit der amerikanischen Staaten bewegt batten, Gedanken, die darin gipfelten, als Redner selber vor das Volk zu treten, frei von jeder Partei, lediglich als Verk under der uramerikanischen Wesenheit, die ihm der Keim der Zukunftsmenschheit war. Die politischen Wolken waren inzwischen immer finsterer geworden; die Erschiitte- rungen, die die ganze Union zu zerreiBen drohten, machten sich von Tag zu Tag drohender fiihlbar. Gegen sie die ganze einigende Macht einer lebendigen amerikanischen Personlichkeit einzusetzen und das Ziel mit alien Strahlen seines Geistes und Gefuhls zu be- leuchten, um dessentwillen seinem tiefen Glauben nach diese Neue Welt in die Erscheinung getreten war, — das mufite einen Mann seiner Art zu einer Zeit und in einem Volke, wo jeder, der sich be- rufen fiihlte, nach Fiihrerschaft greifen durfte, im Innersten ver- locken. Er schrieb damals, nach dem Ausspruch seiner Mutter, ganze StoBe von Vortragen und Betrachtungen iiber die Redekunst, in denen er ein Bild von dem groBen Volksredner entwarf, das dem gewaltigen Bilde des wahren Dichters entsprach, das er in der Vorrede zur Erstausgabe der ,,Grashalme" verkundet hatte. Der Redner erscheint bier als ein Prophet, von Inspiration durchgliiht, von dem Geist des Augenblicks geschiittelt, wie die alien groBen
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Quakerprediger, cleren Macht er ja als Knabe gespiirt hatte; die voile, fast hypnotische Macht der Personlichkeit selber miisse die Rede vorbereiten und tragen and der ganze Korper miisse lautlos, rein und feurig mitreden. In einem dieser Kntwiirfe spielt er init Humor auf die Gepflogenheit an, auf sich selber aufmerksam zu macben, \vorin er ja nicht unerfabren sei; aber anders gebe es nun ofFenbar einmal nicbt, wenn er das Gehor Amerikas erzwingen und es znr Selbsterkenntnis fiihren wolle.
Unversehens aber wucbs ibm die Welt des eigenen Seins in andere, neue Tiefen und auch das aufiere Geschehen fiihrte ibn zu iminer siiBeren und starkeren Geheimnissen des Daseinswunders, die alle seine Krafte in ein inneres Verweilen bannten.
KAMERADSCHAFT UND KRIEG
Lang, zu lang, Amerika,
Bist du auf ebenen, friedlichen Wegen gegangen und hast nur aus deinen
Freuden und deinem Gedeihen gelernt, Nun aber, o nun gilt es, aus Todesangsten zu lernen, vorwarts immer,
ringend mil Grauen des Schicksals, ohne zu wanken, Und zu begreifen nun und der Welt zu zeigen, was deine Kinder en masse
in Wahrheit sind, (Denn \ver aufier rair hat bis jetzt begriffen, was deine Kinder en masse
in Wahrheit sind?)
Seit dem Jahre 1866 war Abraham Lincoln, zuvor Rechtsanwalt im Staate Illinois, dann Kandidat fur die Senatorenwahl dieses Staates, als Vorkampfer der neugegriindeten Freilandpartei immer mehr in den Gesichtskreis Amerikas geriickt. Obwohl er jedoch die Sklaverei fur den gefahrlichsten Feind der Federation hielt, war er doch der Ansicht, daB, gerade um der Einheit der Staaten willen, die Stimmung zugunsten ihrer Abschaffung in den Siid- staaten selber geweckt und ein gewaltsamer Eingriff vermieden werden miisse; und als im Jahre 1869 John Brown seinen be- ruhmten Einfall in Virginia machte, um die Sklaven gegen ihre weifien Herren aufzuhetzen, verurteilte Lincoln diesen Gewalt- streich durchaus und billigte die Hinrichtung Browns. Trotzdem wurde Lincolns Personlichkeit eben durch das leidenschaftliche Eintreten fiir die Erhaltung der Union immer mehr fur die Siid- staaten die Verkorperung der anmafienden Anspriiche des Nordens, und als er nach mancherlei wilden Redeschlachten endlich im No- vember 1860 zum Prasidenten gewahlt wurde, war das fiir den Siiden das Signal zur Erklarung der Sezession, und zwar unter der Fiihrung des Staates Rarolina, der von jeher der Feind der fo'de- rativen Macht gewesen war.
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Gegen Ende Februar 1861 zog Lincoln, von einer ungeheuren Mfuschenmenge empfangen, in Washington ein, und dabei sah ilm Whitman zum erstenmal.
Kr hatte inzwischen sein gelassen-waches GroBstadt- und Land- leben weitergefiihrt. Er verkehrte um diese Zeit unter anderem in einem Kreis der Boheme New Yorks, deren Hauptquartier Pfatts Deutsches Restaurant am Broadway war, wo er besondere Freund- schaft mit der geistvollen und schonen wK6nigin" dieses Kreises, Ada Clare, schloB. Beriihmte Giiste kamen, um ihn kennenzulernen, unter anderem Thoreau, der damals sein Werk „ Walden" veroffent- licht hatte und von Emerson zu Whitman geschickt worden war. Der kleine, scheue Mann, dessen Naturinbrunst im Grunde Welt- llucht war, fuhlte die GroBe Whitmans, ohne sich in seine alles •Lrhrn umfassende Wirklichkeitsfreude finden zu konnen ; er begrift* \Vliitmans Liebe zur Masse, zum gewohnlichen Volk und dem Gewiihl der Stadte nicht. Er fand ihn nganz auBer dem Bereich seiner Erfahrung", nverwirrend, seltsam, iiberraschend", wirgend etwas GroBes und Kolossales", und sagte von ihm: ,,Er ist De- mokratie".
Der Mystiker Bronson Alcott kam, ebenfalls von Emerson ge- schickt, und wurde von Whitmans Personlichkeit ganz und gar uberwaltigt. BEr ist", schrieb er, wder leibhaftige Gott Pan."
Die zweite Auflage der ,,Grashalmeft war nun schon seit drei Jahren vergrifFen, und Anfang 1860 trat Whitman mit dem jungen, tatkraftigen Bostoner Verlag Thayer & Eldridge in Verbindung, um die dritte Auflage vorzubereiten, da inzwischen wesentliche neue Gesange und Zyklen geschaften waren. Er fuhr selber nach Boston, um die Korrektur zu besorgen. Wahrend dieses Aufent- halts traf er haufig mit Emerson zusammen, mit dem er herzliche Freundschaft schloB. Whitman selber hat uns (siehe Prosaschriften) einen kurzen Bericht iiber das denkwiirdige Gesprach hinterlassen, das er eines Tages im Februar im Stadtpark von Boston, unter den alien herrlichen Ulmen auf und ab wandelnd, mit ihm hatte — und das den Gedichten gait, die in der zweiten Auflage soviel Uii- willen erregt batten, den Gesangen vom ,,elektrischen Leib", die nun in der neuen Ausgabe, zu einem grofien Zyklus „ Kinder Adams" erweitert, wieder erscheinen sollten. Diese neue Ausgabe sollte die erste, von einem groBen Verlage herausgebrachte und gewissermaBen
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das endgiiltige Bekenntnis Whiimaus fur einen viel gro'Beren Leserkreis urid auf Jahre hinaus werden. Das bestimmte wahr- scheinlich Emerson, noch einmal alle Griinde der Besonnenheit und Skepsis vvie eine \vohl geordnete Armee gegen den Dichter ins Feld zu fiihren, um ihn von der \7erb'fFentlichung dieser Ge- siinge abzubringen, die fur viele das Buch unlesbar macben wurderi. Als er endlich nacb zwei Stunden mit der Frage schloB: ,,Was baben Sie zu alledem zu sagen?" antwortete Whitman: ,,Nur, daB icb zwar nichts dagegen ervvidern kann, aber rnich docb eiit- scblossener fiible als je, an meiner eigenen Tbeorie festzuhalten und sie zu betatigen." — „. . . \\orauf wir", sagt er vergniiglicb, ,,weggingen und em gutes Mittagessen einnahmen." —
Die dritte Auflage, als Bostoner Ausgabe bekannt. war die bis dato am schonsteii und wiirdigsten ausgestattete. Die neu hinzu- gekommenen Gesange waren vor allem ,,Von Paumanok kom- mend", ,,Aus der ewig scbaukelnden Wiege", „ Kinder Adams", „ Calamus" und, an den ScbluB des Bucbes gestellt, das yLebwobl".
Ohne die flutende Einheit Whitmans, die im grenzenlosen Gott- bevvuBtsein lebt, auf eine scbematische Folter strecken zu wollen, konnen \vir docb das ,,offene Gebeimnis" jener Drei-Einheit gleicb- sam als Index iiber sein Werk stellen, die er in dem neuen „ Pau- manok "-Gedicbt zusammenfaBt :
Mein Kamerad!
Zwei Erhabenheiten sollst du mit mir teilen, und eine dritte, die die andere umscbliefit und noch leuchtender ist, als sie:
Die Erhabenheit der Liebe und Demokratie, und die Erhabenheit der Religion.
Liebe, Demokratie und Religion — und, sie alle trageiid, ge- barend, vervvirklichend, das ,,Icb", das MSelbst", das Ur- und Grund- vvunder des im Einzelmenscben verkorperten Seins. Eines spiel t ins andere hiniiber, gleicbwie die See zugleicb Vielheit und Ein- beit ist. Denn anders als im eigenen Icb erleben wir uns selbst, die andern und die Welt und Gott nicbt; nicbts im ganzen Uni- versum kann wichtiger sein, als das eigene Selbst. Es ist, um ein Gleichnis Whitmans zu gebrauchen, sozusagen die Sehkraft.
Nachdem zum erstenmal das Ich in dem groBen, gleichsam mit dem Wellenschlag und Rhythmus der Unendlichkeit ergossenen ,,Gesang von mir selbst" sich in aller Fiille ausgebreitet hatte,
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morgenfrisch durchblit/t von allein, was nur ein Mensch fiililcn nnd schauen kann, voll Erinnerung, Gegenwart und ewiger Zu- kunft, hinausrauschend bis iiber die dunkle Schranke des Todes in das allgegenwartig Geistige, — nachdem in diesem Traumgesang der Wirklichkeit, dessen Worte alle \vie von der Morgensonne be- strahlte Blatter eines miichtigen und in Vielfaltigkeit zarten Baumes leuchten, die Sphare geschafTen war, in der alles in Wahrheit von jenem unbescbreiblichen Erstlingszauber glanzte, der uns in hochsten Stunden die Welt und unser Dasein in ihr zu Bewufitsein bringt, hob nun Whitman das blutvollste Wunder in diese neugeschaffene Sphare empor, das er in it der ganzen Kraft und Frische seines eigenen Leibes erlebt hatte, das Wunder des Geschlechts, der Xeugung, der Vater- und Mutterschaft. \Vie von feierlich- |>aradiesischem Orgelpraludium umbraust, hebt er an und steigt wie Adam in den Garten Welt aufs neue empor, von tausend Blitzen frischesten Gefiihls umspielt, eine Geisterschar herrlicher Jiinglinge und Madchen ihm voraus, und Eva an seiner Seite oder hinter ihm. Was reine und frische Leiber von Mann und Weib auf dieser Erde am heiflesten und begliickendsten durchschauert, ist auch der machtigste Trager des Seelischen. Was den Einzel- leib gleichsam zerschmilzt mit Lust der Hingabe und Empfang- nis, ist zugleich hochstes Icb-Geftihl und hochster Gemeinschafts- drang. Gleichwie in der mystiscb-religiosen Ekstase sich, just durch die innerste Vertiefung in das Selbst, die Schranken des Selbst zum unendlichen BewuBtsein erweitern, so lost sich im Wunder des Geschlechts der zu seiner berauschendsten Lust gesteigerte Einzelwille in die Lust der Vereinigung mit dem leibhaftigen \Vunder des wDu". Die ganze Welt ist bestrahlt von dieser Lust, alle Wesenbeiten, sichtbar und unsichtbar, stimmen ein in dieses gewaltige, innigste Du, alles leuchtet sicb an, schmiegt sich an- einander, umarmt sich , gibt sicb bin, erobert und empfangt. Der Himmel spriiht im Sonnenaufgang Zeugungsstrahlen iiber die hin- gegebene Erde, die Biene taumelt im Duft des Samens der Bliite, der Wind streicht liebkosend iiber den hingestreckten,blo6en Korper, Welle der See schmiegt sich in Welle, Grashalm driingt sich an Grashalm, Friichte duften und locken, Tier drangt sicb an Tier, Vereinsamte betten sich in ihre eigene Sehnsucht und Glut, eine blofie Beriihrung spriiht Blitze, Sonnen kreisen um Sonnen, das
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Unsichtbare umarmt das Sichtbare, alle Glieder und Teile des Korpers atmen und schwellen im Drang ihres innersten Sinnes, alle so heilig wie Gebete, alle vom Willen des ewigen Wunders erfiillt, alle mit- gerissen in der warmen, leuchtenden Flut des Seins und Werdens, alle berauschte Llebende uud Kameraden in den Mutterraumen der Uri- endlichkeit. An der schmalen Pforte des MutterschoBes drangen sich die Keime zu neuen Saaten herrlicher Mannheit und Weib- heit : zu den neuen Empfindenden, Liebenden, BewuBten, in denen die Welt zu sich selber immer wieder in Seelen- und Leibesschon- heit erwacbt, Augen aufscblagt, die schauen und glanzen. Alles ist Geburt und wieder Geburt. In herrlichen Miittern schwillt die Zukunft der Erde und Menscbheit, Blitze der Zeugungskraft zucken iiber eine neue Welt, alles Bose fliegt wie Scbatten mit, der im immer wachsenden Licbt verweht, — boren \vir Marschtakte, Freudencbore einer alten Welt, feuertrunkene, herbeikommen und bruderlich einmiinden?
Aber nicht nur bacchiscber Taumel dies, verziickter Tanz zur Feier der Mysterien, sondern vollste ,,Besonnenheit" in jedem Augenblick des Seins, erwacbtes Ruben im ,,Jetzt und Hier", alle zartesten und wildesten Empfindungen vereint, kein triibes, reuiges ,,Morgen" mebr, kein scbaler Nachgescbmack wie nacb gewalt- samer Berauschtheit, kein Beiseitescbieben der scbnoden Alltags- welt um des Ideals willen, sondern ein Bejahen alles Seienden und des Adels aller Erd- und Naturgebundenheit, ein Scbreiten und Wandeln immer fort und immer defer in das unverganglich Wirk- liche hinein: ,,Du mufit dich nun an das Blenden des Licbts und jedes Augenblicks deines Lebens gewohnen. " Ekstase wahrlich, wenn anders Ekstase befreite BevvuBtheit beiBt, Gefiihl des Wunders, das uns in jeder Sekunde umgibt und erfiillt, Erlosung aus dem Schatten- bann gespenstiscber Wiinscbe, Ziele, Tatigkeiten, Ebrgeize, Sorgen, Vergniigungen : MDu bist! — mehr nicbt! — jedwedem bocbsten Gotte ist dies genug."
Und diese Lust strablt nicbt nur um das empfangende, weib- licbe ,,Du", zu dem dicb alle magnetischen Blitze deines Leibes /iehen, sondern aucb um das ,,Du" des Mannes, des Kameraden, des Gefahrten im ,,Garten Welt"; auch zu ihm strebt der Magnet, auch ibm legst du mit tiefer Lust die Hand in die Hand oder auf dieSchulter oder um die Hiifte, dem reinen, woblgestalteten,
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durchgeistigten Freunde. Nur ,,atherischertt noch , ,,gleichsam korperlos", obwohl immer in der Wonne der Leiblichkeit; gleich- sam das eigene Wonder der Mannheit im gleichgeschaffenen Adams- bruder liebevoll nocb einmal erlebend, das ,,Zeichen der Mannheit" mil ihm, im frischen Sinnbild in Waldestiefe am Sumpfrand ge- pfliickter Kalmuswurzel , kiihnen Phallussymbols, austauschend, in naturbeseeltem Rausch der All-Liebeskraf t , in gliihend-lacheln- der Rameradschaft der hier auf Erden gemeinschaftlich Wandeln- den und Fiihlenden. Tiefer noch als im Empfangnistaumel des Weibes lebt hier im mitliebenden Gefahrten der wache Erostraum, das Verstehen der Geistigkeit, der siiBen und wilden Einsamkeit der Seele in aller Gemeinschaft, der Blutfiille mannlichen Gedankens, der ewig das Unendliche ruhelos-freudig und zartlich umspielt.
Daher bliihen diese zart-feurigsten Liebesgesange Whitmans, iiber denen das Zeichen „ Calamus" steht, gerade in einer Sphare keuschester Einsamkeit. Sie klingen wie in hoher, stehender Sommerglut von den kiihn geschwungenen Lippen eines panischen Gottes den Biischen und Blumen zugefliistert. Es hiefie sich an diesen Gedichten versiindigen, wenn man, wie eifrige Maulwiirfe es versucht haben, den Eros aus ihnen hinwegdiskutieren wollte; sie sind durch und durch davon durchbebt, genau so gut, wie die stille Luft des Nachmittags vor den Toren Athens, als Sokrates unter der Platane am Bach mit Phaidros redete. Und dennoch anders. Denn hier in diesem neuen Garten Welt redet ein Mann, der noch eben mit Worten von niegehorter Kiihnheit und Lust die Zeugung und das Weib gefeiert hat, der noch mitten aus diesen Calamus-Gesangen heraus der ,,testverankerten, ewigen" Liebe zum Weib, dem ubermachtigen Verlangen nach der ,,Braut" seinen leidenschaftlichen GruB zuruft, dem es keinen groBeren Stolz gibt, als die ,,Unbeflecktheit des Zeichens seiner Mannheit", dem seine eigenen Gesange sind wie ,,SproBlinge seiner Lenden", der den Samen ausstreuen will zu noch viel kiihneren Republiken, der das Weib als Mutter verherrlicht hat, wie keiner vor ihm.
Und so spiiren wir erst die wahre Damonie und Macht dieser teurig-geflusterten Calamus-Lieder, wenn wir uns bewuBt werden, daB ihr Sanger in ihnen sich aus der panischen Stille des Waldes etwas holen will, was der Lebensnerv des ganzen Gemeinschafts- lebens der Zukunft und aller Staaten und Stadte sein soil, der
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Herzschlag wahrer Dernokratie, das elektrisch zwischen alien eine \vahre Gemeinscbaft bildenden Mannern Spielende, das jeden Ein- /elnen aus der Verkrampftheit der Eigensucht, Parteilichkeit, Ge- hassigkeit und Stumpfheit Erlosende, wie er es in seinen ,,Demokrati- schen Ausblicken" verkiindet: ,,Inbriinstige und liebe voile Kame- radscbaft wird dann zu vollem Ausdruck kommen, personliche und leidenscbaftlicbe Liebe von Mann zu Mann, die, scbwer defi- nierbar, den Lehren und Idealen der tiefsinnigen Erloser aller Lander und Zeiten zugrunde liegt, und die vielleicbt die wesent- lichste Sicberbeit und Hofftiung fiir die Zukunft unserer Staaten zu bilden verspricbt, wenn sie einmal in Sitte und Literatur voll entwickelt, gepflegt und anerkannt sein wird. In der Entwicklung, dem BewuBtwerden und der allgemeinen Geltung dieser feurigen Kameradscbaft (der Freundscbaftsliebe, die der die Literatur jetzt beberrschenden Geschlecbtsliebe ebenbiirtig, wenn nicbt iiberlegen ist) erhoffe icb das ausschlaggebende Gegengewicht und die Ver- geistigung unserer materialistiscben und vulgaren amerikaniscben Demokratie. Mancbe werden sagen, das sei nur ein Traum und werden meinen SchluBfolgerungen nicbt beistimmen : icb aber erwarte zuversicbtlicb eine Zeit, wo durch all die Myriaden borbarer und sichtbarer weltlicber Interessen Amerikas die Faden mannlicher Freundscbaft^ wie ein halbverborgener Einscblag, durcbschimmern werden, warm und zartlicb, rein und suB, stark und lebenslang, in bisber unbekanntem MaCe, — eine Kameradschaft, die nicbt nur den individuellen Cbarakter bestimmen und ihn gefuhlsreich, muskulos, heroiscb und innig machen, sondern aucb auf die allgemeine Politik den nacbbaltigsten EinfluC ausiiben wird. Icb bebaupte, die Demo- kratie bedingt eine solcbe liebende Kameradscbaft als ibr unent- bebrlicbstes Zwillingsgegenspiel, ohne welches sie unvollstandig und unniitz ist und unfahig zu dauern."
So durcbdringen und durchbluten sich die zwei jener Dreiheit: Liebe und Demokratie, und in ihnen die dritte, „ Religion", das beifk nichts anderes, als die aus der staunenden, freudevollen BewuBt- heit des Selbst geborene, immer wache Beziebung zuin Unend- lichen, die ewige Spiritualitat. ,,Bibeln", schreibt Wbitman in den ,,Demokratiscben Ausblicken", ,,mogen Uberlieferung bringen und Priester mogen sie auslegen, aber einzig und allein dem lautlosen Wirken des einsamen Ich ist es vergonnt, in den reinen Ather der
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Anbetuiig einzugehen, die Hohe Gottes /u erreichen und mil dein I'naiissprechlichen Zwiesprache zu pflegen." So sehen wir die drei ,,Krhabenheiten" in einem Herzschlag vereint.
Je inbriinstiger eine Emptindung ist, uin so tiefer vervvandelt sie alle fragwiirdige VerlaBlichkeit und Gewohnung in Traum, in Staunen und Wunder; und so sind gerade diese Calamus-Ge- dichte durchsetzt von den tiefen Zeilen, die der Traumbaftigkeit aller Erscheirmngen gelten, und gerade in ihnen wird alles Er- leben zur transparenten Farbigkeit vor der ruhevoll, warm und groB aufsteigenden Dunkelheit des Todes:
,,O ich glaube, nicht fiir das Leben singe ich hier mein Lied der
Liebenden, — fiir den Tod wohl muB es sein ; Dt'im \vic ruhevoll, feierlich scbwillt er empor in das Reich der
Liebenden, Tod oder Leben erscheint mir dann gleich, meine Seele mag sich
nicht entscheiden, (Obwolil ungewiB, glaube ich doch, daB die hohe Seele der Liebenden
am innigsten den Tod willkommen heiBt.)"
,,Ich will die Worte sagen, die den Tod lustvoll machen ;
So gib mir den Ton an, o Tod, daB ich danach stimme,
Gib mir dich selbst, denn ich sehc, daB du nun mir vor alien ge-
horst, und daB ihr untrennbar verschlungen seicl,
Tod und Liebe."
Tod, nicht als rubevoller VVellenschlag von Sein zu Nicbtsein, sondern in verkrampfter Gewaltsamkeit, als Fieberzuckung ver- irrter Menschheit drohte iiber den Staaten, als sich diese Gesangc aus Whitmans Herzen losten, und er selber und all seine Liebes- und Lebenskraft sollte bald Brust an Brust mit ihm ringen.
An jenein Tage von Lincolns Einzug in Washington lastete dumpfes Schvveigen iiber der begriiBenden Menge. Die Sache der Sudstaaten hatte ihre Parteiganger bis tief in den Norden hinein in den Reihen der Demokratischen Partei, der zum Teil immer noch die Souveranitiit der Einzelstaaten als hochstes zu erhalten- des Gut erschien. Uberdies war man sich bewufit, daB der Siiden militarisch besser vorbereitet war; das Kriegsdepartement der foderativen Regierung hatte bisher in den Handen von Siidlandern
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gelegen. Auch war an sich der aristokratische Siiden mehr an Be- fehlen und Gehorchen gewohnt. Dagegen hatte der Norden frei- lich ein Element einzusetzen, das gerade in Amerika von hochster Bedeutung ist, namlich die Idealitat des Gedankens der Union, die seinen ins Feld ziehenden Sohnen jene fast religiose, kreuz- fahrerhafte Inbrunst niitgab, ohne die der amerikanische Soldat seine besten Fahigkeiten nicht entfalten za konnen scheint.
Gegen Mitternacht des i3. April 1861 las Whitman, der gerade aus der Oper kam, das eben ausgerufene Extrablatt, das den tat- lichen Ausbruch der Feindseligkeiten meldete. Ein Aufruf des Prasidenten zu den Waffen erfolgte am nachsten Tage, und die Jugend New Yorks folgte ihm in Scharen. Unter ihnen auch George Whitman, Walts um 10 Jahre jungerer Bruder, der spater Hauptmann und Oberst wurde.
Fur Whitman, wie fur viele andere, bedeutete dieser Krieg die Probe auf die Zukunft und Lebenskraft der Idee Amerikas und seine Einheit, fur ihn noch in dem tieferen Sinn des Glaubens an die von ihm verkiindete Demokratie der Menschheit. Die Hingabe vieler tau- sender bester Sohne des Landes um eine Idee wurde ihm im Laufe des Krieges immer mehr zum Beweis ihrer Fahigkeit, ein solches mannliches Ideal wirklich zu erreichen. Sein Glaube, dafi die eigentliche Kraft Amerikas in der unbekannten Masse, im breiten Volk, im ygottlichen Durchschnitt" lebe, wurde durch das Massen- erlebnis dieses Krieges genahrt und bestatigt.
Das Fallen der Schranken individuellen Lebens bei hochster An- spannung der Einzelkrafte war ein Element, das ihn im Tiefsten ergriff, wenn er auch freilich jederzeit den Krieg nur als ein Fieber im Leibe der Staatsgemeinschaft empfand, eine Gewaltsamkeit, die nur ertraglich wurde durch den Glauben an eine erhohte Bliite wahrhaft menschlichen Friedens und Gedeihens, die ihm folgen miifite. Er sah im Geist eine Menschengemeinschaft so hoher und herrlicher Art, dafi fur sie die Probe auf den Tod nur wie der letzte, hochste Ausdruck gegenseitiger Liebe und kameradschaft- lichen Zusammenhaltens gegen aufiere Gewalten sein wurde, aus Lust aneinander. Und das reale Erlebnis dieses Krieges mufite ihm wie ein dumpferes Vorspiel zu solcher Gemeinschaft erscheinen, in dem jene hochste Kameradschaft ganz befreiter Menschen nur erst seine dammrigen Blitze spann.
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\V;is aber dkvser Krieg nicht brachtc, bracbte er selber in ihn init. Die ganze Liebeskraft seiner Einsamkeit trug er in die Qualen nnd Angste des wilden Bluthandels hinein, init der Hingebungs- kraft eines wahrhaft grofien Herzeus sich an die realen Forde- rungen des Augenblicks verschwendend. Er bereitete sich mit fast sakraler Inbrunst auf etwas vor, das noch dunkel vor ihm lag, aber dessen opfervolle GroBe er fuhlte. Und wenn wir wissen, dafi cr in den vier Kriegsjahren als unablassiger Troster, Pfleger, Lebens- und Freudespender alle seine bisber unerschiitterliche Gesundheit nnd seinen unvergleichlichen lebendigen Magnetismus Tag und Nacbt an die Verwundeten und Sterbenden verschenkte, uni schlieBlich als ein korperlich Gebrochener aus diesen furchtbaren Jabren hervorzugeben, so werden \vir riickblickend die ergreifende Bedeutung der Zeilen fiihlen, die er am 16. April 1861 in sein Tagebucb schrieb: ,,Ich babe an diesem Tag, in dieser Stunde, micb entschlossen, mir einen reinen, vollkommenen, wobltuenden, reinbliitigen, starken Leib zu schaffen, indem ich alle Getranke auBer Wasser und reiner Milcb vermeide und auch alle iippigen Speisen und reicben Mahlzeiten, — einen edlen Leib, einen ge- lauterten, gereinigten, vergeistigten, ungeschwachten Leib." Fiihlen \\ir bier nicht den erschiitternden Willen, die Fragwiirdigkeit der Avirren Geschehnisse des Lebens durch eigene, bohere Inkarnation zu bezvvingen? GroBe und Adel und Liebe aus der dumpfen Ver- krampftheit der Tatenwelt herauszuringen und erlosend in die eigene Brust zu nehmen?
Wahrlich nicht in der Haltung und im Geiste eines, der sich Mopfert" ! sondern mit derselben Lust, mit der er sich, aus seiner un- gebrochenen, alles mitfuhlenden Natur heraus an die von Gut und Bose durchbrauste Fiille des GroBstadtlebens hingegeben hatte; init demselben Liebesfeuer, mit dem er einsain unter Buschen und Blumen und Geistern von Kameraden im Wald, am Teichrand ge- \vandert war und seine heiBen GriiBe gefliistert hatte; mit der Lust am Lebendigen und seinem ratselhaften, suBschaurigen Sein in- mitten des Unsichtbaren, Unendlichen. Mit Opfergefuhlen scbon darum nicht, weil in solchem ,,Giirten seiner Lenden" auch das Sichriisten zu neuen Gesangen, zu neuer, gestalteter Vergeistigung des wirren Geschehens lag, weil er sich als den Einzigen fuhlte, der das wahre, geistige Arom dieses Krieges und derer, die in ihm
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stritten und litten, in unvergangliche Worte einzufangen berufen sei, seinen Sinn und seine Wesenheit einzuweben in das groBe Ge- webe der Zukunft, an dem er spann.
Wahrend der ersten Monate des Krieges blieb Whitman zu Hause bei der Mutter. In dieser Zeit entstand bereits ein Teil der ,,Trommelschlageft, Gesange, die noch nicht das Arom personlichen Miterlebens trugen, sondern mehr ein Widerhall der erschiitterten, ersten Kriegsstimmung waren, des Aufbrausens jener freilich schnell- verrinnenden Woge von Gemeinsamkeit, Hingabe, Begeisterung*. Als im Dezember 1862 George Whitman in der Schlacht bei Fre- dericksburg verwundet worden war, brach Walt an die Front auF nnd pflegte ihn zuerst im Feldlager am Rappahannok und spater in einem der Washingtoner Lazarette. So began n die Tatigkeit des „ Wundpflegers", die bis zum Ende dieses iiberaus blutigen und wechselvollen Krieges und noch einige Zeit dariiber hinaus dauerte.
Um die AusmaBe dieses Bruderkampfes einer zerrissenen Nation nur ungefahr anzudeuten, sei gesagt, daB die Armeen der Union zum Beispiel in der Schlacht bei Fredericksburg i3ooo, bei Chan- cellersville 60000 und auf den Schlachtfeldern in Virginia wahrend des letzten Kriegsjahres iiber 100000 Mann verloren; Zahlen, die an den damaligen Verhaltnissen gemessen auBerordentlich hoch sind. Dabei waren die Kampfe von jener Erbitterung durchgliiht, wie sie just in Bruderkriegen mit besonderer Wildheit zu toben pflegt. Mehr als einmal hing das Schicksal des Nordens an einem Faderi, bis end- lich Lincoln in General Grant den Mann fand, der die Sache der Union zum Siege fiihrte. Am 3. April i865 ergaben sich die letzten Truppen der Siidstaaten an ihn. Am 14. April wurde Abraham Lincoln, der Amerika durch diese vier furchtbaren Jahre hindurch- gesteuert hatte, ermordet. Er ware auch ohne diesen tragischen Ausgang nicht wiedergewahlt worden, denn trotz des Sieges war das MiBtrauen der grofien Mehrheit der Amerikaner gegen eine tibermachtige Zentralgewalt allzu elementar.
„ Wahrend meiner zwei Jahre in den Lazaretten und im Feld," schrieb Whitman 1864, ,,habe ich iiber 600 Krankenbesuche ge- macht und bin bei etwa 18 bis 20000 \7erwundeten und Kranken
* Als Beispiel dieser schwiicheren, vom Damon weniger gesegneten Gesange habe ich in Band II dieser Ausgabe nur die ,,Erzahlung des Hundertjahrigen" gebracht.
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/jewesen uud habe ihnen Seele und Leib, wenigstens in einigem ge- ringen MaBe, in der Stunde der Not gestiirkt." Er hatte keinerlei Amt und Stellung bei den Lazaretten. Er \\ohnte in Washington l>ci der befreundeten Familie O'Connor und brachte das Geld, das er brauchte, notdiirftig durch Zeitungsbeitriige auf. Das meiste da- \un verwendete er darauf, allerhand Erfriscbungen, Biicher, Schreib- papier, Tabak u. s. f. fur seine Pfleglinge zu kaufen, aucb warb er bei Freunden eifrig urn Beitriige fiir diesen Zvveck. Die Arzte und Lazarettbeamten sahen, daB seine Gegenwart den Verwundeten \\ ohltat und lieBen ihn frei gewiihren. Auf seine Besuche pflegte er sich sorgfaltig vorzubereiten. Er vvuBte, daB seine wesentlicbe Heil- wirkung auf der Gesundheit und reinen Ausstrablung seiner ganzen Personlichkeit beruhte, daB seine bloBe, gelassene, liebeverstromende Gegenwart etwas war, was die armen Burschen mebr starkte und ermunterte, als irgend etwas sonst. Er kraftigte sicb in der freien Zeit durch lange Spaziergange in der Natur, nahin jedesmal vor den Besuchen ein Bad und aB kraftig, wenn auch sonst seine Nahrung nur sehr sparsam und bescheiden war. ,,Walt, komm wieder!" war der GruB, der ihm in mancher Nachtstunde nachgerufen oder -ge- Hiistert wurde. Die ziirtliche und feurige Kameradschaft, die er in einer bliiheiiden Menschengemeinschaft der Zukunft innerlich er- schaut hatte, iibte er hier in der zerstorten, leidvollen Wirklichkeit. ,,lch glaube nicht," schrieb er an seine Mutter nach Brooklyn, MdaB sich Menschen je so geliebt ha ben, wie ich und diese armen Verwundeten und Sterbenden uns lieben." Er saB bei ihnen, legte Verbande an, wusch Wunden aus, las ihnen aus der Bibel voi\ schrieb Briefe in die Heimat fur sie und half ihnen in der letzten Stunde. Tag fiir Tag und in vielen Nachteu. Er fiihrte iiber seine Pfleglinge genau Buch und notierte die Bediirfnisse und kleiuen Lieblingswiinsche eines jeden. Und was mehr als alles war: aus jeder seiner Gaben, seiner Beriihrungen, jedem seiner Worte stromte die Zartheit und Liebe, die nur aus der Ganzheit und Reinheit von Leib und Seele stromen kann. In der Nahe des Todes bliiht das Liebenswerte am Menschen mil geheimnisvoller Losgelostheit auf, und \vir fiihlen gleichsam die Strome weher und lustvoller magne- tischer Kraft, mil der >Y hitman sich iiber diese Leidenslager beugte; fiihlen das ,,duftende Gras seiner Brust", das aus Kraft und Freude gesproBt war, sich in zartlich-miitterlichem Hauch zum
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Leiden und zur Schwachheit neigen. Ohne Schwachlichkeit selber, ohne Sentimentalitat, gelassen, lind, und so ,,elektrisch", wie nur je eine AuBerung seiner hochsten Lust.
Das Tiefste dieser innigen Gemeinschaft mogen wir vielleicht almungsweise begreifen, \venn wir uns darauf besinnen, daB alles Verlangen Whitmans nach hoherer, liebevollerer Menschheit und die dammrigen Gestalten solcher Menschheit im Grunde in seiner Brust lebten, eingehiillt in die leuchtende Sphare seines eigenen Seins und seiner eigenen Dichterkraft; und daB nun bier in der absondernden, durch den Tod von aller Herkommlichkeit gelosten Sphare des Nur-Menschseins, des Nur-Liebebediirfens ein Etwas waltete, das, obwohl gewandelt, doch jener eirisamen Sphare der eigenen Innerlichkeit verwandt war. Der tiefe Drang Whitmans zu natiirlichster Unmitte Ibarkeit, der sich schon in seinem vorherigen Leben und in dem ganzen, gradezu gerichteten Sprechton seiner Dichtung ausdriickte, fand hier in den durch Leiden gelosten und kindlich gemachten Seelen Widerhall und begierige Aufnahme. - Whitman selber war weit von jener Gesinnung entfernt, die um dieser Samariterdienste willen spaterhin eine Art Heiligenschein um ihn verbreiten wollte: er wies all solche Verherrlichung iibereifriger Freunde scharf zuriick und weigerte sich noch in Alter und Krank- heit, einem Gesuch um eine staatliche Rente fur diese Tatig- keit in den Lazaretten zuzustimmen. Ebenso verfalscht ist die salbungsvolle Befriedigung, die einige angelsachsische Kritiker iiber diese seine Selbstaufopferung bezeigen, gleich als habe er dadurch seine vorherige ,,Ich-Besessenheit" und Unbandigkeit wieder gut gemacht und den AblaB durch sie verdient. Diese tatigen Liebes- dienste waren ihm wehe Lust und waren eine natiirliche Bliite seines ganzen, ungebrochenen Seins.
Wahrend all dieser Jahre fand er immer noch Zeit, regelinaBig an seine Mutter zu schreiben. A us diesen Brie fen fiihlen wir, wie tief und unablassig er mit ihr verbunden war. Der iiber Vierzig- jahrige spricht in ihnen wie ein Kind, das zum erstenmal von Hause weg ist, er beichtet der Mutter alle seine kleinen und kleinsteri Note und Angelegenheiten, beschreibt ihr etwa genau den Zustand seiner Kleider, die Locher und schadhaften Stellen, irgendwelche Neuanschaffungen, oder berichtet, unter Entschuldigungen, daB er es nicht friiher getan habe, von dem Verkauf eines alten Rockes,
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den er nicht inehr habe tragen koniieu, erzahlt, was er morgens, inittags und abends zu sich nimmt, mit wem er verkehrt u. s. 1. Er verfehlt auch nie, sich nach den Sorgen der Mutter zu erkun- digen, nach den Geschwistern, den Geldangelegenheiten, und gibt Uatschlage bei Krankheitsfallen usw. Ein zartlicher Humor leuchtet durch diese Briefe. Ab und zu sind Klagen vernehmbar iiber seine eigene Gesundheit, die allmahlich durch die tJberanstrengung und durch den vielen Aufenthalt in einer vergifteten Atmosphare zu leiden begann. Einmal zog er sich eine schwere Blutvergiftung an der Hand zu, die ihm fast den ganzen Arm gekostet hatte. Erste leichte Schwindelanfalle und voriibergehende Lahmungen beun- ruhigten den bisher an keinerlei Krankheit oder Schwache Gewohn- ten. Er litt schwer unter dem Malariaklima und der unmaBigen Hitze Washingtons. An besonders gliihenden Tagen ging er mit Sonnenschirm und Facher aus. Die Leiden des Krieges quollen im Sommer 1864 noch einmal in fmsteren Giftwolken schwerer denn je in die von Verwundeten iiberfullte Stadt. Es war das Jahr, in dem General Grant zum letzten Ringen den Oberbefehl iiber- nahm. — ,,O Mutter," schreibt Whitman in diesen Tagen, ,,zu den- ken, daB wir nun bald wieder hier haben werden, was ich nun schon so oft gesehen habe, die schmerzbeladenen Fuhren und Ziige und Bootsfrachten von armen, blutigen, bleichen, verwundeten jungen Mannern . . Es ist schrecklich, daran zu denken . . Was fur ein furchtbares Ding ist der Krieg! Mutter, es scheinen keine Menschen zu sein, sondern ein Haufen von Teufeln und Metzgern, die einander hinschlachten." Und eine Woche spater: ,,Ich er- schrecke wirklich vor der Welt . . . Ich bin zwei Monate lang zwi- schen Leiden und Tod gewesen, schlimmer als je. Das einzige Gute ist, daB ich ihren Qualen, ihren getriibten Seelen und ihren Lei- bern ein paar Sonnenblicke bringen konnte. — O es ist furchtbar und wird noch schlimmer, schlimmer, schlimmer!" — Dazu kam die standige Sorge um seinen Bruder George, der in alien groBeren Schlachten dieses blutigen Endkampfes mitfocht, und um den er dop- pelt bangle im Gedanken an die Mutter. Die Zahl der Verwun- deten, die irrsinnig wurden, stieg immer mehr. Freunde und Arzte driingten Whitman, fur einige Zeit im Norden Erholung zu suchen. Er weigerte sich. Er schrieb an die Mutter, er konne den Gedan- ken nicht ertragen, nicht da zu sein, wenn etwa George verwundet
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nach Washington gebracht wiirde. Endlich aber warf ihn der gliihende Mittsommer 1 864 so darnieder, daft er seinen Posten ver- lassen muBte. Er kehrte nach Hause zuriick, \vo er sechs Monate lang blieb.
Wahrend dieser Zeit legte er die letzte Hand an die ,,Trommel- schlage", die im folgenden Sommer in New York als Sonderausgabe gedruckt wurden. Die dritte, Bostoner Ausgabe der ,,Grashalme" von 1860 war in etwa fimftausend Exemplaren verkauft und dies- mal nicht mit einem solchen Entriistungssturm aufgenommen wor- den. Aber der Kriegsausbruch hatte den jungen Verlag gezwungen, seine Tatigkeit einzustellen.
Auch in Brooklyn und New York konnte sich Whitman nicht enthalten, die Lazarette zu besuchen, und imDezember 1864 kehrte er nach Washington zuriick, vor allem, um etwas fur seinen Bruder zu unternehmen, der inzwischen gefangen genommen worden war und in dem grausigen Wintergefangnis von Dannville schmachtete. Durch ein Gesuch an General Grant gelang es ihm, George zu be- freien, der dann im Fruhjahr trotz aller Leiden wohlbehalten nach Hause zuriickkehrte.
Im Februar i865 erhielt Whitman eine kleine, leidlich bezahite Beamtenstelle im indianischen Biiro des Departements des Innern, wo ihm der Umgang mit den Eingeborenen viel Freude machte.
Am 14. April, kurz nach FriedensschluB und nach dem Einzug der Truppen, wurde Lincoln im Theater ermordet. Whitman war zu der Zeit auf Besuch zu Hause und erfuhr den genauen Hergang des Ereignisses durch einen befreundeten Augenzeugen.
Wahrscheinlich hatte Whitman den Prasidenten nie personlich kennengelernt. Aber er war ihm in Washington oft begegnet und hatte jedesmal Griifie einer besonderen, gegenseitigen Sympathie mit ihm ausgetauscht. Eine tiefe, vergeistigte Liebe zu dem hage- ren, ernsten Mann hatte Whitman seit langem erfiillt, in dessen gramzerfurchten Ziigeri sein Seherblick das kindliche Leuchten der Idealitat erkannte. Nun hatte der vielbefehdete Fiihrer, der das Opfer des Hasses gegen eine allzustarke Verkorperung der Uber- macht des Nordens und des Gedankens der Oberhoheit der Union iiber die Einzelstaaten ge worden war, mit seinem Tode gleichsam die schwer errungene Einheit von Norden und Siiden besiegelt. Fur ganz Amerika erhielt seine Gestalt durch dieses tragische
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Knde Hie Weilir CMK-S Sinnbildes, die sic fur Whitman langst geh;il>t luittc.
Aus dcr alinungsvollen Unruhe dieser Friihjahrstage und -nachte heraus, die der Ermordung Lincolns in der empfindlichen Seele Whitmans vorausgingen, aus dem weh-beseligenden Wissen um die Wirklichkeit des „ allesumhiillenden Todes" und aus der mystisch-siiBen Liebe zu der so im Dunkeln aufleuchtenden Welt der Lebenden heraus sang nun der selber im Innersten seiner freudestarken Wesenheit Erschiitterte dem Ermordeten jene zart- gewaltige Nanie, die einer seiner beriihmtesten Gesange wurde: das ,,Andenken an President Lincoln", worin er das schmerzlich- einsame Lied der Hermitdrossel, die in den Sumpfzedern schlagt, und das holde Wunder des bliihenden Flieders und den bleichen traurigen Glanz des Venusgestirns zu einern Weihelied fur die ,,siifieste, weiseste Seele aller Volker und Lander" verwebt und /ugleich zu einem Loblied auf den Tod, so voll bebender Natur- kraft und geheimnisvoll in die Nacht geschmiegter Innigkeit, daB wir, wie kaum irgendwo in aller Dichtung der Welt, gleichsam das Arom alles Seins und Vergehens wie einen feucht-wiirzigen Seeufergeruch atmen.
Hier, wie auch in den letzten Gesangen der ,,Trommelschlage", schwingt ein Ton, der bisher nur hie und da, am deutlichsten in den verwandten „ Calamus "-Liedern, aufgeklungen war: ein ge- stillter, schmerzlich-wonnevoller Ton, wie unter Sternen ange- schlagen, in duftenden Nachten tiefster, schweigender Einsamkeit.
Weh, das in aller Lust Whitmans immer vibriert hatte und das nur stumpfere Ohren nicht herausgehort batten, mannlich-starkes Weh, das in jeder wahren Lust am Wunder des Daseins lebt, tonte nun voller und inniger mit. Es scheint, daB in jener Zeit die Saiten der Seele Whitmans so zum ZerreiBen gespannt waren, daB er sie nur unter Schmerzen beriihren konnte. Freunde haben erzahlt, sie batten ihn wohl von der Strafie in irgendeine Alice oder unter einen Torbogen treten sehen, wo er dann ein Papier hervorzog und schrieb, wahrend ihm die Tranen iiber das Gesicht liefen. \Venn solche Berichte auch Ubertreibungen Begeisterter sein mogen, so *ind sie doch Auswirkungen der Schwingung einer Realitat.
Um Whitmans immer wachsende Neigung zum Ubersinnlichen, wie sie sich in den Gedichten der letzten Epoche seines Lebens
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offenbart, voll zu verstehen, miissen wir uns immer aufs neue gegen- wartig halten, daB ihm das Ubersinnliche nicht weniger wirklich war, als irgendeine sogenannte Wirklich keit. Wenn er eiwa in dem Gedicht an einen Freund, den er im Traum gestorben glaubte, ausspricht, die Toten seien iiberall gegenwartig, die Stadt Manna- hatia, Boston, Chikago, Philadelphia sei von Toten so voll wie von Lebenden, ja vielmals voller als von Lebenden, so ist ihm das eine Wahrheit, nicht weniger gewifi als seine Hand oder sein Auge. Oder wenn er, das Getriebe der Boote, Dampf- und Segelschiffe von der Brooklyn-Fahre aus beschauend, sich selber als leibhaftigen Gefahrten einer bier an deiselben Stelle nach hundert Jahren ebenso wimmeJnden Menschheit erblickt und voraussagt, so ist ihm das Wirklichkeit. ,,Ich steige", ruft er im ,,Leb wohl", ,,empor aus meiner Menschwerdung, wieder neuen Formen zu!" Eine ewigeStufenfolge zieht sich durch alles Sein, und zugleich lebt das voile Wunder des Seins in jedem Zustand der sich bewuBt werdenden Seele. Den Getriibten tauscht das Wirrsal von Gut und Bose, von Ver- ganglichkeit und Ewigkeit, aber der Reine sieht die Wahrheit.
DaG in solchem Schauen dennoch die Seele auch in Schmerzen erzittern kann, ja in Schmerzen, die tiefer erschuttern, als dumpfes Leid der im Alitag Gebundenen, von Schmerzen, die gleichsam iiberpersonlich an sich selber das tlberwinden des Verganglichen vollziehen, ist kein Widerspruch zur Wahrheit. In welchem Sinne eine Seele leidet, das ist immer wieder das Stigma ihrer Erloser- kraft an sich und anderen. ,,Denke an die Seele, nahre die Seele, iibe die Seele", ob in Leid oder Lust, ist vor dem Unendlichen und inmitten des Unendlichen eines. Die ,,Freude", die Whitman ver- kiindet, ist nichts anderes, als das iminer Starker-Werden der Seele in A llcm, was durch sie hindurchflutet.
Der letzte Teil seines Lebens ist das Beispiel solchen Glaubens, nicht mehr oder weniger, als seine Jugend und Manneszeit es war; nur stiller, an eigenes Leiden geschmiegter und daher vielleicht nocb weihevoller.
In die Zeit jenes gespannten Zustandes seiner Seele fiel ein klein- lich-brutales Ereignis, das Whitman freilich auBerlich mit voller Gelassenheit hinnahm. Der neu ernannte Chef seines Departements, Mr. Harlan, fand in Whitmans Pult, wahrscheinlich aufmerksam gemacbt durch einen boswilligen Kollegen, das Manuskript fiir die
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neue Ausgabe der ,,Grashalme", die Whitman vorbereitete. Harlan war Methodist, und man kann es begreifen, dafi er iiber den In- halt gewisser Gesange so emport war, dafi er sich zur sofortigen Entlassung des Verfassers entschied. Die Entlassung lautete ohne Begriindung kurz: ,,Der Dienst Walter Whitmans aus New York als Beamier im Indianischen Biiro ist von diesem Datum ab auf- gehoben. — 3o. Juni i865."
Der edelmiitig-hitzige Freund Whitmans, O'Connor, ging sogleich zu dem ihm bekannien Kronanwalt Ashton, und dieser bewog Harlan zwar nicht, den Dichter in seinem Amte zu lassen, aber doch, ihn an Ashtons Departement zu iiberweisen. Auch sonst schadete das scharfe Vorgehen Harlans Whitman nicht, da er in Washington iiberall bekannt und beliebt war, seine wGrashalme" aber so gut wie niemand gelesen hatte. Journalisten und Mit- beamte traten fur ihn ein, und O'Connor selber veroffentlichte seine bekannte Schrift MTheGood Gray Poet" (,,Der gute graue Dichter"), in der er Harlan aufs scharfste angrifF. Einige Zeit spater gab ein anderer Freund, John Burroughs, die erste biographische Studie iiber Walt Whitman heraus. Whitman selber bereitete fur das Jahr 1867 eine neue, die vierte Auflage der yGrashalme" vor, die im Oktober dieses Jahres erschien. Sie enthielt wenig Neues, die ,,Trommelschlage" waren noch nicht in sie aufgenommen; geringe Anderungen waren vorgenommen, Whitman schrieb an seine Mutter, er habe einige iibertriebene Redewendungen und zwei oder drei ganze Stellen weggelassen.
In England hatte sich inzwischen W. M. Rossetti zum warmen Fiirsprecher Whitmans gemacht und veroffentlichte nun einen Aus- wahlband der ,,Grashalmea, den Whitman nach einigen Bedenken gegen eine gekiirzte Ausgabe seines in alien Teilen organisch ge- wachsenen Werkes dennoch gel ten lie(3. Diese Ausgabe gewann ihm einen ansehnlichen Kreis von Verehrern im Mutterland, zu denen Manner wie Tennyson, Dante Gabriel Rossetti, Swinburne, J. A. Symonds u. a. zahlten. Vor allem eroberte sie ihm das Herz einer der bedeutendsten Frauen des damaligen England, der Witwe von Alexander Gilchrist, des beriihmten Biographen von William Blacke, Anne Gilchrist, die sich sogleich von Rossetti ein Exemplar des vollstandigen Werkes geben lieB und in einem leidenschaftlich- warmen Essav, ,,A womans estimate of Walt Whitman"
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besonderen fur die verfehmten „ Kinder Adams" eintrat, wozu fiir eine englische Frau nicht wenig Mut gehorte. Sie trat auch in Brief- wechsel mit Whitman selber (der allerdings fast ausschlieBlich von ihrer Seite bestritten wurde) und siedelte spater mit ihren Kindern (im Jahre 1876) nach Philadelphia iiber, um in der personlichen Nahe des verehrten Mannes zu leben.
Abgesehen von einer ganzen Reihe von Besuchern, die ihm sein wachsender Ruhm zufuhrte, lebte Whitman still und einfach in dem kleinen Kreis gelehrter und hochgebildeter Freunde, durch den er sich jedoch nicht an seiner alten Gewohnheit hindern lieB, mit schlichten Menschen aus dem Volk freundschaftlich zu ver- kehren. Vor allem datiert aus dieser Zeit seine bis an das Ende seines Lebens dauernde, innige, vaterlich-zartliche Kameradschaft mit dem jungen Irisch-Amerikaner Peter Doyle, der nach dem Kriege, in dem er verwundet worden war, eine Stelle als Pferde- bahnschaffner auf der Pennsylvania Avenue erhalten hatte. Whit- man lernte ihn in einer stiirmischen Winternacht kennen. Er kam grade von Burroughs und saB, in eine groBe, weiBwollene Decke gewickelt, als einziger Fahrgast im Wagen. Der junge Schaffner, der drauBen frierend und einsam stand, fiihlte sich angezogen durch den Mann mit dem grauen Bart und dem sonngebraunten Gesicht, trat in den Wagen und setzte sich zu ihm. Und Whitman fuhr, anstatt auszusteigen, die ganze Strecke noch einmal mit ihm, da sie soviel miteinander zu reden batten. Seitdem kam Peter taglich nach beendeter Fahrt vor das Schatzhaus, in dem Whitmans Biiro lag, und holte ihn zu Spaziergangen ab, bei denen sich oft die anderen Freunde anschlossen. Der junge Mensch war durch die Kriegsereignisse innerlich aus dem Gleichgewicht gebracht; er schlug sich mit Selbstmordgedanken und dergleichen Gespenstern herum, und fand in Whitmans Warme und Liebe den Halt seines Lebens wieder. Die Briefe Whitmans an ihn, die er spater, als er Washing- ton verlassen hatte, an ihn schrieb, fiillen einen ganzen Band und sind unter dem alten Gedichttitel „ Calamus" erschienen. In dieser innigen Freundschaft bebte der starke vaterlich-mannliche Eros fort, der Whitman dazu befahigt hatte, die beste Kraft seines Lebens an die Hunderte undTausende leidender Opfer des Krieges zu verstromen.
Die politische Entwicklung der Nachkriegsjahre war fiir Whit- man eine tiefe Enttauschung. Grant war zum Prasidenten gewahlt
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worden, und der militarisch verdiente General erwies in den acht Amtsjahren seine vollige UnFahigkeit als Politiker. Anstatt, wie es in Whitmans Geist gewesen ware, die Herzen des Siidens zu ge- winnen und nun die \vahre, innere Einheit der Union zu schaffen, wurde in radikal-republikanischer Obertreibung den aufstandischen WeiBen das Stimmrecht entzogen und den dafiir ganzlich unreifen Negern verliehen, wobei Stimmenkauf und Korruption jeder Art ein immer schamloseres Wesen trieben. Wir konnen uns vorstellen, mit welchem Widerwillen der von der Idee einer Gemeinschaft freier, selbstbeherrschter, liebesstarker Menschen erfullte Dich- ter etwa die Scbaren der Schwarzen initansah, die nach einem Wahlsieg ,,\vie ebensoviel losgelassene wilde Bestien" unter Waffen durch die StraBen tobten. Seit 1868 arbeitete er an einer Schrift, in der er die Umrisse wahrer Demokratie und somit wahrer Mensch- licbkeit zu entwerfen unternabm, jene gewaltige Bilanz der Ge- dankenfiille, die ihm im Kriege gereift war und die schlieBlich im Jahr 1871 als Sonderbroschiire unter dem Titel „ Demokratische Ausblicke" erschien. Trotz schneidendster Kritik an dem gegen- wartigen Zustand Amerikas, an seinem Diinkel, seiner geistigen und seelischen llohlheit, seinem alle edle Besinnung erstickenden Materialismus, seiner kiimmerlichen Literatur baut er dennoch auf die unerlosten Krafte in der breiten, gesunden Masse und fordert und verkiindet den groBen Dichter, der den geistigen Ausdruck bringen soil fur die Scharen edler, kraftvoller, stolzer Manner und tiicbtiger Weiber, die allenthalben, unabhangig von dem korrupten Staats-, Gesellscbafts- und Literaturbetriebe, anzutreffen sind, wenn man nur Augen hat, zu sehen. Der grofie Dichter soil selber nur ein Teil der Masse sein, mit ihr leben, mit machtvollen, schlichten Menschen aus dem Volke umgehen, ihre robuste Wesen heit in sich verkorpern und gestalten; frei von feudaler und kirchlicher Auto- ritat und Tradition, genahrt von der modernen Wissenschaft, leib- hattig erfiillt von der Gleichheit des Geistes Gottes in alien, soil er Angesicht zu Angesicht der herrlichen, frischen Welt der Menschen und Dinge gegeniibertreten und sie deuten und neu schaffen und die Seele in Allen beriihren, sie alle zu dem einzig begliickenden BewuBtsein ihrer Seele erwecken, ihres einmaligen, wunderbaren Selbst, das ins Ewige verkettet ist. Seine Sprache soil die der hoch- sten Natiirlichkeit sein, ebenbiirtig der Natur selber, ebenbiirtig
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dem Unaussprechlichen. Den Menschen zu ziichten, — das ist die Losung des grofien, jedoch nur scheinbaren Widerspruchs zwischen Individualismus und Gemeinschaft. Alle politischen Recbte und Freiheiten sind nichts, wenn nicht der freie, vollentfaltete Mensch geschaffen wird, der sie tragt und ausiibt und dem Gesetz, das die De- mokratie verkorpert, dem Gesetz der Entwicklung, die innere Freiheit gibt und warmen Glanz gegenseitiger, lebendiger Liebe und Kamerad- schaft. Die Demokratie soil nichts Geringeres sein, als die mensch- liche Sphare, in der ihre Einzelnen miteinander leben, eine neue Erdenluft, die alle Umgangsformen, Sitten, Handlungen bestimmt und Wohlgefuhl, Kraft, Schonheit, Giite, Gastlichkeit, Duldsamkeit lebendig zwischen Allen und von Allen zu Allen fluten lafit.
Da alle Neuschopfung in Kunst und Leben nur aus der beson- deren Wesenheit ihrer Rasse und ihres Volkes moglich ist, so mu6 aus Amerika das hochste Amerikanische entwickelt werden. ,,Das Hochste aber und die Kronung der Demokratie ist, daB sie allein alle Nationen, alle Menschen noch so verschiedener und entfernter Lander zu einer Bruderschaft, einer Farnilie vereinen kann und immer zu vereinen bestrebt ist. Sie ist der alte, immer wieder neue Traum der Erde, der Traum ihrer altesten und jiingsten Vol- ker und liebsten Philosophen und Dichter. Nicht nur das halbe Ziel des Individualismus, der isoliert; sondern auch die andere Halfte, die da ist Zusammengehorigkeit und Liebe, die ver- schmilzt, bindet und einigt und alle Rassen zu Kameraden und Briidern macht. Beide mussen lebendig gemacht werden durch die Religion (die einzige, wiirdigste Erhoherin von Mensch und Staat), die in die stolzen Gewebe der Materie den A tern des Lebens h audit. Denn im Herzen der Demokratie ruht letzten Endes das religiose Element. Alle Religionen, alte wie neue, wohnen dort. Und die Idee der Demokratie kann sich nicht eher in strahlender Schonheit und Gewalt verwii klichen, als bis jene, die die beste und letzte, die geistige Frucht tragen, in voile Erscheinung getreten sind."
,,Im Herzen der Demokratie ruht das religiose Element*1: denn eben die einzig und allein aus stillster Einsamkeit und tiefster Ver- senkung der Einzelseele geborene mystische Einheit mit der gott- lichen Allgegenwart, mit der Allseele wird in der erhohten Ge- meinschaft gleich ehrfurchtig-freier Seelen zu lebendiger Liebe und Freude, strahlend und widergestrahlt.
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Der ganze gewaltige materielle Aufschwung Amerikas ist dazu verurteilt, der furchtbarste Fehlschlag aller Zeiten zu werden, wenn uicht aus ihm sich solche Vergeistigung und Veredlung des Men- schen emporringt; lieber in Niederlagen und Verlusten zur Er- kenntnis der Seele gefiihrt werden, als die Welt mil alien Gewalten der Materie beherrschen und seellos sein.
Freilich ist Whitman der letzte, nicht anzuerkennen, daB in einem verniinftigen, gesunden auBeren Gedeihen und maBvollem Wohlstand, der aber moglichst Allen zugute kommen mufi, das physische Erdreich sozusagen liegt, auf dem der Typus von Men- schen nach seinem Herzen sich am freiesten entwickeln kann. Ver- flucht aber die irrsinnige, Seele und Leib um ihr Bestes betriigende Hast nach Gewinn, das Zappeln in niedertrachtig verzerrten Be- ziehungen von Mensch zu Mensch, das Herumhetzen in Geschafts- hausern, Salons, Klubs, Bb'rsen u. s. f., das auch noch die Nachte zu schlaflosen Hollen macht und schlieBlich im graBlichen Zahne- klappern eines Todes ohne Wiirde und Majestat endet.
Der Krieg und seine eigenen tiefsten Erfahrungen inmitten der ungenannten Tausende sind ihm die Gewahr fur das Vorhandensein einer stiimmen, freudigen Opferkraft in der breiten Masse dieses Volkes, die zu hoherem BewuBtsein zu erwecken eben die heilige Aufgabe des wahren Dichters, Redners, Fiihrers ist, der den innersten Sinn der Demokratie, des wgottlichen Durchschnitts" er- kannt hat.
Kiihne, strenge und bluhende Verkiindung! Wohin gesprochen und von wem gehort? Von Amerika bislang sicherlich nicht.
DUNKELHEIT UND HELLER ABEND
Willkommen, unaussprechliche Anmut sterbender Tage !
Und ich selber, o Tod, habe geatmet rait jeglichem Atemzug In deiner Nahe und in dem stummen Gedanken an dich.
Gleichzeitig mit den „ Demokratischen Ausblicken" war die fiinfte Auf lag e der ,,Grashalme" erschienen, in die nun auch die yTrommelschlage" eingereiht waren, und zwar waren sie, gleich- sam zum Zeichen, in welchem tiefen Sinne Whitman die Erleb- nisse des Krieges betrachtet wissen wollte, als Angelpunkt des ganzen Buches in die Mitte gestellt. Daneben veroffentlichte er ein kleines, 120 Seiten starkes Bandchen, das u. a. die Nanie auf Lincolns Tod enthielt und nacb einem der schonsten und bedeu- tungsvollsten Gedichte ,,Durchfahrt nach Indien" betitelt war. Hier deutete er den Plan an, gleichsam als rein spirituelles Seiten- stiick zu den ,,Grashalmenft ein Buch Gesange vom Ubersinnlichen zu schreiben, und an anderer Stelle* verkiindete er, dafi er sich nun gereift fuhle, die Gedichte zu schaffen, die das Programm der „ Demokratischen Ausblicke" verwirklichen und alle Staaten Amerikas Hand in Hand ,,in den ungebrochenen Kreis eines Ge- sanges" fiihren sollten.
Aus solchen kiihnen Planen rifi ihn der vollige Zusammenbruch seiner Gesundheit gewaltsam heraus.
Er hatte sich seit der Lazarettzeit nie wieder ganz erholt. In der letzten Zeit batten sich die Anwandlungen von Schwache,
* In der Vorrede zu dem Sonderabdruck eines Gedichtes ,,Wie ein starker Vogel auf Schwingen frei", das er auf Einladung der Vereinigten literarischen Gesellschaften von Dartmouth College im Sommer 1872 b'ffentlich sprach. Derlei Einladungen war er bereits einige Male gefolgt und tat es spater nocli wieder- holt, bis in seine allerletzten Jahre.
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Scliwindel und leichtere Erkrankungen bedenklich gemehrt. Am 28. Januar 1878 hatte er noch bis spat in den Abend hinein am Ofen in der Bibliothek des Schatzhauses gelesen, und sein schlechtes Aussehen war dem Pfortner aufgefallen. Nachdem er sich in seiner gegeniiberliegenden Wohnung zu Belt begeben hatte, wachte er /wischen drei und vier Uhr morgens auf und fiihlte, da6 er Arm und Bein seiner linken Seite nicht bewegen konnte. Er blieb ruhig liegen, bis am Morgen Freunde kamen und den Arzt hoi ten. Er hatte einen Schlaganfall erlitten.
Da die Zeitungen seinen Zustand iibertrieben, schrieb er sogleich an seine Mutter, um sie zu beruhigen ; er sei auf dem Wege zur Besserung und werde in ein paar Tagen wieder an seinem Puke sitzen. Als er sich bei der Pflege seiner Freunde kaum etwas er- holt hatte, bekam er die Nachricht vom Tode der Frau seines Bruders Jefferson, Martha, die er besonders geliebt hatte. Trotz- dem konnte er Ende Marz sich wieder an seine Buroarbeit be- geben, obwohl lahm und von Schwachezustanden des Kopfes geplagt. Eine elektrische Kur tat ihm gut. Anfang Mai jedoch er- krankte seine Mutter, die von Brooklyn nach der kleinen Arbeiter- vorstadt Gamden zu ihrem Sohn, dem Obersten George Whitman, und dessen Frau umgesiedelt war. Da es mit ihr nicht besser wurde, machte er sich, so leidend er selber war, am 20. Mai auf und fuhr nach Gamden. Am 28. schon starb Louisa Whitman. Walt war bis zum letzten Augeriblick bei ihr.
Er wurde von diesem Schlage bis ins innerste Herz getroffen. Als er voll Unrast sich wenige Tage spater an die Kiiste begeben wollte, wohl zu der alten, geliebten Mutter See, hatte er einen schweren Riickfall und mufite sofort in das Haus seines Bruders zuriickgebracht werden, — in dieses Stadtchen, das er nun, ab- gesehen von einer spateren Reise, bis an sein Ende nicht wieder verlassen sollte.
Seine Freunde in Washington sorgten dafur, dafi ihm sein Biiroposten zunachst belassen wurde unter der Bedingung, dafi er einen Ersatzmann stellte. Er erholte sich auch wieder so weit, daB er wenigstens zeitweise das Zimmer verlassen konnte. Aber da- zwischen kamen immer wieder die langen, dunkeln Tage und Wochen, in denen er sich nicht von der Stelle riihren konnte und in denen sein Kopf jedes klare Denken und jede Fiihrung
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versagte und die gra'Blichen Schatten geistiger Umnachtung um ihn die Fliigel regten. Die Freunde, die ihm batten helfen konnen, waren fern. Bei seinem Bruder und dessen Frau fand er zwar liebevolle Fiirsorge, aber keinerlei geistige Labung. Er muBte die Segel des Geistesscbiffs, mit dem er just auf die ,,See des Unbe- kannten" kiihn wie ein Kolumbus der Seele batte hinausfahren wollen, streichen. Er, der gewohnt war, seine eigene Fiille und Kraft zu verstromen, muBte sich nun mit letzten inneren Kraften an das bedrohlich schwindende BewuBtsein klammern, um sicb iiber den Tiefen der Finsternis zu balten. Nur wer je in sicb selber in auBerster Not, Einsamkeit und Schwache um Seelenkraft und -bait gerungen hat, wird die pathetiscbe GroBe jenes ,,Den- nocb" begreifen, zu dem sicb Wbitman in diesen furcbtbaren Jabren immer wieder emporrang.
Der Gedanke an die Mutter verlieB ihn nie. ,,Piet, mein liebster Sohn", schreibt er an Peter Doyle, ,,ich denke immer noch, ich werde durchkommen, aber die Zeit allein kann das entscbeiden. Mutters Tod liegt mir noch immer auf der Seele, die Zeit liiftet diese Wolke nicht von mir." Und einen Monat spa'ter: ,,Ich habe das Gefiihl, als ob ich wieder kraftiger werde und freier im Ropf
— beinabe so, wie ich vor Mutters Tod war, — aber ich kann micb damit noch nicht versohnen — es ist die groBe Wolke meines Lebens — nichts, was je vorher geschah, hat mich so getroffen."
— „ Nichts, was je vorher geschah" — wenn wir das, nach diesem gedrangten Bericht iiber sein Leben, durchdenken, werden wir die unendliche Kindesliebe spiiren, die hier in verzweifelter Ohnmacht ringt. Nach Jahren setzte er gleicbsam als Gedenkstein dieses Ge- dicht in die MGrashalme" :
Gleichsam an deinen Toren selber, Tod,
Am Eingang zu den grenzenlosen Dammergriinden deiner Herrschaft,
Fiir das Gedachtnis meiner Mutter, fur die heilige Einheit der
Mutterschaft, Fiir sie, begraben und hingeschieden, doch nicht begraben, nicht ge-
scliieden von mir (Ich sehe wieder das stille, giitige Antlitz, noch immer frisch und
schon, Ich sitze bei der Gestalt im Sarg,
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Ich kiisse und kiisse wiederum krampfhaft die lieben alten Lippen, die Wangen, die geschlossenen Augen im Sarg):
Fur sie, das vollkommene Weib, tatig, geistig, mir von aller Erde, von Leben und Liebe das Teuerste,
Grabe ich eine Inschrift hier, bevor ich scbeide, inmitten dieser Gesange,
Und seize einen Grabstein hier.
Im Sommer 1874 wurde Whitman von einem neuen Chef seines bescheidenen Postens in Washington enthoben, was freilich vom Standpunkt der Behorde aus zu begreifen war, da er nun seit acht- zehn Monaten krank war und keine Aussicht bestand, daB er in absehbarer Zeit sein Amt wieder wiirde iibernehmen kb'nnen.
Seine materielle Lage, die an sich bescheiden genug gewesen war, wurde dadurch bedenklich. Er hatte einige geringe Erspar- nisse zuruckgelegt, aber sie gingen nun rasch auf die Neige. Er war jetzt in klareren Stunden damit beschaftigt, seine Kriegstage- biicher zur Herausgabe vorzubereiten, und schrieb auch kleine Aufsatze fiir Zeitungen und Zeitschriften, — ein Verdienst so recht von der Hand in den Mund. Der Ertrag der ^Grashalme" blieb immer noch sehr gering, und selbst um ihn wurde er, wie es zu jener Zeit noch moglich war, von den Buchhandlern zum Teil betrogen.
Trotz allem und allem aber rang er sich zu zwei seiner er- schiitterndsten Gediclite durch, in denen er das Leid in sinnbildliche Gestalt zwang: zu dem MGebet des Kolumbus" und dem MGesang vom Rotholzbaum", die das Vertrauen auf den gottlichen Plan und das wwahre Licht" und den freudigen Untergang desGegenwartigen um des vollkommeneren Zukiinftigen willen verherrlichen.
Im Friihjahr 1876 begann sich der furchtbare Bann, der iiber ihm lag, allmahlich zu losen. Am i3. Marz war in der englischen Zeitung „ Daily News" ein Brief von Robert Buchanan erschienen, der die Vereinsamung und Verarmung des kranken Dicbters warm und eindringlich beschrieb und weitgehende Teilnahme wachrief. Rossetti wandte sich an Whitman mit einer Anfrage, auf welche Weise seine englischen Freunde ihm am besten helfen konnten. Er antwortete wiirdig und schlicht und teilte mit, daB er eben eine neue A ullage, die sogenannte Zentenarausgabe der „ Grashalme " ,
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vorbereite, und wenri die Freunde ihm helfen wollten, so konn- ten sie es am besten dadurch, dafi sie das Bucb kauften. Dar- auf traf sofort eine iiberaus herzliche Antwort ein, samt einem groBeren Barbetrag und der Liste zahlreicher Subskribentea. Das war eine gute Medizin, wie Whitman selber schrieb. Vor allem jedoch fand er in diesem Friihjahr den Weg zu dem Arzt, der ihn in Wahrheit, wenigstens soweit es nocb moglich war, heilen sollte: zur Natur. Seine Gesundheit hatte sicb so gebessert, daB er gegen Ende April aufs Land fabren konnte, auf die Farm einer befreun- deten Familie Stafford, und bier sog er wahrend sechs Jahren, in immer wiederholten Besuchen von Camden her, die Heilkraft der Stille und der Gemeinschaft mit Baumen, Vogeln, Himmel und Bach in seinen noch immer halb gelahmten Korper ein. Von 1876 bis 1882 schrieb er hier jene von kindlich-panischer Einheit mit der Natur sanft leuchtenden Tagebuchblatter im Freien nieder, iiber denen das Wort Mark Aurels stehen konnte : Tugend ist eine lebendige, begeisterte Sympathie mit der Natur. Hier an dem klaren Timberbach, von Grillen umzirpt, von Schmetterlingen und Vogeln umflogen, saB, lag oder badete er in der Sonne, rang mit den scblanken jungen Baumstammen, wie mit lebendigen Wesen, und nahm ihre elastische Kraft in sich auf. Klare Sternen- nachte, erhellt von den geliebten Fixsternbildern, die er alle bei Namen kannte, und von den wandelnden Planeten, gingen iiber ihm auf und atmeten ihm die alte, vertraute Luft der Unendlich- keit zu. Das reine Vertrauen zum Wunder der Wirklichkeit bliihte wieder voll in ihm auf.
Es ware falsch, sich Whitman in dieser Spatzeit seines Lebens etwa als einen durch Leiden Gezahmten, Resignierten zu denken. Das Kindliche in ihm, das immer ein starker Einschlag seines Wesens war, offenbarte sich vielleicht jetzt noch unmittelbarer in der sanften Lockerung des Alters. Aber allezeit blieb in ibm ein mannlich Machtvolles, ein geheimnisvolles Feuer panischer Art, eine im Untergrund brennende Flamme einsamer Wildheit und GroBe, die auf alle Besucher dieser Zeit eine irgendwie er- schutternde Wirkung iibte. Noch eben hatte er selber in der Vor- rede zur Zentenarausgabe von der ,,furchtbaren, unwiderstehlichen Begier nach Sympathie" gesprochen, die ihn durchgliihte. Der glanzende junge englische Gelehrte Edward Carpenter, der ihn
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aufsuchte, schilderte ihn als hoflich und von groBer personlicher Anmut, aber doch elementar und ,,adamitischa von Gharakter: dreifach sich offenbarend, ini magnetisch ausstrahlenden Geist dcs Mannes, in der umfassenden, in unsicbtbaren Bereichen wohnen- den Weite der Seele und zugleich in einer Art von furchtbarer Majestat, tfals ob in ihin das Gericht sich offenbarte — eine zeus- gleiche Erscheinung voll Donners". Mrs. Gilchrist, die 1876 nach Philadelphia iibergesiedelt und in deren Heim Whitman ein haufiger Gast war, selber eine herrliche, feurige Frau, sagte, wen dieses Element in Whitmans Wesen einmal erfaBt habe, fiir den gebe es kein Verbergen mehr vor der schrecklichen Flamme dieser Personlichkeit. Dr. R. M. Bucke, selber ein Mann voll hochster Tatkraft und Energie, der nach einer abenteuerlichen Jugend ein bedeutender Arzt und Leiter einer Irrenanstalt geworden war und spater die erste grundlegende Biographic Whitmans schrieb, schil- derte seinen ersten Eindruck von Whitman als eine Art von >,gei- stigem Rausch", der auf Monate hinaus in ihm nachwirkte und ihm die Gestalt des greisen Dichters uber menschliche Erschei- nung hinaushob.
Whitmans Lebenskraft nahm in diesen Jahren standig wieder zu; er ging in die Theater, besuchte Freunde und trug u. a. im Jahre 1879 m der Steck Hall in New York sein wAndenken an Lincoln" vor. Und Mitte September desselben Jahres entschloB er sich, mit einigen Freunden eine groBe, sechzehnwochige Reise uber den Mississippi hinaus in den Westen bis zu den Rocky Mountains zu unternehmen. Er freute sich wie ein unbandiges Kind an der Fahrt in dem bequem-imposanten Schlafwagenzug und an der unermiid- lichen Lokomotive, die sie durch die riesigen Strecken hinfuhrte und der er schon vorher den feurigen Gesang ihrer Wesenheit, ,,An eine Lokomotive im Winter", gedichtet hatte:
Dich fiir mein Rezitativ!
Dich in dem treibenden Sturm, wie jetzt, der Schnee, der sinkende
Wintertag, Dich in all deiner Riistung, dein regelmafiiger Doppelpulsschla};,
dein zuckendes Pochen, Dein schwarz zylindrischer Leib, goldenes Messing und silbriger
Stahl,
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Dein schweres Seitengestange, gleichlaufendes Zwillingsgestange, wir-
belnd, hin und her schieBend an deinen Flanken, Dein metrisches Keuchen und Brausen, bald schwellend, bald in die
Feme verhallend,
Dein grofies, vorspringendes Licht ganz vorn, Deine langen, bleiclien, schwebenden Dampfwimpel, von zartem
Purpur durchhaucht,
Die dicken, finsteren Wolken, aus deinem Schornstein gespieen, Dein vielverklammerter Leib, deine Ventile und Federn, der bebende
Blitz deiner Bader, Der Zug dahinter, bald jab, bald schlaff, doch unablassig vorwarts
getragen ; Urbild der neuen Zeit — Sinnbild von Kraft und Bewegung — Puls
du des Kontinents, Einmal nur komm und diene der Muse und tauch in Gesang, so
wie ich dicb bier leibhaftig sehe,
Mit Sturm und schiittelnden Windstofien und wirbelndem Schnee, Bei Tag mil warnender, lautender Glocke laut, Bei Nacbt mit schwingender Lampen stummem Signal.
Bauh-kehlige Scbonheit!
Bolle durch meinen Gesang mit all deiner unbandigen Musik, deinen
schwingenderi Lampen bei Nacht, Deinem tollen Pfeifengelacbter, widerhallend, scbiitternd wie Erd-
beben, alles aufstorend ringsumber,
Gesetz in dir selber ganz, fest deine eigene Spur verfolgend, (Nicht schwachliche SiiCe tranenseliger Harfe in dir noch glattes
Piano,)
Deine Trillerschreie von Felsen und Hiigeln erwidert, Hingejagt iiber die Steppen weit und iiber die Seen, Zu den freien Himmeln uneingepfercht und frob und stark.
Noch einmal tauchte Whitman auf dieser Reise in weite, ihm bisher unbekannte, aber wie aus innerer Schau langst vertraute Bereiche der Neuen Welt. Fast in alien Stadten, in die er kam, fand er alte Freunde aus der Kriegszeit, junge Manner, die er selber in den Lazaretten und Feldlagern gepflegt hatte und die inzwischen zu tuchtigen Handwerkern oder Farmern herangereift
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waren. Die zwei gewaltigsten Erlebnisse dieser Fahrt waren ihm die westlichen Prarien und das wilde, phantastisch zerkliiftete Felsgebirge. Empfend er in der unter riesigen Luftraumen schwei- genden Weite der Steppen das Element tiefsten, amerikanischen Charakters, ein Sinnbild ruhender Verschmelzung des Idealen und Realen, so rief sein Herz beim ersten Anblick des in vielgestaltiger Fiille gedrangten Hochgebirges, dafi er bier gleicbsam die Land- scbaft seiner Seele und das Gesetz seiner eigenen Gesange gefunden babe. Diese in einer riesigen Einheit briiderlicb emporgeschichtete Mannigfaltigkeit, in der doch immer dieselben Formen, Felswand, Gipfel, Wildstrom, Schneefeld, sich unermiidlich wiederbolten, war ihm das Abbild der Welt, die er selber geschaffen und in der er dieselben Gedanken immer \vieder in bundertfacher Form wie ein- tonigen Adlerschrei wiederholt hatte. In St. Louis, im Herzen des Kontinents und des machtigen Mississippitals, nahm er langeren Aufenthalt im Heim seines dorthin iibersiedelten Bruders Jefferson. Hier scbrieb er jene Tagebuchzeilen iiber eine ,,Literatur des Mis- sissippitals", die dieses wVaters der Gewasser" und dieses Tales wiir- dig ware, das sicb breit, fruchlbar und nach Menscben rufend in die Zukunft offnete. Er war des fast religiosen Glaubens, daft bier das wahre Zentrum neuer amerikanischer Menschheit sei, und pro- phezeite, daB in wenigen Jahrzebnten bier die wahre Hauptstadt der Union sich.tiirmen wiirde. Wir iiihlen in all seinen Tagebuchblattern dieser Zeit den Atem der wie Champagner berauscbenden, klaren und leichten Luft dieser gliicklichen Zone. In St. Louis besucbte er mit Vorliebe die Kindergarten, wie er denn zeit seines Lebens die Kinder vor alien liebte; und der riesige, weiBbartige Mann mit dem frischen Gesicht war bald unter dem Namen ,,Kris Kringle", was etwa soviel wie „ Weihnachtsmann" ist, bei den kleinen Leuten bekannt und geliebt.
Neujahr 1880 kehrte er nach Camden zuriick, immer wieder bei jeder Gelegenheit auf die geliebte Staffordfarm hinausfliichtend, an den Timberbach, dessen Platschern ihm in die ersten Jahre der Gesundung geschwatzt hatte. Er besuchte Dr. Bucke und die von ihm geleitete Irrenanstalt in Siidkanada und machte von da aus noch eine zweite kiirzere Reise in dieses Land. Den Winter ver- brachte er wieder in Camden und auf dem Lande und ging im Friihjahr nach Boston, wo er am 14. April wiederum sein
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,,Andenken an Lincoln" offentlich vortrug. Er beschloB, von nun ab jedes Jahr eine solche Erinnerungsfeier an den Retter der Union zu halten, und fiihrte das auch, mit wenigen Unterbrechungen, bis zuletzt aus. Im Hause Emersons verlebte er in einem der edel- sten geistigen Kreise Bostons viele Stunden. Es war sein letztes Zusammensein mit dem Philosophen von Concord, der im Jahre darauf starb.
Die Bostoner Verlagsfirroa Osgood and Co. trat an ihn heran mit Vorschlagen zu einer neuen, umfassenden (siebenten) Auflage der yGrashalme". Auf diese Ausgabe setzte Whitman groBe Hoff- nungen. Er vereinte in ihr den gesamten dichterischen Stoff der vorigen Ausgabe sowie der Broschiiren, vor allem der „ Durch- fahrt nach Indien", die u. a. das ,,Andenken an Lincoln" ent- halten hatte. Es wurde, abgesehen von der Ausgabe von 1860, die erste auBerlich wiirdige Ausgabe seines Werkes. Im Winter 1881 wurden etwa 2000 Exemplare abgesetzt. Anfang 1882 jedocb spielte ihm amerikanische Engherzigkeit wiederum einen argen Streich: der Distriktsanwalt von Boston verbot die Veroffentlichung auf Ersuchen einiger Agenten der ,,Gesellschaft zur Unterdriickung des Lasters", falls nicht eirie Reihe beanstandeter Stellen ausge- merzt wiirde. Da sich Whitman energisch widersetzte, zogen Os- good and Co. am 9. April die Ausgabe wieder ein, was ihnen aller- dingsheftige literarische Angriffe eintrug. Sie stellten jedoch Whit- man die gedruckten Bogen und die Flatten zur Verfiigung, die er im Sommer der Philadelphier Firma David McKay iibergab, die unverweilt eine neue, achte Auflage herausbrachte. Sie wurde in einem Tage verkauft und auch weitere Neudrucke fanden so viel Nachfrage, da6 Whitman am Jahresende einen Ertrag von 5oo Dollar daraus hatte. Derselbe Verlag veroffentlichte noch im gleichen Jahre die gesammelten Tagebiicher.
Weihnachten 1882 brachte ihm die besonders innige Freundschaft einer Quakerfamilie aus Philadelphia, der Familie des reichen und frommen Glashandlers Pearsall Smith. Dessen Tochter Mary war von der Universitat Neu-England mit dem begeisterten EntschluB nach Hause gekommen, Whitman personlich kennenzulernen , obwohl ihre Eltern, denen Whitman bis dahin nur der Verfasser eines un- moralischen Buches war, sich einigermaBen entsetzt dariiber zeigten. Der alte Smith fuhr jedoch mit dem Freimut des Quakers
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tmies Tages mil seiner Tochter in seiner schonen Equipage nacii Camden hinaus und besuchte Whitman kurzerhand, und die Folge war ein jahrelanger, herzlicher Verkehr zwischen ihnen. Whitman nannte spater MiB Mary nachst der i885 verstorbenen Mrs. Gil- christ seine ,,treueste, lebende Freundin". Das warme Licht jugend- licher Verehrung eines schonen Madchens war wohl angetan, seinem alten, immer jangen Herzen wohlzutun, wie denn allezeit viel junges Volk karneradschaftlich mit ihm umging.
Die Ertrage der beiden Philadelphia-Ausgaben ermoglichten ilun im Marz 1884, einen alten Lieblingsplan zu verwirklichen und sich ein bescheidenes zweistockiges Hauschen in der Mickle-Street in (lamden, nahe dem Hause seines Bruders, zu kaufen. Mrs. Mary Davis, eine brave Witwe, fiihrte ihm die Wirtschaft und schuf ihm die behagliche Atmosphare, die Whitman im Grunde so liebte. Ks war seit jeher viel hollandische Art in ihm und, bei aller Riick- sichtslosigkeit gegen materielle Interessen, wenn es sich um Gei- stiges handelte, dennoch viel natiirliche Neigung dazu, ein ordent- licher Haushalter seines Leibes zu sein. Er war fur seine Person inuner sparsam gewesen, so freigebig er auch immer fur andere bis an sein Ende blieb. Bis zuletzt fuhrte er ganze Listen von Hilfsbediirftigen, denen er mit seinen kleinen Ersparnissen allezeit beisprang, mit der Selbstverstandlichkeit und Kameradschaft, die jede Demiitigung ausschloB, wie er selber auch Gaben seiner Freunde immer mit reinster Freude und Natiirlichkeit annahm.
Der lange, still leuchtende Abend seines Lebeiis, der bis in das Friihjahr 1892 hineinglomm, ist arm an aufieren Ereignissen, ob- wohl gerade jetzt die Berichte iiber sein Leben anschwellen und fast jeden Tag und jede Stunde verzeichnen *. Was er fur das auflere Leben als wiinschenswert und geniigend erklart hatte, be- safi er nun : vier eigene Wande und ein Dach auf amerikanischem Boden, die geringen Einkunfte, die fur die Notdurft des Lebens unerlafilich sind, und einen Sparpfennig auf der Bank. Bei standig
* Ich verweise auf die breite und gewissenhafte Biographic von Henry Bryan Binns, die einzige bisher ins Deutsche iibertragene (II. Haessel Verlag, Leipzig 1907, iibersetzt von Johannes Schlaf). Es wiirde den f\ahmen dieser kurzen Darstellung iiberschreiten, die Hunderte von kleinen Erzahlungen, Erinnerungen, Anekdoten \viederzugeb«n, die alle sich in das Bild des greisen Whitman fugen — das Hild, in d»'in er volkstiiinliclieni (reclenken so r«cht eijjcntlicli erscheint.
VII Whitman I \CVII
sinkenden Kraften des Leibes blieb er geistig rege, las viel, vor allem jetzt Carlyles Schriften, und nahm in kleineren Aufsatzen leb- haft Stellung dazu. Nachdem er einen Sonnensticb erlitten hatte und fast gar nicht mehr ausgehen konnte, schenkten seine Freunde ihm ein Wagelchen und Pferd. Das Fahren hatte er von jeher ge- liebt, und so kutschierte er nun taglich auf dem Lande umher, freilich nicbt wie ein gemachlicher Greis, sondern immer in schnell- ster Karriere. Er vertauschte das erste Pferd, das ihm zu langsam lief, mit einem feurigeren. Seine Geburtstage pflegten die Freunde mit besonderen Festmahlzeiten zu feiern, bei denen er selber aus seinen Gedichten vorzutragen liebte und dabei auch jetzt mit besonderem GenuB und kraftig dem Champagner zusprach. Er straubte sich allezeit dagegen, lebendigen Leibes etwa als eine Art von Heiligem mumifiziert zu werden. ,,Sprecht von mir", trug er einigen jungen Besuchern aus England auf, „ nicht als von einem Heiligen oder iiberhaupt etwas irgendwie endgiiltig Fer- tigem." Das BewuBtsein der elementaren, Fiille und Gegensatzlich- keit in der Tiefe seines Wesens war bis zuletzt in ihm lebendig, jene naturhafte Vieldeutigkeit, die ihn von jeher gedrangt hatte zu den immer wiederhol ten Warnungsrufen seiner Gesange, er sei nicht das, als was er vielleicht erscheine, er wirke vielleicht ebensoviel Boses wie Gutes, ^ein wahres Ich stehe hinter all seinen Worten: jene Bedingtheit, trotz der wahre GroBe etwas auszusagen wagt. Der von damonischem Wissen um die Vielspaltigkeit der Menschen- seele zerkliiftete, freilich nicht naturhaft wiederum zusammenge- schlossene, groBe danische Denker Kierkegaard schreibt : „ In einem Leben von siebzig Jahren alle moglichen Wesenheiten gehabt zu haben und sein Leben wie ein Musterbuch zu hinterlassen, das man zur gefalligen Auswahl aufschlagen kann, ist nicht so schwierig. Aber die eine Wesenheit voll und reich und dabei zugleich die entgegengesetzte zu haben und, indem man der einen Wesenheit das Wort und das Pathos gibt, da hinterlistig die entgegengesetzte unterzuschieben : das ist schwierig. " — „ Hinterlistig unterzuschieben" ist charakteristisch fiir Kierkegaard ; fur Whitman gilt, daB in ihm sich die verschiedenen Wesenheiten naturhaft als Eines ineinander- fugten, mit kindhaft elementarer Selbstverstandlichkeit, immer in warmer, Kraft und Liebe ausstromender Einheit des ,Seins, die immer wieder und bis in die letzten Tage jene oft angedeutete,
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wunderbare Erregung in den Besuchern wachrief. Der englische Gelehrte Dr. Johnston schreibt, nach einer eingehenden Schilde- rung der Erscheinung des greisen, in seinem Armstuhl majestatisch sitzenden Dichters: ,,Aber sein Zauber lag nicbt so sehr in diesen Einzelziigen als in seinem Gesamtwesen und in dem unwidersteh- lichen Magnetismus seiner milden, aromatischen Gegenwart, die Gesundheit, Reinheit und Natiirlicbkeit auszustromen scbien und eine Anziehung auf mich iibte, die mich in Wahrheit erstaunte, und eine Exaltation von Geist und Seele in mir wachrief, wie keines Menschen Erscheinung je zuvor. Ich fiihlte, daB ich hier Angesicht zu Angesicht war mit der lebendigen Verkorperung alles dessen, was gut, edel und liebenswert an der Menschheit ist."
Im November 1888 wurde Whitman aufs neue von einem Schlag- anfall betroffen, der ihn dem Tode nahebrachte. Er verlor zum erstenmal fur eine Zeitlang die Sprache. Mitten in dieser Rrise fand er jedoch noch die Kraft, ein neues Bandchen, aus Gedichten und Prosa gemischt, die ,,Novemberzweige", zu redigieren, kurze Gedichte, die alle Mim friihen Kerzenlicht des Alters" seine Ver- trautheit mit Tod und Unendlichkeit in gestilltem Tonfall spiegeln. Alles, was er jetzt anriihrte, bekam diese stille Transparenz und diesen Jenseitsschimmer. Im Jahr darauf war er noch einmal so weit gekraftigt, daB er dem Diner, das zu Ehren seines siebzigsten Geburtstages in einem groGen Camdener Saal gegeben wurde, bei- wohnen konnte, hinter einem riesigen BlumenstrauB fast verborgen und sich an seinem Champagner erfreuend. Im Oktober 1891 hielt der Philosoph Oberst Ingersoll in Philadelphia vor zwei- tausend Menschen einen Vortrag u'ber Whitman, dessen Ertrag fur den Dichter bestimmt war. Whitman war in seinem Rollstuhl da- bei, und als Ingersolls Rede beendet und der machtige Beifall ver- rauscht war, wandte er sich im Sitzen selber mit ein paar in ihrer Unmittelbarkeit wunderbaren Worten an die Zuhorer: ,,Da letzten Endes, meine Freunde/ sagte er mit seiner merkwiirdig jungen und wohllautenden Stimme, ,,das Wesentliche in dem seltsamen Zeugnis Hegt, das wir personliche Gegenwart und Begegnung von Angesicht zu Angesicht nennen, so bin ich hierher gekommen, um bei Ihnen zu sein und mich Ihnen zu zeigen und Ihnen mit meiner lebenden Stimme fiir Ihr Kommen und Robert Ingersoll fur seine Worte zu danken. Und so, mit diesem kurzen Zeugnis meines
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Hierseins, und in solchem guten Willen und Dankbarkeit biete ich Ihnen meinen Grufi und Lebewohl. "
Das letzte Geburtstagsfest wurde in des Dichters eigenem Hause im Jahre 1891 gefeiert, bei dein Whitman einen Gedenktoast auf Emerson ausbrachte und trotz grofiter korperlicher Schwache sich lebhaft an einem politischen Gesprach beteiligte, das seine nie er- loschene Teilnahme am Schicksal Amerikas bezeugt. Er verurteilte darin aufs heftigste die protektionistische Doktrin );Amerika den Amerikanern" und spracb fur den Gedanken der gegenseitigen Abhangigkeit aller Volker, die einander in geistigem und wirt- schaftlichem Austausch offenstehen sollten, da sie nichts anderes waren, als eine einzige Schiffsmannschaft an Bord. ,,Die letzte Wahr- heit von der menschlichen Rasse", sagte er, ,,ist die Solidaritat der Interessen." - - ,,Nach diesen Worten rief er nach seinem Rock und seinem Warter, segnete alle und stieg langsam die Treppe hinauf." (H. B. Binns.)
Im Dezember veroffentlichte er das kleine gemischte Bandchen ,,Ade, Phantasie!" sein ,,letztes Gezirp", wie er es nannte (spater in den „ Grashalmen <c und ,,Prosaschriften" entbalten), und end- lich die zehnte Auflage der ,,Grashalme", deren Druckbogen er auf dem Sterbebette las. Im Januar 1892 erschienen die ,,Ge- sammelten Prosaschriften". Vor ,,Ade, Pbantasie" war das Bildnis wiedergegeben , das Whitman als Zweiundsiebzigjahrigen zeigt, — ,,das Bildnis eines Patriarchen, gebeugt unter einer Weltwucht von Erfahrungen" (H. B. Binns).
Neben diesen abschliefienden Arbeiten an seinem dichterischen Werk widmete er sich dem Gedanken an sein eigenes Grabmal. Er selber machte den Entwurf dazu nach einer Zeichnung Blakes und liefi es im Herbst 1801 auf einem neuen Friedhof in der Nahe
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vonCamden unter jungen Buchen und NuCbaumen auf seine Kosten errichten und liefi auch dieGebeine seiner Eltern herbeischaffen, die ihm zur Seite ruhen sollten.
Die Wintertage des neuen Jahres 1892 brachten ihm die letzte, mit immer gleicher Geduld ertragene Leidenszeit inmitten lieb- reicher Pflege seines Bruders und seiner Freunde, vor allem des jungen, ihm innig ergebenen Horace Traubel, der spater der Ver- walter seines literarischen Nachlasses und Begriinder des ,,\Valt Whitman-Bundes" wurde und von dem Whitman sagte, dafi er
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\Y hitman im zvveiundsiebzigsten Lebensjahre
ill 111 ,unaussprechlich treu" sei. In einer der letzten Nachte beugte Mth Traubel iiber ihn, kiiflte ihn und sagte: ,,Geliebter Walt, du kannst dir nicbt vorstellen, was du uns gewesen bist", und er er- \\iderte schwach : ,,Noch ihr, was ibr mir gewesen seid." Er vvurde zu seiner Krleichterung in ein \Vasserbett gebracht und macbte einen Versuch zu lacheri, als er sich darin umwandte und das Wasser platscherte. Wahrend drauBen kalter, grauer, tief ver- schneiter Winter alles uinklarninerte, liiste sich sein Leiden in der letzten \Vohligkeit des nahen Todes, und endlich, am 26. Marz, in der siebenten Stunde des Nachmittags, glitt er, Traubels Hand in der seinen haltend, ruhevoll und still in das Unbekannte hin- weg. -
Am 3o. Marz vvurde Walt Whitman zu Grabe getragen. Ohne kirchliche Zeremonie — aber in der stillen Erhabenheit der Teil- nahme Tausender. Als die Leiche noch aufgebahrt in dem kleinen Haus in der Mickle-Street lag, zog von elf Uhr friih bis zwei Uhr nachmittags ein Strom von Menschen an ihr vor iiber, die dieses Antlitz noch einmal sehen wollten, einfeche Leute aus dem Volk zumeist; iihnlich wie, in einer tragischeren Sphare, die russischen Bauern jenes einsameri Dorfes und von weither an der Leiche Leo Tolstois stuinin voriiberzogen ; der Weg zum Friedhof war von trauernden Menschen gesaumt, und auf dem Friedhof selber, iiber den Hiigel bin und bis an den Teich hinab, der ihn begrenzte, stand eine zahllose Menge, um den Worten Ingersolls und der anderen Freunde zu lauschen, die ihm den Grufi der ,,Liebe, die das Ratsel der Sterblichkeit iiberwindet", nachsandten.
PROSASCHRIFTEN
VORBEMERKUNG
Walt Whitman pflegte seine Prosaschriften zum Teil in die Ge- dichtbandchen aufzunehmen, aus denen sich die ,,Grashalme" in ihrer jetzigen Gestalt und der — nunmehr von ihnen getrennte - Prosaband der Standardausgabe 1891/92 entwickelten, die Whitman noch auf seinem Sterbebett redigierte und die in Philadelphia bei McKay erschien. Nach seinem Tode ging sein Werk in den Verlag von Small, Maynard & Comp., Boston, uber, wo 1897/98 die elfte Auflage der ,,Grashalme" und der „ Prosaschriften" erschien.
Whitmans erste bedeutungsvolle Prosaschrift, die Vorrede zur Erstausgabe der ,,Grashalme" (i855, Selbstverlag, Brooklyn, New York) verschwand bereits wieder in der zweiten Ausgabe von i856 (New York, Selbstverlag), da ihr Inhalt groBtenteils als MSteinbruch fiir neue Gedichte" verwendet worden war.
1871 veroffentlichte Whitman seine umfangreichste und beriihm- teste Prosaschrift, die ,,Democratic Vistas" (wDemokratische Aus- blicke"), zunachst als Sonderbroschiire (Washington, Selbstverlag), dann im selben Jahr innerhalb derfiinften Auflage der ,,Grashalme" (Washington, Selbstverlag).
1876 erschien gleichzeitig mit der sechsten Auflage der MGras- halme" ein Bandchen, »Two Rivulets" (,,Zwei Bachlein"), aus Gedichten und Prosa gemischt (Camden, Selbstverlag). Die darin enthaltenen Aufsatze gingen mit iiber in den 1882 erscheinenden, lediglich Prosa enthahenden Band „ Specimen Days and Collect" ^Tagebuchblatter" oder eigentlich etwa „ Mustertage und Ge- sammeltes"; Philadelphia, McKay). In ,,Collect" vvaren nun auch die wDemokratic Vistas" sowie jene Vorrede zur Erstausgabe mit- aufgenommen.
i Whitman I I
1 888 erschien em wiederum aus Poesie und Prosa gemischtes Band- chen, „ November Boughs" (Novemberzweige"; Philadelphia, Me Kay), und im gleichen Jahr, von Whitman selbst verlegt und vertrieben, ein Band „ Complete Poems and Prose". Endlich 1891, im Winter vor seinem Todesjahr, das gleichfalls gemischte Bandchen „ Good- bye my Fancy" (,,Ade, Phantasie" ; Philadelphia, McKay).
Unmittelbar vor seinem Tode redigierte Whitman dann die zehnte Auflage der ,,Grashalme" (1891, Philadelphia, McKay) und der ,,Gesammelten Prosaschriften " (1892, ebenda) in je einem Band. Am 26. Marz 1892 starb er.
Diese Ausgabe letzter Hand enthalt die Prosaschriften in dieser Reihenfolge: ,,Specimen Days", „ Collect", MNovember Boughs" und „ Good-bye my Fancy".
Ich babe die zeitlich jiingste Schrift, die Vorrede zur Erstausgabe, an den Anfang dieses ausgewahlten Bandes gestellt und darauf gleich die ,,Demokratischen Ausblicke" folgen lassen, um diese kiihn um- rissene Gedankenwelt von Anfang an einheitlich und in aller Breite und Fiille wirken zu lassen.
Darauf folgen die Tagebuchblatter, zunachst die aus dem Se- zessionskriege (1862 — 64) und danach die aus den Jahren 1876 — 82, die Whitman als halb Gelahmter auf Long Island, seiner Heimat, wahrend langsamer seelischer, wenn auch korperlich nie volliger Gesundung im Wald, am Bach, an der atlantischen Kiiste und zum Teil auch wahrend einer Reise in die Weststaaten niederschrieb.
Den BeschluB bilden einige Stiicke aus den ,,Novemberzweigen" und ,,Ade, Phantasie", — nur wenige, da die meisten der in diesen beiden Bandchen enthaltenen Aufzeichnungen Themen behandeln, die uns ferner liegen, wie etwa eine Studie iiber Robert Burns, den Quaker Elias Hicks, iiber das spanische Element in Amerika oder personliche Erinnerungen des greisen Whitman an Brooklyner und New Yorker Jugendeindriicke, wie etwa an das alte Bowery-Theater in New York u. a. m.
In die Kriegstagebiicher habe ich Ausziige aus zwei Berichten Whitmans an den ,,Brooklyn Eagle" und die ,,New York Times" aufgenommen, sowie aus den Briefen, die er wahrend dieser Zeit an seine Mutter schrieb. Sie sind dem Bande ,,The Wound Dresser" (MDer Wundpfleger") entnommen, den Dr. R. M. Buke 1898 bei Small, Maynard & Comp., Boston, herausgab. H. R.
ORREDE ZUR ERSTAUSGABE DER GRASHALME BROOKLYN, N. Y., i855
Amerika verschlieBt sich nicht gegen die Vergangenheit und gegen das, was sie unter anderen Formen und politischen Zustanden hervorgebracht hat, auch nicht gegen die Idee der Raste oder die alien Religionen, — es hort gelassen an, was die Vergangenheit ihm zu sagen hat, — es ist nicht ungeduldig, weil die trage Masse in der Literatur noch an Anschauungen und Formen hangt, aus denen das Leben, das sie einst erftillte, geschwunden und in ein neues Leben in neuen Formen iibergegangen ist, — es ist sehr wohl ge- wahr, daB der Leichnam allgemach aus den EG- und Schlafzimmern des Hauses hinausgetragen wird, — daB er just in der Tur noch ein wenig verweilt, — daB er fur seine Zeit der Rechte war, — daB seine Tatkraft iibergegangen ist auf den starken, wohlgestalten Erben, der jetzt naht und der fur seine Zeit der Rechte sein soil.
Die Amerikaner haben von alien Volkern aller Zeiten der Erde wahrscheinlich die vollste dichterische Natur. Die Vereinigten Staaten selbst sind im Grunde das grofite Gedicht. Die umfang- reichsten und unternehmungslustigsten Staaten in der bisherigen Geschichte der Erde erscheinen zahm und ruhig neben ihrem viel grofieren Umfang und Unternehmungsgeist. Hier endlich ist im Tun der Menschen etwas, was mit den gewaltigen Vorgangen von Tag und Nacht sich messen kann. Hier ist Tatkraft, aller Fesseln ledig, notwendigerweise blind fiir Besonderheiten und Einzelheiten, aber voll machtigen Antriebs auf die Massen. Hier ist Gastlich- keit immer das Merkrnal heroischen Geistes. Hier breitet sich die Fiille des Lebens, alles Kleinliche verachtend, unvergleichlich in der gewaltigen Kuhnheit ihrer Menschenanhaufung, in ungehemmter
und flutender Weite aus und verstroint ihren fruchtbaren, herr- lichen UberfluB. Diesem Lande gehoren die Schatze von Winter und Sommer, und es kann niemals zugrunde gehen, solange Korn aus dem Boden wachst und Friichte von den Obstbaumen fallen und Fiscbe in den Buchten scbwimmen und Manner mit Frauen Kinder zeugen.
Andere Staaten sind verkorpert in ibren fiihrenden Mannern, — aber der Genius der Vereinigten Staaten offenbart sich nicht am besten oder reichsten in ihren Exekutiv- oder Legislativgewalten, nocb in ibren Gesandten oder Scbriftstellern, Universitaten, Kirchen oder Salons, aucb nicht in ihren Zeitungen oder in ihren Erfindern, — sondern immer und zumeist im gewohnlichen Volk aller Staaten des Nordens, Siidens, Ostens und Westens, auf ihrem ganzen mach- tigen Gebiet. Die GroBe der Nation ware indessen nur ein Mon- strum ohne eine entsprechende GroBe und GroBmut des Geistes ihrer Burger. Weder dichtbewohnte Staaten, noch StraBen und Dampfschiffe, noch bliihender Handel, noch Farmen, Kapital und Schulen konnen dem idealen Mann geniigen, — und konnen auch dem Dichter nicht geniigen. Ebensowenig konnen Traditionen ge- niigen. Eine lebendige Nation kann sich allezeit selber ihr tiefstes Geprage geben und kann sich die hochste Autoritat auf dem ein- fachsten Wege schaffen: namlich aus ihrer eigenen Seele heraus. (Als ob es notig ware, den Weg der Uberlieferung des Ostens Gene- ration um Generation zuriickzutrotten! Als ob die Schonheit und Heiligkeit des gegenwartig Vorhandenen hinter der des Mythischen zuriicktreten miiBte ! Als ob die Menschen nicht in jeder Zeit sich ihr eigenes Geprage geben konnten! Als ob die ErschlieBung des westlichen Kontinents durch Entdecker und das, was aus Nord- und Siidamerika geworden ist, geringer ware als der kleine Schau- platz der Antike oder das ziellose Schlafwandeln des Mittelalters!) Der Stolz der Vereinigten Staaten kehrt dem Wohlstand und der Verfeinerung der Stadte, alien Segnungen von Handel und Land- wirtschaft und aller geographischen GroBe und dem Glanz auBerer Siege den Riicken, um sich zu weiden an dem Anblicke von leib- haftigen, vollentfalteten Menschen, oder eines vollentfalteten, un- bezwinglichen, einfachen Menschen.
Die amerikanischen Dichter miissen Altes und Neues umschlieBen, denn Amerika ist die Rasse der Rassen. Die Ausdrucksform des
amerikanischen Dichters rnuB transzendent und neu sein. Sie mufi indirekt sein, nicht direkt oder beschreibend oder erzahlend. Seine Kraft ist auf viel Hoheres gerichtet. Mogen die Zeiten und Kriege anderer Volker besungen und ihre Geschichte und ihre Cbaraktere dargestellt und in Verse gebracht werden. Anders der groBe Psalm der Republik. Hier ist das Tbema schopferisch und voll von Ausblicken in die Zukunft. Mag alles in flacher Gewohnheit, in Geborsam und Gesetz erstarren, — der groBe Dichter erstarrt nie. Gehorsam knebelt ihn niclit, er ist Herr dariiber. Unerreichbar hoch steht er und sendet die Strahlen eines konzentrierten Lichtes in die Runde, - er lenkt sie mit seinem Finger, — er siegt im Stehen iiber die schnellsten Laufer und iiberholt und iiberwaltigt sie leicht. Er bait die Zeit, die auf den Wegen der Unglaubigkeit, AuBerlich- keit und Spottsucht irrt, durch seinen festen Glauben zuriick. Glaube ist das Antiseplikum der Seele, — er durchdringt das einfacbe Volk und schiitzt es; — das Volk hort niemals auf, zu glauben, zu hoffen und zu vertrauen. Es liegt eine unbeschreibliche Friscbe und Un- bevvuBtbeit iiber einem ungebildeten Menschen, die die Macht des stolzesten gestaltenden Genies demiitigt und ihrer spottet. Der Dichter erkennt mit unzweifelhafter GewiBheit, daB einer, obne ein groBer Kiinstler zu sein, doch ebenso geheiligt und vollkommen sein kann, wie der groBe Kiinstler.
Der groBte Dichter iibt oft seine Macht, zu zerstoren und neu zu gestalten, aus, aber nur selten die Macht des Angriffs. Was ver- gangen ist, ist vergangen. Wenn er nicht neue, hohere Vorbilder aufstellt und sich nicht selber beweist durch jeden Schritt, den er tut, so ist er nicht, was er sein soil. Die bloBe Gegenwart des groBen Dichters bezwingt, — kein Verhandeln, Streiten oder sonst welche absichtlichen Bemiihungen. Hier ist er vorbeigegangen ! Sieh ihm nach! Da ist keine Spur von Verzweiflung oder MenschenhaB zu sehen, oder von List, oder Hochmut, oder von Schande der Ab- stammung oder Farbe, kein Wahnbild von Holle, kein Bediirfnis nach einer Holle: — sondern hinfort soil kein Mensch wegen seiner Unwissenheit oder Schwachheit oder Siinde verachtet werden. Der groBte Dichter kennt nichts Kleinliches und Gemeines. Wenn er in etwas, das vorher als klein gait, seinen Atem blast, so fiillt es sich an mit der GroBe und Lebenskraft des Universums. Er ist ein Seher, — er ist individuell, — er ist vollkommen in sich selbst, -
die andern sind ebensogut wie er, nur, er sieht es, und sie nicht. Er gehort nicht zum Chorus, er macht nicht halt vor irgendeiner Vorschrift, er gibt Vorschriften. Was die Sehkraft fur die andern Sinne ist, das ist er fiir die andern Menschen. Wer kennt das wunderbare Geheimnis der Sehkraft? Die andern Sinne bekraftigen sich einander, aber sie ist jedem Beweis, als nur dem durch sich selbst, entriickt und ist ein Vorlaufer der Identitaten der geistigen Welt. Ein einziger Blick von ihr spottet aller Forschungen der Menschen, aller Instrumente und Biicher der Erde und alien Ver- standes. Was ist noch wunderbar, was noch unwahrscheinlich, unmoglich, grundlos oder vag, — nachdem du einmal durch einen Spalt deiner Lider, nicht gro'Ber als die Narbe eines Pfirsichs, alle Nahe und Feme in dich aufgenommen hast und der Sonnenuntergang und alle Dinge in dich eingedrungen sind mit elektrischer Schnelle, zart und in aller Ordnung, ohne Verwirrung, StoBen oder Drangen? Land und Meer, die Tiere, Fische und Vogel, der Himmel und seine Weltkugeln, die Walder, Gebirge und Fliisse sind keine kleinen Themen, — aber die Menschen erwarten von dem Dichter mehr, als daB er nur die Schonheit und Wiirde weist, die alien stummen, leibhaftigen Dingen zu eigen sind, — sie erwarten von ihm, daB er den Pfad weise zwischen der Wirklichkeit und ihren Seelen. Manner und Frauen gewahren die Schonheit sehr wohl, — vielleicht ebensogut wie er. Die leidenschaftliche Ausdauer von Jagern, Waldlern, Fruhaufstehern, Garten-, Obst- und Feldbauern, die Liebe gesunder Frauen zur mannlichen Gestalt, die Lust an der Seefahrt, am Pferdelenken, die Leidenschaft fiir Licht und Luft, — all das ist ein altes, inannigfaltiges Merkmal des unfehlbaren Schonheitssinnes und einer dichterischen Uranlage in Menschen, die im Freien leben. Sie brauchen nicht die Hilfe des Dichters, um wahrzunehmen. Das Wesen der Dichtkunst liegt nicht in Reim oder GleichmaB oder in abstrakter Anrede der Dinge, noch in melancholischen Klagen oder guten Lehren, sondern es ist das Leben solcher Menschen und noch viel mehr und liegt in der Seele. Der Vorteil des Reimes ist, daB er die Saat eines noch lieblicheren und iippigeren Reimes ausstreut, und der Vorteil des GleichmaBes, daB es sich selbst in seine eigenen Wurzeln iibertragt, die in unsicht- barem Grunde ruhen. Der Reim und das GleichmaB vollkomrnener Gedichte zeigen das freie Wachstum metrischer Gesetze an und
sprossen aus ihnen so unfehlbar und ungezwungen wie Flieder- bliiten und Rosen aus einem Busch, und nehmen Formen an so fest wie die Formen von Kastanien und Orangen, Melonen und Birnen, und verstromen ihren Duft, der sich nicht in Form fassen laBt. Der Wohllaut und die Form der schonsten Dichtungen, Kompositionen, Reden oder Vortrage ist nicht unbedingt, sondern bedingt. Alle Schonheit kommt aus schonem Blut und einem schonen Gehirn. Wenn alles, was grofi ist, in einem Mann oder einer Frau sich zusammenfindet, so ist es genug, und diese Tatsache wird durch das ganze Weltall bin in Geltung bleiben; aber die Kiinsteleien und Vergoldungen von Millionen Jahren werden nicht in Geltung bleiben. Wer sich Sorge darum macht, daB seine Ge- dichte reich verziert sind und schon klingen, ist verloren. Was du tun sol 1st, ist dies: Liebe die Erde, die Sonne und die Tiere, ver- achte Reichtiimer, gib Almosen jedem, der dich darum bittet, stehe auf fur die Unwissenden und Bloden, gib dein Einkommen und deine Arbeit anderen, hasse Tyrannen, streite nicht iiber Gott, habe Geduld und Nachsicht mit den Menschen, nimm deinen Hut vor nichts Bekanntem oder Unbekanntem ab und vor keinem Menschen und keiner Anzahl von Menschen, — verkehre frei mit starken, schlichten Menschen aus dem Volke und mit jungen Leuten und mit Miittern von Familien, - - priife alles nach, was du in der Schule oder Kirche oder aus irgendeinem Buche gelernt hast, und verwirf alles, was deiner eigenen Seele zuwider ist; und dein leib- haftiges Fleisch und Blut soil ein erhabenes Gedicht sein und den reichsten Wohllaut haben, -nicht nur in Worten, sondern in den stummen Linien deiner Lippen und deines Gesichts, und zwischen den Wimpern deiner Augen, und in jeder Bewegung und jedem Gelenk deines Korpers. Der Dichter soil seine Zeit nicht auf un- niitze Arbeit verschwenden. Er soil wissen, dafi der Boden bereits gepfliigt und gediingt ist; andere mogen es nicht wissen, aber er soil es wissen. Er soil geradenwegs an die Schopfung herangehen. Sein Vertrauen soil das Vertrauen aller Dinge, die er beriihrt, und alle Neigung an sich heranziehen.
Im ganzen bekannten Universum lebt ein wahrbaft Liebender, und das ist der groBte Dichter. Er brennt in ewiger Leidenschaft, ist unbekiimmert darum, was ihm das Schicksal bringt, Zufall, Gliick oder Ungluck, und empfangt taglich und stiindlich seinen
kostlichen Lohn. Was andere hemmt oder zerbricht, 1st ihm nur Nahrung fiir das Feuer seines Suchens nach Vereinigung und Liebeslust. Niemand in der Welt hat eine solche Fahigkeit zur Freude wie er. Alles, was man nur vom Himmel oder von dem Hochsten erwarten kann, empfangt er innig im Anblick der Mor- gendammerung oder des Winterwaldes oder in der Gegenwart spielender Kinder oder wenn er seinen Arm um den Nacken eines Mannes oder Weibes legt. Seine Liebe hat vor aller andern Liebe Mu6e und Raum noch iiber ihn selbst hinaus. Er ist kein zag- hafter oder argwohnischer Liebhaber — er ist zuversichtlich — er spottet der Entfernung. Seine Erfahrung, seine Schauer und Er- schiitterungen sind nicht umsonst. Nichts kann ihn wankend machen, weder Leiden noch Finsternis, weder Tod noch Furcht. Fiir ihn sind Klage, Eifersucht und Neid Leichen, begraben und verfault in der Erde, — er sah sie in die Grube fahren. Das Meer ist der Kiiste und die Kiiste des Meeres nicht sicherer, als er des Genusses seiner Liebe und aller Vollkommenheit und Schonheit sicher ist.
Der Genuft der Schonheit ist kein Spiel auf Verlust oder Ge- winn, — er ist so unvermeidlich wie das Leben, so streng gesetz- mafiig wie die Gravitation. Hinter dem Sehen liegt ein anderes Sehen und hinter dem Horen ein anderes Horen und hinter der Stimme eine andere Stimme, die in Ewigkeit suchen nach der Harmonic der Dinge mit dem Menschen. Diese verstehen das Ge- setz der Vollkommenheit in allem, was auf Erden flutet und ruht, und wissen, daft es verschwenderisch und gerecht ist, da6 es in jeder Minute von Licht und Dunkelheit und in jedem FuCbreit Erde oder Meer lebt, und in jeder Himmelsrichtung, und in jedem Geschaft oder Beruf und in allem, was auf Erden geschieht. Das ist der Grund, weshalb dem richtigen Ausdruck von Schonheit Bestimrntheit und Gleichgewicht zu eigen ist. Ein Teil mu6 nicht iiber den andern gestellt werden. Der beste Sanger ist nicht der, der das geschmeidigste und machtigste Organ hat. Die wahre Lust an Gedichten wird nicht durch die erweckt, die das beste Versmafi haben und am schonsten klingen.
Ohne Anstrengung und ohne dafi man im geringsten merkt, wie es geschieht, wirkt der groBie Dichter durch den Geist eines oder aller Ereignisse und Leidenschaften, Szenen und Personen,
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die er schildert, mehr oder weniger auf den individtiellen Charakter dessen ein, der ihn hort oder liest. Das in der rechten Art zu tun, heiBt mit den Gesetzen wetteifern, die der Zeit nachstreben und folgen. Hierin muB aller Zweck und derSchliissel zu allem liegen,— und der leiseste Hinweis ist der beste und letzten Endes der klarste. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind nicht getrennt, son- dern vereint. Der groBte Dichter gestaltet das, was sein wird, folgerichtig aus dem, was ist und war. Er ziebt die Toten aus ihren Sargen und stellt sie wieder auf ihre FiiBe. Er sagt zur Ver- gangenheit: Siehe auf und wandle vor mir, daB ich dich erkenne! Er lernt von ihr, — er stellt sich dorthin, wo die Zukunft zur Gegenwart wird. Der groBte Dichter wirft nicht nur seine Strahlen iiber Charaktere, Szenen und Leidenschaften, — er steigt zum SchluB hoher und vollendet alles, — er laBt die hochsten Zinnen sehen, von denen niemand sagen kann, wozu sie da sind oder was jenseits von ihnen liegt, — er erscheint einen Augenblick leuchtend auf dem auBersten Rand. Wundervoll ist sein letztes halb verbor- genes Lacheln oder Stirnrunzeln; durch diesen Blitz im Augenblick des Scheidens wird der, der ihn sieht, noch fur viele Jahre spater ermutigt oder erschreckt. Der groBte Dichter predigt nicht Moral und gibt keine Regeln fur die Anwendung von Moral; er kennt die Seele. Die Seele ist von dem grenzenlosen Stolz erfiillt, niemals eine Lehre oder Erfahrung anzuerkennen, als nur ihre eigene. Aber ebenso grenzenlos wie ihr Stolz ist auch ihr Mitgefiihl, eines gleicht das andere aus, und keines von beiden kann jemals iibers Ziel schieBen, solange es mit dem andern vereint ist. Die innersten Geheimnisse der Kunst schlummern in diesem Zwillingsbunde. Der groBte Dichter hat dicht zwischen ihnen beiden gelegen, und sie leben in seinem Stil und in seinen Gedanken.
Die Kunst der Kiinste, der Ruhm der Darstellung und der Sonnenschein der Literatur ist Einfachheit. Nichts ist besser als Einfechheit, - - nichts kann Cbertreibung oder Unbestimmtheit wieder gutmachen.
Auf der Woge der Leidenschaft hinzutreiben, in gedankliche Tiefen zu tauchen und alien Gegenstanden Ausdruck zu verleihen, das sind weder sehr gewohnliche noch sehr ungewohnliche Gaben. Aber in der Literatur mit der vollkommenen Geradheit und Un- bekiimmertheit der Bewegungen von Tieren, mit der Unantastbarkeit
der Stimmung VOD Baumen im Wald, von Gras am Wege zu sprechen, das ist der vollkommene Triumph der Kunst. Hast du einen gesehen, dem das gelungen ist, dann hast du einen Meister unter den Kiinstlern aller Volker und Zeiten geschaut. Nicht den Plug der grauen Move iiber der Bucht, noch die feurige Ungeduld des Vollblutes, noch Sonnenblumen, die sich vom hohen Stengel neigen, noch die Erscheinung der Sonne in ihrem Lauf am Himmel hin, noch die Erscheinung des Mondes danach wirst du mit grofierem Wohlgefallen betrachten als ihn. Der groCe Dichter hat eigentlich keinen ausgesprochenen Stil, vielmehr ist er der Kanal von Gedanken und Dingen ohne Zugabe oder Verkiirzung und der freie Kanal seiner selbst. Er schwort seiner Kunst: Ich will mich nicht auf- drangen, noch will ich in meinen Arbeiten Glatte oder Effekt- hascherei oder Originalitat haben, die wie ein Vorhang zwischen mir und den andern hinge. Ich will nichts zwischen uns haben, nicht den iippigsten Vorhang. Was ich sage, bedeutet genau das, was ich sage. Meinetwegen mogen andere begeistern, verbliiffen, bezaubern oder schmeicheln, — meine Zwecke sollen sein wie die von Gesundheit oder Hitze oder Schnee und sich ebensowenig wie sie um Beobachtung kiimmern. Was ich erlebe oder schildere, soil aus meiner Arbeit hervorgehen, ohne eine Spur meines Arbeitens. Du sollst bei mir stehen und mit mir in den Spiegel schauen.
Das alte rote Blut und der reine Adel grofier Dichter erweist sich durch ihre Zwanglosigkeit. Ein heroischer Mensch ubergeht und verlaCt unbekiimmert Sitte oder Vorbild oder Autoritat, die ihm nicht passen. Unter den Kennzeichen der Bruderschaft von Schrift- stellern, Gelehrten, Musikern, Erfindern und Kiinstlern erstenBanges ist keines schoner, als der schweigsame Trotz, der von neuen, freien Formen aus vorwarts schreitet. Wo man Dichtungen, Philosophic, Politik, Mechanik, Naturwissenschaft, Sitte, Kunsttechnik, wiirdige Nationaloper, Schiffbaukunst oder eine andere Kunst braucht, da wird immer und ewig derjenige der groGte sein, der das grofite urspriingliche praktische Vorbild gibt. Die reinste Ausdrucksform ist die, die keine ihrer wiirdige Sphare findet und sich eine schafft.
Die Botschaft groBer Dichtungen an alle Menschen ist die: Kommt als Gleichberechtigte zu uns, nur dann konnt ihr uns verstehen. Wir sind nicht besser als ihr, was wir enthalten, enthaltet ihr; was wir genieBen, konnt ihr genieBen. Habt ihr gemeint, es konne nur
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einen Hochsten geben? VVir behaupten, daB es zahlreiche Hdchste geben kann, und daB der eine den anderen ebensowenig ersetzt als ein Auge das andere, und daB die Menschen nur durch das BewuBtsein ibrer eigenen Hoheit gut und groB sein konnen. — Stiirme und Zerstorungen, die todlic'bsten Scblachten und Schiffbriiche, die wildeste Wut der Elemente, die Gewalt des Meeres, der Rreislauf derlNatur, das Web menschlichen Sehnens, Wiirde, HaB und Liebe, - worin glaubt ihr, liegt die GroBe von all dem? Es ist jenes Etwas in der Seele, das sagt: Wiite fort, wirble fort, ich wandle als Herr bier und iiberall — Herr iiber die Zuckungen des Himmels und den Anprall der See, Jlerr iiber Natur und Leidenschaft und Tod und alle Schrecknisse und Schmerzen.
Die amerikanischen Dichter sollen sich auszeichnen durcb GroB- mut und Liebe und Ermutigung von Mitstrebenden. Sie sollen Kos- mos sein, ohne Monopol oder Geheimnis, mit Freuden alles weiter- geben — hung rig nacb Ebenbiirtigen Tag und Nacht. Sie sollen sich nicht um Reichtiimer kiimmern und Privilegien, — sie sollen selbst Reichtiimer und Privilegien sein. Sie sollen wissen, wer der reichste Mann ist. Der reichste Mann ist der, der aller Pracht, die er sieht, Gleichwertiges aus dem groBeren Vorrat seines eigenen Selbst ent- gegenstellt. Der amerikanische Dichter soil keine Raste schildern, noch eine oder zwei Interessenspharen, noch vorwiegend Liebe, noch vorwiegend Wahrheit, noch vorwiegend die Seele, noch vorwiegend den Rorper, — auch soil er fur die ostlichen Staaten nicht mehr sein als fur die westlichen, noch fur die siidlichen Staaten mehr als fur die nordlichen.
Exakte Wissenschaft und ihre praktische Entwicklung ist fur den groBten Dichter kein Hindernis, sondern immer eine Ermutigung und Stiitze. Anfange und Erinnerungen sind dort, — dort die Arme, die ihn zuerst emporhoben und ihn am besten hielten, — dorthin kehrt er nach all seinem Gehen und Rommen zuriick. Der Seemann und Reisende — der Anatom, Chemiker, Astronom, Geolog, Phreno- log, Spiritualist, Mathematiker, Historiker, Lexikograph sind keine Dichter, aber sie sind die Gesetzgeber der Dichter, und ihr Bau liegt dem Bau jedes vollkommenen Gedichtes zugrunde. Gleichgiiltig, was emporwachst oder ans Tageslicht kommt, sie gaben den Samen zur Ronzeption, — aus ihnen kommen oder bei ihnen stehen die sichtbaren Zeichen von Seelen. Wenn Liebe und Eintracht sein soil
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zwischen Vater und Sohn, und wenn die GroCe des Sohns die Aus- strahlung VOQ der GroGe des Vaters ist, dann soil auch Liebe bestehen zwischen dem Dichter und dem Mann der exakten Wissenschaft. Die Schonheiten der Dichtung sollen kiinftig den Schmuck urid die letzte freudige Bestatigung der Wissenschaft bilden.
GroB ist der Glaube an das Gedeihen der Wissenschaft und an die Erforschung der Tiefen von Eigenschaften und Dingen. Hier zu weilen, hier sich zu bewegen, begeistert die Seele des Dichters, und doch bleibt sie stets Herrin ihrer selbst. Die Tiefen sind unergriind- lich und deshalb ruhig. Unschuld und Nacktheit kehren wieder, — sie sind weder anstandig noch unanstandig. Die ganze Theorie vom tlbernaturlichen und alles, was damit verkniipft oder daraus ab- geleitet ist, schwindet wie ein Traum. Was je geschehen ist, was geschieht und was geschehen kann und soil: die Naturgesetze schlieflen alles in sich. Sie geniigen fiir jeden einzelnen Fall, — keiner darf iibereilt oder verzogert werden, — fiir besondere Wun- der an Dingen oder Menschen ist kein Raum in dem weiten klaren System, wo jede Bewegung und jeder Grashalm und die Korper und Geister von Mannern und Weibern und alles, was sie betrifft, un- aussprechlich vollkommene Wunder sind, alle unter sich zusammen- hangend und doch jedes gesondert und an seinem Platz. Auch laBt sich die Annahme, als gabe es in dem uns bekannten Universum etwas Gottlicheres als Manner und Weiber, nicht vereinen mit der Realitat der Seele.
Manner und Weiber und die Erde und alles, was darauf ist, miissen so genommen werden, wie sie sind, und die Erforschung ihrer Vergangenheit und Gegenwart und Zukunft soil nicht unter- brochen werden und soil mit volliger Unbefangenheit geschehen. Auf dieser Basis spekuliert die Philosophic, immer im Hinblick auf den Dichter, immer mit Rucksicht auf das ewige Streben aller nach Gliick, niemals im Gegensatz zu dem, was fiir die Sinne und fiir die Seele klar ist. Denn das ewige Streben aller nach Gliick bildet den einzigen Kern gesunder Philosophic. Was weniger umfafk als das, — was weniger ist als die Gesetze von Licht und astronomischer Bewegung — oder weniger als die Gesetze, die den Dieb, den Liigner, den Fresser, den Saufer in diesem und zweifellos auch in jenem Leben verfolgen — oder was weniger ist als weite Zeitraume oder langsame Verdichtung oder geduldiges Aufeinanderlagern von Erdschichten,
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- das hat keinen Wert. Alles, was Gott in eine Dichtung oder in ein philosophisches System bringen will, gleichwie als ein Geschopf oder einen EinfluB, der bekiimpft wird, hat gleichfalls keinen Wert.
Gesundheit und Einheitlichkeit charakterisieren den groBen Mei- ster, — wird in einem Prinzip gefehlt, so ist alles verfehlt. Der groBe Meister hat mit Wundern nichts zu tun. Er sieht seine eigene Gesundheit in der Gemeinschaft mit der Masse, — er sieht einen Mangel in hesonderem Hervorragen. Vollkommene Gestalt wachst auf allgemeinem Boden. Unter dem allgemeinen Gesetz zu stehen, ist groB, denn das heiBt damit harmonieren. Der Meister weifi, daB er unbeschreiblich groB ist, und daB alle unbeschreiblich groB sind, — daB zum Beispiel nichts groBer ist, als Kinder zu empfangen und gut zu erziehen — daB Sein gerade so groB ist wie Beobachten oder Erzahlcn.
Fur das Werden groBer Meister ist die Idee der politischen Frei- heit unerlaBlich. Freiheit findet Helden als Anhanger, wo inimer Manner und Frauen leben, — aber sie findet keine treueren An- hanger und kein freudigeres Willkommen als bei den Dichtern. Sie sind die Stimme und die Verkorperung der Freiheit. Sie sind seit Urzeiten dieser groBen Idee wiirdig, ihnen ist sie anvertraut, und sie miissen sie bewahren. Nichts hat den X^orrang vor ihr, und nichts kann sie entstellen oder erniedrigen.
Da die Eigenschaften der Dichter des Kosmos in ihrem leibhaf- tigen Korper verdichtet sind und in der Lust an den Dingen, so besitzen sie den Vorteil der Echtheit vor aller Erfindung und Romantik. Wenn sie sich verstromen, so werden alle Dinge von Schauern Lichts iiberflossen, — das Tageslicht wird von fliegenderem Glanze erleuchtet, — die Tiefe zwischen Sonnenauf- und -untergang wird vielmals liefer. Jeder bestimmte Gegenstand, jeder Zustand, jede Kombination, jeder Vorgang entfaltet eine besondere Schon- heit, — das Einmaleins die seine, — das Alter die seine, — das Zim- mermannshandwerk die seine, — die GroBe Oper die ihre, — der riesige, scharfgeschnittene New Yorker Klipper auf See unter Dampf oder vollen Segeln leuchtet in unvergleichlicher Schonheit, — die weiten, ineinander wirkenden Kreise der Regierung Amerikas leuch- ten in gleicher Schonheit, — und die gewohnlichsten klaren Ent- schliisse und Handlungen in gleicher Schonheit. Die Dichter des Kos- mos schreiten durch alle Hindernisse und Barrikaden und Unruhen
und Kriegslisten hindurch zu den Hauptprinzipien. Sie stiften Nutzen, — sie erlosen die Armut von ihrer Not und die Reichen von ihrem Hochmut. Du stolzer Besitzender, sagen sie, sollst nicht mehr gewinnen und geniefien als irgendein anderer. Der Eigen- tiimer der Bibliothek 1st nicht der, der einen Rechtsanspruch auf sie hat, weil er sie gekauft und bezahlt hat. Jedweder, Mann oder Weib, ist Eigen turner der Bibliothek, der all die verschiedenen Zungen, Themen und Stilarten zu lesen vermag und sie ohne Miihe in sich aufnimmt. und den sie geschmeidig, stark, reich und weit machen.
Diese amerikanischen Staaten, stark, gesund und vollkommen, sollen kein Vergniigen an Verzerrungen der natiirlichen Vorbilder haben und durfen sie nicht zulassen. In Gemalden, Bildwerken oder Schnitzereien in Stein oder Holz, in Illustrationen von Biichern und Zeitungen, in den Mustern von Geweben, in allem, was Raume, Mobel oder Kleider schmiicken oder auf Gesimsen oder Denkmalern stehen soil oder auf dem Bug von Schiffen oder sonst irgendwo vor Menschenaugen im Haus oder drauBen, ist alles, was die recht- schaffene Form verzerrt oder unirdische Wesen, Ortlichkeiten oder Umstande darstellt, ein abscheulicher Unfug. Die menschliche Gestalt vor allem ist so erhaben, daB sie niemals ins Lacherliche gezogen werden sollte. Ubertriebene Ornamente zu einem Werk durfen nicht geduldet werden, sondern nur die, die den vollkom- menen Erscheinungsformen der freien Natur entsprechen und un- widerstehlich aus der Natur des Werkes selber quellen und zu seiner Vollendung notig sind. Die meisten Schopfungen sind am schb'nsten ohne Ornament. Ubertreibungen rachen sich an der Physiologic des Menschen. Reine und starke Kinder werden nur in den Ge- meinwesen erzeugt und ernpfangen, wo die Vorbilder natiirlicher Formen am Licht jedes Tages stehen. Der groBe Genius und das Volk dieser unserer Staaten darf nicht ins Romanhafte erniedrigt werden. Wenn wirkliche Geschehnisse richtig erzahlt werden, be- darf es keiner Romane mehr.
Die groBen Dichter sind kenntlich an dem Wegfall aller Kunst- griffe und an der Offenbarung vollkommener personlicher Lauter- keit. Hinfort soil keiner von uns mehr lugen, denn wir haben erkannt, daB Aufrichtigkeit die innere und aufiere Welt gewinnt, ohne jede Ausnahme, und daB noch nie, seit unsere Erde sich zur
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Weltkugel geballt hat, Betrug, Ranke und Verschlagenheit aucb nur ein Kornchen von ihr, auch nur den Hauch eines Schattens an sich zu ziehen vermochten, — und dafi ein falscher, kriecherischer Mensch sich auch hinter dem Reichtum und der Macht eines Staates oder der ganzen Staatenrepublik nicht zu verbergen vermag, son- dern entdeckt und der Verachtung ausgeliefert wird, — und dafi die Seele sich niemals narren lafit und nicht genarrt werden kann, - und dafi Wohlstand ohne die liebende Zustimmung der Seele nur eine stinkende Blahung ist, — und dafi es noch nie ein Wesen ge- geben hat, das von Natur die Wahrheit hafit: auf alien Kontinenten dieser Erde nicht und auf keinem Planeten und Satelliten, nicht in der Dunkelheit vor der Geburt, noch irgendwann im Wechsel des Lebens, noch irgendwo im Verborgenen oder im lebhaftesten Treiben, noch in irgendeiner Gestalt oder Umgestaltung.
Hochste Vorsicht und Klugheit, festeste organische Gesundheit, starke Hoffnungskraft, Liebe zu Frauen und Kindern, die Kraft, aus allem Nahrung zu ziehen, Storendes zu vernichten, Sinn fur Kausalitat und fiir die vollkommene Einheit der -Natur, und die Fahigkeit, diesen selberi Sinn auch auf die menschlichen Angelegen- heiten anzuwenden, — all das wird an die Oberflache des Welt- bewufitseins heraufbeschworen, um Teil des grofiten Dichters zu werden, von seiner Geburt aus Mutterleib und von der Geburt seiner Mutter aus Mutterleib an. Klugheit geht selten weit genug. Man hielt den Burger fiir klug, der auf soliden Gewinn bedacht war und fiir sich und seine Familie gut sorgte und ein ehrbares Leberi fiihrte ohne Schuld und Vergehen. Der grofite Dichter sieht und wiirdigt diese haushalterischen Notwendigkeiten, wie er die Notwendigkeit von Essen und Schlafen sieht, aber er hat einen hoheren Begriff von Klugheit und begniigt sich nicht damit, nur die Hand auf die Klinke der Pforte zu legen. Das wahre Wesen der Lebensklugheit besteht nicht darin, dafi man sich das Leben behag- lich gestaltet und zu Reife und Ernte fiihrt. Es geniigt, dafi man, um unabhangig zu sein, eine kleine Summe als Sterbegeld auf die Seite legt, ein paar Balken um sich her und ein paar Schindeln iiber dem Kopfe hat auf einem eigenen Fleckchen amerikanischer Erde und die paar Dollars verdient, die man jahrlich zur Kleidung und Nahrung braucht. Aber eine traurige Lebensklugheit ist es, ein so erhabenes Wesen, wie den Menschen, an die jahrelange,
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bleiche Hast des Gelderwerbes hinzuwerfen, mit all ihren sengen- den Tagen und eisigen Nachten, all ihren wiirgenden Enttau- schungen und heimlichen Ranken, mit ihrerewigen Hetzjagd durch Geschaftsraume und Salons, oder schamlosem Prassen, wenn andere verhungern; mit all ihrer Gefiihllosigkeit fur Bliite und Duft der Erde, fiir Blumen und Luft und Meer, fiir die wahre Freude an den Frauen und Mannern, denen du begegnest oder mit denen du zu tun hast, in Jugend und mittlerem Alter, und mit Krankheit und verzweifeltem Ekel am Ende eines Lebens ohne Erhebung und Unschuld (magst du es auch zu einer Rente von zehntausend Dollars im Jahre oder zu einem Sitz im KongreB oder in der Regierung gebracht haben), und schlieBlich mit dem grafilichen Zahneklappen eines Todes ohne Heiterkeit und Majestat. Das ist der grofie Selbst- betrug in der modernen Zivilisation und ihrem Streben, der die Oberflache und die unleugbar an sich bedeutende Erscheinungs- form der Zivilisation entstellt und ihre riesigen Ziige, die immer schneller und schneller wachsen, mit Tranen feuchtet, da noch die Kiisse der Seele sie nicht erreichen konnen.
Noch ist die rechte Erklarung nicht gegeben, was Klugheit sei. Die Klugheit bloBer Wohlhabenheit und Ehrbarkeit eines hoch- geachteten Lebens ist zu schwach erkennbar fiir das Auge, um iiberhaupt beurteilt zu werden, da alle Mafie von klein oder grofi spurlos verschwinden bei dem Gedanken an die Klugheit, die die rechte ist fur die Unsterblichkeit. Was ist die Weisheit, die den sparlichen Raum eines Jahres oder von siebzig oder achtzig Jahren ausfiillt, verglichen mit der Weisheit, die durch Jahrtausende sich breitet und zu bestimmten Zeiten rnit gewal tiger Verstarkung und reicher Gegenwart wiederkehrt, mit den hellen Gesichteuji von Hochzeitsgasten, die von iiberallher, soweit du sehen kannst, frohlich auf dich zu eilen? Nur die Seele ist selbstherrlich, — alles andere steht in Beziehung zu dem, was nachfolgt. Alles, was ein Mensch tut oder denkt, hat seine Folgen. Klein oder groB, gebildet oder ungebildet, weiB oder schwarz, gesetzlich oder ungesetzlich, krank oder gesund, — alles was ein Mann oder Weib, vom ersten Atem- zug bis zum letzten, Kraftvolles, Giitiges, Wahrhaftiges tut, ist sicherlich fiir ihn oder sie von Nutzen in der unerschiitterlichen Ordnung des Weltalls in alle Ewigkeit. Die Klugheit des groBten Dichters antwortet letzten Endes der Sehnsucht der iibervollen
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Seele, weist nicbts von sich, iibergeht nichts aus Riicksicht auf sich oder andere, kennt keinen besondern Sabbat oder Gerichtstag, scheidet die Lebenden nicht von den Toten oder die Gerechten von den Ungerechten, ist zufrieden mit dem Gegenwartigen, fiigt zu jedem Gedanken und jeder Tat das entsprechende Gegenteil und kennt weder Vergebung noch BuBe!
Die Probe darauf, ob er er der gro'Bte Dichter ist, muB er jetzt und heute bestehen. Wenn er sich nicht von der unmittelbaren Gegenwart wie von gewaltiger Meerflut durchstromen laBt, — wenn er nicht selbst die Gegenwart in ubertragener Form ist und wenn ihm die Ewigkeit nicht offen steht, die alle Epochen, Schauplatze und Vorgange, alle belebten und unbelebten Formen miteinander verschmilzt, die alle Zeiten umschliefit, die aus ihrer unfaBbaren Unbestimmtheit und Grenzenlosigkeit in die dahingleitenden Er- scheinungsformen des „ Heute" emportaucht und von den lenksamen Ankern des Lebens festgehalten wird, die das Fleckchen Gegenwart zum tJbergang macht von dem, was war, zu dem, was sein wird, und sich in der Welle just dieser Stunde und just dieses einen von den sechzig schonen Kindern dieser Stunde offenbart, — so mag er, der der groBte Dichter sein wollte, noch einmal untertauchen in den allgemeinen Strom und seine Entwicklung abwarten.
Der letzte Priifstein jeder Dichtung, jedes Charakters oder Werks bleibt immer derselbe. Der vorausschauende Dichter versetzt sich selbst um Jahrhunderte voraus und beurteilt alles Vollbringen unabhangig vom Wechsel der Zeit. Uberlebt er sie? Dauert er ungeschmalert fort? Wird derselbe Stil und das Streben des Genius nach solchen Zielen auch dann noch geniigen? Ist der Marsch von /rim, hundert und Tausenden von Jahren willig nach rechts oder links abgewichen um seinetwillen? Wird er noch lange nach seinem Tode geliebt? Denkt der junge Mann und das junge Weib oft an ihn? und denken die Reifen und die Alten an ihn?
Eine grofie Dichtung ist fur alle Zeiten Gemeingut und fur alle Stande und Rassen, alle Klassen und Sekten, und fur das Weib ebenso wie fur den Mann und fur den Mann ebenso wie fur das Weib. Eine groBe Dichtung ist kein AbschluB fur Mann oder Weib, sondern ein Anfang. Hat sich jemand gedacht, er konne sich endlich unter einer unanfechtbaren Autoritat niederlassen, sich bei ihren Krklarungen beruhigen, diese sich zu eigen machen und vollig
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befriedigt sein? Zu keinem solchen Ziel fiihrt der groBte Dichter - er bringt weder AbschluB noch behagliches Ausruhen und Fett- werden. Sein EinfluB aufiert sich, wie der der wirkenden Natur. Wen er mit sich nimmt, den fiihrt er mit festem, sicherem Griff in lebendige, bis dahin unerreichte Regionen, — von nun an gibt es keine Ruhe mehr, — sie sehen den Raum und unaussprechlichen Glanz, der die alten Platze und Lichter in tote Leeren verwandelt. Nun soil ein Mensch entstehen aus Aufruhr und Chaos, -- der iiltere ermutigt den jiingeren und unterweist ihn, — die zwei sollen furchtlos zusammen ausziehen, bis die neue Welt sich selbst eine Himmelsbahn schafft, selbstbewufit auf die kleineren Sternen- bahnen schaut und durch die endlosen Kreise schwingt, um nie wieder stillzustehn.
Bald wird es keine Priester mehr geben. Sie haben ihre Arbeit getan. Ein neuer Orden wird kommen, und seine Mitglieder sollen Menschenpri ester sein und jeder Mensch soil sein eigener Priester sein. Sie sollen ihre Inspiration in den realen Objekten von heute finden, die die Symptome der Vergangenheit und Zukunft sind. Sie sollen nicht die Unsterblichkeit oder Gott verteidigen wollen oder die Vollkommenheit der Dinge oder die Freiheit oder die kostliche Schonheit und Wirklichkeit der Seele. Sie sollen aus Amerika hervorgehen und Widerhall finden in aller Welt.
Die englische Sprache ist der groBen amerikanischen Ausdrucks- form giinstig, — sie ist sehnig genug und geschmeidig und voll- standig genug. Auf dem /alien Stamm einer Rasse gewachsen, die durch alien Wechsel der Verhaltnisse nie ohne den Gedanken poli- tischer Freiheit, den Lebensodem aller Freiheit, gewesen ist, hat sie Bestandteile von feineren, anmutigeren, zarteren und glatteren Sprachen in sich aufgenommen. Sie ist die machtige Sprache des Trotzes, — sie ist das Idiom des gesunden Menschenverstandes. Sie ist die Sprache der stolzen und melancholischen Rassen und aller, die vorwartsstreben. Sie ist die auserwahlte Sprache, um Entwick- lung auszudriicken und Glauben, Selbstachtung, Freiheit, Recht, Gleichheit, Freundlichkeit, Fiille, Klugheit, Entschiedenheit und Mut. Sie ist das Mittel, das das Unaussprechliche annahernd aus- driicken soil.
Keine groBe Literatur, keine Stil- oder Redekunst, keine Um- gangssitten, kein gesellschaftlicher Verkehr oder Haushalt oder
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offentliche Einrichtungen oder das Verhalten von Arbeitgebern gegen ihre Angestellten, kein Vorgang in der Exekutive oder in Heer und Flotte, in Gesetzgebung oder Recbtsprechung, keine Polizei, Schule oder Arcbitektur nocb Lieder und Vergniigungen konnen auf dieDauer dem eifernden und leidenschaftlichen Instinkt des amerikanischen Grundgefiihls entgehen. Mag es vom Munde des Volkes ausgesprochen werden oder nicbt, — es klopft im Herzen jedes freien Mannes und VVeibes als lebendige Frage nacb dem, was verganglich ist oder was bestimmt ist, zu dauern. 1st es gleich- bedeutend mit meinem Lande? t)bt es seine Wirkungen ohne scbandlicbe Parteilichkeit aus? Ist es bestimmt fur die immer wacbsende Gemeinschaft von Briidern und Geliebten, groB, fest vereint, stolz, edelmiitig wie keine je zuvor? Ist es etwas friscb aus den Feldern Gewachsenes oder aus der See Gefiscbtes, fur mich bier und beute? Icb weiB: was fur micb, einen Amerikaner, in Texas, Ohio, Kanada antwortet, muB aucb fiir jedes Individuum und jede Nation antworten, die mit zu meinem Stoff geboren. Ist das eine Antwort? Ist es bestimmt, die Jungen der Republik zu saugen? Lost es sich willig auf in der suBen Milcb der Briiste der Mutter vieler Kinder?
Amerika riistet sicb in ruhiger Haltung und Wohlwollen fur die Besucber, die sicb angesagt baben. Nicht Intellekt wird ihre Be- glaubigung sein und sie willkommen machen. Der Begabte, der Kiinstler, der Erfinder, der Verleger, der Staatsmann, der Gelehrte, - sie alle werden nicht gering geschatzt, — sie kommen an ibren recbten Platz und verricbten ihr Werk. Auch die Seele der Nation verrichtet ihr Werk. Sie weist keinen zuriick, laBt alle zu. Aber nur denen, die ihresgleichen sind, wird sie auf halbem Wege ent- gegengehen. Ein einzelner Menscb ist so herrlicb wie eine Nation, wenn er die Eigenschaften hat, die eine herrliche Nation schaffen. Die Seele der groBten, reichsten und stolzesten Nation mag wohl auf halbem Wege der ihrer Dicbter entgegengeben.
DEMOKRATISGHE AUSBLICKE
Die gewaltigste Lehre der Natur im ganzen Weltall 1st vielleicht die Lehre von der Vielfaltigkeit und der Freiheit; tmd so mu6 sie auch fur Politik und Fortschritt derNeuen Weltgelten. Wenn jemandzum Beispiel gefragt wiirde, welches die wesentlichen Unterscheidungs- merkmale zwischen dem politischen und allgemeinen Leben Euro- pas und Amerikas seien gegenuber der alten asiatischen Kultur, wie sie sich bis auf den heutigen Tag in China und der Tiirkei fortgeerbt hat, so konnte er die Antwort in John Stuart Mills tiefem Essay uber ,, Freiheit in der Zukunft" fin den, wo zwei Haupt- bestandteile oder Grundlagen fur eine wahrhaft grofie Nation ge- fordert werden: erstens eine reiche Vielfaltigkeit des Charakters, und zwei tens freier Spielraum fur die menschliche Natur, um sich in zahllosen, ja widerstreitenden Richtungen zu entfalten (was fur die ganze Menschheit vielleicht etwas Ahnliches bedeutet wie die Einfliisse, die, auf grenzenlosem Feld, jene immerwahrende Heil- wirkung der Luft bewirken, die wir das Wetter nennen: jene un- endliche Zahl von Stromungen und Kraften, Einfliissen, Tempera- turen, sich kreuzenden Wirkungen, deren unablassiges Gegenspiel bestandige Neubelebung und Vitalitat bringt). Mit diesem Gedanken und allem, was notwendigerweise aus ihm folgt, will ich meine Betrachtungen beginnen.
Amerika, das die Gegenwart mit den gewaltigsten Taten und Problemen erfiillt und die Vergangenheit samt dem Feudalismus frohen Mutes in sich aufnimmt (da in der Tat ja die Gegenwart nur der gesetzliche Erbe der Vergangenheit ist, den Feudalismus inbegriffen), — Amerika zahlt meines Erachtens fur seine Recht- fertigung und seinen Erfolg (denn wer diirfte jetzt schon von
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Erfolg sprechen?) fast ausschlieBlich auf die Zukunft. Diese seine Hoffnung ist nicht unberechtigt. Wir sehen heute vor uns, wenn auch erst in ahnungsvollem Dammer, eine zahlreiche, gesunde, gigantische Nachkommenschaft. Ich hake alles, was unsere Neue Welt bisher geleistet hat und was sie jetzt ist, fiir wesentlich un- wichtiger als das, was sie in Zukunft erreichen wird. Als einzige von alien Nationen haben diese Staaten den Versuch unternommen, die lang, lang hinausgeschobenen moralisch-politischen Gedanken von Jahrhunderten, das republikanisch-demokratische Prinzip und die Theorie von Entwicklung und Vervollkommnung durch frei- willige Einrichtungen und Selbstvertrauen in Formen von dauern- der Macht und Brauchbarkeit zu bringen, und zwar auf Gebieten, die an Weite mit den MaBen des physikalischen Kosmos wetteifern. Wer iii der Tat auBer den Vereinigten Staaten hat je in der Ge- schichte sich diese Gedanken in unbekummertem Glauben zu eigen gemacht und steht auf ihnen, handelt nach ihnen und setzt sich fiir sie ein so wie sie?
Doch genug des Vorspiels. LaBt mich nunmehr den Grundton der folgenden Melodic anschlagen. Vorausschicken will ich nur noch dies: Wenngleich die einzelnen Teile dieser Schrift zu ganz verschiedenen Zeiten niedergeschrieben wurden und mir vielleicht vorgeworfen werden kann, dafi sie teilweise einander widersprechen, — denn die groBe Frage der Demokratie hat, wie alle groBen Fragen, ihre verschiedenen Seiten, — so fuhle ich diese Teile doch in meinem eigenen BewuBtsein und in meinen Uberzeugungen harmonisch verschmolzen und mochte sie nur aus solcher Einheit heraus verstanden wissen, jede Seite, jede Forderung, jede Be- hauptung bedingt und gemaBigt durch die anderen. Man vergesse auch nicht, daB sie nicht das Ergebnis eines Studiums politischer Okonomie sind, sondern des schlichten Menschenverstandes und vieler Beobachtungen und Wanderungen unter Menschen in diesen Staaten, in Krieg und Frieden dieser aufwiihlenden Jahre.
Ich will nicht herumreden um die furchtbaren Gefahren des allgemeinen Wahlrechts in den Vereinigten Staaten. In der Tat, ich schreibe, um diesen Gefahren, die ich zugebe, ins Auge zu sehen. Ich schreibe fiir die, in deren Geist die wechsel voile Schlacht tobt zwischen den demokratischen Uberzeugungen und Bestrebun- gen und dem BewuBtsein von der Roheit, Lasterhaftigkeit und
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Launenhaftigkeit des Volkes. Ich werde die Worte Amerika und Demokratie als gleichbedeutende Ausdriicke gebrauchen. Das Er- gebnis, um das es sich handelt, ist kein geringes. Die Vereinigten Staaten sind bestimmt, entweder iiber die glanzvolle Geschichte des Feudalismus hinauszukommen oder sich als den furchtbarsten Fehlscblag aller Zeiten zu erweisen. Nicht die mindeste Sorge babe ich um die Aussichten fiir ibren materiellen Erfolg. Ihren geo- graphischen, Geschafts- und Produktionsmoglichkeiten ist eine triumphale Zukunft gewiC. In dieser Hinsicht wird die Republik sicherlich bald (wenn es nicht jetzt schon der Fall ist) alle bisber bekannten Beispiele iiberholen und die Welt beberrscben.
All das zugegeben, auch den unschatzbaren Wert unserer poli- tischen Institutionen und des allgemeinen Wahlrecbts (iiberhaupt sollen grundsatzlich alle Tiiren so weit wie moglich geoffnet wer- den!), sage icb dennoch aus einer viel grofieren Tiefe heraus: um aus unserer westlicben Welt eine Nation zu scbaffen, die alien bis- her bekannten iiberlegen ist und alle Vergangenheit iiberwindet, braucben wir vor all em eine starke, doch unbeargwohnte Literatur, vollkommene Personlichkeiten und Gesellschaftsformen, die ur- spriinglicb und transzendental und der Ausdruck der Demokratie und des modernen Lebens sind, — ein Ausdruck, der bisher iiber- haupt noch nicht gefunden worden ist. Aus ihnen heraus muB zugleich eine neue Rasse von Lehrern und von vollkommenen Frauen entstehen, unerlaBlich als Stamm fiir die Fortpflanzung einer Neuen Welt. Denn Feudalismus, Kastengeist und die kirch- liche Uberlieferung schwinden zwar merklich aus unsern politischen Institutionen, aber halten die wichtigeren Gebiete der Erziehung, des sozialen Lebens und der Literatur, die die wahre Grundlage der Nation sind, auch in diesem Lande geistig in festem Besitz.
Ich sage, dafi die Demokratie sich nicht selber einwandfrei recht- fertigen kann, ehe sie nicht ihre eigenen Formen von Kunst, Dich- tung, Erziehung und Theologie findet und in einer gewissen Fiille entfaltet und alles Bestehende, alles, was irgendwo in der Ver- gangenheit unter entgegengesetzten Einfliissen entstanden ist, ausschaltet. Es erstaunt mich, dafi so viele Stimmen, Federn, Geister in der Presse, in Horsalen, in unserm KongreB usf. intellek- tuelle Themen diskutieren, Finanzschwierigkeiten, Probleme der Gesetzgebung, Stimmrecht, Tarif- und Arbeiterfragen und all die
Geschafts- und Wohlfahrtsbediirfnisse Amerikas nebst Vorschlagen zur Abhilfe, die oft ernster Beachtung wert sind, — wahrend ein Bediirfnis, eine tiefste Liicke besteht, die kein Auge zu bemerken, keine Stimme zu nennen scbeint. Unser Grundbediirfnis in den Vereinigten Staaten von beute, im engsten, umfassendsten AnschluB an die gegenwartigen Verhaltnisse und an die Zukunft, ist eine Klasse und die klare Idee einer Klasse von einheimiscben Autoren, eine Literatur, ganz anders und viel hoher geartet als alle bisber bekannten: priesterlicb, modern, fahig, sich zu messen mil den Moglichkeiten unserer Lander, die ganze Fiille amerikaniscber Mentalitat, amerikanischen Geschmacks und Glaubens durchdrin- gend und ihr einen neuen Odem einhaucbend, ihr Entscheidungs- kraft verleihend; eine Literatur, die auf die Politik eine tiefere Wirkung ausiibt als das oberflachliche Volkswahlrecbt und letzten Endes auch von innen her und indirekt die Wahlen der Prasidenten und Kongresse beeinfluBt, — die nacb alien Ricbtungen ausstrablt, wiirdige Lehrer, Schulen, Umgangsformen erzeugt und als groBtes Ergebnis das schafft, was weder die Schulen nocb die Kirchen und ihr Klerus bisher geschaffen haben und ohne das diese Nation ebensowenig dauernd und fest stehen kann wie ein Haus ohne Grundmauern: namlich einen religiosen und moralischen Charakter unterhalb der politischen, wirtschaftlichen und intellektuellen Grundlagen der Ver- einigten Staaten. Denn, nicht wahr, lieber, ernsthafter Leser? — die Bewohner unseres Landes mogen allesamt lesen und schreiben konnen und allesamt das Wahlrecht besitzen, und doch kann es ihnen an der Hauptsache ganzlich fehlen — und diese will ich bier andeuten. Das Problem der Menschheit in der ganzen zivilisierten Welt von heute ist, von genugend hoher Warte aus betrachtet, sozial und religios und muB letzten Endes von der Literatur in Angriff genommen und behandelt werden. Nie war ein solches Bediirfnis nach etwas vorhanden wie bier in den Staaten nach dem Dichter der Moderne oder dem groBen Literatus der Moderne. Zu alien Zeiten vielleicht ist der Kernpunkt jeder Nation, von dem aus sie am starksten gelenkt wird und andere lenkt, ihre nationale Lite- ratur, besonders ihre urtiimlichen Dichtungen. Vor alien alteren Landern wird in Amerika eine grofie originale Literatur sicherlich die Rechtfertigung und Biirgschaft (in mancher Hinsicbt die ein- zige Biirgschaft) der Demokratie werden.
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Nur wenige erkennen, wie die grofie Literatur alles durchdringt, allem Farbe gibt, Vielheiten und Individuen gestaltet und auf feinsten Wegen mit unwiderstehlicher Gewalt nach ihrem Willen aufbaut, erhalt oder zerstort. Warum ragen in der Erinnerung iiber alien Nationen der Erde zwei besondere Lander empor, win- zig an sicb und doeh unsagbar gigantiscb, schonheitstrahlend, saulenhaft? Unsterblich lebt Juda, und Griechenlarid unsterblich, in ein paar Gedichten.
Naher als das. Es ist nicht alien bewufit, aber es ist vvabr, daB, wie der Genius Griechenlands samt aller Gesellscbafts- und Person- lichkeitsbildung, aller Politik und Religion dieser wunderbaren Staaten auf ihrer Literatur und Asthetik beruhte, daB, sageicb, ebenso spaterhin die Literatur der Haupttrager des europaischen Rittertums, der feudalen, geistlichen, dynastischen Welt dort driiben war, ihr Knochenbau, der sie auf Hunderte und Tausende von Jahren zu- sammenhielt, ihr Fleisch und ihre Bliite trug, ibr Form und Rich- tung gab, sie abrundete und sie bewufit und unbewuBt, in Blut, Rasse und Glauben ihrer Menschen, so durchtrankte, daB sie bis auf den heutigen Tag ihre Vorherrschaft erhalten hat, dem mach- tigen Wechsel der Zeit zum Trotz, — die Literatur, die bis ins Mark drang, vor allem ihr bedeutendster Teil, ihre bezaubernden Lieder, Balladen und Gedichte.
Die Einfliisse, die nach dem blofien Urteil der Sinne und Augen die Weltgeschichte pragen, sind, ich weiB es wohl, vor allem die Kriege, das Aufsteigen uud Sinken der Dynastien, die Verschie- bungen des Handels, wichtige Erfindungen, Schiffahrt, militarische und biirgerliche Regierungen, das Erscheinen machtvoller Person- lichkeiten, Eroberer usf. All das spielt natiirlich eine Rolle; und doch wird vielleicht ein einziger neuer Gedanke, eine Idee, ein abstraktes Prinzip, ja, eine literarische Stilform, die fur ihre Zeit paBt und von einem groBen Autor in Form gebracht und in die Menschheit geworfen wird, im rechten Augenblick Veranderungen, Werden und Vergehen bewirken, weit starker als die langsten und blutigsten Kriege oder der gewaltigste lediglich politische, dynastische oder kommerzielle Umsturz.
Kurz gesagt: wie es auBer allem Zweifel ist, - - wenn es auch nicht alle sehen, — daB eine Handvoll Dichter, Philosophen und Autoren ersten Ranges der gesamten Religion, Erziehung,
Gesetzgebung, Gesellschaftsordnung usf. der zivilisierten Welt im wesentlichen Form und Bestand gegeben haben, indem sie die Atmo- sphere bestimmten und schufen, aus der heraus jene entstanden sind, — so muB auch der innere, wahre demokratische Aufbau des amerikaniscben Kontinents heute und in Zukunft von solchen Mannern gepragt werden, und zwar mehr als je. Dabei ist eines wichtigen Unterschiedes zu gedenken: wahrend im Altertum und Mittelalter die hochsten Gedanken und Ideale sich aus sich selbst heraus verwirklichten und Ausdruck und Verbreitung ebensosehr und vielleicht mehr durch andere Kunste fanden, als durch die Literatur im eigentlichen Sinne, die der Masse der Menschen, ja sogar auch den meisten hervorragenden Menschen, verschlossen war, ist im Gegenteil die Literatur unserer Tage nicht allein inni- ger mit den Anforderungen der Zeit verbunden, sondern hat sich zu dem einzigen und allgemeinen Mittel zur moralischen Beein- flussung der Welt entwickelt. Malerei, Bildhauerei und Theater spielen offenbar keine unersetzliche oder auch nur wichtige Rolle mehr in den Auswirkungen und der Mittlerschaft des Intellekts, der lebendigen Nikzlichkeit und selbst der hohen Asthetik. Die Architektur hat zweifellos noch gewisse Fahigkeiten und eine wirkliche Zukunft. Die Musik, die grofie Verkniipferin, das Ver- geistigtste und zugleich Sinnlichste, was es gibt, eine Gottin, aber doch ganz menschlich, schreitet fort und behalt ihre hohe Stellung; in einem gewissen Bereich gibt sie, was nichts aufier ihr zu geben vermag. Aber es ist unleugbar, dafi in der Zivilisation von heute vor alien anderen Kiinsten die Literatur die Herrscherin ist, die lebendigen Nutzen wirkt, die den Charakter von Kirche und Schule gestaltet oder wenigstens fahig ware, es zu tun. Rechnet man die wissenschaftliche Literatur hinzu, so ist ihr Wirkungskreis in der Tat ohnegleichen.
Ehe ich weitergehe, ist es vielleicht von Bedeutung, gewisse Punkte klarzustellen. Die Literatur baut ihren Weizen auf vielen Feldern, und die einen mogen gedeihen, wahrend die andern zu- riickbleiben. Was ich in diesen Ausblicken sage, gilt hauptsachlich fiir die imaginative Literatur, die Dichtung besonders, die der Grundstock aller Literatur ist. Im Bereich der Wissenschaft und auf dem Sondergebiet des Journalism us sind in diesen Staaten viel- versprechende Anzeichen, ja vielleicht schon Erfiillungen voll
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hochsten Erustes, voll Wirklichkeitskraft und Leben zu erkennen. Diese sind natiirlich modern. Aber in dem Bereich der Einbildungs- kraft und innersten Wesenheit besteht fur unser Zeitalter und unser Land das gebieterische Bedurfnis nach schopferischer Kraft. Denn es 1st nicht nur nicbt genug, daB das neue Blut, der neue innere Bau der Demokratie lediglich durch politische Mittel, oberflacb- liches Wahlrecht, Gesetzgebung usw. belebt und zusammengehalten wird, sondern es ist mir vollig klar, da6 seine Kraft unzureichend, sein Wachstum fraglich und sein wesentlicher Zauber unentfaltet bleiben muB, wenn dieses Neue nicbt tiefer geht, nicht mindestens ebenso fest und warm in den Menscbenherzen und ihrem Fiihlen und Glauben Wurzel faBt, wie der Feudalismus oder die Kirchlich- keit zu ihrer Zeit, und wenn es nicbt seine eigenen ewigen Quellen eroffnet, die je und je aus dem Mittelpunkt fluten. Daher halte icb es fiir moglich, daB, wenn zwei oder drei Dichter (oder auch Kiinstler oder Redner) wirklich amerikaniscben Ursprungs am Horizont aufsteigen wiirden wie Planeten, Sterne erster GroBe, die durcb ihre tlberlegenheit alles, was die einzelnen Rassen und Lander zu geben haben, zusammenschweiBen wiirden, — daB diese den Ver- einigten Staaten mehr Zusammenbalt und moralische Einbeit (die Eigenschaft, die uns heute am notigsten ist) geben wiirden, als alle ihre Verfassungen, alle Bande der Gesetzgebung und Rechtsprechung, alle bisherigen politiscben, kriegerischen oder materiellen Erfah- rungen. Es ware von groBtem Nutzen fiir die Staaten mit all ihrer Verschiedenheit des Klimas, ihrer Stadte und Lebensformen usw., einen alien gemeinsamen, fiir alle typiscben Besitzstand an Helden, Gharakteren, groBen Taten, Leiden, Gliick und Ungliick, Ruhm und Schmach zu haben; noch viel wichtiger aber ware es fiir sie, eine geschlossene Gruppe machtvoller Dichter, Kiinstler und Lehr- meister zu besitzen, die fur uns passen und der Nation Ausdruck verleihen und alles das in sich vereinen und wieder ausstromen wiirden, was allgemeingiiltig, eingeboren und alien gemeinsam ist, im Binnenland und an den Kiisten, in Nord und Siid. Die Ge- schicbtschreiber sagen von dem alten Griechenland mit seinen ewig eifersiichtigen Selbstregierungen, Stadten und Staaten, daB die einzige positive Einheit, die es je besafi oder empfing, die trau- rige Einheit einer schlieBlichen gemeinsamen Unterwerfung unter fremde Eroberer war. Unterwerfung, ZusammenscbluB solcher
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Art ist fur Amerika undenkbar; aber die Furcht vor unversohn- baren Konflikten im Innern und vor dem Mangel an einem ge- meinsamen Gerippe, dasallezusammenhalt, verfolgt micb bestandig. Jedenfalls liegt fur eine lange Periode der Zukunft die Notwendig- keit deutlich zutage, die Staaten in der einzig zuverlassigen Einbeit, der moralischen und kiinstlerischen, zu verschmelzen. Denn ich sage: die wahre Nationalitat der Staaten, die ecbte Union im Falle einer moralischen Krisis, ist und wird letzten Endes weder das ge- schriebene Gesetz sein, noch (wie man gewohnlich glaubt) Selbst- erbaltungstrieb oder gemeinsame finanzielle oder materielle Inter- essen, — sondern die Glut und Macht der Idee, die alles andere unwidersteblicb in sich verschmilzt und alle untergeordneten, beschrankten Unterschiede in der umfassenden, unbeschrankten Gewalt von Geist und Gefiihl lost.
Man mag einwenden (und ich gebe die Starke dieses Einwandes zu), daB ein allgemeines physisches Gedeihen und eine werktiichtige Bevolkerung, die sich alien materiellen Komfort des Lebens schafft, die Hauptsache und geniigend sei. Man mag ins Feld fuhren, dafi unsere Republik durch ihre Taten in Wahrheit heute die gewal- tigsten Kunstwerke, Gedichte usw. hervorbringt, indem sie die Wildnis in fruchtbare Farmen verwandelt und Eisenbahnen, Schiffe, Maschinen usw. schafft. Und man mag fragen: Ist all das nicht in der Tat besser fur Amerika als irgend welche AuBerungen des Rhapsoden, Riinstlers oder Literaten?
Auch ich griiBe diese Leistungen mit Freude und Stolz: und antworte dann, daB die Seele des Menschen nicht durch solche Dinge allein — nein, iiberhaupt nicht durch solche Dinge end- giiltig befriedigt werden kann, sondern nur auf ihnen und alien Dingen steht, wie die FiiBe auf dem Boden stehen und einzig dessen wahrhaft bedarf, was sich auf das Hochste: auf sie selbst allein richtet.
A us solchen Erwagungen, solchen Wahrheiten heraus erhebt sich als Gegenstand dieser Ausblicke die wichtige Frage nach dem Charakter, nach einer ur-amerikanischen Personlichkeit, fur die die Kunst und Literatur Ausdruck und Echo ist und die, in Grenzen, die alien gemeinsam sind, mit alien in Wechselwirkung steht. Diesem Hauptpunkt haben die Denker der Vereinigten Staaten, sonst so scharfsinnig, entweder nur sehr schwache Beobachtung
geschenkt, oder sie verharrten und verharren ihm gegeniiber in Schlafsucht.
Ich fur meinen Teil mochte auch die Politiker und Geschafts- leute unter meinen Lesern aufs eindringlichste warnen vor dem herrschenden Wahn, daB die Begriindung freier politischer Ein- richtungen und eine hochentwickelte, rein verstandesinaBige Ge- schicklichkeit samt allgemeiner Ordnung, materieller Fiille, Ge- werbefleiB usw. (so wiinschenswerte und kostbare Giiter sie auch sein mogen) an sich schon geniige, um unserem demokratiscben Experiment den Erfolg zu sicbern. Obwohl die Union sicb im vollen oder nabezu vollen Besitz aller dieser Vorteile sieht und eben erst siegreicb aus dem Kampf mit den einzigen Feinden her- vorgegangen ist, die sie iiberbaupt zu furchten braucht, namlich denen in ibrem eigenen Innern, — ist dennoch die Gesellscbaft der Vereinigten Staaten angefault, unreif, aberglaubisch und verderbt. Und zwar die politische, durcb Gesetze geschaffene Gesellschaft ebenso wie die private, freiwillige. In jeglicber AuBerung ihrer Energie scheint mir das Wichtigste, das Riickgrat von Staat oder Einzelmensch, das moralische Gewissen, entweder ganzlich zu feblen oder doch bedenklich gescbwacbt oder unentwickelt zu sein.
Ich meine, wir taten am besten, unserer Zeit und unserem Lande scharf ins Gesicht zu blicken, wie ein Arzt, der die Diagnose einer tiefen Krankheit stellt. Nie vielleicht gab es so viel Herzenshohlheit, wie jetzt in den Vereinigten Staaten. Der Erstlingsglaube scheint uns verlassen zu haben. Wir glauben nicht mehr ehrlich an das Grundprinzip der Staaten (trotz aller hektischen Begeisterung und melodramatischem Geschrei), noch an die Menschheit iiberhaupt. Welches durchdringende A uge sahe nicht iiberall durch diese Maske hindurch? Es ist ein erschreckendes Schauspiel. Wir leben durch- weg in einer Atmosphare von Heuchelei. Die Manner glauben nicht an die Frauen und die Frauen nicht an die Manner. Eine An- mafiung ohne Ehrfurcht herrscht in der Literatur. Das Bestreben aller ,,Literaten" ist es, etwas zu finden, womit sie ihren SpaB treiben konnen. Ein Haufen Kirchen, Sekten usw., die traurigsten Phantasmen, die ich kenne, maBt sich den Namen Religion an. Unter- baltung ist Geschwatz. Die Unwahrheit im Geist, die Mutter aller falschen Taten, hat bereits unabsehbare Folgen gezeitigt. Eine scharf- sinnige und aufrichtige Personlichkeit aus dem Zoll-Departement
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in Washington, die ihr Amt zu regelmaBigen Besuchen in die Stadte des Nordens, Siidens und VVestens fiihrt, um Betriigereien auf die Spur zu kommen, hat viel mit mir iiber ihre Entdeckungen gesprochen. Die Verderbtheit unserer Geschaftskreise ist nicht ge- ringer, sondern unendlich viel grofier, als man angenommen hatte. Die nationalen, staatlichen und stadtischen Behorden Amerikas in alien ihren Zweigen und Abteilungen, die Gerichte ausgenommen, sind durch und durch zersetzt von Korruption, Bestechung, Unehr- lichkeit, MiBwirtschaft; und auch die Gerichte sind bereits ange- fressen. Die Rauberei und Schurkerei in den GroBstadten, ob aufier- lich anstandig oder nicht, stinkt zum Himmel. Geschwatzigkeit, laue Liebeshandel, schwachliche Treulosigkeit, diirftige Ziele oder iiberhaupt keine Ziele in der eleganten Welt. In der Geschaftswelt (Geschaft, — dieses allesverschlingende moderne WTort!) ist das einzige Ziel, mit alien Mittel Geld zu machen.* Die Schlange des Zauberers im Marchen fraB alle anderen Schlangen auf; Geldgier ist unsere Zauberschlange, die heute allein das Feld behauptet. Die beste Klasse, die wir aufzuweisen haben, ist nur ein Haute von elegant gekleideten Spekulanten und Pobel. Wahr ist freilich, daB hinter dieser phantastischen Posse, die sich auf der Schaubiihne der Gesellschaft abspielt, solide Dinge und erstaunliche Arbeitsleistungen erkennbar sind, noch in rohen Formen und im Hintergrund, aber bereit, nach vorn zu kommen und fur sich selber zu zeugen, wenn ihre Zeit gekommen ist. Aber die Wahrheit ist darum nicht weniger furchtbar. Ich sage, daB die Demokratie unserer Neuen Welt, - mit so groBem Erfolge sie auch die Massen aus ihrem Sumpf empor- gehoben und materiellen Fortschritt und Produktionskraft und eine gewisse, freilich hochst triigerische, oberflachliche Volks-Intelligenz geschaffen hat, -- dennoch, so weit man sieht, ein fast volliger Fehlschlag in sozialer Hinsicht und in Hinsicht wahrhaft grofier religioser, moralischer und literarischer Ergebnisse ist. Vergebens marschieren wir in nie gesehenem Sturmschritt auf die Bildung eines Reiches zu, kolossaler als die des Altertums, als das Reich Alexanders und die stolzeste Entfaltung Roms. Vergebens haben wir Texas, Kalifornien, Alaska annektiert und langen im Norden nach Kanada und im Siiden nach Kuba. Es ist, als waren wir mit einem riesigen, immer vollstandiger sich auswachsenden Korper ausgestattet, und es bliebe uns nur eine kleine oder gar keine Seele.
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Ich mochte meine Behauptungen noch mil weiteren Beobach- tungen, Lokalbeispielen usw. belegen. Der Gegenstand 1st wichtig und vertragt Wiederholungen. Nach einiger Abwesenheit bin ich jetzt (September 1870) wieder fiir ein paar Ferienwochen in New York und Brooklyn. Der Glanz, die maleriscbe Erscheinung und die ozeaniscbe Weite und Belebtheit dieser beiden grofien Stadte, die unvergleichliche Lage, die Fliisse und die Bai, die glitzernde See, kostspielige, stolze, neue Gebaude, Fassaden aus Marmor und Eisen von eigenartiger GroBe und eleganter Zeicbnung, dazu eine Menge heiterer Farben, vorwiegend weifi und blau, webende Flaggen, zabllose Schiffe, die brausenden StraBen, Broadway, das schwere, tiefe, musikalische Drohnen, das kaum jemals aussetzt, auch nicht bei Nacht; die Hauser der Makler, die reichen Laden, die Werften, der groBe Zentralpark und Brooklyn-Park auf dem Hiigel (wo icb in diesem wundervollen Herbstwetter spaziere, nacbdenklich, beob- achtend, alles in micb aufnehmend), — die Versammlungen der Burger in Gruppen, zur Unterhaltung, beim Handel, bei den Abend- vergniigungen oder vor ihren Quartieren, — all das, sage icb, und Ahnliches befriedigt vollkommen meinen Sinn fiir Macht, Fiille, Bewegung usw. und versetzt mich, durch diese meine Sinne und Neigungen und mein asthetisches BewuBtsein, in eine bestandige Gebobenheit und in das Gefiibl absoluter Erfiillung. Ich fabre iiber die Fliisse im Osten und Norden, auf den Fahren oder mit den Lotsen in ihren Lotsenhausern, oder verbringe eine Stunde in Wall- street oder in der Goldborse: und immer mehr und mehr wird es mir bewuBt, daB (wenn wir iiberhaupt eine solche Zweiteilung zugeben) die Natur groB ist nicht all ein in ihren Bereichen der Freiheit und der frischen Luft, in ihren Stiirmen, in den Herr- lichkeiten von Tag und Nacht, den Bergen, Waldern und Meeren, — sondern ebenso groB in den kiinstlichen Schopfungen der Men- schen, — in dieser Uberfiille wimmelnder Menschheit, — in diesen sinnreichen Erfindungen, diesen StraBen, Giitern, Hausern, Schiffen, - diesen hastenden, fiebernden, elektrischen Menschenmassen und ihrem komplizierten Geschaftsgenius (nicht dem geringsten unter den Geniussen) und all diesem machtigen, vielverstrickten Wohl- stand und GewerbefleiB, der bier vereinigt ist.
Aber wenn wir unsere Augen vor dem Glanz und der Grb'Be des allgemeinen oberflachlichen Eindrucks schliefien, ihn streng
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ausschalten und uns in sorgfaltiger Priifung an das halten, was allein von wirklicher Bedeutung ist, an die Personlichkeiten, so forschen und fragen wir: gibt es bei uns Manner, die wiirdig dieses Namens sind? athletische Manner? Gibt es vollkommene Frauen, die der verschwenderischen materiellen LJppigkeit gewachsen sind? Ist eine alles durchdringende Atmosphare edler Sitten vor- handen? Gibt es ein Wachstum schoner junger und majestatischer alter Menschen? Gibt es Kiinste, wiirdig der Freiheit und eines reichen Volkes? Gibt es eine groBe moralische und religiose Kultur, - die einzige Recbtfertigung einer groBen materiellen Kultur? Man muB mir zugeben, daB vor strengen Augen, die die Menscbheit unter das moralische Mikroskop nebmen, eine Art von diirrer und flacber Sahara erscheint: diese unsere Stadte, dicbt gefiillt mit klaglichen Zerrbildern, MiBgestalten, Phantomen, die sinnlosePossen reiBen. Man mu6 mir zugeben, daB allenthalben, im Verkaufs- laden, auf der StraBe, in Kirche, Theater, Restaurant und Amts- zimmer, Geschwatzigkeit und Gemeinheit, niedrige Verschlagenbeit und Treulosigkeit herrschen, — allenthalben eine schwachliche, freche, gezierte, friihreife Jugend, — allenthalben eine unnormale Liisternheit, ungesunde Erscheinungen, mannliche wie weibliche, geschminkt, wattiert, gefarbt, frisiert, mit unreiner Gesichtsfarbe und schlechtem Blut, — die Befahigung zu gesunder Mutterschaft iiberall verkiimmert oder schon ganzlich geschwunden, hohle Be- griffe von Schonheit und dazu eine Art von Umgangsformen oder vielmehr Mangel an Umgangsformen, wie sie (bedenkt man die gebotenen Vorteile) wohl kaum gemeiner in der Welt zu sehen sind*.
* Von diesen kurz angedeuteten Obeln scheinen mir zwei die bedenkliclisten zu si-iii : erstens der Zustand oder das Fehlen oder vielleicht besser das seltsame Ausgeschaltetsein des moralischen Gewissensnervs in der gesamten amerikaniscben Gesellschaft; und zweitens die erschreckende Erschbpfung der Frauen in ihrer Fahigkeit zu gesunder, athletischer Mutterschaft, der Eigenschaft, die die Kro- nung ihres Seins ist und die das Weib fur ewig in hochster Sphare iiber den Mann erhebt.
Ich habe inanchmal in der Tat gedacht, daB der einzige Weg und das einzige Mittei zum Wiederaufbau der Gesellschaft in allererster Linie die Neugeburt, Aufzucht, Entfaltung und Kraftigung von Frauen ware, die fur kiinftige Rassen (da die Bedingungen, die der Geburt vorangehen, von entscheidender Bedeutung sind) eine vollkommene Mutterschaft gewahrleisten. Grofi, groO, wahrlich, viel grbBer, als sie selbst wissen, ist die Sphare der Frauen.
Und nun sage ich: Urn in all diese beklagenswerten Zustande den beilkraftigen Atem gesunden, heroischen Lebens zu blasen, brauchen wir eine auf neuem Boden gegriindete Literatur! — eine Literatur, die nicbt nur die vorhandenen Oberflachen der Erscbei- nungen kopiert und spiegelt oder sich zur Kupplerin des sogenannten Geschmacks macbt; die nicbt nur zum Amusement und Zeitver- treib da ist und das Schone, Verfeirierte , der Vergangenheit An- geborige feiert oder techniscbe, rhytbmische und grammatische Geschicklicbkeit zur Scbau stellt, — sondern eine Literatur, die dem Leben zugrunde liegt, die religios ist und in festem Zusammenhang mit der Wissenschaft steht, die die Elemente und Krafte mit eben- biirtiger Gewalt handbabt, die eine Lebrerin und Erzieberin von Mannern ist und berufen, das Allerwichtigste zu vollenden: die vollige Erlb'sung der Frau aus diesen unglaublicben Scblingen und Geweben einer albernen Putzmacherwelt und aller Art von dys- peptischer Erschlaffung, — um so den Staaten eine starke und holde weiblicbe Rasse zu sichern, eine Rasse vollkommener Mutter.
Und nun, in vollem BewuBtsein dieser Tatsachen und Gesichts- punkte und aller Fur und Wider, die sie einschliefien , in noch immer unerscbiittertem Glauben an die Urstoffe in den amerika- niscben Massen, in beiden Geschlechtern, aucb als Individuen be- trachtet, und in der Erkenntnis, daB sie die breiteste Grundlage fur die beste literariscbe und astbetische Wiirdigung sind, fahre icb mit meinen Betracbtungen, meinen Ausblicken fort.
Zuerst wollen wir seben, was sicb aus einer kurzen, allgemeinen, gefublsmaBigen Betracbtung der politiscben Demokratie uod ihres Ursprungs ergibt, mit Riicksicbt auf einige ibrer allgemeinen Eigen- schaften als Aggregat und als Basis fur unsere zukiinftige Literatur und Autorschaft. Wir werden allerdirigs bald finden, daB die Ur- Idee des Einzelseins des Menschen, Individualismus, sicb allent- halben geltend macbt und sogar aus den entgegengesetzten Ideen herausspringt. Aber die Masse, der Gesamtcharakter muB dennoch aus gebieteriscben Griinden stets sorgfaltig in Erwagung gezogen, im Sinne behalten und beriicksichtigt werden*.
* Die hier angedeutete Frage kann die Zeit allein beantworten. MuB nicht die Tugend des modernen Individualismus, der bestandig wachst und alles er- greift, in Amerika die alte Tugend des Patriotismus, der gliihenden, ausschlieO- lichen Liebe zu dem ganxen Lande ernstlich beeintracbtigen und vielleicbt vbllig
Die politische Geschichte der Vergangenheit ist alles in allem hervorgewachsen aus clem, was den Worten wOrdnung", ,,Sicher- heit", ,,Kaste" zugrunde liegt, und besonders ans dem Bediirfnis nach einer prompt entscheidenden Autoritat und einem Zusammen- halt auf alle Fiille. Wir iiberspringen eine Zeit und kommen zu der Periode, die noch in dem Gedachtnis der heutigen Volker lebt und in der, \vie aus einer Hohle, in der sie geschlummert und Wut in sich aufgespeichert batten, jene larmenden Emporungen und bilderstiirmerischen Ausbriiche voll leidenschaftlichen Gef'iibls fiir alles Unrecbt aufsprangen, die nocb heute nachwirken (von 1790 bis zur Gegenwart, 1870) und die die Form der Staaten veranderten, wohlbekannt aus der Geschichte der alten Welt, von vielem Blut befleckt und begleitet von dem wilden Geschrei und den Forde- rungen der Reaktion. Fast alle diese Bewegungen entsprangen einem innersten Bediirfnis.
Denn wenn alles andere gesagt ist, -- wenn alle die voriiber- gehend oder dauernd gultigen Lehren von Unterordnung, Erfahrung, Besitzrecht usw. angehort und anerkannt wurden, — wenn die wertvolle und wohlbegriindete Regelung unserer Pflichten und Beziehungen innerhalb der Gesellschaft sorgfaltig durchdacht und erschopft ist, — dann erhebt sich das Verlangen, alles dies fort- zuentwickeln und umzugestalten nach der Idee jenes Etwas, das ein Mensch ist (letzter kostbarer Trost des geplagten armen Volkes), und das abseits von allem andern steht, gottlich aus eigenem Recht, gleichviel ob Mann oder Weib, einsam und unantastbar fiir alle Kanonen und alle Obrigkeit der Welt und fiir jegliche Satzung, die aus der Vergangenheit, aus der Staatsraison und den Akten der Gesetzgebung hergeleitet ist oder selbst aus dem, was sich Religion, Demut oder Kiinst nennt. Die Ausstrahlungen aus dieser Wahr- heit sind derSchliissel zu den bedeutungsvollsten Tatenderjiingsten drei Jahrhunderte und haben das politische Werden und Leben Amerikas geschaffen. Sie schreitet sichtbar und noch viel mehr unsichtbar fort. Unterhalb der Stromungen der Gesellschaftsbildung sowohl wie unterhalb der Bewegungen der Politik der fiihrenden
ersticken? Ich selbst zweifle nicht, dafi beide ineinander aufgehen und gegenseitig Kraft und Nutzen aus sich ziehen werden und dafi aus ihnen ein grofieres drittes Ergebnis erwachsen wird. Aber ich fiihle wohl, dafi sie beide und ihr Wider- streit ein ernstes Problem und Paradox fiir die Vereinigten Staaten bilden.
3 Whitman 1
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Nationeri der Welt sehen vvir, selbst inmitten der machtigsten Ten- denzen zur Gemeinschaft , dieses Bild der Vollkommenheit in der Vereinzelung standig vordringen und an Starke zunehmen, dieses Bild individueller personlicher Wiirde eines Einzelmenschen, Mann oder Weib, im wesentlichen charakterisiert nicht durch auBerlich Erworbenes und auBere Stellung, sondern durch den eigenen Stolz; und aller Weisheit endgultiger SchluB ist die einfache Idee, daB das Letzte und Beste, worauf man sich verlassen kann, die Mensch- heit selber ist und ihre eingeborenen, natiirlicben, vollentfalteten Eigenschaften, ohne irgendwelche aberglaubischen Hilfsmittel ; denn andernfalls ware die gesamte Ordnung der Dinge ziellos, ein Be- trug, ein Zusammenbruch. Diese Idee des vollkommenen Indivi- dualismus ist es in der Tat, die der Idee der Gemeinschaft am tiefsten Charakter und Farbe gibt. Denn wir begunstigen eine starke Vergemeinschaftung und einen starken ZusammenschluB hauptsachlich oder ausschlieBlich deshalb, um die Unabhangigkeit des Einzelmenschen zu starken, gleichwie wir auf der Einheit der Union unter alien Umstanden bestehen, um den Rechten der Ein- zelstaaten die vollste Lebensfahigkeit und Freiheit zu sichern, deren jedes genau so wichtig ist wie das Recht der Nation, der Union. Die Demokratie, die den alien Glauben an die notwendige Un- umschranktheit der bestehenden dynastischen Herrschaft auf welt- lichem, geistlichem und scholastischem Gebiet als an die einzige Sicherung gegen Chaos, Verbrechen und Unwissenheit verdrangt, hat das Ziel, durch viele Umwandlungen hindurch und inmitten endloser Torheiten, Streitigkeiten und offensichtlicher Fehlschlage um jeden Preis jene Theorie oder Doktrin zu beweisen, daB der in gesundester, vollster Freiheit erzogene Mensch zu seinem eigenen Gesetz werden kann und muB, das seine Wirkungen auf ihn selbst und seine eigene Disziplin sowie auf alle seine Beziehungen zu den anderen Individuen und zum Staat ausiibt; und daB, wie andere Theorien sich in der bisherigen Geschichte der Volker als weise genug und vielleicht unerlaBlich fur die damaligen Verhaltnisse erwiesen haben, diese Theorie in dem augenblicklichen Zustand unserer zivilisierten Welt das einzige Ideal ist, fur das zu wirken es sich lohnt, weil sie Ergebnisse gewahrleistet, die den Natur- gesetzen entsprechen und denen man zutrauen kann, daB sie, einmal zur Geltung gebracht, aus sich selbst heraus weiterwachsen werden.
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Was das politische Gebiet der Demokratie angeht, das Weg und Boden r'iir andere, umfassendere Gebiete vorbereitet, so gibt es wahr- scheinlich selbst in diesen republikanischen Staaten nur wenige Geister, die das Zutreffende des Satzes begreifen, den uns Abraham Lincoln hinterlassen bat: ,,Die Regierung iiber das Yolk, durch das Volk, fiir das Volk"; eine Formel, deren Fassung wie ein simp- les Wortspiel klingt, deren Sinn aber die Gesamtheit und alle Ein- zelheiten der Theorie umfafk.
Das Volk! Gleichwie unsere riesige Erde selber fiir einen ge- wohnlichen Betrachter voller brutaler Widerspriiche und Argernis ist, so hat auch der Mensch, als Masse betrachtet, etwas Abstofien- des und ist ein bestandiges Ratsel und eine Herausforderung fiir die gebildeten Klassen. Nur der seltene, kosmisch fiihlende Kiinstler- geist, der vom Licht der Unendlichkeit erleuchtet ist, vermag den mannigfachen, ozeangleichen Eigenschaften der Masse gegeniiber- zutreten, — aber Geschmack, Intelligenz und Bildung (so genannt!) sind ihr immer feindlich gewesen und werden es immer sein. Es liegt immer noch ein gewisser Glanz auch iiber den verruchtesten Verbrechen und tierischsten Gemeinbeiten der feudalen und dyna- stischen alten Welt mit ihrem Ensemble so schongekleideter und stattlicher Lords, Koniginnen und Hofe. Aber das Volk ist unge- bildet, ungepflegt, und seine Siinden sind hager und schlecht ernahrt.
Die Literatur hat sich, streng genornmen, niemals um das Volk gekummert, und sie tut es auch heute nicht, was immer man sagen mag. Allgemein gesprochen haben die bisherigen Tendenzen der Literatur nur dazu gedient, kritische und unzufriedene Menschen zu schaffen. Es scheint, als bestande bis dato ein natiirlicher Wider- wille zwischen einem literarischeu oder beruflichen Dasein und dem rauhen, starken Geist der Demokratie. Zwar ist in der jiingeren Literatur haufig genug eine gewisse wohlwollende Haltung und geschaftige Nachstenliebe zu finden; aber ich weifi nichts, was, selbst in unserem Lande, seltener ware als eine wissenschaftliche Wertung und ehrfiirchtige Schatzung des Volkes und seines un- ermeClichen Reichtums an verborgenen Kraften und Fahigkeiten, seiner ungeheuern, kiinstlerischen Kontraste von Licht und Schatten, seiner absoluten VerlaBlichkeit in alien Notfallen (zumal in Amerika) und eines gewissen Hauchs von geschichtlicher GroBe in Krieg und Frieden, die alle vielgeriihmten Beispiele der Heldenbiicher, alle
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hochtonenden Oberlieferungen aller Koterien der Welt weit iiber- trifft.
Die Ereignisse des verflossenen Sezessionskrieges und ihre Ergeb- nisse erweisen fiir jeden, der sie sorgfaltig studiert und versteht, daB die volkstiimlicbe Demokratie trotz all ihren Mangeln und Gefahren sich praktisch durch sich selbst rechtfertigt, weit iiber die stolzesten Forderungen und wildesten Hoffnungen ihrer begeistertsten Vorkampfer hinaus. Vielleicht wird keine Zukunft es je wissen, aber ich weiB es wobl, daB der Kernpunkt dieser grimmigsten und ent- schlossensten aller kriegerischen Unternehmungen der Welt aus- schliefilicb in der namenlosen, unbekannten Truppe lag, und daB ihre heiBe Blutarbeit in jeder wesentlichen Hinsicht freiwillig war. Das Volk kampfte und starb aus eigener Wahl, fiir seine eigenen Ideen gegen den ubermiitigen Angriff der Vormacht der Sklaverei, die seine eigene innerste Existenz bedrohte. In alle Einzelheiten taucbend, bei alien Armeen, im personlichen Umgang mit den Soldaten, babe icb die erhabensten Eindriicke erlebt. Ich babe die Bereitwilligkeit geseben, mit der das eingeborene amerikaniscbe Volk, die friedlichste und gutmiitigste Rasse der Welt, die person- lich unabhangigste und intelligenteste, die am wenigsten geeignet ist, sicb all dem erbitternden VerdruB militarischer Disziplin zu unterwerfen, beim ersten Trommelschlag zu den Waffen sprang, — nicht fur Gewinn noch Rubm, noch um eine Invasion zuriick- zuscblagen, — sondern fiir ein Sinnbild, eine bloBe Abstraktion, - fiir das Leben und die Sicberheit der Flagge. Ich babe die Gelehrig- keit und den Gehorsam ohnegleichen dieser Soldaten gesehen. Ich habe sie durch lange Zeiten hindurch unter dem Druck von Hoff- nungslosigkeit, schlechter Fiihrung und Niederlagen gesehen; habe die unglaubliche Schlachterei gesehen, in die sich die Armeen (wie zuerst bei Fredericksburg und spater in der Wildnis) irnmer wieder ohne Zogern stiirzten, wenn der Befehl zum Vorgehen kam. Ich habe sie im Schiitzengraben gesehen oder hinter Brustwehren kauernd oder durch tiefen Schmutz marschierend, oder in stro- mendem Regen oder dichtem Schneegestober, oder auf Eilmarschen im heiBesten Sommer (wie auf dem Marsch nach Getysbury), - ungeheure, erdriickende Massen, Divisionen, Armeekorps, jeder einzelne Mann so schmierig und schwarz von SchweiB und Staub, daB seine eigene Mutter ihn nicht erkannt haben wiirde, — die
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ganze Uniform schmutzig, blutbefleckt und zerrissen, stinkend nach altem saurem SchweiB, — manch ein Kamerad, vielleicht ein Bruder vom Hitzschlag getroffen, aus Reih und Glied beiseite wankend und vor Erschoptung am Wege sterbend, — aber die groBe Masse unbeirrt weitermarschierend, guten Muts, von Hunger ausgehohlt, aber stahlern in unbesiegbarer Entschlossenheit.
Ich babe diese Rasse in ihrer Gesamtheit nocb furchtbarere, wenn aucb einformigere Priifungen bestehen sehen: — die Ver- wundungen, die Amputationen, die zerschmetterten Gesicbter und Glieder, das schleichende Fieber, das lange ungeduldige Liegen im Belt und alle die Arten von Verstiimmelung, Operationen und Krankheit. Ach, ich sah Amerika noch in seiner friihen Jugend schon ins Lazarett gescbleppt! Dort babe ich diese Soldaten be- obachtet, viele von ihnen erst Knaben an Jahren, und ihren Anstand, ihre religiose Natur und Tapferkeit und ibre liebevolle Herzlicbkeit. Wirklich in ibrer Gesamtheit. Denn an der Front und in alien Lagern standen in zahllosen Zelten die Regiments-, Brigade- und Divisionslazarette, wahrend zugleich iiberall im Lande, in oder bei den Stadten, sich Scharen von riesigen, weiBgewaschenen, iiber- fiillten, einstockigen Holzbaracken erhoben; und dort schlich der Tod bei Tag und Nacht durch die schmalen Gange zwischen den Reihen der Feldbetten oder an den Matratzen am Boden vorbei und beriihrte leise manch einen armen Dulder, oft mit gesegneter, will- kommener Hand.
Ich weiB nicht, ob man mich verstehen wird, aber ich bin mir bewuBt, daB ich letzten Endes diese Zeilen hier schreibe aus dem heraus, was ich lernte, indem ich personlich solchen Szenen bei- wohnte. Eines Nachts wahrend der diistersten Zeit des Krieges, im Lazarett des Patentamts von Washington, als ich am Bett eines Soldaten aus Pennsylvania stand, der im vollen BewuBtsein des ganz nahen Todes vollkommen ruhig dalag, mit edlem, vergeistigtem Anstand, sagte der erfahrene Wundarzt, beiseite gewendet, zu mir, daB er viele, viele Male Zeuge des Sterbens von Soldaten gewesen sei, und daB er bei Bull Run, Antjetam, Fredericksburg usw. tatig gewesen sei, aber daB er noch nie auch nur in einem einzigen Fall gesehen habe, daB ein Mann oder Bursch die nahende Auflosung mit feiger Schwache oder Angst erwartet hatte. Meine eigene Be- obachtung bestatigte diese Bemerkung voll.
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Was haben wir hier, wenn nicht, hoch iiber allem Gerede und alien Streitfragen, die vollgiiltige, letzte Probe auf die Demokratie, offenbart in ihren Personlichkeiten? Seltsam genug: diese Probe bat der Siiden in alien Stiicken genau so bestanden wie der Norden. Obwohl icb nur von dem letzteren sprach, schlieBe icb doch beide mit voller Uberlegung ein. Grof3er, gemeinsamer Stamm ! Fiir micb die vollendete, uberzeugende Gewahr fur die Zukunft: unleugbarer Beweis, auch fiir das scharfste Urteil, von vollkommener Schonheit, Zartheit und Tapferkeit, die kein feudaler Lord nocb die griechische oder romische Rasse je iibertroffen bat. Keine Zunge soil jemals geringschatzig von den Rassen Amerikas, Nord oder Siid, sprechen zu einem, der den Krieg in den grofien Armeelazaretten durch- gemacbt hat.
Indessen freilich ist die Menschheit im allgemeinen auf alien Gebieten immer voller verstockter Bosheit gewesen und ist es noch. In Stunden der Niedergeschlagenheit meint die Seele, das werde ewig so bleiben, — aber sie erholt sich scbnell von solchen schwacb- licben Stimmungen. Icb selbst sehe deutlich genug, was in alien Scbichten des gemeinen Volkes nocb unreif und mangelhaft ist; die grofie Zabl der Unwissenden, Leichtglaubigen, der Untauglicben und Ungeschickten und der ganz niedrig Stebenden und Armen. Eine hervorragende Personlichkeit des Auslands* fragt spottisch, ob wir die Politik einer Nation zu erhohen und zu verbessern ge- denken, indem wir all diese morbiden Elemente saint ibren Eigen- scbaften absorbieren. Die Frage ist in der Tat furchtbar, und es wird zweifellos immer eine groBe Zahl solider und denkender Burger geben, die nie dariiber hinwegkommen werden. Unsere Antwort ist allgemein und in dem Zweck und Sinn dieses Essays enthalten. Wir glauben, da6 die hohere Aufgabe politiscber und sonstiger Regierung (nachdem sie natiirlich zunachst fiir Polizei, Sicberbeit des Lebens und Eigentums und fiir die grundlegende Satzung und das allgemeine Gesetz und seine Anwendung gesorgt hat) im iibrigen darin besteht, nicht nur zu herrschen, Unordnung zu bekampfen usw., sondern die Moglichkeiten aller wohltatigen, mannlichen Entfaltung, alien Strebens nach Unabhangigkeit und den Stolz und die Selbstachtung, die in alien Charakteren schlum- mern, zu entwickeln, auszubilden und zu ermutigen.
* Garlyle in seinem Aufsatz „ Shooting Niagara".
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Ich sage, die Mission eiuer Regierting in zivilisierten Landern besteht hinfbrt nicht allein mehr in Unterdriickung und nicht allein in Wahrung der Autoritat, selbst nicht der des Gesetzes, noch, - inn das Lieblingsargument jenes hervorragenden Autors zu nennen, - in der Aufrichtung der Herrschaft der besten Manner, der ge- borenen Helden und Fiihrer der Rasse (als ob diese je, oder aucb nur einmal unter hundert, an die hochsten Stellen kiimen, sei es durch Wahl oder Erbrecht), -- sondern darin, Gemeinwesen in alien ihren Entwicklungsstufen zu ziichten, beginnend mit Indi- viduen und wiederum endend bei Individuen, die alsdann — hoher als die hochste Willkiirherrschaft - - iiber sich selber herrschen sollen. Die Lehre, um derentvvillen, auf moralisch-geistigem Gebiet, Cbristus fur die Menschheit erscbien, namlich die Lehre, daB in der absoluten Seele, die jedem Individuum zu eigen ist, etwas so Transzendentes, so iiber alle Abstufungen Erhabenes liegt, daB in dieser Hinsicht alle Wesen auf derselben gleichen Hohe stehen und alle Unterschiede von Intellekt, Tugend, Stellung oder iiberhaupt irgendwelcher Hohe oder Tiefe vollig belanglos sind, — diese Lehre hat ihr Seitenstiick in dem Grundsatz der Demokratie, daB die Nation, als eine Gemeinschaft lebendiger Einzelexistenzen, jedem ihrer Angehorigen den Anspruch auf Freiheit, auf irdisches Ge- deihen und Gliick, auf Forderung seines Wachstums und burger- lichen Schutz gewahren muB, und daB daher die Menschen, zum mindesten in Hinsicht des politischen Wahl- und Stimmrechts, aber auch dariiber hinaus im einzelnen und allgemeinen auf eine breite, elementare, universelle, gemeinsame Plattform gestellt werden miissen.
Diese Wirkung ist nicht immer direkt, sondern vielleicht zumeist indirekt. Denn die Demokratie rechtfertigt sich nicht erschopfend in sich selbst, ja vielleicht iiberhaupt nicht, gleich der Natur. Sie ist nur, sovveit wir sehen, das beste, vielleicht einzige wirklich geeignete Mittel, die einzige Bildnerin, Erweckerin, Erzieherin fur die Millionen, und zwar nicht nur fiir groBe Personlichkeiten von Fleisch und Blut, sondern fur unsterbliche Seelen. Sein Wahlrecht zusammen mit alien andern auszuiiben, ist nicht so viel; und diese Institution wird, wie jede andere, immer ihre Unvollkommenheiten haben. Aber ein freier Mensch zu werden und nun, da alle Schranken gefallen sind, ohne Demiitigung und ebenbiirtig alien anderen
dazustehen und den Weg frei zu haben, um das grofie Experiment der Entwicklung zu beginnen, deren Ziel (vielleicht erst nach mehreren Generationen) die Erschaffung des vollentfalteten Mannes oder Weibes ist, — das ist etwas!
Wir begriinden das nicht (oder wenigstens ich begriinde es nicbt) mit der besonderen Verstandigkeit oder Vortrefflichkeit des Volkes, der Massen, selbst der besten, noch auch mitihren Rechten; sondern damit, dafi, ob gut oder scblecbt, im Recht oder nicht im Recbt, die demokratiscbe Formel die einzige Sicherheit und der einzige Schutz fur kommende Zeiten ist. Wir geben den Massen das Wablrecbt um ihrer selbst willen, zweifellos; aber vielleicht noch viel mehr, von einem anderen Gesichtspunkt aus, um der Gemein- schaft willen. Alles andere uberlassen wir den Schwarmern: uns geniigt es, die Freiheit von ihrer wissenschaftlichen Seite zu zeigen, kalt wie Eis, verstandesmafiig, logisch, klar und leidenschaftslos wie Kristall.
Auch die Demokratie bedeutet Gesetz, und zwar im strengsten, weitesten Sinn. Viele glauben (und oft herrscht dieser Irrtum in ihren eigenen Reihen), dafi sie Abschaffung des Gesetzes und Auf- ruhr bedeute. Sie ist, kurz gesagt, das hohere Gesetz des Geistes, das das Gesetz der physischen Kraft, des Korpers, verdrangt. Gesetz bedeutet die unerschiitterliche, ewige Ordnung des Universums; und das Gesetz, das iiber alien anderen steht, das Gesetz der Gesetze, ist das der Aufeinanderfolge, welches besagt, dafi das hohere Gesetz zu seiner Zeit das niedrigere allmahlich ersetzt und iiberwindet. Fur hochstrebende Seelen ist auch die asthetische Seite der Frage, die in jedem Falle wichtig ist, von Bedeutung: im allgemeinen besteht der Ehrgeiz, sich aus der Masse herauszuheben, um eine privilegierte Sonderstellung zu gewinnen. Der wahre Meister des Lebens aber sieht Grofie und Gedeihlichkeit darin, nur ein Teil der Masse zu sein; nichts tut so gut als ein gemeinsamer Grund und Boden. Willst du das gottliche, grofie, allgemeine Gesetz in dir haben? So tauche in ihm unter!
Das Hochste aber und die Kronung der Demokratie ist, dafi sie allein alle Nationen, alle Menschen noch so verschiedener und entfernter Lander zu einer Bruderschaft, einer Familie vereinen kann und immer zu vereinen bestrebt ist. Sie ist der alte, immer wieder neue Traum der Erde, der Traum ihrer altesten und jiingsten
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Volker und liebsten Philosophen und Dichter. Nicht nur das halbe Ziel des Individualismus, der isoliert; sondern auch die andere Halfte, die da ist Zusammengehorigkeit und Liebe, die verschmilzt, bindet und einigt und alle Rassen zu Kameraden und Briidern inacht. Beide miissen lebendig gemacht werden durch die Religion (die einzige, wiirdigste Erhoherin von Menscb und Staat), die in die stolzen Gewebe der Materie den Atem des Lebens haucht. Denn im Herzen der Demokratie ruht letzten Endes das religiose Element. Alle Religionen, alte wie neue, wohnen dort. Und die Idee der Demokratie kann sicb nicht eber in strahlender Schonheit und Gewalt verwirklichen, als bis jene, die die beste und letzte, die geistige Frucht tragen, in voile Erscheinung getreten sind.
Ich mochte einige Worte nicbt so sebr fur unser Land, sondern mit Bezug auf Europa sagen, besonders den britischen Teil von Europa. Aber die ganze Frage ist zusamrnenhangend und umfafit alle Volker. Der Liberale von heute bat vor Antike und Mittelalter den Vorteil voraus, dafi seine Doktrin nicht allein zu individualisieren, sondern zu universalisieren sucbt. Das grofie Wort Solidaritat ist gesprochen. Unter beutigen Verhaltnissen kann es unter alien Gefahren fiir eine Nation keine grofiere geben, als dafl gewisse Volksteile von den iibrigen durch einen Trennungsstrich geschieden sind, daB sie nicht die gleichen Rechte wie die andern haben, sondern degradiert, erniedrigt sind und gar nicht in Betracht ge- zogen werden. in Gott — wenn ich so sagen darf — zu wirken und von ihm und seinem gottlicheu Gemeinschaftsgebilde, dem Volk, zu zeugen (oder meinetwegen auch von dem leibhaftigen, gehornten und geschwanzten Teufel und seinem Gebilde, wenn einige krampf haft darauf bestehen !), — das, sage ich, ist der Sinn der Demokratie; und das ist, was unser Amerika bedeutet und vollbringt, — darf ich nicht sagen, schon vollbracht hat? Andernfalls vviirde es nicht rnehr bedeuten und vollbringen als jedes beliebige andere Land. Und gleichwie der Magen der Natur, dank seiner kosmisch-antiseptischen Kraft, vollkommen stark genug ist, nicht nur alle ihm bestandig zugefiihrten Krankheitsstoffe zu verdauen, ihnen nicht auszuweichen, sondern eher vielleicht sie ganz besonders bereitwillig in sich aufzunehmen, um sie in Nahrstoffe fiir die hochsten Zwecke und fiir neues Leben zu verwandeln, — so auch die Demokratie Amerikas. Das ist die Lehre, die wir Heutigen zu
den europaischen Landern hiniibersenderi, mil jedem Hauch des Westwinds.
Was man auch in abstrakten Argumenten fur oder gegen die Theorie umfassenderer Demokratisierung in irgendeinem Lande sagen mag, sicher ist, daB alle europaischen Lander sich viele Un- ruhen ersparen konnten, wenn sie die handgreifliche Tatsache (denn sie ist handgreiflich) erkennen wiirden, daB eine solche Demokra- tisierung in irgendeiner Form so ziemlich das einzige Hilfsmittel ist, das sie noch haben. Dies, — oder weitere chronische Unzu- friedenheit, von Jahr zu Jahr lauter werdendes Murren, bis zu der unvermeidlicben, in den meisten Fallen sehr schnell herannahenden Krisis, dem Zusammenbrucb und dynastischen Ruin. Eine Staats- kunst, die so genannt zu werden verdient, erortert heutzutage nicbt mebr, ob sie baltmachen, sicb auf die Vergangenheit stutzen und die Monarchic verteidigen, oder ob sie in die Zukunft blicken und demokratisieren solle, — sondern nur noch, wie und in welchem Grad und welcher Folge sie am weisesten demokratisieren konne. Und ich meine, daB sich in der Alten Welt unter den Schiilern und Adepten des Fortschritts und alien Mannern von einigem gesunden Verstand Trager einer solchen Staatskunst finden miiBten.
Die eifrigen und oft uniiberlegten Forderungen von Reformern und Revolutionaren sind unentbehrlich, um die Tragheit und Ver- steinerung, der ein so groBer Teil der menschlichen Einrichtungen verfallt, auszugleichen. Diese letzteren werden stets fur sich selber sorgen, — die Gefahr ist nur, daB sie geeignet sind, uns sehr rasch zu verknochern. Jene aber miissen mit Nachsicht, ja mit Achtung behandelt werden. Was Zirkulation fur die Luft, das ist Agitation und ein reichliches MaB spekulativer Willkiir fur die politische und moralische Gesundheit. Indirekt, aber sicher erwachsen Giite, Tugend, Gesetz (und zwar das allerbeste) aus der Freiheit. Diese sind fur die Demokratie, was der Kiel fur das SchifF ist, oder das Salz fur den Ozean.
Der Liberalismus wird in den Vereinigten Staaten seine rechte Schwerkraft durch eine allgemeinere Teilnahme am Besitz, an Wohnstatten und Komfort, — durch eine weite, bindende Veraste- lung des Wohlstands gewinnen. Wie der menschliche Korper, und iiberhaupt alle Dinge in diesem vielfaltigeii Universum, am besten zusammengehalten wird durch das eintache Wunder seiner eigenen
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Koliiision und ihrer Nutzanwendung, so wird auch eine groBf, mannigfache Volksgemeinschaft, die sich iiber Millionen Quadrat- meilen erstrcckt, am festesten gehalten und verbunden durch das Prinzip der Sicherheit und Dauerhaftigkeit des Zusammenhalts ihrer mittleren Besilzstande : so daB, anders herum gesehen, die Demo- kratie, so hart und deni zuvor Gesagten widersprechend es auch klingen mag, mil mifkrauischen, unzufriedenen Augen auf die ganz Armen, Unwissenden und Ervverbslosen blickt. Sie verlangt nach Mannern und Frauen, die einen Beruf haben und in guten Ver- haltnissen sirid, nach Eigentumern von Haus und Grund, mil Geld auf der Bank, — und auch mit einem gewissen Bediirfnis nach Literatur; sie braucht sie und beeilt sich, sie zu schaffen. Zum Gliick ist die Saat bereits gesat und hat unausrottbare Wurzeln geschlagen.
In ein paar Jahren wird das Herrschaftszentrum Amerikas tief im Inland, nach Westen zu, liegen. Unsere Bundeshauptstadt der Zukunft wird vielleicht anderswo zu finden sein, wie die gegen- wartige. Es ist moglich, nein, wahrscheinlich, da6 sie in weniger als funfzig Jahren ein- oder zweitausend Meilen weiter wandern und neugegriindet werden wird, und daB alles, was zu ihr gehort, nach einem ganz anderen, ureigenen und viel stolzeren Plan wieder aufgebaut werden wird. Das soziale und politische Hauptriickgrat der Staaten wird wahrscheinlich entlang dem Ohio, Missouri und Mississippi laufen und westlich und nordlich von ihrien, einschliefi- lich Kanada. Diese Gebiete, samt den machtigen Bruderstaaten nach dem Pazifik bin (zur Herrschaft iiber diesen Ozean und seine zahl- losen Inselparadiese bestimmt), werden alle Wesensziige Amerikas zusammenschlieBen und -halten, auch alle von friiher her bewahr- ten, die aber nun, zur reicheren Entfaltung, auf einen neuen, kiihneren, rein einheimischen Stamm gepfropft sein werden. Ein ungeheures Wachstum, verwurzelt in alien, genahrt von alien, in sich aufnehmend alle, um sie in Herrlichkeit zu verwandeln: voin Norden Verstand, die Sonne aller Dinge, und unbeugsamen Gerech- tigkeitssinn, den Anker in den letzten, wildesten Stiirmen; vom Siiden die lebendige Seele, das Gefiihl fiir gut und bose, so stolz, daB es keine andere Uberzeugung gel ten laBt, als die seine; und vom Westen selber die feste Personlichkeit, warmbliitig und nervig und mit der tiefen Fahigkeit zu alles in sich aufnehmender Verschnielzung.
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Politische Demokratie in ihrer gegenwartigen Form und Wirkung in Amerika ist, trotz all ihren bedrohlichen Ubelstanden, eine Schule zur Ziichtung erstklassiger Menschen. Sie ist das Gymnasion des Lebens in alien Dingen. Trotz Fehlschlagen versuchen wir es immer wieder aufs neue. Wagemutige Lust erfullt diese Arena, so recbt nach dem Herzen der Vorkampfer fur die Freiheit, und gewahrt tiefe Befriedigung an sich, unabhangig von Erfolg. Mogen wir vieles nicht erreichen, eines erreichen wir sicherlicb: Erfahrungim Kampf, Abhartung vor dem Feind. Wir pulsieren im Strom der Entwick- lung. Die Zeit ist grenzenlos. Mogen die Sieger nach uns kommen. Es hat sicherlich seinen Grurid, daB das Schlechte noch Macht unter uns hat. Nach den Hauptabschnitten der Weltgeschichte zu ur- teilen, ist die Gerechtigkeit jederzeit in Gefahr, der Friede ist stiindlich von Fallstricken umgeben, von Sklaverei, Elend, Gemein- heit, Tyrannenlist und Leichtglaubigkeit des Volkes in irgendeiner ihrer proteischen Formen; niemand kann ja sagen, sie seien iiber- wunden. Die Wolken zerreiBen ein wenig, und die Sonne scheint hervor, — aber bald und unausbleiblich senkt sich die Finsternis wieder herab, gleich als wie fur ewig. Aber dennoch lebt injeder gesunden Seele ein unsterblicher Mut und eine prophetische Ahnung, die unter keinen Umstanden kapitulieren kann und darf. Vivat dem Angriff! — dem ewigen Sturmlauf ! — Vivat der bedrangten Sache, — dem Geist, der kiihne Ziele hat, — dem unermiidlichen Streben inmitten aller Feindschaft des Gewohnten!
Friiher, vor dem Kriege (ach, ich wage nicht zu sagen, wie oft!) war auch ich von Zweifel und Triibsinn erfiillt. Ein Auslander, ein scharfblickender, edler Mann, sagte, eigentlich nur meine eigenen Beobachtungen in Worte fassend, sehr eindrucksvoll zu mir: ,,Ich bin viel in den Vereinigten Staaten gereist, habe ihre Politiker beob- achtet, den Reden der Kandidaten zugehort, die Zeitungen gelesen, die offentlichen Gebaude besucht und den Gesprachen von Mannern gelauscht, die sich unbeobachtet glaubten. Und ich habe Ihr ge- riihmtes Amerika von Kopf bis zu FuB durchlochert gefunden von Treulosigkeit, sogar gegen sich selbst und das eigene Programm. Ich habe die frechen Hollenfratzen der Sezession und Sklaverei herausfordernd aus alien Fenstern und Tiiren grinsen sehen. Ich habe iiberall an erster Stelle Diebe und Schalksgesindel die Besetzung der Amter bestimmen und zuweilen selber die Amter fullen sehen.
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Ich fand den Norden genau so voller GiftstofFe wie den Siiden. Was die Inhaber offentlicher Amter, nationaler, staatlicher und kommunaler, angeht, so habe ich gefunden, daG nicht einer unter hundert durch freiwillige Wahl der AuGenseiter, des Volkes gewahlt worden ist, sondern, daB alle durch kleine oder groGe Schiebungen der Berufspolitiker nominiert und durchgebracht worden sind und ihre Stellung erhalten baben nicbt durch Fahigkeit und Verdienst, sondern durch korrupte Cliquen und Wahlmanover. Ich habe ge- sehen, wie auf diese Weise die Millionen biederer Farmer und Handvverker nur die hilflosen Gummipuppen einer verhaltnismafiig kleinen Anzahl von Politikern sind; und habe mehr und mehr das beunruhigende Schauspiel wahrgenommen, daB die Parteien sich der Regierung bemachtigen und sie offen und schamlos fiir ihre Parteizwecke ausbeuten."
Traurige, ernste, tiefe Wahrheiten. Dennoch bestehen andere, noch tiefere, entgegengesetzte, beherrschende Wahrheiten. tlber diese Politiker und groGen und kleinen Cliquen und all ihre Frechheit und Tucke und iiber die miichtigsten Parteien er- hebt sich eine Macht, die, wenn auch vielleicht ein wenig zu trage, dennoch alle Entscheidungen und Beschliisse in der Hand halt, bereit, sie in strengem Verfahren durchzufiihren, sobald es wirklich notig ist, und zuzeiten die machtigsten Parteien summa- risch in A tome zu zerschmettern, vielleicht just in der Stunde ihres Triumphes.
In zuversichtlicheren Stunden sehen sich diese Dinge alles in allem ganz anders an als auf den ersten Blick. Obschon es zweifellos wichtig ist, wer zum Gouverneur, Biirgermeister oder Gesetzgeber erwahlt wird (und unheilvoll, wenn Unfahige oder Schurken ge- wahlt werden, wie es zuweilen vorkommt), so gibt es doch andere, stillere, unendlich viel wichtigere Tatsachen. Falschheit und der- gleichen wird sich wie der Schaum des Meeres immer nur an der Oberflache zeigen; genug, wenn tiefes und klares Wasser darunter ist. Genug, daB die verborgene Kette und Einschlag des Gewebes echt und ewig dauerhaft sind, mag auch die mit Stickerei uber- ladene Pracht, die sich dem oberflachlichen Auge darbietet, nur Schund sein. Genug kurzum, daG die Rasse, das Land, das eine solche Rebellion wie die jiingst erlebte, hervorbringen konnte, sie auch niederzuschlagen vermochte.
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DerDurchschuittsmeiisch einesLandes ist letzten Endes das einzig Wichtige. Er bleibt in diesen Staaten der unsterbliche Eigentiimer und Meister. Eine Nation wie die unsrige, die sich in einer Art geologischen Werdezustands befindet und bestandig neue Experi- mente macht, neue Abordnungen erwahlt, zieht Nutzen riicht nur aus den Diensten der besten Manner, sondern manchmal noch mehr aus denen, die sie herausfordern, und aus den Kampfen, die sie da- durch verursacben. In solcbem Sinne ist nationale Wut, Hafi, Streit usf. besser als Zufriedenheit. Und in solchem Sinne sind auch jene Warnungssignale unschatzbar fur spatere Zeiten.
So taucht immer wieder wie ein Leitmotiv der Gedanke auf, der diesen Seiten Ton und Echo gibt. Wenn ich im Geist bin und ber reise durch verschiedene Breiten, verschiedene Jabreszeiten und das Gedrange der grofien Stadte iiberschaue, New York, Boston, Phila- delphia, Cincinnati, Chicago, St. Louis, San Francisko, New Orleans, Baltimore, — wenn ich untertauche in diese endlosen Schwarme lebhafter, ungestiimer, gutherziger, freiheitliebender Burger, Hand- werker, Schreiber und jungen \7olks, — so befallt mich bei dem Gedanken an diese Masse so frischer und freier, so liebender und stolzer Manner eine sonderbare Ehrfurcht. Ich fiihle mit Nieder- geschlagenheit und Verwunderung, dafi unter unseren genialen oder talentierten Schriftstellern oder Rednern bisher nur wenige oder gar keiner wirklich zu diesem Volke gesprochen oder ihm ein ein- ziges, vorbildliches Werk geschaffen oder seinen innersten Geist und seine eigenste Gedanken welt in sich aufgenommen hat, die infolge- dessen bislang in der hochsten Sphare noch gar keinen Ausdruck, keine Verherrlichung gefunden hat.
Stark ist die Herrschaft des Leibes, starker die Herrschaft des Geistes. Was bisher unseren Intellekt, unsere Phantasie ausgefiillt hat und sie noch heute ausfullt und ihre Normen bestimmt, kommt aus dem Ausland. Die grofien Dichtungen, Shakespeare inbegriffen, sind Gift fur die Idee von Stolz und Wiirde des gewohnlichen Volkes, die das Lebensblut der Demokratie ist. Die Vorbilder unserer Literatur, wie wir sie von anderen Landern iiber das Meer her beziehen, sind an Fiirstenhofen geboren und im Sonnenschein von Schlossern erwarmt und herangewachsen; alles riecht nach Fiirstengunst. Wir haben zwar eine ganze Menge einer gewissen Sorte von Handwerkern der Literatur, die sich auf ihre Art
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beiniihen; viele elegant, viele gelehrt, alle gefallig. Aber von dem nationalen Priifstein beruhrt oder an dem MaBstab demokratiscber Personlichkeit gemessen, welken sie zn Asche. Ich bebaupte, daB ich keinen einzigen Schriftsteller, Kiinstler, Redner oder was sonst geseben babe, der sich mit dem stummen, aber stets aufrecbten und tatigen, alles durchdringenden, allem zugrunde liegenden \Villen und typiscben Streben des Landes in wesensverwandtem Geiste auseinandergesetzt batte. Soil man diese feinen Kreaturchen amerikaniscbe Dichter nennen? Soil man diese evvige kleinliche Kleistertopfarbeit als amerikanische Kunst, als das Drama, die Lyrik, die Asthetik Amerikas bezeicbnen? Es ist mir, als horte ich von einem Berggipfel im fernen Westen ber das Hobngelachter des Genius unserer Staaten.
Die Demokratie wartet ibre Zeit ab in scbweigendem Sinnen iiber ihr eigenstes Ideal, nicht allein in Literatur und Kunst, - aucb nicht im Mann aliein, sondern ebenso im Weibe: das Ideal- bild der amerikanischen Frau (befreit von dem Dunst, von der stockenden, ungesunden Luft, die um das Wort „ Dame" hangt), entvvickelt, erhoben zur starken, gleichberechtigten Mitarbeiterin des Mannes, auch bei praktischen und politischen Entscheidungen, — grofier als der Mann vielleicht durch ihre gottliche Mutterschaft, ihr ewig erhabenes, sinnbildliches Eigen, — jedenfalls aber ebenso- groB \vie der Mann, in jeder Hinsicht; oder besser gesagt, fahig ebensogroB zu sein, sobald sie sich dessen bewuBt wird und es iiber sicb vermag, alien Tand und Schein aufzugeben und, gleich den Mannern, mitten in das vvirkliche, unabhangige, stiirmische Leben zu treten.
Glaubtest auch du, o Freund, Demokratie sei nur eine Wabl- parole und politisches Schlagwort und Name fur eine Partei? Als solche kann sie nur von Nutzen sein, wenn sie sich zu ihrer vollen Bliite und Frucht entwickelt in der gesamten Lebenshaltung, in den hochsten Formen des Umgangs von Merischen miteinander und ihrer Uberzeugungen, — in Religion, Literatur und Scbule, - Demokratie im gesamten offentlichen und privaten Leben, auch in Heer und Flotte. Ich habe angedeutet, daB sie, als oberster Grund- satz, bisher nur geringe oder gar keine Verwirklichung oder glau- bige Anhangerschaft gefunden hat. Sovveit ich sehe, hat sie bis- her auch keine nennenswerte Hilfe durch die Propaganda ihrer
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Vorkampfer gehabt, die ihr im Gegenteil oft nur geschadet haben. Sie wurde und wird gefordert durch alle Krafte der Moral und durch Handel, Finanzwirtschaft, Maschinen, Verkehr und alien Fortschritt der Geschichte und kann ebensowenig wie die Gezeiten des Meeres oder die Erde in ihrem Kreislauf aufgehalten werden. Aucb herrscbt sie zweifellos, noch unentfaltet und verborgen, tief in den Herzen des guten Durchscbnitts des amerikaniscb geborenen Volkes, vor allem in den ackerbauenden Gebieten. Aber sie ist weder dort nocb sonstwo das mit vollem BewuBtsein angenommene, leidenschaftliche, absolute Glaubensbekenntnis.
Ich glaube daber, daB die Bliitezeit der Demokratie in der Zu- kunft liegt. Gleichwie wir, bei tiefer und umfassender Betrachtung, die reicbgegliederte Feudalwelt als das in langen Jahrbunderten erreicbte Ergebnis eines tiefen, ibr innewobnenden, menschlich- gottlichen Prinzips erblicken, oder einer Quelle, aus der Gesetze, Kirche, Umgangsformen, Einricbtungen, Sitten, Personlichkeiten und (bisber unerreichte) Dicbtungen entsprangen, — so soil aucb nacb langen Jabrbunderten dem berufenen riickschauenden Histo- riker und Rritiker das demokratische Prinzip ein ebensolches Bild bieten, in der reichen Fiille seiner Ergebnisse, — . wenn es erst einrnal mit unumscbrankter Macht und lange Zeit die Menscbheit beherrschl hat, — Ursprung und Priifstein aller moralischen, asthetischen, sozialen, politischen und religiosen Formen und Ein- richtungen gewesen ist, — sie in Geist und Gestalt erzeugt und zu ibrer hochsten Kobe gefuhrt hat, — wenn es vielleicht seine Ordensbruder und Asketen gehabt hat, zahlreicher und inbrun- stiger als die Monche und Priester aller friiheren Glaubensbekennt- nisse, — wenn es ganze Zeitalter mit einer klaren GroBziigigkeit beherrscht hat, die mit der der Natur wetteifert, und in seinem eigensten Interesse und mit unvergleichlichem Erfolge eine neue Erde, einen neuen Menschen geschaffen und nach seinem Plan zu einem triumphierenden Ende gefuhrt hat.
So wagen wir es also, iiber Dinge zu schreiben, die noch nicht ins Dasein getreten sind, und an Hand von Landkarten zu reisen, die noch unbeschrieben und leer sind. Aber die Wehen der Neu- geburt schiitteln uns, und wir haben den Vorteil der Zeiten starker Neugestaltung, Ahnung, UngewiBheit fur uns, namlich den Geistes- hauch solcher Aufgaben, der uns umweht; und unsere Sprache,
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heiB von Kampf und Aufruhr ringsum, ohne wohlgeglatteten Zu- sammenhang zwar und verfehlt nach dem MaBstab der sogenann- ten Kritik, bricht dennoch aus uns hervor, so wirklich wie die Blitze.
Nachdem wir nun so viel beigebracht baben, was wohl iiberlegt werden und helfen soil, unser Gebaude, unsere geplante Idee vor- zubereiten und stark zu machen, geben wir nocb weiter und geben dem Bau nach einer andern Seite bin vielleicbt seine Hauptfassade. Denn mit der Demokratie, der Ausgleicherin, dem unnachgiebigen Prinzip des Durcbschnitts, ist ohne Zweifel ein anderes Prinzip verbunden, ebenso unnachgiebig, dem ersten auf dem Fufie folgend, ihm unentbehrlich, entgegengesetzt (so wie die Geschlechter ein- ander entgegengesetzt sind), ein Prinzip, das dem andern entgegen- wirkt und es modifiziert, und dennoch ohne das andere niemals zu seiner hochsten Geltung kommen kann und das zu unserer weltgrofien Politik und den aufsteigenden todlicben Gefahren der Republik jenes Gegengewicht gibt, mit dem die Natur die ur- spriingliche, furchtbare Unbarmherzigkeit aller ihrer obersten Ge- setze mildert. Dieses zweite Prinzip ist der Individualismus, die stolze, zentripetale Isoliertheit des menschlichen Wesens in sich selbst, — Identitat, — Personlichkeit. Wie immer man es nennen mag, seine innige Verschmelzung mit der gesamten Organisation politischer Gemeinschaft, die jetzt wie mit Strahlen der Morgenrote uber alle Welt emporsteigt, ist von hochster Bedeutung, wie denn iiberhaupt dieses Prinzip an sich eine Lebensnotwendigkeit ist. Es stellt gewissermaBen das Schwungrad dar, das der so erfolgreich arbeitenden Maschinerie des Gemeinlebens Amerikas das Gleich- gewicht gibt.
Und wenn wir es richtig bedenken, worauf ruht die Zivilisation selber, und welchen andern Zweck hat sie und alle ihre Religionen, Kiinste, Schulen usw., als einzig und allein die Zuchtung reicher, iiberquellender, vielfaltiger Personlichkeiten? Darauf zielt alles bin; und weil die Demokratie allein im gegenwartigen Stand der Ent- wicklung um dieses Zieles willen das unendliche Brachfeld der Menschheit aufpfliigt und die Saat hineinpflanzt und ihr freies Wachstum gibt, deshalb allein gehen ihre Anspriiche alien anderen vor. Literatur, Dichtuug, Asthetik eines Landes sind hauptsachlich deshalb von Bedeutung, weil sie den Frauen und Mannern dieses
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Landes Stoff und Anregung zur Persftnlichkeitsbildung geben, auf tausenderlei wirksame Weise. Gleichwie fiir eine starke Festigung der Nationalitat unserer Einzelstaaten der oberste Grundsatz gilt, dafi nur ein so machtvoller Zusammenschlufi ihnen den vollen, freien Spielraum innerhalb ihrer eigenen Sphare gewahrleisten kann, so wird auch der Individualismus in ungehemmter Verzwei- gung am reichsten bliihen unter gebieteriscb republikaniscben For- men. Das Wort Demokratie ist oft gedruckt worden. Aber icli kann nicht oft genug wiederholen, dafi sein Wesenskern nocb unerweckt schlummert, ungeacbtet des Widerballs und der vielen wiitenden Stiirme, unter denen seine Silben von Feder oder Zunge gebraucht wurden. Es ist ein groBes Wort, dessen Geschichte meines Er- acbtens noch ungeschrieben ist, weil sie nocb nicbt Ereignis ge- worden ist. Es ist in gewissem Sinne der jiingere Bruder eines anderen oft gebrauchten Wortes, Natur, dessen Geschichte ebenfalls noch seines Schreibers wartet. Nach meiner Beobachtung ist die Tendenz unserer Zeit in den Staaten auf jene weitumfassenden Bewegungen und Einfliisse der Menschheitsidee gerichtet, moralische wie physische, die jetzt und immer iiber den Planeten laufen mit der Triebkraft von Elementen. Daher ist es gut, die ganze Frage auf die Betrachtung des einzelnen Ich eines Mannes oder Weibes und somit auf ihre ewige Grundlage zuriickzufiihren. Selbst bei der Betrachtung des Universellen, in Politik, Metaphysik und allem andern, kommen wir friiher oder spater auf die einzelne, einsame Seele zuriick.
In unsern besten Stunden steigt ein Bewufitsein, ein Gedanke in uns auf, unabhangig, hoch iiber allem andern, gelassen wie die Sterne, in ewigem Glanz. Das ist der Gedanke der Identitat — der deinigen fiir dich, wer du auch seist, wie der meinigen fiir mich. Wunder der Wunder, iiber alien Ausdruck erhaben, geistigster und duftigster aller Erdentraume, und doch die festeste Grundtatsache und der einzige Zugang zu allem Geschehen. In solchen andach- tigen Stunden, inmitten der bedeutsamen Wunder von Himmel und Erde (bedeutsam nur wegen meines Ich im Mittelpunkt), fallen alle Glaubensbekenntnisse und Konventionen ab und werden be- langlos vor dieser einfachen Idee. In der Erleuchtung wirklichen Schauens nimmt sie allein Besitz von uns und hat allein Wert fiir uns. Wie der schattenhafte Zwerg im Marchen dehnt sie sich,
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einmal entfesselt und erkannt, iiber die ganze Erde aus und reicht bis ans Dach des Himmels.
Die Eigenschaft des MSeins" im eigenen Selbst, entsprechend seiner eigenen zentralen Idee und Bestimmung, und wie \vir aus ihr und fur sie wachsen mogen, ohne jede Kritik nach andern Mafistaben und jede Anpassung an sie, — das lehrt uns die Natur. GewiB, der vollentwickelte Mensch sammelt, sucht, absorbiert weislich; \ver sicb aber unverhaltnismaBig viel damit abgibt und die kostbare Idiokrasie, die Urbestimmung, zu der er geboren ist, namlich das eigene Ich, die Hauptsache, ubersieht oder unterdruckt, hat seine Bestimmung verfeblt, so umfassend aucb seine Allgemein- bildung sein mag. So bemiibt man sich beute um Bildung und Verfeinerung nicht nur vollauf zur Geniige, sondern diese droben uns aufzufressen wie ein Krebsgeschwiir. Scbon beobachtet der demokratische Genius diese Tendenz mit MiBfallen. Ein biBcben gesunde Roheit, wilde Tuchtigkeit, Bewahrung dessen, was man im eigenen Icb hat, sei es was es wolle: das tut uns not. Negative Eigenschaften, sogar Mangel, waren eine Erleichterung. Verein- zelung, normale Einfachheit und Una*bhangigkeit inmitten dieses mehr und mehr komplizierten, mehr und mehr verkiinstelten Zu- standes der Gesellschaft, — wie sehnen wir uns in Gedanken danach ! wie ware uns ihre Wiederkehr willkommen!
Amerika hat moralisch und kiinstlerisch noch nichts Eigenes zustande gebracht. Es scheint sich seltsamerweise dessen nicht be- wufit zu sein, dafi die Vorbilder von Personlichkeiten, Biichern, Lebensformen usw., die friiheren Verhaltnissen und europaischen Landern naturgemSlB waren, bier nur Fremdlinge im Exil sind. Keine einzige Stromung seines Lebens, soweit sie sich an der Ober- flache seiner sogenannten Gesellschaft zeigt, nimmt, sozial oder asthetisch, den demokratischen Gedanken in sich auf oder miindet in ihn; vielmehr laufen alle Stromungen ihm geradenwegs zuwider. Niemals war in der Alten Welt sorgfaltig aufgepolsterter auBerer Schein, in geistiger und anderer Hinsicht (lediglich beruhend auf der Idee der Kaste und der Hinlanglichkeit von rein auBerlich Er- worbenem), - - niemals war Zungenfertigkeit und bloBer Wort- intellekt in hoherem Grade der Priifstein alles Strebens und das hochste Ziel und Beispiel als an der Oberflache unserer republi- kanischen Staaten von heute. Die Schriftsteller jeder Epoche nennen
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das Motto ihrer Gotter. Das Wort der Moderne, sagen diese Stim- men, 1st das Wort Kultur.
Hier stehen wir plotzlich dicht an feindlichem Gebiet. Dieses Wort Kultur oder der Sinn, den es angenommen hat, enthalt als Gegensatz unser ganzes Thema und ist in der Tat der Ansporn gewesen, der mich zum Angriff getrieben hat. Bestimmte Fragen erheben sich. Erzeugen nicht die Fortschritte der Kultur, nach allem, was wir jetzt nachgewiesen und ausgefiihrt haben, in kiirzester Zeit eine Klasse von oberflachlichen Zweiflern, die an nichts mehr glauben? Soil ein Mensch sich selber in hundertfaltiger Anpassung verlieren und aus Riicksicht auf dies und das und jenes so umge- modelt werden, dafl alles Einfach-Gute, Gesunde und Starke an ihm verdrangt und beschnitten wird wie Buchsbaumhecken in einem Garten? Man kann Getreide und Rosen und Obstbaume kultivieren, — aber wer will die Berggipfel, das Meer und die ge- ballte Pracht der Wolken kultivieren? Und endlich: ist die schnell bereite Antwort, dafi Kultur nur helfen, ordnen und die Elemente von Fruchtbarkeit und Kraft gehorig verteileji will, eine giiltige Antwort?
Ich babe nichts gegen den Namen oder das Wort, aber ich wiirde unbedingt, um des Endzwecks dieser Staaten willen, auf einem radikalen W7echsel der Klasse bei der Verteilung des Erbes der Vergangenheit bestehen. Ich wiirde ein Kulturprogramm fordern, das nicht fur eine einzelne Klasse oder fur die Salons und Horsale entworfen ware, sondern mit Verstandnis fur das praktische Leben, fur den Westen, fur das arbeitende Volk, fur Farmer, Hand wer ker und Ingenieure und fur die breite Masse der Frauen auch aus den mittleren und arbeitenden Schichten und mit Riicksicht auf die vollige Gleichheit der Frauen und der erhabenen, machtigen Mutter- schaft. Ich wiirde von diesem Programm oder dieser Theorie einen Gesichtskreis fordern, weitherzig genug, um das ganze Areal der Menschheit zu umfassen. Sein Hauptziel mu6 die Bildung eines typischen Personlichkeitscharakters sein, der fur den guten Durch- schnitt der Menschen erreichbar und nicht durch Bedingungen beschrankt ist, die ihn fur die Massen unerreichbar machen. Die beste Kultur wird immer die der mannlichen, tapferen Instinkte, liebender Aufnahmefahigkeit und Selbstachtung sein, bestrebt, iiber diesen ganzen Kontinent hin eine universelle Idiokrasie zu schaffen,
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die als echtes Kind Amerikas zur Freude seiner Mutter in ihrein eigenen Geist zu ihr zuriickkehren und ihr Myriaden von Nach- kommen bringen wird, tiichtig, natiirlich, aufnahmefahig, duld- sam, voll frommen Glaubens an sie, die Mutter Amerika, und klar bewufit, warum und wofiir sie, die umfassendste, gewaltigste Neu- schopfung der Geschichte, erstanden ist und, jetzt und hier, mil herrlichem Schritt durch die Zeit schreitet . . .
Wenn wir es, obwohl nur in roben Umrissen, versuchen wollen, ein grundlegendes Vorbild oder Portrat wahrer Personlichkeit zum allgemeinen Gebrauch fiir die Mannheit der Vereinigten Staaten zu entwerfen (und zweifellos wird dasjenige am nutzlichsten sein, das am einfochsten und fiir alle verstandlich und nicht zu hoch gegriffen ist), so sollten wir zuvor die Leinwand gut vorbereiten. Die Abstammung miifite zuerst in Betracht gezogen werden. (Wird wohl die Zeit bald kommen, wo Vater- und Mutterscbaft eine Wissenschaft, und zwar die vornehmste Wissenschaft, sein wird?) Fiir unser Vorbild ist eine reinbliitige, kraftvolle physiscbe Grund- lage unerlaBlich; die Fragen des Essens und Trinkens, der Luft, der korpcrlichen Ubung, der Anpassungsfahigkeit und Verdauung diirfen nie aufier acht gelassen werden. Aus diesen Vorbedingungen heraus denken wir uns eine woblgeschaffene Selbstbeit, — in der Jugend frisch, feurig, gefiihlsstark, hochstrebend, voll Abenteuer- lust; in der Reife tapfer, urteilsfahig, selbstbeberrscbt, weder allzu redselig nocb allzu verscblossen , weder vorlaut noch verdrossen; in ibrer korperlichen Erscheinung von anmutigen Bewegungen, die Gesichtsfarbe von reinstem Blut belebt, leicht durchgliiht, die Brust breit, die Haltung aufrecht, eine Stimme, deren Klang wohllauten- der ist als Musik, ruhig und fest blickende Augen, die aber auch fahig sind, Blitze zu schleudern, — ein Auftreten alles in allem, das auch in Gesellschaft der Hochsten seine Eigenart zu bewahren weifi. (Denn angeborene Personlichkeit allein befahigt einen Mann, auch vor Prasidenten und Generalen oder in sonst welchem her- vorragenden Kreis mit Gelassenheit zu stehen, -- und nicht die yKultur" oder irgendwelche Bildung oder irgend welches Wissen.)
Was die geistige Erziehung unseres Vorbildes angeht, die Ent- wicklung seines Intellekts, die Bereicherung seines rein verstandes- mafiigen Wissens usw., so sind alle Bemuhungen unserer Zeit, be- sonders in Amerika, so sehr darauf gerichtet und tun sich so viel
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zugute darauf, fiir diesen Teil der Erziehung ausgiebig zu sorgen, daB wir, so wichtig und notig er auch ist, unsererseits nichts dazu zu bemerken braucben, — aufier vielleicbt ein Wort der Warnung und Einschrankung. Aucb bei den Umgangsformen und Sitten braucben wir uns bier nicht aufzuhalten. Sie sind, ebenso wie Schonheit, Anmut usf., lediglicb Folgeerscbeinungen. Wenn die Ursacben, die wesentlichen Dinge beachtet werden, so folgen die rechten Umgangsformen unfeblbar nach. Viel ist unter Kiinstlern geredet worden von dem ,,hoben Stil", als ob er ein Ding fiir sicb ware. Wenn ein Mann, ein Kiinstler oder sonst jemand, Gesund- heit, Stolz, scharfe Sinne und ein edles Streben bat, so hat er die Grundelemente des hochsten Stils. Alles iibrige ist nur eine Frage der Anwendung (freilich aucb nicbts Geringes). Icb iibergehe eine ganze Reihe wesentlicher Ziige, die ein Vorbild der amerikanischen Zukunftspersonlichkeit haben muB, und muB nur, wieder und immer wieder, einen erwahnen, der vielleicht im modernen Leben am wenigsten beachtet wird, — einen Mangel, der vielleicht die diistersten Folgen fiir unsere Nachkommen haben wird. Ich meine das einfache, unverfalschte Gewissen, das Urelement aller Moral. Wiirde ich gefragt, wo nach meiner Arisicht der Grund zu der schwarzesten Befiirchtung fiir das Amerika, das wir erhoffen, liege, so miifite ich auf diesen besonderen Punkt hinweisen. Ich miiBte die unwandelbare Anwendung dieser alten, ewig-wahren Grund- regel aller Menschen, Zeiten und Volker auf den Individualismus fordern, heute und immerdar. Unsere triumphierende moderne Zivilisation mit all ihrer Erziehungskunst und all ihren wunder- vollen Vorrichtungen wird sich dennoch als bloBes Stuck werk er- weisen , wenn dieser Mangel bestehen bleibt. Schon jetzt ist (um einen etwas hoffnungsvolleren Ton anzuschlagen) von der Welt des amerikanischen Westens zu sagen, daB einzig und allein ihre alles durchdringende Religiositat das Riickgrat einer mannlichen oder weiblichen Personlichkeitsbildung sein kann und hoffentlich auch sein wird.
Es ist zweifellos eine der Hauptaufgaben des Individualismus, wahre Religion zur Reife zu bringen; eine Aufgabe, zu der keine Organisation oder Kirche imstande ist. Gleichwie die Geschichte nur zu einem kiimmerlichen Teil in dem, was die Fachleute Ge- schichte nennen, enthalten ist und sich nicht aus ihren Biichern
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offenbart, auBer wenn der Leser in sich selbst den Sinn fur die eigentliche, noch nie geschriebene und vielleicht nie zu schreibende Geschichte hat, --so ist auch die Religion nur in einer gewissen zufalligen Form in den Kirchen und Glaubensbekenntnissen ent- halten und festgelegt und in Wahrheit ganz unabhangig von ibnen; vielmehr ist sie ein Teil der ihres Seins bewuBten Seele, die auf ihrer hochsten Stufe keine Bibeln im alten Sinn, sondern in einem neuen Sinn kennt, — der ihres Seins bewuBten Seele, die erst dann wahrer Religion gegeniiberzutreten vermag, wenn sie sich ganzlich von allem Kirchenglauben befreit hat.
[ndividualismus schlieBt das ein und fordert es. Icb mochte in der Tat behaupten, daB einzig in der vollkommenen, unbefleckten Einsamkeit der Individ ualitiit die eigentliche Geistigkeit der Religion wirklich in Erscheinung zu treten vermag. Nur in ihr ist tiefe Betrachtung, andachtige Ekstase und Aufschwung der Seele mog- lich; nur in ihr eine wahre Kommunion mit den Mysterien, den ewigen Ratseln des Woher? und Wohin? A us einsamer, andach- tiger Versenkung in das Gefuhl der Identitat schwingt sich die Seele empor, und alle Satzungen, Kirchen, Predigten verwehen wie Dunst. In einsamen, schweigenden Gedanken der Ehrfurcht und Sehnsucht laBt das innere BewuBtsein seine wunderbaren Linien, gleichwie eine bisher unsichtbare Schrift in magischer Tinte, auf- leuchten fiir den Geist. Bibeln mogen Cberlieferung bringen und Priester mogen sie auslegen, aber einzig und allein dem lautlosen Wirken des einsamen Ich ist es vergonnt, in den reinen Ather der Anbetung einzugehen, die Hohe Gottes zu erreichen und mit dem Unaussprechlichen Zwiesprache zu pflegen. —
Eine wichtige Seite des amerikanischen Individualismus ist die Beteiligung an der Politik. Jedem jungen Mann in Nord und Slid, der sich ernstlich in diese Fragen vertieft, mochte ich hier, als ein Gegengewicht zu meinen friiheren AuBerungen, sagen, daB, von einem hochsten Standpunkt aus betrachtet, letzten Endes das politische (vielleicht auch das literarische und soziale) Amerika in seiner Entwicklung am besten seine eigenen Wege geht, so bedenk- lich sie auch einer bloB zeitlichen Beurteilung erscheinen mogen. Es ist jetzt bei Dilettanten und Gecken Mode (und vielleicht bin ich selbst nicht frei von Schuld), die gesamte Form, die die aktive Politik Amerikas angenommen hat, als hoffnungslos zu verrufen
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und als etwas, wovon man sich sorgfaltig fernhalten miisse. Sieh zu, dafi nicht auch du diesem Irrtum verfallst. Vielleicht ist Amerika doch alles in allem auf dem rechten Wege, trotz all dieser Possen seiner Parteien und Parteif iihrer , diesen schwachkopfigen Nomi- nierten, diesem unwissenden Stimmvieh und all den untauglichen Gewahlten. Die Dilettanten und alle, die sich vor ihrer Pflicht driicken, sind nicht auf dem rechten Wege. [ch rate dir, dich im Gegenteil noch viel lebhafter an der Politik zu beteiligen. Jedem jungen Manne rate ich das. Informiere dich immer selbst; tue immer dein moglichstes; iibe immer dein Wahlrecht aus. Mache dich los von Parteien. Sie waren von Nutzen und sind es bis zu einem gewissen Grade heut noch; aber die freie Masse der unbe- einflufiten Wahler: Farmer, Schreiber, Mechaniker, die iiber den Parteien stehen, alles iiberschauen und den Ausschlag geben, ob der Sieg sich auf die oder jene Seite neigen soil, — das sind die Manner, die die Gegenwart und die Zukunft am notigsten braucht. Was Amerika angeht, so kann es, falls iiberhaupt die Moglichkeit eines Niedergangs und Ruins besteht, nur von innen her bedroht werden, nicht von aufien; denn es ist mir klar, daB auch das ver- einte Ausland es nicht niederzwingen konnte. Aber diese wilden, wolfischen Parteien beunruhigen mich. Sie kennen kein anderes Gesetz als ihren eigenen Willen und werden immer streitsiichtiger und immer unduldsamer gegen den Gedanken der Gemeinschaft und Briiderlichkeit aller und der vollkommenen Gleichheit unserer Staaten, diesen Gedanken, der ganz Amerika ewig iiberwolbt. Daher darfst du dich nicht unbedingt einer Partei verschreiben und dich nicht blindlings ihren Diktatoren unterwerfen, sondern mu6t un- beirrt selber Richter und Herr iiber sie bleiben.
So viel (in Eile, das meiste bleibt noch ungesagt) iiber ein Ideal- bild, oder Andeutungen fur ein Idealbild amerikanischer Mannlich- keit. Aber auch das andere Geschlecht bedarf in unserem Lande zum mindesten einiger grundsatzlicher Winke.
Ich habe ein junges amerikanisches Madchen gesehen, eine von den vielen Tochtern einer Familie, die vor mehreren Jahren aus ihrem armlichen Landheim in eine der Stadte des Nordens aus- wanderte, um sich ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Sie wurde bald eine tiichtige Naherin, aber da sie diesen Beruf zu ungesund und wenig eintraglich fand, begann sie mutig, in fremdem Dienst
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/u arbeiten, als Wirtschafterin, Kochin, Haushalterin usw. Nach- dem sie es in mehreren Stellungen versucht hatte, erhielt sie schliefi- lich eine, die ihr zusagte. Sie sagte mir, dafi sie nichts Erniedrigendes in dieser Stellung findet; sie sei nicht unvereinbar mit personlicher Wiirde, Selbstachtung und der Achtung der anderen. Sie leistet etwas und empfangt daher Gegenleistungen. Sie ist gesund; ihre blofie Gegenwart ist starkend und gesund; ihr Gharakter ist raakel- los; sie hat sich durchgesetzt und bewahrt ihre Unabhangigkeit und konnte ihren Eltern helfen und fiir Erziehung und Anstellung ihrer Schwestern sorgen. Ihr Leben bietet ihr auch Moglichkeiten zu geistiger Fortbildung und zu viel ruhigem, einfachem Gliick und Liebe.
Ich habe eine andere Frau gesehen, die, aus Neigung und Not zugleich, in das praktische Leben eingetreten ist und ein Mecha- nikergeschaft betreibt. Sie arbeitet teilvveise selbst darin und gerat immer mehr und mehr in das wirkliche, harte Leben. Sie lafit sich nicht zuriickschrecken durch die Rauheit seiner Beriihrung, ver- steht es, zugleich standhaft und schweigsam zu sein, wahrt ihre Stellung mit unveranderlichem Gleichmut und Anstand und kann es jederzeit aufnehmen mit den tiichtigsten Zimmerleuten, Farmern, ja selbst Schiffern und Kutschern. Bei alledem hat sie den Zauber der weiblichen Natur nicht verloren, sondern bewahrt und iibt ihn ungeschmalert auch unter so rauhen Verhaltnissen.
Dann ist da die Frau eines Mechanikers, Mutter zweier Kinder, eine Frau von nur mittelmafiiger englischer Erziehung, aber voll feinen Verstandes, mit all der Anmut und Feinfuhligkeit ihres Geschlechts; in der Tat eine so edle weibliche Person lichkeit, dafi ich glucklich bin, sie hier erwahnen zu konnen. Niemals ihre eigene Unabhangigkeit verleugnend, sondern sie immer heiter bewahrend samt allem, was dazu gehort, — Kochen, Waschen, Kinderpflegen, Haushalten, — strahlt sie Sonnenschein aus auf all diese Pflichten und verklart sie. Korperlich frisch und gesund, arbeitsliebend, praktisch, weifi sie doch, dafi es ab und zu auch Ruhepausen geben mufi, die der Erholung, der Musik, der Mufie und Gastlichkeit gewidmet sind, und sorgt fur solche Ruhepausen. Was sie auch tut und wo sie auch ist, ist dieser Zauber, dieser unbeschreibliche Duft echter Weiblichkeit um sie her, begleitet sie und strb'mt von ihr aus, der von Rechts wegen dem ganzen weiblichen Geschlecht
zu eigen ist und der die unveranderliche Atmosphare und gemein- same Aureole aller alten und jungen Frauen ist oder sein sollte.
Meine liebe Mutter beschrieb mir einmal eine wundervolle Person, driiben in Long Island, die sie in ihrer Jugend kannte. Sie war bekannt unter dem Namen der ,,Friedensstifterin". Sie war gut etwa acbtzig Jabre alt, von gliicklicher, sonniger Gemiitsart, batte immer auf einer Farm gelebt und war eine vortrefflicbe Nachbarin, verstandig und verscbwiegen, bei alien immer gleicb willkommen und beliebt, besonders bei jungverheirateten Frauen. Sie batte zahlreicbe Kinder und Enkelkinder. Sie war ungebildet, besaB aber eine angeborene Wiirde. Sie war im ganzen Lande die stillschweigend anerkannte hausliche Ordnungstifterin , Ricbterin, Helferin, Hirtin und Versohnerin geworden. Sie war eine Erscheinung, die alle Blicke anzog, mit ihrer groBen Gestalt, ihrem vollen, scbneeweifien Haar (das nie von einer Kopfbedeckung verbiillt war), ihren dunklen Augen, ihrer reinen Gesichtsfarbe, ihrem frischen Atem und be- sonderem personlichen Magnetismus.
Ich gebe zu, daB diese Frauenbilder unendlich verschieden sind von jenen importierten Modellen weiblicher Personlichkeit, — den iiblichen Frauencharakteren der gangbaren Romanschreiber oder der hofischen Dichtungen des Auslands mit all ihren Ophelias, Prinzessinnen und Ladys, die die neidischen Traume so mancher armen Madchen erfullen und auch von unsern Mannern als hochste begehrenswerte Ideale weiblicher Vortrefflichkeit hingenommen werden. Aber ich biete die meinigen einmal zur Abwechslung an.
Es machen sich iiberdies Anzeichen von etwas noch Revolutio- narerem bemerkbar (wir wollen uns jetzt nicht dabei aufhalten, sie zu beriicksichtigen, aber sie miissen beriicksichtigt werden). Der Tag ist im Anzug, wo die tiefe Frage des Eintritts der Frauen in die Arena des praktischen Lebens, der Politik, des Wahlrechts usw. nicht nur rings um uns her erortert, sondern vielleicht zur Ent- scheidung gebracht und praktisch erprobt werden wird.
Natiirlich miissen wir in den Vereinigten Staaten, hinsichtlich der Manner sowohl wie der Frauen, die Typen hochster Personlich- keit ganzlich umformen, die uns die ostliche, feudale, ekklesiastische Welt vermacht hat und die noch heute malerisch und melodrama- tisch die Einbildungskraft und den Geschmack der Vereinigten Staaten beherrschen und die zwar fur Studienzwecke von Nutzen sind, aber im
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Leben eine traurige Wirkung ausiiben und einen wunderlichen Ana- chronismus zu den Erscheinungen und Bediirfnissen um uns her bilden. Die alten, unsterblichen Elemente bleiben natiirlicb bestehen. Die Aufgabe ist, sie den neuen Bedingungen unserer Tage erfolgreich anzupassen. Das ist auch nicht etwas so Unglaubliches. Ich kann mir ein Gemeinwesen denken, heute und bier, wo, auf ausreichender Grundlage, die vollkommenen Persb'nlichkeiten obne grofies Auf- heben sich zusammenfinden; sagen \vir, in irgendeiner biibschen Ansiedlung oder Stadt des Westens, wo ein paar hundert der besten Manner und Frauen, aus alien moglichen gewohnlichen Stellungen, durcb giinstige Umstande vereint worden sind, Menscben ohne irgend welches besondere Genie oder besonderen Reichtum, aber tiicbtig, keusch, fleifiig, frohlich, entschlossen, kameradschaft- licb und ehrfiircbtig. Icb kann mir ein solches Gemeinwesen regel- recbt organisiert denken, mit rechtmaOig eingesetzter Obrigkeit, und so, dafi fur Landbau, Hauserbau, Handel, Gerichtswesen, Post, Schulen und Wablen gesorgt ist, und alles sonstige Leben, die Hauptsache, sich in jedem Individuum frei entfaltet und Bliiten treibt und goldene Friichte tragt. Ich kann mir so, in jedem jungen und alten Mann nach seiner Eigenart und in jedem Weibe nach seiner Art, eine wahre Personlichkeit denken, vollentfaltet und gleichmaBig entwickelt an Korper, Verstand und Geist. Ich kann mir eine solche Moglichkeit denken, nicht nur als eine Ausnahme oder als etwas besonders Schwieriges, sondern in heiterem Einklang mit den stadtischen und allgemeinen Bediirfnissen unserer Zeit. Und ich kann sie mir vorstellen als hochste Entfaltung von etwas, was besser ist als aller herkommliche Glanz der Geschichte und Dichtung. Vielleicht existiert — unbesungen, in keinem Drama verherrlicht, unerwahnt in Essays oder Biographien — vielleicht existiert sogar bereits ein solches Gemeinwesen, in Ohio, Illinois, Missouri oder sonstwo, in praktischer Erfiillung und iibertrifft so bereits, im gewohnlichsten einfachen Leben, alles, was je bisher in den schonsten Idealbildern ausgemalt wurde.
Um kurz zusammenzufassen: Will Amerika sich daran machen, formgebend zu wirken (und es ist hohe Zeit, von bloBen windigen Versprechen zu soliderer Leistung iiberzugehen), so mu6 es, um seine Zwecke zu erreichen, zunachst einmal aufhoren, eine Auffassung von Charakter anzuerkennen, die aus den teudalen
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Aristokratien erwachsen oder lediglich durch literarische MaBstabe oder irgendwelche von driiben kommende, fixundfertige Formeln fiir Kultur, Schliff, Kaste usw. gebildet ist. Es muB streng seinen eigenen, neuen Mafistab einfiihren, der im Grunde sehr alt ist und die alten, einzigen Elemente enthalt und sie in Gruppen und Einheiten faBt, die fiir die moderne Welt, die Demokratie, den Westen passen und fiir die praktiscben Verhaltnisse und Bediirfnisse unserer eigenen Stadte und ackerbauenden Distrikte. Das Wertvollste liegt allezeit im Allgemeinen. Die frische Luft von Feld, Hugel oder See ist allezeit besser, als alles Facheln mit Fachern, mb'gen sie auch aus Elfenbein sein und nach Parfiim duften; die Luft ist besser als das kostbarste Parfiim.
Und nun, um nicht mifiverstaiiden zu werden, wollen wir nicht unterlassen, uns Absolution zu erbitten von alledem, was wahrhafte Kultur oder Begleiterscheinung von ihr ist. Vergib uns, ehrwiirdiger Schatten, wenn wir scheinbar leicbtfertig von deiner Aufgabe gesprochen huben ! Die gesamte Zivilisation der Erde mit all ibrem Ruhm und Licht ist, wir wissen es wohl, dein Werk. Es gescbiebt in der Tat in deinem Geiste und in dem Bestreben, mit deinen erhabensten Lehren zu wetteifern, wenn wir diese bescheidenen AuBerungen wagen. Denn auch du, machtige Priesterin! wisse, daB es etwas Grofieres gibt, als dich, namlich die frischen, ewigen Krafte des Seins. Aus ibnen und durcb sie beschworen wir — gleichwie du selbst in deinen besten Zeiten — die letzte, notwendige Hilfe herbei, um unser Land und unsere Zeit zu beleben. Daher reden wir nicht so sehr gegen das Prinzip der Kultur; wir beauf- sichtigen es nur und verbreiten zugleich mit ihm ein ebenso tiefes, vielleicht tieferes Prinzip. Wie wir gezeigt haben, da6 die Neue Welt in sich das alles ausgleichende Gemeinschaftsprinzip der Demokratie enthalt, so zeigen wir auch, daB sie das allfaltige, all- gewahrende, allfreie Theorem des Individualismus enthalt und somit ein hochragendes, bislang noch unbenutztes Geriist oder eine Platt- form errichtet, breit genug fiir alle, zuganglich fiir jeden Farmer und Arbeiter — fur Manner und Weiber — eine erhabene Selbst- heit, die nicht allein physisch vollkommen ist, nicht befriedigt allein mit den Schatzen des Geistes und Wissens, sondern religios und von der Idee des Unendlichen erfiillt (dem sicheren Steuer und KompaB auf dieser ruhelosen Reise des Fortschritts von Mensch und Volk
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uber schwarzeste, wildeste Wogen und durch gefahrlichste Stiirme), — und die sich vor allem andern dessen bewufit ist, dafi Menschen- tum im tiefsten Sinne und soweit wir es kennen, ehrlicbe Treue zu sich selber ist um jenseitiger Ziele willen, — und daB letzten Endes das Personlichkeitsgefiihl des sterblichen Lebens seine grofite Be- deutung erst in Beziehung auf die Unsterblichkeit hat, auf das Unbekannte, Geistige, die einzig dauernde Wirklichkeit, die, \vie der Ozean auf seine Strome wartet und sie in sich aufnimmt, auf jeden und alle von uns wartet.
Vieles andere noch miifiten wir in diesen ,,Ausblicken" ausfiihren oder wenigstens im Umrifi andeuten, nicht allein iiber diese Gegen- stande, sondern auch iiber andere, noch nicht erwahnte. Wir konn- ten in der Tat ein Leben lang iiber diese Materie reden und sie ausspinnen. Aber wir miissen zu unserm urspriinglichen Ausgangs- punkt zuriickkehren. In dieser Hinsicht miissen wir noch einmal ausdriicklich bekennen, dafi alle objektive Grofie der Welt im hoch- sten Sinn allein auf Geistigkeit beruht und von ihr abhangt. Hier, und hier allein, liegt das Gleichgewicht und der Ruhepunkt von allein. Denn der Geist, der allein das dauernde Gebaude baut, baut es stolz fiir sich selbst. Durch ihn und was aus ihm folgt, werden dem sterblichen Sinn die Hohepunkte des Materiellen, des Bekann- ten vermittelt und Ahnung des Unbekannten. Ausdruck und Ver- korperung zu finden, eine Literatur mit erhabenen, urtypischen Vorbildern zu versehen, — alle Empfanglichen mit Stolz und Liebe zu erfiillen, soviel sie nur fassen konnen, geistige Ziele zu vollenden und die Zukunft fiihlbar zu machen, — dies, und dies allein, be- friedigt die Seele. Wir sagen kein Wort gegen die reale Materie; aber die Weisen wissen, dafi sie nicht eher wahrhaft real wird, als bis Gefiihl und Geist sie beriihrt haben. Ist nicht Geist etwas Un- wagbares? O wir wollen lieber sorgen, dafi der zarteste Ton eines Liedes, die zahllosen fliichtigen Regungen der Leidenschaften, die von Rednern oder Erzahlern erweckt werden, mehr Dichtigkeit und Gewicht haben, als die Maschinen dort in den grofien Fabriken oder die Granitblocke in ihren Fundamenten.
Indem wir uns so den Bereichen nahern, die der eigentliche Gegenstand dieser Betrachtungen sind, und im Hinblick auf eine neue und hohere Personlichkeitsbildung die Bediirfnisse und Mog- lichkeiten schopferischer amerikanischer Literatur im Lichte dessen,
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was wir zuvor besprochen haben, betrachten, wird sogleich offen- bar sein, dafi eine tiefe Kluft den gegenwartig anerkannten Zustand dieser Bereiche samt allem, was sich in ihnen regt, von einem Zu- stand trennt, der der Welt, dem Amerika wirklich angepafit ware, nacb dem im gegenwartigen Zustand nur getastet wird, und an- gepafk der Fiille von Rassen vollkommener Manner und Frauen, die in diesen Ausblicken mit groben Strichen entworfen ist. Es ist in gewissem Sinne kein geringerer Unterschied als zwischen dem langandauernden, nebelformigen, gestaltlosen Zustand der astrono- mischen Weltkorper und dem darauf folgenden Zustand, den end- giiltig geformten Weltkugeln selbst, nacbdem sie sich gehorig ver- dichtet und in Systeme geordnet haben und nun dort droben hangen, Kronleucbter des Weltalls, verbunden und erleuchtet durch ihr gegenseitiges Licht, als fester Grund fur alles Stoffliche und zur Benutzung fur das gewohnlichste Leben, aber noch mebr als unver- gangliche Kette und Staffel aller geistigen Schau und Offenbarung. Ein grenzenloses Feld ist auszufiillen ! Eine neue Schopfung ersehnter Werke, ausgesendet wie Weltkorper, um in freien, gesetzmaBigen Umlaufen zu kreisen, in sich selbst ruhend durch den Ather zu wandeln und wie des Himmels Sonnen selber zu scheinen! Nichts Geringeres als dies meinen wir, wenn wir von der Literatur der Neuen Welt reden, die sich aus diesen Staaten in inniger Einheit mit ihnen erheben soil, zur rechten Zeit sich verkundend.
Was verstehen wir indessen genauer unter Literatur der Neuen Welt? Tun wir hier nicht schon des Guten genug? Haben die Ver- einigten Staaten heute nicht mehr Setzer und Pressen in eifrigem Betrieb als irgendein anderes Land? Veroffentlichen und verbrauchen sie nicht mehr Gedrucktes als andere Lander? Werden unsere Ver- leger nicht schneller und griindlicher fett? — Sicherlich sind viele in dieser Tauschung befangen, aber es ist meine Absicht, sie zu zer- storen. Ich behaupte, eine Nation mag ganze Strome und Ozeane von sehr lesenswerten Druckschriften haben und in Umlauf bringen, Zeitungen, Zeitschriften, Romane, Leihbibliotheken, ,,Poesie" usf., — wie sie die Vereinigten Staaten heute in der Tat besitzen und in Umlauf bringen, — von unbestreitbarem Nutzen und Wert, — hundert neue Biicher, die jedes Jahr geschrieben und herausgebracht werden, sehr anerkennenswert, uniibertroffen an Konnen und Wissen, — und noch Hunderte oder gar Millionen mehr, die durch Raubverlage
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auf den Markt geworfen werden, — imd dennoch wird vielleicht, trotz alledem, besagte Nation streng genommen viberhaupt keine Literatur besitzen.
Was also — wiederholen wir — verstehen wir unter wahrer Lite- ratur? im besonderen unter der demokratiscben Literatur der Zu- kunft? Schwierige Fragen! Die Ant wort kann nur indirekt gegeben werden und weist uns an die Vergangenheit. Im besten Fall konnen wir nur Andeutungen, Vergleicbe auf Umwegen geben.
Es muB als die tiefste Lehre der Zeit und der Geschichte um des Zweckes dieser Aufzeichnungen willen nochmals wiederbolt werden, dafi alles, was eine Nation oder Epoche an politischen und mate- riellen Errungenschaften, heroischen Personlichkeiten, militarischer Machtentfaltung usw. hervorbringt, bei genauer, tiefgehender Be- trachtting unvollkommen bleibt und nur hemmend wirkt, ebe es nicbt durch nationale, urwiicbsige Wesensvorbilder in der Literatur mit wabrem Leben erfullt wird. Sie allein gestalten die Nation, bringen alles letztgiiltig zum Ausdruck, beweisen, vollenden alles und geben allem Bestand. Zweifellos: einige der bliihendsten, macbtig- sten und volkreichsten Gemeinwesen der antiken Welt und einige der groBten Personlichkeiten und Ereignisse haben der Nachwelt bis auf heute keinerlei Erbschaft binterlassen. Zweifellos waren unter diesen Landern Heldentaten, Personlichkeiten, von denen uns nicbts iiberliefert ist, nicht einmal Name, Zeit oder Ort, solche, die groBer waren als alle uns iiberlieferten. Andere wieder sind heil angelangt wie von Reisen iiber jahrhundertweite Meere. Die kleinen Schiffe, die Wunderdinger, die sie trugen und durch unerhorte Gliicksfalle wohlbehalten zu uns brachten (oder wenigstens das Beste von ihnen, ihren Sinn und Extrakt) iiber weite Einoden bin, durch Finsternis, Stumpfheit, Unwissenheit usw., — diese kleinen Schiffe waren ein paar Schriften, — ein paar unsterbliche Dichtungen, gering an Um- fang, doch voll welcher unermeBlichen Werte der Erinnerung, voller Charaktere, Sitten, Sprachen und Glauben ihrer Zeit, voll tiefster Beziehungen, Hinweise, Gedanken, genug, um den alten, ewig neuen Korper und die alte, ewig neue Seele innig zu verschmelzen ! Sie! und noch einmal sie! — die diese so teure Fracht zu uns trugen, teurer als Stolz, teurer als Liebe! Alle kostbarste Erfahrung der Menschheit, in kleinsten Raum gefaltet, haben sie gerettet und zu uns gebracht. Einige dieser winzigen Schiffe nennen wir Altes und
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Neues Testament, Homer, Aschylos, Plato, Juvenal usf. — Kostbare Winzigkeiten ! Ich glaube, wenn wir wahlen rmifiten, so wiirden wir es eher ertragen, so furchtbar es ware, alle wirklichen Scbiffe, die heute auf Werften liegen oder auf See schwimmen, zu verlieren und mit ihrer ganzen Fracbt leek in die Tiefe sinken zu sehen, als euch und euresgleicben und was zu euch gehort und aus eucb er- wacbsen ist, vernichtet und ausgeloscht zu sehen.
Zusammengefafit durch die Genies einer Stadt, Rasse oder Epoche und durcb sie in die hochste aller kiinstlerischen Formen, die lite- rarische, gebracht, ist die besondere Wesens- und Erscheinungsart dieser Stadt, Rasse oder Epoche, ihre besondere Verkorperung der allgemein menschlichen Eigenschaften und Leidenschaften, ihr Glaube, ihre Helden, Liebenden und Gotter, ihre Kriege, Uberliefe- rungen, Unruhen, \7erbrechen, Erregungen, Freuden (oder doch der geistige Hauch von alledem) auf uns gekommen, um unser eigenes Sein und seine Erfahrungen zu erleuchten. Wiirde das, was sie uns geben, all dieses nicht mehr Entbehrliche, Hochste uns ge- nommen, so konnte nichts anderes im ganzen grenzenlosen Vorrats- speicher der Welt uns einen Ersatz dafiir bieten.
Fur uns ragen diese Denkmaler entlang den groCen Heerstrafien der Zeit, — diese Gebilde der Hoheit und Schonheit. Fiir uns brennen diese Leuchtfeuer durch alle Nachte. Unbekannte Agypter, Hiero- glyphen grabend; Hindus mit ihren Hymnen, Weisheitsspriichen und endlosen Epen ; hebraischer Prophet, vom Geist erleuchtet wie in Blitzen, mit einem Gewissen wie rotgliihendes Eisen, mit Klage- liedern und Racheschreien gegen Tyrannen und Sklaverei; Christus mit geneigtem Haupt, wie eine Taube briitend iiber Liebe und Frieden; der Grieche, ewige Gestalten schaffend voll EbenmaB des Korpers und Gefiihls; der Romer, der Herr der Satire, des Schwerts und Gesetzbuchs; einige der Gestalten fern und im Dammer, andere naher und sichtbar; Dante, einherschreitend mit magerer Gestalt, nichts als Sehnen, kein Gran uberflussigen Fleisches; Angelo und die groBen Maler, Baumeister, Musiker ; der reiche Shakespeare, ver- schwenderisch wie die Sonne, Gestalter und Sanger des Feudalismus in seinem Sonnenuntergang, mit all seinen gliihenden Farben, iiber die er mit souveraner Willkiir verfiigt; und so zu den Deutschen Kant und Hegel, die, obwohl nahe bei uns, so doch wiederum, Zeit- alter iiberspringend , leidenschaftslos und unerschiitterlich sitzen
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\vie die agyptischen Goiter. 1st es nun wirklich zu viel, wenn wir von diesen und ihresgleichen wieder auf unser Lieblingsbild zuriick- kommen und sie sehen wie Weltkorper und Systeme von Welt- kb'rpern, die auf freien Bahnen durch die Raume jenes zweiten Himmels, des kosmischen Geistes, der Seele, wandeln?
Ihr Gewaltigen und Strahlenden! Ihr seid, in euren Bereichen, nicht fiir Amerika erwachsen, sondern eher fiir seine Feinde, das Feu- dale und Alte, — wahrend unser Genius demokratisch und modern ist. Und doch, — o konntet ihr euern Lebensodem in die Niistern unserer Neuen Welt blasen, — nicht um uns, wie jetzt, zu ver- sklaven, sondern um in uns und fiir uns einen Geist zu erwecken gleich dem euern, — vielleicht (wagen wir es auszusprechen?) um zu iiberwinden, ja zu zerstoren, was ihr selbst hinterlassen habt! Auf eurer Ho'he, nicht defer, sondern eher noch hoher und weiter, miissen wir uns treffen und messen, heute und hier. Ich fordere Rassen von Sangern, die mit der Macht von Weltkorpern unbeirrt und sicher ihre Bahn fliegen. Erscheint, ihr siifien demokratischen Beherrscher des Westens!
Durch Hinweise wie diese deuten wir mittelbar an, was wir unter wahrer Literatur eines Landes oder Volkes verstehen. Und so ver- glichen und gemessen an den erhabensten Schopfungen allein, was stellen unsere reichen Mengen von Druckschriften, die in mannig- fachen Formen die Vereinigten Staaten bedecken, Besseres dar als vergleichsweise jene iiber gewisse Strecken des Meeres verbreiteten, bin und her wogenden Ansammlungen von Tintenfischen, die der mit halb emporgetauchtem Kopf hindurchschwimmende Wai ver- schlingt?
Zwar mag unsere landlaufige sogenannte Literatur (gleichsam wie ein unendlicher Vorrat von kleiner Miinze) einen gewissen Nutzen haben, vielleicht sogar gerade das bieten, was unsere Zeit braucht (eine Vorbereitung, ahnlich wie Kinder lernen miissen zu buchstabieren). Jedermann liest und nahezu jedermann, in der Tat, schreibt, seien es Biicher, sei es fiir die Zeitschriften und Zeitungen. In gewissem Sinn hat auch dieser Zustand seine Grofiziigigkeit. Aber bringt er Fortschritt? oder hat er seit langem irgendwelchen Fortschriu gebracht? Es liegt etwas Imponierendes in den riesigen Auflagen der Tageszeitungen und Wochenschriften, den Bergen weifien Papiers, die in den Gewolben der Druckereien aufgestapelt
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sind und in den stolzeri, drohnenden Zehn-Zylinder-Pressen, vor denen ich jederzeit stundenlang stehen kann, um ihnen zuzuschauen. Auch wird (obwohl die Vereinigten Staaten auf dem Gebiete der Phantasie nicht ein einziges Werk ersten Ranges, nicht einen ein- zigen grofien Schriftstelleraufzuweisen haben) der Hauptzweckimmer noch erreicht, und immer wieder bis ins Unendliche, namlich zu amiisieren, zu kitzeln, die Zeit zu vertreiben, Neuigkeiten und Ge- riichte von Neuigkeiten in Umlauf zu bringen und Verse zu reimen fur den Geschmack der Leser. Heutzutage gehort bei all dem Biicherschreiben und dem Wetteifer der Schriftsteller, insbesondere der Romanschriftsteller, der (sogenannte) Erfolg demjenigen oder derjenigen, die den Geschmack des gemeinen, flachen Durchschnitts treffen, die sensationelle Gier nach Aufreizung, Geschehnis, Satire usf., und die das sinnliche, aufiere Leben gewohnlichen Schlages be- schreiben. Fiir Autoren solcher Art oder wenigstens fur die gliick- lichsten von ihnen ist, soviel wir sehen, die Zuhorerschaft unbegrenzt und gewinnbringend; aber sie schwindet bald. Wahrend heute und jederzeit fur die, die das innere oder spirituelle Leben darzustellen suchen, die Zuhorerschaft begrenzt ist und oft nur zogernd sich bildet, aber fur ewig bestehen bleibt.
Verglichen mit der Vergangenheit hat unsere rnoderne Wissen- schaft einen hohen Aufschwung genommen und erfiillen unsere Zeitungen einen niitzlichen Zweck, — aber die ideelle Literatur, oder auch nur die gewohnliche Romanliteratur, macht meines Er- achtens keine wesentlichen Fortschritte. Man sehe sich die frucht- baren Erzeugnisse des zeitgenossischen Romans, der Novelle, des Dramas usw. an. Dasselbe endlose Gespinst verwickelter, iiber- triebener Liebesgeschichten, die offenbar von den Amadissen und Palmerins des dreizehnten, vierzehnten und fiinfzehnten Jahrhun- derts driiben in Europa herstammen. Die Kostume und alles son- stige Zubehor auf moderne Form gebracht, die Wiirze heifier und abwechslungsreicher, die Drachen und Menschenfresser weggelassen,
— aber der eigentliche Inhalt, meine ich, ist nicht fortgeschritten,
— ist just so sensationell, just so verrenkt und so ziemlich der- selbe geblieben, nicht mehr und nicht weniger.
Was ist der Grund, daB wir in unserer Zeit, in unserem Lande keinen frisch aus unserer Umgebung geborenen Mut, keine eigene gesunde Kraft, — nicht den Mississippi, die handfesten Manner des
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Westens, des Siidens, keine geistigen und physischen Tatsachen usf. in der Gesamtheit unserer Literatur, zumal in ihrem dichterischen Teil, sehen, — sondern anstatt dessen immer nur eine kleine Minderheit von Dandys und Blasierten, feine Herrchen, die vom Ausland importiert sind im fiinfhundertsten Aufgufi und uns iiber- fluten mit ihren diinnen Salongefiihlen, die sich an Sonrienschirmen, Schmachtliedern und Reimgeklingel erregen, - - oder die iiber irgend etwas winseln und flennen, von einem fehlgeborenen Einfall zum andern jagen und ewig beschaftigt sind mit irgendeiner dys- peptischen Verliebtheit in dyspeptische Frauenzimmer. Wahrend, in niegesehenem Strom, die groBten Ereignisse und Umwalzungen, die stiirmischsten Leidenscbaften der Gescbichte heute mit unver- gleichlicher Schnelligkeit und GroBartigkeit sicb auf dem Schau- platz unseres und aller Kontinente kreuzen, neuen Stoff darbieten, neue Ausblicke voll neuer Bediirfnisse eroffnen und kiihn auf- springende Schopfungen der Literatur herausfordern, die, begeistert durch sie, sicb in hochste Hohen aufscbwingen und der Kunst in aller ihrer Erhabenheit dienen (was nur ein anderer Name ist fur ,,Gott dienen" oder ,,der Menschbeit dienen"). Wo ist der Mann der Literatur, wo ist das Buch, dem ein edleres Ziel vorschwebt, als im alten Geleise zu trotten, langst Gesagtes zu wiederbolen und — hochster Triumph! — gut gekauft zu werden und gelehrt und elegant zu sein?
Man betrachte die Wege des Fortschritts, die diese Staaten zu- riickgelegt haben, bis sie nun beute frei, gleichberechtigt fur immer, fest zusammengefiigt fiir immer an ibrem Platze steben. Europaische Abenteuer? Die Antike? Asien und Afrika? Alte Gescbichte — Wunder-Romantik? — Nein, unsere eigenen unanzweifelbaren wirk- lichen Taten! Sie jagen einander, unerhort, strahlend wie Feuer! Wenn ich ihre Geschichte lese, von den Taten und Tagen des Kolumbus an bis auf die Gegenwart und einschlieBlich der Gegen- wart — vor allem den letzten Sezessionskrieg, — so ist mir bei jeder Seite zumute, als iniiBte ich innehalten und mich besinnen, ob ich mich nicht geirrt habe und unter die leuchtenden Phantasie- bilder eines Traums geraten bin. Aber es ist kein Traum. Wir stehen, leben, bewegen uns in dem ungeheuren Strom des Materia- lismus und Spiritualismus unseres Zeitalters. Das positivste aller Reiche ist fiir uns gegriindet worden. Die Griinder sind in andere
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Spharen iibergegangen, — aber welches sind die furchtbaren Pflicb- ten, die sie uns binterlassen baben?
Ibre Politik haben die Vereinigten Staaten meines Eracbtens, trotz all ihren Feblern, bereits im wesentlichen und ein fur allemal auf ibre eigenen, eingeborenen, gesunden, weit vorausschauenden Grundsatze gegriindet, die nie wieder urngestiirzt werden konneii und ein sicberes Fundament fur alles iibrige bilden. Zusammen mil ibr miissen natiirlich auch ibre zukiinftigen religioseii Formen, ibre Soziologie, Literatur, ihre Lebrer, Scbulen, die Art der aufie- ren Erscbeinung usw. ein geschlossenes einheitlicbes Ganzes bildeii, auf ebensolchen Grundsatzen. Denn \vie konnten wir so zerspalten, so uns selbst widersprechend bleiben, wie jetzt? Icb sage, wir konnen Harmonic und Bestandigkeit erlangen, indem wir die Ein- beit aller Dinge und die etbischen Inhalte beriicksichtigen und vertrauensvoll auf ibneri weiterbauen. Icb sebe in der Tat, daft fur die Neue Welt nach zwei Epocben vorbereitender Schicbtungen jetzt eine dritte Epocbe, obne die die andern beiden nutzlos waren, bereit steht und sicb in unverkennbaren Zeicben ankiindigt. Die Erste Epocbe war der Entwurf und die Festlegung der politiscbeu Grundrechte fur ungebeure Volksmassen, ja fiir alles Yolk, in der Organisation republikaniscber National-, Staats- und Kommunal- regierungen, alle aufgebaut in Beziebung zu jeder einzelnen und jede einzelne in Beziehung zu alien. Dies ist das amerikanische Programm, nicbt fiir Klassen, sondern fiir den Menscben im all- gemeinen, und ist verkorpert in den Grundsatzen der Unabhangig- keitserklarung und, in seiner spateren Entwicklung, in der Bun- desverfassung sowie in den Regierungen der Einzelstaaten mit all ibren inneren Angelegenbeiten und dem allgemeinen Wablrecbt; die Bedeutung all dieser Grundlagen liegt nicht nur in dem, was sie selbst entbalten, begriinden und pflanzen, sondern auch in allem, was mit Notwendigkeit aus ihnen folgt. Die Zweite Epoche ist die des materiellen Gedeihens und Wohlstandes, die Epoche der Pro- duktion, der arbeitsparenden Maschinen, des Eisens, der Baum- wolle, der lokalen, staatlichen und kontinentalen Eisenbahnen, des Verkehrs und Handels mit alien Landern, der Dampfschiffe, Gruben, des Arbeitsmarkts, der Organisation der. GroCstadte, der Verbilli- gung des Komforts, zahlloser technischer Lehranstalten, Biicher, Zeitungen, der Wahrung fiir den Geldumlauf usf. Die Dritte
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Epoche, die aus den vorhergehenden beiden sich erhebt, um sie tind alles zu verklaren, verkiinde ich nun hier, als einer fiir viele. Ich verkiinde den eingeborenen Geist, der Ausdruck und Form an- niinint fiir diese Staaten, gereift, vergeistigt, selbstbeherrscht, ver- scbieden von alien anderen, expansiver, reicher, freier, — einen Geist, der durch urspriingliche Autoren und Dichter der Zukunft dargestellt werden soil, durch amerikanische Personlichkeiten, deren viele, Manner und Frauen, bereits ungekannt (iberall in den Staaten leben; — und durch eine viel herrlichere, einheimische Entfaltung von Sprache, Gesangen, Opern, Reden, Vorlesungen, Bauten — und durch eine erhabene, feierliche religiose Demokratie, die ent- schlossen die Herrschaft ergreift, das Alte auflost, alle Oberflachen abschalt und aus ihrem eigenen inneren Lebensprinzip heraus die Gesellschaft neu aufbaut und demokratisiert.
Nur wenige ahnen, wie tief, wie tief die Bedeutung Amerikas ist, des Vorbildes alien Fortschritts und wahren Glaubens an den Menschen, trotz aller Irrtiimer und Bosheit. Die Welt glaubt offenbar, und auch wir haben offenbar geglaubt, da6 die Vereinig- ten Staaten nur dazu da seien, um die Gleichheit der Gerechtsamen Aller und eine Wahlregierung durchzufiihren, — um die Wiirde der Arbeit einzuweihen und eine Nation praktisch tatiger, den Ge- setzen gehorsamer, ordentlicher und wohlhabender Menschen zu werden. Ja, dies sind in der Tat Teile der Aufgabe Amerikas; aber sie erschopfen nicht nur nicht den Begriff von Fortschritt, sondern sind dariiber hinaus auch die Vermittler eines viel tieferen, hoheren Fortschritts, mit dem sie schwanger gehen. Tochter einer physischen Revolution, — Mutter der wahren Revolutionen, nam- licb der des inneren Lebens und der Kunst. Denn solange der Geist sich nicht wandelt, ist jeder Wandel der Erscheinung be- langlos.
Ich erinnere mich, als ich ein Knabe war, sprachen die alten Leute immer von amerikanischer Unabhangigkeit. Was ist Unab- hangigkeit? Freiheit von alien Gesetzen und Schranken, auBer denen des eigenen Ich, die von denen des Universums beherrscht werden. Was ist Landern, Mannern, Frauen letzten Endes zu eigen, als einzig und allein ihre innewohnende Seele, Ursprunglichkeit, ihr Sein in sich selbst, frei, im hochsten Gleichgewicht, sich auf- schwingend zu eigenem Fluge, sich selbst getreu?
Gegenwartig werden die Vereinigten Staaten in ihrer Theologie und ihren sozialen Anschauungen (die wichtiger als ihre politisohen Institutionen sind) ganzlich von fremden Landern beherrscht. Wir sehen, wie die Sohne und Tochter der Neuen Welt, ihres Genius nicht bewufit, das Einheimische, Universelle, Nahe noch nicht ent- deckt haben, sondern immer noch das Entlegene, Partielle, Tote importieren. Wir sehen London, Paris, Italien — nicht in urspriing- licher Schonheit wie dort, wohin sie gehoren, sondern aus zweiter Hand hier, wo sie nicht hingehoren. Wir sehen die Brocken der Juden, Romer, Griechen; aber wo sehen wir, auf seinem eigenen Boden, in irgendwelcher getreuen, hochsten, stolzen Verkorperung Amerika selbst? Ich frage mich manchmal, ob ihm auch nur ein Winkel im eigenen Hause gehort.
Nicht als ob in einem gewissen Sinne, und zwar in einem sehr hohen, wahre Theologie, wahre Kunst und wahre Literatur nicht gewisse Ziige gemeinsam hatten. Sie sind verbriidert und binden die Rassen untereinander, sie sind in vielen Einzelheiten, unter Gesetzen, die auf alle unterschiedslos anwendbar sind, unabhangig von Klima und Zeit und wenden sich, aus welcher Quelle sie auch stammen mogen,. an Gefuhle, — Stolz, Liebe, Geistigkeit, — die dem Men- schengeschlecht gemeinsam sind. Nichtsdestoweniger beriihren sie selbst da einen Menschen arn innigsten (oder vielleicht iiberhaupt nur), wenn sie ihren Ausdruck finden durch die autochthonen Lichter und Schatten hindurch, durch den Geschmack, die Vorlie- ben, Abneigungen, besonderen Ereignisse und Eigenheiten hin- durch, die aus der eigenen Nationalitat, Geographic, Umgebung, Uberlieferung usw. dieses Menschen geboren sind. Geist und Form sind eins und hangen viel mehr, als man glaubt, von Gemeinschaft, Identitat und Ort ab.
Mit der Korperlichkeit und Personlichkeit eines Landes, einer Rasse -- teutonisch, tiirkisch, kalifornisch oder was sonst — ist immer ein Etwas verwoben — ich kann schwerlich sagen, was es ist — die Geschichte beschreibt nur seine Ergebnisse — es ist das- selbe wie der unaussprechliche Ausdruck mancher Menschen- gesichter. Auch die Natur in ihren stumpferen Formen ist voll davon, — aber fur die meisten ist es da ein Geheimnis. Dieses Etwas ist verwurzelt in den unsichtbaren Wurzeln, in dem tiefsten Sinn dieses Ortes, dieser Rasse oder Nationalitat; und es in sich
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aufzunehiiKMi und wieder auszustromen, Worte und Werke aus seinem innersten Kern heraus zu gestalten und in hochste Bereiche 7ii tragen, das ist die Aufgabe oder ein Hauptteil der Aufgabe der wahren Schriftsteller, Dichter, Historiker, Gelehrten und vielleicht sogar Priester und Philosophen eines jeden Landes. Hier, und hier allein, sind die Grundelemente fiir eine wirklich wertvolle und dauerhafte lyrische und dramatische Kunst Amerikas.
Aber gegenwartig sind all die Schwarme von Gedichten, von literarischen Zeitschriften, Theaterstiicken, die bislang dem ameri- kanischen Intellekt und unseren besten Ideen entsprungen sind, zwecklos und ein Hohn, wenn man sie beurteilt nach einem hoheren MaBstab als dem, der die Hauptzwecke des Daseins darin sieht, wahrend der einen Halfte des Lebens fieberbaft Geld zu macben und wahrend der andern vielleicht durcb „ Amuse- ment", Reisen ins Ausland und Geschwatz die Zeit totzuschlagen, — wenn man sie beurteilt im Hinblick auf die Ziele von Patrio- tismus, Gesundheit, edler Person licbkeit, Religion und demokra- tischer Kultur! Sie starken und nahren keinen, bringen nicbts Charakteristisches zum Ausdruck, geben niemandem Richtung und Ziel und befriedigen nur den niedrigsten Geschmack hohler Geister . . .
Amerika braucht eine Poesie, die kiihn, modern, allumfassend und kosmiscb ist, wie es selbst. Diese Poesie darf in keiner Hin- sicbt die Wissenscbaft und das Moderne ignorieren, sondern muB aus der Wissenscbaft und dem Modernen Inspiration schopfen. Sie muB mehr in die Zukunft als in die Vergangenheit scbauen. Wie Amerika, muB auch sie sicb von den Vorbildern der Ver- gangenheit, und waren es die hochsten, freimachen und, bei aller Achtung vor ihnen, den vollen Glauben an sich selbst und an die Erzeugnisse ihres eigenen, demokratischen Geistes haben. Wie Amerika, muB.auch sie das Banner des gottlichen SelbstbewuBt- seins (der tiefsten Grundlage der neuen Religion) in das Vorder- treffen stellen und unter alien Umstanden hochhalten. Lange ge- nug hat das Yolk Dichtungen angehort, worin die Durchschnitts- menschheit sich unterwiirfig duckt und demiitig Hohere iiber sich anerkennt. Amerika aber hort nicht auf solche Dichtungen. Auf- recht, von stolzer Selbstachtung geschwellt sei der Gesang, dann vvird ihm Amerika mit Wohlgefallen lauschen.
Das echte Gold, die Edelsteine werden, wenn sie endlich ans Licht kommen werden, wahrscheinlich nicht aus den Bereichen stammen, von denen man sie heute fiir gewohnlich erwartet. Der unmiindige Genius amerikanischer Dichterkraft schlummert heute zweifellos in weiter Feme, zum Gliick unentdeckt und unbehelligt von den Koterien der Kunstschreiber, der Schwatzer und Kritiker der Salons oder der Sprecher in Horsalen, — schlummert abseits, seiner selbst nicht bewufit, in irgendeinem Dialekt des Westens, in irgendeiner einheimischen Ausdrucksweise in Michigan oder Tennessee, oder in irgendeiner landlichen Wahlrede — oder in Kentucky, Georgia oder auf den Karolinen — oder in dem Slang oder Volkslied oder einer Redensart der Arbeiter von Manhattan *, Boston, Philadelphia oder Baltimore — oder oben in den Waldern von Maine — oder fern in der Hiitte des kalifornischen Goldgrabers oder in den Rocky Mountains oder langs der pazifischen Bahn — oder in der Brust der jungen Farmer des Nordwestens oder in Kanada oder der Fischer auf den Seen. Rauhe und grobe Wiegen dies! Aber einzig aus solchen Anfangen und eingeborenen Stammen werden vielleicht Bliiten von echt amerikanischem Arom aufbrechen und sprieBen, wenn ihre Zeit da ist, und Friichte, die wahrhaft und voll unser eigen sind . . .
Lange vor unserer zweiten Jahrhundertfeier werden wir einige vierzig oder fiinfzig groOe Staaten haben, darunter Ranada und Kuba. Am Ende des gegenwartigen Jahrhunderts wird unsere Be- volkerung sechzig oder siebzig Millionen betragen. Der Pazifische Ozean wird uns ganz und der Atlantische groBtenteils gehoren. Wir werden in taglicher elektrischer Verbindung sein mit alien Teilen des Globus. Was fiir ein Zeitalter! Was fiir ein Land! Wo sonst ein so grofies?! Die Individualitat einer einzelnen Nation mu6 dann, wie immer, die Welt leiten. Kann es zweifelhaft sein, wer der Fiihrer sein sollte? Man bedenke aber, daB immer nur die machtigste, urspriinglichste, ungeknechtete Seele in Wahrheit und glorreich gefiihrt hat und je fiihren kann. (Diese Seele — ihr an- derer Name in diesen Ausblicken ist Literatur.)
In einem schonen Traum wollen wir diese hundert Jahre iiber- springen und die Schopfungen, Gedichte und Philosophien Amerikas
* New York. (Anmerkung des Cbersetzers.)
iiberschauen, vvenn sie alle Prophezeiungen erfiilit uiul hochsten Idealen endgiiltige Gestalt gegeben haben werden. Vieles, was wir jem noch nicht ahnen, wird dann vielleicht in iippigem Wachstuin dastehen, Reichtum und Kraft literarischer und kiinstlerischer Dar- stellung, wobei Charakter als Hauptelement gelten wird und nicht blofie Bildung und Eleganz.
Inbriinstige und liebevolle Kameradschaft wird dann zu vollein Ausdruck kommen, personliche und leidenschaftliche Liebe von Mann zu Mann, die, schwer definierbar, den Lehren und Idealen der tiefsinnigen Erloser aller Lander und Zeiten zugrunde liegt, und die vielleicht die wesentlichste Sicherheit und Hoffnung fiir die Zukunf't unserer Staaten zu bilden verspricht, wenn sie einmal in Sitte und Literatur voll entwickelt, gepflegt und anerkannt sein wird.
In der Entwicklung, dem Bewufitwerden und der allgemeinen Geltung dieser feurigen Kameradschaft (der Freundschaftsliebe, die der die Literatur jetzt beherrschenden Geschlechtsliebe ebenbiirtig, wenn nicht iiberlegen ist) erhoffe ich das ausschlaggebende Gegen- gewicht und die Vergeistigung unserer materialistischen und vul- garen amerikanischen Demokratie. Manche werden sagen, das sei nur ein Traum, und werden meinen SchluBfolgerungen nicht bei- stimmen: ich aber erwarte zuversichtlich eine Zeit, wo durch all die Myriaden horbarer und sichtbarer weltlicher Interessen Amerikas die Faden mannlicher Freundschaft, wie ein halbverborgener Ein- schlag, durchschimmern werden, warm und zartlich, rein und suB, stark und lebenslang, in bisher unbekanntem MaBe — eine Kamerad- schaft, die nicht nur den individuellen Charakter bestimmen und ihn gefiihlsreich, muskulos, heroisch und innig machen, sondern auch auf die allgemeine Politik den nachhaltigsten EinfluB aus- iiben wird. Ich behaupte, die Demokratie bedingteine solche liebende Kameradschaft als ihr unentbehrlichstes Zwillingsgegenspiel, ohne welches sie unvollstandig und unniitz ist und unfahig zu dauern.
Starkherzige Frohlichkeit und Glaubigkeit und Sinn fiir Gesund- heit al fresco soil eine der Vorbedingungen edlen amerikanischen Schrifttums der Zukunft sein. Eines der Merkmale des groBen Schrifts tellers soil sein, daB ihm der Sinn fehlt fiir das Verschleierte, Diistere, Bose, den Teufel, die von den Puritanern ererbten grim- migen Vorurteile, Holle, angeborene Verderbtheit und desgleichen.
Der groBe Schriftsteller wird vor alien andern kenntlich sein an seiner heiteren Einfachheit, seinem Festhalten an natiirlichen MaBstaben, seinem unbegrenzten Glauben an Gott, seiner Ehrfurcht und daran, daB in ihm kein Raum ist fiir Zweifel, Blasiertheit, Possen, Spott- sucht oder irgendwelche unnatiirliche und fliichtige Mode.
Icb darf nicbt verfehlen, unermiidlicb immer wieder und wieder und noch deutlicher als bisher auf das erhabene Ziel zuriickzu- kommen, sicherlich das stolzeste und reinste, in dessen Dienst der Schriftsteller der Zukunft, auf welchem Gebiete immer, freudig wirken mag. (O mochte doch in der Tat ein solcher Fernblick, wie wir ihn traumen, uns aucb dieses Ideal zu seiner Zeit verwirk- licht sehen lassen !) Das Gegengewicht zu der materiellen Zivilisation unserer Rasse, unserer Nation, ihres Wohlstands, ihrer Territorien, Fabriken, Bevolkerung, Erzeugnisse, ibres Handels und ihrer Heeres- und Seemacht und der lebendige Atem, der durch all das atmet, muB, wie gesagt, ihre moralische Zivilisation sein — deren For- mulierung, Darstellung und Forderung die hochste Aufgabe der Literatur ist. Der hochste Gipfel dieser erhabenen Hohe der Zivili- sation, die sich iiber alle Herrlichkeiten und Schatze von Wohl- stand, Intellekt, Macht und Kunst als solcher erhebt, — ja sogar iiber Theologie und religiosen Eifer, — muB ihre Entwicklung zum absoluten Gewissen, zu moralischer Gesundheit und Gerechtig- keit sein, als deren Verkorperung sie aus ewigen Tiefen empor- taucht. Selbst in religiosem Eifer liegt noch ein Hauch anima- lischer Glut. Aber moralische Gewissenhaftigkeit — kristallklar, fleckenlos, nicht nur gottgleich, sondern vollkommen menschlich — weckt ewig Ehrfurcht und Entziicken. Grofi ist fiihlende Liebe, selbst in der Ordnung des rationalen Universums. Aber wenn wir Abstufungen machen sollen, so bin ich iiberzeugt, daB es noch etwas GroBeres gibt. Kraft, Liebe, Verehrung, Wohlstand, Genie, Schonheit: sie alle versagen irgendwie bei scharfster Betrachtung und Untersuchung in klarsten Stunden, werden irgendwie nichtig. Alsdannkommtgerauschlos, mit schwebenden Schritten, die hochste Herrin, die Sonne, das letzte Ideal. Mit den Namen Recht, Ge- rechtigkeit, Wahrheit deuten wir sie nur an, aber beschreiben sie nicht. Fiir die Welt der Menschen bleibt sie ein Traum, eine Idee, wie sie es nennen. Aber kein Traum ist sie dem Weisen, — son- dern das Stolzeste, fast das einzig VerlaBliche und Dauernde in
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aller Welt. Ihre Analogic im materiellen Universum ist dasjenige, was diese Welt und alle Dinge auf ihr zusammenhalt und ihre Krafte ewig sicher und wohlbehalten vorwarts tragt. Weil sie im Leben, in der Soziologie, Literatur, Politik, im Geschaftsleben und selbst im Gottesdienst fehlt und man ihr, heute \vie je, bestandig ausweicht, — daber der Abgrund, die todliche Kluft und der schwarze Fleck, der der Zivilisation von heute mit all ihren unbestreitbaren Triumphen und iiberhaupt aller bisher bekannten Zivilisation Hohn spricht.
Die Literatur der Gegenwart ist, obwohl sie gewisse populare Anspriiche vortrefflich und mit einer Fiille von Sachkenntnis und Wortgewandtheit erfiillt, dennoch im tiefsten Grunde verfalscht und ungesund, und selbst ihre Frohlichkeit ist angekrankelt. Es tut ihr not, den Einklang mit der Natur und dem (Jeist der Natur zu finden und ihn wiederzugeben und seine Gesetze zu erkennen und zu befolgen. Ich behaupte, die Frage der Natur, im grofien gesehen, schlieBt die Fragen der Asthetik, des Gefuhls und der Religion in sich, und schliefk Gliickseligkeit in sich. Eine gesund geborene und auferzogene Rasse, aufvvachsend im Haus und im Freien unter den rechten harmonischen Bedingungen fur Tatigkeit undEntvvicklung, wiirde \vahrscheinlich, infolge dieser Bedingungen, Geniige darin finden, zu leben, — und wiirde in ihren Beziehungen zu Himmel, Luft, Wasser, Baumen usw. und zu all dem Zahllosen, was es an jedem Tag zu sehen gibt, und in der Tatsache des Lebens selber Gliickseligkeit entdecken und genieBen, — und dies ihr Sein ware Tag und Nacht durchflutet von gesunder Entziickung, weit iiber alien Freuden, die Reichtum, Verguiigungen oder selbst befriedigter Intellekt, Bildung oder Sinn fur Kunst zu gewahren vermogen.
Wer meine Betrachtungen liest, wird ihren Hauptgehalt nicht erfassen, wenn er nicht den Punkt wohl beachtet, daB eine neue Literatur, vielleicht auch eine neue Metaphysik, sicherlich eine neue Poesie meines Erachtens die einzig festen und wiirdigen Stiitzen und Ausdrucksmittel der amerikanischen Demokratie sein konnen. In der Zukunftsliteratur dieser Staaten muB daher vor alien Dingen die lang vernachlassigte Natur, die echte Natur, die wahre Idee der Natur wieder vollig zur Geltung und Herrschaft gelangen, den Dichtungen die alles durchdringende Atmosphare einhauchen und
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den MaBstab bilden far alle hervorragenden literariscben und as- thetischen Schopfungen.
Ich meine nicht die glatteri Wege, gestutzten Hecken, Bosketts und Nachtigallen der englischen Poeten, sondern den ganzen Erd- ball mit seiner geologischen Geschichte, den Kosmos, wie er Feuer und Schnee tragt und durch den grenzenlosen Raum rollt, leicht wie eine Feder und doch Billionen Tonnen schwer. Ferner — da das, was wir gegenwartig unvollkommen als Natur bezeichnen, hochstens soviel bedeutet, wie von dem physischen Gewissen, dem Sinn fiir Materie und animalische Gesundbeit erfafit werden kann — so mufi dariiber binaus entscbieden das BewuBtsein gepflanzt und entwickelt werden, daB der Mensch etwas unendlicb Hoheres besitzt, als das pbysische Gewissen, namlich das etbische und geistige Gewissen, das ibn auf seine Bestimmung jenseits des Sichtbaren, Sterblichen hinweist.
Indem wir nun wirklich zu den Hoben einer solcben Natur- anschauung emporsteigen, scbreiten wir, reinste Luft atmend, in den Betracbtungen dieser unserer MAusblicke" fort.
Hohepunkt und Endziel literarisch-kiinstlerischen Ausd rucks und seine tiefsten GenuBquellen fiir die Menschenseele liegen in der Metaphysik, die die Mysterien der Geisteswelt, der Seele selbst, der Frage nach der ewigen Fortdauer unserer Identitat in sicb schlieBt. Zu alien Zeiten war der menschlicbe Geist auf diese Hohen gericbtet und wird es immer sein. Hier wenigstens stehen wir auf gemein- samem Boden, welcher Rasse oder Epoche wir aucb angehoren. Aucb der Beifall ist einmiitig, handle es sicb um Altertum oder Neuzeit. Die Autoren, die auf diesem Gebiet Gutes leisten, werden der Menscbheit am liebsten sein, und ibre Werke werden immer geschatzt bleiben, sie mogen asthetiscb noch so unvollkommen sein, - mag auch der aufiere Erfolg statt in einem scbonen Prozentsatz oder Honorar einfach in dem Lorbeerkranz der Sieger bei den groBen Olympischen Spielen bestehen.
Der Gipfel der Literatur und Poesie ist immer die Religion gewesen und wird es immer sein. Die indiscben Vedas, die Nackas Zoroasters, der jiidische Talmud, das Alte Testament, das Evangelium Cbristi und seiner Jiinger, Platos Werke, Mobammeds Koran, Snorres Edda und so fort bis auf unsere Zeit, bis auf Swedenborg und die unscbatz- baren Scbopfungen von Leibniz, Kant und Hegel, — diese sowie
solche Dichtungen, worin zwar Menschen und Dinge, die mensch- lichen Leidenschaften und die Erscheinungen des stofflichen Uni- versums besungen werden, worin aber der religiose Grundton, das BewuBtsein vom Mystischen, die Anerkennung der Zukunft, des Unbekannten, der gbttlichen Allgegenwart und des gottlichen Planes nie fehlt, sondern indirekt allem die Farbung gibt, — solche Werke allein stellen die wirklichen Hohen und Gipfel der Literatur dar und ragen empor wie die groBen Berge der Erde.
Wenn wir auf diesem Grunde stehen — dem letzten, bochsten, einzig dauernden Grund — und von da aus alle Werke der lite- rariscben und sonstigen Kunst streng beurteilen, mu'ssen wir jedes pratentiose Werk -- seine asthetiscben oder intellektuellen Fein- heiten mogen noch so groB sein — entscbieden ablehnen, wenn es die gottliche Zentralidee vom All verletzt oder ignoriert oder aucb nur nicbt preist, — die Idee, die das Universum durchflutet mit einer ewigen Stufenfolge von Zweck in der, wenn auch nocb so langsamen Entwicklung des physischen, moralischen und geistigen Kosmos.
Ich sage, wer dieses einfacbe BewuOtsein und diesen Glauben nicbt in sicb aufgenommen hat, der hat vergeblich philosophiert und studiert, wie groB auch seine aufiere Bildung sein mag. Dieser Gedanke ist nicht ganz neu, — aber es ist die Aufgabe der Demo- kratie, ibn auszufuhren und dafiir zu sorgen, daB er mit entschiedener Konsequenz weiter ausgebaut wird. Uber den Tu'ren alles Unter- richts muB die Inschrift stehen: ,,Obschon man wenig oder nichts absolut wissen oder erkennen kann, auBer von einem verganglichen Gesichtspunkte aus, so wissen wir doch ein Dauerndes, namlich daB Raum und Zeit nach dem Willen Gottes fortlaufende Ketten, Vollendungen materieller Geburten und Anfange bilden, alien Widerspruch, Zweifel und Furcht losen und schliefilich Gliick- seligkeit bringen — und daB die Verkundigung dieser Geburten als der Reime geistiger Friichte den wirklichen Verbindungsbogen spannt liber alien Unterricht, alle Wissenschaft. "
Die ortlich bedingten Anschauungen von Siinde, Krankheit, Mifi- gestalt, Unwissenheit, Tod usw. und ihre Beurteilung durch den oberflachlichen Verstand, durcb gewohnliche Gesetzgebung und Theologie mussen bekampft werden durch eine Wissenschaft, die jenen Glauben ku'hn annimmt, verbreitet und den Samen pflanzt
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fur hohere Gesetze — t'iir die Erklarung des physischen Universums durch das geistige — und die den Weg bahnt fiir eine Religion, siifi und unanfechtbar gleichermaBen fiir kleine Kinder wie fiir groBe Gelehrte.
Die erhebenden und vergeistigenden Ideen voni Unbekannten und Unwirklichen miissen mit Nachdruck zur Geltung gebracht werden, da sie die legitimen Erben des Bekannten und Wirklichen und mindestens ebenso groB wie ibre El tern sind. Obne Furcht vor Spott und vor der prahlerischen Wirklichkeit wollen wir auf unserrn Platz und festen Grunde stehen und ihn niemals verlassen und dem wachsenden UbermaB und Ubermut dieser Wirklichkeit die Stirn bieten. Dem zur Zeit triumphierenden Schrei der Sinnen- welt, der Wissenschaft, des Fleiscbes, — dem Schrei, der die Herrlich- keiten von Reichtum, Handel und Landwirtschaft, von Logik, In- tellekt und Beweisfiihrung, von unverganglichen Werken, Bauten aus Stein und Eisen oder selbst die wundervolle Wirklichkeit von Baumen, Erde, Felsen usw. verkundet, — fiirchtet euch nicht, meine Briider und Schwestern, diesem Schrei mit ebenso zuversichtlicher Stimme die Uberzeugung entgegenzurufen, die im tiefsten Innern jeder erleuchteten Seele lebt: ,,Ihr alle seid nichts als Illusionen! Erscheinungen ! Traume!" — Sicherlich diirfen wir die Wirklich- keit nicht verdammen oder vb'llig leugnen, da der in ihr liegende Sinn unerlaBlich ist; aber wie klar erkennen wir, daB sie durch die Seele hindurch auf ein Ziel bin wandert, das wir von hoheren, geistigen Gesichtspunkten aus bereits wahrnehmen konnen; und daB sie, so greifbar sie unter gegenwartigen Verhaltnissen erscheinen mag, mit allem, was zu ihr gehort, vielleicht, nein sicherlich ver- sinken und verschwinden wird.
Ich griifie mit Freuden die ozeangleiche, vielfaltige, hochgespannte praktische Energie, das Verlangen nach Tatsachen und selbst den Geschaftsmaterialismus unseres Zeitalters, unserer Staaten. Aber wehe dem Zeitalter oder Lande, in dem diese Dinge und Entwick- lungen bei sich selber haltmachen und nicht nach Ideen streben. Wie Brennstoff in die Flamme und Flamme in den Himmel ver- geht, so muB Wohlstand, Wissenschaft, Materialismus, — ja auch diese Demokratie, auf die wir uns so viel zugute tun, — unfehlbar aufgehen in die hochste Geistigkeit, die Seele. Unendlicher Flug! Unergriindliches Geheimnis! Der Mensch, so winzig, schwillt iiber
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das wahrnehmbare Universuin hinaus und iiberwindet mid iiber- wolbt Ruum und Zeit, \venn er auch nur iiber eine groBe Idee uachsinnt. So, und nur so, vermag ein menschlicbes VVesen, sein Geist, fiber die objektive Natur sicli zu erheberi und sie zu recht- fertigen, sie, die vielleicbt an sich ein bloBes Nichts, aber bierin iiber alles Verstehen und in gottlichem Sinne dienlich, unent- behrlich und wicbtig ist. Und wie der Sinn der objektiven Natur /vveifellos irgendwie hierin gefaltet und verborgen liegt, — und wie irgendwie bierin der Daseinszweck dieses Erdballs und seiner mannigfachen Formen und des Tageslichts und der Finsternis der Nacbt liegt, — so muB auch der groBe Schriftsteller, und vor allem der Dicbter, hieraus seine Inspiration und den Pulsschlag seines Blutes bolen. Daun mogen wir zu einer Dicbtung gelangen, die der unsterblicben Seele des Menscben wtirdig sein wird; die alle Materie und alle Schau der Natur in ihrem eigenen Sinne in sich aufnehmen und dennoch, iiber all das hinaus, mittelbar und un- mittelbar einen befreienden, losenden, erweiternden, religiosen Charakter haben wird, — eine Dichtung, die mil der Wissenschaft frohlocken, die moralischen Krafte befruchten und das Trachten nach dem Unbekannten und die geistige Versenkung in das Un- bekanrite beleben wird . . .
,,Die wesentlicbe Frage", sagte der Bibliotbekar des Kongresses in einem Vortrag vor der sozialwissenschaftlichen Vereinigung in New York, Oktober 1869, ,,die wesentliche Frage bei der Beur- teilung eines Buches ist: Hat es irgendeiner Menschenseele geholfen?" — Darin liegt der Priifstein nicht nur fur jeden groBen Schriftsteller und sein Bach, sondern fur jeden groBen Kiinstler. Mag sein, daB alle Kunstwerke in erster Linie nach ihren kiinst- lerischen Qualitaten beurteilt werden miissen, nach ihrer Gestaltungs- kraft, ihren dramatischen oder rnalerischen Fahigkeiten, ihrer Kunst, eine Handlung zu schiirzen, oder ihrem Wohllaut usw. Aber wenn sie den Anspruch erheben, Werke ersten Ranges zu sein, so miissen sie streng und scharf danach beurteilt werden, ob sie, im hochsten Sinn und immer nur mittelbar, in den ethischen Prinzipien wurzeln und deren Ausstrahlung sind, und ob sie die Kraft haben, zu befreien, zu erheben, zu erweitern.
Gleichwie im Wirken des Kosmos eine sittliche Tendenz lebt, eine sichtbare oder unsichtbare, allem zugrunde liegende Absicht,
deren Ergebnis und Rechtfertigung wir geduldig abwarten miissen und die alle Meteorologie, alle Fiille der Erscheinungen in Mineral-, Pflanzen- und Tierreich belebt, — all das physische Wacbstum und , Warden des Menschen und die gesamte Geschichte der Rassen in Politik, Religion, Krieg usw., — so aucb in dem Werk, in der Fiille der Werke des groGten Schriftstellers. Dies ist der letzte, tiefste MaGstab und Priifstein einer literarischen oder kiinstlerischen Leistung ersten Ranges, der, wenn richtig verstanden und ange- wendet, sicberlich zu Werken und fiiichern fiihren muB, edler als alle bisher bekannten. Sieh auf die Natur (dieses einzige voll- kommene, wirkliche Gedicht), die so gelassen inmitten des gottlichen Planes ruht, allumfassend, zufrieden, unbekiimmert um alle Eintags- kritik und alle die endlosen, wortreicben Schwatzer. Und bore auf das BewuGtsein der Seele, die ewige Identitat, den Gedanken, das Etwas, vor dem selbst die Bedeutung von Demokratie, Kunst, Literatur usw. zusammenscbrumpft und partiell und meGbar wird, - das Etwas, das vollkommen befriedigt (was jene nicbt tun). Dieses Etwas ist das All und das BewuGtsein des Alls, zugleich mit dem BewuGtsein der Ewigkeit und dem BewuGtsein der Seele von sicb selbst, die, immerdar unzerstorbar, frohlich obenauf durch den Raum segelt zu alien Bereichen bin wie ein Scbiff auf See. Und nochmals bore auf den Herzschlag in aller Materie und allem Geist, wie er unablassig klopft, — die ewigen Pulsschlage, die ewige Systole und Diastole des Lebens in den Dingen, — daran ich fiihle und erkenne, daG Tod nicht, wie man glaubte, das Ende ist, sondern der wabre Anfang, — und daG nicbts je verloren gegangen ist oder verloren gehen und sterben kann, weder Seele noch Stoff.
In der Zukunft dieser Staaten miissen unermeGlich groGere Dicbter ersteben, die die groGen Gedichte des Todes schaffen. Die Gedichte des Lebens sind groG, aber wir brauchen die Gedichte vom Zweck des Lebens nicbt nur in ibm selbst, sondern iiber es hinaus. Ich habe Homer gepriesen, die heiligen Sanger des Judentums, Aschy- lus, Juvenal, Shakespeare usw. und ihreii unschatzbaren Wert an- erkannt. Aber ich sage (vielleicht mit Ausnahme der zweitgenannten, in mancher, nicht jeder Hinsicht): es miissen, fur die Zwecke der Zukunft und der Demokratie, Dichter erscheinen (wage ich es aus- zusprechen?) von hoherem Rang als jene alle, — Dichter, die nicht nur von der religiosen Glut und Hingabe Jesaias erfiillt sind oder
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von dem Reichtum des epischen Talents Homers oder der stolzen (lharaktere Shakespeares, sondern die auch mil den Prinzipien der Philosophic Hegels und mit moderner Wissenschaft in Einklang stehen. Amerika und die Welt braucht ein Geschlecht von Sangern, die jetzt und immerdar das nationale physische Sein des Menschen mit der Gesamtheit von Zeit und Raum, mit der vielfaltigen Er- scheinungsfiille der' Natur, die ihn umgibt und ihn ewig beun- ruhigt, da sie zugleich ein Teil von ihm und docb kein Teil von ihm ist, so verkniipfen und in Einklang bringen, daft sie ihn mit volliger Harmonic, Befriedigung und Ruhe erfullen.
Uralter Glaube, den die Wissenschaft jetzt verscheucht hat, muB wiederhergestellt, durch dieselbe Macht, die sein Schwinden ver- ursachte, wiedergebracht werden — wiederhergestellt zu neuem Schwung, tiefer, weiter, hoher als je. Wahrlich, diese allgemeine Blasiertheit, diese feige Angstlichkeit, dieses Schaudern vor dem Tode, diese niedrigen, entwiirdigenden Anschauungen diirfen den Geist, der die zukiinftige Gesellschaft durchdringen soil, nicht auf immer beherrschen, wie es in der Vergangenheit der Fall war und jetzt ist. Was der Romer Lukretius in edelster Absicht, aber allzu blind- lings fur seine und die folgende Zeit negativ zu tun versuchte, muB positiv von einem groBen, kunftigen Schriftsteller, besonders Dichter geleistet werden, der, immer ganz Dichter bleibend, dennoch zugleich alle Erkenntnisse der Wissenschaft in seine Geistigkeit auf- nehmen und aus beiden Elementen und seinem eigenen Genius heraus das groBe Gedicht vom Tode schaffen wird. Dann wird der Mensch in Wahrheit der Natur und Raum und Zeit wissenschaftlich und liebend zugleich gegeniibertreten und seinen richtigen Platz ein- nehmen, geriistet furs Leben, Herr iiber Gliick und Ungliick. Und dann wird das lang Ersehnte erfiillt sein und das Schiffeinen Anker haben, der ihm auf all seinen friiheren Fahrten gefehlt hat.
Noch andere Normen und Weisungen gibt es fur die Werke groBer Schriftsteller. Das, was in Wahrheit die soziale und poli- tische Welt im Gleichgewicht erhalt, ist nicht so sehr Gesetzgebung, Polizei, Vertrage und Furcht vor Strafe, sondern der heimliche, ewige, intuitive Sinn der Menschheit fur Redlichkeit, Mannlichkeit, Anstand usf. Diese bestandige Regulierung, Kontrolle und Aufsicht auf dem Wege der Selbsthilfe ist in der Tat die conditio sine qua non der Demokratie; und eines der hochsten und wichtigsten Ziele
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demokratischer Literatur ware es, diesen Sinn in Individuen und Gesellschaft zu entwickeln, zu pflegen und zu starken. Eine starke Meisterschaft des iiberlegenen Ich iiber die schwachere Allgemein- heit muB durch die Schriftsteller unterstiitzt und sichergestellt werden, wenn auch nur indirekt dadurch, daB er in seinen Werken fiir die demokratischen Individualitaten sowohl wie fiir die demo- kratische Gemeinschaft das Vorbild erhabener, leidenschaftlicher Korperlichkeit und in und mit ihr das eines erhabenen, gebiete- rischen Geistes schafft.
Ich gehe noch weiter und blicke — fur alle Falle — der Tat- sache in die Augen, daB die Vereinigten Staaten macbtvolle ein- heimische Pbilosophen, Redner und Dichter braucben werden als zusammenhaltende Krafte in kommenden Zeiten der Gefahr, zum Schutz gegen Zerstorung und Zerfall. Denn die Gescbicbte ist lang, lang, lang. Man mag die Moglichkeiten drehen und wenden wie man will, das Problem der Zukunft Amerikas ist in gewissen Be- ziebungen ebenso dunkel wie umfangreicb. Stolz, Wettbewerb, Sonderinteressen, frevelhafter Eigensinn und beispiellose Willkiir briiten scbon iiber uns. Wer soil das schwerfallige Ungeheuer - wer soil Bebemotb aufhalten? wer Leviathan ziigeln? — Wir mogen es bemanteln, wie wir wollen, quer iiber den Wegen unseres Fort- schritts erhebt sich riesig und dammerig die UngewiBheit und furcht- bares, drohendes Dunkel. Es ist zwecklos, es zu leugnen : die Demo- kratie treibt in geiler Fiille die dichtesten, todlichsten Giftpflanzen und -friichte von alien, lockt immer schlimmere und schlimmere Eindringlinge herbei — und braucht neuere, reichere, starkere, kiihnere Verteidiger und Bezwinger. Unsere Lander, die so viel um- fassen (die in der Tat alle aufnehmen und keinen zuruckweisen), tragen in ihrer Brust auch die Flamme, die fahig ist, sie selber zu verzehren und uns alle. So kurz auch die Spanne unseres natio- nalen Daseins erst ist, so sind doch schon Tod und Niedergang bis in dichteste Nahe iiber uns gekommen, und werden wiederum kommen, ohne Zweifel, wenn sie auch jetzt abgewehrt sind. Kiinf- tige Geschlechter werden vielleicht nie wissen, aber ich weiB, mit wie knapper Not im verflossenen Sezessionskrieg unsere National- einheit (in der, wie in einem Schiff im Sturm, all unser bestes Sein, Hoffen und Konnen auf Gedeih oder Verderb verfrachtet war und noch verfrachtet ist) mehr als einmal und mehr als zwei- und
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clreimal just um ein Haar der Vernichtung entging. Ach, daran zu denken! an die Todesangst und den blutigen Schweift mancher dieser Stunden! an diese grausamen, scharfen, hangenden Ent- scheidungsstunden !
Und heute? wo es inmitten dieser Wirbelstiirme von unglaub- licher Schwatzerei, blinder Parteiwut, Unglauben vollig an Kapi- tanen und Fiihrern ersten Ranges fehlt, bei hochster Gemeinheit und Niedrigkeit der sich an der Oberflache breitmacbenden Massen, und wo jenes furchtbare Problem, die Arbeiterfrage, sicb wie eine gahnende Kluft zu 6'ffnen beginnt, die mit jedem Jahr zusehends weiter wird — was fiir Aussichten haben wir da? Wir segeln auf einer gefahrlichen See voll kochender, sich kreuzender Strome und Unterstrome und Strudel — alle so finster und unerprobt — und wobin ><•! Iru wir wenden? Es ist, als hatte der Allmachtige vor diese Nation Seekarten gebreitet, um ihr die Wege zu weisen zu einem Herrscherschicksal, strahlend wie die Sonne, aber voll defer innerer Schwierigkeiten und schwarender Leiden menscblicher Un- vollkommenheit -- als wollte er sagen: Hab acbt! die einzigen Wege, die dich zur Entwicklung frihren, sind lang, voll mannig- facber furchtbarer Hindernisse und Stiirme! - - Ihr spracht, o Lander Amerikas, in eurer Seele zu euch: Wir wollen das Reich aller Reiche sein, wir wollen alles andere, Vergangenes und Gegen- wartiges, iiberschatten und die Geschichte der Dynastien der Alien Welt und ihre Eroberungen als etwas Uberwundenes hinter uns lassen — wir wollen eine neue Geschichte machen, eine Geschichte der Demokratie, neben der die alte Geschichte zwergenhaft er- scheinen soil — , wir allein wollen der Beginn von etwas viel Um- fassenderem und die Kronung unserer Zeit sein. Wenn das, ihr Lander Amerikas, der Entschlufi eurer Seele ist und der Preis, um den ihr ringt, dann sei es so! Aber bedenkt, was es euch kosten wird und schon jetzt kostet. Glaubtet ihr, dafi Grofie fiir euch reifen wiirde wie eine Birne? Wollt ihr Grofie erlangen, so wisset, daB ihr sie erobern miiGt durch Generationen und Jahrhunderte hindurch — dafi ihr dafiir bezahlen miifit mit einem entsprechenden Preis. Auch euer wie aller Lander Teil ist Kampf und Verrat, Unehrlichkeit der Amter, innerlich fauler Wohlstand, Ubersatti- gung im Reichtum, der Damon der Gier, die Holle der Leiden- schaft, Verfall des Glaubens, ermiidender Aufschub, versteinerte
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Tragheit, immer neue, unvermeidlicheRevolutionen, Heilsverkiinder, Gewitter, Tode und Geburten, immer neuer Aufschwung zu immer starkeren Ideen und Menschen.
Und dennoch — versunken in das dunkel-verworrene Ratsel unserer Zukunft, dessen langwierige Losung sich geheimnisvoll durch die Zeiten erstreckt — habe ich von einer kleinen oder viel- leicht schon grofieren Schar getraumt, ja sie bereits in Andeutungen geschildert — eine Schar von Tapferen und Wahrhaftigen, wie die Welt sie noch nicht sah — voll gewappnet und geriistet — vielleicht getrennt durcb verschiedene Zeiten und Staaten, im Siiden, Norden, Osten oder Westen — an der pazifischen oder atlantischen Kiiste, in den Siidstaaten oder in Kanada — in dem einen Jahr oder Jahrhundert hier, in anderen Jahrhunderten dort — aber immer in Einheit, in seelischer Geschlossenheit, mit wacbem Gewissen und Gott-BewuBt- sein, erleuchtete Vollbringer, nicht nur in der Literatur, der grofiten Kunst, sondern in jeder Kunst — ein neuer unsterblicher Orden, eine neue Dynastic, von Generation zu Generation iiberliefert - eine Schar, eine Klasse, mindestens ebenso fahig, sich mit den Ge- fahren und Noten unserer Zeit zu messen, wie jene, die zu ihrer Zeit so lange und erfolgreich in Harnisch oder Kutte die feudale oder priesterliche Welt aufrechthielten und ruhmvoll machten. Im Gegensatz zum Rittertum und all den geschwundenen, zahllosen hofischen Helden, alten Altaren, Abteien, Priestern vergangener Geschlechter und Reihen von Geschlechtern ruft heute eine viel ritterlichere und heiligere Sache in einer Neuen Welt zu groBerer, erhabenerer Tat, die sie auch vollbringen wird, und die mehr sein wird als das blofie Widerspiel oder Seitenstiick dazu.
Nachdem wir nun endgiiltig auf einem Hohepunkt dieser „ Aus- blicke" angelangt sind, gestehe ich, daB die Verkiindigung einer solchen Klasse und Institution — eines neuen und groBeren Ordens der Literatur — und der Glaube an sie und ihre Moglichkeit (nein, GewiBheit) all diesen Spekulationen zugrunde liegt, und daB alles iibrige, all ihre andern Teile, darauf aufgebaut und gegriindet sind. Die Schopfung einer solchen Institution erscheint mir in der Tat als die Vorbedingung nicht nur fur unsere kiinftige natio- nale und demokratische Entwicklung, sondern iiberhaupt fur unsern dauernden Bestand. Die hochst verkiinstelten , materialistischen Grundlagen der modernen Zivilisation mit ihren entsprechenden
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Lebenseinrichtungen und -methoden, mit ihrer iibermaBigen Geltung boCen Intellekts, mit den verderblichen Einfliissen von Reichtum sowohl wie Armut und dem Fehlen aller hohen Charakterideale, - mit all der Fiille von Tendenzen und Lebensformen, denen zu widerstehen nur wenige stark genug sind und die jetzt mit maschinen- hafter Gescbwindigkeit die Menschengeschlechter nur noch ein- formig wie guBeiBerne Ware auszuformen scheinen, — und die wir doch alles in allem, im VTergleich zum feudalen Zeitalter, schlieB- lich hinnebmen und willkommen heiBen miissen und aus denen wir das Beste macben miissen um ibrer ozeangleichen realen GroB- artigkeit willen und weil sie die Massen im groBen und ganzen unwiderstehlich durchkneten, — icb sage, all diese furchtbare Herr- schaft lediglich materialistiscber Einfliisse auf das jetzige Leben der Vereinigten Staaten mit all ihren bereits sicbtbaren Ergebnissen, die sich immer mehr haufen und weit in die Zukunft hinein wirken, — all das muB entweder durcb mindestens ebenso subtile und mach- tige Einfliisse wettgemacht werden, die auf Vergeistigung, reines Gewissen, echtes Schonheitsgefiihl und unabhangige, erstlingsfrische Mannheit und Weibheit abzielen; -- oder aber unsere moderne Zivilisation mit all ihren Errungenschaften ist umsonst, und wir sind auf dem Wege zu einem Scbicksal, einem Zustand, der, in dieser ihrer realen Welt, dem der Verdammten des Fabelreichs gleicht.
Wenn wir so auf die kommenden, in aller Gelassenheit nahen- den Zeiten blicken und auf diesen neuen Orden, der in ihnen er- wachsen soil, und auf die endlose Kette von Heranbildung, Ent- wicklung, Entfaltung in Nation und Mensch, die der Sinn des Lebens ist, so sehen wir, in Vorzeichen, inmitten dieser Ausblicke und HofF- nungen, neue gesetzschaffende Kraftegesprochener und geschriebener Sprache, — nicbt nur padagogischer Formen, korrekt, regelrecht, in aller Uberlieterung bewandert, geschaffen fiir auBere Richtig- keit, schone Worte, endgiiltig gepragte Gedanken, — sondern eine Sprache, die umweht ist vom Hauch der Natur, die Sprunge macht kopfiiber, der es vor allem auf Impuls und Wirkung ankommt und auf das Wachstum dessen, was sie pflanzen und zu starker Ent- wicklung bringen will, — die mit Leben und Charakter wetteifert und die Dinge nicht so sehr ausspricht, als andeutet und zu ihnen hinzwingt. In der Tat, eine neue Theorie literarischen Schaffens
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fur hochste Werke der Einbildungskraft, besonders fur hochste Dich- tung, ist der einzige Weg, der den Vereinigten Staaten offen ist. Biicher miissen verlangt und beschafft werden von der Voraussetzung aus, daB Lesen kein Halbschlaf ist, sondern im hochsten Sinn eine Geistesiibung, ein gymnastisches Ringen; daB der Leser selbst etwas dabei tun muB, daB er wachsam sein muB, daB er oder sie in der Tat selbst das Gedicbt, die Beweisfiihrung, die Geschichte, den metaphysiscben Essay mit aufbauen muB und der Text nur die An- deutungen, den Schliissel, den Ausgangspunkt oder das Gerippe gibt. Nicht so sehr das Bucb muB komplett sein, sondern der Leser. Auf solcbe Weise konnte eine Nation geschmeidiger und athletischer Geister sich bilden, wohl trainiert, intuitiv, gewohnt, sich auf sich selber zu verlassen und nicht auf ein paar Koterien von Schrift- stellern.
Wenn wir diesem Gedanken nachgehen, so sehen wir, nicbt daB alle unsere ererbten Bibliotbeken , all die zabllosen Biicber in Scbranken, alle die Urkunden usw. etwas Geringes sind, — son- dern wie groB die Gefahr ist, sicb ganz von ihnen abhangig zu machen, von den Adern ohne Blut, den Muskeln obne Nerv, der falschen Anwendung aus zweiter und dritter Hand. Wir sehen, daB das wahre Interesse dieses unseres Volkes an der Theologie, Ge- scbicbte, Dichtung, Politik und den personlichen Vorbildern der Ver- gangenheit (der britischen Inseln zum Beispiel, aber iiberhaupt der gesamten Vergangenheit) nicht notwendig darin liegt, uns selbst oder unsere Literatur nach ihnen zu niodeln, sondern uns mit ihnen, als mit etwas Abgeschlossenem , Giiltigerem, zu vergleichen, ihre Warnungen zu horen und durch sie einen Einblick in uns selbst, in unsere eigene Gegenwart und unsere viel groBere, andersartige Geschichte, Religion und Gesellschaftsform der Zukunft zu gewinnen. Wir seben, daB fast alles, was bisher mit bezug auf die Mensch- heit unter der Herrschaft der feudalen und ostlichen Institutionen und Religionen und fur andere Lander geschrieben, gesungen oder festgestellt worden ist, von neuem geschrieben, gesungen und fest- gestellt werden mufi in Ausdrucksformen, die der Institution dieser unserer Staaten entsprechen und sich ihr gehorsam einfiigen und anpassen.
Gleichwie im physischen Kosmos nach meteorologischen, pflanz- lichen und tierischen Zeitaltern zuletzt der Mensch sich erhebt,
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der aus ihnen geboren ist und bestimmt, sie zu erproben, in sich /u konzentrieren, mit Staunen und Liebe auf sie zu blicken, iiber sie zu herrschen, sie zu kronen und sie in hohere Reiche empor- zutragen, --so sehen wir auch aus den sozialen und politischen Zeitaltern der Vergangenheit jetzt diese Staaten sich erheben. Wir sehen, dafi nicht, wie viele meinten, alles bereits erreicht und vollendet ist, sondern dafi in Wahrheit das Grofke immer noch zu tun bleibt, und wir entdecken, daB das Werk der Neuen Welt nicht beendigt, sondern nur eben erst begonnen ist.
Wir sehen unser Land, Amerika und seine Literatur, Asthetik usf. im wesentlichen an als die vverdende Ausdrucksform oder als die breiteste Oftenbarung der tiefsten Grundelemente und der hoch- sten Endziele der Geschichte und des Menschen — als die Bildnerin unserer eigensten Physiognomic (nach den ewigen Gesetzen und Bedingungen der Schonheit), die subjektive Bindung und den Aus- druck des Objektiven, hervorgehend aus unserer besonderen Zu- sammensetzung, Uberlieferung und Anschauung — und als Nieder- schlag und Zusammenfassung der nationalen Mentalitat, Charakter- eigenart, Berufung, der nationalen Heldentaten, Kampfe und Frei- heiten - - wo alles das in einer einheimischen literarischen und kiinstlerischen Formulierung seinen hochsten Ausdruck findet, der unsere Nation davor bewahren \vird, ziellos herumzutappen und all ihre materielle Grofie, so imposant und gewaltig sie ist, nach fliichtigem Glanze schwinden zu sehen, sondern der Amerika dazu verhelfen wird, sich selbst zu verstehen, hochherzig zu leben und aus seiner Fiille zu spenden und eine vollgestaltete Welt zu werden, die, sicher in sich selber ruhend, erleuchtet und erleuchtend, ihre Bahn durchlauft, — gottliche Mutter nicht allein korperlicher, son- dern geistiger anderer Welten, in endloser Nachfolge durch die Zeiten — gegriindet immer auf das eine, Wesentliche: den Durch- schnitt, das leibhaftig konkrete, demokratische Volkstiimliche, auf dem aller Aufbau der Zukunft fur alle Zeiten ruhen muG.
TAGEBUCH 1862-1864
An der Front
Falmouth, Virginia, gegeniiber Fredericksburg
21. Dezember 1862.
Beginne mit meinen Besuchen in den Feldlazaretten der Potomac- Armee. Verbringe einen grofien Teil des Tages in einem geraumigen Backsteingebaude amUfer des Rappahannock, das seit derSchlacbt* als Lazarett dient; scbeint, dafi nur die am schwersten Verwundeten hier aufgenommen sind. DrauCen unter einem Baum, zehn Schritt von der Front des Hauses, bemerke ich einen Haufen amputierter Fiifie, Beine, Arme, Hande usw., eine voile Ladung fur einen ein- spannigen Karren. Mehrere Tote liegen dabei, jeder mit seiner braunwollenen Decke zugedeckt. Im Hof, gegen den FluB hmab, sind frische Graber, meistens von Offizieren; die Namen auf FaB- dauben oder Holzlatten, die in den scbmutzigen Boden gesteckt sind. (Die meisten dieser Leicben wurden spater ausgegraben und zu ihren Angehorigen nacb Norden gescbafft.) Das groBe Gebaude ist im unteren und oberen Stockwerk gedrangt voll ; alles improvisiert, kein System, alles ziemlich schlecht, aber zweifellos so gut, als es sich eben macben lafit; alle Wunden sebr schwer, einige furcbtbar; die Leute noch in ibren vertragenen Uniformen, schmutzig und blutig. Unter den Verwundeten sind auch gefangene Rebellen, Sol- daten und Offiziere. Mit einem von ihnen, einem Mississippier, einem Hauptmann, der einen bosen SchuB im Bein hatte, unter- hielt ich mich eine Zeitlang; er bat micb um Zeitungen, die icb ibm gab. (Icb sah ihn ein Vierteljahr nachber in Washington; das
* Bei Fredericksburg. (Anmerkung des 0bersetzers.)
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Bein war amputiert; sonst ging es ilim gut.) Ich ging durch die unteren und oberen Zimmer. Einige von den Leuten lagen im Sterben. Ich hatte bei diesem Besuch nichts zu verschenken, son- dern scbrieb nur im Auftrag der Verwundeten ein paar Briefe an Verwandte zu Hause, Mutter usw. Sprach auch mit dreien oder vieren, die am empfanglichsten schienen und es notig batten.
23. bis 3i. Dezember.
Die Folgen der letzten Schlacht sind hierberum (iberall wahr- zunehmen, an Tausenden von Fallen (Hunderte sterben taglich) in den Feld-, Brigade- und Divisionslazaretten. Das sind nur Zelte, und zvvar zum Teil sebr armliche. Die Verwundeten liegen am Boden, gliicklicb, wenn ihre Decken auf Schicbten von Tannen- oder Fich- tenzweigen oder kleinen Blattern ausgebreitet sind. Keine Betten; selten auch nur eine Matratze. Es ist ziemlicb kalt. Der Boden ist hart gefroren und es schneit mitunter. Ich gehe von einem zum andern. Ich weiB nicht, ob ich diesen Verwundeten und Sterbenden viel helfe; aber ich kann sie nicht verlassen. Dann und wann halt sich ein junger Mensch krampfhaft an mir fest, und ich tue fur ihn, was ich kann; auf jeden Fall bleibe ich bei ihm und sitze stunden- lang neben ihm, wenn er es haben will.
Da liegen sie auf einem freien Platz im Walde, zwei- bis drei- hundert arme Kerls — das Achzen und Schreien — der Blutgeruch vermischt mit dem frischen Duft der Nacht, des Grases, der Bauine - dieses Schlachthaus! Oh, gut ist es, dafi ihre Mutter, ihre Schwe- stern sie nicht sehen konnen, — dafi sie sich das nicht vorstellen konnen, nie vorgestellt haben. Ein Mann ist von einem Granat- splitter getroffen, ins Bein und in einen Arm — beide sind ampu- tiert — da liegen die abgetrennten Glieder. Andern sind die Beine abgeschossen — andere haben Kugeln in der Brust — andere un- beschreiblich fiirchterliche Wunden im Gesicht oder im Kopf, alle verstummelt, ekelerregend , zerfleischt, aufgerissen, — manche im Unterleib — manche sind noch Knaben — viele Rebellen dabei, schwer verletzt — die Reihe kommt an sie wie an die iibrigen - die Arzte behandeln sie gerade so. So sieht es im Verwundetenlager aus — ein Fragment, ein entfernter Widerschein der blutigen Szene - wahrend iiber das Ganze der klare groBe Mond bin und wieder sein weiches, ruhiges Licht ausgiefit. Mitten im Walde diese Szene
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fliehender Seelen — unter dem Knattern und Krachen und gellenden Geschrei — der leise Duft des Waldes — und doch der beifiende, erstickende Rauch — der Glanz des Mondes, der immer wieder so friedlich vom Himmel herabblickt — das Gewolbe so himmlisch — das Helldunkel dort oben, diese schwimmenden oberen Meere — einige grofie, friedlicbe Sterne dahinter, die scbweigend und ge- lassen hervorkommen und dann \erschwinden — die melancholische, verhangte Nacht droben und ringsumher. Und dort, aufden Wegen, den Feldern und in den Waldern dieser Kampf — niemals und nirgends ein so erbitterter — beide Parteien jetzt in voller Wucht - Massen — kein Scheingefecht, kein balbes Spiel, sondern grimmige, wilde Damonen kampfen hier — Tapferkeit und Todesverachtung die Regel, Ausnahmen so gut wie keine.
Welche Geschichte kann je — denn wer weifi alles — das wiitend entschlossene Ringen der Arnieen in all ihren einzelnen grofien und kleinen Abteilungen darstellen — wo, wie bier, jede von Kopf bis Fuf3 in verzweifelten, todlichen Willen getaucht ist? Wer weiB etwas von den Nabkampfen, von den vielen Kampfen im Dunkeln, in diesen scbattenverwobenen, mondstrahlendurcbblitzten Waldern — die bin und her wogenden Gruppen und Rotten — das Scbreien, der Larm, das Knattern der Gewehre und Pistolen -- der ferae Kanonendonner — Hurrarufen, Scbreie, Drohungen und die schreck- liche Musik der Fliicbe — das unbeschreibliche Durcheinander - Befeble, Ansporn und Zuspruch der Offiziere -- alle Teufel im menschlichen Herzen losgelassen — der starke Ruf : „ Vorwarts, Leute ! Vorwarts ! " — das Blitzen des bloBen Sabels und Gewiihl von Flam- men und Qualm? Und noch immer der klare, wolkenumzogene Himmel und nocb immer wieder das Mondlicht, das silbrig weich seine strahlenden Lichtflecken u'ber alles giefit. Wer will die Szene malen, die plotzliche teilweise Panik am Nacbmittag in der Dam- merung ? Wer den unwiderstehlichen Vormarsch der zweiten, plotz- licb herbefohlenen Division des dritten Korps unter Hooker selbst — diese rascb aufriickenden Phantome durch die Walder bin? Wer zeigt, was sicb da im Schatten beranbewegt, flieOend und fest — die Ehre der Armee, vielleicht der Nation zu retten? — Und es war die Rettung. Dort behaupten die Veteranen das Feld.
Ungenannt bleibt der tapferstc Soldat
Wer schreibt, sage ich, wer kann die Geschichte solcher Szenen schreiben? Wer erzahlt von den vielen Dutzenden — nein Tausenden ungenannter Helden aus Norden und Siiden, unbekannten Helden- taten, unglaublicher, spontaner, auBersterVerzweiflungskraft? Keine Geschichte, kein Gedicht verherrlicht, kein Lied besingt cliese Tapfer- sten von alien — diese Taten. Kein offizieller Generalstabsbericht, kein Bibliothekbuch, keine Zeitungsspalte weiht dem Tapfersten aus Nord oder Siid, Ost oder West den Nachruf. Ungenannt, unbekannt bleiben fiir immer die tapfersten Soldaten. Unsere Mannlichsten — unsere Jungen — unsere kiihnen Lieblinge: in keinem Bilde leben sie fort. Ihr Urbild (ohne Zweifel gibt es Hunderte, Tausende wie er) kriecht vielleicht zur Seite unter einen Strauch oder Farrenbusch, zu Tode getroffen — sucht dort Obdach fiir kurze Zeit — trankt Wurzeln, Gras und Boden mit rotem Blut — die Schlacht riickt vor, kehrt wieder, huscht von der Szene, fegt vorbei — und dort, vielleicht unter Schmerz und Qual (doch geringer, weit geringer als man denkt) windet sich die letzte Lethargic wie eine Schlange um ihn — die Augen verglasen imTod — niemand kiimmert sich darum — vielleicht lassen eine Woche spater bei Waffenruhe die Begrabnis- kommandos den abgelegenen Platz undurchsucht — und dort zer- fallt endlich der tapferste Soldat zu Erde, unbegraben und un- bekannt.
Meine Vorbereitung fiir Besuche
Bei meinen Besuchen in den Lazaretten habe ich gehinden, da6 ich durch die bloGe Tatsache meiner personlichen Gegenwart, durch die Ausstromung von einfachem Frohsinn und Magnetismus mehr Erfolg hatte und nutzte als durch arztliche Pflege oder Lecker- bissen oder Geldgeschenke oder irgend etwas anderes. Wahrend des Krieges besaB ich vollkommene korperliche Gesundheit. Es war meine Gewohnheit, wenn es sich machen liefi, mich auf jeden meiner taglichen oder nachtlichen Rundgange, die zwei bis vier oder fiinf Stunden dauerten, dadurch vorzubereiten, daB ich mich zuvor durch Ruhe, Baden, frische Kleidung, eine gute Mahlzeit und ein moglichst heiteres Aussehen starkte.
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Aus einem Bericht im ,,Brooklyn Eagle", 19. Marz i863
So werde ich besser vertraut mit den einzelnen Fallen und lerne jeden Tag einen besonderen, interessanten Gharakter kennen und komme in ein vertrautes und oft zartliches Verhaltnis zu edlen jungen amerikaniscben Mannern; und dann erst beginnt das eigent- liche Gute, das man tun kann. Und dann erst, das gestehe ich egoistiscberweise, bin icb so recht in meinem Element. Selbst vom arztlicben Standpunkt aus ist das von gro6ter Bedeutung ; ich kann bezeugen, dafi Freundschaft buchstablich ein Fieber und die Arznei taglicher Zartlichkeit eine schlimme Wunde geheilt hat. In dem, was ich da sage, liegt das letzte Geheimnis einer erfolgreichen Tatig- keit als Krankenpfleger unserer Soldaten, und ich spreche es aus fur die, die es verstehen konnen.
Washington, 3o. Juni i863. Liebste Mutter!
Ich habe die letzten Tage bis gestern Abend mit einem ziemlichen Anfall von Halskatarrh und Kopfweh zu tun gehabt; aber heute fuhle ich mich beinahe wieder ganz wohl. Ich war fast wie sonst in der Stadt — in den Lazaretten usw. meine ich. Man sagt mir, daC ich mich zu viel an den Krankenbetten aufhalte, bei Fieber- kranken, eiternden Wunden usw. Einen Soldaten, der schwer typhus- krank vor etwa vierzehn Tagen hierhergebracht wurde, habe ich in meine ganz besondere Obhut genommen, da ich ihn in einem Zustand fand, der nahe am Sterben war, infolge von Vernachlas- sigung und einer furchtbaren Reise von vierzig Meilen, schlechten Wegen und schnellem Fahren; und dann wurde er, als er hierher kam, ebenfalls vernachlassigt, da er ein einfacher Junge vom Lande ist, sehr scheu und schweigsam und sich nie beklagte. Ich machte den Arzt auf ihn aufmerksam, setzte die Pflegerinnen in Bewegung, lieC ihn mit Spiritus waschen, gab ihm Stiicke Eis zu schlucken und Eis auf den Kopf . . . Er war sehr ruhig, ein sehr verniinftiger Mensch, altmodisch; er wollte nicht sterben, und ich mufite ihn fortwahrend beliigen, denn er glaubte, ich wisse alles. Und ich tat natiirlich, als ob ich ihm stets die voile Wahrheit sagte und es ihm mitteilen und nicht verheimlichen wurde, wenn es einmal gefahrlich um ihn stehen sollte. Schwer Fieberkranke werden in der Regel
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aus den allgemeinen Salen in eine besondere Baracke geschafft, und wie mir der Arzt sagte, sollte er auch dorthin gebracht werden. Ich brachte es ihm schonend bei, aber der arme Junge bildete sich sofort ein, daft er als hoffnungslos aufgegeben sei und deshalb dorthin gebracht werde. Dieser Gedanke erschiitterte ihn; und obwohl ich ihm diesmal die Wahrheit sagte, hatte ich damit weniger Erfolg als vorher mit ineinem Flunkern. Ich iiberredete den Arzt, ihn dazu- lassen. Drei Tage lang schwebte er zwischen Leben und Tod, eher noch naher dem Tode. Um es aber endlich kurz zu machen, Hebe Mutter, er ist jetzt iiber die groBte Gefahr hinaus. Die ganze Zeit iiber war er bei vollem BewuBtsein. — Jetzt beginnt er ein wenig Nahrung zu sich zu nehmen (eine Woche lang afi er nichts; ich muBte ihn zwingen, dann und wann eine Viertel-Orange zu nehmen), und, mag man es nun AnmaBung nennen oder nicht, ich mochte sagen, daB, wenn er \vieder aufkommt und gesund wird, ich ihm das Leben gerettet babe.
Mutter, wie ich Dir schon schrieb, Du kannst Dir keine Vor- stellung davon machen, wie diese kranken und sterbenden Jiinglinge sich an einen anschliefien und wie bezaubernd das ist, trotz all dem Traurigen, trotz Schrecken und Tod, die einen hier umgeben. In diesem selben Lazarett, wo dieser Kavallerist liegt, habe ich noch etwa fiinfzehn oder zwanzig Falle, um die ich mich besonders kiim- mere und zum Teil nicht weniger als um ihn. Es sind zwei von East Brooklyn da ... Beide sind ziemlich schwer verwundet, beides Jiinglinge unter neunzehn Jahren. O Mutter, wenn ich so durch die Bettreihen gehe, scheint es mir, als ware es ein Unrecht, diese Kinder ins Heer aufzunehmen und sie so vorzeitigen Erfahrungen auszusetzen. Ich widme mich hauptsachlich dem Armory-Square- Lazarett, weil hier bei weitem die schlimmsten Falle, die entsetz- lichsten Wunden, das groBte Leiden zu finden ist, weil hier Trost am meisten nottut. Ich gehe jeden Tag ohne Ausnahme und oft bei Nacht — bleibe manchmal sehr lange. Niemand legt mir etwas in den Weg, weder Wachtposten, Warter, Arzte noch sonst jemand. Man lafit mir vollstandig freie Hand.
Washington, 8. September i863.
Ich gehe jeden Tag und jede Nacht in die Lazarette — ich glaube nicht, daB sich Menschen je so liebten, wie ich und einige dieser
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armen verwundeten, kranken und sterbenden Manner einander lieben. — Mutter, ich bin wirklich stolz darauf, Dir zu sagen, daB ich mir bewuBt bin, eine ganze Anzahl von Leben zu retten, da- durch, daB ich sie davor bewabre, sich selber aufzugeben, und daB ich so viel wie moglich bei ihnen bin; die Leute sagen, es sei so, und die Arzte sagen, es sei so — und ich kann mit gutem Gewissen bekennen, daB es wahr ist, obwohl ich es von mir selber sage. Ich weiB, Du wirst es gern horen, Mutter, deshalb sage ich es Dir.
Washington, 2. Marz 1864.
Oh, ich wiinschte, Du, Mutter — oder iiberhaupt Frauen wie Du und Mat* — waren hier, so viele wie moglich, als Hausmutter fur die armen kranken und verwundeten Manner. Eure bloBe Gegen- wart wurde schon geniigen — oh, wie gut wurde es ihnen tun. Mutter, es macht mich krank, zu sehen, welche Art von Menschen hier mit ihrer Pflege betraut sind — so kalt und formlich, sie fiirchten sich, sie anzufassen.
Washington, 3. Juni 1864.
Du weifit nicht, wie sehr ich mich danach sehne, nach Hause zu kommen und euch alle wiederzusehen ; Dich, Hebe Mutter, und Jeff und Mat und alle. Ich glaube, ich habe Heimweh — ein neues Gefuhl fur mich — dazu kommt, dafi ich alles Grauen des Soldatenlebens gesehen habe, ohne jedoch das kriegerische Erleben mitzumachen, das mich abgelenkt hatte. Es ist schrecklich, so viel zu sehen und nicht helfen zu konnen.
Ein New Yorker Soldat
Heute Nachmittag, am 22. Juli, blieb ich lange bei Oskar F.Wil- bur, KompagnieG, 164 Rgt. New York, der an Dysenteric und auch einer schlimmen Wunde daniederliegt. Er bat mich, ihm ein Kapitel aus dem Neuen Testament vorzulesen. Ich willigte ein und fragte ihn, was ich lesen solle. Er sagte: ,,Wahle selbst!" Ich schlug den SchluB eines der ersten Evangelien auf und las die Kapitel vor, worin die letzten Stunden Christi und die Vorgange
* W.'s Schwagerin, Frau seines drittjiingsten Bruders Thomas Jefferson W. (Anmerkung des Cbersetzers.)
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bei der Kreuzigung beschrieben sind. Der arme verfallene junge Mensch bat mich, auch das folgende Kapitel vorzulesen, wo Cbristus wieder auferstand. Ich las sehr langsam, denn Oskar war schwach. Es gefiel ihm sehr gut, aber dieTranen standen ihm in den Augen. Kr fragte mich, ob ich auf Religion etwas halte. Ich sagte: ,,Viel- leicht nicht in der Weise, wie du meinst, mein Lieber, und doch koinmt es wohl auf dasselbe hinaus." Er sagte: ,,Sie ist mein ganzer Trost." Er sprach vom Tode und sagte, er fiirchte ihn nicht. Ich sagte: ,,Wie, Oskar, glaubst du denn nicht, daB du wie- der gesund wirst?" Er sagte: ,,Mag sein; aber wahrscheinlich ist es nicht." Er sprach mit Fassung von seinem Zustand. Die Wunde war sehr schlimm, sie eiterte stark. Dann hatte ihn die Dysenteric sehr mitgenommen, und ich fiihlte, dafi er schon in diesem Augen- blick so gut wie im Sterben lag. Seine Haltung war sehr mann- haft und zartlich. Den Kufl, den ich ihm beim Abschied gab, er- widerte er vierfach. Er gab mir die Adresse seiner Mutter. Ich war ofter so mit ihm zusammen. Er starb wenige Tage nach dem eben Beschriebenen.
Bescheidenheit der Soldaten
Ich kann mich immer wieder nicht genug dariiber wundern, unter diesen altjungen amerikanischen Soldaten so wenig Prahler und Prahlerei zu finden. Ich babe Leute gefunden, die seit Beginn des Krieges in jeder Schlacht gewesen sind, und habe mit ihnen iiber alle Schlachten in den verschiedensten Gegenden der Ver- einigten Staaten und iiber viele Gefechte auf den Fliissen und in den Hafen gesprochen. Ich finde hier Leute aus alien Staaten der Union, ohne Ausnahme. (Es gibt in der Unionsarmee mehr Siid- lander, besonders aus den Grenzstaaten, als man gewohnlich an- nimmt.) Ich bezweifle jetzt, ob man eine richtige Vorstellung von dem bekommen hat, was dieser Krieg in Wirklichkeit ist, oder was das eigentliche Amerika und sein Charakter ist, ohne solche Erfahrungen, wie ich sie jetzt mache.
Virginia
Zerstort, schutzlos, vom Krieg zerstampft, wie Virginia ist, werde ich doch iiberall, wohin ich komme, von Oberraschung und
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Bewunderung iiberwaltigt. Welche Moglichkeiten sind hier fiir Land- bau, Verbesserungen, menschliches Leben, Ernahrung und Ent- wicklung. Der Boden ist noch immer weit iiber dem Durchschnitt aller Nordstaaten. Und die Landschaft, wie weitraumig, iiberall Gebirge in der Ferae, iiberall giinstig gelegene Strome. Auch jetzt noch Walder in Fiille und Reichtum an Blumen, Obst und Friichten aller Art. Himmel und Luft voller Leuchtkraft und sicherlich ini allgemeinen sehr gesund. Etwas Reiches, Elastisches ist iiberall bei Tag und Nacht zu fiihlen. Die Sorine, ihrer Kraft froh, strablt und brennt und ist doch, wenigstens fiir mich, niemals lastig und ermiidend. Es ist nicht die lecbzende tropische Hitze, sondern eine starkende Glut. Der Nordwind mafiigt sie. Die Nachte sind oft unvergleicblicb. Gestern abend (8. Februar) sab icb zum ersten- mal den neuen Mond, mit dem klaren Umrifi der vollen Scheibe; Himmel und Luft so klar, so durchsichtige Farbungen, es war mir, als hatte icb den Neumond nie zuvor wirklicb geseben. Die Sichel war ganz, ganz scbmal. Sie hing zart grade iiber dem diistern Scbatten der Blauen Berge. Acb, mochte sie ein gutes Omen fiir diesen ungliicklichen Staat bedeuten.
Sommer 1864
Ich bin wieder in Washington und mache meine taglichen und nachtlichen Rundgange. Allenthalben in den Lazaretten gibt es Falle, wo arme Burschen schon lange liegen und an hartnackigen Wunden leiden oder schwach und mutlos sind von Typhus und dergleichen und besondere, mitfiihlende Pflege brauchen. Zu diesen setze ich mich ans Bett und plaudere mit ihnen oder troste sie schweigend. Sie haben das ungeheuer gern (und ich auch). Jeder Fall hat seine Besonderheit und verlangt neue Anpassung. Ich habe gelernt, mich darauf einzurichten — ich habe ein gut Teil Lazarettweisheit gelernt. Manche unter den jungen Burschen, die zum erstenmal im Leben von Hause fort sind, hungern und diirsten nach Zartlichkeit; das ist oft das einzige, was ihnen hilft. Die Leute wollen gern Bleistifte haben und Schreibpapier. Ich habe ihnen biliige Taschenbiicher gegeben und Kalender fiir das Jahr 1864, die mit leerem Papier durchschossen sind. Zum Lesen bringe ich gewohnlich ein paar alte illustrierte Zeitschriften oder
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Geschichtenbiicher -- sie sind immer beliebt. Auch die Morgen- und Abendblatter der Tageszeitungen. Die besten Bucher ver- schenke icb nicht, sondern leihe sie im ganzen Lazarett herum aus. Die Leute sind immer sebr piinktlich mil dem Zuriickgeben. In diesen Lazaretten oder auf freiem Feld mache ich so bestandig die Runde; ich babe gelernt, mich jedem Bediirfnis anzupassen nacb seiner Art und Weise und werde jedem gerecht nach seinen Umstanden, so trivial oder feierlich sie sein mogen — nicbt nur Besucbe und erheiternde Gesprache und kleine Gaben — nicht nur Waschen und Verbinden von Wunden (icb babe einige Falle, wo der Patient es von keinem andern getan haben will, als von mir) — sondern ich lese auch Stellen aus der Bibel vor, erklare sie, bete mit ihnen am Bett, spreche iiber die christliche Lehre mit ihnen usw. (Ich glaube, ich sehe meine Freunde iiber dieses Gestandnis lacheln, aber ich war nie im Leben ernster.) Im Lager und iiberall hatte ich die Gewohnheit, vorzulesen oder den Leuten etwas vorzutragen. Sie batten das sehr gern und liebten deklamatoriscbe poetische Stiicke. Wir riickten claim, nach dem Abendbrot, in einer groGen Gruppe zusammen und vertrieben uns die Zeit mit solchen Vor- lesungen oder mit Gesprachen oder auch mit einem unterhaltenden Spiel, genannt das Spiel der ^Zwanzig Fragen".
Aus einem Bericht in den ,,New York Times", 11. Dezember 1864
Fur viele von den Verwundeten und Kranken, besonders unter den jiingsten Leuten, liegt in personlicher Liebe und Liebkosung, in der magnetischen Ausstromung von Sympathie und Freund- schaft etwas, was in seiner Weise mehr Gutes tut als alle Arznei der Welt. Ich sprach von meinen regelmaGigen Gaben : Leckerbissen, Geld, Tabak, bestimmten Nahrungsmitteln, allerhand Kleinigkeiten usw. usw. — aber ich fand immer mehr und mehr, dafi ich in einer merkwiirdig groBen Zahl von Fallen am meisten durch jene hier angedeuteten Mittel helfen und die Wagschale zugunsten der Hei- lung beeinflussen konnte. Der amerikanische Soldat ist voller Zartlichkeit und liebebediirftig. Und er ist wundersam dankbar dafiir, wenn dieses Bediirfnis gestillt wird, wahrend er fern von Hause, unter Fremden, mit schmerzhaften Wunden daniederliegt.
7 Whitman 1
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Viele werden das nur fur Sentimentalitat halten, aber ich weiB, es ist Tatsache. Ich glaube, daB die bloBe Anwesenheit und das Umhergehen einer herzhaften, gesunden, reinen, starken, edel- miitigen Personlichkeit, Mann oder Weib, unter den Verwundeten und im Lazarett bestandige, unsichtbare Strome aussendet und dadurcb den Kranken und Verwundeten uriermeBlich wohltut.
Abraham Lincoln
Ich sehe den Prasidenten fast taglich, da ich zufallig dort wohne, wo er auf dem Hin- und Riickweg zu seinem Landhaus vor der Stadt vorbeikommt . . . Ich sah ihn heute morgen gegen halb neun Uhr hereinkommen und die Vermont Avenue entlangreiten. Er hat immer ein Gefolge von 26 bis 3o Mann Kavallerie, mit ge- zogenen Sabeln iiber den Schultern. Man sagt, diese Garde ist gegen seinen personlichen Wunsch, aber er laBt seine Rate ge- wahren. Weder ihre Uniformen noch ihre Pferde sind sonderlich stattlich. Mr. Lincoln reitet gewohnlich ein gut aussehendes, leicht gehendes graues Pferd, ist in schlichtes Schwarz gekleidet, einiger- mafien abgetragen und staubig, tragt einen steifen schwarzen Hut und sieht alles in allem so einfach aus, wie der gewohnlichste Mann . . . Ich sehe ganz deutlich Abraham Lincolns dunkelbraunes Gesicht mit den tiefgefurchten Linien, mit den Augen, in deren Ausdruck fur mein Gefiihl immer eine tiefe verborgene Trauer liegt. Wir sind so weit gekommen, dafi wir GriiBe miteinander tauschen, und zwar sehr herzliche. Manchmal fahrt der Prasident in einer offenen Equipage . . . Sie kamen einmal sehr nahe an mir vorbei, und ich blickte dem Prasidenten voll ins Gesicht, als sie langsam voriiberfuhren, und sein Blick, obwohl abwesend, war zu- fallig unverwandt in meine Augen gerichtet. Er verbeugte sich und lachelte, doch tief hinter diesem Lacheln bemerkte ich wohl jenen Ausdruck, den ich andeutete. Kein Kiinstler hat in seinen Portrats den tiefen, obwohl zarten und mdirekten Ausdruck des Gesichts dieses Mannes festgehalten. Da ist noch etwas ganz anderes. Einer der grofien Bildnismaler des vorigen oder vorvorigen Jahr- hunderts miiBte das malen.
Prasident Lincolns Tod
1 6. April 1 865.
Er hinterlaBt den Geschichtschreibern und Biographen Amerikas nicht allein die dramatischste Erinnerung unseres Landes, — son- dern, nach meiner Dberzeugung, die grb'Bte, beste, eigenartigste, kiinstlerischste und moralischste Personlichkeit. Nicht als ob er keine Fehler gehabt und wahrend seiner Prasidentschaft begangen hatte; aber Rechtlicbkeit, Giite, Scbarfsinn, Gewissenhaftigkeit und (eine neue Tugend, unbekannt in anderen Landern und auch bei uns kaum noch wahrhaft bekannt, aber der Grund und das Hand, das alles zusammenhalt, wie die Zukunft im groBten MaBstab er- weisen \vird) Unionism U9 im wahrsten und weitesten Sinne bil- deten das Riickgrat seines Charakters. Das besiegelte er mil seinem Tode. Der tragische Glanz seines Todes wirft, alles lauternd und verklarend, um seine ganze Gestalt und sein Haupt eine Aureole, die dauern und durch die Zeit nur noch leuchtender werden wird, da die Geschichte lebt und die Liebe des Landes nicht vergeht. Viele haben mitgeholfen, diese Union zu schaffen; aber wenn ein Name, ein Mann besonders genannt sein soil, so ist er vor alien ihr Bewahrer fur die Zukunft. Er wurde ermordet — aber die Union ist nicht ermordet — ca ira! Der eine fallt und der andere fallt. Der Soldat bricht zusammen und sinkt wie eine Welle — aber die Wogenreihen des Ozeans drangen ewig nach. Der Tod verrichtet sein Werk, loscht Hunderte, Tausende aus — Prasident, General, Kapitan und jedermann — aber die Nation ist unsterblich.
TAGEBUCH 1876-1882
Mai, Juni 1876.
Ich finde, da6 der Wald im spa' ten Mai und friihen Juni mein bester Aufenthalt zum Schreiben ist. Dort zeichnete icb mir fast alles auf, was nun folgt, auf Baumstammen oder -stumpfen sitzend oder auf Zaunen hockend.
Wobin icb auch gebe im Winter oder Sommer, in Stadt oder Land, allein zu Haus oder auf Reisen, — iiberall muB icb Notizen machen; es ist meine vorherrschende Leidenschaft in der Zeit des Alters und der korperlicben Schwacbe.
Wenn icb so die t-Stricbe und die i-Punkte gewisser beschrank- ter Bewegungen der letzten Jahre nacbmale, so will es mir scbeinen, als stecke in den folgenden Auszijgen so recht das Abe einer neu- gelernten Lektion. Wenn du ausgekostet hast, was auszukosten war in Geschaft, Politik, Geselligkeit, Liebe und so fort, — und fandest, daB keines von diesen restlos befriedigt oder auf die Dauer taugt, — was bleibt dann? Die Natur bleibt und ihre Kraft, aus dumpfer Verborgenheit hervorzulocken, was in Mann oder Weib an Verwandtem steckt mit freier Luft, mit Baum und Feld, mit dem Wecbsel der Jahreszeiten — dern Sonnenschein bei Tage — dem Sternenbimmel bei Nacbt. Von dieser Uberzeugung wollen wir ausgehen. Die Literatur fliegt so hocb und ist so heiB gewiirzt, daB unsere Aufzeicbnungen vielleicbt nur erscheinen werden wie ein paar Atemziige gewobnlicher Luft oder ein paar Ziige frischen Wassers. Aber das gehort zu unserer Lektion.
Teure, berubigende, gesunde Stunden der Erholung — nach drei Kerkerjahren der Lahmung — nacb dem langen Druck des Krieges, seinen Wunden, seinem Sterben.
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Wer weifi, vielleicht (ich traume und wiinsche es mir) bringen die folgenden Seiten Sonnenstrahl oder Gras- und Weizengeruch, oder Vogelruf, Sternflimmer bei Nacbt, Schneeflockenfall frisch und mystiscb irgendeinem Bewohner schwiilen Stadthauses oder miidem Arbeiter oder Arbeiterin? — oder aucb in ein Krankenzimmer oder Gefangnis, — als kuhlenden Hauch oder Arom der Natur fiir einen fiebernden Mund oder matten Pulsscblag.
Beim Betreten eines langen Farmweges
Jeder hat sein Steckenpferd, meines ist ein richtiger Farmweg, eingezaunt mit altem graugriinen, moos- und flecbtenbewacbsenen Kastanienholzwerk, reicblicbes Unkraut und Gestrauch fleckenweis zwischen den Steinen, die, bier und da angehauft, das Gelander stiitzen: — regellos ausgetretene Pfade dazwischen, Ro6- und Rin- derfahrten, - - alle Merkmale jeglicher Jabreszeit sichtbar und duftend ringsumber in der Nachbarschaft. — Apfelbliite im friihen April — Schweine, Gefliigel, ein Buchweizenfeld im August, ein andres voll langer, wehender Maisbiischel — und schliefilich der Teicb (die Erweiterung des Baches), der verborgen-schone, mit jungen und alten Baumen und was fiir Schlupfwinkeln und Aus- blicken !
Zu Quelle und Bach
So schlendere ich immer weiter, bis zu der Quelle unter den Weiden — die, musikalisch wie zartes Glaserklingen, einen kraftigen Schwall ergiefit. Dort, \vo das Ufer iiberhangt wie eine grofie braune, struppige Augenbraue oder Oberlippe, stromt sie aus der Offnung, so dick wie mein Hals, rein und klar. Gluckst und gluckst in einem fort — meint etwas, sagt etwas, zweifellos! (konnte man es nur iibersetzen) — gluckst dort immer, das ganze Jahr hindurch — setzt nie aus; — Unmengen von Pfefferminze, von Brombeeren im Sommer, — Licht und Schatten nach Belieben — just der rechte Platz fiir meine Juli-Sonnenbader und auch Wasserbader; — - aber vor allem immer dies unnachahmliche, weichionende Glucksen, wenn ich an heiBen Nachmittagen hier sitze. Wie dies und alles in mich hineinwachst, Tag um Tag, — alles so einheitlich — der
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wilde, eben spiirbare Duft, die sprenkeligen Blatterschatten und die ganzen naturheilkriiftigen, elementar-moralischen Einfliisse dieses Platzes.
Plaudre weiter, o Bach, in dieser deiner Sprache! Auch ich will aussprechen, was ich in meinen Tagen und auf meinen Wegen, den heimischen, unterirdischen, verflossenen — in mich aufgenommen habe — und nun dich. Hiipfe, winde deinen Weg — ich begleite dich wenigstens ein Weilchen. Ich besuche dich so haufig, Jahr um Jahr, und du weiBt, ahnst nichts von mir, (doch warum dies behaupten? wer kann es wissen?) — aber ich will von dir lernen, bei dir verweilen, von dir empfangen, dir nachahmen, von dir abschreiben.
Erwachen an einem friihen Sommermorgen
Hinweg denn, den gottlichen Bogen gelost, entspannt den so lange gestrafften! Hinweg von Vorhang, Teppich, Sofa, Buch — von ,,Gesellschaft" — von Stadthaus, StraBe, modernen Bequem- lichkeiten und Luxus, — fort zu meinem frei sich windeaden Bach mit seinem ungestutzten Gebiisch und grasigen Ufern — fort von Binden, engen Stiefeln Knopfen, dem ganzen guBeisernen zivilisier- ten Leben — von der Umgebung kiinstlicher Laden, Maschinen, Ateliers, Bureaus, Empfangsraume — von Schneiderherrschaft und Modekleidern — am besten vielleicht von jeglicher Rleidung, jetzt bei der steigenden Sommerglut, hier in der wasserfrischen, schatti- gen Einsamkeit. Hinweg, du Seele (laB mich, lieber Leser, dich einzeln beiseitenehmen und ganz frei, lassig, vertraulich zu dir reden), und kehre zumindest fur einen Tag und eine Nacht zuriick zu unser aller nackter Lebensquelle, an die Brust der groBen, schweigenden, ungezahmten, allempfangenden Mutter. Ach! wie viele von uns sind so verhartet — wie viele so weit hinweggewan- dert — daB eine Umkehr fast unmoglich ist.
Was meine Notizen betrifft — die nehme ich, wie sie kommen, aus dem Haufen, ohne eigentliche Reihenfolge. Es ist wenig Zu- sammenhang in den Daten. Sie erstrecken sich wahllos iiber fiinf, sechs Jahre. Alle sind nachlassig aufgezeichnet, im Freien — an Ort und Stelle. Dies werden die Drucker vielleicht zu ihrem Arger gewahr werden, denn ihr Manuskript besteht zum groBen Teil aus diesen schnell gekritzelten ersten Zetteln.
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Zugvogel urn Mitternacht
Hast du je den Mitternachtsflug von Vogeln belauscht, wenn sie in zahllosen Heerscharen durch Luft und Dunkelheit droben dahin- ziehen, inn ihren friihen oder spaten Somrnerwohnsitz zu wechseln? Das ist etwas, was man nicht vergifit. Ein Freund weckte mich vorige Nacht knrz nach zwolf, urn das eigenartige Gerausch un- gewohnlich grofier Fliige zu beobachten, die nach Norden zogen (etwas spat dies Jahr). In der Stille, dem Schatten und dem kost- lichen VVohlgeruch jener Stunde, (dem natiirlichen Duft, der der Nacht allein eigen ist), schien es mir wundersame Musik. Man konnte die charakteristische Bewegung horen — ein paar Mai das ,,Brausen mach tiger Schwingen", aber oft ein langgedehntes, samtenes Rauschen — zuweilen ganz nah - - mit andauerndem R u fen und Zwitschern und ein paar Tonen Gesang. Das Ganze dauerte von zwolf bis nach drei. Einzelne Male war die Gattung deutlich zu unterscheiden, ich konnte den Paperlink erkennen, den Tangar, die Wilson-Drossel - - den weiBkopfigen Sperling, und manchmal kam hoch aus den Luften der Ruf des Regenpfeifers.
Hummeln
Monat Mai — der Monat der schwarmenden, singenden, paaren- den Vogel — der Monat der Hummeln — Fliedermonat — (und auch mein eigner Geburtsmonat). Diesen Abschnitt kritzle ich im Freien, kurz nach Sonnenaufgang, auf dem Weg zum Bach. Die Lichter, Diifte, Melodien, die Blaumeisen, Grasmiicken und Rotkehlchen in jeder Richtung, dies larmende, vielstimmige Natur- konzert! Als Untertone das Klopfen eines nahen Spechtes auf seinem Baum und ferner Hahnenschrei. Und dann der frische Erdgeruch - die Farben, das zarte Graugelb und diinne Blau des Horizontes. Das leuchtende Griin des Grases ist noch leuchtender geworden durch die Milde und Feuchtigkeit der letzten zwei Tage. Wie steigt die Sonne schweigend in den weiten, klaren Himmel auf ihrem Tagesweg! Wie baden die warmen Strahlen alles — und kommen kiissend und beinahe heiB iiber mein Gesicht gestromt.
Vor noch gar nicht langer Zeit kam das erste Quaken aus den I'Ynschteichen und zeigte sich das erste Wei6 der bliihenden Kornel- kirsche. Jetzt ist der Boden iiberall besat von der endlosen Uppigkeit
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des Lowenzahnes. Die weifien Kirschen- und Birnenbliiten — die wilden Veilchen, die mit ihren blauen Augen aufsehen und sich vor meinen Fiifien verneigen, wie ich am Waldrand entlang- schlendere — der rosa Hauch auf den knospenden Apfelbaumen — das leuchtendhelle Smaragdgriin der Weizenfelder — das dunklere Griin des Roggens — eine warme Spannkraft in der Luft — die Zederbiische iiber und iiber bedeckt mit ihren kleinen, braunen Friicbten — der Sommer, voll erwacbend — die Amselgesellschaft, ein ganzer gescbwatziger Haufen auf irgendeinem Baume ver- sammelt, den Raum mit Larm erfullend und die Stunde, da icb bier sitze.
Spater.
Die Natur scbreitet in Marschordnung vorwarts, in Sektionen, wie ein Armeekorps. Jede hat viel fur mich getan und tut es noch. Aber in den letzten zwei Tagen war es die groCe, wilde Biene, die Hummel (oder Brummelbiene, wie die Kinder sie nennen). Wenn ich vom Farmhaus zum Bach hinuntergehe oder humple, komme ich durch den vorhin erwahnten Weg mit seiner Einfassung von rissigen, splitterigen, briichigen, zerlocherten alten Latten, dem Lieblingsaufenthalt dieser summenden, haarigen Insekten. Auf und nieder, neben und zwischen diesen Latten, schwarmen, schiefien und fliegen sie in unzahlbaren Myriaden. Bei meinem langsamen Schlendern begleiten sie mich oftmals gleich einer beweglichen Wolke. Sie spielen eine Hauptrolle auf meinen Streifziigen, mor- gens, mittags und bei Sonnenuntergang, und beherrschen oft die Landschaft in einer Weise, die ich mir nie hatte traumen lassen — fullen den langen Weg nicht nur in Scharen von vielen hundert, nein zu Tausenden. GroB, lebhaft und geschwind, mit wunder- barer Triebkraft und einem andauernden, lauten, schwellenden Summen, das zeitweilig durch einen Laut, fast wie ein Schrei, unterbrochen wird, schiefien sie bin und her, schnell wie der Blitz, jagen einander und vermitteln mir (so winzige Dinger sie sind) ein neues, ganz bestimmtes Gefuhl von Kraft, Schonheit, Vitalitat und Bewegung. 1st es ihre Paarungszeit? Oder was bedeutet diese Fulle, Schnelle, Emsigkeit, dieser Aufwand? Beim Gehen glaubte ich, mir folge ein besonderer Schwarm, aber bei naherer Betrach- tung waren es rasch aufeinanderfolgende, wechselnde Sch warme.
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Ich habe mich zum Schreiben unter einen groBen, wilden Kirsch- baum gesetzt — die Warme des Tages ist durch einige Wolken und eine frische Brise gemildert; nicbt zu heiB und nicht zu kiihl - und bier sitze ich lange und immer langer, eingehiillt in das tiefe musikalische Gedrohn dieser Hummeln, die zu Hunderten ura mich herumgleiten, schweben, sausen — grofie Burschen, mil hell- gelber Jacke, groBem glanzendem scbwellendem Rumpf, plumpen> Kopf und baucbdiinnen Fliigeln, und ihrem unausgesetzten uppigen, weicben Gebrumm. (Ware das nicht ein Vorwurf zu einer Ton- dichtung, zu der es den Hintergrund geben konnte? Einer Art Hummelsymphonie? — )
Wie nahrt mich dies alles, lullt mich ein, just in der Art, wie ich es brauche: die frische Luft, die Roggenfelder, die Apfelgarten. Die beiden letzten Tage waren makellos schon an Sonne, Windr Temperatur und allem — nie erlebte ich zwei vollkommenere Tage, und ich habe sie unendlich genossen. Mein Befinden ist etwas besser, und meine Seele hat Rube. (Und doch ist der Jahrestag von meines Lebens schwerstem Verluste und Schmerz ganz nah*.)
Wieder eine Aufzeichnung, wieder ein vollkommener Tag: Vor- mittag von sieben bis neun, zwei Stunden ganz eingehiillt in den Klang von Hummelgebrumm und Vogelmusik. Driiben in den Apfelbaumen und in einer hohen nahen Zeder safien drei oder vier rotriickige Drosseln. Jede sang ihr bestes Lied und schmetterte die Laufe, wie ich sie schoner niemals horte. Zwei Stunden lang bore ich ihnen zu, dem Lauschen hingegeben und lassig die Land- schaft in mich aumehmend. Fast jeder Vogel, habe ich bemerkt, hat seine bestimmte Zeit im Jahr — manchmal sind es nur em paar Tage — wo er am schbnsten singt; und jetzt ist die Zeit dieser Rotriicken. Gleichzeitig wegauf, wegab die bin und her schieBenden, drohnenden musikalischen Hummeln. Auf dem Heimweg umgibt mich ein grofier Schwarm als Hofstaat, zieht mit mir wie zuvor.
Sommerbilder — Sommerfaulheit
Nichts kann die stille Pracht und Frische iibertreffen, die mich bier am Bach, abends halb sechs Uhr, beim Schreiben umgibt. Mittags batten wir einen heftigen Regenschauer, mit kurzem Donner
*Der Todestag seiner Mutter, i3. Mai 1878. (Anmerkung des Cbersetzers.)
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und Blitz; und danach nun dieser nicht auBergewohnliche aber (im Ganzen, nicht in Form oder Einzelheit) unbeschreibliche Himmel vom klarsten Blau, mit rundgeballten, silberumsaumten Wolken und blendend reiner Sonne. Unten Baume in der Fiille zarten Laubes — von Wasser und Rohricht kommende, langgedehnte Vogelstimmen — am deutlichsten das jammerliche Miauen eines klagenden Katzenvogels und das vergniigliche Krahen von zwei Eisvogeln. Die letzteren babe ich jetzt eine halbe Stunde bei ihrem iiblichen Abendspiel iiber und in dem Wasser beobachtet; offen- bar ein herrlicher SpaB. Sie jagen einander, wirbeln und kreisen rundberum, oft frohlich ins Wasser hinunter, wobei der Giscbt in Diamanten zerspriiht, — und dann schieBen sie weg, mit schragen Fliigeln, in anmutigem Fluge, manchmal so nab an mir vorbei, dafi ich ihre dunkelgrau gefiederten Leiber und ihre milchweiBen Halse deutlich sehen kann.
Als ich mich zum Heimgehen erhebe, verweile ich noch und lausche lange einem kostlichen Sanges-Epilog (ist es die Einsiedler- drossel?). Aus einem der buschigen Verstecke driiben am Moor kommt es — langsam und traumerisch, wieder und immer wieder. Und dazu die Ringelspiele der Schwalben, die zu Dutzenden in konzentrischen Kreisen durch die letzten Strahlen des Abendrots flitzen — wie Blitze eines Luftrads.
Ein Julinachmittag am Teich
Hitze, intensiv, doch um vieles ertraglicher in so reiner Luft — weiBe und rosa Teichblumen mit groBen, herzformigen Blattern — glasklares Wasser in der Bucht, Ufer mit dichtem Gebiisch und malerischen Buchen, — Schatten, — Rasen; aus Schlupfwinkeln hervor der tremolierende, schwirrende Ruf irgendeines Vogels, der die warme, trage, fast wolliistige Stille zerreiBt; — gelegentlich eine WTespe, eine Hornisse, eine Biene oder Hummel (die fliegen mir um Gesicht und Hande, storen mich aber nicht, und ich sie auch nicht; denn es scheint, als untersuchten sie mich, fanden aber nichts, und — fort sind sie!) — der Himmel iiber mir so weit und klar, und der Bussard dort oben, der seinen langsamen Flug in majestati- schen Spiralen und Kreisen zieht — gerade iiber dem Wasserspiegel zwei groBe, schieferfarbene Wasserjungfern mit Hauchfliigeln, sie
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kreisen und schiefien dahin und stehen manchmal regungslos im Gleichgewicht, nur ihre Fliigel zittern leise ohrie Unterlafi (pro- duzieren sie sich zu meinem Vergniigen?). — Der Teich selber, mil dem schwertformigen Kalmus; — Wasserschlangen — zuweilen eine Amsel, rote Tupfen auf den Schultern, schrag vorbeifliegend ; — Gerausche, die in Einsamkeit, Warme, Licht und Schatteri liorbar werden — das Scbnattern einer Teichente — (die Grillen und Gras- hiipfer sind verstummt in der Mittagshitze, doch bore ich das Lied der ersten Zikaden;) — dann, in ziemlicher Entfernung, das Rasseln und Schwirren einer Mahmaschine, die, am anderen Uler der Bucbt, in raschem Tempo von Pferden durch ein Roggenfeld gezogen wird — (was war das fur ein gelber oder bellbrauner Vogel, so groG wie ein junges Huhn, mil kurzem Hals und langgestreckten Beinen, den ich eben in flatterndem, ungeschicktem Plug driiben zwischen den Baumen sab?) — in meiner Nase der stetige, /arte, docb intensive, wiirzige Gras- und Kleeduft. Und alles deckend, alles umfassend, fiir Auge und Seele der freie Himinel, durchsichtig und blau — und driiben im Westen geballt, ein Haufen weiGgrauer Schafchenwolken, die der Seemann yMakreelenziige" nennt. Mit silbernem Gekrausel, gleich wirren Locken, breitet, debnt sich der Himmel — ein weites, lautloses, gestaltloses Trugbild — und doch, vielleicht die wirklichste Wirklicbkeit und der Gestalter aller Dinge — wer weifi — ?
4- August, nachmittags sechs Uhr.
Lichter, Schatten und seltene Wirkungen auf Laub und Gras — , durchsichtiges Griin, Grau usw., alles in der Pracht und Glut des Sonnenuntergangs. Die klaren Strahlen fallen jetzt auf viele neue Stellen, auf die faltigen, rissigen, bronzebraunen unteren Buum- stamme, die zu jeder anderen Stunde im Schatten stehen — baden die alten und jungen knorrigen Saulen in starkem Licht, enthiillen mir neue, wundersame Ziige stummer, rauher Anmut, die starke Rinde, den Ausdruck leidloser Unberiihrbarkeit, dazu viele nie zuvor bemerkte Knorren und Zapfen. In der Oifenbarung solchen Lichtes, solch ungewobnlicher Stunde, solcher Stimmung, wundert man sich nicht mehr iiber die alten Fabeln (ja, warum denn Fabeln?) von Menschen, die krank wurden aus Liebe zu Baumen und in Verziickung gerieten iiber die mystische Wirklichkeit der stummen
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unwiderstehlichen Kraft in ihnen, — Kraft, die am Ende viel- leicht die letzte, vollkommenste, hochste Schonheit ist.
Heuschrecken und Grillen
22. August.
Schnarrender, einformiger Laut von Heuschrecken oder Grillen, diese hore ich bei Nacht, jene so nachts wie tags. Der Morgen- und Abendgesang der Vogel hat mich von je entziickt; aber ich merke, daB ich mit ebensoviel Freude diesen seltsamen Insekten lauschen kann. Jetzt um die Mittagszeit, eben da ich schreibe, laBt eine einzelne Heuschrecke sich horen, aus 200 Schritt Entfernung von einem Baum herab, ein langanhaltendes Schwirren, gehorig laut, abgestuft in verschiedene Wirbel oder Schwingungskreise, die an Kraft und Schnelligkeit wachsen bis zu einem gewissen Punkt, — und dann ein flatterndes, sanft auslaufendes Sinken. Jede Strophe dauert ein bis zwei Minuten. Das Lied der Heuschrecke paBt vortrefflich zu dieser Landschaft — es hat Fiille, Ausdruck und Mannlichkeit; es ist wie ein feiner alter Wein, nicht suB, aber weit besser als siiB.
Aber die Grille — wie soil ich ihre reizvollen Laute beschreiben? Eine singt in einem Weidenbaum, nur 20 Meter von meinem offenen Schlaffenster entfernt, seit vierzehn Tagen singt sie mich jede klare Nacht in Schlaf. Neulich abends fuhr ich wohl einen halben Kilometer weit durch den Wald und hb'rte Myriaden von Grillen auf einmal — ein eigenartiger Eindruck; jedoch gefallt mir rnein einzelner Nachbar auf dem Baume besser.
LaBt mich jedoch iiber den Gesang der Heuschrecken noch mehr sagen, wenn ich mich auch wiederhole; ein langes, chromatisches, tremolierendes Crescendo, wie von einer ehernen Scheibe, die, im Kreise geschwungen, Schallwelle auf Schallwelle hervorbringt, be- ginnend mit einem gewissen maBigen Takt oder Rhythm us, der schnell an Tempo und Inbrunst zunimmt, einen hohen Grad von Energie und Ausdruckskraft erreicht — und dann rasch und grazios sinkt und erlischt. Nicht die Melodic des Singvogels — weit davon — ; dem Durchschnittsmusikanten wiirde dieser Gesang vielleicht jeder Melodic bar erscheinen, doch hat er fur das feinere Ohr gewiB seine eigene Harmonic; eintonig zwar — doch welch ein Schwung
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in diesem ehernen Drohnen, um und urn, wie Zymbeln oder \vie das Schwingen eherner Wurfscheiben.
Was uns ein Baum zu sagen hat
i . September.
Ich mochte, um das zu erklaren, weder den groBten noch den malerischsten Baum wahlen. Hier vor mir steht einer meiner Lieb- linge — eine schone, kerzengerade gelbe Pappel, etwa 90 FuB hocb und vier FuB breit an der Wurzel. Wie stark, lebendig, dauerhaft! Wie wortlos beredt: Wie vermittelt sie das Gefiibl von Unbeirrbar- keit und Sein, im Gegensatz zu der Menscbenart des bloBen Scheinens. Dann die nahezu seelischen, fiihlbar kunstlerischen, heroiscben Eigenschaften eines Baumes; so unschuldig und harmlos und doch so wild. Er ist, aber er sagt nicbts. Wie beschamt er mit seiner zahen, gleichmaBigen Heiterkeit in jedem Wetter dieses flatterhafte Wichtchen Mensch, das beim geringsten bificben Regen und Scbnee unter Dacb eilt! Die Wissenschaft (oder besser Halb- wissenschaft) spottet iiber den Gedanken an Dryaden, Hamad ryaden und sprechende Baume. Aber wenn sie aucb nicbt sprecben, so tun sie docb etwas, das gerade so gut ist wie das meiste Reden und Scbreiben, Dicbten und Predigen — oder nocb viel besser. Icb mochte wirklicb sagen, daB die alten Dryadengeschichten so wahr sind wie nur irgendwelche und tiefer als die meisten Uber- lieferungen. (,,Schneide dies a us," wie der Quacksalber sagt — wund bewahre es auf.w) Geb und setze dich in einen Hain oder Wald zu einem oder mehreren dieser stummen Gefahrten und lies das Gesagte und denke nacb.
Eine Lebre, die die Verschwisterung mit einem Baum — viel- leicbt iiberbaupt die groBte moraliscbe Lehre, die Erde, Felsen und Tiere uns geben konnen, ist eben diese Lebre des Eigenwesens, des Seins ohne die geringste Riicksicht auf das, was der Zuscbauer (der Kritiker) meint oder sagt und ob es ihm gefallt oder nicbt. Welcbe schlimmere, welche verbreitetere Krankheit durcbseucbt uns alle, unsere Literatur, unsere Erziehung, unser Verhalten zuein- ander (ja zu uns selbst), als eine ungesunde Sorge um den Schein (nocb dazu meist ganz Hiicbtigen Schein)? Und gleichzeitig kiimmern wir uns gar nicht oder kaum um die gesunden, langsam reifenden,
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iiberdauernden, wirklichen Seiten von Charakter, Biichern, Freund- schaft, Ehe — die unsichtbaren Grundlagen und Haften der Mensch- heit! (Denn die gemeinsame Basis, der Nerv, der groBe Sympathi- kus, das Plenum der Menschheit, das jedem Dinge sein Geprage gibt, ist notwendigerweise unsichtbar.)
Der Himmel. Tage und Nachte. Gliick
20. Oktober.
Ein heller, klarer, frostiger Tag — trockne und frische Luft voll Sauerstoff. Von all den gesunden, schweigenden, ko'stlichen Wun- dern, die micb umgeben und durchdringen — (Baume, Wasser, Gras, Sonnenlicht, erster Frost) — ist es der Himmel, den ich heute am meisten betrachte. Er zeigt das zarte, durchsichtige Blau, das dern Herbste eigen ist, mit nur weiBen Wolken, kleinen und gro'Beren, die der groBen Halbkugel ihre stille, seelenhafte Bewegung verleihen. Den ganzen Morgen iiber (sagen wir von sieben bis elf Uhr), behalt er dieses klare, doch intensive Blau. Doch wie der Mittag heranriickt, wird die Farbe heller — zwei, drei Stunden lang ganz grau — dann noch um einen Schein blasser bis zum Sonnenuntergang, dessen blendende Pracht ich durch die Lichtungen einer Gruppe groBer Baume hindurch beschaue: — Feuerzungen und eine iippige Ent- faltung von Hellgelb, Violett und Rot, mit einem weiten Silber- glanz schrag iiber dem Wasser; — die durchsichtigen Schatten, Lichtstreifen, Blitze und lebhaften Farben iibertreffen weit alle Gemalde der Welt.
Ich weiB nicht warum und wieso, doch mir scheint, als verdankte ich hauptsachlich diesen Himmeln (und manchmal will mich dun- ken, obwohl ich den Himmel naturlich jeden Tag meines Lebens sah, als hatte ich ihn zuvor nie wirklich erblickt) in diesem Herbste manche wunderbar zufriedene, fast mochte ich sagen vollkommen gliickliche Stunde. Ich las einmal, dafi Byron kurz vor seinem Tode einem Freunde erzahlte, er babe in seinem ganzen Leben nur drei gliickliche Tage gekannt. Auch gibt es die alte deutsche Legende von des Konigs Glocke, die auf das gleiche hinzielt. Wie ich da drauBen im Walde das wundervolle Abendrot durch die Baume erblickte, fielen Byrons Worte und die Glockengeschichte mir ein, und es erwachte in mir das BewuBtsein, daB ich eine
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gliicklicheStunde erlebte. (Meine besten Augenblicke jedoch bringe ich wohl nie zu Papier; wenn sie iiber micb kommen, mag icb nicht durch Aufeeichnungen den Zauber zerstoren. Dann gebe icb micli nur ganz der Stimmung bin und lasse mich auf den Fluten ibrer stillen Entziickung tragen.)
Was ist iiberhaupt Gliick? 1st dies eine seiner Stunden oder ihm ahnlich? So unfafibar — ein blofier Hauch, ein verschwindender Lichtschein? Ich bin nicht sicher — so laftt mir die Wohltat der Ungewiflheit. Hast du, Durchsichtiger, in deinen azurblauen Tiefen Arznei fiir Kranke, wie mich? (Oh, die korperiiche Zerriittung und seelische LJnruhe der letzten drei Jahre!) Und traufelst du sie nun, leise, mystisch, unsichtbar durch die Luft auf mich herab?
Ein Wintertag am Meeresstrand
Jiingst verbrachte ich einen schonen Dezembermittag an der Seekiiste von New Jersey, die ich durch eine kaum mehr als ein- stiindige Eisenbahnfahrt iiber Old Camden und Atlantic erreichte. Ich war zeitig aufgebrochen, gestarkt durch schonen, starken Kaffee und ein gutes Friihstiick (von geliebten Handen, von meiner lieben Schwester Lou zubereitet — wie viel besser schmecken doch dann die Speisen, und wie viel besser iiahren und starken sie einen und machen vielleicht noch den ganzen Tag angenehm.)
Mindestens fiinf bis sechs Meilen liefen unsere Geleise durch weit- gedehnte Wiesen von Diinengras, dazwischen kleine Lagunen und Rinnsale iiberall. Der Schilfgeruch — meiner Nase eine Wonne — brachte Erinnerungen an die Siidbucht meiner Heimatinsel. Ich ware gern noch bis zur Nacht durch diese flachen, duftenden See- prarien gereist. Von halb zwolf bis zwei Uhr war ich fast standig nahe am Strand oder in Sehweite des Ozeans, lauschte seinem hei- seren Murmeln, trank die willkommene, belebende Brise. Zuerst eine schnelle Wagenfahrt iiber fiinf Meilen harten Sand — unsere Rader hinterliefien kaum eine Spur; — dann nach Tisch, da noch zwei Stunden iibrig waren, ging ich zu FuB in einer anderen Hich- tung — (sah und traf kaum jemand) — ergriff Besitz von etwas, das wohl einst der Gesellschaftsraum von einer alten Badehausanlage gewesen sein mochte und hatte einen weiten Ausblick — reizvoll, erquickend, unbegrenzt — ganz fiir mich allein. (Jnmittelbar vor
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und neben mir eine diirre Strecke Schilf und indisches Gras — und Weite, einfache, schmucklose Weite. Feme Boote und von weither eben noch sichtbar die schleppende Rauchwolke eines heimkehren- den Dampfers; etwas deutlicher Schiffe, Briggs, Schoner; die meisten batten alle Segel vor dem steifen, stetigen Wind gesetzt.
Wie anziehend, wie fesselnd sind doch Meer und Strand! Wie verliert man sicb in ihre Einfacbheit, ja in ihre Leere!
Was ist das in uns, da6 durch diese Richtungslosigkeiten und Richtungen geweckt wird? Dieser Wellenschlag, dieser grauweiBe, salzige, eintonige, leblose Strand — diese ganzliche Abwesenbeit von Kunst, Biichern, Unterbaltung, Eleganz — wie unbeschreib- lich wohltuend, selbst an einem Wintertag wie heut: rauh und doch so zart anzuschauen, so vergeistigt, an unfafibare Tiefen des Gefuhls riihrend, inniger als alle Gedichte, Gemalde, Musik, die ich je gelesen, gesehen, gehort. (Docb will icb gerecbt sein — viel- leicht ist es nur deshalb so, weil ich diese Gedichte gelesen, diese Musik gehort habe.)
Strandtraume
Schon als Knabe hatte ich den Gedanken, den Wunsch, etwas, ein Gedicht vielleicht, iiber die Seekiiste zu schreiben, — iiber diese vielsagende Trennungslinie, die zugleich Beriihrung und Verbindung ist und das Feste mit dem Fliissigen vermahlt, — dieses seltsame, lauernde Etwas, (als welches zweifellos jede objektive Form schlieG- lich einmal dem subjektiven Geiste erscheint,) das weit mehr be- deutet, als sein bloCer, erster Anblick verrat, ist er auch noch so grofiartig, und Reales und Ideales verschmilzt und jedes zu einem Teil des anderen macht. In meiner Jugend und fruhem Mannes- alter auf Long Island streifte ich stunden- und tagelang an den Kiisten von Rockaway und Conney Island entlang, oder ostwarts nach Hampton oder Montauk. Einmal, an dem letzteren Ort (beim alten Leuchtturm: 'in jeder Richtung, soweit das Auge reichte, nichts als wogende See) fiihlte ich — , ich weiO es noch genau — , dafi ich eines Tages ein Buch schreiben musse, das diesem flu- tenden, mystischen Thema Ausdruck verliehe. Ich erinnere mich, wie mir's dann spater kam, da6 die Seekiiste nicht das Thema eines bestimmten, lyrischen, epischen oder literarischen Versuches,
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sondern vielmehr ein unsichtbarer EinfluB werden sollte, ein alles durchdringendes MaB und ^7orbild mir und meiner Dichtung. (Ich mochte hier jungen Schriftstellern einen Wink geben. Ich glaube, icb babe die gleiche Regel unbewuBt aucb auf andere Machte als Meer und Kuste angewandt, — ich babe es vermieden, sie nach einer toten Schablone zu bedichten, da sie mir zu groB fiir bloB formale Behandlung vvaren , und war zufrieden, wenn icb indirekt zeigen konnte, daB wir einander kennengelernt und durcbdrungen haben, wenn auch nur einmal, so doch zur Geniige, — dafi wir wiiklich ineinander aufgegangen sind und einander verstanden baben.)
Ein Traum, ein Bild taucht seit Jahren von Zeit zu Zeit (mancb- mal lange nicbt, aber ganz sicber immer wieder einmal) leise vor mir auf und hat, glaube ich, obwohl es nur eine \7orstellung ist, mein praktisches Leben stark beeinfluBt, — sicherlich meine Schriften, denen es Form und Farbe gegeben hat. Es ist nichts mehr und nichts weniger als eine unermefiliche Strecke weiBbraunen Sandes, hart und glatt und breit; der Ozean rollt unablassig majestatisch darauf zu, mit langsamem, abgemessenem Schwung, mit Rauschen und Zischen und Schaumen und dumpfen StoBen dazwischen wie von tiefen Pauken. Die Szene, dieses Bild, steigt, wie gesagt, seit Jahren von Zeit zu Zeit vor mir auf. Manchmal erwache ich bei Nacht und kann es deutlich horen und sehen.
Friihlingsvor spiel, Wiedergeburt
10. Februar 1877.
Heute das erste Zwitschern, fast Singen eines Vogels. Dann sah ich am offenen Fenster in der Sonne zwei Honigbienen herumflitzen und summen.
1 1 . Februar.
An diesem wundervollen Abend, in dem sanften Rosa und blassen Gold des schwindenden Lichtes, hb'rte ich das erste Wispern und Sich-Regen des erwachenden Friihlings — ganz leise — ich weifi nicht, ob aus Erdboden oder Wurzeln, oder von der Bewegung von In- sekten, — docb war es horbar, wie ich so an einen Zaun gelehnt stand und lange in den westlichen Horizont sah. Im Osten erschien der Sirius, als die Schatten wuchsen, in blendender Pracht. Und
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der groBe Orion; und ein bifichen nach Nordosten der GroBe Bar, kop fab warts.
20. Februar.
Sonnenuntergang. Eineeinsame, lustigeSttmdeamTeich; ichiibe Arme, Brust, meinen ganzen Korper an einer zahen, jungen Eiche (faustdick, 1 2 FuB hoch), ziebe und stemme und atme die gute Luft. Nachdem ich eine Weile mit dem Baum gerungen babe, kann icb spiiren, wie sein junger Saft und seine Lebenskraft aus dem Boden quillt und micb vom Scbeitel bis zur Soble durchgliibt wie Wein der Gesundheit. Zur Abwecbslung, als Dreingabe, lasse icb dann laute Stimmiibungen vom Stapel. Deklamatorisches, Sentimentales, Scbmerz, Zorn aus dem Vorrat unserer Dichter und Dramatiker — oder fiille meine Lungen und singe wilde Lieder und Kebrreime, die ich bei den Scbwarzen im Siiden horte, — oder patriotische Lieder, die ich von den Soldaten lernte. Ich lasse das Echo drohnen, kann ich euch sagen! Zwischen zwei derartigen Kraftausbriichen, im sinkenden Zwielicht, schrie ein Kauzchen am anderen Ufer der Bucht vier-, funfmal hintereinander sein tu-u-u-u — leise, nach- denklich (wie mir schien, auch ein wenig spottisch) entweder als Applaus fur die Negerlieder oder vielleicht als ironischen Kommen- tar zu dem Schmerz, Zorn oder Stil unserer Dichter.
Eine der Wunderlichkeiten des Menschen
Wie koinint es, daB man in all der heiteren, verlassenen Einsam- keit, allein, tief in diesem Waldesschweigen, — oder, wie ich fand, in der wilden Prarie, in der Bergesstille — nie ganz frei ist von dem Instinkt (ich verliere ihn nie, und andere sagen mir im Ver- trauen das gleiche von sich), sich umzuschauen, ob nicht jemand erscheinen, aus dem Boden wachsen, oder hinter einem Baum, einem Felsen hervortreten werde? Ist das ein unterbewuBtes, ver- erbtes tjberbleibsel von der Ur-Wachsamkeit des Menschen, das von den wilden Tieren herstammt? oder von seinen wilden Vor- fahren von einst? Es ist durchaus weder Nervositat noch Angst. Es ist, als lauere vielleicht etwas Unbekanntes in diesen Biischen und einsamen Orten. Nein, ganz sicherlich ist da irgend etwas lebendig unsichtbar Gegen wartimes.
Ein Nachmittagsbild
22. Februar.
Gestern Nacht und heute schwer und regnerisch, bis zum halben Nachmittag, wo der Wind sich plotzlich drehte, die Wolken wie Vorhange rasch fortzogen und der klare Himmel durchkam and mit ihm zugleich der schonste, erhabenste wunderbarste Regen- bogen, den ich jemals sah; ganz vollstandig, sebr farbig an seinen Erdenenden und in der Hohe nach alien Richtungen einen leuch- tenden violetten, gelben, griinen Dunst ausstrahlend, durch den die Sonne leucbtete -- ein unbeschreiblicher Licbt- und Farbenaus- bruch, so iippig und docb so zart, wie ich es nie zuvor erblickte. Dann das Nacbspiel: eine voile Stunde verging, ebe das letzte dieser Erdenenden verscbwand. Dahinter der Himmel : ein durcbsicbtiges Blau, mit vielen kleinen weiBen Wolken und Flocken. Dazu ein Abendrot, das alle Sinne der Seele verscbwenderisch, zartlich, voll erfiillte und beberrscbte. Ich schlieBe diese Zeilen am Teich; durch die Abendschatten fallt eben noch genug Licht, um den westlichen Widerschein auf dem Wasserspiegel zu sehen, mit dem umgekehrten Bild der Baurne. Hin und wieder bore ich das klatschende Gerausch eines Hechtes, der herausspringt und das Wasser krauselt.
Die Tore offnen sich
6. April.
Ich fiihle leibhaftig den Friihling, oder doch seine Vorboten. Ich sitze im hellen Sonnenschein, am Rande des Baches, der Wind krauselt leise das Wasser. Nichts als Einsamkeit, Morgenfrische, Lassigkeit. Meine zwei Eisvogel leisten mir Gesellschaft, segeln, wenden, stoBen, tauchen, manchmal launisch getrennt, und gleich wieder vereint. Wieder und wieder hore ich ihre zwitschernden Kehllaute; eine ganze Zeit lang nichts als diesen eigenartigen Ton. Gegen Mittag werden auch audere Vogel warm; ich bore die schnar- renden Laute des Rotkehlchens und eine Musik zweier Stimmen, da von eine ein kostliches, belles Glucksen, und mehrere andere Vogel, die ich nicht unterzubringen weiB. Dazu kommt noch von Zeit zu Zeit (ja, eben bore ich's) ein leises Quarren von ein paar ungeduldigen Froschen am Rande des Teiches. Hie und da rauscht
zischenci ein ziemlich starker Wind durch die Baume. Ein armes, kleines totes Blatt, lang vom Frost gefesselt, wirbelt plotzlich von irgendwoher im wilden Taumel neuer Freiheit hoch in die Lu'fte, in Raum und Sonnenlicht, und stiirzt dann plotzlich hinab aufs Wasser, wo es festgehalten wird und bald versinkend dem Blick entschwindet. Nocb sind Biische und Baume kahl, doch haben die Buchen nocb zum groBen Teil die verschrumpelten, gelben Blatter vom vorjahrigen Laube, viele Zedern und Ficbten sind nocb griin, und das Gras zeigt scbon Spuren kommender Uppigkeit. Und iiber dem Ganzen ein wundervoller Dom vom reinsten Blau, ein Spiel von kommeiidem und gebendem Licht, und groBe Herden von weiBen, still dahinschwimmenden Wolken.
Der gewohnliche Erdboden
Aucb der Erdboden — lafit andere See und Luft bescbreiben - (wie ich es zuweilen versucbe) — docb ich will nun den einfachen Erdboden zum Tbema nehmen, und weiter nicbts. Dieser braune Boden bier, just zwischen Winterende und Friihlingsanfang und Wacbstum — der Regenscbauer des Nachts und der frische Duft am nachsteu Morgen — die roten Wurmer, die sicb aus dem Boden bervorwinden — die toten Blatter, das keimende Gras und das heim- liche Leben darunter — der Wille zu neuem Beginn — an geschiitzten Stellen bereits einzelne kleine Blumen — der feme Smaragdglanz des Winterweizens und der Roggenfelder — die noch nackten Baume mit hellen Durchblicken, die im Sommer verdeckt sind, — das zahe Bracbfeld, das Pflug-Gespann, der kraftige Burscb, der seinen Pferden aufmunternd zupfeift — und dort, in langen, schrag aufgeworfenen Streifen, die dunkle, fette Erde.
Vogel, Vogel, Vogel
Etwas spater. Strahlendes Wetter.
Ungewobnlicb sangesreich sind in diesen Tagen (den letzten des April, den ersten des Mai) die Amseln; iiberhaupt schwirren, pfeifen und hocken alle moglichen Vogel bocb in den Baumen. Nie sab und hb'rte ich sie so, war so mitten unter ihnen, so von ihnen und ihrem Treiben umdrangt, uberschwemmt, wie in diesem Monat.
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Lafit mich aufzahlen, was ich hier finde: Amseln (in Mengen), Ringeltauben, Eulen, Spechte, Konigsvogel, Krahen (in Mengen), Wachteln, Eisvogel, Hiihnerhabichte, Gelbvogel (auch Beutelstare genannt), Bussarde, Zaunkonige, Drosseln, Rohrdommeln, Feld- lerchen (in Mengen), Kuckucke, Teichschnepfen, Rotkehlchen, Raben, Grauschnepfen, Adler, Fischreiher, Waldtauben.
Schon friih kamen Blaukehlchen, Killdeer, Regenpfeifer, Rot- kehlchen, Waldschnepfen, Feldlerchen, weiBbauchige Schwalben, Sandpfeifer, Wilson-Drosseln.
Sternhelle Niichte
2 1 . Mai.
Wieder bricht eine jener ungewohnlich durchsichtigen, schwarz- blauen Sternennachte an, die gleichsam zeigen wollen, daB, so strah- lend und prachtig der Tag sein mag, dennoch dem Nicht-Tag etwas zu eigen bleibt, was ihn iibertrifft. Das seltenste, schb'nste Beispiel eines langanhaltenden Helldunkels von Sonnenuntergang bis neun Uhr. Ich ging zum Delaware hinunter und fuhr immer wieder hin- iiber und heriiber. Venus wie leuchtendes Silber hoch im Westen. Die groBe, diinne, blasse Sichel des Neumonds, eine halbe Stunde hoch, langsam hinter eine diistere Wolkenwand sinkend und dann wieder hervortauchend. Arktur gerade iiber mir. Ein leiser, wiir- ziger Meeresduft von Siiden her. Die dammerige milde Ruble; jede Einzelheit der unbeschreiblich beruhigenden und starkenden Sze- nerie deutlich zu erkennen; — eine jener Stunden, die der Seele zu- raunen, was sich nicht in Worte fassen laBt. (Oh, wo fa'nde Geistig- keit ihre Nahrung ohne Nacht und Sterne?) Die gestaltlose Weite der Luft und das verschleierte Blau des Himmels schienen Wunder genug.
Als die Nacht vorriickte, wandelte sich ihr Geist und Kleid zu noch umfassenderer Pracht. Ich wurde mir fast einer deutlich be- stimmten Gegenwart bewufit: der schweigenden Nahe der Natur. Das grofie Sternbild der Wasserschlange streckte seine Windungen iiber mehr als den halben Himmel. Der Schvvan flog mit aus- gebreiteten Schwingen die Milchstrafie hinab. Die nordliche Krone, der Adler, die Leier, alle an ihrem Platz dort oben. Aus dem ganzen Gewolbe schossen Lichtblitze, GriiBe an mich, durch das klare
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Blauschwarz herab. Jedes gewohnliche Bewufitsein von Bewegung, jedwedes animalische Leben schien ausgeschaltet, schien ein Traum ; eine seltsame Macht, gleich der gelassenen Ruhe agyptischer Gott- heiten, ergriff die Herrschaft, durch ihre Unfafibarkeit um nichts weniger gewaltig. Zuvor batte ich viele Fledermause gesehen, die sich in dem hellen Zwielicht wiegten und ibre scbwarzen Gestalten bin und her iiber den FluB schnellten; doch jetzt waren sie ganz verschwunden. Der Abendstern und der Mond waren fort. Regsam- keit und Friede waren ruhig beisammengelagert in den flutenden Schatten des Alls.
26. August.
Hell war der Tag, und mein Geist gleich falls im ,,sforzando". Nun kommt die Nacht, ganz anders, unsagbar nachdenklich mit ihrer eigenen, zarten und milden Pracht. Venus verharrt im Westen mit einem wolliistigen Glanze, wie sie ihn im ganzen Sommer noch nicht zeigte. Mars geht friih auf, und der duster-rote Mond, zwei Tage nach Vollmond; Jupiter im nachtlichen Meridian, und der lange, gekriimmte Skorpion dehnt sich voll sichtbar im Siiden, den Antares am Halse. Mars durchschreitet jetzt als oberster Herrscher den Himmel; den ganzen Monat iiber gehe ich nach dem Abend- essen hinaus, um ihn zu beobachten ; rnanchmal stehe ich um Mitter- nacht auf, um noch einmal einen Blick auf seinen unvergleichlichen Glanz zu werfen. (Ich lese, daC kiirzlich ein Astronom durch das neue Teleskop von Washington feststellte, dafi der Mars jedenfalls einen Mond, vielleicht sogar zwei, hat.*) BlaB und fern, doch im Himmelsraum nahe, geht Saturn ihm voran.
Konigskerzen
GroBe, sanfte Konigskerzen, von samtenem Gewebe und heller, braunlich-griiner Farbe, wachsen iiberall auf den Feldern, je weiter der Sommer vorriickt. Anfangs, wenn sie noch niedrig und unent- faltet sind, wirken sie mit ihren breiten Blattern (acht, zehn, zwanzig Blatter an jeder Pflanze) wie Rosetten auf dem Erdboden. Auf den zwanzig Morgen Brachland, am Ende des Feldweges, und besonders in den Furchen langs der Zaune, stehen sie in Menge, erst dicht
* A. Hall im Jahre 1877. (Anmerkung des Ubersetzers.)
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iiber dem Boden, doch bald schieBen sie«hoch, schon sind die Stengel vier, fiinf, ja sieben und acht FuB hoch; die Blatter so breit, vrie meine Hand, die untersten doppelt so lang — so frisch und tauig in der Friihe. Ich bore, daB der Farmer die Konigskerze fiir ein gemeines, nutzloses Unkraut bait; doch mir ist sie lieb geworden. Jedes Ding enthalt seine Lehre, in der der Hinweis auf alle anderen Dinge entbalten ist — und in letzter Zeit scbeint mir's manchmal, als konzentriere sicb fiir mich alles in diesem wetterharten, gelb- blumigen Unkraut. Wenn ich am friihen Morgen den Feldweg daherkomme, verweile ich stets vor ihrem weichen, wolligen Vlies, ihren Stengeln und breiten Blattern, die von zahllosen Diamanten glitzern. Zusammen kehren wir, sie und ich, nun seit drei Jahren in jedem Sommer schweigend zuriick; nach so langen Pausen stehe oder sitze ich immer wieder bei ihnen und traume — verwoben mit all den andern Stunden und Stimmungen der Erholung meines gesunden oder kranken Geistes, der bier dem Frieden so nahe ist, wie nur moglich.
Feme Gerausche
Die Axt des Holzhauers — der gleichmaBige Fall eines einzelnen Dreschflegels -- das Krahen des Hahnes im Huhnerhof (mit den unvermeidlichen Antworten aus anderen Hiihnerhofen) — das Briillen der Kinder — doch vor allem, fern und nah, der Wind — hoch in den Baumwipfeln, tief in den Biischen, oder aufGesicht und Handen so leise streichelnd, in diesem mild-leuchtenden Mittag, dem kiihlsten seit langer Zeit (2. Sept.); — ich will es nicht Seufeer nennen, denn fiir mich hat der Wind immer einen festen, gesunden, frohlichen Ausdruck, abwechslungsreich bei aller Einformigkeit, bald rasch, bald langsam, bald rauh, bald zart. Wie zischelt der Wind in dem Fichtenwaldchen dort driiben. Oder auf See, — ich kann mir im Augenblicke vergegenwartigen, wie er die Wogen peitscht, wie weithin Schaumgeister spritzen, und das freie Pfeifen und den Salz- geruch, — und dieses weite groBe Paradoxon, das bei all seiner Bewegung und Rastlosigkeit ein Gefiihl von ewiger Buhe vermittelt.
Andere Begleiter
Sonne und Mond jedoch, hier und zu dieser Zeit! Nie schien das prachtige, konigliche Gestirn am Tage so wunderbar, so grofi, so
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gluhend und liebevoll, — nie bei Nacht ein so blendender Mond, wie gerade in den letzten drei, vier Nachten.
Ein Sonnenbad. Nacktheit
Sonntag, 27. August.
Wieder ein Tag ganz frei von ausgesprochner Hinfalligkeit und Schmerzen. Es scheint wirklich, als flb'sse ungesehen Friede und Starkung auf mich herab, wie ich so langsam in der guten Luft durch diese Wiesenwege und Felder humple — wie ich bier einsam mit der Natur sitze — der offenen, stummen, mystischen, fernen, doch fiiblbaren, beredten Natur. Ich lasse mich versinken in die Landschaft, in den vollkommenen Tag. Ich hocke an dem klaren Wasserlauf und trinke die Ruhe, — hier aus seinem leisen Glucksen, dort aus dem tieferen Rauschen seines drei FuB hohen Wasserfalls. — Kommt, oh, ihr Trostlosen, wenn noch EntschluBkraft in euch schlummert, — kommt zu der unfehlbaren Heilkraft von Bachufer, Wald und Feld. Zwei Monate lang (Juli und August 77) hab' ich sie nun in mich aufgenommen, und sie beginnen einen neuen Menschen aus mir zu machen. Jeden Tag Einsamkeit — jeden Tag mindestens zwei oder drei Stunden Freiheit, Bad, kein Geschwatz, keine Fesseln, keine Kleider, keine Biicher, kein ,,Benehmena!
Soil ich dir sagen, Leser, worauf ich meine schon fast wieder- hergestellte Gesundheit zuruckfuhre? Darauf, daft ich seit fast zwei Jahren, mit wenigen Unterbrechungen, ohne Arzneimittel und taglich in der frischen Luft bin. Vorigen Sommer fand ich eine besonders geschiitzte kleine Schlucht, etwas abseits von meinem Bach; urspriinglich eine groBe, ausgeschachtete Mergelgrube, nun verlassen und ausgefiillt von Biischen, Baumen, Gras, einer Weiden- gruppe, einer einzelnen Erhohung und einer Quelle mit kostlichem Wasser, die mitten hindurch flieBt mit zwei oder drei kleinen Wasserfallen. Hierher fliichtete ich mich an jedem heiBen Tage, und so mache ich es auch in diesem Sommer. Hier begreife ich, was jener Alte meinte, der sagte, er sei selten weniger allein, als wenn er allein sei. Nie zuvor kam ich der Natur so nahe, noch sie so nahe zu mir. Eine Stunde oder so nach dem Friihstiick schlenderte ich zu der Verborgenheit besagter Schlucht hinab, die ich und
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einige Drosseln usw. ganz fiir uns allein hatten. Ein leichter Siid- west blies durch die Wipfel. Es \var just der Ort und die Stunde fiir mein adamitisches Luftbad nebst Biirsten des Korpers von Kopf bis Fu6. So hing icb denn die Kleider auf einen nahen Zaun, behielt den alten, breitrandigen Strohhut auf dem Kopf und be- queme Schuhe an den FiiOen und batte zwei herrliche Stunden! Zuerst Arme, Brust und Seiten mit den steif-elastischen Borsten gebiirstet, bis sie feuerrot waren — dann ein teilweises Bad im klaren Wasser des rinnenden Baches — alles sehr gemachlich, mit vielen Ruhepausen — alle paar Minuten barfuB herumgelaufen im nahen, schwarzen Schlamm, als tettes Moorbad fur meine FiiBe, — ein zweites und drittes Mai in dem kristallklaren Wasserlauf kurz abgespiilt — mit dem duftenden Handtuch abgerubbelt — langsame, lassige Promenaden auf dem Rasen auf und ab in der Sonne, ab- wechselnd mit Ruhepausen und dann wieder Abreibungen mit der Biirste. Manchmal nehme ich meinen Feldstuhl von Ort zu Ort mit, da mein Bereich hier ziemlich ausgedehnt ist (fast hundert Ruten) und ich mich ganz sicher fiihle vor Storungen (und das wiirde mich auch keineswegs aus der Fassung bringen, wenn es zufallig einmal vorkame).
Wie ich langsam iiber das Gras ging, schien die Sonne hell genug, daB ich meinen mitgehenden Schatten sehen konnte. Irgendwie schien es mir, als wiirde ich eins mit all und jedem Ding um mich her, je nach seinem Wesen. Die Natur war nackt und ich auch. Es war eine zu Iassige, einschlafernde, wonnige und ausgeglichene Stimmung, um dariiber nachzugriibeln. Doch mag ich mir etwa diefolgenden Gedanken gemacht haben: Vielleicht ist unser innerer, nie verlorner Zusammenhang mit Erde, Licht, Luft, Baumen usw. nicht durch Augen und Gemiit allein zu erfassen, sondern mit dem ganzen fleischlichen Korper, den ich ebenso wenig wie die Augen geblendet und verbunden haben will. Siifie, gesunde stille Nackt- heit in der Natur! -- oh, konnte die arme, kranke, geile Stadt- inenschheit dich nur einmal wieder wirklich kennenlernen! — Ist also Nacktheit nicht unanstandig? — Nein, an sich nicht. Eure Gedanken, cure Heuchelei, cure Furcht, euer Ehrbartun: die sind das Unanstandige. Es kommen Stimmungen, wo diese unsere Klei- dung nicht nur zu lastig wird zum Tragen, sondern in sich selbst nnanstandig. Vielleicht hat der Mann oder das Weib, die das freie
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heitere Hochgefuhl der Nacktheit in der Natur nie kennenlernen durften (und wie viele Tausende sind das!), nie wirklich gewuBt, was Reinheit ist — noch was Glauben, Kunst und Gesundheit eigentlich ist. (Wahrscheinlich entsprang der ganze Schatz an hochster Philosophic, Schonheit, Heroismus, Form, wie die alte hellenische Rasse ihn aufweist, — die hochste Hohe und tiefste Tiefe, die die Kultur auf diesen Gebieten kennl, — aus ihrer natiir- lichen und religiosen Idee der Nacktheit.)
Die Eichen und ich
5. September 77.
Ich schreibe dies, elf Uhr vormittags, unter einer dicht belaubten Eiche am Ufer, unter der ich vor plb'tzlichem Regen Schutz suchte. Ich kam hierher (es war den ganzen Morgen triib und regnerisch, doch vor einer Stunde horte es etwas auf) zu der schon erwahnten, taglichen, einfachen Leibesiibung, die ich so liebe: um an diesem jungen Eichbaumchen hier zu ziehen und von ihm gezogen zu werden, mitzuschwingen mit der zahen Geschmeidigkeit seines auf- rechten Stammes, — vielleicht etwas von seiner elastischen Faser, seinem klaren Safte in meine alten Sehnen hineinzubekommen. Ich stehe auf dem Rasen und iibe dies Gesundheitsstemmen maBig schnell und mit Unterbrechungen fast eine Stunde lang, und atme dabei die frische Luft in tiefen Ziigen. An dem Bach entlang habe ich drei oder vier von Natur giinstige Ruheplatze — auBerdem trage ich einen Stuhl mit mir und beniitze ihn fur bedachtsamere Gelegenheiten. An anderen geeigneten Stellen habe ich, auBer dem eben erwahnten Eichbaumchen, in bequemer Reich weite starke und geschmeidige Stamme von Buchen und Stechpalmen ausgesucht zu meiner Naturgymnastik fur Arm-, Brust- und Rumpfmuskeln. Bald fuhle ich Saft und Kraft in mir aufsteigen, wie Quecksilber in der Warme. Dort in Sonne und Schatten halte ich Aste oder schlanke Stamme zartlich umfaBt, ringe mit ihrer harmlosen Starke und weiB, daB die Lebenskraft von ihnen auf mich iibergeht. (Oder vielleicht ist es ein Austausch zwischen uns — vielleicht ge- wahren die Baume von alldem mehr, als ich mir je traumen lieB.)
Nun aber in vergniiglicher Gefangenschaft hier unter der groBen Eiche — der Regen stromt, der Himmel ist mit bleiernen Wolken
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bedeckt — auf tier einen Seite nichts als der Teich, auf der andern ein Grasflecken, besat mit den weifien Bluten der wilden Mohre - Axtklange von einem fernen Holzschlag her: — warum bin icb so (beinahe) gliicklich, ganz allein hier in dieser nichtssagenden Um- gebung (wie die meisten Leute es nennen wiirden)? Warum wiirde jede Storung — selbst durch Leute, die icb gern babe, -- den Zauber vernichten? Aber bin ich denn allein? Zweifellos kommt eine Zeit — vielleicbt ist sie fur mich gekommen — wo man mit seinem ganzen Wesen, vornebmlich im Gemiit, jene Identical fiiblt zwiscben dem subjektiven Ich und der objektiven Natur, die Schelling und Fichte so gerne betonen. Wie es ist, weifi ich nicht, aber oft werde ich mir hier einer Gegenwart bewuGt — in klaren Stimmungen bin ich mir ihrer gewifi, und weder Chemie noch Logik noch Asthetik kann die geringste Erklarung dafiir geben. Die ganzen beiden letzten Sommer hat sie meinen kranken Leib und meine kranke Seele gestarkt und genahrt, wie nie zuvor. Dank, unsichtbarer Arzt, fur deine stumme, kostliche Arznei, deinen Tag und deine Nacht, deine Wasse** uod deine Liifte, fur die Ufer, das Gras, die Baume und sogar fur das Unkraut!
Schmetterlinge
20. August 1878.
Schmetterlinge, nichts als Schmetterlinge flattern bestandig bin und her (statt der Hummeln der letzten drei Monate, die ganz ver- schwunden sind) — alle Arten, weifie, gelbe, braune, purpurne - bin und wieder glitzert ein prachtiger Bursche lassig vorbei auf Fliigeln, getupft mit alien Farben wie die Paletten der Maler. Uber der Brust des Teiches sehe ich viele weiBe kreuz und quer ihren miiBigen, launischen Flug verfolgen. Nah dem Platz, wo ich sitze, wachst ein hochstengeliges Kraut, verschwenderisch gekront mit tiefroten Bliiten, auf die die schneeigen Insekten sich nieder- lassen und verweilen, manchmal vier oder fiinf zur selben Zeit. Dann besucht sie ein Kolibri und ich beobachte ihn, wie er kommt und fortfliegt, zierlich sich wiegt und vorbeischimmert. Diese weifien Schmetterlinge geben neue, schone Rontraste zu dem reinen Griin des Augustlaubs (wir haben kiirzlich reichlichen Regen gehabt) und zu der gleifienden Bronze des Wasserspiegels. Man kann sogar
manche von diesen Insekten zahmen; ich habe da einen groBen, schonen Falter, der kennt mich und kommt zu mir und hat es gern, wenn ich ihn auf meiner ausgestreckten Hand halte.
Ein anderes Mai, spater
Ein zwolf Morgan groBes Feld reifer Kohlkopfe mit ihrer vor- herrschenden Farbe von Malachitgriin; und dariiber und dazwischen schweben und fliegen nach alien Richtungen Myriaden dieser weiBen Schmetterlinge. Als ich heute den Feldweg heraufkam, sah ich eine lebendige Kugel aus ihnen, drei oder vier FuB im Durchmesser, viele Dutzende zusammengeballt, die rollten, immer ihre Kugelform bewahrend, durch die Luft, sechs bis acht FuB iiber dem Erdboden.
Erinnerung aus einer Nacht
2 5. August, neun bis zehn Uhr vorm.
ich sitze am Teich, alles ist still, die breite, glanzende Flache liegt vor mir. — Das Blau des Himmels und die weiBen Wolken spiegeln sich darin — dariiber huscht hie und da der Schatten eines fliegenden Vogels. Letzte Nacht war ich hier unten mit einem Freund bis nach Mitternacht; alles ein Wunder an Glanz — die Pracht der Sterne und der vollkommen runde Mond — die ziehenden Wolken, Silber und lichtes Gelbbraun — manchrnal Massen von dunstig erleuchtetem Windgewolk — und schweigend an meiner Seite mein lieber Freund. Die Schatten der Baume und Streifen Mondlichts auf dem Gras — die leicht bewegte Luft und der kaum spiirbare Duft des nahen reifenden Kornes, die unbewegte durch- geistigte Nacht, unaussprechlich reich, zartlich, inhaltvoll — alles in allem etwas, das die Seele durchdringt und noch lange nachher die Erinnerung starkt, nahrt und beruhigt.
Wilde Blumen
Das war, und ist noch, eine Festzeit fiir wilde Blumen; ganze Meere von ihnen stehen an den Wegen durch die Walder, saumen die Rander der Bache, wachsen an all den alten Zaunen entlang
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und sind verschwenderisch iiber die Felder verstreut. Eine acht- blattrige, goldgelbe Bliite, hell und licht, mit einem braunen Biischel in der Mitte, fast so groB wie ein silbernes Halbdollarstiick, ist sehr verbreitet; auf einer langen Fabrt gestern sah icb sie in Massen an den Ufern jedes Baches stehen. Dann gibt es ein schones, initblauenBliiten bed ecktes Kraut (von demBlau der alien chinesischen Teetassen, die unsere Grofitanten sammelten), bei dem ich immer stehenbleibe, um es zu bewundern; es ist ein wenig groBer als ein Zehncentstiick und sehr verbreitet. WeiB jedoch ist die vor- herrschende Farbe. Von den wilden Mohren habe ich gesprochen ; auch von dem wohlriechenden Immergriin. Aber alle Farben und Schonheiten sind vertreten besonders an den oft vorkommenden Strecken sprossender Zvvergeichen und Zwergzedern hier herum. \\'ilde Astern in alien Farben. Trotz des Frosthauchs halten sich die abgeharteten kleinen Dinger in all ihrer Bliitenpracht. Ebenso die Blatter der Baume, manche fangen an, gelb oder braun oder graugriin zu werden. Die tiefe Weinfarbe der Farberbaume und Gummibaume laBt sich schon sehen und das Strohgelb der Birke.
Der Delaware — Tage und Nachte
5. April 1879.
Mit der Riickkehr des Friihlings zu den Wolken, den Liiften, den Wassern des Delaware kommen auch die Seemowen wieder. Ich werde es niemals miide, ihrem weitausladenden, leichten, spiralenfb'rmigen Flug zuzusehen oder wie sie schweben mit lang- samen, unbewegten Flugeln oder herunteraugen mit ihrem ge- bogenen Schnabel oder nach Nahrung ins Wasser tauchen. Die Krahen, deren es iibergenug den Winter hindurch gab, sind mit dem Eise verschwunden. Nicht eine ist jetzt zu sehen. Die Dampf- boote sind wieder zum Vorschein gekommen -- stattlich daher- schnaufend, frisch bemalt fur die Sommerarbeit.
Aber laBt mich das Ganze zusammenfassen und aurzahlen: — den FluB selbst, den ganzen Weg vom Meer her — Cape Island auf einer Seite und Henlopen-Leuchtturm auf der anderen, die breite Bucht hinauf nach Norden, und so bis Philadelphia und weiter bis Trenton; — die Gegenden, die ich am besten kenne (da ich einen grofien Teil der Zeit in Camden zubringe, sehe ich die
Dinge von diesem Aussichtspunkt) — die grofien, hochmiitigen, schwerbeladenen Ozeandampfer, die ein- oder auslaufen — die machtige Breite hier zwischen den zwei Stadten, durchschnitten von dem Windmiihleneiland — gelegentlich ein Kriegsschiff, manch- mal ein fremdes, vor Anker, mil seinen Geschiitzen und Stiick- pforten, und die Boote und braungebrannten Schiffer, und die regelmafiigen Ruderschlage, und die frohlichen Schwarme von Ausfliiglern -- die haufigen groBen, schonen Dreimaster, einige neu und sehr schmuck mit ihren weiBgrauen Segeln und gelbem Fichtengestange — die Schaluppen, die mit giinstigem Wind daher- rauschen — (ich sehe eben eine, wie sie herbeikommt mit breiten Segeln, ihr Gaffeltoppsegel leuchtet in der Sonne, hoch und malerisch — wie schon zwischen Himinel und Wasser!) — die wimmelnden Werften und Anlegeplatze die Stadt entlang — die Flaggen der verschiedenen Nationen, das starke, englische Kreuz auf seinem Grund von Blut, die franzosische Trikolore, das Banner des groBen deutschen Kaiserreicbes und die itaiieniscben und spaniscben Far- ben; — manchmal am Nacbmittag die ganze Szenerie belebt von einer Flotte von Yachten, die mit halber Fahrt langsam vom Ren- nen in Gloucester heimkebren, und, wenn man den Blick nord- warts wendet, die langen Streifen weiBflockigen Dampfes oder schmutzigscbwarzen Ranches von der Kiiste von Kensington oder Richmond her, facherformig, schrag sich heriiberziehend im West- siidwestwind.
Szenen auf Fiihre und Flufl -- Winternachte
Dann die Camdenfahre! Welche Frohlichkeit, Abwechslung, Belebtbeit, Geschaftigkeit bei Tag. Was fur beruhigende, schwei- gende, wunderbare Stunden bei Nacht, wenn ich im Boot iiber- fahre, fast niemand aufier mir darin, und allein auf dem Deck bin und her gehe, vorn oder achtern. Welche Zwiesprache mit dem Wasser, der Luft, dem kostlichen chiaroscuro — der Himmel und die Sterne, die nichts, kein Wort zu dem Intellekt sprechen, und doch so beredt, so mitteilsam zu der Seele sind. Und die Fahr- leute — wie wenig wissen sie, was sie mir gewesen sind, Tag und Nacbt, — wie viele Wolken von Verdrossenheit, Langerweile, Schwache sie in ihrer rauhen Art mir vertrieben ha ben. Und die
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Lotsen — die Kapitane Hand, Walton und Giberson am Tag; und Kapitan Olive nachts; Eugeri Crosby, der inich rait seinen starken jungen Armen so oft stutzte, umfing, sicher aufdas Schiff geleitete iiber die Locher auf der Briicke, iiber alle Hindernisse.
Icb babe von den Krahen gesprochen. Icb beobachte sie immer vom Boot aus. Ihre scbwarzen Flecken beben sich gegen Scbnee und Eis in dieser Jahreszeit uberall ab — fliegend und flatternd oder auf kleinen oder groBeren Schollen den Strom binauf und hinab schwimmend. An einem Tag war der FluB beinabe eisfrei - nur eine einzige lange Scholle abgebrochenen Eises bildete einen scbmalen Streifen, der schnell die Stromung hinunterschwamm, iiber eine Meile weit. Auf diesem weifien Streifen waren die Krahen versammelt, Hunderte von ibnen — eine spaBige Fabrt.
Dann der Warteraum, ein genaues Bild des Lebens. Nachmittags, gegen halb vier Uhr; es beginnt zu scbneien. Im Theater hat eine Nachmittagsvorstellung stattgefunden, von halb fiinf bis fiinf Uhr koniint der Strom der heimkehrenden Damen. Ich habe niemals in dem geraumigen Zimmer eine frohere, lebendigere Szene sich abspielen sehen — schone, gutgekleidete Frauen und Madchen aus Jersey, Dutzende von ibnen, die eine Stunde lang hereinstromen, mit hellen Augen und gliihenden Gesichtern, aus der frischen Luft kommend — ein paar Stern chen Schnee auf den Rleidern und Hiiten, wenn sie eintreten. — Die Wartezeit von fiinf oder zehn Minuten — das Plaudern und Lachen — (Frauen konnen sich kostlich untereinander amiisieren, mit vielen witzigen Einfallen, in frohlicher Hingegebenheit) — dazu die Laute der Glockenzeichen, der Dampfpfeifen der abfabrenden Schiffe mit ihren rhythmischen Pausen und Untertonen, -- die vertraulichen Bilder, Mutter mit ihrer Scbar Tochter (ein reizender Anblick), Kinder, Bauern, - die Bahnbeamten mit ihren blauen Rocken und Kappen — alle die verschiedenen Charaktere aus Stadt und Land dargestellt oder an- gedeutet. Dann draufien ein verspateter Reisender, der sinnlos dem Boot nachrennt, nachspringt. Gegen sechs Uhr verdichtet sich der menschliche Strom allmahlich - - jetzt ein Gedrange von Fuhr- werken, Karren, aufgehauften Kisten, jetzt ein Zug Rindvieh, der grofie Aufregung hervorruft, die Treiber mit schweren Stocken, mit denen sie die dampfenden Flanken der verangstigten Tiere bearbeiten.
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Eine Januarnacht
Schone Fahrten iiber den breiten Delaware heute nacht. Der FluB kurz nach acht Uhr voll von grofitenteils aufgebrochenem Eis, aber ein paar groBe Schollen macben unser stark gebautes Dampf boot drohnen und erzittern, als es gegen sle stoBt. Im klaren Mondlicht breiten sie sich aus, seltsam, unirdisch, silberig, matt- glanzend, so weit ich sehen kann. StoBend, zitternd, mancbmal wie tausend Scblangen zischend, gibt die steigende Flut, wie wir mit ihr oder durcb sie hindurchfahren, einen machtigen Grundton, im Einklang mit dem ganzen Bild. Die Pracbt zu Haupten droben ist unbeschreiblicb ; aber es ist etwas Hochmiitiges, fast Anmafien- des in der Nacht, niemals nocb bin ich mir so des verborgenen Gefiihls, ich mochte beinahe sagen der Leidenschaftlichkeit der schweigenden, unendlichen Sterne da oben bewuBt geworden. In solcher Nacht kann man verstehen, warum seit den Tagen der Pharaonen oder des Hiob in dem mit Planeten besaten Himmels- dom die feinste, tiefste Kritik am menschlichen Stolz, Ruhm, Ehr- geiz empfunden wurde.
Eine andere Wintemacht
Ich kenne nichts MErfiillenderesft, als in einer klaren, kiihlen Mondnacht auf dem weiten, festen Verdeck eines starken Schiffes zu stehen, das stolz und unwiderstehlich durch dieses dicke, mar- morne, glanzende Eis stoBt. Der ganze FluB ist jetzt davon be- deckt — einige ungeheure Schollen. Es liegt etwas so "Verzau- bertes iiber der Szene — zum Teil durch die Art des blaulichen Lichtes, des Mondzwielichtes; — nur die groBen Sterne konnen sich in dem Leuchten des Mondes durchsetzen. Die Luft ist scharf, an- genebm fiir Bewegung, trocken, voll Sauerstoff. Und das Gefiihl von Kraft — der feste, zornige, gebieterische Eifer unserer starken, neuen Maschine, irides sie ihren Weg durch die groBen und kleinen Schollen pfliigt!
Eine andere
Zwei Stunden lang fuhr ich iiber den FluB, bin und her, nur zum Vergniigen — zu stiller Erregung. Himmel und FluB
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veriinderten sich ofters. Der Himmel hielt eine Zeitlang zwei groBe Facher heller Wolken ausgebreitet, durch die der Mond hindurch- ging, leuchtend jetzt und eine Aureole von durchsichtigem Gelb- braun mil sich r'iihrend, und jetzt die ganze Weite in it hellem, dunstigem Lichtgriin iiberflutend, durch das er, \vie durch einen erleuchteten Lichtschleier, mit gemessener, frauenhafter Bewegung zog. Dann bei einer anderen Fahrt ist der Himmel vollkommen klar und Luna in all ihrem Glanz. Der GroBe Wagen im Norden mit dem Doppelstern an der Deichsel, viel deutlicher als gewohnlich. Dann die glanzige Lichtspur auf dem Wasser, tanzend und sich krauselnd. Verwandlungen, Bilder, Gedichte — unnachahmlich.
Eine andere
Ich studiere bei der Oberfahrt heute nacht die Sterne unter giinstigen Umstanden. Es ist spat im Februar und wieder beson- ders klar. Hoch im Westen die Plejaden, zitternd mit feinem Ge- funkel im sanften Himmel — der Aldebaran, der die V-formigen Hyaden fiihrt — und droben im Suden die Capella mit ihren Zick- lein. In voller Entfaltung im hohen Siiden der majestatischste VOQ alien, Orion, weit ausgebreitet, machtig, der Hauptakteur auf die- ser Biihne, mit der blitzenden, gelben Rosette an seiner Schulter und seinen drei Konigen — und etwas gegen Westen Sirius, voll ruhigen Stolzes, der wunderbarste Einzelstern. Ich ging spat an Land (ich konnte mich von der Schonheit und Lindigkeit der Nacht nicht trennen) und wahrend ich herumstand oder langsam weiterwanderte, horte ich die hallenden Rufe der Bahnleute in dem Hof des Westjersey Depots, das Schieben und Rangieren der Ziige, Lokomotiven usw. inmitten der allgemeinen Stille, und ein Etwas in der akustischen Beschaffenheit der Luft, musikalische, ergreifende Effekte, wie ich sie nie zuvor wahrgenommen. Ich verweilte lange, lange und lauschte.
Nacht vom 18. Marz 1879.
Eine jener ruhigen, angenehm kiihlen, kostlich klaren und wolkenlosen ersten Friihlingsnachte — die Atmosphare wieder von dem seltsamen, glasernen Blauschwarz, das den Astronomen so willkommen ist. Genau acht Uhr abends; die Szenerie droben von
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feierlichster, unvergleichlicher Schonheit. Venus fast an ten im Westen, von einer GroBe und einem Glanz, als wollte sie sich vor ihrem Untergehen selbst ubertreffen. Schwellender, miitterlicher Himmelskorper, — ich nehnie dich wieder in mich auf. Ich denke zuriick an jenen Friihling vor Abraham Lincolns Ermordung, als ich ruhelos die Ufer des Potomac um Washington durchstreifte und dich beobachtete, hoch dort oben, schwermiitig wie ich selbst :
,,Als wir wanderten auf und ab in dem mystischen Dunkelblau,
Als wir in Schweigen wanderten in der durchsichtigen, schattigen Nacht,
Als ich sah, du habest mir etwas xu sagen, da du Nacht fiir Nacht dich mir
neigtest, Da du dich tief vom Himmel herniedersenktest als wie an meine Seite (indes
die anderen Sterne alle zuschauten), Da wir miteinander wanderten in der feierlichen Nacht."
Mit der scheidenden Venus, groB bis zuletzt und bis zum Rande des Horizontes leuchtend, welch ein Schauspiel bietet das weite Gewolbe in diesem Augenblick! Merkur war just nach Sonnen- untergang sichtbar — ein seltener Anblick. Arkturus ist jetzt auf- gegangen, genau im Nordosten. In ruhiger Pracht strahlen alle die Sterne des Orion an ihrem Platz im Meridian gegen Siiden mit dem Sternbild des Hundes ein wenig links. Und jetzt steigt eben Spica auf, spat, tief und leicht verschleiert. Castor, Regulus und die iibrigen alle leuchten ungewohnlich hell (weder Mars noch Jupiter noch Mond bis zum Morgen). Am Rand des Flusses blin- ken viele Lichter — zwei oder drei ungeheure Schlote zwei Meilen aufwarts, die dicke Schmelzflammen ausstoBen, vulkanartig, die ganze Umgebung erleuchtend - - und manchmal ein elektrisches oder Karbidlicht mit dantesken Infernostrahlen, weitausgereckten Speichen, furchtbar, geisterhaft machtig.
Zwei Stadtteile
New York, 24. Mai 1879.
Kein Viertel dieser Stadt bietet an diesen schonen Mainachmit- tagen ein glanzenderes, lebhafteres, gedrangteres Menschenschau- spiel als die Gegend, die die 14. StraBe (besonders das kurze Stiick zwischen Broadway und 5. Avenue) samt Union Square und Um- gebung umfaBt. Alle die StraBen sind hier breit und die Platze
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groB und frei — jetzt iiberflutet vom iliissigen Gold des machtvollen Sonnenscheins der letzten zwei Nachmittagsstunden. Gegen fiinf Uhr muB der ganze Stadtteil an den Tagen meiner Beobachtung 3o bis 4oooo schb'n gekleidete Menscben entbalten haben, alle in Bewegung, viele gut aussehend, viel schone Frauen, oft junges Volk und Kinder, die letzteren in Gruppen mit ihren Bonnen — die Trot- toirs iiberall gedrangt voll dichten Gewiihls (aber keine Zusammen- sto'Be, keine Storung), voll Massen leuchtender Farben, Bewegung, geschmackvollen Toiletten (die Frauen kleiden sich zweifellos besser als friiher und ebenso die Manner). Es ist, als ob New York an diesen Nachmittagen zeigen wollte, was es an erlesenen mensch- lichen Gestalten und Physiognomien, an unnacbahmlicher Versch wen- dung von Fahrzeugen, Waren, Glanz, Magnetismus und Gliick zu bieten hat.
Ein anderes Bild, ebenfalls von fiinf bis sieben Ubr nacbmittags. Die ganze 5. Avenue entlang und den ganzen Weg von den Aus- gangen des Zentralparks in der 69. StraBe bis hinunter zur i4- ein Mississippi von Pferden und reicben Fahrzeugen, nicht ein oder zwei Dutzende, sondern Hunderte und Tausende. Die breite StraBe ist von ihnen erfiillt und vollgepfropft — ein regsames, blendendes, hastiges Gewiihl, mehr als zwei Meilen lang. (Ich mochte wissen, ob es nie ins Stocken kommt, aber ich glaube, das geschieht nie.) All dies zusammen ist fur mich das marchenhafte Bild von New York. Ich liebe es, einen der Omnibusse in der 5. Avenue zu be- steigen und der reiBenden Prozession entgegenzufahren. Ich glaube nicht, dafi London oder Paris oder irgendeine andere Stadt der Welt einen derartigen Wagenkorso aufzuweisen hat, wie ich ihn bier fiinf- oder sechsmal an diesen schonen Mainachmittagen gesehen babe.
Kin schoner Nachmittag von vier bis sechs Uhr
Zehntausend Fahrzeuge eilen durch den Park an diesem voll- kommenen Nachmittag. Welch ein Schauspiel! Und ich babe alles gesehen und genau und mit Mufie beobachtet. Privatkaleschen , Droschken und Coupes, schone Pferde, SchoBhunde, Bediente, modische Kleider, Auslander, Kokarden an Hiiten, Federbiische - die ganze ozeangleiche Flut von New Yorks Reichtum und ,,Adel".
Es war ein imposanter, reicher, endloser Zirkus in gro'Btem MaB- stab, voll Bewegung und Farbe in der Schonheit des Tages, in der klaren Sonne und milden Luft. Familiengruppen, Paare, einzelne Fahrer — natiirhch ineist elegant gekleidet — viel Stil (aber viel- leicht wenig oder nichts, selbst hierin, durch sicb selbst voll gerecht- fertigt). Durch die Fenster von zwei oder drei der vornehmsten Wagen sab ich Gesicbter, fast leichenhaft, so ascbfarben und schlaff. In der Tat lieB die ganze Angelegenheit in Geist und Haltung weniger vom echten Amerika erkennen, als icb von einem so er- lesenen Massenscbauspiel erwartet hatte. Ich glaube, daB es als Bevveis fiir den grenzenlosen Reichtum und Luxus des schon erwahn- ten Adels iiberwaltigend war. Aber das, was ich in diesen Stunden sah, ich benutzte zwei andere Gelegenheiten, zwei andere Nachmit- tage, um dieselbe Szene zu beobachten), bestarkte mich in einem Gedanken, der bei jedem neuen Blick, den ich auf die hochsten Schichten unserer reichen und vornehmen Welt werfe, immer wieder in mir auftaucht — namlich der Gedanke, daB sie sich nicht behag- lich fiihlen, daB sie sich ihrer selbst zu bewuBt sind, in viel zu viele Wachshiillen eingeschlossen und weit davon entfernt, gliicklich zu sein, — daB nichts in ihnen ist, worum wir, die wir arm und einfach sind, sie zu beneiden brauchen, und daB sie statt des ewigfrischen Duftes von Gras und Wald und Kiiste immer nur den Geruch von Seifen und Parfiim atmen, der, so erlesen er sein mag, doch an den Friseurladen erinnert, — an etvvas, das irgenwie in wenigen Stunden schal und dumpfig wird.
Schwalben am FluB
3. September.
Bewolkt und nafi und Ostwind, die Luft ohne sichtbaren Nebel, aber sehr schwer von Feuchtigkeit. Als ich vormittags iiber den Delaware fuhr, sah ich eine ungewohnliche Menge fliegender Schwal- ben, kreisend, bin und her schieBend, anmutig iiber jede Beschrei- bung, dicht iiberm Wasser. In dichten Schwarmen flogen sie um den Bug des Fahrbootes, als es an seinem Tau festgebunden lag, und als wir losfuhren, beobachtete ich ihre flink wendenden, sich schneidenden und kreuzenden Schleifenfliige iiber den Landungs- pfeilern und bin und her iiber dem breiten Strom und bis dicht an
in herab. Obwohl ich Schwalben mein Leben lang gesehen hatte, war es rnir, als hatte ich mir nie zuvor ihre besondere Schb'nheit ind Eigenart in der Landschaft klar gemacht. Als ich vor einiger jit in einer riesigen alien Scheune eineStunde lang den Flug dieser rogel beobachtete, wurde ich an das 22. Buch der Odyssee erinnert, Odysseus, sich offenbarend, die Freier erschlagt und Minerva Gestalt einer Schwalbe sich durch die Hb'he der Halle empor- ihwingt, hoch oben auf einem Balken sitzt, wohlgefallig auf das jmetzel blickt und sich in ihrem Element fiihlt, frohlockend, sudig.
Die Prarien (Rede vor einer Volksversammlung in Topeka, Kansas)
Wenn euch daran liegt, ein Wort von mir zu horen, will ich iiber diese cure Prarien zu euch sprechen; sie machen mir den tief- sten Eindruck von all den Bildern, die ich auf diesem meinem ersten leibhaftigen Besuch im Westen sehe oder gesehen habe. Als ich in rasendem Tempo hierher fuhr, mehr als tausend Meilen weit, durch das schone Ohio, durch das brotspendende Indiana und Illinois, durch das weite Missouri, das alles hervorbringt, was es nur gibt; als ich cure reizende Stadt teilweise in den letzten zwei Tagen durchforschte und als ich auf dem Oreadenhiigel bei der tJniver- sitat stand und meine Augen iiber weite Flachen lebendigen Griins nach alien Richtungen bin schweifen lieB — war ich tief ergriffen, sage ich, und werde es fiir den Rest meines Lebens bleiben, von diesem Wesenszug der Topographic eurer westlichen zentralen Welt — diesem ungeheuren Etwas, das sich nach seinen eigenen unbe- grenzten MaGen unbeschrankt ausstreckt und das in diesen Prarien lebendig ist und, schon wie Traume, das Reale und Ideale mitein- ander vereint.
Ich frage mich, ob die Menschen dieses kontinentalen inneren Westens wissen, wieviel Kunst sie in diesen Prarien haben — wie urwiichsig und ganz euer eigen — wieviel Einwirkung auf die Bil- dung eines Charakters fur euer zukiinftiges Menschentum, breit, itriotisch, heroisch und neu? wie ganz sie zu der Grb'Ge und )lzen Monotonie des Himmels und zu dem Ozean mit seinen rassern passen? wie befreiend, beruhigend, nahrend sie fiir die ;le sind?
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Denn sind nicht sie es eigentlich, die uns unsere fiihrenderi mo- dernen Amerikaner gegeben haben, Lincoln und Grant? — Manner aus dem breiten Durchschnitt, im Vordergrunde ihres Charakters ganz praktisch und real, aber dennoch (fur diejenigen, die Augen haben zu sehen) mit den feinsten Untergriinden eines Ideals, das sich so hoch wie nur irgendeines erhebt. Und sehen wir in ihnen nicht die vorausgeworfenen Schatten der zukiinftigen Rassen, die diese Prarien fiillen werden?
Nicht als ob die Yankee- und Atlantischen Staaten und jeder andere Teilstaat — Texas und die Staaten im Siidosten und am Golf von Mexiko, das Reich an der pazifischen Kiiste, die Territorien und Seen im kanadischen Grenzstrich (noch ist der Tag nicht, an dem ganz Kanada dazu gehort, aber er wird kommen) — nicht, als ob sie alle nicht ebenbiirtige, ungeteilte und untrennbare Glieder dieser Nation waren, die conditio sine qua non der menschlichen, politischen und kommerziellen Neuen Welt. Aber dieses bevorzugte zentrale Flachland von rund 2000 Meilen im Geviert scheint vom Schicksal bestimmt zu sein, die Heimat von dem zu werden, was ich Amerikas charakteristische Idealitat und charakteristische Reali- tat nennen mo'chte.
Ein egoistischer ,,Fund"
,,Ich habe das Gesetz meiner eigenen Gedichte gefunden", war das unausgesprochene, aber immer entschiedenere Gefiihl, das in mir erwachte, als ich Stunde um Stunde durch all diese grimme, doch freudige, elementare Einsamkeit fuhr — diese Fulle von Stoff, diese vollige Abwesenheit von Kunst, dieses fessellose Spiel urwiich- siger Natur — Spalt, Schlucht und kristallener Bergstrom zahllose Male wiederholt, auf hunderte von Meilen bin — die Breite und absolute Ungebundenheit, mit der alles gefugt ist — die phantastischen Formen, gebadet in durchsichtigem Braun, zarten Rots und Graus, manchmal tausend, manchmal zwei- oder dreitausend FuB hoch emporragend — auf ihren Gipfeln sind zuweilen riesige Massen ge- lagert, in die Wolken tauchend, blofi ihre Umrisse aus dunstigem Lila zu erkennen. — (,,Inmitten der erhabensten Bilder der Natur," sagt ein alter hollandischer geistlicher Schriftsteller, ,,inmitten der Tiefen des Ozeans, wenn das moglich ware, oder unter den zahllosen
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rollemlen Welten droben in der Nacht denkt der Mensch an sie und beurteilt sie nicht abstrakt an sich, sondern immer mil Be- ziehung auf seine eigene Personlichkeit und darauf, wie sie etwa auf ihn einwirken oder sein Schicksal bestimmen konnten.")
K iinsllerischer Gharakter der Landschaft
Kedet niir noch einmal da von, nach Europa zu gehen, um die Ruinen feudaler Burgen oder die (Jberreste des Kolosseums oder die Sclilb'sser von Konigen zu besuchen, wenn ihr bier her kommen konnt! Auch Abwechslung gibt es bier; nach den tausend Meilen weiten Prarien von Illinois und Kansas — sanftem, ergiebigem Flach- land fur Korn und Weizen von zebn Millionen demokratischer Farmen der Zukunft — tiirmen sich hier in alien nur denkbaren Formen diese gar nicht nutzbaren Bergriesen auf, sich in den Him- melsraum wolbend, Schonheit, Schrecken, Macht ausstromend, mehr als Dante oder Angelo jemals ahnten. Ja, ich meine, der Milchsaft einer Dichtung, Malerei, Beredsamkeit, ja selbst einer Metaphysik und einer Musik, die fur die Neue Welt passen soil, muft erst aus dem Anblick dieser Berge seine Jiraft ziehen, ehe er endgiiltig stark genug wird.
Bergstrome
Die spirituelle Belebtheit und Durchgeistigung dieser ganzen Region besteht fur mich groBenteils in ihren eigenartigen Stromen, denen man uberall begegnet, da der Schnee der unzuganglichen oberen Gebiete bestandig schmilzt und durch die Schluchten herab- fliefit. Nicht wie die Gewasser landlicher Ebenen oder Bache mit bewaldeten Ufern und Rasen oder dergleichen. Die Formen, die das Element des Wassers auf der Erdkugel annimmt, konnen erst dann von einem Kiinstler voll verstanden werden, wenn er diese einzigartigen Bergstrome studiert hat.
Arherische Eindriicke
Aber der seltsamste Eindruck, wenn ich mich umschaue, liegt vielleicht in den atmospharischen Farbtonen. Die Prarien, durch die ich auf meiner Reise hierher fuhr, und diese Berge und Wai der
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scheinen mir neue Lichter und Schatten hervorzubringen. tlberall diese unnachahmliche Luft — Abstufungen und Himmelstonungen; noch nirgends sab ich solche durchsichtigen Lilas und Graus. Icb konnte mir einen hervorragenden Landscbaftsmaler denken, einen feinen Koloristen, der, nachdem er eine Zeitlang bier gezeichnet hatte, seine ganze friihere Arbeit (das Entziicken der iiblichen Aus- stellungsbesucher) als schmutzig, rob und gekiinstelt verwerfen wiirde. Dichtvor unseren Augendebntsicheine unendliche Mannig- faltigkeit aus, boch droben das nackte WeiBbraun, iiber der Baum- grenze; fern an mancben Stellen Schneeflecken das ganze Jabr iiber (keine Baume, keine Blumen, keine Vb'gel in diesen eisigen Hohen). Wahrend ich schreibe, sehe ich den Snowy Range durch den blauen Duft, herrlich und fern. Ich sehe deutlich seine Schneefelder.
Eine Literatur des Mississippitales
Herbst 1879.
Als ich an einem Regentag in Missouri lag und ausruhte, nach- dem ich lange umhergelaufen war, um mir alles anzuschauen, ge- riet ich iiber ein dickes Buch, das ich da fand, „ Milton, Young. Gray, Beattie and Collins", hatte aber bald genug davon, erfreute mich indessen, wie schon so oft, eine Weile an W. Scotts Dich- tungen ,,Lay of the last Minstrel", ,,Marmion" usw., — horte dann auf, legte das Buch weg und beschaftigte mich mit dem Gedanken an eine Poesie, die im Lauf der Zeit der fruchtbaren Gegend, in deren Mitte ich mich befand, Ausdruck und Nahrung geben konnte. tlberall in den Vereinigten Staaten braucht es nur einen Augen- blick Uberlegung, um klar zu erkennen, daB all die popularen Buch- und Bibliothekdichter, wie sie entweder von England impor- tiert werden oder hierzulande ihre Nachahmer und Doppelganger finden, unseren Staaten fremd sind, soviel sie auch von uns alien gelesen werden. Um abervollig zu verstehen, wie absolut im Gegen- satz zu unserer Zeit und unserem Land, und wie kleinlich und beschrankt sie sind und welche Anachronismen und Absurditaten sie — vom amerikanischen Standpunkt aus — vielfach enthalten, muB man eine Zeitlang in Missouri, Kansas und Colorado wohnen oder reisen und mit Land und Volk dieser Staaten in Fiihlung kommen.
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Wird je der Tag kommen — gleichgiiltig vvie spat — , da diese Modelle und Gliederpuppen von den britischen Inseln, ja auch die kostbaren Traditionen der Klassiker, nur Reminiszenzen, Studien- objekte sein vverden? Der reine Atem, die Urspriinglichkeit, die grenzenlose Fruchtbarkeit und Weite, die seltsame Mischung von Zartheit und Kraft und MaBigung, von Realem und Idealem, von all den eigentiimlichen und tiichtigen Elementen in diesen Prarien, den Rocky Mountains, dem Mississippi und Missouri — wird das alles je in unserer Poesie und Kunst Gestalt erlangen und irgend- wie zum MaBstab werden?
Vor kurzem war ich auf einem Dampfer im New Y'orker Hafen, sab den Sonnenuntergang iiber den dunkelgrunen Hiigeln von Navesink und betracbtete den unvergleichlichen Kranz von Kiiste, Hafen und Meer um Sandy Hook. Aber kaum eine oder zwei Wochen, und mein Blick fallt auf die dunklen Gipfelkonturen der „ Spanish Peaks". In dem mehr als 2000 Meilen weiten Zwischen- rauin findet trotz einer unendlichen und widerspruchsvollen Mannig- faltigkeit zweifellos eine merkwiirdige, vollige Verschmelzung statt, in der nacb und nach alles ausgegliiht, verdicbtet und vereinheit- licht wird. Aber eindringlicber, umfassender und dauerbafter als durch die Gesetzgebung der Einzelstaaten oder den gemeinsamen Boden des Kongresses und des hochsten Gerichtshofe oder durcb die grausame SchweiBung unserer Nationalkriege oder durcb die Stablbande unserer Eisenbabnen oder durch alle Verkittungs- und Scbmelzprozesse unserer materiellen und kommerziellen Gescbichte in Vergangenheit und Gegenwart wiirde meines Eracbtens eine solche Verdichtung durch eine groBe, pulsierende, lebenskraftige Dichtung oder eine Reihe von Dichtungen oder eine ganze Literatur erzielt werden. Die Ebenen, die Prarien und der Mississippistrom mit der ganzen Weite seines vielgestaltigen Tales miiBten den kon- kreten Hintergrund dieser Literatur bilden. Und Amerikas Bevol- kerung, Leidenscbaften^ Kampfe, Hoffnungen — wie sie sind — miiBten die lodernde Flamme, das Ideal dazu sein.
Amerikas GroBe
Die Oberlegenbeit und Lebenskraft unseres Amerika liegt in der Masse des Volkes, nicht in einer Aristokratie, wie in der alien
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Welt. Die GroBe unseres Heeres wahrend des Biirgerkrieges lag in der Linie; und so ist es auch bei der Nation. Andere Lander ziehen ihre Lebenskraft aus Wenigen, aus einer Klasse, wir aber aus der Gesamtheit des Volkes. Unsere Fiihrer sind nicht gerade bedeutend und sind es nie gewesen; aber der Durchschnitt des Volkes ist gewaltiger als alles in der bisherigen Gescbicbte. Icb denke manchmal, daB sich unsere Uberlegenheit auf alien Gebieten, einschliefilich Literatur und Kunst, in dieser Weise zeigen wird: Wir werden keine groBen Individuen haben, aber ein groBes, un- vergleichlich groBes Durchschnittsvolk.
Die Frauen des Westens
Kansas City.
Von dem, was icb von den Frauen der Prariestadte zu sehen bekomme, bin icb nicbt so befriedigt. Icb schreibe dies, wahrend icb gemiitlich in einem Laden an der HauptstraBe von Kansas sitze und ein Menschenstrom auf den Trottoirs an mir voriiber- flutet. Die Damen (ebenso wie in Denver) sind alle elegant ge- kleidet und erscheinen vornehm an Gesicbt, Benehmen und Tun, aber sie haben weder in Gestalt noch Geistigkeit eine irgendwie in ibrer Art hohe angeborene Eigenart (wie die Manner sie zweifel- los in ihrer Art haben). Sie sehen ,,intellektuellw und elegant, aber dyspeptisch und im groBen Ganzen puppenhaft aus. Sie haben offen- bar den Ehrgeiz, ihre Sch western im Osten zu kopieren. Etwas ganz anderes und Hoheres muB kommen, um mit der herrlichen Mannlichkeit des Westens zu wetteifern, sie zu erganzen, zu er- halten und fortzupflanzen.
Das Boston von heute
In den interessanten aber fragwiirdigen Briefen Dr. Schliemanns iiber seine Ausgrabungen aus der alten homerischen Zeit lese ich, daB die Stadte, Ruinen usw. , die er aus ihren Grabern schaufelt, zweifellos in Schichten gelagert sind, - - das heifit, daB auf den Fundamenten eines alten, sehr tief gelegenen Komplexes immer eine zweite Stadt oder ein zweiter Ruinenkomplex und iiber diesem wieder ein anderer ruht — und zuweilen noch ein anderer dariiber
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- cleren jeder das Ergebnis einer langen oder auch rapiden Ent- wicklung darstellt, die von der vorigen verschieden ist, aber un- /weifelhaft aus ihr hervorgewacbsen ist und auf ihr ruht. In der moralischen, gefuhlsmaGigen, heroisch-menschlichen Entwicklung (die nach meiner Meinung das Wesentliche einer Basse ist) hat etwas Ahnliches sicherlich in Boston stattgefunden. Wie die Metro- pole Neu-Englands heute ist, kann man sie als sonnig beschreiben, als heiter, aufnahmefahig, voll Glut und Glanz, mit einem gewissen Element von Sehnsucht, von groGartiger Toleranz, mit der sich aber nicht spafien laGt. Man liebt bier gut zu essen und zu trinken
- die auGere Erscheinung so kostbar, als es die Mittel erlauben. An Hausern, StraGen, Menschen ist in ihrem besten Durchscbnitt jenes feine Etwas (gewohnlich dem Klima zugeschrieben ; es ist aber nicht das — es ist etwas Undefinierbares in der Basse, im Verlauf ihrer Entwicklung), das hinter all dem Trubel von Tatig- keit, Studium, Geschaft einen gliicklichen und frohen, im Gegen- satz zu einem schwerfalligen und finsteren Gemeingeist ausstromt. Es erinnert mich an die Leuchtkraft, die von den altgriechischen Stadten zu uns kommt. In der Tat ist sehr viel Hellenisches in Boston, und die Menschen werden auch stattlicher, voller, mit freieren Bewegungen und Farbe im Gesicht. Ich habe nirgends (dies ist nun zwar nicht griechisch) so viele scheme grauhaarige Frauen gesehen. Wahrend meines Vortrages ertappte ich mich mehr als einmal dabei, daG ich eine Pause machte, um sie mir an- zusehen. Es waren viele unter den Zuhorern, — gesund, frauenhaft und miitterlich, wunderbar anmutig und schon — so, wie sie, glaube ich, keine Zeit und kein Land auOer dem unsrigen aufzuweisen hat.
Millets Gemalde
1 8. April.
Besuchte das Haus von Quincy Shaw, drei oder vier Meilen weit, um eine Sammlung von J. F. Millets Gemalden zu sehen. Zwei Stunden der Entziickung. Noch nie war ich so iiberwaltigt von solcher Ausdrucksform. Ich stand lange, lange vor dem ,,Saemann". Ich glaube die Kunsthandler nennen das Bild den MErsten Sae- mann", da der Kiinstler noch eine oder zwei Kopien da von machte und, wie manche meinen, sich in jeder wieder vervollkommnete.
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Ich bezweifle es aber. Es ist etwas darin, das kaum \vieder zu er- reichen sein diirfte, eine erhabene Dusterkeit und urwiichsige ge- bundene Wildheit. Aufier diesem Meisterstiick waren noch viele andere da (ich werde die einfache Abendszene, ,,Tranken der Kuh", nie vergessen), alle unvergleichlich, alle vollkommen als Bilder, als Kunstwerke an sich; und dann glaubte ich jenen undefinierbaren etbischen Endzweck des Kiinstlers (ihm selbst wahrscbeinlicb un- bewuBt) darin zu entdecken, wonacb ich immer suche. Mir er- zahlten sie alle die ganze Vorgeschichte und die Ursache der groBen franzosischen Revolution, das vorherige lange An-die-Erde-Driicken der Massen eines heroischen Volkes zu elendem Hungern und Darben
— die Vorenthaltung aller Rechte, den Versuch, die Menschheit um Generationen zuriickzuhalten — und doch die Naturgewalt, titanisch, nur um so starker und zaher durch solche Unterdriickung
— furchtbar lauernd, um hervorzubrechen, rachebriilend — der Druck gegen die Damme, das endliche Bersten, die Erstiirmung der Bastille — die Hinrichtung des Konigs und der Konigin — der Wettersturm von Mord und Blut. Doch wer wird sich wundern?
wKbnnten wir die Menschheit anders wiinschen? Wollen wir ein Volk von Holz und Stein? Keine Gerechtigkeit in Schicksal und Zeit?"
Das echte Frankreich, sein Grundelement, lebt sicherlich in diesen Bildern . . . Abgesehen von allem anderen werde ich meines kurzen Aufenthalts in Boston immer gedenken, weil er mir die Neue Welt von Millets Bildern eroffnete. Wird Amerika je einen solchen Kiinst- ler haben, der aus des Landes eigenstem Lebenskern, aus seinem Korper und seiner Seele hervorginge?
Vogel — und eine Warnung
i4. Mai 1881.
Wieder daheim; auf eine Weile unten in den Waldern von Jersey. Zwischen acht und neun Uhr vormittags ein ganzes Vogelkonzert, von alien Seiten her, zusammenklingend mit dem frischen Duft, dem Frieden, der Naturlichkeit rings um mich her. Seit kurzem sehe ich die Rotdrossel, von der GroBe des Rotkehlchens*, oder ein
* Das amerikanische Rotkehlchen ist etwa dreimal so groG wie das unsrige. (Anmerkung des t)bersetzers.)
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bifichen kleiner, Brust und Schultern hell, mil unregelmafiigen dunklen Streifen, langem Schwanz, — sie kauert zur Zeit stunden- lang oben auf einem hoben Busch oder einem Baurn, lustig singend. Icb gehe oft nabe zu ibr bin und bore ihr zu, da sie nicbt scheu zu sein scheint. Ich liebe es, zuzusehen, wie ihr Schnabel und ihre Keble arbeitet, wie der Korper sich seitwarts bin und her bewegt und der lange Schwanz wippt. — Icb bore den Specht; bei Nacht und am friihen Morgen das Weben des Ziegenmelkers — mittags das kostlicbe Gurgeln der Drossel und das Mio-o-o des Katzenvogels. Viele kann ich nicht mit Namen nennen; ich erkundige mich aber aucb nicht besonders danach. Man darf nicht zu viel wissen oder zu genau und wissenschaftlich sein bei Vogeln und Baumen und Blumen und Gewassern; eine gewisse Freiheit, ja sogar Unbestimmt- heit, vielleicht Unwissenheit, Glaubigkeit erhoht die Freude an diesen Dingen .und an dern Gefiibl fur Vogel, Wald, FluB und See iiberhaupt. Ich wiederhole es — man soil nicht alles zu genau wissen wollen oder die Griinde, warum. Meine eigenen Aufzeich- nungen sind aus dem Stegreif hingescbrieben unter der Breite von Mittel-New Jersey. Wenn sie auch bescbreiben, was ich sab, was mir vor Augen kam, so diirfte doch der gelernte Ornuhologe, Bota- niker oder Entomologe mebr als einen Scbnitzer darin entdecken.
Boston Common* — Emerson
10. bis 1 3. Oktober.
An diesen schonen Tagen und Nachten verbringe ich ein gut Teil meiner Zeit im Stadtpark — jeden Mittag von halb zwolf bis gegen eins — und fast an jedem Abend bei Sonnenuntergang noch eine Stunde. Ich kenne all die grofien Baume, besonders die alten Ulmen an der Tremont- und Beacon- StraBe, und habe mit den meisten eine schweigend-vertraute Freundschaft geschlossen, wah- rend ich so in der durchsonnten, aber ziemlich kiihlen Luft auf den weiten ungepflasterten Wegen umhergehe.
In dieser Gegend an der Beacon-Strafie, zwiscben denselben alten Ulmen, ging ich vor einundzwanzig Jahren an einem klaren, kalteu Februarmittag mit Emerson zwei Stunden lang auf und ab. Er
* Der Stadtpark in Boston. (Anmerkung des Ubersetzer*.)
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war clamals im besten Alter, scharf, physisch urid moralisch magne- tisch, gegen alles gewaffnet urid liefi, wenn er wollte, das Seelische ebenso wirkungsvoll wie das Intellektuelle spielen. Wahrend jener zwei Stunden war er der Sprecher und ich der Zuhorer. Es war eine Beweisfiihrung, ein Auskundschaften, Besichtigen, Angreifen, Bedrangen (ein Armeekorps in Schlachtordnung, Artillerie, Ka- vallerie, Infanterie) von allem, was gegen jenen Teil (einen Haupt- teil) in der Komposition meiner Gedichte, die „ Kinder Adams", vorgebracht werden konnte. Fur micb kostbarer als Gold, diese Abhandlung, — sie gab mir fur alle Zukunft die seltsame und widerspruchsvolle Lehre: jeder einzelne Punkt von Emersons Be- weisfiihrung war unwiderleglich ; keines Richters Anklagerede je vollstandiger und iiberzeugender; ich konnte die Beweise nie besser formulieren horen — und dann fiihlte ich auf dem Grund meiner Seele die klare und unverkennbare Uberzeugung, dafi ich allem trotzen und meinen eigenen Weg gehen musse. ,,Was haben Sie nun auf das alles zu sagen?" sagte Emerson, als er schlieClich inne- hielt. ,,Nur, dafi ich zwar nichts dagegen erwidern kann, aber mich doch entschlossener fiihle als je, an meiner eigenen Theorie fest- zuhalten und sie zu betatigen", war meine freimutige Antwort. Worauf wir weggingen und ein gutes Mittagessen im „ American House" einnahmen. Und von da an schwankte oder zweifelte ich nie mehr (wie es, offen gestanden, vorher zwei- oder dreimal der Fall gewesen war).
Nur ein neues Fahrboot
12. Januar.
Ein solcher Anblick, wie ihn der Delaware gestern abend eine Stunde vor Sonnenuntergang hot, auf der ganzen Strecke zwischen Philadelphia und Camden, ist der Aufzeichnung wert. Es war Flutzeit, eine gute Brise von Siidwest, das Wasser blaB, lohfarben und gerade genug bewegt, um alles frisch und frohlich zu beleben; ein beginnender Sonnenuntergang von ungewohnlichem Glanz, ein breites Wolkengewiihl ganz in goldenem Dunst, aus dem blendende Lichtstrahlen hervorschossen. Mitten in alledem, in dem klaren Graugelb des Abendlichtes, dampfte das grofie neue Boot den Flufi herauf, die ,,Wenonah", so schon, wie man sich nur etwas
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vorslelleii kann; leichl undschnell dahcrschuumend, ganz blank uml vveifi, voll leuchtend roter und blauer Flaggen, die in der Brise flatterten. Nur ein neues Fahrboot, und doch in seiner Zvveck- mafiigkeit dem Schonsten, was die Geschicklichkeit der Natur hervorbringt, vergleichbar und ebenbiirtig. Hoch oben im unsicht- baren Ather wiegten sich und kreisten vier oder fiinf groOe See- falken anmutig, vvahrend hier unten, inmitten der malerischeu Pracht von Himmel und FluB, diese Schopfung technischer Scbon- heit, Bewegung und Kraft schvvamm, in ihrer Art nicht weniger vollkommen.
Nach dem Versuch, ein gewisses Buch zu lesen
Ich babe versucbt, ein prachtvoll gedrucktes und gelebrtes Bucb iiber die ,,Theorie der Dichtkunst" zu lesen, das icb heute friih von England zugeschickt bekam, — babe es aber scblieBlicb als verlorene Miibe aufgegeben. Hier ein paar willkurliche Notizen, die sich daraus ergaben, die ich daraufhin niederschrieb, wie ich sie eben in meinen Papieren finde:
In der Jugend und im Mannesalter sind alle Gedicbte angefiillt mit Sonnenscbein und mit dem wecbselreichen Prunk des Tages. Wie aber das Seelische mebr und mehr die Oberhand gewinnt (das Sinnlicbe immer nocb dabei), wird die Dammerung die Atmosphare des Dichters. Aucb ich babe die strahlende Sonne gesucht und suche sie noch immer und mache meine Gedichte entsprechend. Aber jetzt, da ich alt werde, bedeuten die Halblichter des Abends viel mehr fiir mich.
Das Spiel der Einbildungskraft mit den sinnlichen Gegenstanden der Natur als Symbolen — mit Glauben, Liebe und Stolz als dem unsichtbaren Antrieb, den Bewegkraften von allem — , daraus setzt sich das seltsame Schachspiel eines Gedichts zusammen.
Die gewohnlichen Lehrer oder Kritiker fragen immer f ,,Was bedeutet es?" Eine schone Musiksymphonie oder ein Sonnenunter- gang oder Meerwogen, die sich auf den Strand walzen — was be- deuten sie? GewiB, im innerlichst-unfaCbaren Sinn bedeuten sie etwas — wie Liebe und Religion und das beste Gedicht auch; aber
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wer kanri diese Bedeutung ergriinden und definieren? Dies soil kein Freibrief sein fiir Willkiir und verriickte Eskapaden — es soil riur die Tatsache rechtfertigen, daB die Seele sich haufig iiber etwas freut, was fiir Vernunft und Uberlegung unerklarlich bleibt.
Im besten Fall ist eine Lebre der Poetik so viel, als von einer Unterhaltung ferner oder verborgener Sprecher im Dunkeln zu horen ist, von der wir nur ein abgebrochenes Gemurmel ver- nehinen konnen. Was nicht zu uns dringt, ist weit rnebr, vielleicbt die Hauptsache.
Erbabenste Stellen von Dichtungen sind nur in freiem Abstand zu genieBen, wie wir manchmal bei Nacht nach Sternen schauen, nicbt indem wir direkt auf sie blicken, sondern etwas zur Seite.
(Einem poetischen Schiller- und Freund.) — Icb versuche nur, dicb in Beziebung zur Dicbtkunst zu bringen. Dein eigenes Hirn, Herz und deine eigene Fortentwicklung muB die Sacbe nicht nur verstehen, sondern selbst reichlich dazu beitrageu.
Ich habe mir Meer, Tageslicht, Berg und Wald vorgestellt, daB ihr Wesen Richter sei iiber unsere Literatur. Ich habe mir eine entkorperte Menschenseele vorgestellt, daB sie ihr Urteil dariiber spreche.
Edgar Poes Bedeutung
i. Januar 1880.
Wenn ich die Krankheit diagnostiziere, die ,,Menschheit" ge- nannt ist — (um einmal aus der Geistesverfassung heraus zu sprechen, die die beherrschende in der Personlichkeit und den Schriften des Mannes zu sein scheint, von dem ich rede) — so will es mir scheinen, daB die Dichter irgendwie ihre ausgepragtesten Symptome sind. Wenn wir die Kiinstler — Musiker, Maler, Schau- spieler usw. als ein Ganzes nehmen und sie allesamt als Aus- strahlnngen oder Speichen dieses wild wirbelnden Rades betracb- ten und die Dichtung als Mittelpunkt und Achse des Ganzen, — wo in der Tat konnten wir besser als hier die Urbeweggriinde, Triebkrafte und Merkmale unserer Zeit, den Krankheitsfall unserer Epoche studieren?
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Kach einstimmigein Urteil gibt es nichts Besseres fiir einen Mann oder ein Weib, als ein vollkommenes, edles Leben, moralisch fleckenlos, mit einem gliicklichen GleichmaB von Tatigkeit, phy- sisch gesund und rein, ein Leben, das auch dem sympathischen, inenschlich-gefuhlsmaBigen Element sein Recht und nicht mehr als sein Recht gewahrt, — ein Leben bei alledem, das weder hastet noch ruht noch ermiidet bis ans Ende. Und dennoch gibt es noch eine andere Form von Personlichkeit, die dem kiinstlerischen Sinn weit lieber ist (da er das Spiel der starksten Lichter und Scbatten liebt), — die den hochstvollkommenen Charakter, das Gute, Hero- ische, zwar niemals erreicht, aber dennoch nie aus dem Auge ver- liert, sondern durch Fehlschlage, Sorgen, zeitweiligen Zusammen- bruch hindurch immer wieder zu ihm zuriickkehrt und — mag sie auch oft dagegen siindigen — leidenschaftlich danach ringt, solange Geist, Muskeln und Stimme der Kraft gehorchen, die wir Willen nennen. Diese Art von Personlichkeiten sehen wir mehr oder weniger in Burns, Byron, Schiller und George Sand. Aber nicht in Edgar Poe. Dagegen liegt der Dienst, den Poe dem zuerst be- zeichneten Charakter erweist, sicherlich darin, daB er einen abso- luten Kontrast und Widerspruch dazu schafft, was beinahe ebenso wertvoll ist, als wenn er ein vollkommenes Beispiel da von dar- stellen wiirde.
Beinahe ohne jede Spur von einem moralischen Prinzip oder von dem Realen und seiner Grofie oder von den einfacheren Herzens- regungen, weisen die Gedichte Poes ein intensives Talent fiir tech- nische und abstrakte Schonheit auf, mit einer bis zum tlbermafi getriebenen Reimkunst, einer unverbesserlichen Vorliebe fiir Nacht- motive, einem damonischen Unterton hinter jeder Seite, — und das Endurteil iiber sie wird wahrscheinlich sein, daB sie zu den elek- trischen Lichtern der phantastischen Literatur gehoren, glanzend und blendend, aber ohne Warme . . .
Lange Zeit und bis vor kurzem fand ich keinen Geschmack an Poes Schriften. Ich wollte und will noch, daB in der Dicbtung die klare Sonne scheint und frische Luft weht — daB Kraft und Ge- sundheit auch in den stiirmischsten Leidenschaften waltet, nicht Delirium — und daB die ewigen Sittengesetze hinter allem stehen. Obwohl Poes Genius diese Forderungen nicht erfiillt, so hat er es doch zu einer Anerkennung seiner Eigenart gebracht, und auch
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ich bin dahin gelangt, diese Anerkennung zu billigen und seinen Wert zu schatzen.
In einem Traum, den ich einmal hatte, sah ich ein Schiff auf See im Sturm um Mitternacht. Es war kein grofies, vollgetakeltes Schiff noch stolzer Dampfer, der sicher durch das Geheul steuerte, sondern es schien eine jener wundervollen kleinen Schonerjachten zu sein, die ich oft so munter hiipfend im Hafen von New York oder im Long Island-Sund hatte vor Anker liegen sehen, — und die jetzt steuerlos, mit zerfetzten Segeln und geknickten Spieren durch die wilden SchloBen und Winde und Wellen der Nacht dahinflog. An Deck stand eine schlanke, zarte, schb'ne Gestalt, ein dunkler Mann, der offenbar all das Grausen, die Finsternis und Zerstorung mit Lust genoB, deren Mittelpunkt und Opfer er war. Diese Gestalt meines diisteren Traumes mag ein Bild Edgar Poes sein, seines Geistes, seines Geschicks und seiner Dichtungen, die selber allesamt diistere Traume sind.
Ein Wink der wilden Natur
1 3. Februar.
A Is ich heute iiber den Delaware fuhr, sah ich einen grofien Flug wilder Ganse, gerade iiber mir, nicht sehr hoch, in V-Form geordnet, sich abhebend gegen die hell rauchfarbenen Mittags- wolken. Ich sah sie ganz deutlich, obwohl nur einen Augenblick, und wie sie dann weiterflogen nach Siidosten, bis sie allmahlich ver- schwanden. — Seltsame Gedanken losten sich in mir in diesen kaum zwei oder drei Minuten, als ich diese Geschopfe durch den Himmel ziehen sah — durch das weite, luftige Reich — uberall nur dieses Rauchgrau ohne Sonne — das Wasser unten — der rapide Flug der Vogel, just fur einen Augenblick auftauchend - mir einen Wink zublitzend von der ganzen Weite der Natur mit ihrer ewigen, unverfalschten Frische, ihren nie von Menschen besuchten Bereichen von See, Himmel und Kiiste — und dann verschwindend in der Feme.
Garlyle von amerikanischen Gesichtspunkten aus beurteilt
Es besteht gegenwartig sicher eine unerklarliche Wechsel- beziehung — ob sie nun andauert oder nicht, ist gleichgiiltig -
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zwischen diesem verstorbenen Autor und unsern Vereinigten Staaten von Amerika. In dem Mafie, \vie wir Westler endgiiltige Gestalt annehmen und bisher unbekannte Formen und Ergebnisse erzielen, 1st es interessant, zu beobachten, mil welch neuen Sinnen wir auf representative Personlichkeiten und Ereignisse blicken, die aus der Alten Welt erwachsen sind. Ohne Frage ist seit Carlyles Tode nicht nur das Interesse an seinen Biicbern, sondern an jeder per- sonlichen Einzelheit, die den beriihmten Schotten betrifft, heute in unserem Lande lebhafter und allgemeiner als in seiner eigenen Heimat. Ob es mir nun gelingt oder nicht, — auch ich mochte iiber den Ozean reichen, die dunkeln Wahrsagungen des Mannes iiber Menschheit und Politik priifen und alles (das ist die Idee, die mir kommt) widerlegen durch einen, der diesen Fragen viel griindlicher das Horoskop gestellt hat — G. F. Hegel.*
. . . Es war das grausame Schicksal Carlyles, das Kreifien und die Wehen einer alien Ordnung mitzuerleben und in hohem Mafie selbst zu verkorpern, die inmitten einer erstickenden Fiille von Morbiditat eine neue Ordnung gebar . . . Aber man stelle sich vor, dafi er, oder seine Eltern vor ihm, nach Amerika gekommen, durch die aufmunternden Wirklichkeiten und die Tatkraft unseres Lan- des und Volkes erfrischt worden ware, — dafi er unter uns, beson- ders im Westen, aufgewachsen ware und Auge in Auge mit dem Leben gerungen hatte, — dafi er die unbegrenzte Luft, die schran- kenlosen Moglichkeiten bei uns ein- und ausgeatmet hatte, geistig hingegeben an die Theorien und Entwicklungen unserer Republik, inmitten praktischer Tatsachen, wie sie einem in Kansas, Missouri, Illinois, Tennessee oder Louisiana entgegentreten. Ich sage Tat- sachen, Dinge, denen man Auge in Auge gegenubersteht, so ver- schieden von Biichern und von all den Bagatellen und blofien Berichten in den Bibliotheken, von denen der Mann beinahe ganz
* Besonders erwahnenswert ist hierbei (vielleicht ein Fall jenes Humors, womit Geschichte und Vorsehung ihren Ernst zu kontrastieren pflegen), dafi, obwohl keine meiner groflen Autoritaten zu ihren Lebzeiten die Vereinigten Staaten ernst- licher Erwahnung wiirdigte, alle Hauptwerke beider heute mit Fug und Recht gesammelt und unter dem fettgedruckten Titel zusammengebunden werden kbnn- ten: BSpekulationen fiir den Gebrauch Nordamerikas und der dortigen Demokratie in ihren Beziehungen zur Metaphysik, einschliefilich Lehreu und Warnungen (auch Ermutigungen, und zwar im weitesten Sinne) von der Alten Welt fiir die Neue."
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zehrte, und die selbst sein starker und lebendiger Geist, wenn es hoch kommt, nur reflektierte. (Ein Witzwort sagte iiber den Drei- fiigjahrigen, dafi es in Schottland niemand gabe, der so viel auf- gelesen und so wenig gesehen babe.) . . .
Carlyles Schaffen auf dem Gebiete der Literatur gleicbt nacb Anlage und Ausfuhrung in ein oder zwei Hauptpunkten dem Wirken Immanuel Rants auf dem Gebiete der spekulativen Philo- sophic. Aber der Schotte hatte nichts von dem magenstarken Phlegma und der unerschiitterlichen Gelassenheit des Konigsberger Weisen; auch erkannte er nicht wie dieser seine eigenen Grenzen, vor denen er haltgemacht hatte. Er schafft Gestriipp, Giftranken und Gestrauch weg — wenigstens haut er tapfer darauf ein und schlagt alles kurz und klein. Kant tat etwas Ahnliches auf seinem Gebiete, und das war auch alles, was er tun wollte; seine Arbeit hat den Boden fur immer vollig geebnet — und wahrscheinlich hat kein anderer Sterblicher der Menschheit je einen grofieren Dienst erwiesen. Der schmerzlichste Fehler Carlyles aber scheint mir darin zu bestehen, dafi er offenbar inmitten einesWirbels von Nebel, Leidenschaft und sich kreuzenden Absichten immer fest glaubte, er besitze zur Heilung der Weltiibel ein Universalmittel, und es sei sein Lebensberuf, es zu verbreiten.
Carlyle hatte zwei Anker, oder Riistanker, um sein Schiff iin aufiersten Notfall im Gleichgewicht zu erhalten. Von dem einen wird sogleich des Naheren die Rede sein. Den anderen, vielleicht den wichtigeren, konnte er nur in einer ausgesprochenen Form personlicher Energie, in einem aufierordentlichen Grade von ent- scheidender Willens- und Tatkraft finden, in Menschen, die ,,zum Herrschen geboren" sind. Wahrscheinlich flofi dem Schotten in alien Adern ein Element, das sich fur diese Art Gharakter vor allem andern in der Welt erwarmte und das ihn meines Erach- tens zum Hauptverherrlicher und -verkiinder solcher Charaktere in der Literatur machte, — mehr als Plutarch und Shakespeare. Die grofien Massen der Menschheit sind ihm nichts, wenigstens nichts weiter als chaotisches Rohmaterial; fur ihn gelten nur die grofien Planeten und glanzenden Sonnen ! Gegen Ideen fast unveranderlich gleichgiiltig und kalt, wurde er unfehlbar durch eine kraftvolle Personlichkeit ersten Ranges zu leidenschaftlichen Lobpreisungen und wildem Entziicken hingerissen. In solchem Falle wurde auch
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der Anspruch an Pflichterfullung herabgeschraubt und vertuscht. Alles, was man unter den Worten Republikanismus und Demo- kratie versteht, war von Anfang an nicht nach seinem Geschmack und wurde ibm bei zunehmendem Alter verhaBt und zum Abscheu. Bei einem so zweifellos aufrichtigen und gewissenhaften Geist wie dem seinen ist es erstaunlich, vvelche wichtigen Faktoren er hart- nackig ignorierte.
Zum Beispiel die Aussicht, nein GewiBheit, daB das demokratiscbe Prinzip jedem einzelnen Staate der heutigen Welt nicht sowohl zu vollkommenen Gesetzgebern und Beamten verhelfen wird, sondern dafi es das einzig wirksame Mittel ist, um sicher, wenn aucb noch so langsam, das Volk im groBen MaBstabe zu freiwilliger Selbst- regierung und Selbstverwaltung zu erziehen (das Endziel der poli- tischen und aller iibrigen Entwicklung), das ,,Regieren" allmahlich auf ein Minimum zu beschranken und die ganze Bureaukratie und all ihr Tun den Teleskopen und Mikroskopen von Parteien und Komitees zu unterwerfen — und, was das GroBte von allem ist, jenen Gewassern der groBen Tiefe, die offenbar ein fiir allemal ihre alten Schranken durchbrochen haben, eine umfassende, gesunde, immer wiederkehrende Bewegung von Ebbe und Flut zu ermog- lichen, nicbt Stagnation und gehorsame Geniigsamkeit, mit der man bei dem Feudalismus und Klerikalismus der antiken und mittel- alterlichen Welt auskam, — daran scheint Carlyle nie gedacbt zu haben. Es war prachtvoll, wie er bis zuletzt jeden KompromiB ablehnte. Er war merkwiirdig antik. Seine barsche, malerische, hochst machtvolle Erscheinung und Stimme versetzt einen aus dem England der Gegenwart um mehr als 2000 Jahre zuriick in die Gegend zwischen Jerusalem und Tarsus . . .
Der zweite Hauptpunkt in Carlyles Lehre war die Idee der Pflicht- erfiillung. (Das ist einfach ein neues Kodizill — wenn es besonders neu ist, was keineswegs feststeht — des altehrwiirdigen Vermacht- nisses der Monarchic, der vermoderten Gesetze von Legitimitat und Konigtum.) Er scheint sich manchmal bis zum Wahnsinn aufgeregt zu haben, wenn Leute, die mindestens ebenso tief dachten wie er, ihn darauf aufmerksam machten, daB diese Formel zwar wertvoll, aber ziemlich vage sei, und daB es fiir philosophische Betrachtung auf jedem Gebiet, sei es Weltgeschichte oder individuelle Angelegen- heiten, noch viele andere Gesichtspunkte gebe . . .
Es gibt, abgesehen vom blofien Intellekt, im Wesen jeder hervor- ragenden menschlichen Identitat (in ihrer moralischen Gesamtheit, einheitlich betrachtet, nicht nur im eigentlichen moralischen Sinn, sondern als Ganzes einschlieBlicb des Korpers) ein wunderbares Etwas, das ohne Beweis, haufig ohne sogenannte Bildung (es ware zwar das Ziel und die Krone aller Bildung, die diesen Namen ver- diente) zu einer Abnung der absoluten Ausgleichung in Raum und Zeit gelangt, der Ausgleichung dieses ganzen vielgestaltigen rasen- den Chaos von Falschheit, Frivolitat, Geilheit, — dieser Narren- schwarmerei, unglaublichen Heuchelei und allgemeinenUnbestandig- keit, die wir ,,die Welt" nennen; ein inneres Schauen jenes gott- lichen Fadens und unsichtbaren Bandes, das das gesamte Wirrsal der Dinge, die ganze Geschichte und Zeit, alles Geschehen, sei es noch so trivial oder noch so wichtig, wie einen angekoppelten Hund an der Hand des Jagers festhalt. Eine solche innere Schau, ein solches tiefes geistiges Zentrum — bloBer Optimismus erklart nur die Oberflache oder den aufieru Rand der Sache — fehlte Carlyle groBenteils, vielleicht ganz. Er scheint vielmehr im Spiel seiner Geistesfunktionen von einem Gespenst, das er wahrend seines ganzen Lebens nicht bannen konnte, verfolgt worden zu sein — griechische Philologen finden, glaube ich, dieselbe phantastische Trugerschei- nung bei Aristophanes in seinen Komodien — von dem Gespenst des Weltuntergangs.
Wie hochster Triumph oder groBtes MiBlingen im Menschen- leben, in Krieg oder Frieden, von einem kleinen, verborgenen Zentral- punkt, kaum mehr als ein Blutstropfen, einem Pulsschlag oder Lufthauch abhangen kann ! Es ist sicher, daB alle diese gewichtigen Fragen, Demokratie in Amerika, Carlyleismus und der Drang zu tiefster, politischer oder literarischer Forschung sich um einen ein- fachen Punkt in der spekulativen Philosophic drehen.
Das tiefste Problem, das den Menschengeist beschaftigen kann, auf dessen Losung Wissenschaft, Kunst, die Grundlagen und Be- strebungen von Nationen und iiberhaupt alles verniinftige Menschen- gliick (heute 1882 hier in New York, Texas, Kalifornien ebenso wie zu alien Zeiten in alien Landern) im innersten und letzten Grunde beruht und wovon alles ausgehen muB, sofern es entscheidende Be- weiskraft haben soil — dieses Problem liegt ohne Zweifel in der Frage: Was ist die alles verschmelzende Erklarung, das Band, das
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Verhaltnis von dem (radikalen demokratischen) Ich, der mensch- lichen Identitat von Verstand, Gemiit, Geist usw. einerseits, zu dem (konservativen) Nicht-Ich, zu der Gesamtheit des materiellen, objek- tiven Universums und seiner Gesetze samt ihrer letzten Ursache in Raum und Zeit andererseits ?
Immanuel Kant hat diese Frage offen gelassen, obschon er die Gesetze der menschlichen Vernunft erklarte, oder, kann man aucb sagen, teilvveise erklarte. Schellings Antwort oder Andeutung einer Antwort (sehr wertvoll und wichtig, soweit sie geht) ist die: Die gleiche, allgemeine Vernunft, Leidenschaft, ja auch die MaBstabe von Recht und Unrecht, die bewuBt und ausgesprochen im Menschen leben, existieren unbewuBt oder als wahrnehmbare Analogien aucb im ganzen Universum der aufieren Natur, in all ihren Gegenstan- den, groB oder klein, und in all ihren Bewegungen oder Prozessen, — so daB also der ungreifbare Menschengeist und die konkrete Natur, trotz Dualitat und Trennung, im innersten und wesentlichen gleich- bedeutend und eins waren.
Aber G.F.Hegels umfassendere Darstellung derSache bleibt wohl das letzte und beste Wort, das bis jetzt dariiber gesagt worden ist. Er iibernimmt in der Hauptsache das eben auszugsweise erwahnte System, aber er fiihrt es aus, befestigt es, bring t alles darin unter, wobei er gewisse ernstliche Liicken jetzt zum erstenmal ausfullt, so daB es ein zusammenhangendes metaphysisches System \vird, eine wirkliche Antwort, (soweit es iiberhaupt eine Antwort geben kann), auf die obige Frage, ein System, das, wie ich entschieden zugebe, durch zukiinftige Gehirne erweitert, revidiert und sogar ganz neu aufgebaut werden mag, das aber auf jeden Fall, als Ganzes betrach- tet, heute in hellem Glanze erstrahlt, den Gedanken des Universums erleuchtet und sein Geheimnis dem menschlichen Geist deutet — mit trostlicherer wissenschaftlicher Sicherheit als irgendein friiheres System.
Nach Hegel ist die ganze Erde mit ihrer unendlichen Mannig- faltigkeit — Vergangenheit: gegenwartige Zustande, zukiinftige Ge- schehnisse, die Gegensatze von Materiellem und Spirituellem, von Natiirlichem und Kiinstlichem — all das sind nach der Anschauung des Kollektivisten nur notwendige Seiten und Entfaltungen, verschie- dene Stufen und Glieder in dem endlosen ProzeB der schopferischen Idee, die trotz unzahliger scheinbarer MiBerfolge und Widerspriiche
durch eine zentrale und ununterbrochene Einheit zusammen- gehalten wird — es gibt iiberhaupt keine Widerspriiche oder Mifi- erfolge, sondern nur Ausstrahlungen eines einheitlichen , folge- richtigen und ewigen Zwecks. Die gesamte Masse des Seins strebt und flieBt stetig, unbeirrbar dem dauernden Utile und Morale zu, wie die Fliisse zum Meer. Wie das Leben das Allgesetz und das unaufhorliche Wirken des sichtbaren Universums, der Tod aber nur die andere oder unsicbtbare Seite desselben ist, so sind das „ Utile", die Wahrbeit und die Gesundbeit die zusammenhangend-unver- anderlichen Gesetze des moralischen Universums, und Laster und Krankbeit mit all ihren Storungen nur voriibergebende, wenn auch noch so vorberrschende Erscheinungsformen.
Auf die Politik wendet Hegel iiberall den gleichen alles umfassen- den Mafistab und Glauben an. Nicht eine einzelne Partei oder eine einzelne Regierungsform ist absolut und ausschliefilich die wahre. Die Wahrheit beruht in dem ricbtigen Verhaltnis der Dinge zuein- ander. Eine Mehrheit oder Demokratie kann so schmahlich regieren und so viel Unheil anrichten wie eine Oligarchic oder wie Despo- tismus, — wenn aucb mit weit weniger Wabrscbeinlicbkeit. Das grofie Ubel ist aber eine Verletzung entweder des eben erwahnten Verhaltnisses oder des Moral prin zips. Das Triigerische, Ungerecbte, Grausame und sogenannte Unnatiirliche ist — obwohl in einem gewissen Sinne zugelassen (wie Scbatten zum Licht) und unvermeid- lich im gottlichen Plane — im Gesamtsinne dieses Planes nur par- tiell, unwesentlich, zeitweilig und trotz noch so grofiem scheinbaren Ubergewicht sicherlich bestimmt, zugrunde zu gehen, nachdem es viele grofie Leiden verursacht hat.
Die Theologie iibertragt Hegel in die Wissenschaft. Alle schein- baren Widerspriiche in der Auffassung des gottlichen Wesens durch verschiedene Zeitalter, Nationen, Kirchen, Anschauungen sind nur unvollstahdige und unvollkommene Darstellungen einer einzigen Wesenseinheit, von der alle ausgehen, — robe Versuche oder aus- einandergezogene Teile, die zugleich als unter sich verschieden und zusammengehorig betrachtet werden miissen. Kurz (um es in unserer eigenen Sprache auszudriicken oder zusammenzufassen), der Denker oder Analytiker oder Betrachter, der infolge einer unerforschlichen Verbindung von geschulter Weisheit und natiirlicher Intuition die moralische Einheit und Wohlbeschaffenheit des Schopfungsplanes in
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Geschichte, Wissenschaft, in allein Leben aller Zeit, Gegenvvart und Ziikunft am uneingeschranktesten und in vollkommenem Glauben annimmt, der ist der wahrste Kosmosanbeter und der Fromme und der tiefste Philosopb zugleich. Wer aber unter dem Bann seiner selbst und seiner Verhaltnisse in dem gesamten Walten der gott- lichen Vorsehung Dunkelheit und Verzweiflung sieht, und \ver in dieser Beziebung leugnet oder Ausfliichte sucht, der ist der argste Sunder und Unglaubige, gleicbgiiltig, wieviel Frommigkeit auf seinen Lippen gaukelt.
Icb fuble mich um so mehr berechtigt, Hegel bier ein wenig frei zu zitieren*, als ich damit nicbt nur Geist und Buchstaben Carlyles widerlegen und mit Wurzel und Boden im Ganzen und Einzelnen ausrotten, sondern auch den Lehrsatzen der Evolutionisten das Gleichgewicht halten kann, nachdem Darwin kiirzlicb gestorben und verdientermafien verherrlicht worden ist. So unaussprechlich wertvoll diese Lehrsatze fiir die Biologic und so unentbehrlicb sie einem zielbewuBten Studium fiir alle Zukunft aucb sind, sie um- fassen und erklaren durchaus nicbt alles — und das letzte Wort oder Flustern ist noch iiber keinen Mund gekommen, das auf die hochsten jener Satze folgen und immerdar bocb u'ber ihnen und iiber technischer Metaphysik scbweben muB. GewiB, die Schatze, die von den Deutschen Kant, Fichte, Schelling und Hegel und auch von dem Englander Darwin auf seinem Gebiet der Menschheit ver- erbt wurden, sind fiir die Heranbildung von Amerikas Zukunft unentbehrlicb. Und doch mochte ich behaupten, daB ihnen alien, auch den besten, im Vergleiche zu den leuchtenden Blitzen und dem hohen Schwunge der alten Propheten und Seher, der geistlichen Dichter und Dichtungen aller Lander (wie in der hebraischen Bibel) etwas zu fehlen scheint, nein sicherlich fehlt. Es ist ihnen eine
* Ich habe absichtlich alles wiederholt, nicht nur um den ewig lauernden Pessi- misinus und Weltschmerz Carlyles zu widerlegen, sondern well es die amerika- nischsten Gesichtspunkte sind, die ich kenne. Meines Erachtens sind die obigen Grundsatze Hegels eine wesentliche und kronende Rechtfertigung der Demokratie der Neuen Welt in den schbpferischen Gebieteu von Itanin und Zeit. Sie haben das Element in sich, das anscheinend nur die Grb'De, die Mannigfaltig- keit und Lebenskraft Amerikas zu fassen, auf breitem Raum zu verkbrpern oder zu assimilieren oder auch nur hervorzubringen vermag. Es scheint inir merkwiirdig, dafi sie in Deutschland oder iiberhaupt in der Alten Welt entstanden; wahrend ein C.arlyle, mbchte ich sagen, ganz das zu erwartende, legitime Produkt Europas ist.
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gewisse Kalte eigen, ein Unbefriedigtlassen des innersten Gemiits, ein Mangel an lebendiger Glut, Liebe, Warme, wie sie von den alten Sehern und Dichtern ausstromt und von der bei den scharfsinnigsten modernen Philosophen bis jetzt nicbts zu spuren ist.
Carlyles Name ist fiir unsere Zwecke im groflen ganzen der Reibe der eben genannten hervorragendsten Sittenarzte unserer Zeit bei- zuzahlen, — mit Emerson und noch zwei oder drei anderen, — wenn aucb sein Rezept drastisch ist und vielleicht zerstorend wirkt, wah- rend das der anderen assimilierend und auf naturliche Weise starkend ist. Feudalistisch im Innersten, wie seine Werke sind, geistige Erzeugnisse und Ausstrahlungen des Feudalismus, enthalten sie doch fiir das demokratische Amerika ewig wertvolle Lebren und Beziebungen. Nationen oder Individuen, wir lernen sicherlich am griindlicbsten von Ungleichartigem, von einem aufrichtigen Gegner, von dem Licbt, das, wenn auch aus Verachtung, auf gewisse wunde Punkte und Verpflicbtungen geworfen wird.
In vielen Einzelheiten war Carlyle in der Tat einem der hebra- iscben Propbeten der Vorzeit vergleichbar , ein neuer Micha oder Habakuk. Seine Reden sprudeln manchmal hervor aus abgrund- tiefer Inspiration. Immer wertvoll, solcbe Manner; jetzt so wert- voll wie je. Seine rauhen, polternden, hohnischen, widersprucbs- vollen Tone, — was tate mehr Not unter den geschmeidigen, ab- geschliffenen , goldanbetenden , Jesus und Judas gleichsetzenden, stimmrecbt-ubermutigen Lauten des heutigen Amerika. Er hat unser 19. Jahrbundert mit dem Licbte eines machtigen, durch- dringenden und vollkommen ebrlichen Intellektes erster Ordnung erhellt, das er auf Politik, soziales Leben, Literatur und hervor- ragende Personlichkeiten Englands und des Kontinents warf, — tief unzufrieden mit allem und erbarmungslos das Kranke an allem enthiillend. Wahrend er aber die Krankheit bezeichnet und dariiber tobt und schimpft, ist er selbst in der gleichen Atmosphare ge- boren und aufgewacbsen , ein cbarakteristisches Symptom dieser Krankheit.
Natur und Demokratie
Demokratie ist vor allem andern mit der frischen Luft verwandt, ist sonnig und stark nur in Verbindung mit der Natur — genau so wie die Kunst. Etwas ist erforderlicb , um beide zu maGigen,
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sie im Zaum zu halten imd sie vor Ausschreitung und Verfall zu bewahren. Ich wollte zum SchluG Zeugnis ablegen fiir eine sehr alte Weisheit und Notwendigkeit. Die amerikanische Demokratie mit ihren Myriaden von Einzelpersonlichkeiten, mil ihren Fabriken, Werkstatten, Laden, Bureaus, mit all den dichtgedrangten StraCen und Hausern ihrer Stadte und all ihren mannigfachen verkiinstelten Lebensbedingungen muB entweder gestarkt und belebt werden durch regelmaBigen Kontakt mit Licht, Luft und Wachstum unter freiem Himmel, mit Landleben, Tieren, Feldern, Baumen, Vogeln, Sonnenwarme und weiten Raumen droben, oder sie wird sicberlicb verdorren und verblassen. Wir konnen keine starken Rassen von Handwerkern und Arbeitern und keine wabre Gemeinschaft (der einzige eigenste Zweck Amerikas) haben, wenn diese Bedingung nicht erfullt wird. Icb kann mir keine bliibenden, heroiscben, demokratischen Krafte in den Vereinigten Staaten oder iiberbaupt keine dauerhafte Demokratie denken, ohne da6 die Naturkrafte einen ihrer Hauptbestandteile bilden, die die Quelle aller Gesundheit und Schonheit sind und aller Politik, Wohlfahrt, Religion und Kunst der Neuen Welt zugrunde liegen.
GESAMMELTES
Aus der Vorrede zu: ,,Wie ein starker Vogel auf Schwingen frei . . ."
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Als ich vor Jahren den Plan zu meinen Gedichten auszuarbeiten begann und ihn lange Zeit (vom 28. bis 35. Lebensjabr) immer wieder iiberdachte und umgestaltete, wobei ich viel experimentierte, niederschrieb und vieles wieder fallen lieB, lag allem andern ein tiefes Motiv zugrunde und hat dem Plan und seiner Ausfiihrung seither zugrunde gelegen, -- das religiose. Trotz vieler Wechsel und obwohl die Ausdrucksform ganz andere Gestalt angenommen hat, als ich sie mir urspriinglich gedacht hatte, bin ich in der Aus- arbeitung meiner Gedichte von diesem Grundmotiv nie abgewichen. Selbstverstandlich nicht, um es in der hergebrachten Weise zur Schau zu stellen oder etwa mit einem Blick auf die Kirchensitze Hymnen oder Psalmen zu schreiben oder konventionellem Pietismus und dem krankhaften Schmacht von Frommlern Ausdruck zu geben, — vielmehr auf neue Art, abzielend auf die breitesten Grund- lagen und Gebiete der Menschheit, in Einklang mit der frischen Luft von Meer und Land. Ich will sehen, sagte ich zu mir, ob fur meine dichterischen Zwecke in der Durchschnittsmenschheit, wenig- stens in deren rnoderner Entwicklung bei uns, in dem kraftigen Gemeingefiihl , in den eingeborenen Sehnsiichten und Elementen nicht eine Religion, ein gesunder religioser Keim liegt, — tiefer und grofier und fruchtbarer als alle bloBen Sekten und Kirchen, — so grenzenlos, freudig und lebenskraftig wie die Natur selbst, — ein Keim, der zu lange ohne Pflege, unbesungen, beinahe unbekannt
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geblieben ist. Mil dem Aufbliihen der Wissenschaft beginnt er- sicbtlich die alte Theologie des Ostens, schon langst kindiscb ge- worden, zu sterben und zu verscbwinden. Die Wissenscbaft aber - und das wird sich vielleicht als ihr Hauptverdienst erweisen - bereitet ebenso ersichtlich den Weg fiir ein unbeschreiblich Hoheres, — fiir den jungen, aber vollkommenen SproBling der Zeit — dw neue Theologie — Erbin des Westens — stark und liebevoll und uunderbar berrlicb.
Fiir Amerika, und fiir jetzt und allezeit, ist die hocbste und ab- schlieBende Wissenschaft die von Gott, — und was wir Wissen- schaft nennen, ist nur ihr Diener, vvie es aucb die Demokratie ist oder sein soil. Und ein Dichter Amerikas (sagte ich zu mir) muB sich mit solchen Gedanken erfiillen und sein Allerbestes aus ihnen heraus singen. — Gleichwie es meines Erachtens keine gesunde und vollkommene Personlichkeit noch eine groBe elektrische Natio- nalitat gibt, wenn nicbt die Religion als Grundelement alle anderen Elemente durchdringt (vvie die Warme in der Ghemie, selbst un- sichtbar, dennoch das Leben alles sichtbaren Lebens ist, so kann es keine Poesie geben, die dieses Namens wiirdig ware, ohne da6 jenes Element allem zugrunde liegt. Sicherlich ist die Zeit ge- kommen, wo die Religionsidee in den Vereinigten Staaten entlastet wird von bloBem Klerikalismus, von Sonntagsheiligung und Kirchen und Kirchenbesuch , und wo ihr jene allgemeine, wichtigste, uii- entbehrlichste und heitersteStellung zugewiesen wird, der sicb alles anzupassen hat, Charakter, Bildung und Tun der Menschen.
Das Volk, besonders die jungen Manner und Frauen Amerikas, miissen anfangen zu lernen, dafi Religion wie Poesie etwas ganz, ganz anderes ist, als sie dachten. Sie ist in der Tat fiir die Macht und Fortdauer der neuen Welt zu wichtig, als daB sie noch langer den Kirchen, alten oder ueuen, katholischen oder protestantischen, dieses Heiligen oder jenes, iiberlassen werden diirfte. Sie mufi von nun an der Demokratie en masse und der Literatur iiberantwortet werden. Sie muB in die Dichtungen der Nation eingehen. Sie muB die Nation erschaffen.
Eine Notiz auf gut Gliick (Zuerst veroffentlicht in der ,,North American Review" 1881)
Soil die Erwahnung von Dingen, wie ich sie kurz, aber deut- lich und entschlossen in dem Kapitel „ Kin der Adams" meiner ,,Grashalme" zur Sprache gebracht habe, in Poesie und Literatur erlaubt sein? Sollte die Neuerung nicht vielmehr durch Kritik und offentliche Meinung verurteilt werden? Und wenn das nichts niitzt, durch den Staatsanwalt? — Zweifellos, obne jenes Kapitel mit einzuschliefien, konnte ich nicht ein Werk verfassen, das er- klartermafien, wie nie zuvor, die vollstandige menschliche Identitat, die physische, moralische, seelische und intellektuelle, behandelte (in gewissem Sinne gab ich der physischen den Vorrang und die Fiihrung) ; auch hatte ich sonst nicht die bona fides, die Lauterkeit und Vollstandigkeit der Darstellung erreichen konnen, die zu meinem Plane gehorte. Aber ich mb'chte meinen Standpunkt noch mehr als bisher befestigeri und erweitern. Und wenn ich auch von niemandem verlange, meiner Theorie beizupflichten, liegt mir doch offen gestanden etwas daran, meine dichterischen Versuche und meine Prinzipien von ihrem eigenen Boden aus wenigstens teil- weise verstanden zu wissen. Es scheint mir am besten, der Frage mit volligem Freimut gegeniiberzutreten.
Es gibt, allgemein gesprochen, zwei Gesichtspunkte, nach denen sich die Welt zu diesen Dingen verhalt. Der erste, der konven- tionelle biederer Leute und biederer Literatur iiberall, unterdriickt jede direkte Benennung und macht nur ganz verbliimte Andeu- tungen — (wie es die Griechen mit dem Tod machten, der in der gebildeten Gesellschaft Griechenlands nicht gerade heraus benannt, sondern euphemistisch umschrieben wurde). In der heutigen Ge- sellschaft hat dies Verhalten — ohne auf die Argumente und Ein- zelheiten, die zahlreich, verschiedenartig und verwirrend sind, naher einzugehen — zu einem Zustand von Unwissenheit, Ver- tuschung, verborgen gehaltener Krankheit und Schwache gefiihrt, der sicherlich einen Hauptfaktor des Weltiibels bildet. Diesem unwissenschaftlichen , unasthetischen und durchaus unreligiosen Verhalten, das uns die Vergangenheit vererbt hat (die Ursachen sind verschieden; eine liegt in uralten Lehren menschenfreund- licher Weiser, die damit die herrschende Roheit und Animalitat
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des Nomadenzeitalters bandigen wollten; eine andere im Puritaner- tum oder vielleicht Protestantismus selbst; eine dritte wird am SchluB dieser Ausfiihrungen bezeichnet werden) — diesem Ver- balten sind vvohl grofkenteils die Miflgeburten, die ungeniigende Reife, der frivole Sinnenkitzel und jenes patbologiscbe Hinsiechen und Krankeln der Menscben zu verdanken, das meines Erachtens der Grund und Ursprung jeder Art von tlbel und Kranklichkeit ist. Sein Geruch, \vie von etwas Scbleicbendem, Tiickischem, Pest- artigem scheint nach und nacb alle moderne Literatur, Konver- sation und Sitte zu durchseucben.
Der zweite Gesichtspunkt, und zwar der weit umfassendere - wie denn die Welt im Werktagskleid die in Salontoilette an Zabl weit ubertrifft — ist der des gewohnlichen Lebens, von den altesten Zeiten ber und besonders in England (vgl. die ersten Kapitel von Taines Englischer Literaturgescbicbte und Sbakespeare beinahe iiberall) ; ein Gesicbtspunkt, den unser heutiges Zeitalter von einem lachlustigen Geschlecht ererbt bat in dem Witz (oder was als Witz gilt) in Mannergesellschaft, in den erotischen Gescbicbten und Ge- sprachen, die jene bloB lusterne Sinnlicbkeit, die nach Viktor Hugo die allgemeinste Eigenscbaft aller Zeiten und Lander ist, erregen, ausdriicken und ausmalen sollen. Dieser zweite Zustand, so scblimm er ist, gleicbt wenigstens einer Krankbeit, die zum Vorschein kommt und desbalb weniger gefahrlich ist als eine verheimlichte.
Mir scheint fur eine weitere Stufe, einen dritten Gesichtspunkt, die Zeit gekommen und Amerika der Platz dafiir zu sein. Derselbe Freimut, Glaube und Ernst, den nach Jahrhunderten von Ablehnung, Kampf, Unterdriickung und Martyrertum die Gegenwart der Be- handlung von Politik und Religion entgegenbringt, muft fur diese Frage einen Plan und Mafistab scbaffen, nicht so sehr im Hinblick auf das, was man Gesellschaft nennt, als auf nachdenklichste Manner und Frauen und auf gedankenreichste Literatur. Denselben Geist, der in dieser Beziehung den physiologischen Schriftsteller und Demonstrator auf seinem wichtigen Gebiet charakterisiert, glaubte ich einmal auf einem gewiB nicht weniger wichtigen Gebiet be- k unden zu miissen.
In der vorliegenden Notiz wage icb diesen Plan und diese Anscbauung nur anzudeuten, fur die ich mich in ineiner eige- nen literarischen Tatigkeit schon vor mehr als zwanzig Jahren
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entschieden und die ich in meinen gedruckten Gedichten deutlich formuliert habe (wie denn Bacon sagt, eine abstrakte Idee oder Theorie sei wertlos, wenn sie nicht zu einer Tat oder einem Werk als konkretem Beispiel fiihre) — die Anschauung namlich, dafi der Geschlechtstrieb an sich, solange er normal und gesund bleibt, seinem Wesen nach zu Recbt bestebt, anerkannt werden muC und kein unbedingt unpassendes Thema fur den Dicbter ist, ebensowenig wie zugestandenermaBen fur den Naturforscber; — daft ferner, was den ganzen Aufbau, den Organismus und Endzweck der ,,Grasbalme" anbelangt, alles auf einer scbwacben oder gar keiner Grundlage beruhen wiirde, wenn ich jenem Thema ausgewichen ware und mich nicht offen dazu bekannt hatte, als zu der alles umfassenden Basis (die gesunde Natiirlichkeit von allem sollte ja die Atmosphare der Gedichte sein). Ich mochte also die Frage im bedeutsamsten Sinne stellen und auf ihre auCerste Konsequenz bin, so anmaBend das auch erscheinen mag.
Kurz gesagt, wie die Anerkennung der gesunden Natiirlichkeit von Geburt, Natur und Menschheit der Schliissel ist zu jeder wahren Theorie voni Leben und Universum, wenigstens der einzigen Theorie, aus der heraus ich geschrieben habe, so ist sie auch, und zwar unbedingt, der einzige Schliissel zu den ,,Grashalmen" und zu jedem einzelnen Teil derselben. Das ist der Grund, warum ich gerade fur diese Gedichte zwanzig Jahre lang eingetreten bin und sie bis zum heutigen Tage aufrecht erhalte. Das ist es, was ich im innersten Geist und Gemiit fiihlte, als ich unter den alten Ulmen des Bostoner Stadtparkes auf Emersons heftige Argumente nur mit Stillschweigen antwortete.
In der Tat, sollte nicht jeder Physiologe und jeder gute Arzt dafiir beten, dafi diese Frage, die bisher dem Geschwatz und Ge- schreibsel von Schuften iiberantwortet war, aus ihrer Verbannung erlost und wenigstens einmal, wenn nicht 6'fter, kiihn in den Be- reich der Poesie und Gesundheit gestellt werde — als etwas, das nicht an sich unanstandig und unrein, sondern mit edelster Mann- lichkeit und Weiblichkeit durchaus vereinbar und beiden unent- behrlich ist? Sollte nicht jede Gattin und Mutter und, wenn es moglich ware, jeder Saugling, der auf die Welt kommt, und jede Ehe (das Fundament und die conditio sine qua non des Kulturstaates) loben und danken dafiir, wenn gezeigt oder als selbstverstandlich
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angesehen wiirde, daB Mutterschaft, Vaterschaft, Geschlechtlichkeit und alles, was dazu gehort, ofFen, freudig, stolz, ohne daB man sich schamt oder zu schamen braucht, von den hochsten kiinst- lerischen und menschlichen Gesichtspunkten aus bekraftigt werden kann, wo immer es darauf ankommt? Ja, in aller Ehrfurcht sei es gesagt, sollte nicht auch die Schopferkraft selbst sich herablassen, auf einen solchen Versuch, die Basis und den Anfang des ganzen goti lichen Planes in der Menscbheit zu rechtfertigen, mil einem Beifallslacheln zu blicken?
In der Bewegung fur die Befahigung und die Zulassung der Frauen zu neuen Gebieten des Geschaftswesens, der Politik und des Stimmrechts bildet die berrschende Lusternheit und Konvention in der Behandlung des Gescblechtlicben das furchtbare Haupt- bindernis. Die wacbsende Flut der Frauenbewegung, die von Jabr zu Jahr mehr anscbwillt und weiter vorriickt, weicbt bestiirzt davor zuruck. Meines Erachtens wird es in dieser Bewegung keinen all- gemeinen Fortscbritt geben, bis eine verniinftige, pbilosopbische, demokratiscbe Behandlungsweise an die Stelle jener Konvention getreten ist.
Die ganze Frage, die viel, sebr viel tiefer geht, als die meisten denken (und zweifellos ist auf jeder Seite etwas zu sagen), ist von besonderer Wichtigkeit fur die Kunst, — es ist erstens eine etbiscbe und dann nocb mebr eine asthetische Frage . . .
Nicht das Gemalde oder die nackte Statue oder der Text ist unanstandig, sofern der kiinstlerische Zweck ein lauterer ist, es ist viel mebr des Beschauers eigener Gedanke, seine eigene verzerrte Auffassung. Wahre Sittsamkeit ist eine der kostlichsten Eigen- scbaften, ja Tugenden; aber in nichts liegt mebr Heucbelei, mebr Falschheit, als wenn sie iiberfliissigerweise betont wird. Infolge von Erziehung und Selbsterkenntnis weiB der Menscb scbon lange genug, wie schlecbt er ist. Icb inocbte dieses BewuBtsein nicht sowohl storen oder vernichten, vielmehr nur wieder auf die innerste Bedeutung des Schriftwortes binweisen und es unwiderleglich daneben stellen: ,,Und Gott sab an alles, was er gemacht hatte", (samt dem Gipfelpunkt des Ganzen -- der Menschbeit mit ihren Elementen, Leidenschaften, Begierden), ,,und siebe, es war sehr gut."
Wird die Schopfung nicbt durcb alles, was jenen dritten Ge- sichtspunkt nicht gelten laBt, von Anfang an negiert, — wenn man
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sich die Sache ernstlich und von alien Seiten iiberlegt? Lebt die in diesen Gesichtspunkten liegende IJberzeugung, so verdunkelt und ihrer selbst unbewufit sie sein mag, in der Tat nicht ewig im Zentrum der ganzen Gesellschaft, der Geschlechter und der Ebe? 1st sie in Wabrheit nicbt eine Intuition des Menschengeschlecbts? Denn so alt die Welt ist und so unbeschreiblich die unzahligen und glanzenden Friichte ihrer Kultur und Evolution, — vielleicbt die besten und friihesten und reinsten Intuitionen des Menschen- geschlechtes miissen sich erst noch entwickeln.
Emersons Werke (ihre Schatten)
Die Regionen, die wir Natur nennen, die iiber alles MaB hinaus- ragen, von unendlicher Ausdehnung, unendlicher Tiefe und Hohe, — diese Regionen, einschlieBlich des Menschen in seinen sozialen, historischen und moralisch-gefuhlsmafiigen Beziehungen, — einen wie geringen Teil von ihnen (das kam mir heute zum BewuBtsein) hat die Literatur wirklich dargestellt, — selbst wenn man ihre Er- zeugnisse aller Zeiten summiert. Sie erscheint im besten Fall wie eine kleine Flotte von Schiffen, die sich an die Kiisten einer unend- lichen See schmiegen und sich niemals hinauswagen, um zu erforschen, was noch nicht auf Karten verzeichnet ist, — nie kolumbusgleich nach neuen Welten aussegeln, um die Rundung des Erdballs zu durchmesseu.
Emerson schreibt oft aus solchem Gedankenkreis heraus. Seine Biicher berichten das eine oder das andere eben aus jenem Meeres- und Luftraum ; und richten sich verstandlicher an unsere Zeit und an das amerikanische Staatswesen als die Schriften irgendeines Mannes vor ihm. Aber ich will damit beginnen, daB ich seine Schwachen hervorhebe — und so beweisen, daB ich fur seine tiefsten Lehren nicht unempfanglich bin. Ich will seine Werke vom derno- kratischen und westlichen Gesichtspunkt aus betrachten. Ich will die Schatten der sonnigen Raume bezeichnen . . .
Erstens also: diese Schriften sind vielleicht zu vollkommen, zu konzentriert. (Wie gut ist z. B. gute Butter, guter Zucker. Aber immer nur Zucker und Butter! Mogen sie noch so gut sein!) Und obschon der Autor viel zu sagen weiB von Freiheit und Ungebunden- heit und Einfachheit und Selbstherrlichkeit, so war doch noch nie
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ein Werk mehr auf kiinstliche Gelehrsamkeit und Wohlanstandig- keit irn dritten oder vierten Aufgufi (er nennt es Bildung) gegriindet und darauf aufgebaut. Ks ist immer etwas Gemachtes, nie ein un- bewufit Gewachsenes. Es 1st die Porzellanfigur oder Statuette eines Lowen oder Hirsches oder indianischen Jagers — freilich von vor- ziiglicher Arbeit - - fur den Rosenholz- oder Marmorstander in Salon oder Bibliothek; nie das Tier oder der Jager selbst. Wer will aucb das Tier oder den Jager? Was lieBe sich damit anfangen inmitten von Astrallicht und Nippes und Gobelins und Damen und Herren, die mit gedampften Stimmen von Browning und Long- fellow und Runst sprecben? Vor dem geringsten Verdacht eines wirklichen Bullen oder Indianers oder sich selbst auswirkender Naturkraft wiirden all diese guten Leute in panischem Schrecken davonlaufen.
Emerson ist meines Eracbtens nicht als Dichter oder Kiinstler oder Lehrer am bedeutendsten, obwohl wertvoll in alledem. Sein Bestes gibt er in der Kritik oder Diagnose. Nicht Leidenschaft oder Phantasie oder Nebeninteresse oder Schwache oder irgendein aus- gesprochenes Motiv oder eine besondere Vorliebe beherrscht ihn. (Ich weifl, Feuer, Gemiit, Liebe, Selbstheit gliihen tief und unver- ganglich in ihm, wie in alien Neu-Englandern, aber die Fassade verbirgt sie vollig, es ist nichts von ihnen zu merken.) Er sieht oder ergreift nicht nur oder vorwiegend eine Seite, eine Ansicbt (wie alle Dichter oder die meisten guten Schriftsteller iiberbaupt), er sieht alle Seiten. Seine Schiiler horen unter seinem Einflufi schliefilich auf, irgend etwas zu verehren, ja beinahe an irgend etwas zu glauben, was aufierhalb ihrer selbst ist. Emersons Werke fiillen gewisse Lebensperioden und Entwicklungsstufen aus, und zwar gut, — sie sind (wie die Lehre oder Theologie des Autors, die er als junger Mann predigte) unbeschreiblich wertvoll und kostbar als Durchgangsstadium. Aber im Alter oder in reizbaren oder feierlichsten Stunden oder im Sterben, wenn man die ungreif- bar beruhigenden und belebenden Einflusse abgrundtiefer Natur oder naturahnliche Elemente in der Literatur und menschlichen Gesellschaft braucht und die Seele das scharfste bloB verstandes- mafiige Erkennen ablehnt, wird man nicht nach ihnen verlangen.
Emerson hat eine fur einen Philosophen seltsam stutzerhafte Anstandstheorie. Er scheint keine Ahnung davon zu haben, dafi
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auCere Manieren einfach die Zeichen sind, an denen der Chemiker oder Metallurg seine Metalle erkennt. Fur den bedeutenden Forscher sind alle Metalle bedeutend, so wie sie es auch wirklich sind. Der Unbedeutende wird, wie die konventionelle Welt, nur auf Gold und Silber viel halten. Dem wirklichen Menschheitsbildner also erscheinen sogenannte scblechte Manieren oft am malerischsten und bedeutsamsten. Man stelle sich vor, Emersons Werke wiirden ab- sorbiert als dauernder Lebenssaft des amerikanischen Charakters im allgemeinen und besonderen, — was fur eine wohlgewaschene und grammatische, aber blut- und bilflose Rasse wiirden wir dann werden! Nein, nein, lieber Freund; die Staaten brauchen zwar ohne Frage Gelehrte und vielleicht auch Darnen und Herren, die haufig baden und nie laut lacben oder unrichtig sprechen, aber sie brauchen nicht Gelehrte oder Damen und Herren auf Rosten alles iibrigen. Sie brauchen gute Farmer, Seeleute, Handwerker, Beamte, Burger, — gesunde geschaftliche und soziale Verhaltnisse, — vollkommene Vater und Mutter. Wenn wir nur solche oder annahernd solche haben konnten, in Fiille, schon und stattlich und gesund und groBmiitig und patriotisch, so konnten sie ihre Verba und Nomi- nativa falsch konstruieren und wie Musketensalven lachen, wenn es ihnen SpaB machen wiirde. Solche Menschen sind natiirlich nicht alles, was Amerika braucht, aber sie miissen wir uns vor alien Dingen in grofier Anzahl verschaffen. Und trotz fiirchter- licher Fehler und Irrgange scheint der Instinkt der Staaten wesent- lich und bauptsachlich darauf gerichtet zu sein und abzuzielen. Das Streben nach einer erlesenen, iiberfeinerten , von alien anderen abgegrenzten Rlasse, das Streben der Lander und Literaturen der Alien Welt, ist nicht sowohl an sich, als well es unser eigenes Streben erstickt und in der Tat sein Tod ist, zu tadeln. Was eine solche abgesonderte Kaste betrifft, so konnen die Vereinigten Staaten den glanzvollen Beispielen der ersten Nationen Europas in Ver- gangenheit und Gegenwart (weit, weit iiber allem Vergleich und Wettbewerb mit uns) niemals etwas Gleichwertiges gegeniiberstellen. Aber eine ungeheure und eigenartige, iiber unser weites und mannig- faltiges Gebiet, West und Ost, Siid und Word, ausgebreitete Gemein- schaft — in der Tat zum erstenmal in der Geschichte ein groBes, zusammengeschlossenes, wirkliches Volk, das diesen Namen ver- dient und das aus vollentwickelten heroischen Individualitaten
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beiderlei Geschlechtes besteht, — das ist Amerikas wichtigster, vielleicht einziger Daseinsgrund. Wenn wir dieses Ziel erreichen, so wird es mindestens ebensosehr (seit kurzem denke ich, zwei- mal mehr) das Ergebnis einer fiir uns passenden demokratischen Soziologie, Literatur und Kunst sein, -- wenn wir die je baben werden, — als unserer demokratischen Politik.
Zeitweilig babe ich daran gezweifelt, ob Emerson wirklich weiB oder fiihlt, was Poesie hochster Art ist, wie z. B. in der Bibel oder in Homer oder Shakespeare. Ich sehe, daB er heimlich oder offen hochstvollendete F'ormglatte oder das, was alt oder seltsam ist, be- vorzugt, — Wallers MGo lovely rose" oder Lovelaces Verse an ,,Lacusta", die sonderbaren Einfalle der altfranzosischen Barden und ahnliches. Fiir Kraft scheint er die Bewunderung eines Gentle- man zu haben, — aber in seinem innersten Herzen stehen ihm kunstvolle Versformen, geistreiche Einfalle, elegante Schnorkel und Worte immer hoher als die erhabensten Eigenschaften Gottes und der Dichter.
DaB ich, wie die meisten jungen Leute, vor Jahren einen be- ginnenden Anfall (spat zwar und nur an der Obertlache) von Emersonmanie hatte, — daB ich seine Schriften ehrfiirchtig las und ihn in den meinen als ,,Meister" anredete und ihn einen Monat lang oder so auch dafiir hielt, — daran erinnere ich mich nicht nur mit Gelassenheit, sondern mit wirklicher Genugtuung. Ich habe bemerkt, daB die meisten jungen Leute von strebsamem Geist durch derlei Ubungsstadien hindurch miissen.
Das beste am Ernersonianismus ist, daB er den Riesen erzeugt, der sich selbst vernichtet. ,,Wer will bloBer Epigone eines Mannes sein?" — diese Frage lauert hinter jeder Seite. Nie hat es einen Lehrer gegeben, der so dafiir gesorgt hatte, daB seine Schiiler selbstandig werden, — nie einen echteren Evolutionisten.
Neue Poesie -- Kalifornien, Kanada, Texas
Meiner Ansicht nach ist die Zeit gekommen, um die formalen Schranken zwischen Prosa und Poesie ganzlich niederzubrechen. Ich behaupte, die letztere muB von nun an ohne Riicksicht auf den Reim und die rhythmischen Regeln von Jambus, Spondaeus, Dactylus usw. ihren Charakter gewinnen und wahren. Mag auch
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der Reim samt den genannten MaBen fiir geringere Schriftsteller und Themen weiterhin als Ausdrucksmittel dienen (besonders fiir Paro- distisches und Komisches, da der Reim an sich und iiberhaupt fur den vollendeten Geschmack in Zukunft etwas unvermeidlich Komi- sches zu haben scheint), echteste und erhabenste Poesie (innerlich und notwendigervveise zwar immer rhythmisch und leicht genug von Prosa zu unterscheiden) kann in der engliscben Sprache nie wieder in willkiirlicher und reimender Stropbenform Ausdruck find en, ebensowenig wie die groBte Beredsamkeit oder die echteste Kraft und Leidenschaft. Zwar gebe ich zu, daB die ehrwiirdigen und himmlischen Formen melodischen Versbaues zu ihrer Zeit eine groBe und angemessene Rolle gespielt haben, — daB schwer- miitige Klage, Balladen, Kriege, Liebesgeschichten, Sagen Europas usw. vielfach unnachahmlich schon in Reim und Strophe dar- gestellt worden sind, — daB es sehr hervorragende Dichter ge- geben hat, deren Gestalten wundervoll und passend der Mantel solcher \7ersform umhiillte und daB dieser ihr Mantel vielleicht in noch groBerer Schon heit auf einige Dichter unserer Zeit gefallen ist. Trotz alledem glaube ich sicher, daB die Zeit solchen Reimes zu Ende ist. In Amerika jedenfalls und als Mittel hochsten asthe- tischen, praktischen oder geistigen Ausdrucks, in Gegenwart und Zukunft, versagt er offenbar und muB versagen.
Die Muse der Prarien von Kalifornien, Kanada, Texas und der Berggipfel Kolorados entledigt sich sowohl der literarischen als sozialen Etikette des transatlantischen Feudalismus und Kasten- wesens, dehnt sich frohlich aus, macht sich bereit, den Umfang des ganzen Volkes zu umfassen, samt dem freien Spiel aller Gefiihle, Stolz, Leidenschaften , Erfahrungen, die zu ihm in Korper und Geist gehoren, — den ganzen Erdball zu umfassen und all seine astronomischen Beziehungen, wie sie uns von den Gelehrten ge- schildert werden, — das moderne, geschaftige 19. Jahrhundert (so erhaben poetisch wie je eines, nur anders) mit seinen Dampf- schiffen, Eisenbahnen, Fabriken, Telegraphen, Zylinderpressen, — den Gedanken von der Solidaritat der Nationen und von der Briider- schaft und der Schwesterschaft der ganzen Erde, — die Wiirde und den Heroismus der praktischen Arbeit in Farmen, Fabriken, GieBe- reien, Werkstatten, Bergwerken oder auf Schiffen, Seen und Fliissen. Diese Muse wahlt jenes andere, geschmeidigere, angemessenere
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Ausdrucksmittel und schwingt sich empor zu dem freien, weiten, gottlicheren Himmel der Prosa.
Bei Gedichten dritter oder vierter Ordnung (vielleicht sogar bei manchen zweiter Ordnung), hat es wenig oder gar nichts zu besagen, \ver sie verfaBt, — sie sind gut genug, so wie sie sind; auch brauchen sie nicht tatsachliche Ausstromungen von Personlichkeit und Leben der Verfasser zu sein. Das gerade Gegenteil wirkt manchmal reiz- voll. Aber Dichtungen erster Ordnung (Gedichte der Tiefe im Unterschied von Gedichten der Oberflache) sind streng an den Dichtern selbst zu messen, an ihrer Personlichkeit und ihrem Leben zu priifen. Wer will Verherrlichung von Mut und mannlichem Trotz aus dem Munde eines Feiglings oder Schleichers? Wer ein Lied auf Mildtatigkeit oder Keuschheit von einem verseschreiben- den Knicker oder einem unziichtigen, schliipfrigen Roue?
In diesen Staaten wird es die Poesie iiber alles bisher Dagewesene hinaus mit den wirklichen Tatsachen zu tun haben, mit den kon- kreten Staaten und — denn wir sind nicht viel weiter als am An- fang — mit der endgiiltigen Ausgestaltung der Union. Manchmal denke ich sogar, sie allein wird die Union gestalten miissen (d. h. ihr kiinstlerischen Charakter, Geistigkeit, Wiirde geben miissen). Was der amerikanischen Bevolkerung am gefahrlichsten ist, das ist das UbermaB von Wohlstand, Geschaft, Weltlichkeit, Mate- rialismus; was am meisten fehlt, in Ost, West, Nord, Siid, das ist ein warmes und gliihendes Nationalgefiihl, ein Patriotismus, der alle Teile zu einem Ganzen vereinigt. Wer anders kann jene Ge- fahr in Zukunft abwehren, diesen Mangel ausfiillen, als eine Klasse erhabenster Dichter?
Obgleich die Vereinigten Staaten noch keine Dichter von irgend- wie iiberragender GroBe hervorgebracht haben, so importieren, drucken und lesen sie doch mehr Poesie als eine gleich groBe Anzahl Menschen sonstwo — ja wahrscheinlich mehr als die ganze iibrige Welt zusammengenommen.
Die Poesie ist (wie eine groBe Personlichkeit) die Frucht vieler Generationen — des seltenen Zusammentreffens vieler Umstande.
Um groBe Dichter zu haben, braucht es auch eine groBe Zu- horerschaft.
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Darwinismus — dann Weiteres
Durch die vorgeschichtlichen Zeiten bis herein in die Morgen- dammerung unserer Uberlieferungen, die Theologie begriindend, die Literatur durchdringend und so immer weiter verbreitet, er- scheinen die ehrwiirdigen Anspriicbe auf Abstammung von Gott selbst oder von Gottern und Gottinnen, auf Abkunft von gott- licben Wesen, die groBere Schonheit, Gestalt und Macbt besafien als wir. (Dieser Glaube bildet gewissermaBen Wirbelsaule und MarkallerantikenRassen und Lander, Agyptens, Indiens, Griechen- lands, Roms, Chinas, Judaas usw., und gibt ihrer Kunst, Dichtung und Politik wie auch ihrem Rirchenwesen (von all dem haben wir mehr oder weniger geerbt) Form und Farbe. In der neuesten Zeit aber lehrt diejenige Abstammungstheorie, die die tiefste Wir- kung ausgeiibt zu haben scheint (in seltsamem Gegensatz zur an- tiken), daB wir von Affen, von Pavianen herkommen und uns aus ihnen entwickelt haben, — eine Theorie, deren indirekte Wirkungen oder Konsequenzen vielleicht wichtiger sind als sie selbst. (Diese zwei Theorien, so griindverschieden sie zu sein scheinen und so heftig ihre widerstreitenden Fiirsprecher heute einander bekampfen, — lieBen sie sich nicht vielleicht miteinander versohnen, ja sogar verschmelzen? Konnen wir denn eine da von entbehren? Besser noch: wird sich nicht aus beiden noch eine dritte, die wahre, oder eine die wahre andeutende Theorie herausbilden?)
Die alte Theorie von der Evolution, wie sie von Darwin mit verdreifachter Wucht, mit wahrhaftalles absorbierenden Anspriichen neu aufgestellt worden ist, enthalt so viel und ist so notwendig als Gegengewicht gegen den noch weitverbreiteten und unsagbar zahen, entnervenden Aberglauben, — sie ist von dem neuen Mann in so groBartigen, bescheidenen, wahrhaft wissenschaftlichen Folgerungen ausgepragt worden, da6 die Welt ethischer und physikalischer Forschung durch das Erscheinen des Darwinismus in ihren Speku- lationen schliefilich vervollkommnet und erweitert werden muB. Und doch ist das Problem des menschlichen und sonstigen Ur- sprungs der Losung um keinen Zoll naher gekommen. Mit der Zeit wird die Evolutionstheorie ihre Heftigkeit mildern miissen, sie darf nicht alles andere beherrschen, sie wird ihren Platz als ein Segment des Kreises, der ganzen Masse, einnehmen miissen,
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als nur eine von vielen Theorien, von vielen Ideen tiefsten Gehalts, - sie wird vieles zu berichtigen und zu differenzieren haben und doch die gottlichen Geheimnisse ebenso unerklarlich und unerreich- bar lassen wie zuvor, — vielleicht nocb mehr.
Dann Weiteres
Was letzten Endes von Priestern oder Dichtern, und nur von- Priestern oder Dichtern vollbracht werden mufi, — trotz all der erstaunlicben und blendenden Errungenschaften unseres Jahr- hunderts, dem Auftreten Amerikas, der Naturwissenschaft und der Demokratie, — das bleibt nach wie vor unentbebrlicb, nacb alien Leistungen der grofien Astronomen, Chemiker, Linguisten, Historiker, Forscher und der wunderbaren deutscben und sonstigea Metaphysiker in den letzten hundert Jahren — und es wird ein Be- diirfnis bleiben, bier in Amerika genau so wie in der Welt Europas oder Asiens vor hundert, tausend oder mehreren tausend Jahren, — ich glaube sogar, es wird notwendiger sein als je, um unseren- beutigen Anschauungen Ausdruck zu verleihen, aus dem erweiterten. Hintergrund und dem unbeschreiblich grofieren Ausblick der Jetzt- zeit heraus. Einzig den Priestern und Dichtern der Neuzeit, die mindestens ebenso erhaben sind wie die der Vergangenheit, ist es in der Tat vorbehalten, die Ergebnisse der Vergangenheit, der Ge- meinschaft aller Menschen und Zeiten in sicb aufzunehmen, zu wiirdigen und das alte Metall, das bereits gestaltete Material, um- zugieBen in neue zeitgemafie Formen und Bildungen. (Die Haupt- resultate sind bereits gegeben, denn es gibt vielleicht nichts Neues, jedenfalls nicht viel eigentlich Neues, nur wichtigere moderne Kom- binationen und neue entsprechende Anpassungen.)
Mittlerweile warten die hochsten und feinsten und umfassendsten Wahrbeiten der modernen Wissenschaft — wie auch die Demo- kratie — auf ihre wahre Aufgabe und die letzten lebendigen Licht- blitze durch grofie Metaphysiker und spekulative Philosophen, die die Fundamente und Grundlagen bauen fur jene neuen, umfassen- deren, harmoniscberen, melodischeren , freieren amerikanischen Dichtungen.
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Unser wirklicher Hohepunkt
Der Hohepunkt in der Entwicklung dieser groBen und viel- gestaltigen Republik wird in der Schaffung und dauerhaften Be- griindung von Millionen behaglicher Stadtheimstatten und maBig grofier Farmen bestehen, gesund und unabhangig, in abgesondertem Einzelbesitz mit Eigentumsrecht, wohlfeil versorgt mit allem, was man zum Leben braucht, und fiir alle erwerbbar. AuBergewohn- HcherReichtum,Prunk, zablloselndustrien, ein UbermaB von Export, Riesenkapitale und -kapitalisten, vollbesetzte Fiinf-Dollar-Hotels, kiinstlicher Komfort, ja selbst Biicher, Universitaten und das Wabl- recht — all das bildet an sich, in mancher Hinsicht (so hart es auch klingen mag, und scharf wie das Messer eines Chirurgen), mehr oder weniger eine Art antidemokratischer Krankheit und Ungeheuerlichkeit und scheint mir in der Hauptsache nur von Wert oder von Bedeutung zu sein, sofern es zu jenem Hohepunkt Beziehungen hat und auf seltsamen Umwegen dazu beitragt, da6 er erreicht wird.
In dem gewohnlichen Erdboden, in Getreide, Vieh, Luft, Baumen usw. und darin, dafi man a us erster Hand mit ihnen zu tun hat, liegt ein subtiles Etwas, das das einzige reinigende und dauernde Element fiir Individuen und Gesellschaft bildet. Ich mufi gestehen, es ware mein Wunsch, dafi in Amerika die Beschaftigung mit der Landwirtschaft aus erster Hand immer allgemeiner wiirde. Ihre Ertrage sind die einzigen, auf denen das Lacheln Gottes zu ruhen scheint. Welche anderen — welches Geschaft, welcher Profit und Reichtum ist ohne Makel? Welche Gliicksgiiter sonst sind nicht, in jedem Dollar, mehr oder weniger Zeichen und Frucht von Betrug, Luge, Unnatur?
AUS WNOVEMBERZWEIGE« UND ,,ADE, PHANTASIE"
Die Arbeitslosen- und Streikfrage
Zwei grimmige und gespenstische Gefahren — gefahrlich fur Frieden, Gesundheit, Fortschritt und soziale Sicherheit, den Regierungen der Alien Welt langst leibhaftig bekannt, denn sie spielten dort mehr als einmal bei dynastischen Umstiirzen, Blut- badern, in Tagen und Monaten des Schreckens eine Rolle, — scheinen sich seit einigen Jabren der Neuen Welt zu nahern, ja sich allmahlich bei uns einzunisten. Was wollen diese Pbantome bier? (Icb personifiziere sie in dichteriscber Form, aber sie sind sehr real.) Soil das frische und weite Gebiet Amerikas ihnen aucb Standort und Herberge und dauernden Wohnsitz geben?
Was im Untergrunde der ganzen politiscben Welt beute am meisten drangt und verwirrt und die wichtigsten Folgen fur die Zukunft bat, ist nicbt die abstrakte Frage der Demokratie, sondern die Frage sozialer und vvirtscbaftlicher Organisation, die Behand- lung der Arbeiter durch die Arbeitgeber und alles, was bier her- einspielt -- nicht nur die Lohnfrage, sondern ein gewisser Geist und ein gewisses Prinzip, wodurch die Verbaltnisse neu belebt werden miissen — , alle die Fragen von Fortschritt, Leistungsfahig- keit, Tarif, Finanzen usw., die in Wirklichkeit mebr oder weniger direkt aus der Armutsfrage hervorgehen. Ich will zunachst den Leser auf einen Gedanken iiber diese Angelegenheit aufmerksam machen, der ihm bisher vielleicbt noch nicht zum Bewufhsein ge- kommen ist: — Der Reicbttim der zivilisierten Welt im Gegensatz zu ihrer Armut — woraus ist er berzuleiten? und was stellt er
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dar? Ein Reicher sollte eigentlich einen guten Magen haben. Wie in Europa der Reichtum von heute in der Hauptsache das Ergebnis und die Frucht ist von Raub, Mord, Gewalttat, Verrat, Habgier vergangener Jabrhunderte und immer so fort, so auch in Amerika, unter demselben Zeicben — (vielleicht noch nicbt so schlimm oder wenigstens nicht so fiiblbar; — wir existieren noch nicht lange genug, aber wir tun offenbar alles, um Europas Vorsprung einzuholen).
So seltsam es klingt, gerade in den sogenannten armlicbsten, niedrigsten Gharakteren wird man zuweilen, nein gewohnlich, Lichtseiten erhabenster Tugenden, Begabungen, Heroismen finden. Es ist also zweifelhaft, ob der Staat in den langen, einformigen Zeiten der Entwicklung oder in furchtbaren besonderen Krisen nur durcb seine guten Burger erbalten wird. Wenn der Sturm am todlichsten und die Rrankbeit am drohendsten ist, kommt die Hilfe oft aus merkwiirdigen Gegenden — (man erinnere sicb an den homoopathischen Spruch : „ Heile den Bifi mit einem Haar vom selben Hund") . . .
Wenn aucb die Vereinigten Staaten, ebenso wie die Lander der Alten Welt, groBe Massen von Armen, Verzweifelten, Unzufriede- nen, Heimatlosen, Scblechtbezahlten bervorbringen sollten, wie es uns seit einigen Jabren zu drohen scheint, die stetig, wenn aucb langsam, sich in sie hineinfressen wie ein Krebs in Magen und Lungen, — dann ist unser republikanisches Experiment trotz all seiner aufieren Erfolge im Kern nicht lebensfahig und ein Fiasko.
Februar 1879.
Ich sab heute ein Bild, das ich noch nie zuvor geseben habe, und es bestiirzte mich und machte mich ernst. Drei recht statt- liche amerikanische Manner von ehrbarer Erscheinung, zwei da von jung, trugen Lumpensacke auf den Schultern und die iiblichen langen Eisenhaken in den Handen und trotteten die StraGe entlang, die Augen auf den Boden gerichtet, um nach Brocken, Lumpen, Knochen usw. zu spahen.
Wer bekommt die Beute?
Die Protektionisten blenden die Augen des Publikums gern mit der glanzenden Vorspiegelung grofier Einkiinfte aus Industrie,
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Bergbau, kiinstlich hochgetriebenem Export: so viele Millionen aus dieser Quelle und so viele aus jener, — welch verfiihrerisches, un- widerlegliches Lockbild: ein ungeheurer jahrlicher Barertrag aus Eisen-, Baumwoll-, Woll-, Lederwaren und hundert anderen Dingen, alles aufgepappelt durch ,,Schutzzoll" ! Aber der wirklich wir.htige Punkt bei all dem ist: in wessen Tascben flieBt diese Beute eigentlich? Es wiirde einige Entschuldigung und Befriedigung gewahren, wenn aucb nur ein angemessener Teil den Arbeitermassen zugute kame, — wenn daraus Heimstatten fiir Manner, Frauen und Kinder entstiinden, Myriaden wirklicher Heimstatten mit Eigentuinsrecht in jedem Staat, — nicht das tau- scbende Gescbrei von dem erstaunlicben Reichtum, wie er in Zen- sur, Statistik und Zeitungslisten prangt, sondern eine ehrliche Ver- teilung und ein anstandiger Durchschnitt fiir Arbeiter und Arbei- terinnen: — das ware etwas. In Wahrheit ist es aber ganz anders. Den Profit vom ,,Schutzzollw baben nur ein paar Dutzend Bevor- zugte, die durcb Protektion von KongreB, Landtag, Banken und durch andere Sondervorteile eine vulgare Aristokratie bilden, genau so schlimm wie die englischen und kontinentalen Adelskasten oder Dynastien der Vergangenheit. Wie Sismondi gezeigt hat, besteht das wahre Gedeihen eines Volkes nicht in dem groBen Reichtum einer einzelnen Klasse, sondern kann nur vervvirklicht werden, wenn die groBe Masse des Volkes mit Heimstatten und Land ver- sorgt wird, an denen es Eigentumsrecht hat. Das mag nicht das glanzendste Schauspiel sein, aber es ist die beste Wirklichkeit.
Fiihrer aus dem wirklichen Volk
. . . Keine Gemeinschaft von Mannern ist fahig, Prasidenten, Richter und Heerfiihrer zu ernennen, wenn sie nicht aus sich selbst heraus die besten Muster hervorbringen kann; und bringt sie ein oder zwei solcher Muster hervor, so ist die ganze Gemeinschaft dadurch auf tausend Jahre ausgezeichnet. Ich hoffe eine Zeit zu erleben, wo alles, was so aussieht, wie unser jetziges Personal von Regierungsbeamten, — Unions-, Staats-, Stadt-, Militar- und Marine- beamten, — nur noch zum Gespott dient, und wo bewahrte Hand- werker und junge Manner in den KongreB und zu anderen amt- lichen Stellungen beruten werden, im Arbeitsanzug, frisch von
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Hobelbank und Werkzeug weg, wohin sie wieder in Ehren zuriick- kehren. Die jungen Manner miissen sich darauf vorbereiten,' einer solchen Bestimmung Ebre zu machen, denn das Zeug dazu haben sie. Nichts anderem, das bedenke man, gebiihrt je der Vorrang, als blanker Uberlegenheit.
In den Handwerkern und jungen Mannern Amerikas steckt gegenwartig mehr raube und unentwickelte Tiichtigkeit, Kamerad- schaftsgefiibl, Pflichttreue, klarer Blick und praktische Begabung fur jede Art von Tatigkeit, selbst die hochste und umfassendste, als unter all unseren Staatsbeamten in Legislative, Exekutive, Rechtsprechung, Heer und Flotte und aucb mehr, als unter alien literarischen Persbnlichkeiten. Es ware mir eine grofie Freude, wenn icb irgendeinen beroischen, klugen, wohlunterricbteten, ge- sunden, bartigen amerikanischen Grobschmied oder Schiffer mittle- ren Alters seben wiirde, der vom Westen her iiber die Alleghanies kame und die Prasidentschaft antrate, mit einem reinlichen Arbeitsanzug bekleidet, Gesicht, Brust und Arme gebraunt. Ich wiirde sicher einem solchen Manne, der die erforderlichen Eigen- schaften besafie, vor jedem anderen Kandidaten meine Stimme geben.
Dafi Arbeiter und Handwerker von ihrem Beruf weg — Lincoln, Johnson, Grant, Garfield — aus den Massen emporgehoben wur- den, die Prasidentschaft iibernahmen und die gewaltige Macht des Amtes mit fester Hand ausiibten, tatsachlich mit grofierer Kraft und Tiichtigkeit als irgendein Konig der Geschichte: — erkennen wir nicht, dafi diese Tatsachen eine Bedeutung haben, weit, weit iiber politische und Parteiinteressen hinaus?
Letzte Aufzeichnungen
Auf ihrer hochsten Warte und in ihren erhabensten Schopfungen ist echte Poesie der Ausdruck und die Begleiterscheinung echter Religion, — war und ist eine bessere Helferin wahrer Religion und hat sie mehr gefordert (es gibt natiirlich auch eine falsche, und mehr als genug) als alle Priester urid Glaubensbekenntnisse und Kirchen, die heute existieren oder jemals existiert haben, — trotzdem die heutzutage herrschende Theorie und Praxis der Poesie ganz ein- seitig und nur ornamental und elegant ist, — ein Liebesseufzer, ein
Juwel, eine feudalistisclie Liebhaberei, eine geistreich ersonnene Geschichte oder eine intellektuelle Finesse, angepafh dem niedrigen Gescbmack und Maftstab, der immer so ziernlich allgemein gelten \vird — (notwendige Vorstufe zu etwas Hoherem).
Alle die Sekten, Kirchen und Doktrinen, Tollheiten, Verbrechen, Fanatismus der Masse und der Einzelnen, so haufig in aller Ge- schicbte, sind in ihrer Art ebenfalls Beweise von der Urspriinglich- keit und Allgemeinheit des unzerstorbaren Elementes menscblicher Religiositat und sind nur die Kehrseite davon. Genau so wie Krarikheit der Beweis der Gesundheit und ihre Kebrseite ist . . . Die Philosophic Griechenlands lehrte die Natiirlichkeit und Schon- heit des Lebens. Das Christentum lehrt Krankheit und Tod er- dulden. Ich babe mich besonnen, ob sich nicbt eine dritte Philo- sophic entwerfen lieCe, die beide verschmelzen und beiden vollig gerecht werden wiirde.
Die Natur schien mich lange Zeit zu gebrauchen, — als ich selbst gesund, tiichtig, stark und gliicklich war, — damit ich Kraft, Frei- heit, Gesundheit darstelle. Seit einiger Zeit aber scheint sie zu glauben, ich konne das alles vielleicht besser sehen und verstehen, wenn ich dessen groBtenteils beraubt ware
Wie schwierig ist es, die Literatur mit irgend etwas Neuem zu bereichern — und wie unbefriedigend fur einen ernsten Geist, nur dem Vergniigen der Menge zu dienen! (Es scheint mir sogar, sagte H. Heine, erfrischender, etwas Schlechtes zu vollbringen, als etwas Nichtiges.)
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Der Hochste sagte: LaB uns nicht so weit unten beginnen, — ist unser Grund nicht zu rauh, zu grob? - - Die Seele antwortete: Nein, nicht, wenn wir bedenken, wozu das alles dient, — das Ziel, in Raum und Zeit verborgen.
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Im Grunde sind meine Veroffentlichungen, alle meine Werke, zweifellos nur Stegreifaufierungen spontaner Personlichkeit, blind- lings dem unerforschlichen Rufe folgend, von dieser Personlichkeit beherrscht — nur undeutlich, doch entschieden — und fast ohne alle Planmafiigkeit, Kunst, Bildung usw. Wenn ich mich ent- schlossen babe, die Ziigel, die Leitung in der Hand zu behalten, so geschah es hauptsachlich, um den unsichtbaren Rosseii die Richtung, den Antrieb, den Weg zu geben. (Ich wollte sehen, wie ein Mensch in Amerika in der letzten Halfte des 19. Jahrhunderts erscheinen wiirde, aber ganz frei und ehrlich, in wahrhaftigem Abbild.)
IN HALT
Einleitung . IX
Vorbemerkung i
Vorrede zur Erstausgabe der ,,Grashalmea 3
Demokratische Ausblicke 20
Tagebucb 1862—1864 . . . . . • 88
Tagebuch 1876—1882 100
Gesammeltes
Aus der Vorrede zu: »Wie ein starker Vogel auf
Schwingen frei" 1 56
Eine Notiz auf gut Gliick 1 58
Emersons Werke (ihre Schatten) 162
Neue Poesie — Kalifornien, Kanada, Texas 1 65
Darwinismus — dann Weiteres 168
Dann Weiteres 169
Unser wirklicber Hobepunkt 170
Aus ,,Novemberzweige" und ,,Ade, Pbantasie"
Die Arbeitslosen- und Streikfrage 171
Wer bekommt die Beute 172
Fiihrer aus dem wirklicben Volk . . 178
Letzte Aufzeichriungen 174
Druck tier Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig
PS 3205
Whitman, Walt Werk
Bd.l
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IV
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