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Zeitschrift

für die

Behandlung Sehwachsinniger und Kpllepüscher.

Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen herausgegeben von

Stadtrat Dir. W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. I cermuli;

Dresden-Streblen. Specialarzt für- Sgr yonitank hiter A u. in eg ° a

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XVII. am) Jahrgang 1901.

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Kommissionsverlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. Druck von Johannes Pässler in Dresden.

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ARTOR, LENO^ AND

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. Bedeutung der Hilfsschulen in pide

Inhaltsverzeichnis.

A. Aufsätze. Seite

. An den Vorstand der Konferenz in

Elberfeld . 115

gogischer und volkswirtsphaftlicher j Hinsicht (Hanke).

Hilfsschulen Deutschlands (Weniger) 73

. Bericht über die X. Konferenz für das

Idiotenwesen . 185. 201

. Das Diensteinkommen der Lehrer und

Lehrerinnen. $ 11 des Gesetzes vom 3.März1897(J.W.Busch.E. Arnold) 75

6. Das Hilfslesebuch (Ehrig) . 165

7. Die Bedeutung des bürgerlichen Gesetz-

buches für Schwachsinnige und Epi- leptische (Dr. W. Weygandt) . 35. 49

8. Die Beschäftigung der Schwachsinnigen (Bernhard). . . . 209

9. Die Bestrebungen für die Bildung und

Erziehung schwachsinniger Kinder in Italien (K. Richter) . 119. 145

10. Die Bildung des Gemütslebens bei den Schwachsinnigen h 15

1l. Die ideale Seite der Tdiotenpflege (Herberich) . 187

12. Die Idiotenanstalten u. d. Hilfsschulen, eine Grenzregulierung (Barthold) . 201

13. Die X. Konferenz für das Idioten- wesen . 33. 12. 113

14. Die Organisation der Hilfsschulen (Kielhorn) . . 99

15. Die Selbastthätigkeit der Schulen beim

Unterrichte abnormer Kinder (Rie- mann). . . 193

16. Die Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger (Weniger) 62

17. Ein Pionier auf dem Gebiete der Für-

sorge für Schwachsinnige (Dr. La nden- berger) è . . 6. 105. 137. 169 18. Ernst Heinrich Stötzner (W. S.) . 198

Ä g . Bericht über den III. Vorbaidatar i De

19.

20.

Seite Heilung eines Falles von epileptischem Irresein . . . re A9 Ministerial-Erlass vom 20. Sept. 1895 22

21. Sinnes- und Sprechübungen in der z. Hälfsschule (F. Loeper) . . l 22, l ÜBer den Schwachsinn (Dr. Müller) 96 23. Zu der neuen Anweisung in Privat- anstalten . 154 B. Mitteilungen. l. Amerika (Epileptikerfürsorge) . 182 2. Augsburg (III. Verbandstag d. Hilfs- schulen Deutschlands) . . . 25 3. Berlin (Ministerieller Erlass) . . 110 4. Dalldorf (Idiotenanstalt) . 215 5. Dresden (E. Förster f) . . 215 6. j (Nachhilfeschulen) 66 7. ~ (Neust. Schwachsinnigen- schule . . . Be . 141 8. Elberfeld (Schalöinriehtungen). . 180 9. Freiburg, Schl. N) Pflegeanstalt) er Be ` 68 10. Gotha (Hotädän- Maitg Stiflurg) PR 1w ll. Hamburg (Alstersdorfor- Anstulfen . 142 - 12. (i (Hilfesöhulbk): :,. Yen. 26 13. Leipzig (Christdeschornng,. ~ tisch, Milchsperde% > -4 en 43 14. Leipzig (Sprechtäntetricht) 5 . 200 15. Mühlhausen i. Th. (Hilfsschule) . 143 ls. Niederösterreich (Öffentl. Für- sorge für epileptische Kinder) . . 181 17. Roda S.-A. (Martinshaus) . 181 18. Sachsen (Unterbringung Schwach- sinniger) . s a yal 19. Schweiz (III. Beh wälzerläche Konferen 1 82 20. Schwelm (Hilfsschule) . 68 21. Stolp i. P. (Hilfsschule) 69 22. Zürich (Albert Fisler }). 28 23. i (Personalien) 182 24. K (Schweizerische Konferenz) . 29

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Behandlung Schwachsinnieer und Kpilepüscher.

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Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Arzten und Pädagogen herausgegeben von

Stadtrat Dir. W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H, A. SENDETEIUN:

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Kommissionsverlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. Druck von Johannes Pässler in Dresilen.

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ARTOR, LENO^ AND TILDEN FQUNDATIONG. R 1903 L.

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

18.

. Das Hilfslesebuch (Ehrig) . Die Bedeutung des bürgerlichen Gesetz-

Inhaltsverzeichnis.

A. Aufsätze. Seite

‚An den Vorstand der Konferenz in

Elberfeld . 115

. Bedeutung der Hilfsschulen in "päda-

gogischer und volkswirtsehaftlicher Hinsicht (Hanke).

. Bericht über den III. Vorbandalsg der‘

Hilfsschulen Deutschlands (Weniger) 73

. Bericht über die X. Konferenz für das

Idiotenwesen . 185. 201

. Das Diensteinkommen der Lehrer und

Lehrerinnen. $ 11 des Gesetzes vom 3.März1897(J.W.Busch.E.Arnold) 75 . 165

buches für Schwachsinnige und Epi- leptische (Dr. W. Weygandt) . 35. 49

. Die Beschäftigung der Schwachsinnigen

(Bernhard). . 209

. Die Bestrebungen für die Bildung und

Erziehung schwachsinniger Kinder in Italien (K. Richter) . 119. 145 Die Bildung des Gemütslebens bei den Schwachsinnigen s

Die ideale Seite der Tdiotenpflege (Herberich) . 187 Die Idiotenanstalten u. d. Hilfsschulen, eine Grenzregulierung (Barthold) . Die X. Konferenz für das Idioten- wesen 20. 33. 12. 113 Die Organisation der Hilfsschulen (Kielhorn) . .

Die Selbatthätigkeit dar Schulen heim Unterrichte abnormer Kinder (Rie- mann). . . 193 Die Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger (Weniger)

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. Ein Pionier auf dem Gebiete der Für-

sorge für Schwachsinnige (Dr. La nden- berger) . 86. 105. 137.

er! 169 Ernst Heinrich Stötzner (W. S.)

. 198

Seite

19. Heilung eines Falles von epileptischem Irresein . . . in. A9 20. Ministerial-Erlass vom 20. Sept. 1895 22 21. Sinnes- und Sprechübungen in der <. Hälfsschule (F. Loeper) . . 1 22. Üfe er len Schwachsinn (Dr. Müller) 96 23. Zu der neuen Anweisung in Privat- anstalten . 154 B. Mitteilungen. l. Amerika (Epileptikerfürsorge) . 182 2. Augsburg (III. Verbandstag d. Hilfs- schulen Deutschlands) ; . 25 3. Berlin (Ministerieller Erlass) . . 110 4. Dalldorf (Idiotenanstalt) . 215 ö. Dresden (E. Förster t). . 215 6. z (Nachhilfeschulen) 66 7. j (Neust. Schwachsinnigen- schule hed TE . 141 8. Elberfeld (Schuleinrichtungen) . . 180 9

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. Fröhlich, J., Dr.,

. Hohmann,

. Michels, K., Die ee

C. Vermischtes.

; Idioten und das Strafgesetz ; . Sanitschar, der taubstummeWolfsknabe

D. Litteratur. Die Individualität vom allgemein-menschlichen und ärzt- lichen Standpunkte

. Giese, J. u. Loeper E., Rechenbuch

in 4 Heften Die Grundlinien des Seelenlebens

. Laquer, L., Dr., Die Hilfsschule, ihre

ärztliche und orale Bedeutung .

Minderwertigkeiten .

ef

Seite | Seito 29 ° 6. Missalek, W., Rechtschreibefibel 30 nach phonetischen Grundsätzen 71 7. Möbius, P., Dr., Über den phy- siologischen Schwachsinn des Weibes 48 8. Piper u. Kelemann, Schulhygiene- Hefte . .. 48 .184 | 9. Schumann, W.. Die Grundzüge ds pädagogischen Pathologie . . . . I88 . 111 | 10. Stim pfl, J., Dr., Der Wert der Kinder- psychologie für den Lehrer. . . . 188 . 144 | 11. Wintermann, A., Die Hilfsschule in Bremen . . 143 31 Briefkasten 32. 72. 112. 144. 184. 216 . 183

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Behandlung Sehwachsinnioer und Epilentischer.

Organ der Konferenz für ' das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitătsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Speziala Dresden - Strehler, für Noresnkrankieiten Residenzstrasse 27. In Stuttgart. Erscheint jährlich in 12 Nummern von | Zu beziehen durch alle Buchhandlungen

mindestens einem Bogen. Anzeigen für und Postämter, wie auch direkt von der die gespaltene Petitzelle 25 Pfg. Litte- Februar 1901. : Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, rarische Beilagen 6 Mark. | | einzelne Nummer 80 Pfg.

Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

Sinnes- und Sprechübungen (Unterscheidungsübungen) in der Hilfsschule. F. Loeper, Rektor der städt. „Hilfsschule‘‘ Barmen.

Die schwachbegabten Kinder, die der Hilfsschule überwiesen werden, kommen in diese mit meist ungeübten Sinnen und mangelhafter Sprache. Während normal begabte Kinder vor ihrer Schulzeit im Hause, auf der Strasse, in Feld und Wald allerlei gehört, gesehen, gerochen, geschmeckt, gefühlt haben und diese Sinnesempfindungen auch richtig zu benennen wissen, sind unsere Schüler an den sie umgebenden Dingen und Erscheinungen mit stumpfen Sinnen vorüber- gegangen, so dass sie deren Eigenschaften nicht gemerkt und infolgdessen auch ihre sprachliche Bezeichnung nicht kennen gelernt haben. Diese Kinder müssen deshalb erst unterrichtsfähig gemacht werden durch einen vorbereitenden Unter- richt, wodurch dann ihre Sinne geübt, ihre Sprache entwickelt wird. Denn Kinder, die nichts gesehen und gehört haben, die nicht sprechen können, kann man nur äusserst mühsam unterrichten. Einer solchen Vorbereitung sollen die folgenden Lektionen dienen.

Lektion I.

Der Lehrer setzt sich mit den Schülern an einen grossen Tisch, auf dem Büchsen, Flaschen etc. stehen.

L.*) Was ist das? Sch. Eine Flasche, Dose, Büchse. L. (macht die Dose a) Ist etwas in der Dose? Sch. Nein. L. Wie sagt man, wenn nichts in der

. Selbstverständlich werden beim Unterrichte oft Fagod und Antworten in anderer Folge eintreten, aber der Übersichtlichkeit halber sei hier nur der ungefähre Gang angedeutet.

2 Dose ist? Sch. Sie ist leer. L. Hier ist eine andere Dose. (Er macht sie auf.) Ist diese Dose auch leer? Sch. Nein, diese ist voll. (Dasselbe mit 2 Fläschchen, wobei die Begriffe leer und voll gewonnen werden.) L. (zeigt einen belaubten Zweig). Dies habe ich auf dem Schulhofe von einem Baume abgeschnitten. Was ist das? Sch. Das ist ein Zweig. L. Wie nennt ihr das Grüne hier an dem Zweige? Sch. Blätter. L. Was hat der Zweig also? Sch. Der Zweig hat Blätter. L. Wie sehen die Blätter aus? Sch. Grün. L. (zeigt eine grüne Farbentafel). Wie sieht die Tafel aus? Sch. Grün. L. Zeigt eine Hand voll Gras. Welche Farbe hat das Gras? Sch. Das Gras ist grün. Ch. wiederholt. L. Was für Blätter bat der Zweig? Sch. Der Zweig hat grüne Blätter. (Im Chor wiederholen) L. (hat alle Blätter bis auf eins entfernt). Hat der Zweig jetzt auch noch Blätter? Sch. Nein, er hat nur ein Blatt. L. (streift auch das letzte Blatt ab). Jetzt hat der Zweig gar keine Blätter mehr. Wie ist er jetzt? Sch. Leer. L. So sagt man, wenn in der Dose oder in der Flasche nichts mehr drin ist, aber wenn am Zweige nichts mehr dran ist, dann sagt man: er ist kahl. Wie ist der Zweig jetzt? Sch. Der Zweig ist kahl Ch. Der Zweig ist kahl. L. Im Sommer sind die Zweige der Bäume ganz voll Blätter; diese fallen im Herbste ab, und wenn dann der Winter kommt, haben sie keine Blätter mehr. Wie sind die Bäume im Winter? Sch. Kahl. Ch. wieder- holt. L. Wie nennt ihr einen Menschen, der keine Haare mehr auf dem Kopfe bat? Sch. Kahlkopf. L. (nimmt wieder die volle Dose). Nun wollen wir doch einmal sehen, was in dieser Dose ist? Was meint ihr wohl? Sch. (raten hin und her). L. Nehmt einmal etwas zwischen die Finger und schmeckt. Wie fühlt es sich an? Sch. Weich. L. Welche Farbe hat es? Sch. Es ist weiss. L. Wie schmeckt es? Sch. Es schmeckt wie Mehl. L. Man sagt dann: es schmeckt mehlig. Nun, was wird es dann wohl sein? Sch. Es ist Mehl. L. Wie ist das Mehl? Sch. Das Mehl ist weich, weiss und mehlig. Ch. wieder- holt. L. Hier habe ich eine andere Dose. (Er öffnet sie.) Ob das auch Mehl ist? Sch. (raten). L. Nun nehmt einmal wieder etwas zwischen die Finger und schmeckt. Welche Farbe hat es? Sch. Weiss. L. Weiss wie das Mehl; aber fühlt es sich auch so an? Sch. Nein, es fühlt sich hart an. L. Und schmeckt es wie Mehl? Sch. Nein, es schmeckt süss. L. Was mag es wohl sein? Sch. Zucker. L. Ja, es ist Stampfzucker, (er zeigt ein vierkantiges Stück Kaffeezucker) aber was mag das sein? Sch. Das ist auch Zucker. L. Fühlt und schmeckt einmal! Wie fühlt sich der Zucker an? Sch. Hart. L. Wie schmeckt er? Sch. Süss. L. Wie ist der Zucker also? Sch. Der Zucker ist weiss, hart und schmeckt süss. Ch. wiederholte. L. Nun wollen wir einmal das Mehl mit dem Zucker vergleichen. Welche Farbe hat das Mehl? Sch. Das Mehl ist weiss. L. Und wie sieht der Zucker aus? Sch. Er ist auch weiss. L. Wie sind also Mehl und Zucker? Sch. Mehl und Zucker sind weiss. Ch. wiederholt. L. Aber wie fühlt sich das Mehl an? Sch. Das Mehl ist weich. L. Wie ist der Zucker? Sch. Der Zucker ist hart. L. Also: Das Mehl ist weich, der Zucker ist hart. Ch. wiederholt. L. Wie schmeckt das Mehl? Sch. Mehlig. L. Wie schmeckt der Zucker? Sch. Der Zucker

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schmeckt süss. L. Also: Das Mehl schmeckt mebhlig, der Zucker süss. Ch. wiederholt: L. Nun wollen wir alles wiederholen, was wir gefunden haben: Mehl und Zucker sind weiss; aber das Mehl ist weich, der Zucker ist hart; das Mehl schmeckt mehlig, der Zucker schmeckt süss. Sch. wiederholen (mit Hilfe). L. Wisst ihr auch, was die Mutter aus dem Mehl macht? Sch. Sie backt Kuchen daraus. L. Und der Bäcker backt Brot daraus. Was kann man also aus dem Mehl machen backen? Sch. Aus dem Mehl backt man Brot und Kuchen. L. (lässt die Kinder aus einem Glase Wasser trinken). Was ist in dem Glase? Sch. Wasser. L. (wirft einen Theelöffel voll Stampfzucker in das Wasser und rührt um). Könnt ihr den Zucker jetzt noch sehen? Sch. Nein. L. Wo ist er denn geblieben? Sch. Er ist zergangen ist geschmolzen. L. Zucker schmilzt im Wasser. Schmeckt jetzt einmal! (Die Kinder schmecken.) Wie schmeckt das Wasser jetzt? Sch. Das Wasser schmeckt süss. L. Wer hat das Wasser süss gemacht? Sch. Der Lehrer. L. (schüttelt mit dem Kopfe und zeigt ein Stück Zucker. Sch. Der Zucker. L. (zeigt den Kindern eine Tasse mit Kaffee). Was ist das wohl? Schmeckt einmal! Sch. Das ist Kaffee. L. (wirft ein vierkantiges Stück Zucker in die Tasse und rührt um). Nun hole einmal das Stück Zucker mit dem Löffel wieder heraus. Sch. Es ist keiner mehr drin. L. Wo ist der Zucker geblieben? Sch. Er ist geschmolzen. L. Der Zucker schmilzt im Kaffe. Wo schmilzt er noch? Sch. Im Wasser. L. Der Zucker schmilzt im Wasser und Kaffee. Sch. wiederholen. L. Wie wird der Kaffee durch den Zucker? Sch. Süss. L. Wie macht der Zucker das Wasser? Sch. Auch süss. L. Der Zucker macht das Wasser und den Kaffee süss. Sch. wiederholen. L. Der Zucker schmilzt im Wasser und im Kaffee und macht beide süss. Sch. wieder- holen. L. Der Zucker schmeckt süss. Es giebt aber noch andere Sachen, die auch süss schmecken. Nennt mir welche. (Wenn die Schüler mit der Antwort zögern, zeigt der Lehrer süss schmeckende Dinge und lässt schmecken, dann kommen sie auf den „Geschmack“.) Sch. Süss schmecken: Zucker, Honig, Milch, Klümpchen, Pfefferminzkügelchen, Birnen, Weintrauben. L. Trinkt ihr lieber Kaffee mit Zucker oder ohne Zucker? Sch. Mit Zucker. L. Das glaube ich. Ich trinke auch gern süssen Kaffee. Jetzt geht nach Hause und sagt eurer Mutter, ihr wäret heute recht fleissig gewesen, nun solle sie euch aber auch dafür eine Tasse süssen Kaffee geben. Oder: Weil ihr heute so schön aufgepasst habt, soll auch jeder von euch ein Klümpchen (Bonbon) haben.

Lektion II.

Ziel: Gewinnung der Begriffe: salzig, (nüchtern, fade) sauer, bitter (süss) pfeffrig.

Lehrmittel: Kochsalz, Citrone, saurer Apfel, schwarzer Kaffee, bittere Mandeln, bittere Medizin, Pfeffer.

L. (zeigt eine geöffnete Dose mit Kochsalz). Was mag wohl in dieser Dose sein? Sch. (raten). L. Es sieht aus wie Stampfzucker. Nehmt einmal etwas zwischen die Finger und schmeckt. Ist es Stampfzucker? Was wird es

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wohl sein? Sch. Salz. L. Wie schmeckt es? Sch. Salzig. L. Welche Farbe hat das Salz? Sch. Das Salz sieht weiss aus. L. Wie fühlt es sich an? Sch. Hart. L. (lässt die Kinder aus einem Glase Wasser trinken). Was ist das? Sch. Das ist Wasser. L. (wirft einen Theelöffel voll Salz ins Glas und rührt um). Könnt ihr das Salz noch sehen? Sch. Nein, es ist geschmolzen. L. Was thut also das Salz im Wasser? Sch. Das Salz schmilzt im Wasser. L. Schmeckt das Wasser jetzt einmal. Wie schmeckt es? Sch. Das Wasser schmeckt salzig. L. Wie macht also das Salz das Wasser? Sch. Das Salz macht das Wasser salzig. Ch. wiederholt. L. Der Zucker schmolz auch im Wasser, aber wie macht der Zucker das Wasser? Sch. Der Zucker macht das Wasser süss. L. Nun wollen wir einmal Zucker und Salz miteinander vergleichen. Wie sehen beide aus? Sch. Zucker und Salz sind weiss. Ch. wiederholt. L. Wie fühlen sich beide au? Sch. Beide sind hart, oder: Zucker und Salz sind hart. L. Was thun beide (Z. u. S.) im Wasser? Sch. Z. u. S. schmelzen im Wasser. Ch. wiederholt. L. Aber wie schmecken sie? Sch. Zucker schmeckt süss, Salz schmeckt salzig. Ch. wiederholt. L. Nun wollen wir wieder- holen, was wir gefunden haben. Zsfssg. Zucker und Salz sind weiss, fühlen sich hart an und schmelzen im Wasser; aber der Zucker schmeckt süss, das Salz schmeckt salzig. L. Mit dem Zucker macht die Mutter den Kaffee süss. Was macht die Mutter aber mit dem Salz? Sch. Das Salz thut .die Mutter in die Suppe. L. Wozu gebraucht die Mutter noch Salz? Sch. Zum ‚Salat (Kartoffelsalat), zum Gemüse. L. Wie schmeckt die Suppe, wenn kein Salz daran ist? Sch. Nüchtern, laff, fade (diese Ausdrücke müssen den Kindern event. gegeben werden). Ch. wiederholt. Wenn kein Salz an der Suppe ist, dann schmeckt sie nüchtern oder fade. L. Nun nennt mir Dinge, die recht salzig schmecken, (event. vorzeigen. Sch. Der Häring ist salzig. Die Butter ist salzig. Der Schinken ist salzig. L. Zucker und Salz sind hart. Nennt noch mehr harte Dinge. Sch. Der Stein, das Glas, das Holz, das Eisen, sind hart. L. Welche Farbe haben Mehl, Zucker und Salz? Sch. Mehl, Zucker und Salz sind weiss. L. Nennt noch mehr weisse Dinge. Sch. Kreide, Kalk, Schnee, Milch, Blüte u. s. w.

L. (zeigt eine Citrone). Was ist das? Sch. Das ist eine Citrone. L. Welche Farbe hat die Citrone? L. (zeigt eine gelbe Farbentafel). Wie sieht diese Tafel aus? Sch. Gelb. L. Und dieses Taschentuch? Sch. Ist gelb. L. Wie ist die Citrone? Sch. Die Citrone ist gelb. Ch. wiederholt. I. Die Citrone wächst auf Bäumen, wie Äpfel und Birnen. Nun wollen wir sehen ob sie auch so schmeckt wie ein Apfel oder eine Birne. (Der L. schneidet einige Scheiben ab . und lässt schmecken.) Wie schmeckt die Citrone? Sch. Die Citrone schmeckt sauer. Ch. wiederholt. L. (zeigt einen Apfel oder Sauerampfer), Was ist das? Sch. Ein Apfel. L. Den kann man essen. Schmeckt einmal! Wie schmeckt er? Sch. Der Apfel schmeckt sauer. Ch. wiederholt. L. Sagt, ‚wie die Citrone und der Apfel schmecken. Sch. Die Citrone und der Apfel schmecken sauer. Ch. wiederholt. L. Nun wollen wir den Zucker und die Citrone miteinander vergleichen. L. Wie sieht der Zucker aus? Sch. Der Zucker ist

5 weiss. L. Aber die Citrone? Sch. Die Citrone ist gelb. L. Sagt, wie der Zucker und die Citrone aussehen. Sch. Der Zucker ist weiss, die Citrone ist gelb. Ch. wiederholt. L. Wie schmeckt der Zucker? Sch. Der Zucker schmeckt süss. L. Wie schmeckt die Citrone? Sch. Die Citrone schmeckt sauer. L. Sagt, wie der Zucker und die Citrone schmecken! Sch. Der Zucker schmeckt süss, die Citrone schmeckt sauer. Ch. wiederholt. Zsfssg. Der Zucker ist weiss, die Citrone ist gelb. Der Zucker ist süss, die Citrone ist sauer. L. Die Citrone und der Apfel sind sauer. Was ist noch sauer? Sch. Der Essig, der Sauerampfer sind sauer. L. Die Citrone ist gelb. Was ist noch gelb? Sch. Anna’s Schürze, der Postwagen, diese Blumen.

L. (zeigt den Kindern bittere Mandeln. Kennt ihr das? Sch. Das sind Mandeln. L. Schmeckt einmal! Wie schmecken sie? Sch. Die Mandeln schmecken bitter. Ch. wiederholt. L. Wenn eure Mutter Kuchen backt, dann gebraucht sie auch Mandeln, aber solche (zeigt süsse Mandeln). Schmeckt die einmal! Schmecken die auch bitter? Sch. Nein, die schmecken süss. L. Es giebt also bittere und süsse Mandeln. I. Welche esst ihr lieber? Sch. Die süssen. L. (zeigt eine Tasse mit starkem schwarzen Kaffe). Was (ist das)? mag das wohl sein? Sch. raten. L. Schmeckt einmal! Was ist in der Tasse? Sch. Kaffee. L. Wie schmeckt der Kaffee? Sch. Der Kaffee schmeckt bitter. L. Jetzt werfe ich ein Stück Zucker hinein und rühre um, trinkt jetzt einmal! Wie schmeckt der Kaffee jetzt? Sch. Jetzt schmeckt er süss. L. Wie schmeckte er vorhin? Sch. Bitter. L. Mögt ihr lieber süssen oder bittern Kaffee? Sch. Süssen. L. (zeigt ein Medizinfläschehen mit Medizin). Was mag wohl in diesem Fläschchen sein? Sch. Medizin. L. Leckt mal daran! Wie schmeckt sie? Sch. Die Medizin schmeckt bitter. L. Solche Medizin verschreibt der Arzt, wenn ihr krank seid, die müsst ihr dann einnehmen. Woher holt ihr die Medizin? Sch. Aus der Apotheke. L. Wer hat schon einmal Medizin ein- genommen?

L. (zeigt eine Dose mit gestossenem Pfeffer). Was ist wohl in dieser Dose? Riecht einmal! Schmeckt! Sch. Das ist Pfeffer. L. Wie schmeckt Pfeffer? Sch. Der Pfeffer schmeckt pfeffrig. L. Der Pfeffer sieht eigentlich so aus (zeigt die Körner). In dieser Dose ist gestampfter oder gemahlener Pfeffer. Wozu gebraucht die Mutter den Pfeffer? Sch. Wenn sie Salat (Kartoffelsalat, Gurkensalat) macht. L. Salz, Citrone, Essig, Zucker, Mandeln, Pfeffer machen die Speisen schmackhaft; man nennt sie Gewürze. Was ist das Salz etc.? Sch. Das Salz ist ein Gewürz.

Lektion III.

Ziel: Gewinnung der Begriffe: hart (fest); weich, flüssig. Wiederholung der Geschmacksempfindungen. Lehrmittel: Wasser, Milch, Stein, Holz, Butter, Schwamm.

L. (zeigt ein Glas mit Wasser). Was ist wohl in dem Glase? Sch. In dem Glase ist Wasser. L. (legt ein Geldstück ins Gefäss und giesst Wasser darauf). Könnt ihr das Geld sehen? Sch. Ja. L. Und doch ist Wasser darauf.

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Ihr könnt also durch das Wasser hindurch sehen bis auf den Grund. Wie ist das Wasser also? Sch. Das Wasser ist durchsichtig. (Der Ausdruck muss evtl. gegeben werden). Ch. wiederholt. L. Was mag wohl in diesem Fläschchen sein? Es sieht aus wie Wasser. Ob es Wasser ist? Schmeckt einmal! Sch. Das ist Essig. L. (macht mit dem Essig dasselbe Experiment, wie mit dem Wasser). Wie ist der Essig auch? Sch. Der Essig ist durchsichtig, L. (giebt einem Schüler ein Stück Glas in die Hand). Was ist das? Sch. Glas. L. Halte einmal das Glas vor die Augen und sieh hierher. Kannst du mich sehen? Sch. Ja. L. Du kannst also durch das Glas hindurch sehen. Wie ist das Glas? Sch. Das Glas ist durchsichtig. L. Wir können also durch Wasser, Essig, Glas hindurchsehen. Wie sind sie also? | Sch. Essig, Wasser, Glas sind durchsichtig. Ch. wiederholt. L. (hält den Schülern ein Brett vor die Augen. Kannst du mich sehen? Sch. Nein. L. Du kannst also nicht durch das Brett sehen? Sch. Nein. L. Es ist also nicht durchsichtig man sagt: undurch- sichtig. Wie ist das Brett? Sch. Das Brett ist undurchsichtig. L. Sieh einmal durch das Buch! Geht es? Wie ist das Buch? Sch. Das Buch ist undurch- sichtig. Ch. wiederholt. Zsfssg. Wein, Essig, Glassind durchsichtig; Bretter und Bücher sind undurchsichtig. L. (giesst einige Tropfen Wasser auf eine schiefe Ebene, ein Brett oder eine Tafel). Was thut das Wasser? Sch. Es läuft ab. Das Wasser läuft an der Tafel herab. L. Man sagt, es fliesst. Was thut das Wasser? Sch. Das Wasser fliesst. Ch. wiederholt. L. Ihr kennt doch die Wupper. In der Wupper ist viel Wasser, wenn ihr am Ufer steht oder auf einer Brücke, dann seht ihr auch, wie das Wasser fliesst. Darum heisst die Wupper ein Fluss und man sagt: Das Wasser ist flüssig. Wie ist das Wasser? Sch. Das Wasser ist flüssig. Ch. wiederholt. L. (macht mit dem Essig dasselbe Ex- periment). L. Wie ist der Essig auch? Sch. Der Essig ist auch flüssig. L. Wie sind Wasser und Essig? Sch. Wasser und Essig sind flüssig. Ch. wiederholt. L. Ist das Glas auch flüssig? Sch. Nein. L. Seht, ich muss mich tüchtig plagen, wenn ich ein Stück abmachen will. Wie ist das Glas? Sch. Hart. L. Man kann auch sagen fest. Das Glas ist hart oder fest, Sch. wiederholen. L. Wie ist das Brett? Sch. Fest. L. Vergleiche einmal Wasser und Glas! Sch. Wasser und Glas sind durchsichtig; aber das Wasser ist flüssig, das Glas ist fest. Ch. wiederholt. L. (zeigt ein Stückchen Butter. Was ist das wohl? Sch. (raten. L. Schmeckt einmal! Sch. Das ist Butter. L. Wie schmeckt sie? Sch. Gut, Salzig. L. Wie sieht sie aus? Sch. Gelb. L. Wie war die Citrone? Sch. Auch gelb. L. Tippt einmal mit dem Finger hinein! Ist die Butter flüssig? Sch. Nein. L. Ist sie hart, wie das Brett? Sch. Nein. L. Wie fühlt sich die Butter an? Sch. Die Butter ist weich. L. Wie war das Mehl? Sch. Auch weich. L. Was ist das? (zeigt einen Schwamm.) Sch. Das ist ein Schwamm. L. Seht, den Schwamm kann ich ganz zusammendrücken. Wie ist der Schwamm? (streicht jeise damit über die Wange eines Kindes.) Sch. Der Schwamm ist weich. L. Wie war das Glas? Sch. Fest. L. Wie ist die Butter? Sch. Weich. L. Wie ist das Wasser? Sch. Flüssig. Zsfssg. Das Glas ist hart oder

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fest; die Butter ist weich; das Wasser ist flüssig. L. (nimmt einen Schluck Wasser aus dem Glase). Was habe ich gethan? Sch. Sie haben ge- trunken. L. Das Wasser ist flüssig. Was flüssig ist, nennt man eine Flüssig- keit. Flüssigkeiten kann man trinken. L. Nennt Flüssigkeiten, die man trinken kann. Sch. Wasser, Essig, Milch, Bier, Wein, Kaffee, Thee, Limonade, Choko- lade u. s. w. L. Was man trinken kann, nennt man auch Getränk. Nennt mir noch einmal Getränke! Sch. wiederholen. L. Was trinkt ihr lieber: Essig oder Milch? Sch. Milch. L. Wie schmeckt der Essig? Sch. Sauer. L. Wie schmeckt die Milch? Sch. Süss. L. (zeigt ein Stück Zucker). Was ist das? Scb. Zucker. L. Wie schmeckt der auch? Sch. Süss. L. Also die Milch ist süss und der Zucker ist süss. Was ist aber sūsser? Sch. Der Zucker ist süsser als die Milch. L. Fühlt den Zucker an. Wie ist er? Sch. Hart (fest). L. Und die Milch? Sch. Flüssig. L. (zeigt ein Stück Brot). Was ist das? Sch. Brot. L. (beisst ein Stück ab und isst). Was thu’ ich? Sch. Sie essen. L. Ist das Brot flüssig? Sch. Nein. L. Weich? Sch. Nein. L. Nun, wie ist es denn? Sch. Hart oder fest. L. Für „essen“ sagt man auch „speisen“. Was man speisen kann ist „Speise“. Nennt mir feste Speisen! Sch. Brot, Fleisch, Kartoffeln Gemüse, Suppe L. Halt! Ist Gemüse auch eine feste Speise? Manches Gemüse lässt sich mit dem Löffel zusammendrücken. Wie ist es dann? Sch. Weich. L. Ja, weich wie Butter. Und nun gar die Suppe, die ist doch nicht fest. Wie ist die Suppe? Sch. Die Suppe ist flüssig. L. Wer von euch isst gern Salat? Habt ihr auch schon zugesehen, wie die Mutter Salat macht? Was muss sie dazu haben? (evtl. bereitet der Lehrer selbst vor den Augen der Schüler Salat. Sch. Salat, Essig, Öl, Pfeffer, Salz, Zucker, Zwiebeln. L. Wie haben wir doch Essig, Pfeffer, Salz, Zucker genannt? Sch. Gewürz. L. Auch die Zwiebeln sind ein Gewürz. Schmeckt einmal. Wie schmeckt die Zwiebel? Nicht wahr, sie beisst auf der Zunge, sie ist scharf. Sch. wieder- holen. L. Der Essig ist eine Flüssigkeit. Was ist das Öl? Sch. Auch eine Flüssigkeit. L. (lässt von dem Salat kosten). Wie schmeckt er? Nun geht nach Hause und sagt der Mutter, sie soll euch auch einen so schönen Salat machen.

Sinnesempfindungen und Sinnesorgane.

Lehrmittel: Wie in den vorigen Lektionen; ausserdem: Rose oder Nelke, Flöte oder Pfeife, Geige, Schelle, Mundharmonika u. s. w., Ball, Würfel u. s. w.

Lektion I. Gesicht.

L. Wie ist der Zucker? Sch. Süss, Weiss, Hart. L. Woher weisst du, dass der Zucker weiss ist? Sch. Ich kann es sehen. L. Ganz recht! Man kann daher auch sagen: „Wie sieht der Zucker aus? Nun Karl?“ Sch. Der Zucker sieht weiss aus. L. Womit kannst du es sehen? Sch. Mit den Augen. L. Wieviel Augen hast du? Sch. Ich habe zwei Augen. Chor: Wir haben .... L. Zeige deine Augen! Die Augen sind nicht an den Beinen, auch nicht auf dem Bauch, wo sind sie? Sch. Die Augen sind

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am Kopfe. Ch. wiederholt. L. Aber nicht hinten am Kopfe, sondern (fährt mit der Hand über das Gesicht) hier vorne. Was ist das? Sch. Das Gesicht. L. Man kann daher auch sagen: Die Augen sind im Gesicht. Zsfssg.: Ich sehe mit den Augen. Ich habe zwei Augen im Gesicht. L. Nun sollt ihr ein Verschen von den Augen lernen: „Zwei Augen hab’ ich klar und hell ete.“ L. Macht jetzt die Augen zu! oder: Schliesst die Augen! Könnt ihr mich sehen? Sch. Nein. L. Es giebt aber Kinder und grosse Leute, die können nicht sehen, wenn sie auch die Augen weit aufmachen (offen haben). Wie sind die? Sch. Die sind blind. L. Wie ist der, welcher nicht seben kann? Sch. Wer nicht blind. Ch. wiederholt. L. Wer nicht sehen kann, das ist ein Blinder. Habt ihr schon einen Blinden gesehen? Sch. (teilen ihre Beobachtungen mit). L. Die armen Blinden können nicht allein über die Strasse gehen, sondern müssen sich führen lassen; sie wissen nicht, wie der Zucker aussieht, wie das Gras aussieht. Nun, Gustav, wie sieht das Gras aus? Sch. Grün. L. Woher weisst du das? Sch. Ich kann es sehen. L. Wie bist du also nicht? Sch. Ich bin nicht blind. L. Danke dem lieben Gott, dass er dir zwei gute, gesunde Augen gegeben hat, womit du alles sehen kannst. Sage jetzt noch einmal das Verschen von den Augen. „Zwei Augen hab’ ich klar und hell, die dreh’n sich nach allen Seiten schnell, die seh’n alle Blümchen, Baum und Strauch und den hohen blauen Himmel auch. Die setzte der liebe Gott mir ein, und was ich kann sehen, ist alles sein.“

Lektion II. Geschmack.

L. Schliesst die Augen, öffnet den Mund (macht den Mund auf)! (giebt jedem Schüler etwas Stampfzucker auf die Zunge). Esst! Was habe ich euch da gegeben? Sch. Zucker. L. Habt ihr das gesehen? Sch. Nein. L. Woher wisst ihr denn, dass eg Zucker war, was ich euch gegeben habe? Sch. Ich habe es geschmeckt. L. Womit schmeckt ibr? Sch. Mit der Zunge. L. Auguste, zeige deine Zunge! Wo ist die Zunge? Sch. Die Zunge ist im Munde. Ch. wiederholt. L. Sage, womit du schmeckst und wo die Zunge ist! Zsfssg. Ich schmecke mit der Zunge Die Zunge ist im Munde. L. Wieviel Augen bast du? Sch. Zwei. L. Aber nur wieviel Zungen? Sch. Eine. L. Wir schmecken nicht bloss mit der Zunge, sondern mit dem ganzen Munde. Was uns gut schmeckt, das essen wir gerne. Wir gebrauchen aber den Mund nicht bloss zum Schmecken und Essen. Wozu gebrauchen wir ihn noch? Sch. Wir gebrauchen zum Sprechen. Ch. wiederholt. L. Sage mir jetzt, Klara, wozu wir den Mund gebrauchen. Zsfssg. Wir gebrauchen den Mund zum Schmecken, Essen und Sprechen. L. Einen Mund hat jeder Mensch, aber es giebt Menschen, die doch nicht sprechen können, die machen es nur so: (Der Lehrer giebt einige unartikulierte Laute Hottentottensprache von sich und gestikuliert dabei.) Kennt ihr solche? Wie sind diese Menschen? Sch. Stumm. L. Wer nicht sprechen (reden) kann, wie ist der? Sch. Wer nicht stumm! Ch. wiederholt. L. Kurt kann noch schlecht sprechen; er muss sich viel Mühe geben, dann wird er bald besser sprechen lernen! Nun sollt ihr zum

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Schluss noch ein Verschen lernen! „Einen Mund, einen Mund hab’ ich auch, davon weiss ich gar guten Gebrauch, kann nach so vielen Dingen fragen, kann alle meine Gedanken sagen, kann lachen und singen, kann beten und loben den lieben Gott im Himmel droben.“

Lektion III. Gefühl (Tastsinn).

L. Schliesst die Augen! (giebt den Schülern der Reihe nach einen Gummiball in die Hand.) Was ist das? Sch. Ein Schnappball. Augen auf! L. Habt ibr das gesehen? Sch. Nein. L. Nun, wie wisst ihr denn, dass es ein Ball war? Sch. Wir haben es gefühlt. L. Womit habt ihr das gefühlt? Sch. Mit der Hand. L. Hast du bloss eine Hand? Sch. Nein, ich habe zwei Hände. L. Zähle einmal! (zeigt erst auf die eine, dann auf die andere Hand.) Sch. Eins Zwei. L. In welche Hand nimmst du den Griffel, wenn du schreiben willst? Sch. (zeigt). In diese. L. Das ist deine rechte Hand. Wie nennst du die Hand? Sch. Das ist die rechte Hand. Ch. wiederholt. L. Wie heisst nun aber die andere Hand? Sch. Die linke Hand. (Muss eventl. gegeben werden.) L. Hebt alle die linke Hand in die Höhel sprecht: das ist die linke Hand! Ch. wiederholt. L. Was hat die Hand? (zeigt auf die Finger.) Sch. Die Hand hat Finger. oder: An der Hand sind Finger. L. Nun wollen wir sehen, wer die Finger an der rechten Hand zählen kann? Emil kann gut zählen. Zähle einmal! Sch. , -—, 3, 4, 5. L. Zāhlt alle! (Die Kinder fangen beim Daumen an und hören beim kleinen Finger auf.) Wieviel Finger babt ihr an der rechten Hand? Sch. Füuf. L. Wieviel Finger habt ihr also an jeder Hand? Sch. Wir haben an jeder Hand 5 Finger. Ch. wiederholt. L. Ihr hattet vorhin die Augen zugemacht und wusstet doch, dass ich euch einen Ball in die Hand gegeben hatte. Woher wusstet ihr das? Sch. Wir haben es gefühlt. L. Womit? Sch. Mit der Hand. L. Ja, besonders mit den Fingern. Was können die Finger also? Sch. Die Finger können fühlen. L. (fasst einen Gegenstand und hält ihn in die Höhe). Was können die Finger noch? Sch. Die Finger können greifen und anfassen. L. Die Mädchen spielen mit ihren Puppen; die Knaben spielen mit Heuern, Kreiseln etc. Wenn sie keine Finger hätten, könnten sie dann wohl spielen? Sch. Nein. L. Was können die Finger also? Sch. Die Finger können spielen. L. Ihr seid jetzt noch Kinder. Kinder dürfen spielen. Wenn ihr aber gross seid, wie der Vater und die Mutter, dann hört das Spielen auf, dann haben die Finger etwas anderes zu thun. Adele, was thut deine Mutter zu Hause? L. Kaffee- kochen, Kartoffelschälen u. s. w. ist Arbeit. Was thut die Mutter. Sch. Die Mutter arbeitet. L. Zum Arbeiten braucbt sie wieder die Finger. Was können also die Finger noch? Sch. Die Finger können arbeiten. L. Wenn ihr gross seid, müssen eure Finger auch arbeiten. Nun sagt mir alles, was ihr von den Händen und den Fingern wisst! Zsfssg. Wir haben 2 Hände, eine rechte Hand und eine linke Hand. An jeder Hand sind 5 Finger. Die Finger können fühlen, greifen und anfassen, spielen und*arbeiten.

L. Nun sollt ihr ein Verschen von den Händen und Fingern lernen;

BR.

„Hier eine Hand und da eine Hand, (Die Kinder zeigen erst auf die rechte Hand, dann auf die linke Hand.)

Die Rechte und die Linke sind sie genannt.

(Die Kinder heben erst die rechte Hand, dann die linke Hand kehi Fünf Finger an jeder,

(Die Finger spreitzen.) Die greifen und fassen.

~ (Die Kinder machen mit den Händen die Geberden des Greifens und Fassens.)

‚Jetzt. will ich sie nur noch spielen lassen, Doch wenn ich erst gross bin und was lerne, Dann arbeiten sie alle auch gar gerne“.

Lektion IV. Gefühl (Muskelsinn).

L. (legt vor jeden Schüler der Reihe nach einen grossen Würfel oder Stein und einen Gummiball). Was liegt vor dir? Sch. Ein Gummiball (Schnappball) und L. Das ist ein Würfel. Nun sage noch einmal, was vor dir liegt! Sch. Das ist und ein Würfel. L. Nimm den Würfel in die rechte Hand, den Ball in die linke! Nun vergleiche beide! Wie ist der Würfel? Wie ist der Ball? Sch. Der Würfel ist schwer, der Ball ist leicht. Ch. wiederholt. L. (legt einem Schüler ein Stückchen Papier in die eine, ein Messer in die andere Hand). Wie ist das Papier? Wie das Messer? Sch. Das Papier ist leicht, das Messer ist schwer. L. Woher weisst du das? Sch. Ich kann es fühlen L. (zeigt wieder den Ball). Was ist das? Sch. Das ist ein Ball. L. (hält einen zweiten ganz gleichen daneben). Wieviel sind es jetzt? Sch. Das sind 2 Bälle L. Der eine Ball sieht gerade so aus, wie der andere. Die Bälle sind gleich. L. Wie sind die Bälle? Sch. Die Bälle sind gleich. Ch. wiederholt. L. (macht dasselbe mit zwei Würfeln. L. (hält den Ball neben den Würfel). Sieht der Ball gerade so aus wie der Würfel? Sch. Nein. L. Sind Ball und Würfel gleich? Sch. Nein. L. Ball und Würfel sind ver- schieden. .Wie sind Ball und Würfel? Sch. Ball und Würfel sind ver- schieden. Ch. wiederholt. L. (dasselbe mit Papier und Messer). Ihr habt gesagt: Der Würfel ist schwer, der Ball ist leicht. Das ist eine Verschiedenheit oder ein Unterschied. Es giebt aber noch mehr Unterschiede. Seht, der Ball ist nur so hoch, der Würfel ist so hoch. Wie ist der Ball? Wie ist der Würfel? Sch. Der Ball ist klein, der Würfel ist gross. Ch. wiederholt. L. (stellt den kleinsten und den grössten Schüler nebeneinander). Sind Karl und Gustav gleich oder verschieden? Sch. Sie sind verschieden. L. Wie ist Karl? Wie ist Gustav? Sch. Karl ist gross. Gustav ist klein. L. (zeigt auf die Ecken und Kanten des Würfels.) Seht, hieran kann man sich stossen und weh thun. Das sind Ecken und Kanten. Was hat der Würfel? Sch. Der Würfel hat Ecken und Kanten. L. Man sagt: Der Würfel ist eckig und kantig. Wie ist der Würfel? Sch. Der Würfel ist eckig und kantig. Ch. wiederholt. L. Hat der Ball auch Ecken und Kanten? Sch. Nein. L: (fährt mit dem Zeigefinger rund um den Ball). Wie ist der Ball? Sch. Der Ball ist rund:

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Ch. wiederholt. L. Sagt, wie der Würfel und wie der Ball ist? Sch. Der Würfel ist eckig und kantig, der Ball ist rund. (Derselbe Vergleich zwischen einem Stein und einem Apfel.) L. Anna, drücke einmal den Ball! Lässt er sich zusammendrücken? Sch. Ja. L. Nun drücke auch einmal den Würfel mit beiden Händen! Geht’s? Sch. Nein. L. Wie ist der Würfel, wie der Ball? Sch. Der Würfel ist hart (fest), der Ball ist weieh. Ch. wieder- holt. (Dasselbe mit einem Stein und einem Schwamm.) L. Nun sagt mir alle Unterschiede zwischen Würfel und Ball! Zsfesg. (Der Lehrer hebt mit der einen Hand den Würfel, mit der anderen den Ball.) Der Würfel ist schwer, der Ball ist leicht. (Der Lehrer macht die Geberde des Messens.) Der Würfel ist gross, der Ball ist klein. L. (zeigt die Ecken und Kanten des Würfels und die Rundung des Balles). Der Würfel ist eckig und kantig, der Ball ist rund. L. (drückt mit der einen Hand auf den Ball, mit der andern auf den Würfel. Der Würfel ist hart, der Ball ist weich. L. (zeigt ein Brettehen und einen nassen Schwamm). Was ist das? Sch. Ein Brett, ein Schwamm. L. Fühlt einmal den Schwamm an und dann das Brettchen! Wie ist der Schwamm? Sch. Der Schwamm ist nass. L. Ist das Brett auch nass? Sch. Nein, das Brett ist trocken. |

L. Vergleicht jetzt den Schwamm mit dem Brett! Wie ist der Schwamm, wie das Brett? Sch. Der Schwamm ist nass, das Brett ist trocken.*) Ch. wiederholt. (Dasselbe mit zwei andern Gegenständen.) L. (zeigt ein feines Blatt Papier und eine kleine Reibe). Was ist das? Sch. Ein Blatt Papier. L. Und das? Sch. Eine Reibe.e L. Was macht die Mutter damit? oder: Wozu gebraucht etc.? Sch. Die Mutter reibt Kartoffeln auf der Reibe, wenn sie Reibkuchen backen will. L. Fahrt einmal mit der Hand über das Papier! Wie ist das Papier? Sch. Das Papier ist glatt. IL. Nun fahrt einmal mit der Hand über die Reibe. Ist sie auch glatt? Sch. Nein. L. Wie ist die Reibe? Sch. Die Reibe ist rauh. (Der Ausdruck „rauh“ muss event. gegeben werden.) L. Vergleicht jeizt das Papier mit der Reibe! Wie ist das Papier, wie die Reibe? Sch. Das Papier ist glatt, die Reibe ist rauh. Ch. wiederholt. (Dasselbe mit zwei anderen Gegenständen.) L. (stellt zwei Gläser mit Wasser vor die Schüler). Was mag wohl in diesen Gläsern sein? Sch. Wasser, Essig u. s. w. L. Es ist Wasser. In dem einen Glase ist warmes, in dem andern kaltes Wasser. In welchem Glase mag wohl das warme Wasser sein? Sch. Karl: In dem kleinen Glase. Gustav: Nein, in dem grossen. L. Seht, ihr wisst es nicht genau, ihr rate. Kann man sehen in welchem Glase das warme Wasser ist? Sch. Nein, L. Nun, Karl, stecke einmal den Finger in das Wasser des

*) Der Begriff „trocken“ kann event. durch folgende Unterredung gewonnen werden: L. Was tbust du zuerst, wenn du morgens aufgestanden bist? Sch. Ich wasche mich. L. Womit? Sch. Mit Wasser und Seife, L. Wie macht das Wasser die Hände und das Gesicht? Sch. Das Wasser macht rein nass. L. Kommst du denn so nass hier her in die Schule? Sch. Nein. ich trockne mich ab. L. Womit? Sch. Mit dem Handtuch. L. Bist du dann noch nass, wenu du dich mit dem Handtuch abgetrocknet hast? Sch. Nein, dann bin ich trocken. L. So ist auch das Brettchen.

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kleinen Glases! Wie ist dae Wasser? Sch. Warm. L. Stecke den Finger in das grosse Glas! Wie ist das Wasser? Sch. Kalt. L. Nun sage, was in dem kleinen und was in dem grossen Glase ist! Sch. In dem kleinen Glase ist warmes Wasser, in dem grossen Glase ist kaltes Wasser. Ch. wiederholt. L. Wer hat nun Recht gehabt, Karl oder Gustav? Sch. Karl, L. Ja, Karl hat aber auch zuerst bloss geraten. Sehen konnte er ja nicht, in welchem Glase das warme Wasser war. Was hat er nachher gethan? Sch. Er hat gefühlt. L. Womit? Sch. Mit der Hand, mit den Fingern. L. Nun sagt mir noch einmal das Verschen von den Händen und von den Fingern, was wir vorige Stunde gelernt haben: „Hier eine Hand und da eine Hand ete.“ L. So, nun geht nach Hause und sagt eurer Mutter auch einmal das schöne Verschen. Lektion V. Geruch.

L. Schliesst die Augen! (Hält den Schülern der Reihe nach eine Rose unter die Nase.) Riecht einmal! Wie riecht das? Sch. Gut. L. Öffnet die Augen! Was habe ich euch wohl unter die Nase gehalten? Sch. Eine Rose. L. Habt ihr das gesehen? Sch. Nein, wir haben es gerochen. L. Wie riecht die Rose also? Sch. Gut. L. Was gut riecht, das duftet. Nun sagt nochmals, wie die Rose riecht? Sch. Die Rose duftet. Ch. wiederholte L. Womit habt ibr gerochen? Sch. Mit der Nase. L. Sagt, was ihr mit der Nase thut? Sch. Wir riechen mit der Nase. Ch. wiederholt. L. Aber wie sieht die Rose aus? Sch. Die Rose sieht rot aus. Ch. wiederholt. L. Kann man riechen wie die Rose aussieht? Sch. Nein, das kann man sehen. L. (zeigt eine rote Farben- tafel). Wie sieht diese Tafel aus? Sch. Rot. L. Wer hat sich schon in den Finger geschnitten? Was kam aus dem Finger heraus? Sch. Blut. L. Wie sieht das Blut aus? Sch. Rot. L. (zeigt ein Stück stark riechenden Käse). Was ist das? Sch. Käse. L. Riecht einmal! Riecht der Käse auch so schön, wie die Rose? Sch. Nein, er riecht schlecht. L. Was schlecht riecht, das stinkt. Der Käse stinkt. Sch. wiederholen. L. (zeigt ein dunkles Gefäss mit scharfem Essig). Was mag wohl in diesem Fläschchen sein? Sch. (raten). L. Könnt ihr sehen, was in diesem Fläschchen ist? Sch. Nein. L. Habt ihr’s geschmeckt? gefühlt? Scb. Nein. L. Nun sollt ihr einmal daran riechen und mir sagen, wie es riecht. Sch. Es riecht sauer. L. Was mag es denn wohl sein? Sch. Es ist Essig. L. Wie riecht Essig? Sch. Essig riecht sauer. Ch. wiederholt. L. Womit riecht ihr? Sch. Mit der Nase. L. Anna, zeige deine Nase! L. (zeigt auf ein Nasenloch). Was ist das? Sch. Ein Nasenloch. L. Hast du bloss eins? Sch. Nein, ich habe zwei Nasenlöcher. L. Hebt die rechte Hand! An der Seite, wo die rechte Hand ist, ist auch ein Nasenloch! Hebt die linke Hand! An der Seite, wo die linke Hand ist, ist auch ein Nasenloch. Was ist das für ein Nasenloch? Sch. Das ist das linke Nasenloch. L. Zeigt das linke, das rechte Nasenloch! L. (lässt noch an Blumen und scharfriechenden Stoffen und Substanzen riechen und dieselben nach dem Geruch bestimmen, z. B., das ist ein Veilchen, das ist eine Nelke, das riecht nach Petroleum, das riecht nach Eau de Cologne etc.).

13 Lektion VI. Gehör.

L. Schliesst die Augen! oder: Dreht euch um und sehet nach der Thür! (L. singt ein paar Töne oder den Anfang eines Liedes). Seht her! Was habe ich gethan? Sch. Sie haben gesungen. L. Woher wisst ihr das? Sch. Wir haben es gehört. L. Womit habt ihr das gehört? Sch. Mit den Ohren. L. Womit könnt ibr also hören? Sch. Wir hören mit den Ohren. Ch. wiederholt. L. Anna, zeige deine Ohren! Wie viel Ohren hast du? Sch. Ich (wir) habe zwei Ohren. Ch. Wir haben zwei Ohren. L. Wo sitzen die Ohren? Sch. Die Ohren sitzen (sind) am Kopfe. L. Die Augen sind vorn am Kopfe oder im Gesicht. Die Ohren sitzen hier. Wo ist das? Sch. An den Seiten. L. Wieviel Seiten hat der Kopf? (L. fährt mit der Hand über beide Seiten). Sch. Der Kopf hat zwei Seiten. L. Für zwei sagt man auch beide. Die Ohren sitzen an beiden Seiten des Kopfes. Ch. wiederholt. L. Nun wiederholt, was ihr von den Ohren wisst! Zsfssg. Wir hören mit den Ohren. Wir haben zwei Ohren. Sie sitzen an beiden Seiten des Kopfes. L. Hebt die rechte Hand! An der Seite ist auch ein Ohr. Was ist das für ein Ohr? Sch. Das ist das rechte Ohr. L. Fasst alle das rechte Ohr! Sprecht: Das ist das rechte Ohr! Sch. wiederholen. (Dasselbe mit dem linken Ohr.) L. Wo ist nun wohl das rechte Auge, das linke Auge? Sch. (zeigen und sprechen). L. Drückt die Hände fest an die Ohren! (L. spricht etwas). Habt ihr gehört, was ich gesagt habe? Sch. Nein. L. Es giebt Kinder, die können nicht hören, wenn sie sich auch nicht die Ohren zuhalten. Sie können nicht hören, wenn man auch ganz laut (hart) schreit. Kennt ihr solche? Sch. (teilen ihre Be- obachtungen mit). L. Die armen Kinder, welche nicht hören können, sind taub. Wie ist der, der nicht hören kann? Sch. Wer nicht hören kann, ist taub. L. Ein taubes Kind kann nicht hören, wenn seine Mutter es ruft; es kann nicht hören, wenn sein Vater zu ihm sagt: Ich habe dich lieb, es kann nicht hören, was der Lehrer sagt. Darum muss es eine andere Schule besuchen, als ihr und andere Kinder. In Elberfeld ist eine solche Schule. Taube Kinder können meistens auch nicht sprechen. Wie ist der, welcher nicht sprechen kann? Sch. Wer nicht sprechen kann, ist stumm. L. Wie ist der, der taub ist und zugleich stumm? Sch. Wer taub und zugleich stumm ist, der ist taubstumm. Ch. wiederholt. L. Wie heisst also eine Schule in die die Kinder gehen, welche nicht hören und sprechen können? Sch. Taubstummenschule. L. Manche Kinder haben gute, gesunde Ohren und wollen doch nicht hören. Wenn die Mutter sagt: „Kind thue das nicht“, dann thut das Kind es doch. Wie sind diese Kinder? Sch. Ungehorsam. L. Ich habe euch von Adam und Eva erzählt. Der liebe Gott hatte gesagt: „Esst nicht von dem Baume!“ Aber sie hörten nicht und thaten es doch. Wie waren sie? Sch. Adam und Eva waren ungehorsam! L. Wenn sie aber nicht von dem Baume gegessen hätten, wie wären sie dann gewesen? Sch. Gehorsam. L. Wie müsst ihr immer sein, gehorsam oder ungehorsam? Sch. Wir müssen immer gehorsam sein. Ch. wiederholt. L. (singt die ersten Töne eines den Kindern bekannten Liedes recht stark, die folgenden immer schwächer. Wie habe ich

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zuerst gesungen? Sch. Laut (stark). L. Wie dann? Sch. Leise. L. Wie kann man also singen? Sch. Man kann laut und leise singen. Ch. wiederholt. L. (singt dasselbe Lied zuerst sehr langsam und dann immer schneller). Wie habe ich zuerst gesungen? Sch. Langsam. L. Wie dann? Sch. Schnell. L. Wie kann man noch singen? Sch. Man kann langsam und schnell singen. L. So kann man auch gehen. Wie gehe ich jetzt? Sch. Langsam. L. Wie aber jetzt? Sch. Schnell. L. Nun sagt wie man singen und gehen kann? Zsfssg. Man kann laut und leise, langsam und schnell singen und gehen. L. Nun spitzt einmal die Ohren! L. (schellt hinter dem Pult). Was habe ich gethan? Sch. Sie baben geschellt (geläutet). L. Womit? Sch. Mit einer Schelle (Glocke). L. (giebt einem Schüler die Schelle in die Hand). So nun schelle du auch einmal! Was hat G. gethan? Sch. G. hat geschellt. L. (spielt hinter einer Schrankthär oder hinter dem Ofen auf einer Geige, einer Mundharmonika, pfeift, flötet, blässt etc. und lässt von den Kindern angeben, was er thut). Auch aus Geräuschen wie Sägen, Hobeln, Hämmern, müssen die Kinder die Thätigkeiten erraten. Wenn zufällig ein Wagen über: die Strasse fährt, so kann der Lehrer fragen: „Was fährt da über die Strasse?“ Sch. Ein Wagen. L. Kannst du den Wagen sehen? Sch. Nein, aber ich kann ihn hören. L. Womit. Sch. Mit den Ohren. L. Nun sollt ihr auch ein Verschen von den Ohren lernen: |

Zwei Ohren sind mir gewachsen an,

Damit ich alles hören kann.

Wenn meine liebe Mutter spricht:

„Kind, folge mir und thu’ das nicht!“

Wenn der Vater ruft: „Komm her geschwind,

Ich habe dich lieb, mein gutes Kind.“ Gesamtwiederholung. L. zeigt das rechte Auge, Ohr, Nasenloch, Arm, Hand, Seite, Beiu, Fuss! Ebenso linksseitig. L. (zeigt weisse, grūne, gelbe und rote Farbentafeln und lässt die Farben benennen). Weiss, Grün, Gelb, Rot sind Farben. Karl wiederhole das! Es giebt aber noch mehr Farben. Die sollt ihr jetzt auch kennen lernen. (Zur Behandlung kommen noch Schwarz und Blau. Bei Wiederholung dieser Lektion, ein Jahr später, kommt noch Braun, Rosa, Violet hinzu.) Nennt Dinge, die eine weis:e etc. Farbe haben! Woher wisst ihr, dass der Schnee weiss und der Himmel blau ist? Nennt Speisen und Getränke, die süss, sauer, bitter, salzig, pfeffrig schmecken! Womit schmeckt ihr? Nennt Dinge, die schwer, leicht, gross, klein, eckig, rund, nass, trocken, glatt, rauh, kalt, warm sind! Woher weiss man, dass etwas schwer, leicht etc. ist? Welche Getränke trinkt man warm, welche kalt? L. Welche Blumen duften? Was stinkt? Womit riecht man? Was kann man noch mit der Nase thun? (Atmen) Womit kann man Musik machen? August und Wilhelm sprechen ganz verschieden. Wie spricht A. wie W.? (Leise laut.) Wie müsst: ihr immer sprechen? (Laut) L. (stellt einige Schüler so, dass ihr Gesicht von den andern nicht gesehen werden kann. Dann lässt er bald den einen, bald den anderen einen Satz oder ein Verschen sprechen). Wer hat ge-

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sprochen? Woran habt ihr das erkannt? (Stimme.)

Anmerkung: Bei der Behandlung dieses Stoffes im darauffolgenden Jahre kann noch folgendes hinzugefügt werden: Wer gut sehen kann, hat ein gutes Gesicht.

» » hören no» n»n „n Gehör

Tiechen „» einen guten Geruch.

» schmecken ,, a Geschmack. » füblen » „» din ceia Gefühl.

Ebenso: Wer schlecht sehen kann, hat ein schlechtes Gesicht etc. L. . Wieviel Ohren hast du? (Zwei.) Aber du hast nur einen Mund. Davon sollst du ein Verschen lernen: „Du hast zwei Ohren und einen Mund; willst dii beklagen? . Gar vieles sollst du hören und wenig darauf sagen.“ (Fr. Rückert.) Wieviel Augen hast du? (Zwei.) Aber du hast nur einen Mund. Auch davon sollst Du ein Verschen lernen: „Du hast zwei Augen und einen Mund; mach’ dir's zu eigen! Gar manches sollst du sehen und manches verschweigen.“ Wieviel Hände hast du? (Zwei.) Aber du hast nur (zeigt auf den Mund). Sch. Einen Mund. Lernt das Verschen: „Du hast zwei Hände und einen Mund; lern’ es ermessen! Zwei sind da zur Arbeit und einer zum Essen.“

PEI kit aina e S .—

Die Bildung des Gemüts bei den Schwachsinnigen.*)

Wir möchten einige Fingerzeige geben für den Weg, auf welchem die Ent- wicklung des Gemüts bei Schwachsinnigen gefördert werden könnte und sollte. Wir verstehen unter Gemüt die fühlende Seite der Seele und unterscheiden drei Stufen des Gemütes, eine untere, mittlere und höhere Stufe. Auf der unteren Gefühlsstufe ist die Seele nur ihrem leiblichen Selbst und dessen wechselnden Erregungen und Stimmungen zugekehrt, gleichsam in den leiblichen Organismus versenkt, und es ist das Gemüt hier vielfach nur der Spiegel des Gemeingefühls. Den Zustand der Befriedigung auf dieser Stufe nennt unsere reiche Sprache Behagen und Lust. Auf der mittleren Stufe des Gemütes, wo die fühlende Seele sich der Mitmenschheit zuwendet und in der Gemeinschaft mit andern Befriedigung sucht, entwickeln sich Geselligkeit, Zuneigung, Anhänglichkeit, Freundschaft, Wohlwollen, Elternliebe, Kinderliebe, Gemeinsinn, Vaterlandsliebe u. 8. w. Den Zustand der Befriedigung auf dieser Stufe nennen wir Zufrieden- heit und Glück. Auf der höheren Stufe, wo der Mensch sich Gott und seiner Geisteswelt zuwendet und damit seine vernünftige Anlage und Gottesebenbild- lichkeit bekundet, erwachen Rechtsgefühl, Wahrheitssinn, Gewissen, Menschen-

*) Aus der „Denkschrift zur Feier des 50jährigen Bestehens der Heil- und Pflegeanstalt in Stetten i. B.“, auf welche wir die Leser dieses Blattes wiederholt aufmerksam machen. Der Artikel erschien ursprünglich im Anstaltsbericht für 1875 und stammt aus der Feder des damaligen Hausvaters Landenberger.

16 liebe, Pietät, Gottesbedürfnis, Gottesfurcht, Glaube, Gottesliebe, Gottesfriede, Gottseligkeit. Den Zustand der Befriedigung auf dieser höchsten Gemütsstufe nennt man Friede und Seligkeit.

Dass das Gemüt in dem Organismus der menschlichen Seele eine grund- legende Stellung einnehme, muss hier als bekannt vorausgesetzt werden, und es möge hier nur darauf hingewiesen werden, dass das Gemüt es ist, aus welchem die Motive für unser Thun, sei es gut oder böse, entspringen, während dem Verstand hauptsächlich nur die Regelung des Thuns zukommt. Schon hieraus kann geschlossen werden, dass es sich bei verschiedenen Formen und Stufen des jugendlichen Blödsinns nicht bloss um Verkümmerung auf dem Gebiet der Erkenntnis handeln kann, sondern dass auch im Gemütsleben sich mancherlei Abnormitäten, Mängel und Lücken finden müssen, was sich auch in der That bei jeder eingehenden Bekanntschaft mit Blöden herausstellt.

Bei den rein Blödsinnigen, und zwar sowohl in der apathischen als in der aufgeregten Form des Blödsinns, ist schon die unterste Stufe des Gemüts auf- fallend stumpf, sodass z. B. manche des Sättigungsgefühls entbehren, durch nasse Kleider nicht belästigt sind u. a., dass auch die Reflexerscheinungen sich nur langsam auslösen. In dieser bedenklichen Stumpfheit ist das Schicksal der blöden Seele schon besiegelt; denn die Weiterentwicklung der gemütlichen Seite des Menschen, sowie der Intelligenz ist aufs äusserste behindert. Hier, wo das Organ des Fühlens gleichsam gelähmt, fast empfindungslos geworden ist, kann das mittlere Gemüt sich nur höchst mangelhaft, das höhere Gemüt gar nicht entwickeln, und die Erziehung muss sich nur auf das Feld der Gewöhnung beschränken, kann aber den Blöden hierdurch nicht auf eine höhere Stufe er- heben. Es ist eben der Blödsinn unheilbar. Auch bei den Kranksinnigen finden sich bedeutende Mängel auf der mittleren Gemütsstufe. Nicht wenigen scheint aller Trieb zur Geselligkeit zu fehlen, sie isolieren sich immer wieder von den Genossen; andere schliessen sich nur an jüngere Kinder an oder gar nicht an die Kinderwelt, sondern nur an Erwachsene, oder zieht es sie immer zu Fremden, sodass sie jederzeit mit Leichtigkeit sich von den Eigenen trennen könnten; noch andern fehlt es auffallend an allgemeinem Wohlwollen. Hier hätte die häusliche Erziehung ein nicht undankbares Feld zu bebauen; allein es stellen sich ihr bedeutende Hindernisse in den Weg, und zwar nicht bloss in der Erkrankung des Organs, sondern in Schwierigkeiten, welche ausser dem Zögling sich in seiner Umgebung finden. Geht der erste natürliche Weg zum Gemüt, wie schon oben gezeigt, vom leiblichen Organismus aus, so heisst der zweite, allbekannte Weg von Gemüt zu Gemüt. So bedarf jedes Kind nicht bloss der Mutterliebe, sondern der Gemeinschaft mit der ganzen Familie, des Verkehrs mit der Kameradschaft und Nachbarschaft, um den Grund zu legen zu einer vollen Gemütsentfaltung. Welche Schwierigkeiten aber liegen vor mit dem blöden und schwachsinnigen Kinde! Schon in der Kinderstube hat die Mutter nicht selten Mühe, um ihr schwaches Kind gegen die Plackereien der gesunden Geschwister zu schützen. Sowie aber der Schwachsinnige den Fuss über die Schwelle des Elternhauses setzt, so steht er, der liebe- und hilfe-

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bedürftige, in einer ihm vielfach feindlichen Welt; denn die umgebende Kinder- welt hat einen starken Hang und Reiz, den Schwachsinnigen zu necken, zu ver- spotten, ja oft mannigfach zu drangsalieren und zu misshandeln, sodass es ein förmliches Wunder wäre, wenn das Gemüt des Blöden nicht eingeschüchteıt, ängstlich, zurückgezogen oder zornmütig, heimtückisch und verbittert würde. In dieser unleugbaren Thatsache liegt die Notwendigkeit der Blödenanstalten einleuchtend zu Tage. So dringend der Schwachsinnige eines Unterrichts, der für ihn berechnet ist, bedarf, so braucht er nicht minder nötig die Unter- bringung in einer Anstalt, um für sein Gemütsleben die entsprechende Berück- sichtigung zu finden. In der Anstalt findet der Schwachsinnige, was er braucht, gemütlichen Verkehr mit andern, ohne Kränkung befürchten und erfahren zu müssen, Gemeinschaft mit Gleichstehenden unter guter Beaufsichtigung, und zwar in gemeinsamer Arbeit und Erholung, gemeinsamem Lernen und Spielen. Lässt das Vorurteil immer wieder den Wunsch laut werden, es sollten eben geistesgesunde Kinder sein, mit denen der Schwachsinnige Umgang hätte, so muss man nicht müde werden, daran zu erinnern, dass eben die geistesgesunden Kinder es seien, von denen der Schwachsinnige nur geplagt, nie aber irgendwie gefördert werde, und dass geistesgesunden Kindern, auch wenn sie gut erzogen seien, doch nicht eine erzieherische Aufgabe an Schwachsinnigen zugemutet werden könne, endlich dass die Schwachsinnigen immer unter entsprechender Aufsicht und Leitung stehen. Es ist demnach Aufgabe der Anstalt, bei der Gruppierung der Kinder die Eigenart derselben zu berücksichtigen, und der Liebe, Einsicht und Erfahrung kommt es zu, zu ermitteln, wie Träge und Leb- hafte, Aufgeregte und Ruhige, Selbstsüchtige und Selbstlose, Stumpfe und Ge- fühlige zu einander vergesellschaftet werden sollen, wie die Gemeinsamkeit in Arbeit, Spiel und Erholung zu benützen sei, dass sie das Besserungsmittel für die abnormen Gemütsverhältnisse bilde Der gute Erfolg eines richtigen Ver- fahrens wird nicht ausbleiben; mancher üble Zug, der ganz auf krankhafter Grundlage zu ruhen scheint, wird sich als Folge übler Behandlung herausstellen und unter richtiger Behandlung und in besserer Umgebung rasch weichen. Wirklich krankhafte, d. h. auf Hirnstörung beruhende Erscheinungen des Gemüts- lebens stellen auch dem besten Verfahren einen viel zäheren Widerstand ent- gegen, lassen sich oft nicht mehr völlig austilgen. Hier gilt es, die als nötig erkannten Bemühungen beharrlich fortzusetzen, da nur die Ausdauer noch einen Erfolg in Aussicht stellt. Immerhin leistet aber eine gut geleitete Anstalt dem Blöden und Schwachsinnigen für seine Gemütsentwickelung mehr und besseres als die Familie zu bieten vermag, und fast immer lohnt der Blöde durch rührende Anhänglichkeit an die Anstalt die Wohlthat, die ihm in derselben zuteil wird.

Ein dritter Weg zum Gemüt geht durch die Erkenntnis. Der Gesichtskreis des Schwachsinnigen ist beschränkt, wenig bevölkert und belebt, nebelhaft unbestimmt, einförmig. Selbstverständlich kann eine so dürftig aus- gestattete Vorstellungswelt das Gemütsleben nicht zur Thätigkeit, zum Interesse wecken; aber durch guten Unterricht ist man imstande, den geistigen Gesichts-

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kreis des Schülers nach allen Seiten zu weitern, zu erhellen, zu bevälkern und zu beleben, und damit dem Schüler zu einem wertvollen geistigen Eigentum zu verhelfen, insofern er keineswegs die Vorstellungen nur mechanisch zu einem Gedächtnisschatz ansammelt, sondern sie zu bestimmten Anschauungen erhebt, mit dem Verstande erfasst, die ihm nahe tretende Welt also durch Geistes- thätigkeit und Fleiss durchdringt, erobert und sich aneignet. Man führe deshalb den Schwachsinnigen ein in das Leben, dessen Äusseres er nur sehr mangelhaft kennt, dessen Inueres er nicht einmal ahnt; man lasse ihn die Natur, ihre Bil- dungen, Ordnungen und Wandlungen anschauen, und man wird bald erfahren, dass mit dem Verständnis auch das stumpfe Gemüt erwacht und Freude an der Natur gewinnt. Man führe den Blöden ein in das Verständnis des Menschen- lebens (wozu die biblische Geschichte ein unvergleichlicher Führer ist), lehre ihn die verschiedenen Beziehungen und Ordnungen, die Zwecke und Aufgaben, Arbeiten und Kämpfe, Leiden und Freuden des Menschenlebens kennen, und die zunehmende Einsicht wird auch das Gemüt zur Teilnahme am Leben der Mensch- heit rufen. Wo die Grenzen des sog. Anschauungsunterrichts überschritten werden können und der schwachsinnige Zögling imstande ist, einen Unterricht in den Realien zu empfangen, versäume man es nicht, ihn in Geographie und Geschichte, Naturlehre und Naturgeschichte, Formunterricht und Geometrie ein- zuführen. So ferne auch das eine und das andere dieser Fächer der Gemüts- welt liegt, bleibt die materielle Bereicherung der Seele mit diesen Kenntnissen, sowie die formelle Stärkung der Erkenntniskräfte doch nicht ohne Einfluss auf das Gemüt, sofern dadurch das so mangelhafte Selbstgefühl des Schwachsinnigen geweckt und gehoben wird.

‚Hoch über allen Gegenständen der Erkenntnis steht die Religion der Wahr- heit und übt da, wo sie Aufnahme findet, den tiefsten Einfluss auf das Gemüt, und zwar schon deshalb, weil sie der Menschheit als geschichtliche Thatsache zuteil geworden ist. Sie erschliesst das Gemüt der höchsten Liebe, erlöst es so von den beengenden Banden der Selbstsucht und gründet in ihm einen Himmel von Frieden und Liebe. Dass der Schwachsinnige, wie überhaupt die Kinder- welt, nicht nur der Stimme des Gewissens gehorsam sein, sondern auch der Gemeinschaft mit Gott und damit der Teilnahme am Reiche Gottes fähig werden kann, ist über allen Zweifel erhaben.

Wer den Schwachsinnigen nicht an der Hand der biblischen Geschichte in die Gemeinschaft mit Gott einzuführen sich bemüht, der versäumt es, das höchste Bildungsmittel, den stärksten Hebel anzuwenden, um den Schwachsinnigen aus seiner Geistesschwäche zu heben. Erfahrungsgemäss gehen diejenigen Schwach- sinnigen, welche Gott fürchten und suchen und ihren Erlöser lieben, der Heilung am raschesten entgegen. Ä

Der vierte Weg zum Gemüt geht durch den Willen. Jede That des Willens wirkt auf ihren Ursprung zurück; die That der Selbstsucht, die Sünde wirkt verbärtend, verschlechternd, die That der Liebe und Gerechtigkeit, die Selbstverleugnung veredelnd auf das Gemüt. Einem Menschen z. B. mit verrohetem Gemüt wird allgemein, bei aller Berücksichtigung der Herkunft, der

19 Erziehung, des Lebensgangs, doch das rohe Gemüt und dessen Ausbrüche zugerechnet, da mit Recht angenommen wird, dass die Gemütsentartung zu einem grossen Teile die Folge lange fortgesetzten schlechten Verhaltens sei. Umgekehrt wird z. B. ein Mensch, der bei aufrichtiger Selbstprüfung findet, dass er ziemlich wenig Mitgefühl bei fremden Leiden habe, der aber, wenn auch zunächst nur aus Pflichtgefühl, sich dennoch Werken der Barmherzigkeit unterzieht, bald erfahren dürfen, dass sein stumpfes Herz weich und fühlend werde. Deshalb muss es die erste Aufgabe aller Erziehung sein, dass die erkannte Wahrheit ins Leben umgesetzt werde, da erst durch Gehorsam gegen die Wahrheit der volle Segen derselben sich mitteilt. So einfach das Leben in einer Anstalt ist, so genügt es doch, um den schwachsinnigen Zögling zur Liebe und Gerechtigkeit gegen andere, zur Wahrheit zu führen, überhaupt den Grund zu allen Tugenden zu legen. Nichts, was gegen Wahrheit, Liebe, Gerechtigkeit, wahre Ehre, Ordnung, Mässigkeit verstösst, darf gering geachtet werden. Es sollen die Zöglinge mit guten Beispielen umgeben werden, damit sie erfahren, dass keineswegs Willkür herrsche, sondern dass ein höherer heiliger Wille in der Anstalt walte und geachtet werde.

Das beim Schwachsinnigen so sehr mangelnde Selbstgefühl wird besonders auch dadurch gepflanzt werden, dass der Zögling etwas zu leisten hat, dass irgend etwas unter seine Aufsicht und Verantwortlichkeit gestellt wird, da nicht nur, wie oben angezeigt, durch geistigen Besitz, sondern auch durch Leistungs- fähigkeit der Grund gelegt wird zu dem nötigen Mass von Selbstgefühl.

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Heilung eines Falles von epileptischem Irrsinn.

Über einen in mehrfacher Richtung interessanten Fall von epileptischem Irrsinn und Heilung desselben durch Trepanation berichtet Geh. Medizinalrat Dr. Edmund Rose in Nr. 42 der „Deutsch. Mediz. Wochenschrift“ vom Jahre 1900. Aus diesem Berichte teilen wir auszugsweise und zwar zum grossen Teil wörtlich folgendes mit.

Es handelt sich um einen 5jährigen kräftigen Knaben. Der Vater des- selben, ein kleiner Mann, seinem Beruf nach Kuhfütterer dicht bei Freienwalde, ist nach eigener Angabe gesund und stammt aus einer gesunden Familie, in der weder Geisteskrankheiten noch Epilepsie und ähnliche Leiden vorgekommen sind. Sein Vater ist an Pocken und seine Mutter im 64. Jahre an unbekannter Ursache gestorben, und ausser einem Bruder, der im Kriege gefallen, sind seine übrigen Geschwister gesund. Eher kann der Knabe von seiten der Mutter erblich belastet sein, welche seit ihrem 14. Lebensjahr Krämpfe haben soll, bei denen sie plötzlich hinfällt, bisweilen Schaum vor dem Munde hat und um sich schlägt. Ein ähnliches Leiden ist in der Familie der Mutter nicht beob- achtet. Dagegen hat eines der Kinder angeblich Krämpfe wie die Mutter; ausserdem ist der Vater und eine Schwester der Mutter an Schwindsucht gestorben.

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Ausser dem kranken Otto und einem Kinde, das an Diphtheritis gestorben, hat der Kuhfütterer acht gesunde Kinder. Otto soll früher nie krank gewesen sein, hat am Ende des ersten Jahres laufen gelernt, hat zur rechten Zeit Zähne bekommen und sprechen gelernt, kurz, sich anscheinend normal entwickelt.

Anfang September 1898 ist er gegen ein Thürgerüst gelaufen und hat sich eine Wunde an der Stirn parallel oberhalb der linken Augenbraue zugezogen, worauf man nicht weiter achtete, weil sie ohne Zwischenfall heilte und mit keinerlei Hirnerscheinungen verbunden war. Mitte September bemerkten die Eltern, dass der früher ganz normale Knabe Gegenstände zu fixieren begann, dabei das Gleichgewicht verlor, rücklings hintenüberfiel und in bewusstlosem Zustande Zuckungen hatte. Diese Anfälle wiederholten sich nach dem ärztlichen Attest an einzelnen Tagen stündlich; während sie nun am 1. Oktober aufhörten» sei eine völlige Verblödung des damals sechs Jahre alten Kindes eingetreten- Es starre ausdruckslos vor sich hin, spreche nicht, reagiere auf Anrufen kaum, sei aber oft unruhig und zu Zerstörungen geneigt. Die epileptischen Anfälle haben sich dann nach Angabe des Vaters Mitte Oktober wieder eingestellt und sind bisweilen achtmal am Tage aufgetreten. Seit Anfang November hat der Knabe nicht mehr gesprochen, nur bisweilen irgend ein Wort ausgestossen, aber niemals irgend welche Wünsche oder Empfindungen ausgedrückt. Appetit ist stets gut gewesen, Erbrechen niemals bemerkt, auch nicht nach dem Fall, ebenso- wenig wie der Knabe damals das Bewusstsein verloren hatte; gleich nach der Verwundung, wie auch in den ersten 14 Tagen danach bot er keinerlei auf- fallende Erscheinungen dar und ist stets herumgelaufen. Übrigens ist es ein kräftiger, für sein Alter gut entwickelter Junge mit starkem Knochenbau, guter Muskulatur, mässigem Fettpolster und normalem Schädelbau, dessen innere Organe am Stamm bei der Untersuchung nichts abweichendes darboten. Nirgends hat er geschwollene Drüsen. An der Stirn einen Querfinger breit über der linken Augenbraue findet sich die lineare, weisse, 2 cm lange, nicht angeheftete Narbe, in deren Nachbarschaft Haut und Knochen keinerlei Ab- weichung darbieten, auch keine besondere Empfindlichkeit bei Berührung.

Am 5. Dezember 1898 wird der Knabe in das Diakonissenhaus Bethanien in Berlin aufgenommen. Er nimmt von seiner neuen Umgebung keine Notiz, scheint auch die Trennung von seinen Angehörigen garnicht zu empfinden. Er ist im Bett in steter Bewegung, droht jedem, der ihm nahe kommt, mit dem Finger, schlägt auch bisweilen, speit ins Zimmer, macht Urin und Stuhlgang unter sich. Es ist vollständig vergeblich, seine Aufmerksamkeit durch irgend etwas zu erregen. Bilderbücher zerreisst er, ohne sie anzusehen. Er schlägt im Bett die Beine gegen den Kopf in die Höhe, schmiert sich am Hintern die Finger voll und damit nachher ins Gesicht. Einen grossen Becher Milch stürzte er in einem Zug herunter. Mit Essen stopfte er sich den Mund so voll, dass man fürchten musste, er ersticke. Die Anfälle wiederholten sich am Tage mehrmals.

Am auffälligsten war, dass man nie ein Wort aus seinen Munde hörte und ihn nicht zum Sprechen bringen konnte. Er schien vollständig taub und sprach-

los. Eine genaue Untersuchung von Augen und Ohr ist bei dem Betragen des Knaben, seiner steten Unruhe, seinem Beissen und Umsichschlagen ganz un- möglich. f

Nachdem der Knabe, der anfangs unter steter Aufsicht ausser Bett war, seit dem 8. Dezember zu husten anfing, am 9. abends 38,4 maass, hat er am 10. früh im Gesicht und Hals einen typischen Masernausschlag. So leicht der Verlauf der Masern bei ihm war, zeigte sich doch uuverkennbar der für die Umgebung segensreiche Einfluss, Der Junge war entschieden durch den Aus- bruch etwas angegriffen, die Anfälle kamen zwei- bis dreimal an jedem Tage, die Nächte waren gut. Die Zerstörungswut hat sich gelegt, er besah ruhig Bilderbücher, schlug nicht mehr um sich. Zweimal soll er sogar das Wort „Unglück“ und „Dusel“ vor sich hingesprochen haben. Am 9. December hat die beaufsichtigende Schwester es sogar soweit gebracht, mit ihm Ball zu spielen, wie er überhaupt beim Essen und Trinken zuthulicher und manierlicher zu ihr geworden ist. Die Anfälle blieben dieselben, wenn sie auch nicht so häufig kamen, bisweilen nur einmal am Tage, oder auch wohl garnicht.

Nach Ablauf der Masernerkrankung war der geistige Zustand unverändert, die Unruhe und die Anfälle mehrten sich wieder. Der Knabe schlägt wieder um sich, speit ins Zimmer, kurz, benimmt sich gerade wie vor den Masern. Eine Untersuchung mit dem Augen- und Ohrenspiegel ergab nichts besonderes. Am 20. Januar bekam er Besuch von seiner Mutter. Er erkannte sie garnicht wieder, nimmt überhaupt gar keine Notiz von der Aussenwelt. Als seine freundliche Schwester einen Moment das Zimmer verlassen, zerbiss er ihre goldene Uhr, die sie beim Temperaturmessen noch hatte auf dem Nachttisch liegen lassen. Weil er an der eisernen Bettstelle sich geschadet hatte, bekam er eine hölzerne; da hat er ein Loch herausgeknabbert, so gross wie meine halbe Handfläche Es war wirklich ein schrecklicher Patient für die Station, der entweder in ein Siechenhaus gebracht, oder, wenn man die Krankheit von der Verletzung herleitete, nach so langer fruchtloser Beobachtung und Pflege operiert werden musste.

Die Wegleitung zur Operation gab die äussere Narbe und ihre Nähe am Aphasiecentrum;; allerdings muss betont werden, dass die Narbe niemals in der ganzen Zeit der Beobachtung empfindlich oder gerötet war oder irgend eine Veränderung zeigte, wie denn auch die Anfälle keine partiellen Krampfanfälle waren, nicht etwa durch Druck von der Narbe aus hervorgerufen werden konnten, sondern stets anscheinend von selbst kamen und symmetrisch waren. Nach den nötigen Vorbereitungen wurde am 28. Januar 1899 die Operation ausge- führt. Bei derselben fand man keine Veränderung des Gehirns, und es schien, als sei der Eingriff überflüssig gewesen. Allmählich jedoch wurden die Anfälle seltener, und die geistigen Funktionen stellten sich nach und nach wieder ein. An manchen Tagen schien er anständiger zu sein als an den anderen. Am 15. März wurde der Knabe aus dem Krankenhause entlassen. Bei der Entlassung wurde den Eltern für den Fall, dass weitere Besserungen in seinem geistigen Befinden nicht eintreten sollten, empfohlen, ihn in eine Anstalt für schwach-

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sinnige Kinder zu bringen. Letzteres geschah nicht. Der Knabe war zunächst zwar noch nicht anfallsfrei, vom 7. April 1899 an aber trat ein Anfall nicht wieder ein, und der Zustand des Knaben besserte sich stetig. Im März 1900 liess ihn Medizinalrat Dr. Rose nach Berlin kommen, um ihn in der Freien Vereinigung der Chirurgen Berlins vorzustellen. Bei der Vorstellung war der Knabe zunächst etwas verlegen, sonst aber ganz manierlich ; er kannte die Uhr, zählte die Finger u. s. w. und antwortete im allgemeinen wie ein Kind, das erst zur Schule kommen soll. Der Vater erzählte u. a, dass die Mutter den Knaben oft mit einem Korbe eine Viertelmeile weit in die Stadt schicke, um Besorgungen zu machen.

Wenn man die Krankheitsdauer von dem Stosse gegen das Thürgerüst bis zum letzten Anfall rechnet, so ergeben sich 63/, Monat. Sie endete 21/, Monat nach der Operation, indem unter Schwankungen die Besserung allmählich eintrat. Sprache und Gehör sind vollständig wieder gekehrt; sehr merkwürdig aber ist die vollständige Amnesie. Der Knabe kannte, als er zu der Vorstellung in Berlin war, weder. seine Stube wieder, noch überhaupt Bethanien. Ebensowenig erkannte er die Ärzte und die Schwestern, die ihn behandelt bezw. gepflegt hatten. Die ganze Krankenzeit fehlte in seiner Geschichte.

Der Fall ist sicher nicht nur ein interessanter, sondern auch ein seltener. Wie er im letzten Grund zu erklären ist, braucht hier nicht untersucht zu werden. Bemerkt sei aber, dass die linke Trepanationsöffnung offen geblieben ist und sich bei starkem Schnäuzen der Schädelinhalt leicht darin hervorwölbt. Dabei scheint die linke Stirnhälfte vor der rechten in ihrem Niveau etwas vor- springend eingeheilt zu sein. Nach dem allen neigt sich Geh. Medizinalrat Dr. E. Rose der Meinung zu, dass die Heilung durch Bildung eines Sicher- heitsventils eingetreten ist. Die Hauptsache aber ist und bleibt nunmehr, dass .die erzielte Heilung von Dauer ist.

Zum Ministerial- Erlass vom 20. September 1895.

Der Vorstand der Vereinigung der Leiter von Anstalten für Idioten und Epileptische (Pfarrer Schuchard- Treysa und Direktor Schwenk - Idstein), sowie die preussischen Vorstandsmitglieder der IX. Konferenz für das Idioten- wesen (Erziehungsinspektor Piper-Dalldorf und Kreisschulinspektor Weichert- Leschnitz) überreichten im November bez. Dezember v. J. den Vorständen der preussischen Ministerien der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal- Angelegenheiten, des Innern und der Justiz folgende Eingabe:

„Schon seit mehreren Jahren leben die Vertreter und Vorsteher der privaten Idioten-Erziehungsanstalten in steter Besorgnis hinsichtlich der Sonderstellung, welche seitens der Staatsbehörde ihren Anstalten unter den übrigen Erziehun gsinstitute Preussens angewiesen wird. Diese Besorgnis wurde hervorgerufen durch den Ministerial- Erlass vom 20. September 1895, in welchem ausführliche Bestimmungen über die Aufnahme und Entlassung von Geisteskranken, Idioten und Epileptischen in und aus

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Privatirrenanstalten u. s. w. gegeben sind. Der Umstand, dass in diesem Erlass die Unterrichts- und Erziehungsanstalten für Schwachsinnige den Irrenanstalten gleich- gestellt und gemeinsam mit diesen behandelt wurden, musste naturgemäss für erstere nicht unbedenkliche Härten zur Folge haben. Die Vorschrift einer mediziwischen Oberleitung und einer lediglich medizinischen Revision, welche dem pädagogischen Charakter der betreffenden Anstalten nicht nur keine Rechnung trägt, sondern diesem sogar oftmals entgegenarbeitet, veranlasste den Vorstand des „Vereins für das Idioten- wesen“ im Januar 1896 eine Sonderkonferenz nach Berlin einzuberufen, welche Stellung zu dem genannten Reskript nahm und durch eine besondere Deputation eine Denkschrift an die 3 resp. Ministerien überreichen liess.

Diese Denkschrift hatte zunächst keinen direkten Erfolg. Die höchsten Stellen erkannten zwar die Härten des Gesetzes an und versprachen „auch Abhilfe, liessen es aber damit bewenden.

Da kam am 11. März 1896 die genannte Ministerialverfügung im preussischen Abgeordnetenhause zur Sprache. Bei dieser Gelegenheit gaben der Ministerial-Direktor Herr Dr. von Bartsch folgende Erklärung ab: „Die Anweisung unterscheidet sehr scharf zwischen eigentlichen Anstalten für Geisteskranke und Anstalten, die bestimmt sind für Idioten und Epileptiker. Die letzteren unterliegen in keiner Weise den strengen Vorschriften, denen die Privatirrenanstalten unterliegen.“ „Es ist durchaus nicht notwendig, dass in einer Anstalt für Idioten ein Arzt dauernd seine Wohnung hat. Das ist nicht erforderlich, es genügt, wenn ihm im Haufe der Woche un- behindert zwei- oder dreimal der Zutritt gestattet wird, damit er sich von dem Zu- stand der Kranken überzeugen kann.“ (Stenograph. Bericht der 40. Sitzung am 11. März 1896, Seite 1277.)

Das waren recht tröstliche Worte, die noch wesentlich an Wirkung gewannen, als die Staatsbehörde bald nach dieser Debatte eine Verordnung (24. April 1896) erliess, welche die Anweisung vom 20. September 1895 ii bezw. ein- schränken sollte.

Aber trotz dieses wohlwollenden Entgegenkommens seitens der Herren Minister blieben doch noch recht drückende Bestimmungen bestehen. Nach wie vor wurde von einem leitenden Arzt gesprochen, dem auch fernerhin viele der Obliegenheiten zu übertragen seien, die bisher die theologischen oder pädagogischen Leiter der Anstalten in Händen hatten.

Auffallend war es, dass einzelne Regierungspräsidenten in ihren Bezirken anch von der Durchführung dieser Vorschrift Abstand nahmen, während andere dieselbe aufrecht erhielten.

Der Erlass vom 4. Februar 1899 (M. d. g. A. Nr. 5099, Just.-M. I Nr. 580, M.d. J. II Nr. 1409) brachte endlich die erfreuliche Absicht, dass die Bestimmungen vom 20. September 1895 einer Revision unterzogen werden sollten. In Wahrnehmung dieser Gelegenheit reichte der Vorstand des Vereins für das Idiotenwesen ein neues Gesuch an Se. Excellenz den Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal- Angelegenheiten mit der Bitte ein, die Idioten-Erziehungsanstalten von der Anweisung zu befreien und für dieselben event. besondere, den Verhältnissen entsprechende Be- stimmungen erlassen zu wollen. In der ministeriellen Antwort auf dieses Gesuch

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(vom 16. August 1899) wurden die Bedenken der Anstaltsvertreter teilweise als nicht mehr bestehend bezeichnet, teilweise auch anerkannt und die Erwägung einer Abänderung der Bestimmungen vom 20. September 1895 bei der zu erwartenden Nachprüfung derselben in Aussicht gestellte Diese Nachprüfung ist nun zwar bis jetzt noch nicht erfolgt, aber es sind inzwischen weitere beruhigende Erklärungen von Vertretern der Regierung abgegeben worden.

Veranlasst durch das Verhalten der Besuchskommissionen, die nach wie vor bei Beurteilung unserer Anstalten den Massstab für Krankenhäuser und Irrenanstalten zu Grunde legen, halten wir es im Interesse unserer Anstalten für unsere Pflicht, dieserhalb der Kgl. Regierung unsere Bitte nochmals ganz ergebenst zu unterbreiten.

Dass die Schwachsinnigen und Idioten praktisch nicht zu den Geisteskranken gezählt werden dürfen, ist nicht nur von einer grossen Anzahl bedeutender Fachleute der medizinischen Wissenschaft anerkannt, sondern ist auch durch die Erfahrungen einer jahrzehntelangen Praxis auf dem Gebiete des Idioten-Unterrichts und -Erziehungs- wesens bewiesen. Die Schwachsinnigen werden in uuseren Anstalten nicht in erster Linie ihrer Verpflegungsbedürftigkeit wegen aufgenommen, sondern sie sollen erzogen, unterrichtet und soweit als möglich zu brauchbaren Gliedern der menschlichen Gesell- schaft herangebildet werden. Unsere Anstalten sind darum hauptsächlich Erziehungs- und Unterrichts - Institute und müssen als solche weit mehr den Taubstnummen-, Blinden-, Rettungsanstalten u. s. w. als den Irrenanstalten an die Seite gestellt werden, welche letztere doch in erster Linie nur der Verpflegung und Versorgung erwerbsunfähiger Geisteskranker dienen. Wenn nun aber durch die Bestimmungen vom 20. September 1895 die Idiotenanstalten denselben Vorschriften wie die Irren- anstalten unterworfen werden, so muss naturgemäss daraus für die ersteren eine ein- seitige, ungerechtfertigte Behandlung entspringen, welche deren freier Entwickelung hindernd im Wege steht.

Wir erlauben uns darum nochmals ganz ergebenst die Bitte vorzutragen, bei der nach den Äusserungen der Kgl. Regierung bestimmt in Aussicht stehenden Revision der Bestimmungen vom 20. September 1895 unsere Anstalten gütigst berücksichtigen und besondere, ihrem pädagogischen Charakter entsprechende Verordnungen erlassen zu wollen. Diesem pädagogischen Charakter bitten wir zunächst dadurch Rechnung tragen zu wollen, dass der Unterschied zwischen Geistesschwachen und Geistes- kranken nicht nur theoretisch anerkannt, sondern auch in gesetzlicher Weise fest- gelegt würde. Dadurch würde von vornherein einer nicht geringen Anzahl von Miss- ständen vorgebeugt, die aus der vom praktischen Staudpunkte aus jedenfalls un- berechtigten Gleichstellung dieser beiden Gruppen entspringen. Wir wollen dabei nicht unerwähnt lassen, dass auch das Bürgerliche Gesetzbuch Geisteskranke und Geistesschwache nicht gleichbehandelt, sondern zwischen denselben ($ 104 und 8 114) genau unterscheidet.

Sodann müsste auch dem Pädagogen die ihm zugehörige dominierende Stellung in den Anstalten gesetzlich zugesichert werden. Wir sind weit davon entfernt, die Verdienste, welche sich die Ärzte schon auf dem Gebiete der Psychiatrie erworben haben, zu verkennen oder die Mithilfe, die sie uns bei unserer Arbeit an den Schwachsinnigen zu bieten vermögen, zu unterschätzen. Im Gegenteil, im Interesse

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unserer Kinder werden wir eine Unterstützung, die für uns von wirklich praktischem Wert ist, jederzeit freudig begrüssen. Dagegen halten wir die Stellung, welche die Bestimmungen vom 20. September 1895 den Ärzten in der Anstalt einräumen, als über die Grenzen der Zweckmässigkeit hinausgehend. Wenn auclı von der Forderung Abstand genommen wurde, dass in den Anstalten dauernd ein Arzt wohnen sollte, so verblieben diesem doch eine Menge Funktionen, die ihm thatsächlich die Ober- leitung zusichern. Dass aber eine solche Stellung des Arztes neben einem offiziellen Direktor nur zu Misshelligkeiten führen muss und nur in den wenigsten Fällen dem gesunden Wachstum einer Anstalt förderlich sein wird, liegt auf der Hand. Warum sollte ein leitender Pädagoge vom Arzte in jeder Hinsicht abhängig sein und diesem Obliegenheiten überlassen müssen, die er zum mindesten ebenso gut wie jener ver- richten kann?

Sicher ist z. B., dass der Arzt bei seinen nur vorübergehenden und flüchtigen Beobachtungen der Kinder über diese im einzelnen kaum ein zutreffonderes Urteil abgeben kann, als der Pädagog, welcher tagtäglich im unmittelbaren Verkehr mit seinen Schülern steht. Es ist darum auch nur schwer zu verstehen, wie verschiedene Revisoren die von den Anstaltsdirektoren unter Mithilfe des Arztes verfassten „Krankengeschichten“ nur deshalb beanstanden konnten, weil sie nicht vom Arzte allein geführt wurden. Überhaupt spielt die praktische Psychiatrie in unseren Anstalten eine viel geringere Rolle als in medizinischen Kreisen vielfach noch immer angenommen wird; jedenfalls ist sie nicht von der Bedeutung, dass ihr die päda- gogische Arbeit untergeordnet werden kann.

Ferner liegt es sicher nicht im Interesse unserer Anstalten, wenn dieselben bei den jährlich wiederkehrenden Revisionen stets nur vom hygienischen und psychia- trischen Standpunkte aus revidiert werden, in ihrer Hauptaufgabe Unterricht und Erziehung aber vollständig ignoriert bleiben. Wenn diese Revisionen ihren Zweck nicht verfeblen sollen, so müssten doch in erster Linie der Stand der Schule und die Resultate der Unterrichtsarbeit geprüft werden. Das ist aber bei der Art und Weise der gegenwärtigen Revisionen ganz ausgeschlossen.

Überhaupt zeigt sich bei diesen Revisionen die Unhaltbarkeit der bestehenden Zustände am deutlichsten, insofern das von der Kgl. Regierung vorgedruckte und für Irrenanstalten bestimmte Formular des Revisionsprotokolls nur zum kleinsten Teil auf die besonderen Verbältnisse unserer Anstalten passt, wie dies hin und wieder selbst von den revidierenden Medizinalbeamten anerkannt wurde.

Auf Grund dieser Thatsachen beehren wir uns nochmals die Bitte gehorsamst vorzutragen, unsere Anstalten von den Bestimmungen des Ministerial-Erlasses vom 20. September 1895 ausschliessen zu wollen.

Mitteilungen.

Augsburg. (Dritter Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands.) Am 11. und 12. April d. J. soll hier der 3. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands abgehalten werden und zwar soll am 11. April abends eine Vorversammlung und am

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12. Aprıl mittags die Hauptversammlung stattfoden. In der Vorversammlung wird Lehrer V. Ehrig-Leipzig und Hauptlehrer Kielhorn-Braunschweig über das Lese- buch und die Fibel der Hilfsschulen, Lehrer Basedow-Hannover aber über den Handfertigkeitsunterricht sprechen. Auf der Tagesordnung der Haupt- versammlung steht u. a. ein Vortrag des Dr. med. F. W. Müller-Augsburg „Über den kindlichen Schwachsinn“. Gleichzeitig findet eine Ausstellung von pädagogischen Werken, Schriften und Lehrmitteln statt, die auf die Ausbildung geistig und körper- lich zurückgebliebener Kinder Bezug haben.

Hamburg. (Hilfsschulen.) Die Hilfsschulen Hamburgs wurden im Schuljahre 1899/1900 von 247 Knaben und 203 Mädchen, zusammen 450 Kindern besucht. Es bestanden 23 Klassen, und zwar 12 für Knaben, 10 für Mädchen, sowie eine gemischte. Den Unterricht erteilten 12 Lehrer und 18 Lehrerin. Im Laufe des vorigen Schuljahres konnten 15 Kinder wieder in die Normalschulen zurückversetzt und 43 Kinder am Ende des Schuljahres ins Berufsleben entlassen werden.

Gotha. (Herzogin-Marie-Stiftung.) Unsere Idiotenanstalt der Herzogin- Marie-Stiftung ist jetzt bis auf den letzten Platz mit Zöglingen besetzt, sodass wir leider in manchen Fällen schon genötigt waren, Anmeldungen neuer Zöglinge zurück- zuweisen. Mit 48 (28 Knaben u. 20 Mädchen) am Schluss des Jahres in der Anstalt befindlichen Zöglingen haben wir die Höchstzahl erreicht. Mehr Räumlichkeiten stehen nicht zur Verfügung. Die Insassen stammen fast ausschliesslich aus den Herzog- tümern Coburg und Gotha. Nur wenig Kinder aus den benachbarten Staaten konnten ausnahmsweise aufgenommen werden. Dagegen haben Stadt und Land unserer engeren Heimat ihre hilfsbedürftigen Kinder der Anstalt zugeführt, insofern sie nicht als schwachbefähigte der Hilfsschule zu Gotha überwiesen wurden. (In den anderen Orten wird für diese durch besonderen Privatunterricht gesorgt, der meistens durch Staatszuschüsse ermöglicht wird.) Das Alter der Insassen der Herzogin-Marie-Stiftung schwankt zwischen 8 und 25 Jahren. Dem Grade ihrer Schwachsinnigkeit nach lassen sie sich in drei Gruppen teilen: noch bildungsfähige (9 Kn. und 3 Mdch.), welche Schulunterricht geniessen und mit ziemlicher Sicherheit erwarten lassen, dass sie sich einmal ihr Brot werden erwerben können, schwachsinnige (9 Kn. und 4 Mdch.), welche ebenfalls Schulunterricht geniessen, bei denen aber noch nicht vorauszusehen ist, ob sie einmal irgend welche Selbständigkeit erhalten werden und blödsinnige (10 Kn. und 4 Mdch.), die ausschliesslich für die Wohlthat einer geordneten Pflege empfäng- lich sind, da irgend welche Spuren geistiger Regsamkeit kaum vorhanden sind. Ausserdem befinden sich in der Anstalt noch 9 ältere Mädchen, die in der Haus- wirtschaft ausgebildet, resp. zu Handreichungen beigezogen werden. Diesen ver- schiedenen Graden entsprechend sind die Kinder in die einzelnen Familien und Klassen verteilt. Abteilung I enthält die bildungefähigen Zöglinge, die wieder nach Geschlechtern in zwei Gruppen verteilt sind. Während der Schulstunden und bei den Mahlzeiten sind die Geschlechter nicht getrennt, sonst aber ist die Trennung streng durchgeführt. Die Mädchengruppe umfasst Schulkinder und die vorhin erwähnten älteren Mädchen, während sämtliche Knaben dieser Abteilung noch schulpflichtig sind. Der Schule entwachsene Knaben werden grundsätzlich nicht aufgenommen. Die 1. Abteilung erhält Unterricht durch einen Lehrer, der auch im vergangenen Jahre

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diese Kinder mit Verständnis und Treue in ihren Kenntnissen förderte und schöne Erfolge erzielt hat.*) Allen sieht man die Freude an, die sie über die Anregung und Förderung ihrer geistigen Thätigkeit empfinden. Da früher eine ganze Anzahl Kinder am Unterricht teilnahmen, die nur sehr langsam vorwärts kamen, wenn von einem Vorwärtskommen überhaupt geredet werden konnte, ist eine besondere Klasse gebildet worden, in welcher eine Lehrerin gern und gut den Unterricht erteilt. Zu ihnen ge- hört der grösste Teil der Kinder, welche in der 2. Abteilung wohnen. Ausser den Schulstunden haben die Kinder der 1. und 2. Abteilung noch täglich Unterricht in Handfertigkeit, während zwei Stunden zur Wiederholung und Befestigung des in den Unterrichtsstunden durchgenommenen Stoffes benutzt werden und der Anfertigung der Schulaufgaben dienen. Damit ist der Tag ziemlich ausgefüllt. Die unterrichts- freien Stunden bleiben dem Spiel und nützlicher Beschäftigung der älteren Kinder, die vorderhand hauptsächlich im Stricken von Strümpfen und Wäscheleinen u. s. w. besteht. Besonders werden sie, solange es Zeit und Witterung erlauben, bei der Pflege und Instandhaltung des Obst- und Gemüsegartens mit herangezogen. Die älteren Mädchen finden zweckentsprechende Verwendung im Haushalt, um für einen Dienst vorbereitet zu werden. Einige von ihnen sind diesem Ziel schon ziemlich nahe gekommen und werden in absehbarer Zeit in Stellung gebracht werden. In einigen Stunden wöchentlich erhalten dieselben ausserdem Haushaltungsunterricht.

Bei der grossen Zahl der Kinder war die Aufgabe der Hauseltern und des immerhin nuch geringen Pflegepersonals oft nicht leicht. Einigen Pflegerinnen ist die Arbeit auch zu schwer geworden, sodass sie den Dienst in der Anstalt bald wieder aufgegeben haben, wodurch mannigfacher Wechsel im Personal stattfand. Um so dankenswerter ist anzuerkennen, dass sich die Hauseltern bisher grosse Mühe gaben, das Hauswesen in regelrechtem Gang zu erhalten und den Kindern eine geordnete und liebevolle Pflege zukommen zu lassen. Von einigen Pflegerinnen haben sie darin erfreuliche Unter- stützung erfahren.

Es hat den Kindern auch an sonstigen Abwechselungen nicht gefehlt, Sie haben öfters grössere und kleinere Spaziergänge gemacht und durch die Güte ihrer Freunde auch im Hause viel frohe Stunden verlebt. Vor allem war ihnen das Weihnachtsfest ein Tag ganz besonderer Freude. Sie hatten dazu Lieder und Deklamationen gelernt und freuten sich von Herzen an den reichlich gespendeten Gaben. Hier wie sonst zeigte es sich, dass im Hause ein fröhlicher Geist herrscht, das beste Zeichen dafür, dass die Kinder ihren Aufenthalt in der Anstalt als eine Wohlthat empfinden. Auch der Tag, an welchem Ihre Kaiserliche und Königliche Hoheit die Frau Herzogin Marie mit den Prinzessinnen Marie und Beatrice die Anstalt mit ihrem Besuch beehrte, war für die Kinder ein Festtag. Die Güte der Hohen Frau, die sich mit den einzelnen Kindern unterhielt, gab diesen eine harmlose Unbefangen-

*) Für den Schreibleseunterricht hat sich „Des Kindes erstes Schulbuch“ von Schulze und Giggel (Verlag von E. F. Thienemann in Gotha) ganz vortrefflich bewährt. Das Buch ist naeh Form und Stoff so recht der Fassungskraft des kindlichen Geistes angepasst. Das Vorwärtsschreiten ist ein langsames und macht das Kind mit den sich darbietenden Laut- und Sprachbezeichnungen durch öftere Wiederholungen vertraut. Gerade diese planmässigen

Wiederholungen, diese Ruhepausen, die in die Leseübungen geschickt hinein gewebt sind, ge- reichen der Fibel zu ganz besonderem Vorteil.

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heit, und die vielen Süssigkeiten, die sie aus der Hand der Huhen Herrschaften empfingen, mundeten ihnen vortrefflich. Der Förderung Ihrer Kaiserlichen und Königlichen Hoheit als Protektorin des Vereins verdanken wir auch eine namhafte Vermehrung unseres Vermögens. Von einem im Hoftheater abgehaltenen Wohlthätig- keitsbazar, der der Anregung der Frau Herzogin entsprang, erhielt die Vereinskasse einen bedeutenden Zuwachs von fast 10000 Mark, die dann noch durch Seine Königliche Hoheit den Herzog Alfred durch Überweisung der Einnahmen einer Vorstellung im Hoftheater beträchtlich vermehrt wurden. Der leider zu frülı verschiedene Hohe Herr hat überhaupt seit dem Bestehen unseres Vereins demselben mehrfach sein regstes Interesse bewiesen, und auch uns trifft sein unerwartetes Hinscheiden tief und schwer. Dankbaren Herzens werden wir dem Entschlafonen ein dauerndes Andenken bewahren und nie der Förderung vergessen, die er unserer Arbeit hat zu teil werden lassen.

Zürich. (Albert Fisler 4.) Am 23. Dezember v. J. starb einer der hervor- ragendsten Lehrer und Erzieher im ganzen Schweizerlande, Albert Fisler, Lehrer an der Spezialklasse für Schwachbegabte in Zürich. Derselbe übernahm 1891 die zu dieser Zeit von der Stadtschulpflege auf seine Veranlassung ins leben gerufene Spezialklasse für Schwachbegabte, für welche Institution er sich schon in der I. schweizerischen Konferenz für das Idioteuwesen, die im Jahre 1889 in Zürich stattfand, ausgesprochen hatte. Hier wirkte er unermüdlich und in nicht ermattender Begeisterung bis an seinen Lebensabend. „Mit der angemessenen Fürsorge für die geistig Anormalen,“ schrieb er im Jahre 1896, „hat endlich praktische Gestalt ge- wonnen, was schon vor hundert und mehr Jahren von hochherzigen Freunden der Menschenbildung immer und immer wieder als einfachste Forderung der Billigkeit hingestellt worden: Die gesellschaftliche Anerkennung der Rechte jedes Menschen- kindes auf Mobilmachung der Kräfte, die ihm im Lebenskampfe mitgegeben wurden.“ Hervorragenden Anteil nahm Fisler sodann nach der Stadterweiterung an der Orga- nisation der Spezialklasse, wie sie in den bezüglichen Bestimmungen enthalten sind, die von der Zentralschulpflege unterm 15. Februar 1894 erlassen wurden. Mitte der neunziger Jahre machte er auf Veranlassung des Schulvorstandes eine Studienreise nach Deutschland und brachte neue Ideen und neue Begeisterung für seine Spezial- klasse mit nach Hause. Einer seiner Zielpunkte hinsichtlich der Organisation dieser Klasse gelangte zu Beginn des Schuljahres 1900/1901 versuchsweise für die Kreise I und V zur Durchführung: der Zusammenzug mehrerer Spezialklassen zu eiuer besonderen Schule zum Zwecke der Ermöglichung der Klassenbildung nach den Fähig- keiten der Schüler, welche Organisation nicht bloss die Arbeit des Lehrers erleichterte, sondern auch die erzieherischen und unterrichtlichen Erfolge steigerte. Mit grosser Begeisterung begrüsste er die im Jahre 1898 von der Schweiz. Gemeinnützigen Ge- sellschaft aufgegriffene Idee der Errichtung eines Instruktionskurses für Lehrer an Spezialklassen. Dieser Kurs fand im ersten Quartal des Schuljahres 1899/1900 (April-Juli) in Zürich statt; Fisler war die Seele desselben ; er übernahm die Ober- leitung und ihm gelang es, die Kursteilnehmer nicht bloss einzuführen in ihren schweren Beruf, sondern ihnen zugleich auch jene Begeisterung für die edle Sache beizubringen, die über die Schwierigkeiten hinweghilft und auch bei anscheinend wenig zu Tage tretendem Erfolg doch die innere Befriedigung dem Lehrer sichert.

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Zürich. (Schweizerische Konferenz für das Idiotenwesen.) Donnerstag, den 20. Dezember 1900, nachmittags, fand im Hotel St. Gotthard eine Sitzung des Vorstandes der Schweizerischen Konferenz für das Idiotenwesen statt. Anwesend waren: Sekundarlehrer Auer in Schmanden als Präsident, Erhard, Direktor der Taubstummenanstalt in St, Gallen, Dr. Ganguillet, Arzt in Burgdorf, Dr. Schenker in Aarau, Präsident der Anstalt für Schwachsinnige in Biberstein, Piaget, Schul- inspektor in Neuenburg, als Vertreter des Hrn. Staatsrat Quartier de la Tente, Britschgi, Erziehungsrat in Sarnen, Frau Villiger-Keller in Lenzburg, Fritschi, Erziehungsrat in Zürich, Wachter in Zürich, Generalsekretär der Schweizerischen Gemeinnützigen Gesellschaft und Graf, Lehrer an der Spezialklasse in Züricb. Am Erscheinen verhindert waren die Herren: Direktor Kölle und der inzwischen ver- storbene Lehrer an der Spezialklasse für Schwachbegabte A. Fisler in Zürich. Nachdem bisher zwei Konferenzen für das Idiotenwesen abgehalten wurden, 1889 in Zürich und 1899 in Aarau, sollen nun künftig die Konferenzen regelmässig in einem zweijährigen Turnus stattfinden Die nächste Konferenz soll sich im Mai oder Juni 1901 versammeln und zwar wird hierfür Burgdorf in Aussicht genommen. Die Haupttraktanden an dieser Versammlung werden zwei Vorträge über folgende Themata bilden: 1. Die eidgenössische Zählung der ins schulpflichtige Alter ein- tretenden Kinder mit körperlichen oder geistigen Gebrechen; wie muss diese Zählung vorgenommen werden und wie sind deren Ergebnisse praktisch zu verwerten, damit sie ihren Zweck erreicht? 2. Wie sollen Unterricht und Erziehung in deu Anstalten und Hilfsklassen für Schwachsinnige gestaltet sein, um diese Kinder für den Brot- erwerb tauglich zu machen und welche Beschäftigungsarten eignen sich hierfür am besten? Möge die Frage der Ausbildung und Erziehung der anormalen Kinder in der Schweiz durch diese Konferenz wieder neue Impulse erhalten und ihrer Lösung näher gebracht werden !

Vermischtes.

Idioten und das Strafgesetz. Ein 18 Jahre alter Porzellanmaler S. stand wegen Sittlichkeitsvergehens unter Anklage. Er hatte wiederholt einigen Schul- mädchen auf der Strasse aufgelauert, dieselben an die Wand gedrückt und in un- züchtiger Weise angefasst.. Schon bei seiner ersten Vernehmung registrierte der Richter, dass S. einen ganz schwachsinnigen Eindruck mache. Der daraufhin mit seiner Untersuchung beauftragte Kreisphysikus führte in einem motivierten Gutachten aus, dass S. in der Entwickelung zurückgeblieben und schwachsinnig sei; doch hielt er eine weitere Beobachtung noch für wünschenswert und das Gericht beschloss demgemäss auf seinen Antrag, den S. für die Dauer von sechs Wochen einer Irrenanstalt zu überweisen. S. hat sich in derselben vom 13. Juni bis 6. Juli befunden. Das Gutachten des Kreisphysikus, dass S. ein Idiot und unzurechnungs- fähig sei, konnte hier lediglich bestätigt werden. Der 18jährige Barbierlehrling D. war beschuldigt und geständig in zehn Fällen kleine Diebstähle verübt zu haben. Nachdem sein Vater durch ein von ihm eingereichtes ärztliches Attest die Zurechnungs-

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fähigkeit des Angeklagten in Zweifel gestellt hatte, wurde die Beobachtung des Letzteren in einer Irrenanstalt gerichtlicherseits beschlossen. Es ergab sich, dass D. an Schwachsinn litt. Auf Grund der Thatsache, dass die Entwickelung des D., sowohl die körperliche wie die geistige, eine verlangsamte und erschwerte gewesen, sowie dass in seiner Kindheit Krämpfe aufgetreten waren, musste der Schwachsinn bei ihm als auf einer krankhaften konstitutionellen Anlage begründet erachtet werden. Zu den erwähnten pathologischen Symptomen gesellte sich noch ein nervöses Zittern der Hände, eine Lähmung der äusseren Augenmuskeln, eine krankhafte Erregung des Gefässsystems und völlige Widerstandslosigkeit gegen Affekte. Das Gutachten wurde dahin abgegeben, dass D. ein von Hause aus krankhaftes Individuum sei und sich dauernd in einem Zustande von krankhafter Störung seiner Geistesthätigkeit befunden habe bezw. befinde, durch welchen seine freie Willensbestimmung aus- geschlossen sei.

Sanitschar, der taubstumme Wolfsknabe. Im Jahre 1867 befand sich eine Anzahl indischer Eingeborener in den dichten Wäldern von Bulandschahr in den Nordwestprovinzen Indiens auf einem Jagdzuge. Da stiessen sie auf einen umher- streifenden Wolf und verfolgten dessen Spur. Diese führte zu einem kleinen Hügel, auf dem, augenscheinlich sich sonnend, ein sonderbar aussehendes Wesen lag, das sich bei näherem Zusehen zum grossen Erstaunen der Jäger als ein menschliches Geschöpf auswies. Kaum hatte es aber die Jäger erblickt, als es sich von seinem Ruheplatze erhob, auf allen Vieren davonsprang und mit dem Wolf in einer Höhle verschwand. Die Eingeborenen zündeten nun am Eingange der Höhle ein Feuer an, um ihre Bewohner durch Ausräucherung zum Verlassen des Schlupfwinkels zu nötigen. Dies gelang. Es währte nicht lange, da stürzte das rätselhafte Wesen, vom Wolfe gefolgt, ins Freie und suchte zu entkommen. Die Eingeborenen warfen sich jedoch sogleich auf den Flüchtling und bemächtigten sich seiner nach kurzem Kampfe, wobei mehrere von ihnen nicht unerhebliche Bisswunden davontrugen. Es fand sich nun, dass es wirklich ein menschliches Wesen war, ein Knabe von 7 oder 8 Jahren, der hier mitten in der Urwildnis, fern von allen menschlichen Wohnungen, in Gemeinschaft mit einem Wolfe in dessen Höhle hauste und augenscheinlich auch dessen Lebens- weise angenommen hatte, denn der Knabe bewegte sich nur. auf allen Vieren und verteidigte sich mit seinen Zähnen. Dabei war er über und über mit Schmutz und Ungeziefer bedeckt, während das wirre Haar wie eine Mähne über sein Gesicht herab- hing, und letzteres einen wilden, unruhigen Ausdruck hatte. Der Wolfsknabe wurde darauf einem der englischen Mission gehörigen Waisenhause übergeben, und da er gerade an einem Samstag (Sanitschar) hier eintraf, gab man ihm den Namen Sanitschar. Anfangs schlugen alle Versuche, ihn seinem tierischen Zustande zu entreissen, fehl. Er wollte durchaus seine Nahrung nur am Boden zu sich nehmen, indem er die Pflanzenkost mit den Tippen erfasste und das Fleisch mit den Zähnen von den Knochen nagte wie ein Tier. Auch sein Aussehen hatte etwas Tierisches. Seine grossen, grauen Augen unter der niedrigen, zusammengedrückten Stirn waren in be- ständiger Unruhe und schielten bald dahin, bald dorthin, als ob ihm von irgend einer Seite ein unvermuteter Angriff drohe. Sein runzliches Gesicht trug verschiedene Narben, die augenscheinlich von scharfen Bissen herrührten, und die ihm wohl sein

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ehemaliger Lagergefährte, der Wolf, beigebracht hatte. Auch an verschiedenen anderen Teilen seines Körpers waren solche Merkmale wahrzunehmen. Sein Kopf war in steter Bewegung, indem er ihn fortwährend mit einer gewissen Gleichmässig- keit und Schnelligkeit, wie sie den Wölfen bekanntlich eigen ist, hin und her wiegte. Alle seine Muskeln schienen zu zucken und er schlenkerte dabei mit den Armen, als ob er mit ihnen nichts anzufangen wüsste. Sobald er Hunger verspürte, pflegte er sich auf die Magengegend zu schlagen, während er zugleich griuste und unverständ- liche Laute von sich gab. Sprechen lernte er nicht, er war taubstumm. Doch fehlte es ihm nicht an einem gewissen Grad von Intelligenz. Durch Zeichen lernte er nach und nach seine Umgebung soweit verstehen, dass er alles that, was man von ihm wünschte. Sanitschar blieb nahezu 30 Jahre lang der Pflegling der Mission. Er entschlief im Jahre 1896. Über seine Herkunft ist niemals der Schleier gelüftet worden und sein ganzes Dasein ist ein undurchdringliches Geheimnis geblieben. (Jugendblätter, herausgegeben von G. Weitbrecht, Stuttgart, Jahrgang 1897, 172.)

Litteratur.

Die Hilfsschulen für schwachbefähigte Kinder, ihre ärztliche und soziale Bedeutung. Von Dr. med. Leopold Laquer, Nervenarzt in Frankfurt a/M. Mit einem Geleitwort von Dr. med. E. Kraepelin, Professor der Psychiatrie in Heidelberg. Wiesbaden. Verlag von J. F. Bergmaun. 1901.

Vorlisgendes, 62 Seiten umfassendes Schriftcnen ist der bereits in dieser Zeit- schrift (1900, Nr. 11) erwähnte, von dem Verfasser auf der 25. Wanderversammlung der südwestdeutschen Neurologen und Irrenärzte gehaltenen Vortrag. Professor Dr. Kraepelin in Heidelberg gab der Schrift in Form eines Briefes ein Geleit- bezw. Vor- wort, in welchem u. a. gesagt wird, dass eine grosse Bedeutung der Hilfsschulen darin zu suchen sei, dass durch dieselben das Augenmerk der Lehrer und weiterhin auch der Bevölkerung auf die krankhaft veranlagten Kinder gelenkt und das Verständnis für ihre Eigenart geweckt werde. In dem Vorworte sowohl wie auch in der Schrift selbst wird dem Zusammenarbeiten des Arztes und der Lehrer an den Hilfsschulen entschieden das Wort geredet, und wir stimmen dem vollständig bei; wie aber nicht jeder Lehrer geeignet ist, an der Hilfsschule, und setzen wir hinzu, an der Anstalt für Schwachsinnige zu arbeiten, so taugt auch nicht jeder Arzt für diese Vor- anstaltungen. Von dem Arzte an der Hilfsschule und der Anstalt ist vorauszusetzen, dass er auch psychiatrische Bildung besitzt, und gleiches wird man auch von dem Lehrer verlangen müssen. Auf solche Weise werden Arzt und Lehrer mit einander zu arbeiten haben, nicht aber wird der eine von ihnen lediglich den Aufsichtführenden, Überwachenden und Kommandierenden zu spielen haben. Nach dem vorliegenden Schriftchen und insbesondere nach den am Schlusse desselben aufgeführten Leitsätzen teilt der Verfasser diese unsere Anschauung, und aus diesem Grunde möchten wir dieser Schrift auch unter den Ärzten eine grosse Verbreitung wünschen. S.

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Briefkasten. H. M. i. L. Mit Dank erhalten. R. 6. W. i. Gr. Geschw. 6. i. H. N. i. &. M. J. i. B. Fr. Fr. i. St. Dir &. i. L. St. i. L. P. B. i. K. Erhalten und Eogan Den Dir. K. K.i. R. Erhalten. Sobald ich fertig bin, erhalten Sie Nachricht. F. Fr, i. St. Mit Dank erhalten und die gewünschten Nrn. abgeschickt.

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AM Kölle in Regensberg (16 S. 8°) fteht Toftenlog zu Dienften.

R. ©. Wehle, Erfter Schreib : Qefe =- Unterricht Tchwachlinniger

N (fġhmwadbefähigter) Kinder. 1898. 104 ©. 8%, Preis Æ 1,50.

R. G. Wehle, Vorübnungen zum Schreib-Lefe-Iinterricht Hwag- finniger Kinder. Eine Handreihung für Schule und Haus. Mit zahl- reichen Abbildungen und 1 Tafel. 1897. 40 ©. 8%. Preis Æ 1,50.

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Die X. Konferenz für das Idiotenwesen und Schulen für schwachsinnige Kinder

findet im September 1901 in Elberfeld statt. Im Interesse der guten Sache bittet der Unterzeichnete etwaige auf die Konferenz bezügliche Anträge und Wünsche schon jetzt an ihn gelangen zu lassen und die An- meldung von Vorträgen bis Ende März bewirken zu wollen.

Dalldorf. Erziehungsinspektor Hi. Piper, Vorsitzender der IX. Konferenz.

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Inhalt: Sinnes- und Sprechübungen (Unterscheidungsübungen) in der Hilfsschule, (F. Loeper). Die Bilduug des Gemüts bei den Schwachsinnigen. Heilung eines Falles von epileptischem Irrsinn. Zum Ministerial-Erlass vom 20. September 1895. Mitteilungen: Augsburg, Hamburg, Gotha, Zürich. Vermischtes: Idioten und das Strafgesetz. Sanitschar, der taubstumme Wolfsknabe. Litteratur: Die Hilfsschule für schwachbefähigte Kinder, ihre ärztliche und soziale Bedeutung. Briefkasten. Anzeigen.

Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden, Druck von Johannes Pässler in Dresden.

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Nr. 3. ey (XXI)

“Zeitschrift

für die

Behandlung Sehwachsinnieer wi Epileptise E

Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Dresden -Strehlen, für Nerrenkrankheiten Residenzstrasse 27. tattgart

Erscheint jährlich in 12 Nummern von Zu beziehen durch alle Buchhandlungen

mindestens einem Bogen. Anzeigen für 1901 | und Postämter, wie auch direkt von der

die gespaltene Petitzeile 25 Pfg. Litte- rz . Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, rarische Beilagen 6 Mark." | einzelne Nummer 50 Pfg.

Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

Einladung.

Die X. Konferenz für das ldiotenwesen und die Schulen für schwachsinnige Kinder

findet nach dem Beschluss der Breslauer Konferenz im September d. J. zu Elberfeld statt.

Das Präsidium hat die Tage vom 17. bis 19. September für die Konferenz in Aussicht genommen und als Termin für die Einsendung der zu behandelnden Themata, Thesen u. s. w. den 10. April festgestellt. Die Vorkonferenz, in der über die vorgeschlagenen Themen Beschluss gefasst und das Programm der Kon- ferenz festgesetzt wird, soll Ende April abgehalten werden.

Die Veröffentlichung einer statistischen Übersicht über die Idiotenan- stalten Deutschlands, der Schweiz, der russischen Ostseeprovinzeu und Österreichs hat Herr Pastor Stritter, Direktor der Alsterdorfer Anstalten (Hamburg), über- nommen und bitte ich etwaige Wünsche an Herrn Pastor Stritter umgehend

gelangen zu lassen.

Die Vorbereitungen zur Konferenz sind im besten Gange. Herr Schulrat Dr. Boodstein-Elberfeld, der durch seinen regelmässigen Besuch der Konferenzen das wärmste Interesse für unsere Arbeit bekundet und durch seine rege Beteiligung an unsern Debatten sein tiefes Empfinden für unsere schwachsinnigen Kinder offenbart hat, teilte mir mit, dass es unserer Konferenz in Elberfeld an ideellem wie materiellem Entgegenkommen nicht fehlen werde.

Das Lokal-Komitee ist in der Bildung begriffen,

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Für die Konferenz sind bis jetzt folgende Themata angemeldet: . Die Idiotenanstalten und die Hilfsschulen, eine Grenzregulierung. Dir. Barthold-M.-Gladbach.

uud

2. Die ideale Seite der Idiotenpflege. Dir. Herberich-Gemünden.

3. Die Aufänge des Schwachsinns. Dir. Trüper-.Jena.

4. Versuch einer Einteilung der Idioten. Dir. Kölle-Regensberg.

5. Der Formenunterricht bei Schwachsinnigen. Dir. Kölle-Regensbery.

6. Übersicht über die Entwicklung und den jetzigen Zustand des Idioten- wesens in Dänemark. Dir. Bolstedt-Kopenhagen.

7. Die Beschäftigung der Schwachsinnigen. Pastor Bernhard- Stettin, Kückenmühle.

8. Über einige besondere Gruppen unter den Idioten. -- Dr. Berkhan- Braunschweig.

9. Über den höheren Grad von Schreibstammeln. Dr. Berkhan- Braunschweig.

10. Was fordern wir von unseren Zöglingen für die Reife zur Konfirmation ? Pfarrer Geiger- Mosbach.

Alle, welche sich für die Fürsorge der Schwachsinnigen interessieren, ins- besondere Behörden, Psychiater, Ärzte, Geistliche, Pädagogen werden zur Teil- nahme an dieser Konferenz freundlichst eingeladen und gebeten, Vorträge und Demonstrationen spätestens bis 10. April cr. bei dem unterzeichneten Vorsitzen-

den anınelden zu wollen. Piper, Erziehungsinspektor

der Berliner Idiotenanstalt zu Dalldort.

Von Herrn Schulrat Pfarrer Strebel-Stetten, welcher leider verhindert ist, unserer Konferenz beizuwohnen, werden nachfolgende Themen zur Besprechung vorgeschlagen:

1. Wie werden Seminaristen und Lehrer angeleitet zur Arbeit an den Schwachen ?

2. Das Stabturnen in unseren Anstalten.

3. Referat über die Pestalozzi-Fibel und das Hilfsschullesebuch.

4. Wie kann und soll das Zeichnen von unten herauf bei den Schwachen getrieben werden ?

5. Schulgarten.

6. Mass und Art des Memorierens.

Der Unterzeichnete bittet um Berücksichtigung obiger Themen und baldige Anmeldung. Est ist zu empfehlen, die Referate kurz zu halten und Leitsätze aufzustellen. Erwünscht ist es auch, diese Leitsätze möglichst bald bekannt zu geben, zu welchem Zwecke es sich empfiehlt, dieselben dem Organe der IXonferenz (Dir. Schröter-Dresden-Strehlen, Residenzstrasse 27) zuzustellen. Piper.

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Die Bedeutung des bürgerlichen Gesetzbuchs für Schwachsinnige und Epileptische. Von Dr W. Weygandt, Privatdozent in Würzburg.

Unser seit Beginn des vorigen Jahres geltendes bürgerliches Gesetzbuch hat die civile Stellung der geistig abnormen Menschen neu geregelt. Die kurze Zeit seit der Einführung konnte freilich noch keinen feststehenden Usus in der Auslegung des Gesetzes bringen, doch ist sie immerhin lang genug, dass wenig- stens von der ärztlichen Seite die mannigfachsten Äusserungen über die Frage laut werden und dass auch die Anfänge einer Handhabung des einschlägigen Teils in der öffentlichen Praxis vorliegen und uns zeigen, wie die uns an- gehenden Punkte des neuen Rechts verstanden oder auch missverstanden worden sind. Auch alle, die sich mit der Behandlung der angeboren Schwachsinnigen wie der Epileptiker befassen, sollten sich über die fraglichen Neuerungen informieren. Die Fürsorge für jene Kategorien von geistig Abnormen, die sich ja vielfach wegen des dauernden Anstaltsaufenthalts nur noch in ganz lockerem Konnex mit ihren Familienangehörigen befinden, hat sich schliesslich auch auf die Überwachung und Regelung der rechtlichen Ver- hältnisse zu erstrecken, da hierin gerade von seiten der Eltern aus Mangel an Sachkenntnis viel versäumt wird.

Für viele Idioten- und auch Epileptikeranstalten gilt als das Austrittsalter der Zöglinge gerade die Lebenszeit, in der ein normaler Mensch in den Voll- besitz der bürgerlichen Rechte gelangt. Freilich ist bisher auch der elternlose Idiot oder Epileptiker öfter entmündigt worden oder es konnte für einen Teil Deutschlands, dessen Civilverhältnisse nach dem französischen Recht geregelt waren, die auf ganz leichte Fälle von Defektzuständen anwendbbare „Verbei- standung“ in Betracht kommen, die indes für unsere Kranken eine seltene Aus- nahmemassregel war. Gewöhnlich wurde mit der vollständigen Entmündigung jede Möglichkeit, eigenen Willen zu bethätigen, ein Erwerbsgeschäft zu be- treiben, zu heiraten u. s. w., ganz und gar abgeschnitten.

Hierin ist nunmehr eine weitreichende Änderung eingetreten. Überschauen wir nun einmal in Kürze zunächst die wichtigsten Bestimmungen des B. G.-B. betreffs der geistig abnormen Zustände; darauf wollen wir die Anwendbarkeit auf die Schwachsinnigen und Epileptiker untersuchen und schliesslich fragen, in welcher Weise bisher das neue Verfahren schon geübt wurde.

Grundlegend ist der § 6:

„Entmündigt kann werden:

1. Wer infolge von Geisteskrankheit oder von Geistesschwäche seine An-

gelegenheiten nicht zu besorgen vermag; 2. wer durch Verschwendung sich oder seine Familie der Gefahr des Notstandes aussetzt;

3 wer infolge von Trunksucht seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag oder. sich oder seine Familie der Gefahr des Notstandes aus- setzt oder die Sicherheit anderer gefährdet.

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Die Entmündigung ist wieder aufzuheben, wenn der Grund der Ent- mündigung wegfällt.“

Die wesentlichste Neuerung für uns ist darin bereits ausgesprochen: Es werden 2 Entmündigungsgründe aus dem Bereich der geistigen Störungen an- geführt, Geisteskrankheit und Geistesschwäche. Gleich an dieser Stelle sei der nachdrückliche Hinweis vorweggenommen, dass es sich nach dem ganzen Ent- wickelungsgang des B. G.-B. wie nach dem Urteil der namhaftesten juristischen Kommentatoren (Planck) sowie aller irrenärztlichen Beurteiler hier nicht um medizinische Begriffe handelt, sondern lediglich um die Bezeichnung eines ver- schieden hohen Grades der geistigen Abnormität.

Welche praktischen rechtlichen Folgen hat die Unterscheidung nach dem Entmündigungsgrund? 8 104 sagt hierüber aus:

„Geschäftsunfähig ist:

1. Wer nicht das siebente Lebensjahr vollendet hat;

2. wer sich in einem die freie Willensbestimmung ausschliessenden Zu- stande krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befindet, sofern nicht der Zustand seiner Natur noch ein vorübergehender ist;

3. wer wegen Geisteskrankheit entmündigt ist.“

Die wegen Geisteskrankheit a sind also dem Kind unter

7 Jahren gleichgestellt.

$ 105: „Die Willenserklärung eines Geschäftsunfähigen ist nichtig.

Nichtig ist auch eine Willenserklärung, die im Zustande der Be- wusstlosigkeit oder vorübergehenden Störung der Geistesthätigkeit ab- gegeben wird.“

Während also vorübergehende Geistesstörungen, wie etwa Hypnose, Rausch, Fieberdelirium und auch epileptische und hysterische Dämmerzustände den Be- treffenden nicht geschäftsunfähig machen, ist doch durch § 105 dafür gesorgt, dass etwaige Handlungen, die in dem betreffenden Krankheitszustand begangen sind, keine Rechtskraft besitzen.

Im Unterschied davon gilt für die aus dem 2. Grunde, wegen Geistes- schwäche Entmündigten, der $ 114:

„Wer wegen Geistesschwäche, wegen Verschwendung oder wegen Trunksucht entmündigt ist oder wer nach § 1906 unter vorläufige Vormundschaft gestellt ist, steht in Ansehung der Geschäftsfähigkeit einem Minderjährigen gleich, der das siebente Lebensjahr vollendet hat.“

§ 106 bestimmt: „Ein Minderjähriger, der das siebente Lebensjahr vollendet hat, ist nach Massgabe der $$ 107 bis 113 in der Geschäfts- fähigkeit beschränkt.“

Wichtig ist, dass der wegen Geistesschwäche Entmündigte also den Minderjährigen vom 7. bis zum 21. Jahre gleichsteht.

Was ist nun dem Entmündigten, einerlei aus welchem Grund er unter Vormundschaft gestellt ist, unter allen Umständen untersagt? Vor allen Dingen darf er „ohne den Willen seines gesetzlichen Vertreters einen Wohnsitz

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weder begründen, noch aufheben“ ($ 8). Damit hat der Vormund das Recht, den Wohnsitz, eventuell eine geeignete Anstalt für Geisteskranke, Schwach- sinnige, Epileptiker oder Trinker, anzuordnen. Natürlich darf der Entmündigte nicht selbst zu Vormundschaftsgeschäften oder zum Familienrat herangezogen werden (88 1780, 1897, 1792 IV, 1915, 1694 I, 1865, 1885). Ebenso darf er weder Testamentszeuge noch Testamentsvollstrecker sein, noch Eheverträge schliessen.

Der Vormund selbst ist in einer Reihe von Handlungen für seinen Mündel abhängig von der Genehmigung des Vormundschaftsgerichts, so bei der Ver- fügung über Grundstücke des Mündels, Pachtverträgen für denselben u. s. w. (S$ 1821 bis 1831).

Zu betonen ist unter diesen Bestimmungen besonders, dass kein Ent- mündigter ein Testament errichten darf; aber auch ein noch nicht Entmün- digter Geistesgestörter ist dazu nicht berechtigt, da ja jede im Zustand der Bewusstlosigkeit oder der dauernden oder vorübergehenden Geistesstörung ab- gegebene Willenserklärung nach $ 105 nichtig ist.

Der wegen Geisteskrankheit Entmündigte bedarf zu jedem Rechtsgeschäft eines Vormunds; selbst die Annahme eines Geschenkes ohne vormundschaft- liche Genehmigung ist nach dem Buchstaben des Gesetzes ungültig.

In wichtigen Punkten verhält es sich anders mit den wegen Geistesschwäche entmündigten Personen, die dem Minderjährigen vom 7. bis zum 21. Lebens- jahre gleichgestellt sind. Diese Personen sind geschäftsbeschränkt und dürfen ohne Einwilligung des Vormundes nur solche Willenserklärungen abgeben, durch die sie lediglich einen rechtlichen Vorteil erlangen ($ 107) Schenkungen können sie z. B. ohne Weiteres annehmen. Im übrigen aber bedürfen sie stets der Genehmigung des Vertreters und in wichtigeren Punkten auch der des Vormundschaftsgerichts. Hierher gehören die Schliessung eines Ehevertrags, durch den die allgemeine Gütergemeinschaft vereinbart oder aufgehoben wird 1437), die Schliessung eines ehelichen Erbvertrags, die väterliche Ehelich- keitserklärung und Einwilligung in dieselbe, sowie aktive und passive Annahme an Kindesstatt (§§ 1437, 2275 U, 1729, 1751). Die Möglichkeit einer Ehe- schliessung, die für Geschäftsunfähige nicht besteht, ist hier besonders wichtig.

Eine Reihe von Rechtsgeschäften familiärer Art sind auch ohne Genehmigung des Vormunds erlaubt: Anfechtung der Ehelichkeit ($ 1595), Anfechtung eines Erbvertrags, dessen Aufhebung, Rücktritt von demselben ($$ 2282 I, 2290 II, 2296 I), Annahme des Erbverzichts ($ 2347 II) u. s. w.

Ferner kann der Vormund dem wegen Geistesschwäche Entmündigten zu bestimmten Zwecken Mittel zur Verfügung stellen, über die dem Mündel im Umkreis des gedachten Zwecks freie Verfügung zusteht:

$ 110: „Eine von dem Minderjährigen ohne Zustimmung des ge- setzlichen Vertreters geschlossener Vertrag gilt als von Anfang an wirk- sam, wenn der Minderjährige die vertragsmässige Leistung mit Mitteln bewirkt, die ihm zu diesem Zwecke oder zu freier Verfügung von dem Vertreter oder mit dessen Zustimmung von einem Dritten überlassen worden sind.“

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Es ist dasselbe, wie wenn ein minderjähriger Student oder ein Soldat von seinem Vormund einen monatlichen Zuschuss zur Bestreitung irgend welcher Ausgaben erhält.

Im Anschluss daran geben die wichtigen §§ 112 und 113 dem wegen Greistesschwäche Entmündigten noch eine Reihe wertvoller Rechte.

$ 112: „Ermächtigt der gesetzliche Vertreter mit Genehmigung des Vormundschaftsgerichts den Minderjährigen zum selbständigen Betrieb eines Erwerbsgeschäfts, so ist der Minderjährige für solche Rechtsgeschäfte unbeschränkt geschäftsfähig, welche der Geschäftsbetrieb mit sich bringt. Ausgenommen sind Rechtsgeschäfte, zu denen der Vertreter der Genehmigung des Vormundschaftsgerichts bedarf.

Die Ermächtigung kann von dem Vertreter nur mit Genehmigung des Vormundschaftsgerichts zurückgenommen werden.“

$ 113: „Ermächtigt der gesetzliche Vertreter den Minderjährigen, in Dienst oder in Arbeit zu treten, so ist der Minderjährige für solche Rechtsgeschäfte unbeschränkt geschäftsfähig, welche die Eingehung oder Aufhebung eines Dienst- oder Arbeitsverhältnisses der gestatteten Art oder die Erfüllung der sich aus einem solchen Verhältnis ergeben- den Verpflichtungen betreffen. Ausgenommen sind Verträge, zu denen der Vertreter der Genehmigung des Vormundschaftsgerichts bedarf.

Die Ermächtigung kann von dem Vertreter zurückgenommen oder eingeschränkt werden.

Ist der gesetzliche Vertreter ein Vormund, so kann die Frmächtigung, wenn sie von ihm verweigert wird, auf Antrag des Minderjährigen durch das Vormundschaftsgericht ersetzt werden. Das Vormundschafts- gericht hat die Ermächtigung zu ersetzen, wenn sie im Interesse des Mündels liegt.

Die für einen einzelnen Fall erteilte Ermächtigung gilt im Zweifel als allgemeine Ermächtigung zur Eingehung von Verhältnissen derselben Art.“

Die bedeutenden Konsequenzen dieser $$ sind zunächst die, dass der wegen (ieistesschwäche Entmündigte ein Erwerbsgeschäft betreiben darf, im Bereich dessen er unbeschränkt erwerbsfähig ist; natürlich unter vorheriger einmaliger Ermächtigung durch den Vormund mit Genehmigung des Vormundschafsgerichts. Ein Handwerk, ein Handelsgeschäft, Ausübung einer Kunst, Landwirtschafts- betrieb u. s. f., kann also auch dem wegen Geistesschwäche Entmündigten zuge- standen werden. Betreibt ein solcher z. B: die Schuhmacherei, so kann er selbständig das Leder einkaufen, Gesellen nehmen, Buchführung besorgen und Rechnungen ausstellen, ja selbständig Prozesse führen, die sich aus seinem Ge- schäftsbetrieb ergeben.

Betreffs des Entmündigungsverfahrens sei nur soviel erwähnt, dass zu- nächst ein Antrag von seiten eines nahen Verwandten nebst ärztlichem Zeugnis einzureichen ist, worauf Zeugen und vor allem ein ärztliches Gutachten her- beigeliefert werden muss. Der Richter ist in seiner Entscheidung nicht an die Ansicht des Gutachtens gebunden.

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Im Anschluss an die Entmündigungsvorschriften müssen wir hier noch eine andere Form gesetzlicher Fürsorge erwähnen, die mit der „Verbeistandung“ in Anlehnung an den Code civile verwandt ist:

8 1910: „Ein Volljähriger, der nicht unter Vormundschaft steht, kann einen Pfleger für seine Person und sein Vermögen erhalten, wenn er infolge körperlicher Gebrechen, insbesondere weil er taub, blind oder stumm ist, seine Angelegenheiten nicht zu besorgen vermag.

Vermag ein Volljähriger, der nicht unter Vormundschaft steht, in- folge geistiger oder körperlicher Gebrechen einzelne seiner Angelegen- heiten oder einen bestimmten Kreis seiner Angelegenheiten, insbesondere seine Vermögensangelegenheiten, nicht zu besorgen, so kann er für diese Angelegenheiten einen Pfleger erhalten.

Die Pflegschaft darf nur mit Einwilligung des Gebrechlichen an- geordnet werden, es sei denn, dass eine Verständigung mit ihm nicht möglich ist.“

Es handelt sich bei dieser Pflegschaft also um eine partielle, freiwillige, vormundschaftliche Fürsorge, deren Wiederaufhebung jederzeit in der Hand des Pflegebefohlenen selbst liegt.

Angefügt seien nun noch einige Worte über das Eherecht, das freilich bei angeboren Schwachsinnigen selten, eher noch einmal bei Epileptikern in Frage kommen wird.

$ 1325: „Eine Ehe ist nichtig, wenn einer der Ehegatten zur Zeit der Eheschliessung geschäftsunfähig war oder sich im Zustand der Bewusstlosigkeit oder vorübergehender Störung der Geistesthätigkeit befand.

Die Ehe ist als von Anfang an gültig anzusehen, wenn der Ehe- gatte sie nach dem Wegfalle der Geschäftsunfähigkeit, der Bewusst- losigkeit oder der Störung der Geistesthätigkeit bestätigt, bevor sie für nichtig erklärt oder aufgelöst worden ist. Die Bestätigung bedarf nicht der für die Eheschliessung vorgeschriebenen Form.“

Auch die Möglichkeit einer arglistigen Täuschung wäre unter Umständen bei Epileptikern zuzugeben:

§ 1334: „Eine Ehe kann von dem Ehegatten angefochten werden, der zur Eingehung der Ehe durch arglistige Täuschung über solche Umstände bestimmt worden ist, die ihn bei Kenntnis der Sachlage und bei verständiger Würdigung des Wesens der Ehe von der Eingehung der Ehe abgehalten haben würden. Ist die Täuschung nicht von dem anderen Ehegatten verübt worden, so ist die Ehe nur dann anfechtbar, wenn dieser die Täuschung bei der Eheschliessung gekannt hat.

Auf Grund einer Täuschung über Vermögensverhältnisse findet die Anfechtung nicht statt.“

Erfährt z. B. der eine Ehegatte nach der Eheschliessung, dass der andere an epileptischen Anfällen oder Dämmerzuständen leidet, so kann er hinterher

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die Ehe auf Grund dieses $ anfechten. Freilich richtet sich die Entscheidung nach der Eigenart des Falles.

Von der Ehescheidung handelt $ 1569:

„Ein Ehegatte kann auf Scheidung klagen, wenn der andere Ehe- gatte in Geisteskrankheit verfallen ist, die Krankheit während der Ehe mindestens 3 Jahre gedauert und einen solchen Grad erreicht hat, dass die geistige Gemeinschaft zwischen den Ehegatten aufgehoben, auch jede Aussicht auf Wiederherstellung dieser Gemeinschaft aus- geschlossen ist.“

Angeborener Schwachsinn kommt hier nicht in Betracht. Wohl aber ist der Fall möglich, dass ein Ehegatte allmählich in hochgradigen epileptischen Blödsinn verfällt, worauf dann nach 3 Jahren die Scheidung ausgesprochen werden kann, da die Krankheit unheilbar ist und der Zustand eine geistige Gemeinschaft ausschliesst. Freilich angesichts der Erfahrung, dass Epileptiker vielfach schon in früheren Lebensjahren verblöden, wird die erwähnte Konstellation nicht häufig eintreten. In praxi pflegt das Volk grade von dem $ 1569, bez. den einschlägigen Bestimmungen des früheren Rechts über Ehescheidung wegen Geistesstörung, nur ganz selten Gebrauch zu machen. Zu beachten ist noch, dass vor dem Riohterspruch ein ärztliches Gutachten eingeholt werden muss.

Viel häufiger wird die Deliktsfähigkeit bei unseren Kranken in Frage kommen. Bekanntlich ist das Kind unter 7 Jahren für einen Schaden, dem es verursacht, gar nicht verantwortlich, ein Minderjähriger vom 7. bis 18. Jahr nur dann, wenn er die zur Erkenntnis der Verantwortlichkeit nötige Einsicht hat ($ 828). Für geistig abnorme Personen gilt $ 827:

„Wer im Zustande der Bewusstlosigkeit oder in einem die freie Willensbestimmung ausschliessenden Zustande krankhafter Störung der Geistesthätigkeit einem anderen Schaden zufügt, ist für den Schaden nicht verantwortlich. Hat er sich durch geistige Getränke oder ähn- liche Mittel in einen vorübergehenden Zustand dieser Art versetzt, so ist er für einen Schaden, den er in diesem Zustande widerrechtlich verursacht, in gleicher Weise verantwortlich, wie wenn ihm Fahrlässig- keit zur Last fiele; die Verantwortlichkeit tritt nicht ein, wenn er ohne Verschulden in den Zustand geraten ist.“

Die Bestimmung steht in Füblung mit dem wichtigen $ 51 des Straf- gesetzbuchs für das Deutsche Reich und will unter „freier Willensbestimmung“ auch nichts anderes verstehen als „die regelgemässe Bestimmbarkeit durch Vorstellungen“, wie es der Strafrechtslehrer Professor von Liszt in Berlin aus- drückt. Der selbstverschuldete Rausch gilt nicht als Ausrede; wohl aber kann ein Epileptiker, der alkoholintolerant ist und deshalb nach Genuss von 1 bis 2 Glas Bier schon in einen pathologischen Rauschzustand gerät, in dem er ver- schiedenes zerstört, den letzten Absatz des $ zu seinen Gunsten geltend machen; hatte er aber bereits öfter Gelegenheit zu erfahren, dass er eben überhaupt keinen Alkohol verträgt, so gilt auch sein pathologischer Rausch, der durch den

41 Genuss ganz geringer Mengen geistiger Getränke provoziert ist, als ein selbst- verschuldeter.

Besonders zu bemerken ist aber noch, dass jemand, der aus den soeben besprochenen Gründen für den verursachten Schaden nicht verantwortlich ist, gleichwohl den Schaden insoweit zu ersetzen hat,

„als die Billigkeit nach den Umständen, insbesondere nach den Verhältnissen der Beteiligten, eine Schadloshaltung erfordert und ihm nicht die Mittel entzogen werden, deren er zum standesgemässen Unter- halte sowie zur Erfüllung seiner gesetzlichen Unterhaltungspflichten bedarf“ ($ 829).

Diese Ersatzpflicht gilt also, wenn ein reicher Epileptiker in einem Dämmer- zustand ein Haus ansteckt, auch für den Fall, dass die Frage nach der kriminellen Verantwortlichkeit verneint wird. Geschieht aber die gleiche Hand- lung von seiten eines Unvermögenden, so kann von ihm kein Schadenersatz verlangt werden.

Schliesslich ist noch nachzutragen, dass die That eines, der wegen Minder- Jährigkeit oder wegen seines geistigen oder körperlichen Zustandes der Beauf- sichtigung bedarf, die zur Beaufsichtigung verpflichtete Person ($ 832) verant- wortlich ist, also etwa der Vater oder auch bei internierten Geistesschwachen oder Epileptikern der Direktor der betreffenden Anstalt. Immerhin wird diese Ersatzpflicht, die ja bei rigoroser Handhabung für die Anstaltsleiter manchmal die übelsten Konsequenzen haben könnte, dann nicht geltend gemacht, wenn der Aufsichtführende

„seiner Aufsichtspflicht genügt oder wenn der Schaden auch bei ge- höriger Aufsichtsführung entstanden wäre“ ($ 832).

Wenn wir fragen, welche Anwendung die soeben vorgeführten rechtlichen Bestimmungen auf die uns hier näher interessierenden Kranken, auf angeboren Schwachsinnige und Epileptiker finden, so müssen wir noch einmal betonen, dass der gesetzliche Begriff der Geistesschwäche nichts zu thun hat mit dem medizinischen, wie er sich gerade auch in der vorliegenden Zeitschrift aus- spricht (Gemeiniglich stellt man die Geistesschwäche als einen bleibenden Zustand auf angeborener oder in frühester Jugend erworbener Grundlage den Geisteskrankheiten als den erworbenen Prozessen gegenüber. Aber ärztlicher- seits ist man sich längst darüber klar, dass dieser Geistesschwäche ebenso gut pathologische Verhältnisse in dem Träger der seelischen Erscheinungen, der Grosshirnrinde, parallel gehen, wie jeder anderweitigen geistigen Abnormität, dem Altersblödsinn, dem Säuferwahnsinn und wie sie alle heissen. Die ärztlicher- seits nur geduldete, aber nicht voll begründete Gegenüberstellung von Geistes- schwäche und Geisteskrankheit hat nichts mit jenen 2 Begriffen des B. G.-B. zu thun, die vielmehr nur 2 Zustände geistiger Abnormität von verschieden hohem Grad ausdrücken sollen. Es kommt jedesmal auf die rechtlichen Folgen an. Der Geistesgestörte, der noch in gewissem Umfang ein Erwerbsgeschäft be- treiben, eine Dienststellung versehen und schliesslich auch in die Ehe treten kann, aber doch eines gesetzlichen Schutzes bedarf, wird wegen Geistesschwäche

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entmündigt, jeder tiefer stehende Geistesgestörte jedoch wegen Geisteskrankheit mit ihren weiter reichenden Konsequenzen.

Eine Aufteilung der einzelnen Psychosen nach diesem Gesichtspunkt ist unmöglich, es muss vielmehr von Fall zu Fall gerechnet werden. Im ganzen kann man wohl sagen, dass die schweren Geisteskrankheiten mit progressivem Verlauf mehr der schweren Form der Entmündigung bedürfen, so die progressive Paralyse, der Altersblödsinn, auch die schwereren Fälle der jugendlichen Ver- blödungsprozesse u. s. w. Die periodischen Störungen nehmen eine Sonder- stellung ein. Wegen Geistesschwäche entmündigen wird man am ehesten Leute mit Krankheiten wie die systematisierende Paranoia, der Querulantenwahn, dann die als Psychoneurosen bezeichneten Fälle wie schwere Hysterie, kon- stitutionelle Neurasthenie u. s. w. Aber alle diese diagnostischen Unterschiede geben keine von vornherein sicheren Gesichtspunkte für die gerichtsärztliche Entscheidung ab, sondern lediglich die Erwägung: ist der geistige Defekt derart, dass der Betreffende noch unter gewissen Einschränkungen einzelne Rechtsge- schäfte ausführen kann, oder bedingt er vollkommene Geschäftsunfähigkeit?

Grade so werden wir auch in den Fällen des angeborenen Schwachsinns fragen müssen nach dem Grade der Störung. Einen Fingerzeig kann uns hier der Klassifikationsmodus Wildermuths geben, der von der Untersuchung aus- geht: welcher Bildungsstufe des normalen Kindes entspricht der Zustand der Entwicklungshemmung des Idioten oder Imbezillen? Wir hätten somit eine ungefähre Parallele zu der gesetzlichen Gleichstellung der wegen Geisteskrank- heit Entmündigten und der Kinder unter 7 Jahren einerseits und der wegen Greistesschwäche Entmündigten und der Unmündigen vom 7. bis 21. Jahr. Die Idioten gehören jedenfalls in die Kategorie der Geschäftsunfähigen. Bei ihnen muss der Vormund für alle Rechtsgeschäfte eintreten. Aber auch ein grosser Teil der Imbezillen ist dahin zu zählen, trotzdem gerade diese Gruppe oft als die Geistesschwachen im engeren Sinn den völlig blödsinnigen Idioten einerseits und den an erworbenen Psychosen Leidenden andererseits gegenübergestellt werden. Die Frage nach der entsprechenden Entwicklungsstufe beim normalen Menschen lässt sich für zahlreiche Imbezillitätsfälle gar nicht beantworten. Es ist ratsam, sich im praktischen Fall immer darüber zu orientieren, ob der Im- bezille auch im stande ist, die Konsequenzen der Entmündigung wegen Geistes- schwäche zu erfüllen. Die bei weitem wichtigsten dieser Konsequenzen sind einmal die Betreibung eines Erwerbsgeschäfts ($ 112), dann die Eingehung eines Dienstvertrags ($ 113), sowie die Eheschliessung, alles natürlich mit vormund- schaftlicher Genehmigung. So wünschenswert die Durchführung der beiden ersten Möglichkeiten, die den Imbezillen in den Stand setzen, alle seine Kräfte auszunutzen, auch vom sozialen Standpunkt ist, so muss doch untersucht werden, ob der Geistesschwache über einen gewissen Grad von Selbständigkeit und Widerstandsfähigkeit gegen fremde Einflüsse verfügt, ohne den ein Erwerbs- geschäft nicht betrieben werden kann.

Bei der Eheschliessungsfrage ist zu bedenken, dass da auch für den Geistes- gesunden gewisse Einschränkungen bestehen: der Mann wird erst mit der Voll-

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jährigkeit ehemündig, eine Frau mit dem 16. Lebensjahr ($ 1303). Vor allem ist zu überlegen, dass vom sozialhygienischen Standpunkt aus die Eheschliessung Geistesgestörter wegen der Vererbungsgefahr unerwünscht ist und deshalb in manchen Fällen gerade die Entmündigung wegen Geisteskrankheit angebracht sein kann, die eine Verehelichung des Entmündigten unter allen Umständen ausschliesst.. Es wird mit diesem Eheverbot Geisteskranker, wie man sich von einer Seite ausdrückte, „ein Wall gegen die progressive Degeneration der Rasse aufgeworfen“.

In diesem Sinn der Entmündigunz wegen Geisteskrankheit wurde z. B. folgender Fall einer 34 jährigen Imbezillen entschieden. Der Vater derselben war Säufer. Sie kam schon in der Volksschule nicht mit, war später ausser stand, sich selbständig durchs Leben zu bringen und bekam ein uneheliches Kind nach dem anderen. Man brachte sie in einer Kreispflegeanstalt unter, wo sie aber von einem Wärter Zwillinge bekam. Darauf wurde sie in einer Irrenanstalt interniert und der Entmündigungsantrag gestellt.

Patientin hat kurzen Schädel und niedere Stirn; der Gesichtsausdruck ist blöd und schlaff; der Gaumen steil und das Zäpfchen seitlich geneigt. Die Sprache ist näselnd; die Sehschärfe gering. Der Kniescheiben-Sehnenreflex war etwas lebhaft, sonst bestand keine körperliche Abweichung. Patientin fasste die Fragen richtig auf, war besonnen und geordnet; örtlich gut, zeitlich aber mangelhaft orientiert. Sie antwortete sinngemäss, doch etwas weitschweifig. Ganz leichte Rechenaufgaben konnte sie lösen; die geschichtlichen und geographischen Kenntnisse waren gleich Null. Sie hatte keinerlei Krankheits- einsicht, vielmehr meinte sie, sie habe ihren Verstand und könne arbeiten. Sie machte sich gar kein Gewissen daraus, dass sie schon 8 uneheliche Kinder ge- boren, nur das einzige Bedenken äusserte sie „wegen dem Durchmachen bei der Geburt“. In kindlicher Weise meinte sie, die Sache wäre erledigt, denn der „Herr Amtmann habe ihr diesmal noch verziehen“; sie habe aber jetzt dem Amtmann versprochen, es käme nichts mehr vor. Den Heiratsversprechungen des Wärters hatte sie blindlings geglaubt. Wenn sie zur Arbeit angehalten wurde, half sie fleissig im Haushalt der Krankenabteilung mit. Sie war manch- mal etwas rührselig, doch im ganzen apathischer Stimmung.

Die Stufe geistiger Entwickelung entsprach ungefähr der eines Schulkinds in den unteren Schulklassen. Wenn sie auch in bescheidenem Maße arbeits- fähig war und eine ganz leichte Dienststellung wohl hätte versehen können, musste man sie doch als gänzlich unfähig zur Vollziehung irgend welcher Rechtsgeschäfte bezeichnen und anlässlich dieser Geschäftsunfähigkeit das Gut- achten auf Entmündigung wegen Geisteskrankheit stellen. (Schluss i. nächst. Nr.)

Mitteilungen. Leipzig. (Christbescherung, Mittagtisch, Milchspende) Am 18. Januar nachmittags 3 Uhr fand in der hiesigen Hilfsschule die diesjährige Christbescherung statt. 51 Knaben und 35 Mädchen, die bedürftigsten und würdigsten unserer gegen-

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wärtig 191 Schüler, wurden mit wertvollen Geschenken reich bedacht. Sie erhielten je nach Bedürfnis schwarzen Stoff zur Konfirmandenausstattung oder auch fertige Kleider, ganze Anzüge oder einzelne Kleidungsstücke, Schuhwerk, Strümpfe, Hemden, Taschentücher, Mützen und dergleichen brauchbare Suchen, und schliesslich fehlte auch das Päcktchen Pfefferkuchen nicht. Die Summe, welche für all die Geschenke ver- ausgabt wurde, betrug 795 Mk. 81 Pf.

Mit der Bescherung, die im Betsaale der 3. Bürgerschule, in deren Räumen die Hilfsschule mit untergebracht ist, abgehalten wurde, verband sich eine einfache, würdige Feier. Es hatten sich zu dieser ausser dem Lehrerkollegium Eltern, Geschwister und Verwandte der Kinder, Freunde und Gönner der Schule zahlreich eingefunden und füllten den im hellen Lichterscheine des Christbaumes erglänzenden Saal. Nach dem Gesange der ersten zwei Verse des Chorals „Vom Himmel hoch, da komm’ ich her“ hielt zunächst einer der Kollegen eine kurze Ansprache an die Kinder, in die sich an geeigneter Stelle die Erzählung der Geschichte von der Geburt Christi seitens eines Schülers einfügte. Anknüpfend an das Wort des Engels: „Siehe, ich verkündige euch grosse Freude“ legte er den Kindern klar, welche Freude den Menschen und also auch ihnen die Geburt des Heilandes, des Freundes der Armen und Verlassenen, gebracht habe, wies sie dann darauf hin, wie christliche Liebe ihnen heute eine rechte Weihnachtsfreude bereite, und forderte sie auf, nun durch gutes Verhalten in und ausser der Schule und durch rechte Wertschätzung der empfangenen Gaben den Dank gegen die mildherzigen Geber zu beweisen. Hierauf folgte das Lied: „O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit —“, worauf der Direktor Gelegenheit nahm, unter Zugrundelegung des Bibelwortes: „Die Liebe höret nimmer auf“ ein- dringliche Ermabnungen an die Eltern und Angehörigen der Kinder zu richten, dass sie nun auch ihrerseits die Liebe, die auch ihnen widerfahre, vergelten möchten und zwar durch das Festhalten an dem Glauben, der Liebe und der Hoffnung zu Gott, durch wahre Gegenliebe zu den Mitmenschen und durch rechtes Verhalten ihren Kindern und der Schule gegenüber. Zum Schluss folgte die Vorführung der Lieder: „Es ist ein’ Ros’ entsprungen —‘“ und „Grosser Gott, wir loben dich —“, die wie die vorher- gehenden Gesänge in ansprechender Weise und mit Ausnahme des Chorals zweistimmig von dem sich ans den besseren Sängern der oberen vier Klassen bildenden Sängerchor ausgeführt wurden.

Die Christbescherung war die neunte, die wir für unsere Kinder veranstalteten. Die grosse Not, in der sich viele von ihnen befinden, führte schon vor Jahren dazu, helfend einzugreifen. Es machte sich dies insbesondere auch deshalb nötig, weil nur verhältnismässig wenige unserer Armen bei den stattfindenden Öffentlichen Bescherungen anzubringen waren. Am 17. Januar 1893 konnte das erste Mal beschert werden. 238 Kinder (12 Knaben und 11 Mädchen) erhielten vor allem die ihnen nötigen Kleidungsstücke. Dazu standen 133 Mk. zur Verfügung, die auf Bittgänge und Bitt- schriften hin der Rat der Stadt und opferwillige Menschonfreunde spendeten. Doch schon ein Jahr darauf war es möglich, mit reichlicheren Mitteln ans Werk zu gehen, Zu Pfingsten 1893 erschien „zum Besten einer Christbescherang für arme schwach- sinnige Kinder“ die Schrift: „Die Leipziger Schwachsinnigenschule nach ihrer Geschichte und Entwicklung“, von dem Verfasser, Direktor Karl Richter, „allen Teilnehmern an

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der 30. Allgemeinen Deutschen Lehrerversammlung in Leipzig als Gruss, allen hilfs- bereiten und opferfreudigen Menschenfreunden Leipzigs als Weckruf entboten.“ Das Schriftchen brachte einen reichen Ertrag durch die willige Abnahme in Lehrerkreisen und nach seiner Versendung an edle Wohlthäter der Stadt, die für die bedauerns- wertesten aller Armen gern ihre milde Hand aufthaten. Sie wandten ihr hilfsbereites Herz der guten Sache auch weiterhin zu und liessen uns bei den nun alljährlich unternommenen Sammlungen, denen eine herzliche Bitte unter Beigabe eines gedruckten Jahresberichtes vorausging, nie leer ausgehen. Und da es gelang, den Kreis hoch- herziger Geber nach und nach zu erweitern, so dass die Quellen thatkräftiger Liebe von Jahr zu Jahr reichlicher flossen, vermochte sich die Christbescherung, die sich seit 1892 alljährlich wiederholte, zu dem erfreulichen Umfange auszugestalten, in dem sie sich nun darstellt. Sie wurde, wie aus dem früher Angeführten ersichtlich ist, in der Regel erst nach dem Weihnachtsfeste abgehalten, damit nicht diejenigen Kinder, die etwa bereits anderwärts bedacht werden, deren sind gegenwärtig allerdings kaum noch einige, zu Ungunsten anderer doppelt berücksichtigt würden. Die Bescherungsfeier hielten wir anfangs nur ganz unter uns im Speisezimmer der Schule ab. Im Januar 1897 erfolgte sie, wie nun auch in den kommenden Jahren, Öffentlich im Saale der 3. Bürgerschule, wozu die Angehörigen der Kinder, sowie die Freunde und Gönner der Schule in zwei hiesigen Tagesblättern eingeladen wurden.

Der Segen, den die Christbescherungen unseren armen Schwachsinnigen bringen, ist ein reicher. Wieviel Gutes sie aber auch stiften, sie vermögen doch nur die eine Seite leiblicher Not lindernd zu beeinflussen, den Mangel an den nötigen Kleidungs- stücken. Schlimmer noch als dieser wirken die Schädigungen auf unsere Kinder, denen viele infolge ungenügender Nahrung ausgesetzt sind, da sie für die Entwicklung von Körper und Geist gleich nachteilig sind. Um diesem Übel mit Erfolg entgegen- zutreten, galt os, die kräftigsten Hebel anzusetzen. Zwei Einrichtungen sind es, die hier helfend eingreifen: die Gewährung des Mittagtisches und die Ver- abreichung von Milch zum Frühstücke.

Als Leipzig in den Jahren 1889 bis 1892 16 Vororte einverleibte und das neue Lokalstatut den hiesigen Volksschulen die Ausscheidung schwachsinniger Schüler zur Pflicht machte, da wuchs nicht allein die Hilfsschule an ihrer Schülerzahl, sondern es erweiterte sich auch ihr Schulbezirk ganz bedeutend. Obwohl für die westlichen Vororte, wie auch für die nördlichen besondere Hilfsklassen geschaffen wurden, ver- blieb doch der Hilfsschule ausser der alteu Stadt, die sich weit nach Süden erstreckt, insbesondere der volkreiche, ausgedehnte Osten. Da hatten nun viele Kinder einen recht weiten Schulweg; manche mussten wohl bis zu dreiviertel Stunde gehen. An den Tagen, an denen nur vormittags Schule war, mochte dies sein, da ja der Unter- richt auch im Sommer von 8—12 Uhr liegt; aber es bestand schon damals ein Schulnachmittag (Dienstag 2—4 Uhr), und dem sollten sich noch zwei Nachmittage (Donnerstag und Freitag) beigesellen. Da wäre es freilich manchen Kindern, die weit weg wohnten, vor allem den vielen körperlich schwächlichen, kaum möglich gewesen, in der Mittagspause zurecht zu kommen, ohne sich übermässig anzustrengen. Diesem Übelstande musste entgegengetreten werden, wenn unserer Schule solche Schüler erhalten bleiben sollten, zumal damals von anderer Seite angestrebt wurde, ihnen in

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ihren Wohnbezirken Hilfsklassen errichten zu lassen, ein Vorhaben, dessen Ausführung für das hiesige Hilfsschulwesen einen entschiedenen Rückschritt bedeutet und ins- besondere unsere Hilfsschule dazu verurteilt hätte, auf dem Standpunkte einer geringeren Gliederung zu verharren. Daher war es unerlässlich, eine Einrichtung zu treffen, die es den entfernt wohnenden Kindern ermöglichte, über Mittag in der Schule zu bleiben. Dies aber konnte nicht anders geschehen, als dass ihnen in dieser Zeit ausser einer geregelten Aufsicht und einer angemessenen, der Erholung dienenden Beschäftigung und Unterhallung ein warmes Mittagessen geboten wurde. Auf eine dem entsprechende Eingabe erteilten die städtischen Behörden dazu ihre Ge- nehmigung und bewilligten die erforderlichen Mittel.

Nachdem ein Lehrzimmer von genügender Grösse als Speisesaal hergerichtet worden war und die zur Speisung nötigen Geräte (lange Tafeln und Bänke dazu, Tischtücher von Wachsleinewand, tiefe, unzerbrechliche Teller und Löffel, Servietten mit Bändern zum Umbinden um den Hals) zur Stelle waren, trat die neue Ordnung am 20. Oktober 1891 in Kraft. 60 Kinder wurden in Übereinstimmung mit den Eltern zum Dableiben über Mittag angenommen, etwa dreifünftel unserer gesamten Schüler, ein Prozentsatz, der sich im Verlaufe der folgenden Schuljahre im ganzen gleichgeblieben ist, da in diesen die Zahl der Dableibenden im gleichen Verhältnisse mit der Schülerzahl wuchs. Gegenwärtig beträgt die Zahl der Speisenden etwa 120 bei einer Gesamtschülerzahl von rund 200.

Mit der Zunahme der Teilnehmerzahl steigerte sich natürlich auch der Beitrag zu den Kosten der Speisung, den die Stadt gewährte. Er betrug im ersten Jahre 500 Mk., stieg aber schon im darauffolgenden auf 700 und sofort um etwa 100 Mk. Jährlich. Als dann die Hilfsschule mit Ostern 1898 ihren Wirkungskreis dadurch erweiterte, dass sie insbesondere für diejenigen Kinder, die auch an den noch freien Nachmittagen der Überwachung bedurften, Montag und Mittwoch von 2—4 Uhr Beschäftigungsstunden einrichtete, da erhöhte sich der städtische Zuschuss mit einem Male auf beinahe 2000 Mk., welche Summe die Stadt nun jedes Jahr beisteuert. Ein kleinerer Teil des Speisegeldes wird von den Kindern aufgebracht. Es wurde von Anfang an darauf Bedacht genommen, dass Kinder bemittelter Eltern ihr Mittag- essen bezahlen sollten und zwar mit 10 Pf. für die Mahlzeit. Da jedoch kaum das Drittel aller Teilnehmer imstande ist, diesen geringen Preis zu entrichten, so waren es selbst in den letzten Jahren nur knapp 500 Mk., die dadurch zusammenkamen. So gestaltet sich die Einrichtung des Mittagtisches, zu dem im Laufe der Zeit noch dieses und jenes arme Kind, das nicht gerade entfernt wohnt, zugelassen wurde, zu einer ganz besonderen Wohlthat.

Das Essen wird aus der nahen Speiseanstalt von dem Schulaufwärter in Eimern geholt und von ihm den Kindern in tiefe Toller zugeteilt. Für jedes derselben ist eine halbe Portion gerechnet, das ist ein halbes Liter Gemüse und Fleisch dazu. Um möglichst kräftige Nahrung zu bieten, wurde meist die Portion ınit doppeltem Fleisch- auteile bezogen, die dann 25 Pf. kostete, seit kurzem aber mit 28 Pf. berechnet wird. (Der Preis der gewöhnlichen Portion belief sich früher auf 17 und beträgt jetzt 20 Pf.) Das Fleisch ist geschnitten dem Gemüse beigemengt und wird mit diesem mittelst des Löflels genossen. Die Speiseanstalt hat immer das Essen nicht so kärg-

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lich bemessen, sv dass Kinder mit stärkerem Appetite durch Überreichung mehrerer Teller vollauf befriedigt werden konnten. Das Mahl beginnt und endet mit Gebet, das von den Speisenden gemeinsam gesprochen wird. Die Aufsicht über Mittag führen die Lehrer abwechselnd. Früher genügte hierzu eine Kraft. Als aber die Teilnehmer- zıhl zunahm, wurden seit Ostern 1895 je zwei, seit 1896 je drei damit betraut.

Hand in Hand mit der Gewährung des Mittagessens schreitet in Verfolgung des gleichen Zweckes die Milchspende. Sie ist allerdings viel später als jene ein- gerichtet, obgleich der Wunsch nach ihr schon längst gehegt und bereits im Jahre 1893 in dem oben erwähnten Schriftchen (S. 58) vor der Öffentlichkeit ausgesprochen wurde. Erst als bei den früher erwähnten jährlichen Sammlungen einige Jahre nach ihrem Beginne die Gaben reichlicher eingingen, war es möglich, jenen Wunsch seiner Erfüllung entgegenzuführen; denn bei der grossen Opferfreudigkeit, mit welcher die städtischen Behörden unserer Schule in allen Obliegenheiten und so auch bei der Einrichtung des Mittagtisches entgegenkamen, wäre es wuhl ein Missbrauch ihrer Güte gewesen, auch hier an ihre Hilfe zu denken. Nun hatte zwar die Speisung schon seit Jahren ihre woblthätige Wirkung entfaltet; aber sie erstreckte sich doch ihrer Bestimmung gemäss nicht ausschliesslich auf alle die Kinder, auf die es hier abgesehen werden musste, und dann waren auch viele unter diesen, die ob ihrer grossen körper- lichen Schwäche der von zwei Seiten kommenden Aufhilfe dringend bedurften. So wurde die Darreichung von Milch an unsere blutarmen und schwächlichen Kinder zur unabweisbaren Notwendigkeit.

Um nun bei der Auswahl der Trinkenden möglichst gewissenhaft zu verfahren, wurde der Schularzt zur Untersuchung der Kinder herangezogen. Es wurden 154, d. i. reichlich dreiviertel aller unserer Schüler, als die bedürftigsten ausgewählt, eine Zahl und ein Verhältnis, die sich auch in den kommenden Jahren bei dem ungefähr gleichen Schülerbestande der Schule im ganzen gleichgeblieben sind und eine deutliche Sprache reden von dem grossen Elende, dem hier begegnet wurde.

Die Verabreichung von Milch begann am 18. Januar 1897 und dauarte zunächst bis Ostern. Sie fand dann in den folgenden Schuljahren in der Hauptsache in den kühleren Monaten Oktober bis mit April statt. Im Anfange geschah sie am Montag, Mittwoch und Sonnabend, an den Tagen, an denen damals noch kein Nachmittags- unterricht und also keine Speisung war, und zwar in der Frühstückspause. Vom 1. Oktober 1899 an wurde täglich getrunken und dabei insofern eine Änderung ge- troffen, als dies nun von Montag bis mit Freitag um 9 Uhr geschieht, damit bis zum Mittagessen die zur Verdauung nötige Pause dazwischen liegt. Für den Sonnabend wurde der frühere Zeitpunkt beibehalten.

Jedes Kind erhält !/, Liter warme, sterilisierte Vollmilch, die von einer hiesigen Dampfmolkerei in dichtverschlossenen Flaschen zu dem freilich nicht geringen Preise von je 7 Pf. in die Schule geliefert wird. Die Kinder trinken im Speisesaale unter Aufsicht ihrer Lehrer und zwar aus emaillierten, unzerbrechlichen Bechern.

Die besser gestellten Eltern werden auch hier wie beim Essen zur Bezahlung veranlasst. Es betrifft dies allerdings nur etwa das reichliche Drittel aller Teilnehmer, und darunter ist wieder nur ungefähr der dritte Teil, welcher den vollen Betrag er- stattet, während die übrigen nur je 5 Pf. entrichten. Auf diese Weise konnten auch

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körperlich kräftige Kinder auf Wunsch der Ihrigen gegen Erlegung des vollen Betrags teilnehmen, welche Gelegenheit z. B. im Schuljahre 1899/1900 9 Knaben und 9 Mädchen benutzten. In eben diesem Jahre, in welchem auch im Sommer und zwar wöchentlich dreimal Milch gereicht wurde, beliefen sich die Beiträge der Kinder auf 659 Mk. 81 Pf. 1423 Mk. 60 Pf. aber wurden den Mitteln entnommen, die menschliche Barmherzigkeit zur Linderung der leiblichen Not unserer armen Schwach“ sinnigen spendete. H. Müller.

Litteratur.

Schulhygiene-Hefte. Herausgegeben von H. Piper, Erziehungsinspektor der Berliner Idiotenanstalt und J. Kelemann, Oberlehrer a. d. staatl. Erziehungs- anstalt für schwachs. Kinder in Budapest. 6 Hefte à 10 Pfg. Verlag von Heinrich Titelmann. Berlin C., Stralauerstr. 11.

In den vorliegenden Heften ist der Grundsatz streng durchgeführt, nach welchem den Kindern zu derselben Zeit immer nur eine Schwierigkeit zu überwinden zugemutet werden soll. Heft 1 enthält nur die Grundlinien und zwar in einer Entfernung von 8 mm, während in Heft 2 dieselben Linien in einer Weite von 4 mm erscheinen. Heft 3 enthält neben den Grundlinien die oberen und Heft 4 die unteren Hilfslinien, während aber die Grundlinien die rote Farbe tragen, sind die Hilfslinien schwarz ausgeführt. Heft 5 und 6 geben die vollständige Liniatur; in dem ersten erscheinen die aufeinanderfolgenden Hilfslinien ziemlich entfernt von einander, während in dem lotzten Hefte die Weite der Linien die allgemein übliche ist. Die Grundlinien tragen aber auch hier die rote Farbe. Es unterliegt keinem Zweifel, dass die aus der Praxis herausgewachsenen Schreibhefte überall da, wo besondere Schwierigkeiten zu überwinden sind, als sehr praktisch sich erweisen werden.

Über den physiologischen Schwachsinn des Weibes. Von Dr. P. J. Möbius. II. Auflage Halle a/S. Verlag von Carl Marhold. 1901.

Auf die erste Auflage des Schriftchens wurde in dieser Zeitschrift bereits in Nr. 11 vom vorigen Jahre aufmerksam gemacht. Der Inhalt der 2. Auflage ist derselbe geblieben, nur das Vorwort ist neu, und auf dieses möchten wir heute be- sonders hinweisen. Würde der Raum es gestatten, so würden wir dasselbe hier in voller Ausdehnung wiedergeben. S.

Inhalt: Einladung. Die Bedeutung des Bürgerlichen Gesetzbuchs für Schwachsinnige und Epileptische. (Dr. W. Weygandt). Mitteilungen: Leipzig. Litteratur: Schul- bygiene-Hefte. Uber den physiologischen Schwachsinn des Weibes,

Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden, Druck von Johannes Pässler in Dresden.

~ THE Ni T a S O 88 ! Nr. 4. XVII. X) Jahrg.

T. BEN Fer nA”,

Zeitschrift ——

für die

Pehandiung Schwaclsinniger md Epileptischer.

Organ der Konferenz "Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Spezialarzt Dresden -Strehlen, für Nervenkrankheiten Residenzstrasse 27. in Stattgart.

Erscheint jährlich In 13 Nummern von Zu beziehen durch alle Buchhandlungen mindestens einem Bogen. Anzeigen für e und Postämter, wie auch direkt von der i April 1901. die gespaltene Petitzeile 25 Pfg. Litte- pri ° Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, rarische Bellagen 6 Mark. | einzelne Nummer 60 Pfg.

Die Original- Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

Die Bedeutung des bürgerlichen Gesetzbuchs für Schwachsinnige und Epileptische. Von Dr. W. Weygandt, Privatdozent in Würzburg. (Schluss.)

Buchholz sprach sich in seiner Arbeit „Über die Aufgaben des ärztlichen Sachverständigen bei der Beurteilung Imbeziller“ (Allg. Zeitschrift für Psychiatrie, Band LVII, S. 340, 1900) dahin aus, dass in den meisten Fällen, in welchen stärkere Defekte, besonders auch auf moralischem Gebiet nachweisbar sind, Ent- mündigung wegen Geisteskrankheit angebracht ist, während die andere Form nur bei einer kleinen Anzahl Imbeziller in Frage komme, bei denen die moralischen Defekte nicht erheblich sind und die intellektuellen Fähigkeiten einen Erwerb ermöglichen. Die Pflegschaft kommt seiner Ansicht nach nur ausserordentlich selten in Betracht, wenn er auch zugiebt, dass manchmal die vorhandene Geistesschwäche auch als geistiges Gebrechen im Sinn des $ 1910 aufgefasst werden kann. Vor allem die Gefahr, dass der unter Pflegschaft Gestellte jeden Tag selbst die Aufhebung derselben herbeiführen kann, macht ihn bedenklich. Ich glaube nun, dass die Anwendbarkeit dieser Form gesetz- licher Fürsorge nicht soweit weggeschoben werden sollte. Gerade unter den ganz leichten Imbezillen von mehr anergetischem Typus giebt es Individuen, die sehr wohl im stand sind, einen ruhigen Lebensweg zu gehen, wenn auf ihre Vermögensverwaltung stets ein Augenmerk von seiten eines Pflegers gerichtet bleibt, und die ihres friedlichen Charakters wegen nicht in Versuchung kommen, die milde Fürsorge der Pflegschaft von sich abzuschütteln. Debilen Personen mit irgend welchen erethischen Zügen, mit moralischen Defekten, mit Genuss-

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sucht, mit dem Drang nach Gesellschaft, nach Verkehr, mit hysterischen Neigungen müssen natürlich die strafferen Zügel der Vormundschaft angelegt werden.

Einen Fall, der sich meines Erachtens zur Pflegschaft eignete, möchte ich im folgenden skizzieren:

Die 54 jährige Patientin stammte von gesunden, hochintelligenten Eltern, die jedoch Geschwisterkinder zu einander waren. Die 6 Geschwister der Patientin waren gesund. Patientin hatte als Schülerin gute Leistungen im Auswendiglernen, Briefschreiben und dergl. geboten, während sie im Rechnen zurück war. Mit 25 Jahren heiratete sie einen wohlhabenden Kaufmann. Sie bekam 3 Töchter, deren jüngste geistig etwas zurück sein soll, sowie einen idiotischen Sohn.

Während der Ehe war sie einmal an Typhus und einmal an Gelenk- rheumatismus erkrankt. Sie besorgte die Haushaltung und verstand sich gut auf die Verkehrs- und Repräsentationspflichten der Hausfrau. Als der Mann nach langem Krankenlager gestorben war, verlangte sie von ihrem Bruder Rechnungsablage über die vertretungsweise besorgte Vermögensverwaltung; dieser antwortete darauf jedoch mit dem Entmündigungsantrag.

Patientin ist von kleiner Figur (142 cm) und sehr korpulent (99 kg). Ab- gesehen von etwas Kurzatmigkeit und leichter Erregbarkeit des Herzens besteht keine körperliche Abnormität. Patientin tritt in korrekter Haltung auf und zeigt gewandte Umgangsformen, nur ist sie etwas verlegen bei der ärztlichen Unter- suchung. Sie fasst gut auf, ist besonnen, geordnet und örtlich gut orientiert, während sie sich die Datumsangabe erst überlegen muss. Das Gedächtnis ist gut, sie merkt sich eine dreistellige Zahl auf längere Zeit, erzählt detailliert von früheren Reisen, giebt den Inhalt von Theaterstücken an, die sie vor langer Zeit gesehen u. s. w.

Das Rechnen geht etwas mangelhaft. Bei grösseren Additionen im Kopf sucht Patientin die Zahlen einzeln zusammenzuzählen, schriftlich rechnet sie etwas besser, doch kommen öfter Fehler vor. Das kleine Einmaleins geht gut, das grosse mangelhaft. Bei einigen psychologischen Prüfungen auf Addieren (deren Technik wir vielleicht an anderer Stelle einmal zur Besprechung bringen können) ist in Bezug auf die Gesamtleistung kein Übungserfolg von Tag zu Tag ersichtlich, während die Fehlerzahl von Beginn bis zum Ende der Versuchs- reihe erheblich abnimmt, also in dieser Hinsicht doch Übungsfähigkeit besteht. Zeitliche Angaben, soweit sie mit Berechnungen verknüpft sind, werden mangel- haft gemacht. Bei konkreten Rechenbeispielen geht es besser. Einfache Prozent- rechnungen, wie 4!/, °/, von 200 Mk. bringt sie langsam, doch zutreffend zu- stande, nachdem man ihr ein ähnliches Exempel vorgemacht hat.

Sie liest fliessend und kann den Inhalt angeben; ferner versteht sie noch ganz gut, hebräische Schrift zu lesen, was sie in der Jugend gelernt hatte. Geläufig schreibt sie Deutsch und Antiqua. Auch nach Diktat schreibt sie flott und ohne viel Fehler, selbst Fremdwörter wie z. B. Lokomotive, Generalmajor u. s. w., ohne zu stocken. Sie stilisiert ganz gut Briefe, selbst über so ver-

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wickelte Themata wie ihren eigenen Entmündigungsstreit. Zutreffend spricht sie sich über ihre Angelegenheiten aus und äussert sich durchweg im Sinn einer sparsamen, umsichtigen und sorgfältigen Hausfrau. In ethischer Hinsicht ist zu bemerken, dass sie pietätvoll ihrer Eltern gedenkt, um die Erziehung ihrer Kinder aufrichtig besorgt ist und unter dem jetzigen Streit mit ihren Ver- wandten leidet.

Es handelt sich um einen sehr geringen Grad geistiger Schwäche. Während Rubrikatin geistig nach den meisten Richtungen hin ihrem Bildungsgang und ihrer Lebensstellung entspricht, zeigt sie Defekte hinsichtlich des Rechnens. Dass sie infolgedessen Schwierigkeiten hätte, das ihr zugefallene grosse Ver- mögen selbst zu verwalten, ist zuzugeben. Keineswegs aber darf man von ihr sagen, dass sie ihre Angelegenheiten in der Gesamtheit nicht zu besorgen ver- möchte. Es ist vielmehr anzunehmen, dass die Frau die nötige Geschäftsfähig- keit besitzt, eine geeignete Person zur Vermögensverwaltung ausfindig zu machen; ferner ist zu betonen, dass sie gewiss in der Lage ist, eine Reihe wichtiger Dispositionen zu treffen, so einen Wohnsitz‘ zu begründen, Testament zu er- richten, für die Erziehung ihrer Kinder passende Hilfskräfte anzustellen u. s. w., was ihr nach einer Entmündigung versagt wäre. Da die Rubrikatin selbst ihre Bereitschaft erklärte, die Vermögensverwaltung einer Pflegschaft zu übertragen, stand meines Erachtens nichts im Weg, die Entmündigungsfrage zu ver- neinen und die Einsetzung einer Pflegeschaft anzuempfehlen. Auf die gericht- liche Entscheidung dieses Falls kommen wir noch zurück.

Bei Epileptikern müssen wir ebenfalls immer nur nach der Eigenart des Falls urteilen. Kranke mit epileptischem Blödsinn sollen wegen Geistes- krankheit entmündigt werden, denn sie sind völlig geschäftsunfähig. Dort, wo die Epilepsie sich vorzugsweise in Anfällen und Äquivalenten äussert, muss man, abgesehen von der Frequenz jener Attaquen, besonders das Verhalten in den freien Zwischenzeiten beachten. Bei grosser Neigung zu Dämmerzu- ständen, Wandertrieb, sehr häufigen Verstimmungen mit impulsiven Regungen, dipsomanischen Zuständen, weitgehender Charakterdepravation wird man, selbst wenn der Intellekt ziemlich erhalten bliebe, daran denken müssen, die Ent- mündigung, mindestens wegen Geistesschwäche, zu befürworten. Es wird dadurch vielen Schwierigkeiten vorgebeugt, die aus Handlungen während der Bewusstseinsalterationen entspringen können; im Fall einer mangelnden Vor- mundschaft müsste die rechtliche Klärung jedesmal wesentlich umständlicher auf Grund des § 105 herbeigeführt werden.

In zahlreichen Fällen mit nur selten auftretenden Krämpfen, Ohnmachten, Schwindelanfällen u. s. w. kommt überhaupt keine Änderung der civilrechtlichen Stellung gegenüber dem normalen Menschen in Betracht, doch interessieren uns diese Fälle hier weniger, da sie ja auch in der Regel nicht die Anstalten aufsuchen.

Schliesslich aber kann auch der 4. Fall vorkommen, dass eine gewisse Fürsorge erwünscht ist, während die Entmündigung wegen Geistesschwäche und erst recht wegen Geisteskrankheit zu einschneidend und streng erscheint. Hier

M

ist für Epileptiker die Pflegschaft empfehlenswert, bei deren Einsetzung wir weniger ängstlich zu sein brauchen, als den Imbezillen gegenüber. Grade die Epileptiker, so bedenklich sie auch in krimineller Hinsicht werden können, pflegen hinsichtlich der Regelung ihrer bürgerlichen Geschäfte weniger Schwierigkeiten zu machen. Leute mit so ausgeprägtem’ Krankheitsgefühl, wie sie es vielfach haben, erkennen in der Mehrzahl der Fälle die ihnen gewidmete Fürsorge gern an und haben nicht die Neigung, sie wieder von sich abzuschütteln, wie es bei der Pflegschaft in ihre Hand gegeben wäre. Vor allem können solche Epileptiker, die sich nach jahrelangem Anstaltsaufenthalt erholt haben, so dass Anfälle und ähnliche Insulten ausbleiben, während doch eine gewisse leichte Erschwerung der Geschäftsfähigkeit, eine Umständlichkeit und Ängstlichkeit im Auftreten fortbestehen, recht wohl mit der Einsetzung einer Pflegschaft abgefunden werden, die ihnen eine gewisse Stütze verleiht, ohne die Bewegungsfreiheit allzu straff einzuengen.

Ein Fall derart sei in kurzen Zügen folgendermaßen wiedergegeben. Es handelte sich um einen Herrn von 34 Jahren, der seine Mutter mit 1/, Jahr ver- loren hatte, während der Vater 81 Jahr alt starb. Eine Tante hatte sich in Schwer- mut das Leben genommen; ein Bruder starb durch Suicid. Von früh auf war Rubrikat schwerhörig, als Kind war er skrophulös. Mit 6 Jahren traten Schwindel und Ohnmachten auf, dann gesellten sich Krämpfe hinzu von typisch epilep- tischer Art. Anfänglich stellten sie sich alle 2—3 Monate, dann alle 2—3 Wochen ein. Öfter kam Bettnässen vor. Rubrikat besuchte die Volksschule und wurden mit 11 Jahren in eine Anstalt für Schwachsinnige und Epileptische gebracht. Nach 2jähriger konsequenter Brombehandlung hörten die Anfälle ganz auf, sodass Rubrikat schliesslich mit 16 Jahren als „sehr gebessert“ ent- lassen werden konnte. Als sich nach 2 Jahren, während deren er bei einem Buch- binder arbeitete, wieder Anfälle einstellten, kam er zurück in die Anstalt, wo die Anfälle ganz ausblieben; Brom wurde jetzt nur kurze Zeit gegeben. Nach 5 Jahren trat Rubrikat als „genesen“ aus. Er arbeitete nun 2 Jahre tüchtig und in bestem Wohlsein bei einem Buchbinder, worauf ihn der Vater jedoch wieder in eine Schweizer Anstalt schickte und zugleich die Entmündigung durchsetzte.

Das ärztliche Gutachten bezeichnete die psychischen Funktionen als sehr reduziert, die Intelligenz als gering, das Gedächtnis als schwach; Willenskraft und Selbständigkeit fehle, ebenso die Fähigkeit der Selbstbestimmung; sein Vermögen könne Rubrikat nicht selbst verwalten; den vierprozentigen Zinsbetrag von 1000 Mk. konnte Rubrikat nicht berechnen. Ausser der letzteren positiven Angabe waren es vorwiegend subjektive Eindrücke des Gutachters, die seinen Schluss stützten. Es sei bemerkt, dass derartige allgemeine Behauptungen wie „die Willenskraft fehle“, die nicht belegt und auch nicht beweisbar sind und überhaupt ihrem Wortlaut nach unmöglich zutreffen können, besser ganz ver- mieden werden! |

Nachdem der Vater unter Hinterlassung eines beträchtlichen Vermögens gestorben, beantragte der nunmehr 34 Jahre alte Rubrikat die Wiederaufhebung der Entmündigung.

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Körperlich zeigte er bei den vielfachen, eingehenden Untersuchungen ausser der auf einer alten Mittelohreiterung beruhenden Schwerhörigkeit keine nennens- werten Abnormitäten Nachts soll er noch manchmal im Schlaf schreien, was möglicherweise ein Überbleibsel der epileptischen Zustände ist, doch auch bei sonstigen nervösen Personen vorkommt.

Geistig ist Rubrikat vollkommen besonnen und geordnet, zeitlich und örtlich durchaus orientiert. Das Auftreten ist etwas schüchtern, doch in keiner Weise auffallend. Die Schulkenntnisse sind in Anbetracht der längst verflossenen Schulzeit ganz beträchtlich. Er setzt den Unterschied zwischen Protestantismus und Katholizismus, zwischen dem Glauben der Israeliten und der Amalekiter auseinander. Geschichtlich ist er sowohl in der Neuzeit wie in vergangenen Jahrhunderten bewandert; er nennt die Geschichtszahl des 30 jährigen Kriegs, weiss Bescheid um Pompeji, um den trojanischen Krieg u. s. w. Über unsere staatlichen Einrichtungen ist er orientiert; er weiss, dass ein Reichsgesetz vom Ministerium entworfen, vom Reichstag bekräftigt und von der Regierung unter- schrieben wird. Seine geographischen Kenntnisse sind ganz gut; er erkennt auf den ersten Blick die Karte von Südamerika, ohne den Namen abzulesen, er beschreibt die Reiseroute nach Ostasien u. s. w.

Das Gedächtnis ist gut. Rubrikat nannte die Ärzte aus der Anstalt, wo er vor 11 Jahren war, und giebt den Inhalt von gesehenen Theaterstücken wieder, trotzdem er wegen seiner Schwerhörigkeit Mühe hatte, dem Wortlaut desselben zu folgen, er kennt die Regeln des Schachspiels, das er seit Jahren nicht mehr übte.

Lesen und schreiben geht flott.

Kleinere Rechenaufgaben (119-+96 oder 112—48 oder 8><28 oder °/,—!/, oder 1/><?/,) löst er im Kopf richtig; grössere auf schriftlichem Weg. Er be- rechnet prompt einfache Zinsrechnungen im Kopf, wie 1000 Mark zu 4!/, %, auf 2 Jahre; schriftlich: 210 Mark zu 31/, °/, auf 2 Jahre. In den Aufgaben des täglichen Lebens findet er sich gut zurecht; er entwirft z. B. anschaulich das Jahresbudget eines Mannes mit 120 Mark Monatseinkommen. Eine öfters wiederholte experimental-psychologische Prüfung ergab eine beträchtliche Übungs- fähigkeit auf reohnerischem Gebiet.

Die Kenntnisse übertreffen entschieden das, was ein Volksschüler von mittlerer Begabung ins Leben mitzunehmen pflegt. Das Urteil ist ganz zu- treffend, die Gemütslage ruhig, das Auftreten korrekt und freundlich, nur ein wenig schüchtern.

Da die rechnerischen Kenntnisse nicht über die namhaft gemachten An- fangsgründe der Bruch- und Zinsrechnungen hinausreichen, könnte Rubrikat zur Zeit thatsächlich Schwierigkeit haben, ein grosses Vermögen ganz vollständig zu behandeln. Jene Lücken aber beruhen nicht auf Geisteschwäche, sondern auf mangelhafter Ausbildung; in der Anstaltsschule war der Unterricht in der That nur bis zu diesem Ziel ausgedehnt worden. Dagegen besteht eine be- achtenswerte Übungsfähigkeit, die erwarten lässt, dass Rubrikat sich die zur selbständigen Vermögensverwaltung erforderlichen Kenntnisse und Gewandtheit

aneignet. Die lückenhafte Schulung als direkte Folge der Epilepsie und somit als Geistesschwäche im Sinne des $ 6 B. G.-B. hinzustellen, entspricht nicht den Thatsachen; der Grund der Entmündigung vor 9 Jahren ist zur Zeit als weg- gefallen zu erachten. Als rechtliche Fürsorge für Rubrikat, der infolge seines langen Internatsaufenthalts den Aufgaben des Lebens etwas fiemd und schüchtern gegenüber steht und dem seine Schwerhörigkeit die Wahrnehmungen seiner Interessen etwas erschwert ist, während von einer die Regelung der Angelegen- heiten in ihrer Gesamtheit betreffenden Geschäftsbeschränktheit nicht die Rede sein darf, konnte die Pflegschaft im Sinn des $ 1910 B.G.-B. empfohlen werden, in die Rubrikat auch selbst einwilligt. Das Gericht schloss sich dem Gutachten völlig an.

Wenn wir nun zu guter Letzt fragen, in welcher Weise die neuen Vor- schriften des B.G.-B. während der kurzen Giltigkeitsdauer desselben bisher aus- geübt worden sind, so ist es vielleicht nicht zu herb geurteilt, wenn die an die Einführung des BG.-B. geknüpften Erwartungen in diesem Punkt als nicht voll erfüllt bezeichnet werden. Auf der irrenärztliohen Seite sind die Meinungen allmählich geklärt und entsprechen im wesentlichen dem, was in den obigen Ausführungen mit spezieller Anwendung auf den angeborenen Schwachsinn und die Epilepsie wiedergegeben ist. Die Kenntnisnahme von seiten der Laienwelt wie auch des grösseren ärztlichen Publikums lässt noch zu wünschen übrig. Am wichtigsten ist natürlich die Stellungnahme der Richter, denn ihr Urteil ist ja allein massgebend, da sie zwar verpflichtet sind, ein Sachverständigen- gutachten zu hören, aber doch nach eigenem Ermessen, eventuell auch gegen die Ansicht des Arztes, die Entscheidung zu fällen haben. Der Sinn des neuen Gesetzes ist der, jedem nicht völlig Geschäftsfähigen die notwendige Fürsorge zu verschaffen, ohne ihn mehr in seinen Rechten zu beschränken, als dem Grad der Verminderung seiner Geschäftsfähigkeit angemessen ist. Vor Einführung des B.G.-B. glaubten manche, so der Jurist Hardeland, dass man in praxi die schwerste Entmündigungsform, die wegen Geisteskrankheit, wohl überhaupt kaum noch anwenden wird. Das ist nicht eingetroffen.

Vor allem 2 Punkte geben auf juristischer Seite zu Divergenzen Anlass. Einmal besteht die Neigung, möglichst streng zu verfahren und lieber die Ent- mündigung wegen Geisteskrankheit als die wegen Geistesschwäche auszusprechen ; das ist begreiflich, weil durch die Schärfe der Aufsicht über den Entmündigten sich die Grösse der Verantwortung, die durch die Einsetzung einer rechtlichen Fürsorge übernommen wird, doch etwas verringert. Damit wird aber dem Sinn des Gesetzes nicht ganz entsprochen, das niemand in seiner Geschäftsfähigkeit mehr einengen will, als dem Grade seiner Defekte entspricht.

Andererseits ist die unselige Möglichkeit der Verwechslung der ärztlichen und der juristischen Begriffe der Geisteskrankheit und der Geistesschwäche schon bedenklich oft eingetroffen. Prof. Tuczek (Geisteskrankheit und Geistes- schwäche nach dem bürgerlichen Gesetzbuch, Psychiatrische Wochenschrift, 1900, S. 317) klagt, es sei ihm wiederholt begegnet, dass tiefstehende Idioten als geistesschwach im Sinn des $ 6 bezeichnet wurden, „obwohl ihre gänzliche

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Unfähigkeit zur selbständigen Besorgung irgend welcher eigenen Angelegenheiten ausdrücklich betont war.“ Ebenso sträuben sich manchmal die Gerichte, Geisteskranke von ziemlich weitreichender Geschäftsfähigkeit, wie z. B. Leute mit Querulantenwahn u. s. w., nur wegen Geistesschwäche nach $ 6 zu ent mündigen; und doch konnte Cramer in seiner „Gerichtlichen Psychiatrie“, II. Aufi., darauf hinweisen, dass es sogar aktive Juristen, Universitätsprofessoren, Baumeister, Gymnasiallehrer, Landwirte und Geschäftsleute giebt, die an chronischer Paranoia leiden und somit also im ärztlichen Sinn geisteskrank sind, ohne dass bei ihnen Geschäftsunfähigkeit oder oft auch nur Geschäfts- beschränktheit nachweisbar sei.

In dem oben beschriebenen Fall einer ganz leicht imbezillen Frau, in dem ärztlicherseits die Einsetzung einer Pflegschaft für das Entsprechende angesehen wurde, entschieden das Gericht in zweiter Instanz in einem anderen Sinn:

. an der Hand der Ergebnisse der gepflogenen Erhebungen sei die Frage zu prüfen, ob die materiellen Voraussetzungen des $ 6: Geistesschwäche und hierdurch bedingtes Unvermögen, seine Angelegenheiten zu besorgen, in der Person der zu Entmündigenden festzustellen seien, denn in diesem Fall müsse die Entmündigung ausgesprochen werden.

„a) Geistesschwäche: Diese ist nach den Gutachten der Sachverständigen unbedenklich anzunehmen. Selbst der sich für die Veranlagung am günstigsten äussernde Sachverständige X. erachtet den Ausdruck Debilität als mildesten Grad einer angeborenen Geisteschwäche anwendbar. ....

b) Durch Geistesschwäche bedingtes Unvermögen, ihre Angelegenheiten zu besorgen.“

Über die Tragweite des 2. Arguments kann gestritten werden, jedenfalls aber ist die Ausführung a) kein direkter Entmündigungsgrund, da die ärztlicher- seits angenommene Geisteschwäche eben nicht mit dem gleichnamigen Begriff des $ 6 identisch ist, sondern bei ganz leichten Fällen angeborenen Schwach- sinns sehr wohl, wie im citierten Beispiel, ein „geistiges Gebrechen“ im Sinn des § 1910, andererseits bei angeborenem Schwachsinn hohen Grades, also bei Idioten und vielen Imbezillen, wie in dem hier an erster Stelle besprochenen Fall, „Geisteskrankheit“ im Sinn des § 6 darstellt.

Es kann also ärztlicherseits nicht energisch genug darauf hingewiesen werden, dass jene gesetzlichen Begriffe „Geisteskrankheit“ und „Geistesschwāche“, wie sowohl von der ersten, als auch von der zweiten Kommission zur Vor- bereitung des B.G.-B. ausgesprochen werde, mit den gleichlautenden ärztlichen Begriffen nichts zu thun haben, sondern lediglich den Grad der Störung mit ihren praktischen Konsequenzen der Geschäftsunfähigkeit und Geschäftsbeschränkt- heit betreffen.

Heute hat das B.G.-B. seine Geltung, es ist somit zwecklos, hinterher sein Bedauern darüber auszusprechen, dass man nicht indifferentere Bezeichnungen genommen hat, etwa Entmündigung 1. und 2. Grades oder schwere und leichtere Entmündigung, oder auch dass man unter Hereinbeziehung der Pflegschaft 3 Grade hätte nebeneinanderstellen und vielleicht für jeden derselben einen be-

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sonderen Namen gewählt hat. Die Abneigung des Publikums, sich oder einen Angehörigen bei Geistesstörung unter Vormundschaft stellen zu lassen, beruht zum grossen Teil auf dem Odium, dass dem Namen der Entmündigung oder Mundtotmachung anhaftet; erfahrungsgemäss ist es dem Laien oft ziemlich einer- lei, ob jemand schliesslich geschäftsunfähig oder geschäftsbeschränkt ist, da er nach aussen hin doch in gleicher Weise als mundtot gilt. Durch eine minder verfängliche Nomenklatur hätte man bei der Einführung der Entmündigung wegen Geistesschwäche, die sachlich einen eminenten Fortschritt bezeichnet, eine stärkere Hebung der bestehenden Vorurteile des grossen Publikums gegen jene rechtliche Fürsorge überhaupt erzielen können. Darüber zu klagen, ist nicht zeitgemäss. Es gilt vielmehr, durch Aufklärung über den Sinn des B.G.-B. und die Absicht der Gesetzgeber die richtige Anwendung des Gesetzes zu fördern. Hoffentlich wird auch den Lesern der vorliegenden Zeitschrift diese kurze Übersicht über die mannigfachen neuen Bestimmungen des B.G.-B. hin- sichtlich der rechtlichen Fürsorge für Schwachsinnige und Epileptiker ein nicht unwillkommener Beitrag sein.

Ein Pionier auf dem Gebiete der Fürsorge für Schwach- sinnige: J. Landenberger. Von K. Kölle-Regensberg.

Wer sich in den letzten Jahren der Idiotenpflege angenommen hat, muss sich freuen über die Teilnahme, die gegenwärtig von allen Seiten den zurück- gebliebenen und verkümmerten Menschen entgegengebracht wird.

Für die Blöden entstehen überall Pflegeanstalten, die erwachsenen Schwachsinnigen, welche in einer Erziehungsanstalt einige Bildung erlangen konnten, werden in Arbeitsanstalten zweckmässig beschäftigt. Am meisten aber wendet sich das Interesse den Schwachsinnigen zu, welche noch er- zogen und unterrichtet werden können. Eine grosse Anzahl von Anstalten widmet sich ausschliesslich der Idiotenerziehung, und immer mehr zeigt sich, in welch segensreicher Arbeit die grosse Menge von Spezialklassen wirken, welche sich dem Unterricht der geistig zurückgebliebenen Kinder zuwenden.

Es konnte dabei natürlich nicht ausbleiben, dass von berufener und un- berufener Seite viel, ja sehr viel über Erziehung und Unterricht schwachsinniger Kinder geschrieben wurde. Ja, es kam gar häufig vor, dass begeisterte Lehrer und Lehrerinnen, nachdem sie kurze Zeit sich diesem Unterrichte gewidmet hatten, den unwiderstehlichen Drang fühlten, ihre Erfahrungen in Lehrerzeitungen, Schulblättern, Fachschriften oder besondern Broschüren darzulegen und dabei der Meinung waren, sie hätten etwas Neues geboten, etwas, was der Sache wesent- liche Dienste leiste, sie fördere und zu ihrem Gedeihen beitrage, aber leider war dies nur selten der Falle Es musste auf Leute, die schon längere Zeit mit einigem Eifer für den Unterricht bei Schwachsinnigen eingestanden waren, sehr ermüdend wirken, immer wieder allgemeine pädagogische Lehrsätze breit getreten

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zu sehen, um sie für den Unterricht bei Schwachsinnigen mundgerecht zu machen und Ansichten vornehmen zu müssen, die durchaus nichts Neues brachten, die vielmehr schon längst entweder beiseite geschoben‘, oder so allgemeines Gut geworden waren, dass eine neue Darlegung nicht viel Wert hatte. Es wäre deshalb wünschenswert, dass Konferenzen und Fachschriften auf diesem Gebiete solche allgemeine Arbeiten, die nichts Neues bieten, fernhalten würden, damit um so eher ein gewisser gemeinschaftlicher Fortschritt in der Erziehung und im Unterricht der Idioten erzielt werden könnte, wie dies z. B. auf dem Gebiete des Taubstummen- und Blindenwesens der Fall ist. Es kann der Sache doch unmöglich nützen, wenn heute Arbeiten vor die Öffentlichkeit gebracht werden, die hinter solchen, die schon vor fünfzig Jahren geboten wurden, her marschieren, ohne sie zu erreichen. *) |

Um so mehr dürfte es von Interesse sein, an die Geistesarbeit eines Mannes heranzutreten, der schon vor fünfzig Jahren ganz Erstaunliches leistete und der als eigentlicher Bahnbrecher für die Erziehung Schwachsinniger gelten muss.

Dieser hervorragende Pädagoge und Psychologe, der durch eingehendes Studium, tiefes Nachdenken und fortwährende Beobachtung einen streng natur- wissenschaftlichen Weg einschlug, um eine präzise Methode für den Unterricht Schwachsinniger zu gewinnen, ist J. Landenberger, 1851—1860 Hauptlehrer an der Heil- und Pflegeanstalt für Schwachsinnige in Winterbach, 1860—1877 Inspektor dieser Anstalt, die im Jahre 1864 nach Stetten im Remsthale über- siedelte. Im Jahre 1899 feierte diese Anstalt, die sich seit 1866 zu einer Heil- und Pflegeanstalt für Schwachsinnige und Epileptische erweitert hatte, ihr fünfzigjähriges Bestehen, und bei diesem Anlasse wurde von dem Inspektor derselben, Schulrat Strebel, ganz besonders der hervorragenden Leistungen Landenbergers gedacht. **)

Und es ist nicht zu verwundern, denn dieser Mann war ein Anwalt der Idioten, wie er sich nicht zu häufig finde. Es war ihm nicht darum zu thun, eine grosse, glänzende Anstalt zu bauen, nach aussen zu repräsentieren oder sich eine angenehme Stellung zu verschaffen. Für diese Dinge war er zu einfach, oder vielmehr für diese Dinge stand er zu hoch. Sein ganzes Wesen, seine ganze Lebensarbeit ging dahin, ein Christ zu sein, sein äusseres Leben und Wirken in Übereinstimmung zu bringen mit dem Ideal, das ihm nach dem Evangelium vorschwebte. Und er wurde ein edler Mensch, der im Sinne des Evangeliums seine Lebenskraft daran setzte, den Blödsinnigen zu helfen. Und

*) Hier dürfte Verfasser doch etwas zu einseitig urteilen. Wenn auch zuweilen in einem Vortrage, Schriftehen oder Zeitungsartikel für den bereits seit einiger Zeit im Dienste der Erziehung Schwachsinniger stehenden Fachmanne wenig Neues geboten wird, so ist doch zu bedenken, dass das betreffende Wort sich doch vor allem an diejenigen wendet, welchen die Idiotenbehandlung noch wenig oder gar nicht bekannt ist. Zu viel ist gewiss noch nicht geschrieben und geredet worden, eher zu wenig, und besonders ist es immer zu beklagen gewesen, dass die sogenannten „Alten“ recht wenig von sich hören liessen.

Die Schriftleitung. **) Herr Schulrat Strebel teilt mit, dass dieser Bericht unentgeltlich von der Anstalt Stetten i. R. (Württemberg) bezogen werden kann.

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deshalb erfrischen seine Worte, alle seine Arbeiten über Idiotenpflege wie er- quickendes Quellwasser. Da finden sich keine abgedroschenen, ausgebrauchten Phrasen, unter denen sich der Schreiber gewöhnlich so wenig denkt als der Leser, sondern jeder Satz zeugt von tiefer Gedankenarbeit, von unablässigem Ringen, vom Umackern eines harten, steinigen Bodens.

Und mit dem feinen Takt eines geistig reifen Mannes ebnete er die Wege auf dem Gebiete der Idiotenpflege in einer Weise, dass man sich nur wundern muss, dass neben den Arbeiten eines solchen Mannes bis in unsere Zeit herein noch so viel Unklarheit, Geschwätz und Phrasen bestehen können. Wäre es möglich gewesen, an diese Arbeiten anzuschliessen und sie weiter zu bauen und zu verwerten, der Unterricht in den Schulen für Schwachsinnige müsste schon längst mit derselben Klarheit erteilt werden können, wie der Unterricht für Taubstumme.

Um Landenberger ganz zu verstehen und ihn auch da begreifen zu können, wo man nach den heutigen Forschungen nicht mehr mit ihm einig sein kann, ist es nötig, sich zu vergegenwärtigen, wie er seine Arbeit antrat und wie er sie auffasste. Er war Volksschullehrer in Württemberg, eine Zeit lang an einer Rettungsanstalt in Ebingen thätig und wurde im Jahre 1851 von seinem Schwager, Dr. med. Müller, als Hauptlehrer an die Heil- und Pflegeanstalt für schwachsinnige Kinder in Winterbach berufen. Im Lehrplan der württem- bergischen Volksschule wurde von jeher der biblischen Geschichte und dem Memorieren von biblischen Sprüchen besonders grosser Wert beigelegt. Mit diesem Lehrplan war Landenberger vollständig einverstanden, ja er ging noch weiter und legte dem biblischen Worte als solchem eine besondere Kraft bei, die menschliche Seele zu wecken und zu beleben. In dieser Ansicht war er ganz einig mit seinem Schwager Dr. Müller, der im ersten Jahresbericht der Anstalt vom Jahre 1849 sagt:

„Darum ist es Hauptaufgabe der Anstalt, den anvertrauten Kindern das Bibel- wort, welches nimmermehr vergeht, und eine sichere Brücke hinüber bildet zur seligen Ewigkeit, zur Herzenssache zu machen.“

Ebenso sagt Dr. Müller im 2. Jahresbericht: vom Jahre 1850:

„Unter allen Erziehungsmitteln giebt es aber in der That kein so für alle denk- baren Fälle passendes als das Wort Gottes; es ist auch für die blödesten Herzen tauglich und wirkt belebend, ermunternd, kräftigend, anfassend. Die biblischen Geschichten alten und neuen Testaments mit herzlicher Einfalt prunklos den Kindern mitgeteilt, erwärmen nicht bloß das Herz, sondern sind auch dazu geeignet, die Ver- standeskräfte zu wecken, zu kräftigen.“

Es ist ein ganz seltenes Zusammentreffen, dass ein Arzt eine Erziehungs- anstalt für Schwachsinnige gründete und einen Lehrer fand, der ihn vollständig verstand, so dass ein Zusammenarbeiten möglich war, wie wir es heutzutage wohl wünschen, aber selten antreffen.

Landenberger gab sich aber nicht damit zufrieden, dass der Arzt mit seinem pädagogischen Standpunkte übereinstimmte, sondern er lernte von seinem Schwager die naturwissenschaftliche Arbeit auf diesem Gebiete kennen. Unermüdlich war

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er bemüht, das Wesen des Idiotismus zu erforschen und auf Grund dieser Er- gebnisse den Schwachsinnigen zu behandeln. Die Jahresberichte, die er ver- fasste, sind deshalb eine reiche Fundgrube für die Idiotenpflege. Über die leibliche und geistige Pflege sind darin Sätze niedergelegt, die leider heute noch nicht in allen Idiotenanstalten befolgt werden. Auf Grund dieser Erfahrungen arbeitete er einen Lehrplan aus. Jedes Unterrichtsfach wurde von ihm mit besonderer Sorgfalt behandelt. Dadurch wurde seine Anstalt zu einer Muster- anstalt, die heute noch vorbildlich ist. Immer kehren in den Berichten der Anstalt die Grundsätze wieder, nach welchen in der Anstalt verfahren wurde, und im 14. Bericht vom Jahre 1862 schreibt Landenberger dies in einem besondern Anhange nieder:

„Unsere Grundsätze für das Erfassen und Durchführen unserer Auf- gabe gehen von dem Wesen des Menschen aus. Als dieses erkennen wir

die Natur des Menschen, d. i. die Gesamtheit der dem Menschen von seinem Schöpfer verliehenen Anlagen, Vermögen und Kräfte, samt den zu ihrem Gebrauch bestimmten Organen und den Gesetzen der Entwicklung und Bethätigung der Kräfte,

die Bestimmung des Menschen, d. i. die Erfüllung des Zweckes, für welchen, und der Absichten, mit welchen der Schöpfer dem Menschen die Natur verliehen hat. Als solche bezeichnet das Wort Gottes, übereinstimmend mit den Bedürfnissen des Menschen, das ewige Leben in der Gemeinschaft Gottes, und zwar soll der Mensch seine Kräfte nach den göttlichen Absichten und Geboten so für seine zeitliche Be- stimmung anwenden, dass er mit Hilfe der ihm gebotenen Gnaden- und Heilsmittel sich seiner ewigen Bestimmung würdig mache.

Aus der engen Verbindung, welche zwischen der Natur und Bestimmung unter sich und ihrem Schöpfer besteht, folgt für das Feld der Erziehung unwidersprechlich, dass nur diejenige Erziehung und Bilduug ganz naturgemäss verfährt, welche die Bestimmung des Menschen zum Ziele hat, und nur diejenige ihre Zöglinge sicher ihrer Bestimmung entgegenführt, welche die Natur des Menschen kennt und berücksichtigt; dass also beide Abwege, wie sie, der erste von der weltförmigen Erziehung, der zweite von übelverstandener Frömmigkeit gemacht werden, stets zum Schaden der Zöglinge geraten müssen. Da wir nun den kindlichen Blödsinn als eine auf angeborener oder in früher Jugend entstandener Hirnerkrankung beruhende Schwächung oder Störung der Seelenthätigkeit anzuschen haben, so muss es Aufgabe der Anstalt sein, die Ursache des vorhandenen Gebrechens möglichst zu erforschen, zu beseitigen, die noch freien, oder durch das Bemühen der Anstalt frei gewordenen Vermögen auszubilden, um das unglückliche Kind zu einem nützlichen Glied der menschlichen Gesellschaft zu machen, oder wo ein Rückbilden des Gebrechens ein Heilen oder Bessern des abnormen Zustandes nicht möglich ist, das Kind menschenwürdig zu verpflegen. Leicht ergiebt und scheidet sich hiernach die Aufgabe und das Gebiet des Arztes und das des Erziehers und Lehrers; nur ist die Scheidung zwischen beiden Gebieten nicht der Art, dass sich eines um das andere nicht zu kümmern hätte. Der Arzt muss viel- mehr bei seinen medizinischen und diätetischen Verordnungen pädagogisch, der Er- zieher und Lehrer im Sinne wahrer Heilkunst verfahren; beide müssen also nach einem gemeinschaftlichen Plane arbeiten. Die Regeln für die Behandlung der Blöden

60 und Geistesschwachen müssen beide, der Arzt und der Lehrer, der Entwicklung des gesunden Kindes entnehmen, da ja in der That der Verlauf des kranken Lebens nur aus den Gesetzen des gesunden Lebens recht begriffen werden kann.

Gleicherweise verhält es sich mit dem Ziel der Erziehung. Besteht dasselbe für den gesunden Menschen in Mündigmachung oder in der Befähigung des Zöglings zur Selbsterziehung, so kann auch für den Schwachsinnigen kein anderes Ziel aufgestellt werden, obwohl es ihm weit ferner liegt und schwerer zu ergreifen ist, als dem geistig gesunden Kinde, ja wenn es auch für ihn gar nicht zu erreichen ist, und wirklich liegt in der konsequenten Verfolgung dieses Zieles das Geheimnis der Erziehung und Bildung Schwachsinniger. Es müssen die vorhandenen Kräfte geübt, der schwache Wille zur Selbstthätigkeit veranlasst werden; es muss an das vorhandene Gesunde, Edlere und Höhere appelliert, und dasselbe durch die Kanäle der Erkenntnis und des Gemütes gestärkt werden, damit es das Kranke, Unfreie, Tierische überwinde, beherrsche und dem vernünftig-verständigen Leben dienstbar mache. Denn wenn auch bei ober- flächlicher Betrachtung der Schwachsinnige hauptsächlich an Schwäche der Erkenntnis zu leiden scheint, so ergiebt sich doch für den, der sich eingehend mit ihm beschäftigt, gründlicher ihn beobachtet, eine andere Ansicht, dass nämlich der schwache, unfreie, kranke Wille die leidendste, kränkste Stelle im Menschen ist, und dass hier der Hebel angesetzt werden müsse, wenn nicht nur die schwache Intelligenz gestärkt, sondern der ganze Mensch aus seinem tiefen Standpunkt auf einen höhern gehoben werden soll. Verhält es sich denn bei irgend einer geistigen Hebung eines Menschen, eines Volkes, von der unbedeutendsten Aufrafftung bis zur höchsten Hebung der Wiedergeburt anders?

Was die zweite Richtung des menschlichen Wesens betrifft, nämlich die Be- stimmung des Menschen oder die Anwendung seiner Vermögen für sein Seelenheil, so ist allerdings das Verhältnis eines schwachsinnigen Kindes von dem eines gesunden verschieden; denn wo auch nur eine der Seiten des geistigen Lebens leidet, da leiden alle mehr oder weniger mit. Es ist in dieser Beziehung sowohl die Ansicht, nach welcher unsere Kinder ganz unfähig und stumpf für die Religion sein sollen, als die entgegengesetzte, nach welcher alle zur Religion besonders geneigt seien, als eine auf mangelhafter Erkenntnis und auf Vorurteil beruhende irrige zu bezeichnen, und wir wollen, um diesen Vorurteilen entgegenzutreten, uns hier offen über die Bedeutung der Religion für die Blöden erklären. Das blödsinnige Kind, dessen Wille blinder Trieb- wille ist, das nur in der niedern Sinnlichkeit lebt, das alberne, kranksinnige Kind, das bei aller Entwicklung der niedern Erkenntnissinne doch den Charakter der Ver- nünftigkeit entbehrt, sind beide des religiösen Gefühls und darum auch wirklicher religiöser Erkenntnis nicht fähig, eben weil das höhere Gemüt stumpf, nicht entwickelt ist. Wir haben uns und andere nie damit getäuscht, dass ein ordentliches, ruhiges Verhalten Tiefstehender bei der Hausandacht, dass das Wissen von den Thatsachen und Wahrheiten des Glaubens bei Kranksinnigen von wirklich religiösem Leben und Fühlen begleitet se. Das von Albernen aufgenommene religiöse Wissen schlummert in ihnen nur wie etwa der Same unter der Schneedecke, und wir erwarten nicht die Frucht, wo die Blüte noch in weiter Ferne steht. Solche Kinder, die den Zusammen- hang mit Gott nicht selbst zu unterhalten im stande sind, nehmen in der Anstalts-

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familie die gleiche Stellung ein, wie in jeder christlichen Familie ihre unmändigen Glieder, in denen das Gottesbewusstsein noch nicht erwacht ist, für welche aber der Glaube und die Liebe der Eltern fürbittend und fürsorgend eintritt und so den Zu- sammenhang mit Gott priesterlich unterhält. Wenn aber behauptet werden wollte, auch das rein schwachsinnige Kind sei der bewussten Beziehung zu Gott und Gottes Reich und Gesetz nicht fähig, so entspricht das dem wahren Sachverhalt und darum auch der Wissenschaft, welche doch nur den Thatsachen nachzugehen, sie zu er- forschen, darzustellen und za verwerten hat, nicht; denn wer vorurteilsfrei die Schwach- sinnigen beobachtet, wird bald finden, dass bei der Mehrzahl die Gemütsseite von der Verkümmerung weniger getroffen ist, als die Intelligenz. Wir stehen darum nicht an, ein solches Verfahren, das dem Schwachsinnigen die Welt des Geistes verschlossen hält und ihn zur bleibenden Unmündigkeit verurteilt, weil er ihm das Höchste, für seine Bildung und Hebung unersetzliche Gut, die Beziehung zu Gott vorenthält, für eine schwere Versündigung an den Ärmsten, und für unwissenschaftlich zu erklären. Wenn wir daher in unsern Kindern Erkenntnis und Furcht vor Gott, Liebe zu ihrem Erlöser zu pflanzen suchen, wenn wir für sie beten, sie selbst zum Gebet und zum Wandel vor Gott anleiten, und überhaupt in jeder Beziehung beabsichtigen, dass unsere Anstalt als. eine christlich religiöse Gemeinschaft sich verwirkliche und als solche erkannt werden könne, so ist der Vorwurf einer pietistischen Frömmelei ebenso ungerecht, als etwa der Vorwurf, dass wir einer materialistischen Auffassung huldigen, weil wir materielle Veränderungen der leiblichen Beschaffenheit als Ursache der Schwachsinnigkeit annehmen. Was die Bestimmung des Menschen zur Thätigkeit, zur Arbeit betrifft, so liegt auch für den Schwachsinnigen der gleiche Segen in der Erfüllung dieser Bestimmung, wie für den geistig gesunden Menschen, und es ist daher dringende Aufgabe, den Zögling nach irgend einer Seite ‚hin leistungsfähig oder arbeitsfähig zu machen; ja, es ist für tieferstehende nötiger und segensreicher, sie zu irgend einer Arbeit zu befähigen und zu gewöhnen, als sie mit ungeheurem Aufwand von Zeit und Mühe zu einem ungenügenden Lesen und Schreiben zu bringen, von dem sie nachher doch nicht den geringsten Gebrauch machen können. Bei solcher Berücksichtigung des menschlichen Wesens in den beiden Momenten, aus denen es besteht, und bei unserem Streben, auch die von Gott in die menschliche Natur gelegten Wechselwirkungen der einzelnen Vermögen zu erkennen und diese Erkenntnis für unser Wirken zu verwerten, glauben wir unsere Grundsätze und unser Verfahren ruhig der Prüfung hinstellen zu dürfen, ob sie mit Christentum und Vernunft, also mit wahrer Wissenschaft im Einklang stehen, und hoffen auch dem Ziel unserer Aufgabe in der That viel näher zu sein, als wenn wir die Zöglinge nach irgend einer selbst- geschaffenen Theorie, möchte sie nun für rationell oder für religiös ausgegeben werden, behandeln würden. Durch sorgfältige Sammlung unserer Erfahrungen und der Er- gebnisse unseres Bemühens und durch Benutzung der anderwärts gemachten und ver- öffentlichten wissenschaftlichen und praktischen Fortschritte, durch freundliche Ver- bindung mit andern Anstalten hoffen wir nach und nach in den Besitz von Materialien zu gelangen, aus welchen allmählich ein vollständiges Gebäude erwachsen könnte, nämlich eine wissenschaftliche Zusammenstellung der für die Heilung und Pflege der Schwachsinnigen nötigen Grundsätze. Es handelt sich ja nicht um Grundsätze, wie

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sie menschliche Beschränktheit oder Willkür aufstellt, sondern um solche, wie sie aus dem Wesen des Menschen notwendig gefolgert werden müssen, wie sie der Schöpfer durch die in die Natur des Menschen gelegten und sich immer nach denselben Gesetzen manifestierenden Fähigkeiten selbst uns offenbart, und deren Auwenden und Befolgen er durch seine unaussprechliche Liebe, durch seine Gebote, Heilsmittel und Ver- heissungen uns zur unerlässlichen Pflicht macht. Wir würden glauben, uns selbst aufzugeben, wenn wir diesen Weg, dieses Ziel für unser Streben verlassen würden, und werden daran in jeder Beziehung unter allen Verhältnissen festhalten.“ (Fortsetzung in nächster Nr)

Die „Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer“ und die Hilfsschule.

Ein nicht unerhebliches Verdienst, mit am Ausbau der Hilfsschulen gearbeitet zu haben, kann sich unsere Zeitschrift zuschreiben. Vom ersten Jahre ihres Bestehens an, 1880, bis zur Gegenwart hat sie eine grosse Anzahl von Auf- sätzen veröffentlicht, die ganz speziell Bezug haben auf die Hilfsschule. Die übrigen Abhandlungen sind in dem „Organ der Konferenz für das Idiotenwesen“ naturgemäss für die Idiotenanstalten und ihre Arbeiten berechnet. Die nahe Verwandtschaft der Hilfsschule mit der Idiotenanstalt, sowie der Umstand, dass die Idiotenanstalten nicht bloss Pflege- und Erziehungsanstalten sind, sondern in vorwiegendem Masse auch dem Unterrichte ihre Zeit widmen, bringt es mit sich, dass die letzterwähnten Abhandlungen wichtige Ratschläge für die Ver- waltung, den inneren Betrieb und die Unterrichtsmethodik auch der Hilfsschule aufweisen.

Zur Information für Hilfsschullehrer, welche sich theoretisch eingehend aus- bilden wollen, geben wir in Nachstehendem eine Zusammenstellung der eigens für die Hilfsschule geschriebenen Artikel. Wer es ernst meint mit seiner Fort- bildung auf heilpädagogischem Gebiete, wird nicht umhin können, auch dem weiteren Iuhalte der Zeitschrift seine Beachtung zu schenken.

Wir teilen die Artikel in vier Rubriken ein: Geschichtliches, Allgemein- pädagogische Abhandlungen, Allgemeine Unterrichtsgrundsätze, Zur speziellen Methodik.

Die Zusammenstellung giebt zugleich einen Überblick über die noch zu bearbeitenden Lücken, und werden die Kollegen zur Mitarbeit freundlichst ein-

geladen. I. Geschichtliches.

Jahrgang 1880/81, Nr. 1, E. Falch: Über die Berechtigung besonderer Klassen bez. Schulen für die leichtesten Formen des Schwachsinns.

J. 1881/82, Nr. 1, Dr. Berkhan: Die Hilfsklassen für schwachbefähigte Kinder bei den Bürgerschulen zu Braunschweig.

J. 1881/82, Nr. 5, Dr. Berkhan: Über die Grundsätze, nach denen Hilfsklassen einzurichten sind.

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. 1883/84, Nr. 3 u. 4, Kielhorn: Über Hilfsklassen für Halbidioten. . 1885, Nr. 3, Kielhorn: Die Hilfsklassen für schwachbefähigte Kinder in

Braunschweig.

. 1887, Nr. 1 u. 2, Dr. Bartels: Über die Klassen für Schwachbefähigte. . 1888, Nr. 2, E. R.: Wohin drängt die Entwicklung der Schwachsinnigen-Schulen ? .1889, Nr. 5, Reichelt: Welche Kinder gehören in die Hilfsklassen und welche

in die Idiotenanstalten ?

. 1890, Nr. 2, Piper: Ein Wort, die Hilfsklassen oder Hilfsschulen betr.

1890, Nr. 3, Kielhorn: Ein Wort, die Hilfsklassen oder Hilfsschulen betr. 1890, Nr. 4, Piper: Ein Wort, die Hilfsklassen oder Hilfsschulen betr. 1891, Nr. 3u.4, E. Reichelt: Mein Antrag auf der Braunschweiger Konferenz. 1892, Nr. 4, Weniger: Eine Anregung zum Besten unserer Hilfsschulen.

. 1900, Nr. 4, 5, 6, Tätzner: Die Entstehung des Gedankens, besondere Schulen

für schwachsinnige Kinder zu errichten, und die Art, wie dieser Ge- danke in der Nachhilfeschule zu Dresden -Altstadt Verwirklichung gefunden hat.

.1896, Nr. 1, Strakerjahn: Bericht über die Nebenversammlung für Lehrer an

Hilfsschulen zu Heidelberg.

.1898, Nr. 1: Gründung des Verbandes der Hilfsschulen Deutschlands. . 1898, Nr. 4 u. 5: Bericht über den 1. Verbandstag der deutschen Hilfsschulen

zu Hannover.

. 1899, Nr. 5: Bericht über den 2. Verbandstag der deutschen Hilfsschulen zu

Kassel.

II. Allgemeinpädagogische Abhandlungen.

. 1880/81, Nr. 4, E. Reichelt: Die Kräftigung des Willens bei bildungsfähigen

idiotischen Kindern.

. 1882/83, Nr. 3, E. Falch: Der Schwachsinn vor Gericht.

. 1889, Nr. 3, 4, 5, Kielhorn: Der schwachsinnige Mensch im Öffentlichen Leben. .1891, Nr. 5, H. Mahler: Die Hygiene der Schule.

. 1892, Nr. 2 u. 3, H. Horrix: Welche Anforderungen stellt die Hilfsschule an

den Lehrer?

. 1893, Nr. 2 u.3, Kielhorn: Zum Schutze der Schwachsinnigen im öffentlichen

Leben.

J. 1893, Nr. 4, Kielhorn: Zum Schutze körperlich und geistig belasteter Kinder. .1894, Nr. 1, Kielhorn: Anträge, das bürgerliche Gesetzbuch betreffend. . 1894, Nr. 5 u. 6: Übersicht der bei Abfassung der Charakteristiken der Kinder

einer Schwachsinnigen-Schule zu beachtenden Merkmale.

. 1895, Nr. 4 und 5, Kannegiesser: Beurteilung des kindlichen Geistes durch

Spiegelschrift.

. 1895, Nr. 3 u. 4, Becher: Die geistig Zurückgebliebenen mit besonderer Be-

rücksichtigung derjenigen in den Volksschulen.

.1896, Nr. 4, Wintermann: Die Fürsorge für unsere Schüler bei deren Ent-

lassung aus der Schule und in späteren Jahren.

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.1896, Nr. 7 u. 8, Dr. Dillner: Ergebnisse ärztlicher Untersuchung schwach-

sinniger Kinder und ihre Bedeutung für den Lehrer.

.1896, Nr. 5 und 6, Dr. Gündel: Zur Klassifizierung der Idioten. .1899, Nr. 2, Fuhrmann: Das Verhältnis der Hilfsschule zur Volksschule. . 1899, Nr. 9, Kannegiesser: Der schädliche Einfluss behinderter Nasenatmung

auf die körperliche und geistige Entwicklung der Kinder.

. 1899, Nr. 10 u. 11, A. Fisler: Über den Beruf und die Aufgabe eines Lehrers

und Erziehers bei Schwachsinnigen.

III. Allgemeine Unterrichtsgrundsätze in der Hilfsschule.

.1893, Nr.2 u. 3, K. Richter: Über den Unterricht schwachsinniger Kinder. . 1897, Nr. 2 u. 3, Ziegler: Bemerkungen zum „gemütlich anregenden“ Unter-

richt in Idiotenklassen.

.1897, Nr. 8, Chr. K.: Der Lehrvortrag in unserer Schule. .1898, Nr. 1, 2, 3, Ziegler: Die Kinder können zu viel. . 1899, Nr. 7 u. 8, Ziegler: Zum erziehenden Unterricht bei schwachsinnigeu

Kindern.

. 1900, Nr. 3, 4, 5, Ziegler: Die wichtigsten charakteristischen Grundsätze des

Unterrichts bei schwachsinnigen Kindern.

.1887, Nr. 1, 2, 3: Lehrplan für die Hilfsschule für schwachbefähigte Kinder

zu Braunschweig.

IV. Zur speziellen Methodik. Religion.

.1894, Nr. 3, W. Schroeter: Lehrplan für den Religionsunterricht. . 1897, Nr. 5, Weniger: Aus der Unterrichtsmappe. Hochzeit zu Kana.

Deutsch. (Lesen, Sprechen, Schreiben.)

.1896, Nr. 2, Horrix: Aufsatzübungen in der Hilfsschule. . 1896, Nr. 3: Die Lesebuchfrage vom Standpunkte der Leipziger Schwach-

sinnigen -Schule aus betrachtet.

. 1887, Nr.7 u. 8, Horrix: Der Leseunterricht in der Hilfsschule. . 1900, Nr. 8: Ein Lesebuch für Schwachsinnige. . 1888, Nr. 1, Piper: Welche Unterrichtsdisziplinen sind mit Rücksicht auf die

an Sprachgebrechen leidenden Idioten zu pflegen? Sind auf Erfahrung beruhende Methoden vorhanden, resp. welcher Lehrgang ist vor- zuschlagen ?

. 1890, Nr. 1 u. 2, Weniger: Die Sprachstörungen bei geistig Zurückgebliebenen

und ihre methodische Behandlung.

. 1893, Nr. 5, Piper: Die Sprachgebrechen bei idiotischen Kindern und deren

Heilung.

. 1896, Nr. 1, Piper: Der grundlegende Sprechunterricht bei stammelnden

schwachsinnigen Kindern.

. 1896, Nr. 8, Frenzel: Zehn Fälle von Aphasie bei idiotischen Kindern und

deren unterrichtliche Behandlung.

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. 1897, Nr. 6 u. 7, Frenzel: Der Sprechunterricht sprachloser Geistesschwacher.

1897, Nr. 2 u. 3, K. Kölle: Der Sprechunterricht.

. 1897, Nr. 5, Dr. K. Bock: Die Aphasie und ihre Behandlung durch Sprach-

unterricht.

.1898, Nr. 7 u. 8, Piper: Wie können wir die sprachlosen schwachsinnigen

Kinder zum Sprechen bringen ?

. 1899, Nr. 1 u. 2, Frenzel: Der Artikulationsunterricht bei geistesschwachen

Kindern.

.1897, Nr. 1, Horrix: Der Schönschreibeunterricht in der Hilfsschule. . 1898, Nr. 2, Wehle: Über Schreibvoräbungen. . 1899, Nr. 9, Horrix: Rechtschreibübung in der Hilfsschule.

Anschauungsunterricht.

. 1894, Nr. 2, Weniger: Aus der Unterrichtsmappe. .1894, Nr. 5 u. 6, Weniger: Aus der Unterrichtsmappe. . 1897, Nr. 6 u. 7, Wintermann: Lehrplan für den Anschauungs- und heimat-

kundlichen Unterricht in der dreiklassigen Hilfsschule.

.1898, Nr. 1, Horrix: Wie vermittelt die Hilfsschule die Fertigkeit, an der

Uhr die Zeit abzulesen ?

. 1899, Nr. 12, Horrix: Der Anschauungsunterricht in der Hilfsschule. . 1900, Nr. 1, Dost: Die Meinhold-Kempterschen Bilder und ihre Verkörperung

durch Modelle im Dienste des Anschauungsunterrichtes der Schwach- sinnigen-Schule.

. 1901, Nr. 1, Loeper: Sinn- und Sprechübungen (Unterscheidungsübungen) in

der Hilfsschule.

. 1900, Nr. 11 u. 12: Lehrplan für den naturkundlichen Unterricht.

Vorstufe.

. 1882/83, Nr. 6, R. Scheffler: Thätigkeitsübungen für die Vorstufe.

.1890, Nr. 3, Weniger: Aus der Unterrichtsmappe: Das Mosaikspiel.

. 1895, Nr. 1, Horrix: Die ersten vorbereitenden Übungen in der Hilfsschule. . 1898, Nr. 4, 5, 6, 7, Nitzsche: Aus der Praxis der Vorschule.

.1898, Nr. 4 und 5, Weniger: Übe und pflege die Selbstthätigkeit der Schüler.

Übungen mit den Formenbrettern.

Rechnen.

. 1887, Nr. 6, Roth: Die natürlichste Rechenmaschine. . 1899, Nr. 10 u. 11, Cb. K.: Zum Rechenunterricht in der Schule für Schwach-

sinnige. Zeichnen.

.1899, Nr. 7 u. 8: Zur Methodik des Zeichenunterrichts in Schwachsinnigen-

Schulen. Handfertigkeit.

. 1892, Nr. 5 u.6, P. Müller: Der Handfertigkeitsunterricht bei Schwachsinnigen- .1894, Nr. 1, Müller: Der Handfertigkeitsunterricht bei Schwachsinnigen.

66 J. 1895, Nr. 2, Wintermann: Lehrplan für den Handarbeitsunterricht einer drei- klassigen Hilfsschule. J. 1900, Nr. 8, Frenzel: Der Knaben-Handarbeitsunterricht bei geisiesschwachen Kindern.

Zum Schluss wollen wir nicht verfehlen, auf das unter „Mitteilungen“ und „Litteratur“ der Zeitschrift befindliche wertvolle Material hinzuweisen. Unter „Mitteilungen“ finden wir z. B. Berichte über die Hilfsschulen in Hannover, Gera, Braunschweig, Dresden, Leipzig, Bremen, Breslau, Hamburg, Posen, Erfurt u. a.

Weniger-Schwelm in Westf.

Mitteilungen.

Dresden. (Nachhilfeschulen.) Die beiden Nachhilfeschulen hatten im Schul- jahr 1900/01 einen Bestand von zusammen 147 Schülern. Davon gehörten der Altstädter Nachhilfeschule (links der Elbe) 123 Kinder an, der Neustädter Nach- hilfeschule (rechts der Elbe) 24. Während in letzterer der Schülerbestand seit Jahren eine merkliche Veränderung nicht erfahren hat, ist die Schülerzahl in der Altstädter Schule in den letzten fünf Jahren von 97 auf 123 gestiegen. Im Laufe des letzten Schuljahres traten in die Altstädter Nachhilfeschule 33 Kinder neu ein; 19 dieser Kinder hatten zuvor andere Dresdner Volksschulen besucht, 7 waren von aus- wärts zugezogen, darunter eins von Leipzig, wo es die Hilfsschule für Schwachbegabte besucht hatte, 2 kamen infolge Umzugs aus der Neustädter Nachhilfeschule, und 5 Kinder traten ein, ohne zuvor eine Schule besucht zu haben. Diese letzteren waren im Alter schon weit vorgeschritten und standen geistig so tief, dass eine versuchs- weise Aufnahme in die allgemeine Volksschule nicht zweckdienlich erschien. Dem Alter und der geistigen Entwicklung nach standen die neu aufgenommenen Schüler auf ganz verschiedenen Stufen. Bei ihrer Verteilung auf die einzelnen Klassen kam selbstverständlich nur ihr geistiger Standpunkt und der Grad ihrer Kenntnisse in Betracht. Darnach konnte der ersten Klasse keiner der -neu eingetretenen Schüler zugewiesen werden; 4 wurden der II. Klasse zugeteilt, 1 Schüler der III. Klasse, 6 der IV. Klasse, 4 der V. Klasse und 18 Schüler wurden der VI. Klasse zuge- wiesen. In der letzteren Klasse waren im vorangegangenen Schuljahre 6 Kinder sitzen geblieben, sodass nach Aufnahme der 18 neuen Schüler diese Klasse aus 24 Schülern bestand. Zwei Schüler traten im Laufe des Jahres infolge Wegzuges wieder aus; es behielt die VI. Klasse mithin nur einen Bestand von 22 Schülern. Zur näheren Charakterisierung der gegenwärtig die unterste Klasse bildenden Schüler und zur Kennzeichnung der Verhältnisse, in welchen dieselben leben, mögen die weiterhin folgenden Angaben dienen. Die Altersstufen der aus 11 Knaben und gleichvielen Mädchen bestehenden Schülerzahl gehen weit auseinander; während das jüngste der Kinder 7 Jahr alt ist, hat das älteste bereits das 15. Lebens- jahr überschritten. 14 der Kinder besuchen die Klasse das erste Jahr, 6 Kinder das zweite Jahr, und 2 besunders schwache Kinder gehören der Klasse das dritte Jahr an. Viele Kinder sind neben ihrer geistigen Schwäche auch körperlich schwer belastet.

67 Eine grosse Anzahl leidet an Nervenschwäche und Blutarmut, sowie auch an Rhachitis und Skrofulose. Drei Kinder sind gelähmt, eins davon rechtsseitig, sodass dieses mit der linken Hand schreiben muss. Bei 9 Kindern ist die Schädelbildung eine ab- norme; zwei Kinder sind als grossköpfig, vier als kleinköpfig zu bezeichnen. Eins der letzteren hat die Kopfbildung eines Azteken. Bei einem Kinde ist die Schädel- form viereckig, bei zwei anderen hat das Hinterhauptbein eine auffallend wulstige Ausbauchung. An Krümmung der Wirbelsäule leiden zwei Kinder, und bei drei Kindern findet sich Hühnerbrust vor. Ein Kind ist als Zwerg zu bezeichnen; os ist, obgleich 11 Jahr alt, doch nur 91! cm gross. Das Gehen hatten 12 Kinder vor dem 2. Lebensjahre gelernt, 8 Kinder aber erst in dem 3. und 4. Jahre und 2 Kinder sogar erst zwischen ihrem 5. und 6. Lebensjahre. Neun Kinder haben jetzt noch einen schwerfälligen, wackligen Gang. An allgemeiner Muskelschwäche leiden 8 Kinder. Eine krankhafte Beschaffenheit der Sinnesorgane findet sich bei 5 Kindern; drei derselben sind kurzsichtig, zwei sind schwerhörig. Fünf Kinder leiden an Ohrenfluss und ebensoviele an Speichelflus. Das Sprechen hatten, den Angaben der Eltern nach, 9 Kinder bis zum zweiten Lebensjahre gelernt, 9 andere Kinder lernten es in ihrem dritten bis vierten Jahre, 3 Kinder aber erst zwischen dem fünften und sechsten und 1 sogar erst mit dem siebenten Lebensjahre. Es ist leicht erklärlich, dass die Sprachentwicklung bei denjenigen Kindern, die so auf- fallend spät zu sprechen anfingen, auch jetzt noch eine unvollkommene ist; ja, 8 dieser Kinder stammeln noch in recht hohem Grade. Stotterer finden sich dagegen unter ihnen nicht. Die angegebenen körperlichen Übel und Gebrechen finden sich bei dem einzelnen Schüler auch vielfach als Komplikationen vor. So ist z. B. der Schüler L. mit einer ganzen Reihe von Abnormitäten behaftet. Dieser Schüler hat 1. einen viereckig geformten Schädel; 2. schräg gestellte Augenhöhlenachsen; 3. eigen- tümlich verbogene Ohrenmuscheln; 4. Hühnerbrust; 5. rauhe Haut mit auffallend ver- minderter Schmerzempfindlichkeit; 6. Muskelschlaffheit; 7. wackligen, schiebenden Gang; 8. hochgradige Schlafsucht (diese hat sich in letzter Zeit gemildert); 9. chronischen Katarrh der Nasen- und Rachenhöhle; 10. Speichelfluss; 11. schwache Sehkraft und 12. mangelhafte, stammelnde Sprache. Die körperlichen Gebrechen der Kinder und insbesondere der krankhafte Zustand ihres Nervensystems mussten zweifellos auch einen höchst nachteiligen Einfluss auf ihr ganzes Verhalten ausüben. Bei den meisten der Kinder äussert sich der abnorme Nervenzustand als allgemeine nervöse Unruhe; bei 3 Kindern äussert er sich als krankhafter Jachreiz mit Veitstanz ähnlichen Erscheinungen; bei 4 Kindern als Angstgefühl und Schreckhaftigkeit; bei 3 Kin- dern als Neigung zu plötzlichem Wechsel in der Gemütsstimmung; bei ebenfalls 3 Kindern als Necklust und Zanksucht; bei 2 als Neigung zur Gewaltthätigkeit ; bei 1 Kinde als Überstürzung im Sprechen; und bei 4 Kindern als Schwatz- haftigkeit. Über die Zeit des Beginns der Geistesschwäche dieser Kinder liess sich auf Grund der elterlichen Angaben feststellen, dass bei 16 Kindern der Schwachsinn angeboren ist und zwar bei 6 Kindern infolge Nerven- oder Gemütskrankheit der Mutter; bei 4 Kindern infolge Früh- oder infolge Schwergeburt und bei ebenfalls 4 Kindern infolge Trunksucht des Vaters. In 2 Fällen sind bestimmte Ursachen nicht bekannt, es ist aber in diesen Fällen auf angebornen Schwachsinn zu schliessen,

68

da die Geschwister der betr. Kinder auch schwachsinnig sind. An orworbenem Schwachsinn leiden 6 Kinder und zwar 3 infolge überstandener Gehirnkrankheiten und 3 infolge Rhachitis. Die Wohnungsverhältnisse sind bei 7 Kin- dern als besonders gute, bei 7 anderen aber als besonders mangelhafte zu bezeichnen. Ein eigenes Bett haben nur 12 von den 22 Kindern der Klasse. Sieben Kinder schlafen mit einem Geschwister zusammen, ein Kind sogar mit zwei Geschwistern. In zwei Fällen schliefen die Kinder mit der Mutter zusammen, ein Übelstand, der in beiden Fällen aber beseitigt worden ist. Die meisten Eltern unterstützen die Schule nach besten Kräften; 10 Kinder werden von der Mutter oder von einem der Ge- schwister, zum Teil regelmässig, zur Schule gebracht und wieder abgeholt, was bei den zumeist weiten Schulwegen für diese ein grosses Opfer bedeutet. In einzelnen Fällen ist die Mithilfe des Elternhauses zu vermissen gewesen, in diesen Fällen lag aber in der Regel nicht böser Wille vor, sondern es waren missliche Verhältnisse, welche es den betr. Eltern unmöglich machten, sich mehr um ihre Kinder zu kümmern. Mit Ostern werden 16 Konfirmanden die Nachhilfeschule verlassen, darunter 9 Knaben. Von den letzteren wollen 4 ein Handwerk lernen und zwar will je einer Fleischer, Tischler, Schriftmaler und Lackierer werden. Zwei Knaben werden als Arbeitsburschen und drei als Stall- bez. als Hausburschen ein Unterkommen finden. Von den Mädchen will eine zu einer Herrschaft in Dienst gehen, während die übrigen zu Hause bleiben sollen, um der Mutter in der Hauswirtschaft behilflich zu sein. Pruggmayer.

Freiburg, Schl. (Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt.) Die Anstaltsschule erhielt eine Vergrösserung, da zur bessern Erteilung des Unterrichts eine andere Klassenteilung notwendig wurde. Es ist deshalb ein drittes Schulzimmer eingerichtet und eine dritte Lehrkraft angenommen worden. Die Schule besuchten 25 Knaben und 24 Mädchen.

Schwelm. (Hilfsschule.) Die Hilfsschule zu Schwelm wurde zu Ostern 1900 eröffnet und der Leiter derselben, Lehrer Weniger, früher in Gera (Reuss), durch den Kgl. Kreisschulinspektor eingeführt. In der Schule wurden sämtliche in den hiesigen vier Schulsystemen befindlichen geistesschwachen Kinder vereinigt, wodurch allerdings die Schülerzahl eine grosse geworden ist. Die Klasse zählt 31 Kinder. Die Errichtung einer zweiten Klasse wird in Erwägung gezogen. Unter den 31 Kindern waren 4 Knaben und 1 Mädchen kurzsichtig und 3 Knaben schwerhörig; 2 Mädchen stotterten und 2 Knaben und 2 Mädchen stammelten. Nach dem Religionsbekenntnis waren 21 Kinder evangel.-lutherisch, 4 Kinder evangel.-reformiert, 6 Kinder katholisch. Als Ursachen der geistigen Schwäche ergaben sich

bei 8 Kindern Trunksucht der Eltern, jm a schwere Kopfverletzungen, „1 , verschiedene Krankheiten: Scrophulosis, Rhachitis etc. y Frühgeburt und langsame Entwicklung, n erbliche Belastung, Lähmung, i Kopf- und Ohrenleiden, Krämpfe in früheren Lebensjahren,

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Ostern 1901 werden vier Knaben konfirmiert und entlassen, sie sind alle erwerbs- fähig. Ein Knabe tritt in eine Schlosserei ein, einer in eine Fabrik und zwei bleiben im elterlichen Hause, um ihrem Vater bei landwirtschaftlichen Arbeiten zu helfen. Im Religionsunterrichte wurde bei Darbietung der biblischen Geschichien in erster Linie auf die schwächeren Schüler Rücksicht genommen, mit den vor der Konfirmation stehenden Kindern und den nächstjährigen Konfirmanden wurden Katechismusstücke, Gesangbuchstrophen und Sprüche repetitorisch herangezogen und die Heilsgeschichte im Leben Jesu in ausführlicherer Weise zur Darstellung gebracht. Der An- schauungsunterricht hatte die Aufgabe den Formen- und Farbensinn, das Begriffs- vermögen überhaupt und die Sprachfertigkeit zu wecken und zu fördern und den Anschauungskreis je nach der geistigen Kraft der Kinder zu erweitern. Er diente einmal dazu, den Religionsunterricht zu unterstützen, indem er die in den biblischen Geschichten vorkommenden neuen Begriffe erläuterte, so dass in der Religionsstunde mehr auf den religiös sittlichen Inhalt eingegangen werden konnte; zum andern schloss sich der Anschauungsunterricht an die Vorgänge in der Natur nach den Jahreszeiten und an die historischen Gedenktage an (Kaisers Geburtstag, Einweihung des Kaiser Friedrich Denkmals, Gedenkfeier des 200 jährigen Bestehens des Königreichs Preussen). Durch Singen zum Anschauungsstoff passender Volkslieder und Einübung einiger Choräle wurde der Unterricht erheblich belebt, durch Turnübungen die erschlaffende geistige Regsamkeit ermuntert und die körperliche Gewandtheit gefördert. Im Hand- fertigkeitsunterricht wurde das Stäbchenlegen, das Verschränken, Falten und Flechten geübt, dem sich zuletzt das Formen in Plastilina anschloss. Im Hand- arbeitsunterrichte für die Mädchen wurden von Frl. Hielscher durchgenommen : I. Gruppe: Stricken eines wollenen Strumpfes, Aufschlagen, Abnehmen, Stricken der Ferse und des Käppchens. Die dazu nötigen Berechnungen konnten die Schülerinnen nur teilweise ausführen; II. Gruppe: Anfang eines Nähtuches, Strickbeutel, nen erlernt: Aufschlagen, I,inksmaschen, Abwechslung rechter und linker Maschen, III. Gruppe: Erlernung der Rechtsmaschen; IV. Gruppe: Versuch eines Strickzeuges, dazu Be- schäftigung mit leichtesten Ausnäharbeiten nach Fröbelscher Methode. Rechnen und Lesen, als die obnehin schwierigsten Unterrichtsfächer, boten in der einklassigen Hilfsschule insofern noch vermehrte Schwierigkeiten, als hier nicht infolge der grossen Schülerzahl individualisierend belehrt werden konnte, sondern der Unterricht mehr Klassenunterricht sein musste. Neben diesem Gesamtunterrichte musste aber jedes Kind, sollte es weiter gefördert werden, seine besonderen Aufgaben erhalten, denn im Behalten bereits erworbener Kenntnisse und im Auffassen des neuen Wissensstoffes zeigten sich bei den Hilfsschülern die grössten Verschiedenheiten.

Stolp i. Pom. (Hilfsschule für schwachbegabte Kinder.) Statistische Erhebungen weisen nach, dass in den letzten drei Jahren ungefähr 80 neue Hilfs- schulen für schwachbegabte Kinder in den verschiedensten Teilen des deutschen Reiches begründet worden sind. Zu diesen neuen Hilfsschulen gehört auch die der Stadt Stolp i. Pom, welche am 17. Mai 1900 ins Leben trat. Stolp i. Pom. ist die grösste Stadt Hinterpommerns, die driltgrösste der Provinz Pommern und zählt nach der letzten Volkszählung 28 000 Einwohner. Die Stadt besitzt ein Gymnasium, eine lateinlose Realschule eine höhere Mädchenschule, zwei Mittelschulen, zwei grosse Ge-

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meindeschulen und eine einklassige katholische Volksschule, Der Vorstand des Ver- bandes der Hilfsschulen Deutschlands, der sich die Verbreitung dieser Schulgattungen zur Aufgabe gestellt hat, sandte im November 1899 dem hiesigen Magistrat ein Rund- schreiben zu, das die Bitte aussprach: „Der Magistrat möge die Errichtung einer Schule für schwachbegabte Kinder wohlwollend in Erwägung ziehen“. Dem Schreiben war der Bericht über die Verhandlungen des II. Verbandstages der Hilfsschulen Deutschlands beigefügt, der am 4. und 5. April 1899 zu Cassel tagte. Der Magistrat trat der Angelegenheit sofort sympathisch näher, erforderte ein Gutachten über eine zu errichtende Hilfsschule für schwachbegabte Kinder von den Rektoren der Gemeinde- schulen und erliess eine Umfrage behufs Feststellung der Zahl der schwachbegabten Kinder. Auf Grund der eingegangenen Berichte beschloss der Magistrat am 30. No- vember 1899 die Errichtung einer Hilfsschule für schwachbegabte Kinder; die Stadt- schuldeputation trat diesem Beschlusse am 1. Dezember 1899 und die Stadtverordneten- versammlung am 6. desselben Monats bei. Somit war die Gründung einer Hilfs- schule für schwachbegabte Kinder „usgesprochen; die Genehmigung derselben seitens der Königlichen Regierung erfolgte am 22. Dezember 1899. Zum Leiter der Schule wollte man eine Lehrperson wählen, die mit der Unterweisung und Behandlung schwachbegabter Kinder vertraut wäresund welcher zu dem Gehalte einer Volksschul- lehrerstelle noch eine pensionsfähige Zulage von 300 Mk. gewährt werden sollte. Die Wahl derselben erfolgte in der Schuldeputation am 27. Februar 1900 und in der Stadtverordnetenversammlung am 1. März 1900. Es wurde als Leiter der Schule der Königliche Anstaltslehrer Fr. Frenzel aus Wabern (Bezirk Cassel) gewählt, der vorher längere Zeit an einer Taubstummenschule und an einer Erziehungsanstalt für geistesschwache Kinder ale Lebrer und Erzieher thätig war. Derselbe meldete sich Anfang Mai 1900 zum Dienstantritte und eröffnete, nachdem die Auswahl und Über- weisung geeigneter Kinder durch Sachverständige erfolgt war, am 17. Mai 1900 mit 31 Kindern die städtische Hilfsschule für schwachbegabte Kinder. Die Hilfsschule gliedert sich nach dem Beispiele der Breslauer Hilfsschulen in eine Ober- und eine Unterstufe; diese erhält wöchentlich 20 Unterrichtsstunden, die Oberstufe 24. Bei der Aufstellung des Lehrplanes sind Lehrpläne verschiedener Hilfsschulen heran- gezogen; Lehrgegenstände sind dieselben wie in andern Hilfsschulen. Über ein jedes Kind wird ein Personalbuch geführt; ein Arzt untersucht sämtliche Kinder und steht dem Leiter der Schule beratend zur Seite. Die erste Jahresprüfung, welche am 9. März 1901 stattfand, ergab durchweg gute Resultate; die Schule hat sich in der kurzen Zeit ihres Bestehens viel Vertrauen erworben und wird, von dem Wohlwollen der städtischen Körperschaften getragen, sicher zum Wohle der Stadt gereichen. Schliesslich sei noch bemerkt, dass die Hilfsschule ihren eignen Etat besitzt und als Schule für sich ganz selbständig besteht. Ausser Stolp i. Pom. besitzt in der Provinz. nur noch Stettin eine mehrklassige Hilfsschule, welche bereits 1892 gegründet worden ist. Andere Städte, wie z. B. Greifswald, haben bisher des leidigen Kosten- punktos wegen die Gründung und Errichtung von Hilfsschulen resp. Hilfsklassen für schwachbegabte Kinder hinausgeschoben; hoffentlich treten sie demnächst der Angelegen- heit wieder näher und verwirklichen ihre Projekte.

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Litteratur.

Rechtschreiblesefibel nach phonetischen Grundsätzen bearbeitet von Wilhelm Missalek, Lehrer in Breslau. Als Manuskript gedruckt. Breslau 1900. Verlag von Wilh. Gottl. Korn. Preis geb. 40 Pf. Dazu Begleitwort: Welche Forderungen stellt die Gegenwart an eine mustergiltige Fibel, gratis.

Die pädagogische Welt scheint zur Zeit mit keiner Fibel so recht zufrieden zu sein, weil mit keiner recht befriedigende Gesamtresultate erzielt werden; deshalb steht gegenwärtig die Fibel-Produktion in höchster Blüte. Es vergeht nicht ein Jahr, ohne dass mehrere Fibeln das Licht der Welt erblicken. An einem guten ersten Lesebuche sind wir vom pädagogisch-pathologischen Standpunkte aus in hohem Grade interessiert und würden ein solches mit Freuden begrüssen. Im allgemeinen finden wir in der vorliegenden Fibel ein recht brauchbares Buch auch für unsere Zwecke, das in mancher Hinsicht die bereits bestehenden Fibeln für schwachbegabte (Barthold) oder zurückgebliebene Kinder (Wehle) übertrifft. Für die Anordnung der Lautzeichen in der Fibel sind phonetische Prinzipien massgebend gewesen, wobei auch die Schwierig- keit ihrer Schreibformen grösstmögliche Berücksichtigung gefunden hat. Die Auswahl der Wörter ist nach der Verbindungsfähigkeit ihrer Laute getroffen. Das gewonnene Material wird sobald als möglich in Sätzchen angewandt, an denen Sprachfertigkeit und Sprachgefühl gepflegt und geübt werden können. Durchsichtig und klar ist der Gedankengang von Anfaug bis zum Schlusse der Fibel, und lückenlos reihen sich Laute, Wörter, Sätzchen, Sätze etc. aneinander. Die deutlichen und schönen Bilder, welche von einem Münchener Künstler gefertigt sind, erhöhen den Wert des Buches nicht unwesentlich und machen seinen Gebrauch interessant. Wenn auch an einigen Stellen etwas viel Stoff geboten wird und der Übungen zu viele erscheinen, an andern wieder bedeutende lautliche Schwierigkeiten ziemlich früh auftreten, s@ wird der Wert der Fibel dadurch gar nicht beeinträchtigt, man darf ja nur aus dem reichen Inhalte der- selben das auswählen, was man für geeignet hält; ausserdem sollen die lautlichen Schwierigkeiten, wie der Verfasser es mitteilt, beim Erscheinen des Buches auf später verschoben und die lateinische Schrift gänzlich entfernt werden. Das würde den Ge- brauch der Fibel für unsere Anstalten und Hilfsschulen geeigneter machen. Wir müssen mit unsern Schülern im Lesen zunächst einen Kursus ohne Fibel durchmachen, ehe wir eine solche mit Nutzen werden gebrauchen können. Nach dieser Voraussetzung gewinnt die Fibel für uns die Bedeutung eines Compendiums; daher lässt sich beim Leseunterrichte Schwachbegabter jede Fibel verwenden, die den Forderungen, welche die gegenwärtige Pädagogik an eine mustergiltige Fibel stellt, überhaupt entspricht. Wir empfehlen deshalb die vorliegende Fibel allen Interessenten zur Beachtung nament- lich im Hinblicke darauf, dass die Fibelfrage in unserer Angelegenheit demnächst auf dem III. Verbandstage deutscher Hilfsschulen zur Erörterung kommen soll. Fr.

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Die X. Konferenz für das Idiotenwesen- und die Schulen für schwachsinnige Kinder

findet vom

17. bis 19. September d. J. in Elberfeld

statt. Geschäftsführer des Ortsausschusses ist Herr Beigeordneter Schulrat Dr. Boodstein daselbst. Die Vorkonferenz findet am 25. April in Berlin statt.

Für die Konferenz sind bis jetzt folgende Themata angemeldet: 1. Die Idiotenanstalten und die Hilfsschulen, eine Grenzregulierung. Dir. Barthold-M.-Gladbach. . Die ideale Seite der Idiotenpflege. Dir. Herberich-Gemünden. . Die Anfänge des Schwachsinns. Dir. Trüper-Jena. . Versuch einer Einteilung der Idioten. Dir. Kölle-Regensberg. . Der Formenunterricht bei Schwachsinnigen. Dir. Kölle-Regensberg. . Übersicht über die Entwickelung und den jetzigen Zustand des Idiotenwesens in Dänemark. Dir. Rolstedt-Kopenhagen. 7. Die Beschäftigung der Schwachsinnigen. Postor Bernhard- Stettin, Kückenmühle. 8. Über einige besondere Gruppen unter den Idioten. Dr. Berkhan- Braunschweig. 9. Über den höheren Grad von Schreibstammeln. Dr. Berkhan- Braunschweig. 10. Was fordern wir von unseren Zöglingen für die Reife zur Konfirmation ? Pfarrer Geiger-Mosbach. Weitere Anmädungen werden von dem Vorsitzenden der IX. Konferenz, Herrn Erziehungsinspektor Piper-Dalldorf, entgegengenommen.

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Briefkasten.

Dir. F. i. B., Dr. E. H. i. B., A. M. H. i. B., P. i. L. Erhalten und gutgeschriebeu. K. 2.1. 3. Besten Dank! L. @. I. St. Ganze Jabrgänge und auch einzelne Nrn. werden, soweit solche noch vorrätig sind, zu dem ursprünglichen Preise abgegeben. Bis 1895 erschien unsere Zeitschrift in jährlich 6 Nrn. und kostete 3 Mark, 1896 erhöhte sich der Preis bei 8 Nrn. auf 4 Mark, und seit 1899 kostet das Blatt bei jährlich 12 Nrn. 6 Mark. E. M. i. R. Sie haben recht, kurze Berichte aus den Anstalten und Hilfsschalen und sonstige in das Gebiet der Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer fallende Mitteilungen sind uns nicht nur willkommen, sondern werden auch entsprechend honoriert.

Inhalt: Die Bedeutung des bürgerlichen Gesetzbuches für Schwachsinnige und Epi- leptische. (Dr. W. Weygandt.) Ein Pionier auf dem Gebiete der Fürsorge für Schwach- sinnige: J. Landenberger. (K. Kölle.) Die „Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer.“ Mitteilungen: Dresden, Freiberg, Schwelm, Stolp i. Pom. Litteratur:

Rechtschreiblesefibel. Die X. Konferenz etc. Briefkasten.

Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. Druck von Johannes Pässler in Dresden.

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Zeitsehrift

für die

Behandlung Sehwachsinniger und Epleptischer

Organ der Konferenz für das das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

. ae . 3 Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Spezialarzt Dresden - Strehlen, für Nervenkrankheiten Residenzatrasse 27. In Stattgart. Erscheint Jährlic ch in 12 Nummern von Zu beziehen durch alle Buchhandlungen mindestens einem Bogen. Anzeigen für e und Postämter, wie auch direkt von der die gespaltene Petitzeile 25 Pfg. Litte- Juni 1901. Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, rarische Beilagen 6 Mark. einzelne Nummer 50 Pfg.

Die Original- Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

Bericht über den HI. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands zu Augsburg am 10., 11. und 12. April 1901. Erstattet von M. Weniger, Leiter der städtischen Hilfsschule zu Schwelm i. Westfalen. Reihenfolge aller Veranstaltungen. A. Mittwoch, den 10. April. I. Nachmittags 4 Uhr gemeinsame Sitzung des Verbandsvorstandes und des Ortsausschusses im Reservesitzungssaal des Rathauses. II. Abends 71/, Uhr im Hotel „Bamberger Hof“ Vorversammlung: a) Das Hilfsschullesebuch. Referent: Lehrer Ehrig- Leipzig. b) Die Hilfsschulfibel. Referent: Hauptlehrer Kielhorn-Braunschweig. c) Der Handfertigkeitsunterricht für Knaben in der Hilfsschule. Referent: Lebrer Basedow - Hannover. d) Bericht über die neue Hilfsschulstatistik. Referent: Hilfsschullehrer Wintermann-Bremen. e) Rechnungsablage. f) Statutenänderung. g) Vorstandswahl. B. Donnerstag, den 11. April. L Vormittags 9 Uhr im Börsensaal Hauptversammlung. 1. Genehmigung der Beschlüsse der Vorversammlung.

2. Begrüssungen.

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3. Vorträge: a) Bedeutung der Hilfsschulen in pädagogischer und volkswirt- schaftlicher Hinsicht. Referent: Hilfsschullehrer Hanke-Görlitz. b) Über den Schwachsinn. Referent: Dr. med. Fr. Wilh. Müller-Augsburg. c) Beratung über die dem II. Verbandstage vom Hauptlehrer Kielhorn- Braunschweig vorgelegten Leitsätze A bis E über die Organisation der Hilfsschule. II. 2 Uhr gemeinsames Mittagsmahl im Hotel „Drei Mohren“. IIl. Nachmittags 5 Uhr Besuch der Schwäbisch-permanenten Schulausstellung und der damit verbundenen Lehr- und Lernmittelsammlung für Hilfsschulen. IV. Abends 8 Uhr Festabend im Saalbau „Schiessgraben“, gegeben zu Ehren der Gäste von der Augsburger Liedertafel, gegründet 1847, ausgezeichnet bei dem Sängerwettstreit zu Karlsruhe 1892 mit dem Kaiserpreis.

C. Freitag, den 12. April.

I. Tour nach Ursberg. Eine halbe Stunde von der Bahnstation Thann- hausen, dem langjährigen Wirkungsorte des Jugendschriftstellers Christ. v. Schmidt, entfernt, liegt im lieblichen Mindelthale das ehemalige Kloster Ursberg. Dasselbe wurde im Jahre 1884 von dem Beneficiaten Dominikus Ringeisen angekauft und zu einer Heil- und Pflegestätte für Schwachsinnige, Kretinen, Epileptische, Taubstumme und Blinde eingerichtet. 1884 zählte die Anstalt 34 Zöglinge. Heute beherbergt sie 752 Schwachsinnige und Kretinen, 111 Blinde, 81 Taub- stumme und 145 Epileptische. Das Lehr- und Pflegepersonal allein umfasst 453 Personen. Das ehemalige Klostergebäude wurde bedeutend erweitert und für die Zwecke der Anstalt 21 andere Gebäulichkeiten teils neu aufgeführt, teils angekauft.

Mit der Anstalt steht in Verbindung eine Ökonomie (3000 Tagwerk um- fassend), eine Mühle, eine Sägemühle mit Stampfmühle, eine Bäckerei, Metzgerei und Brauerei, eine Schreinerei, eine Korbflechterei, eine Buchbinderei, eine Weberei, eine Strohflechterei u. s. w.

Die Pfleglinge werden unterrichtet: 1. in der Kleinkinderschule St. Anna (60 gebrechliche schwachsinnige Kinder); 2. in der Sprechschule; 3. in einer Vorbereitungsklasse und drei Klassen für Schwachsinnige, je 2 bis 3 Abteilungen ; 4. in zwei Fortbildungsschulen; 5. in zwei Blindenschulen; 6. in einer Schule für Schwerhörige mit 5 Abteilungen; 7. in zwei Schulen für gebrechliche oder schwachsinnige Taubstumme mit je 4 Abteilungen. Ein 5 kursiges Lehrerinnen- Seminar versorgt die Anstalt mit Hilfskräften; dasselbe zählt gegenwärtig 64 Lehrkandidatinnen.

Damit auch nach dem Hinscheiden des derzeitigen Besitzers und Direktors dieses grossartige Humanitätswerk fortgeführt wird, wurde im Jahre 1897 die St. Josephs-Kongregation ins Leben gerufen, der Herr Dominikus Ringeisen als Superior vorsteht und deren Mitglieder dauernd dem Werke der Charitas sich widmen.

Ursberg hat 6 Filialen, welche ihre Entstehung ebenfalls dem edlen Priester-

ln

Samariter verdanken: 1. Bad Krumbach bei Krumbach; 2. Pfaffenhausen in Schwaben (Blindenheim); 3. Percha (4 Villen am Starnbergersee für Rekonvales- centen); 4. Fendsbach in Oberbayern; 5. Bildhausen in Unterfranken (Ökonomiegut mit 1100 bayer. Tagwerken zu einer neuen grossen Anstalt bestimmt).

IL. Für Gäste, welche an der Tour nach Ursberg nicht teilnehmen, wird folgendes Tages-Programm aufgestellt:

a) Vormittags unter Führung Besichtigung der Sehenswürdig- keiten der Stadt Augsburg.

b) Nachmittags Ausflug nach Göggingen und Besuch der ortho- pädischen Kuranstalt von Hessing-

Vorversammlung im Hotel „Bamberger Hof“ am 10. April 1901, abends 71/,—12 Uhr.

1. Vorsitzender, Stadtschulrat Dr. Wehrhahn-Hannover:

Hochgeehrte Damen und Herren! Indem ich die Vorversammlung des II. Ver- bandstages der deutschen Hilfsschulen eröffne, begrüsse ich Sie im Namen des Vorstands und bringe meine grosse Freude darüber zum Ausdruck, dass er eine über alles Erwarten rege Beteiligung gefunden hat. Mindestens 300 Teilnehmer, von denen ausserordentlich viele von auswärts kamen, sind erschienen. Mit wenig Aus- nahmen sind alle grösseren Städte Deutschlands vertreten; von Königsberg bis Lindau und ausserhalb von Wien bis London und Stockholm sind Vertreter hier er- schienen. Als wir auf dem Il. Verbandstage zu Kassel von Herrn Schulrat Bauer- Augsburg, der leider durch schwere Krankheit verhindert ist in unserer Mitte zu weilen, die herzliche Einladung nach hier erhalten hatten, hatten wir doch einige Bedenken. Augsburg liegt zu sehr an der Grenze, dass wir uns sagten, wir werden wenig Besuch erhalten. Aber zu unserer grössten Freude sind wir gründlich getäuscht worden, dank den ausserordentlich rührigen Arbeiten des Ortsausschusses und der Liebenswürdigkeit der städtischen Kollegien, welche der Sache nähergetreten sind. Dafür allerseits besten Dank. Die Arbeit des Vorstands seit dem II. Verbandstage ist eine sehr reichhaltige gewesen. Obgleich viel geschehen ist, bis jetzt haben einige 90 Städte Hilfsschulen, so ist doch zu erwägen, dass noch 300 Städte mit über 15000 Einwohnern keine Hilfsschulen haben. Die zweite Arbeit des Verbandes beruht auf dem inneren Ausbau der Hilfsschulpädagogik. Ich eröffne den III. Verbandstag mit dem Wunsche, dass auf den Verhandlungen Gottes reichster Segen ruhe.

Nachdem der Vorsitzende des Örtsausschusses, Oberlehrer und Landtags- abgeordneter Schubert, einige geschäftliche Mitteilungen bekannt gab, wurde in die Tagesordnung eingetreten. Es erhielt das Wort:

Lehrer Ehrig-Leipzig zu seinem Referat über das Hilfsschullesebuch.

Unter den Lehrmitteln, die der Schule zur Verfügung stehen, ist unstreitig das Lesebuch eines der wichtigsten, sei es zur Erlangung einer guten Lesefertig- keit, sei es zur Unterstützung des Unterrichtes und seiner Wirkung auf Geist und Gemüt der Kinder, sei es zur Einführung in unser deutsches Schrifttum

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'Soll es aber seinen Zweck erfüllen, so muss es in möglichstem Einklange mit den Verhältnissen der Schule, ihrem Lehrplane und Lehrgange stehen. Wenn das im allgemeinen für jede Schule gilt, so insbesondere auch für die Hilfsschule für Schwachbefähigte. Allein diese war bisher in der üblen Lage, in ihren Klassen Lesebücher gebrauchen zu müssen, die nach Auswahl und Anordnung des Stoffes für 6—8klassige Schulen normal beanlagter Kinder berechnet und den Lehrgängen der einzelnen Klassen gemäss zusammengestellt waren. Für schwachsinnige Kinder bieten sie teils zu viel, teils zu wenig. Zu viel, weil die Lesestücke, sowohl nach ihrer Zahl, als nach ihrem Inhalte, vielfach den engen Anschauungs- und Erfahrungskreis solcher Kinder überschreiten und ein weit umfangreicheres und tieferes Vorstellungsleben voraussetzen, als es diese besitzen; zu wenig, weil in den unteren Teilen dieser Lesebücher, die doch in der Hilfsschule nur benutzt werden können, so manches nicht zu finden ist, was teils der mechanischen Lesefertigkeit dient, teils Lehrstoffe der oberen Klassen der Volksschule betrifft, die auch schwachsinnigen Kindern, freilich in einfacherer Form, geboten werden können, um sie einigermassen in Welt und Leben ein- zuführen. Ein zweiter Missstand betrifft die sprachliche Seite vieler Lesestücke, die in Ausdrucksweise, Redewendungen und Satzbau dem geistigen Standpunkte und der Sprachkenntnis schwachsinniger Kinder zu hoch liegen und ihrem Verständ- nisse nur schwer und mit viel Zeitverlust nahe gebracht werden können. Nach dem allen vermochten die bisher in Hilfsschulen gebrauchten Lesebücher, nach Inhalt wie nach Form, keineswegs den Unterricht schwachsinniger Kinder in wirksamster Weise zu unterstützen.

Dass dies allseitig als ein schwerwiegender Mangel empfunden wurde, zeigte sich 1895 in der Konferenz für Idiotenwesen zu Heidelberg, wo in einer zablreich besuchten Nebenversammlung der Vertreter von Hilfsschulen nach einem Vor- trage des Schulvorstehers Kruse in Altona das Bedürfnis eines eigenen Lese- buches für Hilfsschulen einhellig anerkannt und die Herausgabe eines solchen angeregt wurde.

Das gleiche Bedürfnis hatte sich dem Lehrerkollegium der Leipziger Hilfs- schule schon vorher, namentlich seit Anfang der neunziger Jahre aufgedrängt, als die Schule infolge der Einverleibung der Vororte in ungeahnter Weise jedes Jahr an Umfang und Klassenzahl wuchs und 1893 eine Gliederung in vier Stufen nebst einer Vorstufe eingetreten war. So reifte denn der Entschluss, die Bearbeitung eines eigenen Lesebuchs gemeinsam zu unternehmen. Im Herbste des Jahres 1895 ist damit begonnen und das Ganze nach zahlreichen Kom- missions- und Gesamtberatungen vorigen Herbst fertiggestellt worden. Dank des uns jederzeit bewiesenen Wohlwollens unserer städtischen Bebörden, die die Drucklegung sicherten, liegt es nunmehr als „Lesebuch für Hilfsschulen* in zwei Teilen vor, von denen der erste für die vierte und dritte Stufe, der zweite für die beiden oberen Stufen unserer Schule berechnet ist; die Vorstufe, welche die schwächsten Kinder umfasst, die erst an der Hand der Fibel nach der Schreiblesemethode lesen lernen müssen, war selbstverständlich auszuschliessen. Dass wir uns. nicht zur Abfassung eines einbändigen Lesebuchs entschliessen

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konnten, hatte einen äusseren und einen inneren Grund. Zunächst einen äusseren. Ein einbändiges Lesebuch würde sich in den Händen unserer Kinder etwa vier bis sechs Jahre befinden. Ganz abgesehen von der Unhandlichkeit eines solchen, namentlich für die unbeholfenen Kinder der unteren Stufen, würde dasselbe schon in den unteren Stufen so abgenutzt werden, dass es kaum bis in die oberen Stufen sein Dasein fristen und den Eltern vermehrte Kosten wiederholter Neuanschaffungen auferlegen würde. Der innere Grund für die Zweiteilung unseres Lesebuches lag in unserem Lehrplane. Während für die unteren Stufen der Anschauungsunterricht den Mittel- und Anknüpfungspunkt für alle übrigen Unterrichtsgegenstände, seien sie nun religiöser und sittlicher oder realistischer Art, bildet, treten dieselben auf den oberen Stufen mehr selbständig neben einander und bedingen dadurch auch eine andere Gruppierung der Lesestücke, die zu ihnen in Beziehung stehen. Bei einem einbändigen Lesebuche würde das die übersichtliche Anordnung der stofflich wie sprachlich so verschiedenen Lese- stücke erheblich erschweren oder geradezu zu einer Scheidung derselben in zwei Abteilungen nötigen, die einer vorteilhafteren zweiteiligen Herausgabe des Lesebuchs gleichkäme. Da wir der Ansicht sind, dass ein Lesebuch für die Hilfsschule in erster Linie und namentlich für die schwächeren Kinder die Förderung der mechanischen Lesefertigkeit ins Auge zu fassen, im übrigen durch Anschluss an den Lehrplan aber den Unterricht wirksam zu unterstützen habe, so war uns damit der Massstab für die Auswahl der Lesestücke vor- gezeichnet. Die Stoffgebiete, über die sich die Auswahl zu erstrecken hatte, waren in der Hauptsache das sittlich-religiöse und das realistische. Bei der bedauerlichen Schwäche an sittlicher Einsicht und religiösem Empfinden, die schwachsinnigen Kindern meist eigen ist, erschien es notwendig, eine genügende Zahl von Lesestücken aufzunehmen, die ihnen gute Sitte und löbliches Ver- halten gegen jedermann, Sinn für Recht und Wahrheit, Teilnahme am Wobl und Wehe der Mitmenschen und allen lebenden Wesen, eine gesunde christliche Moral und eine reine, würdige Gottesverehrung vor Augen stellen und dadurch einen fördernden Einfluss auf ihr Denken und Urteilen, ihre Gesinnungs- und Handlungsweise auszuüben versprechen. Die geeigneten Stoffe suchten wir in dem reichen Schatze der Erzählungen, in Fabeln, in Gedichten und nicht weniger in gebräuchlichen Sprichwörtern. Bei den realistischen Stoffen handelt es sich um Lesestücke, die sich in den unteren Stufen an den Anschauungsunterricht, die Heimat- und Naturkunde, in den oberen Stufen an Geographie und Geschichte noch anschliessen. Freilich waren die sich uns darbietenden Stoffe nicht immer so zu benutzen, wie sie unmittelbar vorlagen, da sie teils in sprachlicher, teils in sachlicher Hinsicht den Standpunkt unserer Kinder überstiegen. Es galt aber, verschiedene derselben erst für unsere Zwecke zurecht zu machen. Die An- ordnung der Lesestücke geschah im allgemeinen nach der Verwandtschaft ihres Inhaltes, so dass also prosaische und poetische Stücke nicht gesondert, sondern in abwechselnder Reihenfolge auftreten, je nachdem die Gleichheit des be- handelten Stoffes es bedingte, ebenso wurden die Sprichwörter und Denksprüche denjenigen Stücken angeschlossen, aus denen sie sich herleiten lassen. Was

3 +

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nun die gesamte Ordnung der Lesestücke betrifft, so schliesst sie sich im ersten, für die beiden unteren Stufen bestimmten Teile ganz unserem Lehrplane an, nach welchem der Anschauungsunterricht im Mittelpunkte des Sachunterrichts steht; und da dieser dem Jahreslaufe nachgeht, so reihen sich die verschiedenen Lesestücke einschliesslich der von sittlich-religiöser Art seinem Gange an und es entstanden die Abschnitte: I. im Frühlinge, II. im Sommer, IIL im Herbste, IV. im Winter. Da der erste Teil des Lesebuchs vor allem der Übung im Lesen mit dienen soll, so wurde ihm zur Einübung der lateinischen Schrift noch ein Abschnitt vorangestellt, der in methodischer Reihenfolge Wörter, Sätze und Lesestücke enthält, die der Lehrer je nach Bedarf benutzen kann.

In den beiden oberen Stufen gehen die einzelnen Lehrfächer mehr selb- ständig nebeneinander her, und wie hier der Mensch in seinen Beziehungen zu anderen und zu Gott, zu Natur, Heimat und Vaterland mehr in den Mittel- punkt des Unterrichts tritt, so sind auch in dem für jene Stufen bestimmten zweiten Teile des Lesebuches die ausgewählten Stücke in vier Gruppen ge- gliedert worden: I. Erzählungen aus dem Leben der Menschen; II. Bilder aus der Natur; III. Bilder aus dem Vaterlande und IV. Erzählungen aus der vater- ländischen Geschichte. Die erste Gruppe fand ihre Ordnung nach den ver- schiedenen Beziehungen des Menschen, die zweite nach den Jahreszeiten, die dritte nach dem Fortschritte vom Nahen zum Fernen und die letzte nach der Zeitfolge, wobei die Erzählungen aus der sächsischen Geschichte denen der deutschen eingereiht wurden. Was endlich die äussere Ausstattung der Bücher betrifft, so ist im ersten Teile meist verhältnismässig grosser, im übrigen aber deutlicher Druck gewählt worden, um die Augen der Kinder so viel als möglich zu schonen, während im zweiten Teile auch mitunter kleinerer Satz und in einzelnen Fällen von der gewöhnlichen Schrift abweichende Typen zur Verwendung gekommen sind, damit die Kinder auch solche zu lesen ge- wöhnt werden. Da von verschiedenen Seiten Wünsche betreffs der heimatlichen und vaterländischen Stoffe im II. Teile des Lesebuchs laut geworden sind, so ist die Verlagsbuchhandlung (Dürr, Leipzig) gern erbötig, zu diesem Teile einen Anhang von 8 Druckseiten Umfang für die Hälfte der Herstellungskosten zu liefern. Nur müssten sich die Herren Direktoren und Lehrer eines Landes oder einer Provinz über die Lesestücke einigen, welche sie für ihren Bezirk wünschen, sie druckfertig abfassen und an die Dürrsche Buchhandlung in Leipzig ein- senden.

Lehrer Wintermann-Bremen erstattete das Korreferat:

Nach einem Beschlusse des Verbandsvorstandes war schon vor zwei Jahren eine Behandlung des Themas in Aussicht genommen. Inzwischen ist das Leipziger Hilfsschullesebuch erschienen und durch ganz Deutschland verschickt worden. Danach erachtet es der Vorstand für überflüssig mit der Herausgabe eines Lese- buches gewissermassen in eine Konkurrenzleistung zu treten. Keinem Autor wird es gelingen, die Zufriedenheit aller Abnehmer zu gewinnen. Aber auf der ge- schaffenen Grundlage kann weiter gearbeitet werden. Wenn die Verfasser aber auf Absatz reflektieren, so müssen sie sich zu wesentlichen Änderungen ent-

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schliessen. Im ersten Teile erscheint die Einführung der lateinischen Schrift nicht zweckmässig. Im zinzelnen darauf einzugehen ist nicht möglich, ich möchte empfehlen, den Grundsatz zu befolgen: Langsam und lückenlos fort- schreiten. Lesestück Nr. 16 Seite 8 zählt Gerätschaften auf, die unseren Kindern meist gänzlich unbekannt sind (z. B. Spindeln, Weifen, Spinnerädchen für die lieben muntern Mädchen). Die Lesestücke 30 und 74 sind etwas albern und naiv gehalten. Ebenso erscheint mir Nr. 48 „Die Spinne an dem Feigenbaume“ nicht günstig gewählt. Über die Kartoffel sind vier Abhandlungen aufgenommen, im 1. Teil Nr. 141 und 142, im 2. Teil Nr. 108 und 111. Der 2. Teil zählt 184 Nummern, von diesen 20 sehr lange Stücke, die vorwiegend das Königreich Sachsen betreffen, während das grosse Ganze, unser einiges Deutsches Vaterland, in den Hintergrund gedrückt ist. Der Verleger erklärt sich zwar bereit, die Wünsche der einzelnen Provinzen und Landesteile zu berücksichtigen und für die Oberstufe um billigen Preis einen Anhang zu liefern.

In dem dritten Abschnitt hätte das Lesestück Nr. 56 fehlen können. Nr. 75, 77 und 78 geben zu lange Abhandlungen, wenig wertvoll ist Nr. 96. Dagegen vermisse ich Mitteilungen über ausländische Tiere und Kulturpflanzen, wir finden nichts über Kaffee, Thee, den Löwen, Tiger, Elefant u. s. w. und doch bekommen unsere Kinder diese Tiere in zoologischen Gärten und Menagerieen zu sehen. Auch vermisse ich kleine Skizzen und Abbildungen, die das Interesse der Kinder an den Lesestücken steigern. Mein Endurteil geht dahin: Der erste Teil ist auch für aussersächsische Schulen gut verwendbar, er ist besser als irgend ein anderes Lesebuch, doch muss dieser Teil bei einer neuen Bearbeitung einer gründlichen Revision unterzogen werden. Der zweite Teil entspricht den Anforderungen für reifere Schüler nicht, er bietet zu wenig Stoff, die vaterländisch deutsche Geschichte ist mehr zu berücksichtigen und weiter ist in eingehende Erwägung zu ziehen, ob Illustrationen aufgenommen werden können.

Schulrat Mahraun-Hamburg konstatiert, dass die Lehrer an den 26 Hilfsklassen Hamburgs ein Bedürfnis für ein Lesebuch nicht haben. Es wäre für die Entwicklung der Hilfsschule und namentlich in Rücksicht darauf, dass doch immerhin ein kleiner Prozentsatz wieder in die Volksschule zurückkommt, von grosser Wichtigkeit, die Lese- bücher der Volksschule auch bei uns zu verwenden.

Schuldirektor Dr. Bartels-Gera. Es ist wohl zu bedenken, dass wir, wenn wir ein besonderes Lesebuch einführen, das Band zwischen Volks- und Hilfsschule voll- ständig zerschneiden. Wir sind nicht in der Lage heute schon ein endgiltiges Urteil abzugeben. Unsere Hilfsschulen sind noch im Entstehen begriffen und erst eine lang- jährige Erfahrung wird zeigen, ob wir ein besonderes Lesebuch nötig haben. Gegen die Wintermann’schen Ausführungen, mehr Abhandlungen über fremdländische Tiere und Pflanzen aufzunehmen, muss ich protestieren. Unsere Kinder kennen oft nicht einmal Hund und Katze.

Hilfsschulleiter Hanke-Görlitz. Wir können die prinzipielle Seite besprechen. Ich habe die Empfindung gehabt, aus dem Kontraste zwischen Referat und Korreferat, dass die Verhältnisse in den verschiedenen Hilfsschulen sehr verschieden sind. Ich teile die Anschauungen, welche von Hamburg aus zum Ausdruck gebracht worden sind.

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So herrlich schön das Lesebuch ist, so haben wir uns doch gesagt, kommen wir doch aus mit dem, was die Volksschule hat. Es ist nicht zu läugnen, dass man trotz alle- dem ein Bedürfnis hat nach etwas anderem. Schöne Lesestücke aus anderen Lese- büchern wollen wir unseren Kindern nicht hintenanhalten.

Lehrer Mäurer-Kaiserslautern. Wir sind an die Vorschriften der königlichen Regierung gebunden.

Schulrat Bornemann -Cassel. Wir haben schon oft empfunden, dass es recht schwierig ist, die Hilfsschule mit ihren Unterrichtsmitteln an eine Volksschule anzu- gliedern. Es geht ja schon aus dem Umstande hervor, dass wir andere Stufen schaffen müssen als für die Volksschule Und deshalb glaube ich, dass es nicht richtig ist, bei der Auswahl der Lehrmittel für die Hilfsschule darauf Rücksicht zu nehmen, dass eventuell auch einmal ein Kind wieder zurück kommen könnte. Diejenigen Kinder, die richtig ausgewählt sind für die Hilfsschule, kommen nimmermehr wieder zurück und diejenigen, die zurückkommen, sind nicht richtig ausgewählt, das sind zurück- gebliebene, aber keine schwachsinnigen Kinder. Ich kann aussagen, die Grundsätze des Referenten sind durch und durch zu billigen. Ich könnte mich dafür interessieren, dass wir ein Lesebuch für Hilfsschulen bekommen, das den Anforderungen und dem Auffassungsvermögen unserer Kinder entspricht.

Schulrat Mahraun-Hamburg. Ich bin ein grosser Förderer der Hilfeschule, aber ich muss ganz entschieden Protest einlegen, dass mein Vorredner sagt, diejenigen Kinder, die zurückkommen, sind falsch ausgewählt. Unsere Hilfsschule hat die grosse Aufgabe zu individualisieren. Das ist ja ein grosser Vorzug, dass die Kinder in kleiner Zahl da sind. Es giebt soviel Kinder, bei denen eine augenblickliche Störung des Gehirns stattfindet, die sich aber wieder legt, wenn wir Hand in Hand mit dem Arzte arbeiten. Wenn solche Kinder in der Normalschule geblieben wären, dann wären sie wahrscheinlich nicht so aufgeweckt geworden. Um auf das Lesebuch zu sprechen zu kommen, meine ich, dass es ungeheuer schwierig ist, ein Lesebuch für ganz Deutschland zu schaffen. Das hat sich heut schon gezeigt. Wir haben auch kein Lesebuch für Normalkinder für ganz Deutschland. Die Verhältnisse sind einmal ganz verschieden. Die hanseatische Geschichte ist eine so eigentümliche, dass sie besonders behandelt werden muss. Ein Kind in Hamburg, Bremen hört mehr von Amerika als eines im Binnenlande. Gerade von dem Grundsatze aus, dass wir individualisieren müssen, ist es ein vergebliches Beginnen, ein gemeinsames Lesebuch zu schaffen.

Referent Ehrig-Leipzig. Wir haben 54000 Schulkinder in Leipzig. Bei uns ist ausser der Fibel ein vierfach gegliedertes Lesebuch eingeführt. Unsere Kinder könnten nur die Unterstufo benutzen, schon das zweite Heft wäre für sie viel zu hoch, darum ist das Lesebuch für unsere Schule ein Bedürfnis geworden.

Hoffmann-Frankfurt a. M. bemängelt noch, dass, da wir Simultanschulen haben, das Lebensbild Luther’s nicht mit in das Lesebuch gehöre.

1. Vorsitzender Dr. Wehrbabn:

Anträge sind nicht gestellt, ich kann daher über nichts abstimmen lassen. Jeder, der sich für das Leipziger Hilfsschullesebuch interessiert, wird sich damit befassen. Einen endgiltigen Beschluss können wir heute nicht herbeiführen.

Der nächste Punkt der Tagesordnung, ein Referat des Hauptlehrers

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Kielhorn-Braunschweig über die Hilfsschulfibel wurde einmal wegen der vorgerückten Stunde, zum andern, weil der Referent selbst wegen Krankheit am Erscheinen verhindert war, abgesetzt. Eine Vertreterin aus Königsberg weist darauf hin, dass sie namentlich wegen dieses Gegenstandes von ihrer Stadt zum Verbandstage delegiert worden sei.

Das Wort erhielt sodann Lehrer Basedow-Hannover zur Behandlung des Themas: Der Handfertigkeitsunterricht für Knaben in der Hilfs- schule. Der sehr gehaltvolle Vortrag wurde vom Referenten leider sehr schnell verlesen, so dass die Aufmerksamkeit der Versammlung mehr und mehr abnahm und der Vortrag unter grosser Unruhe zu Ende geführt wurde. In der Debatte betont

Hauptlehrer Lessenich-Bonn:

Der Handfertigkeitsunterricht gehört in die Hilfsschule, aber nur dann, wenn er das Zeichnen, die Formen- und Raumlehre unterstützt.

Dr. Bartels-Gera. Wir kommen vor lauter Theorie gar nicht zur Praxis. Wir müssen unsere Jungen und Mädchen so bilden, dass sie später einmal ihr Brot ver- dienen können. Der Handfertigkeits-Unterricht hat die Aufgabe, die Hand des schwach- befähigten Kindes so geschickt zu machen, dass der Knabe einmal im stande ist, erwerbs- fähig zu werden. Gerade unsere seit kurzer Zeit eingeführte Gartenarbeit macht viele unserer Schüler erwerbsfähig. Die Stadt Gera hat der Hilfsschule einen Garten zur Verfügung gestellt; die Kinder arbeiten mit Lust, sie frenen sich, wenn alles gedeiht.

Schulrat Dr. Boodstein-Elberfeld. Ich halte die Aufgabe der Bildung vun Auge und Hand für ausserordentlich wichtig. Aber als obligatorisches Fach?! die Botschaft hör’ ich wohl, allein mir fehlt der Glaube. Wir wissen thatsächlich, dass unter Umständen schon die Fröbel'schen Arbeiten selbst für Kinder der Oberstufe gewisse Schwierigkeiten bereiten.

Lehrer Schulze-Halle a. S. Die Hauptfrage, welche uns heute beschäftigen muss, ist die Methode. Wir arbeiten nach Pestalozzi’s oberstem Grundsatz: die Anschauung ist das Fundament aller Erkenntnis. Wir müssen diesen Satz erweitern und sagen: die handelnde Anschauung ist das Prinzip aller Erkenntnis.

Hauptlehrer Grote-Hannover. Wo drei Faktoren zusammenwirken: 1. eine geräumige Werkstatt, 2. gute Werkzeuge und 3. tüchtige, ausgebildete Lehrkräfte, da kann etwas Gutes geleistet werden.

Hoffmann-Frankfurt a. M. hebt hervor, dass die Schulbehörden streng darauf sehen, dass die Schulstube von Staub befreit ist, die Schreinerei aber viel Staub er- zeugt und diese auch sehr schwierig sei, er könne ihr nicht das Wort reden.

Hauptlehrer Grote-Hannover erwidert, dass die Kinder viel mehr Lust und Liebe zar Schreinerei haben und diese nicht so schwierig sei, wie die Papparbeit.

Es wird zur Abstimmung über die Thesen des Vortrags geschritten.

I. Gegenüber der Fassung des Referenten: „Der Handfertigkeitsunterricht für Knaben ist aus pädagogischen Gründen auf allen Stufen der Hilfsschule als obligatorisches Fach aufzunehmen“ wird auf Antrag des Schulrats Mahraun- Hamburg die These I wie folgt angenommen:

Es erscheint aus pädagogischen Gründen sehr wünschenswert, auf allen

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Stufen der Hilfsschule den u u Z einzuführen. Kann dies geschehen, so ist: 1. der Handfertigkeitsunterricht naclı methodischen Grundsätzen und zwar von einem Lehrer zu erteilen,

2. im Handfertigkeitsunterricht ist von der Erzielung materiellen Gewinns, sowie von der Vorbereitung auf einen speziellen Beruf abzusehen.

II. Der Stoff des Handfertigkeitsunterrichts ist so zu verteilen, dass für die Unterstufe Fröbelarbeiten, für die Mittelstufe die Arbeiten der Vorstufe (besonders Naturholzarbeit) und Papparbeit, für die Oberstufe vorwiegend Holzarbeiten zur Verwendung kommen.

Ilf. Wo die Verhältnisse es irgend gestatten, ist auch die Gartenarbeit in den Lehrplan der Hilfsschule aufzunehmen.

Wegen der vorgerückten Stunde wird der Punkt d) Bericht über die neue Hilfsschulstatistik, Referent Hilfsschulleiter Wintermann-Bremen von der Tagesordnung abgesetzt. Der Bericht liegt gedruckt vor und wurde am andern Tage jedem Teilnehmer ausgehändigt. Wir entnehmen demselben Folgendes: Hilfsschulen sind eingerichtet in den Städten: Aachen, Altona, Apolda, Barmen, Bernburg, Bonn, Breslau (7), Bremen, Bremerhaven, Brandenburg a. H., Braun- schweig, Bromberg, Cassel, Charlottenburg (2), Chemnitz, Cottbus, Darmstadt, Dessau, Dortmund, Dresden, Dresden - Löbtau, Düsseldorf, Eisenach, Elberfeld, Erfurt, Essen a. d. Ruhr (2), Freiberg ìi. S., Frankfurt a. M., Fürth, Gera (Reuss), Giessen, Glauchau, Görlitz, Gotha, Göttingen, Grimma i. S., Hagen i. W., Hamburg (6), Hanau, Halle a. S., Halberstadt, Hannover (2), Kaiserslautern, Kamenz, Karlsruhe, Königsberg i. Pr. (2), Königshütte O.-S., Köln, Krefeld, Leipzig, Leipzig-Plagwitz, Leipzig-Gohlis, Lüneburg, Linden b. Hannover, Lübeck, Ludwigsbafen a. Rh., Magdeburg, Mainz, Meiningen, Mühlhausen i. E., Mühl- hausen i. Thür., Netzschkau i. V., Nordhausen, Nürnberg, Ölsnitz i. V., Osnabrück, Oschatz, Pforzheim, Pirmasens, Plauen i. V., Posen, Reichenbach i. V., Schwelm, Strassburg i. E., Stettin, Stolp i. Pom., Steglitz b. Berlin, Stuttgart, Weimar Witten, Wilmersdorf b. Berlin, Worms, Zittau, Zwickau i. S.

In 98 Schulen mit 326 Klassen werden unterricht 3940 Knaben

3073 Mädchen 7013 Schüler. 1898 wurden antericiiiet in 56 Schulen mit 202 Klassen 2400 Knaben 1881 Mädchen 4281 Kinder.

Aus der unter allgemeiner grosser Unruhe vorgetragenen Rechnungs- ablage durch den Verbandskassierer Bock- Braunschweig heben wir hervor, dass sich die Mitgliederzahl von 100 im ersten Verbandsjahr auf 123 im zweiten und auf 147 im dritten erhöht hat.

Die Vereinsbeiträge erbrachten eine Einnahme von 337 Mark. Die Gesamt- einnahmen betragen 913,13 Mark, die Ausgaben 536,72 Mark, so dass sich also ein. Kassenbestand von 376 Mark ergiebt. Den Magistraten, welche Zuschüsse

von zusammen 395 Mark leisteten, wird der berzlichste Dank gesagt und um weitere Unterstützung gebeten. Dem Kassierer wird einstimmig Decharge erteilt.

Der 1. Vorsitzende Dr. Wehrhahn bittet die Vertreter, auf ihre Magistrate dahin einzuwirken, dass sie als Mitglieder dem Verbande beitreten möchten.

Nachdem einige unwesentliche Statutenänderungen einstimmig gut geheissen wurden, schritt man zur Vorstandswabl. Es scheiden aus die Herren: 1. Vor- sitzender Dr. Wehrhahn, 2. Schriftführer Henze, 1. Kassierer Bock. Schul- rat Kuhlgatz-Kiel macht den Vorschlag, den alten Vorstand durch Zuruf wieder zu wählen und den Herren für ihre treue Fürsorge und rührige Thätig- keit den Dank des Vereins abzustatten. Da kein Widerspruch erfolgt, geschieht die Wiederwahl der 3 ausscheidenden Vorstandsmitglieder durch Acclamation und nehmen die Gewählten mit Dank an.

Hauptversammlung im Börsensaal am 11. April.

Auf dem Rednerpodium war im Hintergrunde ein hübsches Pflanzenarrangement angebracht, aus dem sich die Büsten Sr. Kgl. Hoheit des Prinz - Regenten und Sr. Majestät des deutschen Kaisers erhoben.

Kurz nach 9 Uhr wurde die Hauptversammlung eröffnet durch den 1. Ver- bandsvorsitzenden Dr. Wehrhahn-Hannover:

Hochgeehrte Damen und Herren! Im Namen des Vorstandes des Verbandes der Hilfsschulen Deutschlands eröffne ich den III. Verbandstag und heisse Sie herzlich willkommen. Der Verband hat einen doppelten Zweck; er will die Organisation und den inneren Ausbau der Hilfsschule und zweitens eine Aus- breitung der Hilfsschule über ganz Deutschland verwirklichen. Dass die Zukunft uns noch weitere Aufgaben stellen wird, ist zweifellos; jetzt schon ist das Be- dürfnis da, darüber zu sprechen, wie die in der Hilfsschule gewesenen Kinder weiter zu behandeln sind in Bezug auf Rechtspflege, Militärwesen usw. Als wir in Cassel vor zwei Jahren die ausserordentlich freundliche Einladung nach hier erbielten, der später noch die schriftliche Einladung des Magistrates erfolgte, da waren wir etwas bedenklich, ob es richtig sei, an die äusserste Grenze Deutschlands zu ziehen, weil wir fürchten mussten, dass der Besuch beeinträchtigt werden würde, wir haben es aber dennoch gethan, um grade den ersten Zweck unseres Verbandes zu erreichen, da hier in Süddeutschland die Zahl der Hilfs- schulen eine geringe ist. Wenn ich wenige Worte sagen darf über das, was erreicht ist, so will ich nur erwähnen, dass in den letzten drei Jahren die Zahl der Hilfsschulen sich verdoppelt hat. Mehr als in 90 Städten sind Hilfsschulen. Immerhin ist aber noch viel zu thun. Es würden noch über etwa 300 Städte mit mehr als 15000 Einwohnern in Frage kommen, die noch Hilfsschulklassen errichten könnten. Wir sind überrascht in höchstem Masse über den zahlreichen Besuch. Bei den wenigen Hilfsschulen, die bis dahin vorhanden waren, war es begreiflich, dass ein Verbandstag nur gering besucht sein würde. Wir haben auf diesem Verbandstage aber etwa 196 auswärtige Vertreter zu begrüssen und aus der Stadt selbst sind etwa 200 Anmeldungen erfolgt, die uns beweisen»

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welches Interesse die Hilfsschulfrage hier schon gefunden hat. Das haben wir vor allem der rührigen und eifrigen Thätigkeit des Ortsausschusses zu verdanken. Ich heisse die Vertreter von auswärts und die hiesigen Teilnehmer herzlich will- kommen, die Vertreter der hohen Behörden, Se. Excellenz den Herrn Regierungs- präsidenten Ritter von Lermann, den Vertreter des bayerischen Ministeriums und des preussischen Kultusministeriums, die Vertreter verschiedener anderer deutschen Staaten, Vertreter der englischen Regierung, der Stadt Wien, der Schweiz, Schweden und vor allen Dingen die Vertreter der deutschen Städte nahezu alle grösseren Städte Deutschlands sind vertreten, entweder durch ihre Schulbeamten oder die Lehrer der dortigen Hilfsschulen. Herzlichen Dank für die ausserordentlich rege Beteiligung; sie wird uns eine Anregung sein, zum Wohle unserer armen Schulkinder weiter zu arbeiten. (Beifall).

Königl. Regierungsrat Lindig:

Excellenz! Hochverehrte Versammlung! Im Namen und Auftrage des Königlich Bayerischen Staatsministeriums und im Auftrage der Königlichen Regierung von Schwaben und Neuburg habe ich die hohe Ehre die heutige Versammlung des dritten Verbandstages der Hilfsschulen zu begrüssen und die aus allen Teilen Deutschlands und aus dem Auslande hierher gekommenen konı- munalen und staatlichen Vertretungen herzlich willkommen zu heissen. Der dritte Verbandstag hat für seine diesjährige Tagung eine Stadt und einen Kreis sich auserwählt, in welchem von jeher alle gemeinnützigen Unternehmungen und humanitären Veranstaltungen ein volles und tiefes Verständnis gefunden haben und die Mitglieder des Verbandes dürfen versichert sein, dass auch ihre Be- strebungen in allen Kreisen der hiesigen Bevölkerung Anklang, Interesse und hohe Anerkennung finden werden. Ihre Beratungen gelten ja dem bemitleidens- werten Teile unserer Jugend, welcher infolge mangelhafter Erziehung oder durch Krankheiten in der geistigen Entwicklung zurückgeblieben ist und der nachber einer weitgehenden Fürsorge dringend bedürftig ist. Von der Erfahrung aus- gehend, dass die allgemeine Öffentliche Volksschule nicht immer die geeignete Bildungsstätte für derartige schwachsinnige und schwachbegabte Kinder ist, hat der Verband sich die Aufgabe gestellt, besondere Schulen zu errichten. Auch Süd- deutschland sind diese Bestrebungen nicht fern geblieben, auch der Bayerische Staat ist in dieser Beziehung nicht zurückgeblieben und insbesondere der Kreis Schwaben erfreut sich seit Jahren besonderer Anstalten für schwachsinnige und schwachbefähigte Kinder in Deybach und Ursberg, in welchen schon seit Jahren schwachsinnige Kinder gepflegt, unterrichtet und herangebildet werden. Ursberg ist eine stark besuchte Anstalt. Sie wirkt in verschiedenen Abteilungen, wir haben eine Kindererziehungsanstalt und eine Pflegestätte für ältere Personen. Also auch wir sind in dieser Beziehung nicht zurückgeblieben. Es ist deshalb eine dankenswerte Aufgabe, die sich der Verband gestellt hat, derartige Anstalten und Schulen immer weiter zu verbreiten, insbesondere ihre Errichtung in grösseren Städten und Plätzen zu ermöglichen. Die Königlich Bayerische Staatsregierung und die Königliche Regierung zu Schwaben und Neuburg werden daher den Verhandlungen das grösste Interesse entgegenbringen und Sie können sich über-

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zeugt halten, dass diese Anregungen von uns weiter verfolgt werden und dass in Bayern nicht nachgelassen wird, diesen Bestrebungen unser Augenmerk zu- zuwenden. Wir geben 'daher der Hoffnung und dem Wunsche Ausdruck, dass die Beratungen und Beschlüsse dazu beitragen möchten, das Institut der Hilfs- schulen immer weiter zu verbreiten, zu entwickeln und auszugestalten, dass die heutige Versammlung das Verständnis für die Hilfsschulen in immer weiteren Kreisen wecken möge, damit man nicht allein in den Schulen, welche wir schon haben, zu wirken in der Lage ist, sondern dass auch in anderen grösseren Städten solche Schulen errichtet werden. Ich heisse Sie nochmals im Namen der Baye- rischen Staatsregierung und der Königlichen Regierung von Schwaben und Neuburg herzlich willkommen und wünsche, dass auch der morgende Tag dazu beitragen möge, Sie zu überzeugen, dass wir auch in Süddeutschland gewillt sind, das Interesse für die Schwachbefähigten weiter zu verfolgen. (Beifall.)

Geheimer Oberregierungsrat Brandi-Berlin:

Hochgeehrte Versammlung. Die preussische Unterrichtsverwaltung, in deren Vertretung ich die Ehre habe, ein Wort der Begrüssung an die Versammlung zu richten, hat von Anfang an die Bestrebungen dieses Vereins mit ganz be- sonderem Interesse verfolgt. Sie hat vor allen Dingen geglaubt, dass diejenigen Kinder, die in der Volksschule nicht mit Erfolg mitarbeiten können, die einer- seits die Volksschule hindern, den Lehrern die Arbeit übermässig erschweren, andererseits im Verkehr mit normalen Kindern nicht nur nicht gedeihen, sondern sogar verbittert werden, dass diesen Kindern in besonderen Schulen ihr Recht gegeben werden könnte, aber in Schulen, die sie vom Elternhause aus erreichen können, damit diese armen Kinder möglichst allgemein in der Sorge der Mutter bleiben. Was ich sage, bezieht sich nicht auf Internate für schwachsinnige Kinder. Die Internate für schwachsinnige Kinder, die meist auf dem Lande liegen, sind sehr häufig kirchliche Gründungen beider Konfessionen, dagegen die Schulen, um die es sich hier handelt, sind durchweg städtische Schulen, nicht staatliche, aber auch nicht private, sondern Öffentliche, von den Städten gegründet und von ihnen verwaltet. Als eine Anzahl von Städten mit Verständnis und Opferwilligkeit diesen Bestrebungen beigetreten ist, hat das preussische Ministerium die städtischen Behörden und Regierungen gefragt nach den Erfahrungen; denn das preussische Ministerium hat von vormmherein keine Bestimmungen treffen wollen, sondern auf Grund von Erfahrungen gedeiben lassen wollen. Aus den vielen eingegangenen Berichten ergaben sich im Jahre 1894 eine Anzabl von Grundsätzen, die man als Majoritätsurteile auffassen dürfte: 1. die Kinder müssen zwei Jahre in der Volksschule gewesen sein; 2. da unter diesen Kindern manche infolge von Krankheiten zurückgeblieben sind, so ist es zweckmässig, immer den Arzt zuzuziehen, bevor das Urteil gesprochen wird; 3. jedes Kind bekommt eine fortlaufende Krankheitsgeschichte; 4. die Stellung der Lehrer der Hilfsschule ist eine 80 wichtige, dass sie auch durch entsprechende Mehreinnahme hervorgehoben zu werden verdient. Während 1894 in Preussen 18 Städte mit 26 Anstalten und 700 Kindern waren, nahm die Zahl, nachdem die Grundsätze auch in weiteren Kreisen Anerkennung gefunden "hatten, sehr zu, so dass es 1896

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27 Städte mit 38 Anstalten und 2017 Kindern waren. Dank der Einmütigkeit und dem Fleisse unseres Vereins ist in diesem Sinne rührig weiter gearbeitet worden und gegenwärtig sind 45 preussische Städte mit 91 Schulen und 4728 Kindern vorhanden, die von 233 Lebrern und Lehrerinnen unterrichtet und erzogen werden. Nun, meine Herren, ich glaube im Namen aller, die hierher gekommen sind, versichern zu können, dass wir sehr gern nach Augsburg ge- kommen sind, eine Stadt mit der grossen geschichtlichen Vergangenheit, eine Stadt, welche auch sonst sehr Lehrreiches für die Teilnehmer enthält, deren grossartige Brunnen auf der Strasse verkünden, was Augsburg früher in der Kunst war und wie die ganze Bürgerschaft für die Kunst begeistert war, eine Stadt, die sogar unter Umständen über Krieg und Frieden entschieden hat, in eine Stadt, die Gelegenheit geben will, dass sich in den Bestrebungen der Hilfsschule Nord- und Süddeutschland näher kommen. So möge der heutige Tag zum Segen unseres Vaterlandes gedeihen. Ich wiederhole den Gruss meines Chefs, des preussischen Kultusministeriums. (Beifall.)

Hofrat Wolfram, erster Bürgermeister von Augsburg:

Die Stadt Augsburg hat anlässlich des II. Verbandstages der Hilfsschulen in Cassel Einladung an Sie ergehen lassen, dass Sie den IlI. Verbandstag hier abhalten mögen. Zu ganz besonderer Freude kann ich konstatieren, dass diese Einladung überaus zahlreich angenommen worden ist. Zu meiner grossen Be- friedigung habe ich gehört, dass nicht bloss von allen Teilen Deutschlands Ver- tretungen der Regierungen und Städte, dass auch von weiter her Gäste gekommen sind, um die Ziele des Verbandes weiter zu fördern. Ich glaube, meine Herren, für mich versichern zu dürfen, dass wir bestrebt sein werden, Ihnen herzliche Gastfreundschaft zu bieten nach echt schwäbischer Sitte, und wenn es uns ge- lingen wird, die Gäste hier heimisch sich fühlen zu lassen, das uns zu ganz besonderer Freude gereicht. Namens der Stadtverwaltung heisse ich Sie herzlich willkommen. Ich hoffe, dass Ihre Verhandlungen in Augsburg nicht bloss für die Hilfsschule im allgemeinen, sondern dass auch für unsere Schule in Augsburg Segensreiches erwachsen möge. Meine Herren, ich wünsche diesen Verhand- lungen vollen Erfolg. Mögen Sie auch nach der Arbeit in unserer Stadt Erholung finden, dass, wenn Sie wieder beim sind, doch noch gern der Stunden gedenken, die Sie hier verlebt haben. Das wünsche ich von Herzen. Nochmals herzlich willkommen in Augsburg. (Beifall.)

Oberlehrer, Landtagsabgeordneter Schubert.

Hochgeehrte Damen und Herren! Die Reihe der Begrüssungen schliessend, erlauben Sie mir wenige Worte beizufügen. Beauftragt vom Ortsausschusse komme ich sehr gern dem Wunsch nach, herzliche Grüsse zu entbieten. Es ist erwähnt worden, dass die hiesige Bürgerschaft in ihrer Gesamtheit dem Verbandstage grosses Interesse entgegengebracht hat, nicht bloss die hiesigen städtischen Behörden, sondern auch die Eltern haben den Verhandlungen mit Spannung entgegengesehen. Die Aufgabe, die sich der Ortsausschuss gesetzt, bestand darin, das Interesse der Eltern für die Sache zu wecken. Wir Schulmänner wissen wohl, dass wir den besten und treuesten Bundesgenossen der Schule in der Familie haben. Ich

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glaube nicht erst versichern zu müssen, dass die hiesige Lehrerschaft Sie auf das freundlichste begrüsst und die ganze bayrische Lehrerschaft ohne Unterschied der Vereinszugehörigkeit und der Konfession den Verhandlungen mit lebhaftem Interesse entgegensieht. Und ich glaube, ohne eine besondere Legitimation erhalten zu haben, Sie begrüssen zu können im Namen des bayrischen Lehrer- vereins, des katholischen Lehrervereins, im Namen des katholischen Lehrerinnen- vereins und des bayrischen Lehrerinnenvereins, welche auch Vertreter entsandt haben. Wir haben den lebhaften Wunsch, dass die heutigen Verhandlungen, wie schon unser erster Bürgermeister, Herr Hofrat Wolfram, angedeutet hat, dazu beitragen mögen, dass die Stadt Augsburg in nicht zu ferner Zeit sich jenen Städten anreiht, welche sich im Besitz von Hilfsschulen bereits befinden. Lassen Sie mich schliessen mit dem Wunsche, dass die heutigen Verhandlungen zum Segen unserer deutschen Volksschule, zum Segen unserer Kinder, welche arm am Geiste sind, zam Wohl und Heil unseres gesamten deutschen Vater- landes sind. Ich begrüsse Sie aufs herzlichste und nehmen Sie den Gruss der bayrischen Lehrerschaft in Ihre schöne Heimat zurück. (Beifall.)

Vorsitzender Dr. Wehrhahn:

Wir sind im Vorstande vollkommen dessen bewusst, dass wir unausgesetzt und ohne Unterlass arbeiten müssen, um unser Ziel zu erreichen. Wir wissen wohl, dass wir erst am Anfange unserer Thätigkeit stehen. Von 60000 Kindern, die in Hilfsschulen untergebracht werden müssen, sind nur etwa 7000 versorgt. Herzlichen Dank den Vertretern des bayrischen und preussischen Kultus- ministeriums sowie überhaupt allenVorrednern für die Begrüssungsworte.

Nach Mitteilungen geschäftlicher Natur seitens des Vorsitzenden des Orts- ausschusses wurde nunmehr das Wort dem Referenten Hilfsschullehrer Hanke- Görlitz erteilt zu seinem Vortrage: |

Bedeutung der Hilfsschulen in pädagogischer und volks- wirtschaftlicher Hinsicht.

Hochansehnliche Versammlung! Werte Berufsgenossen und Berufsfreunde'! Wenn auch die Hilfsschule seit den ersten Errichtungen in den sechziger Jahren eine sehr erfreuliche Entwickelung nach ihrer Zahl und ihrem Ausbau zeigt, besonders neuerdings, so kann man immerhin doch sagen, dass sie noch in den Kinderschuhen steckt, und niemand weiss, was aus dem Kindlein einmal werden kann. Diejenigen aber, denen sie sich zur Beurteilung am nächsten vor die Augen stellt, wir selbst, finden nicht immer den freien Blick, den eine gerechte und allseitige Beurteilung einer pädagogischen Einrichtung erfordert. Darum ist das Thema, welches unser zielbewusst vorgehender Verbandsvorstand mir zum Vortrag und uns allen zur Besprechung gestellt hat, gewiss sehr zeitgemäss, allerdings auch so umfassend, dass es, um erschöpft zu werden, noch viele Verbandstage beschäftigen wird.

Ich darf wohl von der Voraussetzung ausgehen, dass ein Teil meiner geschätzten Zuhörer unserem Beratungsgegenstande mehr oder weniger fremd gegenübersteht und sich über seine Freundschaft zur Sache und über die

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Förderung derselben erst entscheiden will. Diesem Charakter der Versammlung Rechnung tragend, erlaube ich mir vom Gedankengange meiner Leitsätze ab- zuweichen und zunächst über Wesen und Zweck der Hilfsschule einige Aus- führungen zu bringen.

Unter jeder grösseren Schülermenge giebt es eine Anzahl Kinder, Knaben und Mädchen, denen das Fortschreiten iım Unterricht ausserordentlich schwer fällt und die durch ihr rätselhaftes, unzugängliches Verhalten den Unterricht in seinem Fortgange auffallend hemmen, zum Nachteil für die ganze Klasse und die mit Bezug auf ihre Bildsamkeit auch im Fühlen und Wollen mancherlei Regelwidrigkeit erkennen lassen. Bei dem unvermeidlichen Jagen und Drängen in der oft zu stark besetzten Normalschule, die unter dem Einflusse eines scharf abgegrenzten und meist recht überfüllten Stoffverteilungsplanes steht und die auf die alljährlichen Versetzungsziele hinarbeiten muss, kann der im Durch- schnitt gut beanlagte Schüler individuell berücksichtigt werden, am aller- wenigsten aber jene Schwachen. Sie bleiben hinter der grossen Menge bald weit zurück, ihre geistige Kraft reicht nicht aus für den Schnellschritt im Unter- richt, sie erlabmen, versinken in Teilnahmlosigkeit, verfallen dem Hohn und Spott der Mitschüler, verlieren das Selbstvertrauen und erfahren wenig oder gar keine Förderung. Es fehlt ihnen zwar nicht an Bildsamkeit, aber diese ist zu gering, als dass der Lehrer auch beim besten Willen unter den gezeichneten Verhältnissen solchen Schülernaturen Rechnung tragen könnte. Solche schwach- befähigte und in leichtem Grade schwachsinnige Kinder sind das Schülermaterial der Hilfsschule Die Ursachen des Zurückbleibens müssen nachweisbar oder aus dem Gesamttypus ersichtlich in Entwicklungshemmungen des Geistes liegen, in Krankheiten und Schädigungen der grossen Organe, des Gehirns. Wenn also ein Kind durch äussere Umstände, durch viele Schulversäumnisse, durch Öfteren Schul- oder Lehrerwechsel, durch offenbare Vernachlässigung von Seiten der Familienerzieher u. a. „dumm“ bleibt, so findet es deshalb noch keine Aufnahme in der Hilfsschule. Darum ist es Bestimmung, dass in der Regel durch einen zweijährigen Besuch einer Normalschule festgestellt wird, dass das schwach- befähigte Kind mit seinen Altersgenossen nicht fortzuschreiten vermag, dass es in grossen Schülermengen nicht mit Erfolg unterrichtet und mit sicherer Voraussicht selbst nach dreijährigem Schulbesuche nicht genügend versetzungs- fähig für die nächste Klasse werden kann. Wenn jedoch die krankhafte geistige Schwäche und unzureichende Bildungsfähigkeit schon früher zweifellos erkenntlich ist, darf auch des Kindes Aufnahme in die Hilfsschule bald erfolgen, doch niemals vor dem vollendeten 7. Lebensjahre des Schwächlings. Zurückgewiesen werden Idioten oder Blödsinnige, Epileptiker, Blinde und Taubstumme, solchen kann nur durch Anstaltserziehung gedient werden. Ebenso sind Kinder, die infolge angeborener Regelwidrigkeiten oder durch schlechte Erziehung zur sittlichen Verwahrlosung neigen und verführerisch auf ihre Mitschüler wirken, von der Hilfsschule auszuschliessen.

Solange die psychische Elle nicht erfunden wird, solange geistige und sittliche Kräfte sich nicht wie die Edelmetalle auf einer Goldwage abwägen

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lassen, können auch die Begriffe schwachbefähigt, schwachsinnig, psychopathisch minderwertig und wie die Abnormitäten sonst bezeichnet werden, niemals bestimmt gefasst werden. Keine Definition, keine Fragebogen, keine ärztliche Unter- suchung kann im einzelnen Falle das Bild eines geistigen Zustandes durch Wort oder Schrift klar zur Darstellung bringen, und damit ein sicheres Hilfs- mittel für die Beurteilung geben. Nur durch die Erfahrung wird man befähigt, die für die Hilfsschule geeigneten Schwächlinge zu erkennen und einzig und allein der psychologisch beobachtende Pädagoge kann die Bildsamkeit des Kindes als einen Massstab für die geistige Gesundheit oder für eine Abnormität anlegen. Natürlich ist es nicht möglich, Grenze und Grad der Bildsamkeit eines Kindes genau zu bestimmen, weil der Begriff der Normalität nicht feststeht und damit ein Ausgangspunkt für die objektive Abschätzung geistiger Kräfte sowohl nach oben wie nach unten fehlt. Auch das Schüler- material in der Hilfsschule zeigt vielerlei Abstufungen; jedes einzelne Kind ist in seiner eigenen Art schwach und erfordert besondere Rücksichtnahmen.

Alle Hilfsschulen berichten in ihren statistischen Zusammenstellungen von solchen Zurückversetzungen. Aus der Görlitzer Hilfsschule wurden seit deren Begründung (1893) 36 Kinder wieder dem Unterrichte der Normalschule zugeführt. Diese Fälle werden aber von Jahr zu Jahr seltener, weil die Lehrer treffisicherer bei der Schüleraufnahme geworden sind. Meine Meinung gebt dahin, dass solche Zurückversetzungen nirgends Zweck und Ziel der Hilfsschule, nur Ausnahmen sein können. Selbst wenn einzelne Leistungen eines schwachsinnigen Kindes überraschen und an Güte das Mass des Normalen nahezu oder völlig erreichen, wird solches doch immer nur unter besonders nachsichtiger Behandlung möglich werden. Nicht bloss was das Kind leistet, sondern auch wie es arbeitet, muss bei der Beurteilung seiner Bildsamkeit in Betracht kommen.

Von grösster Bedeutung für eine gerechte Auswahl der schwachbefähigten Kinder ist ein zweckmässiges Aufnahmeverfahren. Für die Görlitzer Hilfsschule hat die Schuldeputation folgendes Verfahren festgesetzt, das sich vorzüglich bewährt. Im Januar stellen die Rektoren der verschiedenen Volksschulen in ihren Schulsystemen Erhebungen an über das Vorhandensein schwachbefähigter Kinder, reichen bis zum 15. d. M. gemeinsam die Vorschlagslisten mit den erforderlichen Personalienangaben an die Schuldeputation ein, diese übergiebt die Verzeichnisse dem Leiter der Hilfsschule mit dem Ersuchen, die in Vorschlag gebrachten Kinder zu prüfen, sie deshalb in ihren Schulklassen aufzusuchen und erforderlichen Falls sich mit den Eltern in Verbindung zu setzen. Ich halte die letzte Massnahme für die wichtigste, für durchaus unentbehrlich für unseren Zweck und höchstbildend für den Lehrer. Die Klassenbesuche werden dadurch fast ganz überflüssig. In der Familie, in seiner elterlichen Wohnung ist das Kind viel unbefangener als in der Schulstube, nicht bloss sein schulmässig erworbenes Wissen und Können lässt sich hier besser feststellen, sondern auch sein übriges Verhalten, seine Geschicklichkeiten und Ungeschicktheiten, seine Tugenden und Untugenden, seine körperlichen und geistigen Eigenschaften lassen sich im Hause am allerbesten erkennen. Viel ungezwungener lassen sich Fragen nach der

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Entwicklung des Kindes bis in die Zeit vor seiner Geburt stellen, und bei Betrachtung des ganzen „milieu“ seiner Eltern und Geschwister wird manche heikle Frage, die auf den viel empfohlenen Fragebogen zu finden sind, überflüssig. Zugleich ist aber durch solche Hausprüfungen auch das erforderliche Vertrauens- verhältnis zwischen Schule und Haus angebahnt, Vorurteile der Schule gegen- über lassen sich beseitigen oder kommen garnicht erst auf. Ich behaupte, dass keine ärztliche Untersuchung des von seinem „milieu“ getrennten Kindes, auch die gewissenhafteste nicht, dem Lehrer bessere Anhaltspunkte für eine gerechte Beurteilung des geistigen Zustandes und der Bildsaınkeit geben kann, als eine pädagogische und psychologische Beobachtung des Schwächlings in seiner Familie. Die Ergebnisse dieser Feststellungen werden schriftlich fixiert und bilden Anhaltepunkte für die Gruppierung der Kinder nach dem Grade der geistigen Schwäche In der Regel werden viel mehr Kinder zur Versetzung an die Hilfs- schule in Vorschlag gebracht, als Aufnahme finden können, so dass die leichtesten Fälle von vornherein ausgeschieden werden und der Normalschule zu weiteren Versuchen verbleiben müssen. Die meisten aber kommen mit Beginn des Schul- jahres an die Hilfsschule, doch zunächst nur probeweise 2—3 Wochen. Nach dieser Probezeit erst erfolgt endgiltige Entscheidung über die Auswahl der Kinder durch eine Kommission, bestehend aus dem Schuldezernenten als Magistrats- mitglied, dem Königl. Kreisschulinspektor, dem Königl. Kreisphysikus oder dem Kommunalarzt, 2 Rektoren, von denen einer die Schuldeputation und der andere die Rektorenkonferenz vertritt, und dem Leiter der Hilfsschule. Es hält nun nicht mehr schwer, die Kinder nach dem Grade ihrer Bildsamkeit vorzuführen und diejenigen in erster Linie auszuwählen, denen ein besonderer Unterricht am meisten not thut und bei denen er auch Erfolg verspricht.

Nur das psychologische oder genauer gesagt das pädagogisch-pathalogische Moment ist bei der Wesens- und Zweckbestimmung der Hilfsschule und bei der Beurteilung der Kinder im Auge zu behalten. Darum verstehe ich nicht, wie der Frankfurter Schularzt Dr. Laquer in seiner sehr interessanten und zeit- gemässen Broschüre „Über die ärztliche und soziale Bedeutung der Hilfsschule“ den Satz aufstellen kann, dass „die Errichtung von Hilfsschulen für schwach- befähigte Kinder der Minderbemittelten notwendig ist“ etc, nachdem er auf S. 9 ausgesprochen hat, dass die Schwachsinnigen aus den bemittelten Ständen verhältnismässig nicht viel geringer an Zahl sind. Die Frage, welche Hilfsschul-Einrichtungen den imbecillen Kindern aus höheren Schulen nützlich sein könnten, sollte ein Schularzt nie aufwerfen. Die armen Wesen, welche gehetzt von der Eitelkeit ihrer Eltern mit Mühe nnd Not durch die Vorschulen geschleppt und höchstens bis in die Mittelklassen der höheren Schule geschoben werden, bedürfen derselben Schonung und Behandlung wie ihre Leidensgenossen in den Volksschulen. Die Hilfsschule muss für alle Schichten der Bevölkerung geöffnet sein. Wer auch hier wieder, wie in so vielen anderen Stücken der Volkserziehung, die Menschen nach dem zufälligen Moment des Geldbesitzes schichtet, würdigt die Hilfsschule nicht recht,. kann unmöglich mit herzlichem und sozialen Empfinden und auch nicht mit wissenschaftlichem Ernste der

Hilfsschule ein Freund sein. Die Hilfsschulen müssen so vollkommen ein- gerichtet sein, so gut mit Lehrkräften und Lehrmitteln ausgestattet werden und unter so günstigen Vorbedingungen wirken können, dass auch bemittelte Eltern ihre Schmerzens- und Herzenskinder diesen Schulen gern anvertrauen. Für Kinder ist immer das Beste, für kranke Kinder nur das Allerbeste gerade gut genug. Darum sollte auch niemand sein Kind desbalb der Hilfsschule fernhalten, weil hier die Mehrzahl der Schüler sozial und wirtschaftlich tiefer stehen. Geldbesitz ermöglicht allerdings die Benutzung komfortabler Anstalten, doch nicht in allen Fällen ist für die in leichterem Grade schwachsinnigen Kinder die Anstaltserziehung das Beste, wenn sie auch in schweren Fällen schon im Interesse der Familie des Kindes das Empfehlenswerteste und nicht selten eine unbedingte Notwendigkeit ist. Meist begnügen sich bemittelte Eltern mit einer Familienpension ausserhalb des Elternsitzes, ohne dabei Garantie zu fordern, dass dem gehemmten Geistesleben des Pensionärs auch fachkundige Leitung geboten wird. Ganz entschieden erlangt dann die Hilfsschule auch eine hohe pädagogische und soziale Bedeutung für einen Ort, wenn durch sie Kinder der besprochenen Art ihrer Familie erhalten bleiben können, auch eine mangel- hafte Familienerziehung enthält immer noch wertvolle erziebliche Momente, die keine Anstalt in sie aufnehmen kann. Gemeindeverwaltungen, die bei der Pflege ibrer Hilfsschulen auch solchen Zweck im Auge behalten, verdienen höchste Anerkennung. Vielleicht stösst man sich auch an dem Umstande, dass die Hilfsschule ich glaube überall Freischule ist, für die also kein Schul- geld erhoben wird. Aber dieser Stein des Anstosses liesse sich wohl beseitigen. Man erhebe von den Eltern der eingeschulten Kinder eine Schulsteuer, die in Anlebnung an die verschiedenen Einkommensteuersätze bemessen wird, so dass die Unbemittelten nach wie vor die Benutzung der Schule frei haben und die Bemittelten in dem Verhältnis zahlen müssen, als ob sie ihre Kinder an eine mittlere oder höhere Schule schickten.

Was will die Hilfsschule ihren Schülern sein? Es wurde bereits angedeutet, dass schwachbefähigte Kinder unter den herrscheuden Verhältnissen in Normal- schulen keine Förderung erfahren können, sondern in ihrer Natur nur fortgesetzt geschädigt werden. Der Unterricht ist dort den Schwachen keine Lust, sondern eine Last; die Normalschule erweckt durch zu hohe Anforderungen, die nie selb- ständig aus eigner Kraft erfüllt werden können, bei den Schwachen Arbeits- abneigung, die sie oft ins Leben mit hinüber nehmen. Die schöne Forderung: „Individualisiere im Unterrichte!“ ist für den üblichen Massenunterricht eine Strafe. In unseren Normalschulen ist nicht das Kind die Hauptsache, nicht nach ihm richtet man sich bei der Feststellung des Unterrichtszieles und nicht auf seine Natur nimmt man Rücksicht bei der Auswahl und Darbietung des Unter- richtsstoffes und bei der Ausgestaltung erziehlicher Einrichtungen. In der Hilfs- schule, wo nur wenig Kinder, 15 bis höchstens 18 eine Klasse bilden, wo die Eigentümlichkeiten jedes Kindes vom Lehrer möglichst erforscht werden können, wo die Verbindung zwischen Schule und Haus sich inniger gestalten lässt, da kommt auch der grösste Schwächling zu seinem Recht; kein Kind, auch nicht

92 sein, bleibt ohne fortdauernde Anregung. Hierin liegt der Wert eines gesonderten Unterrichts für Schwachbefähigte. Allerdings können auch wir ein geschwächtes Gehirn niemals zu einem „rüstigen“ umbilden, aber geschont und vor weiteren Schädigungen kann und muss das Kind bewahrt bleiben. Die vorhandenen gebundenen Kräfte lassen sich wecken und in naturgemässer Weiterentwicklung in richtige Bahnen lenken.

Was wir wollen ist die psychologische Pädagogik, wie sie uns besonders von Strümpell gelehrt wird. Wir schlagen ihren Weg nolens volens ein, denn wenn wir auch in die Irrtümer verfallen wollten, an der sonst die Schule im allge- meinen leidet, indem sie dem didaktischen Materialismus huldigt, trotz Dörpfeld’s unübertrefflichem Mahnwort, trotz der Geisselungen, welche die Unnatur des Unterrichts durch Streiter im pädagogischen Kampfe erfahren hat und auf eine übermässige Aneignung von Wissensstoff hinarbeitet, bei uns scheitert jeder dahin zielende Versuch von selbst an der Natur des Kiudes. Die Ziele der Er- ziehung, welche seit Comenius, Pestalozzi, Herbart bis in die Gegenwart der Sozialpädagogik in ewig wandelnden Formen und Fassungen für unsere päda- gogische Arbeit gesteckt worden sind, setzen durchweg voraus, dass das zu erziehende Kind sich ohne weiteres den pädagogischen Massnahmen fügen muss. Es sind Ziele, mit denen sich bei uns nichts Rechtes anfangen lässt. Wir brauchen ein näherliegendes und feststehendes Ziel. Das Feststehende liegt aber in der Menschennatur, in dem gesetzmässigen Ineinandergreifen der geistigen Kräfte. Dieser Gesetzmässigkeit nachzugehen ist darum die allererste und wich- tigste Aufgabe des Erziehers, ohne deren Lösung keine andere Aufgabe zu erfüllen ist. Für unsere Arbeiten der Hilfsschule ist es vielfach die einzige Aufgabe. Wenn man erwägt, welch eine unermessliche Fülle geistigen Gewinns ein nor- males Kind in den ersten 3 Lebensjahren ohne planmässige Einwirkung in sich aufspeichert, dann erscheint der Erfolg einer achtjährigen Schularbeit erschrecklich gering. Und wenn man als glücklicher Familienvater oder Lehrer normaler Kinder beobachtet, wie in der Familie die geistigen Kräfte von selbst unter den Wirkungen der „freien Kausalitäten“ sich herausheben zur gefühlsreichen, denkenden, Schönheit geniessenden, sittlich handelnden, sich selbst erkennenden Persönlichkeit, wenn auch vielfach nur in kleinen Spuren, so erscheint die Arbeit in der Schulstube, wo die Kindermassen in Reih und Glied wie die Knöpfe am Soldatenrocke die inneren Regungen zur Selbstentwicklung mehr unterdrücken als äussern müssen, recht leer und kalt. Ich meine nun, um kurz zu sein und nur um einiges anzudeuten, dass wir in unserer Hilfsschule möglichst viel sitt- lich religiösen Familienerziehungsgeist müssen aufkommen lassen, in solchem Geiste soll das Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler sein.

Das Fundament der Erziehung bleibt in erhöhtestem Masse die von Pestalozzi betonte Anschauung, was aber mehr besagt als Bilderunterricht. An Stelle der Kunstkatechese tritt oft eine ungekünstelte Unterhaltung. Dass hierbei die Kinder den Lehrer viel zu fragen haben und fragen ist wichtiger, als dass sie auf zusammenfassende Fragen des Lehrers lange Vorträge halten. Ein unterrichtlicher Gang ins Freie und ein heiterer Gesang dabei, der Besuch einer

BR.

Kirche, einer Werkstatt oder eines Panoramas u. ä. ist mehr wert als eine Unterrichtsstunde Wo das Kind geht und steht muss es Erzieher treffen, die es anregen zum Denken und Urteilen und fröhlichem Wollen. Darum sind die Unterrichtsstoffe dem Alltagsleben der Menschen zu entnehmen, denen das Kind womöglich auf Schritt und Tritt begegnet und dadurch ausserhalb der Schule die Repetitoren seines Wissens werden. Die Hausordnung, welche der Wirt dem Mieter vorschreibt, ist besser zur Behandlung des siebenten Gebotes geeignet als eine Definition und einige Sprüche übers Stehlen. Was du nicht willst, dass man dir thu, das füg’ auch keinem andern zu. Beim Erleben eines starken Gewitters, eines Hochwassers, einer gewaltigen Feuersbrunst oder wenn ein grosses Unglück oder ein Verbrechen die Gemüter der Bewohner erregt, lassen sich tiefere religiöse Gefühle erwecken als bei der Behandlung der meisten alttestamentlichen Geschichten. Den Inhalt der polizeilichen Warnungstafeln an Strassen und Plätzen zu verstehen und bei ihrer Besprechung auf die sozialen Pflichten jedes Einzelnen hinzuweisen, liegt unseren Kindern näher als Fürsten- und Kriegsgeschichten. Gutes Vorlesen schöner Gedichte und Geschichten von Seiten des Lehrers bringt den Kindern allemal eine Feiertagsfreude, sie ist aber an jedem Wochentage angebracht und mehr wert, als das Zerpflücken eines Gedichtes. Die Wanduhr und der Abreisskalender, die Münzen, Masse und Gewichte thunlichst bald und sicher zu verstehen und aufs Verkehrsleben, Kaufen und Verkaufen stetig anzuwenden, ist von grösserer Bedeutung als Bruch- rechnen. Wo kommt der Wind heut her? Wie ist der Himmel bewölkt? Was zeigt das Wetterglas oder der Wärmemesser? Solche und ähnliche Fragen können täglich gestellt werden, um damit das Interesse für Naturvorgänge zu erwecken. Halte deine Kinder stets in guter Stimmung, denn auf einem schlecht gestimmten Instrumente kann auch der grösste Künstler keine Harmonien erzeugen. Mir ist diese Forderung eine der Allerwichtigsten. Sie ermöglicht die so überaus wertvolle psychische Begegnung zwischen Erzieher und Zögling. Dass in der Hilfsschule Turnen und Jugend- spiel viel gepflegt werden und auch der Handarbeitsunterricht für Knaben sehr am Platze ist, liegt auf der Hand. So lernen unsere Kinder die äusseren und inneren Sinne gebrauchen, um für das Erwerbsleben nützlich sein und in der gesellschaftlichen Eingliederung ihren Platz ausfüllen zu können. Jede arbeitende, Güter erzeugende Kraft, und wäre es auch nur ein umsichtiger Strassenreiniger, ist von vielfach höherem Werte für die menschliche Gesellschaft als der ver- schwenderische Tagedieb. Viele unserer Schüler würden bei steter Vernach- lässigung für das Erwerbsleben verloren gehen, der Familie auf dem Halse bleiben als nutzlose Brotesser und späterhin den Armenverwaltungen zur Last fallen. Wer in sich nur einen Funken Pflichtgefühl hegt, will nicht von Wohl- thaten leben, sondern im Getriebe des Staats- und Erwerbslebens einen Wert haben, eine Lücke ausfüllen. Es vergehe kein Tag, an dem wir unseren Kindern den Satz nicht nahe brächten: „Erfülle deine Pflicht*. Wie die Blinden und Taubstummen, die ich allerdings nicht zu den Abnormen im Sinne der Schwach- sinnigen rechne, durch eine planmässige Ausbildung ihrer Kräfte ausserordentlich

un

an Ansehen in der Gesellschaft gewonnen und viele Vorurteile überwunden haben, so wird man bei weiterer Wirksamkeit der Hilfsschule auch den Schwachsinnigen nicht bloss als Troddel ansehen.

Ich meine aber, dass die Aufgaben der Hilfsschule nicht mit den Wänden der Schulstube abgeschlossen sind. Ausserhalb derselben bleibt uns noch viel zu thun und zu schaffen übrig. Der Lehrer muss den Kindern bei der Beruts- wahl behilflich sein, mit den Eltern gemeinsam die geeignete Beschäftigung für das Kind wählen und die geeigneten Meister oder Arbeitgeber suchen. Das Laufburschenwesen und die frühzeitige Fabrikaibeit ist Gift für unsere Schwachen. Wenn irgend möglich, suche ich ihnen Interesse fürs Landleben zu erwecken. Lehrt man die ‚Eltern, dass sie ihr Kind als ein krankes, in der Entwicklung geistig und körperlich zurückgebliebenes Kind ansehen, dann verschliessen sie sich auch nicht der Gründe, die bei der Berufswahl massgebend sein müssen; nicht möglichst zeitiger Geldverdienst, sondern Gesunderhaltung für Geist und Körper müssen bestimmend wirken.

Das neue ‚Fürsorgeerziehungsgesetz, welches am 1. April d. J. in Preussen in Kraft getreten ist, wird gewiss auch: für unsere Hilfeschulen nicht ohne Segen sein. In Görlitz bin.ich als Leiter der Hilfsschule ohne mein Zuthun in den Beirat gewählt, ein erfreuliches Zeichen für das Interesse, das die Hilfsschule findet. Es berührt den Kenner pathologischer Erscheinungen allemal recht un- angenehm, wenn aus den Berichten über Gerichtsverhandlungen klar zu ersehen ist, dass man-das Pathologische eines Angeklagten nur in ganz eklatanten Fällen erst: beachtet. Sanitätsrat Dr. Berkhahn, der altbewährte Freund der Hilfs- schulen, weist in seiner Brochüre über den angebornen und erworbenen Schwach- sinn bin auf die Pflichten, die die Gerichtsbehörden hier zu erfüllen haben.

Ein anderes sehr weites Gebiet, auf welches sich indirekt ein Segen unserer Einrichtung ausdehnen kann, ist das Militärwesen. Da in vielen Fällen bei schwachbefähigten Kindern die körperlichen Vorbedingungen für- ihre Brauchbar- keit zum Militärdienst vorhanden sind und am ehesten sich nachentwickeln, wird nicht selten durch die Aushebung zum Soldaten ihnen bitteres Unrecht ge- than. Das präcise, peinliche Ausführen militärdienstlicher Aufgaben setzt ein gesundes, schnelles Auffassungs- und Entschliessungsvermögen voraus, namentlich eine Gesundheit in den zentralen und peripheren Bewegungsorganen, die nur selten, wie besonders beim Turn- und Handfertigkeitsunterricht zu erkennen ist, vorgefunden wird. Solch ein armer Soldat ist das Angst- und Sorgenkind aller Vorgesetzten und der ganzen Kompagnie, die darunter zu leiden hat. Mit Bezug auf die Bedeutung der psychopathischen Minderwertigkeiten für den Militärdienst hat Koch eine Brochüre verfasst, in der das Gesagte auch mit Bezug auf Schwachbefähigte am Platze ist. |

Ich meine nun, dass unsere Zöglinge nach dieser Richtung hin zu schätzen seien, inlem wir den beim Ersatzgeschäfte Helen Civilbehörden Zeugnisse und Berichte zugehen lassen.

Alles in allem kann man behaupten, je Hehe die städtischen und staatlichen Behörden die Errichtung und den weiteren Ausbau der Hilfsschulen fördern,

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desto mehr wird sich in allen Kreisen der Bevölkerung das Interesse für die Armen am Geiste steigern und sich vorbeugend und helfend bethätigen. Wenn wir Lehrer aber gründlich vertraut mit den Ursachen und dem Wesen der geistigen Abnormitäten unserer Kinder auch Öffentlich als Anwälte für die Erziehungsbefohlenen durch Wort und Schrift auftreten, so werden wir manchen Feind der Volkswohlfahrt, wie den Alkobol, die Ausschweifungen auf sexuellen Gebiete und manches Andere bekämpfen können. Unser Einfluss ist ja nirgends gross, aber Überzeugungstreue, Begeisterung für den Beruf und heiliger Ernst um die Sache machen auch den Schwachen kräftig.

Stürmischer Beifall belohnte den Redner für seine vortrefflichen . Aus- führungen.

‚In der sich anschliessenden Debatte nahm zunächst der Kgl. igien Universitätsprofessor Dr. Stumpf- Würzburg das Wort und äusserte sich dahin, dass die von dem Vortragenden in pädagogischer Hinsicht gegebene Auffassung von dem Wesen des Schwachsinns durchaus der medizinischen wissenschaftlichen Auffassung entspräche und dass es medizinische Erfahrung sei, dass, wenn man sich einmal mit der Materie eingehender befasst habe, irgend welche Irrungen inbezug auf die Ein- reihung der betreffenden Kinder unter die Schwachsinnigen nicht mehr vorkomme, dass sich also wissenschaftliche und pädagogisch Drasuseng Erfahrung in dieser Hinsieht vollständig decken.

Der Delegierte des englischen Unterrichtsministeriums Dr. Eichholz- London konstatierte, dass auch in England bereits einige Jahre nach Einführung der Hilfs- schulen analog den in Norddeutschland gemachten Erfahrungen die Notwendigkeit, als schwachsinnig deklarierte Kinder wieder in die Normalschule zurückzuversetzen, sich ganz allmählich vollständig ausschliessen lasse, ein Beweis dafür, wie sicher man in der Diagnose des Schwachsinns und zwar des hier in betracht kommenden bildungsfähigen Schwachsinns bei einiger Uebung werde.

Schulrat Specht - Karlsruhe stellt den Antrag, über. diesen Vortrag keine Dieknaeich weiter zuzulassen, und die vom Vortragenden aufgestellten Leitsätze en bloc anzunehmen. Dieser Antrag wird einstimmig angenommen.

Die Leitsätze des Vortrags lauten:

I. Die Hilfsschule ist ein notwendiges Glied im Organismus der auf peycho-

logischem Prinzip aufgebauten Erziehungsschule.

I. Die Hilfsschule ist in hervorragender Weise berufen, die Lehren je pädagogischen Pathologie zu beachten und durch ihre eigenartigen Er- fahrungen am weiteren Ausbau der wissenschaftlichen Pädagogik mit- zuwirken.

Hl. Für vollsinnige, geistig geschwächte Kinder mit geringer oder fehler- hafter Bildsamkeit, die aber zweckmässiger Weise in Familienerziehung verbleiben können, ist die Hilfsschule am besten geeignet zur indivi- ‚duellen Schulung der Geisteskräfte und zur Erziehung für das nn Gesellschafts- und Erwerbsleben. |

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IV. Die öffentlichen Schulen werden dadurch, dass sie schwachbefähigte Kinder der Hilfsschule überweisen können, in den Stand gesetzt, ihre unterrichtlichen und erziehlichen Aufgaben besser zu erfüllen.

V. Die Hilfsschule wirkt volkswirtschaftlich, indem sie ihre anormalen Kinder vor weiteren Schädigungen zu bewahren sucht, vor falscher Be- urteilung und deren Folgen schätzt und sie der Familie wie der Gesell- schaft als erwerbende Kräfte erhält.

Uber den Schwachsinn sprach sodann Dr. med. Friedr. Wilh. Müller-Augsburg.

Der Vortragende giebt auf Grund der medicinischen Litteratur ein Krank- heitsbild des Schwachsinns mit besonderer Berücksichtigung des kindlichen Alters. Wenn krankhafte Vorgänge vor der Geburt oder in den ersten Lebensjahren das Gehirn, welches der Träger unseres Seelenlebens ist, schädigen und die betroffenen Teile zur Aufnahme und Verarbeitung neuer Eindrücke unfähig machen, so wird auch das Seelenleben in seiner Ausbildung frühzeitig unterbrochen und es ent- stebt geistige Schwäche aller Grade, die zwischen der Dummheit und dem völligen Blödsinn liegen und ohne Grenzen ineinanderfliessen. Die Schwäche zeigt sich nicht nur in der Verstandesthätigkeit, sondern auch im Gefühlsleben ‘und im Wollen und Handeln. Dabei beobachtet man eine mehr stumpfe und eine mehr lebhafte Form. Nach kurzer Anführung der wesentlichen Erschei- nungen des Blödsinns (Idiotie) werden die Krankheitsäusserungen des Schwach- sinns (Imbecillität) besprochen. Im letzteren werden, wie auf der letzten Psychiater-Versammlung zu Frankfurt vorgeschlagen wurde, solche Fälle ge- rechnet, bei denen keine gröberen Störungen der Empfindungs- und Bewegungs- fähigkeit, speziell der Sprache bestehen und von denen ein gewisser Schatz an possitivem Wissen erworben werden kann. In den ersten Lebensjahren, wo das Seelenleben im Werden ist, kann man nur in ausgesprochenen Fällen imbecille Kinder als solche erkennen. Diese reagieren schwer auf äussere Reize, fangen spät an zu lächeln und sprechen und verstehen nicht, sich mit Spielzeug zu unterhalten. Auch körperlich entwickeln sie sich langsam. Oft kommt erst durch die Anforderungen der Schule ihr Schwachsinn an den Tag. Auf dem Gebiete der Verstandesthätigkeit zeigt sich nun bei der sogenannten stumpfen, apathischen Form vor allem eine sehr geringe willkürliche Aufmerksamkeit, weniger für äussere Dinge, als namentlich für Vorstellungen. Letztere können sie auch nicht in gegenseitige Beziehungen bringen und das Gemeinsame daran erkennen. Sie nehmen überhaupt wohl nur konkrete Vorstellungen auf und klammern sich an jede einzelne derselben, ohne sie zu einer Allgemeinvorstellung zu verschmelzen und einen umfassenden abstrakten Begriff dafür finden zu können. Auch im späteren Leben vermögen sie nicht Wesentliches von Unwesentlichem zu unterscheiden, sehen nur das Naheliegende, ihr Erfahrungsschatz bleibt des- halb gering, ihr Gesichtskreis klein. Ganz unmöglich ist es ihnen, mit höher- wertigen abstrakten Begriffen zu operieren, Grundsätze zu bilden, nach denen

97 THE N er Popp, w Ken / sie ihr Handeln einrichten könnten. Ihr Gedächtnis Ist ungenügend‘ 'und/ die aufgenommenen Vorstellungen gehen bald wieder verfore.. „Bei ihrer Kritik- losigkeit bleibt oft belangloses Detail haften, während wichtige Tifatsache ver- gessen werden. Deshalb ist auch die Wiedergabe des "Brlernten und‘ Erlebten eine unverständliche. Dazu kommt noch ein auffallender Hang zum ädstehtlichen Lügen, das sich aber meist als deutlich schwachsinnig erweist. Infolge ihrer raschen Ermüdbarkeit und schwachen Fassungskraft fehlt ihnen die Lernfreudig- keit und ihre Schulkenntnisse, namentlich im Rechnen, bleiben geringe. Viel leichter erlernen sie Handfertigkeiten, die ihrer konkreten Denkweise entsprechen. Von Gemüt sind sie lau oder stumpf und können sich höherwertige Gefühle, wie Dankbarkeit, Ehrfurcht, Mitleid nur äusserlich aneignen. Ihr ganzes Fühlen beschäftigt sich mit der eigenen Person und den eigenen Verhältnissen und diesen dureh keine Gegengefühle gehemmten Egoismus, der im kindlichen Alter bis zu einem gewissen Grade normal ist, behalten sie auch als Erwachsene bei. Ihre Stimmung ist gleichgiltig oder von läppischer Heiterkeit, vorausgesetzt dass sie gut behandelt werden, und ihr Benehmen im allgemeinen gutmütig. Doch werden sie durch unvorsichtige Strafen störrisch und können bei Beeinträchtigung ihrer Person in grosse Wut geraten. Mit Geduld und Verständnis lassen sie sich zu allerlei Arbeiten anleiten, die ihren geringen Fähigkeiten entsprechen. Sollen sie aber einmal auf eigenen Füssen stehen, dann kommt ihre Unfähigkeit, selbständig zu handeln und ihre ganze Hilflosigkeit zum Vorschein. War nun diese stumpfe, einfache Form durch Mangel an Aufmerksamkeit, durch Armut des Vorstellungslebens und Schwerfälligkeit des Denkens und Urteilens gekenn- zeichnet, so besteht bei der lebhaften Form eine krankhafte Beweglichkeit der Aufmerksamkeit und der Einbildungskraft. Ihre Aufmerksamkeit wird durch äussere Reize und innere Vorgänge hin und hergezerrt. Die Eindrücke bleiben nicht haften und werden rasch durch andere verdrängt. Sie nehmen eine Menge Erinnerungsbilder auf, aber alle ungenau und unvollständig und können sie nicht in Einklang mit einander bringen. Dadurch entstehen gefälschte Vorstellungen und Begriffe, die nur auf willkürliche Weise in Verbindung gebracht werden können, wie es eben der Einbildungskraft gefällt. So entsteht für die Kranken ein ganz entstelltes Bild der Aussenwelt, ein Durcheinander von Falschem und Wirklichem, überwuchert von den Produkten einer zügellosen Phantasie. Infolge davon müssen auch ibre Urteile verkehrt, oft grotesk ausfallen. Bei ihrer Ver- anlagung fällt ihnen das Lügen noch leichter als den stumpfsinnigen Imbecillen, ihr Gedächtnis ist etwas besser, kann aber das Aufgenommene natärlich nicht der Wirklichkeit entsprechend wiedergeben. Auch ihre gemütliche Seite spiegelt das Unbeständige und Sprunghafte ihres Wesens wieder; sie sind launisch, fallen von einem Extrem ins andere, sind reizbar und empfindlich, namentlich inbezug auf ihre Person und ihre Interessen. Auch bei ihnen finden höhberwertige Gefühle im Innern keine Resonanz, sie haben ein grosses Selbstgefühl, glauben Alles ver- stehen zu können, bringen aber nie etwas Rechtes fertig. Ihre ganze Lebens- führung hat, wie ein französischer Irrenarzt sagt, einen Hang zum Verkehrten, zum instinktiv Nichtsnutzigen. Bei dieser Form haben sich auf dem Boden der

98 angebornen geistigen Schwäche noch einzelne krankhaft geartete Geisteszustände entwickelt, so dass zum Schwachsinn noch eine Verschrobenheit hinzukommt. Ausser diesen beiden Arten wird noch ein moralischer Schwachsinn, die moral insanity beschrieben, bei dem ein völliger Mangel an Gemüt, an moralischen und ethischen Eigenschaften bei intakter Intelligenz besteht. Er kann wegen seiner schlimmen Krankheitserscheinungen für die Hilfsschule nicht in Frage kommen. Als Ursachen der Idiotie und Imbecillität werden in 70 Prozent aller Fälle erbliche Belastung durch Geisteskrankheiten oder durch Trunksucht der Vorfahren angegeben; in zweiter Reihe kommen Schädlichkeiten, denen das kind- liche Gehirn während der Geburt ausgesetzt ist. Nach der Geburt können Infektionskrankheiten, Hirnentzündung usw. die Schuld tragen. Das Wesen des Schwachsinns als eines abgelaufenen Krankheitsprozesses bringt es mit sich, dass er im medizinischen Sinne nicht geheilt werden kann. Die ärztliche Tbätigkeit beschränkt sich auf die Behandlung störender, körperlicher Krankheitserscheinungen und namentlich auf die Vorbeugung solcher Zustände durch Aufklärung. Die psychische Therapie fällt der Pädagogik zu.

Direktor Kölle-Regensberg bemerkt, er habe den Eindruck, dass die Aerzte viel nach Sollier's Buch sprechen und schreiben, er hege daher gegen die Einteilung Bedenken. E

Hilfsschulleiter Hanke- Görlitz. Wir als Pädagogen sollen nicht den Schwerpunkt auf das System legen, sondern die Bildsamkeit des Kindes in erster Linie berück- sichtigen. Die Bildsamkeit des Kindes bleibt für uns der Ausgangspunkt. Darum meine ich, ist es selbstverständlich, dass die Hilfsschullehrer und die Anstaltserzieher Hand in Hand gehen. Wir arbeiten nur für verschiedene Verhältnisse, da wo wir eine gute Familienerziehung merken, wollen wir darauf dringen, dass das Kind darin erhalten bleib. Die Fehler im Kinde sind nicht bloss Steine im Wege, an die man stossen kann, sondern etwas Gesetzmässiges, und dieser Gesetzmässigkeit müssen wir nachgehen. Unter den Ursachen des Schwachsinns müssen wir die erbliche Belastung etwas vorsichtiger ansehen. Es ist für Eltern ausserordentlich deprimierend, sich sagen zu müssen: du bist die Ursache für den Schwachsinn deines Kindes.

Professor Dr. Stumpf- Würzburg weist auf die hohe Bedeutung der Personal- bücher, wie sie in der Hilfsschule geführt werden müssen, für den Gerichtsarzt hin. _

Schulrat Dr. Boodstein-Elberfeld hat Anlass gefunden, die Polizeibehörden zu ersuchen, ihm von jedem Falle einer strafrechtlichen Übertretung seitens eines Schul- kindes regelmässig Anzeige zu erstatten. Diese Anzeigen erweckten in ihm die Über- zeugung, dass es sich wirklich um soziale Produkte handle, welche in ausserordentlich unliebsamer Weise zu Tage treten. Er richtete an seine Lehrerschaft die Aufforderung über solche pathologischen Fälle genau Buch zu führen. Nach mancher Richtung kann durch genaue Kenntnis eines Kindes vorgebeugt werden, damit nicht erst nach grau- samer und das ganze Lebensglück vernichtender Weise eine Heilung oder Schadlos- machung erfolgt.

Oberlehrer, Landtagsabgeordneter Schubert- Augsburg. In Bayern besteht seit Jahren die Einrichtung, dass die Verwaltungen beauftragt werden, wenn Minderjährige in Untersuchung gezogen sind, die Schulbehörden und Pfarrämter gutachtlich ein-

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zuvernehmen sind. Diese Einrichtung hat schon in vielen Fällen ihr Gutes gethan. Ein Mangel liegt seines Frrachtens in den Lehrerbildungsanstalten. Es ist notwendig, dass der Unterricht in Pädagogik nach der pathologischen Seite erweitert wird. Man muss den jungen Leuten die Mittel in die Hand geben, dass, wenn sie hinausgehen, sie auch ein Urteil über die Seelen der ihnen anvertrauten Kinder abgeben können. Es ist kein Vorwurf gegen die Lehrerbildungsanstalten, den Redner macht, aber ein Mangel, der gehoben werden muss. Es muss zu diesem Unterricht in der Pathologie zu dem Pädagogen auch ein tüchtiger erfahrener Arzt hinzutreten.

Geheimer Oberregierungsrat Brandi - Berlin erwähnt das neue Fürsorgeerziehungs- gesetz, nach welchem nicht mehr wie früher ein Kind untergebracht wird, wenn es erst ein Vergehen begangen hat, sondern wenn es gefährdet ist durch die Erziehung im Hause. Zur Ausführung des Fürsorge-Gesetzes haben die sämtlichen beteiligten Abteilungen des Ministeriums allgemeine Verfügungen und Ausführangsbestimmungen erlassen. Weiter wünscht Redner, dass wir unsere Schulen als Schulen für Schwach- befähigte mit dem möglichst unverfänglichen Namen Hilfsschule weiter bezeichnen, und nicht von Schwachsinn sprechen; die Eltern sträuben sich dagegen ihr Kind einer Schule anzuvertrauen, von der sie sagen, hier ist ein kleiner Makel.

Beratung über die dem Il. Verbandstage vom Hauptlehrer Kielhorn-Braunschweig vorge- legten Leitsätze A bis E iber die Organisation der Hilfsschule,

An Stelle des erkrankten Referenten übernimmt das Vorstandsmitglied Bock-Braunschweig das Referat. Die Leitsätze werden in folgender Fassung angenommen:

A. Der Name, Hilfsschule (für schwachbefähigte Kinder).

B. Allgemeines.

1. Die Hilfsschule ist als öffentliche selbständige Schule anzuerkennen. Nebenklassen, welche die schwachbefähigten Kinder zum weiteren Be- suche der Volks- bezw. Bürgerschule vorbereiten sollen sowie Nach- hilfeabteilungen, in denen die schwachbefähigten Kinder nur in einzelnen Fächern unterwiesen werden können die Hiltsschule nicht ersetzen.

2. Dem entsprechend gelten für sie die Schulgesetze und die Schulordnung, unter welchen die Volks- bezw. Bürgerschulen des betreffenden Ortes stehen. Nötigenfalls sind für sie besondere Verordnungen zu erlassen.

3. Es sind gesetzliche Bestimmungen erforderlich, um Kinder, welche zur Aufnahme in die Hilfsschule bestimmt sind, aus den Volks- bezw. Bürgerschulen überweisen zu können.

C. Das Schülermaterial. Die Hilfsschule ist für diejenigen Kinder bestimmt, die derart geistig geschwächt sind, dass sie an dem Unterrichte in einer Volks- bezw. Bürgerschule nicht mit Erfolg teilnehmen können. Abzuweisen sind:

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. Kinder, die an Schwachsinn höheren Grades, sowie an Blödsinn leiden;

2. blinde und taubstumme Kinder, sowie schwerhörige, wenn die Schwer- hörigkeit 8o gross ist, dass sie an dem Unterrichte für hörende Kinder nicht teilnehmen können;

. epileptische Kinder;

4. geistig normale Kinder, welche wegen ungünstiger Schulverhältnisse, wegen mangelhaften Schulbesuches oder wegen Krankheit in der Aus- bildung zurück geblieben sind und solche, welche nur in einzelnen Unterrichtsfächern schwach sind;

ö. sittlich verkommene Kinder.

D. Die Aufnahme.

1. Die Aufnahme in die Hilfsschule geschieht in der Regel erst nach einem ` ein- bis zweijährigen Besuche einer Volks- bezw. Bürgerschule.

2. Die Aufnahme vollziehlt ein Prüfungsausschuss, bestehend aus einem Schulaufsichtsbeamten, einem psychiatrisch gebildeten Arzte bezw. dem Schularzte und dem Leiter der Hilfsschule.

3. Die Aufnahmeprüfung findet vor Beginn des Schuljahres, die Aufnahme in der Regel nur bei Beginn desselben statt.

4. Die Einwilligung der Eltern (bezw. deren Vertreter) zur Überführung der Kinder in die Hilfsschule ist thunlichst auf gütlichem Wege zu erlangen.

5. Solche Kinder, über welche bei der Aufnahmeprüfung das Urteil schwankend ist, ob sie schwachbefähigt oder höheren Grades schwachsinnig sind, sind zur Begutachtung in die Hilfsschule aufzunehmen.

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E. Die Entlassung.

1. Die Entlassung der Kinder aus der Hilfsschule geschieht in der Regel den Landesgesetzen gemäss nach Beendigung der Schulpflicht. Doch können Kinder auf Wunsch der Eltern über die gesetzliche Schulpflicht hinaus die Schule besuchen.

2. Kinder, die sich in der Hilfsschule ausserordentlich entwickelt haben, können in die Volks- bezw. Bürgerschule zurück versetzt werden, wenn sie noch mehrere Schuljahre vor sich haben.

Die Bestimmung des nächsten Tagungsortes wurde nicht vor- genommen, da Anträge und Einladungen nicht vorlagen. Sie wird dem Vor- stande des Verbandes überlassen.

Der Vorsitzende gab sodann ein Schreiben des erkrankten Schulrats Bauer- Augsburg bekannt, auf dessen Anregung der Verband eigentlich in Augsburg tagte und dem gestern vom Vorstande eine Depesche geschickt worden war. Von auswärts waren Telegramme mit besten Wünschen für gedeihliche Beratungen

eingegangen von Frenzel-Stolp, Dr. Kallenberger-Wien, Sanitätsrat Dr. Berk- han und Kielhorn-Braunschweig und Schenk-Breslau.

Der erste Vorsitzende Dr. Wehrhahn giebt der Genugthuung Ausdruck, dass die Verhandlungen gut verlaufen sind und wir mit grossen Hoffnungen der Zukunft entgegensehen können, spricht den üblichen Dank aus und schliesst die Verhandlungen mit dem Wunsche auf ein frohes Wiedersehen.

Auf Aufforderung des Schulrat Kuhlgatz-Kiel giebt die Versammlung dem ersten Vorsitzenden für die vorzügliche Leitung der Verhandlungen durch Erheben von den Sitzen ibren Dank kund. Schluss 1?/, Uhr nachmittags.

Das nachmittags 2 Uhr im Hotel „drei Mohren“ veranstaltete Festmahl vereinigte eine grosse Anzahl der Teilnehmer des Verbandstages und wurde durch die üblichen Toaste belebt. Nachmittags 5 Uhr fand eine gemeinsame Besichtigung der Schwäbisch permanenten Schulausstellung in den Räumlichkeiten der ehemaligen Jesuitenkaserne statt. In einem Saale wurden während dieser Zeit drei Vorträge gehalten. Es referierten Rektor Müller- Zeitz über seinen Rechenapparat, Fuhrmann-Breslau über die Rechtschreib- fibel von Missalek und Busch- Magdeburg über den Gindlerschen Lese- und Rechtschreiblehrapparat, Verlag „Fibula“ Gross-Lichterfelde b. Berlin. Da letzt- genannter Apparat ein wirklich empfehlenswertes Lehrmittel für die Hilfsschule ist, bringen wir das Referat des Lehrers Busch in kurzen Zügen wieder: Der Apparat besteht aus fünf beweglichen Kästchen, in welchen sich das gesamte, methodisch geordnete Buchstabenmaterial befindet. In Kasten I befinden sich Vorsilben und Konsonanten (deutsch und lateinisch), in Kasten II Anlaute und Anlautverbindungen, in Kasten III Inlaute und Inlautverbindungen, in Kasten IV Auslaute und Auslautverbindungen, in Kasten V Endsilben. Die Vorzüge des Apparates sind kurz folgende: 1. Die Handhabung ist praktisch, einfach und leicht. 2. Die Anordnung der Buchstaben ist übersichtlich. 3. Die Schrift ist deutlich und schön. 4. Mit grosser Schnelligkeit können Laute, Silben und Wörter dargestellt und verändert werden. 5. Die Übungen können sehr reich- haltig gestaltet werden. 6. Der Lehrer hat die Kinder stets im Auge und die- selben sehen nur, was sie sehen sollen. Dadurch wird immer eine gute Disziplin aufrecht erhalten und die Aufmerksamkeit ist grösser und länger andauernd. 7. Die Wörter können mit Leichtigkeit in ihre Grundbestandteile zerlegt und aus denselben wieder aufgebaut werden. 8. Der Apparat ist unabhängig von jeder Lehrmethode, kann ohne und neben jeder Fibel benutzt werden. 9. Einen nicht zu unterschätzenden Vorteil bringt der Apparat dadurch, dass, während alle Kinder mit Interesse arbeiten, der Lehrer sich schweigend verhalten und seine Lunge schonen kann.

Am Abend fand zu Ehren der Gäste im „Schiessgraben“ eine von der Augsburger Liedertafel geleitete Feier statt, die den Teilnehmern nach der harten Tagesarbeit Erholung bot. Lebhafteste Zustimmung fand eine von Instituts- lehrer Hans Nagel-Augsburg vorgetragene eigene Dichtung, die wir zum Schlusse unseres Berichtes anfügen wollen.

102 E

Am Freitag, den 12. April wurden die Teilnehmer des Verbandstages teils zu Rundgängen durch die altebrwürdige Augusta Vindelicorum, teils zu Besuchen der Anstalten in Göggingen und Ursberg vereinigt.

Nach dem vom Ortsausschusse herausgegebenen „Verzeichnis der Teil- nehmer“ wurde der Verbandstag von 157 auswärtigen und 205 einheimischen, insgesamt also 362 Teilnehmern besucht. Es waren vertreten das K. preussische Kultusministerium durch Geheimen ÖOberregierungsrat Brandi-Berlin, das K.sächsische Kultusministerium durch den Bezirksschulinspektor Dr. Lange- Dresden, das K. bayrische Kultusministerium durch den Regierungspräsident Excellenz von Lermann und den Regierungsrat Lindig, zugleich als Vertreter der K. Regierung von Schwaben und Neuburg, die K. englische Re- gierung durch den Generalschulinspektor und Universitätsprofessor Dr. Eichholz- London, die Unterrichtsverwaltung in Schweden durch den Universitäts- professor Dr. Hellström-Stockholm.

Zum Grusse! Dichtung von Hans Nagel- Augsburg. Ein Ostergruss ist jubelnd jüngst erklungen: Das Licht des Heils, der Seele Morgenrot Hat schön und leuchtend sich emporgeschwungen, Den Sieg verkündend über Nacht und Tod.

O Osterzeit, welch liebliches Entfalten Verleihst du rings der schlummernden Natur! Der zartbesprosste Hain verrät dein Walten; Es kündet’s uns die lichtbegrünte Flur.

Und jeder Blütenkeim in weiter Runde, Und jeder Bach, der neu beginnt den Lauf, Und jedes Körnlein, das da schläft im Grunde, Vernimmt den Ostergruss: Wacht auf! Wacht auf!

* k *

Wach auf! Wach auf! Entfalte dich und blühe! So tönt’s auch über jede Wiege hin, In der, noch unberührt von Sorg’ und Mühe, Ein Kindlein schläft mit unschuldsvollem Sinn.

Und siehe da! Der Ruf ist nicht vergebens; Die wunderbaren Kräfte werden wach; Die jungen Keime eines neuen Lebens Entrollen sich zu Blüten allgemach.

103

Des Kindes Seele schliesst mit tausend Thoren Dem Lenz sich auf, der flutend in sie fällt; Es strebt der Geist mit tausend Wurzelporen In sich zu saugen eine ganze Welt.

* * *

Doch ach, wie in des Frühlings holden Tagen Gar mancher Keim verfehlt sein schönes Ziel, Weil ihn vielleicht ein später Frost geschlagen, Weil nächtlich ihn vielleicht ein Reif befiel.

So sehn wir auch gar manche Menschenbläte Verkümmert, ach, am Lebensbaume stehn, So müssen wir mit trauerndem Gemüte Manch jungen Geist im Keim vernichtet sehn.

O arme Eltern, die ihr mit Erbeben Die niederschmetternde Entdeckung macht, Dass euer Liebstes, was euch Gott gegeben, Mit schwachen Sinnen die Natur bedacht!

Ihr drückt es in den Arm mit leisem Klagen, Von bittrem Weh ist eure Brust beschwert. Dem schönen Elterntraum müsst ihr entsagen, Der euch des Kindes Zukunft froh verklärt.

Und du, o armes Kind, was musst du leiden! Wieviel entbehrst du darch dein hart Geschick! Die Lernenden mit Hohn und Spott dich meiden; Die Spielonden, sie stossen dich zurück.

Dir ward versagt das göttliche Vermögen, Zu halten fest, was in dein Innres fällt. Dein schwacher Sinn nimmt spärlich nur entgegen Bewusste Kunde von der geist’gen Welt.

So gehst du ohne wahre Menschenwürde Durchs Leben hin mit blödem Angesicht, Zur Last den Deinen und dir selbst zur Bürde: Du bist bejammernswert und weisst es nicht.

* k $

Doch eben da, wo Leid und Not am grössten, Sucht Menschenliebe ihren stillen Pfad.

Der fromme Trieb, zu lindern und zu trösten, Bei edlen Männern wuchs er auf zur That.

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Sie mühen sich mit liebendem Erbarmen, Mit stillem Fleiss und ohne Sueht nach Ruhm, Zu euch, die Ärmsten uller Armen,

Zu wecken ein gesundes Menschentum.

Sie öffnen euch die Seele, sie geleiten Euch mit Geduld ins Reich des Wissens ein, Sie lehren beten euch, das Böse meiden Und in dem Guten klar und fest zu sein.

Damit ihr ferner nicht, der Welt zur Bürde, Vom kargen Mitleid eure Notdurft stillt, Nein, dass auch ihr fortan die Menschenwürde Entfalten könnt als Gottes Ebenbild.

* $ *

Jhr edlen Männer, die ihr diesem Werke Die ganze Kraft, die ganze Liebe weiht, Euch gebe Gott Geduld und Seelenstärke, Dass euer schönes Wirken schön gedeiht!

Euch schmückt das Höchste, was ich rühmend preise, Die echte Menschenliebe klar und rein, Die treu sich müht im still bescheidnen Kreise Mit Hilf’ und Trost dem Unglück nah zu sein.

So ruht nun aus von arbeitsschweren Tagen! Nehmt hin den Dank, der aus uns allen spricht! Lasst's euch beim Klang der Lieder wohlbehagen Im Vollgefühl der treu erfüllten Pflicht!

Zur Osterzeit habt ihr das Werk begonnen, Das euch berief zu segensreichem Thun. O mög’ ein Strahl der lichten Ostersonnen Für immerdar auf eurem Wirken ruhn.

Denn der, der einst mit namenlosen Wehen Für uns am Kreuz vergoss sein heilig Blut, Der nimmt es an, als wär's Ihm selbst geschehen, Was ihr an den Geringsten Gutes thut.

„Durch Nacht zum Licht!“ so klang voll Kraft und Leben Der Ostergruss jüngst in die Welt hinein. „Durch Nacht zum Licht!“ das ist auch euer Streben, Und euer Wirken wird gesegnet sein.

en,

Ein Pionier auf dem Gebiete der Fürsorge für Schwach- sinnige: J. Landenberger.

Von K. Kölle-Regensberg. (Fortsetzung.)

Wenn wir uns also vor Augen halten, auf welchem religiösen Standpunkte Landenberger war, wie er zweitens in seine Arbeit von einem Mediziner ein- geführt wurde und sie später in dessen Sinn weiter führte und wie er drittens fortwährend das Wesen der Idioten erforschte, sie ganz nach ihren geistigen Anlagen behandelte und demgemäss nach einer klaren Unterrichtsmethode strebte, dann werden wir die grossen Vorzüge seiner Arbeit begreifen lernen und ihn auch verstehen, wenn wir hie und da auf Anschauungen treffen, die wir nicht teilen können. Er giebt nie darüber Auskunft, auf welchem psychologischen Boden er steht, aber er zeigt deutlich, dass er nicht Herbartoianero war, sondern noch ganz die Wolfsche Ansicht über die Seelenvermögen teilte, wie dies damals fast noch allgemein gebräuchlich war und noch heutzutage häufig ge- funden wird. Und gerade diese strenge Durchführung einer Aufstellung der Vermögen der Intelligenz des Willens und Gemütes (wie er sich ausdrückt) müssen wir ernstlich bedauern, denn sie führte ihn auf Abwege, von denen man nun doch glücklich zurückgekommen ist. Diese Annahme ist es auch, die ihn in der Ansicht bestärkte, dass religiöse Sprüche direkt auf das Gemütsleben des Idioten einzuwirken vermögen, und dass dadurch die Intelligenz gehoben werde. Es war dies eine Verkenuung der elementarsten psychischen Thatsachen, wie sie eben in den Anschauungen der damaligen Zeit begründet war. Praktisch war diese Anschauung von keinen nachteiligen Folgen für die Zöglinge, weil Landenberger durch die Pflege des Gemütes und des Willens, nie die Pflege der Intelligenz versäumte. Ja, diese Theorie hatte geradezu den Vorteil, dass alle Seiten des Geisteslebens viel eingehender Berücksichtigung fanden, als es jetzt der Fall ist.

Wie sein Schwager Dr. Müller zur Erforschung des Kretinismus die Schweiz und sein eigenes Heimatland bereiste, namentlich auch Dr. Guggenbübl auf dem Abendberg besuchte, an dessen Arbeiten er dann eine eingehende Kritik übte, so besuchte Landenberger auch die Idiotenanstalten Deutschlands und Hollands, um sich in seinen Arbeiten nicht zu isolieren. Die Einrichtung der Anstalt Winterbach— Stetten war denn auch von Anfang an bis ins kleinste eine zweckmässige, und sie zeigte, dass ein Arzt, dem die Pflege der Zöglinge ebenso wichtig war wie der Unterricht und die Erziehung, sie ins Leben rief. Landenberger spricht sich über die Einrichtung der Anstalt im 21. Bericht vom Jahre 1869 folgenderweise aus:

„Aus dem Gebiete der Erziehung möchten wir den Segen der bei uns schon lang bestehenden Einrichtung, dass wir unsere Zöglinge in kleinere Kreise oder Gruppen (6—-12, im Notfalle bei bessern Kindern bis 15 Pflegbefohlene enthaltend) geteilt haben, rähmend erwähnen. Ein solcher Kreis stebt unter einer Aufsichts- oder Wartperson, hat abgesonderte Wohn- und Schlafräume, wobei aber Tisch- und Haus- andacht allen gemeinsam bleibt und die Schule ihre selbständige Einteilung hat.

Durch diese Einrichtung sind wir in den Stand gesetzt, jedes Kind und jeden Kranken nach Alter, Geschlecht, Geistesstufe, Bildungsstand, Krankheitsform, überhaupt nach seiner Individualität unterzubringen, genau zu beobachten, zu berücksichtigen und zu behandeln, und zu dem Glück und der oft bewunderten Fröhlichkeit unserer Kinder giebt diese Einrichtung einen wesentlichen Beitrag. Insbesondere wird dadurch täglich der Beweis geliefert, dass ein Kind in dem Kreise am besten gedeiht, dessen Glieder seinem Geisteszustand am nächsten stehen, so dass z. B. die Versetzung eines Kindes in einen andern Kreis unter Umständen notwendig und von den wohlthätigsten Folgen begleitet sein kann. Hierdurch wird das so weit verbreitete Vorurteil, das übrigens weder durch Gründe noch durch Erfahrung gestützt wird, als ob für Schwachsinnige der Umgang mit geistesgesunden Kindern nützlich, mit Unglücksgenossen dagegen nachteilig wäre, gründlich widerlegt. Es werden uns jährlich viele schwache Kinder zugeführt, welche unter dem Einfluss normaler Kinder, oft der eigenen Geschwister, sehr gelitten haben, wie auch umgekehrt die Geschwister unter ihnen; nie aber erfahren wir, dass schwachsinnige Kinder vom Umgang mit geistesgesunden Nutzen gehabt haben.“

Dass bei dieser sorgfältigen Pflege und Erziehung ein verhältnismässig grosses Personal nötig war, versteht sich von selbst, so führt der 15. Bericht an, dass sich 63 Zöglinge, 35 Knaben und 28 Mädchen, in der Anstalt befinden, denen ausser dem ärztlichen Vorstande 17 Personen ihre Kräfte widmen, nämlich die Hauseltern (der Hausvater zugleich Hauptlehrer), 4 weitere Lehrer, 1 Industrie- lehrer, 3 Oberwärterinnen, wovon eine sich zugleich am Schulunterricht beteiligt, 3 Unterwärterinnen, 1 Köchin, 2 Mägde, 1 Haushaltungsgehilfinae. Es war also bei dieser Anstalt schon in den fünfziger Jahren die Ansicht vertreten, gegenüber ähnlichen Anstalten der Gegenwart, dass am Personal nicht gespart werden dürfe.

Bei der Neuaufnahme eines Kindes wurde dies immer sorgfältig durch den Arzt und den Inspektor untersucht, dann in die passende Familie und Schul- klasse eingereiht. Die gymnastischen Übungen, Spaziergänge, Waschungen sollten den Körper kräftigen und das psychische Leben wecken.

Bei dieser fortwährenden individuellen Behandlung der schwachen Zöglinge ist es nicht zu verwundern, wenn recht befriedigende Erfolge sich zeigten und wenn Landenberger mit jedem Jahr tiefer eindrang in das Verständnis des Idiotismus.

So schreibt er im Jahre 1860, im 12. Bericht der Anstalt über die Ursachen des Schwachsinns:

„Die Erkrankung des Geistes kann nicht bloß in Cirkulationsstörungen, die einer Besserung und Heilung fähig sind (anämische Zustände mit partiellen Hyperämien), sondern in unheilbaren organischen Veränderungen des Gehirns gegründet sein, infolge- dessen entweder die Depression des Gehirns oder die durch Reizzustände desselben gesetzte Aufregung so gross ist, dass alle Bemühungen des Arztes und des Lehrers, die kranke Seele frei zu machen und zu sammeln, vergeblich sind.“

So bemühte er sich stets Ursache und Wesen des Idiotismus zu er- gründen und er schliesst sich dabei eng an seinen Schwager an, mit dem er im Jahre 1859 den 11. Bericht der Anstalt herausgab. Dr. Müller fügte

107

diesem Bericht einen Anhang bei, in dem er sich über das Muskelleben schwach- und blödsinniger Kinder äusserte:

„Das psychisch und geistig normal organisierte und begabte Kind ist munter, hüpft und springt und giebt in allen seinen gelenkigen und berechneten Bewegungen kund, dass ein freies geistiges Wesen in ihm regiert und thätig. ist, welches alle körperlichen Systeme durchdringt, also, dass sie ihm gehorchen müssen. Ganz anders ist es beim schwach- und blödsinnigen Kinde. Dasselbe ist mehr oder weniger träge, mag sich oft nicht rühren, ist ungeschickt in allen seinen Bewegungen, kann oft nicht einmal einen Griffel oder eine Feder halten, geschweige regieren, seine Finger sind teils zu schlaff, teils zu steif in den Gelenken. Es ist ungeschickt und tappelig in seinem ganzen Thun und Wesen. Bei andern derartigen Kindern ist es eine wider- natürliche Hast, ein planloses Bewegen des ganzen Körpers oder einzelner Partien desselben. Woher solches? Die Psyche ist gebunden und kann sich nur durch ein mangelhaft organisiertes oder krankes Gehirn und Nervenmasse zur Äusserung bringen; das Nerven- und Blutleben der Kinder liegt darnieder, daher auch alle diese Kinder von einer Schwäche im Muskelsystem heimgesucht sind. Der gesamte Einfluss des Geistes, beziehungsweise des Blut- und Nervenlebens auf das Muskelleben zeigt sich aber auf verschiedene Weise.

Schon bei meinen früheren amtlichen Untersuchungen des Kretinismus in der Schweiz und in einem grossen Teile von Württemberg machte ich häufig, zumal in eigentlichen Kretinenorten, die Beobachtung, dass die Bevölkerung einer ganzen Gegend oder eines ganzen Ortes oder nur gewisser Distrikte in einem Orte mehr oder weniger an der Krankheit, welche man Kretinismus heisst, Anteil nimmt, auch dann, wenn viele oder wenige unter ihnen streng genommen nicht unter die Klasse der Kretinen zu rechnen waren. Der Menschenschlag solcher Orte oder Gegenden ist ich möchte sagen ein auf einer niedern Bildungsstufe stehen gebliebener, ein unentwickelter, daher auch die unästhetische Form, die sich gewöhnlich. aufdrückt, und welche auf den ersten Blick auffällt; denn die Psyche hat infolge ungünstiger somatischer Gestaltungen und Einflüsse sich nicht zur Geltung bringen können.

Will man aber auch von letzterem absehen, so begegnen dem beobachtenden Auge doch gewisse körperliche Gebrechen, welche man in gesunden, kretinenfreien Gegenden weit seltener, oder vielleicht nur ausnahmsweise antrift. Teil an diesem Gebrechen hat offenbar das eigentümliche, krankhafte Muskelleben, welches sich mehr oder weniger bei allen diesen Individuen kund giebt. Um dies darzuthun, könnten leicht aus der Nähe und Ferne Data beigebracht werden, allein wir halten uns zunächst an die Thatsachen, welche unsere Heilanstalt im Verlaufe von 11 Jahren an die Hand giebt; geben wir solche auch nur in statistischer Form, ohne Interesse und Wert dürften sie gleichwohl nicht sein. Mit Inbegriff der anwesenden Kinder waren in unserer Anstalt bis jetzt 216 Kinder, davon litten 180 an Muskelschwächen höheren Grades mit verschiedenen Missbildungen; 86 waren frei von Missbildungen, litten aber gleichwohl an Schwäche der Muskeln.*

Besonders interessant ist, wie Landenberger von den einfachen idiotischen Kindern die kranksinnigen unterschied. Er bezeichnete damit denselben Zustand, für den Koch später den Namen psychopathische Minderwertigkeit aufbrachte.

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So schreibt er im 12. Bericht vom Jahre 1860:

„Solche von uns kranksinnig genannten Kinder können wohl dieses und jenes lernen, kommen aber aus der Albernheit, der Stumpfheit, der Gebundenheit nicht heraus, erheben sich nie zur Vernünftigkeit. Bei dreien war schon vor ihrem Eintritt in unsere Anstalt der Höhepunkt ihres Seelenlebens überstiegen. Insbesondere sind es die Hirn- armen, bei denen die Entwicklung oft sehr bald stille steht, physiologisch darin be- gründet, dass bei ihnen die Schädelnähte viel früher sich schliessen, ja in einzelnen Fällen schon verknöchert zur Welt kommen, wodurch selbstverständlich das Wachstum des Gehirns gehemmt wird.“

Diese Ansicht über die Verwachsung der Schädelnähte, was eine,Verknöcherung des Schädels und dadurch eine Verhinderung des Wachstums des Gehirns zur Folge habe, findet sich bis in die neueste Zeit. Bekannt sind die Operationen, vermittelst deren die Schädel geöffnet wurden, um das Gehirn ungehindert sich ausdehnen zu lassen, wie sie in Anstalten und Spitälern vorgenommen wurden. Kräpelin nennt diese Operationen zwecklos, da ja das Gehirn das Wachstum des Schädels, nicht umgekehrt der Schädel das Wachstum des Gehirns bestimme.

Im 13. Bericht heisst es: |

„Immer sind die Fälle, wo das Gemüt stumpf oder krankhaft erregt, der Wille infolgedessen unfrei, abnorm ist, von ungünstiger Bedeutung, während für reine Schwäche ohne krankhafte Beimischung stets erhebliche Besserung in Aussicht steht.“

„Von den eigentlich Blödsinnigen, deren Wille nur Triebwille ist, unter- scheiden wir die Kranksinnigen, nämlich Gemütsstumpfe, Alberne, Aufgeregte, mit Willensabnormitäten Behaftete u. s. w., bei welchen sich die Willkür zwar entwickelt hat, es aber nicht zum vernünftigen Leben kommt, endlich die Schwachsinnigen, welche wirklich Vernunft und Willensfreiheit haben, aber in geringerem Grade, als der geistig gesunde Mensch.“

Stets legt er grossen Wert darauf, das eigentliche Wesen des ldiotismus zu erkennen. So schreibt er im gleichen Bericht:

„Um den Blödsinn richtig zu erkennen und zu behandeln, genügt es nicht zu wissen, es sei eben der niederste Grad von Intelligenz, es muss der eigentümliche Stand der Erkenntnis des Blödsinns genauer erforscht und bestimmt werden, um das passende Verfahren einschlagen zu können. Auch der Blödsinnige hat Erkenntnisse, zeigt nach gewissen Richtungen bisweilen einen feinen Instinkt, beobachtet, macht Erfahrungen, erweitert also unter Umständen in der That den Umfang seiner Kennt- nisse und Fähigkeiten, ohne jedoch dadurch notwendig in den Stand gesetzt zu werden, von der Stufe des Blödsinns auf die nächst höhere Stufe des Seelenlebens zu steigen. Was den Blödsinnigen charakterisiert, ist das, dass seine Seele, wie die Tierseele, nur ein blindes Triebleben führt und nur für das Sinn hat, was in Beziehung zu den sie beherrschenden Trieben steht, hiervon aber ganz so in Beschlag genommen ist, dass sie sich selbst fremd bleibt, nicht in sich zurückkehrt, ja von ihrem eigenen Leibe nur so wenig Notiz nimmt, als sie von organischen Gefühlen, von Trieben und Drängen dazu genötigt ist. Hieraus geht mit Notwendigkeit hervor, dass der Blöd- sinnige seinen Körper, der ja nicht Gegenstand seines Erkennens ist, auch nicht be- herrschen, nicht willkürlich bewegen kann. Alle Bewegungen des Blödsinnigen, welche

den Schein der willkürlichen Verfügung haben, sind nur mechanische, instinktartige der Seele von Drängen und Trieben aufgenötigte.e Ein kurzes Experiment wird dies ins Licht setzen. Man mache einem Blödsinnigen irgend eine Bewegung oder Stellung des Körpers oder der Gelenke vor, die er vielleicht soeben aus Veranlassung irgend eines Triebes ganz zweckmässig ausgeführt hat; er wird etwa Aufmerksamkeit schenken, in Aufregung geraten, aber nicht dazu kommen, sie nachzuahmen.

Giebt es nun einen Weg, auf dem der Blödsinnige veranlasst werden kann, in sich einzukebren, zunächst seiner leiblichen Persönlichkeit bewusst zu werden, und so seinen Körper beherrschen, willkürlich bewegen zu lernen? Entschieden kann es nur derselbe Weg sinnlicher Eindrücke sein, auf dem das geistig gesunde Kind aus dem Dunkel des Gemeingefühls, aus der Dämmerung eines blossen Weltbewusstseins und eines Trieblebens an das Licht des selbstbewussten Lebens und des freien Willens gelangt. Während aber beim gesunden Kinde die gewöhnlichen absichtlichen und zu- fälligen Einwirkungen und Sinneseindrücke genügen, um ein selbstbewusstes Leben zu begründen, so müssen beim Blödsiunigen die erweckenden und anregenden Sinnes- eindrücke planmässig und konsequent gemacht werden, um bei der apathischen Form des Blödsinns die Seele aus ihrer Stumpfheit und Lethargie wach zu rufen, bei der eretischen Form sie aus dem Wirbel ihrer Vorstellungen und Dränge zum ruhigen Erkennen und Thun zu sammeln. Es kann sich in erster Linie nicht um einen ge- wöhnlichen Anschauungsunterricht handeln, sondern man muss, anschliessend an die Neigungen oder Triebe des Blöden, ihn zu Bewegungen veranlassen, die geeignet sind, ihn einerseits mit den Dingen der Aussenwelt in mannigfache Berührung zu bringen, andererseits aber seine eigene leibliche Persönlichkeit seinem Bewusstsein eindrücklich zu machen, seinen Willen zu unterwerfen. Entschieden hat der Muskelsinn, der ung über die Lage und Thätigkeit unserer ‘Glieder Rechenschaft giebt, nebst dem Tastsinn einen grösseren Anteil an der Genesis des Selbstbewusstseins, als gewöhnlich bedacht wird. Während Geruch und Geschmack zur Entwicklung der Intelligenz nur in ent- fernter Beziehung stehen und in dieser Hinsicht kaum eine grössere Dignität haben dürften, als das Gemeingefühl, dem sie in etwas verwandt sind, Gesicht und Gehör aber, sofern sie die Gegenstände als ganz ausser uns darstellen, ohne in Auge und Ohr irgend eine durch sie gesetzte Veränderung merkbar werden zu lassen, den Charakter reiner Objektivität haben, somit zwar für die Anlage von Vorstellungen das haupt- sächlichste Material liefern, dagegen aber wenig sich eignen, den Leib zum Gefühl und Bewusstsein zu bringen; so werden durch den Muskel- und Tastsinn beide Zwecke erfüllt, sofern diese Sinne die Objekte ausser uns und zugleich die durch sie gesetzten Veränderungen des eigenen Leibes zum Gefühl bringen, also den Blick der Seele zu- gleich nach Aussen und Innen richten und den Willen zur Thätigkeit anregen.“

Die Eigentümlichkeit der Anschauung Landenbergers über den Schwach- sinn zeigt sich noch in seinem letzten Bericht vom Jahre 1876. Er steht bis zuletzt auf dem Standpunkt, die Seelenvermögen von einander zu trennen. Er sagt dort: |

»„o . . Bestände nun die Schwachsinnigkeit bloss in Schwäche der Erkenntnis, so müsste dieses Mädchen geheilt sein; denn es hat die Anstaltsschule mit gutem Erfolg durchlaufen und sich mehr Kenntnisse gesammelt, als manche gleichaltrige Geistes-

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gesunde; allein bei der Schwachsinnigkeit ist nicht nur Erkenntnis, sondern auch das Gemüt und namentlich der Wille beteiligt, und so hat auch dieses Mädchen die Schwach- sinnigkeit noch nicht völlig abgelegt und wird wohl geistig nie ganz selbständig werden. ...

Im 14. Bericht teilt er seine Ansicht über die psychische Entwicklung der Schwachsinnigen mit:

„Es dürfte hier die Bemerkung nicht überflüssig sein, dass die Vernünftigkeit, deren spätere Entwicklung und Ausbildung allerdings an des Menschen eigene Thätigkeit gebunden ist, in ihren Anfängen sich beim Kinde mit Naturnotwendigkeit einstellt, wenn die innere Bedingung, d. h. ein gesundes Gehirn als Geistesorgan sich zur äusseren Bedingung, dem Umgang mit Menschen, gesellt. Wo aber das Organ des Geistes krank ist, da kann ein solches Kind wohl Fortschritte in dieser oder jener Richtung machen, ja durch manche Leistungen, z. B. im Gebiete des Zahlsinnes, Ton- sinnes, Wortsinnes etc. wirklich excellieren, ohne dass es dadurch der Vernunft näher käme Es liegt aber in der Natur der Sache, dass menschliche Macht und Kunst die Vernunft, diese Gabe Gottes, da nicht wecken kann, wo sie nicht gegeben ist. Nach unserer Beobachtung ist die psychische Bedingung und Grundlage des Vernänftig- seins die Entwicklung des höheren Gemütes, die physische ein gesundes Organ des höheren Fühlens, mag dieses nun in einem besonderen Gehirnteile gesucht oder das Fühlen als Funktion des Gehirns überhaupt angesehen werden.“

Bei seiner mühevollen Arbeit ruft er im 23, Bericht vom Jahre 1871 aus:

„Ein kleines Resultat,“ wird man sagen und wir bethätigen es, fügen aber bei: „ein Resultat von ernster Mühe und Geduld und redlicher Arbeit. Doch ist die Be- wahrung, wenn auch nur einer Menschenseele vor dem Versinken in die Nacht des Blödsinns schon ein wertvolles, schönes Werk, und der Einfluss unserer Bemühung auf Erziehung von Gemüt, Gesinnung und Willen der Kranken ist doch nicht ganz vergebens.“ (Fortsetzung folgt.)

Mitteilungen.

Berlin. (Ministerieller Erlass) Dem Vorstande der Vereinigung für das Idiotenwesen, Herrn Erziehungsinspektor Piper-Dalldorf, ging unter dem 25. März folgendes Schreiben zu: „Dem Vorstande erwidern wir auf die gefälligen Eingaben vom November und 15. Dezember v. J. ergebenst, dass die besonderen Verbältnisse der Anstalten für jugendliche Idioten und Epileptiker in der bevorstehenden Erweiterung der Anweisung über die Aufnahme von Geisteskranken etc. in Privatanstalten in einem besonderen Abschnitte genügende Berücksichtigung finden werden. Zugleich habe ich, der mitunterzeichnete Minister der geistlichen etc. Angelegenheiten, durch Erlass vom heutigen Tage die Regierungs-Präsidenten mit Anweisung versehen, dass sie die pädagogischen Verhältnisse derjenigen Idiotenanstalten, in welchen ein geordneter Schul- unterricht erteilt wird, durch die schultechnischen Organe der Regierung überwachen lassen. Der Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten Studt.

Der Minister des Innern. In Vertretung: Bischoffshausen.“

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Gotha. (Herzogin-Marien-Stiftung.) Vor kurzem wurde unsere Idioten- anstalt von Sr. Durchlaucht dem Herrn Regierungsverweser besucht. In seiner Be- gleitung befanden sich der Herr Staatsminister Hentig, der Flügeladjutant von Wangenheim, Geh. Staatsrat Schmidt und noch einige andere Herren. Alle Räume der Anstalt wurden einer eingehenden Besichtigung unterzogen und als nach jeder Seite hin der Neuzeit und dem bestimmten Zwecke entsprechend gefunden. In leutseligster Weise unterhielt sich der Herr Regierungsverweser mit jedem einzelnen des Anstaltspersonals, hier die Arbeiten und Einrichtungen lobend, dort zum weiteren Ausharren in dem schweren Amte der Idiotenpflege ermunternd.. Ganz besonderes Interesse brachte er der Schulabteilung entgegen, und ein grusses Vergnügen bereitete ihm eine auf seinen Wunsch abgehaltene Unterrichtsstunde.e Am Schlusge derselben sprach er dem Lehrer seinen besonderen Dank und seine Anerkennung für dessen bisherige Thätigkeit aus. In der darauffolgenden Unterredung wurden sodann ver- schiedene Fragen der Idiotenbehandlung u. s. w. eingehend besprochen.

Litteratur.

Rechenbuch in 4 Heften von J. Giese, Hauptlehrer in Magdeburg und F. Loeper, Rektor in Barmen. Preis eines jeden Heftes 25 Pfg. Zu beziehen durch Hauptlehrer Giese, Magdeburg.

Nach den Vorbemerkungen in Heft 1 ist das BRechenbuch für den Unterricht bei schwachbefähigten Kindern bestimmt. Es behandelt Heft 1 den Zahlenraum 1—20, Heft 2 Addition und Subtraktion im Zahlenraum 1—100, Heft 3 Multiplikation und Division im Zahlenraum 1—100, Heft 4 den Zahlenraum 1—1000. Heft 4 ist noch nicht erschienen. Was zunächst das Äussere des Rechenbuches anbelangt, so ist der dauerhafte Einband und der grosse klare Druck auf gutem Papiere rühmend hervorzuheben. Die Anordnung des Übungsstoffes schreitet lückenlos fort, Übungs- beispiele sind in grosser Reichhaltigkeit und Mannigfaltigkeit aufgenommen. Die Aufgaben mit benannten Zahlen werden von Heft 2 an fleissig benutzt und zwar werden die amtlich vorgeschriebenen Abkürzungen in ausgiebigem Masse durch öfteren Gebrauch den Kindern vertraut gemacht. Da die Klassen für Schwachbefähigte im Rechnen meist mehrere Abteilungen aufweisen, der Lehrer sich aber naturgemäss nicht mit allen zugleich abgeben kann, so müssen die einzelnen Abteilungen abwechselnd schriftlich arbeiten, und da bietet das vorliegende Rechenwerk in seinen Heften ge- nügend Übungsstoff zur stillen Beschäftigung. Unser Endurteil geht dahin, dass die Verfasser mit Herausgabe dieser Hefte den Lernmitteln der Hilfsschule einen schätzens- werten Beitrag geliefert haben. Wir empfehlen allen Kollegen an schwachsinnigen Schulen seien es Anstalts- oder Hilfsschulen die Einführung der Hefte. W.

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Zur Beachtung.

Herr Pastor Stritter, Direktor der Alsterdorfer Anstalten, bittet die Leiter derjenigen Anstalten, welche die Fragebogen noch nicht zurückgesandt

haben, diese umgehend an ihn gelangen zu lassen.

Falls einzelne Anstalten

übersehen sein sollten, ıst Herr Pastor Stritter bereit, auf Wunsch der Herren

Anstaltsleiter die Fragebogen sofort zu senden.

Aufruf.

Der schleswig - holsteinische „Verein zur Bekämpfung von Sprachstörungen unter der Schuljugend‘“. hat in seiner letzten General- versammlung beschlossen, durch Erweiterung der bestehenden Organisation einen „Deutschen Verein z. B. v. Spr. u. d. Soh.“, sowie ein entsprechendes periodisch erscheinendes Ver- einsorgan zum Austausch über praktische Fragen dcs Heilunterrichts ins Leben zu rufen. Die für diese Sache sich interessierenden Kollegen werden gebeten, ihre Adresse einem der Unterzeichneten einsenden zu wollen.

Der Vorstand des schlesw.-holst. Vereins z. B. v. Spr. u. d. Sch.

Lehrer Godtfring-Kiel, Rektor Struve-Preetz, Lehrer Voss. H. Kaack und Tempke in Kiel. Lehrer Dobers-Posen, Lehrer Frenzel-Stolp, i. P., Lehrer Harbeck-Hamburg, Taubstummen- lehrer Huschens-Trier, Rektor Königs - Köln, Rektor Lotz-Elberfeld, Lehrer Mutke-Breslau, Lehrer P. Paulsen-Flensburg, Lehrer Rogge- Königsberg i. Pr., Lehrer Scharr-Magdeburg, Lehrer Stolze-Bremen, Hauptlehrer Straoker- ahn-L,übeck, Lehrer Thiel- Breslau. Rektor olgt- Charlottenburg, Lehrer M. Weniger- Schwelm i. Westf., Lehrer Wiehr-Altona. Anmeldungen von Lesern dieser Zeitschrift werden unter der Adresse des mitunterzeich- neten Lehrer Fr. Frenzel-Stolp i. Pom. erbeten.

Piper (Dalldorf).

Erzieher

(Christ) wird gesucht für einen in Ent- wicklung etwas zurückgebliebenen nervös ver- anlagten l5jährigen Knaben in einem Städtchen bei Brünn. Pädagogische Vorbildung und Erfahrung namentlich im Unterrichte geistig zurückgebliebener Kinder notwendig. Unter- richtsgegenstände erstrecken sich auf jene der Volksschule bis zu einzelnen der Bürgerschule. Der Posten steht für mehrere Jahre (5 und darüber) in Aussicht. Honorar anfangs 100 Kronen, nach zweimonatlichem Befähi- gungsnachweise 200 Kronen monatlich nebst vollkommen freier Station.

Anträge zu richten an Dr. K. Franz, Wien VIII B. Schlösselgasse Nr. 22.

Sanatorium passend,

prachtvoller Besitz in Thüringen, incl. Hötel und Inventar, für 200 Mille Mk. zu ver- kaufen, event. Tausch gegen Zinshaus. Guthaben 70 Mille Mk. Näheres

Rob. Rein,

Friedenau bei Berlin.

Briefkasten.

G. S. i. R.

teilung gebracht wurde, hörten wir schon von anderer Seite. K.

Dass unsere Zeitschrift in Augsburg nicht in der erbetenen Weise zur Ver-

M. i. L. In nächster Nr.

hoffen wir mit Sicherheit das Programm der Konferenz bringen zu können. K. R. l. L. H. i. D. Mit Dank erhalten. F. Sch. i. B. Auch wir hofften, der Bericht über die Dresdner Schule für P N E würde bald Nachfolger finden, bis heute aber war unser Warten

ein vergebliches. C. F. i. K.

werden wird, wer kann das wissen? Wir hoffen es aber und zwar umsomebr, als

Ob uns der offizielle Bericht über den Verbandstag zugeschickt

ie Zeit-

schrift dem Verbandstage ja auch gefällig gewesen ist.

i Haa =R EEE

Inhalt: Bericht über den III. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands. (M, Weniger.)

Ein Pionier auf dem Gebiete der Fürsorge.

(K. Kölle.) Mitteilungen: Berlin, Gotha.

Litteratur: Rechenbuch in 4 Heften. Zur Beachtung und Anzeigen. Briefkasten.

Für die Schriftleitun Kommissinons-Verlag von

verantwortlich: W. Schröter in Dresden. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden,

Druck von Johannes Pässler in Dresden.

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2 PUBLIC L.BRA:, T b | Nr. 7 u. 8. ritoen Founpations. | XVIL I) Jahrg. ® & Zeitsehrift für die

Behandlung schwachsinniger und Fpilepüscher.

Organ der Konferenz Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Spezialarzt Dresden -Strehlen, für Nervenkrankheiten Residenzstrasse 27. in Stuttgart. Erscheint jährlich in 12 Nummern von | Zu beziehen durch alle Buchhandlungen mindestens einem Bogen. Anzeigen für J li 1901 und Postämter, wie auch direkt von der die gespaltene Petitzeile 25 Pfg. Litte- un ° Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark,

rarische Beilagen 6 Mark. einzelne Nummer 50 Pfg.

Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

X. Konferenz für das Idiotenwesen und die Schulen für schwachsinnige Kinder am 17. bis 20. September 1901 in Elberfeld.

Programm.

I. Dienstag, den 17. September, abends 7 Uhr Vorversammlung in der Stadthalle, Speisesaal.

Begrüssung durch den Vorsitzenden der IX. Konferenz, Bericht über das verflossene Triennium, Rechnungslegung und Entlastung des Rechners, Wahl des Präsidiums für die X. Konferenz.

Bemerkung. Mitgliederkarten für 6 Mark, Teilnehmerkarten für 2 Mark sind in

demselben Lokale in Empfang zu nehmen. Letztere berechtigen nicht zur Stimmenabgabe, wohl aber erhalten die Teilnehmer einen Konferenzbericht.

II. Mittwoch, den 18. September, von 9 bis 1'!/, Uhr.

Erste Hauptversammlung in dem Kuppelsaale des Rathauses. a) Begrüssung durch die Behörden. b) Vorträge. 91/, bis 104/, Uhr: „Die Idiotenanstalten und die Hilfsschulen, eine Grenzregulierung.* Direktor Barthold- München -Gladbach. 101/, bis 111/, Uhr: „Versuch einer Einteilung der Idioten.“ Direktor Kölle-Regensberg (Schweiz). 11'/, bis 12 Uhr Pause (Frühstück im Ratskeller). Von 12 bis 1 Uhr Nebenversammlungen in demselben Hause a) für die Vertreter der Idiotenanstalten:

Ei

„Die Beschäftigung der Schwachsinnigen.“ Direktor Pastor Bernhard- Stettin - Grünhof. b) für die Vertreter der Hilfsschulen (Zimmer 19 des Rathauses): „Fromme Wünsche für den weiteren Ausbau der Hilfsschulen.“ Schul- rat Dr. Boodstein-Elberfeld.

Von 1 bis 1!/, Uhr: „Übersicht über die Entwicklung und den jetzigen Zustand des Idiotenwesens in Dänemark. Direktor Rolsted-Kopenhagen.

21/, Uhr Festessen in der Stadthalle (Preis 3 Mark ohne Wein). Abends von 8 Uhr ab: Geselliges Zusammensein im grossen Saale der Stadt- halle und bei gutem Wetter im Stadthallengarten. Vorträge des Elberfelder Lehrergesangvereins.

III. Donnerstag, den 19. September, von 9 bis 1!/, Uhr.

Zweite Hauptversammlung in der Stadthalle im roten Saal. a) Vorträge. |

9 bis 10 Uhr: „Die ideale Seite der Idiotenpflege. Direktor Herberich- Gemünden. 10 bis 101/, Uhr: „Über einige besondere Gruppen unter den Idioten.“ Sanitätsrat Dr. Berkhan-Braunschweig. 10%/, bis 111/, Uhr: „Die Anfänge des Schwachsinns“ Direktor Trüper-Jena. 11!/, bis 12 Uhr Pause (Frühstück im Restaurant der Stadthalle.) 12 bis 1 Uhr Nebenversammlungen: a) für die Vertreter der Idiotenanstalten (im Nebensaal). „Die Bestimmungen vom 26. März 1901.“ Direktor Schwenk - Idstein. b) für die Vertreter der Hilfsschulen (im roten Saale). „Wie werden Seminaristen und Lehrer angeleitet zur Arbeit an den Schwachen.“ Hauptlehrer Horrix-Düsseldorf.

Von 1 bis 14/, Uhr: „Der gegenwärtige Stand der Idiotenpflege in Öster- reich.“ Direktor Antensteiner-Biedermannsdorf bei Wien.

Wahl des Versammlungsortes für die XI. Konferenz.

Am Nachmittag: Ausflüge nach Müngsten, den Barmer Anlagen oder durch das Burgholz.

Abends Zusammenkunft im Zoologischen Garten oder im Restaurant der städtischen Hardt-Anlage (Fahrten mit der Schwebebahn nach dem ersteren).

IV. Freitag, den 20. September, Fahrt nach München-Gladbach, Besuch der dortigen Idiotenanstalt Hephata.

(Für diejenigen Damen und Herren, welche von der Fahrt nach München- Gladbach absehen, werden Gelegenheiten geboten werden, die grosse Brücke in Müngsten, das Schloss Burg und die Remscheider Thalsperren unter Führung kennen zu lernen.)

Empfehlenswerte Hötels werden durch den ÖOrtsausschuss nachgewiesen und wolle man seine Wünsche an den Vorsitzenden des Ortsausschusses, Herrn

ur Dr. Boodstein, Beigeordneter und Schulrat zu Elberfeld (Schuldeputation) rechtzeitig richten.

Alle, welche sich für das Idiotenwesen interessieren, die Herren Juristen, Ärzte, Geistlichen, Lehrer etc. werden zur Teilnahme an der Konferenz ergebenst eingeladen.

Es wird gebeten, die Teilnahme dem Vorsitzenden des Vorstandes, Herrn Piper, oder dem Vorsitzenden des Ortsausschusses, Herrn Dr. Boodstein, vorher mitteilen zu wollen.

Der Vorstand der IX. Konferenz.

Direktor Barthold-M. Gladbach, Ehren-Vorsitzender. Erziehungs -Inspektor Piper-Dalldorf, Vorsitzender.

Pfarrer Geiger-Mosbach, stellvertretender Vorsitzender. Sanitätsrat Dr. Berkhan-Braunschweig.

Schuldirektor Richter-Leipzig.

Kreisschulinspektor und Anstalts-Direktor W eichert -Leschnitz.

Der Ortsausschuss.

Für denselben Dr. Boodstein, Beigeordneter und Schulrat.

An den Vorstand der Konferenz zu Elberfeld!

Durch die Vereinigung der Leiter privater Anstalten für Idioten und Epilep- tische wurde im Laufe der letzten Jahre eine Reihe von Bittschriften betreffend die Abänderung der „Anweisung vom 20. September 1895" an die zuständigen Ministerien eingereicht, und es haben bei dieser Gelegenheit die Leiter der be- zeichneten Anstalten einen recht regen Eifer zur Wahrung ihrer diesbezüglichen Interessen an den Tag gelegt. Vielleicht ist es einem jüngeren Lehrer gestattet, die Aufmerksamkeit der Leiter noch auf eine andere Bestimmung zu lenken, die nicht minder die pädagogische Wirksaınkeit der Privatanstalten nachteilig beeinflusst und die darum ein ebenso eifriges Vorgehen der Anstaltsvertreter erforderte. Es handelt sich nämlich um die im preussischen Lehrerbesoldungsgesetz vom 3. März 1897 bestehende Bestimmung über die Anrechnung der Dienstzeit in Privatschulen. Es heisst dort $ 11:

„Für diejenigen Lehrer und Lehrerinnen, die vor ihrem Eintritt in den öffentlichen Volksschuldienst an Privatschulen, in denen nach dem Lehrplan einer Öffentlichen Volksschule unterrichtet wird, voll beschäftigt waren, gelten bei Bemessung der Alterszulagen folgende Vorschriften:

1. Sofern sie sich beim Inkrafttreten dieses Gesetzes bereits im öffentlichen Volksschuldienst befinden, sind ihnen die an derartigen Privatschulen zu- gebrachten Dienstjahre anzurechnen.

2. Sofern sie erst nach Inkrafttreten dieses Gesetzes in den öffentlichen Volks-

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schuldienst übertreten, erlangen sie bis zum Höchstmass von zehn Jahren eine Anrechnung dieser Dienstzeit oder eines Teils derselben soweit, als ein Beitrag von jäbrlich 270 Mark für Lehrer und 120 Mark für Lehrerinnen für diese Zeit an die Alterszulagekasse, in Berlin an die Schulkasse, nach- gezahlt wird. Für die vor dem 1. April 1897 zurückgelegene Zeit er- mässigen sich die vorstehenden Sätze auf ein Dritteil. Die Stadt Berlin ist befugt, bei der Anrechnung jener Dienstzeit über das Höchstmass von 10 Jahren hinauszugehen und auf die Einzahlungen an die Schulkasse ganz oder teilweise zu verzichten.

3. Die Beschäftigung, welche vor den Beginn des 21. Lebensjahrs oder vor die erlangte Befähigung zur Anstellung im öffentlichen Volksschuldienst fällt, bleibt ausser Berechnung.

Der Beschäftigung an einer preussischen Privatschule im Sinne des ersten Absatzes steht gleich, wenn ein Lehrer oder eine Lehrerin, sei es als Lehrer oder Lehrerin, sei es als Er- zieher oder Erzieherin an einer privaten Taubstummen-, Blinden-, Idioten-, Waisen-, Rettungs- oder ähnlichen Anstalt beschäftigt ist. Die auf Grund der vorstehenden Bestimmungen erfolgte Anrechnung ist auch für den Anspruch auf Ruhegehalt massgebend.“

Durch diese Bestimmungen ist den Lehrern, die nach dem Inkrafttreten des Gesetzes (1. April 1897) in dem Dienst der Privatanstalten verblieben, der Austritt aus denselben resp. der Eintritt in den öffentlichen Volksschuldienst in einer Weise erschwert, dass sie sich nur in den allerseltensten Fällen zu einem solchen werden entschliessen können. Denn es ist für einen Lehrer, zumal für einen solchen an Privat-Idiotenanstalten, die zum weitaus grössten Teil auf öffentlicher Wohlthätigkeit beruhen und schon aus diesem Grund keine allzu glänzenden Gehaltsverhältnisse einführen können, gewiss nichts Leichtes, eine Summe an eine staatliche Kasse einzuzahlen, die bis zu 2700 Mark reichen kann und zwar nur deshalb, um sich damit ein Recht zu erkaufen, das bei seinen Kollegen im öffentlichen Schuldienst als etwas ganz Selbstverständliches an- gesehen wird. Andererseits dürfte sich in Preussen auch kaum mehr ein Lehrer finden, der geneigt wäre, unter diesen Umständen eine Stelle zu übernehmen, die im Gegensatz zu einer Öffentlichen Anstellung mit solch handgreiflichen Nachteilen verbunden ist. Wundern muss man sich nur, wie die Folgen, welche gerade aus der letzten Thatsache den geordneten Schulorganismen unserer Idioten- anstalten erwachsen müssen, sich den Anstaltsleitern bis jetzt in so geringem Masse fühlbar machten, dass sie sich seit dem Inkrafttreten des Lehrerbesoldungs- gesetzes noch nicht zu einem entsprechenden Vorgehen veranlasst sahen. Es wäre sicher interessant zu erfahren, woher die preussischen Idiotenanstalten, die laut der statistischen Zusammenstellungen teilweise recht ausgebaute, mehr- klassige Schuleinrichtungen besitzen, in den letzten Jahren ihr Lehrerpersonal herbezogen haben. Aus Preussen sicher nicht oder nur in einzelnen Fällen, wo vielleicht der eintretende (meist junge) Lehrer sich über die Bedeutung eines solchen Schrittes nicht völlig im klaren gewesen ist. In welcher Weise sorgen

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die Anstalten aber dann für geeignete Lehrkräfte?*)

Soviel von einzelnen Anstalten bekannt ist, sind es häufig Nichtpreussen (namentlich Württemberger), die sich auf freiwerdende Stellen melden und bei denen die Frage der Anrechnung der Dienstjahre insofern wegfällt, als (wie z. B. in Württemberg) die Jahre vor dem 25. Lebensjahr für ihre Heimat bei der dortigen Gehaltsregelung überhaupt belanglos sind. Aber schliesslich sehen sich diese genötigt, nach wenigen Jahren die Anstalten wieder zu verlassen, wenn sie sich in ihrer Heimat nicht denselben Nachteilen aussetzen wollen, wie sie das preussische Lehrerbesoldungsgesetz den preussischen Lehrern an Privat- anstalten auferlegt.

Dadurch entsteht nun den Anstalten, die für den Unterricht ihrer Zöglinge mehrerer Lehrer bedürfen, ein fortdauernder Wechsel des Lehrpersonals, der einem steten und planmässigen Erziehungsgeschäft auf keinen Fall zum Vorteil gereichen kann. Denn einerseits erfordert es in unsern Klassen immer sehr lange Zeit und viele sorgfältige Beobachtung, bis sich ein neuer Lehrer mit den geistigen, gemütlichen und sittlichen Anlagen, Eigenarten und besonderen Ge- wohnheiten seiner schwachsinnigen Kinder soweit vertraut gemacht hat, dass er mit Erfolg in die individuelle Behandlung derselben eingreifen kann, und anderer- seits spielt wohl auf keinem andern Gebiet der Pädagogik die durch jahrelange Erfahrungen erzielte praktische Tüchtigkeit eine so wichtige Rolle, wie gerade beim Unterricht und bei der Erziehung geistig abnormer Kinder. Jedenfalls kann in einer Anstalt kaum von einer zielbewussten, harmonischen Erziehungs- arbeit geredet werden, wenn dieselbe zum grössten Teil in den Händen von jüngeren, kaum dem Seminar entlassenen Schulkandidaten liegt, die alle 2—3 Jahre wieder ihre Stellung wechseln.

Das haben auch einzelne der pädagogischen Anstanltsleiter schon lange ein- gesehen und deshalb darauf hingearbeitet, durch Erhöhung der Gehälter und durch Sicherstellung der Pension im Einverständnis mit ihren betreffenden Vor- ständen ihren Anstalten ein dauerndes Lehrpersonal zu erhalten. Allein so sehr dieses Entgegenkommen der Anstalten ihren Lehrern gegenüber anzuerkennen ist, so kann es doch nicht alle Bedenken beseitigen. Ein Beispiel möge dies

*) Im Interesse unserer Anstalten ist zu hoffen, dass heutzutage jene Fälle immer seltener werden, da die Anstaltsleiter die Erziehungsarbeit an den geistig abnormen Kindern für gering genug achten, um sie solchen Lehrern anzuvertrauen, denen aus irgend einem Grunde eine weitere Anstellung im öffentlichen Schuldienst versagt ist oder welche nie die Berechtigung dazu erlangt haben. Als ob Persönlichkeiten, die von dem öffentlichen Erziehungswesen fern zu halten die Behörde für angezeigt findet, für den Unterricht schwachsinniger Kinder gerade noch gut genug wären! Es wird ja nicht ausgeschlossen sein, dass unter der Zahl dieser Lehrer mitunter Kräfte sind, die sich bei entsprechender Einführung und Überwachung viel- leicht ebenso tüchtig erweisen können, wie mancher ihrer „geprüften“ und in „Amt und Würde“ stehender Kollegen. Jedoch abgesehen davon, dass solche Beispiele immer nur seltene Ausnahmen sein werden, sind es die Anstalten vor allem sich selbst, d. h. dem Ansehen, das ihre heilpädagogische Thätigkeit in den entsprechenden Kreisen geniesst, schuldig, von ihrem Arbeitsfelde solche zweifelhafte Elemente fernzuhalten, durch welche die Anstaltsbestrebungen in Misskredit geraten könnten. Dasselbe gilt auch von den sogenannten Lehrerwärtern, die namentlich früher eine charakteristische Erscheinung in den Idioten-Anstalten waren.

118 zeigen. Angenommen, ein Lehrer hätte sich von einer Privatanstalt definitiv und unter Zusicherung späterer Pension anstellen lassen. Nun treten nach Jahren unvorhergesehene Verhältnisse ein, die dem Lehrer aus irgend welchen Gründen einen längeren Aufenthalt in der Anstalt absolut unmöglich machen.*) Wenn es aber einmal so weit ist, was dann? Jeder im öffentlichen Schuldienst stehende Lehrer kann sich durch eine Versetzung mit einem Schlage aller Un- annehmlichkeiten seiner bisherigen Stellung entziehen; dazu steht ihm nicht nur der ganze preussische Staat offen, sondern er kann sich dabei, wenu ihm das Glück günstig ist, sogar noch eine pekuniäre Verbesserung verschaffen. Nicht so bei dem definitiv angestellten Privatanstaltslehrer. Findet er nicht in einem andern privaten Institut Anstellung, und dies wird wohl für gewöhnlich der Fall sein, da solche Anstalten nur sehr selten ältere Lehrer anstellen, so bleibt ihm nur die Rückkehr in den öffentlichen Schuldienst übrig, und in welch freund- licher Weise da der Lehrer vom preussischen Besoldungsgesetz empfangen wird, haben wir oben gesehen.

Vielleicht genügen diese Zeilen, um zu zeigen, wie sehr eine Änderung jener Bestimmungen des Lehrerbesoldungsgesetzes nicht nur im Interesse der privaten Anstaltslehrer, sondern vor allen Dingen auch im Interesse der Anstalten selbst, d. h. der freien, ungehinderten Entwicklung ihrer Schulorganismen liegt, und dass es darum Pflicht der Anstaltsvorsteher wäre, auf der bevorstehenden Konferenz dieser Frage näher zu treten. |

Zum Schlusse sei es gestattet, hieher noch die gewiss objektiven Aus- führungen einer politischen Tageszeitung zu setzen, welche aus einer Zeit stammen, da das Gesetz noch Vorlage war, und in denen die besprochene Angelegenheit unter mehr allgemeinen Gesichtspunkten beleuchtet wird. Es heisst da: „Wie wohlwollend dieser Passus ($ 11 Schluss) auch erscheinen mag, so ist doch da- mit für alle seminaristisch gebildeten und staatlich geprüften Lehrer an den Privatanstalten, die dem Zweck der innern Mission dienen, nichts erreicht. Seit Jahren empfinden gerade diese Lehrer (denn nur solche sollen nach dem Willen der Regierung an genannten Privatanstalten thätig sein) es als eine Härte, dass sie den direkt dem Staate dienenden Lehrern nicht gleichgestellt werden können Jene Anstalten sind nämlich nicht in dem Sinne privat zu nennen, als ob sie nur rein privaten Zwecken dienten und von Privaten, welche eigenen Gewinn etc. verfolgen, geleitet und unterhalten würden. Im Gegenteil, diese Anstalten, welche von der öffentlichen Wohlthätigkeit gegründet wurden und auch von den kommu- nalen Verbänden häufig unterstützt werden, leisten dem Staat mindestens den- selben Dienst, wie die öffentlichen, da die ihnen übergebenen Zöglinge in den öffentlichen Schulen nicht mehr mit Erfolg unterrichtet und erzogen werden könnten, diese vielmehr in ihrer Wirksamkeit wesentlich hemmen und schädigen

*) Wer das interne Anstaltsleben näher kennt, und wer weiss, wie leicht bei einem solch engen Zusammenleben das politische Gleichgewicht für immer gestört werden kann, der begreift auch, dass es durchaus nicht übertriebene Schwarzseherei ist, wenn man mit solch „unvorhergesehenen Umständen“ ernstlich rechnet, auch wenn man dazu vorläufig nicht die geringste Ursache hat.

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würden. Soll aber den Lehrern, welche an jenen Anstalten mit ausdrücklicher Genehmigung der Regierung in jedem einzelnen Falle und zudem unter den be- sonders schwierigen Verhältnissen im öffentlichen Interesse thätig sind, diese Arbeit nicht als Dienstzeit angerechnet werden, so erwachsen für die Anstalten sowohl, als auch für den Staat daraus bedeutende Nachteile. Es wird in diesem Falle sehr schwer halten, geeignete Kräfte für jene Zwecke zu gewinnen. Die Rettungshäuser etc. würden in ihrer bisherigen, um die menschliche Gesellschaft so sehr verdienstlichen Thätigkeit bedeutend beeinträchtigt, und damit der Staat in seinem eminenten Interesse an einer möglichst guten Heranbildung, Erziehung und Besserung der am meisten sittlich gefährdeten Kinder geschädigt. Wünschens- wert wäre es deshalb, dass den Anstalten, welche nicht unter die öffentlichen gerechnet werden, und deren Lehrer auch seither bei ihrem etwaigen Übertritt an eine Öffentliche Schule häufig die bisherige private Dienstzeit seitens der Regierungen in Anbetracht der Verhältnisse angerechnet bekamen, dieselben bezüglichen Rechte gewährt würden, wie jenen. Dieser Wunsch ist um 30 berechtigter, als ausserpreussische Staaten, wie z. B. Bayern, Würt- temberg, Baden und Hessen längst in diesem Sinne Bestimmungen getroffen haben. Es unterliegt wohl keinem ernsten Bedenken, auch ein- schlägigen, nicht Öffentlichen Anstalten mit Genehmigung der Regierung weiter- gehende Rechte zu gewähren, als sie der neue Gesetzesentwurf gestattet.“

In der Hoffnung, dass sich bei einem gemeinsamen Vorgehen aller Privat- anstalten (auch Waisen-Rettungshäuser etc.) vielleicht doch die ungerechte Härte des $ 11 beseitigen liesse, sei diese Angelegenheit nochmals aufs dringenste der Elberfelder Konferenz zur Beratung empfohlen.

Die Bestrebungen für die Bildung und Erziehung

schwachsinniger Kinder in Italien. Von Karl Richter in Leipzig. „Willst du dich selber erkennen,

so sieh, wie die andern es treiben.“ Schiller. Man pflegt unsere Zeit mit einem gewissen Rechte eine materialistische zu nennen, und es ist nicht zu leugnen, dass infolge der grossartigen Entwickelungen in Industrie, Handel und Verkehr die abgeschlossene Beschaulichkeit früherer Zeit für immer zerstört und der Siun unwillkürlich auf die materielle Seite des Lebens gelenkt worden ist; dass das Hasten und Jagen nach vermehrtem Besitze und Genusse mehr und mehr die Massen ergriffen und ihnen die Behaglichkeit des Daseins, die Zufriedenheit mit ihrem Lose und den Sinn für höhere Interessen verkümmert, ja geraubt hat. Aber neben diesem wachsenden materiellen Zuge der Zeit hat sich auch in gleichem Grade bei den besitzenden Klassen eine Opterwilligkeit und Hiülfsbereitschaft in Fällen eintretender örtlicher oder all- gemeiner Not und Linderung heischenden menschlichen Elendes überhaupt ent- wickelt, wie das kaum in früheren Zeiten je vorgekommen ist. Es genügt da

-nicht bloss, an die neueren Gesetzgebungen zu erinnern, die auf den Schutz der Arbeiter bei ihrer Beschäftigung, zu ihrer Unterstützung in Fällen der Krank- heit oder Erwerbsunfähigkeit abzielen und von staatlicher Seite zur Besserung des Loses der sogenannten „Enterbten“ erlassen worden und von einer aus- eleichenden Gerechtigkeit eingegeben sind, sondern es muss noch viel mehr auf die privaten Veranstaltungen verschiedener Art hingewiesen werden, die, auf das Wohl der heranwachsenden Jugend der ärmeren Volksklassen, namentlich in grösseren Städten, gerichtet, lediglich dem allgemeinen Wohltbätigkeitssinne ihre Entstehung und Unterhaltung verdanken, als da sind die Ferien- und Milch- kolonien für bedürftige und schwächliche Kinder, die Knaben- und Mädchenborte zur Bewahrung der Kinder vor den sittlichen Gefahren des ungezügelten Strassen- lebens u. dgl. m. Nicht minder tritt der Zug erbarmender Liebe da zutage, wo es sich um die Fürsorge für die ärmsten und bedauernswertesten Menschenkinder, wie Sieche, Geisteskranke und Idioten handelt. Mit welchem Aufwande von Mitteln hat man deren trauriges Los nicht freundlicher zu gestalten und in Behandlung, Verpflegung und Unterweisung ihnen ein menschenwürdiges Dasein zu bereiten gesucht als früher! Was insbesondere die Idiotenpflege anbelangt, so ist seit dem weithin klingenden Rufe Dr. Guggenbühls 1840 durch all- mählich wachsende Gründung besonderer Anstalten, die meist auf dem Wege allgemeiner Wohltbätigkeit entstanden, in immer weiteren Kreisen für diese Unglücklichen gesorgt worden, und seit 30 Jahren hat man auch in grösseren, ja sogar in mittleren Städten den schwachsinnigen Kindern, die bis dahin mit normal begabten die gewöhnliche Volksschule besuchen mussten ein Hemmschuh für ihre Klasse, eine Last für den Lehrer, eine Zielscheibe des Spottes ihrer Mitschüler und sich selbst zur Plage durch besondere Ein- richtungen ihren bescheidenen Anlagen entsprechende Förderung zu geben ver- sucht, um sie zu einigermassen brauchbaren Mitgliedern der menschlichen Gesell- schaft zu bilden. So sind in Deutschland und namentlich in Sachsen hier angeregt durch das Schulgesetz von 1874 in immer zahlreicheren, selbst kleineren Städten solche Kinder in besonderen Klassen und Schulen zu einer ihrer Geistesverfassung angemessenen Bildung vereinigt worden, und ihre Zahl wächst von Jahr zu Jahr.

Auch ausserhalb Deutschlands hat man diesem jüngsten Zweige der Erziehungs- thätigkeit eine Stätte zu bereiten angefangen, ja selbst in Ländern, deren ge- samtes Volksschulwesen sich mit dem Stande des deutschen nicht messen kann, hat die Fürsorge für Bildung und Erziehung armer schwachsinniger Kinder begonnen Wurzel zu schlagen. Wir sind imstande, heute über die Bestrebungen zu berichten, die in dem sonnigen, geschichtlich bedeutungsvollen, jeden Reisenden anmutenden und dazu uns politisch bundesfreundlichen Italien nach dieser Seite hin im Gange sind, und wir glauben das Interesse unserer Leser dafür umsomehr voraussetzen zu dürfen, als die Eigenartigkeit dieser Bestrebungen zu einem höchst lehrreichen Vergleiche mit unseren Einrichtungen unwillkürlich herausfordert.

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Die nachfolgenden Darbietungen haben Quellen sehr verschiedener Art zur Grundlage. Zunächst fussen sie auf müudlichen Mitteilungen einer liebens- würdigen Dame aus Rom, Fräulein Le Maire, bei Gelegenheit ihres Besuches unserer Leipziger Hilfsschule im August 1899 über die Asylschule für mittel- lose schwachsinnige Kinder in Rom, an der sie als Vorsteherin thätig ist; Mitteilungen, die durch den mir später von ihr übersandten ersten Halbjahres- bericht des Dr. Sante de Sanctis über diese Schule in ausführlicherer Weise ergänzt wurden. Weitere Nachforschungen wurden angeregt durch einen Artikel des Dr. Zibrie in Turin über „die Geistesschwachen“ in der angesehenen Turmer Zeitung „La Stampa“, auf den ich durch eine redaktionelle Bemerkung zu einem überaus freundlichen Berichte der genannten Dame über die Leipziger Hilfsschule in derselben Zeitung aufmerksam gemacht wurde. Ferner entstammen meines Kenntnisse den Berichten, die mir durch Gegenfragen auf mehrere an mich gerichtete Anfragen, wie des Fräulein Grassi in Rom und des Dr. Bioggi in Mailand zugegangen sind. Endlich gelangte ich zu einer Reihe schätzbarer Nachrichten teils durch briefliche Mitteilungen des Fräulein Le Maire, teils durch die von ihr in überaus zuvorkommender Weise veranlassten Zuschriften und Zusendungen aus Florenz und Turin, wofür ich der für die Bildung der nnglücklichen schwachsinnigen Kinder hochbegeisterten Dame zu ganz besonderem Danke verpflichtet bin.

Ich beginne meinen Bericht mit einem kurzen Auszuge aus dem Artikel des Dr. Zibrio in der Turiner Zeitung „La Stampa“ (die Presse) vom 26. Juli 1899, der die Ueberschrift „I Frenastenici“ (die Geistesschwachen) trägt. Nachdem der Verfasser einen jener Unglücklichen niedrigster Stufe, den er zu beobachten Gelegenheit haite, in seinem Thun und Treiben beschrieben hat, kommt er auf die Unterschiede der geistigen Belastung zu sprechen und unterscheidet drei Haupt- gruppen: 1. die Idioten, die jedes Intellektes entbehren' und bei denen von allen Funktionen des Organismus nur die der Verdauung und Atmung zuütage treten; 2. die Blöden (imbeecilli), die bei eigentümlicher Schädelbildung and anderen Abnormitäten leicht erregbar, leidenschaftlich, jedes inneren Haltes bar ohne geeignete Erziehung und Gewöhnung: als Opfer ihrer Fehler zu grunde gehen; endlich 3. die Langsamen oder Schwachsinnigen (i tardivi 0 poveri di mente), die ebenfalls mit mancherlei körperlichen Eigentümlichkeiten behaftet, doch Individuen von begrenzten intellektuellen Fähigkeiten sind, bei stattfindender Vernachlässigung leicht gefährlich’ und Verbrecher, bei ernster Überwachung und Erziehung aber immerhin ehrenhafte und bürgerlich brauchbare Menschen werden können. An zwei Beispielen zeigt der Verfasser, dass letzteres möglich ist, und erwähnt, wie man mit Rücksicht hierauf in England und der Schweiz die Erziehung der Geistesschwachen gesetzlich vorgesehen und auch in Frankreich, Deutschland, Russland und den Vereinigten Staaten von Amerika „Riesenschritte in der Erziehung der Schwachsinnigen gemacht“ habe. Zuletzt gedenkt er noch der Bestrebungen und Erfolge, die in der gleichen Sache Italien zu ver- zeichnen hat.

Unter denen, die sich mit den Veranstaltungen zum Besten verbrecherisch beanlagter und verwaister Kinder mit ererbten geistigen Defekten beschäftigten, ist der Abt Spagliardi in Mailand zu nennen, der die Errichtung von Reform- häusern für jene Unglücklichen empfahl nach dem Muster der in England blühenden Ragged Schooles (Lumpenschulen), für welche das Mitleid Schüler und Schülerinnen auf der Strasse aufliest ganz verwabrloste oder auch ganz verlassene Kinder, deren Eltern entweder unbekannt oder gestorben sind, und die hier Unterricht und Obdach zugleich finden. Wie man schon hieraus ersieht, waren die gedachten Rettungshäuser gemischte Anstalten für verwaiste, ver- wahrloste, verbrecherisch angelegte, idiotische und andere Kinder, und solcher gemischten Fürsorge haben viele andere: Geistliche, Lehrer, Ärzte, Frauen edler Herkunft das Wort geredet, wie Cattalengo, Don Bosco, Ravaschieri u. a. m. Auch die von Dr. Zibrio erwähnte „Villa Tomassini“ in Rom, mit: etwa 30 Geistesschwachen, 1880 gegründet und von Bonfigli, dem Direktor der Irrenanstalt geleitet, dürfte kaum unter die besonderen Veranstaltungen zu rechnen sein; denn nach Privatmitteilungen aus Rom ist diese Villa nur ein Teil der römischen Irrenanstalt und von dem früheren Besitzer Tomassini sterbend zu dem Zwecke gestiftet worden, dass die bisher in der Irrenanstalt mit unter- gebrachten Idioten ein von den Irren getrenntes Heim erhalten sollten, doch bestehen hier keinerlei besondere Veranstaltungen für Unterricht und Erziehung der Insassen. Der erste, dessen Name, wie Professor Sante de Sanctis in Rom sich äussert,*) mit der ausschliesslichen Fürsorge für schwachsinnige Kinder in Italien unauflöslich verbunden bleibt, war der Professor Gonnelli- Cioni, .ein Lehrer, „der voilständig die Erziehungsfähigkeit schwachsinniger Kinder begriff und mutvoll den rauhen Weg der praktischen Verwirklichung beschritt“ und im Jahre 1888 oder 89 in Chiavari (Ligurien) die erste Schwach- siunigenanstalt gründete und die Schwierigkeiten aller Art überwand. Sie wurde dann nach Vercurago (Bergamo) verlegt, wo sie noch jetzt blüht „dank der Entsagung und der unermüdlichen und intelligenten Arbeit ihres Gründers und seiner edlen Tochter“, wie de Sanctis bemerkt. Es ist eine private Lehr- und Erziehungsanstalt mit Internat, in der nur schwachsinnige Knaben und Mädchen gegen Bezahlung Aufnahme finden und die Dr. Zibrio als zwar be- scheiden, aber als ein wahres Muster ihrer Art bezeichnet. Derselbe Gonnelli wurde 1894--95 vom Minister beauftragt, in Mailand einen Kursus über „Orto- frenia“ (normale Geistesbeschaffenheit) für Lehrer abzuhalten. Ein ähnliches Institut wie Gonnelli gründete Olivero 1892 in Nervi, das „Pädagogium“, das der Professor Morselli leitete, das aber unglücklicherweise ein gar zu kurzes Leben hatte.

Für die weitere Förderung der Sache darf man wie de Sanctis schreibt

*) Es geschieht dies in der „Vita nuova“, einer in Rom erscheinenden halbmonatlichen illustrierten Rundschau, Jahrg. 1, Nr. 9 u 10 vom 1. Oktober 1899. Die ganze Doppel- nummer, die zum Besten der Asylschule in Rom herausgegeben worden ist, handelt von der Erziehung Schwachsinniger, wozu Prof. S. de Sanctis den Leitartikel: „Die Fürsorge für schwachsinnige Kinder. Etwas Geschichtliches‘ geschrieben hat.

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den Einfluss nicht vergessen, den die italienischen Irrenärzte durch Hinweise auf dergleichen Anstalten, durch Anregung der Öffentlichen Wohlthätigkeit zu diesem Zwecke, durch Aufsätze in ihren Zeitschriften und Vorträgen in ihren Versammlungen ausgeübt haben. Auch die Tagespresse hat wiederholt sympatische Artikel dem wohlthätigen Werke gewidmet, und von Fräulein Dr. Montessori sind in verschiedenen Städten über diesen Gegenstand Vorträge gehalten und mit grossem Beifall aufgenommen worden. Ein Rundschreiben, das der Unterrichtsminister Baccelli erliess und in dem er seine Beihilfe zur Lösung des wichtigen Problems zusagte, unterstützte die Bewegung, und nachdem auf dem pädagogischen Kongresse in Turin im September 1898 Fräulein Dr. Mon- tessori auf Veranlassung des Direktors Bonfigli einen Vortrag über die den Idioten zu leistende Hilfe gehalten hatte, schritt Bonfigli Ende des Jahres 1898 zur Gründung eines „Nationalverbandes für den Schutz schwachsinniger Kinder” (Lega nationale per la protezione dei fanciulli deficienti). Unter seinem Vorsitze bildete sich ein vorläufiges Komitee von 22 angesehenen Männern Roms, darunter der mehrmalige Ministerpräsident Graf di Rudini, um für den angegebenen Zweck zu wirken und im ganzen Königreiche Propaganda zu machen. In einem nach allen Seiten hin versandten Aufrufe wurde die traurige Lage der schwach- sinnigen Kinder Italiens, die Möglichkeit und Wichtigkeit ihrer geistigen und sittlichen Erziehung nach dem Vorgange anderer Staaten, sowie der Zweck des Verbandes: die Gründung von medizinisch - pädagogischen Anstalten für die geistige und sittliche Erziehung der Idioten und von Hilfsklassen zu fördern, die mit den elementaren Gemeindeschulen vereinigt dazu dienen sollten, die schwachbegabten Kinder unter strenger Anpassung an die Methoden der gewöhn- lichen Schulen zu unterrichten, in warmen Worten dargelegt und unter Appell an das Nationalgefühl, dass Italien so gut wie nichts dergleichen aufzuweisen habe und diesen traurigen Vorzug in Europa nur mit Spanien und der Türkei teile, zur Mitwirkung bei diesem hilfreichen und bürgerlichen Werke aufgefordert, welches eins der wirksamsten Mittel sozialer Prophylaxis sei, indem es eine Gruppe der Verworfenen versorge.

Mittlerweile hatte man auch die Statuten des Verbandes entworfen, die im März 1899 veröffentlicht und ebenfalls weithin verbreitet wurden. In einem vom 29. März 1899 datierten Begleitschreibeu, das zur Zeichnung von Beiträgen aufforderte, konnte man mit Genugthuung melden, dass der vor kaum zwei Monaten erlassene Aufruf überall das lebhafteste Interesse und die grössten Sympathien gefunden habe, dass Minister, Staatssekretäre, Senatoren, Deputierte, Universitätsprofessoren, Bürgermeister und was es in Italien an hervorragenden Geistern auf dem Felde der Politik und der Wissenschaft überhaupt gäbe, für die schleunige Verwirklichung des Ideales gestimmt hättten, dass in den wich- tigsten italienischen Städten bereits Komitees zur Verbreitung der Idee und zur Unterstützung ihrer Ausführung entstanden und alle hervorragenden Zeitungen mit Begeisterung dafür eingetreten seien. Und in der That bestätigt das ein ebenfalls veröffentlichtes Verzeichnis, das ausser den schon erwähnten 22 Herren des ersten Komitees 18 Damen aus den vornehmsten Häusern Roms als „Förderer“

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und 302 „Anhänger“, Herren und Damen der verschiedensten Gesellschaftsklassen und Stände aus ganz Italien, vom Norden bis zum Süden aufzählt.

Besonderes Interesse haben für uns natürlicherweise die Statuten des Ver- bandes, die in 5 Kapitel zerfallen mit einigen Übergangsbestimmungen am Schlusse.

Das erste Kapitel besagt, dass die nationale Vereinigung „für Erziehung und Unterricht schwachsinniger Kinder“ nach dem Masse ihrer Mittel folgendes anstrebe:

1. in Italien die Einrichtung von besonderen Erziehungsanstalten für schwach- sinnige Kinder auf den wissenschaftlichen Grundlagen der medizinisch-päda- gogischen Methode zu betreiben und anzuregen;

2. in Rom ein grosses nationales medizinisch - pädagogisches Institut zu gründen, wo Kinder von geringer geistiger Befähigung (intellektuell und sittlich idiotische, epileptische) beherbergt werden können, die deshalb für ihre Erziehung ausser einer pädagogischen Methode auch einer besonderen medizinischen Auf- sicht und einer fortgesetzten Überwachung bedürfen, damit sie nicht sich selbst und anderen schädlich werden;

3. möglichst auch Asylklassen für Auswärtige an das erwähnte Institut mit verlängertem Stundenplane anzuschliessen, wo die Schwachsinnigen von besonderen Lehrern erzogen werden und von dem erzieberischen und medizinischen Materiale des Institutes Nutzen ziehen können;

4. die Einrichtung von Hilfsklassen bei den gewöhnlichen Elementarschulen zu betreiben, wo solche Kinder, die an geistiger Begabung nicht allzutief unter dem Normalmasse stehen (ausgeartete [squilibrati], faule, ungezogene) einen Unterricht finden, der ihren Verhältnissen angepasst ist, selbstverständlich auf grund der medizinisch-pädagogischen Methode.

Das zweite Kapitel, das von den Mitgliedern handelt, bestimmt, dass jeder ohne Unterschied des Geschlechtes, der Religion, der politischen Partei, der sozialen Stellung oder der Nationalität Mitglied der Gesellschaft werden kann. Wer in dieselbe eintreten will, muss sein Gesuch von mindestens zwei Mit- gliedern unterstützen lassen, worauf vom Vorstande die Aufnahme beschlossen wird. Die Mitglieder werden unterschieden a) in gewöhnliche Mitglieder, die einen Jahresbeitrag von 12 Lire wenigstens auf 3 Jahre zeichnen; für Lehrer an Elementarschulen wird derselbe auf 6 Lire ermässigt; b) in lebenslängliche Mitglieder, die auf einmal bis zu 200 Lire zeichnen; c) in Patrone, die auf einmal

500 Lire zeichnen. Die noch grössere Summen zeichnen, werden mit be- sonderen Wohlthätigkeitstiteln ausgezeichnet. Wer 100000 Lire stiften sollte, würde dem Institute seinen Namen geben. Als einfache Gönner oder An-

hänger (aderenti) werden diejenigen betrachtet, die einen Beitrag von weniger als 12 Lire (oder bei Elementarlehrern 6 Lire) zahlen, oder die auch bei Zahlung eines höheren Betrages ausdrücklich erklären, dass sie nur ein einfaches Geschenk machen und nicht als Mitglieder betrachtet werden wollen. Die General- versammlung kann auf Vorschlag des Vorstandes solche, die durch ihre Be- mühungen der Gesellschaft besondere Dienste geleistet haben, als besondere

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Wohlthäter erklären. Im übrigen werden noch die Rechte der Mitglieder festgesetzt.

Das dritte Kapitel bestimmt, dass der Verband seinen Sitz in Rom hat, dass sich aber in den Provinzen des Königreiches oder in den auswärtigen italienischen Kolonien Sektionen bilden können, und regelt die Gründung der- selben, ihre Rechte und Verbindlichkeiten und ihr Verhältnis zam Verbande. Das vierte Kapitel handelt vom Vorstande, seinen Mitgliedern, deren Wahl und Amtsdauer etc., das fünfte Kapitel von den ausführenden Kommissionen, und ein Anhang enthält die Übergangsbestimmungen.

So vielversprechend auch nach den obigen Mitteilungen die ersten Anläufe der Lega nationale waren, so gering sind doch im grunde die Erfolge gewesen, die ihren weitausschauenden Plänen zuteil geworden sind. Weder ist es bis jetzt zur Gründung einer grossen nationalen Anstalt in Rom gekommen, noch auch zur Bildung von Sektionen in den wichtigsten Städten Italiens in Ver- bindung mit der Lega. Statt der in Rom geplanten Nationalanstalt hat die Lega im Jahre 1900 eine Art Lehrerseminar gegründet, worin Lehrer und Lehrerinnen mit der Bebandlung Schwachsinniger und der ihnen zu leistenden Hilfe und Förderung bekannt und vertraut gemacht werden sollen. Ausserdem ist seit Anfang dieses Jahres (1901) zwischen der Irrenanstalt in Rom und der Lega ein Übereinkommen getroffen worden, wonoch die erstere ihre Idioten der letzteren unter Gewährung einer entsprechenden Entschädigung zur Erziehung überlässt. Nicht weiter als auf diese beiden Anstalten erstreckt sich gegenwärtig der ganze Einfluss der Lega.

Etwas Gutes hat aber doch die von der Lega ausgegangene Propaganda für Italien gehabt: es haben sich nämlich in verschiedenen Städten, wie Florenz, Turin, Mailand, Reggio (und irre ich nicht auch in Palermo), freilich unabhängig von der Lega, Vereinigungen zur Gründung von Schulen und Pflegstätten für schwachsinnige Kinder gebildet.

Ich beginne mit der Anstalt in Florenz, über die mir ausser einer ge- fälligen brieflichen Mitteilung des Vorstehers der medizinischen (sanitären) Leitung, Herrn Dr. E. Modigliano, Spezialarztes für Kinderkrankheiten, vom 15. Februar d. J. das unterm 31. Mai und 11. Juli 1900 genehmigte Statut nebst Regulativ, sowie eine kürzere, zusammenfassende Veröffentlichung zur Ver- fügung stehen.

Die Anstalt ist im August 1899 unter dem Namen Istituto Toscana pei bambini tardivi (Toskanische Anstalt für geistesschwache Kinder) nahe bei Florenz in der in offenem Lande am Fusse des lachenden Hügels von Vineigliata gelegenen Villa Francois eröffnet und dem Könige zu Ehren Istituto Umberto I. per fanciulli tardivi o nervosi (Anstalt Humbert I. für geistesschwache oder nervöse Kinder) genannt worden. Ihre Organisation ist ähnlich derjenigen der besseren medizinisch-pädagogischen Anstalten, wie man sie in den Hauptstädten anderer europäischer Staaten und insbesondere in der von Vitry-sur-Seine findet, mit allen nötigen Vervollkommnungen, um sich den Gebräuchen und Gewohn-

126 heiten, inmitten deren sie entstanden ist, besser anzupassen. Der Hauptzweck der Anstalt ist, alle jene Kinder, die wegen rückständiger oder mangelbafter intellektueller Entwickelung oder wegen nervöser Zufälle weder in der Familie verpflegt, noch nach den gewöhnlichen Methoden in Gemeinschaft mit normalen Kindern erzogen und unterrichtet werden können, nach besonderen Methoden, die sich den individuellen Bedürfnissen eines jeden Zöglings anpassen, zu pflegen, zu erziehen und zu unterrichten, um sie in physischer und moralischer Beziehung soweit zu bringen, dass sie entweder fähig werden, dem Unterrichte in den gewöhnlichen Schulen zu folgen, oder ein ihren Fähigkeiten entsprechendes Handwerk auszuüben, oder sofern sie wohlhabend sind, in der Familie und Gesellschaft als nicht ganz unfähige, aber doch bescheidene Mitarbeiter am Gemeinwohle zu leben. Die Mängel, deren Besserung man ins Auge fasst, sind Sprachfehler bis zur vollständigen Sprachlosigkeit (Taubstummheit ausgeschlossen), nächtliches Bettnässen, Lähmungen, sofern sie heilbar und nicht mit auffälligen Gebrechen verbunden sind, Hysterie, Tik und andere Symptome von Nerven- störung, unruhiges Wesen und Zerstreutheit.e. Als interne Zöglinge werden aufgenommen Kinder beiderlei Geschlechtes von 4—12 Jahren und als aus- wärtige Kinder von 6—16 Jahren, vorausgesetzt, dass sie für Erziehung und Pflege empfänglich, also bildungsfähig sind, anderenfälls werden sie zurück- gewiesen, oder sobald sich ihre Bildungsunfähigkeit herausstellt, ihren Eltern zurückgegeben. Auch Kinder mit auffallenden Gebrechen werden nicht auf- genommen. Für die Aufnahme wird ausser den nötigen Papieren etc. die Ausfüllung eines vorgedruckten Fragebogens verlangt, die teils von der Familie, teils von dem Hausarzte oder von einem Anstaltsarzte zu erfolgen hat. Die 32 Fragen, die sich auf Personalien und Familienverhältnisse, Charakter, Lebens- und Entwickelungsgeschichte des betreffenden Kindes von der Geburt an etc. beziehen, entsprechen genau den in unseren sächsischen Landesanstalten üblichen Formularen.

Zur Erreichung des Zweckes sollen sich Erziehung und Verpflegung möglichst individuell gestalten. Letztere umfasst auch eine zeitweilige ärztliche Behand- lung durch Arznei, Wassertherapie, Massage, Orthopädie, Elektrotherapie, gelegent- lich auch chirurgische Eingriffe (la chirurgia cerebrale). Erziehung und Unter- richt richten sich auf Besserang des Verhaltens, der Sitten und täglichen Gewohnheiten. Die internen Zöglinge müssen den ganzen Tag über beschäftigt werden. Früh morgens werden sie zunächst über die Art sich zu waschen, anzukleiden etc. unterwiesen, dann frühstücken sie, und später wechseln nach dem aufgestellten Stundenplane Unterrichts- und Erholungsstunden mit einander ab. Es giebt Unterricht in Moral und Religion, Übungen zur Ausbildung der Muskeln und der Sinne, und endlich besonderen Unterricht in den Lehrgegen- ständen der gewöhnlichen Schulen, aber angepasst der natürlichen Fähigkeit des einzelnen Schülers, so dass die Kinder nicht mit Dingen beschäftigt werden, die ihrer Intelligenz unzugänglich und deshalb nutzlos sind. In den Unterrichts- stunden werden nur mehrere, bis zu 5 Zöglingen vereinigt, die nach ihrer ganzen Geistesverfassung und ihren Bedürfnissen zu einander passen. Für Zöglinge von

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grösserer Geschicklichkeit werden auch besondere Stunden in Zeichnen und Ge- sang abgehalten und überhaupt die besonderen natürlichen Anlagen der einzelnen, die man zu erforschen bestrebt ist, zu fördern gesucht. Ein grosser Raum wird im Unterrichte farbigen Wandbildern, stereoskopischen Bildern und Modellen in Karton oder Holz eingeräumt. Der Schulunterricht soll nur wenige Stunden des Tages in einer Zeitdauer von !/,—1 Stunde in Anspruch nehmen, mindestens aber eine Stunde betragen, wonach jedesmal andere Beschäftigungen eintreten die teils der freien, teils der disziplinierten Erholung gewidmet sind: Lauf- übungen, gymnastische Spiele, Geschicklichkeits- und Intelligenzspiele. Zu letzteren zählt man auch die Handarbeiten, die sich auf Arbeiten in Pappe, Holz, Leder, Stroh, plastischbem Thon und Gartenarbeiten erstrecken und zunächst für die Zöglinge der dritten Verpflegungsklasse eingerichtet sind, aber auch denen anderer Klassen auf ausdrücklichen Wunsch der Eltern zur Teilnahme offen stehen. Auch in den Stunden der freien Erholung, der Spaziergänge etc. werden die Kinder von geeigneten Personen überwacht, die sie etwas lehren und von schlechten Gewohnheiten abbringen können. Solche Kinder, deren Umgang den anderen schaden könnte, werden überhaupt abgesondert gehalten, so lange sie sich nicht gebessert haben.

Eine eben bei Erwähnung der Handarbeiten gefallene Bemerkung lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die Einteilung der Zöglinge, deren es drei Klassen giebt. In die dritte Klasse werden Kinder wenig bemittelter Eltern aufgenommen. Für sie ist ein jährliches Verpflegungsgeld von 480 Lire und ausserdem beim Eintritte ein einmaliger Betrag von 100 Lire für die Ausstattung an Kleidern, Wäsche etc. zu entrichten, falls sie diese nicht mitbringen. Je nach den ver- fügbaren Mitteln können ganze oder halbe Freistellen gewährt werden. Für notorisch Arme zahlt die Provinz. Für Kinder bemittelter Eltern giebt es zwei Klassen, die erste zahlt täglich 4, die zweite 3 Lire; beide essen und schlafen für sich, werden besonders beaufsichtigt und Unterricht wie Erziehung ihrer sozialen Stellung möglichst angepasst. Auch als auswärtige haben sie das gleiche Schulgeld zu zahlen, können aber, wenn die Eltern sie bringen und abholen, den ganzen Tag in der Anstalt bleiben; besuchen sie nur die Unterrichtsstunden, so werden sie seitens der Anstalt dazu abgeholt und nach Schluss derselben wieder nach Hause gebracht. Die für alle Klassen reichliche Verpflegung wird je nach den Forderungen der Hygiene in 3—4 Mahlzeiten eingeteilt. Kinder der ersten und zweiten Klasse können täglich zu jeder beliebigen Zeit besucht werden, so- fern keine Bedenken dagegen vorliegen, die der dritten Klasse aber nur Sonntags im Sommer von 3—4, im Winter von 2—3 Uhr. Ferien giebt es nicht, doch können aus Gesundheitsrücksichten Urlaube erteilt werden, die aber einen Monat im Jahre nicht überschreiten dürfen.

Die Anstalt wurde gegründet und wird unterhalten durch die öffentliche Wohlthätigkeit und durch freiwillige Beiträge. Man unterscheidet 3 Klassen von Mitgliedern: 1. grosse Wohlthäter, die wenigstens tausend Lire in Geld oder in Naturalobjekten stiften und deren Name auf einer Marmortafel in der Vorhalle der Anstalt eingegraben werden; 2. lebenslängliche Mitglieder,

Fe.)

die auf einmal 100 Lire zahlen und deren Namen in einem in der Vorhalle ausgehängten Verzeichnisse eingetragen werden, und 3. gewöhnliche Mitglieder, die jährlich mindestens 12 Lire zahlen. Diejenigen grossen Wohlthäter, die mindestens 5000 Lire stiften, baben auf zwei Jahre freies Bestimmungsrecht über ein Bett und geben diesem ihren Namen, und wer mindestens 15000 Lire spendet, hat auf je 5000 Lire über ein Bett (also über drei Betten) zu verfügen, und zwar auf 3 Jabre lang, und ein solches wird für alle Zeiten nach seinem Namen genannt. Auch haben die grossen Wohlthäter das Recht, unter sich 3 Mitglieder in den Verwaltungsrat zu wählen.

Die Anstalt wird durch ein Direktorium von 11 Mitgliedern unter dem Vorsitze des Herzogs Leone Strozzi und seines Stellvertreters des Fürsten Ginori Conti geleitet. Unter ihm stehen das Sanitätspersonal, das aus 5 Ärzten besteht: einem Leiter (Dr. Modigliano), dessen Stellvertreter und einem mit psychiatrischen Kenntnissen ausgestatteten Arzte (unter Umständen auch mehreren), sowie zwei besoldeten Ärzten, von denen der eine Psychiater, der andere Chirurg sein muss; ferner das Lehrerpersonal, das einen mit der Schwachsinnigenerziehung vertrauten Leiter (Prof. P. Parise)*) und zur Zeit eine Lehrerin (je nach der Zahl der Zöglinge aber auch mehrere Lehrer oder Lehrerinnen) umfasst, und das Dienstpersonal, bauptsächlich Frauen, die den Namen Helferinnen (assistenti) führen. Die Aufsicht über letztere, sowie die Leitung des gesamten häuslichen Betriebes ist barmherzigen Schwestern anvertraut, die unter einer Oberin stehen. Ausserdem hat ein Komitee von Damen, die vom Vorsitzenden ernannt werden, die moralische u disziplinelle Überwachung der Anstalt auszuüben. Täglich hat ein Arzt die Anstalt zu besuchen, der Psychiater aber in regelmässigen Zwischenräumen in Begleitung des medizinischen und pädagogischen Leiters, und sein Gutachten sowohl über die sanitären, als über die pädagogischen und disziplinsren Einrichtungen entweder sofort an die be- treffenden Leiter, oder an das Direktorium abzugeben.

Naeh der brieflichen Mitteilung des Herm Dr. Modigliano wurde die Anstalt mit nur 6 Zöglingen eröffnet, deren Zahl aber bald wuchs. Doch sind auch 7 oder 8 schon wieder ausgeschieden, nachdem sich ihr Zustand merklich gebessert hatte. Gegenwärtig zählt sie 25 Zöglinge, 22 im Internate und 3 aus- wärtige, und zwar 18 Knaben und 7 Mädchen. Die Resultate sind sehr er- mutigend gewesen, so dass sie oft die Erwartung übertroffen haben. Die klinischen Fälle sind ungemein verschieden und schwierig.

Eine zweite Anstalt, über die ich zu berichten in der Lage bin, ist die in Turin. Sie besteht seit Oktober 1900 unter dem Namen „Istituto medico-

*) Dr. Zibrio führt in dem oben erwähnten Aufsatze der Turiner „Presse‘‘ eine Schrift des genannten Pietro Parise an: Manuale di ortofrenia (Milano, Ulrico Hoepli 1899), die er mit folgenden Worten charakterisiert: „Es ist eine von jenen Arbeiten, ‚lie man als höchst be- deutend (veramente di polso) bezeichnen kann. Eine lange pädagogische Erfahrung vereinigt sich mit einer umfassenden wissenschaftlichen Kenntnis; der Verfasser ist ein Lehrer, der zum Psychiater geworden ist. Dieses Handbuch ... . wird ein neuer Ehrentitel für den glänzenden Schriftsteller und den hochverdienten Lehrer sein.“

129 pedagogico Torinese pei fanciulli deficienti“ und ist hauptsächlich durch die Be- mühungen des Fräulein Ida Faggiani ins Leben gerufen worden, deren Freund- lichkeit ich ausser einem schätzbaren Handschreiben vom 2. März d. J. auch verschiedene Drucksachen: ein Zirkular und das Statut nebst dem Regulative verdanke. Über die Entstehung der Anstalt schreibt sie zunächst: „Unterstützt von Professor Marro, Direktor der Turiner Irrenanstalt, wurde es mir möglich, ein Komitee aus angesehenen Bürgern zusammenzubringen.*) Nach Überwindung nicht weniger und geringer Schwierigkeiten gelang es mir, in Turin in einem angenehmen und gesunden Lokale die medizinisch -pädagogische Anstalt zu er- öffnen, die erste in Piemont.“**) Dieselbe soll für die physische, moralische und.intellektuelle Entwickelung und Erziehung derjenigen Kinder beiderleiGeschlechts sorgen, die wegen Charakterfehlern oder mangelhafter geistiger Entwickelung nicht im stande sind, von dem nach den gewöhnlichen Methoden erteilten Unter- richte Nutzen zu ziehen; zur Anwendung sollen alle hygienischen und pädago- gischen Mittel kommen, die die moderne Wissenschaft an die Hand giebt. Die Zöglinge sollen in nützlichen Arbeiten unterwiesen werden, um sie möglichst zu befähigen, sich später ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Deshalb werden sie mit landwirtschaftlichen und Gartenarbeiten, mit Obstbau etc. beschäftigt und dazu herangebildet, ebenso zu einfacheren Handarbeiten, die Mädchen insbesondere zu häuslichen Beschäftigungen (Wäsche waschen und plätten, Zimmer reinigen etc.). Alle werden vor der Aufnahme durch den Aufsichtsrat (ärztlich) untersucht und geprüft, diejenigen aber ausgeschlossen, die mit ansteckenden Krankheiten be- haftet oder so geisteskrank sind, dass sie in eine Irrenanstalt gehören. Als Alter für die Aufnahme gilt das 5 —12. Lebensjahr, und die Kinder sollen so lauge in der Anstalt bleiben, bis der Erziehungszweck bei ihnen erreicht ist. Doch werden auch Pensionäre aufgenommen nach Zahlung eines Eintritts- geldes und eines monatlichen Verpflegungsbeitrages. Für sie giebt es ein Iuternat und ein Externat (letzteres jedenfalls als Tagesschule zu denken). Als Interne können Knaben und Mädchen von 5—10 Jahren, als Externe solche von 7—15 Jahren aufgenommen werden. Unterricht und Erziehung wird individuell . gehandhabt, je nach den Bedürfnissen des einzelnen Falles, jedoch auf Grundlage der oben mitgeteilten Normen. Im Internate haben die Pensionäre ein Eintritts-

*) Nach Dr. Zibrio a. a. O. geschah dies im Sommer 1900. Als Ehrenpräsident des Komitees stand an der Spitze der Bürgermeister von Turin, Severino Casana, als wirk- licher Vorsitzender Prof. Dr. Antonio Marro, Direktor der Irrenanstalt in Turin.

**) In dem zur Gründung der Anstalt erlassenen Aufrufe heisst es: „Die menschliche Gesellschaft würde ohne Zweifel von der Erziehungsanstalt die allergrössten Vorteile haben. Vor allen Dingen würde man den öffentlichen Schulen alle diejenigen Kinder entziehen, die, ohne etwas zu lernen, eine fortgesetzte Störung für ihre Mitschüler bilden. Ausserdem würde man dafür sorgen können, die Gesellschaft von solchen gefährlichen Elementen zu befreien, da eg gerade diese Kinder sind, die, wenn sie heranwachsen und ohne Unterricht und Fähigkeit zu selbständiger Arbeit in die Welt hinaustreten, fast immer ihren eigenen Instinkten und der Bosheit anderer zum Opfer fallen, während, wenn sie noch als Kinder vereinigt unterrichtet und erzogen werden mit den Mitteln, die die Wissenschaft an die Hand giebt, sie noch arbeit- same, anständige und tüchtige Menschen werden können.“

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geld von 100 Lire und monatlich 45 Lire, im Externate ein Eintrittsgeld von 50 Lire und monatlich 30 Lire zu zahlen. Gesellschaften, Gemeinden und Provinzialbehörden können gegen Zahlung von 400 Lire jährlich einzelne Plätze belegen, vorausgesetzt, dass die Kinder den für die Aufnahme gestellten all- gemeinen Bedingungen genügen. Private können gegen Zahlung von 10000 Lire ein Bett für alle Zeiten nach ihrem Namen benennen, gegen Zahlung von 500 Lire für ein Jahr.

Die Mittel zur Erhaltung und Verwaltung der Anstalt fliessen teils aus Spenden wohlgesinnter Vereine (Enti morali), teils aus freiwilligen Gaben von Privaten, ferner aus den Beiträgen der Mitglieder und den Verpflegungsgeldern der Pensionäre. Man unterscheidet drei Arten von Mitgliedern: 1. gewöhbn- liche, die sich für 3 Jahre zur Zahlung von jährlich 5 Lire verpflichten, 2. wohlverdiente, die 50 Lire stiften, und 3. Gründer, welchen Titel die- jenigen erhalten, die als „wohlverdiente“ noch vor Ende des Jahres 1900 50 Lire zeichnen, sowie diejenigen, die sich für 3 Jahre zu einem jährlichen Beitrage von 100 Lire verpflichten.

Für die Verwaltung und den Betrieb sorgt ein Verwaltungs- und ein Aufsichtsrat. Ersterer setzt sich ausser dem Vorsitzenden aus 8 Mitgliedern zusammen: 2 Mitgliedern des Stadtrates von Turin, einem Regierungsrate der Provinzialbehörde, einem Mitgliede der städtischen Sparkasse und 5 von der Generalversammlung der Mitglieder gewählten Personen. Der Aufsichtsrat be- steht aus 3 Ärzten und 2 Lehrern; einer der Ärzte wird von der Stadtverwaltung, einer von der Provinzialbehörde, einer vom Verwaltungsrate ernannt; die zwei übrigen Mitglieder werden aus den reiferen (provetti) Lehrern und den Direktoren der städtischen Schulen durch den Gemeinderat gewählt. Der Aufsichtsrat wacht über den didaktischen und hygienischen Fortschritt der Anstalt und hat dem Verwaltungsrate geeignete Vorschläge zu unterbreiten.

Über den Bestand und bisherigen Erfolg der jungen Anstalt berichtet Fräulein Faggiani brieflich noch, dass der Zöglinge noch nicht viele seien (ihre Zahl ist nicht angegeben), aber umso zahlreicher die Aufnabmegesuche, da die Provinz (Piemont) diejenige in Italien sei, die die zahlreichsten solcher Unglücklichen aufweise. Trotz der kurzen Zeit von 4 Monaten seien aber die Erfolge immerhin schon bemerkenswert und in jedem Falle so, dass sie das beste Vertrauen für die Zukunft einflössten. Ganz auffällig sei die Besserung bei einem siebenjährigen höchst nervösen und aufgeregten Knaben, der alles zerrissen habe und kein Geräusch und keinen Ton habe erhören können, aber nach 4 Wochen von jener Unart geheilt sei und ruhig Gesang etc. anhöre, und bei einem siebenjährigen völlig undeutlich sprechenden Mädchen, das nach 3 Monaten sich jedermann sprachlich verständlich zu machen, sowie lesen und schreiben gelernt habe. Auch bei den erst kurze Zeit in die Anstalt auf- genommenen Kindern sei eine gewisse leichte Besserung eingetreten.

Auch in Mailand hat sich nach einer an mich gelangten Anfrage des Herrn Dr. Carlo Bioggi, Presidente della Associazione Milanese pei deficienti,

131 vom 22. Juni 1900 ein Komitee zur Fürsorge für Schwachbefähigte gebildet. Aber auf meine umfänglicheren Gegenfragen bin ich leider ohne Antwort geblieben, und so kann ich nur aus der Fassung jener Anfrage vermuten, dass man es dort nicht bloss auf Gründung einer Anstalt für schwachsinnige Kinder, sondern auch auf Errichtung einer Anstalt zur Unterweisung für Lehrer über Erziehung und Unterricht schwachsinniger Kinder abgesehen habe.

Über Errichtung weiterer Anstalten für schwachsinnige Kinder in anderen Städten Italiens fehlen mir alle sicheren Nachrichten. Dagegen fliessen mir die Quellen reichlicher über eine andere Anstalt, die unabhängig von der Lega nationale entstand und wohl die erste und einzige ihrer Art in Italien ist: die seit Anfang 1899 bestehende „Asylschule für arme schwachsinnige Kinder‘ in Rom. Ile Entstehung verdankt sie hauptsächlich den unausgesetzten Be- mühungen des schon erwähnten Psychiaters Dr. Sante de Sanctis, der wie man mir von Rom aus schreibt „ein wahrer Apostel für die Sache ist," „dem genialen Autor des Buches über die Träume, dem vortrefflichen Redner, dem Menschen von- Herz, der mit einer über alles Lob erhabenen Entsaguug und Zähigkeit der neuen Anstalt eine so praktische und dabei ernst wissenschaftliche Richtung zu geben verstanden hat“ wie Dr. Zibrio in dem erwähnten Artikel den Mann charakterisiert, der auch der Verfasser des mir vorliegenden Halbjahres- berichtes ist.*) Derselbe ist nicht müde geworden, durch Vorträge, die er ge- halten, und durch Abhandlungen, die er verfasst hat, für seine Idee zu wirken und in den besten Kreisen der Gesellschaft dafür zu werben. Den aus 13 Mit- gliedern bestehenden Vorstand der Anstalt bilden denn auch Mitglieder der an- gesehensten Familien, Grafen und Gräfinnen, darunter die Gattin des früheren Ministers Depretis. Das Anstaltspersonal setzt sich ausser dem Dr. Sante de Sanctis für den psychisch-anthropologischen und psychiatrischen Teil und einem Assistenten zusammen aus einem Arzte für die Sprachorgane und einem Lehrer für die Ausbildung derselben, einer Lehrerin für Ausbildung der Sinne, der Be- wegung und des Elementarunterrichtes nebst einer Gehilfin, ferner aus zwei Wärterinnen, einer Vorsteberin und zwei Ärzten (Consulenti ordinari), die ge- legentlich Hilfe leisten.

Über die Gründung der Asylschule berichtet Prof. de Sanctis in dem an- geführten Aufsatze der Vita nuova folgendes: „Es ist gewissermassen ein Mittel- ding zwischen Anstalt und Schule, eine Erziehungsanstalt im weitesten Sinne des Wortes. Die Vorbereitung war sehr langdauernd und schwierig. In der That schien schon seit 1895 die Verwirklichung eines Projektes wichtig, das zwischen mir, Fräulein G. Le Maire und dem Professor G. Sergi besprochen wurde, nämlich die Gründung eines kleinen Versorgungs- und Erziehungshauses für arme schwachsinnige Kinder. Dann aber fehlte uns die erhoffte Beihilfe,

*) Sein vollständiger Titel lautet: Sante de Sanctis, la cura e la educazione dej fanciulli deficienti col sistema degli educatorii. Prima relazione (semestrale) sull’ Asilo-Scuola per fanciulli deficienti di povera condizione, via Tasso 24 Roma. (Roma, Tipografia economica 1899.)

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und das Projekt scheiterte. Unterdessen beschäftigten sich der Dr. Egidi und der Taubstummenlehrer Professor Dr. Bianchi unabhängig von uns mit der Gründung eines Schwachsinnigeninstitutes in Rom, und 1897 oder Anfang 98 waren sie so weit, es in Verbindung mit Professor Gonnelli-Cioni in Vercurago zu eröffnen. Nachdem ich inzwischen 1897 mein Projekt von vor zwei Jahren wieder aufgenommen hatte, wurde es nicht wieder losgelassen, bis sich auf die Anregung einer vornehmen Dame im April 1898 ein (Damen-) Komitee bildete, das sehr rasch Sympathien fand, Geld zusammenbrachte und (Mai bis Juni 1898) beschloss, rasch etwas Praktisches für diese armen Kinder zu thun, die wegen der Stumpfheit ihres Geistes auf keine andere Art Hilfe und Erziehung finden konnten. Mein kleines Projekt einer Asylschule oder Erziehungsanstalt konnte jedoch im Sommer 1898 noch nicht verwirklicht werden, obwobl es der Wunsch von mir, vom Dr. Egidi und Dr. Bianchi gewesen wäre, die sich mit mir zu gemeinsamem Vorgeben vereinigt hatten. Im November aber wurden die letzten Hindernisse überwunden und am 15. Januar 1899 wurde die Asylschule unter dem einstimmigen Beifalle aller Guten eröffnet.“

Der erwähnte Halbjahresbericht über die Schule, der nach mehr als einer Seite hin auch für uns beherzigenswerte Gesichtspuukte darbietet, beginnt mit folgenden Worten:

„Neue Einrichtungen müssen sich, damit sie in gerechter und vernünftiger Weise, d. h. in Rücksicht auf ihren Nutzen für die Einzelnen und die Gesamt- heit beurteilt werden, dem gebildeten Publikum soweit möglich bekannt machen. Es ist nicht wahr, dass jemand, der sich Einrichtungen privater Wohlthätigkeit widmet, nicht moralisch genötigt sei, über seine Arbeit Rechenschaft abzulegen. Über alle und über alles muss das Urteil der Menschen ergehen, die die Not der gegenwärtigen Zeit fühlen. Und das ist heilsam für diejenigen Anstalten, die, wenn sie als nützlich anerkannt sind, geradezu ihren notwendigen Lebens- unterhalt aus den materiellen und moralischen Unterstützungen jener ziehen, die die Sache kennen, und die, weil sie Kenner sind, mit Liebe und Bewusstsein beobachten und urteilen.“

Die Wahrheit dieser Worte haben wir in Leipzig zu erfahren reiche Gelegen- heit gehabt. Wenn auch unsere Schwachsinnigenschule nicht auf privater Wohl- thätigkeit beruhte, sondern eine städtische Anstalt war, so hat sich doch, so- lange wir in der Stille wirkten, ohne nach aussen hin etwas verlauten zu lassen, keine Seele aus der Bürgerschaft um sie gekümmert, und es konnte geschehen, dass noch im Jahre 1889 ein Leipziger Lokalblatt in einem einer Braun- schweigischen Zeitung entlehnten Berichte über die dortige Hilfsschule diese Einrichtung als etwas ganz eigenartiges und neues rühmte und zur Nachahmung empfahl, während duch die gleiche Einrichtung bereits 8 Jahre lang in unmittel- barer Nähe bestand und das Leipziger Adressbuch seit 1882 alljährlich wenigstens von ihrem Dasein Kunde gab. Erst als wir uns seit 1893 zur Veröffentlichung und Verteiluug besonderer Berichte entschlossen, gewannen wir, was wir so not- wendig für unsere armen, bedürftigen Kinder brauchten: teilnehmende und mild- thätige Herzen.

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Der vorliegende Bericht zerfällt in vier Abschnitte: die Erziehungs- anstalt, die wissenschaftliche Organisation, die erzieherische Organi- sation und die ersten Ergebnisse.

Die Erziehungsanstalt. Gegenüber den bisher üblichen zwei Arten der Hilfeleistung für idiotische Kinder verschiedener Grade: der Anstalt, die durch das Irrenhaus vertreten war, und der Spezialschule wollte man eine dritte Art verwirklichen, die Erziehungsanstalt. „Ich glaube im grossen und ganzen —'’ schreibt der Verfasser, „nicht an den Nutzen der einfachen Sonder- schulen (Spezial- oder Nebenklassen, Hilfsklassen und dgl.). Für Schwachsinnige bedarf es physischer und moralischer Erziehung, aber nicht blossen Unterrichtes. Andererseits, welcher Art die Schule auch sei, sie kann nicht erziehend sein, wenn sie sich nicht soviel als möglich der Familie nähert.“ Die Anstalten für Geisteskranke aber, so nützlich sie bei guter Organisation und Leitung auch sind, müssten für eine besondere Art der Idioten aufgespart werden: für die schwersten und die gefährlichen. „Warum der Familie alle in der geistigen Entwickelung zurückgebliebenen oder nervösen Kinder entziehen, um sie in einer Anstalt einzuschliessen, wenn sie nicht schwer krank oder gefährlich sind? Ich verstehe es, es ist vielleicht zu Ehren der alten Tradition vom Internate: aber das Internat als Erziehungsmittel ist absolut zu verdammen. Nur allzusehr gilt, dass es mehr bequem für die Eltern als nützlich für die Kinder ist. Nur solche Kinder, die aus verschiedenen Gründen nicht in der Familie bleiben können, sollten in ein Internat gegeben werden. Daher darf das Internat nur ein Aus- bilfsmittel (rimedio), eine „Medizin“ sein. So denkt der grösste Teil der modernen Pädagogen .... Aber nehmen wir einmal an, dass die geschlossene Anstalt die beste Art der Hilfeleistung für schwachsinnige Kinder wäre: wie will man so viele Anstalten gründen, dass sie die Zahl dieser Unglücklichen fassen können? Nur in Rom giebt es wenigstens 1000 arme schwachsinnige Kinder; dazu würden 10 Anstalten erforderlich sein! Daher kann nur die Erziehungsanstalt (Educatorio) das Problem ernsthaft lösen, sei es vom erzieherischen, sei e3 vom ökonomischen Standpunkte das ist unsere Überzeugung.“

Nachdem der Verfasser im folgenden sowohl der Zustimmungen als der Förderungen des Planes einer „Asylschule nach Art einer Erziehungsanstalt“ gedacht und bemerkt hat, dass sich dieses System auch auf die Fürsorge für jugendliche Hysterische, Epileptische und solche mit (ungefährlichen) Formen von Geistesstörungen Behaftete ausdehnen lassen dürfte, wobei er noch auf die Irrenanstalten in Kolonienform hinweist, wie solche in Altscherbitz bei Schkeuditz (und fügen wir für Sachsef hinzu: in Zschadrass bei Kolditz und Untergöltzsch bei Auerbach i. V.) bestehen, kommt er auf die Asylschule selbst zurück und bekennt, dass sich die theoretische Überzeugung von ihrer Nützlichkeit nach halbjähriger Erfahrung bestätigt habe. Als eines besonderen Übelstandes gedenkt er der häufigen ungerechtfertigten und absichtlichen Schulversäumnisse ein- zelner Schüler, wodurch der intellektuelle und moralische Nutzen der Anstalt für diese Geistesschwachen verzögert werde. Die Ursache liege nicht so sehr bei den Kindern, als in der Nachlässigkeit der Eltern, ihre Kinder in die Asyl-

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schule za hegleiten, da es ihnen nicht passe, „zweimal täglich sich diese Mühe zu machen“, odez „daran zu denken“, oder „bei schlechtem Wetter für den Jungen herumzulaufen“, wie die gewöhnlichen Redensarten lauteten. Solche Väter hätten in Wirklichkeit nur den eigen Wunsch, ihre Kinder los zu werden. Einer habe flebentlich gebeten, ihn „von der Last seines Sohnes“ zu befreien, ein anderer frech verlangt, dass man seinen Sohr „eiusperre“, zwei andere hätten alles mög- liche versucht, ihre armen Kleinen ins Kozrektionshaus zu bringen. Der unaus- gesetzte Kampf mit solcher moralischen Gefükllasigkeit und Herzensverhärtung durch eindringliche Vorstellungen und durch möglichste Erleichterung der elter- lichen Pflichten habe es dahin gebracht, dass nur noch ein Zögling ungerecht- fertigt fehle So hoffe man mit der Zeit zu siegen, und das werde der Sieg der Erziehungsanstalt sein, dass sie beweise, sie erziehe zu gleicher Zeit sowohl die Kinder wie die Eltern.

Seit ihrer Eröffnung hat die Asylschule zahlreiche Verbesserungen erfahren, die sich teils auf die wissenschaftliche, teils auf die erzieherische Organi- sation beziehen.

Die wissenschaftliche Organisation umfasst fünf Verrichtungen, die vor- nelmlich der Anstaltsarzt überwacht. |

1. Die Photographie jedes neu aufgenommenen Zöglings, die in zwei Stellungen, von vorn und von der Seite ausgeführt wird und den Zweck hat, „nicht nur die anthropologische Beschreibung zu veranschaulichen, sondern auch die Gesichtszüge festzuhalten, so dass in einer späteren Photographie, die beim Austritte des Zöglings aufzunehmen ist, die physiognomischen Unterschiede festgestellt werden können, die durch die Erziehung und die Fürsorge hervor- gebracht worden sind.“ Namentlich treten durch solche zeitweilige Aufnahmen die überraschenden Einflüsse auf die Veränderungen in der Physiognomie zutage, die gewisse Spezialkuren auf Idioten äussern, welche an Gesichtszuckungen leiden etc.

2. Die Zusammenstellung des Personalbogens (Carta biografica), die wegen des sehr detaillierten Formulars eine ziemlich schwierige Aufgabe ist. Es handelt sich hier darum, eine vollständige Untersuchung der familiären und persönlichen Antezedentien jedes Zöglings zu veranstalten und diesen vom anthro- pologischen, physiologischen, neurologischen und psychologischen Standpunkte aus zu studieren. Die Hauptthatsachen, die an ihm gefunden worden sind, werden zusammengefasst, und mit einem diagnostischen Entwurfe schliesst der Personalbogen ab.

Ein notwendiges Bedürfnis hierzu war ein psychisch - anthropologisches Kabinet, das alle die Hilfsmittel darbot, die für eine Prüfung, wie sie die moderne Wissenschaft fordert, notwendig sind. Ausser der Brückenwage kommen in An- wendung Instrumente zum Messen der Körperlänge im Stehen und Sitzen, der Schulterhöbe und Spannweite, des Brustumfanges, der Proportionen der einzelnen Gesichtsteile; Zirkel für Dickenmessungen, desgl. zur Feststellung der Raum- schwelle an verschiedenen Teilen der äusseren Haut; ein Stangenzirkel (womit bei uns Wagner seine Ermüdungsmessungen vornahm); Vorrichtungen zur Untersuchung etwaiger Einengungen des Sehfeldes und zur Prüfung der Farben-

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tüchtigkeit der Netzhaut in ihren Seitenteilen; farbige Tafeln zur Konstatierung der Farbenblindheit, sowie farbige Wollstreifen; Flüssigkeiten zur Prüfung des Geschmackes; ein Kraftmesser; ein elektrischer Signalapparat (Chronoskop) zum Messen kleinster Zeitteile; ein Instrument zu psychophysischen Messungen inner- halb des Geruchsinnes; ein anderes zur Ermittelung der Druck- und Schmerz- punkte nach dem Grade ihrer Sensibilität etc., sowie noch all das kleinere Material, das erforderlich ist, um die gewöhnlichsten Äusserungen der Aufmerksamkeit, des Gesichts-, Gehörs- und Muskelgedächtnisses, der Assoziation von Vor- stellungen u. dgl. aufzunehmen.*)

3. Die Angaben nervenpsychologischer und medizinischer Art. „Wer die Personalbogen anfertigt, bekommt ohne Zweifel eine. klare Einsicht nicht nur in den geistigen Zustand, in die Neigungen und den Charakter des Zöglings, sondern auch über Krankheiten (im Mutterleibe oder in der Kindheit) oder biologische Unregelmässigkeiten, die seinen geistigen Zustand verursacht haben oder noch begleiten. Daber würde niemand besser als der Arzt dem Er- zieher und Lehrer die allgemeine erzieherische Richtung für jeden Zögling und die etwa notwendige Fürsorge (physische oder chemische) angeben können.

*) Nach dem Berichte über das Erziehungswesen in den Vereinigten Staaten auf das Jahr 1897/98 (Report of the Commissioner of education ete. Washington 1899) sind ähnliche Untersuchungen wie die hier angedeuteten in Washington an 1074 Schul- kindern vorgenommen worden. Im 21. Kapitel, S. 985 1204 des genannten Werkes erstattet der Spezialist des Erziehungsbureaus, Artur Mac Donald, einen eingehenden, überaus interessanten Bericht darüber. Der Grundgedanke dabei war, dass beim Studium des modernen zivilisierten Normalmenschen der wichtigste Teil das Studium der Kinder sei. Physische Messungen seien deswegen wichtig, weil sie als Zeugen der Art und Weise der Körperpflege betrachtet werden könnten. Ebenso wie die Schüler periodisch auf geistiges Wachstum und Vervollkommnung hin geprüft wtirden, sei es für ihre Wohlfahrt notwendig, dass auch ihre physische Beschaffenheit und Entwickelung festgestellt und so ein Einblick in den Fortschritt sowohl in körperlicher als in geistiger Beziehung gewonnen werde. Ein fester Maßstab aber für die physische Entwickelung sei nur durch Messung einer grossen Zahl von Schul- kindern jedes Alters zu gewinnen. Die Untersuchungen selbst erstreckten sich zunächst auf die Kopfbildung und die Empfindlichkeit der Haut gegen Wärme und Eindrücke unter Berücksichtung des Geschlechtes, der geistigen Fähigkeit und sozialer Bedingungen; ferner auf Körpermessungen etc., auf die geistigen Fähigkeiten in den verschiedenen Lehrfächern und endlich auf die anormalen Kinder, die mit auffallenden Mängeln im Sehen, Hören, Sprechen oder mit Krämpfen behaftet, kränklich, nervös, träge, unlenksam etc. sind. Schliesslich werden auf grund der gleichartigen Ergebnisse sowohl in physischer als psychischer Hinsicht noch eine Reihe allgemeiner Schlussfolgerungen gezogen, die zwar sehr interessant sind, aber wegen der Beschränkung der Untersuchung auf eine einzige Stadt und auf eine immerhin nicht grosse Kinderzahl noch keinen Anspruch auf allgemeine Giltigkeit erheben dürften. Beigegeben sind dem Berichte noch zahlreiche Abbildungen der benutzten Instrumente, zum Teil in ihrer Anwendungsweise: Apparate zu Körpermessungen der verschiedensten Art, einschliesslich des Körpergewichtes, zum Messen der Wärmeempfindung, der Druckkraft der Hand, der Lippen, der Zunge, der Unterschiede der Stärke der Muskeln und der Dauer und Veränderungen ihrer Bewegung, der Erhebung und Senkung der Brust und des Bauches bei verschiedenen Zuständen, wie Aufmerksamkeit, Erregung etc., der unbewussten Bewegungen der Finger oder der Hand (Zittern), zum Aufzeichnen der Lippenbewegungen beim Aussprechen der Laute, desgleichen der Bewegungen des Gaumens und Kehlkopfes beim Sprechen, zum Messen des Pulses und der Herzthätigkeit, zur Beobachtung der Klangerscheinungen im Körper etc.

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Von dieser Art ist der Bereich des Arztes gegenüber dem des Pädagogen. Kein Zwiespalt kann zwischen ihnen entstehen, wenn sie beide von dem reinen Gefühle fürs Gute und von Begeisterung für die Kunst beseelt sind. Der Nervenarzt redissiert den Personalbogen und giebt die allgemeine erzieherische Linie an, die für jeden Zögling zu befolgen ist; der Pädagog liest den Bogen und die psycho- logische Vorschrift und lernt so den Zögling vorläufig kennen, darnach hat er für jeden individuell die besten Erziehungsmittel auszuwählen und anzuwenden, die er allein (nicht der Arzt) kennen kann und muss.“ Nebenbei wird noch bemerkt, dass man ein Buch führt für nervenpsychologische Vorschriften und ein Rezeptbuch für die entsprechenden Arzneimittel (Kuren gegen Syphilis, Blut- armut, Nervenschwäche etc.).

4. Die Diagnose und Klassifikation der Zöglinge. Die Klassifikation der Geistesschwachen bezeichnet der Verfasser mit Recht als sehr schwierig unter den Ärzten. Die von ihm einmal vom sozialen Standpunkte aus vorge- schlagene einfache Einteilung in ungefährliche und gefährliche Nicht- bildungsfähige und in ungefährliche und gefährliche Bildungsfähige betrachtet er als ungenügend für den Arzt. Nachdem er die von mehreren Psychiatern von verschiedenen Gesichtspunkten aus aufgestellten Unterschiede, darunter auch die von den meisten, sich mit Recht auf die Schwere des intellek- tuellen Defektes stützenden Psyehiatern angenommene Einteilung in Idioten (die schwersten), in Schwache (Imbecilli) und in einfach Mangelhafte oder Langsame erwähnt hat, bemerkt er, man habe für jetzt in der Asylschule folgende Einteilung angenommen:

Schwache hohen Grades Imbezilli”, 5 mittleren Grades —= Imbezilli”, À leichten Grades = Imbezilli’,

Mangelhafte = Deficienti,

Langsame Tardivi.

Dabei aber trage man Sorge, in jedem Falle noch weitere Spezifikationen zuzu- fügen, z. B. moralische Schwäche oder Mangelhaftigkeit, Epilepsie, Kinderkrankheit, Nachwirkung von Gehirnschlag, Schwachheit von der Geburt her etc., je nach der Art der Fälle.

5. Die Konstatierung der fortschreitenden Besserung des Zöglings vom Standpunkte des physischen Befindens, des Verstandes und der sittlichen Fübrung. Für jeden Zögling führt der Arzt eine Art Tagebuch; so vervollkommnet er die Kenntnis eines jeden, stellt die Wirkungen der eigenen Vorschriften fest, kann die ersten Urteile korrigieren oder ergänzen und sich bei späteren Anordnungen darnach richten. Ausserdem werden noch drei andere Bücher mit täglichen Berichten geführt: eins von der Lehrerin, eins vom Sprach- lehrer und eins von den Krankenwärterinnen. „Diese 4 Bücher erzählen fast Tag für Tag die Geschichte jedes Einzelnen, so dass es genügt einen Auszug zu machen, um sich sofort von dem intellektuellen und moralischen Fortschritte eines einzelnen Zöglings Rechenschaft zu geben.“ (Schluss i. nächster Nr.)

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Ein Pionier auf dem Gebiete der Fürsorge für Schwach-

sinnige: J. Landenberger. Von Dr. Kölle- Regensberg. (Fortsetzung.)

Besonders beherzigenswert ist, was Landenberger über die Entwicklung der Intelligenz sagt. Er geht nicht mit den bekannten Phrasen darüber hinweg, die man leider immer wieder in so vielen Aufsätzen und Abhandlungen über Schwachsinnige findet, in denen man zum Überdruss oft hören muss, man müsse anschaulich unterrichten, zum Begriffsvermögen der Kinder herabsteigen, individualisieren ete. Ja, wer dies liest, was kann er damit anfangen? Sind ihm nicht Steine für Brot gegeben worden? Freilich, Mephistopheles behält ewig recht:

„Nur muss man sich nicht allzu ängstlich quälen;

Denn eben, wo Begriffe fehlen,

Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.“ Landenberger ist stets bemüht, der Sache auf den Grund zu kommen. Im 17. Bericht äussert er sich:

„Wenn man mit einer Reihe von Zöglingen, wie sie in Anstalten für schwach- sinnige Kinder sich häufig zusammenfinden, etwas eingehender sich bekannt macht, so findet man, dass die Schwäche derselben sich keineswegs auf alle Gaben und Gebiete der Seele erstreckt, sondern dass manches tiefstehende Kind sich vielleicht nach der einen oder andern Richtung hin wirklich auszeichnet. Ein 6jähriges, lieblich aussehendes, unheilbar blödsinniges Mädchen unserer Anstalt, das fast kein Wort ver- steht und nie eines wird sprechen lernen, singt dessen ungeachtet Melodien leicht und schnell nach. Jener alberne Jüngling, der schon in einer kurzen Unterhaltung seinen Mangel an Vernunft kund giebt, hat dennoch einen Wortsinn und einen Zahlensinn, der über das mittlere Maass, wie es geistesgesunde Menschen gewöhnlich haben, hinaus- geht. Und jener Knabe, dessen Intelligenz noch auf einer ganz tiefen Stufe steht dessen Seelenleben noch fast ein träumendes genannt werden muss, der die kürzeste und leichteste Kindergeschichte noch nicht fasst, setzt uns durch seinen Wortsinn, der ihm das Erlernen unserer ihm fremden Sprache leicht gemacht hat, in Erstaunen; auch sind Form- und Ordnungssinn gehörig entwickelt. Was aber allen diesen Zöglingen gemeinsam ist, das ist bei aller Kräftigkeit der niedern Erkenntnisse die schwierige, langsame und schwache Bethätigung des eigentlichen Denkvermögens. Der noch an organische Grundlage gefesselte Vorgang des Vorstellens vollzieht sich langsam und unkräftig; den einzelnen Vorstellungen fehlt es an Bestimmtheit, Leben, Farbe, Be- weglichkeit, so dass die innere Vorstellungswelt des Blöden einer Wüste gleicht, deren Einförmigkeit nur von einzelnen vorüberziehenden nebelhaften Gestalten sparsam unter- brochen ist, und wo nur wenige zur leiblichen Existenz in Beziehung stehende Vor- stellungen kräftig herrschend im Vordergrund stehen. Der Grund liegt in der Schwäche des Gehirns. Entweder ist das Gehirn im Zustande der Depression, so dass alle Funktionen desselben träge und unvollkommen, die höheren gar nicht von statten gehen (apathischer Blödsinn, etwa erinnernd an den Hirmzustand der Schläfrigkeit); oder sind krankhafte Reize und Erregungszustände vorhanden, welche der Seele ganz

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ohne alle ihre willkürliche Beteiligung einen beschränkten Kreis und Wirbel von Bildern und Vorstellungen aufdrängen (eretischer Blödsinn, ähnlich der Erregtheit eines beginnenden Rausches). Ist aber das Gehirn, als das Organ der Seele, derart krank, so begreift sich leicht die Schwäche und Unfähigkeit der Seele selbst, welche ja die Wurzeln ihrer Entwicklung im Gehirn hat und nun ihrem Beruf nicht nach- kommen kann. Ihr Beruf aber besteht darin, sich nicht dem Spiel der Vorstellungen willenlos zu überlassen (zu träumen), sondern dieselben zu vernünftigem Lebenszwecke zu beherrschen. Dies thut sie, indem sie die Vorstellungen sich vorstellen lässt, ungehörige abweist, andere herbei ruft, sie in Beziehung zu einander setzt, vergleicht, unterscheidet, neue Vorstellungen, Begriffe, Urteile, Schlüsse daraus bildet, kurz indem sie denkt. Da nun der Schwachsinnige gerade hierin seine Schwäche hat, so ergiebt sich auch klar die Aufgabe, die man ihm gegenüber hat: man muss ihn denken lehren.

Bei ihm darf man nicht erwarten, die zufälligen Einwirkungen des um- gebonden Natur- und Menschenlebens werden ohne Schulunterricht die schwachen Kräfte stärken. Dies ist beim geistig gesunden Kinde der Fall, das ja auch ohne Schule zum Verstand kommt, wie man es an vielen Völkern sieht, bei denen noch keine Schulen eingerichtet sind. Ebenso täuscht die weitverbreitete Erwartung, mit irgend einer leiblichen Entwicklungsperiode werde auch der Verstand von selbst kommen. Es darf der Lehrer aber anch nicht erwarten, es genüge die Einübung der sogenannten Schulfertigkeiten, des Lesens, Schönschreibens und Rechtschreibens, des Ziffern- und Kopfrechnens, des Singens, und die Einprägung einer gewissen Monge von religiösen Memorierstoff, biblischen Geschichten und Realstoff. Allerdings wird auch bei mechanischem Betrieb der Schulfertigkeiten immerhin die Denkkraft in etwas in Anspruch genommen und es erwirbt der junge Mensch in den Schulfertigkeiten ein Mittel, das ihm die Weiterbildung möglich, wenn auch nicht zum innern Bedürfnis macht, und für sein Gedächtnis einen Schatz, der vielleicht nicht immer tot bleibt, und schliesslich kommt das geistig gesunde Kind wie ohne Schule, so auch trotz schlechter Schule und geist- losen Unterrichts doch zum Gebrauche des Verstandes, freilich oft in sehr bescheidenem Masse, leidlich ausreichend zum niedern Lebensbetrieb, aber nicht genügend zur Dar- stellung eines gottes- und menschenwürdigen Lebens, so dass auf gar viele unserer Mitmenschen der Spruch des Dichters volle Anwendung findet:

„O Mensch, unselig Mittelding vom Engel und vom Vieh!

Wohl hast du die Vernunft, doch du gebrauchst sie nie!“ Beim Schwachsinnigen dürfen wir übrigens auch auf solche geringe Erfolge nicht hoffen, da sein ganzer Zustand dringend ein mit Rücksicht auf seine eigentümliche Geistesorganisation berechnetes methodisches Lehrverfahren erfordert.

Wenn auch hier als oberster Grundsatz festzustellen ist, dass der Lehrer eben bei allem, was er mit dem Kinde treibt, dessen selbstthätiges Geistesbewegen in An- spruch nehme, dass er es nötige anzuschauen, zu vergleichen, aufzumerken, wieder- zugeben, darzustellen u. s. w., so ist doch nicht minder wichtig die Frage nach dem Bildungs- und Übungsstoff.

Gott hat dem Menschen zur Entwicklung seines Geistes einerseits die ihn um- gebende Natur mit ihren unzähligen Gestalten, Wandlungen, Wesen und Kräften

139 angewiesen, andererseits ihm seine Geisteswelt eröffnet, von welcher aus die Welt der Sichtbarkeit getragen wird, und in welcher der Mensch selbst Stellung, Bestimmung und Ziel finden soll.

Aus diesem unendlichen Material findet sich gerade in dem, was jeder Mensch und Christ wissen soll, auch die Kinderspeise, die Milch, welche den blöden Geist des Schwachsinnigen nähren und kräftigen soll.

Es ist zunächst der Anschauungsunterricht, der zur eigentlichen Natur- kunde fortschreiten und die Geschichte, vor allem dio heilige Geschichte, welche dem Schwachsinnigen den Übungs- und Bildungsstoff für seine Intelligenz, das Material für sein Erkennen and Denken geben soll. Ein Zweig des Anschauungsunterrichtes, der Formunterricht, ist wie berechnet für die eigentümliche Schwäche des Blöden, für sein mangelhaftes Anschauen und Auffassen. Das Reich der Formen, das mit seiner strengen Gesetzmässigkeit von jeher den menschlichen Geist beschäftigte und übte, liefert auch für den Blöden einen Stoff, der einen allmählichen lückenlosen Fortschritt vom Leichtesten bis zum Schweren ermöglicht, wie kein anderes Unterrichtsfach, was allein schon dem Formunterricht die ihm gebührende selbständige Stellung im Unter- richt der Blöden erringen wird.

Wir behandeln den Formuuterricht oder den geometrischen Anschaunngsunterricht in zwei Kursen, denen sich als drittor Kursus die eigentliche Geometrie anreiht. Wir betrachten in beiden Kursen mit den Schülern Punkte, Linien, Verbindung von Linien, Winkel, geschlossene Figuren, Flächen und Körper im zweiten Kursus nur ein- gehender und vollständiger als im ersten.

Überall handelt es sich darum, dass der Schüler zunächst bestimmt anschaue, sodann sich über das Angeschaute genügend ausdrücke, endlich es entsprechend mit dem Griffel u. s. w. darstelle. Beim Geometrieunterricht, zu dem der Schüler befähigt ist, wenn er die beiden Kurse des Formunterrichts mit Erfolg durchlaufen hat, muss vor allem die heuristische Methode angewendet werden: der Schüler muss unter der Leitung des Lehrers möglichst alles selbst finden.

Dem Zweifler, ob für ein solch rein formelles Fach nicht lieber ein anderes zu finden sei, das Formelles und Materielles verbände, möchte ich, indem ich versichere, dass wir das eine thun und das andere nicht lassen, mit folgendem Bild antworten: zur Entwicklung und Übung der Körperkräfte ist allerdings Arbeit und vielseitige Bewegung das Mittel. Allein, wenn die Kräfte zu tief stehen, wenn lähmungsartige Schwäche da ist, ist die Arbeit teils nicht möglich, teils hat sie nicht den erwünschten Erfolg, erschöpft wohl gar, statt zu kräftigen. Hier greift nun der Arzt zu Heil- bewegungen, die er physiologisch ermittelt und dem Falle anpasst, reizt und übt durch Widerstand die schwachen Kräfte (schwedische Heilgymnastik) und erlangt bisweilen in verzweifelten Fällen noch unerwartet günstige Erfolge. Ähnlich ist der Form- unterricht eine eigentliche Heilsymnastik für die blöde, zerfahrene, träumende und träge Seele, ein wahres Gegengift für ihre Schwächen, für gewisse Fälle geradezu unentbehrlich, in allen Fällen so ausgezeichnet hilfreich, dass keiner, der einmal eine ernste Probe gemacht hat, ihn wieder wird missen wollen.

Der Zeichenunterricht, den wir schon in der Versuchs- und Vorschule ernst- haft treiben, ermangelt keineswegs der Beziehung zur Eutwicklung der Intelligenz;

140 er ist ein unschätzbares Mittel, das träge oder unrohige, plaulos bewegliche Kind zur Herrschaft über seinen Körper zu führen, seine Seele aus der Flüchtigkeit zu sammeln, seine geistige Kraft zn konzentrieren zur rubigen Thätigkeit und überdachten Arbeit, endlich Reinlichkeit und Genauigkeit zu erzwingen, Handgeschicklichkeit und Schönheits- sinn auszubilden.

Die Zahl giebt gleichfalls Gelegenheit zur Übung des Verstandes. Indes ist vieles Rechnen (besonders auch das Kopfrechnen) oft mebr Übung des Zablsinnes als des Verstandes, was der Lehrer wohl zu unterscheiden bat. Der schwachsinnige Schüler mit gutem Zahlsinn macht, wenn sein Verstand noch wenig geübt ist, die Zahlen- operationen richtig, wendet sie aber unrichtig an, addiert z. B. wo er zu subtrahieren hat etc.; es muss deshalb neben der mechanischen Einübung der Zahlenreihen und Operationen das verständige Zählen und Rechnen mit besonderem Nachdrucke ge- übt werden.

Über den Anschauungsunterricht, den wir in unsern Schulen in vier Kursen treiben, sei hier nur so viel bemerkt, dass dieser Unterricht keineswegs der langweilige und unfruchtbare ist, wie er schon in Volksschulen getrieben wurde, wo dem Kinde gesagt wird, was es schon längst weiss; vielmehr stellt dieser Unterricht auf jeder Stufe dem Kinde Aufgaben, welche seine Selbstthätigkeit in Anspruch nehmen, seine Denkkraft anregen, die Langeweile also ganz ausschliessen.

Mit diesem Bildungsstoff ist der letzte und wirksamste Hebel noch nicht angesetzt, um die Seele des Schwachsinnigen aus ihrer Schwäche zu heben. Wie der Diamant nur durch seinen eigenen Staub geschliffen wird, so bildet sich der Mensch nur am Menschen, und Gott selbst nahm, um die Menschheit zu erlösen, menschliche Natur an. In der biblischen Geschichte haben wir den höchsten Bildungsstoff, der sich nicht ein- seitig an den Verstand wendet, sondern auf Verstand und Vernunft, Phantasie, Gemüt und Willen wirkt, den Menschen in seinem ganzen Wesen zu erfassen und umzubilden im stande ist.“

Im 27. Bericht vom Jahre 1873 äussert er sich über dasselbe Thema:

„Es ist eine weise Einrichtung Gottes, dass sich die menschliche Intelligenz bei Kindern mit gesundem Gehirn mit einer gewissen Naturnotwendigkeit von selbst ent- wickelt, auch wenn weder von Eltern noch von Schulen darauf hingearbeitet wird; es genügt, dass die Kinder unter Menschen mit gesunder Geistesbeschaffenheit aufwachsen. Deshalb entwickelt sich der Verstand der Kinder auch bei solchen Völkerschaften, wo es noch keine Schulen giebt, entwickelt sich auch in andern Völkern trotz schlechter Schulen, in welchen dem starren Mechanismus gefröhnt wird, in solchen Fällen natürlich in sehr bescheidenem Masse. Diesen Vorteil der freiwilligen Entwicklung der Intelligenz, der den Volksschulen zu gute kommt, haben wir bei dem Schwachsinnigen nicht; denn ohne besonderen, seinem Bedürfnis angepassten Unterricht entwickelt sich seine Intelligenz nie so weit, dass er über die Stellung eines unselbständigen Pfleglings je sich erheben könnte. Es muss deshalb unsere Aufgabe sein, den Unterricht so einzurichten, dass der Verstand erwache und wachse. Dies ist freilich eine Binsenwahrheit; allein nach unserer nicht ganz beschränkten Erfahrung scheiut dieselbe selten genug anerkannt zu werden, oder scheint man nicht zu wissen, auf welchem Wege auch die blöde Seele zum Verstand zu bringen sei. Es kommen nicht nur Kinder zu uns, an denen

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inbetreff ihrer Bildung noch nichts Nennenswertes geschehen ist, sondern es traten auch manche Schwachsinnige, namentlich aus bessern Häusern, bei uns ein, an denen weder Zeit noch Mühe gespart wurde, um sie durch Privatunterricht vorwärts zu bringen. Aber während noch wenig geschehen ist, um den schlummernden Geist zu wecken, hat man nun sich bemüht, dem schwachsinnigen Kinde die Fertigkeiten des Lesens und Schreibens beizubringen, ohne zu bedenken, dass das schwachsinnige Kind vielleicht zum Lesen gebracht werden kann, aber dann nicht so viel Licht hat, um das Gelesene zu verstehen; dass ferner der Schwachsinnige schreiben lernen kann, aber damit noch nicht befähigt ist, die eigenen Gedanken niederzuschreiben. Es ist also entschieden wichtiger, dass die Intelligenz des Schwachsinnigen geweckt und genährt werde, als dass ihm die Fertigkeit des Lesens und Schreibens beigebracht werde, und wenn es nichts wäre, als dass der gut unterrichtete Schwachsinnige sich verständigen und verständ- licher mitteilen, im Notfalle etwa über Misshandlung oder mangelhafte Pflege Klage führen könnte. Begreiflich aber darf die Absicht, den Verstand zu wecken, nicht bloss zum Anfang vorliegen, sondern sie muss immer verfolgt werden, nicht nur durch das ein und das andere Fach, sondern durch alle Fächer und die ganze Schulzeit hindurch soll auf den Geist gewirkt werden; ebenso darf nicht einseitig nur die intellektuelle Seite des Menschen in Angriff genommen, sondern der ganze Mensch, auch nach Gemüt, Phantasie und Willen soll vom Unterricht angeregt und gefördert werden.“

(Forts. i. nächster Nr.)

Mitteilungen.

Dresden. (Neustädter Schwachsinnigen-Schule). Für Ostern nächsten Jahres ist eine Erweiterung der hiesigen Schule der Neustadt dergestalt in Aussicht ge- nommen, dass sie um eine Klasse vermehrt und ein 2. Lehrer für sie angestellt werden soll.

Sachsen. (Unterbringung Schwachsinniger in Erziehungsanstalten.) Eine Bezirksschulinspektion hatte die Unterbringung eines schwachsinnigen Knaben in einer Anstalt für schwachsinnige Kinder verfügt und, da der Vater des Knaben hiergegen Widerspruch erhob, die Entschliessung des Vormundschaftsgerichts beantragt. Dieses hatte den Antrag abgelehnt und an Stelle der Unterbringung lediglich ver- ordnet, dass der Vater des Knaben diesem neben dem Schulunterrichte noch Nach- hilfeunterricht erteilen lasse. Hiergegen hat die Bezirksschulinspektion Beschwerde erhoben. Das zuständige Landgericht bat dieser Beschwerde stattgegeben mit folgender Begründuug: Der Knabe ist nach den ärztlichen Gutachten in ausgeprägtem Masse schwachsinnig. Die in der Volksschule mit ihm erzielten Resultate sind so dürftige und bleiben so sehr hinter demjenigen zurück, was auch bei geringer Begabung nach dem Alter des Knaben als Mindestleistung erwartet werden konnte, dass der Weiter- besuch der Volksschule voraussichtlich nutzlos sein wird und auclı der Versuch, das Kind durch Nachhilfestunden ausreichend zu fördern, keine Aussicht auf Erfolg bietet. Nach den wiederholten Gutachten der Ärzte und der Lehrer erscheint es, wenn das geistige Wohl des Knaben nicht gefährdet werden soll, als dringend notwendig, ihn in einer Anstalt unterzubriugen, in der durch Anwendung einer seinem Geisteszustand entsprechenden Erziehungsmethode für eine sachgemässe Ausbildung Gewähr geboten

ist. Eine solche ist die Landeserziehungsanstalt Grosshennersdorf. Wenn demnach der Vater des Kindes die Unterbringung des Letzteren unterlässt und den darauf abzielendon behördlichen Massnahmen entgegentritt, so erscheint dies als eine Ver- nachlässigung seiner Erziebungspflicht. Der Umstand, dass er angeblich nicht in der Lage ist, den Aufwand für die Verpflegung des Kindes in der Anstalt zu bezahlen, befreit ihn nicht von diesem Vorwurfe, da im Falle seiner Mittellosigkeit der unter- stützuugspflichtige Armenverband für die Kosten aufzukommen hat. Diesen Aus- führungen hat sich auch das Königl. Oberlandesgericht allenthalben angeschlossen. (S. Schlztg.)

Hamburg. (Die Alsterdorfer Anstalten) Auf dem Wege von Hamburg nach dem Zentralfriedhofe, mit dem Wagen der Ohlsdorfer Strassenbahn von Hamburg aus in etwa °/, Stunde zu erreichen, liegen die Alsterdorfer Anstalten. Sie bestehen aus dein St. Nicolai-Stift (gegründet zu Moorfleth 1850, verpflanzt nach Alsterdorf 1860), dem Asyl für schwach- und blödsinnige Kinder (seit 1863), dem Kinderheim (seit 1871) und dem Pensionat für geistig Gebrechliche aus den höheren Ständen (seit 1382). Diese aus einander hervorgewachsenen und mit einander eng verbundenen Stiftungen nahmen ihren Ausgang von der Arbeits- schule zu Moorfletb, die in dem dortigen Pfarrhaus am 16. April 1850 mit vier Zöglingen eröffnet wurde, und bilden jetzt eine Kolonie von 23 Haupt- und 16 Neben- Gebäuden, die eine Einwohnerschaft von 809 Insassen (am 1. Januar 1901) um- schliessen. Die Bestimmung der Anstalten ist folgende: Die älteste, das St. Nicolai-Stift, ist für Kinder, die geistig und leiblich gesund sind. Solche Kinder, die in Gefahr der Verwahrlosung schweben, aber noch nicht verwahrlost sind, sollen hier eine christliche Bewalıranstalt finden. Diesen Zöglingen stehen zunächst die geistig gesunden, die aber leiblich gebrechlich sind, für welche das Kinderheim eröffnet wurde. Hierher gehören die mit körperlichen Defekten Ver- sehenen, deren die gewöhnliche Volksschule sich nicht annehmen kann und die zur Kräftigung ihrer Gesundheit der erfrischenden Landluft bedürfen. Die dritte Kategorie bilden die leiblich Gesunden, welche geistig gebrechlich sind. Sie und die vierte die leiblich und geistig Gebrechlichen umfassend sind die Idiotenanstalt (das Asyl für schwach- und blödsinnige Kinder); die den höheren Ständen angehörigen Zöglinge finden Aufnahme im Pensionat. Die Summe aller Zöglinge und Kostgänger belief sich am 1. Januar 1901 auf 639. Für dieselben ist thätig ein aus 146 Angestellten bestehendes Personal. Soweit nicht die Verwaltung und der ökonomische Betrieb es erheischt, haben diese An- gestellten es zu thun mit dem Unterricht, der Arbeit und der Pflege der Zöglinge. Das Feld des Unterrichts ist die 8 Klassen umfassende Schule (mit 99 Schülern und Schülerinnen). Die Arbeit, zu welcher die Arbeitsfähigen (227 ohne Schul- kinder) herangezogen werden, sind teils bäusliche Verrichtungen, teils Arbeiten in irgend einem ihrer Intelligenz entsprechenden Geschäft. Gelegenheit dazu findet sich für die weiblichen Zöglinge in der Garderobe, Nähstube, Wäscherei, Zentralküche; für die Schulkinder besteht ein besonderer Unterricht in weiblichen Handarbeiten. Die männ- lichen Zöglinge werden in den Werkstätten (Tischlerei, Malerei, Buchbinderei, Rohr- flechterei, Bürstenbinderei, Korbwmacherei, Mattenflechterei, Matratzen- und Pantoffel-

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macherei, Schneiderei, Schuhmacherei, Maurerei) verwendet oder sind in der Gärtnerei nnd bei der Landwirtschaft beschäftigt. Die letztere, teils auf eignem Grundbesitz, etwa 23 Hektar, teils auf dem Ohlsdorfer Pachthof betrieben, bearbeitet ein Areal von 125 Hektaren, und hat einen Viehstand von 10 Pferden, 29 Kühen, 3 Stück Jungvieh, 1 Kalb, 2 Zugochsen, 2 Mastochsen und 47 Schweinen. Welch einen Umfang die Pflege-Arbeit einnimmt ist daraus zu ermessen, dass unter den Zög- lingen 181 Epileptische, 13 mit Veitstanz Behaftete, 87 au Lähmungen und Kon- trakturen Leidende, 235 Bettnässer, 11 Taubstumme, 107 Sprachlose und 5 Blinde sind, und dass 63 gefüttert, 44 getragen, 168 an- und ausgekleidet werden müssen. Für die geistige Auregung und Erfrischung des Personals sorgen Gottesdienste in der 1899 erbauten Kirche, populäre Vorträge unterhaltenden und belehrenden Inhalts, Gesangvereine, ein Bläserchor, woran sich als Mitwirkende oder Zuhörer auch die qualißicierten Zöglinge beteiligen. Dies viel Menschenkraft erfordernde, schwierig zu bearbeitende Elendsfeld erheischt auch nicht geringe pekuniäre Mittel. Jährlich werden über Mk. 300 000 verausgabt. Was durch Kostgelder und durch Arbeits- leistungen der Anstalten uicht aufgebracht wird, trägt die freie Liebe zusammen. Der Staat gewährt den Anstalten keinerlei pekuniäre Hülfe.

Mühlhausen i. Th, (Hilfsschule.) Seit dem 1. September v. J. besteht auch hier eine Hilfsschule für schwachbegabte Kinder. Dieselbe wurde eröffnet mit 24 Kindern und zwar 17 Knaben und 7 Mädchen. Die Leitung derselben hat der derzeitige Rektor der Volksschule I Baltruweit und den Unterricht der Lehrer Burghardt über- nommen. Die wöchentliche Stundenzahl beträgt 26 und verteilt sich folgendermassen : Religion 3, Anschauungsunterricht 5, Schreiblesen 7, Rechnen 5, Singen 2, Knaben- handarbeit bez. Nadelarbeiten 2 und Turnen 2. Geteilt sind die Stunden in Religion, Rechnen, Singen und 2 vom Anschauungsunterrichte. Der Unterricht findet nur in den Vormittagsstunden statt. Die Befürchtung, bei der Einrichtung der Hilfsklasse auf Widerstand bei den Eltern zu stossen, hat sich glücklicherweise als unbegründet erwiesen, denn dieselben haben sich nicht nur vollkommen damit einverstanden erklärt, sondern sie haben dieselbe auch mit Freuden begrüsst. Als Funktionszulage hat die Stadt 300 Mk. jährlich bewilligt. Zu Ostern d. J. ist ein Knabe konfirmiert worden, und am 15. Mai musste einer wegen Bildungsunfähigkeit entlassen werden. Neu hinzugekommen sind 12 Kinder, 7 Mädchen und 5 Knaben, sodass die gegen- wärtige Schülerzahl 34 beträgt, eine Zahl, welche die Errichtung einer 2. Klasse über kurz oder lang notwendig macht. B.

Litteratur.

Die Hilfsschule in Bremen. Von A. Wintermann. Im Selbstverlage des Verfassers. Preis 50 Pf. Bremen 1901.

Auf 22 Seiten berichtet die treffliche Broschüre über die Entstehung und erste Einrichtung der bremischen Hilfsschule, die Entwicklung und Organisation derselben und über das Schulgebäude. Sie verbreitet sich sodann über die Schüler, deren Aufnahme und Entlassung, sowie über die Erziehung und den Unterricht. Zum Schluss schlägt der Verfasser die Begründung eines Heimes für die entlassenen Schüler der Hilfsschule

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vor. Obwohl dieser grossherzige Gedanke zunächst nur ein lokales Interesse zu haben scheint, möchten wir dem Verfasser, der s. Z. durch Wort und Schrift den Anstoss für die Entstehung der musterhaft eingerichteten Idiotenanstalt in Horn gab, die Freude wünschen, auch diesen Plan zur Durchführung gebracht zu sehen. Aus dem lebendig und frisch geschriebenen Schriftchen erfahren wir, dass die bremische Hilfsschule z. Z. von 126 Kindern besucht wird, und dass diese in 6 Klassen unter- richtet werden, während 114 Kinder aus ihr in den 11 Jahren ihres Bestehens ent- lassen wurden, von denen 65 als erwerbsfähig zu bezeichnen waren. Möge das Büchlein, so wünschen wir mit dem Verfasser, denen zu gute kommen, die ganz vor- nehmlich unseren Beistand hıerausfordern : „den Schwachbegabten und Geistesschwachen‘“. E p

Die Grundlinien des Seelenlebens, dargestellt unter steter Berück- sichtigung der Schnlpraxis von Rektor Hohmann in Berlin. Gotha. Verlag von E. F. Thienemann. 27 Seiten. Preis Mk. 0,40.

Wir finden in der kleinen Arbeit die Grundlinien des Seelenlebens wohl dargestellt, aber wie es scheint, häufig in etwas gewählter hochklingender Ausdrucksweise, die den Leser beim Studium der Schrift leicht zu ermüden vermag. Die im Laufe der Darstellung gewonnenen Vorschläge und Imperative werden in den Dienst der Schul- praxis gestellt. Wir erhalten deshalb an vielen Stellen manche anregende Gedanken und wertvolle Richtlinien für Erziehung und Unterricht. Das Schriftchen wird jedem denkenden Lehrer ein willkommene Gabe sein, es sei deshalb unsern Lesern zur prüfenden Erwägung empfohlen, Fr.

Rektorstelle.

An der Hölderlinschule, „Schule für schwachbefähigte Kinder“, ist zum 1. Oktober ds. Js. die Rektorstelle zu besetzen. Das Diensteinkommen beträgt an Grundgehalt 3000 Mark, Mietsentschädigung 820 Mark und Alterszulage neun gleich hohe & 220 Mark.

Meldungen sind unter Beifügung eines Lebenslaufes und der erforderlichen Zeug- nisse bis zum 31. Juli ds. Js. an die unterzeichnete Behörde einzureichen.

Frankfurt a. M., den 28. Juni 1901. Städtische Schuldeputation.

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Rob. Rein, Friedenau bei Berlin. Briefkasten.

Dir. Sch. I. J. Vielen Dank für Übersendung der Einladung. Derselben zu folgen, ist mir unmöglich. Besten Erfolg. Dr.6. i. R. Für Zusendung Ihres ersten Berichtes besten Dank! Werden wir uns in E. sehen? H.C.i. R. Für Übersendung der Zeitung besten Dank !

Anhalt: X. Konferenz für das Idiotenwesen. An den Vorstand der Konferenz zu Elberfeld. Die Bestrebungen für die Bildung und Erziehung schwachsinniger Kinder in Italien. (Von Karl Richter-Leipzig) Ein Pionier auf dem Gebiete der Fürsorge für Schwachsinnige: J. Landenberger. (Von Dr. Kölle-Regensberg). Mitteilungen: Dresden, Sachsen, Hamburg, Mühlhausen i. Th. Litteratur: Die Hilfsschule in Bremen. Die Grundlinien des Seelenlebens Anzeigen. Briefkasten.

Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hufbuchhandlung in Dresden, Druck von Johannes Pässler in Dresden.

Nr.9 u. 10. zu. (Al) Jahrg.

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Zeitsehrift‘

für die

Behandlung sehwachsinniger und Epileptischer.

Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen herausgegeben von Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Dresden - Strehlen „Dezin araı ' für Nervenkrankhelten Residenzstrasse 27. in Stattgart.

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Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

Die Bestrebungen für die Bildung und Erziehung

schwachsinniger Kinder in Italien. Von Karl Richter in Leipzig. (Schluss.)

Der folgende Abschnitt des Berichtes, der die erzieherische Organisation der Asylschule behandelt, betont zunächst, dass man sich vor allem mit der physischen Erziehung beschäftige, die, so weit möglich, den Zöglingen individuell zuteil werde. „Es ist daher Vorschrift, dass, wohin auch der Zögling sich wende, was er auch sehe oder thue, man von allem und iımmer eine gesunde erzieherische Nutzung ziehen könne. Kein Zwang auf seiten der Zöglinge, überall Zwang auf seiten der Erzieher. Er muss sich nach und nach unwillkürlich Korrektheit der Bewegungen und Regelmässigkeit der Führung angewöhnen, ebenso eine leichte Anregung und richtige Verteilung der Aufmerksamkeit, wie Übungen des Gedächt- nisses (hinsichtlich des Auges, des Ohres, der Körperbewegungen), ohne es ge- wahr zu werden, ohne zu ermüden, ohne sich zu langweilen, vielmehr soll er sich fortwährend unterhalten.“

Von den Sinnen wendet man hauptsächliche Sorge dem Gesichts- und Tastsinne zu. Ein umfangreiches Fröbelsches Material, plastischer Thon, be- sondere Spiele, methodische Gymnastik, Spaziergänge ins Freie, instruktive Turn- spiele, Chorgesang, Handarbeiten etc. alles das dient dem genannten Zwecke, wobei aber alles dem Alter, dem Geschlechte, dem geistigen Zustande und den Neigungen jedes Zöglings angepasst sein muss. An der Handarbeit beteiligen sich die Knaben, während sich die Mädchen mit der Reinhaltung des Lokales, mit Ausbessern der Schürzen und der Wäsche und mit Küchenarbeiten beschäf-

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tigen. Um die Mädchen mit den häuslichen Beschäftigungen bekannt und nach und nach mit allen Thätigkeiten der Küche vertraut zu machen, hat man auch davon abgesehen, das Essen aus der Garküche kommen zu lassen und bereitet es im Asyle selbst, und man hält das alles für so wichtig, dass jetzt die Lieder, die den kleinen Kindern gelehrt werden, sich auf Gegenstände des Haushaltes beziehen, wie die Arbeiten beim Waschen, Plätten, beim Reinmachen des Hauses etc.

Beklagt wird der Mangel jedes musikalischen Instrumentes zur Begleitung des Gesanges und der Turnübungen, da man überzeugt ist, dass die Musik einen günstigen Einfluss auf das organische Gefühl und die bewusste Thätigkeit der geistig Schwachen ausübt, und sie für ein wertvolles therapeutisches Hilfsmittel hält, wenn man auch in besonderen Fällen die Wirkung davon nicht wahrnimmt.

Einer der Zeitvertreibe, die man mit Vorliebe den geistig Schwachen dar- bietet, ist. das Stereoskop, das in hohem Grade die Neugier erregt, sehr gut den Gesichtssinn erzieht (plastisches Sehen, Auffassung der Entfernungen etc.) und die Fixierung der sichtbaren Bilder der Objekte erleichtert. „Es genügt, dass man die Ansichten auszuwählen verstebt und eine Ansicht nicht eher wechselt, als bis die vorhergehende in allen ihren Einzelheiten gut verstanden worden ist.“ Man hat da mit einfachen Ansichten begonnen, die bereits bekannte Objekte und Dinge wiedergeben, z. B. die Treppe zu einer Kirche, eine Strasse, einen Brunnen in Rom, und will dann zu solchen übergehen, die das Meer, einen See, einen Fluss, ein Gebirge, eine Insel und andere Naturbilder darstellen. „Wir haben bemerkt,‘ sagt der Verfasser darüber noch, „dass die Kinder sehr leicht den Unterschied begreifen, den die Betrachtung des Bildes mit blossen Augen und durch die Linsen des Stereoskopes bietet, und daher gelangen sie ohne grosse Schwierigkeiten dazu, sich ein gewisses Urteil über die Verbältnisse der Entfernungen zwischen den verschiedenen Objekten der Ansicht zu bilden. Ich glaube, dass diese Übung im stereoskopischen Sehen ein wichtiges Erziehungsmittel ist für das körper- liche und geistige Sehen“ (della visione oculare e mentale).

Die wichtigste Neuigkeit, die die Asylschule darbietet, sieht der Verfasser in der grossen Wichtigkeit, die man der sprachlichen Erziehung zuschreibt. Hierzu ist zunächst ein Spezialarzt für Krankheiten der Rachen- und Nasenhöhle und des Ohres da, der jeden Zögling besucht und auch chirurgisch eingreift (Entfernung von Drüsengeschwülsten, Beschneidung des Zäpfchens, Behandlung von Nasenwucherungen etc), wenn sich krankhafte Veränderungen zeigen. Ausserdem giebt es einen Lehrer, der unterstützt von einem Taubstummen- lehrer jeden Tag 1!/, Stunde der Unterweisung im Sprechen widmet. „Sprachfehler,* äussert der Verfasser, „sind bei den Idioten beinahe die Regel (Hugo Kreilsheimer 1897 fand 71,8°/, solcher), und doch ist in den An- stalten bisher die Verbesserung der Sprachfehler und die intensive Erregung der Sprachzentren von seiten der Erzieher und Speziallehrer sehr vernachlässigt worden. Ich muss gesteben, dass ich eine wie auch sonst geartete Anstalt für schwachsinnige Kinder nicht verstehen würde, wenn in ihr die spezielle Sprach- bildung mit allen den Verfahrungsweisen, die die moderne Wissenschaft und

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Liebe an die Hand geben, fehlten. Die Freischule für arme Stotternde, die an unsere Asylschule angeschlossen ist, vermag zu zeigen, dass die Sprachfehler sich alle bessern lassen und verhältnismässig ziemlich schnell; es ist nur nötig, dass der Erzieher einen ausserordentlichen Eifer und eine unerschöpfliche Ge- duld besitzt.“

Der Verfasser hofft, sofern ihn die Öffentliche Wohlthätigkeit nicht im Stiche lässt, die grossen Fortschritte der Schwachsinnigen im Sprechen mit einem streng experimentellen Hilfsmittel, mit dem Phonographen zeigen zu können, indem das von einem Schwachsinnigen, der da stammelt oder nur mit geringer Lungenkapazität begabt ist, bei seiner Aufnahme in die Anstalt auf- genommene Phonogramm mit einem späteren, nach einigen Monaten des Unter- richtes aufgenommenen verglichen werden kann. „Es ist Zeit,“ fügt er hinzu, „auf die Psychologie und die Pädagogik alle modernen experimentellen Hilfs- mittel anzuwenden, um damit den Beobachtungen die grösstmögliche Objektivität zu geben und so die Skeptiker und die Gefühllosen aufzurütteln.“

Über den Anfangsunterricht wird der Kürze halber nur bemerkt, dass er immer in individueller Weise von einer Lehrerin erteilt werde, die Schwach- sinnigen gegenüber ganz besonders erfahren und bewandert sei; dagegen widmet der Verfasser eine längere Auseinandersetzung der moralisch-religiösen Er- ziebung und der Art, wie sie in der Tassoschule ausgeübt wird, da dieser Gegenstand „von der grössten Wichtigkeit ist.“ Die Bemerkungen darüber sind von so hohem allgemeinen Interesse, dass es sich rechtfertigt, einige längere Stellen aus dem Berichte mitzuteilen. Der Verfasser schreibt:

„Ich glaube mit Adam Smith und Darwin, dass die moralische Idee ihren Urgrund in dem Gefühle der Sympathie hat, die sich zuerst in der Liebe zu den Eltern und in der Zuneigung zu den Kameraden äussert, nach und nach sich ausdehnt, sich befestigt und schliesslich alle Thätigkeiten des psychischen Lebens durchdringt. Das Gefühl der Sympathie seinerseits quillt aus einer ein- fachen Gemütsbewegung: dem Mitleide oder dem Mitgefühle. Daher begnügen wir uns nicht damit, von vornherein unseren Schwachsinnigen und besonders denjenigen, die einen psychogenetischen Rückgang (wie sich die Ärzte ausdrücken) des moralischen Sinnes zeigen, die Idee der Gerechtigkeit beizubringen, wir suchen vielmehr Erregungen des Mitgefühles zu wecken.

„Ich bin überzeugt, dass die Ideen nicht gedeihen, nicht sich festsetzen, wenn sie sich nicht aus freiwilligen Assoziationen entwickeln, wenn sie nicht von einer lebhaften Gefühlsfärbung begleitet sind. Die Gefühlsassoziationen haben trotz der gegenteiligen Meinung vieler bei den Kindern eine grosse Macht. Wenn der Schwachsinnige fähig ist sich rühren zu lassen und Mitleid zu empfinden, dann wird man ilım viel leichter die Kenntnis von Recht und Gesetz zum Verständnis bringen können.

„In dem Falle, dass ein Zögling nicht nur stumpf, sondern völlig gefühl- und teilnahmlos ist, kann man nichts anderes thun, als ihn unbewusst zu guten Handlungen zu veranlassen (automatizzare), die man ihm durchs Beispiel vorführt.

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„Viele behaupten, dass Religion und Moral nicht getrennt sein können, in Wirklichkeit jedoch ist die Moral nicht die Religion und die Religion nicht die Moral. Nur in einigen Punkten kommen beide zusammen. Kann nun der Religionsunterricht ein wirksames moralisches Erziehungsmittel für geistes- schwache Kinder sein? Ich glaube ja, aber ich muss sogleich hinzufügen, dass ich es nicht billigen kann, wie man in der grossen Zahl der ausländischen Idiotenanstalten verfährt, wo die armen Kinder gezwungen werden, Gebete über Gebete zu murmeln und durch lebhafte Schilderungen der ewigen Strafen, der Folgen der Sünde und ähnliche Dinge in Furcht versetzt werden. Ich habe bei mehr als einem Schwachsinnigen Formen von Halluzinationen beobachtet, die gerade aus dem Religionsunterrichte herrührten, und in einem Falle habe ich ein mystisches Delirium beobachtet, das durch die Form des Kultus hervor- gerufen war, dem das Kind unterworfen wurde zu erzieherischen Zwecken.

„Die Religion erzieht nicht schon durch das Versprechen von Belohnung oder durch Androhung von Strafe; ihre Verwirklichung (la sua sanzione) ist zu fern. Sie erzieht, glaube ich, weil sie dazu dient, in dem Schwachsinnigen das Gefühl des Mitleides und der Teilnahme für den Menschen (die Nächstenliebe) zu erregen und zu entwickeln, und ausserdem noch ein anderes Gefühl, das der Verehrung (Gehorsam gegen Gott), das sich praktisch in das Gefühl der Unter- ordnung (della disciplina) auflöst.*)

„Daher bedienen wir uns in unserer Asylschule auch der Religion, um die Widerspenstigen und die Stumpfen, soweit möglich, moralisch zu machen, aber das thun wir mit den einfachsten und psychologisch ungefährlichen Ver- fahrungsweisen.

„Unsere Zöglinge sprechen vor dem Essen im Chore das Vaterunser und danken nach dem Essen mit einem kurzen Gebete in italienischer Sprache Gott für die empfangene Speise. Das Vaterunser ist Universalgebet und passt für Kinder aller Konfessionen (wir haben einen Juden in der Tassostrasse). Es ist bekannt, dass dieses schöne und einfache Gebet thatsächlich von allen Gliedern des religiösen Kongresses in Chicago (1893) einmütig hergesagt wurde.

„Zweitens bat man eine gewisse Zahl von Gleichnissen und Erzählungen aus den Evangelien ausgewählt, aus denen sich klar und lebhaft eine moralische Lehre ergiebt, und diese werden immer jedesmal eine unseren Zöglingen er- zählt und mit einfachen Worten erklärt. Jeden Tag hören die Schwachsinnigen eine dieser Geschichten, jeden Tag werden sie darüber gefragt. So werden diese Erzählungen, durch welche Gottes- und Menschenliebe hindurchleuchtet, nach

*) Hierzu merkt der Verfasser „einige goldene Worte“ von Kant an, die nach dessen Methaphysik der Sitten: ethische Methodenlehre 1. Abschnitt $ 51 also lauten: „Das erste und notwendigste doktrinale Instrument der Tugendlehre für den noch rohen Zögling ist ein moralischer Katechismus. Dieser muss vor dem Religionskatechismus hergehen und kann nicht bloss als Einschiebsel in die Religionslehre mit verwebt, sondern muss abgesondert, als ein für sich bestehendes Ganzes vorgetragen werden; denn nur durch rein moralische Grund- sätze kann der Überschritt von der Tugendlehre zur Religion gethan werden, weil dieser ihre Bekenntnisse sonst unlauter sein würden.“

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und nach verstanden und gelernt, und diese moralischen Ideen werden so schliesslich das Hausrecht in diesen armen Seelen erlangen.

„Aber wir haben auch noch eine andere Art ausgedacht, um diese Ge- schichten und die daraus entsprungenen moralischen Lehren unseren Kindern besser und unauslöschlich ins Gedächtnis zu pflanzen. Wir werden dem Kinde (immer in progressiver Stufenfolge und der Iudividualität angepasst) farbige und transparente Stereoskopbilder geben, die gerade diejenige evangelische Geschichte darstellen, die man mit ihnen besprechen will. Das ist eine Art „experimentaler Moral.“ Die Neugier treibt die Kinder aufzupassen und zu fragen: der Erzieher thut das übrige.

„Ich denke, dass es noch ein anderes Mittel giebt, sehr indirekter Art, aber nicht weniger wirksam, wein es vernünftig angewandt wird, um dem Gefühle und der Idee des Moralischen bei den geistig schwachen Kindern Leben und Kraft zu verleihen: das ästhetische Wohlgefallen. Auch das Kind ist ästhetischen Gefühlsregungen zugänglich. Das Hässliche wird eher begriffen als das Schlechte. Wir haben angefangen, die Wände des Zimmers, das zum Spielen bestimmt ist, mit Bildern zu füllen, die Kinder von hervorragender Schönheit darstellen (Photographien nach berühmten Künstlern, wie Guido Reni u. a). Diese Bilder, schön, kräftig, lächelnd, in den anziehendsten Stellungen (dalle pose dolcissime) mit ihren wohlanständigen Geberden, ihren lebhaften Be- wegungen stehen dort den ganzen Tag vor den neugierigen Augen der armen schwachsinnigen Kinder. Wir werden dazu übergehen, allmählich farbige Bilder zuzufügen, welche Kinder vorstellen, die gute Handlungen begehen, bis die ganze nutzlose weisse Wand dieses Zimmers mit ästhetischen und moralischen Kinder- bildern bedeckt sein wird. Es kommt nicht darauf an, dass unsere Zöglinge alles Einzelne betrachten und verstehen, uns genügt es, dass die schönen Dinge einen Bindruck auf ihre Augen machen, die gewohnt sind, die feuchten und schmutzigen Wände ihrer armen Hütten, oder die verzerrten Gesichtszüge ihrer klagenden und duldenden Brüder, oder die grotesken und unzüchtigen Fratzen des Strassenlebens zu betrachten. Uns genügt es, dass diese Schaubilder nicht so schnell aus ihrer Phantasie verschwinden, sondern dass sie sich unbewusst (automaticamente) darin festsetzen und dass sie darin bleiben als fruchtbare Erzeuger nützlicher Assoziationen.

„Soll das Gute von armseligen Intelligenzen ersehnt, geliebt, ausgeübt werden, so muss es denselben Eindruck machen wie eine schillernd rote Farbe, eine blendende Tanzaufführung, eine süsse Melodie... Für die Kinder muss das Gute schön sein.

„Aber es giebt nichts Moralisches ohne Verpflichtung und ohne allgemeine Billigung, wenigstens wenn es sich um die Gesamtheit der Menschen und im besonderen um Kinder handelt. ..... Hier fordert das schwierige Problem der Strafe unsere Beachtung. Ich gestehe, dass ich kein anderes kenne, das praktisch schwieriger zu lösen wäre.

„Die Rute war in den alten Zeiten ein wichtiges pädagogisches Instrument; aber Cicero tadelte den Verres scharf, dass er einen Bürger babe peitschen lassen.

Noch heute wird sie in Deutschland, in England gebraucht, wo sogar die Rute ein ehrenvolles Emblem der aristokratischen Schulen ist. Aber wer möchte erklären (proclamare), dass sie ein Emblem der Zivilisation sei?

„Vom Standpunkte der Psychophysiologie aus muss ich erklären, dass der körperliche Schmerz ein grosser Erreger der Aufmerksamkeit ist. Ich habe reiche Erfahrung in diesem Punkte, aber ich würde in der That nicht wagen, eine wirksame Züchtigung (selten, baldig und kräftig) in eine Erziehungsanstalt für schwachsinnige Kinder einzuführen. Der Guss kalten Wassers, die Ein- schliessung in dunkle Zellen, Zwangsarbeit, Entbehrungen das ist das Bündel von Strafen, das auch heute in den Anstalten des Auslandes in Gebrauch ist. Die ganze Sache ist nutzlos, oder gleichsam: auf jede Art deckt der Gewinn die Spesen nicht.

„August Voisin ein berühmter Arzt, der grosse Erfahrungen mit Idioten hatte behauptet: „Die Strenge ist gefährlich und entbehrlich; die körperlichen Strafen müssen absolut verboten werden.“ Das ist die allgemeine Überzeugung von Spencer bis zu Don Bosco. Die beste Art ist die Behandlung im Guten, wie Briquet sagte.

„Wir Ärzte werden nıe vergessen dürfen, dass einen armen Idioten strafen ebenso ist, als wenn ein Gärtner eine Pflanze, die schlecht wächst, mit dem Stocke schlagen wollte, anstatt sie aufzurichten und anzubinden.

„Unsere eifrigen aufsichtführenden Damen werden übrigens auf die wichtige Frage zurückkommen. Unterdessen ist in der Tassostrasse der mündliche Tadel üblich und, mehr zur Bestrafung der Schlechten, die Belobigung und die öffent- liche Belohnung der Guten. Nur in den seltensten Fällen erinnern wir uns an die Worte des berühmten Arztes und Pädagogen Shuttleworth: „mitunter geht ein Appell an den Verstand am besten durch den Magen“ (Mentally - deficient Children, S. 97f.), und wir lassen einem widerspenstigen Zöglinge die Mahlzeit um eine oder zwei Stunden verzögern.“

Der letzte Abschnitt berichtet über die ersten Ergebnisse und beginnt mit folgenden allgemeiuen Bemerkungen:

„Viele glauben, dass, um ein langsames Kind in den Spezial- oder Hilfs- klassen zu unterrichten, die vierfache Zeit nötig sei als für das normale Kind. Diese Meinung macht sich vielleicht nicht des Pessimismus schuldig, wenn man bedenkt, dass in den genannten Klassen die Erziehung sehr vernachlässigt wird. In Erziehungsanstalten müssen die Dinge ganz anders verlaufen. Hier treibt man die intensive Kultur des Geistes und des Herzens, eine rationelle und stetige „Manneskultur“ (viricoltura), wie G. de Molinari sagen würde, mit Methoden und Hilfsmitteln, die so natürlich sind, dass keinerlei Form von Überdruss (surmenage) zu befürchten ist.“

Auf grund der vorliegenden Rapportbücher wird festgestellt, dass die er- zielten Erfolge, und zwar a) im Zustande des körperlichen Befindens, b) in der Bildung der Sinne und der Bewegungen, c) in der speciellen Sprachbildung, d) im Betragen und e) im Lesen, Schreiben und Rechnen die gehegten Er- wartungen übertroffen haben. Die merklichsten Besserungen sind in der sitt-

lichen Bildung und im Betragen zutage getreten, und Besucher, die die Anstalt in den ersten Tagen nach ihrer Eröffnung und mehrere Monate später gesehen, haben erklärt, dass die Zöglinge im ganzen genommen sich nicht von einer gewöhnlichen Schülerschar unterscheiden; sie stehen da in Reihen und Gruppen, fröblich, aber nicht allzulaut, folgsam den Anordnungen der Lehrerinnen und Wärterinnen.“*

Dabei wird die von vielen Arzten anerkannte Lehre von der erblichen Be- lastung und vom Atavismus, infolge deren die Hoffnung auf Besserung von Schwachen und Missethätern für eitel gebalten wird, ebenso als „ein wenig über- trieben“ bezeichnet, als das Rousseausche Wort, dass alles gut ist, was aus den Händen des Schöpfers kommt, und die Thatsache hervorgehoben, dass nach einem Berichte über das „Hospiz für die Söhne Gefangener“ unter einer Gesamtheit von 70, die für gute Führung prämiiert wurden, 53, also mehr als °/, Söhne von Verbrechern waren, die Grausamkeiten und Mordthaten begangen hatten, woraus „die unberechenbare Macht der Erziehung über die widerspenstigen Naturen“ ge- folgert wird. „Wie viele Kinder, die als moralische Narren beurteilt wurden, würden sich haben bessern können durch eine gesunde Erziehung, die überdies den Zweck gehabt hätte, dieselbe Neigung, die sie zum Laster und zum Ver- brechen treiben, zum individuellen und sozialen Nutzen zu wandeln!“

Unter den 25 Zöglingen der Anstalt sind wenigstens 10 gewesen, die mit einem hohen Grade von Schwäche einen hervorstechenden Mangel an moralischem Sinne verbanden, von unbeständigem Betragen, ohne jede Spur von Ernst etc. An einer Anzahl von Beispielen wird nun gezeigt, wie sich das widerspenstige, rohe, unverschämte, lügnerische, diebische, furchtsame, träge Wesen, die Neigung zum Entlaufen, zur Onanie, die Stumpfheit des Geistes und der Bewegungen etc. im Laufe der Zeit gebessert hat. Die bei einzelnen angewandten Kuren er- strecken sich hauptsächlich auf körperliche Stärkung durch Beseitigung der Blut- armut und schlechter Ernährungszustände. Bemerkenswert ist der Satz: „Einer der wichtigsten Faktoren für die rasche Herstellung geordneter Führung der Geistesschwachen ist sicher die Unterdrückung jeglichen alkoholischen Getränkes.“

Nächst den Besserungen im Betragen sind die auffälligsten Fortschritte in der Sprache wahrzunehmen gewesen, und ebenso haben sich in der Erziehung der Sinne und der Bewegungen, wie im Anfangsunterrichte beachtenswerte Fort- schritte bei den älteren Zöglingen gezeigt. Von den Farben werden wenigstens die Hauptfarben von fast allen Kindern erkannt und mit ihren Namen bezeichnet, fast alle sind fähig bis 100 zu zählen, viele der Fröbelschen Arbeiten auszu- führen, Lieder im Chore zu singen, und von mehreren sind auch im Lesen und Schreiben Fortschritte zu verzeichnen gewesen.

Durch die bisherigen Erfolge fühlt man sich bestärkt, in der Arbeit für die geistig armen Kinder fortzufahren, damit die Stadt von diesen stumpf- sinnigen, närrischen, verbrecherischen Kindern befreit werde, die die schliminsten Aussichten für die Zukunft bieten. Mit dem Danke für diejenigen, die das schwierige Unternehmen verwirklichen helfen, verknüpft sich der Wunsch, dass

152 der ermutigende „Strom der Sympathie* sich noch ausbreiten und die Unter- stützung von seiten der Gelehrten und der Guten erhalten bleiben, und dass neben anderen Anstalten für Schwachsinnige, die früher oder später entstehen werden, auch die Asylschulen blühen mögen, „die aus den reinsten Quellen der modernen Pädagogik, der Psychotherapie und der sozialen Hygiene her- stammen.“

Damit schliesst der Bericht, dem ich nach brieflichen Mitteilungen und Zeitungsmeldungen (insbesondere dem Berichte eines Besuchers in Nr. 52 der römischen Tribuna vom 21. Februar 1901, 2. Ausgabe) noch folgendes beifügen kann. Seit ihrer Gründung hat sich die Schule bedeutend erweitert und ver- vollkommnet. Gegenwärtig zählt sie 50 Knaben und Mädchen, die von Öffent- lichen und Privatschulen ausgeschlossen wurden, und ist aus dem kleinen Lokale in der Tassostrasse übergesiedelt in ein einzelstehendes dreistöckiges Haus, in das Licht und Luft frei eindringen können, mit einem Hofe, wo die Kinder spielen und turnen können. Jeden Morgen, wenn nach Ankunft der Kinder den einzelnen die im Personalbogen etwa vorgeschriebenen Arzneien verabreicht worden sind, gehts ans Baden. Jeden Tag werden 10 Bäder verabfolgt, so dass jedes Kind aller 5 Tage ein Bad bekommt. Darnach beginnt der Unterricht, der sich je nach der Bildungsfähigkeit und dem Bedürfnisse der Kinder bei sprachlich Belasteten auf Artikulationsübungen, bei anderen auf Gesang, bei den besseren auf Lesen und Schreiben, aufs Lernen kleiner moralischer Geschichten, auf Handarbeiten in Stroh, Papier und dgl. erstreckt. Da die Asylschule vor allem erzieherische Zwecke verfolgt, so wird der Unterricht in zweite Linie ge- stellt. Über ihren Einfluss bemerkt jener Besucher noch, dass seit ihrer Gründung das Esquilinviertel im Punkte seines Kinderlebens eine ganz andere Physiognomie angenommen habe, da jene 50 Kinder, die sonst auf der Strasse sich selbst überlassen sein würden, für einen grossen Teil des Tages abgesondert sind und weder selber etwas Böses thun, noch andere zu etwas Bösem verleiten können. Er fügt dann noch hinzu: „In der Asylschule rettet die Wohlthätigkeit nicht bloss das Kind, sondern sie giebt auch der Wissenschaft Gelegenheit es zu studieren. Neben den Personen, die ihr Geld und ihre Mühe opfern, steht der Gelehrte, der sich bemüht, aus dem Studium der Kinderseele Gesetze und Beob- achtungen abzuleiten, die zu einem besseren Verständnisse der Kindererziehung in der Zukunft führen werden.“ In der That hat der Professor de Sanctis der Anstalt eine ernste wissenschaftliche Grundlage gegeben, und sie wird auch von einer Anzahl Studenten besucht, die dort psychiatrische Untersuchungen und Versuche anstellen.

Der Asylschule sind bald ähnliche Anstalten gefolgt, so am 1. März 1899 in Rom selbst ein Pflege- und Erziehungshaus für bemittelte schwachsinnige Kinder mit Internat, Externat und Spezialklassen für Sprachfehler, das von Herrn Virginio Koch im Vereine mit Professor de Sanctis und Dr. J. Egidi gegründet und seitdem beträchtlich vervollkommnet worden ist; ferner das Institut von San Giovanni in Persiceto, Anfang Juli 1899 gegründet von Prof.

153 Tamburini, über das ich nichts weiter habe erfahren können, als dass es Kinder von 5—15 Jahren aufnimmt und von der Provinz Emilia unterhalten wird.

Alles in allem genommen muss es Bewunderung erregen, welche ausser- ordentliche Fortschritte Italien hinsichtlich der Fürsorge für schwachsinnige Kinder iu den letztvergangenen wenigen Jahren zu verzeichnen hat, so dass Prof. de Sanctis in dem mehr erwähnten Artikel mit Recht schreiben konnte: „Das Jahr 1899 bezeichnet eine Epoche in der Geschichte der Fürsorge für die Schwachsinnigen in Italien, wie die Jabre 1841—42 die klassische Epoche in der (ausschliesslichen) Fürsorge für dieselben in der Schweiz, in Frankreich und Deutschland gewesen ist.“ Wohl mag uns manches dabei eigentümlich, ja bedenklich erscheinen, so z. B. das Vorwiegen des medizinischen Elementes und medizinischer Rücksichten gegenüber dem eigentlichen Unterrichte, wodurch alle diese neuen Anstalten ein wesentlich anderes Gesicht tragen als unsere deutschen Anstalten und Schulen für schwachsinnige Kinder mit ihrer ausschliesslich pädagogischen Richtung; aber sicher wird niemand dem dabei verfolgten Zwecke der Erforschung der Kindesnatur zu missbilligen vermögen, ja hier und da dürfte man bei uns, insbesondere in den Hilfsschulen, mitunter wünschen, dass sich die Ärzte, namentlich die Psychiater, mehr als bisher darum bekümmerten. Auch die Verleihung von besonderen Ehrentiteln etc. an die Wohlthäter dürfte manchem auffällig vorkommen; aber da alle diese Anstalten für ihre Gründung und ihr Bestehen auf die Opferwilligkeit der wohlhabenden Gesellschaftskreise angewiesen sind, wer wollte es da den Urhebern und Leitern einer so heil- bringenden Bewegung verdenken, wenn sie, dem südlichen Temperamente Rech- nung tragend, den Trieb zu möglichst ausgedehnter Wohlthätigkeit. durch Erteilung gewisser äusserer Auszeichnungen anzuregen und annehmlicher zu machen suchen? In Summa: wollen wir das Neue, das uns da entgegentritt, uns zu recht fruchtbarer Anregung für unser eigenes Wirken dienen lassen und auch aus dem uns Auffälligen und Fremdartigen für unsere anders gearteten Verbältnisse eine gute Lehre ziehen! Ehre aber den Männern, die mit hoher Begeisterung für die gute Sache die grossartige Bewegung einleiteten und mit Unermüdlichkeit und Zähigkeit verfolgten, Hochachtung den vielen edlen Frauen, die mit hingebender Treue ihre Kräfte dem schwierigen, aber verheissungsvollen Samariterdienste an den geistig Armen widmeten! Wünschen wir allen ihren weiteren Bestrebungen einen ebenso glücklichen Fortgang, als es der Anfang verspricht.

„Gutes gewollt mit Vertrauen und Beharrlichkeit führet zum Ausgang!“*)

*) Vielleicht gelingt es mir zu gelegener Zeit, auch über einzelne, die Erziehung Schwach- sinniger betreffenden litterarischen Erscheinungen, wie das oben erwähnte Manuale di ortofrenia vom Prof. Parise, oder die von demselben bei Ferrari in Siena seit Anfang dieses Jahres erscheinende neue Monatsschrift: L’educazione dei frenastenici, Rassegna medico-pedagogica, u. a., zu berichten, um auch nach dieser Seite hin die Bestrebungen in Italien ins Licht zu setzen.

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Zu der neuen preussischen „Anweisung über die Unterbringung in Privatanstalten für Geisteskranke, Epileptische und Idioten“.

Auf die wiederholten Eingaben des Vorstandes der Vereinigung der Leiter von Anstalten für Idioten und Epileptische an die Ministerien der Medizinal- angelegenheiten, der Justiz und des Innern betreffend den Ministerialerlass vom 20. September 1895 wurde in den ministeriellen Erwiderungen jedesmal auf eine zu „erwartende Neuprüfung“ resp. „Abänderung“ des genannten Erlasses hingewiesen. Auch das letzte Antwortschreiben seitens der betreffenden Herren Minister vom 25. März laufenden Jahres an die „Vereinigung, stellte in Aussicht, „dass die besonderen Verhältnisse der Anstalten für jugendliche Idioten und Epileptiker in der bevorstehenden Erweiterung der Anweisung über die Aufnahme von Geisteskranken etc. in Privatanstalten in einem besonderen Ab- schnitte genügende Berücksichtigung finden werde“.

Diese „bevorstehende Erweiterung“ ist nun in Form einer neuen „Anweisung über Unterbringung in Privatanstalten für Geisteskranke, Epileptische und Idioten“ (vom 26. März 1901) eingetroffen. Damit hat man in Preussen wieder den Verordnungsweg betreten im Gegensatz zu einer nicht geringen Zahl von Stimmen, die nach einer festen gesetzlichen Regelung des Irrenwesens verlangten. Die „Psychiatrische Wochenschrift“ schreibt in ihrer Nummer vom 20. April dazu: „Eine gesetzliche Regelung des Irrenwesens ist eine der schwierigsten Aufgaben, welche dem Gesetzgeber überhaupt gestellt werden können. Diese Erkenntnis ist wohl, wenigstens teilweise, der Grund, aus welchem das Reich, wie auch Preussen sich bisher gegenüber dem Drängen auf Erlass fester gesetzlicher Bestimmungen über das Irrenwesen ablehnend verhalten haben; teilweise beruht diese Zurückhaltung allerdings auch auf der ausgesprochenen Auffassung, dass eine strenge Kontrolle der Einrichtungen der privaten wie öffentlichen Anstalten durch die staatlichen Aufsichtsbehörden und die von ihnen bestellten sachkundigen Revisoren wichtiger sei, als alle gesetzlichen Vor- schriften. (Vergleiche Verhandlungen des Reichstages vom 28. Januar 1899, Seite 496 des Protokolls.)“

Auch wir werden zunächst gegen eine Ordnung des Irren- resp. Idioten- wesens durch ministerielle Erlasse nichts einzuwenden haben. Solange in den medizinischen Kreisen die Ansichten über die Idiotenanstalten nicht objektiver und weniger einseitig sind, als dies augenblicklich der Fall ist, und solange namentlich auch unter den Idiotenanstalten selbst keine schärfere Unter- scheidung zwischen reinen Pflegehäusern und ausgesprochenen Unterrichts- resp. Erziehungs-Instituten stattgefunden hat, solange wird es immer im Interesse unserer Anstalten liegen, wenn bestimmte, gesetzliche Festlegungen so weit als möglich hinausgeschoben werden. Andererseits erhebt sich freilich auch sofort die Frage, ob jene staatlich „bestellten sachkundigen Revisoren,“ auf deren Thätigkeit die Regierung sich ganz und gar verlässt, auch immer und in allen Fällen ein sachkundiges Verständnis für die speziellen Aufgaben besitzen,

155 welche die zu revidierenden Anstalten im einzelnen verfolgen. Wir denken dabei natürlich zunächst wieder an unsere Unterrichtsanstalten für Schwach- sinnige, deren heilpädagogischen Bestrebungen gegenüber auch der sachkundigste Mediziner nicht vollständig sachkundig sein dürfte. Doch davon später.

In der medizinisch-psychiatrischen Fachpresse hat die neue Anweisung im allgemeinen eine ziemlich günstige Rezension gefunden. Wenn nun für unsere Anstalten die Sache auch nicht ganz so günstig steht, so lässt sich doch immer- hin im Vergleich zu der alten Anweisung ein gewisser Fortschritt feststellen, Dieser zeigt sich vor allem in der Anlage resp. Gruppierung der Bestimmungen des neuen Erlasses.. Während die alte Anweisung eine Unterscheidung zwischen Idioten- und Irrenanstalten überhaupt nicht machte, gliedert sich die neue An- weisung in

A) Vorschriften für Kranke, welche das 18. Jahr vollendet haben,

B) Vorschriften für Kranke im Alter unter 18 Jahren,

C) gemeinsame Bestimmungen.

Dabei enthält Abteilung A so ziemlich dieselben Bestimmungen wie die Anweisung vom 20. September 1895, während in B die Forderungen wesentlich vereinfacht, gemildert und den jugendlichen Kranken angepasst sind.

Aber die Art und Weise dieser Unterscheidung, so sehr sie auch den Be- dürfnissen der Unterrichtsanstalten für Schwachsinnige entgegenzukommen scheit, entspricht doch nicht den Wünschen der meisten Anstaltsvorsteher. Das Bestreben dieser geht bekanntlich dahin, eine generelle Trennung der Idioten und Epileptischen überhaupt von den Irren durch ministerielle Verfügung an- erkannt zu sehen. Statt dessen wurde diese Trennung aber nur in rein äusser- licher Weise nach Massgabe des Alters der Kranken durchgeführt derart, dass Irre, Idioten und Epileptische als eine zusammengehörende Kategorie von Kranken betrachtet wurden, die lediglich ihren Altersunterschieden entsprechend eine spezialisierte gesetzliche Behandlung finden. Dadurch werden einerseits die Idioten im Alter über 18 Jahren von den milderen Bestimmungen des Ab- schnitt B gänzlich ausgeschlossen, während andererseits jugendliche Geistes- kranke unbegründeter Weise mit Idioten und Epileptischen in eine Linie zu stehen kommen.

Fasst man zunächst den ersteren Umstand näher ins Auge, wonach Idioten über 18 Jahre unter die strengeren Vorschriften des Abschnitts A fallen, so stösst man hier bei eingehender Erwägung auf höchst wunderliche Widersprüche. Da nämlich die meisten unserer heutigen Idiotenanstalten Zöglinge in allen Altersstufen beherbergen, so unterstehen sie nach dem neuen Erlass zweierlei Bestimmungen, sowohl denjenigen des Abschnitts A als auch denjenigen des Abschnitts Be Solange es sich nun um Aufnahme, Beurlaubung, Entlassung etc. der einzelnen Kranken handelt, können diese zweierlei Bestimmungen recht wohl in einer und derselben Anstalt nebeneinander bestehen. Sofort aber ge- raten sie miteinander in Konflikt, sobald es sich um die Leitung, Einrichtung etc. der Anstalt selbst handelt. Z. B. kann es vorkommen, dass für eine Anstalt nach den Bestimmungen des Abschnitts A ärztliche Oberleitung gefordert wird,

während dieselbe Anstalt nach Abschnitt B eine solche nicht nötig hat. Wo liegt nun das Richtige? Man bekommt vielleicht zur Antwort, dass eben die Anstalten künftighin darauf Bedacht nehmen müssen, entweder nur jugendliche oder nur erwachsene Kranke aufzunehmen, so dass mit der Zeit zu unterscheiden wäre zwischen Anstalten für ältere und solche für jüngere Schwachsinnige. Abgesehen davon, dass eine solche Specialisierung der Anstalten erst nach Jahren sich zur Thatsache entwickeln würde (denn man kann doch wohl nicht verlangen, dass dies auf dem Wege von Entlassungen, Umzügen etc. von heut auf morgen zu stande kommen müsse), so stehen ihr auch nicht un- gewichtige Bedenken gegenüber. Sicher ist, dass jedem auf diesen Gebiete nur halbwegs Erfahrenen die Einteilung der Anstalten nach Massgabe des Alters der Zöglinge als etwas rein Äusserliches, Willkürliches und darum völlig Zweckloses erscheint gegenüber der viel vernünftigeren und praktisch entschieden wirksameren Unterscheidung von reinen Pflegehäusern einerseits und Unterrichts- anstalten andererseits. Denn wenn z. B. Anstalten für Zöglinge im Alter unter 18 Jahren neben bildungsfähigen, die Anstaltsschule regelmässig besuchenden Schwachsinnigen auch sämtliche Formen des Blödsinns, der selbstverständlich an keine Altersgrenze gebunden ist, verpflegen müssten, so wären das höchst un- gesunde Zustände, die gewiss nicht in der Absicht der Regierung liegen können.

Ein weiterer Bedenken erregender Punkt ist wie schon oben erwähnt wurde die Gleichstellung von jugendlichen Idioten und Epileptischen mit jugendlichen Geisteskranken, wie sie in Abschnitt B, nachdem einmal das Alter als Trennungsgrund angenommen war, stattgefunden hat. Diese Zusammen- fassung von jugendlichen Geisteskranken, Idioten und Epileptischen ist nicht minder anfechtbar als die frühere Gleichstellung von Geisteskranken überhaupt mit Idioten und Epileptischen. Selbst von medizinisch-psychiatrischer Seite sind gegen die Lostrennung der jugendlichen Geisteskranken von den erwachsenen Geisteskranken und ihre Koordinierung mit den Idioten und Epileptischen Be- denken erhoben worden Der Referent der schon erwähnten „Psychiatrischen Wochenschrift“ schreibt: „Ein innerer Grund, die jugendlichen Geisteskranken anderen Bestimmungen zu unterwerfen, als die Erwachsenen, dürfte indes nicht anzuerkennen sein, da sie insbesondere an die psychiatrische Vorbildung des Anstaltsarztes genau dieselben Anforderungen stellen, wie jene“ Dann fährt er allerdings fort, „dass mit Rücksicht auf die verhältnismässig geringe Zahl der in Betracht kommenden Geisteskranken und die thatsächliche Entwicklung solcher Fälle in der Praxis hierüber hinweggesehen werden könne“.

So leicht können wir vom pädagogischen Standpunkt aus uns mit dieser abermaligen Vermengung von jugendlichen Geisteskranken und Idioten nicht zufrieden geben. Wohl erkennen wir dankbar das Entgegenkommen an, welches die Regierung in der neuen Anweisung unseren Anstalten gegenüber bewies, um so unverständlicher erscheint es uns aber, wie trotzdem eine Gleichstellung von schulfähigen Idioten und jugendlichen Geisteskranken beibehalten werden konnte. Wenn ein innerer Grund zur Scheidung zwischen jugendlichen und erwachsenen Geisteskranken laut psychiatrischen Urteils nicht vorliegt, die

an

Regierung aber die von uns gewünschte Trennung der Idioten und Geistes- kranken für angezeigt findet (diese Absicht liegt den besonderen Bestimmungen in Abschnitt B doch wohl zu Grunde), warum mussten dann in der Anweisung mit unseren Zöglingen, die auf den Schulbänken sitzen, noch die jugendlichen Geisteskranken zusammenbegriffen werden? Es ist dies um so verwunderlicher, als durch die eigens zu diesem Zwecke erlassenen Ausnahmebestimmungen vom 24. April 1896 die Idioten und Epileptischen im Alter unter 18 Jahren bereits als eine besondere, von den eigentlichen Geisteskranken abgegrenzte Gruppe charakterisiert worden waren. Sachlich werden wohl auch kaum die scharf hervortretenden Unterschiede zwischen dem klinischen Krankheitsbilde des kindlichen Schwachsinns und demjenigen desjugendlichen Irrsinns zu bestreiten sein.

Nun könnten wir allerdings auch analog dem Referenten der „Psychiatri- schen Wochenschrift“ über diese Bedenken hinwegsehen, um so mehr, da uns *) die Anweisung im einzelnen doch manche Erleichterungen und Vorteile brachte. Allein für uns hat gerade diese Frage eine besondere praktische Bedeutung. Denn dadurch, dass unsere Kinder in der Anweisung kurzweg als „Geisteskranke unter 18 Jahren“ aufgefasst und mit den „jugendlichen Irren“ in Reih und Glied gestellt werden, ist den ärztlichen Befugnissen über unsere Anstalten, die, wie die Erfahrungen der letzten Jahre bewiesen, nicht immer zum Vorteil unseres pädagogischen Wirkens angewendet wurden,. von vornherein wieder ein bedenklich grosser Spielraum gelassen; zum mindesten hat die Grenzregulierung zwischen Internaten für geistig Zurückgebliebene und Irrenhäusern nicht in dem Grade stattgefunden, wie es im Interesse unserer Schulen und eines freien, un- befangenen Zusammenarbeitens von Medizin und Pädagogik zu wünschen wäre. Wir wollen unsere Anstalten durchaus nicht einer zweckmässigen Kontrolle jener staatlicherseits bestellten medizinalen Besuchskommission entziehen, so wenig wir der Medizin resp. Psychiatrie das Recht, an unseren heilpädagogischen Bestrebungen teilzunehmen, abstreiten; wir sind uns vollkommen bewusst, welch wichtigen Anteil der Arzt resp Psychiater an der Behandlung geistig abnormer Kinder nehmen und welch segensreiche Früchte ein harmonisches Zusammen- wirken von Arzt und Schulmann zeitigen kann. Aber wir können nicht zu- geben, dass unsere schwachsinnigen Schulkinder als jugendliche Geisteskranke behandelt und unsere Anstaltsschulen der Willkür ärztlicher Aufsichts- beamter preisgegeben werden. Wir verweisen an dieser Stelle noch an die sehr beherzigenswerten und durchaus sachlich gehaltenen Bemerkungen Trüpers über die Schularztfrage gelegentlich einer Rezension der Laqueur’schen Broschüre „Die Hilfsschulen für schwachbefähigte Kinder“ (Zeitschrift für Kinderforschung, Heft I und II St. 46 ff. resp. 86 ff.), sowie an dessen Abhandlung „Pädagogik und Medizin“ im V. Band der Rein’'schen pädagogischen Encyklopädie.

In folgendem seien nun die Einzelheiten des Abschnitts B (er umfasst nur einen $, den $ 22) einer eingehenden Prüfung unterworfen. Wenn wir uns

*) Wir stellen uns dabei vollständig auf den Boden der ausschliesslichen Unter- richtsanstalten für Schwachsinnige, wie auch alles Weitere unter dem Gesichtspunkt dieser Anstalten aufgefasst sein will.

an.

dabei lediglich auf den heilpädagogischen Standpunkt stellen, so sind wir uns recht wohl bewusst, dass dies nicht im Sinne der Regierung liegt, welche bei jenem $ 22 eben nicht in erster Linie jugendliche, bildungsfähige Schwach- sinnige, sondern überhaupt alle geistig Kranken im Alter unter 18 Jahren im Auge hatte. Da nun aber einmal unsere Unterrichts-Anstalten unter diesen $ fallen, so steht uns auch das Recht zu, denselben nur von diesem Gesichts- punkt aus zu betrachten. Der $ 22 gliedert sich in 10 Abschnitte.

Absatz 1 behandelt die Aufnahme. Dazu bedarf es:

a) einer ärztlichen Bescheinigung resp. Begründung der Aufnahme-

notwendigkeit,

b) des Antrages des gesetzlichen Vertreters oder des zur Unterstützung verpflichteten Armenverbandes,

c) einer vertraulichen Anzeige der Aufnahme an die Ortspolizeibehörde.

Im Unterschied von der alten Anweisung, die bei der Aufnahme ein kreis- pbysikatlisches Attest verlangte, genügt jetzt das Zeugnis jedes approbierten Arztes. Doch war diese Erleichterung den Idiotenanstalten schon früher durch ein ministerielles Rundschreiben zugestanden worden. Ebenso ist die neu hinzugekommene Bestimmung über die Gültigkeitsdauer des ärztlichen Attestes (3 Monate vom Tage der letzten Untersuchung) insofern keine Neuerung mehr, als dies schon durch den Ausnahmeerlass vom 24. April 1896 festgesetzt war.

Absatz 2 giebt Bestimmungen betreffend die Übernahme aus anderen öffentlichen und privaten Anstalten. Es gilt hier derselbe $ (6) wie bei er- wachsenen Geisteskranken. Verlangt wird:

a) ein Übergabeschein,

b) eine beglaubigte Abschrift des ärztlichen Aufnahmezeugnisses,

c) zutreffenden Falles eine Abschrift des Nachweises der erfolgten Ent-

mündigung,

d) sofern nicht die Krankengeschichte zur Einsicht oder in Abschrift bei- gefügt wird, eine ärztliche Mitteilung der für die Behandlung wichtigsten Beobachtungen,

e) vom ärztlichen Leiter der früheren Anstalt eine Bescheinigung darüber, dass das Leiden die weitere Behandlung in einer Anstalt bedingt und ob der Kranke als voraussichtlich heilbar anzusehen ist.

Neu hinzugetreten ist in diesem Absatz Punkt d, eine gewiss zweckmässige und anerkennenswerte Bestimmung, durch die es dem später behandelnden Arzte (Pädagogen !) ermöglicht wird, sich sofort ein klares Bild von dem Krankheits- zustand des neuen Patienten und damit die nötigsten Aufschlüsse über die Behandlung desselben zu verschaffen. Leider müssen wir dabei, da diese An- ordnung (d. h. der ganze, zunächst für erwachsene Geisteskranke festgesetzte 8 6) ohne jede Modifikation auf die „Kranken im Alter unter 18 Jahren“ übertragen wurde, eine entsprechende Beachtung der bei der Behandlung unserer Zöglinge doch entschieden hervortretenden heil-pädagogischen Prinzipien vollständig vermissen. Es hätte sicherlich der Autorität der Ärzte nichts geschadet, der guten Sache aber ohne Zweifel genützt, wenn die für er-

159

wachsene Geisteskranke geltenden Übernahmebestimmungen in ihrer Anwendung auf Idioten ete. eine Abänderung resp. Ergänzung dahingehend gefunden hätten, dass bei der Übergabe schulfähiger Anstaltszöglinge neben den ärztlichen Zeugnissen auch das Urteil des Pädagogen zu seinem Rechte gekommen wäre. Aber freilich: Das liegt ja gar nicht im Zwecke einer solchen Bestimmung. Damit mögen wir uns getrösten. Allerdings ist der bemängelte Umstand für uns von ziemlich untergeordneter Bedeutung, da einerseits Übernahmen aus anderen Anstalten bei uns verhältnismässig nur selten stattfinden und anderer- seits bei etwa doch vorkommenden Fällen der Pädagoge den abziehenden Zög- ling auch ohne „höhere Verfügung“ mit den nötigen Zeugnissen, schriftlichen Mitteilungen über Beobachtungen, über den augenblicklichen Stand des Schülers u. s. w. auszustatten pflegt. Wenn wir diesen Punkt trotzdem erwähnten, so geschah es nur um zu zeigen, wie deutlich hier wieder die Unzulänglichkeit des Bestrebens hervortritt, unsere Kinder ohne weiteres denselben Bestimmungen unterstellen zu wollen, denen die Geisteskranken unterliegen.

Ein das vorhin Gesagte noch klarer beweisendes Beispiel bietet der nächste Absatz (Absatz 3), der hinsichtlich der Entlassung unserer Zöglinge genau dasselbe vorschreibt, was auch bei erwachsenen Geisteskranken verlangt wird und dadurch verschiedene Bestimmungen giebt, bei denen auch der Nicht- Eingeweihte auf den ersten Blick erkennt, dass sie in Anwendung auf die Ver- hältnisse unserer Unterrichtsanstalten praktisch völlig wertlos sind. Dies im einzelnen näher zu zeigen, würde jedoch zu weit führen.

Als Nachtrag zu Absatz 2 sei bezüglich der Aufnahme von Ausländern noch bemerkt, dass künftighin nicht nur diese, sondern auch die Angehörigen jedes anderen deutschen Staates (Nicht-Preussen) dem zuständigen Regierungs- präsidenten angezeigt werden müssen.

Beurlaubungen können nach Absatz 4 unter Zustimmung des Arztes bis zur Dauer von 6 Monaten stattfinden. Also eine abermalige Verlängerung der Urlaubszeit, nachdem die Ausnahmebestimmungen die ursprünglichen 2 Wochen bereits auf 3 Monate erhöht hatten. Man beachte auch „unter ärztlicher Zustimmung“. Merkwäürdig erscheint ferner, dass denselben Kranken, denen gegenüber man sich im vorigen Absatz zur Vorschrift höchst penibler Entlassungsbestimmungen genötigt sah, in Absatz 4 eine solch lange Beurlaubungs- dauer eingeräumt wird. Besondere praktische Wichtigkeit dürfte diese Erhöhung der Urlaubszeit für unsere Anstalten übrigens kaum besitzen.

Absatz 5 unterstellt unsere Anstalten bezüglich ihrer Einrichtung den „allgemeinen gesundheitspolizeilichen Vorschriften“. Es ist dies von nicht un- wichtiger Bedeutung. Denn damit wird den Anstalten für jugendliche Kranke nicht nur eine grosse Erleichterung gewährt, sondern sie treten auch in direkten Gegensatz zu den eigentlichen Irrenanstalten, auf welche die viel schärferen „polizeilichen Vorschriften für Krankenanstalten etc.“ und ausserdem noch ver- schiedene andere besondere Bestimmungen in $ 19 der Anweisung Anwendung finden. Es lässt sich hier also eine recht scharfe, erfreuliche Unterscheidung zwischen „Irrenhäusern“ und „Erziehungsanstalten“ konstatieren. Nur auf

160 Räume und Einrichtungen, die für mit körperlichen Schwächezuständen Be- haftete, für Unreinliche, Bettlägerige bestimmt sind, müssen jene Vorschriften für Krankenanstalten angewendet werden

Absatz 6 kann eventuell missverstanden werden. Gemeint ist natürlich nicht, dass der Anstaltsleiter bei etwaiger kürzerer oder längerer Abwesenheit seine entsprechende Vertretung der Ortspolizei anzeige, sondern dass der finanzielle Unternehmer und rechtliche Besitzer einer Anstalt (bei Wohl- thätigkeitsinstituten sind es meist Vereine, Genossenschaften, weltliche oder geistliche Orden etc.) über die Anstellung des von ihm gewählten und mit der Leitung und Vertretung der Anstalt betrauten Anstaltsvorstehers bei der benannten Behörde Mitteilung mache.

Von besonderer Wichtigkeit ist Absatz 7, der die Thätigkeit des Arztes in der Anstalt ins Auge fasst. Wenngleich derselbe an Klarheit und Bestimmt- heit der einzelnen Vorschriften sehr zu wünschen übrig lässt, so bedeutet er für uns doch immerhin einen Fortschritt Schon der einleitende Satz: „In jeder Anstalt muss die ärztliche Thätigkeit genau geregelt sein“, sticht von den schroffen und unzweideutigen Bestimmungen der „alten Anweisung“ („Die Anstalten müssen von einem in der Psychiatrie bewanderten Arzte geleitet werden“) recht angenehm ab und giebt deutlich zu erkennen, dass die Regierung willens ist, die ehemaligen Härten zu mildern. Sodann heisst es weiter: „Ob die psychiatrische Vorbildung des anzustellenden Arztes im einzelnen Falle für genügend erachtet wird, entscheidet der Regierungs-Präsident nach Anhörung der Besuchskommission Die Regierung erkennt also an, dass für unsere An- stalten entsprechenden Falles auch ein Arzt ohne psychiatrische Vorbildung genügt. Da nun aber unseıe Anstalten in erster Linie dem geistigen Zustand ihrer Zöglinge dienen, von einer ausgesprochen psychiatrischen Mithilfe seitens des Arztes jedoch abgesehen wird, so folgt daraus indirekt, dass dem Arzt auch nicht mehr eine leitende Stellung in unseren Anstalten zugedacht sein kann. In konsequenter Weise lässt darum die Anweisung auch den Be- griff „leitender Arzt“ fallen. Nun ist allerdings auf die in $ 20 dem „leitenden Arzt“ an Privatirrenanstalten gegebenen Vorschriften hingewiesen, aber mit der Bemerkung, dass sie „entsprechende Anwendung“ auf den Arzt der Anstalt finden sollen. Diese sehr deutungsfähige „entsprechende Anwen- dung“ hängt wie auch vorhin bemerkt von dem Urteil der Besachs- kommission und der Entscheidung des Regierungspräsidenten ab. Wir wären in dieser Hinsicht also vollständig dem Ermessen jener Herren preisgegeben, wenn nicht nachher noch in unzweideutiger Weise festgesetzt wäre, dass, „SO- weit die Anstalt ausserdem bezüglich des Unterrichts und der Ausbildung bestimmte Aufgaben erfülle, die Einzelheiten, auch die Verwendung des Personals hierzu dem Unternehmer der Anstalt überlassen bleibe“.

Leider können wir uns auch über diese verhältnismässig günstige Be- stimmung nicht von ganzem Herzen freuen, denn gleich darauf kommt in einem Einschränkungspassus das ärztliche Übergewicht über unsere pädagogische Arbeit wieder recht schroff zum Ausdruck. Es heisst da: „Der Unternehmer

pr

hat jedoch, falls ärztlicherseits dem Zustand der Pfleglinge nicht ent- sprechende Massregeln oder ein unzweckmässiges Benehmen des Personals fest- gestellt wird, alsbald Abhilfe zu schaffen“ Gelangt die vom Arzte für not- wendig erachtete Anordnung nicht zur Ausführung, „so ist durch den Kreis- arzt an den Regierungspräsidenten zu berichten“. Es ist ganz selbstverständlich, dass von dem Unternehmer resp. Leiter einer Anstalt, wenn sich in irgend welcher Hinsicht Missstände herausstellen, unter denen das Wohl der Anstalts- zöglinge oder auch nur eines Teils derselben notleidet, entsprechende Abhilfe erwartet werden kann. Fraglich erscheint jedoch, ob die in solchen Fällen dem Arzte eingeräumte Stellung als Aufsichtsbeamter die richtige ist und ob sie immer zum wirklichen Segen einer Anstalt gereichen wird. Denn da den Arzte keinerlei Grenzen in seiner Aufsichtsbefugnis gezogen sind und ihn niemand daran hindern kann, sein Aufsichts- und Einspruchsrecht eventuell bis in den äussersten Schulwinke] auszudehnen, so kann das unter Umständen zu recht unliebsamen Konflikten führen, die sich im Interesse der guten Sache durch entsprechende Vorschriften leicht vermeiden liessen. Darum wäre gerade in diesem Punkt einerseits eine mildere und andererseits eine genauer präzi- sierte Form der Vorschriften zu wünschen gewesen entsprechend dem bereits angeführten Satz der Anweisung, dass in jeder Anstalt die Thätigkeit des Arztes genau reguliert sein müsse. Allerdings dürfen wir an dieser Stelle nicht ver- säumen, auch der Überzeugung Ausdruck zu geben, dass gegebenen Falls die gesunden, objektiven Anschauungen und tüchtigen Gesinnungen der hier in Frage kommenden Persönlichkeiten eine weit bessere Garantie für das harmo- nische Zusammenwirken von Medizin und Pädagogik bilden „können“ als der tote Geist eines schablonenhaften, papierenen Paragraphenwerks.

Die drei letzten Absätze befassen sich noch mit einigen Vorschriften, die mit der Zweiteilung des neuen Erlasses in Bestimmungen für Kranke im Alter unter und über 18 Jahren in unmittelbarem Zusammenhang stehen. Man kann über die Notwendigkeit derselben verschiedener Meinung sein und that- sächlich wurde in den entsprechenden Kreisen auch schon der Wunsch laut, die Absätze 8 10 kämen ganz in Wegfall. Jedoch nachdem von Seiten der Regierung einmal das 18. Lebensjahr als Unterscheidungsgrenze festgesetzt war und indirekt verlangt wurde, die Anstalten unter B sollten nur jugendliche Kranke beherbergen, mussten konsequenter Weise auch für solche Fälle Vor- schriften getroffen werden, bei denen Zöglinge in Anstalten für jugendliche Kranke das 18. Lebensjahr überschreiten. Nach Absatz 8 ist der Aufenthalt eines solchen Zöglings in der Anstalt unter Beifügung einer ärztlichen Äusserung über seinen Zustand dem ersten Staatsanwalt desjenigen Gerichtes anzuzeigen, welches für die Entmündigung zuständig ist. Neben einer event. Einleitung des gesetzlichen Entmündigungsverfahrens handelt es sich dabei allem Anscheine nach um die Entscheidung darüber, ob der betreffende noch länger in der seitherigen Anstalt verbleiben darf oder nicht. Nach Absatz 9 ist das möglich, der in allerdings sehr unbestimmter Weise festsetzt, dass der längere Verbleib eines Kranken nach Vollendung des 18. Lebensjahres von den

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„Einzelheiten des Falles“, insbesondere aber. auch von der „Art der Anstalt“ abhänge Nach Absatz 10 muss auf Anordnung des Regierungspräsidenten sogar die Entlassung oder Überführung eines Kranken auch vor Vollendung des 18. Lebensjahres erfolgen.

Der Grund, warum diese drei letzten Bestimmungen in den entsprechenden Kreisen besondere Bedenken erregten, ist das geringe Vertrauen, das die Regierung gerade durch sie den nichtärztlichen Anstaltsleitern gegenüber zum Ausdruck bringt. Sehen wir von der rein äusserlichen Einteilung der Anstalten in solche für erwachsene Kranke und solche für jugendliche Kranke ab und setzen dafür die uns zweckmässiger erscheinende Unterscheidung zwischen Pflegehäusern und Unterrichtsanstalten, so formuliert sich für uns die Frage dahin : Ist in reinen Pflegeanstalten ärztliche Leitung notwendig oder nicht?

Vom nur pädagogischen Standpunkt aus kann uns die Lösung dieser Frage gleichgiltig sein. Haben die Schwachsinnigen einmal jene Grenze über- schritten, da die pädagogische Therapie auf sie keine nennenswerten Einflüsse mehr auszuüben vermag, so wird ihre Behandlung resp. Verpflegung von der Pädagogik auch kaum mehr als besonderes Vorrecht in Anspruch genommen werden können, womit aber keineswegs gesagt ist, dass die Leitung reiner Pflegeanstalten durch Geistiiche oder Pädagogen als unzureichend anzusehen sei. Wie auch von ärztlicher Seite schon oft betont wurde, hängt die Garantie für eine zweckmässige und gewissenhafte Verpflegung bildungsunfähiger Idioten weit mehr von der persönlichen Gesinnung und Tüchtigkeit des Leiters als von seiner beruflichen Stellung ab. Da aber wir Pädagogen und Geistliche dabei der ärztlichen Mithilfe und Unterstützung nicht völlig entraten können, so dürfen wir uns nicht verhehlen, dass der Streit um die Oberleitung in solchen Anstalten auf unserer Seite aussichtsloser ist als auf Seiten der Mediziner. Dies hängt nun einmal mit unserer modernen Zeitströmung zusammen, in der die mehr oder weniger berechtigten Einflüsse der Medizin auf das öffentliche Leben immer stärker hervortreten und an Bedeutung gewinnen. Darum er- schiene es uns im Interesse unseres heilpädagogischen Wirkens bei einer etwa notwendig werdenden Entscheidung als das Naheliegendste, jene Anstalten, die nicht mehr in das eigentliche Arbeitsfeld der Heilpädagogik bei Schwach- sinnigen fallen, entsprechenden Falls der ärztlichen Oberaufsicht zu überlassen, um dann um so unbehinderter und wirkungsvoller für die rein pädagogischen Interessen unserer Unterrichtsanstalten eintreten zu können, die bisher wohl nur deshalb von der Regierung eine so stiefmütterliche Behandlung erfuhren, weil sie eben immer mit den Pflegehäusern in einen Topf geworfen werden. Die nächste praktische Folge der neuen Bestimmung wird darum auch sein, dass künftighin zwischen Unterrichtsanstalten und Pflegehäusern viel schärfer wird unterschieden werden müssen, als dies bisher geschehen ist. Hat sich dann im Laufe der Zeit aus der Zahl der Idiotenanstalten eine scharf markierte Gruppe reiner Erziehungsinstitute herausgebildet, so wird es ohne Zweifel auch nicht an einem grösseren Entgegenkommen seitens der Regierung fehlen. Denn sicher ist, dass fast jedesmal, wenn Ärzte für die Notwendigkeit ärztlicher Leitung

163 unserer Anstalten eintreten, sie bei dem Begriff „Idioten-Anstalt“ Pfleghäuser für die tiefsten Formen des Schwachsinns im Auge haben. Führt man diese Herren jedoch in eine ausgesprochene Erziehungsanstalt, wo sie in den Schulen ein Häuflein schwacher, aber fröhlich antwortender Kinder, schön resp. ordent- lich geschriebene Aufsätze, hübsche Zeichnungen und dergleichen mehr finden, so sind sie meist auch sofort der Überzeugung, dass hier die Mitthätigkeit des Arztes zwar angezeigt, mitunter auch notwendig sei, dass die Hauptaufgabe aber doch den Händen eines verständnisvollen Pädagogen anvertraut bleiben müsse. Darum hat sich unser Streben in erster Linie dahin zu richten, unserer Erziehungsarbeit an Schwachsinnigen in der Öffentlichkeit, d. h. in den mass- gebenden Kreisen die gebührende Anerkennung und Achtung zu verschaffen. Das wird aber nur geschehen, wenn wir tüchtige Leistungen aufzuweisen haben. Von welchen Faktoren diese abhängen, liegt auf der Hand: von dem Fleiss, der Tüchtigkeit und Treue der Lehrer, aber auch und nicht zum mindesten -— von dem Anstaltsleiter, der das ihm unterstellte Lebr- und Wartepersonal mit lebendigem pädagogischen Geist und Eifer, namentlich aber auch mit einem klaren Bewusstsein von der Bedeutung unserer heilpädagogischen Aufgabe zu beseelen hat. Gar manches liesse sich hierüber sagen ; doch es würde zu weit führen. Vielleicht findet sich später einmal Gelegenheit, darauf zurückzukommen.

Der Abschnitt C der neuen Anweisung enthält gemeinsame Bestimmungen, die sich auf die Anstalten für jugendliche und erwachsene Geisteskranke zugleich beziehen. Von Bedeutung für uns sind hier namentlich die Vorschriften bezüg- lich der Beaufsichtigung, die sich jedoch von denjenigen der alten Anweisung nur unwesentlich unterscheiden. Auch über die Zusammensetzung der Besuchs- kommission finden sich keinerlei neue Vorschriften. Als Ergänzung muss hier das Antwortschreiben der pp. Minister vom 25. März 1901 an den Vorstand der Vereinigung deutscher Anstaltsleiter angeführt werden, in dem es folgender- massen heist: „Zugleich habe ich, der mitunterzeichnete Minister der geistlichen pp. Angelegenheiten durch Erlass vom heutigen Tage*) die Regierungs-Präsidenten mit Anweisung versehen, dass sie die pädagogischen Verhältnisse derjenigen Idiotenanstalten, in welchen ein geordneter Schulunterricht erteilt wird, durch die schultechnischen Organe der Regierung überwachen lassen.“

*) Der Erlass lautet: „Es hat sich als erwünscht herausgestellt, dass diejenigen Anstalten für jugendliche Epileptische und Idioten, in welchen ein geordneter Schul- unterricht erteilt wird, neben der durch die Anweisung vom 26. März 1901 angeordneten medizinalpolizeilichen Aufsicht auch in schultechnischer Beziehung, soweit erforderlich, überwacht werden.

Hiernach ersuche ich, diese Anstalten nach Bedürfnis auch durch die schultechnischen Organe der Regierung revidieren zu lassen. Bei solcher Besichtigung sind die Berichte der Besuchskommission zu berücksichtigen; ebenso ist das Ergebnis der pädagogischen Prüfung zunächst der Besuchskommission zugänglich zu machen und demnächst bei der jährlichen Einreichung der Berichte derselben den letzteren beizufügen. Endlich wird es sich empfehlen, vor Anordnung eingreifender Massnahmen auf Grund der schul- technischen Revisionen neben der reverierenden oder korreverierenden Beteiligung des

Regierungs- und Medizinalrats erforderlichen Falls auch die Besuchskommission zu hören. gez. Studt.“

164

Damit wäre auch in dieser Beziehung den Wünschen unserer pädagogischen Anstaltsleiter Genüge geleistet, und es ist nun abzuwarten, wie unsere Schul- einrichtungen resp. Schulleistungen vor den schultechnischen Organen bestehen werden. Das ist aber von nicht geringer Wichtigkeit; denn von diesen Schul- revisions-Protokollen wird es in erster Linie abhängen, welches Mass von Ent- gegenkommen seitens der Regierung unsere Unterrichtsaustalten künftighin ge- niessen werden. Möge es in dieser Hinsicht nicht einmal heissen: „Die ich rief die Geister, werd’ ich nun nicht los!“ Zunächst haben wir nur erreicht, dass unsere Anstalten statt unter einer, nunmehr unter zwei Aufsichts- behörden stehen, unter der medizinischen und pädagogischen. Ob es uns je einmal gelingen wird, wie die Volks- und Hilfsschulen, resp. wie die Taub- stummen-, Blinden- und ähnliche Anstalten nur der Schulverwaltung unterstellt zu werden ein Ideal, das einem Teil der Anstaltsleiter vorzuschweben scheint —, ist eine höchst ungewisse Frage, die noch mehr an Wahrscheinlichkeit ver- loren hat, seitdem der Minister der geistlichen pp. Angelegenheiten nach einem Rundschreiben jüngsten Datums auch bezüglich der Hilfsschulen „lebhaft wünscht, dass bei der nächsten Zusammenstellung sich keine Hilfsschule mehr finde, bei der nicht die regelmässige Zuziehung eines Arztes vorgesehen ist“. Jeden- falls lässt sich nicht leugnen, dass die Regierung in jeder Weise bestrebt ist, die Stellung des Arztes unseren Instituten gegenüber zu stärken und ihm den weitgehendsten Einfluss bei der Behandlung geistig abnormer Kinder zu sichern. Das zeigt auch die neue Anweisung recht deutlich trotz der verschiedenen Er- leichterungen, die sie uns auf der anderen Seite brachte. Wie wir schon ein- mal erwähnten, haben wir gegen eine sachlich berechtigte Stellungnahme des Arztes unserer Anstalts-Erziehungsarbeit gegenüber durchaus nichts einzuwenden, iin Gegenteil, wir wissen eine wohlmeinende und beratende ärztliche Mithilfe recht wohl zu würdigen. Wenn dagegen der Arzt die ihm von der Regierung eingeräumten Befugnisse zu einer bureaukratischen Überwachung benützt und seinen Einfluss in einseitiger Verfolgung ärztlicher Prinzipien in pedantische Nörgeleien, ungehörige Eingriffe in das Anstaltsleben u. 8. w. ausarten lässt, so kann das mindestens nicht zum Segen unserer Institute gereichen. Und dann wird sich immer wieder das dringende Bedürfnis herausstellen, für unsere An- stalten separate Bestimmungen zu erlangen, die einerseits der viel beanstandeten Gleichstellung unserer Zöglinge mit Geisteskranken (über und unter 18 Jahren) ein definitives Ende machten und andererseits der ärztlichen Thätigkeit in Au- stalten für Schwachsinnige und Idioten genaue Vorschriften auferlegten. Vor- läufig aber wollen wir der Hoffnung sein, dass auf Grund der neuen Anweisung trotz der mannigfachen Bedenken, die sich auch gegen sie erheben lassen, sowie in Erwartung eines persönlichen Wohlwollens und Verständuisses seitens der Ärzte unserer pädagogischen Aufgabe gegenüber doch noch im Interesse unserer Kinder ein fröhliches, segensreiches Zusammenwirker zu stande komme!

165

& 11 des Gesetzes vom 3. März 1897, betreffend das Diensteinkommen der Lehrer und Lehrerinnen an den öffentlichen Volksschulen.

1.

Im Anschluss an den in voriger Nummer erschienenen offenen Brief an den Vorstand der Konferenz zu Elberfeld sei es mir gestattet, einige weitere Bemerkungen zu machen.

Ich war vom 1. Oktober 1895 bis 31. Dezember 1898 als Hilfslehrer an der Idioten -Anstalt zu Liegnitz angestellt. Bei meiner Anstellung an den hiesigen stădtischen Volksschulen verfügte die hiesige Königl. Regierung, dass die von mir an der Liegnitzer Idioten - Anstalt verbrachte Dienstzeit nur ange- rechnet werden könne, falls ich 607,50 Mk. an die Alterszulagekasse zahle. Ich lebte in der festen Hoffnung, die Anstalt trage den Charakter einer öffentlichen Anstalt, denn

1. die Anstalt hat den amtlichen Titel: „Idiotenbildungs- und Pflege- Anstalt für den Regierungsbezirk Liegnitz*;

2. immer der jeweilige Regierungspräsident steht an der Spitze des Vor- standes der Anstalt;

3. die Anstalt wird in derselben Weise verwaltet wie z. B. die Breslauer Taubstummen-Anstalt, und letztere ist eine Öffentliche;

4. fast sämtliche Pfleglingsstellen werden von dem Landarmenverband resp. von der Provinz besetzt;

5. drei meinen Vorgängern wurde die an der Anstalt verbrachte Dienst- zeit voll angerechnet.

Wenn diese Anrechnung auch vor Inkrafttreten des Gesetzes vom 3. März 1897 geschah, so waren doch vorher schon ähnliche Bestimmungen vorhanden, und die Anrechnung geschah, wie ich in einem Falle bestimmt weiss, unter der Voraussetzung, die Anstalt trage den Charakter einer öffentlichen Anstalt. In anbetracht dieser Gründe wandte ich mich mit einem Gesuche an deu Herrn Minister und bat um Anrechnung der von mir an der Liegnitzer Idioten- Anstalt verbrachten Dienstzeit. Hierauf erhielt ich den Bescheid, dass die von mir an der Anstalt verbrachte Dienstzeit ohne Nachzahlung an die Alters- zulagekasse nicht angerechnet werden könne, da die Anstalt von einem Privat- verein unterhalten werde. Um nicht 3!/, Jahr meiner Dienstzeit zu verlieren, war ich gezwungen 607,50 Mk. an die Alterszulagekasse zu zahlen.

Ich frage nun: Wodurch habe ich das verdient? Habe ich etwa dem Staate in diesen Jahren nichts geleistet? Und gesetzt den Fall, der Staat würde die Fürsorge für diese schwachsinnigen und blödsinnigen Kinder in die Hand nehmen (und das wäre durchaus keine unbillige Forderung an ihn), würden dann nicht gerade die Lehrer, die an solchen staatlichen Anstalten thätig wären event. in ganz besonderer Weise bevorzugt und honoriert werden! Warum werden also Wohlthätigkeitsanstalten und ihre Lehrer so stiefmütterlich behandelt!

166 Auf Grund meiner Erfahrungen möchte ich jeden lehrer, der Lust hat, in eine solche Anstalt einzutreten, davor ernstlich warnen, solange jener $ 11 nicht abgeändert ist. Magdeburg, den 5. August 1901. W. Busch, Lehrer an der Hilfsschule für schwachbegabte Kinder.

Sehr geehrte Redaktion!

Durch die Aufnahme des Artikels „An den Vorstand der Konferenz zu Elberfeld“, betreffend die Nichtanrechnung der in privaten Anstalten zugebrachten Dienstjahre in der letzten Nummer Ihrer geschätzten Zeitschrift haben Sie sich im Interesse der privaten Wohlthätigkeitsanstalten und deren Lehrer ein ent- schiedenes Verdienst erworben. Es war sicher an der Zeit, auf diese gewiss angreifbarste und ungerechtfertigste Bestimmung unseres neuen preussischen Lehrerbesoldungsgesetzes einmal öffentlich hinzuweisen und dadurch die Be- seitigung eines Missstandes anzuregen, unter dem in den letzten Jahren fast alle privaten Erziehungsanstalten, namentlich aber die in denselben angestellten Lehrer zu leiden hatten. Wenn bisher in dieser Sache nichts oder nicht viel geschehen ist, so ist daran keineswegs Unwichtigkeit oder praktische Bedentungs- losigkeit derselben schuld, als vielmehr der Umstand, dass es den hier in Frage kommenden Lehrern an der nötigen Organisation und damit an der Möglichkeit einer erfolgreichen Agitation und eines geschlossenen Vorgehens fehlte. Ein Versuch, in der besprochenen Angelegenheit eine Änderung herbei zu führen, ist übrigens bereits einmal gemacht worden, und zwar datiert derselbe aus der Zeit, in welcher im Abgeordnetenhaus gerade über das Lehrerbesoldungsgesetz beraten wurde. Soviel wir wissen, ging damals der Anstoss von dem Direktor Schwenk der Idsteiner Anstalt aus, der in Verbindung mit Barthold-München- Gladbach ein Rundschreiben versandte, nach welchem die Herren Abgeordneten aufgefordert werden sollten, im neuen Gesetze den privaten Wohlthätigkeits- anstalten bezüglich der Anrechnung der in ihnen zugebrachten Dienstjahre grössere Rechte einräumen zu wollen. Dabei ist zu bemerken, dass bis dahin, also bis zum Inkrafttreten des neuen Gesetzes (1. April 1897), nach der Novelle zum Pensionsgesetz vom 26. April 1890 „mit Genehmigung des Unter- richts-Ministers nach Massgabe der Bestimmungen in den §§ 5—9 auch die Zeit angerechnet werden konnte, während welcher ein Lehrer an einer Taubstummen-, Blinden-, Idioten-, Waisen- oder ähnlichen Anstalt im Dienste einer Gemeinde oder eines sonstigen kommunalen Verbandes oder im Dienste einer Stiftungsanstalt sich befunden hat“, und dass jenes Rundschreiben nur eine prinzipielle, gesetzliche Regelung dieser Sache an Stelle einer Ab- hängigkeit von der jedesmaligen ministeriellen Genehmigung, die im einzelnen Falle auch versagt werden konnte, erstreben wollte. Statt dessen fiel

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die betreffende Bestimmung im neuen Besoldungsgesetz noch viel schroffer aus, wie der vorliegende $ 11 deutlich genug zeigt.

Der Gründe, die zu einem derartigen Beschluss des Abgeordnetenhauses führten, waren namentlich zwei: die Abgeordneten gingen zunächst einmal von der Ansicht aus, dass die Lehrer an Privatschulen lediglich aus materiellen Rücksichten und pekuniären Vorteilen den Öffentlichen Schuldienst ver- lassen, und dass es darum unbillig sei, ihnen bei ihrem Wiedereintritt in den Staatsdienst dieselhen Rechte und Vorteile zuzugestehen, die ihre von Anfang an im Öffentlichen Dienste unter weniger günstigen pekuniären Verhältnissen thätig gewesenen Kollegen nach Verlauf von einigen Jahren geniessen dürfen.

In gewisser Hinsicht ist dies nicht ganz unrichtig, dann nämlich, wenn man unter Privatschulen solche versteht, die den Privatinteressen des Unternehmers dienen, der dabei etwas verdienen will, und dem Interesse der- jenigen, für die sie errichtet sind, also den Familien, die ihre Söhne und Töchter hingeben, um dort vielleicht einen sorgfältigeren und spezielleren Unterricht für ihre Kinder zu haben. Solche Privatschulen können gewiss ihren Lehrern höhere Gehälter zahlen, und diese unterliegen auch mit Recht den Lasten, wie sie das Gesetz auferlegt. Aber neben diesen Privatschulen stehen noch eine ganze Menge anderer Privatanstalten, die solchen Kindern dienen, welche aus irgend welchen Gründen in der öffentlichen Volksschule nicht unterrichtet werden können, die also durchaus notwendig sind und darum, weil der Staat hier die, Hilfe versagt, durch christliche Wohlthätigkeit ins Dasein gerufen wurden und auch ebenso erhalten werden. Dass diese privaten Anstalten im allgemeinen nicht über allzureiche Geldmittel verfügen, und dass sie darum ihren Lehrern kaum ein höheres Gehalt als das im öffentlichen Dienste üblichen gewähren können, liegt so sehr auf der Hand, dass dies wohl nicht erst durch statistische Zahlen belegt zu werden braucht. Bekommt aber doch in einzelnen Fällen der eine oder andere Lehrer in einer Anstalt ein paar Hundert Mark mehr, so ist wohl zu bedenken, dass er dafür auch einen weitaus schwereren Dienst als in der öffentlichen Volksschule zu leisten hat. Denn der Anstaltslehrer ist nicht nur Lehrer, sondern er nimmt gewöhnlich neben seinem eigentlichen Berufe noch eine besondere Stellung im Anstaltshaushalte ein, die ihm hunderterlei Pflichten und Obliegenheiten auferlegt, von denen der staatlich angestellte Lehrer nichts weiss, und die ersteren in seiner Bewegung ausserhalb der Schulstunden gewöhnlich sehr beschränken. Von einer „ungerechten Privilegierung“* könnte also nicht im geringsten die Rede sein, wenn man diesen Lehrern bei ihrem Rücktritt in den staatlichen Schuldienst gesetzlich dieselben Rechte zugestehen würde wie den Öffentlichen Volksschullehrern, umsomehr, da sie ja doch auch im weitesten Sinn des Wortes für das Öffentliche Interesse (und nicht für einen gewinnsuchenden Privatmann) gewirkt haben.

Der 2. Grund der Abgeordneten, den $ 11 in seiner jetzigen Fassung anzu- nehmen, ist laut des stenographischen Berichtes der damaligen Sitzungen offenbar in dem Bestreben zu suchen, die unter dem Schutze des Zentrums stehenden privaten konfessionellen Minoritätsschulen soviel als möglich niederzubalten.

199.

Mag man nun über die Rechtlichkeit eines solchen Prinzipes denken, wie man will, soviel ist doch auf den ersten Blick klar, dass die vielen Veranstaltungen der christlichen Caritas mit diesen konfessionellen Minoritätsschulen nicht das mindeste gemein haben, dass sie auf ganz anderer Grundlage stehen und ganz andere Zwecke verfolgen, und dass es darum eine Inkonsequenz ist, diese mit jenen unter ein Messer zu bringen, bloss weil beide zufällig „privaten“ Charakter haben. Letzteres muse um so mehr betont werden, als darin fast alle Abgeordneten einig waren, dass den privaten Anstalten derinneren Mission ein weitgehendes Entgegenkommen gezeigt werden müsse. Diese Ansicht tritt namentlich aus folgenden Worten eines Abgeordneten hervor: „Nun hat der Herr Vorredner gemeint, ich wüsste auch gar nicht, dass es sich bei diesem $ ($ 11) um Einrichtungen handelte, welche den Herren von der Rechten am Herzen lägen, Einrichtungen der christlichen Caritas u. s. w. Doch ich weiss das! Ich habe auch gar nichts dagegen, dass man diese mäglichst zu unterstützen sucht, aber wer sagt mir denn, welche Anstalten überbaupt unter den $ fallen? Das ist gerade das Hauptbedenken, welches ich habe, dass ich gar keine Über- sicht über sämtliche Einrichtungen habe, auf welche der $ Bezug nimmt. Könnte man mir ein Tableau entwerfen: ja, es handelt sich um die und die Anstalten, die und die Kategorien von Unterrichtsaustalten, so würde ich mich eher damit befreunden können.“ Hieraus ist zugleich ersichtlich, in welcher Richtung und . auf welche Art und Weise sich am ehesten im Interesse der privaten Wohl- thätigkeitsanstalten und ihrer Lehrer etwas erreichen liesse, nämlich durch einen streng abgegrenzten Zusammenschluss dieser Kategorie von Anstalten mit dem bestimmten Bestreben, für diese Wohlthätigkeitseinrichtungen mildere, d. h. ge- rechtere Vorschriften zu erlangen. Dass dabei nichts Unbilliges erstrebt wird, liegt für jeden gerecht Denkenden auf der Hand. Schliesslich kann auch noch darauf hingewiesen werden, dass nach einer Bestimmung desselben Lehrer- besoldungsgesetzes die im ausserpreussischen Öffentlichen Schuldienst zu- gebrachten Dienstjahre ohne weiteres angerechnet werden können. War also beispielsweise ein Lehrer 10 Jahre im bayrischen Öffentlichen Schuldienst thätig, so bedarf es bei einem etwaigen Eintritt desselben in den preussischen Volksschuldienst bloss eines Bittgesuches an den Minister, und seine Dienstzeit wird ihm ohne Nachteil angerechnet, während ein Lehrer, der etwa dieselbe Zeit in einer preussischen Privatanstalt angestellt war, dieses Recht mit einem Kostenaufwand von 2700 Mk. zu erkaufen hat. Wo, fragt: man sich da, liegt hier die Konsequenz der Gesetzgebung? Wodurch hat jener bayrısche Lehrer, der speziell dem preussischen Staat noch nicht das mindeste leistete, ein solches Privilegium gegenüber dem preussischen Privatanstaltslebrer verdient? Wenn einer von den beiden der preussischen Regierung näher steht, so ist es doch ent- schieden der letztere, und doch bekommt gerade dieser allein die ganze Härte jenes $ zu fühlen.

Eine weitere Inkonsequenz liegt in der Thatsache, dass nach dem Willen der Königl. Regierung die Privatanstalten nur staatlich geprüfte Lehrer anstellen sollen und dass dabei jedesmal die Genehmigung derselben nachzusuchen ist

Zu

trotzdem aber macht es dieselbe Regierung durch ihre gesetzlichen Bestimmungen den Anstalten geradezu unmöglich, seminaristisch gebildete Lehrer zu erlangen. Denn das wird wohl niemand einem Lehrer zumuten wollen, unter solchen Umständen eine Stelle in einer Privatanstalt zu übernehmen.

Nach dem Ausgeführten kann ich mich der Bitte des Schreibers in der letzten Nummer dieser Zeitschrift nur dringend anschlie-sen, die Konferenz möge in ernste Beratungen über diese Angelegenheit eintreten und in Erwägung ziehen, was sich vom Standpunkt der Konferenz aus zur Beseitigung des be- sprochenen Missstandes thun lässt. Die Anstaltsleiter sind dies nicht nur ihren Anstalten sondern namentlich auch ibren Lehrern schuld, die, soweit sie auch nach dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes (1. April 1897) ihren Anstalten treu geblieben sind, unverdienterweise in eine recht unangenehme Lage versetzt wurden.

Ein Pionier auf dem Gebiete der Fürsorge für Schwach- sinnige: J. Landenberger.

Von Dir. Kölle- Regensberg. (Schluss.)

Immer wieder berührt es eigentümlich, dass er von der Intelligenz den Willen trennt. Er sagt im 12. Bericht:

„Noch vor vier Jahren erklärten wir, der im Blödsinn gebundene Wille könne nie frei gemacht werden, das blödsinnigo Kind sei nur gewöhnungsfähig, diese Behauptung müssen wir jetzt glücklicherweise widerrufen.“

Und im 17. Bericht:

„Die Erziehung des Willens zur wahren Freiheit muss der Gipfelpunkt, das Ziel aller Arbeit an Schwachsinnige sein und ist in der That ein schwereres Werk als selbst der Unterricht, obgleich ein geistbildender Unterricht Schwachsinniger nicht jedermanns Sache sein kann, sondern vieles Nachdenken, Kenntnis der Natur des Schülers, Erfahrung und Mühe erfordert.“

Als das beste Mittel, die Willensfreiheit zu erlangen, sieht er die Religion an. Er sagt darüber im 12. Bericht:

‚Wenn der geistig gesunde Mensch bekanntlich, ohne religiös zu sein, zur bürger- lichen und sittlichen Mündigkeit und Selbständigkeit gelangt, so ist die Erringung der Selbständigkeit für den Schwachsinnigen, welche doch auch für ihn Ziel bleiben muss, ohne Religion schlechterdings unmöglich. Für ihn ist die Beziehung seines innern Lebens auf Gott und göttliches Gesetz der unentbehrliche Halt in seiner Schwäche, das wesentliche und unersetzliche Mittel, nm der Mündigkeit näher zu kommen, wo- möglich sie zu erringen. Ohne diesen innern Halt ist der Schwachsinnige, wenn er auch nur auf kurze Zeit der gewohnten äusseren Stütze und Leitung entbehrt, voll- kummen haltlos und jeder Verirrung und Verleitung preisgegeben. In wie fern Glaube und Gottesfurcht nicht nur den Willen stärkt, sondern auch den Menschen, auch den Schwachsinnigen denkend und verständig macht, braucht hier wohl nicht näher

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nachgewiesen zu werden, nur das wollen wir bemerken, dass alle Religionswahrheiten, die der Volksschüler lernen soll, auch von unsern bessern Kindern gefasst werden, so gut sie die Kette eines schwereren geometrischen Beweises verstehen und geben können.“

Aus dieser Anschauung ergiebt sich eigentlich von selbst, dass Landen- berger dem dritten Hauptvermögen der Seele, dem Gefühlsvermögen, oder wie er sich ausdrückt, dem Gemüte die grösste Wichtigkeit beilegte. Für seine durch und durch religiös angelegte Natur steht der Mensch am höchsten, dessen Gemütsleben am besten ausgebildet ist. Dieses gilt ihm als Vermittlerin zwischen Mensch und Gott. Er schreibt darüber im 22. Bericht vom Jahre 1870:

Von jeher hat man der Entwicklung der Intelligenz bei den Schwachsinnigen die hauptsächlichste Aufmerksamkeit zugewendet, obgleich von sachverständiger Seite die Wichtigkeit des Gemütslebens nie verkannt wurde In der That liess sich zum Voraus annehmen, dass die Schwäche der seelischen Funktionen nicht einseitig nur die Erkenntniskräfte betreffen könne, sondern dass auch im Gemütsleben entsprechende Defekte sich finden müssen. Einer eingehenden Untersuchung aber ist das Verhalten des Gemüts bei der Schwachsinnigkeit oder dem jugendlichen Blödsinn unsers Wissens nach nicht unterworfen worden; man begnügte sich mit allgemeinen Angaben, dass z. B. in vielen Fällen das Gemüt stumpf, in andern vorherrschend sei, dass die Schwachsinnigen der Religion meist sehr zugänglich seien etc. Da solche allgemeine Angaben der klaren Einsicht in diese Entartung der menschlichen Natur wenig Vorschub leisten, so soll unter nachstehendem, durch den Raum leider allzubeschränk- ten Ausführung versucht werden, einen Beitrag zur Orientierung und Aufklärung in der wichtigen Angelegenheit zu geben.

Verfolgt man die Genesis des Gemüts, worunter hier ganz allgemein die fühlende Seite der Seele verstanden ist, in ihre Ursprünge zurück, so sieht man, dass in der Zeit des Fruchtlebens und in den ersten T,ebenstagen die Seele nur allein dem leib- lichen Leben und dessen wechselnden Erregungen und Stimmungen zugekehrt ist. In diesen ersten Anfängen des seelischen Lebens ist die fühlende Seele gleichsam nur der Spiegel des leiblichen Gemeingefühls und fällt mit demselben fast zusammen. Die Sinneserregungen, die das neugeborene Kind treffen, werden zuerst noch keines- wegs in ihrer Bestimmtheit aufgefasst, sondern haben zunächst nur den Wert von neuen Sensationen des Gemeingefühls und geben demnach ihren Beitrag zur Entwicklung des Gefühlslebens oder des Gemütes auf seiner untersten Stufe. Schon aus dieser grundlegenden Stellung des Gefühlslebens, aus dem sich weiter die höheren Stufen des Gemütes, sowie die Intelligenz entwickeln, welche beide bestimmend auf den Willen wirken, geht die grosse Wichtigkeit des Gefühls und sein Einfluss auf die gesamte Seelen- und Geistesthätigkeit hervor. Bei geistig tiefstehenden Menschen mit schwachem Willen sehen wir, wie oft die ganze Haltung der Seele von leiblichen Stimmungen und Empfindungen abhängig ist; aber auch der geistig durchgebildete Mensch wird sich nie ganz unabhängig davon stellen können.

Nicht lange findet die Seele des Kindes ihre ganze Befriedignng in leiblichem Behagen: es erwacht ein weiteres Bedürfnis, das der Geselligkeit. Schon ein Wochen- kind, das gewöhnt ist, immer jemand in seiner Nähe zu haben, wird unruhig, wenn es sich allein fühlt, und bald lächelt der Säugling dem freundlichen Mutterantlitz

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entgegen und zeigt so das erste Erwachen derjenigen Gefühle, welche die Menschen- seele im Umgang mit anderen Menschen bewegen. Die Seele wendet sich nun mit ihrem Fühlen, ihrem Bedürfen und Geniessen, ihrem Lieben der Mitwelt zu, und Zu- neigung, Anhänglichkeit, Freundschaft, Mitgefübl, Wohlwollen, Elternliebe, Kinderliebe etc. etc. entwickeln sich auf dieser mittleren Stufe des Gemüts je nach der äussern Anregung und der innern individuellen Anlage, und begründen ein Glück, das hoch über dem blos3 sinnlichen Behagen steht.

Während die anfänglichen Äusserungen dieser Gemütsstufe noch ganz auf selbstischom Boden stehen, zeigt sich beim geistig gesunden Kinde doch recht bald die sittliche Anlage; es will das Verhältnis zu andern schon frühzeitig nach Gerechtig- keit geordnet wissen. Mit dem Erwachen der sittlichen Anlage hebt sich das Gemüt auf die höhere, spezifisch menschliche Stufe, die Seele wendet sich mit ihrem Fühlen Gott und seiner Geisteswelt zu. Gerechtigkeitsgefühl, Wahrheitsgefühl erwachen, das Gewissen wird thätig, Menschenliebe, Gottesbedürfnis und Gottesliebe, Gottesfriede und Gottseligkeit füllen das Gemüt und bilden die Quelle, aus der die edelsten und besten Werke hervorgehen. Überhaupt ist es das Gemüt, aus dem die Motive für unser Thun, sei es gut oder böse, entspringen, während dem Verstande hauptsächlich nur die Regelung des Thuns zukommt.

Wie verhalten sich nun hinsichtlich der Gemütsentwicklung die verschiedenen Stufen des jugendlichen Blödsinns? (Wir unterscheiden drei durch den Zustand des Willens natürlich abgegrenzte Stufen des jugendlichen Blödsinns und benennen die- jenigen Individuen, bei welchen statt des Willens nur der blinde Trieb den Körper regiert, die also keiner willkürlichen Bewegung fähig sind, eine vorgemachte Bewegung z. B. nicht nachahmen können, demnach nur als gewöhnungsfähig sich darstellen, als rein Blödsinnige; solche Kranke, welche mit Willkür über sich verfügen, damit einer oft weitgehenden Entwicklung fähig sind, aber dennoch des Vernunftlebens ermangeln, als Kranksinnige, während die rein Schwachsinnigen den Charakter der Vernünftigkeit und Bildungsfähigkeit haben, da ihr Wille nicht durch selbstische, sondern auch durch vernünftige, sittliche und religiöse Motive bestimmt werden kann, jedoch nur in dem Masse, wie wir es bei gesunden Menschen im jugendlichen Alter sehen, wo die Leitung durch eine höhere Autorität nicht ent- behrt werden kann.) Im allgemeinen gilt es: je vollständiger der Blödsinn ist, gehört er nur der torpiden oder der aufgeregten Form an, desto ausgesprochener ist schon auf der untersten Stufe des Fühlens der Charakter der Stumpfheit. Ein komplet Blöder streckt sich gleichgiltig in die heissen Strahlen der Mittagssonne nieder; nasse Kleider inkomodieren ihn sehr wenig; das Gefühl der Übersättigung stört nicht sein Behagen etc. In dieser Stumpfheit ist das Schicksal der blöden Seele schon besiegelt; jede weitere Entwicklung des Gefühls und Gemütes, wie die Ent- wicklung der Intelligenz ist aufs äusserste behindert. Übrigens sucht der Blöde gern lebhafte Sinneserregungen auf; er wendet allem Neuen, dem Klang und Lärm, glänzenden Sachen, bunten Farben, der aufgeregt Blöde auch auffallenden Gerüchen, sein Wohl- gefallen zu. Auf der mittleren Stufe des Gemüts, wo sich dasselbe den Mitmenschen zuwendet, entwickelt sich der rein Blödsinnige nur mangelhaft. Allerdings ist auch hier Liebe die Macht, die den Stumpfsinn des Blödesten überwindet, und nicht leicht

172 wird sich ein Blöder finden, welcher die Liebe der Mutter oder der pflegenden Person nicht in etwas erwiderte; ja wir sahen sogar bei komplet Blöden überraschende Beispiele von rührender Liebe und Anhänglichkeit; bisweilen kommt es auch zu einer Art Freundschaft mit einem andern Unglücksgen-ssen. Immer aber treten beim Blödsinnigen und auch noch beim Kranksinnigen, Albernen, bedeutende Defekte auf dieser Gemütsstufe hervor und zu einer harmonischen Entwicklung der verschiedenen Gemütssinne kommt es nicht. Die einen isolieren sich von den Genossen und stehen immer wieder einsam in der Ecke, die andern schliessen sich nur an jüngere Kinder, wieder andere nur an Erwachsene an; ınsbesondere sind es die Aufgeregten, deren Zustand eine auffallende Oberflächlichkeit des Gemüts zur Folge hat, sodass jedes tiefer gehende Gefühl, z. B. Heimweh, ausgeschlossen ist. Bei einzelnen ist das Wohlwollen wenig entwickelt, sie freuen sich, wenn einem andern ein Leid widerfährt. Nicht selten aber findet man besonders gemütliche Kinder liebebedürftig und liebe- erwidernd, anhänglich, von fast unzerstörlicher Gutmütigkeit. Nicht immer realisieren sich die Hoffnungen, welche man auf sie setzt. Die Seele erschöpft gleichsam ihre Kraft, sie geht auf in den Gefühlsäusserungen dieser Gemütsstufe und das höhere Gemüt entwickelt sich nur dürftig. Solche Geistesschwache erleichtern durch ihr liebenswärdiges und anhängliches Wesen sehr die Pflege, bleiben aber für ihr Leben auf der kindlichen, ja oft kindischen Stufe.

Zu der höheren Stufe des Gemütslebens, von deren Entwicklung das Vernunft- leben abhängig ist, erhebt sich der Blödsinnige nie, der Kranksinnige höchstens rudimentär. Letzterer kann in die Form des vernünftigen Lebens eingeleitet werden; die Vernänftigkeit selbst, wo sie nicht mit Naturnotwendigkeit von selbst eintritt, kann durch menschliche Bemühungen nicht gegeben werden. Anders beim Schwach- sinnigen. Die Gefühle für Gerechtigkeit und Wahrheit können in ihm geweckt, das Gewissen zu einem zarten Organ gebildet werden. Die Erlösungsbedürftigkeit, das Gottesbedürfnis und damit der Eintritt ins Reich Gottes können ihm vielleicht näher liegen, als dem geistesgesunden Menschen und er kann damit, trotz der sonstigen Schwäche des Geistes, zu einem Menschen heranwachsen, der das eine Pfund, das ihm Gott gegeben, mit Gottes und der Menschen Hilfe nutzbringend für sich und andere anwendet und einst den Lohn der Treue davonträgt.

Auf diesen psychologischen Anschauungen wurde der Schulunterricht der Landenberger’schen Anstalt aufgebaut. Über die Einrichtung der Schule spricht er sich eingehend im 11. Jahresbericht aus:

„Die Schule teilt sich in die Vorschule und die eigentliche Schule. In der Vorschule, an welcher ein Lehrer und eine Lehrerin arbeiten, werden 11 Kinder unterrichtet. Sie lernen in derselben ihren Körper mit Bewusstsein bewegen, die Dinge, Eigenschaften und Thätigkeiten der umgebenden Welt anschauen, sich mündlich ausdrücken, einfache Urteile bilden, leichte Formen nachahmen. In der eigentlichen Schule werden 40 Kinder von 3 Lehrern in der Weise unterrichtet, dass in 3 Klassen zu gleicher Zeit dasselbe Fach gelehrt wird und jedes Kind in jedem einzelnen Fache diejenige Klasse besucht, in welche es, seiner Fähigkeit und seinem Standpunkte nach, passt. Zugleich haben sich die Lehrer bei den verschiedenen Fächern so verteilt, dass ein Lehrer in einem Fach bessere, in einem andern schwächere Kinder

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unterrichtet. Auf diese Weise verbinden wir die Vorteile vom Fach- und vom Klassen- unterricht, und bringen die Schüler mit den Persönlichkeiten von mehreren Lehrern in Berührung, was von entschiedenem Wert für beide Teile ist.

Die erste Schulstunde vormittags von 8—9 Uhr ist dem biblischen Unterricht gewidmet. Da wir an den biblischen und andern Erzählungen die Gelegenheit benützen, das Kind in das Menschen- und Naturleben einzuführen, so findet der Anschanungsunterricht keine weitere selbständige Stellung in dem Schulplan, während er in der Vorschule, im weiteren Sinne gefasst, das einzige Schulfach ist. In der zweiten Stunde von 9—10 wird das eigentliche Verstandsfach, der Formenunterricht, getrieben in den schon erwähnten 3 Stufen. Nach einer Pause von einer halben Stunde bekommen diejenigen Kinder, welche dazu befähigt sind, noch eine Stunde Unterricht im Lesen und Schreiben, wobei zugleich der nötige Sprachunterricht gegeben wird. Nicht alle schwachsinnigen Kinder bringen es zum Lesen und Schreiben. Während ziemlich tiefstehende, welche viel Formensinn haben, es oft mit einer gewissen Leichtigkeit erlernen, kommen bessere Kinder, denen der Furmsinn mehr abgeht, vielfach nur unter grossen Anstrengungen und nach langer Zeit dazu.

In der ersten Schulstunde des Nachmittags von 2—3 Uhr wird wöchentlich zweimal Schönschreibunterricht, dreimal Zeichenunterricht gegeben. In der Vorschule hat das Kind Punkte durch Linien verbinden gelernt und sich im freien Nachmachen einfacher Figuren versucht. In der eigentlichen Schule wird mit Lineal, Winkel und Zirkel gezeichnet,

In der zweiten Schulstunde von 3—4 Uhr werden dreimal wöchentlich Rechen- unterricht, zweimal ein gemeinschaftlicher Singunterricht gegeben.“

Die wichtigste Unterrichtsklasse mit der Landenberger sich immer wieder eingehend beschäftigt, war die Vorschule. In dieser befanden sich die schwächsten Kinder und von diesen konnte er sich nicht losmachen. Un- wiederstehlich zog es ihn zu den Blöden und seine eifrigste Arbeit galt den Sprachlosen, Blöden. Jahrelang konnte er sich mit einem Kinde abgeben, bis endlich ein Funke von Verständnis sich zoigte. Ob er vielleicht nicht zu weit ging? Wenn man diese Zöglinge sah, auf die so unendlich viele Mühe ver- wendet worden war, dann musste man sich fragen, ob sich die Mühe gelohnt habe, die auf sie verwendet wurde Allein Landenberger fragte darnach nicht. Für ihn war es der höchste Gewinn, eine Seele aus der geistigen Ge- bundenheit zur Freiheit zu führen. Kein Entdecker einer Goldmine konnte je eine solche Freude empfinden wie dieser Mann, wenn es ihm gelungen war, ein tief- stehendes, hörstummes Kind zum Sprechen und zum geistigen Erwachen zu bringen.

Er sagt über die Vorschule im 12. Bericht:

„In der Vorschule werden die schwächsten und blödesten Kinder für die eigent- liche Schule vorbereitet. Die Arbeit in der Vorschule ist der schwierigste Teil unserer Aufgabe, das eigentliche Problem unseres Unterrichtes. Während der Taubstummen- unterricht schon mehrere Jahrzehnte in gebahnten Wegen geht, so mussten diese Wege für den Unterricht Blöder erst gesucht und geebnet werden. Wir glauben ohne Anmassung sagen zu dürfen, dass unsere Arbeit an den Kindern die Frucht einer richtigen Methode getragen hat.

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Das erste Fach in dieser Vorschule bezweckt den muskelschwachen Körper zu stärken, um ein gefügiges Organ für die Seele zu erhalten. Dabei wird aber grosser Wert darauf gelegt, dass durch diese Übungen direkt eine Hebung der Intelligenz erzielt werde.

Im Jahre 1861 im 13. Bericht giebt er die Darstellung einer Blöden- gymnastik, wie sie später sein Schwager C. Barthold im ersten vorbe- reitenden Unterricht für Schwach- und Blödsinnige ausgeführt hat:

„Aus dieser Blödengymnastik geben wir hier eine kleine Reihe Übungen, die jeder leicht vervielfältigen und im betreffenden Falle anwenden kann.

Gehen, marschieren lassen; allein, mit andern, neben-, hintereinander, im Kreise, langsamer, schneller, auf ebner Fläche, auf Treppen, bergauf, bergab. Mit Wasser spielen; füllen, leeren von verschiedenen Gefässen, Flaschen, Krügen, Gläsern, Giesskannen, Spritzen etc. Gegenstände, ein Holz, ein Schiffchen schwimmen lassen; es belasten, am Faden ziehen etc. Ballspiel; werfen, rollen, auffangen, herbeiholen des Balls; desgleichen Spielen mit Steinschussern, Holz-, Bein- und Metallkugeln, Walzen, Scheiben, Reifen etc. Aufstellen, aufschichten, umwerfen; Kegel, Bleisoldaten, Spielsachen, Bauhölzer ete. Klopfen, schlagen mit der Hand, dem Stock, dem Hammer etc.; auf weiche, harte, elastische, klingende Körper und Flächen. Zerschlagen eines alten Topfes, einer Nuss; einen Nagel ins Brett schlagen, einen Pfahl in weiche Erde schlagen etc. Tragen verschiedener leichter und schwerer Gegenstände in den Händen, auf der Schulter, dem Rücken, dem Kopf, im Armkorb, der Schachtel, an einer Stange, im Schulsack etc.; allein, zu zweien etc. Die Körbe, Schachteln, Säcke füllen, leeren. Öffnen, schliessen; Thüre, Fenster, Schachtel, Kiste, Dose, Nadelbüchse, Federrohr, Buch etc. Führen den Schubkarren, den Wagen ziehen, schieben, den Karren etc. belasten, abladen etc. Benützung verschiedener Gerätschaften und Werkzeuge; Mörser, Reibeisen, Haspel, Kehrwisch, Bürste, Blasbalg, Hammer, Messer, Putzschere etc. Das Bauspiel in seinen vielen mög- lichen Modifikationen. Das Zeichnen.

Diesem Verzeichnis von möglichen Übungen mögen hier noch einige allgemeine Bemerkungen folgen. Erstens der Gemütsstumpfheit des Schwachsinnigen, nach welcher er sich häufig von andern isoliert, einsam dasteht, liegt, geht, muss dadurch entgegengetreten werden, dass der Blöde in die Reihe anderer, besserer Kinder gestellt wird, mit ihnen marschieren, spielen, üben muss. Zweitens, was mehrere Sinne zu- gleich in Anspruch nimmt, wird die Aufmerksamkeit des Blöden mehr erregen, als was nur einen Sinn berührt. Je mehr Effekt etwas macht, desto geeigneter wird es sein, den stumpfen oder agilen Blöden ans seiner Ruhe oder Unruhe hervorzulocken, sein Interesse zu erregen, seinen Willen in Bewegung zu setzen.

In folgender Reihe von Thätigkeiten wird ja die folgende effektvoller und inter- essanter für den Blöden sein, als die vorhergehende:

Mit der Hand auf ein Polster schlagen; dasselbe mit dem spanischen Rohr; mit dem Stock auf einen Tisch schlagen; mit dem Hammer auf einen harten Gegenstand klopfen, eine Nuss, einen Kern zerschlagen.

Drittens. Die Individualität des Blöden muss immer berücksichtigt werden; Trommeln, Papier zerreissen, etwas umstürzen, können zweckmässige Übungen für den torpiden,

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gutmütig trägen Blöden sein. Für den exaltierten Blöden möchten diese Thätigkeiten vielleicht eine Fortsetzang seiner geistlosen Unruhe, eine Nahrung für seine Zer- störungssucht bilden.

Viertens. Die Periodizität und Symetrie entsprechen ganz dem menschlichen Geiste und sprechen deshalb auch den Blöden an. Das Aufstellen eines Kegels, eines Soldaten wird den Blödsinnigen vielleicht gleichgiltig lassen; das Aufstellen einer schönen Reihe wird sein Wohlgefallen erregen. Das Umstürzen eines Kegels nach dem andern im Takt wird ihn mehr interessieren als das Umstürzen nur eines Kegels. Die woblthätige Wirkung der Musik, der gute Einfluss einer geregelten Tagesordnung beruht grossenteils auf der Periodizität.

Fünftens. Ist der Blöde nicht geneigt oder fähig etwas zu thun, so führt man ihm die Hände, bis er der Sache Aufmerksamkeit schenkt und das nötige Muskelgefühl sich bildet, so dass er es endlich selbst thut.

Sechstens. Es darf nicht versäumt werden, der Wortsprache sich zu bedienen, wenn auch der Blöde sie noch nicht versteht. Mit gutem Erfolg bedient man sich daneben einer einfachen Geberdensprache, bis das Verständnis der Wortsprache möglich ist. Der Zweck dieser Übungen ist erreicht, wenn der Blödsinnige nun über seinen Körper verfügen gelernt hat. Zugleich sind ihm so viele Sinneseindrücke aufgenötigt worden, dass er nun für einen eigentlichen Anschauungsunterricht befähigt sein wird.“

Diese Arbeit Landenbergers ist in ihrer Art so wichtig als die Arbeit Dubois-Reymonds „Über die Übung“. Auch Gutzmann hält ja bei der Heilung der Stotterer eine zweckmässige Gymnastik für sehr förderlich, ja un- erlässlich und neuerdings wurde diese Gymnastik wieder sehr hetont von Dr. A. Kupferschmid in einem Aufsatze „Über die Übung des Muskel- gefühls bei Schwachsinnigen“ (Kinderfehler 1899). An diese gymnastischen und Thätigkeitsübungen schloss sich der Sprechunterricht an.

Im 12. Bericht steht die Mitteilung:

„Aus unsrem Sprechunterricht können wir die erfreuliche Erfahrung mitteilen, dass ein Schüler, der übrigens längst nicht mehr der Vorschule angehört, durch Galvanismus von einer Unfähigkeit der Zunge, die ihn hinderte, die Laute s, sch, z, t, d, n, r hervorzubringen, geheilt wurde (?), so dass or jetzt alle diese Laute, r aus- genommen, spricht.“

Im 14. Bericht heisst es:

„Das Hören ist keineswegs eine so einfache Thätigkeit, als man sich gewöhnlich denkt. Wir machten schon wiederholt die Beobachtung, dass die Fähigkeit, die artikulierte Rede aufzufassen, unabhängig ist von der sonstigen Schärfe des Gehörs, auch unabhängig von der geistigen Begabung, und als besonderes Vermögen aufgefasst werden muss. Ein Knabe, dem die Hörfähigkeit für die artikulierte Rede abging, hörte eine Taschenuhr auf die Entfernung von 10 Zoll ticken, während unsere Schwerhörigen, welche doch artikuliertes Gehör haben und dem Unterricht der Hörenden mit Vorteil anwohnen, sie nur auf 1—11!/, Zoll vernehmen können. Noch als eine Merkwürdig- keit, deren Erklärung wir hier nicht versuchen wollen, führen wir hier an, dass dieser Knabe die Laute b, d, p durch das blosse Gehör nicht von einander unterschied, auch

za

trotz vieler Versuche und Übungen sie nie sicher erkennen und unterscheiden lernte, während er g, t, k und jeden andern Laut immer sicher auffasste.“

„Die Sprachlosigkeit der Blöden kann in sehr verschiedenen Ursachen begründet sein. Häufig ist das ungenügende oder mangelnde Gehör die Ursache der Sprach- losigkeit; noch öfter aber hört der Blöde und lernt doch nicht sprechen. In diesem Falle liegt die Ursache entweder in der Seele, die noch so unfrei ist, dass sie den Körper, also auch die Sprachwerkzeuge, nicht mit Willkür bewegen kann, oder welche einen so schwachen Wortsinn hat, dass, wenn sie bereits mit Willkür die Glieder regiert und die Umgebung mit einiger Verständigkeit anschaut, Geberdensprache z. B. erfasst, sie doch noch keine Ahnung davon zu haben scheint, dass man mit den Lauten der Sprache irgend etwas ausdrücke, sie also weder die Bedeutung irgend eines Wortes versteht, noch ein solches nachzusprechen versucht. Oder liegt die Ursache des Sprachvermögens in dem zentralen Sprachorgan. Ist nämlich der Ursprung des Zungennervs, der den Sprachbewegungen vorsteht, auf irgend eine Weise krank, so kann das Kind wohl noch schlucken, da die Schluckbewegungen von einem andern Nerv besorgt werden; allein es kommt nie zum Sprechen, wie dies bei dem genannten Knaben der Fall war. Sind endlich die peripherischen Sprachorgane Zunge, Gaumen etc. schlecht gebaut, so wird das Kind, wenn anders die Seele nicht in Blödsinn befangen bleibt, doch sprechen lernen, wenn auch mehr oder weniger mangelhaft. Dass auch die ohne Zweifel vorhandenen Reflexbeziehungen zwischen dem Hör- und dem Sprachorgane, wodurch das gesunde Kind zum Nachahmen der Laute, zum Sprechen gereizt wird, beim Blöden gestört sein können, kann nicht bestritten werden.“

Wer müsste nicht erstaunen bei diesen originellen Darlegungen, die der Sache so nahe treten. Die genauen Beobachtungen der Sprachgebrechen bei Blöden liessen Landenberger in Berücksichtigung seines Standpunktes der Annahme der Seelenvermögen das Ziel so nahe treffen, dass man nur bedauern muss, dass er die Abhandlung über Sprachstörungen von Kussmaul nicht mehr kannte, in welchen er physiologisch nachgewiesen gefunden hätte, dass, wie er vermutete, wirklich Hörstummheit, Seelentaubheit, Störungen der Gehörs- und Begriffszentren, Störungen der Leitungsbahnen etc. stattfinden und dann alle die Erscheinungen zur Folge haben, welche er so genau beobachtete.*)

Im 17. Bericht führt er ein interessantes Beispiel eines hörstummen Knabens an:

„Ein siebenjähriger Knabe war in die Anstalt getreten, ohne irgend ein Wort zu verstehen. Intelligenz uud Wille waren aber trotz dem niedern Standpunkt des Wortsinnes so weit vorhanden, dass er sich einer willkürlichen Geberdensprache bedienen konnte. Er teilte z. B. mit, welche Beschäftigung sein Vater habe, erzählte ferner mittelst Geberde, dass er einmal einen Tanz mit Musik gesehen habe etc.; später suchte er seine Vorstellungen und Erinnerungen mit dem Griffel bildlich darzustellen.

*) Landenberger hatte, nachdem er von der Leitung der Anstalt Stetten zurückgetreten war und als ein Opfer seiner aufreibenden Arbeit auf dem Krankenbett lag, infolge von einigen Schlaganfällen auch an Sprachstörungen zu leiden. Es gelang ihm nämlich nicht mehr, die richtigen Worte zu finden, für das, was er ausdrücken wollte, und wenn man ihm darauf helfen wollte und doch das Richtige nicht traf, winkte er lächelnd ab.

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Nachdem die ersten und grössten Schwierigkeiten überwunden waren, ging das Ver- ständnis der Sprache, sowie die Lautentwicklung und das Sprechen ziemlich rasch. Als er nach einem Jahre und acht Monaten uns wieder verlassen musste, bildete er bereits einfache Sätze. Dieser Knabe, dessen Gehör fast ganz normal war, bildet einen neuen Beweis dafür, dass die Sprachfähigkeit keinen brauchbaren Einteilungs- grund für die Blöd- und Schwachsinnigen abgiebt. —“

Ein besonders wichtiges Fach auf dieser Stufe war für Landenberger der Formenunterricht.

Er sagt darüber im 10. Jahresbericht vom Jahr 1858:

„Um die schwachen Denkkräfte zu üben, haben wir seit Jahresfrist dem Formen- unterricht, welchen wir früher, wie in andern Anstalten, nur als zufälligen Zweig des Anschauungsunterrichtes behandelt haben, eine selbständige Stellung und bedeutende Ausdehnung gegeben. Aus unserer Erfahrung über diesen geometrischen Anschauungs- unterricht ergiebt sich folgendes:

1. Als rein formelles Fach wendet es sich ausschliesslich an den Verstand, nötigt zum Anschauen, Vergleichen und Schliessen, also zum Denken, ohne dass Worteinn und Gedächtnis ein bloss scheinbares Verständnis zuwege bringen können. 2. Von der ersten Stufe an macht dieses Fach einen lückenlosen Gang möglich. Hat der Schüler sich eine Stufe zu eigen gemacht, so hat er damit die Kraft gewonnen, auch die nächste zu ersteigen. Dass bessere Schwachsinunige endlich auf diese Weise einen geometrischen Beweis fassen lernen, haben wir an ein paar vorgerückteren gesehen. 8. Wie dieses Fach den Schwachsinnigen sogleich in seiner Schwäche darstellt, so ist es auch wie kein anderes Unterrichtsfach für ihn das souveränste Mittel, die Denkkraft zu stärken, eine wahre Geistesgymnastik. Kein Lehrer, der es je einmal beim Unter- richt Schwachsinniger versucht hat, wird es wieder entbehren wollen.“

Wem leuchtet nicht die Wahrheit dieser Worte ein? Es besteht eine voll- ständige Ausarbeitung des Formenunterrichtes für Schwachsinnige von Landen- berger, der ein wahres Meisterwerk ist. Eine ganze Reihe von Anstalten benützen diesen Formenunterricht, wie ihn Landenberger ausarbeitete, mit sehr gutem Erfolg. Wer das Wesen des Idiotismus erfasst hat, wird auf den Formenunteiricht auch nie verzichten können und es ist deshalb befremdend, wie in neuerer Zeit die Behauptung aufgestellt werden konnte, der Formen- unterricht gehöre nicht in eine Schule für Schwachsinnige.

Es ergiebt sich von selbst, dass wer dem Formenunterricht so hohen Wert beilegt, auch den Zeichenunterricht nicht missen will.

Landenberger sagt im 24. Bericht:

„Das exakte Zeichnen hat für Schwachbegabte nicht nur den gleichen Wert, wie für Geistesgesunde, sondern ist besonders dazu geeignet, die Flüchtigkeit und Ober- flächlichkeit der Schwachsinnigen in Stetigkeit und Pünktlichkeit umzuwandeln.“

Dass er natürlich den Anschauungsunterricht nicht vernachlässigte, versteht sich von selbst. Aber wie jedes Unterrichtsfach, so wird auch dieses auf eine ganz originelle Weise, wie von dem tiefen Denker nicht anders zu erwarten ist, in den Dienst der Idiotenbildung gestellt.

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Er sagt darüber im 15. Bericht vom Jahre 1863:

„Aus unserer Schule können wir diesmal nur eine kurze Andeutung über den Anschauungsunterricht geben. Derselbe zerfällt nach der geistigen Stufe, die unsere Kinder einnehmen, in vier Stufen.

Auf der ersten Stufe soll das blöde Kind, das bisher von der Umgebung nur so weit Notiz nahm, als sie mit seinem Treiben zusammenhing, dem sein eigenes, leibliches Ich noch nicht unterworfen, dessen Wille fast nur blinder Trieb ist, in die Aussenwelt so eingeführt werden, dass es nicht nur mit Bewusstsein sich in ihr bewegen, auf sie einwirken lernt, sondern auch, dass es seines Leibes dabei inne wird, denselben willkürlich zu regieren in den Stand gesetzt wird und so den Grund eines selbstbewussten Lebens legt. Zu dem Ende lässt man das Kind mit mancherlei gewöhnlichen Dingen des Lebens, mit Gerätschaften und Werkzeugen umgehen, sich in ihrem Gebrauch üben, wie dies früher ausgeführt wurde. Zugleich soll es durch Lautentwicklungs- und Sprachunterricht zur Sprache, die wir zunächst als ein höheres System von Bewegung ansehen müssen, befähigt werden.

Auf der zweiten Stufe lernt das Kind die Gegenstände der Umgebung, die Tbätigkeiten, Eigenschaften und Beziehungen der Dinge anschauen, kennen und benennen, lernt einfache Urteile bilden. Während auf der ersten Stufe der Muskel- und Tastsinn besonders den Zugang eröffneten, um die verschlossene Seele an das Licht des Bewusstseins za führen, so muss jetzt vorherrschend durch die Pforten des Auges und des Ohres (Sprache) der Geist geweckt und genährt und zu selbständigem Leben befähigt werden.

Die dritte Stufe soll anwenden, was auf der zweiten gelernt wurde. Der Zögling übt sich nämlich jetzt in Beschreibung von einfachen Gegenständen, Geräten, besonders von Naturkörpern, Pflanzen, Tieren etc. Es braucht kaum bemerkt zu werden, dass die Objekte der Anschauung in natura dem Kinde vorgeführt werden müssen und von Bildern auf dieser Stufe nur ein beschränkter Gebrauch gemacht werden kann.

Die vierte Stufe ist das Ziel des Anschauungsunterrichts, und zwar gleicher- weise ein formales, wie materiales. Wenn auf der dritten Stufe nur einzelne Gegen- stände und Naturkörper beschrieben wurden, soll hier das Kind das Gemeinsame und Unterscheidende derselben aufsuchen und finden lernen, es soll ihm der Blick in die Ordnung, den Zusammenhang der Naturreiche eröffnet werden, es soll von der Um- gebung aus die Gestaltung der Erdoberfläche kennen lernen; insbesondere sollen die gewöhnlichsten physikalischen Erscheinungen ihm zugänglich und verständlich gemacht werden. Wir wollen damit nicht nur unsere Zöglinge mit nützlichem und notwendigem Wissen ausrüsten, sondern sie vielmehr zur Abstraktion und Reflexion befähigen, dass sie einst ihre, wenn auch untergeordnete Stellung in der Welt doch als verständige Menschen einnehmen können.“

Mit besonderer Liebe wird aber immer wieder der Unterricht in der bib- lischen Geschichte behandelt. Er sagt darüber im 21. Bericht:

„Aus dem Gebiete des Unterrichts können wir berichten, dass unsere Bemühungen, unsere Kinder in die hl. Geschichte und an der Hand der hl. Geschichte in das Verständnis der Schöpfung Gottes, in das Menschenleben und in die Geisteswelt des

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Reiches Gottes einzuführen, mit bestem Erfolge gekrönt worden. Es sollte der höchste Bildungsstoff, den Gott den Menschen gegeben, nämlich die Geschichte seiner Offen- barungen an uns, doch sicher ein besseres Resultat bei unserer Jugend- und Volksbildung erzielen, wenn er den Absichten Gottes und der Bestimmung des Menschen ent- sprechender behandelt wurde. Wir haben gelernt etwas besseres mit der biblischen Geschichte anzufangen, als sie nur notdürftig zu erklären, und dann möglichst texttreu dem Gedächtnis der Kinder einzuprägen, und wenn ich jetzt unsere Erfolge rühme, so will ich mich gerne des Eigenlobes beschuldigen lassen und über dem Rühmen ein Narr werden, wenn nur Lehrer und Schulfreunde veranlasst werden, über diese wichtigste Angelegenheit der Schule nachzudenken und den richtigen Weg zu gehen.

Wir möchten an einigen Beispielen zeigen, wie wir in der Unterklasse unserer eigentlichen Schule die biblische Geschichte behandeln, sodass sie den Kindern zur freundlichen lebensvollen Führerin wird in die einfachen Grundlagen der Sitten- und Glaubenswelt, in die Verhältnisse des Menschenlebens, in die Bekanntschaft mit der Natur.

1. Nathan’s Gleichnis.

Nur als einfache Thatsache zu behandeln! Reich und arm; der Besitz des Reichen; er hat viele Schafe, Rinder, Pferde, Äcker etc. Die Besitztümer etwas ausführlich aufzuzählen! Das Leben des Armen in anschaulichem Lebensbilde dem Kinde vorführen! Die mancherlei Bedürfnisse des Armen in Nahrung, Kleidung, Wohnung, Heizung etc. namhaft zu machen; Notfälle zu erwähnen etc.!

Wie erwirbt sich der Arme das tägliche Brot? durch Arbeit; solche aufzu- zählen! Der Reiche hat erst seinen Reichtum von den Eltern geerbt; das Erbschafts- wesen zu berühren !

Der Arme hat sein Schäfchen gekauft. Das Kaufen klar zu machen! Was wisst ihr vom Schaf zu sagen? Das Glück des Armen in seinem Besitz, die Liebe zu seinem Schäfchen zeichnet das Gleichnis unnuchahmlich schön.

Der Gast, der Besuch. Was thut man einem Besuche?

Der Reiche ein böser Nachbar; sein Geiz, seine Lieb- und Herzlosigkeit. Die Gewaltthat. Die Beraubung des Armen; die schwere Kränkung des Beraubten. Die unrechtmässige Aneignung des fremden Eigentums.

Die Sünde, die Abscheulichkeit des Diebstahls. Spruch zum Memorieren: Du sollst nicht stehlen !

2. Das Ölkrüglein der Witwe.

Blicke in die Not einer Familie; der Gatte und Vater (wahrscheinlich schon lange) krank; Armut an allen Enden; alles Entbehrliche verkauft, um das Allernötigste anzuschaffen ; hierzu noch Schulden; was bedarf eine Frau für ihren kranken Mann? für sich und ihre Söhne? Der Segen des gottesfürchtigen Sterbenden;; seine Fürbitte für die Seinigen; Hinweisung auf die Durchhilfe Gottes.

Endlich der Tod des Mannes; grosser Schmerz, grosser Verlust! Die Witwe, die Waisen. Der Schuldherr, sein Recht, seine lieblose Härte, das Schuldenwesen zu besprechen! Die drohende Knechtschaft; was hätte der Schuldherr in diesem Falle thun sollen? Die Zuflucht zum Manne Gottes, was ist ein Mann Gottes? was kann er thun? seine Anweisung; die Nachbarinnen; gute Nachbarn helfen, leihen

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einander. Die Gefässe zu benennen; das Zimmer mit den herumstehenden Geschirren zu malen! Die wunderbare Vermehrung des Öls; die Bezahlung des Schuldherrn; (Anregung des Rechtsgefühls),. die Verwendung des übrigen Erlöses, wozu etwa? Blick auf die Hilfe Gottes. Öl, Brennöl, Speiseöl; woher bekommen wir das Öl? Spruch: Gott ist ein Vater der Waisen und ein Helfer der Witwen.

Auf solche Weise bringen wir unsern schwachen und unwissenden Kindern nicht nur ein schätzbares und unentbehrliches Material von Erkenntnis bei, sondern in der Weise, wie wir sie in das Leben einführen, wecken und üben wir formell ihren Geist, bereichern ihre Sprache, lösen die Bande und Rinde ihres Gemütes, regen den Willen an zu verständigem und sittlichem Thun, pflanzen die Erkenntnis, Furcht und Liebe Gottes in ihre Herzen: kurz wir stellen eine breite Grundlage her zu einem Geistes- leben, das ebenso der Bestimmung des Menschen, wie den Anforderungen des Lebens entspricht.“

Das ist in Kurzem eine Übersicht über die Arbeit Landenbergers an den Schwachsinnigen, wie er sie nur in den Jahresberichten zeigt. Er schrieb auch in verschiedene Fachblätter. Was uns vorliegt beweist, dass er uns, wie kein zweiter, den Weg gewiesen hat, der beschritten werden muss, wenn man den Schwachsinnigen verstehen und bilden will.

Mitteilungen.

Elberfeld. (Schuleinrichtungen für nicht normal begabte, aber unter- richtsfähige Kinder in Westfalen und in der Rheinprovinz.) Der Unterrichts- minister hat den Kgl. Regierungen unterm 6. April eine Übersicht der in der preuss. Monarchie z. Z. vorhandenen Schuleinrichtungen für nicht normal begabte, aber unter- richtsfähige Kinder übersandt Die Entwickelung dieser Art von Schulen hat seit Aufnahme der letzten Statistik im Jahre 1896 einen erfreulichen Fortschritt gemacht- Seitdem die Bedeutung solcher Anstalten allgemein anerkannt und in betreff ihrer Einrichtung und Leitung eine eingehende Übereinstimmung der Ansichten zur Geltung gelangt ist, hat die Zahl der Hilfsklassen erheblich zugenommen. Während im Jahre 1894 in 18 Städten 37 Hilfsschulen mit etwa 700 Kindern und 1896 in 24 Städten 37 derartige Schuleinrichtungen mit zusammen 2017 Kindern bestanden, giebt es jetzt in 42 Städten 91 solcher Anstalten mit zusammen 4729 Schulkindern in 233 Klassen. An den Schulen sind beschäftigt 168 Lehrer, 50 Lehrerinnen nebst 20 Handarbeits- lehrerinnen. Die unterrichtlichen Leistungen dieser Klassen sind durchweg genügend, zum nicht geringen Teile sogar recht gut. Nur der Umstand, dass noch an mehreren Orten von der Mitwirkung der Ärzte abgesehen wird, verdient besonders hervorgehoben zu werden, und doch wird die regelmässige Beteiligung des Arztes bei diesen Klassen als unentbehrlich betrachtet. Der Minister hat deshalb besonders darauf hingewiesen, dass diesem Übelstande abgeholfen werden möge. In Westfalen und der Rheinprovinz befinden sich Hilfs«chulen in fulgenden Städten: Dortmund: 1 evange- lische mit 2 Klassen und 41 Kindern, 1 katholische mit 1 Klasse und 25 Kindern; Hagen: 1 mit 1 Klasse und 25 Kindern; Schwelm: 1 mit 1 Klasse und 26 Kindern;

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Barmen: 1 mit 10 Klassen und 211 Kindern; Düsseldorf: 1 mit 7 Klassen und 208 Kindern; Elberfeld: 1 mit 6 Klassen und 161 Kindern; Essen: 1 evangel. mit 3 Klassen und 77 Kindern und 1 kathol. mit 3 Klassen und 83 Kindern; Krefeld: 4 Klassen mit 95 Kindern; Bonn: 1 mit 3 Klassen und 64 Kindern; Köln: 4 mit 12 Klassen und 349 Kindern; Aachen: 1 mit 6 Klassen und 201 Kindern und 1 Privatklasse für bemittelte Kreise.

Roda S.-A. (Martinshaus) Am 29. Juni fand in schlichter, aber überaus feierlicher Weise die Einweihung des neuerbauten Pavillons des Martins- hauses statt. Die beteiligten Regierungen von Sachsen- Altenburg und Sachsen- Weimar hatten der Feier besondere Vertreter entsendet, und Konsistorialrat Dr. Lohoff hielt die Weiherede. Die Erweiterung, welche das seit 1886 bestehende Martinshaus durch den Pavillon erfahren hat, ist eine bedeutende und ermöglicht, dass die in demselben uniergebrachten idiotischen Kinder einen regelmässigen Klassen- unterricht erhalten können. -— |

Niederösterreich. (Öffentliche Fürsorge für epileptische schulpflichtige Kinder.) Seit längerer Zeit beschäftigt man sich hier mit der Frage der Fürsorge für die im Schulalter stehenden Epileptiker, deren es vor mehreren Jahren allein in Wien 116 (51 Knaben und 65 Mädchen) gab. Auf ein vom Ortsschulrate des XVIII. Wiener Bezirks (Währing) an den Gemeinderat der Stadt Wien und den n.-ö. Landesausschuss gerichtetes Gesuch, die Errichtung einer Heil-, Erziehungs- und Unterrichtsanstalt für epileptische, im schulpflichtigen Alter stehende Kinder ver- anlassen zu wollen, gelangte am 24. Oktober 1900 von dem Letzteren an den Ortsschulrat folgende Zuschrift: „Unter Bezugnahme auf die Eingabe vom 2. Juli 1900, 2 424, womit der Orsschulrat des XVIII. Bezirkes der k. k. Reichshaupt- und Residenzstadt Wien das Ersuchen gestellt hat, der n.-ö. Landesausschuss wolle die Errichtung einer Heil-, Erziehungs- und Unterrichtsanstalt für epileptische, im schul- pflichtigen Alter stehende Kinder veranlassen, wird dem Ortsschulrate eröffnet, dass der n.-ö. Landesausschuss der Frage der Errichtung von Anstalten für epileptische Kinder im allgemeinen, und für epileptische Kinder im schulpflichtigen Alter im be- sonderen seit längerer Zeit bereits besondere Aufmerksamkeit widmet, und in dem am 8. Februar 1900 dem hohen Landtage vorgelegten Entwurfe eines Gesetzes, be- treffend die Öffentliche Armenpflege, die Errichtung von Sonderanstalten für epileptische, sieche und verkrüppelte Kinder bereits aufgenommen erscheint. Der bezügliche Gesetz- entwurf wurde seitens des hohen Landtages noch nicht in Beratung gezogen, dürfte jedoch voraussichtlich in der nächsten Session zur Verhandlung gelangen. Um die für den Fall der Annahme des Gesetzentwurfes auf Grund desselben zu errichtenden Sonderanstalten auch den Angehörigen der Gemeinde Wien zugänglich zu machen, hat der n.-ö. Landesausschuss dem hohen Landtage einen weiteren Gesetzentwurf, betreffend die Beteiligung der Gemeinde Wien an der öffentlichen Armenpflege durch den n.-ö. Landesversorgungsfonds, vorgelegt, dessen Annahme die Unterbringung epilep- tischer, siecher, verkrüppelter Kinder etc. aus Wien in unbeschränkter Zahl in den durch den projektierten n.-Ö. Landesversorgungsfonds zu errichtenden Landes-Sonder- anstalten ermöglichen würde. Gegenwärtig werden die nach Niederösterreich (ein- schliesslich Wien) zuständigen epileptischen Kinder in die Anstalteu für geistesschwache

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Kinder des Landes Niederösterreich aufgenommen, u. zw. bildungsunfähige in die n.-ö. Landes-Pflege- und Beschäftigungsanstalt für schwachsinnige Kinder in Kierling- Gugging und in die Idivtenabteilung des städtischen Öffentlichen Krankenhauses in Mödling, bildungsfähige in die Abteilungen für n.-ö. Landeszöglinge des Pius- Institutes zu Bruck an der Mur und der Stephanie-Stiftung zu Biedermanns- dorf. In allen diesen Anstalten sind die Kinder nach ihrem Intelligenzgrade in Gruppen gesondert, so dass eine schädigende Beeinflussung der epileptischon bildungsfähigen Kinder durch blödsinnige Mitpfleglinge ausgeschlossen erscheint.“

Schweiz. (III. Schweizerische Konferenz für das Idiotenwesen) Am 10. und 11. Juni d. J. hat im Burgdorf die III. Schweiz. Konferenz für das Idiotenwesen stattgefunden. Von den auf derselben behandelten Themen sind folgende zu nennen: 1. Wie sind Erziehung und Unterricht in den Hilfsklassen für Schwach- begabte und in den Spezialanstalten für Schwachsinnige zu gestalten, damit diese Kinder für den Broterwerb befähigt werden? Für welche Berufsarten eignen sie sich am besten? 2. Sorge für die vereinzelten Schwachbegabten und Schwachsinnigen in kleineren Gemeinden.

Zürich. (Personalien.) Die amerikanische Gesellschaft für das Studium der Epilepsie und die Fürsorge und Behandlung Epileptischer in Amerika hat auf ihrem ersten Kongress in Washington am 15. und 16. Mai d. J. Herrn F. Kölle, Direktor der Schweizerischen Anstalt für Epileptischo in Zürich zu ihrem Ehrenmitglied ernannt. Veranlassung hierzu waren zwei Arbeiten des Herrn Kölle über Epilepsie und Behandlung Epileptischer.

Amerika. (Epileptikerfürsorge.) In Amerika hat sich eine nationale Gesell- schaft gebildet für das Studium der Epilepsie und die Fürsorge und Behandlung Epileptischer. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, für Amerika das Beste auf diesem Gebiet zu erringen. Der Präsident der Gesellschaft Hon. Wm. Pryor Letchworth, L. L. D. in Albany N. Y. hat im vorigen Jahre ein sehr interessantes Buch über Fürsorge und Behandlung Epileptischer mit vielen Illustrationen herausgegeben. (G. P. Putnam’s Sous. New York and London. S. 246), in welchem sämtliche Anstalten für Epileptische in Amerika und die Thätigkeit auf diesem Gebiet in 18 amerikan. Stasten besprochen sind. Des Weiteren kamen in dem interessanten Werk zur Besprechung die Anstalten für Epileptische in England, Deutschland (Wuhlgarben und Bielefeld) und ın der Schweiz. Berücksichtigt sind in dem Werk namentlich auch Arbeiten über Epilepsie von Sanitäts-Rat Dr. Wildermuth-Stuttgart und Direktor F. Kölle-Zürich. Am 15. und 16. Mai 1901 hielt die Gesellschaft ihren ersten Kongress in Washington ab. Ihr Programm ist: 1. Förderung der all- gemeinen Wohlfahrt der an Epilepsie Leidenden. 2. Ansporn zum Studium der Ursachen und der Heilmethoden dieser Krankheit. 3. Förderung der Versorgung Epileptischer in Anstalten, wo sie a) eine allgemeine Schulbildung erhalten; b) erwerbs- fähig soviel als möglich gemacht werden und c) nach der besten ärztlichen Kenntnis inbezug auf ihre Krankheit behandelt werden. 4A. Den verschiedenen Staaten in Amerika beizustehen, welche Vorsorge für Epileptische treffen. F. K.

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Litteratur.

Die Grundzüge der pädagogischen Pathologie. Von W. Schumann, Pfarrer zu Böhlen. Weimar 1900. Verlag von R. Wagner Sohn. 108 Seiten. Preis Mk. 1,20. --

Die vorliegende Arbeit ist aus einem Vortrage entstanden, den der Verfasser auf einer Konferenz der Geistlichen und Lehrer der Diöcese Königsee-Thüringen hielt. Er will mit seiner Schrift hauptsächlich auf die grossen Werke eines Strümpell, Koch u. a. m. hinweisen, das Studium derselben anbalhnen und Bausteine dazu liefern. Wir halten das Buch für diese Zwecke vollständig geeignet, wenngleich es mitunter auch Nebensächliches, wie z. B. die Schularztfrage, berührt. Im allgemeinen bekundet der Verfasser viel Verständnis auf dem Gebiete der pädagogischen Pathologie und scheint auch die bisherige Litteratur dieses Gegenstandes vollständig zu beherrschen. Seinen in der Darstellung an geeigneten Stellen gegebenen Ratschlägen für Erziehung und Unterricht können wir zustimmen, da sie meist durchweg praktisch erscheinen. Alles in allem ist das vorliegende Buch recht brauchbar, wir empfehlen es insbesondere zur Orientierung auf dem Gebiete der pädagogischen Pathologie. Fr.

Der Wert der Kinderpsychologie für den Lehrer. Von Dr. J. Stimpfl in Bamberg. Gotha 1900. Verlag von E. F. Tienemann. 28 Seiten. Preis Mk. 0,60.

Dr. J. Stimpfl, bekannt durch seine Übersetzungen von Sully’s und Tracy’s Schriften über Kinderpsychologie, erörtert in der vorliegenden Broschüre den Wert der Kinderpsychologie für den Lehrer auf Grund nordamerikanischer Forschungen und Arbeiten. Seine Ausführungen geben gleichzeitig ein Bild über die Bestrebungen und Strömungen auf dem Gebiete der Kivderforschung jenseits des Oceans. Die mit grosser Umsicht und Sachkenntnis geschriebene Abhandlung verdient die weitgehendste Be- achtung, besonders da sie den Leser anregt, weitere Studien auf dem besagten Gebiete zu treiben und ihm auch die wichtigsten Handhaben dazu bietet. Wir empfehlen die Schrift angelegentlichst. Fr.

Die psychopathischen Minderwertigkeiten. Wesen, Bedeutung und Behandlung derselben in der Volksschule von K. Michels, Rektor in Schwan- heim am Main. Kempten 1901. Verlag der Köselschen Buchhandlung 64 Seiten. Preis Mk 075.

Dr. Koch hat unter der eigenartigen Bezeichnung der „psychopathischen Minderwertigkeiten‘“ eine Reihe von Degenerierten vorzüglich beschrieben. Trüper behandelt in seiner Schrift: „Psychopathische Minderwertigkeiten im Kindes- alter“, das abnorme Kind und seine erziehliche Behandlung sehr eingehend und sach- gemäss. Die vorliegende Schrift ist demselben Gegenstande gewidmet; sie unter- scheidet sich aber von den beiden erstgenannten Arbeiten dadurch, dass sie das Wesen, die Bedeutung und die Bebandlung der psychopathischen Minderwertigkeiten speziell für die Volksschule erörtert. Für das Studium der pädagogischen Pathologie fehlte es bisher an einer geeigneten und brauchbaren Einführungsschrift, die Arbeit Michels erscheint für diesen Zweck wie geschaffen, namentlich zur Erschliessung des Allgemeinverständnisses. Für den Volksschüler wird es wohl kaum eine bessere

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Arbeit über diesen Gegenstand geben als die vorliegende, aber auch uns werden manche Anregungen darin geboten. In dem engen Rahmen der Ausführungen ist manches zum Ausdrucke gebracht, was für uns ebenfalls Wert besitzt. Wir empfehlen das Werkchen für die Anstalts- und Hilfsschulbibliotheken zur Anschaffung.

Die Individualität vom allgemein - menschlichen und ärztlichen Standpunkt. Von Dr. med. J. Fröhlich. Stuttgart 1897. Verlag von A. Zimmer (E. Mohrmann). 410 Seiten. Preis Mk. 6.—

Das Werk bildet in der Hauptsache eine Betrachtung der Individualität in den stofflichen und geistigen Erscheinungen des Lebens. Wir finden darin einen Beitrag zur wissenschaftlichen Philosophie der Medizin in sehr geistreicher, aber keineswegs einwandfreier Darstellung. Der Verfasser selbst bezeichnet seine Ausführungen als einen persönlichen Versuch, durch welchen er sich zu einer individuell befriedigenden fruchtbaren, harmonischen Lebens- und Berufsauffassung hindurcharbeiten will. Daher spricht er auch den berechtigten Zweifel aus, dass der Leser nicht durchweg seinen Darlegungen werde beistimmen können, da er in ihnen selbst verschiedene Mängel empfindet, die Lücken in seinem Seelenleben entsprechen. Immerhin aber bedeutet das Werk eine hervorragende litterarische Erscheinung, indem es eine Fülle der weit- gehendsten Gedanken enthält. Wir haben es mit grossem Interesse gelesen, manche Wahrheiten darin entdeckt, aber sind auch vielen eigenartigen, mitunter gehaltlosen Auffassungen begegnet. Anstaltsärzten können wir die Schrift zur prüfenden Br- wägung sehr empfehlen.

Briefkasten.

Dr. K. in H. Für freundliche Zusendung des Sonderabdruckes besten Dank! Wollen Sie nicht auch unserer Zeitschrift wieder einmal eine Ihrer Mussestunden widmen? Z. in J. Bedaure sehr, aber zu grosse Opfer dürfen von der Zeitschrift nicht verlangt werden; dieselbe kostete im Laufe der Zeit ein Kapital. F. F. In St. Das von Ihnen bezeichnete Buch wurde erbeten, ob mit Erfolg, muss abgewartet werden. M. B. in L. Dass wir über die Schweize- rische Konferenz keinen Bericht zu bringen vermochten, lag daran, dass man uns die Abhaltung derselben nicht angezeigt hatte. Hierdurch waren wir selbstverständlich der Möglichkeit be- raubt, uns rechtzeitig nach einem Berichterstatter umzusehen. R. $. in M. Den Lehrplan der Dresdner Schule für Schwachsinnige oder, wie sie sich nennt, Nachhilfeschule, halten wir für einen der besten.

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Inhalt: Die Bestrebtingen für die Bildung und Erziehung schwachsinniger Kinder in Italien. (Von Karl Richter.) Zu der neuen Anweisung über die Unterbringung in Privat- anstalten für Geisteskranke, Epileptische und Idioten. $ 11 des Gesetzes vom 3. März 1897, betreffend das Diensteinkommen der Lehrer und Lehrerinnen an den öffentlichen Volksschulen. (1. W. Busch) Ein Pionier auf dem Gebiete der Fürsorge für Schwachsinnige: J. Landen- berger. (Von Dir. Kölle-Regensberg). Mitteilungen: Elberfeld, Roda S.-A., Nieder- österreich, Schweiz, Zürich, Amerika. Litteratur: Die Grundzüge der pädagogischen Patho- jogie. Der Wert der Kinderpsychologie für den Lehrer. -— Die psychopathischen Minder- wertigkeiten. Die Individualität. Briefkasten.

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Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dregan; Druck von Johannes Pässler in Dresden.

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für die

Behandinng Sehwachsinnioer und Epleptischer

Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen herausgegeben von

Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, 8pezialarzt Dresden -Streohlen, für Nervenkrankheiten Residenzstrasse 27. In Stuttgart. Erscheint jährlich In 13 Nummern von ' Zu beziehen durch alle Buchhandlungen

und Postämter, wie auch direkt von der Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, einzelne Nummer 50 Pfg.

mindestens einem Bogen. Anzelgen für die gespaltene Petitzeile 25 Pfg. Litte- rarische Beilagen 6 Mark.

November 1901.

Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

Bericht über die X. Konferenz für das Idiotenwesen und Schulen für schwachsinnige Kinder

am 17. bis 20. September 1901 Elberfeld.

Die Vorversammlung der X. Konferenz fand programmgemäss Dienstag den 17. September, abends 7 Uhr, im Speisesaale der Stadthalle statt. Der Vorsitzende der IX. Konferenz, Erziehungsinspektor Piper-Dalldorf, eröffnete dieselbe, begrüsste die Erschienenen mit einem herzlichen Willkommensgrusse und erstattete den Bericht über die letzten 3 Jahre. Er gedachte zunächst der in dieser Zeit verstorbenen Mitglieder der Konferenz, insbesondere des Mit- begründers und langjährigen Vorsitzenden derselben Pastor Dr. Sengelmann- Alsterdorf, Pastor Kobelt-Neinstedt und Obermedizinalrat Dr. Köhler-Hubertus- burg. Die Versammlung ehrte durch Erheben das Andenken dieser um die Sache der Idiotenerziehung verdienten Männer. Hierauf berichtete der Vor- sitzende über verschiedene Personalveränderungen und gedachte der Ent- stehung neuer Anstalten.

Namens des Ortsausschusses hiess Beigeordneter Schulrat Boodstein- Elberfeld die Anwesenden herzlich willkommen und entrollte das Programm der für die Konferenz getroffenen Veranstaltungen. —- Nachdem die Versammlung

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Zeitschrift

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den bisherigen Vorstand durch Zuruf wieder gewählt hatte, schloss der Vor- sitzende die Versammlung, und es folgte dem ernsten Teile ein ungezwungenes gemütliches Beisammensein.

Erste Hauptversammlung

Mittwoch den 18. September, vormittags 9 Uhr, im Kuppelsaale des Rathauses.

Der Vorsitzende, Erziehungsinspektor Piper-Dalldorf, eröffnet die erste Hauptversammlung, zu welcher sich 53 Mitglieder und 173 Teilnehmer einge- schrieben haben, mit dem Wunsche, dass die Arbeiten der Konferenz, welche den ärmsten Kindern gewidmet seien, diesen in möglichster Weise zu gute kommen möchten.

Als Vertreter der Königlichen Regierung in Düsseldorf begrüsst hierauf Regierungs- und Schulrat Dr. Quehl die Konferenz. Er freue sich, so führt er aus, die Versammlung in einer Stadt begrüssen zu dürfen, welche gleich vielen anderen Städten des Regierungsbezirks Düsseldorf sich einer grossen ge- werblichen Blüte erfreue und dessen Bewohner sich, wenn es gelte, der geistigen und leiblichen Not zu steuern, hilfsbereit und thatkräftig zusammenfänden. Er erinnere in dieser Beziehung an die Elberfelder Armenpflege, an die Barmer Missionsgesellschaft, an den Bergischen Verein für Gemeinwohl, ferner an die Wohlfahrtseinrichtungen in Essen, M.-Gladbach und zahlreichen anderen Orten des Bezirks. Im Jahre 1896 bestanden im Regierungsbezirk Düsseldorf 1465 Schulen mit 6145 Klassen, in diesem Jahre belaufe sich dagegen die Zahl der Schulen auf 1588 mit 7460 Klassen; neugegründet wurden mithin in diesem Zeitraume 123 Schulen mit 1315 Klassen. Diese Zahlen bewiesen die Opfer- willigkeit unserer Städte den Volksschulen gegenüber, aber auch die Ärmsten der Kinder, die geistig Zurückgebliebenen und ganz Schwachen seien in unserm Bezirk nicht ohne Pflege geblieben, wie die Idiotenanstalten „Hephata*-M.-Gladbach und „Franz Sales-Haus“ in Huttrop zur Genüge ergäben. Ausser der Hilfsschule, welche hier bestehe, befänden sich solche in Barmen, Düsseldorf, Essen, Krefeld, im ganzen Bezirk 33 mit 835 Schülern, in denen 28 Lehrer, 5 Lehrerinnen und 5 Handarbeitsleherinnen unterrichteten. In Preussen mit 42 Städten belaufe sich die Zahl der Schulen auf 91 mit 233 Klassen, in denen 4728 Schüler unterrichtet würden, während im ganzen Deutschen Reiche sich 326 Klassen mit 7871 Schülern befänden. Wenn nun Vertreter und Freunde beider An- stalten hier gemeinsam tagen, so mögen sie, schloss Redner, in der heutigen und morgigen Versammlung reiche Anregung für beide Anstalten bringen, mögen beide, die ältere und junge Schwester, in ihren Vertretern sich die Hände reichen und sich gegenseitig stärken in der Liebe, in dem Werke, welches vielfach noch im Beginne sei, kräftig fortzuschreiten zum Segen der armen Kinder. Das sei der herzlichste Wunsch der königlichen Regierung.

Beigeordneter Schulrat Dr. Boodstein richtet dann im Auftrage des ver- hinderten Oberbürgermeisters Funck und im Namen der Stadt an die Anwesenden herzliche Worte der Begrüssung. Es sei ihm eine ganz besondere Freude, dies gerade heute zu thun, an dem Tage, an welchem die hiesige Hilfsschule vor 22

Jahren eröffnet worden sei. Was sie den Teilnehmern zu bieten habe, sei ja verhältnismässig wenig, aber auf der anderen Seite würde sie unterstützt durch Anstalten, die auch die Pflege der Idioten ganz besonders auf ihre Fahne ge- schrieben hätten. Es freue ihn, bekannt zu geben, dass sowohl von der Anstalt „Hephata“ in M.-Gladbach, als auch von der Anstalt in Essen-Huttrop die grösste Bereitwilligkeit ausgedrückt wurde, zusammen zu arbeiten, um denjenigen, die sich in dieser Weise auffrischen wollten, neue Anregungen zu geben und auf der anderen Seite Anerkennung und Ermutigung zu finden.

Der Vorsitzende dankt hierauf im Namen der Konferenz den beiden Herren für ihre freundlichen Worte und giebt Dir. Herberich-Gmünden das Wort. Derselbe spricht über:

Die ideale Seite der Idiotenpflege.

Meine Damen und Herren!

Welchen Zweck haben unsere Konferenzen, unsere Zusammenkünfte nach Zwischenräumen von drei Jahren? Vielleicht in erster Linie den, unsere ge- machten Erfahrungen gegenseitig auszutauschen, tiefer in das geheimnisvolle Wesen des Schwachsinns einzudringen, neue Ergebnisse fleissigen Forschens auf diesem Gebiete zu vernehmen und zu sehen, wie die Fürsorge für die bislang Vernachlässigten der menschlichen Gesellschaft in den verschiedenen Ländern sich entwickelte. Das ist alles schön und gut, aber nicht genügend. Nach meiner Ansicht haben unsere Konferenzen auch den edleren Zweck, uns gegen- seitig zu heben und zu begeistern für unser heimisches Schaffen, uns neue Kraft und neuen Mut zu holen für unsern schweren Beruf. Und wie könnte das besser geschehen, m. D. u. H., als durch die Betrachtung der idealen Seite desselben, als durch das Hervorheben höher liegender Gesichtspunkte!

So lassen Sie mich denn einzelne dieser Gesichtspunkte beleuchten, denn alle zu besprechen geht über den Rahmen eines kurz bemessenen Vortrages hinaus. Anderseits möchte ich auch der folgenden Debatte verschiedenes Material nicht wegnehmen.

Die ideale Seite der Fürsorge für die unserer Erziehung und Pflege an- vertrauten körperlich und geistig Schwachen lässt sich nach zwei Richtungen teilen: 1. in Beziehung auf die Schwachsinnigen selbst und 2. in Beziehung auf das Personal, welches sich mit ihnen beschäftigt.

I.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ein idealer Gesichtspunkt liegt vor allem in dem ausserordentlichen Vorzuge der Anstaltspflege gegenüber der Familienpflege für die armen Geistesschwachen selbst. Ich will dies an einigen Beispielen zeigen. Es ist mir in meiner nunmehr bald 20jährigen Praxis häufig vorgekommen, und es wird wohl meinen Herren Kollegen ebenfalls vorgekommen sein, dass Zöglinge, welche wir auf den Wunsch ihrer Eltern auf Ferien ent- liessen, zu Hause vollständig ausarteten, beziehungsweise in ihre früheren Fehler und Unarten zurückfielen, während sie in der Anstalt vollständig zufrieden

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und harmlos waren. Wir können oft unser Erstaunen und unsere Verwunderung nicht unterdrücken, wenn uns von den betrefienden Angehörigen mitgeteilt wird, wie sich die Kinder daheim aufgeführt haben. In einem Falle ist es vorgekommen, dass ein Knabe, nachdem er die ersten Tage sich ruhig verhalten hatte, plötzlich in eine Art Raserei verfiel, seine Geschwister misshandelte, seine Kleider vom Leibe riss und sie nebst anderen Gegenständen zum Fenster hinauswarf u. s. w., so dass der Vater ihn schleunigst wieder zur Anstalt zurück- bringen musste. Hier traf er mit dem freundlichsten und zufriedensten Gesichte von der Welt ein, ging sofort in seine Abteilung und kümmerte sich nicht weiter um den Vater. Es that diesem sehr wehe und er erkundigte sich, warum sein Sohn so ungeberdig sei, ob man ihn denn nicht besser ziehen könne. Er musste aber zu seiner grossen Überraschung die Thatsache erfahren, dass man in der Anstalt absolut keine Veranlassung gehabt habe, den Knaben zu strafen. Derselbe war vielmehr einer der ruhigsten und bravsten Zöglinge, der seiner Pflegerin gar keine Mühe machte. Wir hegten nun selbst die Be- fürchtung, der Knabe möchte seine Unarten in der Anstalt fortsetzen. Aber nichts geschah. Er war ebenso friedfertig und lenksam wie früher. Dieser Fall steht aber nicht etwa vereinzelt da, sondern wir haben in der Anstalts- geschichte vier oder fünf ähnliche Vorkommnisse zu verzeichnen.

Wenn wir nun nach der Ursache solch auffallender Erscheinungen forschen, so müssen wir vor allem festhalten, dass unsere armen Schwachsinnigen in der Anstalt eine neue und viel bessere Heimat gefunden haben, als sie ihnen im Eltern- hause geboten war. Es dünkt uns zwar ein Widerspruch zu sein im Hinblick auf die grosse Bedeutung des Familienbandes, ist aber doch so.. Der Schwach- sinnige fühlt sich, wenn ich so sagen darf, instinktmässig häufig in seiner Familie als Fremder. Er weiss recht gut, dass er nicht so ist, wie seine übrigen Geschwister, er empfindet unbewusst den Druck der geistigen und körperlichen Überlegenheit derselben und es wird ihm auch oft genug deut- lich gemacht.

So lange er nun im elterlichen Hause weilt, kennt er nichts Besseres und erträgt es vielleicht mit Resignation. Anders wird es, sobald er in die Anstalt kommt. Hier befindet er sich unter Ebenbürtigen, ja unter solchen, welche noch auf einer tieferen Stufe stehen. Das befriedigt ihn, befreit ihn von drückender Beschämung und erweckt Lebensfreudigkeit und Teilnahme an seiner Umgebung. Das herzliche Einvernehmen mit seinen Kameraden, eine liebevolle Behandlung seitens erfahrener Pflegerinnen, eine angemessene Lebensweise, Spiele, geeignete Beschäftigungen, die zahlreichen festlichen und gemütlichen Veranstaltungen, welche das Jahr mit sich bringt: all das macht ihm die Anstalt zur rechten Heimat, in welcher er sich glücklich fühlt. Und wenn er nun plötzlich herausgerissen wird aus diesem gemütlichen Heim, wenn er zurückversetzt wird in die alten Verhältnisse der Erniedrigung, so wird er bei all der elterlichen Liebe unzufrieden und unglücklich und verfällt in alte Un- arten und Aufregungszustände.

Und darum auch kehrt er freudig zurück in die liebgewonnenen Räume, in die für ihn passende und ihm angepasste Welt, wo man seine Eigenheiten

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und Liebhabereien kennt und zu behandeln weiss, wo er nicht der Dumme und Verachtete und Verspöttelte ist, sondern der Gleichberechtigte unter Kameraden. Die Anstalt ist sein Asyl, seine Zufluchtsstätte, in welche er sich gleichsam rettet und. flüchtet vor einer ihm fremden und feindseligen, anders gearteten Gesellschaft.

Und was ist es erst mit solchen, die als tiefstehende Idioten des Hauses grösste Last und Plage sind; die als Verhängnis, ja als göttliche Strafe ver- wünscht werden? In meiner Anstalt befindet sich ein Asylist, den sein Vater seinerzeit selbst. überbracht hat. Er war zu Hause ein unbändiger Knabe, der manches zerstörte und deshalb furchtbare Prügel erhielt. Der Vater ist vor einigen Jahren gestorben, ohne seinen Sohn auch nur ein einziges Mal besucht zu haben; er wollte ihn nicht mehr sehen. Die eine Schwester wurde anstands- halber in Zwischenräumen von 5 bis 6 Jahren geschickt. Aber auch sie hält sich in scheuer Entfernung und ihre ständige Klage war: „Warum müssen denn gerade wir einen solchen Bruder. haben?“ Die Mutter, bedenken Sie, m. D. u. H., die leibliche Mutter des Ausgestossenen lernte ich erst vor einigen Monaten kennen. Sie kam zum ersten Mal in die Anstalt, um ihren Sohn nach 19 Jahren wieder zu sehen, und der Besuch dauerte -- eine Viertelstunde. Dabei ist der Betreffende nicht etwa abstossend, nur zu Zeiten etwas aufgeregt, aber sonst ordentlich, reinlich und ein grosser Freund der Musik. Er ist bei uns durchaus beliebt. Was für einen solchen Unglücklichen die Anstalt be- deutet, brauche ich nicht weiter auszuführen. Wie viele andere Idioten, nament, lich in Städten ich könnte zahlreiche Fälle anführen sind, bevor sie in die Anstalt eintraten, wenig oder gar nicht an die Luft gekommen, weil man sich vor den Nachbarn und noch mehr vor der Öffentlichkeit scheute, kein Aufsehen erregen und sich nicht Unannehmlichkeiten und Kränkungen aussetzen wollte. Es kann dies kaum getadelt werden, denn das Publikum hat unter Umständen ein Recht darauf, unbehelligt zu bleiben, und es erregt auch in vieler Hinsicht Bedenken, mit derartigen Kranken sich auf der Strasse oder auch in besuchten Anlagen zu zeigen. Solche Schwachsinnige leben förmlich auf, wenn sie in eine Anstalt kommen, wo sie nicht zwischen 4 Wänden ein- gekerkert werden, sondern auch den schönen blauen Himmel und Waldesgrün sehen und frische Luft geniessen können, und es gehen oft merkwürdige Ver- änderungen mit ihnen vor.

Andere, welche auf dem Lande leben, geniessen oft zu viele Freiheit, streunen umher, verwahrlosen und bilden nicht selten den bedauernswerten Gegenstand des Spottes, ja des Missbrauches. Häufig sind solche Idioten ver- waist und entbehren vollständig der trauten Häuslichkeit, sie gehen ohne Liebe und Mitleid durchs Leben. Auch diese finden in der Anstalt ein Asyl, welches sie schützt und in welchem sie Ersatz finden für die fehlenden Familienbande.

Recht deutlich wird dies offenbar bei Beerdigungen unserer Verstorbenen. Man soll nicht klagen, wenn der Tod die gebundene Seele erlöst zu höherer Freiheit, wenn der sieche und verunstaltete Körper hinabsinkt zur Verwesung. Aber es ist doch unsagbar traurig beobachten zu müssen, dass wie es leider

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häufig geschieht auch nicht ein einziger Verwandter es der Mühe wert findet, dem Verlassenen das letzte Geleite zu geben, wenn selbst Eltern sich dessen schämen. Und wie selten sieht man Thränen am Grabe. Nur diejenigen, welchen der Arme im Geiste ein Freund und Bruder geworden, seine Kameraden, blicken trauernd und betend auf den geschlossenen Sarg und treue Pfleger und Pflegerinnen betten ihn liebevoll zur ewigen Ruhe.

Doch nun hinweg zu den Lebenden, zu den Kleinen, Hoffnungsfreudigen, die ung übergeben sind nicht bloss zur Pflege und Bewahrung, sondern zur Er- ziehung und Bildung. Sie waren draussen in der Heimat auch Fremdlinge gewesen, sassen gedrückt und furchtsam unter spöttelnden Buben in der Schul- bank, hatten kein Selbstvertrauen, wussten nichts, konnten nichts und waren dem Lehrer ein Ärgernis und ein grosser Hemmschuh in der Förderung seiner besser begabten Schüler. Nun sind sie in die Anstalt gekommen. Da ist alles ganz anders, da giebt es keinen Spott, keine Erniedrigung. Da traucht der Schüler zunächst nichts zu können, es wird gar nichts von ihm verlangt, nur Unterhaltung und Spiel anscheinend. Kleine Übungen am Formenbrett; ach, das geht ja ganz leicht, das bringt er fertig. Und nun wird er gelobt: Ei der Tausen, bist Du geschickt? Welche Veränderung geht da mit dem eingeschüchterten Geiste vor! Wie er sich reckt und dehnt, er wächst förmlich. Seht ihr das blöde kindliche Auge leuchten, seht ihr sein Gesicht strahlen vor Freude? Das ist die Auferweckung aus ödem Stumpfsinn zur Lebensfreudigkeit, aus der Mutlosigkeit zum Selbstvertrauen.

Meine verehrten Zuhörer! Ist das nicht ein schöner Zug, ein Sonnenstrahl in unseren Anstalten? | II.

Und hiermit gelangen wir zur idealen Bedeutung der Idiotenpfiege auch für das Personal, welches sich mit den armen Schwachsinnigen beschäftigt, und zwar zunächst für das Lehrpersonal.

Ich wende mich an meine werten Kolleginnen und Kollegen aus dem Lehrerstande und frage: Haben Sie es jemals bereut, dass Sie sich dem müh- samen Berufe des Schwachsinnigen-Unterrichtes gewidmet haben? Gewiss nicht! Ungefähr ein Jalır nach der Gründung meiner Anstalt besuchte ich einen älteren Freund, dessen erstes Wort nach der Begrüssung war: „Sie haben sich da eine schöne Rute gebunden!“ Ich aber lächelte und sprach: „Nun, bis jetzt habe ich diese Rute noch nicht empfunden!“ Und ein anderer meinte: „Wie thöricht, dir eine solche Last aufzubürden! Du hast es in deiner früheren Stellung viel ruhiger gehabt und wirst noch manchmal daran zurückdenken.“ Meine Antwort war: „Möglich, dass ich es ruhiger und bequemer hatte, aber giebt es denn einen schöneren Beruf, als solch versumpfte Seelen zu heben und sie zu Gott zu führen?“ Und in der That! Es liegt nicht nur ein ge- wisses Verdienst darin, sich der Armen im Geiste anzunehmen, sondern es ist auch für jeden Pädagogen äusserst interessant, die Entwickelung eines Schwach- sinnigen zu beobachten, zu leiten und zu fördern. Schon die Verschiedenartig- keit unserer Schüler, welche uns zwingt aufs strengste zu individualisieren,

191 jeden Einzelnen förmlich zu studieren, seine Besonderheiten zu merken, die schwachen und starken Seiten zu berücksichtigen, einen förmlichen Erziehungs- und Unterrichtsplan für ıhn zu entwerfen und durchzuführen: all das fordert unser Talent, unser Wissen und Können auf eine Weise heraus, von welcher die Fernstehenden keine Ahnung haben. Dies verleiht gerade unserem Berufe eine gewisse Vielseitigkeit, welche zwar anstrengt, aber auch uns selbst anregt und befriedigt.

Und wie erhebend ist es, m. D. u. H., wenn wir mit Freude sehen, wie diejenigen, an welchen andere ohne ihre Schuld sich vergebens oft jahrelang abgemüht haben, nun plötzlich aufwachen aus ihrer Lethargie und Fortschritte machen; wenn wir den schwachen kindlichen Geist beobachten, der wie das Saatkörnlein auf dem Ackerfelde die lange kalte Winternacht geschlafen zu haben scheint, und der nun plötzlich in der Frühlingssonne einer freundlichen und verständigen Pflege sich zu regen beginnt und keimt und wächst. Ganz besonders erfreulieh ist dieses Auftauen bei den wirklich Schwachsinnigen, die infolge fehlerhaften Gesichtes und Gehöres gegen die Erscheinungen der Aussen- welt gleichsam abgeschlossen waren und die nun durch intensiveren Anschauungs- unterricht, durch Sprachübungen und endlich durch fortgesetzte Begriffsent- wicklung beim Leseunterrichte erst in die Welt des Geistes eingeführt werden. Diese sind die dankbarsten und lernbegierigsten Schüler.

Auch für den Arzt entbehrt die Wirksamkeit an einer Idiotenanstalt nicht der idealen Seite. Es ist durchaus falsch, die mühsame Arbeit an den Schwach- sinnigen, die Bildungs- und Besserungsversuche als erfolglos hinzustellen, wie das von mancher Seite geschieht. Es ist falsch, unsere Häuser zu blossen Be- wahr- und Pflegeanstalten herabzudrücken, in welche man diejenigen zusammen- pfercht, die der menschlichen Gesellschaft im Wege stehen. O, das mag ja bequem erscheinen, aber ideal ist es nicht und nach meiner Ansicht auch nicht human und christlich. Denn der Schwaclhisinnige hat wohlbegründeten Anspruch darauf, und mit ihm haben ihn seine Angehörigen, dass er gebessert und aus- gebildet werde, soweit es immer möglich ist. Und das geschieht, wenn der Arzt und der Pädagoge einträchtig zusammenwirken. Wie häufig sind die Fälle, wo schon die geordnete Körperpflege und angemessene Ernährung, die Bewegung in frischer Luft, Turnen und Spiele einen ausserordentlich günstigen Einfluss auf die körperliche und damit auch auf die geistige Entwicklung der Zöglinge haben. Das gilt insbesondere von solchen, welche aus gesunkenen, oft verkommenen Familien stammen, welche blutarm, skrophulös oder infolge häus- licher Vernachlässigung überhaupt schwächlich sind. Hier hat der Arzt ein dankbares Feld der Thätigkeit. Auch kann hie und da durch operative Eingriffe recht wohl geholfen werden. Ich habe gegenwärtig zwei Zöglinge in der Unter- richtsabteilung, welche bei ihrem Eintritte in die Anstalt so wenig Augenlicht besassen, dass es absolut unmöglich war, sie im Lesen und Schreiben zu unter- richten. Es schien jedoch unserem Anstaltsarzte, als ob da noch zu helfen sei. Daraufhin wurden sie Herrn Professor Dr. Helfreich in Würzburg vorgestellt, welcher dieselben sogleich in seiner Klinik behielt und nach entsprechender

192 Vorbereitung beide operierte und zwar mit einem derartig günstigen Resultate, dass sie jetzt mit Hilfe von eigens konstruierten Augengläsern ganz gut sehen und am Unterrichte mit besserem Erfolge teilnehmen können. Es ist also auch dem Arzte Gelegenheit geboten, unseren Idioten, die bekanntermassen der Mehr- zahl nach auch körperliche Gebrechen haben, ein Wohlthäter zu werden und im Einvernehmen mit dem Pädagogen bei gegenseitigem Austausche der Be- obachtungen und Erfahrungen recht Erspriessliches zu wirken.

Zu diesem guten Verhältnisse zwischen dem Arzte und dem Pädagogen soll sich aber auch der bedeutende Einfluss des Religionslehrers als drittes bindendes und ergänzendes Glied anreihen. Dies geschieht schon im allgemeinen, wenn derselbe zugleich Leiter der Anstalt ist, soll aber auch geschehen, wenn er nur die religiöse Ausbildung und die Seelsorge überwacht und die weiter vorgeschrittenen Zöglinge zur Erstkommunion beziehungsweise Konfirmation vorbereitet. Das letztere Ziel ist es ja hauptsächlich, welches unser Liebeswerk an den bildungsfähigen Idioten krönen soll und einen gewissen Abschluss bildet, wie aus dem Jahresberichte der meisten Anstalten hervorgeht. Es muss auch für den Priester eine dankenswerte Aufgabe sein und ihm hohe innere Be- friedigung gewähren, wenn es gelingt, in den armen Schwachsinnigen das Licht der religiösen Wahrheiten anzuzünden und sie dem göttlichen Kinderfreunde entgegenzuführen. Sie sind ja bekanntermassen so empfänglich dafür, gehen ausserordentlich gerne in die Religionsstunden, vernehmen die biblischen Er- zählungen mit Interesse und haben oft ein ungeahntes Verständnis für die hohen sittlichen Lehren, welche daran geknüpft werden. Kinder, welche nicht zum Lesen, Schreiben und Rechnen gebracht werden können oder hierin gegen andere zurück sind, zeigen sich gleichwohl sehr empfänglich für die religiöse Bildung und bekunden beim Gottesdienste und besonders beim Empfange des Abendmahles eine Sammlung und eine Andacht, die manchen Vollsinnigen zum Muster dienen könnte. Das, m. D. u. H., halte ich auch für einen idealen Zug.

Insbesondere erfreut und erhebt uns ferner die Anhänglichkeit der Zöglinge und entschädigt uns reichlich für die Mühen und Anstrengungen des Berufes. Ich habe schon eingangs meines Vortrages darauf hingewiesen, dass der Gegen- satz, welcher in der Behandlung der Schwachsinnigen in der Heimat und in der Anstalt liegt, die unglücklichen Kinder zu Gunsten der letzteren beeinflussen müsse. Ganz dasselbe ist mit den Personen der Fall. Unsere Zöglinge fühlen sich unwillkürlich zu dem hingezogen, der ihre geistige Armut erkennt und sie zu behandeln weiss, der ihre geringen Leistungen belobt und sie hebt und kräftigt, der ihnen einen Platz in der menschlichen Gesellschaft zu verschaffen sucht. Daher ihre Anhänglichkeit und Dankbarkeit, welche sich auch nach ihrer Entlassang noch kundgiebt durch rührende Briefe und womöglich Besuche. Auch viele’ Eltern erfreuen uns durch wohlthuende Erkenntnis der Leistungen, wenn auch nicht alle.

Noch habe ich des Pflegepersonals zu gedenken. Für dieses liegt die ideale Seite in der höheren Auffassung ihres Berufes. Einmal fragte mich ein schlichter Bauarbeiter beim Anblicke eines körperlich missgestalteten Schwachsinnigen :

„Wozu hat doch Gott solche Geschöpfe auf die Welt gesetzt?“ Meine Antwort war: „Damit wir Menschen an ihnen unsere Nächstenliebe beweisen und üben.“ So sollte jeder Pfleger und jede Pflegerin denken. Ja, ich glaube wenig oder keinen Widerspruch zu finden, wenn ich behaupte: Das Personal, welches nicht von diesem Geiste durchdrungen ist, hält nicht aus, denn es ist thatsächlich keine Kleinigkeit, Idioten zu pflegen, und es erfordert einen hohen Grad von Selbstverleugnung, Opfersinn und Mut, ständig mit solchen Menschen umzu- gehen, ihre Launen zu ertragen und die Anforderungen, welche ihre körperliche Unbeholfenheit an den Wärter oder die Wärterin stellt, gewissenhaft zu erfüllen. Und wenn diese tüchtig sind, so sind sie dem Soldaten gleich zu achten, der tapfer ausharrt auf seinen Posten, der Mühe und Anstrengung gering achtet und sich um das Vaterland verdient macht. |

Und nun zum Schlusse, meine sehr verehrten Damen und Herren, erblicke ich noch eine ideale Seite unseres Berufes in unseren Konferenzen, in unseren Zusammenkünften. Schauen Sie unsere Versammlung an: da haben Sie Teil- nehmer aus allen Ländern, aus den Gauen Nord- und Süddeutschlands nicht nur, sondern auch Schweizer, Österreicher, Dänen, Luxemburger. Es sind ferner vertreten die verschiedenen Konfessionen : Protestanten, Katholiken und Israeliten; es sind vertreten die verschiedenen Berufsklassen : die Theologen, die Mediziner, die Pädagogen, alle beseelt von dem einen erhabenen Streben, unseren armen Schwachsinnigen zu dienen und deren Wohl zu fördern Kann es ein schöneres Beispiel heiliger Eintracht geben? Weahrlich, daran muss unser Herr Gott im Himmel sein Wohlgefallen haben.

Es giebt wie man sagt —- verschiedene Internationale: eine n eine schwarze und eine gelbe. Wir, m. H. u. D., gehören zur weissen Internationale, zu jener grossen mutigen Armee, die da keinen Unterschied kennt, weder der Nationalität, noch der Konfession, noch des Standes, die da voranträgt das weisse Banner mit dem roten Kreuze. Und unser Symbol ist die hehre Licht- gestalt der Charitas, die uns voranschwebt, mit der einen Hand hinaufzeigend zum Himmel und mit der anderen hinweisend auf die zahllose Schar unserer Pflegebefohlenen, und die uns die Worte des Herrn zuruft: „Was ihr immer dem geringsten meiner Brüder gethan, das habt ihr mir gethan.“ Und das sei unser Ideal jetzt und immerdar.

Der Vorsitzende dankt dem Vortragenden für seine trefflichen Ausführungen. Eine Besprechung der denselben zu Grunde gelegten 12 Leitsätze findet nicht statt. (Fortsetzung in nächster Nummer).

Die Selbstthätigkeit der Schüler beim Unterrichte abnormer Kinder. Von P. Riemann- Weissenfels. Rezeptivität und Spontaneität sind die beiden Urpotenzen, aus denen sich das gesamte Geistes- und Gemütsleben entfaltet und beide müssen daher während des Unterrichtes ihre volle Berücksichtigung finden. Leider will es

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uns inbezug auf die Spontaneität, die Selbstthätigkeit, bei abnormen Kindern oft scheinen, als ständen wir vor unüberwindlichen Schwierigkeiten; denn ihr Geist eignet sich nur schwer und mühsam Geistiges selbstthätig an und wirkt nur äusserst wenig aus Sich heraus. Dennoch bleibt auch beim Unterrichte abnormer Kinder die Selbstthätigkeit der Schüler sein formales Ziel. Auch sie müssen durch Selbstthätigkeit zu einer gewissen, durch ihre Abnormität aller- dings bedingten Selbständigkeit geführt werden.

Zu den Merkmalen, welche Lotze als wirkliche Unterschiede des Leben- digen vom Unbelebten anerkennt, rechnet er zunächst den bedeutsamen Umstand, dass, während „die meisten unorganischen Körper uns überwiegend im Zustande der Ruhe erscheinen, aus dem sie nur durch fast überall nachweisbare äussere Einflüsse zu Bewegungen und zu Veränderungen ihrer Gestalt und Eigenschaften aufgeregt werden, die Organismen dagegen ebenso überwiegend in einem Zu- stande der Bewegung sich zeigen, der seltener durch einzelne Intervalle der Ruhe und nie einer nachweisbaren, vollständigen Ruhe unterbrochen wird,“ dass sie also im Grande niemals in wirklicher Ruhe sich befinden. Je höher die Organismen stehen, je reicher und komplizierter ihre Organisation ist, desto klarer tritt diese rastlose Bewegung hervor. Mit ihr tritt der wichtige Begriff des Triebes in unmittelbare Beziehung. Denn als Grund dieser fortwährenden Bewegung, Veränderung, Entwickelung nimmt die Physiologie und Psychologie eine treibende Kraft im Organismus, resp. in der Seele an, die auf bestimmte Reize in einzelnen bestimmten Trieben sich äussert; denn die Triebe sind nur einzelne, bestimmte Äusserungen der Spontaneität.

Es ist offenbar, dass das Bestehen, die Erhaltung und Dauer der Organismen an die Beihilfe der Aussenwelt, an die Mitwirkung von Reizen, die Zuführung von Stoff u. s. w. gebunden ist; dass dagegen die Bildung und Entwickelung des Organismus von einer spontanen Kraft ausgeht, welche nicht nur ohne äussere Mitwirkung, sondern auch ohne äussere Anregung thätig ist und somit recht eigentlich als Selbstthätigkeit sich manifestiert. Diese Kraft muss aber als eine besondere, von den sie unterstützenden allgemeinen physikalischen und chemischen Kräften verschiedene gefasst werden, weil jene besondere Thätigkeit und Wirkungsweise, in der sie sich äussert, eben nur in der Sphäre der orga- nischen Natur vorkommt. Sie muss als Lebenskraft bezeichnet werden, weil von ihr und ihrer spontanen Thätigkeit alle Lebenserscheinungen ausgehen, auf ihr und ihrer Wirkungsweise alle Lebensfunktionen in letzter Instanz beruhen.

Von ganz hervorragender Bedeutung ist die Selbstthätigkeit auf dem Ge- biete des Geistigen, denn sie allein erhöht den menschlichen Geist; sie macht ihn fähig, die ihn umgebenden Eindrücke zu überwinden und zu beherrschen.

Sollen die abrormen Kinder, die in so und so vielen Fällen in völliger Lethargie dahin leben, bevor sie in eine für sie zweckmässig eingerichtete An- stalt kommen, zu einer geistigen Selbstthätigkeit gebracht werden, so muss ihr erster Unterricht da einsetzen, wo wir die Selbtthätigkeit in ihrer ursprüng- lichsten Reinheit finden, nämlich beim kindlichen Spiele. Waitz sagt in seiner allgemeinen Pädagogik: „Das Kind spielt, wenn es mit äusseren Dingen so

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-~ umgeht, dass es sich selbst dabei dem unwillkürlichen Zuge seiner Vorstellungen und Bewegungsthätigkeiten überlässt, ohne in diesen durch die Natur des Gegenstandes selbst bestimmt zu werden.“ Schon hieraus geht hervor, dass das kindliche Spiel die freieste und grösste Selbstthätigkeit ist, und es ist darum unendlich viel erreicht, wenn das schwachbefähigte Kind spielen gelernt hat. Ich sage: Spielen gelernt hat, denn jeder, der es mit solchen unglücklichen Kindern zu thun hat, weiss, dass es keine Kleinigkeit ist, sie zum wirklichen Spiele zu führen, und dass ihr Nichtspielen gerade ein Zeichen ihres psychischen Krankseins ist. Recht wertvoll werden sich hierbei auch die Fröbelschen Spiel- und Beschäftigungsmittel erweisen. Ich halte sie für die Gewinnung eines selbständigen, ungezwungenen Spieles geistig Schwacher für unentbehrlich und meine, dass wir ihnen es mit zu danken haben, wenn wir im Hinblick auf manch derartiges Geschöpf voll Überzeugung mit einstimmen in die Worte Fröbels: „Spiel ist das reinste, geistigste Erzeugnis auf dieser Stufe und zu- gleich das Vorbild und Nachbild des gesamten Menschenlebens, des inneren geheimen Naturlebens im Menschen und in allen Dingen; es gebiert darum Freude, Freiheit, Zufriedenheit, Ruhe in sich und ausser sich, Frieden mit der Welt. Die Quellen alles Guten ruhen in ihm, gehen aus ihm hervor; ein Kind, welches tüchtig, selbstthätig, still, ausdauernd bis zur körperlichen Ermüdung spielt, wird gewiss auch ein tüchtiger, stiller ausdauernder, Fremd- und Eigen- wohl mit Aufopferung befördernder Mensch.“

Die hohe psychologisch-pädagogische Bedeutung des Spieles würde es recht- fertigen, wenn wir an dieser Stelle noch weiter von ihm sprechen würden. Jedoch dürfen wir uns nicht so sehr in Einzelheiten verlieren und die Arbeit dadurch unnötig verlängern. Erwähnt sei nur noch, dass wir mit gutem Grunde von dem Spiele, das doch während der ganzen Unterrichtszeit treue Pflege finden muss, ausgingen. Das kleine Kind, das Vater und Mutter und alles, was ihm teuer und wert gewesen ist, verlassen hat und in eine Anstalt, in ihm gänzlich neue Verhältnisse eintritt, ist spielend in die ernste Schularbeit hinüberzuleiten. Es darf gar nicht fühlen, wie es gekommen ist, dass es nun den Weisungen des Lehrers folgt und sich in einer Arbeit befindet, die ihm je länger, je mehr zum Bedürfnis werden soll und ohne dessen Befriedigung es schliesslich gar nicht mehr leben kann.

Ungezwungen führt uns das Spiel auf ein anderes Gebiet der Bethätigung der Selbstthätigkeit, auf das Anschauen. Nur die durch scharfe und klare Anschauungen gewonnenen Vorstellungen bilden die Grundlage aller Intelligenz. Es ist ungemein wichtig, dass die Kinder, deren Sinne beim Spiele eine viel- fache Übung erfahren, anschauen lernen, um Anschauungen zu gewinnen, da für sie das verständige Betrachten ihrer Umgebung, die Beobachtung und lebendige Anschauung der Natur und des Menschenlebens das absolute Funda- ment und der massgebende Ausgangspunkt der Erkenntnis sind. Die Gewinnung von Anschauungen setzt eine doppelte Thätigkeit voraus, nämlich die der Sinne und die des Geistes. Wir können somit nur zu klaren Anschauungen gelangen, wenn diese doppelte Thätigkeit genügend entwickelt ist und in dem rechten

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Verhältnisse zueinander steht. Die erste Aufgabe des Anschauungsunterrichtes wird daher in der Schärfung der Sinnesthätigkeit und in der damit in Ver- bindung stehenden Entwickelung der geistigen Kräfte der Schüler bestehen müssen. Es genügt nicht, es den Schülern zu überlassen, sich selbst Anschau- ungen zu bilden, d. h. ihre Sinnesthätigkeit nur auf solche Erscheinungen zu richten, die sich ohne weitere Vorbereitung bieten, wir müssen auch anschauen lassen; also im gewissen Sinne auf künstlichem Wege Sinnesreize erzeugen, Dabei ist es nötig, dass alle Sinne in Anspruch genommen werden, wenn wir klare Anschauunngen in den Schülern erzeugen wollen. Wenn Preyer in einem auf einer Naturforscherversammlung (1887) gehaltenen Vortrage: „Naturforschung und Schule“, sagt: es müssten „in bestimmten regelmässigen Stunden Unter- weisungen im richtigen Gebrauche der Sinne in der Schule. stattfinden“, so hat dies seine ganz besondere Wichtigkeit für abnorme Kinder. Da nun in den meisten Fällen bei solchen Kindern ein ungenügend ausgeprägter Muskel- sinn vorhanden ist, so muss, um nur eins hervorzuheben, sich das Augenmerk des Lehrers hierauf ganz besonders richten und muss es seine stete Sorge sein durch Übung und Kräftigung derselben eine schnellere und klarere psychische Thätigkeit zu erzielen. Denn damit, dass der Mensch der Fähigkeit sich be- wusst wird, seine Muskelkraft nach Plan und Absicht zu verwenden, zu ver- teilen, zu steigern und zu mässigen, wird er auch das Bewusstsein gewinnen dass der Organismus seinen Willensbeschlüssen zu dienen bestimmt ist. Um diesen Akt zur rechten Entfaltung zu bringen, muss sich der Geist der Kinder bei allen Sinnesübungen mitwirkend verhalten. „Je mehr wir bei einer geistigen Arbeit nur passiv aufnehmen, desto weniger ist sie von den Lustgefühlen be- gleitet, desto früher tritt die geistige Ermüdung ein, desto schwächer ist die Aufmerksamkeit und Eingenommenheit für die Sache und, natürlich, desto un- klarer und undeutlicher sind die psychischen Gebilde, die durch solche Arbeit in unserer inneren Welt entstehen, als es alles bei der selbstthätigen Arbeit der Fall ist. Alles aber, wodurch der Fortschritt in der geistigen Entfaltung begünstigt wird, muss von den Lustgefühlen begleitet sein. Durch das den geistigen Fortschritt begleitende und im Zusammenhange mit der Selbstthätig- keit innerhalb der gewissen Erkenntnisobjekte erscheinende Gefühl sprechen wir den Wert der letzteren für unser Inneres aus‘ (Dr. Okanowitsch, Interesse und Selbstthätigkeit.)

Ausserdem ist stets zu bedenken, dass die Aufmerksamkeit, welche alle Sinnesübungen erfordern, nicht „im Mechanismus des Körpers ihren Grund hat“ noch eine nur in der Stärkung und Schärfung der organischen Funktionen der Sinne bestehende Thätigkeit ist, sondern ein rein psychischer Akt. Erhöht wird nun diese psychische Thätigkeit, sobald die Seele vom Wahrnehmen zum Vor- stellen fortschreitet; denn wenn der Gegenstand der Wahrnehmung vor mir steht, dass ich ihn sehen und fühlen kann, dann ist mein Denken an das ge- bunden, was ich von dem Gegenstande sinnlich wahrnehme. Beim Vorstellen hat es aber die Seele nur mit dem zu thun, was sie von den Dingen her in sich aufgenommen hat, also mit ihrem eignen geistigen Inhalte. Dieses Faktum

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ist während des gesamten Unterrichtes vom Lehrer festzuhalten und gebietet dass die Methode auch bei abnormen Kindern von dem Grundsatze der Selbst- thätigkeit beherrscht wird. Viel wird gegen diesen Grundsatz gerade iu der ersten Schulzeit gesündigt. Bei der geringen geistigen Kraft der Schüler gerät der Lehrer nur zu leicht in den Fehler des zu häufigen Gebens und vertröstet sich auf eine spätere Zeit. Aber die spätere Zeit kann und wird nie wieder gut machen, was hier versehen wurde. „Was beim Unterrichte nicht zur Vorstellung wird in unserer Seele, das ist für die Bildung verloren; denn die Bildung besteht in der Summe unserer Vorstellungen und deren richtiger Verwendung“. (Polack, Brosamen). Es wäre gewiss ein grosser Segen für alle geistig armen Kinder, wenn das Preisausschreiben des Erziehungsaus- schusses des evang. Diakonievereins für das beste erste Schulbuch eine glück- liche Lösung fände. (Siehe S. 81 des zweiten Heftes und fünften Jahrganges der Kinderfehler 1900). |

Freilich erscheint uns die geistige Selbstthätigkeit der Schüler auf der Unterstufe oft recht winzig; sie ist aber darum nicht weniger wichtig und hat für das Werden des Geistes eine weitgehende Bedeutung. Denken wir uns den Fall, dass nach der Schreiblesemethode, die das Interesse des Kindes in höherem Masse erregt und erhält, als die Behandlung des Lesens ohne gegenseitige Be- ziehung und Durchdringung, das Wort Hut zur Behandlung steht, so ist es von grossem Vorteile, wenn neben einer allseitigen Anschauungsübung das Kind den Gegenstand zeichnet, durch Falten und Thonformen darstellt und durch Stäbchenlegen das Wortbild reproduziert. Um letzteres zu können, muss es dasselbe selbstthätig in seine Bestandteile zerlegt und von den einzelnen Buch- staben eine richtige Auffassung, ein klares Bild gewonnen haben. Dass hier- bei die Darstellung des Wortes in lateinischen Buchstaben eine bedeutende Er- leichterung schafft, ist klar.

Schreitet so der Unterricht mit durchgängiger Anregung und Bethätigung des Triebes zu künstlerischer und technischer Darstellung fort, so wird der Geist erstärken und die Arbeit zur Freude In ihr allein aber haben wir die Trieb- feder gewonnen, welche zu derselben Arbeit anspornt und schliesslich befähigt, stundenlang bei derselben geistigen Beschäftigung zu verweilen. Kein Unter- richtsverfahren führt besser zu diesem Ziele, als das entwickelnde. Wir können es uns darum nicht versagen, hier noch eine Stelle aus der schon oben genannten Schrift von Okanowitsch über den entwickelnden Unterricht anzuführen. Er sagt: „Beim entwickelnden Unterrichtsverfahren operiert der Schüler mit den ihm schon bekannten Vorstellungen oder Vorstellungsmassen; neu ist dagegen das Endresultat dieser Operation“ die Kombination selbst, die uns das betreffende Ereignis von dem unterrichtet wird, darstellt. Die geistige Operation aber ist nichts anderes, als das selbstthätige Beziehen der schon vorhandenen Vorstellungs- massen aufeinander und darin eben liegt der Grund jener Wärme, die der Schüler beim entwickelnden Unterrichtsverfahren empfindet. Die innere Thätig- keit ist in dem Falle so viel in Anspruch genommen, dass man die äusseren Anlässe zur betreffenden Verbindung der Gedanken seitens des Lehrers kaum als

198 etwas von aussen Kommendes betrachtet. Diese Gefühlswärme kann nicht durch die Mitteilung einfach vom Lehrer auf den Schüler übertragen werden sei der Vortrag des Lehrers übrigens so vortrefflich wie möglich gewesen sondern sie entsteht allein aus den selbstthätigen Verbindungen der einzelnen geistigen Inhaltselementee Der Erklärungsgrund dieser Erscheinung ist ein einfacher: beim blossen Vortragen der Sache in der Schule ist der Schüler überwiegend passiv, während bei dem selbstthätigen Zusammen- und Hervorbringen der Sache aus den schon vorhandenen Bauelementen das Bedürfnis des kindlichen Geistes zur Aktivität, zur Selbstthätigkeit zu seinem vollen Rechte kommt.“

Hierzu nur noch ein kurzes Beispiel. Ist die biblische Geschichte von den „Zehn Aussätzigen“ nach dem entwickelnden Unterrichtsverfahren behandelt, so ist es nötig, dass nach Vermittelung des vollen Verständnisses die einzelnen handelnden Personen in kurzen Zügen charakterisiert werden und die Selbst- thätigkeit der Schüler dahin angespornt wird, ihr eigenes Leben, Thun und Lassen mit dem der gekennzeichneten Personen zu vergleichen, in ihr eigenes Herz und Leben hineinzuleuchten und den Vorsatz in ihnen wach zu rufen: Du willst das Gute lieben und üben, das Böse hassen und lassen. Erst so wirken die eigene geistige Kraft des Kindes und angemessene geistige Einwirkung von aussen her Rezeptivität und Spontaneität in harmonischer Wechselwirkung. Durch eine derartige Harmonie der geistigen Thätigkeiten allein ist es möglich, die Anlagen des Kindes bis zu den Grade auszubilden, dessen sie fähig sind und sie unter die Botmässigkeit der höchsten Interessen des Menschen zu bringen, die in dem Interesse für das Wahre, Gute und Schöne wurzeln und aus ihm entspringen.

Heinrich Ernst Stötzner.

Nach fünfzigjähriger Amtsthätigkeit trat mit dem 30. Oktober d. J. ein Mann in den Ruhestand, dessen Name mit der Erziehung der Schwach- und Blödsinnigen eng verknüpft ist, es ist dies der bisherige Direktor der .Königl Taubstummenanstalt zu Dresden, Schulrat Heinrich Ernst Stötzner. Was derselbe auf dem Gebiete der Taubstummenbildung im allgemeinen und als Leiter der Dresdner Taubstummenanstalt im besonderen geleistet hat, ist von seinen engeren Berufsgenossen durch Wort und Schrift und insbesondere bei der Feier seines 50 jäbrigen Amtsjubiläums hervorgehoben und gerühnit worden, ung fällt nur zu, dessen zu gedenken, was Stötzner für die Erziehung unserer Schwach- und Blödsinnigen gethan hat. Wie die Lehrer der Taubstummen aber, so können und müssen auch wir sagen: „Ernst Stötzner ist unser und von den unseren einer“.

Geboren am 25. Juni 1832 in Grossenhain (Sachsen) und in den Jahren 1847—1851 in Dresden zum Lehrer ausgebildet, fand Stötzner nach abgelegtem Examen 1851 seine erste Anstellung als Lehrer an der 1846 gegründeten ersten staatlichen ErziehungsanstaltfürSchwach- und Blödsinnige zuHubertus- burg. Zwar wirkte er hier nur bis 1855, aber schon diese wenigen Jahre der

I.

Arbeit an den Schwachen am Geiste hatten hingereicht, nieht nur die Eigen- art des Schwachsinnigenunterrichts kennen zu lernen, sondern auch die Über- zeugung gewinnen, dass den Schwachsinnigen geholfen werde könne und müsse. Von 1855 bis zu seinem Scheiden aus dem Öffentlichen Wirken blieb Stötzner der Sache der Schwachsinnigenbildung nicht nur treu zugethan, sondern er wurde auch ihr Förderer wie selten einer.

Im Jahre 1865 gab Stötzner ein Schriftchen: „Schulen für schwach- befäbigte Kinder“ heraus. In demselben zeigte er die praktische Durchführ- barkeit der Schwachsinnigenerziebung, und, so klein und einfach das Schriftchen gehalten war, so gab dasselbe doch an verschiedenen Orten nicht nur den ersten Anstoss zur Gründung einer besonderen Klasse oder Schule für Schwachsinnige, (gegenwärtig fast überall, selbst in Leipzig, „Hilfsschule“ genannt), sondern es diente bei der spärlichen Litteratur über den betreffenden Gegenstand auch viel- fach als Wegweiser bei der Einrichtung solcher Anstalten. Der Idee der Schwach- sinnigenerziehung dienten auch Stötzners grössere Abhandlung: „Altes und Neues aus dem Gebiete der Heilpädagogik“ und mehrere Artikel seiner Feder in der „Gartenlaube“, dem „Daheim“, der „Illustrierten Zeitung“ und ver- schiedenen Tagesblättern.

Mit vielem Eifer erstrebte Stötzner die Gründung einer Schule für Schwachsinnige (Nachhilfeschule) in Leipzig. Er arbeitete einen ausführlichen Plan für dieselbe aus und überreichte denselben dem Rate der Stadt. Der Rat nahm den Plan, aber es kam derselbe aus verschiedenen Gründeu, insbesondere aber iufolge des Krieges 1866, nicht zur Ausführung. Wäre solches geschehen, 80 würde Stötzner jedenfalls Leiter dieser Schule geworden sein, denn die Leipziger Schuldirektoren empfahlen ihn dazu.

Zu unserer Konferenz steht Stötzner in den engsten Beziehungen. Wie man ihn hier und da als den „Vater der Hilfsschule“ bezeichnet hat, so ist Stötzner auch einer der Mitbegründer unserer Konferenz. Während in der Pfingstwoche 1865 zu Leipzig die „Allgemeine deutsche Lehrerversammlung“ tagte, bildete sich insbesondere auf Anregung von Dr. Kern im Verein mit Stötzner eine heilpädagogische Sektion derselben, die sich später als „Gesell- schaft zur Förderung der Schwach- und Blödsinnigen-Bildung‘“ konstituierte. Noch in demselben Jahre trat die Gesellschaft vom 18—20. September in Hannover, also gleichzeitig mit der Naturforscherversammlung, zusammen, um die Idiotenbildungsfrage näher zu erörtern. Fast alle Anstalten Deutschlands, auch die Schweiz, Belgien und Dänemark waren durch Ärzte, Vorsteher und Lehrer vertreten, so dass über 60 Teilnehmer den Versammlungen beiwohnten. Da die Gesellschaft zum ersten Male zusammentrat, so bewies diese Anzahl das Vorhandensein eines tiefen Interesses für die Idiotenfrage.e Aber schon in der Vorversammlung zeigte sich, dass ein einheitlicher Grund und Boden fehlte. Ein Teil wollte engen Anschluss an die psychiatrische Sektion der Naturforscher- versammlung, während ein andrer Teil für die künftigen Versammlungen An- schluss an den Kirchentag wünschte. Schliesslich einigte man sich dahin, in selb- ständiger Beratung zusammenzubleiben. In der ersten Hauptversammlung be-

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grüsste der damalige Staatsminister von Marlortie die Versammlung, und Dr. Kind-Möckern behandelte in längerer Aussprache und unter Aufstellung von 12 Thesen den Begriff „Idiotie“. Der folgende Tag führte die Gesellschaft nach Langenhagen zur Besichtigung der dort seit 3 Jahren bestehenden und über 100 Zöglinge zählenden Idiotenanstalt. In der Schlusssitzung hieit Stötzner einen Vortrag über „Schulen für schwachbefähigte (schwachsinnige) Kinder“. Es knüpfte sich an den Vortrag eine lebhafte Debatte, und am Schlusse derselben vereinigte sich die Versammlung zur Annahme des Satzes: „In allen grössern Städten gründe man Schulen für schwachsinnige Kinder, da- mit diese durch geeignete Persönlichkeiten und entsprechenden Unterricht zu brauchbaren Menschen herangebildet werden.“ Die Annahme dieses Satzes war eines der Ergebnisse dieser ersten und letzten Versammlung der Gesellschaft zur Förderung der Schwach- und Blödsinnigen-Bildung.

Eine weitere Folge derselben war die I. Konferenz für Idioten-Heil- Pflege in Berlin 1874, an deren Begründung Stötzner wesentlichen Anteil hatte. Welche Verdienste Stötzner weiter um das Zustandekommen und Ge- lingen der II. Konferenz in Leipzig und Hubertusburg 1897 hatte, dessen werden sich noch alle diejenigen erinnern, welche an derselben teilnahmen. War es Stötzner auch nicht vergönnt, alle folgenden Konferenzen zu besuchen, so schenkte er den Verhandlungen derselben doch unentwegt seine lebhafte Teil- nahme. Ebenso zählt ihn unsere Zeitschrift bis heute zu ihren trenesten Freunden und Förderern, und wenn esihm auch während seiner Amtierung unmöglich war, an derselben mitzuarbeiten, so hoffen wir nunmehr recht bald einen Artikel aus seiner Feder bringen zu können. | W. S.

Mitteilungen.

Leipzig. (Sprechunterricht.) An dem Sprachkursus, den Direktor H. Gutz- mann in Berlin im vergangenen Juni abhielt, beteiligten sich wieder zwei Lehrer hiesiger Hilfsschule, nachdem der Rat unserer Stadt in Erkenntnis der Wichtigkeit eines spezifischen Sprechunterrichts für unsere sprachlich leidenden Kinder und in seiner opferfreudigen, nie ermüdenden Fürsorge für die geistig Schwachen die Mittel dazu bewilligt hatte. Schon im vorigen Jahre war es zweien der Lehrer, durch die Güte unserer städtischen Behörde vergönnt, zu gleichem Zwecke dahin zu gehen. So wird es nun den vier Kräften möglich sein, der grossen Zahl unserer Sprachgebrech- lichen, für die bereits zu Michaeli vorigen Jahres besondere Sprechstunden eingerichtet worden sind (vgl. Nr. 11 vorig. Jahrg., S. 186), in ausreichendem Masse zu Hilfe zu eilen. Es bestehen gegenwärtig zwei Abteilungen für Stammler und eine für Stotterer. Die Stunden liegen Montags, Mittwochs und Donnerstags 3—4 Uhr. Die unterste Klasse, die unter ihren Schülern den grössten Prozentsatz der Sprachleidenden enthält, nimmt eine Kraft für sich in Anspruch. H. Müller.

Inhalt. "Bericht über die X. Konferenz für Idiotenwesen und Schulen für schwach- sinnige Kinder. Die Selbstthätigkeit der Schüler beim Unterricht abnormer Kinder (P. Riemann.) Ernst Heinrich Stötzner (W. S.) Mitteilungen: Leipzig.

Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden, Druck von Johannes Pässler in Dresden.

» x: 50 Nr. 12.

Leitsehrift

für die

behandlung Sohwachsumger ud Epileptischer

Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Dresden - Strehlen, für ae Residenzstrasse 21. in Stuttgart Erscheint jährlich In 12 Nummern von | Zu beziehen durch alle Buchhandlungen e aton Tanet Due Dezember IOU. | Siiriniamag Trat pro U

rarische Beilagen 6 Mark. | AR Nummer 50 Pfg.

Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift Era Eigentum der Herausgeber.

Bericht

über die X. Konferenz für das Idiotenwesen und Schulen für schwachsinnige Kinder

am 17. bis 20. September 1901

Elberfeld.

(Fortsetzung.)

Der Vorsitzende erteilt Herrn Direktor Barthold-München-Gladbach das Wort zu seinem Vortrage:

Die Idiotenanstalten und die Hilfsschulen, eine arona regulierung. Hochverehrte Zuhörer!

Der Gegenstand, den ich Ihnen heute zur Besprechung vorlege, hat schon vor drei Jahren bei der Konferenz in Breslau auf der Tagesordnung gestanden. Leider konnte ich krankheitshalber die Konferenz nicht besuchen. Seit diesem sind drei Jahre verflossen, in denen die Sache der Hilfsschule sich weiter ert-

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wickelt bat. Auch ist manche Klärung eingetreten. Zum erstenmal wurde über die Frage der Hilfsschulen auf der Konferenz in Hamburg im Jahre 1883 ver- handelt. Es zeigte sich aber damals, dass sowohl auf der einen wie auf der andern Seite ein richtiges Verständnis nicht vorhanden war. Infolgedessen kam es zu scharfen Gegensätzen, welche durch falsche Auffassung und grosse Un- kenntnis über die Einrichtung, die Aufgaben und Leistungen der Idiotenanstalten bervorgerufen wurden. Auch auf späteren Konferenzen machten sich noch mancherlei Unklarheiten geltend. Zuletzt ist die Frage in Heidelberg zur weiteren Be- sprechung gelangt. Auch damals traten noch verschiedene Gegensätze hervor und wurde keine rechte Einigkeit erzielt, weil manches, was über die Hilfsschulen und ihre Entwicklung gesagt worden war, unrichtig aufgefasst und missdeutet wurde.

Man könnte nun fragen, herrscht denn heute völlige Klarheit darüber, welche Kinder den Idiotenanstalten und welche den Hiltsschulen zugewiesen werden sollen? Soweit meine Kenntnis reicht, meine ich, dass diese Frage nicht bejaht werden könne. Es dürfte deshalb nicht ungerechtfertigt erscheinen, diese Frage heute eingehend zu erörtern. Deswegen erlaube ich mir, dieses Thema der heutigen Konferenz vorzulegen. Ich hoffe und wünsche, dass durch die Be- sprechung mehr Klarheit über die Frage, welche Kinder in Idiotenanstalten und welche in Hilfsschulen gehören, komme und dann für beide Teile etwas Er- spriessliches herauskomme. Meine Absicht ist nun nicht, Sie durch einen langen Vortrag zu ermüden. Ich halte es für richtiger, wenn der Debatte möglichst weiter Spielraum gegeben wird, so dass jeder Gelegenheit hat, seine Ansicht über den Gegenstand auszusprechen.

Gestatten Sie mir nun, Ihnen meine Leitsätze mitzuteilen.

Leitsätze.

1. Unter den Begriff „Idioten“ stellen wir alle diejenigen Kinder, welche von Geburt oder von den ersten Lebensjahren an infolge einer überstandenen Gehirn-Erkrankung in ihrer geistigen Entwicklung geschädigt worden sind.

2. Der Umfang oder die Intensität der Schädigung ist bei den einzelnen Individuen eine verschiedene und bildet eine Stufenleiter von der geistigen Nullität bis an die Grenze der geistigen Normalität. Die Schädigung kennzeichnet sich nach allen Seiten geistiger Bethätigung als ein grösserer oder geringerer Schwäche- zustand.

3. Nach dem Grade der Schädigung bilden die Idioten zwei Hauptgruppen: erstens solche, welche nicht weiter entwicklungs-, bezw. bildungsfähig sind (reine Pfleglinge); zweitens solche, welche noch entwicklungs-, bezw. bildungsfähig sind.

Für unseren Gegenstand kommen nur die letzteren in Betracht.

4. Die bildungsfäbigen Idioten, auch die minderbeeinträchtigten, mögen sie nun Imbecille, Schwachsinnige oder sonst wie genannt werden, gehören in eine Idiotenanstalt.

5. Aufgabe der Idiotenanstalt ist, alles, was in einem Kinde noch entwicklungs- fähig ist, zu erforschen und soweit als möglich zu fördern und weiter zu bilden Diese Aufgabe hat sich darum nach drei Seiten zu bethätigen:

en

1. Sollen dem idiotischen Kinde bestimmte elementare Kenntnisse ‚und Fertigkeiten beigebracht werden;

2. sind die komplizierten Willens- und Gefühlsregungen zu beauf- sichtigen und möglichst auszubilden;

3. soll durch das Erlernen einfacher manueller, technischer und prak- tischer Fertigkeiten der Grundstock für eine spätere nutzbringende Beschäftigung gelegt werden.

Gleichzeitig soll das Kind an Ordnung, Reinlichkeit, Anstand, gute Sitte, sowie an Selbsthilfe bei seinen persönlichen Bedürfnissen (aus- und ankleiden, essen und trinken, waschen und kämmen und dergl.) erzogen werden.

6. Alle diese Aufgaben können an einem idiotischen Kinde nur in einer Anstalt gelöst werden, wo die Kinder Tag und Nacht unter Aufsicht und unter einem erziehlichen Einfluss stehen und wo ihnen Gelegenheit geboten ist, einesteils die nötigsten elementaren Kenntnisse sich anzueignen, andernteils die mannig- faltigsten Hand- und handwerksmässigen, Feld- und Garten-Arbeiten zu erlernen.

7. Wie es bei den Geisteskranken und den geistig gesunden Menschen ein Grenzgebiet giebt, so giebt es auch zwischen ausgeprägter Idiotie einerseits und geistiger Vollwertigkeit andererseits ein Grenzgebiet. Dieses Grenzgebiet ist das der geistigen Minderwertigkeit oder die Schwachbefähigung.

8. Zu den Schwachbefähigten rechnen wir alle Kinder, welche unter der Durchschnittsbefähigung der Elementarschüler stehen. Diese Durchschnitts- befähigung muss im allgemeinen als eine mittelmässige bezeichnet werden. Kinder nun, welche noch unter derselben stehen, können dem allgemeinen Unter- richt der Volksschule nicht folgen und das Ziel derselben nicht erreichen.

9. Die Schwachbefähigung dieser Kinder beruht nicht, wie durchgängig bei allen idiotischen Kindern, auf einem Gehirndefekt, sondern entweder

1. auf einer allgemeinen geringeren geistigen Beanlagung; oder

2. auf einer Degeneration, verursacht a) durch Trinksucht der Eltern; b) durch Syphilis eines Teils oder beider Eltern; c) durch nahe Verwandtschaftlichkeit derselben; d) durch geistige Minderwertigkeit derselben; oder

3. auf mangelhafter oder unzweckmässiger Ernährung im ersten Kindes- alter, besonders bis zum siebenten Lebensjahre; oder

4. auf häufigen Erkrankungen im Kindesalter; oder 5. auf Öfteren körperlichen Misshandlungen; oder 6. auf Verwahrlosung der Kinder im Elternhause; oder endlich 7. auf frühzeitigem Genuss alkoholhaltiger Getränke. Für solche schwachbefähigte Kinder sind besondere Schulen a) mit vermindertem Unterrichtsstoff; b) mit kürzer gestecktem Unterrichtsziel; c) mit einer der Schwachheit der Kinder angepassten Unterrichts- Methode einzurichten.

10.

204 11. Bei manchen der schwachbefähigten Kinder zeigt sich eine Regelwidrig- keit ihres Seelenlebens, welche ihre Erziehung mehr als gewöhnlich erschwert, ihrer Ausbildung viele Hindernisse in den Weg legt und ihren Aufenthalt in der Schule für Schwachbefähigte unmöglich macht. Dazu gehören:

1. Kinder mit angeborener moralischer Verkommenheit, sogen. moralische Idioten; 2. Kinder mit psychischen, zum Teil anererbten Belastungen, als da sind: a) anererbte oder erworbene Erregungszustände; b) Perversität; c) Hang zum Vagabondieren; d) unwiderstehliches Diebesgelüste; e) Neigung zu allerhand Extravaganzen ; f) häufiger Stimmungswechsel u. a. m.

12. Die vorbenannten Kinder gehören nicht in die Schule für Schwach- befähigte, sondern in eine Idiotenanstalt, obgleich ihr Intellekt oft recht gut ist, und sie ziemlich bildungstähig sind. Für sie ist es in erster Linie notwendig, dass sie aus dem Elternhause enifernt und den Einflüssen entzogen werden, denen sie bisher ausgesetzt waren; dann ist zweitens notwendig, dass sie beständig überwacht und erziehlich beeinflusst werden.

13. Die Auswahl der schwachbefähigten Kinder aus der Zahl der Volks- schüler sollte durch einen auf diesem Gebiete erfahrenen Arzt und einen ebenso erfahrenen Pädagogen gemeinsam geschehen.

14. Suum cuique! Jedem das Seine! Den Idiotenanstalten die bildungs- fähigen idiotischen Kinder aller Grade und der Schule für Schwachbefähigte nur die wirklich schwachbefähigten Kinder, aber nicht die Schwachsinnigen (Imbe- cillen). Dann bekommen die Idiotenanstaltien ein Material, das ihnen ihre schwere und mühevolle Arbeit erträglicher und erfreulicher macht, die Schulen für Schwachbefähigte aber werden von Elementen befreit, die für sie nur ein Hemm- schuh sind. Bei solch sachgemässer Teilung werden beide Institutionen schied- lich und friedlich nebeneinander im Segen wirken, zum Wohle von tausenden idiotischer und schwachbefähigter Kinder.

Debatte. Ehe in die eigentliche Debatte eingetreten wird, bittet Herr Direktor Trüper ums Wort zur Geschäftsordnung. Er wünscht, dass zunächst die andern Vorträge, welche Spezialfragen behandeln, gehört werden, dass beute nur eine allgemeine Debatte, morgen eine Specialdebatte stattfinden solle. Die Mehrzahl der Versammlung ist dagegen, besonders deswegen, weil es dem Referenten nicht möglich ist, morgen an den Verhandlungen teilzunehmen. Es handele sich in der Hauptsache darum, welche Kinder in die Idiotenanstalt und welche in die Hilfsschule gehören, und darüber könne ruhig die Debatte eingeleitet werden.

Hauptlehrer Strakerjahn ist der Meinung, dass die sachkundigsten Thesen, und wenn sie noch so scharf gefasst seien, die wichtigste Frage: Welche Kinder ge- hören in die Idiotenanstalt und welche in die Hilfsschule? nicht entscheiden können.

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Das könne nur die Praxis, das Leben thun. In die Hilfsschule gehören nach ihm solche Kinder, die in eine Schule gehören, denen mit Hilfe des Unterrichts bei- zukommen ist; dagegen solche Kinder, die nur erziehbar sind, seien in eine Idioten- anstalt unterzubringen. |

Direktor Barthold: Gestatten Sie einem alten Manne, der in der Idiotenpflege grau geworden ist, ein paar Worte. Ich bedaure, dass es im Jabre 1901 noch aus- gesprochen ist, dass Idiotenanstalten nur Erziehungsanstalten seien. Wer das sagen kann, muss noch in keiner Idiotenanstalt gewesen sein. Wir haben auch im Unter- richte Erfolge aufzuweisen, deren wir uns nicht zu schämen brauchen. Jede Idioten- anstalt hat einen gut organisierten Unterrichtsplan. Die Erfolge sind nicht immer dieselben, weil die Insassen wechseln, weil wir bald Schwächere, bald besser Beanlagte haben. Erfolge sind aber immer da. Wir haben eine ganze Reihe von Kindern, die für das Öffentliche Leben wieder brauchbar geworden sind, sich selbst ernähren. Dann muss ich darauf aufmerksam machen, dass es nicht so schlimm mit der Angst vor den Idiotenanstalten ist. Ich frage, wo sind die betreffenden Kinder vor Aufregung, Neckereien, Schikanen besser geschützt, in den Anstalten vder in den Hilfsschulen? Jch will Ihnen einen besonderen Fall erwähnen. Uns wurde ein Kind aus der hiesigen Hilfsschule gebracht, welches nach seiner geistigen Beanlagung in der Hilfs- schule hätte bleiben können. Der Vater des Kindes sagte uns: Wenn wir unsern Jungen in die Schule schicken, dann bekommt er von andern Steine in den Ranzen gesteckt und die Bücher weggenommen, und er wird so gehänselt, dass er nicht mehr dahin gehen will. In der Anstalt ist er all diesen Neckereien entrückt. Anderer- seits kommt es oft vor, dass den Kindern der Hilfsschule gesagt wird, sie gingen in eine Dummenschule.

Schuldirektor Richter: Die Grenzregulierung des Referenten ist sehr schön. In der Praxis wird sie sich nicht durchführen lassen. In Leipzig haben wir viel Schwachsinnige neben Schwachbefähigten. Schulen können diese Kinder nicht be- suchen, und wenn sie bereits aufgenommen waren, mussten sie wieder entlassen werden. Viele Kinder konnten wegen ihrer geringen körperlichen und geistigen Ent- wicklung überhaupt noch keine Schule besuchen. Diese Kinder müssen der Hilfs- schule zugeführt werden. Hier muss ein Versuch über die Bildungsfähigkeit derselben angestellt werden. Zeigt sich, dass nach 1 —2 Jahren keine Bildungsfähigkeit vor- handen ist, dann seien diese Kinder, welche oft körperlich gebrechlich, einseitig ge- lähmt, sprachlich tief belastet sind, abzuweisen. Aber wohin? Die Landesanstalten seien in Sachsen nicht unter allen Umständen für die Kinder geöffnet. Zunächst müsse die Gemeinde eintreten. Man könne auch nicht Kinder, welche eigentlich in eine Anstalt gehören, ohne weiteres daselbst unterbringen. Dazu gehöre die Ein- willigung des Vaters. Nach langen Verhandlungen habe man in einzelnen Fällen den Vater gewusst zu bestimmen, seine Einwilligung zu geben. Oft aber wollen die Eltern gerade solche Kinder nicht hergeben, weil es ihr Schmerzenskind von Anfang an gewesen sei. Auf den niedrigsten Stufen finde man sehr oft, dass diesen Kindern die Vater- und Mutterliebe nicht fehle. Dann seien solche Kinder in der Hilfsschule zu behalten, wenn sie auch den Thesen nach in eine Anstalt gehörten. Die Thesen können nur eine Mahnung an die Gemeinden sein, Anstalten zu gründen für solche

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Kinder, die im Elternhause nicht unterzubringen sind. In Leipzig sei ein grosser Teil dieser Kinder den ganzen Tag über in der Hilfsschule unter Aufsicht, wo dafür gesorgt werde, dass sie nicht verkommen. Die Kinder seien dem Elternhause so lange als möglich zu erhalten. Der Redner weist auf Italien bin und macht anf seinen diesbez. Aufsatz in der Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinn'ger und Epileptischer (Jahrg. 1901 Nr. 7 u. 8) aufmerksam. Anstalten und Hilfsschulen müssen sich nebeneinander einrichten.

Direktor Trüper: Die Frage, ob Anstaltserziehung oder Schul- und Familien- erziehung sein soll, kann nicht nach dem Grade der Intelligenz der betreffenden Kinder entschieden werden. Diejenigen, welche das erste Anrecht an die Kinder haben, sind nicht der Staat, die Schule, die Kirche. Das ist die Familie Darum habe in erster Linie die Familie zu entscheiden, ob ein Kind eine Anstalt oder eine Schule besuchen soll. Dio Öffentlichkeit hat nur dann ein Anrecht, in dieses Recht einzugreifen, wenn die Familie sich als total unmündig erweist. Dann muss die Gemeinde oder der Staat sagen können: Wir nehmen euch eure Kinder. Wenn ein tiefstehendes Kind in der Familie gut aufgehoben ist, wenn es der Familie nicht zur Last fällt und der Öffentlichkeit nicht gefährlich wird, dann hat niemand ein Recht zu sagen, das Kind muss in eine Anstalt. Wer wollte den Eltern verwehren, dass es ein vollständig verblödetes Kind nicht in eine Schule schicken und es zu Hause unterrichten und erziehen will. Die Mutter ist immer die beste Erzieherin. In vielen Fällen wird eben die Anstaitserziehung weit besser sein als die Familienerziehung.

Schulrat Dr. Boodstein: Von Herrn Direktor Barthold ist cin Fall erwähnt worden, bei dem die Anstalt von München-Gladbach gewissermassen eine Art von Rettung war. Uns sind Fälle, dass die Kinder der Hilfsschule durch andere gehänselt worden sind, gelegentlich auch bekannt geworden. Ich habe schon früher einmal er- wähnt, dass die Hilfsschule auch tolle Schule, d. h. die Schule für verrückte Kinder genannt wurde. Das sind Lieblosigkeiten; solche vereinzelte Fälle von Lieblosigkeit können nicht massgebend sein. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass selbst die Lehrer bei der Beurteilung solcher Kinder gegen andere Kinder nicht immer den nötigen Takt vollständig bewahren. Es entfährt manchmal ein hartes und verletzendes Wort, welches leicht Missstimmung bei den Eltern hervorbringt. Diese suchen sich dann dagegen zu verwahren, dass ihre Kinder in die Hilfsschule kommen. In den ersten Jahren meiner Thätigkeit habe ich meine Teilnahme besonders der Hilfsschule gewidmet. Ich habe mich wiederholt in kleinen Aufsätzen im städtischen Blatt an die Öffentlichkeit gewendet und habe Eitern und Lehrern ans Herz gelegt, das an sich schon schwere Leben der betreffenden Kinder nicht noch ehr zu verbittern. Mancher Erfolg ist zu verzeichnen gewesen. Es kommt auch jetzt noch vor, dass Eltern erklären: Wir wünschen nicht, dass unser Kind die Hilfsschule besucht. Andererseits kann ich Eltern nennen, die jetzt das vierte Kind in die Hilfsschule un- gemeldet haben und mit dem Erfolge zufrieden gewesen sind. Wir zwingen niemand und können niemand zwingen, sein Kind der Hilfsschule zu übergeben. Die Verant- wortung muss den Eltern überlassen bleiben. Die Hilfsschule ist ein wichtiges Ergänzungsmittel. Manche Wünsche, welche ich bezüglich desselben noch hege, werde ich Ihnen in einem besonderen Vortrage geben. Es darf keine akademische Scheidung

ae,

zwischen Anstalten und Hilfsschulen vorgenommen werden, sondern in Frieden müssen sich beide unterstützen.

Erziehungsinspektor Piper: Wir haben von Full zu Fall zu entscheiden, ob ein Kind in eine Anstalt oder eine Hilfsschule unterzubringen ist. Es kann vorkommen, dass ein tiefstehendes Kind in eine Hilfsschule und ein geistig höher stehendes in eine Anstalt gehört. Wir haben die Pflicht, zusammen zu arbeiten. Wir weisen Ihnen diejenigen Kinder zu, welche für die Hilfsschule sich eignen, und umgekehrt. Dann werden wir zum Wohle der Schwachsinnigen und im Frieden arbeiten. Ich habe die Hilfsschule in Leipzig besucht und habe mich gefreut über das, was ich dort gesehen habe, dass sie bemüht ist, ihren Kindern soviel als möglich Internat zu geben.

Direktor Schwenk: Zwischen den schulfähigen Insassen unserer Anstalten und den Schülern der Hilfsschulen besteht kein oder nur ein sehr geringer Unterschied. Blödsinnige (Idioten) sind nicht schulfähig. Es handelt sich also in beiden Instituten um schwachsinnige Kinder, die heute in Frage kommen. Wir in unseren Anstalten werden die Schüler ausser den schwer erziehbaren der Grossstädte von kleineren Städten bezw. vom Lande bekommen, während die Hilfsschüler sich aus grösseren Städten rekrutieren. Die Ansicht des Herrn Strakerjahn, dass wir nur „erziehbare* Kinder aufzunehmen hätten, widerspricht der Praxis. Ich möchte Herrn Strakerjahn ins Gedächtnis zurückrufen, was er am Hilfsschulverbandstag in Kassel gesagt hat; er sagte nämlich: Wir haben so viele konfirmierte Zöglinge, die in ein Internat ge- bracht werden müssen, die für das Leben nicht taugen. Ich meine, alle diese Zög- linge gehörten überhaupt nicht in die Hilfsschule, sondern in eine Anstalt. Die Hilfsschulen machen uns keine Konkurrenz. Das beweisen die Thatsıchen am besten. Von Frankfurt a. M. mit ca, 800000 Einwohnern und 8 Hilfsschulklassen haben wir augenblicklich ca. 75 schulfähige Zöglinge, während wir von dem näheren Wies- baden mit ca. 80000 Einwohnern nur 5 schulfähige Kinder haben. Je mehr auf diesem Gebiet gearbeitet wird, desto mehr Kinder finden sich. Ich bin der Meinung, dass es sich bei der Frage, ob ein Kind in der Familie bleiben oder in eine Anstalt kommen soll, in erster Linie nicht um die Familie, sondern um das Kind handelt. Da giebt es für mich, wenn ich zu Rate gezogen werde, nur eins Frage: Was ist für das Kind das Zweckmässigste, Anstaltserziehung oder Familienerziehung? Ich bitte Sie, meine Herren, stellen Sie jederzeit das Kind, um welches es sich handelt, in den Vordergrund und entscheiden Sie in diesem Sinne.

Direktor Barthold: Ich will gar nichts anders, als was die Vorredner gesagt baben, und zwar aus dem Grunde, weil das Kind das erste und letzte ist. Was das Familienleben anlangt, so gestehe ich voll und ganz ein, dass das Kind der Familie gehört. Ich bin erstaunt, dass man von einem Zwange redet. Ich habe bei 1400 Kindern mit Ausnahme von solchen, die von der Behörde zwangsweise über- führt worden sind, noch kein einziges zwangsweise aufgenommen. Unter 1400 Kindern habe ich nur einen einzelnen Fall gehabt, dass ein Kind wegen Heimweh entlassen wurde Anderseits kann ich Fälle anführen, dass die Kinder schon nach acht Tagen drängen, wieder in die Anstalt zu kommen. Das ist ihre Heimat.

Kreisschulinspektor Weichert: Zur Geschäftsordnung! Es ist uns klar, dass

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die Hilfseschulen und die Anstalten die Verhältnisse beherrschen und wir uns nicht weiter darüber unterhalten dürfen. Wir erzählen uns einzelne Fälle und wollen uns darüber belehren, welche Kinder in die Hilfsschule und welche in die Anstalt ge- hören. Ich bitte über die Leitsätze 4, 6, 9, 10, 11, 12 zu debattieren.

Direktor Trüper: Ich glaube nicht, dass wir uns jemals über die Leitsätze prinzipiell verständigen können, denn wir haben es nicht mit einer Prinzipien-, sondern mit einer Opportunitätsfrage zu thun, und von diesem Gesichtspunkte müssen wir die Frage behandeln. Über die Erziehung abnormer Kinder hat zunächst die Familie zu bestimmen. Zwangsweise darf ein Kind nur dann aus einer Schule entfernt und in eine Anstalt gebracht werden, wenn sich das Kind in einer Familie befindet, welche sich als unmündig erweist. Ich möchte zurückweisen, dass das Kind als solches in dem Vordergrund zu stehen habe. Das Kind ist Glied der Familie, und su lange, als diese sich nicht als unfähig erwiesen hat, hat sie über das Kind zu bestimmen. Wir haben die Pflicht, die Eltern über den Zustand ihrer Kinder aufzuklären.

Hauptlehrer Fels: Ich vermisse in den Leitsätzen das Wort: Erwerbsfähigkeit. Ich staune und verwundere mich, dass es der Referent nicht gebraucht hat. Gerade die Erwerbsfähigkeit muss in Betracht gezogen werden, da der Mensch in den grossen Kampf ums Dasein einzutreten berufen ist.

Vorsitzender Erziehungsinspektor Piper: Es ist Schluss der Debatte beantragt. Auf der Rednerliste stehen noch drei Redner.

Hauptlehrer Strakerjahn: Zur Geschäftsordnung! Wenn wir so fortfahren, weiss ich nicht, was wir mit den Thesen machen wollen. Ich schlage Ihnen folgende Resolution vor: Die Versammlung nimmt von den Ausführungen des Herrn Direktor Barthold mit Interesse Kenntnis.

Direktor Pfarrer Steinwachs: Ich bitte die Versammlung, zum Schluss zu kommen und die Debatte abzubrechen. Wenn es eine Instanz gäbe, welche entscheiden könne, ob ein Kind in eine Anstalt oder in eine Hilfsschule kommen solle, so könnten ihr diese Sätze zur Kenntnis gegeben werden. Ich halte es für falsch zu sagen, dass alle bildungsfähigen Kinder in die Hılfsschule, ich halte es auch für falsch zu meinen, dass die bildungsunfähigen in die Anstalten gehören. Die Sache ist so: die Schule braucht die Hilfsschule, die Idiotenanstalt die Idiotenschule.

Kreisschulinspektor Weichert: Wir haben zwei Ansichten, die der Leiter der Anstalten und die der Leiter der Hilfsschulen kennen gelernt. Beide Veranstaltungen haben ihre Berechtigung. Ich empfehle bei Unterbringung der Kinder, das Objekt, d. h. das Kind in seiner gaistigen Beschaffenheit und verschiedenen Komplikationen, die Eltern (ob sie ihr Kind in eine Hilfsschule oder eine Anstalt bringen wollen) und andere begleitende Umstände in Betracht zu ziehen.

Vorsitzender Erziehungsinspektor Piper: Die Debatte ist geschlossen. Herr Dr. Wehrhahn sendet der Konferenz folgendes Telegramm: „Der X. Konferenz für das Idiotenwesen wünscht reichen Erfolg und Segen für

die Ärmsten aller Armen.“ Der Vorstand des deutschen Hilfsschul-Verbandes

Dr. Wehrhaln- Hannover.

un

Nebenversammlung für die Vertreter der Idiotenanstalten.

(Im Kuppelsaal des Rathauses.)

Vorsitzender Erziehungsinspektor Piper eröffnet die Nebenversammlung und verliest das folgende Telegramm aus Leschnitz: Was die erwogenen Beschlüsse gezeitigt, Möge den Ärmsten zum Segen gereichen. Kralewski. Direktor Gündel: Zur Geschäftsordnung! Ich möchte gern wissen, ob mit der vorigen Aussprache das Schicksal der Thesen zu dem Vortrage des Herrn Direktor Barthold entschieden sei oder nicht. Ist mit der Nichtabstimmung eine Annahme oder Ablehnung verbunden? Vorsitzender Erziehungsinspektor Piper: Wir können augenblicklich in der Sache gar nichts thun, da die Vertreter der Hilfsschulen nicht anwesend sind. Ich. erteile Herrn Pastor Bernhard das Wort zu seinem Vortrage:

Die Beschäftigung der Schwachsinnigen.

Leitsätze: I. Die Beschäftigung arbeitsfähiger Schwachsinniger ist notwendig

1. zu ihrer geistigen Weiterentwicklung ;

2. zu ihrer Erziehung;

3. zur Förderung ihrer Erwerbsfähigkeit;

4 zur Erhaltung ihrer Gesundheit.

II. Die Beschäftigung hat stattzufinden

l. bei den in den letzten Schuljahren stehenden Zöglingen in beschränktem Umfange;

2. bei den aus der Schule entlassenen Konfirmierten nach einem wohl- geordneten Arbeitsplan und, soweit nicht der körperliche Zustand eine Beschränkung fordert, während der ganzen anı Tage zur Verfügung stehenden Zeit;

3. bei den wegen mangelnder Begabung vorzeitig aus der Schule Ent- lassenen versuchsweise, aber mit ganzem Ernst und rechter Ausdauer.

III. Die Art der Beschäftigung muss

1. den Grundsätzen der Gesundheitspflege Ener:

2. den Gaben und Kräften der einzelnen angemessen sein;

8. Freude an der Arbeit selbst machen;

4. nutzbringend sein.

IV. Die Leitung des ganzen Arbeitsbetriebes muss in Anstalten möglichst in der Hand dessen liegen, der an der Spitze derselben steht. V. Zur Anleitung und Beaufsichtigung sind Leute zu wählen, welche

1. mit der Arbeit ausreichend vertraut sind;

2. selbst mit zu arbeiten bereit sind;

3. auf die Zöglinge erziehlich einzuwirken verstehen.

wenn

Hochverehrte Anwesende!

Als in der Mitte des vorigen Jahrhunderts das Interesse für die Idioten- Sache erwachte und in den sechziger Jahren in Deutschland eine Zahl Anstalten gegründet wurde, da hatte man, wie Ihnen bekanut sein wird, sich zunächst nur die Aufgabe gestellt, blöd- und schwachsinnige Kinder aufzunehmen und dieselben durch Schulunterricht und Erziehung soweit zu fördern, dass sie nach einigen Jahren in die Familie zurückkehren oder in ein geeignetes Dienst- verhältnis treten könnten.

Haben auch heute noch einige Anstalten in der Hauptsache an diesem Grundsatze festgehalten, so hat doch die weitaus grösste Zahl im Laufe der Jahre ihn aufzugeben sich genötigt gesehen. Es zeigte sich, dass die Mehrzahl der aus der Schule in die Heimat Entlassenen geistig wieder zurückging oder sittlich verwahrloste. Dazu war ihre Erwerbsfähigkeit so gering, dass sie selten Beschäftigung erhielten. Statt den Anstalten die älteren Zöglinge wieder abzu- nehmen, kam man vielmehr immer häufiger mit Anträgen auf Aufnahme Er- wachsener; und als nun in Preussen das Gesetz vom 11. Juli 1891 in Kraft trat, nach welchem alle der Anstaltspflege bedürftigen Idioten im Falle der Mittellosigkeit der Angehörigen auf Öffentliche Kosten unterzubringen sind da blieb nur die Wahl, entweder eigene Anstalten für ältere Pfleglinge einzu- richten oder die bestehenden Erziehungsanstalten zweckentsprechend zu erweitern. Denn die Weise, wie sie bei der Verbindung der Idiotenanstalt mit der Irren- anstalt in Dalldorf und ähnlich in Uchtspringe besteht, nach welcher ältere Pfleglinge, soweit sie in Familien keine Aufnahme finden, den Irrenabteilungen überwiesen werden, ist doch nur als eine Ausnahme anzusehen.

Ich würde aus dem Rahmen meines Themas heraustreten, wollte ich heute die Frage erörtern, ob eine Trennung der älteren Pfleslinge von den Schul- kindern durch Errichtung besonderer Beschäftigungsanstalten zweckmässig sei. Die Anstalten haben sich geschichtlich und entsprechend den besonderen Ver- hältnissen einer Provinz entwickelt, und wir müssen daher von den thatsächlich bestehenden Einrichtungen bei unserm Thema ausgehen. Ich bemerke nur, dass in die von mir seit 24 Jahren geleiteten Kückenmühler Anstalten Kinder wie ältere Pfieglinge aufgenommen werden, dementsprechend besondere Erziehungs-, Pflege- und Beschäftigungs-Abteilungen bestehen, und sich diese Organisation durchaus bewährt hat.

Beantworten wir zunächst die Frage, warum überhaupt die Beschäftigung Schwachsinniger notwendig ist. |

Es ist unstreitig das Leichteste und Einfachste, die nicht schulfäbigen oder schulentlassenen Zöglinge, wenn man sie doch einmal behalten muss, den Tag über in grossen Aufenthaltsräumen oder bei schönem Wetter im Freien unter Aufsicht von zwei oder drei Pflegern zu stellen, die nötigen Spaziergänge mit ihnen vorzunehmen und dann nur dafür zu sorgen, dass sie sich und andere nicht schädigen. Besondere Schwierigkeiten bereitet das nicht, weil die Idioten mit seltenen Ausnahmen schüchterne und fügsame Menschenkinder sind.

Sehr bald indessen wird man inne werden, wie auffallend sie hierbei geistig

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zurückgehen. Bei den einen nimmt der Stumpfsinn von Jahr zu Jahr zu, bis sie zuletzt still und teilnahmlos vor sich hinstarren, nur noch aus ihrem Traumleben erwachend, wenn die Glocke zum Essen ruft; andere werden aufgeregt und zer- störungssüchtig, sie sind in steter Bewegung oder treiben als Lieblingsunter- haltung das Knöpfe-Abdrehen und Strümpfe-Aufräufein. Bei den geistig Höher- stehenden schwinden die erworbenen Schulkenntnisse mehr und mebr. Bei ihrem äusserst beschränkten Gesichtskreise und mangelnden Verständnis für die allergewöhnlichsten Lebensverhältnisse oder gar das öffentliche Leben haben sie selten Lust, die Zeitung oder ein nützliches Buch in die Hand zu nebmen. Der Briefwechsel mit den Angehörigen, als einzige Stilübung, ist nur mit Mühe aufrecht zu erhalten. Bald zeigt sich auch wieder das frühere kindische und alberng Wesen, welches unter dem Einfluss der Schule erfreulich geschwunden war.

Ein wie ganz anderes Bild bietet sich uns unter dem Einfluss der Be- schäftigung! Das Selbstgefühl hebt sich, das Interesse am Leben wächst, die Zöglinge werden ruhiger, gesetzter, verständiger. Die Zerstörungssucht hört auf, sobald der Thätigkeitstrieb in gesunde Bahnen gelenkt wird. Wir haben oft die Freude, dass bei Knaben, welche so tief stehen, dass alle Versuche der Schule, das Band der Zunge zu lösen, scheitern, in der Arbeit das Sprech- bedürfnis von selbst erwacht und sie sich ausreichend verständigen lernen.

Wie also die Beschäftigung die geistige Entwickelung fördert, so unterstützt sie gleichzeitig die Erziehung. Auf den Einfluss derselben bei den Tieferstehenden habe ich bereits hingewiesen. Die geistig höher stehenden Idioten neigen, namentlich in den Entwickelungsjahren, wie Ihnen allen bekannt sein wird, zu mancherlei sittlichen Ausschreitungen, und die Früchte der Schule zeigen sich vielfach zunächst auch darin, dass sie mit einem gewissen Raffinement ibre Aufseher zu hintergehen wissen. „Müssiggang ist aller Laster Anfang.“ Das gilt auch bei unseren Schwachsinnigen. Dagegen wirkt nach meiner lang- jährigen Erfahrung als Ablenkung und Schutz eine wohlgeordnete, nicht bis zur Erschöpfung, aber bis zur gesunden Ermüdung betriebene Thätigkeit vor- trefflich.. Sie werden von Thorheiten abgelenkt, lernen den Wert der Zeit schätzen, werden selbständiger, und es erstarkt gleichzeitig ibre Willenskraft.

Wollen und können nun die Angehörigen oder Gemeinden einen Schwach- sinnigen wieder zurücknehmen, danı ist ihnen dringend zu raten, es erst nach einigen Jahren der Ausbildung in der Arbeit zu thun. Sie sind dann aus dem Gröbsten heraus und bieten mehr Aussicht auf Erwerbsfähigkeit. Denn woran scheitern so oft die Versuche, sie ausserhalb der Anstalt an Arbeit zu gewöhnen? Es fehlt nicht nur die zur Anleitung unerlässliche Sorgfalt und das rechte päda- gogische Geschick, sondern man vergisst auch in der Regel, dass man es mit Menschenkindern zu thun hat, welche durchaus noch nicht mit eigener Über- legung handeln können. Man giebt ihnen ein Arbeitspensum für etliche Stunden, und sie stehen schon nach einer halben Stunde ratlos da; oder man giebt ihnen zwei bis drei Anfträge, und sie vermögen kaum einen zu behalten. Ihnen wird Handwerkszeug und Material anvertraut, und sie verderben beides.

Dass die Beschäftigung unsrer Zöglinge schliesslich auch wesentlich zur

212

haltung ihrer Gesundheit beiträgt, beweisen unsre Kranken-Journale und die - tiische, gesunde Gesichtsiarbe. Das seltene Vorkommen von Frostbeulen oder Blutstoekung, die geringen Opfer, welche die Tuberkulose aus den Reihen der Arbeitszöglinge fordert, bestätigen es gleichfalls. Selbst nach einem so an- haltenden Winter wie dem letzten, dessen Folgen sich im Frühjahr wieder recht fühlbar gemacht haben, hatten wir wenig Erkrankungen, namentlich unter den im Freien Beschäftigten.

Doch wir wullen zu der zweiten Frage übergehen, wann die Be- schäftigung der Schwachsinnigen zu beginnen hat.

Die Beschäftigung muss bereits während der Schulzeit anfangen. Unsre Zöglinge treten in der Regel erst einige Jahre nach dem Beginn des schul- pflichtigen Alters bei uns ein und bringen dann zumeist keine Schulkenntnisse mit. Geringe Bildungsfähigkeit nötigt oft auch zu langsamem Vorwärtsgehen, Wir können uns daher mit der Schulentlassung nicht an das 14. Lebensjahr binden; die Zöglinge werden oft 16 bis 18 Jahre alt. Gerade in dieser Zeit der körperlichen Entwickelung aber ist die Arbeit dringend nötig. Für den Fall der Entlassung gleich nach der Konfirmation aber ist dann doch wenigstens der Anfang mit der Anleitung zu einer nützlichen Thätigkeit gemacht, und man hat die besondere Neigung und den Grad der Arbeitstüchtigkeit erkannt und kann den Angehörigen in betreff der weiteren Beschäftigung Rat erteilen.

Zeit zur Arbeit bleibt neben der Schulzeit, namentlich im Sommer, aus- reichend. Die Knaben werden durchschnittlich zwei Stunden draussen arbeiten können, an einzelnen Nachmittagen auch länger. Die Mädchen können ausser dem eigentlichen Handarbeitsunterrichte von den Schwestern oder Pflegerinnen im Laufe des Tages zu mancherlei häuslichen Arbeiten herangezogen werden. Es ist darauf zu achten, dass den Kindern einzelne bestimmte Pflichten über- tragen werden und sie an Pünktlichkeit und Sorgfalt bei der Ausführung ge- wöhnt werden.

Bei den aus der Schule entlassenen Bildungsfähigen muss nun aber, wenn nicht körperliche Gebrechen ein Hindernis bilden, eine streng geregelte Thätig- keit beginnen. Man hat in einzelnen Anstalten versucht, ein Ackerstück in kleine Parzellen zu teilen und jedem Zögling seinen eigenen kleinen Garten zur Bestellung zu überweisen. Das mag wohl in einem Institut für normale Kinder am Platze sein, obwohl auch da die mit der Anleitung betrauten Lehrer wenig Freude erleben für unsre Zöglinge ist es eine nutzlose Spielerei, bei der sie nicht arbeiten lernen.

Die Zöglinge sind in kleinere Kolonnen zu teilen, treten mit ihren Auf- sehern pünktlich zur festgesetzten Zeit an, um an ihre Arbeitsplätze im Felde oder in den Gärten geführt zu werden, oder sie gehen in die Viehställe und Scheunen oder Handwerksstätten. Es darf die Wahl der Arbeit nicht jeden Tag in das Belieben des einzelnen Zöslings gestellt werden, und ebensowenig darf das Aufsicht-personal andre, als die ihm zur Hilfe im Hause ausdrücklich beigegebenen Zöglinge, zurückbehalten. Auch der Arzt ist zu bitten, seine Visiten so zu legen, dass er die Ordnung nicht stört.

213

Mit denen, welche als bildungsunfähig aus der Schule mussten entlassen werden, muss wenigstens ernstlich der Versuch gemacht werden, sıe zur Thätig- keit anzuhalten. Gerade unter diesen haben wir oft überraschende Resultate zu verzeichnen. Es gilt nur, unsre Angestellten immer wieder zur Ausdauer und Geduld zu ermahnen. Nie lasse man die Einwendung gelten: „sie hindern uns ja viel mebr, als sie helfen“; oder „ich mache mir meine Arbeit lieber selbst“. Der erziehliche Gesichtspunkt ist allein ausschlaggebend.

Welche Art der Beschäftigung wird nun die für unsre Zöglinge angemessenste sein?

Darüber ist in diesen unsern Konferenzen, wie den älteren Mitgliedern be- kannt sein wird, am eingehendsten verhandelt worden. Vor 20 bis 25 Jahren machte sich noch vielfach die Ansicht geltend, das Handwerk sei zu bevorzugen, landwirtschaftliche Arbeiten aber seien im allgemeinen zu schwer. Im Laufe der Zeit haben sich die Ansichten in dieser Beziehung geklärt. Auszuscheiden sind zunächst alle Arbeiten, welche durch Stauberregen schädlich, oder aus sonstigen Ursachen gefährlich sind, oder welche leicht über die Kräfte gehen, z. B. Wergzupten, Federnreissen, Kokosmattenarbeiten, Ziegelstreichen, Torf- machen und ähnliches. Unzweckmässig sind auch Arbeiten, bei welchen leicht Vergeudung von Material vorkommt. Man überlässt z. B. Stuhlflechtereien, Seilerei, Bürsten- und Pinselfabrikation besser den Blindenanstalten.

Wenn wir nun die Forderung stellen, dass die Art der Beschäftigung den Gaben der Schwachsinnigen angemessen sein muss, so werden wir uns im Hand- werk auf einzelne Zweige beschränken müssen und werden selbst hierfür nur eine geringe Zahl unsrer Zöglinge geeignet finden. Wir beschäftigen in unsern Anstalten Schwachsinnige in der Tischlerei und Stellmacherwerkstätte, in der Schmiede, der Schlosserei und Klempnerei, in den Schneiderwerkstätten und in der Bäckerei, würden auch sehr wohl einzelne in der Schuhmacherwerkstätte brauchen können, wenn wir diese nicht schon unsern Epileptischen überlassen hätten. Zu Anstreicherarbeiten und ordinärer Korbflechterei, Stäbe- und Etikettenschneiden und ähnlichen einfachen industriellen Arbeiten ist auch eine Zahl verwendbar.

Die brauchbarsten Lehrlinge finden wir immer unter denen, welche zunächst mit Erfolg durch unsre Anstaltsschule hindurchgegangen sind, während die in vorgerücktem Alter Eintretenden weniger Anstelligkeit zeigen. Selten aber wird es doch gelingen, einen Schwachsinnigen soweit zu fördern, dass er als Geselle seinen Unterhalt erwerben kann. Dieses Ziel sich zu stecken, halte ich auch entschieden für verfehlt. Da unsre Schwachsinnigen in der Regel einseitig be- gabt sind, muss uns das Ziel genügen, sie in einer bestimmten Arbeit so aus- zubilden, dass sie einınal als Hilfskräfte Verwendung finden können. Wir ver- mehren sonst nur die grosse Zahl der Pfuscher, welche sich ohnehin in jedem Handwerke finden, und rauben unsern Zöglingen die Freudigkeit. Diese so leicht verzagten Leutchen gewinnen nur dann Freude an der Arbeit, wenn sie sehen, dass ihnen dieselbe gelingt.

Den weitesten Spielraum zur Verwendung von Hilfskräften finden wir nun aber in der Garten- und Feldwirtschaft und in der Viehzucht. Da ist das Ge-

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müseland zu graben und zu behacken. Es ist zu begiessen oder Unkraut zu jäten. Für die Baumschule ist tief zu rajolen; es sind Pflanzlöcher anzufertigen. Komposthaufen umzustechen, Erde zu verkarren, Hügel zu planieren und Gründe auszufüllen, Mergel zu fahren und Wege zu befestigen. In den Gewächshäusern und Treibbeeten sind dem Gärtner Hilfskräfte nötig. Werden die Veredelungs- arbeiten und der Baumschnitt in der Hauptsache auch dem angestellten Gärtner überlassen bleiben, so helfen doch auch hier einzelne geistig höher stehende Zöglinge. Ebenso lernen immer einzelne recht gut das Pflanzen. In der eigent- lichen Landwirtschaft und Viehhaltung giebt es gleichfalls viele Arbeiten, zu welchen geringere Kräfte ausreichen. Eine Zahl unsrer Zöglinge drischt unter einem normalen Arbeiter die ganze Ernte meist mit dem Flegel aus und hat den Vier-, Fünf- und Sechstakt gelernt, ohne sich, wie manche fürchten, an den Kopf zu schlagen; auch die Handdreschmaschine findet Verwendung.

Die Kühe und Schweine werden von Zöglingen gefüttert und besorgt und geben hohe Erträge.

Müssen auch die Gespanne um der grossen Verantwortung willen in der Hauptsache von angestellten Leuten geführt werden, so lassen sich doch auch hierzu, namentlich auf dem Acker, einzelne Zöglinge verwenden. Namentlich aber finden viele bei den Erntearbeiten im Sommer und Herbst Beschäftigung. Hierzu werden auch eine Zahl Mädchen, die sonst in der Hauswirtschaft, in der Wäsche und zur Hilfeleistung in den Stationen Verwendung finden, heran- gezogen. Ein Teil des Gartens ist ihnen auch sonst zur Arbeit reserviert, da es um der Gesundheit willen geboten ist, dass sie namentlich aus der Wäsche von Zeit zu Zeit abgelöst werden.

Doch ich widerstehe um der kurz bemessenen Zeit willen der Versuchung, mich über die Art der Beschäftigung noch weiter zu ergehen. In Verlegenbeit um Arbeit sind wir nie gekommen. Auch im Winter stockt dieselbe bei richtiger Einteilung nicht. Viele Kulturarbeiten werden auch im Winter nur auf wenige Wochen durch zu starken Frost unterbrochen; tritt derselbe hindernd in den Weg, dann müssen Arbeitsräume vorhanden sein, in welchen die Zöglinge Stangen schälen, Holzetikette schnitzen, Samen auslesen, Strohdecken für die Gärtnerei flechten. Auch bringt das Heranschaffen von Heizmaterial, die Eis- anfuhr, das Schneeschippen und Abdüngen der Wiesen uud ähnliche Winter- arbeiten Beschäftigung.

Ich brauche nach diesen Darlegungen nicht weiter auseinanderzusetzen, in wieweit alle diese Beschäftigungsarten zugleich nutzbringend sind. Als Grund- satz muss in dieser Beziehung, um das zu erwähnen, stets gelten, möglichst für die Anstalten selbst zu arbeiten. So verkaufen wir eigentlich nur Produkte unsrer Baumschule, etwas feinere Obstarten und Gemüse, namentlich für etwa 4000 Mark Spargel. Wir haben infolge unsrer Land- und Viehwirtschaft billiges und gutes Fleisch, Milch und Butter, reichlich Gemüse und Obst und die Ge- spanne zu Wirtschaftsfuhren.

Der ganze Arbeitsbetrieb erfordert nun allerdings eine möglichst einheit- liche Leitung, sonst fehlt es an der zweckmässigen Disposition über die

215

einzelnen Kräfte; auch kommen zu leicht unter den Angestellten Reibungen vor. Es ist wünschenswert, dass der an der Spitze der ganzen Anstalt stehende Leiter mit den verschiedenen Zweigen der Beschäftigung vertraut ist. Wo das noch nicht der Fall ist, wird er sich bei einigem guten Willen schon einarbeiten und das Gebiet, welches ihm ganz fremd ist, vorläufig möglichst vermeiden. Ein Hindernis, sich ein Verständnis in diesen Dingen anzueignen, sind doch weder pädagogische, noch theologische, noch medizinische Kenntnisse! Auch darf man voraussetzen, dass jedes Kuratorium bei der Wahl eines Anstaltsleiters dar- auf sehen wird, dass er ein praktischer Mann ist. Natürlich müssen dem- selben die nötigen Aufsichtsbeamten zur Seite stehen, und es wird seine Auf- gabe sein, sich dieselben heranzuziehen und die Gaben, welche dem einzelnen verliehen sind, zu wecken.

Das gilt aber auch von den mit der Anleitung und Beaufsichtigung unsrer Arbeitszöglinge betrauten Personen. Dieselben müssen selbst mit der Arbeit, zu welcher sie anzuleiten haben, vertraut sein. Man wähle tüchtige Handwerker, wirklich ausgebildete Gärtner, welche die Technik beherrschen, stelle zu Jaandarbeiten Männer an, welche in denselben erfahren sind. Selbst bei der Beschäftigung der Mädchen muss eine in Landarbeiten tüchtige Frau die Aufsicht führen. Diese bei den einzelnen Abteilungen Aufsicht Führenden haben mitzuarbeiten, damit die Zöglinge die Handgriffe absehen und durch ein gutes Vorbild angespornt werden. Natürlich darf die eigene Arbeit sie nur so- weit in Anspruch nehmen, dass sie dabei ihre Zöglinge im Auge behalten, von einem zum andern gehen, verbessern, ermuntern, Bescheid geben. Vor allem aber dürfen sie nie vergessen, dass die Beschäftigung in erster Reihe einen er- ziehlichen Zweck hat. Heftige, ungeduldige oder gar lieblose Menschen sind nicht zu gebrauchen.

Haben sie selbst den Segen der Arbeit kennen gelernt, wissen sie als Christen das Beten und Arbeiten recht zu vereinen und bleiben eingedenk des Wortes St. Pauli: „Ringet darnach, dass ihr stille seid und das eure schaffet und arbeitet mit euren eigenen Händen, wie wir euch geboten haben“ dann werden sie auch treu sein in ihrer Pflichterfüllung, selbst Freude haben an jedem Fortschritte ihrer geistig und leiblich so schwachen Mitmenschen und uns je mehr und mehr in unsern Bestrebungen und Zielen verstehen lernen!

Fortsetzung in nächster Nr.

Mitteilungen.

Dresden-Blasewitz. (Förster }). Am 6. November verschied im Alter von 62 Jahren Eduard Förster, Besitzer und Leiter einer Erziehungsanstalt für geistig Zurückgebliebene in Dresden-Blasewitz.

Dalldorf. (Idiotenanstalt). Im Jahre 1900 schwankte der Bestand an Zöglingen zwischen 200 und 212. Der Unterricht wurde in 12 Klassen erteilt, welche sich auf 6 Stufen verteilten. Konfirmiert wurden 16 der evangelischen Konfession angehörende Zöglinge, während 2 katholische Knaben und 2 katholische Mädchen das Abendmahl erhielten. Die Thätigkeit in den 5 Werkstätten war

216 eine sehr rege, und ebenso wurde in der Gärtnerei fleissig gearbeitet. Von den ent- Jassenen Zöglingen wurden 9 Burschen zur Erlernung eines Handwerks (Buchbinder 2, Gärtner 2, Schneider 2, Korbmacher 1, Schuhmacher 1, Tischler 1) zu geeigneten Meistern in die Lehre gegeben. 15 Zöglinge (8 Knaben, 7 Mädchen) kamen teils zu den Eltern, teils zu den Landleuten behufs Beschäftigung in Land- Haus- und Hand- arbeit in Pflege; 9 Knaben 2 Mädchen wurden mit Rücksicht auf ihre geistige, wie auch körperliche Schwäche und ihr vorgeschrittenes Alter in die hiesige Irrenanstalt verlegt. Bei 2 Knaben stellten sich epileptische Anfälle ein, so dass ihre Verlegung in die Anstalt Wuhlgarten notwendig wurde, und 1 Knabe, der sich nicht als schwachsinnig erwies, kam in die Anstalt zu Lichtenberg. Zu den Eltern kehrten zurück leider zu früh 12 Knaben und 3 Mädchen.

Briefkasten.

Allen geehrten Mitarbeitern und Lesern der Zeitschrift wünscht zum Jahreswechsel das Beste die Schriftleitung. Dr. B. i. B. Ihre Karte übergab ich dem Berichterstatter zur Erledigung. M. W. i. Sch. Für diese Nummer wesen Raummangel unmöglich; besten Dank! Dir. K. R. i. L. Bitte das Versehen entschuldigen zu wollen; inzwischen erhielten Sie das Gewünschte. Dr. M. i. B. Der bedauerliche Vorfall ist uns bekannt und wird in der nächsten Nummer erwähnt werden. F. M. i. 0. Wie früher, so wird unsere Zeitschrift auch den Bericht über die Elber- felder Konferenz nur im Auszuge bringen, ihn vollständig aufzunehmen ist unmöglich. H. H.i. D. Auch wir haben es bedauert, dass wir nicht nach E. kommen konnten; im ührigen stimmen wir Ihnen vollständig zu: die Menge und Länge der Vorträge thuts nicht. Dass Aussicht vorhanden ist, uns hier zu begegnen, freut uns.

Zur Beachtung.

Mit vorliegender Nummer schliesst die

Zeitschrift £ 0, Behandlune. Schwachsinniger und Epileptischir

ihren XVII Jahrgang. Form, Umfang und Preis der Zeitschrift bleiben im neuen Jahrgange unverändert. Bestellungen wolle man gefälligst bald bewirken.

Die Herausgeber.

Inhalt. Bericht über die X. Konferenz für Idiotenwesen und Schulen für schwach- sinnige Kinder. (Fortsetzung.) Mitteilungen: Dresden-Blasewitz, Dalldorf. Briefkasten. Zur Beachtung.

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Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden.

Druck von Johannes Pässler in Dresden.

Zeitschrift

für die

Behandlung Schwachsioniger und Epileptischer.

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Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen herausgegeben von

Stadtrat Dir. W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth,

Dresden-Streblen. Specialarzt für Nervenkrankheiten in Stuttgart.

XVII. (Xl) Jahrgang 1902.

wenn

Kommissionsverlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. Druck von Johannes Pässler in Dresden.

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292790

ABTOR, LENDS AND TILDEN an R 1903 L

10.

11.

12.

13.

14.

15.

16.

. Die X. Konferenz für das Idioten.

Inhaltsverzeichnis.

A. Aufsätze.

. Bericht über die am 15. Februar 1902

in Hagen abgehaltene Konferenz für die Hilfsschulen (M. Weniger). . 75

. Das Freihandzeichnen in der Hilfs-

schule zu Leipzig (H. Müller) . 169

. Das Personalheft im Dienste der

Schwachsinnigen - Bildung

(F. Frenzel) . 137

wesen (P. Müller) . 10. 43. 65. 81

. Die pädagogische Gymnastik in den

Schulen für Schwachsinnige

(O. Legel) . 107

. Die Schulen der privaten Wohl-

thätigkeitsanstalten in Gefahr

(K. Ziegler: 58

. Einige einfache Industriesweige dér

AnstaltIdstein(J. Schwenk) 101.131.156

. EinWeihnachtsmärchen f. dieEltern

unsererschwachenKinder(K.Ziegler)195

. Fromme Wünsche für den weiteren

Ausbau der Hilfsschule (Dr. Bood-

stein) . . . 12 Nebenversannioni für die Vertreter

der Hilfsschule . 12 Nochmals die neue Anweisung v vom

26. März 1901 und noch einiges an- dere (K. Ziegler) ; . 146 Sind Zahlenbilder oder Zählenreihen beim ersten Rechenunterrichtein der Hilfsschule vorzuziehen (H. Horrix) 135 Über einige besondere Gruppen unter den Idioten (Dr. Berkhan) 65 Über schwachsinnige Kinder

(Dr. E. Nawatzky) . . . 185 Versuch einer Einteilung der Idioten (Kölle) . .. 43 Volksschule und Hilfsschule

(Fr. Frenzel) . . 195

17. Wie werden Seminaristen und Lehrer angeleitetzur Arbeitan den Schwach- - sinnigen? (H. Horrix) . . 81 18. Wie wird die Hilfsschule der Indi- vidualität geistig schwacher Kinder gerecht? (E. Kannegiesser). 1. 33 19. Zur reichsgesetzlichen Regelung des Irrenwesens (J. Schwenk) . 185 B. Mitteilungen. 1. Aus Amerika (Die Verbreitung des Schwachsinns) i Eee o A 2. Borna (Hilfsschule) . ve Dr IO 3. Breslau (Hilfsschule) . . . . 198 4 Dortmund( WestfälischeKonferenz für das Hilfsschulwesen) . 181 5. Erfurt (Hilfsschule) . . 199 6. Gera (Dr. Bartels +). . . . . .198 7. Gera (Hilfsschule und Hilfskursus) 164 8. Hessen(Konferenz hess.Hilfsschulen) 199 9. Kiel (Neue Hilfsschule) 78 10. Kristiania (Anstalt für schwach- sinnige Knaben in Lindern) . 116 11. Leipzig iHilfsschule; . 158 12. Magdeburg (Hilfsschule) . 18 13 Mainz (Verbandstagd.Hilfsschulen) 79 14. Mainz (IV. Verbandstag der Hilfs- schulen Deutschlands) . 183 15. Mannheim (Hilfsschule: . 168 16. M.-Gladbach (Idiotenanstalt He- phata) . ; ; 31 17. M.-Gladbach (Ereiprechungi 2 63

18. 19. 2\,

21. 22.

Seite

Nieder-Marsberg (ldiotenanstalt) 29

Schwelm (Hilfsschule) 63 Worms (Augenuntersuchung in der Hilfsschule) a ; . 116 Worms a. Rh. (Hilfsschule) . 63 Zürich (Schweizerische Anstalt für Epileptische) . 166

I n

. Boer, Dr.

. Dicke, Dr. E.

C. Litteratur..

. Auer,Kölleu.Graf,Verhandlungen

der III. Schweizerischen Konferenz für das Idiotenwesen .

A. Der Selbstmord im . 118

80

kindlichen Lebensalter

. Brauckmann, K, Die Ehe

Entwicklung und pädagogische Be- handlung schwerhöriger Kinder . . 166 u. Dr. E. Kohlmetz, Die Schädlichkeit des Missbrauchs geistiger Getränke . . 184

. Finkh, Dr.J ‚DieGeisteskrankheiten 166

Giese, J., Rechenbuch in 4 Heften 120

. Grohmann, A., Ernstes und Heiteres

aus meinen Erinnerungen im Verkehr mit Schwachsinnigen .

Seite

79 |

10.

11.

12.

Seite

. Kafemann, Dr. R., Über die Denk-

schwächeder Schulkinder aus nasalen Ursachen . . 200

. Kläbe, K, Entwurf zum ass

der Hilfsschule . 32 Kurt, Dr.N., Die Willensprobleme in systematischer Entwicklung und kritischer Beleuchtung . . . 18 Otto, B., ee der Zukunfts- schule : . 119 Ziehen, Dr. Th. Die Geisteskrank.

heiten des Kindesalters . . 167

D. Briefkasten . 64. 200

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X LISRARY, SEATLO ! Niue XVII. Qilrsehrer -. | Teitschrift für die

Behandlung sehwachsinnioer und Epilepüscher.

Organ der Konferenz für das Idiotenweosen.

Unter Mitwirkung von Arzten und Pädagogen herausgegeben von Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth,

Spezialarzt Dresden -Strehlen, für Nervenkrankheiten Residenzatrasse 27. in Stuttgart.

Erscheint jährlich in 12 Nummern von

mindestens einem Bogen. Anzeigen für

die gespaltene Petitzeile 25 Pfg. Litte- Februar 1902. rarische Beilagen 6 Mark.

Zu beziehen durch alle Buchhandlungen

und Postämter, wie auch direkt von der

Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, einzelne Nummer 50 Pfg.

Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

Wie wird die Hilfsschule der Individualität geistig schwacher Kinder gerecht? E. Kannegiesser, Hauptlehrer der Hilfsschule zu Erfurt.

Die allgemeine Schulpflicht des vergangenen Jahrhunderts liess die deutsche Volks- und Bürgerschule zur vollendeten Thatsache werden. Sie verpflichtete damit jedes Kind, das von dem gesamten Volke erarbeitete Kulturgut nachzu- erwerben und als Erwachsener zu vermehren, sich und kommenden Geschlechtern zum Segen. Wie weit das dem Einzelnen möglich war, blieb der Erfahrung vorbehalten. Wohl brachten die praktischen Humanitätswerke für Blinde, Taub- stumme und Idioten, sowie die sich reich entfaltenden psychologischen Erkennt- nisse die Thatsache ans Licht, dass man in den Anforderungen an die kindliche Befähigung zu allgemein verfahren sei, dass es nicht nur eine mittlere Linie derselben mit darüber hinausragenden Talenten, sondern auch unter derselben liegende Gruppen kindlicher Individuen gäbe. Ja, man erkannte auch, dass fehlerhafte Erscheinungen der kindlichen Psyche nicht immer auf der Seite der Gesundheit, sondern auch auf der der Krankheit und anormalen Entwicklung entstehen können. Letztere Thatsache besonders fand bis zu ihrer Anerkennung auch in pädagogischen Kreisen starken Widerstand. Es dürfte nicht schwer fallen, die Belege hierfür aus der Erziehungsgeschichte des letzten Jahrhunderts zu- sammenzustellen.

So litt die Schule Schüler, Lehrer und Schularbeit Jahrzehnte lang gleich schwer, ohne praktische Hilfe zu finden.

Im Jahre 1867 erstand die erste Nachhilfeschule zu Dresden für Kinder unter der Grenze normaler Befähigung, welche in der Volksschule sich als

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bildungsunfähig erwiesen hatten. Langsanı und vorsichtig fanden nun auch an andern Orten Gründungen statt. Doch erst Ende der achtziger Jahre kanı die Bewegung dank der Aufmunterung der höchsten Verwaltungsbehörden, be- sonders in Preussen, in schnelleren Fluss. Und während man noch 1894 in Deutschland 32 Schulen mit 110 Klassen, 115 Lehrkräften und 2290 Schülern zählte, wies die Statistik von 1900 bereits 98 Schulen mit 326 Klassen, über 300 Lehrkräften und 7013 Schülern auf*). Die hiesige Hilfsschule, 1890 mit 1 Lehrer und 22 Schülern eröffnet, hat heute 5 Klassen mit 91 Kindern, welche von 4 Lehrpersonen unterrichtet werden. Der Ostern 1898 in Hannover ge- gründete Verband der Hilfsschulen Deutschlands will nicht nur den innern Aus- und äusseren Aufbau derselben unterstützen, sondern auch durch fortgesetzte Aufklärung die Schulträger auf ihre aus der allgemeinen Schulpflicht erwachsende Fürsorgepflicht für die geistig schwachen Kinder hinweisen und die weitesten Schichten des Volkes, besonders aber Pädagogen, Ärzte, Juristen, Militärs und Sozialpolitiker, auf die Bedeutung dieses Erziehungswerkes aufmerksam machen.

Man sollte nun eigentlich meinen, dass diese Thatsachen langjähriger Er- fahrung eine beredte Sprache führend, besonders in pädagogischen Kreisen die Notwendigkeit der Hilfsschulen allseitig zur Anerkennung gebracht hätten. Leider begegnet man aber noch heute der Ansicht und verficht sie auch in der Fachpresse, dass dieses Humanitätswerk unnötig, die Volksschule als Normal- schule am besten geeignet sei auch für geistig schwache Kinder. Wiewohl wir in Erfurt das Absterben dieser betrübenden Erscheinung in den letzten Jahren mit Freuden begrüssen durften, hat sie doch die Wahl meines Themas mit herbeigeführt.

Die Volksschule aber kann der Individualität geistig schwacher Kinder nicht gerecht werden, wenn sie die ihr zugewiesene Aufgabe er- füllen will.

Die an sie gestellten Anforderungen steigern sich fortgesetzt, und der Pädagoge sichtet prüfenden Auges, ob und wo minderwertiger Lehrstoff neuem, wertvollerem weichen könne. Man redet von Überbürdung der Schüler und gesteht doch zu, dass eine wesentliche Verringerung des Stoffes unmöglich ist. Einsichtige Leute haben darum mit Recht die Frage aufgeworfen, ob denn nicht etwa eine oft zu geringe Begabung der Schüler die Ursache der vielumstrittenen Überbürdung sei. Es erscheint darum kaum begreiflich, wie die Gegner der Hilfsschulen auch in der pädagogischen Litteratur ihre Forderungen zu vertreten wagen. Ihre vorgeschlagenen Organisationsveränderungen der Volksschule be- ziehen sich erstens auf Herabsetzung der Lehrziele. Darf die Volksschule, in welcher sich die Mehrzahl des Volkes die geistige Kost holt, aus Rücksicht auf die Geistigschwachen darauf eingehen? Das hiesse doch das Recht der Normal- begabten zu Gunsten Minderbegabter mit Füssen treten, die Volksbildung in einer Zeit gesteigerter Anforderungen an sie herabdrücken. Zweitens strebt man Herabsetzung der Klassenfrequenz an. Setzt man die Frequenz allein herab, so

*) Hierbei sind unter anderen auch die Berliner Einrichtungen mit 58 Klassen, 58 Lehrkräften und 758 Kindern nicht gezählt.

3

ist nichts geholfen, da das Hindernis im hohen Ziel liegt. Wird beides herab- gemindert, dann ist allerdings geholfen, denn dann ist die Volksschule zur Hilfs- schule geworden. Die Gegner fordern drittens die Umwandlung der 6 klassigen in 8 klassige Schulen mit der Massgabe, dass sie von normalen Schülern in 6 Jahren durchlaufen werden können und den Übergang in eine höhere Schule ermöglichen. Mit diesen Vorschlage könnte ich mich schon befreunden, halte aber seine Ausführbarkeit für unmöglich. Unsere 7 klassige Volksschule z. B. müsste dann mindestens in eine 10 klassige verwandelt werden; denn die Hilfs- schule hat 6 Stufen, erreicht aber erst im Rechnen das Ziel von Klasse V der Volksschule 4 Stufen müssten dann noch wenigstens aufgesetzt werden, ganz abgesehen von deren Zielen. Viertens sollen Nebenklassen errichtet. werden, in denen solche Kinder, welche nach Erfüllung obiger Forderungen doch nicht folgen können, durch zeitweilig gesonderten Unterricht für die Volksschule wieder unterrichtsfähig gemacht oder einer Anstalt übergeben werden. Dieser Satz erübrigt alle weiteren Erörterungen, er offenbart, dass die Gegner an die Heilkraft ihrer Forderungen selbst nicht glauben, denn auch nach Erfüllung derselben sind besondere Massnahmen für geistig schwache Kinder nötig.

So sehr man sich auch drehen und wenden mag, über die Thatsache kann man sich nicht hinwegtäuschen: die Volksschule kann der Individualität geistig schwacher Kinder nicht gerecht werden. Sie kann weder ihr Lehrziel herab- setzen, noch ihre Organisation ihnen anpassen. Hbensowenig kann von einer Individualisierung ibrer Methode die Rede sein. Vielmehr müht sich der Lehrer vergeblich ab mit seiner ganzen Erziehungskunst, mit Liebe und Strafe, bis ihn die Rücksicht auf die Begabteren zwingt, die Schwachen fallen zu lassen. Viel- leicht machen er oder sein Nachfolger im nächsten Jahre noch einen Versuch; gelingt er dann nicht, so erben sich die armen Kinder als Klasseninventar fort oder werden weitergeschoben von Stufe zu Stufe bis zur Entlassung. Das Los dieser Unglücklichen ist kein beneidenswertes.. Wohl ihnen, wenn sie geistig so tief stehen, dass die Reihe von Demütigungen, Verspottungen und Misshand- lungen ihr „Ich“ unberührt lässt. Sonst aber werden sie intellektuell vernichtet, sittlich stumpf und verkommen, gemütlich verbittert und verroht, für das Leben völlig unbrauchbar. Der trostlosen Jugend folgt eine noch schlimmere Leidens- zeit. Wieviel geringes, unscheinbares Glück wird da schon im Keime ver- nichtet. Und das ist erst eine Seite des Bildes. Viel gefährlicher gestaltet sich die andere. Kann nicht die Schule durch die Behandlung solcher Kinder in argen Verruf geraten? Wer Jahr für Jahr die Anklagen der Eltern, mögen sie berechtigt sein oder nicht, hören und entkräften muss, der wird das längere Verweilen dieser Kinder in der Volksschule nicht nur als Vergehen an ihnen, sondern auch als Versündigung an ihr betrachten müssen. „Ihr redet von eurer grossen, alles bezwingenden Pädagogik! Zeigt sie doch an unsern geistig schwachen Kindern! Beweist doch an ihnen, die oft unmanierlich und unsauber sind, euren Pestalozzigeist!“ so liest man aus der Eltern Mienen und Worten. Ist nicht auch der Lehrer beständig in Gefahr, die Grenze berechtigter Strafe zu überschreiten? Man könnte Bücher schreiben, und jedes müsste auslauten

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in der Forderung: die Volksschule kann der Individualität geistig schwacher Kinder nicht gerecht werden!

Es erhebt sich nun die Frage: Ist dadurch schon die Notwendigkeit der Hilfsschulen erwiesen? Giebt es nicht vielleicht einen besseren Weg der Hilfe? Wohlhabende Eltern werden ja nicht zögern, die Kinder in einer der vielen Anstalten zu schicken, oder wenn sie das nicht mögen, in Privat- unterricht geben. Auf jeden Fall wird die Aufsichtsbehörde den Nachweis einer Fürsorge fordern. So segensreich die Anstalten nun auch wirken, so grosse Er- folge Privatunterricht auch haben kann, das Kind geht doch des Einflusses der Familienerziehung und des öffentlichen Lebens verlustig. Und der ist schwer zu ersetzen. Darum können und werden wir auch nie die Einrichtungen einer sogen. Tagesanstalt befürworten.

Was fangen aber arme Eltern an? In den meisten grösseren Städten ist ja jetzt diese Frage durch Einrichtung von Hilfsschulen beantwortet. Soll man ihnen die Überweisung ihrer Kinder dahin anraten? Es ist schon erwähnt, dass es besonders in Berlin eine Richtung giebt, welche sich den grösseren Nutzen verspricht, wenn diese Kinder der Volksschule nicht entzogen, sondern in ihr ange- gliederten Nebenklassen besonders unterrichtet werden. Diese Frage hat uns zum Teil schon beschäftigt. Wir müssen die Nebenklassen entschieden verwerfen; sie sind schon durch die Erfahrung verworfen worden. Denn alle Hilfsschulen sind durch den Werdezustand der Neben- oder Nachhilfeklassen hindurchgegangen und haben dieses mangelhafte Gewand abgestreif. Auch Berlin kann sich dieser natürlichen Entwicklung nicht entziehen, wie aus der neuesten Statistik des Preuss. Kultusministeriums über das Hilfsschulwesen ersichtlich ist: es hat bereits neben 14 einklassigen 15 zwei-, 3 drei- und 1 fünfklassige Anstalt.

Geistig schwache Kinder finden nur in gesonderten, selbst- ständigen Hilfsschulen volle Berücksichtigung ihrer Individualität. Das ist der Standpunkt, den sowohl die einsichtigen Pädagogen, als auch die Verwaltungsbehörden einnehmen. Sie sind die einzig richtigen Erziehungs- stätten. Sie sind Öffentliche Volksschulen wie: alle andern, wenn es zur Zeit auch noch an den einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen fehlt. Sie erhalten die Kinder dem Einflusse der Familie und des Öffentlichen Lebens, was für die spätere Selbständigkeit von unberechenbarem Werte ist. Sie drücken ihnen nicht den Stempel der Anstalt auf, wo vielleicht die Mehrzahl Idioten war. Reiche und arme Kinder können gemeinsam erzogen werden; hier sind kleine, segensreich wirkende allgemeine Volksschulen.

Früher hielten die meisten Eltern die Einschulung der Kinder für eine Schande, Gott seis geklagt, auch mancher Pädagog. Das hat sich aber, wie schon erwähnt, jetzt erfreulicherweise geändert. Selbst viele besser gestellte Eltern bringen uns ihre Kinder freiwillig. Von den 22 Ostern dieses Jahres Aufgenommenen waren 6 aus den Bürgerschulen und der Mittelschule Die Eltern sehen wohl ein, dass wie klug sein kein Ruhm, so geistig schwach keine Schande sein kann. Müsste sich sonst nicht auch jeder Krüppel seines Ge- brechens schämen? Freilich ist es zu beklagen, dass unsere Kinder noch viel

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unter dem Spott und Hohn nicht nur der normalen Kinder, sondern auch Er- wachsener leiden müssen. Es wäre eine dankenswerte Aufgabe der Schule, hier helfend einzugreifen. Denn die Hilfsschule treibt ein Werk, von dem das Heilandswort gilt: „Was ihr gethan habt einem meiner geringsten Brüder, das habt ihr mir gethan.“

Aber auch jede kleinere Stadt kann eine Hilfsschule errichten. Man rechnet auf 10000 Einwohner etwa 13—14 geistig schwache Kinder. Wie die Frage für die Landkinder zu lösen ist, bleibt der Zukunft überlassen. Sollte eine Lösung eintreten, so wird sie jedenfalls auf gleichem Wege wie die Taub- stummen- und Blindenerziehung zu finden sein.

Worin besteht nun die Individualität dieser Kinder? Die folgenden Ausführungen gründen sich auf langjährige Untersuchungen und Beobachtungen, welche seit 1890 in sogen. Schülercharakteristiken niedergelegt sind. Die geistige Schwäche, gewöhnlich Schwachsinn genannt, stellt sich dar als eine dauernde und wenn auch unheilbare, so doch zu mildernde Entwicklungshemmung der Seele, deren Ursache meist in abgelaufenen Krankheitsprozessen des Gehirns zu suchen ist. Diese Hemmung ist auf alle primären und sekundären psychischen Vorgänge ausgebreitet und äussert sich in Anomalien des Vorstellens, Fühlens und Wollens. Die geistige Schwäche ist oft mit körperlichen Begleiterscheinungen verbunden. Wer sich aber eingehend damit befasst, wird bald zu der Erkennt- nis kommen, welche geringe Bedeutung diese Zeichen an sich haben. Das be- weist die Untersuchung einer ganzen Anzahl hochgradig Schwachsinniger. Nur sobald die sogen. Degenerationszeichen mit psychischer Schwäche verbunden das Individuum belasten, bestätigen sie die Richtigkeit der Diagnose. Man kann darum oft nicht mit Unrecht sagen: „Je regelmässiger die körperliche Bildung ist, je weniger äusserlich krankhafte Zustände in die Erscheinung treten, um so mehr ist das Übel rein psychisch und um so schwieriger seine Behandlung“. Ich verzichte darum auf die blosse Aufzählung der Degenerationszeichen, hoffe aber, die wichtigsten später noch berühren zu können und wende mich den psychischen Erscheinungen zu.

Bedingt durch die elterliche Liebe und Hoffnung, ist es nicht auffallend, dass die geistige Schwäche, in den meisten Fällen angeboren,*) doch nur selten im verschulpflichtigen Alter erkannt wird. Und sobald wirklich das oder jenes Kind als „von Geburt an anders als die andern Geschwister“ bezeichnet wird. so will doch niemand an eine Schwäche des Intellekts, höchstens an eine Ab- normität des Temperaments glauben. Erst der Schuleintritt macht der Sorg- losigkeit der Eltern ein Ende und offenbart auch ihnen das Zurückbleiben ihres Kindes hinter gleichaltrigen.

Worin besteht nun die geistige Schwäche? Man hat lange geglaubt, dass mangelhafte Bildung oder Funktion der äusseren Sinnesorgane die Haupt- ursache bilde. Das ist aber auch nach unserer Erfahrung mehr als zweifelhaft, wäre auch wohl nicht allein im stande, eine allgemeine geistige Schwäche hervor-

*) Von 197 Kindern leiden 125 an angeborener geistiger Schwäche.

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zurufen. Der bisher gebräuchliche Ausdruck „Schwachsinn“ ist darum dem Wesen des Übels nicht entsprechend. Nach dem Stande der Wissenschaft ist es vielmehr wahrscheinlicher, den Grund in der Art der Perzeption, der Auf- ıahıne der Empfindungen, dieser ursprünglichen Seelenvorgänge zu suchen. Ich will hier auf die Darlegungen der wahrscheinlichsten Hypothese nach ihrer physiologischen Seite verzichten, sondern mich nur an die tbatsächlichen Er- gebnisse der psychologischen Beobachtung halten. Und diese bestätigen in schlagender Weise eine grosse Schwäche des Empfindungslebens, vor allem der Perzeption der Empfindungen. Sie sind äusserst matt und farblos und zwar nach allen ihren Eigenschaften. So kommt es, dass die Kinder stumpf und teilnabhmlos sind. Sie haben Augen und sehen nicht, Ohren und hören nicht, selbst dann noch, wenn ihre Entwicklung Fortschritte gemacht hat. Sie unterscheiden nur schwer die einzelnen Qualitäten und bleiben auch bierin wesentlich hinter den normalen Kindern zurück. Während diese z. B. beim Schuleintritt sicher die 6 Hauptfarben*) unterscheiden, waren von unsern 197 Kindern 75 dazu unvermögend oder es erschienen ihnen blau, gelb und grün als gleiche Farbenempfindungen. Besonders gelb war den meisten Kindern un- bekannt. Selten dagegen ist jegliche Farbenunempfindlichkeit und auch dann nur bei Idioten höchsten Grades.

Dieselbe Unterschiedlosigkeit herrscht auf dem Gebiet der Gehörs- empfindungen. Nur die wenigsten Kinder vermögen einen Ton oder gar eine Tonreihe bestimmt aufzufassen. Und wenn auch die Freude am Gesang nicht fehlt, so bleibt er doch bis in die höchste Klasse der Hilfsschule mangelhaft und bedarf steter Begleitung. Den gleichen Zustand beobachtet man im Gebiet der andern Sinne. Je niedriger sie stehen, um so geringer werden Qualitäts- unterschiede wahrgenommen oder ihre Feststellung unterliegt der grössten Mühe. Viele Kinder hatten keine Empfindung von eckig, rund, von glatt, raub, von bitter und sauer. Die meisten Empfindungen wurden mit schön und schlecht. bezeichnet, ohne damit jedoch eine Unterschiedlichkeit in einem Sinnesgebiet zu verbinden. Die Depression der Empfindungen findet sich auch im Gebiet ihrer Intensität, wenngleich erethische Individuen hierbei oft eine Ausnahme machen, Die Gefühlstöne sind von gleicher Beschaffenheit. Am deutlichsten tritt die Schwäche, wie oben angedeutet, im Gebiet der räumlichen und zeitlichen Eigen- schaften hervor. Entwickeln sich diese schon beim normalen Kinde schwer, so bleibt das geistigschwache darin weit zurück. Gestalt, Lage der Dinge zu ein- ander, ihre Entfernung, Grösse und die Zeitfolge werden beim Schuleintritt nur in geringen Fällen gekannt. Noch am Ende der Schulzeit bilden die Ent- wicklung und Verdeutlichung der hierzu gehörigen sprachlichen Begriffe das schwierigste Stofigebiet des Unterrichts. Wie leicht die Empfindungen bei längerer Dauer an Klarheit und Kraft einbüssen, wird jedem erinnerlich sein, der geistig schwache Kinder unter seinen Schülern hatte. Geradezu erschreckend ist die Indifferenz, sobald es sich um das Unterscheiden grösserer Kombinationen

*) Schwarz, weiss, rot, gelb, grün, blau.

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von Empfindungen verschiedener Sinnesgebiete handelt. Hier versagen nicht nur die meisten jüngeren, sondern auch viele ältere Kinder. So schrieben z. B. nicht weniger als 100 Schüler linkshändig zwangsweise Spiegelschrift, und da- bei konnten noch nicht einmal sämtliche geprüft werden, weil sie entweder nicht schreiben konnten oder mit der linken Hand normal zu schreiben gewöhnt waren, da die rechte verkrüppelt war. Es ist darum leicht erklärlich, dass dieses weite Gebiet mit den scharisinnigsten Metlioden zur Prüfung der Inten- sität des geistigen Lebens durchfurcht wird. Hier ist der Mutterboden, welcher die Keime des Denkens, des Intellekts birgt.

Die schwachen, undeutlichen Empfindungen verlieren wesentlich an Kraft, sobald sie in den Zustand der Vorstellungen übergeben. Viele erheben sich nie wieder über die Schwelle des Bewusstseins und bleiben vergessen. Wir beklagen mit Recht grosse Gedächtnisschwäche. Ausnahmen haben wir nicht wahrnebmen können. So bleibt der gesamte Vorstellungskreis dürftig. Die veröffentlichten Analysen de3 Gedankenkreises normaler Kinder offenbaren schon oit eine Armseligkeit, welche uns mit Schrecken erfüllt, wenn wir der vielfach stoffstrotzenden Lebrpläne der Unterklassen gedenken. Wie mangelhaft ist es aber erst bei unsern Kindern bestellt! Kaum über die einfachsten Verhältnisse der Familie, des Hauses, Hofes und der Strasse giebt er Auskunft. Oft weiss man kaum die Frage zu stellen, um eine Antwort zu erhalten. Nur wenige Kinder, und dann sind es auch wieder die erethischen, welche einen einiger- massen weiten Vorstellungskreis besitzen.

Nun denken Sie sich die Produkte dieses Vorstellungslebens! Ich will nicht die ganze Psychologie der Geistigschwachen entrollen, dazu fehlt die Zeit. Nur die für die späteren Ausführungen wichtigsten Punkte sollen besprochen werden. |

Die primitive, ursprüngliche Aufmerksamkeit ist infolge der Depression des Empfindungslebens recht matt und was noch wichtiger ist, von äusserst ge- ringer Dauer. Die willkürliche Aufmerksamkeit ist noch viel mangelhafter, dazu unsteter und springender bei aufgeregten Kindern. Es fehlt eben der kon- zentrierenden Vorstellung an sich steigernder Kraft, die gleichzeitigen Vor- stellungen und äusseren Reize zu verdrängen, die latenten Vorstellungen aber zu weiterer Kraftentialtung heranzuziehen, weil es an einem festgefügten und dar- um leicht reproduzierbaren Vorstellungskreise gebricht. Dazu kommt, dass die die Aufmerksamkeit begleitenden Spannungszustände der Muskulatur nicht imstande sind, die inneren Reize zu unterdrücken. Da man nun die Aufmerksamkeit oft als die Vorbedingung der Intelligenz bezeichnet, ist es nicht zu verwundern, dass man sie gerade zum Massstab bei der Klassifizierung der idiotischen Kinder gemacht hat.

Aus dem Gesagten geht hervor, dass die Assoziation der Vorstellungen besonders bei erethischen Kindern leicht lösliche, matte und kraftlose Produkte sein müssen. Und in der That giebt es kaum ein Gebiet, auf welchem die Schwäche sich so offenkundig zeigt, als hier. Wir können zwar das Assoziieren der Vorstellungen, nicht tlıatsächlich verfolgen, nur von ihrer Reproduktion rück-

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wärts schliessen. So erhalten wir die beklagte Thatsache. Sie erstreckt sich auf alle Verbindungen, nur die haften am besten, welche sich öfters wiederholten. Noch schwerer verknüpfen sich verschiedene Reihen zu festen Gebilden. Je inniger besonders das kausale Verhältnis ist, in dem die Glieder zu einander stehen, um so schwieriger geht ihre Verbindung vor sich. Aber noch ein Punkt verdient besonders unsere Beachtung. Die geistig schwachen Kinder gelangen nämlich nur mit grosser Mühe zu Bewegungsvorstellungen, wie sie die- selben auch nur mühsam den dazu gehörigen Bewegungsempfindungen assoziieren.

Sie zeichnen sich darum vor den normalen Kindern aus durch verspäteten Eintritt des Laufens, dürftiges Nachahmungsvermögen und mangelhafte Hand- fertigkeit jeder Art. Am auffallendsten aber tritt uns die Schwäche in den kompliziertesten Assoziationen, wie sie Sprache und Schrift erfordern, entgegen. Diesen Störungen in ihrer Ursächlichkeit nachzugehen, ist ebenso schwierig wie interessant. Gehen wir noch einen Schritt weiter zur Bildung von Begriffen, Urteilen und Schlüssen, dem eigentlichen Denken, so erweitert sicb die Kluft zwischen normalen und geistigschwachen Kindern immer mehr. Die Bildung von Begriffen ist hier äusserst mühsam und unsicher, wie sich in der Armselig- keit ihres Sprachschatzes zeigt. Urteilen und Schliessen geschieht fast nur nach der Analogie. Kausalitätsbedürfnis, welches bei normalen Kindern ebenso reizend wie quälend sein kann, geht unsern Kindern zum grössten Teile ab oder ist mühsam zu wecken. Und wenn sich bei erethischen Kindern wirklich einmal ein auffallendes Fragen offenbart, so ist es öfters eben nur ein Fragen, das auch ohne genügende Antwort weiterflutet. Was gesagt oder gelesen wird, gilt ohne eigenes Urteil für richtig, wird angeeignet ohne Besinnen. So bildet sich ein Vorstellungskreis, der mangelhaft gesetzmässig gefurcht, oftmals auch verkehrt gegliedert ist, und macht sie leider oft zur Zielscheibe des Spottes und Witzes.

Von der mangelhaften Reproduktion der Vorstellungen und Reihen ist schon die Rede gewesen. Nur stete Übung bringt hier befriedigende Resultate. Sie wird aber wesentlich erschwert durch die in physiologischen Verhältnissen mitbegründete körperliche und geistige Trägheit.

Die Apperzeption ist bei der Schwäche der Vorstellungen, des Gedächt- nisses, der willkürlichen Aufmerksamkeit und der losen Verbindung der Vor- stellungen und Reihen nur schwer erreichbar und bei der Einführung neuer Unterrichtsstoffe, beim Verständnis fremder Handlungen und Dinge, besonders, wenn es sich wieder um kausale Verhältnisse handelt, äusserst fühlbar.

Gehen wir über .zu dem Gefühlsleben unsrer Kinder. Dem Streite über Wesen und Entstehung der Gefühle will ich nicht nahetreten. Eins aber ist nicht zu leugnen, dass dieses Gebiet wenig entwickelt, mangelhaft ist. Die An- fänge desselben, welche in den Gefühlstönen der Empfindungen liegen, ent- sprechen noch einigermassen den gemeinhin an sie gestellten Anforderungen, doch zeigen sich hier und da Ausnahmen mit weitgehender Indifferenz. Wer freilich aprioristische Gefühlswerte annimmt, der wird bei diesen Kindern eine gute Entwicklung der höheren, intellektuellen Gefühle vermuten. Diese ent- wickeln sich aber stets parallel dem gesamten Vorstellungsleben. Das zu beob-

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achten, bieten unsere Kinder reichlich Gelegenheit. Nur die intelligentesten zeigen sich warmer Gefühlsäusserung fähig. Gewisse Gefühlsentartungen, wie Gefühlskälte, Roheit haben wir ıur in wenig Fällen zu vermerken und auch nur da, wo sich zu geistiger Verkümmerung häusliche Verwahrlosung gesellte. Am lebhaftesten bilden sich noch Gefühle, welche sich eng mit dem „Ich“ ver- knüpfen. Sie erfahren durch die verkehrte Behandlung der Kinder oft eine intensive Verstärkung. Es mögen bier Eitelkeit, Unsicherheit, Angst, Gefühl der Unselbständigkeit, Anhänglichkeit und wenn man es so nennen will, auch Dankbarkeit genannt sein. |

Mehr physiologischem Gebiet zugehörig, finden wir oft Ausgelassenheit, Un- bändigkeit, Ärger, Zorn, Wut aber auch Niedergeschlagenheit, Mutlosigkeit und übertriebene Furchtsanikeit. Es darf aber nicht verkannt werden, dass diese Affekte durch die sich meist gehenlassende Familien- oder verkehrte Schul- erziehung bis zu Krankheitserscheinungen verstärkt werden können.

Im Gebiete der Handlungen treten alle die hervor, welche durch Triebe hervorgerufen oder beeinflusst werden. Bei den phlegmatischen Naturen über- wiegt der Nahrungs-, bei den erethischen der Bewegungstrieb. Letzterer artet bei vernachlässigter oder verkehrter Erziehung in Wildheit und Verwilderung aus und führt oft einen geistigen Standpunkt herbei, welcher jede Erziehungs- möglichkeit auszuschliessen scheint. In vielen Fällen verleitete der Bewegungs- trieb in Verbindung mit der springenden Aufmerksamkeit und dem mangel- haften höheren Gefüllsleben zum Vagabondieren oder ziellosem Umherschweiten.

Das Wollen unsrer Kinder ist meist ein Sollen und erhebt sich wohl nur in wenig Fällen zum freien, energischen und charaktervollen Handeln, zum Handeln nach Grundsätzen. Die Entwicklung des „Ich“ erreicht nicht die Höhe wie beim normalen Menschen. Charakter im eigentlichen Sinne erwirbt das schwach- sinnige Kind nicht. Seine Entschlüsse. entweder beeinflusst vom guten oder schlechten Beispiel seiner Mitmenschen oder von dem eignen starken egoistischen Vorstelluugskomplex, sind kaum frei zu nennen. Und doch können wir nur wenigen Kindern die Verantwortlichkeit für einfache Handlungen abnehmen. Komplizierte Handlungen zu beurteilen, sind sie nur in Ausnahmefällen fähig. Sie werden darum auch nur iu ganz vereinzelten Fällen volle Selbständigkeit im Leben erlangen. Wohl ihnen, wenn sie nicht durch die Verhältnisse dazu ge- drängt werden. Die Vielgestaltigkeit des jetzigen sozialen Lebens bietet ihrer schwachen Intelligenz übergrosse Klippen. Es liegt die Gefahr eines Konfliktes mit dem Gesetze recht nahe. Man hat ja auch nicht mit Unrecht von einem nahen Verbältnis zwischen geistiger Schwäche und Verbrechen geschrieben. Be- ruhigend ist dagegen die Thatsache, dass geistig Schwache die Bahn des Schlechten ebenso leicht verlassen und dem Guten sich zuwenden wie umgekehrt. Ts kommt eben auf die Gesellschaft au. Die künftige Berufswahl hat auch das zu berücksichtigen. Ihr Glück findet einen sichern Boden in der Führung eines Stärkeren, im Schutze der Abhängigkeit. Schluss in nächster Nr.

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~- X. Konferenz für das Idiotenwesen ~ und Schulen für schwachsinnige Kinder. u | (Fortsetzung.)

Debatte. Kreisschulinspektor Weichert: Für These I bin ich, wenn Punkt 4 abgeändert wird in: zur Erhaltung und Förderung der Gesundheit. Bei These II kann ich mich nicht damit einverstanden erklären, dass für viele Jahre ein bestimmter Plan festgesetzt werde und dass die Zöglinge stets beaufsichtigt und jederzeit zur Arbeit angeleitet und angetrieben werden sollen. Die Erziehung ist doch auch darauf zu richten, dass bei den Zöglingen eine gewisse Selbständigkeit erzielt werde. Wenn aber ein Mensch von früh bis abends bemustert wird, erreicht er eine Selbständigkeit nie- mals. Ich bin auch der Ansicht nicht, dass man unsern Zöglingen die Spielerei voll und ganz nimmt. Gerade diese aus eigenem Antriebe hervorgegangene Arbeit halte ich für viel wesentlicher als wie die angelernte.e Das was die Zöglinge selbständig treiben können, verursacht ihnen die allergrösste Freude. In Leschnitz haben die Zöglingo Beete bekommen, auf welche sie pflanzen können, was sie wollen. Ich kann Ihnen nur verraten, dass die Zöglinge früh zuerst zu ihren Beeten gehen, und dass jede freie Zeit sie zu denselben führt: Ich meine also, da unsere Anstalten nicht bloss Bewahranstalten sein wollen, sondern Anstalten, welche die Zöglinge dem öffent- lichen Leben zuführen sollen, so muss man ihnen auch in der Arbeit eino gewisse Freiheit lassen, um sie zur Selbständigkeit zu erziehen. Zu These III: Ich glaube, der Referent hat sich selbst ergänzt, indem er erst von einseitiger Beschäftigung sprach und dann Abwechslung in der Beschäftigung wünschte Die Art und Weise der Beschäftigung muss sich lediglich nach dem Bedürfnis richten. In Industrie- bezirken wird sie eine andere sein „als in landwirtschaftlichen Gegenden. Die land- wirtschaftlichen Arbeiten halte ich für die gesündeste, beste und leicht verwendbarste. Ferner glaube ich, dass die meisten meiner Kollegen nicht der Ansicht des Referenten sind, wenn er sagte: Wir dürfen keine Bürstenbinderei treiben, dagegen Schlosserei, Tischlerei etc. Ein Tischler braucht eine viel grössere Fertigkeit als der Bürstenbinder. Das bisschen Material, das die Zöglinge wirklich dabei verschwenden, bringen wir durch die Arbeit der Anstalt wieder ein. Ich kann diese Arbeiten nur: empfehlen. Zu These III und IV: Wir müssen ein gutes Pflegepersonal haben, und alle werden glücklich sein, wenn ein geeignetes gefunden ist, das mit zu arbeiten versteht. Unsere Zöglinge sind eigentlich recht faul angelegt, von allein machen sie nicht viel. Sobald sie aber sehen, dass jemand mitarbeitet, dann machen auch sie gern und freudig mit. Besonders wenn der Leiter selbst mit anregend arbeitet, so fördert dies ausser- ordentlich.

Direktor Barthold: Ohne ruhmsüchtig zu sein, kann ich sagen, dass ich den ersten Gedanken zur Einführung verschiedener Beschäftigungen in unseren Anstalten angeregt habe. Der Mitbegründer der Kückenmühler Anstalten Gustav Jahn: sprach ‘damals (1. Konferenz) aus, dass jede Idiotenanstalt ein Stück Land haben müsse, um die Zöglinge zu beschäftigen. So allgemein darf man diesen Satz nicht aussprechen Nicht alle, nicht einmal der grösste Teil der Zöglinge kann bei der Landwirtschaft

verwondet werden. Die eigentlichen landwirtschaftlichen Arbeiten, die Baumzucht, die spezifisch gärtnerischen Arbeiten können die Zöglinge nicht verrichten. Ich war dafür, dass landwirtschaftliche und industrielle Arbeiten eingeführt werden müssten, einmal weil in der Landwirtschaft die Zöglinge nicht das ganze Jahr hindurch Beschäftigung finden, und weil wir unsere Zöglinge nicht einseitig, sondern möglichst vielseitig ausbilden wollen. Darum muss jedes Kind alle Arbeitszweige durchmachen, beim Leichten an- fangend und allmählich zu dem Schweren übergehend. Wir baben bisher gute Er- fahrungen damit gemacht. Ich möchte noch auf den Anfang der Ausführungen des Referenten zurückkommen. So gering in ihrer geistigen Bethätigung, wie Redner schilderte, stehen die Asylisten nicht. Ich kann bezeugen, dass unsere Asylisten sehr gern lesen, unsere Bibliothek rege benutzen. Auch brauchen wir sie nicht zum Briefschreiben anzutreiben, sondern wir müssen sio eher zurückhalten. Die ganze Beschäftigung bei ihnen betreibe ich von dem Gesichtspunkte, sie auf ihrem geistigen Standpunkto zu erhalten, sie vor sittlichen Verirrungen zu bewahren. Die Be- schäftigung denke ich mir nicht so, dass die Zöglinge immer unter unmittelbarer Aufsicht stehen. Namentlich wenn sie in der Gärtnerei oder Landwirtschaft arbeiten, müssen sie stundenlanz allein arbeiten. Wenn auch der Gärtner im Garten sich be- findet, so muss der einzelne seine Arbeit ohne Aufsicht machen können, sie müssen zu einer gewissen Solbständigkeit webracht werden. Wir brauchen bei unsern Arbeiten keine Rücksicht auf irgendwelche Konkurrenz zu nehmen. Wir arbeiten aus pädagogischen und finanziellen Gründen. Ich empfehle für jede Anstalt das Stuhl- flechten. Ich habe die Erfabrung gemacht, dass Zöglinge, die man zu keiner anderen Arbeit hat bringen könuen, das Stuhlflechten doch erlernt haben. Ferner empfehle ich die Bürstenbinderei, das Korbflechten, die Schreinerei, dann Gartenarbeit und möglichst ausgedehnte Ökonomie. Jo mannigfaltiger die Gelegenheit da ist, die Zög- linge zu beschäftigen, desto vorteilhafter ist es für die Anstalt. Immer habe ich betont, dass die Beschäftigung ebenso wichtig ist wie der Unterricht. Wenn beides geiingt, desto besser ist es.

Pastor Bernhard: Ich freue mich, dass meino Ausführungen ergänzt worden sind. Um Missverständnissen vorzubeugen, muss ich erwähnen: Wir haben eine Menge Beschäftigungen, aber ich will nicht, dass jeder Zögling in jedem Zweige be- schäftigt wird, sondern man muss in dem einzelnen Zöglinge die Gaben ausbilden, zu welchen er Neigung hat. Es kommt doch darauf an, die Zöglinge erwerbsfäbig zu machen. Bei einseitiger Beschäftigung werden sie leistungsfähiger und selbständiger. | Kreisschnlinspektor Weichert: Um zu einem Ziele zu kommen, schlage. ich vor, die Leitsätze abzuändern. Es sollen lauten:

Leitsatz I. 4. zur Erhaltung und Förderung der Gesundheit.

Leitsatz II. 2. bei den aus der Schule entlassenen Zöglingen während der

ganzen zur Verfügung stehenden Zeit, soweit nicht der körper- liche Zustand eine Beschränkung erfordert;

3. bei den wegen mangelnder Begabung vorzeitig aus der Schule Ent-

lassenen versuchsweise, aber mit geduldigem Ernst und Ausdauer.

' Die abgeänderten Leitsätze werden angenommen.

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Nebenversammlung für die Vertreter der Hilfsschulen. (Im Gewerbegerichtssaal.)

Vorsitzender Direktor Richter: Indem ich die erste Nebenversammlung der Vertreter der Hilfsschulen auf der X. Konferenz für das Idiotenwesen und die Schulen für schwachsinnige Kinder eröffne, begrüsse ich Sie herzlich und spreche Ihnen meine Freude und meinen Dank dafür aus, dass Sie so zahlreich erschienen sind, um an unsern Verhandlungen teilzunehmen, wenn auch viele nur als Hörer. Die Sache der Hilfsschulen ist nicht weniger wichtig, als die- jenige der Anstalten für Idioten, mit denen uns die gleichen Ziele zu gemein- samer Arbeit verbinden.

Ja, sie sind von ganz besonderer Bedeutung, als es sich bei den Hilfsschulen um grössere Städte und zahlreiche Orte handelt, die eine grössere Zahl schwach- sinniger Kinder besitzen, ja eine so grosse Zahl, dass sie in den vorhandenen Anstalten gar nicht aufgenommen werden könnten. Um auch diesen Ärmsten gerecht zu werden und ihnen eine ihren geistigen Kräften angemessene, allge- mein menschliche Bildung zukommen zu lassen und für später ein menschen- würdiges Dasein möglich zu machen, hat man in den verschiedensten Städten mehr und mehr Schulen für schwachsinnige Kinder errichtet, und ihre Zahl wächst von Jahr zu Jahr. Es ist das ein Beweis dafür, wie notwendig man solche Einrichtungen aus allgemein menschlichen und bürgerlich praktischen Rücksichten hält; und so liegt in ihrem Dasein zugleich der Beweis ilırer Be- rechtigung.

Aber die Daseinsberechtigung legt den Hilfsschulen auch die Pflicht auf, durch ihre Einrichtungen den Bedürfnissen möglichst zu genügen, die sie hervor- gerufen haben, um aus dem anfänglichen Versuchen und Experimentieren zu einer festen Gestalt zu gelangen, die sowohl vor der Wissenschaft besteht, als auch den Anforderungen des Lebens entspricht. Je nach den örtlichen Ver- hältnissen und nach dem Verständnisse und der Opferwilligkeit, die die Gemeinden der Sache entgegenbringen, wird es oft längere Zeit brauchen, ehe sie alle Wünsche befriedigen und allen Anforderungen genügen kann.

Aber auf die Ausgestaltung, den inneren Ausbau der Hilfsschulen muss unser Hauptaugenmerk und unsere Hauptsorge gerichtet sein, sei es auch nur, um ein ideales Ziel zu gewinnen, dem wir entgegenzustreben haben.

Was in dieser Beziehung noch zu wünschen ist und zu thun übrig bleibt, das soll uns in dieser Stunde beschäftigen; und ich gestatte mir daher, Herrn Schulrat Dr. Boodstein zu bitten, das Wort zu dem uns freundlichst zugesagten Vortrage zu nehmen:

Fromme Wünsche für den weiteren Ausbau der Hilfsschule.

Hochverehrte Anwesende! Ich muss zunächst an Ihre Nachsicht appellieren, wenn ich hier das Wort ergreife. Es hängt das damit zusammen, dass ich als Wirt der Versammlung ein recht reichliches Mass von Geschäften zu besorgen hatte, und, da ich mich

13 auch zu den Schwachbegabten rechnen muss, weil ich mit meiner Arbeit nicht ganz fertig geworden bin, seien Sie so gut, und nehmen Sie vorlieb mit dem, was ich Ihnen auftischen werde und was ich leider nicht alles zu Papier bringen konnte. Wenn ich daher manches Weitere nur in möglichster Kürze vor- bringen werde, so gehen Sie nicht zu scharf mit mir ins Gericht. Für spätere Drucklegung des Vortrags werde ich vielleicht das Gesagte ergänzen und aus- führlicher begründen.

Wie ich dazu kam, mich zu dem Vortrage zu melden, hat folgende Be- wandnis. (Gegen Anfang des Jahres schrieb der Herr Vorsitzende der vorigen Konferenz an mich: es wäre doch notwendig, dass möglichst rasch die Tages- ordnung festgestellt würde, damit er dann dieselbe rechtzeitig veröffentlichen und zu der Versammlung einladen könne. Ich teilte ihm nun mit, was ich ihm von hier aus damals schon sagen konnte; aber 3/, Jahre im Voraus alles etwa Vorzuführende zu bestimmen, sei allerdings in unserer schnelllebenden und stetem Wechsel der Erscheinungen unterworfenen Zeit ein bisschen viel verlangt. So war ich leider auch nicht in der Lage, über Wetter und dergl. Auskunft zu geben. Wenn das der Fall gewesen wäre, hätte ich es besser einzurichten versucht. Kurz und gut, die Sache ging so vor sich, dass wir hin- und her korrespondierten, bis mir im März Mitteilung gemacht wurde, dass noch gar keine Anmeldungen für Themata über die Hilfsschulen vorlägen; und angesichts dessen fasste ich mir ein Herz, ein Thema zu übernehmen. Es weiss ja ein jeder, der innerhalb der Frage steht, wo ihn der Schuh drückt. Da kündigte ich denn an, ich würde über einige fromme Wünsche für den Ausbau der Hilfsschulen sprechen und ich habe die Sache natürlich auch im Kopfe herumgetragen; aber da die Sorge für unsere Hilfsschule nicht mein einziges Geschäft ist, sondern meinerseits noch einiges andere nebenher zu thun ist, wurde die Sache immer hinausgeschoben. Zuletzt drang auch mit Rücksicht auf die Konferenz eine solche Masse von Geschäften auf mich ein, dass ich, wie gesagt, nicht alles Empfundene niederschreiben konnte. Ich werde deshalb hernach, wenn ich mit meinem ausgearbeiteten "Konzept fertig bin, noch einige weitere Gedanken vortragen, und dann üben Sie, so bitte ich, ein gnädiges Gericht.

Dass „fromme Wünsche“ solche sind, die, wenn auch vielleicht ganz gut und heilsam, sich nicht ganz leicht verwirklichen lassen, ist ziemlich bekannt. Ob es sich aber verlohne, ibre Verwirklichung anzustreben, ist Sache der Er- wägung und des Versuchs. Meist werden solche Wünsche und Forderungen deshalb auch von Theoretikern ausgesprochen; die Praxis aber wird zu ent- scheiden haben, ob auch hier das Wort gelte: „Leicht beieinander wohnen die Gedanken; doch hart im Raume stossen sich die Sachen“. Fassen Sie mich des- halb, meine Damen und Herren, der ich thatsächlich nicht fortlaufend inner- halb der Praxis der Hilfsschule stehen kann, immerhin getrost als Theoretiker auf; erwägen Sie aber gleichzeitig, ob nicht einzelnen der Gedanken ein brauch- barer Kern innewohne, dem zur Entwickelung geholfen werden könne. Glückt der Versuch nicht oder nicht so, wie er gedacht ist: nun dann mag er wieder aufgegeben oder anders angefangen werden. Bei einer so jungen Schulgattung,

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wie unsere Hilfsschule ist, fällt die Eiche gewiss nicht auf den ersten Streich und gerade bei ihr gilt auch —. dass kein Meister also auch kem Schul- meister vom Himmel falle. |

Die frommen Wünsche sollen sich nach meinem Thema auf den weiteren Ausbau der Schule beziehen Das Wort Ausbau ist aber, was ausdrücklich zu bemerken ist, nicht vorwiegend im Siune einer Erweiterung nach aussen hin gemeint. \Was darüber erwogen werden muss, dass die Ergebnisse der Hilfsschulerziehung und des Unterrichts auch über die Schulzeit hinaus erhalten, gesichert, vermehrt werden, das soll ja auch nicht unbesprochen bleiben; fürs erste aber mag die Betrachtung der Ausgestaltung des Unterrichts in der Schule und ihrer Erziehung für das Leben gelten.

Ohne mich hierbei auf eine besondere Bestimmung der Begriffe „Unter- richt“ und „Erziehung“ einzulassen, da dieselben ja im wesentlichen feststehen dürften; ohne weiter auf die anthropologischen, psychologischen und ethischen Grundlagen für beide Begriffe genauer einzugehen, da ja auch für unsere Kinder gilt, was für alle anderen gilt, nämlich. dass aus wenigen, zunächst nur sinn- lichen Grundvermögen durch die Spuren äusserer Eindrücke sich nach und nach gewisse Vorstellungen, Empfindungen, Strebungen herausbilden lassen ; da endlich das Geschäft der Erziehung und des Unterrichts darin besteht, dass durch planmässige Einwirkung versucht wird, diese sinnlichen Grund- vermögen zu geistigen Anlagen und Vermögen zu entwickeln und so das Denken, Thun und Wollen zu beeinflussen; so werde ich mich lediglich darauf beschränken, a) die auch für Minderbefähigte geeigneten Darbietungsstöffe und Formen einer kurzen Betrachtung zu unterziehen, b) weiter gewisse Einrichtungen zu besprechen, welche es ermöglichen, dass auch Minderbefähigte nach und nach in den Stand kommen, eine gewisse Arbeit im Dienste der Gemeinschaft zu leisten, c) endlich ihrem Denken, Handeln, Wollen eine solche Richtung zu geben, dass sie innerhalb des Kreises, in den sie durch die Schicksalsmächte des Lebens gestellt werden, ihren Platz nach Massgabe ihres Könnens auszu- füllen sich bemühen.

Da aber weder die sorgsamst ausgewählten Stoffe und Darbietungsformen, noch die trefflichsten und zweckdienlichsten Einrichtungen an sich, noch endlich das ausgiebigste Üben und Gewöhnen, zumal bei einer immerhin nur be- schränkten Schulzeit eine Gewähr dafür bieten können, dass die erwünschte Wirkung eine ausreichend gefestigte und dauernde sein werde, um allen ent- gegenstehenden Einflüssen widerstehen zu können, so muss weiter erwogen werden, in welcher Weise auch über die Schulzeit hinaus ein Zusammenhang der bisherigen Zöglinge mit ihrer bisherigen Nährmutter gewahrt bleiben könne, damit der Zweck unserer Schulen sich erfülle, dass auch aus unseren minder- begabten Schülern und Schülerinnen vor allen Dingen treue, arbeits- und dienstwillige, gesittete und fromme Menschen sich nach und nach heraus- bilden, die doch wenigstens dazu beitragen können und wollen, für das be- scheidene Stückchen Brot, dessen sie für sich bedürfen, eine eigene Leistung dar- zubieten, und dass im weiteren in ilınen das bescheiden. Selbstgefühl geweckt,

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gestärkt und erhalten werde, dass sie doch nicht ganz unnütze Glieder der menschlichen Gesellschaft seien.

Dass mit diesen frommen Wünschen selbstredend sich auch die Forde- rungen an diejenigen steigern, welche sich in den Dienst der Sache stellen wollen oder gestellt baben, ist erklärlich: jeder neue Schritt auf der betretenen müherollen Bahn macht neue Anstrengungen nötig, setzt aber auch immer wieder höhere Grade im Besitze gewisser Eigenschaften voraus, ohne welche, selbst wenn man mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte alle Erkenntnis und wüsste alle Geheimnisse, in der Bildung unsrer Zöglinge doch nicht das Wesentliche und Wahrhaft-Nötige gewirkt werden könnte. Und des- halb möchte ich zum Schlusse noch einige Worte darüber sagen, wie die Lehr- kräfte in unseren Schulen beschaffen sein müssten.

So wird sich denn mein Vortrag in etwa 5 Kapiteln bewegen, deren ein- zelne Abschnitte nicht immer ganz zusammenhängen, da die mir gestattete halbe Stunde den Aufbau eines vollständigen Systems ausschliesst. Aber wie ich hoffe wird sich doch ein innerer Zusammenhang zwischen den Ab- schnitten und wenigstens die ernste Absicht, in den Seelen der uns anvertrauten Zöglinge lebendige Kräfte zu wecken, erkennen lassen.

Beginnen wir zunächst mit derjenigen Arbeit, die unserer Schulgattung die allgemeine Bezeichnung „Sohule‘‘ zueignet, dem Unterrichten, einer Arbeit, welcher von vielen Seiten eine weit höhere Bedeutung zuerkannt wird, als dem Erziehen. Denn wenn auch schon seit Comenius nur derjenige Unterricht wirklich gewertet wird, der zugleich erzieht (eine Schule ohne Erziehung ist eine Mühle ohne Wasser), so wird doch auch von treuen Lehrern, wie fast immer von den Eltern, der unterrichtlichen Thätigkeit der Schule die Hauptbedeutung zuerkannt, da an der Erziehung ja doch auch eine Reihe von anderen Faktoren mitwirken, während das eigentliche Lehren und Lernen der Schule vorbehalten sei. Ist nun eine solche Auffassung, selbst wenn man dem Rechte der Eltern und der anderen Erziehungsfaktoren durchaus nicht zunahe treten, wenigstens durchaus nichts ihnen wirklich Zustehendes abbrechen will, unter allen Um- ständen und für alle Schulgattungen, die als Erziehungsschulen gelten wollen, zu bedauern, so ganz besonders für die Schulen unsrer Art, da gerade bei den minderbegabten und schwachsinnigen Kindern der rein unterrichtliche Ein- fluss auf so grosse Schwierigkeiten stösst, dass sie ohne anderweitige Beihilfe fast unüberwindlich erscheinen. Weshalb haben denn Idiotenanstalten und An- stalten für Schwachsinnige von jeher einen so grossen Wert darauf gelegt, dass ihre Zöglinge aus aller sonstigen Verbindung, selbst aus derjenigen mit dem Elternhause, losgelöst werden, als weil sie sich gesagt haben, dass ihre ganze unterrichtliche und erziehliche Arbeit in Frage gestellt werde, wenn die Zög- linge neben demjenigen der Anstalt auch noch anderen Einflüssen ausgesetzt würden? Weshalb lehnen denn auch Schulen für normalbegabte Kinder die Verantwortung für Fehlergebnisse ihrer eigenen Thätigkeit ab, sobaid sie fest- stellen können, dass Massnahmen und Einflüsse nicht gewünschter Art ihren unterrichtlichen und erziehlichen Erfolgen entgegenarbeiten? Weshalb befür-

16 worten sie nötigenfalls die Unterbringung solcher Zöglinge in anderen Erziehungs- gelegenheiten als Alumnaten etc? Das geschieht doch nur deshalb, weil beiden Arten von Anstalten der unterrichtliche und erziehliche Einfluss ganz untrennbar erscheint; weil beide sich sagen, dass kein Mangel sich schwerer räche, als der Mangel an Erziehung. Während aber bei Normalbegabten doch noch die Möglichkeit vorliegt, dass sie schliesslich, sei es durch fremde Be- lehrung, sei es durch eigenen Schaden gewitzigt, einlenken und auf bessere Bahnen geraten; ist eine günstigere Gestaltung ihres Lebensweges aus eigener Kraft bei Schwachsinnigen fast ausgeschlossen, weil sie, selbst unter dem Drucke empfindlichster Folgen, der Einsicht entbehren, um bessere Wege selbst zu finden. |

Deshalb erscheint bei keiner Art von Schulen die erziehliche Gestaltung des Unterrichts notwendiger zu sein als bei unseren Schulen. Wie ist aber solches zu machen? Wie ist es besonders mit Bezug auf die einzelnen Unter- richtsfächer zu machen?

Herr C. Ziegler-Idstein hat in zwei Aufsätzen, die in der Zeitschrift für die Behandlung Schwachsinniger abgedruckt sind, schon Antworten gegeben, die meiner Auffassung entgegenkommen, ja sich fast mit derselben decken, wenn ich auch vielleicht in der Begründung etwas von ihnen abweiche. Der eine Aufsatz (1898) ist betitel: „Die Kinder können zu viel“, der andere, (1900 veröffentlicht) enthält: „Die wichtigsten charakteristischen Grundsätze des Unter- richts bei schwachsinnigen Kindern“. Beide enthalten Wahrnehmungen und Eindrücke, die auch mir wiederholt zu teil geworden sind, und ziehen Folge- rungen, zu denen auch ich selbst gelangt bin, die aber, weil etwas zu sehr spezialisiert und im wesentlichen selbstverständlich, hier nicht wiederholt werden sollen, wenn ich sie auch solchen, die sich erst mit den Schwierigkeiten der ganzen Behandlung unserer Schüler bekannt machen wollen, zur nachdenklichen Durchsicht gern empfehle. Für mich erscheint der Inhalt der beiden Aufsätze zusammengefasst in die beiden Wünsche:

l. Es möge der Unterricht nach Stoff und Form so weit vereinfacht und dem Individuum so gut angepasst werden, wie nur irgend möglich, und

2. man möge die Lernstoffe sofort in Bildungsstoffe umzuwandeln streben, d. h. man möge darauf ausgehen, das, was äusserlich d. h. durch Vermittelung der Sinne angeeignet ist, zum inneren Besitz zu machen, so dass es das Denken und Reden, das Fühlen und Streben, und endlich auch das Thun und Lassen zu bestimmen vermag.

Angewendet auf die einzelnen Seiten der unterrichtlichen Thätigkeit denke ich mir letztere etwa folgendermassen gestaltet: Den Ausgangspunkt für jede Darbietung soll etwas sinnlich Wahrgenommenes oder Erlebtes bilden. Das- selbe hat vor dem gedächtnismässig Erlernten den grossen Vorzug, dass es eben erlebt, und nicht lehrhaft an den Schüler herangetreten ist; der Schüler geniesst so mit seinen Sinnen etwas und lernt es:kennen, ohne dass er sich des Lernens, welches bisher für ihn eine Beschwernis war, bewusst wird. Etwas Wirkliches tritt also an ihn heran; er lernt sehen oder die

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anderen Sinne gebrauchen; mit dem Gesehenen arbeitet er dann weiter, indem er veranlasst wird, genauer zu sehen, hier und da Gleiches oder Ähnliches (nach Stoff und Form und Farbe) zu finden und zu verbinden und zu be- schreiben kurz und gut: selbst zu sehen, selbst zu denken, selbst zu sprechen. Jedes Ding in der Schulstube, im Elternhaus, auf der Strasse, im Garten, in Wald und Feld; der Tisch und Stuhl, der Baum und der Pflaster- stein, der Draht, der über das Dach gespannt ist, das Zifferblatt an der Turm- uhr und noch alles mögliches andere kann, ohne dass der Schüler des Lehrers Absicht merkt, besehen, besprochen, beschrieben oder sonst nutzbar gemacht werden lediglich zu dem Zweck, dass der Schüler wirklich seine Sinne ge- brauchen lerne. Damit ist dann der Grund gelegt für die Bildung von Vor- stellungen, auf denen sich nach und nach andere aufbauen, die wiederum ver- arbeitet werden, um unmerklich den Anschauungskreis zu beleben und zu er- weitern. Wie mit den Sinnen wird auch hinsichtlich des Gebrauches der Glieder verfahren. Daran schliessen sich im Freien Übungen und Spiele, in denen bewusster und willkürlicher Gebrauch der Glieder stattfindet, bis nach und nach wie man sich militärisch ausdrückt, das Kind gliedfrei wird. Nach und nach kann so zu Schwererem übergegangen werden, und 80 kann das geschehen, was auch Herr Horrix-Düsseldorf in derselben Nummer der Zeitschrift, aus der ich den Ziegler’schen Aufsatz erwähnte, beschreibt: „Wie vermittelt die Hilfsschule die Fertigkeit, von der Uhr die Zeit abzulesen ?“

Also nicht die Zumutung, etwas vom Lehrer Gesagtes auf Treu und Glauben hinzunehmen; nicht die Forderung, etwas Nichtgesehenes und Nichterlebtes wiederzugeben; sondern nur die Anregung, die Sinne, die Glieder etc. zu ge- brauchen, und nach erlangtem Bewusstsein von ihrer Fähigkeit die sich stets erneuernde Anregung, das eine wie das andere zu weiteren Übungen, Ent- deckungen und Wahrnehmungen zu verwenden und so die oft ausserordentlich grosse Armut an Anschauungen zu beseitigen, ınöchte ich als etwas besonders Notwendiges betonen In dieser Hinsicht wird auch oft noch in den Hilfs- schulen gefehlt; oft stehen dieselben unter dem Banne der Gewohnheit aus den anderen Schulen, die wie ich an einer anderen Stelle einmal sagte in ihrem Grossbetriebe zwar der Allgemeinheit dienen, aber das individuelle Bedürfnis des schwächeren Geistes gar nicht berücksichtigen können, und so Kinder ohne Nahrung lassen, die der Nahrung, und zwar einer leicht ver- daulichen Nahrung, ganz besonders bedürfen. Daher nach und nach das fast völlige Versagen der Aufnahme- und Verarbeitungsfähigkeit, bis schliess- lich wegen dıs vollständigen Stillstandes die Schule sogar jeden Versuch aufgiebt, das hoffnungslose Arbeiten am Kinde fortzusetzen. Und das ist ge- rade das Bedenklichste, was unseren Schwachbegabten begegnen kann, sie links liegen zu lassen; deshalb fordere ich, dass an jedem einzelnen Kinde gethan wird, was nur irgend möglich ist, um seine Empfänglichkeit für Sinneneindrücke und dergleichen zu wecken und diese Empfänglichkeit zu beleben und zu nähren durch Anregung zu eigener Thätigkeit, weil nur auf so gepflegter Anlage sich dann weiter bauen lässt, und weil nur dann sich erkennen lässt, ob und wo

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irgend ein Talent sich verborgen halte, welches sich zum Besten des Besitzers weiter entwickeln liesse.

So scheint mir also notwendig zu sein, dass die Hilfsschule breche mit gewissen didaktischen Überlieferungen der stark gefüllten Klassen der Volks- oder anderen Schulen für Normalbegabte; dass sie sich jedenfalls nicht genügen lasse an dem unverstandenen Nachsprechen oder Nachmachen von mehr oder weniger mechanisch Eingeprägtem, vielmehr unentwegt Selbst- thätigkeit fördere nicht bis zur Übermüdung, nicht in irgendwelchem Über- mass, aber immer in einer Weise, welche die Lust an der Leistung und zur Leistung hervorrufe. Dass das nicht leicht sei, gebe ich gern und überzeugt zu; aber ohne Überwindung der bezüglichen Schwierigkeiten lässt sich nicht erzielen, was doch zu erstreben ist: das Gewöhnen an eine gewisse Thätigkeit und die Freude an solcher. Und die Möglichkeit dazu bietet eben die Eigen- artigkeit der Hilfsklassen, das Vorhandensein einer ganzen Anzahl von Gruppen und Abteilungen, welches zwingt zur häufigen Wiederkehr der Selbstbeschäfti- gung der Kinder, nachdem ihnen die erste Anleitung zu einer solchen jedesmal in ganz kleinen Dosen gegeben worden ist. Wie ich eine sehr hohe Meinung habe von der Verdienstlichkeit eines besonders tüchtigen Lehrers in einer ein- klassigen Schule, so verkenne ich gewiss die Schwierigkeit des Unterrichts in einer vielgliedrigen Hilfsklasse keineswegs, bin aber der Überzeugung, dass derselbe sehr nutzbringend werden kann, wenn die Gruppierung der Kinder eine solche war, dass freilich unter unablässiger Kontrolle des Lehrers die Verarbeitung und Verdauung der kleinen Portionen unablässig wechselt und so dem Müssiggang des Verstandes keinerlei Iaum gelassen wird. Ein reger Wechsel der verschiedenen Thätigkeiten verhindert hier und da unterbrochen durch ein gleichfalls den Geist beschäftigendes Spiel -— das Schläfrigwerden und Erschlaffen der Kinder. Dass der Lehrer dabei freilich nicht recht zum Atınen kommt, sondern immer auf dem Posten sein muss, ist nicht zu ver- meiden: die Stellen unsrer Lehrer können aber auch keine Sinekuren sein.

Verlangt aber dieses unablässige „in geistiger Bewegung halten“ der Kinder nicht zu viel von diesen? Ich glaube nicht, denn das Gegengewicht bildet der Wunsch nach möglichster Vereinfachung des Stoffes und der Form der Darbietung. Von den kleinen Dosen und Portionen im einzelnen ist schon oben gesprochen; ein gleiches ist geschehen betreffs des notwendigen Ausgangs- punktes, den stets sinnlich Wahrgenommenes und Erlebtes bilden sollen. Wird dieses beides festgehalten; geht man überall von Wirklichem, das man dea Zöglingen nahe bringt, aus, so vereinfacht sich das zu Erfassende (da ja die Betrachtung der Merkmale sich sehr beschränken lässt und durchaus nicht ge- raten ist, sofort den ganzen Tisch, den ganzen Baum u. s. w. der Betrachtung zu unterziehen) ganz erheblich, und es kommt nur darauf an, dass man durch Beschäftigung mehrerer Sinnesorgane, durch Gegenüberstellung und Ver- gleichung verwandter Stoffe den Anteil der Kinder, ihr Interesse an dem Dinge so lebendig macht, wie nur irgend möglich und es wird so eine

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Grundlage geschaffen, die nach und nach unverlierbar und doch wieder viel- seitig verwendbar wird. Ob man beim Tisch erst vom Stoffe ausgeht, aus dem er gemacht ist, oder von der Form, von den verschiedenen Teilen, der Farbe, dem Gebrauch, das wird von den Verhältnissen im einzelnen abhängen; kann man an das Entstehen der Bretter, die Werkstatt des Schreiners, das Hobeln, Anstreichen, Polieren und was da sonst noch geschehen muss, um den Tisch gebrauchsfertig zu machen, anknüpfen; kann man ein Tischchen (einen wagrechten und vier senkrechte Striche |] |T) zeichnen und zeichnen lassen, 8o ist damit die Möglichkeit einer schon recht vielseitigen Betrachtungsweise geboten und nicht nur der Gebrauch eines, sondern vielleicht zweier Sinne an- gebahnt, ohne dass dem Schüler der Gedanke kommt, dass ihm, wie ich oben sagte, die Beschwerde des Lernens zugemutet wird. Die Betrachtung weiterer wesentlicher oder zufälliger Merkmale schafft dann die Elemente eines Begriffs, zu welchem dann im Verlaufe der Zeit eine grosse Reihe andrer treten kann. Was ich hier gesagt habe, ist ja durchaus nichts neues; aber es ist das einzige Mittel den für Schwachbegabte besunders verderblichen Verbalismus (wo Begriffe fehlen, da stellt gar leicht ein Wort sich ein) fern zu halten. Nun ist das ja freilich nur ein allererster Anfang; aber ein solcher, der sich natürlich auch an anderen Stoffen unzählige Male wiederholen kann und zumal, wenn aus dem Zeichnen schiesslich auch ein Formen mit den einfachsten Mitteln wird (man denke an das Spielen der Kinder mit Lehm, Erde u. dergl.; auch die Handfertiekeitsschulen bieten in dieser Hinsicht eine Menge von abwechslungsreichen Darstellungsformen, die sie ge- funden und angewendet haben, an) de Grundlage für eine ganze Reihe von Thätigkeiten wird, die selbst eine sehr erhebliche geistige Schlaffheit anregend überwinden dürften. Er

Solche Tliätigkeiten können nun einer ziemlichen Anzahl von Unterrichts- fächern dienstbar gemacht werden, und neben dem Anschauen, Vorstellen, Be- greifen können sie für die sprachliche Entwiekelung, für das Rechnen, Zeichnen, Bilden und noch für dies und jenes andere nutzbar gemacht werden. Selbst- redend ist damit die Furderung der Vereinfachung des eigentlichen Unterrichts noch lange nicht gelöst, aber ein zwingender Fingerzeig gegeben für die Not- wendigkeit, in allen Fächern die Vereinfachung anzustreben. An Vorschlägen für solche Vereinfachung fehlt es wahrhaftig nicht Was hat man nicht schon darüber geschrieben, dass --- wegen der von Kindern, die lesen und schreiben lernen sollen, zu bewältigenden 3 Alphabete -— die Schriftzeichen nicht nur gemindert, sondern vereinfacht werden sollen. In der Zeitschrift: „Die Kinder- fehler“ findet sich ein dieser Frage gewidmeter Aufsatz von Trüper; er empfiehlt dort die Steilschriftt Auf dem Verbandstage für Schulhygiene in Wiesbaden hielt der dortige Rektor Müller einen Vortrag über die Einführung einer einheitlichen Schreib- und Druckschrift, Beseitigung der Kurrent-, Einfübrung der Kursivschrift und naturgemäss auch der Antiqua und so könnte ich noch manches erwähnen, was ja gewiss ganz vorteilhaft wäre, wenn nur die Leute überhaupt und besonders auch die Deutschen in solchen Dingen.

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sich so leicht unter einen Hut wollten bringen lassen. Man denke ans Rechnen und ans Lesen, diese Huuptbeschwerdefächer unserer Hilfsschulen' wie viele haben da nicht schon gemeint, durch Lehrmittel das Ei des Kolumbus gefunden zu haben und schliesslich war es oft nicht mal ein Ei, geschweige denn das des Kolumbus! (Heiterkeit) Sogar der Nürnberger Trichter will nicht vorhalten! Doch Spass beiseite; von der Pflicht, die thunlichste Vereinfachung anzustreben, befreien uns missglückte Versuche Einzelner noch lange nicht. Es ist ja auch nicht nötig, überall dasselbe Rezept anzuwenden; mag nur immerhin verschiedenes versucht werden, wie es die Gegend mit ihren Gewohnheiten mit sich bringt, wie es dem Gesichte des Lehrenden besonders ansteht, oder was dort besonders leicht zu erlangen ist. So ist es bei uns gemacht worden, und die kleinen Aufsätze in unserer Denkschrift geben darüber einigen Aufschluss. Dass hier bei uns allerlei bei uns gefertigte Stoffe gute Hilfe leisten (Weberei-Erzeugnisse in verschiedenen Mustern, Stoffen, Farben; Steinnuss- und Glasknöpfe, sogenannte Heuer und dergl. mehr) erklärt sich schon daraus, dass bei Kindern, deren Eltern an der Erzeugung oder Ver- wendung von dergleichen Gegenständen beteiligt sind, ein angeborenes hätte ich bald gesagt, besser aber ein anerzogenes und angewöhntes Interesse voraus- gesetzt werden kann, ein Umstand, der gewiss auch anderswo mitspricht, aber bei uns, weil es etwas bekanntes ist, den Übergang zum Unbekannten, aber Verwandten erheblich erleichtert.

Wenn ich im Anschluss an diese vom Handgreiflichen überall aus- gehende Behandlungsweise auch schon des Zeichnens erwähnte, so schwebt mir hier zugleich vor das neuerdings von zwei Brüdern aus unsrer Gegend, Otto und Albert Schneider, empfohlene Verfahren, welches in sehr sinniger Gliede- rung Vorlagen und Lehrgänge hergestellt hat, die sich auch in unseren Schulen sehr gut dürften verwerten lassen. Hier ist eine Handhabe geboten, wie die Thätigkeit des „malenden Zeichnens“ in den Dienst des Anschauungsunterrichts gestellt werden kann und dadurch nach Diesterweg sehr kräftig vorwärts bringt. („Es ist gewiss, dass, wer eine Stunde zeichnet, mehr für seine An- schauungskraft gewinnt, als wer zehn Stunden bloss sieht.“)

Kann man nun nach manchen Richtungen aus eigener Erfahrung be- stätigen, was von einem reichsländischen Lehrer in der „Elsass-Lothringischen Schulzeitung“ als wahrgenommen mitgeteilt wird (Aufsatz: „Wie erklären sich die vorzüglichen Leistungen vieler unserer Schwachen im Schönschreiben und Zeichnen?“), dass nämlich bei Schwachbegabten gegenüber den Normalbegabten

a) ein Übergewicht des Gesichts-, insbesondere des Formensinnes, und b) ein hoher Druck der Gemeinempfindung vorhanden ist, weil die Einzel- empfindungen und Vorstellungen nicht überwiegen; weiter, dass gerade c) die Armut an steigenden Vorstellungen bewirkt, dass die aufgenommenen Formen etc. treuer bewahrt werden, weil die Umbildung der ge- gebenen Formen infolge der schwachen Anlagen gehindert wird so ergiebt sich für uns die Pflicht zu erwägen, ob nicht in höherem Masse als

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bisher auf Schönschreiben, Zeichnen, kurz Wiedergabe von Formen müsse hingearbeitet werden.

Jedenfalls bestätigt sich auch innerhalb der verschiedenen Stufen der normalen Begabung die Wahrnehmung, dass, wer sehr leicht lernt, auch oft recht leicht vergisst, während derjenige, der langsamer im Erfassen und Ver- arbeiten ist, meist das einmal Erfasste ganz treu und für lange festhält. Auf Einzelheiten in dem Verfahren für die einzelnen darstellenden Fächer kann und will ich hier nicht eingehen, weil das zu weit führen würde; ich will auch die methodischen Gesichtspunkte der Herren Direktor Schwenk, Lehrer Puhrer und anderer, die in Versammlungen und Zeitschriften ihre Erfahrungen und Meinungen mitgeteilt haben, weder bestätigend noch kritisierend streifen. Weiter will ich auch über die Förderung der sprachlichen Bildungsfähigkeit mich nicht des weiteren ergehen, obwohl mir nicht unbekannt ist, dass dieselbe nicht nur oft sehr wenig entwickelt ist und oft ganz sonderbare Erscheinungen zeitigt, aber ich muss immer wiederholen:

Je einfacher der Unterricht nach Form und Stoff sich gestaltet und je mehr er dem Individuum angepasst sein wird, desto eher wird man dazu gelangen, die Lernstoffe wirklich in Bildungsstoffe umzuwandeln, d. h. bewirken, Jass nicht nur aufgezwungenes, sondern erworbenes Wissen, Können und Wollen vorhanden ist, welches innerhalb des ja vielleicht begrenzten Gesichts- und Wirkungs- kreises eine gewisse Anwendung gestattet.

Aus diesem Grunde halte ich auch für notwendig, dass der ganze Realien- unterricht also Heimat-, Natur-, Vaterlandskunde und was sonst noch hierunter begriffen werden kann das Gepräge der engeren Heimat zur Grundlage nimmt und dass hier an erster Stelle immer die Frage aufzuwerfen ist: Was bietet Aachen? Breslau? Altona? Hamburg? Elberfeld etc. in dieser Hinsicht? Ein Lehrer unsrer Taubstummenanstalt, Herr Seeger, hat in einem handlichen Büchlein den Zweck verfolgt, für seine Schüler darzubieten, was besonders für den erdkundlichen Unterricht von Wichtigkeit ist, um die Kinder wirklich ihrer Heimat kundig zu machen. Ich möchte das von Herrn Seeger für die Heimatskunde eingeschlagene Verfahren auch auf das bisschen Geschichtsunterricht anwenden, was wir bieten können, und stets Ausgang nehmen von etwa vorhandenen Denkmälern oder sonstigen im Orte befindlichen Erinnerungszeichen, da auch hier nur, was wirklich handgreiflich ist oder son mit den Sinnen erfasst werden kann, Eindruck machen wird. Nicht in die Ferne schweifen, nicht mit vielen Worten arbeiten, nicht an allgemeine Bildung und an übersichtliche Fırfassung etwa des Staatsbegriffes und der Bürgerpflicht denken, sondern sich an begrenztem, aber wirklich fassbarem, mit den Sinnen wirklich erfasstem und gründlich verarbeitetem Stoffe genügen lassen, bietet allein die Gewähr, dass bei diesem Unterrichte etwas heraus- kommt, was dem Anschluss an die grosse Gemeinschaft des Vaterlands und dem Gefühl der Zugehörigkeit zu derselben, ja aueh dem Bewusstsein ge-

wisser Pflichten gegen dieselbe und das anerkannte Haupt dieser Gemeinschaft ähnlich ist oder nahekommt.

Ähnliches auch für den Religionsunterricht zu wünschen, liegt sehr nahe. Leider wird in Bezug auf diesen viel zu viel mit dem Gedächtnis ge- arbeitet, viel zu viel aus Bibel, Katechismus, Gesangbuch wortgetreu auswendig gelernt und aufgesagt, und der beste Schüler scheint derjenige zu sein, der das Hersagen am fliessendsten besorgt. Fragt man aber: „Verstehst du auch, was du liesest oder gesagt hast?“, so bekommt man oft die merkwürdigsten Antworten, welche darthun, dass von einem einfältigen Verständnis gar nicht die Rede sein kann. Nun mag ja zumal für solche Kinder, welche demnächst vor der Gemeinde ihr Bekenntnis öffentlich ablegen sollen, das Auswendig- wissen gewisser Lehr- und Glaubenssätze nötig sein, damit sie sich nicht als ganz un:issend blosstellen und vielleicht eine unverdiente Beschämung erfahren. Aber gerade für unsere Kinder müsste doch die Unterweisung zur Gottesfurcht, Nächstenliebe, Treue auch im kleinen, kurz und gut zum praktischen Christen- tum ein anderes Gesicht zeigen. Auch hier wäre durchaus vom Konkreten auszugehen und aufs Konkrete hinzuarbeiten, damit später zutage trete kindliche Ergebung in Gottes Willen, Willigkeit dem Nächsten zu helfen und auch in allerlei Kleindienst die Pflicht bestmiglich zu erfüllen. Wenn in der Berg- predigt die geistig Armen selig sepriesen werden, weil das Himmelreich ihr Teil sei, so möge ihnen doch Jder Weg dazu recht handgreiflich gewiesen werden.

Dass auch noch andere Fächer in unserer Schule nutzbar zu machen sind, das ist ganz gewiss. Ich möchte hier z. B hinweisen auf die Pflege des Ge- sanges. In dieser Beziehung habe ich auch an einzelnen Schulen, die ich be- sucht habe, ganz Erfreuliches gesehen. Ich denke z B. an gewisse Erfahrungen in der Kölner Hilfsschule und möchte Ihnen eben noch sagen: wir thun wirklich nicht recht, wenn wir in unseren Hilfsschulen den Gesang nicht so gut pflegen, wie es immer möglich ist. Dabei verkenne ich nicht, dass solches für den musikalisch gebildeten und feinfühligen Lehrer manchmal eine etwas starke Zumutung ist, auch die Brummer und Kräher mit in den Kauf zu nehmen und gesanglich mit zu fördern. Aber auf der anderen Seite kann und muss ich immer sagen: Es bietet der Gesang auch wiederum einen Anlass, auf das Gemüt des Kindes erhebend und versöhnend einzuwirken, und deshalb ‘bin ich durchaus der Meinung, selbst wenn da und dort ein Kind dazwischen brummt oder dazwischen kräht und so den ästhetischen Eindruck etwas beein- trächtigt, man solle auch ihm den Mund nicht verschliessen. Man lasse es immerhin mitsingen; nach und nach wird sich auch ihm ein Melodiechen er- ‘schliessen. Singe, wem Gesang gegeben; es singe aber auch das Kind, dem ‘die Gesangsfähigkeit nicht gleich mitgegeben, denn der Gesang erfreut des Menschen Herz, und die Kinder in ihrer Arbeit fröhlich zu erhalten und ihnen ‘eine immer als Strafe empfundene Zurückweisung zu ersparen, ist sehr wichtig. 'Ich kann deshalb nur empfehlen, dass das Singen nicht beiseite gelassen wird. —-

Ebenso müsste man auch noch an andere Fächer denken. Z. B. lässt sich für Kinder, die sehr ungelenk sind und leicht die Ordnung stören,. ähnliches

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sagen betreffs der Teilnahme an Turnübungen, an Reigen und bei Spielen etc. Man dürfte niemand, bei welchem nicht körperliche Gebrechen die Teil- nahme ausschliessen, in Unmut über seine Ungeschicklichkeit zurückweisen, Wie sollen sie denn sonst zur Herrschaft über ihre Glieder gelangen? | Nun komme ich zum zweiten. Punkte, der die eigentliche Erziehung be- trifft. Diese ist in dem Vorhergesagten zwar schon mannigfach berührt worden, aber ich kann die Wiederholung dessen nicht unterlassen, dass ich gerade die Erziehung für sehr viel wichtiger halte als den reinen Unterricht, und. deshalb habe ich auch beim Unterrichten immer wieder den Hauptnachdruck darauf gelegt, dass auf die Bildung des Willens, auf das Thun und Treiben des Kindes ein ganz besonderes Gewicht gelegt werde. Natürlich gilt dies auch betreffs der Art und Weise, wie z B Zucht gehalten wird in der Schule. Ich bin durchaus: kein Freund davon, dass die Kinder in der Hilfsschule immer nur mit Samthandschuhen angefasst werden; aber dass gerade hier die möglichst freundliche Anregung von grösster Bedeutung ist, das ist ganz sicher. Ich las vor einiger Zeit in dem 5. Jahrgang aus „Höhen und Tiefen“ in einer kleinen Erzählung, einer Volksgeschichte aus der Schweiz, welche betitelt ist: „Die Schweigerin“, einen netten Satz, der mir selbst zu denken gab, und den ich auch nach der Richtung hin für unsere kinder empfehle. Die Schweigerin war die Frau eines Mannes, der erst mancherlei Irrwege ge- wandelt, aber durch die Art und Weise, wie sie ihn behandelt hatte, schliesslich doch zu einem recht ordentlichen und angesehenen Mann geworden war. Diese Frau unterhielt sich mit ihrem Manne u. a über die Erziehung eines Kindes und sagte: ‚Du tadelst zu viel, du korrigierst zu viel. Nun liegt aber nicht im Wort die Macht. sondern im Wesen. Wenn der stille, sanfte Wandel, von dem der Apostel Paulus spricht, nicht wirkt, dann wirkt eben nichts mehr. Das ist eine klare Sache.“ Ganz ebenso denke ich mir die Sache in unserer Hilfsschule. Wenn den Kindern darin lange Reden gehalten werden, so hat das schlechterdings nicht die geringste Wirkung Ich bin durchaus davon überzeugt, dass nichts übler angebracht ist und zugleich den Kehlkopf des redelustigen Lehrers mehr anstrengt, als eben das viele Reden. ‚Also nicht so viel tadeln, nicht zu viel korrigieren, nicht an die Macht des Wortes gerade solchen Kindern gegenüber glauber, sondern vor allen Dingen mehr an den unmittelbaren persönlichen Einfluss, der in dem stillen sanften Wandel liegt, welcher den Kindern schliesslich die Überzeugung beibringt; so musst du auch werden. > Es giebt nun auch Anstalten und ich babe in einer Zeitung von einer solchen gelesen wo, ich möchte sagen, eine ganz republikanische Ver- fassung eingeführt ist. Diese Anstalt kommt verwahrlosten Kindern zu Gute ‘und wird im Staate New-York von einem reichen und kinderfreundlichen Privat- -manne unterhalten. Hier wählen. die Kinder sogar alle Beamten selbst, so dass. sie. von ihren. eigenen Beauftragten regiert, verwaltet, beaufsichtigt werden und es, wenn sie wollten, in der Hand hätten, nur solche Genossen zu wählen, ‚von denen sie wüssten, dass diese bei allen Ungehörigkeiten, ja Schlechtigkeiten

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meata e ee e o u o e

sicher wenigstens ein Auge zudrücken würden. Dem soll aber durchaus nicht so sein. Was von dem alten ägyptischen Könige Rhampsenit erzählt wird, der einen schlauen Dieb zu seinem Eidam und dann zu seinem Nachfolger machte, das soll auch hier zutreffen. Wenn es von jenem Nachfolger Rhampsenits in einem Gedichte heisst: „Wenig, sagt man, ward gestohlen unter seinem Regimente“, das soll auch in jener Kinder-Republik zutreffen; es soll dort ein ganz strenges Regiment geführt werden und das hauptsächlichste Zuchtmittel sein: die Einwirkung auf das Ehrgefühl. Die Republik hat auch ein eigenes Parlament, welches Gesetze giebt; wie schon erwähnt, eine völlig eigene Ver- waltung, welche bestraft und die Aufsicht übt, und es sind, wie behauptet wird, von den 700 Mitgliedern dieser Jungen-Republik nur 2 wieder in ihr früheres verbrecherisches Wesen zurückgefallen. Wir haben es ja, Gott sei Dank, nicht mit Verwahrlosten, sondern mit Geistig-Armen zu thun. Sollte aber nicht auch bei uns der Grundsatz nicht Furcht, sondern Ehrgefühl sein können ? Dass das Ehrgefühl eine sehr mächtige Triebfeder für das Handeln sein kann, dürfte nicht bestritten werden. Ich möchte also auch für uns empfehlen, vielleicht auch bei unsern Kindern den Versuch zu machen, nicht durch Furcht, Strafe u. dergl. wirken zu wollen, sondern vor allen Dingen darnach zu streben, dass die Kinder Freude an ihrer Thätigkeit haben. Wenn sie wirklich die Zufriedenheit ihrer Lehrer zu gewinnen im stande sind, und wenn ein freundliches Wort, ein freund- licher Blick sie lohnt, so ist es möglich, dass das viel länger im Gedächtnis bleibt und besser wirkt als irgend ein anderes Zuchtmittel.

Es gehört aber noch mancherlei anderes zur materiellen und sittlichen Hebung der Schüler, und deshalb empfehle ich hier noch einmal, dass die Kinder möglichst frübzeitig zur Arbeit angehalten werden. Auf diese Weise werden sie praktisch die wirtschaftliche Bedeutung jeder Arbeit kennen lernen, ob sie nun eine Arbeit sei für sich selbst, oder hier und da für einen anderen und schliesslich auch für die Gesamtheit. Bisher ist solches in unserem Schulbetrieb noch nicht genug gepflegt worden, wenn es auch schon gelegenlich zu Tage trat und auch wiederholt Früchte zeitigte. (Ich verweise hierbei auf Einzelheiten, die in unserer Denkschrift erwähnt sind und feststellen, dass Kinder sich willig finden liessen, bei Bedarf unaufgefordert anderen hilfreich zur Seite zu stehen, obne dass sie an eine Belohnung dachten.)

Weiter muss selbstredend auf anderes hingewiesen werden, was auch die eigene sittliche Hebung der Kinder befördert. Ich nenne hier nur den Tier- schutz, die Tierpflege und für Knaben wie für Mädchen auch die Pflanzen- pflege und ähnliches. Das führt mich selbstredend auf Einrichtungen, welche ich für unsere Hilfsschulen für durchaus nötig halte, nämlich auf die eines Schulgartens. Die Bedeutung solcher kleiner Gärten kann man wirklich als Hilfsmittel für die Erziehung zur Arbeit, zur Pflanzenpflege, zur Bethätigung in frischer Luft etc. nicht genug schätzen, und können wir in dieser Hin- sicht von einzelnen Idiotenanstalten recht viel lernen. Wir hatten auch bei unserer Hilfsschule einen solchen Versuch gemacht, aber die Ungunst der Ört- lichkeit bat ihn nicht recht aufkommen lassen. Wenn, wie bei uns geschah,

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an einem Mauereckchen einige Beetchen angelegt werden, so finden diese keinen richtigen Grund und Boden. Wenn aber dort nichts recht ordentlich wächst, so erlischt bald die Freude daran und die Neigung zur Fortsetzung. Gleichwohl müsste der Versuch, vielleicht an geeigneterer Stelle, erneuert werden, und hilft uns der ausgesprochene fromme Wunsch doch vielleicht noch dazu. Für kränk- liche Kinder, für gedeihliche Anregung in sonstigen Lernpausen, ja auch als eine Art von Ergänzung zum Haushaltungsunterricht und auch zur ästhetischen Erziehung der Kinder könnte derselbe gute Dienste leisten.

Was nun die weitere Körperpflege der Kinder anlangt, so haben wir schon in anderen Vorträgen gehört, dass bei sehr vielen Kindern die geistige Leistungsunfähigkeit zum Teil zusammenhängt mit der ausserordentlich mangel- haften Körperpflege, die die Kinder noch haben, bezw. in früherer Zeit gehabt haben. Deshalb halte ich es für notwendig, dass seitens der Schule soweit möglich auch nach dieser Seite hin einige Fürsorge getroffen werde. Zwar haben wir in Elberfeld einen Verein, der während des Winters dafür sorgt, dass arme Kinder zum zweiten Frühstück bei manchen Kindern mag es gar das erste Frühstück sein warme Milch und Weissbrot bekommen. So dankenswert solches ist, so reicht es doch noch bei weitem nicht aus, um das was das Haus vermissen lässt wirklich zu ersetzen. Deshalb müsste hierin noch mehr gethan werden; bei der nicht zu grossen Zalıl bedürftiger Kinder würde solches nicht unerschwinglich sein. So könnten wir vielleicht manche Kinder auch gesundheitlich zu retten versuchen, weil thatsächlich manche von ihnen wegen der fortlaufend kümmerlichen Beköstigung im Hause nicht nur körperlich immer mehr verkümmern, sondern auch wegen ihres geschwächten Körpers wenig Hoffnung auf geistige Hebung gewähren.

Dass der Arzt gerade bei der Hilfsschule mitwirken und möglichst viel herangezogen werden muss zur Beratschlagung betrefis der Behandlung der einzelnen Kinder, versteht sich ganz von selbst. Hoffentlich werden wir iu kurzer Zeit in der Lage sein, hier in erweiterter Weise die Mitwirkung von Schulärzten zu erlangen, und dann hoffe ich, dass es bei uns so sein wird, wie beispielsweise in Braunschweig, wo der Arzt der treueste Berater und Freund gerade von unserer Art von Schulen ist. Dass bei solchem Zusammen- wirken von Schule und ärztlicher Kunst grosse Vorteile für die einzelnen, der ärztlichen Pflege bedürftigen Kinder entstehen können, bedarf einer Begründung nicht, zumal wenn zwischen beiden kein Streit darüber entsteht, wer herrschen solle, sondern wenn beide bereit sind zu dienen.

Weiter würde ich es für wünschenswert halten, wenn unseren Kindern, besonders den Mädchen, ein klein wenig Anleitung auch in hauswirtschaftlicher Beziehung gegeben wird. Wir haben ja hier an manchen Stellen schon solche Schulküchen eingerichtet und finden dieselben ja auch bei den Müttern einen recht erfreulichen Anklang. Wäre es da zu viel verlangt, dass eine in aller- bescheidenster Form eingerichtete Küche auch mit uuserer Schule irgendwie verbunden werde? Durch diese Schulküche könnten wir dem oben ausge- sprochenen Wunsche nach Beköstigung gewisser Sorgenkinder unserer Schule

ze.

Rechnung tragen und zugleich bewirken, dass die im letzten Schuljahre stehen- den Mädchen einige Anleitung erbalten, die einfachsten hauswirtschaftlichen Geschäfte auszuführen. Wenn wir für normalbeanlagte Mädchen in solcher Weise zn sorgen für nötig halten, so erscheint es doppelt nötig für unsere Hilfsschülerinnen, weil gerade diese in der Wahl ihrer Lebensthätigkeit viel beschränkter sind als jene.

Sie sehen, meine Damen und Herren, es giebt so manches noch, was bier zu erwägen wäre. Haben wir nun zuletzt an gewisse Einrichtungen gedacht, die die Mädchen berücksichtigen, so möchte ich auch gewisse Wüusche aussprechen, welche sich der Knaben annehmen. Dass ich darauf eingehe, hängt mit un- erfreulichen Erfahrungen zusammen, die wir betrefis der letzteren oft machen. Während die Mädchen im Hause leichter Verwendung finden, ist der Haupt- tummelplatz der unbeschäftigten Knaben die Strasse. Dass die Strasse aber cerade unsere Kinder besonders gefährdet, besonders sittlich gefährdet, hängt damit zusammen, dass unsern Kindern nicht nur oft das richtige Urteil, sondern sogar der richtige Instinkt fehlt, zwischen guten Gesellen und bösen Buben zu unterscheiden. So lassen sich manche als die Dummen bisweilen zu sehr zweifelhaften Handlungen verleiten, und ich muss leider berichten, dass auch in neuerer Zeit einzelne derselben in die richtige Verbrecherlaufbahn gerieten, natürlich die Schule schwänzten und so ihren Lehrern den höchsten Kummer verursachten. Wie nun helfen? wie nun retten?

Das einzige Mittel, sie aus dem Sumpfe zu ziehen, ist, dass wir ihnen eine Unterkunft bieten, in welcher sie neben etwas Leibespflege auch Arbeit und Aufsicht finden, die sie vor weiteren Fehltritten zu bewahren sucht. „Arbeit im Knabenhort“, das ist das Stichwort eines weiteren frommen Wunsches.

Ich halte es für notwendig, dass wir erstreben, was mir vor beinahe 30 Jahren in den Wiener Musterschulen ganz besonders gefallen hat: die An- bringung von kleinen Handfertigkeitsgelegenheiten, wenn kein anderer Raum zur Verfügung steht, dann im Schulzimmer selbst. In Wien waren an den Wänden Tischplatten angebracht und kleine einfache Werkzeuge befestigt. In dieser Werkstatt erstanden unter den Händen der Kinder diejenigen Sachen, die für die Schule oder für das einzelne Kind als Handwerkszeug notwendig waren. Arbeitszeit waren einige Stunden schulfreier Zeit; kleine Spiele, ein einfacher Imbiss, ein Glas Milch, ein freundliches Gesicht der Lehrenden waren die Lock- mittel. Ich bin der Meinung, wenn auch wir das erreichen und auf diese Weise für die unversorgten Kinder mitsorgen können, so schaffen wir in dieser Art von Knabenbort eine sehr wichtige Gelegenheit, die Kinder nicht nur zu bewahren, sondern auch zum Arbeiten zu gewöhnen, was ja wenn Müssig- sang aller Laster Anfang ist der Anfang werden kann für eine gedeihliche löntwickelung zur Brauchbarkeit im bürgerlichen Leben. Was in Leipzig so günstig wirkt, Könnte auch anderweit gute Dienste leisten.

Was geschieht aber mit den Kindern nach ihrer Entlassung aus der Schule? Dass damit unsere Thätigkeit. nicht abgeschlossen sein darf, ist klar: was für die Normalbegabten als Notwendigkeit gilt, Fürsorge und Fortbildung

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nach der Schulzeit, ist für unsere Kinder nicht zu entbehren, ja erst recht nicht zu entbehren. In dieser Hinsicht ist noch ausserordentlich viel zu thun, und wir dürfen die Hände nicht in den Schoss legen. Wenn Braunschweig in dieser Beziehung sehr erfreulich vorgegangen ist und besonders die Fürsorge für unsere Entlassenen immer weiter auszudehnen beabsichtigt (ich habe hier einen Vortrag des Herrn Kiellorn aus der Zeitschrift für Jugendfürsorge, worin alle möglichen und sehr vorteilhafte Vorschläge gemacht werden), so dürfen andere Städte mit ähnlichen Verhältnissen damit nicht zurückbleiben. Denn wenn irgend etwas notwendig erscheint, so ist es der Schutz gerade der Schwach- begabten in wirtschaftlicher, in rechtlicher, in militärischer, unter Umständen sogar in strafrechtlicher Hinsicht. Hier kann ich nur empfehlen, was vor längerer Zeit schon Herr Wintermann-Bremen in Heidelberg empfohlen bat. Es sollen für die Schüler bei ihrer Entlassung aus der Schule Haus und Schule zusammenwirken. Die Schule soll Rat geben, soweit sie irgendwie kann, bei der Berufswahl der Kinder; die Schule soll auch, soweit es geht, für die geeignete Unterbringung der Kinder sorgen. Sie kennt ja die Kinder oft viel genauer betreffs ihres Könnens und Wollens als die Eltern, sie lässt sich auch nicht verblenden durch augenblickliche Vorteile; ibre einzige Sorge ist, dass ihre Zöglinge wohlgeraten. Doch nun genug mit der langen Reihe meiner Wünsche; wenn sich überall Bestrebungen regen zur Fürsorge und Fort- bildung der männlichen und weiblichen Jugend, sollten wir da für unsere Kinder unthätig bleiben? Mein Wunsch wäre, dass sich bei uns, aber auch anderswo überall für die aus der Hilfsschule entlassenen Kinder ein Mittelpunkt bildete, an den diese sich fort und fort wenden könnten, sobald sie Rat und Schutz und Hilfe nötig haben.

Der letzte Punkt meines Vortrags behandelt die Frage: Wie soll der Lehrer unserer Schule beschaffen sein? Ich will mich darüber ganz kurz fassen. Wohl weiss ich, dass z. B. in der Schweiz Kurse eingerichtet worden sind für Lehrer an Hilfsschulen. Diese Kurse haben eine Instruktion entworfen für die Ein- führung des Lehrers in seinen besonderen Beruf; es ist in diesen Kursen ver- sucht worden, die Lehrenden für die Sache selbst zu begeistern und sie anzu- weisen, wie sie das persönliche Interesse des Kindes anzuregen haben und noch anderes mehr. Das ist gewiss ganz schön, denn ohne Anleitung, ohne Beispiel, ohne eigene und fremde Erfahrung will es nicht gehen; ich möchte aber zugleich sagen, was not thut in erster Linie, das ist die geeignete Persönlichkeit. Gewiss schätze ich theoretisches Wissen, Psychologie und Psychopathologie und auch die sichere didaktische Methode hoch; aber bei unseren Schülern thut die Gelehrsamkeit, die grosse Geschicklichkeit und Findigkeit des Lehrers es nicht; sondern in erster Linie thut es das warme Heız, der scharfe Blick und die un- ermüdliche Geduld, diese drei Eigenschaften sind durchaus an erster Stelle not- wendig. Zwar gilt es auch zu erkennen, welche psychologischen und patho- logischen Verhältnisse die geistige Entwickelung des Kindes gehemmt haben, welche Familien- oder sonstigen Verhältnisse den Stumpfsinn herbeigeführt haben; aber für die Behandlung reicht dies nicht aus. Jedes Kind muss

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erkennen, der Lehrer ist nicht bloss für die ganze Klasse da, sondern auch für dich, und für dich hat er eine ganz besondere Teilnahme. Es muss fühlen, dass, wie jedes Pflänzchen seinen Tropfen Regen und seinen Sonnenstrahl haben muss, um zu gedeihen, so auch dass der Lehrer sein warmes Herz jedem Kinde zu gewähren bereit sei. Nur so wird der Lehrer im stande sein, das Kind festzuhalten und dauernd zu fesseln, ohne zugleich das Gefühl zu erwecken, dass von ibm nur durch gewaltthätigen Zwang ein Erfolg erwirkt werde. Un- ermüdliche Geduld und Selbstverleugnung muss er besitzen und, unbeirrt durch den Mangel an Erfolg, den Stumpfsinn so recht durch seine Güte zu überwinden suchen. Rezepte, diese drei Eigenschaften zu gewinnen, giebt es natürlich nicht; wer aber die Menschen liebt, der wird sie auch studieren und so aus dem lebendigen Beispiel sich manche Lehre ziehen. Mittel hierzu bietet das Studium von Lebensbeschreibungen von hervorragenden Leuten. Da findet man eine ganze Reihe von Winken und Erfahrungen direkter und indirekter Art, aus denen man sich das scheinbar Passende aussucht. Sn wird dann das einzelne Kind nicht eine Nummer, sondern ein ihm von Gott anvertrautes Wesen, das er zu pflegen hat mit allen Geistes- und Herzenskräften. Was ich damit meine, das ist schön ausgesprochen in einem Worte von Profegsor Friedrich Paulsen in Berlin: „Was wirkt in der Jugendbildung wesentlich und wahrhaftig? Die lebendige Teilnahme des Lehrers für die Sache und für die Schüler! Sie weckt lebendige Kräfte in den Seelen. Der Lehrplan thut’s nicht; die voll- kommenste Methode und der schönste Gesinnungsstoff ist tot an ihm selber. Noch weniger thut’s Aufsicht und Kontrolle. Der Mensch thut’s, der, selbst von der Sache erfüllt, den der Menschenseele eingeborenen Trieb zum Wahren, Guten, Schönen zu wecken weiss.“

Nach dieser Richtung möchte ich wünschen, dass alle Lehrenden, die in unserer Sphäre wirken, (und wenn ich auch meist nur von Lehrern gesprochen babe, so schliesse ich die Lehrerinnen durchaus nicht von unserem Werke aus), sich bethätigen möchten. (Lebhafter Beifall.)

Debatte. Vorsitzender Direktor Richter: Sie haben durch Ihren Beifall dem Redner Ihren Dank bereits zu erkennen gegeben; auch ich spreche dem Herrn Schulrat Dr. Boodstein für seine aus warmem Herzen kommenden Ausführungen zum Wohle und Gedeihen unserer Hilfsschulen meinen herzlichen Dank aus. Er hat uns in seinem Vortrage soviele schätzenswerte Anregungen und Ratschläge geboten, die wir zum Vorbild gerne mit in unsere Schulwerkstätten nehmen, um sie praktisch zu be- thätigen. Ich möchte nun diejenigen, welche zum Vortrage das Wort ergreifen wollen, bitten, sich zu melden.

Sanitätsrat Dr. Berkhan: Ich möchte dem Vortrage nur wenige Worte hinzu- fügen. Es erscheint mir als ein Haupterfordernis bei der Erziehung schwachbefähigter und schwachsinniger Kinder, sie möglichst arbeitsfähig zu machen. Es ist also beim Unterrichte soweit als möglich die praktische Seite hervorzukehren mit Rücksicht auf die spätere Stellung des Kindes im Leben. Der Unterricht hat sich seinen geringen geistigen Fähigkeiten anzupassen und ist möglichst einfach zu gestalten. Ein wichtiges Mittel,

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den Anschauungskreis der Schüler vielseitig zu bilden, sind die Schulwanderungen in Stadt und Land. Durch dieselben lernen sie vor allem Gewandtheit im Gebrauch ihrer Glieder und Sinne und durch sorgsames, scharfes Beobachten eine genaue und sichere Kenntnis der verschiedensten gewerblichen Arbeiten und Thätigkeiten der Landleute. Auf diese Weise wird der Anschauungsunterricht durch wertvolles Material bereichert, das der Schüler schnell und mit Lust aufnimmt.

Hauptlehrer Strakerjahn: Ich möchte sagen: Die Menschen suchen viele Künste und komme immer weiter von dem Ziel. Bei der Ausgestaltung unserer Hilfsschulen kommt es weniger auf die erwähnten äusseren Mittel, als vielmehr au die Beachtung der wichtigsten didaktischen Grundsätze der allgemeinen Pädagogik an. Wenn in ersterer Beziehung mehr geschehen soll als bisher, so möge dies von anderer Seite, z. B. von den Eltern, Schulfreunden etc. in die Hand genommen werden, damit nicht, sonderlich bei der Speisung armer Kinder, in diesen das beschämende Gefühl entsteht, als ob ihre Eltern dazu nicht mehr in der Lage seien. ‘Die Haupt- sache wird immer die Arbeit in der Schule selbst sein.

Schulinspektor Timm: Bei uns in Essen ist es den Eltern nicht freigestellt, ob sie ihre Kinder der Hilfsschule überweisen wollen oder nicht. Das ist Sache des Schulvorstandes und der Schuldeputation, und ich halte es für selbstverständlich, dass diese das Recht haben, die Kinder einzuschulen, mag die Schule heissen, wie sie will, da sie nach genauer Prüfung der geistigen und körperlichen Anlagen and Fähigkeiten der Schwachsinnigen daza am besten im stande sind. Ich möchte hierbei anfragen, ob nicht ein gesetzlicher Zwang bei denjenigen Eltern angewandt werden darf, welche sich hiergegen stränben? Ich meine doch! Sodann erwünsche ich betreffs der Organi- sation unserer Hilfsschulen gerne zu erfahren, in welcher Richtung wir unsere Hilfs- schulen am besten weiter ausbauen, ob drei- oder sechsklassig? In Essen haben wir ein dreiklassiges System für evangelische und eines für katholische Kinder, während | in Elberfeld beide Konfessionen in einem vorhanden sind. Dazu besteht hier ein Doppelkursus für die Unterstufe. In dieser Hinsicht möchte ich gern von Ihnen hören, ob es wünschenswert ist, diese Organisation auch für die Oberstufe einzurichten?

Schulrat Dr. Boodstein: Ich möchte der vorgerückten Zeit wegen empfehlen, alle diese Fragen vielleicht heute bei der Tafel im Privatgespräch zu erledigen. Es ist nicht ratsam, hier weiter darüber zu debattieren, da im Kuppelsaal eine wichtige Abstimmung stattfinden soll, bei welcher man Ihre Anwesenheit nicht entbehren möchte. (Allseitige Zustimmung). |

Vorsitzender Direktor Richter: Ich schliesse hiermit die erste Nebenversammlung der Vertreter für Hilfsschulen. Fortsetzung in nächster Nr.

Mitteilungen.

Nieder-Marsberg. (Idiotenanstalt.) Mit dem abgelaufenen Jahre hat die Idioten- Anstalt das 20. Jahr ihres Bestehens zurückgelegt. Die Zahl ihrer Pfleglinge ist in demselben von 355 auf 384 gestiegen. 62 Kinder wurden aufgenommen, 33 kamen in Abgang. Im ganzen sind 417 verpflegt worden, 230 Knaben und 187 Mädchen. Davon gehörten 402 der katholischen Konfession an, 10 der evangelischen und 5 der jüdischen. Der jüngste Pflegling war 4 Jahre alt, der älteste 52. Von den Ent-

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lassenen waren 8 konfessions- und erwerbsfähig, 2 konfessionsfähig, 38 wurden gebessert, 1 blieb bildungsunfähig und 19 sind gestorben. Unterrichtet wurden 236 Kinder, 41 konnten nur beschäftigt und 125 nur verpflegt werden. Von besonderem Interesse war folgender von dem Anstaltsarzte Dr. Herwig beschriebene Fall von Thyrcoid- tabletten-Behandlung: „B D. geboren am 11. Dezember 1885, stammt aus einer ebenen Gegend der Provinz, wo seine Eltern Landwirtschaft betreiben. Erblicho Krankheiten, Trunksucht in der Verwandtschaft des Knaben werden geleugnet. Das Kind litt einige Tage nach der Geburt an Kinderkrämpfen, war geistig stets zurück und lernte spät sprechen und schlecht gehen. Seit dem 25. Februar 1895 befindet es sich in der Anstalt. Nach den Beobachtungen und nach der der Kur voraufgehenden genauen Untersuchung Ende 1899 war der Zustand folgender: Körperlänge 85 cm, Körpergewicht 40 Pfd. Starke myxematöse Schwellung, Bauchumfang 77'/, cm, Kopf (Schädel), besonders Hinterhaupt gross, spärlicher Haarwuchs, Nasenwurzel tiefliegond, Nase breit. Augenspalte klein, Strabismus, Lidränder gerötet. Wangen dick, Mund breit, Zunge gross. Zähne unregelmässig, Milchgebiss. Sprache undeutlich, raub, stammelnd. Walnussgrosse Drüse am rechten Kieferwinkel. Schilddrüse am Halse nicht füblbar; Haut am Hals und Körper trocken, runzelig. Herztöne beschleunigt. Unförmlicher Bauch, der beim Gehen und Stehen stark vorgestreckt wird; Blutadern bläulich durchschimmernd. Beine dünn und schwächlich. Füsse und Hände eisig-kalt. Linke Hand deform, Geburtsfehler-Stellung; Mittelfinger in Beuge: Contractur. Nahrungsaufnahme sehr gering, Verdauung träge. Zeitweise Enuresis diurna et nocturna. -— Aktive Bewegungen äusserst langsam; beim Gehen kommt er nicht von der Stelle und ermüdet leicht. Er sitzt am liebsten in seinom Sessel und hält die Spielsachen fest, ohne wesentlich damit zu spielen; er spricht selten von selbst und auf Befragen bekommt man nur langsam etwas heraus (sagt, wie er heisst und benennt einige bekannte Gegenstände). Im allgemeinen gutmütig und freundlich, kommt aber leicht ins Weinen und wird zornig, sobald ihm die Spielsachen genommeu werden. Ebenso zugänglich und empfänglich ist er für Schmeicheleien, Anerkennungen und Lob. Die Schilddrüsen-Therapie wurde vorsichtig begonnen und bei jeder kleineren Störung ausgesetzt. Der Knabe bekam zunächst nur cino Tablette 0,324 gr B. W. & Ko.) und daneben Solutio arsenicalis Fowleri in geringen Dosen. Später wurde auf 2 Tabletten, je eine morgens und abends, gestiegen und die Dosis: d Tropfon Fowlerscher Lösung nach dem Mittagessen, dauernd beibehalten. Die Kur wurde bis auf geringe Störungen, wie Appetitmangel oder Leibschmerzen, die höchstens einige Stunden anhielten, vorzüglich vertragen; im letzten halben Jahre kamen Störungen überhaupt nicht mehr vor. Die Wirkung machte sich alsbald bemerkbar. Das Myxoedem schwand rapide. Die Haut wurdo weich, elastisch und fühlte sich überall warm an. Das struppige spärliche Kopfbaar machte einem üppigen Haarwuchs Platz. Die Milchzähne ersetzten sich durch dauernde, die Zunge nahm an Volumen ab, besonders aber wurden Backen und Bauch mitgenommen; die Haltung und Körperform wurde dadurch etwas militärischer. Die Beine gewannen an Halt, und damit nalım die Beweglichkeit des Knaben von Tag zu Tag zu. Während er früher stupide dasass nder nach kurzer Bewegung ruhebedürftig war, wandert er nunmehr ohne Unterbrechung den ganzen Tag umher, spielt und unterhält sich mit den übrigen

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Zöglingen. Er ist immer freundlich, kommt dem Besuch lächelnd entgegen und reicht ihm die Hand. Bei der Mahlzeit übernimmt er das Servieren, giebt jedem sein Geschirr und reicht ihm die Gerätschaften. Geistig ist er überhaupt soweit, dass

im kommenden Frühjahr mit dem Unterricht begonnen werden kann. Auch in der Reinlichkeit ist erhebliche Besserung eingetreten; Enuresis wird ganz selten mehr beobachtet. Der Appetit ist vorzüglich, die Verdauung regelmässig. Die einzelnen

Körpermasse veränderten gich in erstaunlicher Weise.

Körperlänge stieg von 85 auf 102 cm. Leibesumfang ging von 77'), auf 60 cm herab. Das Körpergewicht sank von 40 Pfund auf 34 im April und betrug im Oktober 35'/, und stieg am Schlusse des Jahres auf 36 Pfund.“

M.-Gladbach. (Idiotenanstalt Hephata). In der hiesigen Anstalt ereignete sich im Oktober v. J. ein trauriger Vorfall. Ein hiesiges Blatt schreibt darübor unter dem 7. Dezember folgendes: Der seit dem 13. Oktober vermisste Knabe Johann Schütien wurde nunmehr als Leiche aufgefunden. Wie die gestrige Untersuchung ergab, haben zwei andere blödsinnige Knaben den Tod des Jungen veranlasst. Am 13. Oktober wurde der kleine Schütten von seinem Vater, einem Platzmeister aus Stockum, und seiner Tante besucht, da er an diesem Tage gerade Geburtstag hatte. Um 6 Uhr nachmittags meldete sich der Knabe dann wieder in der Anstalt bei seiner Abteilung. Nach einiger Zeit musste er austreten. Die Instruktion in der Anstalt besagt hierfür, dass ein älterer, einigermassen zuverlässiger Blödsinniger mitgehen muss. In diesem Falle war ein 13jäbriger Knabe der Begleiter. Dor kleine Schütten, der vielleicht durch den Besuch des Vaters etwas aufgeregt war, lief nun seinem Begleiter mebrmals fort. Dieser wurde darüber ärgerlich und kam auf den entsetzlichen Gedanken, das jüngere Kind in einen unbenutzten Speisenaufzug zu stürzen. Er glaubte, dass Wasser in diesem Schachte sei; wenn der Knabe darin liege, könne er nicht mehr weglaufen. Mit Hilfe eines 15jährigen, ebenfalls Llödsinnigen Knaben, wurde der unglückliche Junge dann an den Schacht herangezerrt und völlig entkleidet. Hierauf warfen die beiden Blödsinnigen den Kleinen in den Schacht hinein, später warfen sie die Kleider hinterher, schlossen die Thür des Aufzugs wieder und meldeten bei ihrer Abteilung, dass Schütten weggelaufen sei. Wie die Untersuchung und die gestern gleichzeitig vorgenommene Obduktion ergaben, ist der Knabe auf einen eisernen Balken gestürzt und hat Schädelverletzungen davongetragen. Er ist entweder gleich tot oder bewusstlos gewesen. Damit stimmt auch die Aussage der beiden Thäter überein, die auf eine Frage, ob der Knabe noch geschrien habe, autworteten: „Nein, Johann hat nichts mehr gesagt.“ Der Aufzug wurde seit Jahrzehnten nicht benutzt. Er befand sich in einer Art Kammer, die als Wandschrank verwandt wurde. Quer durch diese Kammer waren Latten angebracht, die aber weggenommen werden konnten, und die Thüre der Kammer war nicht verschlossen. Die Leiche war, wohl infolgo des Luftabschlusses, eingetrocknet, so dass der Verwesungsgeruch verhältnismässig gering war und in dem Aufzug nach oben, nach bem Speicher, stieg. So ist es erklärlich, dass die Leiche nicht früher gefunden wurde. Sie ist auch jetzt nur durch Zufall gefunden worden, da man vermutete, ein Besen sei in den Schacht gefallen. Die beiden Thäter, welche die That eingestanden und sogar näher erläuterten, zeigten für das Schreckliche derselben keinerlei Verständnis.

32 Litteratur.

Entwurf zum Ausbau der Hilfsschule zu Halle a. S. und ein Lehrplan für sie von Karl Kläbe, Lehrer an der Hilfsschule zu Halle a. S. Preis Mk. 1.20.

Vorliegendes Schriftchen kommt insofern einem Bedürfnisse entgegen, als es kurz alle Fragen bespricht, welche bei der Errichtung einer Hilfsschule und bei dieser selbst zu beobachten sind. Dasselbe ist aus der Praxis heraus entstanden und bietet demjenigen, der mit der Hilfsschule in irgend einer Weise zu schaffen hat oder sich für dieselbe auch nur zu interessieren beginnt, eine treffliche Handreichung.

Wir suchen für unsere nougegründete

Hilfsklasse für schwachbefähigte Kinder

eine geeignete, bereits vorgebildote

Lehrkraft.

Das Anfangsgehalt der hiesigen Lehrer beträgt 1100 Mk. und 300 Mk. Miets- entschädigung für die unverheirateten und 400 Mk. für die verheirateten Herren. Mit den gesetzlichen Dienstalters- und den Ortszulagen, welche von 5 zu 5 Jahren eintreten, steigt das Gehalt nach 30 Dienstjahren auf 2900 resp. 3000 Mk.

Bei nachgewiesener und angemessener Vorbildung soll dem in Frage stehenden Stelleninhaber ausserdem eine persönliche Zulage von 200 Mk. verwilligt werden.

Bewerber wollen sich unter Beifügung eines Lebenslaufes, einos Dienstzeugnisses der vorgesetzten Schulbehörde, der Zeugnisse über I. und Il. Lelıramtsexamen und eines physikatsärztlichen Gesundheitszeugnisses bis Ende Februar cr. bei uns melden.

Saalfeld, den 29. Januar 1902. Der Magistrat. Liebscher.

Evang. Lehrer,

seminaristisch und akademisch gebildet, 28 Jahre alt, mit dem Idiotenwesen vollkommen vertraut, da er bereits 3 Jahre als Lehrer und Erzieher an einer Idiotenanstalt mit gutem Erfolge thätig war, sucht, gestützt auf vorzügliche Prüfungs- und Amtsführungs- zeugnisse, sofort anderweite entsprechende Stellung. Gefl. Off, m. Gehaltsangabe unter „Lehrer“ a. d. Schriftleitung à. Bl. erbeten.

Inhalt. Wie wird die Hilfsschule der Individualität geistig schwacher Kinder gerecht? (E. Kannegiesser) X. Konferenz für Idiotenwesen und Schulen für schwach- sinnige Kinder. (Fortsetzung.) Mitteilungen: Nieder-Marsberg, M.-Gladbach. Litteratur: Kläbe, Entwurf zum Ausbau der Hilfsschule. Anzeigen.

Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden.

Druck von Johannes Pässler in Dresden.

~

a Ps;

Nr. 3 u. 4. l / AM DAU Jahrg.

Behandlung. Schwachsiniger und Enläfieher

Organ der Konferenz für das ; Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Dresden -Strehlen, für Nefvenkrankhelten Residenzstrasse 27. In Stuttgart.

Erscheint jährlich in 12 Nummern von ' Zu beziehen durch alle Buchhandlungen

mindestens einem Bogen. Anzeigen für | 1902 und Postämter, wie auch direkt von der

die gespaltene Patitzelle 25 Pfy. Litte- arz . Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, rarische Beilagen G Mark. | einzelne Nummer 60 Pfg.

Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

Wie wird die Hilfsschule der Individualität geistig schwacher Kinder gerecht? E. Kannegiesser, Hauptlehrer der Hilfsschule zu Erfurt. (Schluss.)

Es erhebt sich nun die Frage nach der Auswahl der geistig schwachen Kinder von den normalen. Nach welchen Gesichtspunkten findet sie statt? Diese Frage ist so wichtig, dass sie der eingehendsten Erörterung bedarf. Soll doch über die Zukunft eines jungen Menschenkindes die Entscheidung gefällt werden.

Die Auswahl der Kinder setzt. einen gründlichen Schulversuch voraus. Denn es giebt in der That normale Kinder, welche auf Grund individueller, seien es innerer oder äusserer Verhältnisse sich nur schwer in das Räderwerk des Schullebens einzufügen verstehen. Es wäre ein unentschuldbares Vergehen, sie als anormal geistig zu degradieren. Die Hilfsschule ist nur für die geistig Schwachen da. Die erste Auswalıl liegt also in den Händen der Volksschule, bezw. der Lehrer der Unterklassen, der Rektoren und Schulärzte. Bei verständiger An- ordnung des Stoffverteilungsplanes lässt sich auch mit den Schwächsten im ersten Vierteljahr ein Schulversuch wohl bewerkstelligen. Fällt der Verdacht geistiger Schwäche dann auf ein Kind, so bedarf es einer sorgfältigen Beobachtung seines geistigen und körperlichen Zustandes und seiner häuslichen Verhältnisse. Denn hier liegen oft grobe Ursachen einer angeblichen Schwäche, welche beseitigt werden können, ich erinnere an Erkrankungen der äusseren Sinnesorgane und des Sprech- apparates. Zeigt sich aber, dass ein Kind nach zweijährigem Schulbesuche gänzlich erfolglos am Unterricht teilgenommen hat, so ist der beste Beweis der geistigen

34 Schwäche erbracht. Länger zu warten wäre zum Schaden der ganzen Schule. Von den in den vergangenen 12 Jahren aufgenommenen 197 Schülern hatten 62 ein oder weniger, 128 bis 2 und mehr Versuchsjahre aufzuweisen. 7 Kinder traten ohne vorhergegangenen Schulbesuch ein.

Die der geistigen Schwäche verdächtigen Kinder werden nun wie bekannt im Februar und März eines jeden Jahres der Hilfsschule zur endgiltigen Unter- suchung zugeführt. Ihr fällt die wichtige Aufgabe zu, die wissenschaftlich nicht bestimmbare Grenze zwischen geistig normal und schwach praktisch so zu treffen, dass nur die geistig Schwachen Aufnahme finden, welche in der ‚Volksschule nicht zu fördern sind. Denn darüber darf man sich nicht hinwegsetzen, es giebt auch geistig schwach veranlagte Kinder, welche wohl ınit grosser Mühe, aber doch gerade noch das Ziel der Volksschule, wenn auch nicht der obersten Klasse, erreichen. Derartige Kinder, die oft nur im Rechnen oder in Orthographie minder- wertige Leistungen aufweisen, lehnt die Hilfsschule ebenfalls ab. Gottlob braucht das aber nur selten einzutreten.

Aber noch weitere Gruppen werden abgewiesen; es sind die epileptischen blödsinnigen, geisteskranken und bloss sittlich verwahrlosten Kinder. Eine Zeit lang werden sie zwar zur Probe aufgenommen, nach spätestens 2 Jahren aber entlassen. Das geschah in den vergangenen Jahren mit 1 Epileptiker, 11 Blöd- sinnigen und 1 Geisteskranken. Bloss Verwahrloste fanden nie Aufnahme. Eine besondere Stellung haben wir zu 6 krüppelhatten geistig normalen Kindern ein- genommen. Sie wurden von den Eltern der Schule zugeführt. Aus Barmherzig- keit haben wir sie behalten und denken zu ihrem Segen. So lange keine be- sonderen Erziehungsanstalten für sie errichtet sind, werden wir auch fernerhin derartigen Unglücklichen die Hilfsschule öffnen.

Nach welchen Gesichtspunkten findet nun die Untersuchung statt? Die angemeldeten Kinder werden durch unsern Schularzt, Herrn Sanitäts- rat Dr. med. Loth, einer eingehenden Untersuchung, besonders ihres körperlichen Zustandes und aller jenen Momente des psychischen Lebens, welche geistige Schwäche begründen könnten, unterworfen. Sie ist aber für die Aufnahme nicht ausschlaggebend. Denn die geistige Schwäche, der Schwachsinn, mit welcher wir es zu thun haben, wird nicht hauptsächlich charakterisiert durch körperliche Be- gleiterscheinungen, sondern wie schon früher hervorgehoben, durch eine Ent- wicklungshemmung des psychischen Lebens. Massgebend kann demnach nur die Fixierung des Grades derselben sein. Das ist Aufgabe der pädagogischen Unter- suchnng, welche schon ein wichtiges, wenn nicht das wichtigste Moment mit dem 2 jährigen erfolglosen Schulbesuch erbracht hat.

Worauf erstreckt sie sich weiter? Mit Rücksicht auf die vorhergegangene Charakterisierung der Individualität kann ich mich jetzt kürzer fassen. Sie untersucht die Fähigkeit des Kindes, Empfindungen und Verstellungen zu unter- scheiden. Diese Gebilde an sich sind noch kein Entwicklungsgrad, sondern erst die Feinheit, mit welcher ihre Unterschiede wahrgenommen werden, zeigt ihn an. Das geistig schwache Kind bleibt darin weit hinter dem normalen zurück. Das ergiebt sich aus Farben- und Formenkenntnis, Vertrautheit mit Lage,

Richtung der Dinge und ihrer Grösse. Auch die Schrift der linken Hand wird einer Prüfung auf zwangsweise Spiegelschrift unterworfen. Desgleichen ist der Grad von Geschicklichkeit und Beweglichkeit von Bedeutung. Es wird beob- achtet, wie die neue Umgebung wirkt, ob sie Neugierde erweckt oder gleichgiltig lässt. Auch seine sprachliche Entwicklung wird geprüft auf Sprachfertigkeit und Sprachverständnis. Charakter und Temperament offenbaren sich im Verkehr mit dem ihm fremden Lehrer: ob es ängstlich, still, bescheiden, zutraulich oder ungeniert und dreist ist, ob es verstört, verwirrt, unwillig und karg, oder sicher, klar und bestimmt antwortet. Der Vorstellungskreis wird ergründet nach Um- fäng, Inhalt und Art seiner Verbindungen. Die Untersuchung erstreckt sich auch auf die Fähigkeit, Kausalitätsverhältnisse einfachster Art zu verstehen oder ein Bedürfnis dafür zu empfinden. Zuletzt werden die vorhandenen Schulkennt- nisse geprüft.

Das alles sieht zwar recht einfach und harmlos aus, und doch ist diese Untersuchung nicht nur eine der schwierigsten, sondern auch verantwortungs- vollsten Aufgaben unsres Spezialberufes. Sie erfordert gründliche Kenntnis der Psychologie des Kindes und der pathologischen Erscheinungen seiner Entwicklung, Vorsicht und Geschick, sich das Zutrauen desselben sofort zu sichern, es nicht zu ermüden und aus einer Antwort viele zu lesen. Freilich wird die Unter- suchung manchmal erschwert oder verhindert, sobald das Kind erziehlich ver- wahrlost, ängstlich und verschüchtert erscheint, keine Antwort giebt oder geistig zu unentwickelt ist. In diesen Fällen verstehen wir uns lieber zu einer Ab- lelınung als Aufnahme, besonders wenn kein oder nur ein kurzer Schulbesuch vorliegt.

Haben ärztliche und pädagogische Untersuchung die geistige Schwäche eines Kindes festgestellt, so erfolgt die Aufnahme und Einreihung in die Schule. Die Aufnahme ist stets eine freiwillige und muss durch Unterschrift der Aufnahme- Bedingungen seitens der Eltern bescheinigt werden.

Wie wird nun die Hilfsschule der Individualität der geistig schwachen Kinder gerecht?

Sie wird ihre Aufgabe am besten erfüllen, wenn sie in erster Linie Er- ziehungsschule ist. So selbstverständlich uus diese Forderung erscheint, da sie durch die Erfahrung begründet ist, wird sie doch nicht allseitig anerkannt. Man behauptet, diese Kinder seien nicht zu erziehen, sondern nur abzurichten. Wenn sich das hier und da vielleicht auch nur auf hochgradig Schwachsinnige beziehen sollte, so müssen wir es doch ganz entschieden zurückweisen. Es fehlt hier jeglicher Maßstab, die Erziehung nach dem Objekt derselben zu bestimmen, nur für die Erfolg versprechenden Kinder zu reklamieren, die andern aber aus- zuschliessen. Sie sind ebenso wie normale Kinder erziehbar. Die Möglichkeit darf hier nicht vom Erfolg sich bestimmen lassen. Wer allerdings leichthin die Schwierigkeiten dieser Erziehung überschlagen wollte, verfiele einer argen Täuschung. Rechte Erzieher aber sind nie vor Schwierigkeiten zurückgeschreckt. Nnr die können die Möglichkeit der Erziehung leugnen, welche weder mit dem Wesen des geistig Schwachen vertraut sind, noch praktische Arbeit geleistet haben.

36

Unsrer Erziebung schwebt als lebendiges Vorbild die hocherhabene und doch so greifbare Gestalt unsres Heilands Jesus Christus vor, in dessen Wort und Wandel auch die geistig Schwachen guten Weg und sichern Halt finden können. Es wird nun freilich eingewendet werden, dass unsre Kinder wohl kaum zur Höhe der Selbstführung, der Selbsterziehung zum Ideal, in das Gebiet der Zucht kommen werden. Wohl recht! Aber die Möglichkeit dazu lehrt die Erfahrung. Darum sprechen wir ihnen auch nicht jegliche Verantwortlichkeit und Selbständigkeit ab. Die Weite des Weges bestimmt die Individualität. Sie lehrt uns erkennen, dass geistig schwache Kinder dauernd weit hinter normalen zurückbleiben. Die Erziehung hat sich daher meist in den Bahnen der Ge- wöhnung zu halten und wird nur vorsichtig in die der Zucht übergehen dürfen. Das ist oberster Grundsatz. Ihm müssen sich alle weiteren Massnahmen unter- ordnen.

Da die beste Gewöhnung im Familienverbande geübt wird, trägt die Schule den Charakter einer erweiterten Familie im eigenen Heime. Sie ist das Spiegel- bild des späteren Lebens. Sie fordert eine strenge Konsequenz ihrer Massnahmen in der Nacheiferung des Guten wie in der Verabscheuung des Bösen. Sie fordert unbedingten Gehorsam, ist mild und gerecht. Sie prägt sich dem Wesen des Kindes tief ein, das oft so arg verkümmerte Gemüt weckend und wärmend, den schwachen Willen kräftigend. Sie trägt seiner persönlichen Eigentüm- lichkeit Rücksicht. Die körperliche Erziehung verdient die grösste Auf- merksamkeit. Die Schuleinrichtungen haben den höchsten hygienischen An- forderungen zu genügen. Die Individualität lehrt uns im guten Vorbild ein wesentliches Erziehungsmittel erkennen. Ibm fügen sich alle Bilder, auch die Lehrerpersönlichkeit ein. Die Erziehung wecke das gesunkene Selbstgefühl und das Vertrauen zum Lehrer. Sie erprobe Arbeitsfreudigkeit und Selbständigkeit. Sie weise konsequent auf die Pflicht des Einzelnen gegen sich und das Ganze hin. Sie betone aber auch aus gleichen Grunde Bescheidenheit und Mässigung.

Aus dem Charakter der Schule als erweiterte Familie ergiebt sich auch die Pflege der Verbindung zwischen Schule und Haus und die Notwendigkeit: weiterer erziehlicher Veranstaltungen, wie Schulfeiern, Spaziergänge, Helferarbeit, Blumen- pflege, Spielstunden, Schulsparkasse, Schülerbibliothek, besonderer Konfirmanden- unterricht u. s. w.

Ich habe mich in diesen Ausführungen möglichster Kürze befleissigt, da ich einesteils nur das für die Berücksichtigung der Individualität unsrer Kinder Beachtenswerte hervorheben wollte, andernteils aber dem Pädagogen wenig Neues bieten kann.

Beharrend auf dem Standpunkte, dass die Hilfsschule um der Individualität der Kinder willen in erster Linie Erziehungsschule sein müsse, lassen wir nie- mand im Zweifel darüber, dass ung als bedeutungsvollstes Erziehungsmittel der Unterricht erscheint nach Ziel, Lehr- und Lektionsplan und Methode.

Ich werde auch hier nur das bitten, was der Hilfsschule eigentümlich ist, sie von den Schulen für normale Kinder unterscheidet.

Das Unterrichtsziel ist dem der Mittelstufe der Volksschule ungefähr

ER

gleich, steht im Rechnen darunter, in andern Fächern, wie Deutsch, Realien und Handfertigkeit darüber. Es bietet einen für das kleinbürgerliche Leben noch allenfalls ausreichenden und leicht zu erzielesden Abschluss.

Zur Erreichung dieses Zieles ist die Hilfsschule in 5 aufsteigende Klassen, die erste derselben in 2 Abteilungen gegliedert, so dass im ganzen 6 Stufen vorhanden sind. Die höchste Frequenz der untersten Klasse sollen 20, die der obersten Klasse 25 Kinder sein. Knaben und Mädchen werden zusammen unter- richtet. Wir befürworten das Klassenlehrersystem, aber nicht die Durchführung der Schulklassen, weil nur ein kleiner Teil der Neuaufgenommenen die Schule gleichmässig durchläuft. Massgebend für die Auswahl des Unterrichts- stoffes sind folgende Gesichtspunkte: Die geringe Entwicklungshöhe der geistig Schwachen fordert einen sorgfältig ausgewählten, nur das Notwendigste fürs Leben enthaltenden Lehrplan. Derselbe hat sich langsam und lückenlos aufzu- bauen. Er hat sich in allen seinen Teilen nicht wesentlich über die Grenzen der Heimat zu erheben, wie er hier seine weitverzweigten Wurzeln hat.

Da es bei unsern Kindern um die gewöhnlichsten Vorstellungen äusserst mangelhaft bestellt ist und jegliche Handtertigkeit sich langsam und schwer entwickelt, hat sich der Stoff auch nach diesen Gesichtspunkten zu ordnen. Anschauungsunterricht und Handfertigkeit sind die Grundpfeiler unsres Lehr- planes. Sie sind nicht nur im Prinzip, sondern auch als Fächer bis in die oberste Klasse stark vertreten, wo sich dann noch die Pflege der Leibesübungen anschliesst.

Der Anschauungsunterricht entnimmt für Klasse V demgemäss den Stoff der allernächsten Umgebung des Kindes, Stube, Haus, Hof, Strasse, Schule u. s. w., verbreitet sich über Stoft, Gestalt, Farbe der Gegenstände und dergl. Er ordnet sich ein dem Gange des Religionsunterrichts. In Klasse IV konzentriert er sich um die bekanntesten Heyschen Fabeln und in Klasse III um die Hölzelschen Anschauungsbilder der 4 Jahreszeiten, weitere Fabeln, Erzählungen und Lieder mit einschliessend. Hier endet er als gesondertes Fach.

Der Handtertigkeitsunterricht beginnt in Klasse V gleichfalls und ist bier durch das Stäbchenlegen aufs Innigste mit dem vorigen Lehrfach verbunden. Seine Bedeutung schätze ich sehr hoch. „Der Wert dieser Übungen liegt darin, dass das Kind die Gegenstände in den wesentlichsten Umrissen scharf aufzufassen und darzüstellen gezwungen wird. Auf diese Weise werden Vorstellungskraft und Gedächtnis bedeutend belebt, indem geschwundene Bilder aus dem Leben mit voller Frische und Verkettung wieder hervortreten; die Kraft der Ver- gleichung wird geübt, indem Gleichartiges unbewusst näher an einander tritt; der Kreis der Anschauungen und Vorstellungen wird geinehrt. Sodann ist nicht zu unterschätzen die ausserordentliche Muskelübung der Hände, Übung des Auges, welche dieser Unterricht mit sich bringt.“ Er vermittelt auch die Grundbegriffe der Formenlehre, welche später im Anschluss an das Zeichnen gewonnen werden. Im eigentlichen Handarbeitsunterricht stricken sowohl Mädchen wie Knaben aller- hand nützliche Gegenstände. Beide Fächer setzen sich in Klasse IV, Stricken bis in Klasse III fort. In Klassen III und II wird Stäbchenlegen durch das Flechten

38 farbiger Papierstreifen ersetzt, welches Farbenkenutnis vermittelt, Aufmerksamkeit und Überlegung übt und das ästhetische Gefühl bildet. In Klasse II beginnt das eigentliche Zeichnen als Netzzeichnen nach Stuhlmann, welches sich in Klasse I als freies Zeichnen ebener Gebilde fortsetzt. Wie wir uns aber hier- bei nicht an den gegebenen Lehrgang sklavisch binden, sondern Gegenstände und Figuren aus der Kinder Umgebung einfassen, so üben wir sie auch hierbei fleissig im Gebrauch von Lineal und Mass. Während in Handarbeit die Mäd- chen schon in Klasse II zum Nähen und Zeichnen übergeben und bis zur obersten Klasse üben, stricken die Knaben weiter allerlei praktische Gegenstände, z. B. auch Waschleinen. Ich kann mich dabei der Ansicht nicht verschliessen, dass wir das Stricken für Knaben, welches einst notgedrungen aufgenommen wurde, als nicht mehr zeitgemässe männliche Handfertigkeit vom Lehrplan allmäh- lich ausschliessen müssen, hoffe aber, dass schon von Ostern 1902 au Unterricht in Papparbeiten eingeführt werden kann. Er soll ebenfalls in erster Linie der allge- meinen Bildung und nur mittelbar der künftigen Berufsbildung dienen. Er soll dem Unterricht dienstbar sein nach dem Grundsatze: „Nur was man darstellen kaun, hat man wirklich geistig erworben.“

Da die geistig schwachen Kinder in zahlreichen Fällen mit Störungen det Sprache behaftet sind, ist für die Sprachleidenden der ganze Schule Artikulations- unterricht eingerichtet, dessen Lehrgang sich nach dem phonetischen Prinzip aufbaut.

Der Religionsunterricht geht von der Voraussetzung aus, dass die religiösen Vorstellungen, Begriffe und Gefühle, als die am spätesten und schwierigsten sich entwickelnden Seelenzustände, einer langsamen und sorg- fältigen Vorbereitung bedürfen und ihren ergiebigsten Nährboden im Familien- leben haben. Er kann nur den Kern der christlichen Lehre bieten, nämlich das Lebensbild unsres Heilandes. Alles, was nebensächlich ist, wird ausgeschieden. Wir gehen den allgemein bekannten Weg von Redecker & Pütz. Das Ver- hältnis des Kindes zu den Eltern ist ein Gleichnis unsres Verhältnisses zu Gott. Aus diesem entstehen die religiösen Vorstellungen, Begriffe und Gefühle, welche ihre anschauliche Grundlage wieder in jenem finden.

Als Überleitung dient das eine Märchen: Die Sternthaler. Ohne nun die Kinder in die ihnen völlig fremde und darum unverständliche Welt der alt- testamentlichen Geschichte zu führen, schliessen wir das Leben des’ Heilandes an, in Klasse V und IV Jugendgeschichten, in den oberen Klassen ein in kon- zertrischen Kreisen sich erweiterndes Gesamtbild gebend. Katechismus, Kirchen- lied und Spruch werden nur soweit berücksichtigt, als es sich unmittelbar aus der Geschichte ergiebt und als religiöses Bekenntnis unentbehrlich ist. So denken wir den Kindern ein durch kein Nebenbild geschwächtes Lebensbild des Heilandes, dessen Vorbild zur Nachahmung zwingt, gegeben zu haben. Die katholischen Kinder besuchen selbstverständlich den Religionsunterricht ihrer früheren Schule.

Im Deutschen bietet der Aufbau des Schreiblesestoffes erhebliche Ab- weichungen von dem andrer Schulen. Trotz jahrelangen Suchens ist es nicht

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möglich gewesen, eine unseren Anforderungen nur einigermassen genügende Fibel zu finden. Wir verzichten auf die Durchführung eines Prinzips. Die Individualität unsrer Kinder ist allein massgebend. Und sie verlangt gebieterisch ein langsames, lückenloses Fortschreiten vom Leichten zum Schweren und zwar so, dass nur stets eine Schwierigkeit auf einmal geboten wird, damit die Steigerung des Stoffes nicht die der psychischen Entwickelung, vor allen Dingen nicht die der Handfertigkeit überschreitee Wir behandeln demnach nach der reinen Schreiblesemethode, die auch uns als die einfachste erscheint, nacheinander S, i e ei n u. 8. w. Wir folgen also auch nicht vom Anfang an nur dem jetzt so stark betonten phonetischen Prinzip, da auch die Mehrzahl unsrer Kinder die Sprache nicht erlernt, sondern völlig beherrscht. Sodann gehen wir von 2 zu 3lautigen, von 1 zu 2 silbigen Wörtern vor, sinnlose Lautverbindungen meidend. Wir stossen uns in der ersten Zeit aber nicht daran,’ dass unser Sie, Lehm, Moos u. s. w. „si, lem, mos“ geschrieben wird. Der Stoff soll nicht mangeln. Das schwache Gedächtnis der Kinder schützt vor Gefahr. Es folgen dann Sätze mit 2, 3 und mehr Wörtern. Wir beschränken uns in Klasse V auf das Gebiet der Gleichschreibung und schreiben alle Wörter klein.

Klasse IV erlernt die grosse Schreibschrift mit einfacher Konsonanten- häufung, Klasse III die kleine und grosse Druckschrift und darnach die Anders- schreibung, welcher leider noch keine bessere Fibel zu Gebote steht, als die von Gabriel und Lupprian. Dann folgen in den nächsten Klassen Unter- und Mittelstufe des Lesebuches von Steger und Wohlrabe.

Das Aufschreiben wird von der untersten Stufe an aufs :orgfältigste ge- pflegt und ermöglicht von Klasse II an einfache Aufsätzchen auf die Tafel, in Klasse Į in ein Heft. Der Inhalt ist dem gesamten Lehrstoff entnommen und wird durch intensive Aneignung zur Darstellung fertig.

Über Musterstücke ist besonderes nicht zu berichten. Die Rechtschreibung wird nicht durch Regeln, lediglich durch Anschauung und Übung erlernt. Die Grammatik findet nur insoweit Berücksichtigung, als sie Rechtschreibung und einfachste Stilübung unterstützt. Die Schrift richtet sich nach dem Neveschen Alphabet unter Wahrung der individuellen Anforderungen.

Der Rechenunterricht ist in Wahrheit ein Stein des Anstosses und Prüfstein dieser schwachen Geister. Hier gilt es ebenfalls, den Stoff auf das Sorgfältigste aufzubauen Ich kann mir nicht versagen, hier sofort etwas von der Methode einzulegen. Wir gründen uns selbstverständlich auf die An- schauung, finden aber nicht in deren Mannigfaltigkeit, sondern Einfachheit den richtigen Weg. Andere Bezeichnung ist für unsre Kinder ein völlig neues Ding. Erst wenn eine Aufgabengruppe mit einer Bezeichnung verstanden ist, ergeben sich für andre Veranschaulichungsmittel Apperzeptionshilfen. Es muss ferner von Anfang an als unumstössliches Gesetz festgehalten werden, dass Zahl, Ding und Ziffer zu einer zusammengesetzten Vorstellung so verschmelzen, dass später bei der Reproduktion der reinen Zahl die Teilvorstellungen mit be- wusst werden, ein Rechnen mit reinen Zahlen zur Unmöglichkeit gehört. Vom Operieren mit schriftlichen Zahlenbildern halte ich nichts, weil einesteils die

40 Handfertigkeit, andernteils der Raumsinn unserer Schüler sehr minderwertig sind. Wie ich die Zahl als eine Zusammensetzung von Einheiten ansehe, so kann ich mich auch nur auf ein hierauf gegründetes Rechnen verlassen.

Klasse V rechnet im Zahlenraum bis 10 Aufgaben des Addierens und Subtrahierens. Das beste Veranschaulichungsmittel sind die 10 Finger. Klasse IV arbeitet den Zahlenraum bis 20 ohne Zehnerübergang durch, ebenfalls nur obige beide Grundrechnungsarten. Die Hauptschwierigkeit liegt hier im Ab- strahieren des ersten Zehners Klasse III rechnet denselben Zahlenraum mit Übergängen und allen 4 Spezies durch. Die Hauptarbeit fällt der Übung. des Zehnerüberganges zu. Die Vorrechnungsform ist auf Grund der Veranschau- lichung an der Rechenmaschine, von welcher jedes Kind ein kleines Hand- exemplar besitzt, bis zu vollster Geläufigkeit zu üben. Klasse II rechnet im -Zahlenraum bis 100 aber nur mit Grundzahlen. Hier wird sich die Probe aut das vorhergegangene Exempel ergeben. Klasse I, Abt. 2 arbeitet sämtliche Aufgaben dieses Zahleraumes durch. Der Stoff von Klasse I, Abt. 1 umfasst die 4 Grundrechnungsarten des Zahlenraumes bis 1000 und weiter, soweit es einstellige Multiplikatoren und Divisoren erlauben. Je nach dem geistigen Standpunkte dieser Abteilung können Ausflüge in des Gebiet des Rechnens mit mehrfach benannten Zahlen, den einfachsten gemeinen und dezimalen Brüchen unternommen werden.

Heimats- und Vaterlandskunde schliesst sich an den Anschauungs- stoff der Klasse III an. Sie betrachtet in Klasse II den Stadtkreis Erfurt und seine nächste Umgebung unter Einziehung kleiner naturkundlicher und ge- schichtlicher Bilder. Klasse I behandelt den Landkreis Erfurt und die Provinz Sachsen. Ist die Klasse geistig fähig, so wird der Stoff knapper gefasst und ein Überblick über das deutsche Vaterland hinzugefügt. Diese Klasse weist auch für die Realien getrennte Stunden auf. Es erhöht das Interesse für den Stoff ungemein. Selbstverständlich ist, dass wir nur Heimatliches bieten, die Bilder aus Geschichie eingeschlossen.

Vom Gesang ist nichts Besonderes zu berichten.

Der Turnstoff enthält nur Freiübungen, zur Zeit bis Klasse I ohne Trennung der Geschlechter, er beginnt in Klasse III mit einfachen Marsch- und Taktübungen. Dass wir zu den notwendigen Leibesübungen auch die Spiele rechnen, ist schon einmal erwähnt worden. Sie sind um so nötiger, als unsre Kinder ungeschickt, ängstlich und die Pointe eines komplizierten Spieles nicht erfassend, von den normalen Kindern gehänselt und vom Spiel ausgeschlossen werden.

Der eben gezeichnete Plan enthält das Maximum unsres Bildungs- stoffes und muss auf jede Klassenindividualität in jedem Jahre besonders an- gewendet werden. Es kann demnach wohl eine Verminderung, nie aber eine Vermehrung desselben eintreten. Die Individualität unserer Kinder verlangt aber auch ein fast gleiches Tempo in seiner Verarbeitung. Nur nach Ostern, also beim Beginn des neuen Schuljahres, ist eine vorsichtigere, langsamere und minimalere, niemals aber besonders zu Ende desselben eine sich steigernde,

ln

höhere als normale Anforderungen stellende Stoffverteilung vorzunehmen. Die erziehlichen Momente wurden dann zu Gunsten der reinen Lernarbeit unter- drückt. Die Hilfsschule hat demnach auch keinen Platz für besondere Prüfungen, am allerwenigsten für Versetzungsprüfungen.

Im folgenden möchte ich noch durch eine kleine Übersicht zeigen, in welcher Weise die Kinder das Lehrziel erreichten. Aus den Klassen V und IV wurden 1 bezw. 4 Kinder entlassen; sie waren geistig sehr schwach und sind als erwerbsunfähig zu bezeichnen. Klasse III hatte 7 Konfirmanden, welche zum ‚grössten Teil erwerbsfähig waren. 17 Kinder erreichten das Ziel der II. Klasse. Aus der 2. Abt. der I. Klasse schieden 24 Konfirmanden. Das Ziel der 1. Abt. der Klasse I, also das höchste der Schule, erklommen 32 Kinder. Von ihnen wurden 13, da sie noch ein oder mehrere Schuljahre vor sich hatten, auf besonderen Wunsch der Eltern nach den IV., in einigen Fällen auch nach den III. Klassen der Volksschulen zurückversetzt, wo sie sich meiner Kenntnis nach zufriedenstellend halten. Es haben demnach von 85 Konfir- manden 56 das Ziel der I. Klasse erreicht.

Als höchst erfreuliches Zeichen dafür, dass sich das Verständnis für die Thätigkeit der Hilfsschule auch bei den Eltern vermehrt, führen wir auch die Thatsache an, dass in den letzten 2 Jahren sechs auf das ihnen zustehende Recht der Zurückversetzung ihrer Kinder nach der früheren Schule verzichteten und baten, sie bis zur Entlassung in der Hilfsschule zu behalten.

Der Lektionsplan weist als neu in allen Klassen gleichliegende Rechen- und Lesestunden auf. Zu diesen Fächern findet ein Austausch der Kinder in den vorhergehenden Pausen statt.

Ich komme zur methodischen Bearbeitung des Lehrstoffes. Es sollte mich nicht wundern hier und da dem Gedanken zu begegnen, dass in der Hilfsschule eine besondere, absonderliche oder keine Methode angewendet würde. Hat man doch die Möglichkeit der Anwendung der formalen Stufen bestritten. Wer solche Behauptungen aufstellt, hat keine Ahnung vom Wesen des Schwachsinnes und verwechselt diese Kinder mit bildungsunfähigen Idioten. Wer also in dieser Beziehung etwas ganz Besonderes zu hören hoffte, wird ent- täuscht werden. Wir betonen: eine besondere Methode haben wir nicht, und wenn doch geringe Unterschiede zu der der Volksschule vorhanden sind, so sind sie nur gradueller Natur. Die für die normalen Kinder beste Methode ist auch für die geistig schwachen die richtige und besteht im Anschauen, Denken und Anwenden. Mechanisches Einlernen kennt die Hilfsschule nicht und betrachtet es als leitendes Prinzip, dass die Kinder nur Verstandenes erfassen; denn nur das ist bildend. Es entsteht daraus für uns fortgesetzt die Aufgabe, bildungs- unfähigen oder schwer apperzipierbaren Stoff auszuscheiden und nach besserem zu suchen.

Selbstrerständlich muss die Methode so einfach angewendet werden, als es die Individualität unsrer Kinder bedingt, ohne Sprünge und Künsteleien, aber auch ohne Weitschweifigkeiten. Bei der geringen Schülerzahl, der genauen Kenntnis der einzelnen Individualitäten kann es für uns keine phrasenhafte

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Forderung bleiben, die Individualität im Unterricht nach Anschauungskreis, Denkthätigkeit, Gedächtnis, Phantasie, Sprechfertigkeit, sozialen Verhältnissen, körperlichen Gebrechen u. s. w. zu berücksichtigen. Es muss aber auch die nötige Vorsicht obwalten. Die Berücksichtigung und Entfaltung der Individualität darf nicht in Entartung derselben verfallen. Die Methode darf die Kinder nicht zu Schwätzern machen dadurch, dass Kausalitätsverhältnisse ergründet werden, für welche sowohl das Verständnis wie die Erfahrung mangelt. Die leichte Ermüdbarkeit muss durch Frische und Lebendigkeit, Abwechselung und längere Pausen bekämpft werden. Das tief empfindende Lehrerherz wird das arme Kinderherz entzünden. |

Was besonders das Anschauen betrifft, so ist auch für normale Kinder beachtenswert, die Perzeption dadurch wertvoller zu machen, dass man mehrere Sinnesgebiete zugleich daran teilnehmen lässt. Die Apperzeption geht um so leichter und lebhafter vor sich, je enger der neue Stoff dem Erfahrungsleben angeschlossen wird. Auch beim Denken ist die fortgesetzte Versinnlichung der Vorstellungen und Begriffe zu betonen. Das Ergründen und Erfassen einfachster kausaler Verhältnisse ist nicht aus dem Auge zu verlieren. Die Anwendung muss eine zwar kurze, nicht rührselige, aber fortgesetzte sein; nur so wird das Schulleben ein Spiegelbild der Wirklichkeit bieten.

Die Übung hat, ohne zu ermüden, den erarbeiteten Stoff den Kindern zum geistigen Eigentume zu machen, da er sonst weder unterrichtlich verwertbar noch erziehlich wirksam sein kann.

Ich bin am Schlusse meiner Ausführungen, welche ein Bild unserer Arbeit an den geistig schwachen Kindern geben sollten. Viel ist schon getban, aber noch mehr zu thun bleibt der Zukunft vorbehalten. Sie muss besonders die wichtige Frage der sozialen Stellung und Behütung dieser Kinder ins Auge fassen. Für uns Lelirer ist aber eine zweite Frage von ganz besonderer Wichtig- keit, nämlich die nach der allgemeinen pädagogischen Bedeutung der Hilfsschulen. Sie liegt ja einesteils so offen da, lat aber andernteils nur hier und da leise berührt werden können. Es ist aber zu hoffen, dass sie mit der weiteren Ent- wickelung der Hilfsschulen, der Werke der praktischen pädagogischen Pathologie stetig zunehmen wird und mit ihren Resultaten auch das Erziehungswesen normaler Kinder heilsam beeinflusst. Das wird um so eher und gründlicher der Fall sein, je mehr sich das aufrichtige Interesse der gesamten deutschen Lebrerschaft diesem Zweige der Jugenderziehung zuwendet. -

Litteratur: Emminghaus. Die psychischen Störungen des Kindesalters. Tübingen, I,auppsche

Buchhandlung. | ; Sengelmgnn. Systematisches I,ehrbuch der Idiotenheilpflege. Norden, Soltaus Verlag. Strümpell. Die pädagogische Pathologie. Leipzig, Ungleich.

Sollier. Der Idiot und der Imbecille.. Hamburg, Leop. Voss. Ziehen. Leitfaden der physiologischen Psychologie. Jena, G. Fischer. Stötzner. Schulen für schwachbefähigte Kinder. Leipzig und Heidelberg, Winter.

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Wintermann. Die Hilfsschulen Deutschlands und der deutschen Schweiz. Beiträge zur Kinderforschung, Heft III. Langensalza, Herm. Beyer & Söhne.

Ufer. Das Wesen des Schwachsinns. Pädag. Magazin, Heft V. Langensalza, Herm. Beyer & Söhne.

Grohmann. Der Schwachsinnige und seine Stellung in dər Gesellschaft. Zürich, Rascher.

Reinke. Die Erzichung und Unterweisung schwachsinniger Kinder. Berlin, Oehmigkes Verlag.

Redecker & Pütz. Der Gesinnungsunterricht. Mühlheim a. d. R., Baedeckers Verlag.

Grote. Welche Kinder gehören in die Hilfsschule? Bericht über den ersten Ver- bandstag der Hilfsschulen Deutschlands 1898.

Demoor. Welche Bedeutung haben die Täuschungen der Muskelempfindungen bei der Diagnose auf Idiotie? Kinderfehler, Jahrg. 99.

Lehrplan der Hilfsschule zu Erfurt.

K. Die Beurteilung des kindlichen Geistes durch Spiegelschrift. Zeitschrift für die. Bahandlung Schwachsinniger und Epileptischer. Jahrg. 95.

X. Konferenz für das Idiotenwesen

und Schulen für schwachsinnige Kinder. (Fortsetzung.)

Zweite Hauptversammlung. Donnerstag, den 19. September, vorm. 9 Uhr im Speisesaale der Stadthalle. Ich erteile Herrn Direktor Kölle- Regensberg (Schweiz) das Wort:

Versuch einer Einteilung der Idioten. Leitsätze. Erste Abteilung: Primäre Idiotie.

A) Schwachbefähigte I. Schwachbefähigte mit angeborenen körperlichen Defekten. a) Erethische oder versatile Schwachbefähigte. 1. Mit einfacher psychischer Schwäche. 2. Mit psychischen Komplikationen. 3. Mit moralischen Defekten. b): Apathische oder anergethische Schwachbefähigte. 1. Mit einfacher psychischer Schwäche. 2. Mit psychischen Komplikationen. 3. Mit moralischen Defekten. II. Schwachbefähigte mit erworbenen körperlichen Defekten. Mit denselben Unterabteilungen wie bei I. III. Schwachbefähigte ohne körperliche Defekte. Mit denselben Unterabteilungen wie bei I und II.

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B) Schwachsinnige. Mit denselben Unterabteilungen wie bei A. C) Blödsinnige. Mit denselben Unterabteilungen wie bei A und B.

Zweite Abteilung: Sekundäre Idiotie.

Diese zeigen naturgemäss ein anderes klinisches Bild als die primären Idioten und gehören zu den Irrkranken, sie können auch nur ärztlich be- handelt werden.

Hochrverehrte Versammlung! Wer sich mit Idiotismus beschäftigt, der hat häufig Gelegenheit, die Wahr- heit des Goethe’schen Wortes zu erfahren:

„Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört, dass sich dabei auch etwas denken lasse.“

Wir haben eine Menge von Ausdrücken, mit denen ein geistig zurück- gebliebener Mensch, mit dem wir uns beschäftigen wollen, bezeichnet wird, allein nur selten deckt sich bei zwei Personen der Begriff, den sie ausdrücken wollen, genau mit den Worten, die sie hierfür gebrauchen. Und wie mannig- faltig ist die Ausdrucksweise, die angewandt wird. Idiotisch, imbeeill, schwach- sinnig, blödsinnig, geistig zurückgeblieben, schwach befähigt, dumm! Dazu kommen noch alle die Epitheten, die von denjenigen unserer Haustiere entlehnt werden, welche wir als nicht mit besonders grossem Verstande begabt, anzu- sehen gewöhnt sind.

Wir möchten oft so gerne mit dem Schüler im Faust ausrufen:

„Doch ein Begriff muss bei dem Worte sein!“ Gewöhnlich aber erhalten wir darauf die gleiche Antwort, die Mephisto giebt: „Schon gut, nur muss man sich nicht allzu ängstlich quälen! Denn eben, wo Begriffe fehlen, Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein. Mit Worten lässt sich trefflich streiten, Mit Worten ein System bereiten, An Worte lässt sich trefflich glauben, Von einem Wort lässt sich kein Jota rauben.“

Warum herrscht wohl eine so grosse Verworrenheit und Unklarheit, wenn der Begriff „Idiotismus“ definiert werden soll?

Mir scheint es daher zu kommen, dass man sich unnötigerweise abmüht’ unter den Begriff Idiotismus eine eigene Gattung von Menschen bringen zu wollen. Und doch möchte ich mit Sollier behaupten :

„Es giebt eigentlich gar keinen Idiotismus, sondern nur Idioten.“

Auch die Naturwissenschaft hat einigermassen dazu beigetragen, die Ver- wirrung, die auf diesem Gebiete herrscht, noch zu vergrössern.

Darwin will in seinem Werke „die Abstammung des Menschen“ nach- weisen, dass Idiotismus Reversion oder Atavismus sei, er sagt darüber:

„Wenn eine Struktur in ihrer Entwicklung gehemmt ist, aber doch fort-

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fährt zu wachsen, bis sie einer entsprechenden Struktur eines niedern, er- wachsenen Mitgliedes derselben Gruppe sehr ähnlich ist, so mag dies in einem gewissen Sinne als ein Fall der Reversion betrachtet werden. Die niedern Glieder einer Gruppe geben uns einen Begriff davon, wie der gemeinsame Vorfahr wahrscheinlich gestaltet war; und es ist kaum glaublich, dass ein komplizierter Teil, der in einer frühern Phase seiner embryonalen Entwicklung gehemmt wurde, fortfahren solle zu wachsen, bis er schliesslich seine eigene Funktion darstellen könnte, sofern er diese Fähigkeit nicht während einer frühern Existenzbeschaffenheit erworben hätte, wo die gegenwärtige, exzeptionelle oder gehemmte Struktur normal war. Das einfache Gehirn eines mikrocephalen Idioten mag in diesem Sinne, sofern es dem eines Affen gleicht, als ein Reversionsfall betrachtet werden.“

Darwin zeigt hier deutlich das Bestreben, im Idioten einen Atavisten zu sehen, und deshalb schreibt er ihm Eigenschaften zu. die der Idiot in Wirklich- keit nicht besitzt. Noch deutlicher zeigt sich dies in folgenden Ausführungen, in denen er sich an Karl Vogt anschliesst:

„Es besteht ein Unterschied zwischen gehemmter Entwicklung und ge- hemmtem Wachstum; denn Teile, die sich im ersten Verhältnis befinden, wachsen weiter, während sie noch ihren frühern Zustand beibehalten. Verschiedene Monstrositäten sind hierher zu zählen, und einige, wie der gespaltene Gaumen, sind als gelegentlich erblich bekannt. Es genügt für unsern Zweck, sich auf die gehemmte Entwicklung des Gehirns von mikrocephalen Idioten zu beziehen, wie sie Karl Vogt in einer Schrift („Memoire sur les Mikrocephales“ 1867) dargestellt hat. Ihr Schädel ist kleiner, und die Grehirnwindungen sind weniger kompliziert als beim normalen Menschen. Die Stirnhöhle oder der Vorsprung über den Augenbrauen ist stark entwickelt und die Kinnbacken sind in einem erschreckenden Grade prognatisch, so dass diese Idioten den niedern mensch- lichen Typen ziemlich gleichen. Ihre Intelligenz und besonders ihre geistigen Fähigkeiten sind äusserst schwach.

Sie eignen sich nicht das Sprachvermögen an und sind einer längern Aufmerksamkeit unfähig, jedoch alımen sie leicht nach. Sie sind kräftig und merkwürdig beweglich, hüpfen und springen beständig und ziehen Grimmassen. Oft ersteigen sie Treppen auf allen Vieren und haben eine besondere Neigung auf Möbel oder Bäume zu klettern Wir werden hierdurch an die Freude er- innert, mit der die meisten Knaben Bäume erklettern; und dieses wieder er- innert uns an die Lust, mit der Lämmer und junge Ziegen ursprünglich Gebirgstiere selbst auf die geringste Anhöhe hüpfen.

Idioten gleichen auch in anderen Beziehungen den niedern Tieren; so sind mehrere Fälle beobachtet worden, wo sie jeden Bissen Nahrung sorgsam be- rochen haben, ehe sie ihn verzehrten. Bei einem Idioten wurde bemerkt, dass er, wenn er lauste, oft mit dem Munde die Hände unterstützte. Sie sind häufig in ihren Gewohnheiten schmutzig und haben keinen Sinn für Schicklichkeit. Auch sind viele Fälle von ihrer auffälligen Behaarung bekannt gemacht worden.“

Es wird jedem unbefangenen Beurteiler sofort auffallen, dass Karl Vogt

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und mit ihm Darwin, also zwei Naturforscher, die in vorderster Linie stehen, zu Gunsten ihres Lieblingswunsches die Thatsachen zu falschen Schlüssen ge- brauchen oder gar ganz verkehrte Behauptungen aufstellen. Wir wissen wohl, warum Karl Vogt und Darwin die Idioten gerne auf Möbel, Bäume etc. klettern lassen, aber leider ist die Kletterlust und Geschicklichkeit bei den Mikrocephalen fast nie vorhanden.

Da wo Darwin Reversion oder Atavismus nachweisen will, zeigt sich immer nur die Verkümmerung des einzelnen Individuums durch Krankheit.

Auch die sogenannten Azteken, die Berkhan im Jahrgang 1898 unserer Zeitschrift beschreibt, und die als die letzten lebenden Azteken ausgegeben und dem Publikum unter Erzählung einer romantischen Geschichte vorgestellt werden, sind nichts anderes, als mikrocephale Idioten, deren körperliche Bildung und Kopfform durchaus nicht durch ihre Abstammung erklärt werden kann.

Solche mikrocephale Formen kommen auch in Europa vor. Die Vergleichung solcher Typen mit Völkerstämmen führten auf Abwege, und alle Einteilungs- versuche, welche sich auf diese Typen gründen wollten, mussten fehl schlagen.

Wir dürfen also wohl sagen: „Es giebt keinen Idiotismus“ d. h. es giebt keine besondere Gattung oder keine Spezies unter der Gattung Mensch, den man unter dem Namen Idiotismus zusammenfassen könnte. Es giebt vielmehr nur einzelne Individuen, die idiotisch sind.

Idiotie ist also eine Krankheitserscheinung, und wie jede Krankheits- erscheinung, so hat auch sie gewisse Merkmale, die immer wieder in ähnlicher Weise auftreten. Diese Bemerkungen müssen besonders beachtet werden, wenn man versuchen will, die Idioten in gewisse Gruppen einzuteilen.

Die Krankheitserscheinung kann schon in frühester Jugend aufgetreten sein, sie kann aber auch in späteren Lebensjahren sich gezeigt haben, bei einem vorher ganz gesunden Individuum. In diesem Falle spricht ınan von sekundärem Idiotismus. Es versteht sich von selbst, dass dieser sekundäre Idiotismus ein ganz anderes Bild zeigt, als der primäre Idiotismus. Es liegt auf der Hand, ‚dass sich bei jenem noch einzelne Reste von Verstandesthätigkeiten, von Fertig- keiten etc. von früher her erhalten haben. Diese Idioten gehören deshalb auch ganz in ärztliche Behandlung. Wir haben uns mit primärem Idiotismus zu befassen.

Wenn wir eine Definition geben wollen von diesen Individuen, so müssen wir sagen: Idioten nennen wir alle diejenigen Individuen, deren geistige Anlagen tiefer stehen, als diejenigen, die wir als normal anzunehmen gewöhnt sind und zwar infolge einer Verkümmerung des Gehirns.

Es zeigt sich aber sofort, dass diese Definition, der ein weiter SDR gelassen ist, sich doch noch mehr dehnen lässt.

Es ist auf einer der ersten Konferenzen für Idiotenwesen bet worden, dass der Ausdruck Idiotismus allgemeine Bedeutung haben soll. Man wolle damit alle diejenigen bezeichnen, die infolge einer auf Verkümmerung des Ge- hirns beruhenden Entwicklungshemmung geistig tiefer stehen, als diejenigen, welche wir als normal anzusehen gewöhnt sind. Nun vermochte aber diese

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Annahme nicht allgemein durchzudringen. Durch Solliers Buch „der Idiot und der Imbecille“ ist namentlich auch bei deutschen Ärzten der Ausdruck Idiot für die Blödsinnigen angenommen worden, während man unter Imbecillen die Schwachbefähigten versteht, damit aber gewöhnlich noch die Nebenbedeutung verbindet, dass zu der geistigen Schwäche noch geistige Komplikationen kommen. Wir sind nun in Verlegenheit, welchen allgemeinen Ausdruck wir für alle die- jenigen gebrauchen sollen, die ausserhalb der Reihe normal beanlagter Menschen stehen bis herunter zum vollständig Blödsinnigen.

Der Ausdruck „geistig minderwertig“, wie ihn Dr. Cassel in Berlin ge- braucht, würde vielleicht noch am Besten passen. Allein er drückt das, was wir bezeichnen wollen, auch nicht vollständig aus, und schliesslich ist der Dumme, der aus Trägheit und Gleichgiltigkeit zurückgeblieben ist, auch geistig minder- wertig, obgleich er kein Idiot ist.

Ich möchte mich deshalb dem früheren Beschluss unserer Konferenz an- schliessen und alle diejenigen Individuen, die infolge einer ererbten oder er- worbenen Verkümmerung des (Gehirns in ihrer geistigen Entwicklung gehemmt sind, Idioten heissen. Der ursprünglichen Bedeutung des griechischen Wortes ‘wäre man damit näher gekommen. Unter Idioten verstanden die Griechen einen Mann, der sich vom Staatsdienste ferne hielt, für sich lebte und also in Staats- angelegenheiten unwissend war.

Mit der Zeit erhielt das Wort den Beigeschmack eines geistig beschränkten Menschen überhaupt, also eines Menschen, der ausserhalb der Reite derjenigen steht, die im alltäglichen Leben urteilsfähig sind. In unserer Zeit wird der Ausdruck Idiot häufig für einen Blödsinnigen gebraucht.

Es giebt nun auch Fälle, bei denen man versucht ist, von partiellem ldiotismus zu reden, partiell, insofern ein Individuum in einem Fache ganz be- merkenswertes leisten kann, während es in allem Übrigen vollständig idiotisch ist. Hierher gehören z. B. die sogenannten Rechensimpel, die oft ganz ausser- ordentliches leisten. Freilich beschränkt sich ihr Rechentalent meistens auf mechanische Fertigkeiten, die sie nicht praktisch verwenden können. Ähnliche Fertigkeiten zeigen andere im Zeichnen und Malen. Sogenannte Musiksimpel sind häufig, und es zeigen sich ja oft ganz blöde Kinder, die jede Melodie, die sie einmal hörten, nachsingen können.

Es sind dies Individuen, bei denen einzelne Fähigkeiten oder Fertigkeiten in ausgedehnter Weise ausgebildet sind, während ihre allgemeinen geistigen Anlagen tief stehen.

Der umgekehrte Fall kommt fast ebenso häufig vor, nämlich der, dass geistig hervorragende Männer in einzelnen Gebieten vollständig zurückgeblieben sind. Es sind dies partielle Unfähigkeiten, die wir uns kaum recht erklären können. Freilich werden wir meistens annehmen müssen, dass ausschliesslich geistige Arbeiten auf einem bestimmten Gebiete alles Interesse für praktische Dinge erlöschen liess, so dass die Betreffenden sich darin als ungeschickt, blöde, täppisch zeigen. Nicht nur die Witzblätter wissen von der Zerstreutheit der Stubengelehrten zu erzählen. Neander musste, wie Gerok berichtet, während

48 seiner geistreichen Vorträge stets eine Gänsefeder auf seinem Pulte haben, um seine Gedanken besser sammeln zu können, wenn seine Hände die Feder zer- knitterten. Mancher Schachspieler bleibt nur dann ruhig, wenn er seine Zigarre während des Spiels weiter rauchen kann. Wie schwer musste Pestalozzi leiden an seinem praktischen Ungeschick, das ihn durch sein ganzes Leben hindurch verfolgte!

Hierher sind auch die verschiedenen Koordinationsstörungen zu rechnen, die jeder an sich selbst beobachten kann, wie z. B. die linkshändigen Bewegungs- hemmungen u. a. m. Erst in neuerer Zeit wurde man aufmerksam auf ver- schiedene Abnormitäten der Intelligenz und der Moral bei Individuen, die man sonst nicht zu den psychisch abnormen zu zählen gewöhnt war.

Es ist das Verdienst von Dr. Koch, früher Direktor der Irrenanstalt Zwie- falten, auf diese Erscheinungen aufmerksam gemacht zu haben. Er fasst sie zusammen unter dem Namen psychopathische Minderwertigkeiten.

Er sagt darüber:

„Unter dem Ausdruck psychopathische Minderwertigkeiten fasse ich alle, sei es angeborenen, sei es erworbenen, den Menschen in seinem Personenleben be- einflussenden psychischen Regelwidrigkeiten zusammen, welche auch in schlimmen Fällen doch keine Geisteskrankheiten darstellen, welche aber die damit be- schwerten Personen auch im günstigsten Falle nicht als im Vollbesitze geistiger Normalität und Leistungsfähigkeit stehend erscheinen lassen. Der Ausdruck Minderwertigkeit soll jedoch keineswegs besagen, dass immer das ganze psychische Verhalten der Betrefienden minderwertig und ihre ganze geistige Persönlichkeit, an und für sich betrachtet, eine niedrig stehende sein müsse. Nicht wenige psychopathisch Minderwertige, obgleich sie in sich geschädigt und gekürzt sind, ragen doch in manchen geistigen Leistungen, ja nach dem ganzen Wert ihrer geistigen Persönlichkeit über viele normale Menschen weit hervor, über Menschen mit „rüstigem“ Gehirn, wie eine treffende, von Schüle herrührende Bezeich- nung das ausdrückt.

Die hier in Betracht kommenden Individuen verhalten sich psychisch nicht wie andere Leute etc.“

Im Anschluss an dieses Werk von Koch erschien von Trüper das Buch „Psychopathische Minderwertigkeiten bei Kindern“. Die hier geschilderten Kinder sind häufig in Anstalten und Hilfsklassen anzutreffen, und bei entsprechender Behandlung wird manches von ihnen grossen Nutzen für seine Entwicklung davontragen.

Wenn wir vorhin Idioten diejenigen Individuen nannten, deren geistige Fähigkeiten tiefer stehen, als wir durchschnittlich bei Menschen im gleichen Alter und unter denselben Lebensverhältnissen annehmen dürfen, so wollen wir den Begriff jetzt noch enger fassen und sagen: Es sind Individuen, die in ihrer geistigen Entwickiung zurückgeblieben sind infolge einer anererbten oder in frühester Jugend erworbenen Verkümmerung des Gehirns. Versuchen wir nun im Anschluss an diese Bemerkungen, die hervorragenden Erscheinungen zu gruppieren, um eine Einteilung der Idioten zu stande zu bringen,

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Es ist dies schon oft versucht worden. Sollier führt in dem Buche „der Idiot und der Imbecille“, das von Dr. Paul Brie in Bonn ins Deutsche über- setzt wurde und 1891 erschien, die verschiedenen Versuche an, die gemacht wurden, eine Klassifikation aufzustellen, es hat ihn jedoch keiner dieser Versuche befriedigt. Er sagt schliesslich: „Wir unsererseits müssen, ehe wir einen defi- nitiven Standpunkt einnehmen, untersuchen, was die Hauptsache bei der geistigen Entwicklung ist. Wir glauben sie in der Aufmerksamkeit zu finden, und dem- gemäss werden wir drei Kategorien so aufstellen: | 1. Schwere Idiotie: vollständige Geistesabwesenheit und Unvermögen zur Aufmerksamkeit.

2. Leichte Idiotie: Schwäche und Erschwerung der Aufmerksamkeit.

3. Imbecillität: Unbeständigkeit in der Aufmerksamkeit.

Wir werden gewiss Sollier beistimmen, und in der Praxis ist es ja auch schon geschehen, dass bei der Einteilung der Idioten drei ähnliche Abteilungen aufgestellt werden.

Wenn wir Idiotie als Oberbegriff festhalten, werden wir zu folgenden

Gruppen kommen: A) Schwachbefähigte.

B) Schwachsinnige. C) Blödsinnige.

Bei dieser Einteilung ist auf dieselbe Hauptsache Rücksicht genommen, nämlich auf den Stand der geistigen Entwicklung, oder, vielmehr schärfer aus- gedrückt, auf den Stand der geistigen Entwicklungsfähigkeit.

Wenn Sollier die Aufmerksanıkeit als hauptsächlichen Unterscheidungs- grund der Geistesthätigkeit annimmt, so ist Jies ebenfalls nicht genau beob- achtet, obgleich er der Sache näher kommt, als viele andere. Das eigentliche Unterscheidende ist vielmehr die Schwäche zu unterscheiden, zu vergleichen, zu urteilen, oder kurz ausgedrückt:

„Eins von nicht Eins“ zu unterscheiden, wie ich in meiner letzten Konferenz- arbeit nachzuweisen versucht habe*).

Eine Folge und Begleiterscheinung dieser geistigen Schwäche ist auf allen Stufen des Idiotismus der Mangel eines richtigen, sprachlichen Ausdrucks. Max Müller leugnet geradezu ein begriffliches Denken ohne Sprache. Die mensch- liche Wortsprache ist der Ausdruck von Begriffen durch artikulierte Laut- verbindungen. Da das begriffliche Denken bei einem Schwachsinnigen gestört ist oder verlangsamt vor sich geht infolge einer Störung im Begriffszentrum, so kann ein Begriff auch nicht richtig ansgedrückt werden. Aber auch, wenn dies noch möglich ist, treten alle jene Störungen noch hinzu, die ein richtiges Lautieren und Artikulieren verhindern, und so zeigte sich die Menge jener Sprach- defekte, mit denen sich der Idiotenlehrer fortwährend abzugeben hat. Einen Einteilungsgrund aber, wie mau schon annehmen wollte, können diese Sprach-

*) Vergleiche: Dr. Gündel: „Zur Klassifizierung der Idioten“. Zeitschrift für die Be- handlung Schwachsinniger und Epileptischer. Jahrgang 1896.

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‚fehler deshalb nicht geben, weil sie sich in ganz gleicher Weise bei den ver- schiedensten Individuen wiederholen.

Wenn wir nun als ersten Einteilungsgrund den „Grad des Iditotismus“ oder die „Quantität des Idiotismus“ angenommen haben, so wäre als zweiter Unter- scheidungsgrund die „Qualität“ des Idiotismus massgebend, wie sie sich aus der körperlichen Beschaffenheit des einzelnen Individiums ergiebt.

Hier würden wir unterscheiden:

1. Idioten mit angeborenen körperlichen Defekten.

‚2. Idioten mit erworbenen körperlichen Defekten.

3. Idioten ohne körperliche Defekte.

Ferner würde die Modalität oder die Art und Weise, wie sich der Idiotis- mus äussert, einen Einteilungsgrund bilden; es könnten unterschieden werden:

a) Erethische oder versatile Idioten. b) Apathische oder anergethische Idioten.

Und endlich als vierten Grund der Einteilung könnten wir die Relation annehmen oder die Beziehung des geistigen Lebens der Idioten zu dem normalen Menschen in ihren Äusserungen im sozialen Leben.

Hier werden wir unterscheiden:

1. Idioten mit einfacher psychischer Schwäche. 2. Idioten mit psychischen Komplikationen.

3. Idioten mit moralischen Defekten.

Damit hätten wir ein weitgehendes Schema gewonnen, in das wir alle Idioten, die uns begegnen, leicht einreihen können.

Wir sehen hier vom sekundären Idiotismus ab und beschäftigen uns nur mit dem primären Idiotismus. Dieser zerfällt zunächst in die angeführten drei Hauptklassen:

A) Schwachbefähigte oder geistig Zurückgebliebene, Kinder mit psychischer Schwäche, die dem Unterricht einer Normalschule nur mit Mühe folgen können und in einzelnen Fächern ganz zurückbleiben.

B) Schwachsinnige, die dem Unterricht in einer öffentlichen Schule nicht mehr folgen können, die aber durch einen zweckmässigen Unterricht in Anstalten oder Nachhilfschulen so weit gefördert werden, dass sie später im Leben sich nützlich machen können.

C) Blödsinnige, die nı>ht mehr bildungsfähig sind, sondern nur noch verpflegt werden müssen.

Die Grenzlinie zwischen den einzelnen Gruppen wird nie ganz scharf ge- zugen werden können, und nur ein längerer Umgang mit den Zöglingen wird das Urteil des Lehrers so schärfen, dass er im stande sein wird, den einzelnen Schüler richtig zu beurteilen.

Immerhin wird auch der Laie bald, wenn auch nicht die Eltern des Kindes, sein Urteil abgeben, ob ein Kind geistig zurückgeblieben ist oder nicht.

Als erste Hauptgruppe hätten wir bei den Schwachbefähigten nach unserer vorhin aufgestellten Einteilung:

öl

I. Schwachbefähigte mit angeborenen körperlichen Defekten.

Bei dieser Gruppe ist es wichtig, auf die prädisponierenden Ursachen der Krankheit zu achten, dann, ob das Auftreten derselben endemisch oder sporadisch ist.

Unter den verschiedenen Arten der körperlichen Defekte fallen namentlich auf der Kretinismus, Skrofulose, Rhachitis, dann die verschiedenen Defekte der Sinnesorgane, die Degenerationszeichen. Ebenso auffallend wie Kretinismus ist das Auftreten von Mikrocephalie und Hydrocephalie Als erste Unterabteilung dieser Schwachbefähigten mit angeborenen körperlichen Defekten führen wir an:

a) Erethische oder versatile Schwachbefähigte.

Die Perzeption vollzieht sich bei diesen verhältnismässig rasch, die Apper- zeption ist unklar, verworren. Wie die sensorischen, so sind auch die motorischen Nerven leicht erregbar, dies zeigt sich in allen möglichen Bewegungen des ganzen Körpers oder einzelner Körperteile. Diese Bewegungen werden gewöhn- lich für einzelne Individuen eigentümlich, so die Bewegung des Kopfes nach rechts oder links, diese Bewegung auch im Bett auf dem Kissen vor dem Einschlafen.

Weitere derartige Bewegungen sind:

Bewegung des Oberkörpers nach vorn, pendelartig. Oder dieselbe Be- wegung mit vorgestelltem Bein. Bewegung eines Armes in bestimmter ‚Richtung. Krümmung des Armes und Bewegung der Hand in bestimmter Richtung. Bei gleicher Stellung, Bewegung eines Fingers, namentlich des Zeigefingers. Verbindung einiger der angeführten Bewegungen. Am meisten fällt auf die Begleitung dieser Bewegungen durch Lautäusserungen.

Unter den motorischen Nerven scheinen die zu den Sprachorganen führenden besonders leicht erregbar zu sein. Die Lautäusserungen zeigen sich zuweilen im -Absingen von nur wenigemale gehörten Melodien. Die Nervenmechanik scheint zu spielen, ohne das Bewusstseinszentrum hervorragend zu affizieren.

Diese Bewegungen sind unter dem Namen Tik bekannt. Dubois-Reymond führt in seinem Vortrage „Über die Übung“ aus, dass jede körperliche Gymnastik eine Nervengymnastik sei. Und wenn wir sehen, dass durch ein schwach ent- wickeltes Zentralorgan und einen schwächlichen, nervösen Apparat Bewegungs- störungen und Hemmungen eintreten, so dürfen wir gewiss auch annehmen, dass durch planmässige, gymnastische Übungen eine Stärkung des nervösen Apparates und sogar des Zentralorganes eintritt. Und hier muss eingegriffen werden, wenn man diese Zwangsbewegungen heilen will. Die Bewegungen, welche unbewusst, zwangsweise ausgeführt werden, die können allmählich unterbleiben, wenn die- selben Bewegungen mit Bewusstsein ausgeführt werden. Dies ist der grösste Nutzen der Gymnastik in Idiotenanstalten.

Bei den angeführten, erethischen Schwachsinnigen mit körperlichen Defekten ist seltener der kretinöse Typus und Hydrocephalie anzutreffen, dagegen ziemlich häufig Mikrocephalie.

Auch Sprachdefekte sind im ganzen etwas seltener. Die erste Unter- abteilung der erethischen Schwachbefähigten mit angeborenen körperlichen Defekten ist:

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1. Erethische Schwache mit einfacher psychischer Schwäche.

Es sind dies im ganzen gutmütige Kinder, die durch ihre allgemeine geistige Schwäche und die angeborenen körperlichen Defekte auffallen. Wenn keine besondern Sprachdefekte sich zeigen und namentlich auch das Auge ein helles ist, dann wird der Laie sie beim ersten Anblick immer höher taxieren.

2. Erethische Schwache mit psychischen Komplikationen.

Bei dieser Kategorie handelt es sich nicht allein um die geistige Schwäche, die freilich recht eigentlich die Basis des ganzen persönlichen Bildes ist, sondern es treten noch allerlei krankhafte Abweichungen hinzu, die oft zu einer Behand- lung in einer Irrenanstalt nötigen. Es gehören namentlich hierher die an ein- facher Seelenstörung leidenden, die mit Manie oder Epilepsie behafteten Kinder. Auch bei diesen treten Sprachdefekte in allen Formen auf.

3. Erethische Schwache mit moralischen Defekten (moral insanity).

Bei allen Schwachen wird eine gewisse moralische Schwäche anzutreffen sein, die im ganzen ihrer psychischen Schwäche entspricht. Immerhin muss noch eine Gruppe unterschieden werden, bei welcher diese Defekte in auffallenderer Weise sich zeigen, als dies gewöhnlich der Fall ist. Es liesse sich allerdings noch fragen, ob man diese Kranken nicht mit denjenigen der vorigen Gruppe zusammennehmen, oder ob man sie gesondert behandeln wolle.

Die psychische Schwäche allein würde die Vergehen nicht begründen, welche von dem mit moral insanity Belasteten verübt werden.

Es sind hier namentlich zu nennen die verschiedenen perversen Triebe (Geschlechtstrieb, Nahrungsaufnahme bis zur Fresserei bei oft ekelhaften Stoffen), dann die verschiedenen Manien, wie Kleptomanie, Pyromanie, Zerstörungssucht, Selbstverstüämmelung etc. Ferner alle die Vergehen, welche gegen das Gesetz und die Sitten verstossen und die betreffenden Individuen so oft mit dem Straf- gesetz in Konflikt bringen, ohne dass sie sich bewusst werden, etwas Ungehöriges verübt zu haben.

Wir kämen nun zu der zweiten Unterabteilung der Schwachbefähigten mit angeborenen körperlichen Defekten.

b) Apathische oder anergethische Schwache.

Bei dieser ganzen Gruppe ist die ganze Sinnesthätigkeit eine verlangsamte, die sensiblen Nerven sind schwer zu erregen, und die Perception ist deshalb nicht nur auf wenige Wahrnehmungen reduziert, sondern auch eine langsame. Eine Association und Apperception kommt sehr schwer zu stande. In gleicher Weise ist die Auslösung der Empfindungen verlangsamt, da die motorischen Nerven in gleicher Weise weniger reagieren wie die sensorischen. Der ganze Apparat der Geistesmechanik arbeitet schwerfällig.. Zu dem kommt noch, dass die ganze psychische Schwäche durch das verkümmerte Zentralorgan gesteigert ist. Körperlich ist noch mehr als bei der vorigen Gruppe auffallend der Kretinen- typus mit Hydrocephalie, natürlich kommt er nicht ausschliesslich vor. Häufig trifft man bei diesen apathischen Schwachen Schwerhörigkeit, die dann wiederum schwere sprachliche Defekte zur Folge hat. Die erste Gruppe dieser apathischen Schwachen bilden wieder:

u.

1. Apathische Schwache mit einfacher psychischer Schwäche.

Es sind dies gutmütige Leute, langsam, träg, gewöhnlich mit sprachlichen Defekten behaftet, die nie ganz zu beseitigen sind. Die Fortschritte im Unter- richt sind sehr langsame, dafür etwas sicherer.

2. Apathische Schwache mit psychischen Komplikationen.

Es können dieselben Seelenstörungen vorkommen wie bei den erethischen Schwachen. |

3. Apathische Schwache mit moralischen Defekten.

Die mit moral insanity behafteten dieser Gruppe zeigen dieselben perversen Triebe wie die Erethiker, es kommt bei ihnen noch dazu, dass sie heimtückisch, selbstsüchtig, hinterlistig sind. Ein Angehöriger dieser Gruppe kann mit grösster Gleichgiltigkeit seinen eigenen Vater wegen einer Wurst ermorden und dann die erworbene Speise mit Appetit verzehren. Die sogenannten Kretinenmorde wurden meist von Individuen, welche zu dieser Kategorie zu rechnen sind, begangen.

Wir kommen nun zur zweiten Hauptgruppe.

II. Schwachbefähigte mit erworbenen körperlichen Defekten.

Es ist schwer zu bestimmen, ob körperliche Defekte sich erst weiter aus- prägen infolge der vorhandenen psychischen Schwäche, oder ob sie den ersten Anstoss zur Verkümmerung des Zentralorgans geben. Wenn infolge psychischer Schwäche eines Kindes, das sonst anscheinend mit normalem Körperbau ge- boren wurde (abgesehen von der Verkümmerung des Zentralorgans, die wir nicht kontrollieren können), eine Vernachlässigung der Körperbewegungen eintritt, so muss die ganze Konstitution darunter leiden. Es wird sich zeigen, dass das Kind eine schlechte Haltung gewinnt, schlechten schwerfälligen Gang bekommt. Es geifert, ist unreinlich etc., dies sind immerhin noch die leichteren Fälle Es kann sich aber ferner noch einstellen Erkrankung der Augen bis zur Blind- heit, Erkrankung der Ohren bis zur Taubheit, Erkrankung des Nasen- und Rachenraumes, adenoide Wucherungen, Epilepsie in allen ihren Formen.

Bei den genannten Fällen kann man annehmen, die Erkrankung des Zentral- organes sei die Ursache der angeführten Verkümmerungen.

Dagegen treten in den Kinderjahren viele Krankheiten auf, die direkt das Zentralorgan schädigen und dadurch direkt eine Entwicklungshemmung des geistigen Lebens verursachen.

Hierher sind namentlich zu rechnen:

Masern, Scharlach, Diphtheritis, Typhus, Lungenentzündung, Gelenk- rheumatismus, Trauma, Meningitis, eingetretene Lähmungen. Eine weitere Ur- sache kann sein Misshandlung der Kinder, schlechte Ernährung, schlechte Er- ziehung. Die Einteilung dieser ganzen Gruppe ist wieder dieselbe, wie bei den Schwachsinnigen mit angeborenen körperlichen Defekten. Auch das Bild, das beide Gruppen zeigen, ist ziemlich ähnlich. Doch wird man im allgemeinen beobachten, dass bei Schwachen mit erworbenen Defekten das Aussehen ein

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besseres ist, und auch beim Unterricht ist die Aussicht auf Besserung günstiger als bei denjenigen mit angeborenen körperlichen Defekten. Die letzte Gruppe, die wir noch betrachten wollen, ist folgende:

III. Schwachbefähigte ohne körperliche Defekte. Da diese im Leben oft zu wenig beachtet werden, ist es nötig, dass man

besonders auf sie aufmerksam macht. Bei einem Schulbesuch hört man gewöhn-.

lich das Urteil: Dieses Kind sieht nicht so schlimm aus, dieses gehört wohl zu den bessern Schülern! Nicht so selten, als man gewöhnlich annimmt, kommen Individuen vor, welche zu dieser Gruppe gehören.

Am besten wohl hat Andersen sie charakterisiert in seinem Märchen „Schön.

Auch die im Deutschen übliche Charakteristik dieser Individuen, wenn sie dem weiblichen Geschlechte angehören, drückt die Sache gut aus: „Sie ist ein Gänschen“. Menschen, welche dieser Gruppe angehören, spielen oft, namentlich wenn sie gut situierten Familien angehören, eine zeitlaug sogar eine gewisse Rolle im gesellschaftlichen Leben. |

a) Erethische Zurückgebliebene ohne körperliche Defekte.

Im allgemeinen stimmt der Charakter dieser Gruppe mit dem der unter I, und 11. angeführten Personeu überein. Dadurch, dass sie körperlich nicht miss- bildet, sondern sogar oft ein schönes Äussere haben, verändert sich ihre Stellung in der Gesellschaft zu ihren Gunsten.

1. Erethische Zurückgebliebene ohne körperliche Defekte mit einfacher

psychischer Schwäche.

Es sind dies gutmütige Schwätzer, die im Leben zur Not eine leichte Stelle ausfüllen können, namentlich wenn sie unter Aufsicht sind. Von ihnen werden leider viele auch zum Militärdienst herangezogen. Die Perzeption voll- zieht sich verhältnismässig leicht. Infolge der psychischen Schwäche ist aller- dings die Apperzeption erschwert. Sie sind rasch zu allem bereit, schwatzen über alles, vergessen aber auch ebenso leicht.

Von den Sprachdefekten, die bei dieser Gruppe anzutreffen sind, ist das Stammeln, Lispeln und Stottern am häufigsten. Die Individuen dieser Gruppe stehen am höchsten unter allen denen, die man noch zu den Idioten im weitern Sinne rechnen muss. Eine Grenzlinie zwischen ihnen und den normalen Indi- viduen zu ziehen, ist sehr schwer. Ob dies mehr oder weniger zu Tage tritt, richtet sich, wie sich Wildermuth ausdrückt, nach den sozialen Verhältnissen, in denen sich der Einzelne zu bewegen hat.

2, Erethische Zurückgebliebene ohne körperliche Defekte mit psychischen Komplikationen.

Zu der einfachen psychischen Schwäche kommen hier noch psychische Defekte, wie einfache Seelenstörung, Epilepsie, Hysterie et. Kinder, welche zu

dieser und der nächsten Gruppe gehören, sind schwer erziehbar. Gewöhnlich:

sind sie von Haus aus verzärtel. Wird ihr Zustand in der Schule nicht er- kannt, so haben sie viel unter Prügeln zu leiden.

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3. Erethische Zurückgebliebene ohne körperliche Defekte mit moralischen Defekten.

Mehr noch als die unter I. und II. angeführten kommen die Individuen dieser Gruppe mit dem Sitten- und Strafgesetz in Konflikt. Dadurch, dass sie körperlich gut entwickelt, ja zuweilen schön sind, lässt man sich im Urteil über sie leicht beeinflussen. Diese Kinder sind die eigentlichen enfants terribles der Familie. In der Schule bleiben sie nicht nur zurück und sind so eine fort- währende Qual für den Lehrer, sondern sie verüben auch alle möglichen Streiche.: Lange braucht es gewöhnlich, bis diese Unarten als moralische Defekte erkannt werden, und die verschieden perversen Triebe, denen sie unterworfen sind, tragen ihnen nicht nur empfindliche Strafen ein, sondern sie bringen auch die Familie in grosse Verlegenheiten.

Sind sie aus der Schule entlassen, so geht die Not erst recht an. Die Knaben können in einer höhern Schule nicht weiter kommen, ein Lehrmeister will sie nicht behalten, weil sie bei ihrer Beschränktheit im Lernen noch fort- während Streiche machen, und in der Gesellschaft werden sie nach und nach unmöglich. Von ihren Genossen werden sie ausgenützt. Den Wert des Geldes kennen sie nicht und geben alles für unnütze Dinge aus. Der perverse Geschlechts- trieb, Kleptomanie etc. bringen sie vor Gericht.

Die Mädchen peinigen zu Hause die Eltern. Kommen sie in dienende Stellung, so verbittern sie jeder Hausfrau das Leben, und viele enden in Bordellen oder Zuchthäusern. Der Ausdruck „seelenlose Geschöpfe“ möchte am treffendsten diese Persönlichkeiten charakterisieren.

Zum Schlusse kämen wir noch zu den

b) Apathisch Zurückgebliebenen ohne körperliche Defekte.

Die Einteilung ist wie bei a) Ein näheres Eingehen auf diese Gruppe er- laubt die Zeit nicht mehr.

Und nun, verehrteste Versammlung, will ich Sie nicht mehr länger in An- spruch nehmen. Ich habe Ihre Geduld auf eine harte Probe gestellt, indem ich ein so abstraktes Thema behandelte, dem sich nur schwer in einem öffentlichen Vortrage folgen lässt. Und doch wagte ich es zu thun, da ich glaube, wir werden uns in allem besser verstehen, wenn wir für die Kinder, mit denen wir uns fortwährend beschäftigen, auch eine gleichartige Benennung haben.

Es wird auch für den Lehrer von nicht geringem Nutzen sein, wenn er sich bei jedem Schüler genau Rechenschaft zu geben sucht, in welche Kategorie er ihn unterbringen soll.

Ebenso müsste eine bestimmte Einteilung für den Fragebogen der Anstalten von unschätzbarem Werte sein.

Ich persönlich möchte nicht durchaus daran festhalten, dass für den Ober- begriff der Ausdruck Idioten beibehalten würde, ich könnte mich vielmehr leicht einverstanden erklären damit, wenn man der Zeitströmung Rechnung trüge und die Idioten und Imbecillen zusammenfasste z. B. unter dem Ausdruck „Geistig Minderwertige“.

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Debatte. Vorsitzender Erziehungsinspektor Piper spricht dem Referenten den Dank der Versammlung aus und stellt den Vortrag zur Debatte.

Anstaltsarzt Dr. Bresler bemerkt zu den Leitsätzen, dass sie auf den ersten Blick den Eindruck hervorrufen, als ob sie künstlich hergestellt seien, sie seien aber künstlerisch. Ihm scheine die Unterscheidung primäre und sekundäre Idiotie nicht zweckmässig. Referent verstehe unter sekundärer Idiotie solche, die durch Krankheit in späterer Zeit erworben sei. Wo soll die Grenze sein? In dieser Beziehung müsse Referent eine bessere Fixierung treffen. Redner hält auch einen systematischen Auf- bau der Klassifikation unter Berücksichtigung der körperlichen Defekte nicht für ganz durchführbar. Der Ausdruck „körperliche Defekte* sei anfechtbar. Was der Referent darunter angeführt habe, seien eigentlich mehr Erkrankungen. Darum schlage er vor, körperliche Erkrankungen oder Erkrankungen und Defekte zu setzen. Ferner will er, dass nicht moralische, sondern soziale Defekte gesagt werde. Bei Idioten sei von Moral nicht gut zu reden.

Direktor Trüper: Die Aufgabe des Referenten sei eine ausserordentlich schwierige gewesen, und er erkenne gern an, dass seine Arbeit eine künstlerische Leistung sei. Er möchte sich aber zu den gebrauchten Ausdrücken einige Bemerkungen erlauben. Statt Idiotie werde landläufig der Ausdruck Schwachsinn gebraucht. Das Wort be- deute aber nicht das, was es auf den ersten Blick sage, nämlich Schwäche der Sinne. Mit einer Schwäche der Sinne haben wir es oft gar nicht zu thun, dieselben könnten im Gegenteil sehr scharfe sein. Der Ausdruck könne darum, wenn er einen Sinn haben solle, nur bedeuten, dass der Mensch schwach im Sinnen, Denken sei. Dann decke er sich mit dem Ausdruck Intelligenz-, Geistesschwäche. Der Ausdrnck Geistesschwäche sei nicht umfassend genug. Er bezeichne nur eine Seite, den Denk- prozess. Wenn wir vollständig sein wollen, müssen wir bei der Klassifikation auch das Gefühls- und Willensleben berücksichtigen. Dass dies nicht geschieht, hat die grosse Tragweite, dass man das ganze Heer von abnormen Kindern, die nicht in erster Linie an Intelligenzfehlern leiden, nicht für pathologisch hält. Die Kinder, welche von dem Fürsorge-Gesetz betroffen werden, seien in der Mehrzahl pathologisch. Redner empfehlt, die fremden Ausdrücke, Idiotie etc. durch deutsche zu ersetzen.

Hilfsschulleiter Frenzel glaubt, dass solche Einteilungen für die Wissenschaft einen gewissen Wert haben, für den Pädagogen aber nur von geringer Bedeutung seien. Der Pädagoge habe es mit der Erziehung und Bildung der Geistesschwachen zu thun, und da komme vor allem die Intelligenz in Betracht, Wenn ihm für einzelne Fälle markante Bezeichnungen geboten würden, so werde er sie mit Dank entgegen- nehmen. Die Einteilung in Idioten, Imbecille und Debile genüge für die Praxis, und diese sei auch die bisher sowohl von den Pädagogen als auch von den Ärzten am meisten beobachtete Klassifikation. So halte Dr. Weygandt in seiner Schrift: „Die Behandlung idiotischer und imbeciller Kinder in ärztlicher und pädagogischer Beziehung“, welche erst kürzlich erschienen sei, auch an der genannten Dreiteilung fest, ohne besondere Unterabteilungen zu gruppieren. Redner weist dann in seinen Ausführungen noch besonders auf die Schwierigkeit einer allseitig befriedigenden Ein- teilung der Geistesschwachen hin und hebt hervor, dass die Psychiater bei der Ein- teilung der Geisteskranken bezw. Geisteskrankheiten (Psychosen) sich in einer ähnlichen

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misslichen I,age befänden. Der berühmte Psychiater Kräpelin habe z. B. im Laufe der letzten 16 Jahre seine Ansichten darüber vielfach modifiziert; seine Einteilung von 1883 besitze mit der von 1899 kaum mehr viel Ähnlichkeit. Beachtenswert erscheine die Einteilung der Geisteskrankheiten von Prof. Dr. Wernicke, die sich durch eine gewisse Einfachheit vorteilhaft auszeichne. Er teile das menschliche Be- wusstsein in drei Gebiete ein: Bewusstsein der Aussenwelt, der Körperlichkeit und der Persönlichkeit. Diesen verschiedenen Bewusstseinsgebieten entsprächen verschiedene Schichten der Grosshirnrinde. Er kenne nun Allopsychosen (allos = Aussenwelt), Somatopsychosen (soma Körper) und Autopsychosen (autos = selbst-persönlich). Diese Dreiteilung lasse eine gewisse Ähnlichkeit und Übereinstimmung mit der vorhin erwähnten, am meisten gebräuchlichen Einteilung der Geistesschwachen erkennen und verdiene auch unsere Beachtung.

Vorsitzender Erziehungsinspektor Piper: Die Einteilung habe sowohl einen wissenschaftlichen wie praktischen Wert; einen praktischen Wert für den Pädagogen insofern, als er gruppieren und verstehen lerne, warum sich das Kind naclı dieser Seite hin äussert, welche die Ursachen waren etc. In Bezug auf die Schwachbefähigten wünscht Redner, dass dieselben nicht zu den Idioten gerechnet werden möchten. Es habe bedeutende Männer gegeben, welche in ihrer Jugend als schwachbefähigt ge- golten haben. Wer die Schwachbefähigten zu den Idioten rechne, begehe ein Ver- brechen. Sanitätsrat Dr. Borkhan knüpft an die’ Bemerkung des Vorsitzenden an und spricht seine Meinung dahin aus, dass in Bezug auf diesen Satz die Pädagogen und Ärzte noch eine Zeit lang in Streit bleiben werden, und dass die Schwach- befähigten zu den Idioten zu rechnen seien.

Direktor Trüper schliesst sich den Worten des Vorsitzenden an. Für die Schwachbefähigten müsse der Ausdruck Idioten ausgemerzt werden. Welche Kinder man für gewöhnlich als schwachbefähigt bezeichne, seien sehr häufig solche, die durch Krankheit auf allen Gebieten ihres Seelenlebens in der Entwickelung gehemmt seien. Darum Vorsicht! |

Bei der weiteren Besprechung handelt es sich besonders um Vertauschung von Ausdrücken in den Kölleschen Leitsätzen. Der Vorsitzende bittet insbesondere die anwesenden Ärzte, ihre Ansichten zu äussern. An der sehr lebhaften Debatte be- teiligen sich die Herren Dr. Bresler, Sanitätsrat Dr. Berkhan, Sanitätsrat Dr. Jenz, Direktor Trüper, Schulrat Dr. Boodstein, Hauptlehrer Horrix, Kreis- schulinspektor Weichert, Direktor Dr. Gündel, Schulinspektor Eickner, Landesge- richtsdirektor Jerusalem, der Referent und der Vorsitzende. Für Idiotie wird Geistes- schwäche, für Idioten geistig Geschwächte, geistig Minderwertige, seelisch Abnorme, für primäre und sekundäre Idiotie wird ursprüngliche, angeborene und erworbene, im späteren Leben erworbene Geistesschwäche, für Schwachbefähigte, Schwachsinnige, Blödsinnige wird Schwachsinnige leichteren, mittleren, höheren Grades (Blödsinnige) vor- geschlagen. Bei der Verschiedenheit der Meinungen stellt I,andesgerichtsdirektor Jerusalem folgenden Antrag: Da die Ansichten noch nicht so weit geklärt sind, als dass eine allgemein befriedigende Erklärung abgegeben und eine definitive Ab- stimmung vorgenommen werden könnte, beantrage ich, eine Kommission zu erwählen, welche diese Sätze weiter berate,

Vorsitzender Erziehungsinspektor Piper erweitert diesen Antrag, indem er vor- schlägt, in die etwa zu wählende Kommission Juristen, Ärzte und Pädagogen zu berufen.

Kreisschulinspektor Weichert hält eine Weiterberatung der Leitsätze in einer Kummission für einen Rückschritt und ist deswegen gegen dieselbe.

Direktor Dr. «ündel beantragt, die Leitsätze, wie sie der Referent gegeben hat, anzunehmen mit der einzigen Änderung, dass man für Idiotie Geistesschwäche setze.

Kreisschulinspektor Weichert will für moralische Defekte den Ausdruck so- ziale Defekte.

Vorsitzender Erziehungsinspektor Piper: Wir haben zwei Anträge gehört, den des Herrn Landesgerichtsdirektor Jerusalem und den des Herrn Direktor Dr. Gündel und kommen nun zur Abstimmung (der erste Antrag wird abgelehnt, der zweite angenommen).

Fortsetzung in nächster Nr

Die Schulen der privaten Wohlthätigkeitsanstalten in Gefahr!

Der $ 11 des neuen Lehrerbesoldungsgesetzes mit seinen schädigenden Folgen für die Privatanstaltsschulen ist unseren Lesern bereits aus den Nummern 8 und 9/10 des letzten Jahrgangs dieser Zeitschrift bekannt. Auf der Kon- ferenz zu Elberfeld wurde diese Angelegenheit durch ein kürzeres Referat des Herrn Direktors Schwenk-Idstein auf die Tagesordnung gesetzt und in mehreren Debatten beraten. Das Ergebnis war eine im Sinne des Vortragenden gefasste Resolution mit dem Auftrage an den Vorstand, zur Beseitigung der Härte dieser Bestimmung sofort geeignete Schritte unternehmen zu wollen. Da in dieser Richtung nun bereits mit allerdings sehr negativen Erfolg —— etwas gethan worden ist, glauben wir im Interesse dieser Sache zu handeln, wenn wir dem fortlaufenden Konterenzbericht dieser Zeitschrift vorgreifend diesem Thema jetzt schon in einem besonderen Artikel Rechnung tragen.

Herr Direktor Schwenk führte in seinem Vortrage etwa folgendes aus: Da es durch den $ 11 des neuen Lehrerbesoldungsgesetzes (Nichtanrechnuug der in Privatanstalten zugebrachten Dienstjahre oder nur bei einer Nachzahlung von 270 Mk. pro Jahr an die Alterszulagekasse) unseren Anstalten fast ganz unmöglich gemacht ist, künftigbin Lehrkräfte für ihre pädagogische Wirksamkeit zu gewinnen, wird dadurch der Lebensnerv unserer Anstaltsschulen geradezu durchschnitten. Eine solche Behandlung von Seiten des Staates haben unsere Anstalten nicht verdient. Denn wenn sie auch privaten Charakters sind, so arbeiten sie darum doch nicht minder für das öffentliche Wohl. Da sie ausser- dem noch vollständig auf privater Wohlthätigkeit beruhen und dem Staate nicht die geringsten Auslagen verursachen, so könnte man erwarten, dass der Staat ibnen auch ein besonderes Entgegenkommen und Wohlwollen erzeigte. Statt dessen schädigt er sie aber gerade an der bedeutsamsten Stelle ihrer Wirk- samkeit.

Redner weist sodann auf einen höcht sonderbaren Widerspruch hin: Die

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Regierung verlangt, dass in unseren Anstalten im Interesse der Schularbeit nur staatlich geprüfte Lehrkräfte zur Verwendung kommen sollen und hebält sich bei jeder Anstellung das Recht der Genehmigung vor. Ausserdem lässt sie die pädagogische Thätigkeit in den Anstaltsschulen durch ihre schultechnischen Organe überwachen. Trotzdem aber schneidet sie ung den Weg ab, vollwertige Lehrer zu bekommen, die doch einzig und allein die Garantie für die von der Regierung erwarteten guten Erfolge in unseren Anstaltsschulen bieten.

Aber nicht nur die Anstalten, sondern auch die an diesen arbeitenden Lehrer resp. Lehrerinnen werden durch die besprochene Bestimmung in ungerechter Weise geschädigt. Es ist gewiss nichts Geringes, seine Kraft in den Dienst der Schwachen zu stellen, und es erfordert das eine grosse Aufopferungsfähigkeit, was auch alle städtischen Schulverwaltungen anerkennen, indem sie den Lehrern an Öffentlichen Hilfsschulen besondere Zulagen gewähren. Um so auffallender muss es darum erscheinen, dass dieselben Lehrer, nur weil sie an privaten An- stalten arbeiten, dem Staate darum aber nicht weniger nützlich sind, sogar noch vernachlässigt, hintenangesetzt und ungerechterweise benachteiligt werden. Noch unbegreiflicher wird die Bestimmung, wenn man in Betracht zieht, dass auf der anderen Seite solchen Lehrern, die überhaupt noch nie in Preussen thätig waren und von einem nichtpreussischen Staat in den ersteren eintreten, ohne jede Nachzahlung durch Genehmigung des Ministers ihre frühere, ausserhalb Preussens zugebrachte Dienstzeit angerechnet werden kann. Auch die vorbe- reitende Bedeutung, die die Anstaltsthätigkeit auf den Beruf eines Hilfsschul- lehrers hat, darf‘ nicht überseben werden. „Die Idiotenanstalten sind die Uni- versitäten für die Hilfsschullehrer.*“ Schon aus diesem Grunde sollte man den Übertritt der Anstaltslehrer an die Hilfsschulen erleichtern. Zum Schlusse be- tonte Verfasser noch, dass schon vorgeschlagen worden sei, die Anstalten sollten jene 270 Mk. pro Jahr von vornherein auf eigene Rechnung übernehmen. Das könne man aber den Woblthätigkeitsanstalten, bei denen die Mittel nie allzu- reichlich vorhanden wären, nicht zumuten.

Auf Grund der Schwenkschen Ausführungen wurde zunächst eine Kom- mission gewählt, welche diese Angelegenheit weiter beraten und dann der Ver- sammlung das Ergebnis mitteilen sollte. Diese Kommission legte am anderen Tage der Konferenz eine Resolution vor, die einstimmig angenommen wurde.

Ausserdem wurde der Vorstand beauftragt, zunächst eine Eingabe an den Herrn Minister zu verfassen. Diese datiert vom 2. Dezember 1901 und hatte folgenden Wortlaut:

An den Kgl. Staatsminister und Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten Herrn Dr. Studt, Excellonz, Berlin.

Die X. Konferenz für das Idiotenwesen, welche in der Zeit vom 17.— 19. Sept. ds. Js. zu Elberfeld abgehalten wurde, bat unter anderem eingehend über $ 11 des Lehrerbesoldungsgesetzes vom 3. März 1897 beraten, nach welchem die an Privat- anstalten zugebrachten Dienstjahre der Lehrer bei einem etwaigen Rücktritt derselben

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in den öffentlichen Schuldienst nicht oder nur teilweise zur Anrechnung kommen und zwar nur dann, wenn für jedes der anzurechnenden Jahre eine Summe von 270 Mk. an die Alterszulagekasse eingezahlt wird. Wie aus den Beratungen hervorging, wird diese Bestimmung nicht allein auf die Privatanstalten im engsten Sinne, d. h. auf die- jenigen, welche dem Privat-Interesse Einzelner dienen, angewandt, sondern auch auf die privaten Öffentlichen Wohlthätigkeitsanstalten ausgedehnt, welche die christliche Liebesthätigkeit ins Dasein gerufen hat und erhält. Für letztere Anstalten ist der er- wähnte Paragraph eine bedeutende Schädigung, ja es wird deren unterrichtliche Thätig- keit geradezu in Frage gestellt. Hält es ohnehin schon schwer, für den aufupferungs- vollen und oft wenig dankbaren Beruf eines Idiotenlehrers die genügenden Kräfte, ausgestattet mit der erforderlichen christlichen Gesinnung und pädagogischen Begabung, zu gewinnen durch die Anwendung der fraglichen Bestimmung ist es den Idioten- Unterrichtsanstalten unmöglich geworden, ihren Schutzbefohlenen den so nötigen und fruchtbringenden Unterricht in zweckmässiger Weise zu teil werden zu lassen. All- gemein wurde über den in den letzten Jahren hervortretenden Lehrermangel bitter geklagt und daher einstimmig folgende Resolution angenommen:

„Die X. Konferenz für das Idiotenwesen und die Schulen für schwach- befähigte Kinder hält es für eine schwere Schädigung der privaten Wohl- thätigkeitsanstalten, dass nach dem Lehrerbesoldungsgesetz vom 3. März 1897 deren Lehrkräften bei einem etwaigen Rücktritt in den öffentlichen Schuldienst die an diesen Anstalten verbrachte Dienstzeit obne Zahlung eines Beitrages an die Alterszulagekasse nicht voll und ganz angerechnet wird und erklärt es für dringend erforderlich, dass der $ 11 des genannten Gesetzes für lehrer und Lehrerinnen der privaten Wohlthätigkeitsanstalten nicht zur Anwendung komme.“ |

Diesem Beschluss der Konferenz erlauben wir uns noch folgendes beizufügen. Die Anstalten, die sich in dieser Angelegenheit an Eure Excellenz wenden, sind aus- schliesslich Wohlthätigkeits-Anstalten, die zum grössten Teil auf allgemeiner öffentlicher Wohlthätigkeit beruhen und keineswegs pekuniäre Vorteile privater Unternehmer oder Gesellschaften verfolgen, denen auch von den staatlichen Behörden die Anerkennung als „milde Stiftung“ zu teil geworden ist. Dadurch, dass diese An- stalten sich solcher Kinder annehmen, für die von staatlicher Seite nicht oder nur in ungenügender Weise gesorgt wird, arbeiten sie nicht minder für das Wohl der Öffentlichkeit, wie die Volksschule und jede andere „öffentliche* Anstalt. Unverkennbar ist auch der Segen, der gerade von dieser Art des barmherzigen Wirkens an den Schwächsten und Verlassensten im Volke auf das öffentliche Volksleben aus- strömt. Um so befremdlicher muss es darum erscheinen, dass diese Institute, die von Seiten der Regierung ein besunderes Mass von Wohlwollen und Entgegenkommen slauben erwarten zu dürfen, durch den genannten $ 11 des neuen preussischen Lehrer- besoldungsgesetzes in so schwerer Weise geschädigt und benachteiligt werden.

Die Unterrichts- und Bildungsanstalten für schwachbefähigte Kinder sind in ihrer Erziehungsarbeit vollständig auf die Thätigkeit und Mithilfe vollwertiger Lehrkräfte angewiesen. Da nach dem Inkrafttreten des Lehrerbesoldungsgesetzes sich aber keine Lehrer mehr finden, die bereit sind, in den Dienst unserer Anstalten zu treten, so

61 liegt der Unterricht in einzelnen derselben in den letzten Jahren immer mehr darnieder, und diese Anstalten sehen sich dadurch in die überaus missliche Lage versetzt, den Anforderungen, die an sie gerade in unterrichtlicher Beziehung gestellt werden, nur noch in mangelhafter Weise nachkommen zu können.

Trotzdem werden aber die Anstalten künftighin nach dem jüngsten Erlass Eurer Excellenz vom 26. März 1901 einer besonderen schultechnischen Beaufsichtigung unter- stellt. Dieser Erlass, sowie eine frühere Verfügung, wonach die Anstellung von Lehr- kräften in privaten Idioten-Anstalten einer besonderen Genehmigung der Königl. Re- gierung bedarf, lassen sich mit der erst erwähnten Thatsache nur schwer in Einklang bringen. Obwohl auf der einen Seite den Anstalten die Erlangung staatlich anerkannter Lehrkräfte unmöglich gemacht ist, verlangt die Königl. Regierung doch auf der andern Seite, dass seminaristisch gebildete Lehrer in den Privatanstalten Verwendung finden, und dass die Leistungen der Anstaltsschulen den amtlichen Revisionen genügen sollen. Wir sind im Prinzip durchaus nicht gegen eine schultechnische Überwachung unserer Unterrichtsarbeit, ja wir wünschen dieselbe sogar, aber solange uns staatlicherseits die Möglichkeit genommen ist, tüchtige Kräfte für unsere Schularbeit zu gewinnen, können wir unmöglich den an uns gestellten Forderungen, sowie unserem eigenen Streben, den schwachbefähigten Kindern in unterrichtlicher und erziehlicher Hinsicht in denkbar bester Weise zu dienen, Genüge leisten.

Als Mittel, diesem Übelstande abzuhelfen, wurde schon empfohlen, die Anstalten sollen bei der Anstellung von Lehrern kontraktlich jene Rückzahlungssumme, die bei einem etwaigen Rücktritt in den öffentlichen Schuldienst an die Alterszulagekasse zu entrichten ist, von vornherein auf eigene Rechnung übernehmen. Dass dadurch der Not teilweise abgeholfen wäre, ist sicher; aber kann man Wohlthätigkeitsanstalten, die auf milde Gaben angewiesen sind, zumuten, für jeden angestellten Lehrer ausser dem Gehalte pro Jahr noch 270 Mk. zu bezahlen? Abgesehen davon, würde es auch dann noch den Anstalten unmöglich sein, Lehrer länger als 10 Jahre in ihrem Dienste zu behalten. Die meisten Lehrer würden nach einigen Jahren wieder austreten, um in den sicheren Staatsdienst zurückzukehren, und dass ein derartiger Wechsel der pädagogischen Arbeit unserer Anstalten nichts nützen, sondern nur schaden kann, ist bei allen Fachleuten auf diesem Gebiete eine allbekannte Erfahrung.

Auf Grund der vorstehenden Ausführungen erlauben sich die unterzeichneten Vertreter der privaten Idioten-Erziehungs-Anstalten Euere Excellenz gehorsamst um baldige entsprechende Massnahmen gegenüber dieser für die privaten Unterrichts-An- stalten immer drückender und verhängnisvoller werdenden Notlage zu bitten. Die Unterzeichneten geben sich der Hoffnung hin, dass es Eurer Excellenz möglich ist, durch eine Verfügung dahin zu wirken, dass unter den „privaten“ Anstalten des Aus- nahmepassus in $ 11 des Lehrerbesoldungsgesetzes nur solche verstanden werden, welche Geschäftsunternehmungen einzelner Privatpersonen sind, nicht aber auch die auf privater Wohlthätigkeit beruhenden und im Geiste der inneren Mission arbeitenden Erziehungsanstalten. Sollte es Eurer Excellenz unmöglich sein, in diesem Sinne dem besprochenen Missstande Abhilfe zu schaffen, so würde den meisten Leitern der privaten Unterrichtsaustalten die tranrige Erfahrung nicht erspart bleiben, die in den letzten

Jahrzehnten unter dem sichtlichen Segen Gottes aufgeblühten Anstaltsschulen wieder zurückgehen und zerfallen za sehen.

Da aber auf einzelne Anstalten für Schwachsinnige schom jetzt $ 11 des Lehrer- besoldungsgesetzes eine Anwendung nicht findet, so hoffen wir zuversichtlich, dass Euere Excellenz auch die übrigen auf demselben Boden stehenden Anstalten von den Härten des genannten Paragraphen befreien werden.

Eurer Excellenz gehorsamster Vorstand der Vereinignng für das Idiotenwesen. Als Antwort traf darauf folgendes ıninisterielle Schreiben vom 11. Januar 1902 ein. | An den Direktor der Idioten-Erziehungsanstalt, Herrn Schwenk in Idstein. ` Auf die Eingabe vom 2. Dezember 1901.

Unter den „öffentlichen“ Taubstummen-, Blinden-, Idioten-, Waisen-, Rettungs- oder ähnlichen Anstalten im Sinne des $ 10 Abs. 7 Nr. 2 des Lehrerbesoldungsgesetzes sind nur die von den Gemeinden oder sonstigen kommunalen Verbänden unterhaltenen Anstalten zu verstehen. Alle übrigen derartigen Anstalten, auch die auf privater Wohl- thätigkeit beruhenden und im Geiste der inneren Mission arbeitenden gehören zu den privaten Anstalten. Die an ihnen von Lehrern und Lehrerinnen zugebrachte Be- schäftigungszeit kann daher als Dienstzeit nur unter den im $ 11 a.a. O. gedachten Vorausseizungen angerechnet werden.

Wenn ich auch die Schwierigkeiten des I,ehrerersatzes, mit denen diese Anstalten zu kämpfen haben, nicht verkenne, so bin ich doch bei der zwingenden Natur dieser gesetzlichen Vorschriften nicht in der Lage, Ihrem Antrage entsprechend anzuordnen, dass die Dienstzeit an den Anstalten der inneren Mission gemäss $ 10 a. a. O. als öffentlicher Schuldienst anzurechnen ist. Dagegen bin ich bereit, wo sich im Einzel- falle besondere Härten zeigen, den an solchen Anstalten wirkenden Lehrkräften bei ihrem Übertritt in den öffentlichen Schuldienst die Nachzahlung der gesetzlichen Bei- träge an die Alterszulagekasse durch Gewährung mässiger Beihilfen otwas zu er- leichtern.

Den Mitunterzeichnern der Eingabe von dem vorstehenden Bescheide Kenntnis

zu geben stelle ich ergebenst anheim. Im Auftrage: Kügler.

Was nun? Dass der Herr Minister kaum in der Lage sein würde, an jener gesetzlichen Bestimmung zu Gunsten unserer Wohlthätigkeitsanstalten etwas ‚u ändern, resp. ihr eine günstigere Auslegung zu geben, war vorauszusehen. Darum dürfen wir uns aber doch nicht mit diesem Resultat zufrieden geben, auch wenn der Herr Minister verspricht, im einzelnen Falle eine mässige Bei- hilfe eintreten zu lassen. Dadurch dürfte sich kaum einer unserer jüngeren Lehrer zur Annahme einer Stellung bewegen lassen, die ihn in seinen späteren staatlichen Gehalts- und Pensionsverhältnissen nur schädigen wird. Es bleibt also nur noch ein Weg, der durchs Abgeordnetenhaus. Wir wissen zwar recht wohl, dass, um auf diesem Wege etwas zu erreichen, recht viel Arbeit nötig ist und dass auch bier nicht mit Bestimmtheit anf den gewünschten Erfolg ge-

JRR: UHR

rechnet werden darf. Aber es bleibt uns nichts anderes übrig, wenn wir nicht bald vor dem pädagogischen Bankeroti unserer privaten Erziehungsanstalten stehen wollen. Als erstes Erfordernis bei einem derartigen Vorgehen muss die Vollzähligkeit des Mitmarschierens aller Anstaltsvertreter hervorgehoben werden. Wir dürfen uns leider nicht mit dem Gedanken schmeicheln, dass bei derartigen Anlässen in den Reihen der Idiotenanstaltsleiter ein Übermass von Zusammen- gehörigkeitsgefühl und solidarischer Interessenbethätigung vorhanden sei. Eher ist das Gegenteil Gleichgültigkeit und Lauheit der Fall. Möge es dies- ınal anders werden! Zunächst wäre von jeder einzelnen Anstalt aus eine Eingabe an das Abgeordnetenhaus abzuschicken. Ausserdem müssten so viel als möglich die Abgeordneten persönlich für unsere Sache gewonnen werden, damit diese im einzelnen einen Einblick in die besprochene Notlage unserer Anstalts- schulen erhalten. Hier hat gewiss jeder der Anstaltsvorstände Anknüpfungs- punkte, die er im Interesse unserer Schulen benützen kann. Dabei sei noch be- merkt, dass sämtliches zu diesen Operationen nötige Material auch die er- wähnte Petition an das Abgeordnetenhaus von der Schriftleitung in Idstein in Bälde jeder Anstalt zugeschickt werden wird, wie umgekehrt alle Wünsche Ratschläge, Winke oder Anfragen in dieser Angelegenheit dorthin zu richten sind. Von hier aus werden auch die übrigen Privatanstalten, soweit sie Unterrichts- zwecke verfolgen und ebenfalls unter die Bestimmung jenes Paragraphen fallen, in Kenntnis gesetzt und zu einem ähnlichen Vorgehen aufgefordert werden. Z.

Mitteilungen.

Schwelm. (Hilfsschule). Die Hilfsschule vollendet Ostern 1902 das zweite Jahr ihres Bestehens. Sie wurde im vergangenen Schuljahre von 34 Kindern, 19 Knaben und 15 Mädchen, besucht. Nach dem Religionsbekenntnis der Eltern sind 25 Kinder evangelisch-lutherischh 3 Kinder reformiert und 6 Kinder katholisch. Die grosse Schülerzahl veranlasste den Leiter der Hilfsschule, Lehrer Weniger, den Antrag auf Errichtung einer zweiten Klasse zu stellen. Die städtische Schulinspektion, welche sich durch einen Besuch in der Hilfsschule von der Notwendigkeit dieser Forderung überzeugte, beschloss die Errichtung einer zweiten Klasse und die Anstellung eines zweiten Lehrers.

M.-Gladbach. (Freisprechung.) Aus Anlass des von uns in Nr. 1/2 mit- geteilten Vorganges in der Blödsinnigen-Anstalt Hephata hatte sich am 9. März der Inspektor der Anstalt vor der Düsseldorfer Strafkammer wegen fahrlässiger Tötung zu verantworten. Nach eingehender Beweisaufnahme gelangte das Gericht zu der Ansicht, dass hier ein Verschulden eines Dritten nicht vorliege Auch der Staats- anwalt stellte keinen Antrag. Es wurde festgestellt, dass der Schacht schon seit Jahren nicht mehr benutzt wurde und mit Brettern verschlossen war. Das Gericht sprach den Angeklaglen frei und legte die Kosten des Verfahrens einschliesslich der Verteidigung der Staatskasse zur Last.

Worms a. Rh. (Hilfsschule). Von jeher schon hatte man in hiesiger Stadt für die Schule ein warmes Herz und eine offene Hand. Als man deshalb anfangs März 1899 an die Stadtverwaltung herantrat und um Errichtung einer Hilfsklasse or- suchte, wurde die Sache anstandslos und einstimmig von Schul- und Stadtvorstand genehmigt. Die Führung der Klasse wurde dem Lehrer Gg. Hüttner übertragen, der als Taubstummenlehrer ausgebildet ist, und nicht nnr oinen Kursns hei Gutzmann-

Berlin über die Heilung von Sprachgebrechen mitgemacht, sondern sich auch privatim Jahre lang praktisch und theoretisch mit dem Unterrichte schwachsinniger Kinder beschäftigt hat. Am 18. April 1899 wurde die Hilfsklasse mit 25 Kindern 14 Knaben und 11 Mädchen eröffnet. Bis Ostern: 1901 sind davon entlassen worden 7 Kinder, welche alle erwerbsfähig waren. Sie wurden: 1 Näherin, 1 Büglerin, 1 Dienstmädchen, 1 Kindermädchen, 3 Fabrikarbeiter. Infolge Schwachsinn höheren Grades mussten wegen Bildungsunfähigkeit 2 Kuaben der ldiotenanstalt in Bessungen überwiesen werden. Die Schülerzahl hatte sich bis Ostern 1901 auf 31 gesteigert, wozu noch 10 Neunaufnahmen kamen, zusammen eine Zahl, welche für eine Klasse zu viel gab. Deshalb wurde mit Beginn des neuen Schuljahres eine II. Klasse ein- gerichtet, welche Lehrer Lautenschläger II, der ebenfalls als Taubstummenlehrer ausgebildet ist, übertragen wurde. -— Jetzt haben wir also 2 Klassen, wovon die I. 22, die II. 19 Kinder zählt. Jede Klasse erhält wöchentlich 28 Stunden, von denen 26 die beiden Lehrer erteilen. 2 Handarbeits- und 2 Handfertigkeitsstunden werden von anderen Kräften gegeben. —- Die Unterrichtsstunden sind in den zwei Klassen konform gelegt, damit ein Austausch der einzelnen Kinder in den einzelnen Disciplinen nach ihrer Qualifikation stattfinden kann. Bei der Aufstellung des fehrplanes sind Lehrpläne verschiedener Hilfsschulen herangezogen worden; Lehrgegenstände sind die- selben wie in andern Hilfsschulen. Nach Neujahr wird’ von den Klassenlehrern der Klasse VIII der Volksschule eine Liste derjenigen Kinder angefertigt, welche der Hilfsschule zugeführt werden sollen. Diese Kinder werden dann von dem Inspektor der Stadtschule, dem den Klassen beigegebenen psychiatrisch gebildeten Arzt und einem Lehrer der Hilfsschule einer Prüfung unterzogen. Der Arzt kommt auch das Jahr über öfters in die 2 Klassen und steht den Lehrern beratend zur Seite. Dafür erhält er eine Pauschalsumme. Die Lehrer erhalten eine Personalzulage von 200 Mk. Für jedes Kind wird bei der Aufnahme ein Personalbuch (Klaebe) angelegt und bis zur Entlassung weitergeführt. Bei Behörden und Privaten erfreut sich die Schule des besten Wohlwollens. Bei einer Kreisschulkommissionsprüfung, im Beisein von Herrn Kreisschulinspektor Professor Dr. Karg und Herrn Schulinspektor Scherer, zeigten sich gute, zufriedenstellende Resultate, sodass volle Anerkennung und Zu- friedenheit ausgesprochen wurde.

.— du _

Briefkasten.

Auf Wunsch teilen wir hierdurch mit, dass es in dem Berichte über die X. Kon- ferenz Seite 93, Zeile 7 und 8 nicht heissen soll .deformiert“ und „Deformität‘, sondern „praeformiert“ "und „Praeformität“. R. W. i. L, Dass dem Konferenzberichte kein Inhaltsverzeichnis beigegeben ist, halten auch wir für einen Mangel. Je umfänglicher der Bericht mit der Zeit geworden ist, desto berechtigter erscheint der Wunsch nach einem solchen Verzeichnisse. Dir. Sch i. J}. Für freundliche Zusendung der Clichés besten Dank! F. F. I. St, 6. W. i. H., Gesch. 6. I. H., N. i. @.-L., Dir. @. i. L, Br.P. EL. Er- halten. W. 6. i. D. Unsere Mitteilungen aus dem Berichte der X. Konferenz werden jedenfalls in Nr. 6 schliessen. H. P. i. D. Die Mitteilung ist ganz schön, aber doch nicht wichtig genug. Im übrigen Dank und Gruss! E H. i. P. Erhalten und mit Mk. 23.50 gutgeschrieben. M. W. i. Seh. Für diese Nr. kam der B. zu spät, im übrigen werden Ihre Wünsche erfüllt werden. Besten Dank und Gruss! -

Inhalt. Wie wird die Hilfsschule der Individualität geisti schwacher Kinder gerecht? (E. Kannegiesser.) X. Konferenz für Idiotenwesen und che für schwach- sinnige Kinder. (Fortsetzung.) Die Schulen der privaten Wohlthätigkeitsanstalten in Gefahr. (Z.) Mitteilungen: Schwelm, M.-Gladbach, Worms a. Rh. Briefkasten.

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Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. Druck von Johannes Pässler in Dresden.

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Nr. 5. ' XVIIL) Jahrg. ° = ra, a Jeitsch für die

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Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Arzten und Pädagogen herausgegeben von Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitäterat Dr. med. H. A. Wildermuth,

Spezialarzt Dresden - Strehlen, für Nervenkrankheiten Residenzstrasse 27. in Stuttgart.

Erscheint jährlich in 12 Nummern von i Zu beziehen durch alle Buchhandlungen

nindestens elnem Bogen. Anzeigen fiir | a e 1902 ' und Postäinter, wle auch direkt von der

dio gespaltene Petitzeile 25 Pfg. Litte- ` al . Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, rarische Beilagen 6 Mark. | | einzeine Nummer 50 Pfy.

Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

X. Konferenz für das Idiotenwesen

“und Schulen für schwachsinnige Kinder. (Fortsetzung.)

Herr Sanpitätsrat Dr. Berkhan erhält das Wort zu seinem Vortrage:

Über einige besondere Gruppen unter den Idioten. Meine verehrten Anwesenden!

Es ist nicht leicht, eine mustergiltige Einteilung der verschiedenen Formen, welche die Idiotie (Schwachsinn mittleren und höheren Grades) bietet, zu schaffen. Am besten thut man wohl, wenn man dieselben nach den Ursachen und den durch diese veranlassten krankhaften Veränderungen im Gehirn in verschiedene Gruppen sondert.

Auf dem internationalen medizinischen Kongress in Paris (August vorigen Jahres) war die Einteilung der verschiedenen Gruppen der Idiotie Gegenstand einer lebhaften Erörterung

Shuttleworth (Lancaster) und Fletcher Beach (London) gaben an, dass die pathologische Anatomie der Idiotie unter drei Gesichtspunkten sich abhandeln liessen. Diese beträfen

I. Angeborene Bildungsfehler. Zu dieser Gruppe gehörten Mikrocephalie, Hydrocephalie, Skaphocepbalie, (langer schmaler Schädel, ron der Gestalt eines Bootes, wie er unter den Eingeborenen von Neukaledonien und auf den Karolinen vorkommt), sogenannter Mongolentypus, (charakteristischer Schädel, Bildungsfehler

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im Knochen, Haut- und Schleimhautgewebe, fast immer mit einer Anomalie des kleinen Fingers verbunden), sporadischer Kretinismus infolge Fehlens der Schilddrüse oder abnormen Baues derselben.

II. Bildungsfehler, die während der Entwickelungsperiode entstehen. Zu dieser Gruppe gehören l’älle von Eklampsie oder Schäuerchen. Die anatomische Grundlage wird durch Blutaustritt oder entzündliche Veränderungen abgegeben. Ferner Fälle von Epilepsie, Syphilis und Lähmungen, welche vor oder nach der Geburt in Erscheinung treten, bei denen man Gefässveränderungen oder Atrophie des Gehirns fand.

III. Erworbene Fehler. Zu dieser Gruppe gehören Kompression des kind- lichen Schädels während der Geburt durch zu enges Becken, bei allzu langer Dauer der Entbindung, seltener nach Anwendung der Zange und durch zufällige Gewaltseinwirkung.

Von allen Einteilungen der verschiedenen Formen oder Gruppen in dem Gebiete der Idiotie erscheint diese, von mir hier nur gekürzt wiedergegebene, als die zur Zeit beste, da sie die Ursachen derselben und die durch diese ge- setzten Veränderungen des Gehirns sondert.

Ich will nun einzelne dieser Gruppen hier behandeln und zwar Solche, die gegenwärtig ein besonderes Interesse bieten, zumal bei einigen derselben eine ärztliche Behandlung in den Vordergrund tritt. Dahin gehört zunächst:

Die Gruppe der mit Wasserkopf behafteten Idioten.

Der angeborene oder bald nach der Geburt sich zeigende chronische Wasserkopf besteht in einer zunehmenden Ansammlung von Flüssigkeit in den Hirnhöhlen, besonders den seitlichen, und einer dadurch bedingten Ausdehnung des kindlichen Schädels, dessen Nähte und Fontanellen noch nicht geschlossen sind. Entweder wächst der Schädel stetig bis zu einer ungeheuren Grösse, oder es tritt ein Stillstand im Wachstum ein, so dass die erreichte Grösse eine bleibende wird, oder aber es tritt nach einem Stillstande im Wachstum wiederum eine Zunahme des Schädels auf.

Ein ausgesp:ochener Wasserkopf zeigt die Stirn breit vorgewölbt, die Scheitel- birne nach aussen gedrängt. Dabei sind die Haare nur spärlich, die Kopfhaut mit blau durchschimmernden Venen durchzogen, die Fontanellen weit, die Nähte klaffend.

Der Kopf kann eine solche Ausdehnung gewinnen, dass er nicht ohne Schwanken aufrecht getragen werden kann, ja zum ständigen Liegen zwingt.

Das Gesicht erscheint unter dem grossen Kopfe klein, fast wie ein winziges Dreieck unter der mächtigen Stirn.

Die Augäpfel sind nach abwärts gedrängt, so dass zwischen den Lidspalten das Weiss über dem Augenstern und nur ein kleines Segment der Iris über dem unteren Lidrand sichtbar ist. Es besteht oft Schielen oder unstäte Be- wegungen der Augäpfel.

Im Gegensatze zu dem grossen Kopfe zeigt sich der übrige Körper im Wachstum zurück, klein und abgezehrt, die Beine oft gelähmt.

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Je nach der mehr oder weniger raschen Verlaufsweise, je nach dem mehr oder weniger hohen Grade der Krankheit sind die Schädigungen, welche das Gehirn durch den gesteigerten Druck der Flüssigkeit in seinen Hirnhöhlen er- leidet, verschieden.

Ein grosser Teil der Kinder, welche mit Wasserkopf geboren werden, stirbt während oder bald nach der Geburt. Wächst der Schädel stetig und rasch bis zu einer erschreckenden Grösse, dann bleibt das Sprechen aus, ebenso das Ver- mögen zu gehen, das Kind zeigt sich blödsinnig und lebt nicht lange.

Geht das krankhafte Fortschreiten des Wasserkopfes langsam und mit endlichem Abschluss eines Stillstandes vor sich, so hat das Leiden nur Schwach- sinn eringeren oder mittleren Grades im Gefolge, und wir finden demgemäss solche Kinder in den Schulen der Idiotenanstalten, bei geringeren Graden auch in Hilfsschulen. Wyss (Zur Therapie des Hydrocephalus, Korrespondenzblatt für schweizerische Ärzte 1893) verfolgte das Schicksal von 41 Fällen von Wasser- kopf, davon brachten es 5 zum Schulbesuche. Drittens: Es kann das Gehirn dem Wasserdruck widerstehen und weiter wachsen, sagen wir, es kann der Wasserkopf heilen, so dass die geistigen Thätigkeiten ungetrübt bleiben. So be- richten die berühmten Kinderärzte Gölis und West ein paar Fälle, in denen die geistige Thätigkeit normal wurde und nichts zy wünschen übrig liess. Ich selbst beobachtete und verfolgte die Tochter eines Schuhmachers, welches »/, Jahr alt einen Kopfumfang von beinahe 50 cm hatte, 1°, Jahr alt 51 cm, 13 Jahr alt 57 cm, jetzt 35 Jahr 65'/, cm zeigt. Dieselbe ist geistig voll- ständig gesund. Sie sehen auf vorliegender Photographie die Bildung des Kopfes und Hackenfuss bei derselben

Es ist, und das glaube ich hier noch anführen zum müssen, von ver- schiedenen Gelehrten (Perls u. Edinger) das nicht seltene Zusammentreffen von leichtem Wasserkopf und besonderer geistiger Fähigkeit hervorgehoben worden und möchte ich hier Prof. Hermann von Helmholtz erwähnen, von dem ich Ihnen eine Abbildung zeige. Er hatte, wie er selbst erzählt hat, in seiner Jugend leichten Hydrocephalus, und könnten die letzten Spuren davon bei der Sektion noch nachgewiesen werden. Dabei war er einer der grössten Gelehrten, Erfinder des Augenspiegels.. Sein Kopfumfang betrug 59 cm*).

So hat der angeborene Wasserkopf in seiner Verlaufsweise eine Geschichte wie wohl keine andere Krankheit.

Die Erkenntnis dieser Krankheit bietet, wenn der Fall entwickelt ist, keine Schwierigkeit, da die Grössenzunahme des Kopfes meist schon auf dem ersten Blick sie erkennen lässt. Liegt aber eine Erkrankung geringeren Grades vor, so gestaltet sich die Entscheidung zuweilen schwierig. Es kommt dabei haupt- sichlich der vergrösserte rhachitische Schädel in Frage, welcher mit Wasser- kopf verwechselt werden kann. Ein rhachitisches Kind zeigt aber, wenn es auch in der geistigen Entwickelung zurück sein kann, nicht die gestörte Intelli- er wie ein wasserköpfiges, sein Blick ist nicht so matt, seine Beweglichkeit

) David Hansemann: Über das Gehirn von H. von Helmholtz. an! für a und Physiologie der Sinnesorgane. Bd. XX. 1899.

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zeigt nicht die Störungen in Schwäche oder Lähmung. Zudem findet man bei letzterem Erscheinungen der Rhachitis in. den verdickten Hand- und Fuss- gelenken, in dem sogenannten Rosenkranz an den Rippenenden. Anhaltspunkte kann man auch gewinnen, wenn man die Masse gesunder Kinder zu Hilfe nimmt und vergleicht, indem der Kopfumfang eines gesunden Neugeborenen durchschnittlich 34'/),;, cm, bei Kindern von 1 Jahr = 45 cm, von 5 Jahren 90 cm, von einem Erwachsenen 53 cm beträgt, beim weiblichen Geschlecht in der Kindheit ',—1 cm, bei Erwachsenen 2-2'/, cm weniger.

Man hat eine Heilung des Wasserkopfes versucht, indem man das Wasser durch Punktion und Trepanation aus den Hirnhöhlen entleerte. von Berg- mann, Heubner, Rehn und andere haben manche günstige Erfolge erzielt, indem nach der Operation ein Stillstand im Wachstum des Kopfes eintrat und damit die geistige Entwickelung Fortschritte machte.

Unter den ÖOperationsweisen verdient zur Zeit am meisten Vertrauen die Lumbalpunktion, weil diese am ungefährlichsten ist. Dieselbe wird ausgeführt, indem man eine Hohlnadel zwischen dem unteren Rande des 3 und dem oberen Rande des 4. Lendenwirbels einstösst und die Hirnrückenmarksflüssigkeit ablässt.

Dann möchte ich besprechen:

Die mikrocephalen Idioten

Die Mikrocephalie besteht in aussergewöhnlicher Kleinheit des Kopfes und damit aussergewöhnlicher Kleinheit des Gehirns. Während der Kupfteil auffallend klein ist, ist der Gesichtsteil wenig hinter der Durchschnittsgrösse zurückbleibend und der übrige Körper im Verhältnis gut entwickelt.

Durch die Kleinheit des Schädels bedingt, zeigt sich die Stirn niedrig und stark zurückgeneigt, die Wölbung des Schädels gering, das Hinterhaupt schein- bar fehlend, die Augenbrauenbogen stark hervortretend, die Nase ebenfalls stark vortretend, gebogen, das Kinn zurücktretend, die Kopfhaut meist dick und bei hochgradiger Mikrocephalie mit einigen Längsfurchen und Wülsten versehen, durch das stärkere Wachstum der äusseren Weichteile bedingt.

Durch diese Merkmale erhält die Kopfbildung etwas Tierähnliches.

Man hat früher geglaubt, dass eine vorzeitige Verknöcherung der Schädel- nähte Ursache für das Zurückbleiben des Schädelwachstums, also der Mikro- cephalie sei, was durch Beobachtung nicht bestätigt ist. Im Museum Broca werden nach Tacquet (de l’obliteration des sutures du crâne chez les idiots. Paris 1892) mehr als 40 Mikrocephalen-Schädel aufbewahrt, olıne dass bei einem einzigen es sich um frühzeitige Nahtverknöcherung gehandelt hätte.

Das Gehirn der Mikrocephalen ist klein, seine Windungen und Furchen sind flach und einfach; besonders gilt dies von den Stirnwindungen. Die Insel liegt meist unbedeckt. Es hat ein solches Gehirn dadurch eine grosse Ähnlich- keit mit dem Gehirn der menschenähnlichen Affen, welches in Form und Ge- stalt dem Menschengehirn eines 8 Monate alten Foetus gleicht.

Gegenüber den gewöhnlichen Formen der Mikrocephalen mit kleinem Kopf und sonst gut entwickeltem Körperbau giebt es auch Mikrocephalen, die Zwerge

69 bleiben. Ihr Wuchs überschreitet nicht den von Kindern von 8 Jahren, ihr Körper bewahrt bis in das Alter eines Erwachsenen kindliche Formen. Während der Kopfumfang bei den erstgenannten mit sonst gut entwickeltem Körperbau 42—42,5 cm erreichen kann, schwankt er bei den zwerghaften Mikrocephalen zwischen 32 nnd 37 cm.

Eigentümlich ist, dass nicht selten mehrere Kinder derselben Familie mikrocephal sind.

Früher hielt man das Vorkommen dieser Krankheit für selten. Ich habe gefunden, dass in grösseren Idiotenanstalten immer ein bis mehrere Mikro- cephalen vorhanden sind. Rechnet man diejenigen hinzu, welche meist unbeachtet in ihren Familien verbleiben, so ergiebt sich doch eine nicht geringe Zahl derselben.

Die geistige Entwickelung bei den Mikrocephalen ist nur eine geringe, die Sprache gewöhnlich unartikuliert, die Gesichtszüge oft grinsend, die Haltung des meist wohlgestalteten Körpers nachlässig, die Bewegungen hastig, zuweilen mit Nachahmungssucht verbunden. Bei weniger hochgradigen Formen, wo man sie auch Halb-Mikroceplalen zu nennen pflegt. ist der Schwachsinn ein geringerer, aber erwerbsmässig wird wohl keiner von ihnen.

Es giebt gutmütige ruhige Mikrocephalen, aber auch unruhige, in be- ständiger Bewegung befindliche, leicht erregbare und auch bösartige.

In Darwins „Abstammung oder Ursprung des Menschen“ findet sich unter dem Abschnitt „Entwickelungshemmungen“ die erregte Form der Mikro- cephalen folgendermassen beschrieben : „Ihre Intelligenz und die meisten ihrer geistigen Fähigkeiten sind äusserst schwach. Sie sind nicht im stande, die Fähigkeit der Sprache zu erlangen und sind einer fortgesetzten Aufmerksamkeit völlig unfähig, aber sehr geneigt, nachzuahmen. Sie sind kräftig und merk- würdig lebendig, beständig herumtanzend und springend und Grimassen schneidend. Sie kriechen oft Treppen auf allen Vieren hinauf und klettern merkwürdig gern an Möbeln oder Bäumen in die Höhe. Wir werden hierdurch an das Entzücken erinnert, mit welchem alle Knaben Bäume erklettern; und dies wiederum erinnert uns an junge Lämmer und Ziegen, welche, ursprünglich alpine Tiere, sich daran ergötzen, auf jeden Hügel, wie klein er auch sein mag, zu springen“.

Bei der Gestaltung des Schädels spielt einerseits der Druck eine Rolle, welcher von innen durch das wachsende Gehirn ausgeübt wird, anderseits der Zug, welcher von aussen durch die Muskulatur wirkt. Die Mikrocephalie nun besteht in einer Bildungshemmung des Gehirns, so dass ein Innendruck des wachsenden Gehirns fehlt. Diese Missbildung wird nicht veranlasst durch vor- zeitige Verknöcherung der Schädelnähte, da dieselbe nur äusserst selten gefunden worden ist, wie ich schon zu Anfang erwähnte.

In der falschen Annahme, dass frühzeitige Nahtverknöcherung das Wachs- tum des Gehirns hindere und so Mikrocephalie hervorrufe, hat man in den neunziger Jahren verschiedentlich Knochenstreifen längs der Pfeil- und Kranz- naht ausgesägt, um so eine Entwickelung des Gehirns zu ermöglichen. Die

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Operation hat Todesfälle im Gefolge gehabt; bei denen, welche dieselbe über- standen, zeigte sich, dass im weiteren Verlauf die geistige Entwickelung, Rein- lichkeit, Sprechenlernen keine bessere wurde, als sie bei andern mikrocephalen und nicht mikrocephalen Idioten beobachtet wird. Es dürfte daher wohl niemand, der mit den Verhältnissen vertraut ist, eine Operation derart wieder unternehmen.

Die kretinoiden Idioten. Sporadischer Kretinismus, Myxödem*) der Kinder.

Kretinismus, d. h. Zwergwuchs mit Verunstaltung des Körpers, oft mit Kropfbildung und geistiger Schwäche einhergehend, kommt in den Thälern hoher Gebirgsstöcke, aber auch in feuchten Niederungen vor, z. B. auf der Rheininsel Niederwert. In diesen Gegenden ist der Kretinismus endemisch.

Demgegenüber giebt es auch einen sporadisch vorkommenden Kretinismus, der mit Idiotie einhergeht.

Diese Krankheit beruht, wie die Neuzeit gelehrt h:t, auf einem Mangel der Schilddrüse, jenes drüsigen Organs, welches am unteren Teil des Halses vor und neben der Luftrölre und dem Kehlkopfe gelegen ist, oder auf Ver- kümmerung derselben, wodurch die genannte Entwickelung gehemmt wird.

Der sporadische Kretinismus ist entweder angeboren, oder er zeigt sich nach dem ersten Lebensjahre

Ein damit behaftetes Kind zeigt Zwergwuchs und ein altes Aussehen. Der Kopf ist verhältnismässig gross und rund, die Haare spröde, die Nasenwurzel eingesunken, die Nasenflügel breit, die Augenlider gedunsen, die Lippen dick, die Zunge geschwollen, oft blau, zwischen den Lippen hervorragend, die Zähne abgestockt, der Leib dick, meist mit einem Nabelbruch verbunden. Die Haut des Körpers zeigt sich geschwollen, teigig (myxödematös), blass, trocken und kalt anzufühlen, mit reichlicher Venenentwickelung, der Herzstoss verlangsamt, so- dass Zunge, Hände und Füsse von Zeit zu Zeit blau werden, das Wachstum der Längsknochen zurückgeblieben.

Die geistige Entwickeluns ist gehemmt und dadurch der Gesichtsausdruck ein blöder, die Entwickelung der Sprache eine verspätete, meist nur in dem Sprechen einzelner Worte oder Sätze bestehend. Stehen- und Gehenlernen tritt ebenfalls erst nach mehreren Jahren auf, der Gang hat etwas Unbeholfnes, Unreinlichkeit bleibt jahrelang.

Es giebt auch Fälle, in denen nicht alle diese eben erwähnten Erschei- nungen vorhanden sind, Fälle, welche Abstufungen oder Übergänge bilden, von den Franzosen „formes frustus“ genannt.

Ich muss noch hinzufügen, dass Hofmeister in Tübingen uns an Röntgen- Bildern solcher kretinoiden Idioten gezeigt hat, dass das Auftreten von Knochen- kernen in den Knochenenden der langen oder Röhrenknochen zwar erfolgt, aber ausserordentlich spät und der Fortschritt der weiteren Verknöcherung sich ungewöhnlich in die Länge zieht.

Ich komme nun zur Behandlung dieser eigenen Form von Idiotie und

*) uvce Schleim, adyu« wässrige Geschwulst.

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möchte dabei folgendes vorausschicken: Kocher in Bern*, hatte gefunden, dass sich bei Patienten, die mit Kropf‘ behaftet waren, bald nach der Entfernung des ganzen Kropfes Störungen des Allgemeinbefindens einstellten. Es trat Schwäche, Ziehen und Schmerzen in den Gliedern und das Gefühl von Kälte auf. Dann nahm die geistige Regsamkeit ab. Dies war namentlich bei Kindern, welche die Schule noch besuchten, der Fall, so dass die Lehrer eine immer zunehmende Abnahme ihıer geistigen Fähigkeiten beobachteten. Die- selbe sprach sich vorzüglich in einer Langsamkeit der Gedanken aus, so dass die Kinder sich länger als gewöhnlich besinnen mussten, bis sie die Antwort gaben. Kinder, welche zu den besten Schülern gehörten, kamen allmählich so zurück, dass die Lehrer darauf verzichten mussten, sich um dieselben zu be- kümmern. Namentlich das Rechnen wollte nicht mehr gehen.

Zu der Langsamkeit des Denkens gesellte sich allmählich auch eine Lang- samkeit des Sprechens und der übrigen Bewegungen.

Neben der Schwerfälligkeit der Bewegungen trat Gedunsenheit des Gesichts auf, die Lider wurden geschwollen, die Nase dick, die Lippen gewulstet, der Bauch aufgetrieben, die Hände und Füsse dicker, ebenso die Haut des ganzen Körpers, die sich nur in dickeren Falten emporheben liess, der Wuchs der Kopfhaare spärlich.

Bei denen, welche zur Zeit der Operation noch im starken Wachstum begriffen waren, blieb die Längenentwickelung des Körpers in auffälliger Weise zurück.

Diese Fälle ähnelten oder glichen somit dem Bilde der kretinoiden Idiotie, hervorgerufen durch das Fehlen der Schilddrüse.

Durch diese Beobachtungen Kochers wurde die Bedeutung der Schild- drüse erkannt, man kam darauf, die kretinoiden Idioten mit Schilddrüse zu behandeln, um so einen Ersatz für die fehlende oder verkümmerte Drüse zu schaffen. Anfangs spritzte man Saft von der Hammelschilddrüse unter die Haut, dann gab man innerlich kleine Stückchen derselben, darauf in Form von Täfelchen.

Der Erfolg war ein überraschender, so dass sich diese Behandlungsweise immer mehr Bahn bricht.

Bei dem Gebrauch von Schilddrüse schwillt die Haut der kretinoiden Idioten ab, die Augen werden weiter, die Nase und Lippen dünner, die Zunge hängt nicht mehr zwischen den Zähnen und Lippen hervor, das Kopfhaar wird reichlicher, der Bauch schlanker, der Nabelbruch geht zurück, die Bewegungen werden flinker. Das Wachstum der zwerghaft gebauten Kinder nimmt ge- wöhnlich schon früh zu. |

Hand in Hand mit diesem erfreulichen Fortschreiten geht die Besserung der Intelligenz. Die Kinder werden regsamer, sie bekommen einen lebhafteren Gesichtsausdruck, vermögen anhaltender aufmerksam zu sein und leichter auf- zufassen, ihre Sprache wird eine vollkommenere.

*, Verhandlung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie, 12. Kongress. Berlin 1883.

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Von den verschiedensten Seiten werden vollständige Genesungen in körper- licher und geistiger Beziehung verzeichnet.

Ich benutze bei der Behandlung wie so viele Andere die Tabloid-Form Glandula Thyreoidea, welche Burroughs Wellcome & Co. London zu 1 und 3 Decigr. liefert, in Deutschland vertreten durch Linkenheil in Berlin. Bei jüngeren Kindern lasse ich mit !/,—!/, Tablette, die I Decigr. Schilddrüse enthält, anfangen und steige allmählich. Giebt man zuviel oder steigt zu rasch mit dem Mittel, dann treten Nebenerscheinungen ein: Erbrechen, Schwitzen, Herzklopfen, Schwäche in den Beinen, so dass ein zeitweiliges Aussetzen des Mittels nötig wird. Um diese schädlichen Nebenwirkungen zu verhüten, wird 3 mal täglich 1 Tropfen Fowlerscher Tinktur empfohlen. Fängt man mit kleinen Mengen an und steigt man ohne Eile jedes Mal nach längerer Zeit, dann hat man Nebenerscheinungen durch den Gebrauch des Mittels nicht zu befürchten.

Man muss mit der Behandlung lange fortfahren, nur mit ganz geringen Unterbrechungen.

Am meisten Erfahrung in dieser Beziehung hat wohl Hertoghe-Antwerpen der eine grosse Reihe mit Myxödem und auch nur mit Schilddrüsenmangel behaftete Kinder mit Schilddrüsenpräparaten behandelte und seine Erfolge in einem kleinen Werke: „Die Rolle der Schilddrüsen bei Stillstand und Hemmung des Wachstums und der Entwickelung, übersetzt von Dr. Spiegelberg. München 1900“, niederlegte. Eine höchst lesenswerte Schrift. Iclı möchte hier nur hervorheben, dass in derselben auch der sogenannte Infantilismus (Typus Lorain) besprochen wird, der sich durch sehr lange Beine, schmalen Brustkasten, wenig entwickelte Geschlechtsorgane, spärlichen dünnen Haarwuchs und mässige geistige Entwickelung auszeichnet und nachweislich durch Behandlung mit Thyreoidea zur Genesung geführt wird.

Ich meine, dass jeder, der das eben angeführte Werk durchliest, den Ein- druck bekommt, wie bei der sporadischen kretinoiden Idiotie, so auch überhaupt bei verlangsamter geistiger Entwickelung die Möglichkeit einer Schilddrüsen- Erkrankung ins Auge fassen zu müssen.

Der Mongolen- oder Kalmücken-Typus.

In englischen Werken über Idiotie findet sich diese Form unter den Idioten beschrieben, und ist es, so viel ich weiss, Arthur Mitchell gewesen, der zuerst auf dieselbe aufmerksam machte. Der Mongolen-Typus soll nach den Be- obachtungen englischer Autoren bei 5 unter 100 mehr oder weniger Schwach- sinnigen vorkommen und in allen Anstalten Europas und Nord-Amerikas zu finden sein. In Deutschland hat man sein Augenmerk noch wenig auf den- selben gerichtet. Ich selbst beobachte zur Zeit den ersten ausgesprochnen Fall.

Ich erlaube mir, hier die Rede darauf zu bringen, damit diejenigen unter Ihnen, denen ein reichliches Material zu Gebote steht, darauf achten und durch ihre Beobachtungen und Mitteilungen zu weiterer Kenntnis dieser eigentümlichen Form beitragen.

Der Mongolen-Typus ist ein wohl immer angeborener und verdankt seinen Namen der Ähnlichkeit mit den Mongolen oder Kalmücken.

Der Kopf bildet ein kurzes Oval im Umfange, die Längs- und Querdurch- me:ser desselben kommen sich nahe, so dass die Stirn- und Hinterhauptsfläche beinahe gleichlaufen.

Kinder dieses Typus haben eine rauhe Haut und straffes Haar, mandel- förmige, schräg gestellte Augenlidspalten und eine kurze Nase und bieten da- durch das Aussehen eines Mongolen. Eine beachtungswerte Eigentümlichkeit findet sich an der Zunge, welche quere Furchen und hypertrophische Zungen- wärzchen zeigt.

Die Hände und Füsse sind plump, die Finger kurz, der kleine Fingeroft eingebogen.

Das Kind, welches ich augenblicklich beobachte, hat alle diese Merkmale und ist unbeholfen in seinen Bewegungen.

Das Gehirn solcher Kinder ist sehr einfach entwickelt, die Windungen sind breit und plump.

Im allgemeinen sollen sich die eben beschriebenen, mit Schwachsinn be- hafteten Kinder langsam entwickeln, sanft, aber auch eigensinnig und sehr zum Nachäffen geneigt sein, gewöhnlich nur einen geringen Grad von Intelligenz zeigen. So berichtet Ireland, und Shuttleworth sagt, es sei „bemerkens- wert, dass beinahe die Hälfte dieser Kinder die letztgeborenen einer zahlreichen Familie sind, bei welcher die schaffende Kraft gesunken ist. Man könnte glauben, dass sie nicht voll entwickelte Kinder sind, und dass ihr eigentümliches Aussehen in Wirklichkeit das eines Abschnitts des Foetallebens ist“.

Debatte. Vorsitzender Erziehungsinspektor Piper: Ich danke dem Vor- tragenden im Namen der Versammlung für seinen hochinteressanten Vortrag und stelle denselben zur Debatte.

Sanitätsrat Dr. Jenz: Referent hat uns in seinem Vortrage einige interessante Gruppen von Idioten geschildert, die morphologisch mehr oder weniger bestimmt ab- grenzbar sind’gegenüber den übrigen Idioten. Ich möchte noch einmal auf die Gruppe der Kretinen hinweisen, weil sie das Interesse insofern mehr in Anspruch nehmen, als in der Behandlung derselben praktische Erfolge erzielt worden sind. Die praktischen Erfolga bei den Hydrocephalen sind ziemlich selten, und ich möchte dabei besonders hervorheben, dass die Operation nur Erfolg hat, wenn sie in den allerersten Lebens- jahren ausgeführt wird. Bei der Schilderung der Kretinen vermisse ich, dass der Referent nicht besonders hervorgehoben hat, dass die charakteristische Gostalt der- selben hervorgebracht wird durch eine Hemmung im Knochenwachstum. Diese Hem- mung tritt nur in den Knochen auf, die knorplich praeformiert sind. Die Knochen der Schädelwölbung haben solche Praeformität nicht aufzuweisen, wohl aber die Knochen der Schädelbasis. Durch das Aufhören des Längenwachstums der Knochen, während die Weichteile sich weiter entwickeln, erklärt sich der plunpe Körperbau. Der Kretinismus beruht auf Anomalien (angeborenen oder erworbenen Defekten oder Er- krankungen der Schilddrüse); durch Verabreichung von Schilddrüsenextrakt wird diese Krankheit günstig beeinflusst.

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Oberarzt Dr. Kellner: In Bezug auf das Wachstum des Schädels und dessen Einwirkung auf die Entwickelung des Gehirns möchte ich mir noch die Bemerkung gestatten, dass bei der Betrachtung der Entwickelung des Schädels das Wachstum der einzelnen Teile desselben, also des vegetativen und des Gehirnschädels und von letzterem wieder das Wachstum der Schädelbasis und des Schädeldaches getrennt zu betrachten ist. Der wesentlichste Unterschied zwischen dem Schädel des Menschen und dem der höheren Säugetiere beruht darauf, dass beim Menschen der vegetative Schädel, also der Teil, der der Atmung. der Aufnahme und Zerkleinerung der Nahrung, sowie zum Sitz der Sinnesorgane, Nase, Auge und Ohr dient, gegen den Gelbiirnschädel zurücktritt. Gehen wir also von dem Gesichtspunkte aus, dass das dem Menschenschädel Eigentümliche in dem Zurücktreten des vegetativen gegen den Gehirnschädel liegt, so finden wir die ideal menschlichste Kopfform beim neugeborenen Kinde. Bei ihm überwölbt das Schädeldach nach allen Richtungen Stirn, Schläfe und Hinterhaupt die Basis, die wir uns durch den unteren Augenhöhlenrand und den Gehörgang nach hinten verlängert denken. Diese frühkindliche Schädelform ist die sog. bombenförmige. Vom ersten Tage des selbständigen Kindeslebens an, mit dem Beginn der Thätigkeit der vegetativen Organe büsst der Schädel immer mehr von seiner ideal menschlichen Form ein, die kuppelförmige Überwölbung hört auf, und der Schädel nimmt die sog. Hausform, mit grade aufsteigenden Wänden und darüber ge- wölbtem Dach an. In manchen Fällen wird aus der Hausform durch Abplattung der Wölbung die sog. Zeltform. Der Übergang der Bombenform in die Hausform erfolgt dadurch, dass die Endpunkte des langen wie des queren Durchmessers der Schädelbasis durch Wachstum der diese Basis bildenden Knochen auseinander rücken, wodurch die Basis vergrössert, die Wände der Wölbung aber von der überhängenden zur senkrechten und selbst schräg abfallenden Linie werdeu müssen. Fs ist also zur normalen Entwickelung des Schädels ein ausgiebiges und schnelles Wachstum der Basis notwendig und in der Behinderung dieses Wachstums durch frühzeitige Ver- knöcherung der Nähte, wie solches eine häufige Folge der Rachitis ist, liegt zweifellos in vielen Fällen der Grund zur Bildung eines Makro-, Hydro- oder Mikrocephalus. In vielen derartigen Fällen sehen wir, dass die Natur den Nachteil der zu kleinen Schädelbasis dadurch ausgleicht, dass sie eine hochgewölbte Schädeldecke bildet, die wir wieder in einfache Grossköpfe, Turmköpfe oder Köpfe mit olynegischen Stneinr einteilen, deren Besitzer aber geistig normal sind. In anderen Fällen aber ist es zweifellos, dass auch beim Vorhandensein der Anlage eines völlig gesunden Gehirns durch die zu klein gebliebene Basis Ernährungsstörungen und besonders Druck- schwankungen durch Abflusshinderung des venösen Blutes entstehen, die das Gehirn in seiner Entwickelung in hohem Grade hemmen und den Grund zu schweren psychischen Defekten legen. Wir müssen mithin doch für manche Fälle von Idiotie als alleinigen Grund Wachstumsanomalien des Schädels zugeben.

Sanitätsrat Dr. Berkhan erwähnt in seinem Schlusswort Fälle von Heilung von Wasserkopf und darnach eingetretener Intelligenzentwickelnng. Was die Entwickelungs- hemmung im Knochenwachstum bei Kretinen betreffe, so habe er dieselbe deswegen nur kurz berührt, weil er vor einer gemischten Versammlung gesprochen habe.

Schluss in nächster Nr.

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Bericht über die am 15. Februar 1902 in Hagen in Wesif. abgehaltene Konferenz für das Hilfsschulwesen.

Die Lehrer an den Hilfsschulen zu Hagen, Dortmund, Schwelm und Witten bildeten seit 1901 eine freie Vereinigung welche in Hagen und Schwelm je eine Konferenz abhielt, in denen nach voraugegangener Lehrprobe ein Vortrag gehalten und die gemeinsamen Interessen besprochen wurden. Zu der am 15. Februar 1902 in Hagen vereinbarten Konferenz ergingen Einladungen an die Königl. Regierungen zu Arnsberg, Minden und Münster, an sämtliche Kreisschulinspektoren der Provinz und an das Lehrerkollegium der Stadt Hagen. Als Tagesordnung wurde festgesetzt: 1. Vorführung der 1. Hilfsklasse durch Lehrer Franzmeyer, 2. Vortrag des Hilfsschullehrers Schmitz-Dortmund über „Zweck und Einrichtung der Hilfs- schule“.

Den Einladungen war sehr zahlreich entsprochen worden. Unter anderen waren erschienen Geh. Regierungsrat Dr. Schulz-Münster, Regierungs- und Schulrat Dr. Gregorovius-Minden, eine grössere Anzahl von Königl. Kreisschulinpektoren, einige Ärzte und viele einheimische Vertreter des Lehrfachs. Der angekündigte Ver- treter der Königl. Regierung zu Arnsberg war leider durch Krankheit am Erscheinen verhindert.

Um 2!/, Uhr begann Lehrer Franzmeyer mit seiner Lehrprobe. Er stellte Fragen aus dem alten Testamente, den Grundgedanken entwickelnd: der Herr hilft in der Not, ging auf das leben unseres Heilandes ein, leitete dann über auf An- schauungsunterricht und Heimatkunde und knüpfte an eine Bildertafel, welche in ein- fachen Umrissen Haustiere und Wild zeigte, grammatische Übungssätze an. Zum Schluss der mehr als einstündigen Lehrprobe führte Lehrer Franzmeyer eine von ihm erfandene Rechenmaschine in ihrer Anwendung vor.

Alle Anwesen len waren davon überzeugt, dass Lehrer Franzmeyer bestrebt ist, durch sein väterliches Verhalten den Kindern gegenüber sich deren Herzen zu gewinnen und ihr Vertrauen zu erringen. Nach Beendigung der Unterrichtsstunde begaben sich die Konferenzteilnehmer in das Hotel „Zum Römer“, woselbst Lehrer Franzmeyer die Versammlung begrüsste und allen Teilnehmern, vornehmlich den Vertretern der Behörden den Dank der Hilfsschullehrer für das Erscheinen abstattete. Kreisschulinspektor Schulrat Stordeur-Hagen wurde zum Leiter der Versammlung und die Lehrer Middeldorf-Dortmund und Weniger-Schwelm zu Schriftführern gewählt. Lehrer Schmitz-Durtmund hielt sodann einen Vortrag über „Zweck und Einrichtung der Hilfsschule‘“. Nachdem Redner den Zweck und die Be- rechtigung der Hilfsschule ausführlich klargelegt hatte, beantwortete er folgende Fragen, die auf die Einrichtung der Hilfsschule Bezug haben:

1. Wohin legen wir die Schule? Im allgemeinen in das Zentrum des Ortes, so dass die Schulwege nicht zu weit sind, doch braucht man darin nicht zu ängstlich zu sein; erblickt doch Geh. Oberregierungsrat Brandi- Berlin gerade in der Fähigkeit, weitere Schulwege zu finden, das Kriterum, ob solche Kinder noch den Hilfsschulen überwiesen werden können.

2. Wie viel Klassen soll eine Hilfsschule erhalten? Das hängt von der Kinderzahl ab; mehr als 15—20 Kinder soll eine Klasse nicht haben.

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Die Geschlechter brauchen nicht getrennt zu werden. Man gliedert die Hilfs- schule gern in drei Klassen, wozu oft als vierte eine Vorbereitungsklasse tritt.

83. Welche Kinder gehören in die Hilfsschule? Weder Idioten noch normule Kinder, welche infolge von Krankheit, Faulheit oder öfterer Um- schulung zurückgeblieben sind. Epileptische und verwahrloste Kinder sind auszuschliessen.

4. Wann soll ein Kind in die Hilfsschule aufgenommen werden? Iu der Regel ist es zweckentsprechend, wenn das Kind erst nach zweijährigem, erfolglosen Besuch der Unterklasse aufgenommen wird. Die Prüfung und Zuweisung erfolgt durch eine Kommission, bestehend aus dem Lokal- und Kreisschulinspektor, dem Schularzte und dem Hilfsschulleiter.. Die Kommission kann umso schneller und sicherer die Entscheidung treffen, je genauer die Erhebungen über körperliche und geistige Entwicklung, über die häuslicheu Verhältnisse etc. vorliegen.

5. Stundenplan. In allen Klassen sind zu gleicher Zeit dieselben Fächer anzusetzen, damit jedes Kind seiner Beanlagung entsprechend in der betr. Abteilung unterrichtet werden kann.

6. Der Lehrplan der Hilfsschule unterscheidet sich von dem der Volksschule dadurch, dass er keine streng verbindlichen Ziele feststellt; er soll dem Lehrer eine Richtschnur, aber keine Zwangsjacke sein. Eine gewisse Bewegungs- freiheit muss dem Lehrer gestattet sein, doch sei er sich seiner Verant- wortlichkeit bewusst,

7. Die Hilfsschule muss in ihrer Leitung nicht einem Volksschulsystem an- gehängt, sondern selbständig sein. Die fortdauernde Arbeit am Lehr- und Stundenplan, die Beobachtung der Kinder. auch nach der Schulzeit, der Ver- kehr mit den Eltern und die mannigfachen Fragen, die sich beim Unter- richte und in der Erziehung schwachsinniger Kinder ergeben, erfordern eine ganze Arbeits-, eine Manneskraft.

8. Wenn ministerielle Verfügungen Angaben über die Entwickelung der ein- zelnen Schüler verlangen und die Militärverwaliung von Einstellung solcher Rekruten absieht, deren Schwachsinn sich beim Besuche der Hilfsschule ergeben hat, so erhellt daraus die Notwendigkeit, über jedes Kind ein Personalbuch zu führen.

Redner schluss mit der Hoffnung, dass die Arbeit an Schwachsinnigen einst vor dem Richterstuhle Gottes ebenso anerkannt werden würde, wie jede andere und dass sic ein Wirken im Sinne Wilhelms des Grossen und seines erhabenen Enkels sei, weil sie den einzelnen rettet und das ganze Volk hebt und da einsetzt, wohin noch kein Schatten der Selbstverschuldung fällt.

Dem anregenden Vortrage*), der grossen Beifall erntete, fulgte eine lebhafte Debatte. Sanitätsrat Dr. Mayweg-Hagen regte an, die Dauer einer Unterrichts- stunde festzusetzen, und man einigte sich dalıin, die Unterrichtsstundo in der Hilfs- schule auf 30, höchstens 45 Minuten zu bemessen, so dass nach jeder Stunde eine

*) Derselbe wird in einer der nächsten Nrn. zum Abdruck kommen.

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Pause von wenigstens 15 Minuten einzutreten hat. Derselbe Arzt hält es ferner für wünschenswert und für notwendig, dass schwachsinnige Kinder während der Schulzeit und der Pausen von den normalen Kindern getrennt würden. Er stiess mit dieser Forderung ganz besonders bei den Rektoren auf Widerspruch, welche gerade im Ver- kehr des normalen Kindes mit dem schwächsinnigen einen erziehlichen Einfluss auf ersteres erbuffen. Hilfsschulleiter Weniger-Schwelm hält aber eine Trennung für dringend geboten. In seiner fünfzehnjährigen Praxis als Lehrer für schwachbefähigte Kinder hat er die Erfahrung gemacht, dass die Hilfsschüler vielfach mit körperlichen Gebrechen behaftet sind, dass sie, su zurückgesetzt sie sich in Gegenwart normaler Kinder fühlen, im Verkehr unter sich glücklich und zufrieden sind. Überdies müssen die Hilfsschüler auch währen der Pausen unausgesetzt beaufsichtigt, zu den Spielen herangezogen und erziehlich boeiuflusst werden, was bedingt, dass der boaufsichtigende Lehrer seine Schwachen immer im Auge zu behalten im stande sein muss. Auf Vorschlag des Vorsitzenden stimmten zu diesem Punkte nur die Hilfsschullehrer ab. Es ergab sich, dass von 8 anwesenden 5 für, 3 gegen die Isolierung stimmten. Reg.- nnd Schulrat Dr. Gregorovius-Minden ersuchte um Besprechung der Fragen: Welche Kinder sollen der Hilfsschule überwiesen werden und wer bestimmt die Überweisung? Aus der Diskussion ergab sich, dass in der Regel die Kinder aufgenommen werden sollen, welche 2 Juhre ohne Erfolg in der Fibelstufe gesessen haben. Ausnahmen, welche mit Rücksicht auf Gesundheit und häusliche Verhältnisse der Kinder geboten sind, bestätigen die Regel. Über dio Auswahl der Kinder beschliesst eine Kommission, welche aus dem Lokal- und Kreisschul- inspektor, dem Schularzt, dem Hilfsschalleiter und dem Rektor Hauptlehrer des Kindes besteht. Die Prüfung erfolgt durch den bisherigen Klassenlehrer und den Hilfsschulleiter.. In Schwelm hat Hilfsschulleter Weniger einen Fragebogen ausgearbeitet, den die städtischen Behörden haben drucken lassen. Im Februar eines jeden Jahres wird er von dem Klassenlehrer und dem Schularzt beantwortet. Dieser Anmeldeschein und voraufgehende Eiternbesuche seitens des Leiters der Hilfsschule geben der Kommission genügende Anhaltspunkte für die Beurteilung des Kindes. Die Frage, ob Eltern gezwungen werden können, ihr Kind in die Hilfsschule zu schicken, blieb unentschieden; doch war man der Ansicht, dass eine gütliche Beeinflussung und Belehrung über die Zwecke der Hilfsschule fast immer von Erfolg sein werden. Die Versammlung erachtete es ferner für notwendig, im Sinne der Referenten Abtei- Jungen und Klassen zu bilden, in einklassigen Hilfsschulen die Kinderzahl aber höchstens auf 20 steigen zu lassen.

Als letzter Punkt stand sodann der Lehrplan der Hilfsschulen zur Erörterung. Das Ergebnis der wegen vorgerückter Zeit kurzen Besprechung war die Bildung einer Kommission, bestehend aus den Hilfsschullehrern der Städte Dortmund, Hagen, Schwelın und Witten. Der Kommission wurde aufgegeben, einen Lehrplan auszuarbeiten und ihn einer für den 25. Juni nach Dortmund einzuberufenden Versammlung vorzulegen. Diese Konferenz soll im „Franziskaner“ tagen und vormittags 11 Uhr beginnen. Reg.- u. Schulrat Dr. Gregorovius- Minden sprach den Vertretern der Städte gegen- über die Bitte aus, den Hilfsschullehrern eine angemessene pensionsberechtigte Zulage zu gewähren, damit die Lehrer, welche in der Arbeit der Hilfsschulen ständen, ihr

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auch erhalten blieben. Ein häufiger Wechsel der Lehrkräfte stelle den gedeihlichen Erfolg dieser Rettungsschulen in Frage.

Der Vorsitzende schloss sodann die offizielle Sitzung mit herzlichem Dank an die Anwesenden und die Hoffnung auf ein frohes Wiedersehen in Dortmund.

Ein gemeinsames Abendessen bielt noch einen grossen Teil der Konferenzteilnehmer einige Zeit zusammen.

Die Schriftführer: Weniger-Schwelm, Middeldorf- Dortmund. Der Vorsitzende: Stor deu r- Hagen.

Mitteilungen.

Borna. (Hilfsschule.) Seit Ostern 1901 besteht hier ein Hilfsklasse für schwachbefähigte Kinder. Der Unterricht in derselben liegt in der Hand des Lehrers A. Hoffmann. Die Schulerzahl betrug im ersten Jahre 7.

Kiel. (Neue Hilfsschule) Ostern 1902 soll in Kiel eine Hilfsschule für Schwachbefäliigte, und zwar zunächst vierklassig, errichtet werden. Diese Schnle soll den Namen einer Theodor Witte-Schule führen zum Gedächtnis des Stifters des für Kieler Schulzwecke bestimmten Millionen-Legats, aus dessen Zinsen zum bei weitem grössten Teil die Kosten für die Errichtung und Unterhaltung der Schule bestritten werden sollen. Man rechnet vorläufig auf eine Frequenz von 80 Schülern, mithin durchschnittlich 20 für jede der vier Klassen. Demgemäss wird die Anstellung eines Rektors, zweier Lehrer und einer Lehrerin geplant, die das Grundgehalt der in gleicher Eigenschaft an der Volksschule amtierenden Lehrkräfte, jedoch mit einer Zulage von 400 bezw. 300 bezw. 200 Mk. beziehen sullen. (Ztschft. f. Schlgsdhtspfi.)

Magdeburg. Am Ende des vergangenen Schuljahres feierte die hiesige Hilfs- schule ihr zehnjähriges Bestehen. Dieselbe wurde 1892 mit 3 Klassen eröffnet und zwar waren davon in der Altstadt 2 Klassen und in der Neustadt 1 Klasse. 1893 kam in der Neustadt noch 1 Klasse dazu. Zu gleicher Zeit wurde auch in Sudenburg 1 Klasse eingerichtet. Die Schule blieb in dieser Weise bis 1897 be- stehen. Die Kinder wurden immer nach 2 Jahren wieder der Volksschule überwiesen. Die einzelnen Klassen unterstanden dem Rektor, in dessen Schulgebäude die betreffende Klasse untergebracht war. 1897 beschloss die städtische Schuldeputation die Hilfs- schule woiter auszubauen und selbständig zu machen. Es wurden deshalb die Klassen in. der Altstadt und in der Nenstadt. um je eine vermehrt und die Leitung der ganzen Schule dem bisherigen Lehrer derselben, Giese, übertragen. Derselbe wurde zugleich zum Hauptlehrer erhoben. Im Jahre 1899 wurde die Schule um je eine Klasse in der Altstadt, Neustadt und Sudenburg vermehrt. Im Jahre 1901 kamen nochmals 3 Klassen dazu und zwar in der Altstadt 2 und in Sudenburg 1, so dass augen- blicklich die Schule 13 Klassen hat, und zwar sind davon in Magdeburg 6 (3 Unter-, 2 Mittel-, 1 Oberstafe), in Neustadt 4 (2 Unter-, 1 Mittel-, 1 Ober- stufe) und in Sudenburg 3 (Unter-, Mittel-, Oberstufe). Jede Stufe hat 2 Jahr- gänge, so dass eigentlich die Schulen in den einzelnen Stadtteilen sechsstufig sind. Die Zahl der Unterrichtsstunden ist für die Unterstufe auf 22, für die Mittel- und Oberstufe auf je 24 festgesetzt. In jeder Klasse sollen nicht mehr wie 25 Kinder

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sein. Der Unterricht wird nur vormittags erteit. Die Aufnahme in die Hilfs- schule geschieht in der Regel nach einem zwe:jäbrigen erfolglosen Besuche der Volks- oder Bürgerschule. Vielfach kommt es aber vor, dass besonders Eltern aus den besseren Ständen ihre Kinder sofort der Hiifsschule überweisen lassen. Die Kinder verbleiben gewöhnlich bis zu ihrer Konfirmation in der Hilfsschule Falls sie sich ausserordentlich gut entwickeln und noch mehrere Schuljahre vor sich haben, können sie in die Volks- oder Bürgerschule zurückversetzt werden. In den letzten Jahren hat aber höchst selten eine Zurückversetzung stattgefuuden. Dagegen ist mit Freuden zu konstatieren, dass die Vorurteile, welche die Eltern gegen die Hilfsschule haben, immer mehr schwinden, und dass gerade Eltern aus den besten Ständen unserer Stadt um Aufnahme in die Hilfsschule für ihre armen Kinder bitten. Welche Erfolge hat nun unsere Hilfsschule aufzuweisen, wenn sie auf ihre zehnjährise Thätigkeit zu- rückblickt? Nach der von uns aufgestellten Statistik wurden über °/, der Kinder sd weit geistig gefördert, dass sie ihr Brot selbst verdienen können Welchen Ein- fluss aber sonst die Arbeit in den Hilfsschulen auf das Öffentliche Volksleben hat und der nicht zahlenmässig nachgewiesen werden kann, wissen die Leser dieser Zeitschrift, und es erübrigt sich, dies hier besonders zu betonen. Unsere städtischen Behörden haben bis jetzt der Hilfsschule immer ein besonderes Augenmerk geschenkt und es ist deshalb zu hoffen, dass sie die Hilfsschule immer weiter ausbauen. Das Nächstliegende wäre, dass die Klassen in . den einzelnen Stadtteilen unter ein Dach kämen. Für die Altstadt wäre dann die Möglichkeit geschaffen eine sechsstufige Schule mit einer Vorstufo zu errichten. Dadurch würde nicht nur die Arbeit der Lehrer bedeutend erleichtert, sondern auch die Erfolge, welche die Hilfsschule auf- zuweisen hat, würden bedeutend gesteigert werden. Weiter ist notwendig, dass der Stadtteil Buckau, welcher über 25000 Einwohner zählt, eigene Klassen bekommt, damit auch dort sämtliche geistig schwache Kinder einem gesonderten Unterricht erteilt bekämen und nicht nur die, welche imstande sind, jeden Tag Jen weiten Schulweg nach der Altstadt zurückzulegen. Dann wäre von grossem Segen, wenu Magdeburg, das so bahnbrechend in der Errichtung von Furtbildungsschulen gewesen ist, auch für die aus der Hilfsschule entlassenen Knaben eigene Fortbildungsschul-

klassen errichten würde, Mögen diese unsere Wünsche recht bald erfüllt werden zum Segen für unsere geistig Schwachen, Kranken und Defekten und zum Wohle unserer Stadt. Wilh. Busch.

Mainz. (Verbandstag der Hilfsschulen) Gutem Vernehmen nach wird der nächste (4.) Verbandstag für die Hilfsschulen Deutschlands nicht, wie ursprüng- lich in Aussicht genommen war, in Dresden, sondern hier stattfinden und zwar während der Osterferien.

Litteratur.

Ernstes und Heiteres aus meinen Erinnerungen im Verkelr mit Schwachsinnigen. Von A. Grohmann. Zürich, Melusine, 1901. 183 Seiten. Preis Mk. 2,40.

Der Verfasser, Besitzer eines Instituts für Nervenkranke, ist den Lesern unserer Zeitschrift wohl noch aus einem Artikel über Schwachsinnige (Jahrgang 1899) be-

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kannt. In der vorliegenden Schrift schildert er meist in der Erzählungsform einer Novelle verschiedene Erlebnisse aus seinem Verkehr mit Schwachsinnigen geringen Grades, an die er kritische Bemerkungen anschliesst. Diese zeigen von grossem psychologischen Scharfblick und bieten wichtige Richtlinien für die Behandlung einzelner Typen der Schwachsinunigen, wenn sie in der Hauptsache auch nichts Neues bringen. Wer Neuling auf dem Gebiete der Erziehungs- uud Bildungsbestrebungen mit Geistesschwachen ist, wird manche Anregungen in der Schrift finden, wer aber mitten in der Thätigkeit steht, hat sicher derartige und noch viel andere Erfahrungen mit dieser Gruppe von Menschen in der Weise, wie sie der Verfasser schildert, viel- leicht schon vielfach gemacht. Immerhin aber liest man solche Schilderungen mit Interesse, da sie alte Erinnerungeu in uns wachrufen und Gedanken erwecken, die zur Überlegung und Erwägung mancher Erlebnisse im Verkehr mit Schwachsinnigen führen. Uns zum Beobachten in ihrer Umgebung und zum Nachdenken über die ge- machten Wahrnehmungen zu animieren, das ist der Zweck, welchen der Verfasser mit seinem Buche verfolgt. Einzelne Schilderungen sind gut gelungen, besonders das Kinderbild. Wer sich daran stossen wollte, dass der Verfasser auch Heiteres an diesen Menschen findet, mag sich zufrieden geben, die Darstellung ist edel und die Sprache decent. Zur Orientierung auf dem Gebiete des Seelenlebens, namentlich des krankhaften, können wir die Schrift ohne Bedenken empfehlen.

Verhandlungen der IIJ. Schweizerischen Konferenz für das Idioten- Wesen in Burgdorf am 10. und 11. Juni 1901. Herausgegeben im Namen des Konferenzvorstandes von C. Auer, F. Kölle und H. Graf. DI. Zschudy- Aeblv Buchdruckerei, Schwanden 1901.

Der Bericht giebt ein Bild von den Konferenzverhandlungen und enthält ins- besondere die auf derselben gehaltenen trefflichen Vorträge. Derselbe ist für Fr. 1,60 bei dem Präsidenten der Konferenz, Sekundarlehrer C. Auer in Schwanden, Kt. Glarus, zu haben.

Gesucht eine evangelische Lehrerin, welche Lust und Liebe hat, an der Erziehung und dem Unterricht geistig schwacher Kinder teilzunehmen. Gehalt nach Übereinkunft neben vollständig freier Station.

Jede nähere Auskunft wird gern erteilt. Erziehungsanstali Idstein

Direktor Schwenk.

Inhalt. X. Konferenz für das Idiotenwesen und Schulen für schwachsinnige Kinder. (Fortsetzung.) Bericht über die am 15. Februar 1902 in Hagen in Westf. abgehaltene

Konferenz für das Hilfsschulwesen. Mitteilungen: Borna, Kiel, Magdeburg, Mainz. Litteratur: Ernstes und Heiteres, Verhandlungen der III. Schweizeriscden Konferenz für das Idiotenwesen. Anzeigen.

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Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. Konmissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. Druck von Johannes Pässler in Dresden.

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CA \ BIN | | | \ Nr. 6 u 1. en | XVIL A) Jahrg.

für die

Behandiung sehwachsinniger und Epileptischer

Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Spezialarzt Dresden - Strohlen, für Nervenkrankheiten Residenzstrasse 27. in Stuttgart. Erscheint Jährlich in 13 Nummern von | ; Zu beziehen durch alle Buchhandlungen mindestens einem Bogen. Anzeigen für . J e 1902 | und Postämter, wie auch direkt von der die gespaltene Petitzeile 25 Pig. Litte- uni . Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark,

rarische Beilagen 6 Mark. | einzeine Nummer 5V Pfg.

Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

X. Konferenz für das Idiotenwesen

und Schulen für schwachsinnige Kinder. (Schluss.)

Es folgt eine kurze Rubepause. Nach Wiederaufnahme der Sitzung erhält das Wort Herr Hauptlehrer Horrix.

Wie werden Seminaristen und Lehrer angeleitet zur Arbeit an den Schwachen?

| Leitsätze:

l. Durch die Pflege eines echt christlichen Geistes, der die wahre Liebe zu den Armen am Geiste fördert, werden Seminaristen und Lehrer von dem Masse idealen Sinnes erfüllt, der unbedingt an erster Stelle nötig ist, um die bei der Arbeit an geistig Minderwertigen erforderliche Selbstverleugnung, Liebe und Geduld zu erlangen und sich für immer zu bewahren.

2. Ohne eine gründliche mit diesen Tugenden verbundene Kenntnis der Psychologie und Logik, der methodischen und didaktischen Grundsätze, die bei Erziehung und Unterricht geistig normal entwickelter Kinder zur Anwendung kommen, kann von einem Eindringen in den anormalen Kindesgeist nicht die Rede sein; daher ist und bleibt eine eingehende methodisch-didaktische Durch- bildung der Seminaristen und Lehrer in Theorie und Praxis auf streng psycho- logischer Grundlage ein Haupterfordernis, soll die Mitarbeit der Volksschullehrer am Werke der Erziehung Schwachsinniger und Schwachbegabter von Dauer und Erfolg sein.

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3. Ausserdem muss Seminaristen und Lehrern Gelegenheit geboten werden, von erfahrenen Männern in diesem Fache und auf dem Wege des Selbststudiums die Geschichte der Schwachsinnigenbildung, die Einrichtungen für Schwachbe- gabte und Schwachsinnige, die pädagogische Tathologie und Therapie, vornehm- lich die verschiedenen Arten des Schwachsinns, kurz alle geistigen Abnormitäten des Kindesalters, sowie die Art und Weise ihrer unterrichtlichen und erziehlichen Behandlung theoretisch und womöglich auch praktisch kennen zu lernen.

4. Damit eine solche, Seminaristen und Lehrern dargebotene Gelegenheit thatsächlich auch nach allen Seiten hin gehörig ausgenutzt werde, sind bei den verschiedenen Lehrerprüfungen und Schulrevisionen stets auch Erhebungen darüber anzustellen, inwieweit die Examinanden sich durch Studium una Praxis mit diesem Zweige der Erziehungskunst befasst haben.

5 Da aber die Lehrer in vollbesetzten Schulklassen der normalen Schüler wegen während der Schulstunden sich nicht hinreichend genug mit den geistig Schwachen beschäftigen können, so haben die miassgebenden Faktoren in den Orten, wo keine Hilfsschulen oder Anstalten bestehen, dafür Sorge zu tragen, dass die von den Lehrern nach der Schulzeit geopferte Zeit und Mühe ent- sprechende Anerkennung finde.

Hochverehrte Damen und Herren!

Die Arbeit des Erziehens ist schon mühevoll beim normal veranlagten Kinde, um wie viel schwieriger muss sie sein bei den bemitleidenswerten Ge- schöpfen, deren geistige Entwickelung nicht bei einem leisen Anstoss, woher er auch kommen mag, in ruhiger, steter Weise fortschreitet, sondern deren Bildung im grossen und ganzen von dem geschickten Eingreifen des Erziehers abhängig sich erweist, nämlich bei den Schwachen am Geiste. Man braucht kein weich- licher Humanitätsduseler zu sein, um freundliche Teilnahme mit diesen Stief- kindern zu empfinden, aber es zeugt auch keinesfalls von wahrer Nächstenliebe, wenn von ihnen in Wort und Schrift als von einem Ballast, der die Schule sehr belästige, gesprochen wird. Das Wort erinnert zu sehr an „über Bord werfen“. Und gerade diese Kinder haben ein nicht wegzuleugnendes Anrecht auf die weitgehendste Fürsorge auch von seiten der Schule Mit kühlem Kopf und warmem Herzen hat die Neuzeit dies erkannt und ihre werkthätige Liebe den geistig Armen geoffenbart durch Gründung von besondern Anstalten und Schulen. Manches ist zwar trotzdem ein frommer Wunsch geblieben, und viele Schwachbegabte wachsen noch auf ohne eine ihre Eigenheiten ins Auge fassende Erziehung, weil es unmöglich ist, sie alle in den bestehenden Anstalten und Schulen unterzubringen oder an jedenı kleinern Orte eine Hilfsschule zu errichten. Aus diesem Grunde kann jeder Lehrer in die Lage kommen, sich eines schwach- sinnigen Kindes annehmen zu müssen, denn wie es Pflicht aller Menschen ist, Hilflosen und Bedrängten ein Helfer zu sein, so erfüllt der Lehrer, welcher einen schwachbefähigten Schüler in seine Obhut nimmt, einfach nur eine Ritter- pflicht und ein Gebot der ewigen Vorsehung. Wenn allerdings jemand den Erziehungsberuf als Tagelöhner ausübt, wenn er ilın bloss als die milchgebende

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Kuh ansieht, so wird er von diesem Gebote allgemeiner Menschenliebe nicht durchdrungen sein und es darum auch nicht befolgen. Wohl darf dem Lehrer ein gesunder Realismus innewohnen, aber nicht ein Realismus, der die Ideale von Samaritertum an geistesschwachen Kindern aus der Brust verdrängt. Der deutsche Lehrerstand hat, gottlob, noch stets seinen idealen Sinn zu so edlem Thun bekundet, und es genügt, dess sind wir gewiss, ein Hinweis, um ihn noch mehr für die Mitarbeit an den Schwachen zu begeistern. Erfahrungsgemäss steigert sich aber die Begeisterung mit dem Gelingen, und dieses ist binwiederum vornehmlich abhängig von der Sachkenntnis, mit welcher der Erzieher, den Eigentümlichkeiten des schwachen Geistes nachspürend, die geeigneten Mittel und Wege zu dessen planmässiger Bildung anwendet. Dass bis jetzt vielleicht mancher Amtsgenosse nach dieser Richtung seine Hände in den Schoss gelegt hat, sei nicht so sehr der fehlenden Begeisterungsfähigkeit als dem Mangel an der richtigen Anleitung zu dieser Arbeit zugemessen. Der ideale Sinn an und für sich reicht noch lange nicht hin ; er muss sich unbedingt mit dem erforderlichen Verständnisse für die gute Sache und deren gedeihlicher Bebandlung paaren. In dem Masse, wie dem Lehrerstande dafür die Flügel erstarken, wird auch das Streben, wirklich Hilfe zu leisten, bei ihm zunehmen, um so mehr, als der Lehrer, welcher mit Eifer und Bedacht an den Schwachen seiner Klasse arbeitet, sicherlich auch auf die Schwächen normaler Schüler gebührende Rücksicht nimmt und infolgedessen die Resultate der ganzen Klasse mit weit geringerer Mühe verbessert.

Unter „Anleitung“ verstehen wir jedoch nicht das programmatische Auf- zählen aller, auch der kleinsten Massregeln, die der Lehrer bei geistig Zurück- gebliebenen ergreifen muss; das hiesse, dem Erzieher die lebendige Macht seiner Persönlichkeit rauben. Wer den Geist des Ganzen erfasst hat, der wird für das Einzelne die Art der Ausführung schon zu finden wissen. In grossen Zügen geschieht deshalb hier nur der Faktoren Erwähnung, welche durch die Beseitigung hemmender und die Pflege fördernder Einwirkungen möglichst alle Lehrer zu erfolgreicher Mitarbeit an den geistig Schwachen zu gewinnen vermögen.

„Mit einer erwachsenen Generation ist nicht viel anzufangen, weder in körperlicher noch in geistiger Beziehung, weder in Dingen des Geschmacks noch des Urteils, fängt man aber mit der Jugend an, dann wird es gehen.“ Dieser Satz des Altmeisters Goethe rechtfertigt unsere Absicht, den Seminaristen eine solche Anleitung zu geben, während sein anderer Ausspruch: „Wer fertig ist, dem ist nichts recht zu machen, ein Werdender wird immer dankbar sein“ bezüglich der Weckung des Interesses und der Anleitung für die schon ange- stellten Lehrer seine volle Berechtigung behält, mögen sie nun bisher dieser Frage gegenüber sich passiv verhalten oder sich so eingehend mit ihr beschäftigt haben, dass für sie die folgenden Auseinandersetzungen nur wenig oder gar nichts Neues enthalten.

Zu ungezählten Malen werden von den Kathedern und in den Lehrbüchern der Pädagogik Liebe und Geduld als die Haupttugenden eines Erziehers und

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Lehrers geschildert. Die thätige Nächstenliebe liegt ja in der Natur des Christentums zu fest begründet und macht einen zu wesentlichen Bestandteil desselben aus, als dass ein Lehrer, der die Schwachen berücksichtigen will, ihrer auch nur einen Augenblick entbehren könne. Wenn der ermunternde Ausspruch des grössten Erziehers aller Zeiten: „Was ihr dem geringsten meiner Brüder gethan habt, das habt ihr mir gethan“ sein Leitstern ist, so überwindet er auch in Geduld ruhig und selbstbewusst alle Verstimmungen, die ihn wegen Nichtkönnens oder nicht befriedigender Aufmerksamkeit seiner geistig schwachen Schüler zu befallen drohen. In dieser Entäusserung des eigenen Ichs, welche ihn dahin bringt, mit unentwegter Konsequenz und unberührt von den zahllosen Hindernissen wie unangenehmen Eindrücken das Dasein der schwachsinnigen Kinder zu verschönern, steckt ein grosses Stück unverfälschten Christentums. |

Die Verhältnisse sind jedoch mitunter zwingender als die stärkste Berufs- liebe, und daher ist es leicht erklärlich, dass viele Lehrer, wenn sie auch vom wärmsten Wohlwollen für die Schwachen beseelt und auf diesem Arbeitsfelde zu Hause sind, diese Zöglinge dennoch nicht gehörig unterstützen können, weil eine zu grosse Zahl von normalen Schülern ihre Zeit und Kraft vor, in und nach der Schulzeit in so hohem Grade in Anspruch nimmt, dass sie, sollen die andern nicht zu kurz kommen, kaum noch an eine eingehende Beschäftigung mit den Schwächsten denken dürfen. Wo die Höchstzahl der Schüler einer Klasse auf ein vernünftiges Mass herabgesetzt ist, wird der Lehrer, den guten Willen vorausgesetzt, seine geistig Anormalen schon dem süssen Nichtsthun entreissen.

Nicht minder aber trifft ein Verschulden an der Zurücksetzung der Schwachen viele mit Stoff überfüllte Lehrpläne und Pensenverteilungen. Diese werden häufig für einzelne Disziplinen von Lehrern angefertigt, die sich das Fach als Steckenpferd erkoren haben und darin mit verhältnismässig kleinem Kraftauf- wand hervorragende Leistungen aufweisen, die aber eben deswegen auch nur zu leicht in dem Wahn befangen sind, dasselbe könne und müsse von jedem andern auch erreicht werden. Bei der Aufstellung von Pensenverteilungen muss der Durchschnittslehrer, der theoretisch sich auf der Höhe gehalten hat, der als allseitig praktischer Schulmann mit den Bedürfnissen der Volksschule, aber auch mit der Leistungsfähigkeit der Schüler und Lehrer voll und ganz Bescheid weiss, mehr zu Worte kommen. Darin liegt zugleich die beste Schutzwehr gegen die Einführung von allerhand unerprobten Neuerungen, gegen die Jagd nach künstlichen Systemen und Methoden, die der Naturgemässheit, dem synthe- tischen, lückenlosen Aufbau, den Gesetzen der Apperzeption geradeswegs Hohn sprechen. Das unseres Erachtens in der Gegenwart zu stark betonte Prinzip der Anschauung hat eine unausgesetzte, intensive Übung vielfach verdrängt und das Können der Schüler auf unsichere Füsse gestellt. Ist es da merk- würdig, wenn unsere Schwachen am meisten davon betroffen werden und bald einsam einen Schritt vom Wege stehen, da ihnen die Art und Weise der Dar- bietung, Verknüpfung und Vertiefung des Unterrichtsstoffes durchaus nicht zusagt ?

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Der Lehrer nun, welcher für die Bildung des normalen Kindesgeistes methodisch und didaktisch durch und durch vorgebildet ist, der auf Grund ge- schickter Belehrung, gesammelter Erfahrung und gediegener Selbsterziehung jedes Kind als eine eigenartige Pflanze des Schöpfers ansieht und es behandelt mit rechter Innigkeit und rechtem Interesse, wie es die jeweilige Eigenart er- heischt, der, kurz gesagt, die geistige Förderung aller Schüler, nıcht der befähigten allein, auf seine Fahne geschrieben hat, ich meine, der Lehrer wird nach Hebung obiger Schwierigkeiten auch die Schwachen selbst im Klassen- unterrichte heranzuziehen nicht unterlassen oder sie durch zweckmässige stille Beschäftigung vor Langeweile schützen. Gern widmet er ihnen dann und wann ein Viertelstündchen, damit ihr Geist, zur Thätigkeit aufgerüttelt, nicht rückwärts gehe und das Gefühl bei ihnen nicht Platz greife, dass sie nichts zu leisten imstande sind, deshalb sich nicht anzustrengen brauchen und mit dumpfem Hinbrüten ihre Stunden in der Schule absitzen.

Zu dieser Kunst, dem „suum cuique“ der Pädagogik müssen die an- gehenden Erzieher Anleitung erhalten zunächst durch eine vernünftige Ein- führung in die Lehre von der Seele des Kindes, nicht auf die Weise, dass nıan sie die psychologischen Wahrheiten bloss nach Abschnitten und Unterabteilungen kennen lehrt, sondern vor allem auch so, dass ihnen dargethan wird, wie gereifte Lehrer aus den kindlichen Handlungen, Antworten und Mienen auf die innern Seelenzustände schliessen, dass sie also ihre Schüler sorgfältig beobachten und beurteilen lernen. Beobachternaturen verlangt jede Kunst, und wahrlich die Kunst des Erziehens. Diese Beobachtungsgabe, die Gabe eines gehaltvollen Sehens und eines lauschenden Erfassens ist den wenigsten von Natur aus ver- liehen. Deshalb, und weil an und für sich das Beurteilen von Handlungen, das Forschen nach deren Ursachen und den kleinen sie begleitenden Umständen der gesamten Jugend, demzufolge auch dem angehenden Lehrer meist fern iegt, haben die Erzieher der Erzieher die heilige Pflicht, durch fortgesetzte Übung das Interesse und den Blick der Seminaristen für die Individualität zu schärfen, indem sie die zukünftigen Volksbildner immer und immer wieder zur Beobachtung des Kindes bei jedem Blicke, jedem Worte und jeder Thätig- keit anhalten und, an der Hand der verschiedensten Beispiele stets das „Warum und Weil“ betonend, den Werdegang des jungen Geistes und die Beweggründe seines Handelns vor ihrem geistigen Auge aufrollen. Dann wird auch derjenige, dem es fürs erste schwer fällt, alles zu sehen, worauf es ankommt, allgemach hingeleitet, Auge und Verstand in den Dienst dieser unumgänglichen Forderung zu stellen und nicht auf Treu und Glauben das für wahr anzunehmen und nachzusprechen, was im Handbuch schön geordnet untereinander gesetzt ist. Selbstverständlich ist nur der Lehrerbildner dazu befähigt, dem neben einer tausendfältigen Erfahrung im Unterrichten und Erziehen von Kindern ein reiches psychologisches Wissen zu Gebote steht, der in geschickter Weise oft schon durch einen packenden Einwurf oder durch ein Wort, das, wenn auch erst später in der Erinnerung, sich zu bewegen beginnt wie ein spriessendes Samen- korn, zu einem mit Liebe gepflegten Beobachten, zu einem Sichversenken in

86 die Kindesseele anregt. Nicht zufrieden damit fordert ein solcher Meister von seinen Zöglingen schriftliche Aufzeichnungen über das von ihnen Beobachtete in gediegenen Aufgaben und Charakterbildern für den Anfang nach festge- legten Gesichtspunkten mit der angefügten Beurteilung und der Angabe von Mitteln, durch welche diese oder jene Eigentümlichkeit bei voller Wertschätzung der Kindesnatur entweder einzudämmen oder zu beleben sei.

Überhaupt führe aller Unterricht im Seminar die Zöglinge bewusst wie unbewusst zum scharfen Beobachten und richtigen Beurteilen. Hierzu bieten besonders auch die oft wohl etwas stiefmütterlich behandelten Naturwissenschaften, in denen die jungen Leute ihre Augen gebrauchen, ihr Beobachtungsvermögen auf die herrliche Natur anwenden und deren Leben Werden, Sein und Ver- gehen betrachten sollen, ein ebenso ergiebiges wie schönes Feld. Den besten Beweis dafür liefert uns Goethe, „der feine Kenner aller Regungen des mensch- lichen Innern mit seinen umfangreichen naturwissenschaftlichen Studien“.

Der also zum selbstthätigen Erforschen der Kindesseele auf wissen- schaftlicher Grundlage vorbereitete Lehrer tritt vortrefflich ausgerüstet in sein verantwortungsvolles Amt. Entgegen dem mechanisch drauf los arbeitenden Erzieher ist er schon von vornherein durch seine Vorbildung ein angesagter Feind alles schablonenhaften, gedankenlosen Wirkens, und wenn er durch emsige Weiterbildung auf dieser Basis sich zu vervollkommnen strebt, wird er ganz gewiss dereinst in des Wortes schönster Bedeutung ein bildender Künstler, nicht sit venia verbo ein Flachsmann, sondern ein Flemming werden, der nicht alle Schüler über einen Leisten schlägt, vielmehr weil er weiss, was ihnen zukommt, auch dem Schwachen das Seine giebt, das ist: auf ein Minimum beschränkte Anforderungen, Nachsicht und fortdauernde Aneiferung.

Trotzalledem verursacht das Hinuntersteigen zu den mangelhaften Begriffen, Urteilen und Schlüssen eines schwachveranlagten Kindesgeistes und das Ein- dringen in denselben noch manches Kopfzerbrechen. Viele wissen eben. nicht, wo und wie sie den Hebel ansetzen müssen, und das hat unter anderm seinen Grund auch darin, weil ihnen nicht hinlänglich genug bekannt ist, wie in dem normal veranlagten Kinde die ersten Keime geistiger Bildung zu legen und zu hegen sind. Die Methodik des vorschulpflichtigen Alters sowie hauptsächlich auch die des ersten Schuljahres bedarf, wenn für unsere Schwachen ein Körnchen abfallen soll, einer viel eingehenderen Durchnahme, als sie gewöhnlich erfährt. Wer kein vollendeter Meister für dieses so überaus wichtige Jahr im Kindes- leben ist, „wer,“ um mit Kellner zu reden, „den Unterricht der Kleinen lang- weilig und einförmig findet, wer ihn nicht mit hingebender Liebe betreiben kann“, der hält den Unterricht Schwachbegabter für noch langweiliger und ein- förmiger, der wird sich ihrer auch schwerlich in Liebe hingeben. Die neuere Pädagogik geht mit einem überlegenen Lächeln über die Gepflogenheit früherer Seminarlehrer hinweg, welche ihren Unterricht bei den neu eintretenden Seminaristen im Lesen mit der Fibel oder im Aufsatzunterrichte mit der Be- schreibung einfacher Gegenstände aus dem Anschauungskreise der Kinder be- gannen; und doch liegt in dieser Thätigkeit ein hochwichtiges Moment für die

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Erziehung künftiger Erzieher, denn diese wurden dadurch gehalten, ihren geistigen Standpunkt zu verlassen und sich in die kindliche Denkweise und in die Sprache hineinzuleben, in welcher man zu den kleinen Rekruten, denen, da sie auch noch schwach im Geiste sind, der Anfang des Lernens recht sauer wird, reden muss, will man von ihnen verstanden werden.

Je gründlicher überdies Seminaristen und Lehrer sich mit allen Schöpfungen der Heilpädagogik vertraut machen, je mehr es ihnen klar wird, dass thatsäch- lich mit geistesschwachen Kindern noch etwas zuwege gebracht werden kann, und je mehr sie einsehen, dass die zwar harte Arbeit an diesen Unglücklichen eiuer stark verbreiteten gegenteiligen Ansicht zum Trotz höchst interessant ist und den Lehrer nicht abstumpft, falls sie nur nicht als Handwerk betrieben wird, desto entschiedener nehmen sie einen Anlauf, sich an dem menschen- freundlichen Werke zu beteiligen. Anstatt mit einer kurzen Bemerkung über das Wesen der segensreichen Einrichtungen, wie Anstalten und Schulen für Schwachsinnige, Blinde und Taubstumme oder Heilkurse für sprachgebrechliche Schulkinder, hinwegzugehen, müssten die pädagogischen Lehrbücher diesem Teile der Erziehungslehre, über welchen bei vielen Seminaristen und Lehrern noch eine nicht verzeihliche Unwissenheit herrscht, die grösste Sorgfalt zuwenden. Das jugendliche, begeisterungsfähige Herz des Seminaristen, aber auch das nicht mehr so schnell überschäumende des ältern Erziehers schlägt zweifellos höher, wenn sein Besitzer von der selbstverleugnenden Aufopferung hört und liest, mit welcher wahrhaft philantropische Männer ihr Können, ja ihr ganzes Sein geistigen Aschenbrödeln geweiht haben. Wo fänden die Worte Smiles: „Be- wundere edle und gute Männer, so bist und wirst du immer mehr ein solcher“, ausgezeichnetere Verwendung als bei der Anleitung der Erzieher zur Arbeit an den Schwachen? Deswegen ist es kein unbilliges Verlangen, dass Seminaristen und Lehrer in der Geschichte der Pädagogik auch bekannt gemacht werden mit den Biographieen und der verdienstvollen Wirksamkeit uneigennütziger Menschenfreunde, wie auch mit der geschichtlichen Entwickelung der Schwach- sinnigen-Erziehung.

„Die Lehre von den Fehlern der Kinder ist,“ wie Professor Strümpell in der ersten Auflage seines bahnbrechenden Buches bemerkt, „bis jetzt nicht ebenso wissenschaftlich ausgebildet, wie die Lehre von der Erziehung und dem Unterrichte.. Während in den Schriften namhafter Pädagogen früherer Zeit, welche mehr Praktiker als Theoretiker waren, dieser Gegenstand noch in einer Weise behandelt wird, welche noch jetzt volle Beachtung verdient, nimmt dies aber allmählich immer mehr ab und zwar, wie es scheint, in einem gewissen Verhältnisse mit der Zunahme der überwiegend theoretischen und idealen Richtung der Erziehungslehre. Die Lehre von den Fehlern der Kinder oder die pädagogische Pathologie ebenso, wie demnach die Lehre von der Be- handlung dieser Fehler, also die pädagogische Therapie darf nicht länger ver- nachlässigt werden.“ Mit dieser Erörterung, der wir uns anschliessen, ist eo ipso ausgesprochen, dass die Einführung in das Wesen und die Arten des Schwachsinns, in die andern Psychosen und psychopathischen Mifderwertigkeiten

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des Kindesalters, sowie die Belehrung über alle Krankheiten, welche für die geistige Verfassung der Kinder von ungünstigen Folgen begleitet sind, nicht zum kleinsten Teile auch die Unterweisung über die verschiedenen Sprach- gebrechen in den Bereich der Volksschulpädagogik fallen. Wie leicht würde es nicht schon manchem Lehrer, den Schwachen beizustehen, wenn er in der Sprachphysiologie und der Heilung von Sprachstörungen bewandert wäre! Da sind die Lehrer bedeutend ım Vorteil, die einem Seminare ihre Bildung ver- danken, mit welchem eine Taubstummenanstalt in naher Verbindung stand. Was die Heilpädagogik betrifft, so haben sich sogar Ärzte in das ihnen ur- sprünglich fremde methodisch -didaktische Gebiet vorzüglich eingelebt, warum sollte sich nicht auch der psychologisch nach den angeführten Grundsätzen geschulte Lehrer durch Fleiss und feine Beobachtung die Fertigkeit aneignen, dass er krankhafte Seelenäusserungen des Kindes entdecken und durch Ver- gleichen mit den gesunden Geisteszuständen tadellos beurteilen und zweckdienlich behandeln kann. Die Analyse pathologischer Naturen, das Niederschreiben von Krankheitsbildern betreffs des geistigen Befundes enthält zudem sehr viel des Belehrenden und Interessanten, es weckt in jedem, der nur ein einziges Mal hinter die damit verbundenen Geheimnisse geschaut hat, den Trieb, sich von neuem darein zu vertiefen, wo es vonnöten ist.

Das Mitleid mit den Schwachen aber, der beste Ansporn, ihnen zu helfen, muss sich nicht beschränken auf eine Gruppe derselben, auf die geistig Schwachen, sondern auch die körperlich Belasteten umfassen. „Eins muss ins andre greifen, eins durch das andre blühen und reifen.“ Der Gesundheitslehre ist daher fürderhin ein breiterer Raum in dem Unterrichte für Seminaristen und Lehrer anzuweisen. Wenn auch die vorsätzliche Nichtbeachtung der körperlichen Leiden seiner Schüler durch den Lehrer als vollständig ausgeschlossen gilt, so ist damit noch nicht erwiesen, dass er den kranken Zustand erkennt und gegebenen Falls auch hilfreiche Hand anzulegen versteht. Wäre dies immer der Fall gewesen, so würden wahrscheinlich die übereinstimmenden Berichte von Kuss- maul, Henoch u. a. nicht entstanden sein, wonach Lehrer choreakranken Kindern nicht bereitwillig beistanden, sondern sie bestraften, weil sie die patho- logische Ungeschicklichkeit für Ungezogenheit ansahen. Allein schon wegen des mittelbaren Vorteils für unsre geistig Schwachen begrüssen wir mit Genug- thuung die Verfügung des preussischen Kultusministers, Sanitätskolonnen aus Lehrern zu bilden, da erstens ohne sachgemässe Vorbildung den meisten die Geschicklichkeit, bei leiblichen Gebrechen wirksame Hilfe zu leisten, abgeht, und weil zweitens der ausbildende Arzt sich diese passende Gelegenheit nicht entgehen lassen wird, seine Zuhörer auch einigermassen über die Schulhygiene zu orientieren. Was bezüglich dieses Punktes ausserdem noch in Düsseldorf geschieht, das müsste allen Gemeinden zur Pflicht gemacht werden, nämlich die Beschaffung von Verbandkasten für Schule und Turnhalle zum Gebrauch bei Unglücksfällen oder auch, um bei gewissen Verletzungen das gleichgiltige Elternhaus zu ersetzen.

Zur Verwirklichung des schönen Zweckes, Seminaristen wie Lehrer zur

89 Arbeit an den Schwachen heranzuziehen und zu erziehen, sind alle ohne Aus- nahme berufen, denen die Bildung und Beaufsichtigung der Lehrer, sowie die- jenigen, welchen besonders die Erziehung geistig zurückgebliebener Kinder obliegt, die letztern wegen ihrer Kenntnisse und Erfahrungen in diesem Zweige der Pädagogik, endlich aber auch die Vertreter der medizinischen Wissenschaft.

Sind erst einmal auch durch staatliche Verordnung alle Forderungen der Heilpädagogik als berechtigt und notwendig anerkannt, dann werden alle städtischen und ländlichen Verwaltungen sich die Erziehung und den Unterricht der Schwachsinnigen ernstlich angelegen sein lassen müssen. So lange es, wenn auch nur vereinzelt, noch grosse Kommunen giebt, die aus nicht stich- haltigen Gründen sich sträuben, Bildungsstätten für geistig geschwächte Kinder zu schaffen, ungeachtet der allerwärts darin zutage getretenen Erfolge, kann man es ihren Lehrern nicht ganz verargen, wenn sie bezüglich schwachbegabter Schüler denken: „Warum soll ich mich denn bei meiner sonstigen schweren Arbeit auch noch mit den Schwachen abquälen? Für andere Bildungszwecke, wie Theater, Volksbibliotheken u. a. werden Tausende verausgabt, aber für geistig arme Kirder ist kein Geld vorhanden“

Mit der Aufnahme der Heilpädagogik in den Lehrplan der Seminare ergeht an die Seminarlehrer der eindringliche Ruf, Umschau zu halten auf diesem Gebiete, wie auch durch Hospitieren in Anstalten und Hilfsschulen die opfer- freudige Arbeit praktisch kennen zu lernen, sich an ihr zu begeistern und diese Begeisterung lehrend auf ihre Zöglinge zu übertragen. Leider haben die Seminarübungsschulen durchgehends ausgewähltes, vorzügliches Schülermaterial. Schwachbegabte Kinder werden dort nicht zugelassen, aber darum können sie auch im wahren Sinne des Wortes keine Musterschulen sein, weil sie inbetreff der Veranlagung ihrer Schüler von den gewöhnlichen Schulen grundverschieden sind. In ihnen geht das Arbeiten viel zu glatt von statten, und die Seminaristen lernen nicht, die Schwachen regelrecht anzufassen.

Dem Lehrerstande, wenigstens den Mitgliedern desselben, welche es mit der Erziehung schwachsinniger Kinder gut meinen, muss ferner der Staat periodisch wiederkehrende Gelegenheit zu diesbezüglicher Fortbildung geben, wie dies die Ferienkurse zu Jena und Zürich schon vor längerer Zeit gethan haben Solche amtliche Kurse, die unter Mitwirkung von erfahrenen Psychiatern, Anstalts- und Hilfsschullehrern alljährlich abgehalten werden müssen, sind nach unserer Meinung ebenso unentbehrlich wie die Kurse zur Ausbildung für das Turn- und Obstbaumfach oder auch wie die Spiel- und Handfertigkeitskurse. Damit der Besuch dieser Veranstaltungen dem der andern nichts nachgiebt, sind den Teilnehmern ordentliche Beihilfen aus der Staatskasse zu gewähren und auch nicht nur Lehrer zuzulassen, welche sich ausschliesslich der Schwach- sinnigenbildung widmen wollen. Ob diese Kurse an einer Zentralstelle oder in jeder Provinz eingerichtet werden sollen, möchten wir dahingestellt sein lassen, doch kommen bei der Wahl die Orte am ersten in Betracht, die eine gut aus- gebildete Anstalt oder Hilfsschule besitzen, denn über den Vorlesungen dürfen die praktischen Übungen und Lehrproben keineswegs versäumt werden.

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Einige deutsche Staaten beabsichtigen nach Zeitungsnachrichten die Mittel- schullehrer- und Rektorenprüfung wissenschaftl cher zu gestalten. Es würde ein bemerkenswertes Verdienst sein, wenn auch nach der in Frage stehenden Seite hin die Anforderungen an diese Examinanden vergrössert würden, denn die aus diesen Prüfungen hervorgehenden, in der Heilpädagogik beschlagenen Schulleiter reissen ganz gewiss manchen Lehrer durch belehrendes Wort und gutes Beispiel mit. Selbst im zweiten Volksschullehrer-Examen könnten Themen heilpädagogischer Art an die Reihe kommen. Sobald die betreffenden Lehrer in Erfahrung gebracht haben, dass ständig über diese Dinge geprüft wird, fügen sie sich schon um ihrer selbst willen in das Unvermeidliche und gehen der Sache in der Schulstube wie im Studierzimmer auf den Grund.

Viel vermag der Schulrevisor für die Arbeit der Lehrer an den Schwachen zu vollbringen, nicht etwa dadurch, dass er dem Lehrer, dessen schwachbefähigte Schüler nicht auf dem Standpunkte der Klasse stehen, einen derben Verweis erteile; nein, er lasse sich bei seinen Revisionen nur immer auch die Kinder vorstellen, welche geistig minderwertig sind und frage: „Warum ist der Knabe hinter den andern Schülern zurückgeblieben? Worin besteht seine geistige Schwäche?“ Ohne sichere Beherrschung der pädagogischen Pathologie kann der Lehrer diese Fragen unmöglich exakt beantworten, sondern er sucht sich durchweg mit allgemeinen Redensarten: „Der ist zu dumm, blödsinnig oder gar bildungsunfähig“ herauszuwinden Da ist denn der Zeitpunkt gekommen, wo der Herr Schulinspektor anfeuernd einsetzen muss, indem er dem Lehrer vorhält, wie der abnorme geistige Zustand, die Art der Beschränktheit eines Kindes sich nur durch eine gründliche psychische Diagnose feststellen lässt, und wie das Ergebnis dieser pädagogischen Untersuchung auf die zur Besserung anzuwendenden Mittel hinweist. Es schadet auch durchaus nicht, wenn er zum Beweise seines lebendigen Interesses und herzlichen Mitgefühls mit den Schwachen etliche Minuten einem geistig minderwertigen Kinde opfert. Nicht selten tauen diese Schüler in solchen Augenblicken auf und widerlegen zum Erstaunen des Lehrers dessen Urteil über ihre geistige Beschaffenheit.

Des weitern trägt das einmütige Zusammengehen von Arzt und Lehrer für unsere Schwachen die prächtigsten Früchte Ein der Psychiatrie und Heil- pädagogik kundiger Arzt hat inbezug auf diesen Punkt wohlthuenden Einfluss auf den Lehrer, sei es nun, dass er sich bisweilen nach dem einen oder andern ihm bekannten schwachsinnigen Schüler und seinen Fortschritten erkundigt, oder sei es, dass er dem Lehrer in zwangloser Unterhaltung die Kenntnis geistiger Gebrechen und Erkrankungen vermittelt oder ihn bittet, durch peinliche Beobachtung geistig schwacher Schüler sich ihm und folglich auch der medi- zinischen Wissenschaft nützlich zu erweisen.

Zuletzt, aber nicht als die letzten, welche befruchtend auf Seminaristen und Lehrer einzuwirken in der Lage sind, seien wir alle genannt, die wir die Erziehung und den Unterricht schwachbegabter Kinder zu unserer Lebensaufgabe erwählt haben. Wofern wir nicht jederzeit freudig durch Vorträge in Orts- konferenzen und auf grösseren Lehrerversammlungen oder auch in Bildungs-

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und ähnlichen gemeinnützigen Vereinen unsere Erfahrungen mitteilen, die aus Lehrerkreisen an uns gestellten Fragen über die Behandlung eines schwachver- anlagten Schülers gewissenhaft beantworten, die Kollegen auf den ungemein thātigen Verein für Kinderforschung aufmerksam machen, mit einem Worte, wofern wir nicht allerwegen durch sachverständigen Rat das grösste Interesse für die Bildung der Schwachen an den Tag legen, ist eine Teilnalımlosigkeit der übrigen Lehrer gar nicht zu verwundern. Und stehen uns zur Veröffent- lichung und Verbreitung unserer Bestrebungen in Form von Statistiken, Lehr- plänen, Berichten über Vorträge, Jahresberichten von Anstalten und Hilfsschulen nicht neben den Fachzeitschriften auch Lehrer- und politische Zeitungen zur Verfügung? Die Litteratur über die Erziehung Schwachsinniger hat in den letzten Jahren einen tüchtigen Aufschwung genommen, aber was nützt eine noch so reichhaltige Schriftsammlung, wenn Seminaristen und Lehrer sie nicht kennen. Daher geht unser Vorschlag dahin, dass die Konferenz für das Idioten- wesen und die Schulen für schwachsinnige Kinder inı Verein mit dem Verbande deutsclhier Hilfsschulen eine Kommi-sion einsetze, die einen genauen Nachweis über die erschienenen einschlägigen Schriften, wie auch über Novitäten dieser Art nebst kurzen erläuternden Bemerkungen über dieselben liefere und sowohl in den Schulzeitungen veröffentliche wie auch in einer Sonderausgabe den Kreisschulinspektoren und Seminardirektoren zustelle, damit von Amts wegen für Seminar- und Kreislehrerbibliotheken die besten Bücher und Zeitschriften daraus beschaflt und zur Benutzung empfohlen und ausgegeben werden.

Für die verehrten Anwesenden aber, welche der Arbeit an den Schwachen noch nicht näher getreten sind, vielleicht auch für weitere Kreise mögen endlich noch einige ohne bestimmte Ordnung hingeworfene Fragen zum Nachdenken und zur Mitarbeit reizen:

Was versteht man unter einem Viersinnigen ?

Wie lernt der Blinde lesen?

Wie unterscheidet sich ein Taubstummer von einem Hörstummen ?

Welches ist der Unterschied zwischen Stammeln und Stottern ?

Was ist Lispeln ? |

Wie erklärt man sich den geistigen Vorgang beim Sprechen?

Welche Pädagogen haben die Berücksichtigung der Individualität be- sonders empfohlen ?

Wie legt man ein Individualitätenbuch oder einen Personalbugen an?

Wie erwacht die Seele im Säugling ?

Welche Thätigkeiten gehören in die Bewahrschule oder in den Kindergarten ? |

In welche Klassen werden geistig anormale Kinder eingeteilt?

Woran sind Idioten und Schwachsinnige erkenntlich ?

Was versteht man unter torpiden, was unter agilen Idioten ?

Wie unterscheiden sich Idioten und Imbecille?

Welche Klassen von Dummen giebt es?

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Nenne Methoden zur Untersuchung und Prüfung des geistigen Stand- punktes schwachbefähigter Kinder!

Wie werden die Psychosen, wie die psychopathischen Minderwertigkeiten des Kindesalters eingeteilt ?

Welche Folgen kann eine Gehirnentzündung für die geistige Veran- lagung haben?

Welche Erscheinung in der Sprache tritt häufig nach Diphtheritis auf; was kann der Lehrer zu ihrer Hebung thun?

Welches Verdienst haben Preyer, Gutzmann, Stötzner?

Welches sind die hervorragendsten heilpädagogischen Bestrebungen der Neuzeit?

Welche Werke und Zeitschriften beschäftigen sich mit dem schwach- sinnigen Kinde?

Wie sind Anstalten für Schwachsinnige, wie Hilfsschulen eingerichtet?

Welche Lehr- und Erziehungsgrundsätze finden in diesen Einrichtungen hauptsächlich Anwendung ?

Welche Unterschiede weisen die Lehrpläne für geistig normale und solche für anormale Kinder auf?

Weshalb ist der formalen Bildung bei Schwachsinnigen und Schwach- begabten der Vorzug vor der materiellen zu geben?

Wie soll man sich zu der Behauptung stellen: „Die Arbeit an den Schwachsinnigen ist vergeudete Mühe ?*

Welche Anforderungen in unterrichtlicher Hinsicht müssen an einen Lehrer Schwachbegabter gestellt werden ?

Wie soll man seine geistig schwachen Schüler behandeln?

Welche Eigentümlichkeiten zeigt das schwache Kind in seinem Wollen ?

Wie lässt sich das Wort: „Sie haben Augen und sehen nicht, Ohren und hören nicht“ auf Schwachveranlagte anwenden?

Welche Erklärung giebt es für das Träumen mancher schwachbegabter Schüler im Unterrichte ?

Warum stammeln viele geistig schwache Kinder?

Wie unterscheidet sich nach den formalen Stufen die (Greistesthätigkeit eines normalen und eines schwachbegabten Schülers?

Welche Lage der Tafel ist für Linkshändige zu empfehlen ?

Was versteht man unter Spiegelschrift, und welche Bedeutung hat sie für die Pädagogik ?

Einem Erzieher aber, der die Schwachen in sein Herz eingeschlossen hat, der ihnen wie ein Vater in Liebe, Selbstentsagung und Festigkeit während des Unterrichts oder gar nach der Schulzeit begegnet, gebührt höchstes Lob und ungeteilte Anerkennung von Eltern und Vorgesetzten. Er ist ein Mensch wie andere Menschen, und ein freundlicher Zuspruch bewegt ihn, wenn er auch den strengsten Inspektor in seiner Brust trägt, doch zu weiterm menschenfreundlichen

Jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert, und deshalb bewillige man dem

Lehrer, der in seiner freien Zeit sich mit arınen Schwachbegabten und Schwach-

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sinnigen abmüht, entsprechende Remunerationen, wie denn im allgemeinen die (Gemeinden oder, wenn sie nicht über die notwendigen Geldmittel verfügen, die Provinz oder der Staat noch grössere Summen für den Unterricht und die Er- ziehung schwachsinniger Kinder in ihren Haushaltsetat einstellen mögen. Viel, sehr viel ist schon geschehen, das sei nochmals rühmend und dankbar anerkannt, und das Liebeswerk an geistig Schwachen treibt reichere Blüten als je zuvor. Schauen wir darum auch voll Zuversicht und mit der fröhlichen Hoffnung in die Zukunft, dass der Tag herannahe, wo durch die einträchtige Anregung von allen Seiten beeinflusst, sämtliche Erzieher unseres herrlichen Vaterlandes sich zur Mitarbeit an den Schwachen bestimmen lassen; vergegenwärtigen wir uns aber unaufhörlich bei der Werbung um treue Bundesgenossen den erhabenen Gedanken Schillers:

„Nur in der Kräfte schön vereintem Streben

Erbebt sich wirkend erst das wahre Leben.“

Es folgt hierauf der Vortrag des Herrn Direktor Trüper über „Die An- fänge abnormer Erscheinungen im kindlichen Seelenleben“. Eine Debatte fand auch über diesen Vortrag nicht statt, und da derselbe inzwischen in erweiterter Gestalt in Broschürenform erschienen ist (Oskar Bonde, Altenburg), müssen wir darauf verzichten, ihn im Wortlaute wiederzugeben. Nicht versagen können wir uns aber, die dem trefflichen Vortrage zu Grunde gelegten Leitsätze mitzuteilen.

„l. Es giebt abnorme Erscheinungen und Zustände im kindlichen Seelenleben, die nicht als Schwachsinn im landläufigen Sinne des Wortes und auch nicht als eigentliche Geisteskrankheiten bezeichnet werden können, aber doch pathologischer Natur sind und in der Erziehung einer besonderen Beachtung und in manchen Fälıen auch einer besonderen Behandlung unter nervenärztlichem Beirate bedürfen.

2. Sie können auftreten als Schwächen wie als Regelwidrigkeiten der Sinnes- empfindungen, der Denkvorgänge, des Gefühlslebens, des Wollens und des Handelns und müssen nach allen diesen Seiten hin beachtet und heilpädagogisch berücksichtigt werden.

3. Ernste Massnahmen zur Verminderung der nervenzerrüttenden Ursachen und zur Fürsorge für die mit psychopathischen Minderwertigkeiten behafteten Kinder und Jugendlichen, sei es im Ralımen der öffentlichen höheren und niederen Schulen, sei es namentlich in schweren Fällen ethischer Entartung durch besondere Anstalten, sind nicht bloss im Interesse der betreffenden Indi- viduen, sondern auch im Interesse der Mitschüler wie der Familien und aller sittlichen Gemeinschaften sowohl ein Gebot christlicher Nächstenliebe als ein notwendiger Akt der Selbsterhaltung unseres Volkes.

4. Es ist darum dringend erwünscht, dass nicht bloss Ärzte und Idiotenlehrer, sondern auch Lehrer aller Schulen, sowie Eltern und Erzieherinneu, Seelsorger, Kriminalisten und Verwaltungsbeamte, die über das Wohl und Wehe der späteren Jugend zu bestimmen haben, sich mehr, als es bisher geschehen ist, dem Studium der abnormen Kindesseele und ihrer vorbeugenden Fürsorge widmen.“

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Nach den Vortrage des Herrn Direktor Trüper berichtet Herr Direktor Antensteiner über den gegenwärtigen Stand der Idiotenpflege in Österreich-Ungarn. Der Umfang des Berichts verbietet es uns zu unserm Bedauern, auf denselben hier näher einzugehen, wir behalten uns aber vor, nächstens einmal den Lesern unsres Blattes ein Bild von den einschlagenden Bestrebungen in Österreich-Ungarn zu geben.

Nachdem die Versammlung als Versammlungsort für die nächste (XI.) Konferenz Stettin gewählt hat, wird die X. Konferenz vom Vorsitzenden geschlossen.

Der 3. Konferenztag (Freitag) war dem Besuche der Idiotenanstalt in M.-Gladbach gewidmet. Von dem Vorstand der Anstalt am Bahnhof be- grüsst, fuhren die Teilnehmer per Droschken und Gesellschaftswagen nach der vor der Stadt am Fusse einer bewaldeten Anhöhe liegenden Anstalt. Auf der Hinfahrt war den Besuchern Gelegenheit geboten, einen Überblick über die Bau- thätigkeit der im Interesse der Arbeiterfamilien wirkenden Baugesellschaft zu gewinnen und ausserdem den zum Gemeinwohl der Bevölkerung angelegten Volksgarten zu besichtigen.

Bei der Begıüssungsrede im Betsaal gab Direktor Barthold einen kurzen Überblick über die Entstehung und Entwicklung der Anstalt. Herr Pastor Lie. Weber sprach im Namen des Vorstandes und Herr Beigeoräneter Dr. Porzelt bewillkommnete die Gäste im Namen der Stadt M.-Gladbach.

Hieran schloss sich ein Gang durch die Schulen und Werkstätten. Nach der Schule versammelten sich die Knaben in der Turuhalle, um einige Turn- übungen und Turnspiele vorzuführen. Die Geräumigkeit und Finrichtung der Turnhalle fanden besondere Anerkennung. Auch eine eiserne Radschaukel im anschliessenden Austaltswäldchen lenkte das allgemeine Interesse auf sich. In den Arbeitswerkstätten wurde selır fleissig gearbeitet. Nach einen: kurzen Frübstück wurden noch die verschiedenen Anstaltsräumlichkeiten, der Anstaltsgarten und der Wald besichtigt. Namentlich das neue Asyl lockte viele Besucher an, und verschiedene Einrichtungen desselben fanden auch allgemeine Bewunderung. Nach Beendigung des Rundganges lud das Komitee der Anstalt zu einem Diner in dem grossen Saale des städtischen Gesellschaftshauses „Erholung“ ein. Das vorzügliche Menu und die noch vorzüglicheren Weine bewirkten in der Tischgesellschaft recht bald eine fröhliche, heitere Stimmung, bei der die Herzen warm, die Köpfe „erleuchtet“ und die Zungen log wurden. Nur zu frühe musste die Tafelrunde auseinandergehen. Eine Anzahl der Teilnehmer fuhr wieder nach Elberfeld zurück, andere reisten von hier direkt nach Hause, und nur ein kleiner Rest blieb noch einige Stündchen bei gemütlichem Geplauder in den herrlichen Garten- anlagen der „Erholung“ zurück.

Für den 21. September hatte die Konferenz einen Besuch ins Franz Sales- Haus in Essen-Huttrop in Aussicht genommen. An diesem Besuch nahmen etwa 30 Konferenzmitglieder teil. Dieselben versammelten sich in der Aula der Anstalt, wo Herr Pfarrer Bornewasser im Namen des Vorstandes sie herzlich begrüsste. Er wies darauf hin, dass die Anstalt sich aus kleinen Anfängen

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entwickelt hat. Es war nämlich im Jahre 1883, wo Herr Direktor Ochs in einem Nebenraum der Taubstummenanstalt das erste schwachsinn,ge Kind unter- richtete. Gottes Segen waltete sichtlich über der Anstalt, die jetzt in dem Hauptgebäude 360 Kinder, in einem zweiten Hause 50 bildungsunfähige und in einem dritten Hause 50 schwachsinnige, taubstumme Kinder enthält. Zum Schluss seiner Ansprache begrüsste Herr Pfarrer Bornewasser speziell Herrn Geh. Laudesrat Klausener, Herrn Beigeordneten König, Herrn Direktor Ochs, Herrn Rektor Laaf und Herrn Sanitätsrat Dr. Meerscheiın, sowie Herrn Direktor Piper aus Dalldorf. Herr Direktor Ochs bemerkte, dass es selbstverständlich nicht möglich sei, sämtliche 10 Klassen vorzuführen. Man müsse sich daber begnügen, eine untere, eine mittlere und eine Oberklasse vorzuführen. Es wurde dann eine Lehrprobe vorgenommen. Eine Lehrerin stellte an die Knaben und Mädchen einer unteren Klasse verschiedene Fragen, die zumeist treffend beant- wortet wurden. Auf einem Tische lagen eine Anzahl Blumen, und die Lehrerin zeigte den Kindern, wie diese zu Sträusschen zusammengebunden werden. Die Blumen wurden dann unter die Kinder verteilt, die sie recht geschickt zu Sträusschen banden und den anwesenden Damen und Herren anboten. In der mittleren Klasse wurde eine Lehrprobe aus der biblischen Geschichte vor- genommen (Auferweckung eines Toten), während die obere Klasse im Anschluss an ein Gedicht: „Die drei jüngsten Soldaten des Kaisers“ über den deutschen Kaiser und die Prinzen befragt wurde, deren Bilder ausgestellt waren. An die

Lelirprobe schloss sich die Besichtigung der ausgestellten Arbeiten der Zöglinge und der Anstalt an. Die Räume sind gross und sauber. Luft und Sonne dringen von allen Seiten ungehindert herein. Die Anstalt hat Dampfheizung und eigene elektrische Anlage. In den geräumigen Höfen und Gartenanlagen ist den Kindern ausreichend Gelegenheit geboten, sich herumzutummeln. Hinter dein Hauptge- bäude ist eine Turnhalle mit Tbeatersaal errichtet und weiter zurück finden wir das Taubstummenhaus und die Anstalt für unheilbare Blödsinnige. Mit grosser Befriedigung nahmen die Besucher von der Einrichtung der Anstalt, die man mit Recht als eine Musteranstalt bezeichnen kann, Kenntnis.

Volksschule und Hilfsschule. Eine sozial-pädagogische Erwägung. Von Fr. Frenzel-Stolp i. P.

Unter dem obigen Titel ist von Professor Dr. Witte, Kreisschulinspektor zu Thorn, eine Schrift*) erschienen, welche die Förderung der Schwachen im Rahmen der normalen Volksschule behandelt und die Errichtung von Hilfsschulen als Schulen nur für schwachbegabte Kinder wegen mehrfacher Bedenken verwirft. Seine Ausführungen beruhen jedoch vielfach auf falschen Voraussetzungen, auf richtigen Behauptungen mit falschen Folgerungen und auf

*, Verlag von Ernst Lambeck in Thorn. Preis brosch. 1.20 Mk.

96 Urkenntnis vieler Verhältnisse auf dem Gebiete des Schwachsinnigenbildungs- wesens. Es erscheint deshalb im social-pädagogischen Interesse geboten, des nähern hier auf seine Darlegungen einzugehen.

Seine Hauptforderung: „Esist inerster Linie und in der Hauptsache nicht sowohl eine ärztliche und medizinische als vielmehr eine pädagogische Hilfe und Fürsorge, welche den Schwachen in der Schule angedeihen muss“, erscheint rationell, und wir stimmen ihr bei, jedoch nicht ganz bedingungslos. Es giebt abnorme Erscheinungen und Zustände gerade in dem Seelenleben der Schwachen, die pathologischer Natur sind. Diese zu erforschen, namentlich ihre Ursachen zu untersuchen und die körperlichen und geistigen Krankheitszustände, die in vielen Fällen als Komplikationen der Geistesschwäche auftreten, festzustellen, ist nicht unsere Sache, sondern die des Arztes. Eine gewisse Mitwirkung des Aıztes erscheint deshalb auch für später, also bei der Erziehung und Unterweisung schwachbegabter Kinder, erwünscht. Erfreulicherweise ist in dieser Angelegenheit eine Verständigung zwischen Ärzten und Pädagogen vielfach zu stande gekommen, sodass beide häufig gemeinsaın auf dem Gebiete des Schwachsinnigenbildungswesens segensreich wirken. Die Notwendigkeit ärztlichen Beirats resp. ärztlicher Mitwirkung spricht auch der Ministerialrunderlass vom 6. April 1901*) für die Auswahl der Schüler für die Hilfsschule aus. Sonstige Giünde, die uns bestimmen, die Mitwirkung des Arztes bei der Erziehung und Unterweisung der Schwachen zu erheischen, sind in meiner Arbeit: Die Mitwirkung des Pädagogen bei der ärzt- lichen Untersuchung schwachbegabter Kinder (Sonderabdruck aus der Zeitschrift für Schulgesundbeitspflege) zur Genüge aufgeführt, sodass ich auf deren Wiedergabe hier verzichte.

Dr. Witte behauptet in seiner Schrift, dass in der Volksschule jedes Kind durchschnittlicher Begabung der einfachen Volksschichten das Unterrichtsziel im wesentlichen erreiche. Bei durchschnittlicher Begabung müssten also ungefähr 90°/, aller Schüler, denn bei so vielen Schülern können wir doch nach der landläufig gewählten Bezeichnung des Verfassers durchschnittliche Begabung voraussetzen, bei ihrer Konfirmation von der Oberstufe aus entlassen werden. Wie steht's aber damit in der Praxis? Ich glaube, dass der Prozentsatz sich erheblich niedriger belaufen wird. Die städtischen Schulstatistiken von Berlin, Breslau, Königsberg i. Pr., Hamburg und Mannheim weisen über die Schüler der Gemeinde- schulen nach, dass das Schulziei überall nur höchst unvollkommen erreicht; etwa nur die Hälfte aller Schüler hat beim Abgange dasjenige Mass von Wissen aufgenommen, welches ihnen von vornherein zugedacht war. Die Begabung vieler Schüler ist eben individuell derart beschaffen, dass sie kaum das Ziel der Mittelstufe zu erreichen vermögen, selbst wenn der Lehrplan Rücksicht auf „reichliche und häufige, planvoll geordnete Wiederholung des Stoffes Bedacht nimmt“. Es erscheint auch völlig ausgeschlossen, dass die Volksschule, wie es Dr. Witte

*) Der Erlass billigt durchaus die Einrichtung der Hilfsschulen und spricht sich sehr anerkennend über deren Thätigkeit aus.

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behauptet, alle Schüler möglichst gleichmiässig zu fördern und sogar die Schwachen ihrem Unterrichtsziele mindestens in der Hauptsache anzunähern vermag. Wer das behauptet und verlangt, stellt entweder ganz geringe Anforderungen an die Schule, oder er besitzt keine Kenntnis von der schwierigen Sachlage, in welcher sich viele unserer Volksschulen auch bei Normallehrplänen etc. noch befinden.

Eben diese schwierige Sachlage hat zu jenen Bestrebungen geführt, besondere Schulen fürschwachbegabte Kinder bezw. besondere Nebenklassen für diese mit besonders ausgearbeiteten Lehr-, Stunden- und Beschäftigungsplänen und mit besonderer Unterrichtszeit einzurichten. Es ist so vieles für und gegen diese Massnahmen geschrieben worden, sodass ich mich hier nur auf die Wider- legung derjenigen Bedenken, welche Dr. Witte in seiner Schrift hervorbringt, "beschränken will.

Es hat, entgegengesetzt Dr. Wittes Meinung gerade etwas Menschen- freundliches an sich, den schwachen Schüler von dem begabten zu trennen, denn meist dient er trotz aller Ermahnungen und Warnungen des Lehrers dem letzteren doch nur als Zielscheibe seines Mutwillens, oft seines Spottes. Diese Behandlung raubt ihm gewöhnlich den letzten Funken von Selbstvertrauen, er fühlt sich schwach, ja ohnmächtig und zieht sich gewöhnlich einsam in einen Winkel zurück. Im Unterrichte befürchtet er, nichts Rechtes jenem gegenüber leisten zu können, und lässt infolgedessen in seiner Bethätigung allmählich nach. Der Lehrer hat gewöhnlich sein Augenmerk auf die Gesamtheit der Klasse zu richten, um diese möglichst gleichmässig zu fördern; ist es ihm da zu verargen, wenn er nach und nach den Schwächsten unter den Schwachen zurück- lässt oder sich ihm, trotz besten Wollens, nicht so widmen kann, wie er es gerne möchte? Nach einem bezw. zwei Schuljahren ist er dann zurückgeblieben und gilt als Ballast in der Klasse. Wie steht’s aber mit einem solchen Kinde, das gleich zu Anfang zurückbleibt? Darf ein Lehrer 50 oder 60 Kinder auf Kosten eines oder zweier Schüler vernachlässigen oder sitzen lassen, um sich ausschliesslich mit diesen allein zu beschäftigen® Ich glaube, der Herr Kreis- schulinspektor würde das riesig übeldeuten! Solche Kinder aber verlangen vor- züglich eine individuelle, eingehende Behandlung, ohne diese bleiben sie geistig tot und finden absolut keine Förderung. Das beweisen die den Hilfsschulen bei ihrer Eröffnung überwiesenen, teilweise schon am Ende ihrer Schulzeit stehenden Kinder. Es vergehen in der Regel einige Wochen, während welchen sie trotz andauernder Anregung und wiederholter Heranziehung zur Mitbethätigung am Unterrichte doch noch geistig stumpf dasitzen, bis sie dann allmählich ein wenig regsamer werden, ab und zu Antworten geben und auch sonstiges Interesse für Unterricht und Schulleben bekunden.

Dr. Witte glaubt voreingenommen, dass die schwachbegabten Kinder gerade beständig in Gemeinschaft mit den begabten Schülern leben müssten, die ihnen durch ihr gutes Beispiel dienen könnten. Dieser Glaube erweist sich leider als Aberglaube und eine solche Meinung als leere Theorie. Alle Lehrer, die in ihren Klassen ein oder zwei solche Kinder gehabt haben, wissen dieses wohl zu bestätigen. Die Schwachen bleiben in den gewöhnlichen Klassen meistens dieselben,

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oft verschlimmert sich sogar ihr Übel. Sie würden sich gebessert haben, wenn der Erzieher sie einzeln nach einer ihrer Lage angepassten Methode hätte behandeln können, nach der allgemeinen Methode finden sie eben keine Förderung. Es ist ein Vorurteil, wenn Dr. Witte glaubt, man müsste den Ungehorsamen unter die Gehorsamen, den Unaufmerksamen unter die Aufmerk- samen, den Faulen unter die Fleissigen mischen. Dieses Vorurteil entspringt gewöhnlich dem Gedanken, dass der Schüler, der nicht regelrecht vorwärts kommen kann, für seinen Zustand verantwortlich zu machen sei. Das ist jedoch nicht richtig; das Kind zeigt gewöhnlich seine wahre Natur, und wenn sein Wesen ungesund ist, wie es bei den Schwachen zutrifft, so kann es nichts für seine mangelhaften und geringen Leistungen. Es ist dann besonders zu be- handeln, und die ganze Umgebung, in der es lebt, muss für seine Erziehung und für seine Heilung angepasst werden. Das kann aber nie und nimmer in der Volksschule mit ihrer festgesetzten Ordnung und mit ihren bestimmten Normen geschehen, dazu sind andere Massnahmen erforderlich.

„Den Schwachen an den Schwachen zu koppeln, ihn mit seinesgleichen zusammenzubringen, ihn dem belebenden (?) Einflusse, sowie dem anregenden (?) Beispiele des befähigten Mitschülers, mithin auch dem anspornenden (?) Wett- eifer“ zu entziehen, muss deshalb im Interesse seiner gedeihlichen Förderung gefordert werden, indem die genannten günstigen Einflüsse bei ihm gar nicht zur Geltung kommen, sondern sich gewöhnlich als neutrale, ja als hemmende Um- stände für seine Weiterentwicklung erweisen. Wie glücklich und froh aber fühlen sich die Schüler der Hilfsschule unter ihresgleichen; sie benehmen sich bald so wie ihre befähigten Mitschüler, es ist eine Lust, ihrem Treiben, ihrem Spiele, ebenso ihrem Wetteifer jm Unterrichte, der auch erwacht und bald sich mächtig regt, zuzusehen. Von oberflächlich beobachtenden Personen, welche dem Spiele und dem Unterrichte der hiesigen Hilfsschulschüler beiwohnten, ist mir sogar gesagt worden: „Das sind doch keine schwachbegabten Kinder !“

Als einen gewichtigen Grund für die Unmöglichkeit der Errichtung von Hilfsschulen besonders in grössern armen Städten giebt Dr. Witte die Kostspieligkeit der Hilfsschulen an. Die Hilfsschulen kosten mehr Geld als die gewöhnlichen Schulen, das ist ein Vorwurf, den man ihnen mit Recht machen könnte. Sie kosten deshalb mehr, weil ihre Aufgabe verwickelt und schwierig ist, weil ihre Einrichtung verschiedenen Zwecken angepasst werden muss, und weil die Hilfsmittel, über die sie verfügen müssen, äusserst verschiedenartig sind. Im allgemeinen aber sind sie weniger kostspielig als manche unvernünftig ein- gerichtete Fachschulen, die oft noch dazu ohne durchschlagende Wirkung bleiben. -- Was für ungeheure Summen verschlingt die Armenpflege, die Polizei- verwaltung, das Gefängniswesen, die Arbeitshäuser etc. Die Ausgaben dafür werden sicher geringer werden, wenn man den schwachbegabten Kindern, die an jenen Kosten später auch nicht nnerheblich beteiligt sind, eine zweck- mässige Erzielung und Unterweisung angedeihen lassen wollte. Wie die Aus- dehnung der Fürsorgeerziehung auf solche Kinder, bei denen eine Verwahrlosung schon möglich erscheint, günstige Resultate, namentlich in England, erzielt hat,

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so wird eine geeignete Beschulung schwachbegabter Kinder auch von günstigem Erfolge sein. Und in der That lassen Erhebungen, welche die Hilfsschulen in dieser Angelegenheit bereits hie und da gemacht haben, zu den schönsten Hoffnungen berechtigen. Eine gleichmässige, intensive erziehliche Einwirkung auf die schwachbegabten Kinder kann nur in eigens für sie bestimmten Klassen oder Schulen stattfinden, und nur eine solche Erziehung bietet die Gewähr, dass die Schwachen brauchbare Mitglieder der menschlichen Gesellschaft werden. Wenn also die Stadtgemeinden für eine besondere Beschulung der schwachbegabten Kinder ausserbalb der gewöhnlichen Volks- schule auch eine grössere Summe als für die letzte durchschnittlich aufwenden wollten, so käme ihnen diese Ausgabe doch insofern später zu gute, als sie weniger für die Armenpflege, die Polizeiverwaltung, das Gefängniswesen, die Arbeitshäuser etc. zu zablen hätten, indem eben ein grosser Teil der Schwachen durch die Hilfsschule für das Leben gerettet würde und dadurch der Gemeinde nicht zur Last fallen möchte. Das Kapital, welches für diese Zwecke verbraucht werden würde, möchte unbestritten die schönsten Zinsen tragen.

Die Einrichtung und Existenz der Hilfsschulen hat allerdings auch manche Bedenken gezeitigt; Dr. Wittte giebt folgendes zu erwägen: „Für zweisprachige Gegenden hat die Trennung der sogenannten Schwachen, als welche leicht die nicht die eigene Sprache des Lehrers redenden Schüler dürften angesehen werden, noch ganz besondere Gefahren.“ Er meint also, dass Lehrer solche Schüler, die die deutsche Sprache nicht genügend beherrschen, zu Schwachen stempeln möchten und anstatt sich Mühe mit ihnen zu geben, sie einfach der Hilfsschule zuweisen würden. Ebenso könnten Fälle eintreten, in welchen Lehrer, die sich ihren schwachen Schülern nicht widmen wollen, diese einfach sitzen lassen unter dem Eipwande: „Wozu haben wir eine Hilfsschule?* Ja, wenn keine eingehende, sachverständige Prüfung der für die Hilfsschule bezeichneten Schüler vorher stattfände, könnten unter Umständen Schüler abgeschoben werden; allein bei unsern üblichen Prüfungen und Untersuchungen (pädagogischen und ärztlichen) werden derartige Manipulationen gewöhnlich sofort erkannt, dazu besteht noch die Massnahme, dass ein Kind, welches sich vorzüglich in der Hilfsschule ent- wickelt, in die Volksschule zurückversetzt werden kann. Eine besondere Gefahr liegt also im allgemeinen in dieser Beziehung für die Schwachen nicht vor.

Dr. Witte führt auch hygienische Bedenken gegen die Einrichtung der Hilfseschulen vor, indem er meint, dass die Schulen für schwachbegabte Kinder infolge ihres gebrechlichen, skrophulösen, schlecht gekleideten, leicht frierenden Schülermaterials leicht Ausgangspunkte und Herde epidemischer Krank- heiten werden könnten. Daraufhin will ich ihm versichern, dass diese Möglichkeit in den gefüllten Volksschulklassen weit eher eintreten kann, als in unsern saubern und geräumigen, gut eingerichteten, den hygienischen Anforderungen meist ent- sprechenden, mässig besetzten Schulzimmern, in welchen grösste Ordnung herrscht und gewissenhafte Beobachtung aller hygienischen Massnahmen stattfindet- Unsere Schulen können deshalb Horte der Erstarkung und Gesundung genannt werden im Gegensatze zu den Volksschulklassen; ein Einblick in die

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100 meisten Hilfsschulen dürfte ihn davon genügend überzeugen. Der Gesundheits- zustand der Schüler in den Hilfsschulen wird auf Grund von Berichten als ein durchaus guter bezeichnet, wozu auch der gesamte Unterricht, welcher weit mehr als der in der Volksschule einer vernünftigen Schulhygiene Rechnung trägt, ein gut Teil beisteuert.

Trotzdem Dr. Witte nicht für die Errichtung von besonderen Schulen für Schwachbegabte zu haben ist, so befürwortet er dennoch für grössere Gemeinden die Einrichtung einer Schule mit einfachen Verhältnissen, er möchte womöglich eine geringe Anzahl von Schulen in einer grössern Stadt gründen, die ganz einfache Systeme wären. Ist denn die Hilfsschule nicht auch eine solche Anstalt? Er erkennt also die Notwendigkeit der Eröffnung von Schulen mit einfachen Verhältnissen neben grössern Systemen an, will aber von der einfachsten Schule, der Hilfsschule, nichts wissen. Es besteht darin offenbar ein Widerspruch in seinen Meinungen, der ganz und gar unerklärlich erscheint.

Durch die Begründung von Schulen mit einfachen Verhältnissen wäre seiner Ansicht nach auch den Schwachen geholfen. Er erwartet von der Wirksamkeit dieser Anstalten gehörige Förderung der schwachbegabten Kinder in der Weise, dass der Schulmann dann von sich mit Stolz sagen könnte: „Ich verstehe es, mit eigenen Mitteln den Schwachen zu helfen, ohne Zuflucht zu fremder Hilfe nehmen zu müssen!“ Den Hilfsschullehrern macht er hierbei den Vorwurf, dass sie mehr von ärztlicher und medizinischer als von pädagogischer und didaktischer Heilung Erfolge erwarten. Diese Beschuldigung beruht offenbar auf falscher Auffassung der Sachlage, und wir weisen sie mit Entrüstung zurück. Es scheint, als ob Dr. Witte unsere Arbeit gar nicht kennt, denn sonst müsste er doch wissen, dass wir in erster Linie pädagogisch und didaktisch thätig sind und keineswegs unsichern Lehren der Medizin und der „sogenannten experimentellen Psychologie“ anhängen, sondern nur ihre gesicherten Ergebnisse verfolgen und sie bei der Erziehung und Unterweisung schwachbegabter Kinder beobachten.

Sehr eigenartig ist Dr. Wittes Auffassung über das Zustandekommen des Geisteslebens. „Alles geistige Leben ist göttlichen Ursprungs, daher so tief gegründet und so reich, dass es rein wissenschaftlicher Erforschung sich entzieht“ etc. Nach seiner Ansicht müsste also unsere Kinderforschung zweck- los sein, denn zu den „Tiefen und zu dem Reichtume geistigen Lebens“ vorzudringen, vermögen selbst „Röntgen-Strahlen“ nicht. Ich will Dr. Witte nur sagen, dass es trotz seiner geglaubten Unmöglichkeit doch gelungen ist, ein gutes Stück auf dem Gebiete der Erforschung des kindlichen Leibes- und Seelenlebens vorzu- dringen, und dass manche Arbeit darüber geleistet worden ist, die Hervorragendes bedeute. Es mögen hier nur folgende Schriften zur Aufzählung kommen: 1. Wundt, Völkerpsychologie, 2. Ament, Die Entwicklung von Denken und Sprechen beim Kinde, 3. Baldwin, Die Entwicklung des Geistes beim Kinde und bei der Rasse, 4. Compayré, Die Entwicklung der Kindesseele, 5. Tracy, Psychologie der Kindheit, 6. Sully, Untersuchungen über die Kindheit u. a. m. Wenn man diese Werke ohne Vorurteil gelesen hat, dann muss man auch

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unumwunden eingesteben: „Wir sind auf dem besten Wege zur Erforschung des kindlichen Geisteslebens!“

Es lässt sich nicht ableugnen, und das wird Dr. Witte auch zugestehen, dass pädagogische Einsicht und Kunst erst durch die Kenntnis der Kinderpsyehologie kommt. Wenn wir uns daher dem Studium der Kinder- psychologie, der pädagogischen Pathologie und womöglich auch der Psychiatrie zuwenden, so thun wir das aus dem Grunde, um uns vor pädagogischen und didaktischen Missgriffen zu bewahren. damit wir unsern eigenartigen Schülern eine gerechte, ihrer Eigenart entsprechende Behandlung bieten können. Nur zu diesem Zwecke beachten wir die Lehren der Medizin und auch der „experimentellen Psychologie“, jedoch nur soweit, als sie für uns reellen Wert besitzen. Wenn wir dabei in einen Irrtum geraten sollten, so wird er jedenfalls sich nicht so nachteilig erweisen, als es unsere Thätigkeit ohne Beachtung jener Lehren und ihrer Ergebnisse oft wäre.

Dr. Wittes Schilderungen über die Massnahmen, welche ein Schulmann im allgemeinen zur Förderung der Schwachen in der Schule zu beachten hat, bekunden viel pädagogisches Verständnis und richtige Beurteilung der Sach- lage in mancber Beziehung. Allein, welche Massnahmen zu beobachten sind, um einen Schwachen soweit zu bringen, dass seine Bethbätigung am Unterrichte in einer ergiebigen Art und Weise ermöglicht wäre, giebt er nicht an. Er glaubt vielmehr, dass alles gut und glatt ginge, wenn der Lehrer seine gemachten Vor- schläge nur genügend befolgen würde. Das ist aber ein grosser Irrtum! Der Schwache muss, namentlich zu Anfange der Unterweisung, besonders angeregt und geleitet werden und zwar in einer solchen Weise, dass die Behandlung vor- züglich individuell auszuüben ist, sonst zeigt er sich in der Klasse geistig tot. Der Klassenunterricht, wie er in der Volksschule gegeben werden muss, ist dazu in der Regel vollständig ungeeignet, und wäre er noch so vollkommen und individualisierend. Erweist sich der Schwache geistig soweit gefördert und gestärkt (wie ihn sich Dr. Witte jedenfalls von Hause aus denkt), dass er unterrichtsfähig in weitgehendster Beziehung erscheint, dann werden seine an- empfohlenen Vorschläge und Massnahmen sicher von Erfolg sein.

Widerspruch verlangt auch Dr. Wittes Behauptung, welche den bekannten Satz: „Gesunder Geist nicht ohne gesunden Leib“, darin umkehrt: „Gesunder Leib nicht ohne gesunden Geist!“ Gewiss besitzt der Schwache wohl in den meisten Fällen ebenso wie der Begabte einen gesunden Leib namentlich in Bezug darauf, was wir gewöhnlich unter der Bezeichnung „gesund“ verstehen. Ja, manche Schwachen strotzen förmlich vor Gesundbeit und seben blühend und schön aus. Allein ihr Gehirn ist krankhaft und abnorm, sodass sie also dennoch keinen gesunden Leib besitzen, daher ist auch ihr Geist und infolgedessen ihr Geistesleben abnorm und krankhaft. Wir können die Erforschungen der Pathologen in dieser Sache nicht ohne weiteres ignorieren, das hiesse der Wissenschaft einen Faustschlag versetzen. Als erwiesen gilt in dieser Beziehung, dass die Geistesschwäche auf einem Hirndefekt beruht, welcher auf anatomischem

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Wege sich nachweisen lässt. Danach kann also der obige Satz nicht Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben.

Dr. Witte stellt im weitern seiner Schrift folgende Vorschrift auf: „Die wirklich geisteschwachen Schüler bedürfen übrigens der Anstalts- erziehung.“ „In Bezug auf die nur Schwachbegabten wird es aber bei der Schulerziehung docl sein Bewenden behalten müssen.“ Die Frage, für welche Fälle von schwacher Begabung Anstalts- bezw. Schulerziehung eintreten müsse: ist noch lange nicht spruchreif, obwohl meistens die Ansicht vorherrscht, dass die tief stehenden Geistesschwachen am besten in Anstalten, die mehr begabteren dagegen in Schulerziehung untergebracht werden müssten. Diese Scheidung ist durchaus nicht zutreffend, die Grenzregulierung hat ganz andere Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Wenn ein schwachbegabtes Kind ohne Sohädigung seiner eigenen und seiner Mitmenschen Interessen zu Hause behalten werden kann, dann ist Schulerziehung am Platze, andernfalls muss Anstalts- erziehung eintreten. Dieser Umstand wäre im wesentlichen bei der Lösung obiger Frage überhaupt zu beachten.

Dr. Witte giebt später die Notwendigkeit besonderer Erziehungs- anstalten für Schwachbegabte, ja eigens für sie bestimmte Schulen, im allgemeinen zu, betont aber ganz besonders, dass ihre Unterweisung in der Form des gemeinsamen Unterrichts, also mit begabten Kindern, erfolgen müsse. Die Zwecklosigkeit eines solchen Unterrichts ist schon vorhin beleuchtet worden. Die Erfolge, welche die Hilfsschulen aufweisen, schreibt er dem Unterrichte trefflicher Lehrer zu und der geringen Anzahl der zu unterrichtenden Kinder. Im allge- meinen aber scheint er dennoch Zweifel in Bezug auf die Unterrichtsresultate zu hegen, da die geringfügige Zahl und die Dauer des Bestehens der Hilfsschulen ihm keine gehörige Garantie dafür zu bieten vermögen. Er bezweifelt dann wieder überhaupt die Zweckmässigkeit dieser Schuleinrichtungen in der bestehenden Form und meint, dass die bisher bestehenden Hilfsschulen durchaus nicht die Grundlage für eine Erfahrung bilden können, auf die man sich als auf eine schon bewährte stützen und auf Grund deren man Gemeinden Ausgaben zumuten darf. Ich will ihm darauf nur erwideru, dass Gemeinden, welche Versuche mit Hilfsschulen vor etwa 15—20 und mehr Jahren anstellten (Elberfeld, Braun- schweig, Dresden, Leipzig u.a.), nun Hilfsschulen mit 5—10 und mehr Klassen besitzen, da sie die denkbar günstigsten Erfahrungen mit diesen Schul- anstalten gemacht haben. Sollten die genannten Gemeinden etwa die Vor- und Nachteile dieser Einrichtung weniger erwogen haben, als es Dr. Witte thut, oder soll ihr Gesichtskreis so enge begrenzt sein, dass sie die Zwecklosigkeit dieser Schulen mit ibm nicht einzusehen vermögen? Oder was sollte sie sonst veranlassen ‚solche kostspielige Schulanstalten zu errichten, da ja die schwachen Kinder im Rahmen der gewöhnlichen Volksschulen gehörig gefördert werden könnten? Sie haben jedenfalls diese Angelegenheit auch iu Beherzi- gung des Wortes: „Videant consules, ne quid detrimenti capiat res- publica!“ reiflich erwogen, sind aber im Interesse der Schwachen zu einer bessern Ansicht als er gekommen.

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Nach Dr Wittes Angaben beträgt die Gesamtzahl aller städtischen Ge- meinden in T'reussen etwa 1300; von diesen haben sich 45 zu Versuchen mit Hilfsschulen bisher (1900) verstanden, das sind etwa 3"/,°%, aller städtischen Gemeinden. Nach der bis jetzt üblichen Auffassung können Hilfsschulen nur für Gemeinden mit 20 000 Einwohnern in Frage kommen, da solche erst genügendes Schülermaterial für derartige Schuleinrichtungen bieten. Das Städte-Lexikon des Deutschen Reiches von Petzold giebt nach der Zählung vom 1. Dezember 1900 die Zahl der Städte mit über 20000 Einwohnern auf 134 an; es hat also jede dritte Stadt von über 20 000 Einwohnern für eine geeignete Be- schulung der Schwachen, sei es in Hilfsschulen, sei es in besonderen Nebenklassen, gesorgt. Äusserst gering sind allerdings die Städte des Ostens daran beteiligt, ausser Königsberg i. Pr, Danzig, Bromberg, Posen und Stolp i. P. besitzt keine andere Stadt bis zur Oder eine Hilfsschule. Für die kleinern Gemeinden kommen die Idiotenanstalten in Betracht, diese werden auch von den genannten Gemeinden frequentiert. Wenn aber eine Gemeinde von 20 000 Einwohnern 20 schwachbegabte Kinder in der Idiotenanstalt unterhalten und ausbilden lassen sollte, so würden ihr dadurch grössere Kosten entstehen, als wenn sie eine Hilfsschule für schwach- begabte Kinder errichtete.

Dr. Witte ist aber in betreff der Hilfsschulen auch einer bessern Einsicht fähig, er giebt über sie nachstehende Erklärung, der wir als sachgemäss gehalten durchaus beipflichten müssen, wohl erwogen ab: „Die Schulen für Schwachbe- gabte sind gerade in den Bezirken, in welchen sie ihren Ursprung genommen und zum Teil eifrigste Förderung gefunden haben, nichts anders als in Bezug auf Gediegenbeit der Einrichtung, der Leitung und des Unterrichtsver- fahrens, namentlich der Schulzucht, der Schulgesundheitspflege, sowie der Ausbeutung der Vorteile des Gesamtunterrichts besonders günstig gestellte Volksschulen, vor allem auch hinsichtlich der geringen Schülerzahl, der reichen Bewilligung und Verwertung aller Mittel für Veranschaulichung des Unterrichtsstoffes, sowie sorgfältigster Aufsicht und genauster Anpassung des Unterrichts-Zieles und -Stoffes an die örtlichen und jeweiligen Bedürfnisse.“ Wenn also gewissen Schülern, die unter den bestehenden Verhältnissen nicht genügende Förderung in der Volksschnle finden, wie es Dr. Witte auch stillschweigend zugiebt, die Wohlthat solcher Massnahmen geboten werden kaun, wo sie vor allem auch einen abschliessenden Unterricht erhalten, so thut die Gemeinde diesen Kindern gegenüber nur ihre Pflicht, und die Notwendigkeit der Hilfsschulen erscheint deshalb nicht nur erwünscht, sondern sogar dringend erforderlich. Der preussische Kultusminister spricht in dem erwähnten Erlasse den opferwilligen Gemeinden in Würdigung ihrer Massnahmen seinen wärmsten Dank aus und gewährt den beteiligten Gemeinden für den ersten Lehrer der Hilfsschule eine Staatsbeihilfe von 500 Mk.

Es ist ferner richtig, dass wir auf die Wohlthat des gemeinsamen, des Gesamt- oder Klassenunterrichts, nicht verzichten, aber wir treiben

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in den untern Klassen vorwiegend Einzelunterricht, daher sind die untern Klassen der Hilfsschule auch durchschnittlich geringer frequentiert als die obern. Doch die Schwachen gemeinsam mit den Begabten zu unterrichten, halten wir/für schädigend für beide Arten von Schülern und verlangen eine Isolierung beider im Interesse gegenseitiger Vorteile.

Dr. Witte empfiehlt den Geineinden zur bessern Beschulung der Schwachen ganz eigenartige Massnahmen, über deren Zweckmässigkeit wir bedenklich den Kopf schütteln müssen. Er sagt, die Gemeinden müssten dafür sorgen, „dass sie alle ihre schwachbegabten Kinder in solchen Klassen unterbrächten, die nicht mit mehr als 30 Kindern besetzt wären, von denen jedoch nur ein Drittel schwachbegabte, die übrigen zwei Drittel gut oder doch durchaus ncrmal begabte und möglichst gesittete Kinder sein dürften“. „Diese Klassen müssten dann überdies einen besonders tüchtigen Lehrer haben, der durch gute Schulzucht und durch das Geschick, auch beim Gesamtunterrichte und durch ihn zu individuali- sieren, sich auszeichnet.“ „Ja, sie müssten überhaupt auch sonst so eingerichtet sein, wie es für die Hilfsschulen empfohlen wird.“ Den gemeinsamen Unterricht halten wir aus den schon vorhin vielfach erwähnten Gründen im Interesse beider Arten von Schülern für zwecklos und die gauze Einrichtung für kostspieliger als die einer Hilfsschule.. Fs hätte z. B. eine Gemeinde (Thorn, Stolp, Insterburg, Tilsit u. a.) 30 schwachbegabte Kinder, danach wären nach Dr. Wittes Vorschlag drei Schulklassen einzurichten, die Hilfsschule aber beansprucht für 30 Kinder höchstens 2 Schulklassen. Welche Einrichtung käme da den Gemeinden teurer zu stehen, die der drei Normalklassen mit je 30 Schülern oder die der Hilfsschule mit zwei Klassen? Zweifelsohne doch die Einrichtung der drei Normalklassen! Daher erscheint es geboten, die Forderungen des preussischen Kultusministers über die Einrichtung von Hilfsschulen als massgebend gelten zu lassen und nicht Massnahmen zu erwägen, deren Ausführungsmöglichkeit im Bereiche der Utopie liegen dürfte.

Dr. Witte kommt im Verlaufe seiner Ausführungen noch einmal auf die ärztliche Mitwirkung bei der Errichtung von Hilfsschulen zu sprechen und er- wähnt besonders, dass von Seiten der Ärzte die Feststellung der für die Hilfsschule geeigneten Kinder für äusserst schwierig gehalten wird. Dieser Umstand darf uns weiter nicht wundernehmen, denn erst in letzter Zeit sind die Ärzte erfreulicherweise dem Schwachsinnigenbildungswesen näher getreten und haben seine Litteratur durch wertvolle Arbeiten wesentlich bereichert. Ich will hier nur folgende Schriften nennen: 1. Dr. Liebmann, Die Untersuchung und Behandlung geistig zurückgebliebener Kinder, 2, Dr. Möller, Über Intelligenz- prüfungen bei schwachsinnigen Kindern, 3. Dr. Berkhan, Über den angeborenen und früh erworbenen Schwachsinn, 4. Dr. Schmid-Monnard, Die Ursachen der Minderbegabung von Schulkindern, 5. Dr. Laquer, Die Hilfsschulen für schwachbefähigte Kinder, ihre ärztliche und soziale Bedeutung, 6. Dr. Weygandt, Die Behandlung idiotischer und imbeciller Kinder in ärztlicher und pädagogischer Beziehung, 7. Dr Cassel, Was lebrt uns die Untersuchung der geistig minder- wertigen Kinder?, 8. Dr. Demoor, Die anormalen Kinder und ihre erziehliche

105 Behandlung in Haus und Schule, 9. Dr. Ziehen, Die Geisteskrankheiten des Kindesalters u. a. m. Wenn Dr. Witte diese Schriften gekannt hätte, dann würde er sicherlich die Mitwirkung des Arztes in der Hilfsschulangelegenheit anders bewertet hahen. Der ärztliche Referent auf dem Ill. Verbandstage der deutschen Hilfsschulen war jedenfalls auch nicht gehörig orientiert, denn sonst wäre er zu einem so fraglichen Eingeständnis, am alleıwenigsten zu einem solcher, wie es Dr. Witte passt, nicht gekommen. Im Gegenteil muss uns das Urteil, das die vorhin genannten Autoren gerade über die Zweckmässigkeit und Wirksamkeit der Hilfsschulen abgeben, zu dem „Experiment der Hilfsschule“ anspornen und nicht abschrecken.

Dr. Witte behauptet ferner, dass es eine schier unmögliche Aufgabe sei, viele Schwachköpfe oder gar nur solche gleichzeitig zu unter- richten. Nun, den Beweis für die Möglichkeit dieser Wirksamkeit mag er sich durch Besuch von Idiotenanstaltsschulen und von Hilfsschulen selbst er- bringen. Ich lade ihn ganz ergebenst zum Besuche der hiesigen Hilfsschule ein, hoffentlich gelangt er dann zu einer andern Überzeugung in der beregten Angelegenheit.

Soll es uns zum Vorwurfe gereichen, dass wir sorgfältige Aufzeich- nungen über unsere Schüler in Bezug auf ihre leibliche und geistige Be- schaffenheit machen, Krankengeschichten anfertıgen und noch andere Massnahmen treffen, um sie vor falscher Beurteilung, vor Verunglimpfung und vor Schädigung im spätern Leben zu bewahren? Ich glaube, diese humane Fürsorge müsste doch von solchen Personen, die im Dienste der Volks- wohlfahrtsbestrebungen stehen, anerkannt und gebilligt werden. Leider ver- mögen wir in unsern Bestrebungen oft nicht so weit zu gehen, wie es in vielen Fällen erforderlich wäre, es geht manches über unsere Kraft. Schon aus diesem Grunde können unsere Ziele in dieser Beziehung nicht für bedenklich und weitgehend und bezüglich ihrer sozialen Wirkung nicht für überspannt bezeichnet werden. Der Starke bedarf oft der Stütze und des Trostes, um wieviel mehr wird Fürsorge für den Schwachen notwendig sein! Er müsste in der Schule auch nach seiner Entlassung noch die Stütze finden, die sie ihm ehemals war. Wenn wir dahingehende Einrichtungen erstreben, so erscheint dieses nur recht vnd billig und bedeutet durchaus keine Blüte, wie sie „zuweilen auch die Pflanze nichtfachmännischen Übereifers und einseitiger Schwärmerei“ treiben kann.

Ich will es Dr. Witte gerne glauben, dass der Anblick der Hilfsschulen sowie der Betrieb in ihnen nicht selten das Kopfschütteln gar manches er- fahrenen (?) Schulmannes erregt haben; meistens aber geschieht das aus ganz andern Gründen, als er sie vielleicht vermutet. Der Anblick der Hilfsschulen erweckt bei den Schulmännern, die nicht an ihnen wirken, meist Neid über die bessere Besoldung der Hilfsschullehrer, über ihre oft geringere Stundenzahl, über die würdigere Ausstattung der Hilfsschulen etc. Wiederum andere, ge- wöhnlich ältere Schulmänner (also wohlerfahrene), schütteln den Kopf über die eigenartige Einrichtung, obwohl sie dieselbe nicht einmal kennen und es auch der Mühe nicht für wert halten, sich die Einrichtung un! den Betrieb der

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Hilfsschulen anzusehen. Es giebt eben Schulmänner, die über alles Neue den Kopf schütteln in der Vermutung, es könnte ihnen vielleicht mit der Zeit un- angenehm werden. Noch andere sind sofort mit ihrem Urteile fertig, wenn sie etw.s über eine Sache gehört haben, zu einer reiflichen Erwägung und Prüfung kommt es bei ihnen gewöhnlich nicht. Wir bitten um augenscheinliche, eingehende Prüfung unserer Einrichtungen, dann werden wir gewiss eine viel günstigere Beurteilung erfahren auch von Seiten der Schulmänner, die jetzt noch den Kopf über unsere Bestrebungen schütteln sollten.

Das Urteil eines einzigen Schul.ufsichtsbeamten, der früher Universitäts- professor war, also jedenfalls erst in der letzten Zeit der Volksschule und ihren mannisfachen Bedürfnissen näher getreten ist und vielleicht noch gar keine Hilfsschule bisher besucht bezw. inspiziert hat, kann in der beregten Angelegen- heit nur auf \Viderspruch stossen und auch nicht massgebend sein. Geradezu überspannt aber sind seine Befürchtungen, die er darin zum Ausdrucke bringt, dass er behauptet, die Hilfsschulen schädigen die andern Schuleinrichtungen. Im Gegenteil gereichen die Hilfsschulen den Volks- schulen vielfach zum Segen, namentlich dadurch, dass sie diese von den hindernden und hemmenden Elementen zum Besten der durchschnittlich Begabten entlasten. Ein schädigender Einfluss der Hilfsschulen ist bisher noch nirgendss verspürt worden, auch da nicht, wo unsere Bestrebungen sehr strenge beurteilt worden sind.

Ernste Bedenken erregt die bisherige Gestalt der Hilfsschule durchaus nicht, denn

I. sie bringt, entgegengesetzt der Meinung Dr. Wittes, der Volksschule und der Kunst des Gesamtunterrichts absolut kein Misstrauen entgegen, sondern sie entlastet die Volk:schule von gewissen hemmenden Elementen in derrichtigen Erkenntnis, dass diese nur durch besondere Massnalımen gefördert werden können;

II. sie nimmt nur wirklich schwachbegabte Kinder auf; der Lehrer der Volksschule behält noch Schwachköpfe genug zurück; es ist also keine Gefahr vorhanden, dass die Volksschullehrer in dem Eifer, die Schwachen zu fördern, erlahmen und das Geschick, sie vorwärts zu bringen, verkeren werden ;

IJI. sie entzieht die Schwachen dem Mutwillen und daher dem schädigenden Einflusse ihrer begabten Mitschüler und sucht in ihnen Selbstvertrauen und gehörige Mitbethätigung am Unterrichte zu wecken;

IV. sie schafft nur Klassen für schwachbegabte Schüler, in welchen der Eigenart der Schwachen durch entsprechende Erziehung und Unterweisung am vollkommensten Rechnung getragen werden kann; dass dieses nicht unmöglich ist, hat die Hilfsschule durch die Praxis hinlänglich erwiesen ;

V. sie sucht die Schwachen thunlichst weit zu fördern, Selbst- thätigkeit zu wecken und Erwerbsfähigkeit anzubahnen unter stets fürsorgender Leitung auch über die Schulzeit hinaus.

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Danach komme ich im Gegensatz zu Dr Witte zu folgendem Resultat:

I. Die angelegentlichste und angemessenste Förderung finden die Schwachen nur in besonders für sie eingerichteten Klassen oder Schulen (Hilfsschulen).

Il. Im Interesse einer gedeihlichen Förderung der Schwachen müssen Pädagoge und Arzt zusammen wirken.

III Die Einrichtung von Hilfsschulen kann allen Gemeinden, die genügendes Schülermaterial besitzen, im sozial-päda- gogischen Interesse dringend anempfohlen werden.

Zum Schlusse sei noch erwähnt, dass nach Erscheinen der Schrift Dr. Wittes

(soweit mir bekannt) folgende Städte neue Hilfsschulen errichtet haben: Kiel, Wilhelmshaven, Saalfeld i. Thür. und Koeslin.

Die pädagogische Gymnastik in den Schulen für Schwachsinnige. Von Otto Legel, Uchtspringe.

Die Unterrichtsveranstaltungen für Schwachsinnige haben den Zweck, sie möglichst brauchbar zu machen fürs Leben, für ihre spätere soziale Stellung, ihnen hinwegzuhelfen über die Hindernisse, die die mangelnden Geisteskräfte ihnen entgegenstellen, und den Ärmsten unter den Armen ein menschenwürdiges Dasein zu schaffen Didaktik und Methodik unserer Disziplinen sind noch zu jung, sind eben erst im Entstehen begriffen. Aber immerhin liegen schon Er- folge hinter uns, wenn auch noch ein weites Feld zu beackern ist. Die metho- dische Vertiefung unserer Unterrichtsfächer bedarf noch mehr als die anderer Unterrichtsgebiete, die auf eine lange Periode ihrer Entwicklung zurückblicken, einer eingehenden Berücksichtigung. Von den einzelnen Disziplinen tritt diese oder jene in unsern Schulen mehr in den Vordergrund als in der Volksschule, oder sollte es thun. Namentlich sollte der Gymnastik ein weit grösseres Feld eingeräumt werden, als sie bis jetzt inne hat, und ihrer Methodik gebührt gerade für unsere Schulen eine allseitige Ausgestaltung

Das Turnen der Schwachsinnigen ist nicht nur in derselben Weise wie das ihrer vollsinnigen Brüder zu berücksichtigen, sondern ınuss in der Orduung der Disziplinen mit an erster Stelle stehen und verlangt eine rationelle Unterrichts- methode. Ausser Gesundheit, Gewandtheit und Kraft des Körpers zu fördern, kann man die Zöglinge durch das Turnen an Gehorsam, Aufmerksamkeit und Ordnung gewöhnen, kann ihren Mut, ihre Willenskraft erhöhen und den Gemein- geist wecken und entwickeln. Kein anderer unserer Unterrichtsgegenstände wirkt so unmittelbar durch Veranschaulichung der Begriffe wie der Turn- unterricht. Die Ausführung der Übungen giebt dem Zögling zum Wort sofort das richtige Verständnis des Inhalts. Gerade die Vermittlung des Sprach- verständnisses spielt doch in unserm Unterrichtsbetriebe eine wesentliche Rolle. Und der Gewinn, den der Turnunterricht !ier bringt, ist kein geringer. Sehen

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wir uns unsere Kinder an! Gesetzt den Fall, dass das schwachsinnige Kind mit derselben körperlichen Kraft geboren wird wie das vollsinnige, so bleibt doch Kraft ohne Übung schwach Die häufig unmenschliche, manchmal auch übertrieben verzärtelnde Behandlung im Elternhause, das Verspottetwerden von seiten der vollsinnigen Altersgenossen haben die Kinder scheu gemacht in ihrem Auftreten Während das geistig gesunde Kind sich im fröhlichen Spiel in Feld uni Wald, auf Strasse und Spielplatz tummelt, steht das „dumme Kind“ abseits von der Schar oder sitzt daheim in stiller Stube, kaum geduldet. Dazu gesellt sich häufig mangelhafte Ernährung. Sie und die fehlende Bewegung hemmen den Körper in der richtigen Entwicklung. Jegliches Selbstvertrauen ist geschwunden und hat einer scheuen Angst Platz gemacht. Vom Turn- unterricht der Altersgenossen sind sie, namentlich die mit Epilepsie beliafteten, ausgeschlossen. So bekommen wir die Zöglinge körperlich schlechter aus- gerüstet als die Lehrer an der Volksschule. Und doch müssen unsere Zöglinge mindestens eine ebenso vollkommene körperliche Ausbildung geniessen wie die normalen Kinder Denn infolge des Mangels an geistigen Fähigkeiten bleiben sie im späteren Leben nur auf die Benutzung ihrer körperlichen Kräfte an- gewiesen, eine Spekulation auf Verwendung der Geisteskräfte ist für sie wohl fast ausgeschlossen. Bedenken wir nun, dass einem grossen Teile unserer Zög- linge Gebrechen der Sprache und mit diesen der sonst nur den Taubstummen eigene schleppende Gang, das Vorbeugen des Körpers anhaften, so muss es eine Hauptpflicht unserer Schulen und Anstalten sein, die körperliche Ausbildung so rationell wie möglich zu betreiben.

Also eine Vorbereitung fürs Leben müssen auch unsere Schulen geben, und zu dieser gehört die gymnastische Erziehung in erster Linie. In ihr ver- einigen sich die gymnastische Bethätigung der Organe, bei welchen das Prinzip der „Einübung“ vorwaltet, das Turnen, und die, bei welcher das Prinzip der „Ausübung“ vorwaltet, die Gymnastik im engern Sinne. Sie umfasst also die sogenannte Wehr- und ästhetische Gymnastik und die Heil- und diätetische Gymnastik. Beim Turnen unserer Jugend muss nun ein Zweig in den andern hinübergreifen ; sämtliche Bewegungsformen müssen von dem Turnlehrer in An- wendung gebracht werden, die willkürlichen und unwillkürlichen Be- wegungen. Besonders werden die willkürlichen Bewegungen ihre Anwendung finden, umsomehr, als dem Lehrer dabei Gelegenheit gegeben wird, den oft so eigenartigen Willen unserer Kinder zu leiten, damit er zu der Herrschaft ge- langt, die es ihm möglich macht. dem Guten nachzustreben. Bei den willkür- lichen Bewegungen können wir nun unterscheiden solche, die selbständig durch den Willensimpuls erzeugt werden, also aktive, und solche, welche noch eine zweite Bewegungsursache haben, die duplizierten Bewegungen. Für die Normalschulen werden die aktiven Bewegungen wohl das ausschliessliche Material der gymnastischen Übungen buden Für uns haben die duplizierten Bewegungen einen bedeutenden Wert. Von dem ganzen Gebiete der heilgymnastischen Praxis zu reden, würde zu weit führen; es tritt übrigens noch die Thätigkeit des Arztes dabei notgedrungen neben die des Lehrers. Soweit aber die Heilgymnastik in

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den Schulunterricht fällt, findet sie ihre Berücksichtigung im Artikulationsunter- richte Die Stimm- und Atmungsgymnastik und die Übung der beteiligten Muskeln ist ja ein wichtiges Unterrichtsgebiet, namentlich in den Sprechklassen. Durch diese Übung der lautreinen Sprache in der Artikulation der einzelnen Laute, als auch in dem weitern mechanischen Sprechunterrichte wird also ein Teil der Heilgymnastik gepfiegt. Somit stellt sich unsere Gymnastik auf den Boden Lings.

Nun stellen sich der praktischen Durchführung der pädagogischen Gym- nastik bei schwachsinnigen Kindern grosse Schwierigkeiten entgegen. Abgesehen von den körperlichen Mängeln und Gebrechen, deren Heilung und Abschwächung in das später zu erwähnende Gebiet der Heilgymnastik fällt, treten die geistigen dem Lehrer hemmend entgegen. Es fehlt unsern Kindern häufig das Vermögen, ihre Gedanken auf einen Punkt zu konzentrieren, ihre Sinne so zu beeinflussen, dass sie das Vormachen von Übungen durch den Lehrer aufnehmen und ihre Muskeln zum Nachmachen anspornen. Wohl ist ein Teil der Zöglinge dazu im stande, ein anderer Teil steht teilnahmlos da. und ein dritter beschäftigt sich mit andern Dingen. Da muss sich der Lehrer der Schwachsinnigen nach Hilfsmitteln umsehen. Als treffliches Hilfsmittel gilt die Musik Schon lange ist man von deren hoher Bedeutung in den Hilfsschulen Antwerpens und Brüssels überzeugt. Durch die Güte der Herren Kollegen Demeulemeester und Jaecks ist Verfasser dieses mit der Art des dortigen Betriebes bekannt geworden Kollege Jonckheere-Brüssel zeigt übrigens in einer Abhandlung in der Zeitschrift für Kinderforschung den Einfluss der Musik auf die gym- nastischen Übungen. (Siehe Zeitschr. für Kinderforschung 1901, Heft III.) Genauere Anleitung geben noch: Musical Drill for Infants by Alexander. I& I. und Manuel of Musical Drill by George Cruden VII Aus- gabe 1896. Verlag: London: Simpkin, Marshall & Cie. und Aberdeen: A. Murray. 271 Union Street. Beide sind sehr empfehlenswert: namentlich das letztere ist sehr einfach geschrieben, sodass selbst jemand, der wenig mit der englischen Sprache vertraut ist, es verstehen kann. Zu den Übungen sind meist englische Volkslieder verwendet. Die über 400 Zeichnungen tragen das Ihrige zum Verständnis bei. Namentlich der II. Teil enthält das für uns Wichtigste: 1. Marchning Drill 2. Irée Gymnastik Exercises. 3. Hoop Drill. 4. Dumb-bell Exercises. 5. Bar. bell Exercises ete Als zweites hervorragendes Disziplinmittel sind die langen Stäbe zu schätzen. Sie wirken nicht nur kräftigend auf den Körper, sondern sie zwingen auch den Teilnahm- losesten sowie den Unruhigsten ohne seinen Willen zu ausgiebiger Muskel- anstrengung. Dazu sind sie ein sehr leicht zu beschaffendes Gerät. Die be- kannten Hochsprungstäbe erfüllen voll und ganz ihren Zweck. Drei bis fünf Zöglinge, nach Grösse abgestuft, kommen auf einen resp. zwei Stäbe Die grosse Mannigfaltigkeit der Übungen, die sich mit den lan en Stäben vornehmen lassen, macht dem Lehrer die Auswahl leicht. Sämtliche Übungen werden durch Musikbegleitung oder durch Gesang der Kinder reguliert.

Für die g:schulteren Kinder kommen dann die duplizierten Bewegungen

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zur Verwendung. Hier tritt zur alleinigen Kraft des Zöglings noch eine zweite Kraft eines Objektes hinzu. Diese Einwirkung der objektiven Kraft oder der zweiten Person auf die erste Person kann in zweierlei Weise erfolgen. Entweder fördert die objektive Kraft die Bewegungen des Subjekts oder hindert sie. Die letztere Thätigkeit der objektiven Kraft führt zu den „Widerstandsbewegungen‘“. Bei diesen Bewegungen stehen sich die beiden Kräfte gegenüber in dem Masse, dass das Objekt die Bewegungen des Subjekts nicht etwa aufhält, sondern nur verstärkt Stehen z. B. die Zöglinge in doppelter Stirnreihe, so bildet die erste Reihe das Subjekt, die zweite das Objekt. Das Subjekt A soll die Arme nach oben bewegen. Soll diese Bewegung eine duplizierte Widerstandsbewegung sein, so fasst Objekt B die Hände des Subjektes und lässt allmählich die Arme von A nach oben bewegen. Dieselbe Bewegung kann nun in entgegengesetzter Weise ausgeführt werden. Für unsern Unterricht nun ist es notwendig, diese Bewegungen auf sämtliche Muskeln zu übertragen. Diese duplizierten Übungen erfordern einen höhern Grad vun Schulung als die aktiven Bewegungen. Darum treten sie auch erst bei einer gewissen geistigen Reife im Turnunterrichte auf. Es erübrigt sich wohl, an dieser Stelle weiter auf die Art und Weise, auf den mannigfachen Vorteil der Widerstandsbewegungen etc. einzugehen. Jedes Lehr- buch der schwedischen Gymnastik bietet ja genügenden Anhalt. Wie es scheint, finden die duplizierten Bewegungen in unsern Schulen noch lange nicht die Berücksichtigung, die sie verdienen. Durch diese Bewegungen lernen die Zög- linge ihre Bewegungen und Kräfte in Gemeinschaft mit andern zu einem und demselben Zwecke verwenden; sie bilden dann aber auch das Gefühl für richtige Bewegungen in einem überaus feinem Grade aus, da ja ein Zögling die Be- wegungen des andern zu kontrollieren hat Überhaupt geben die duplizierten Bewegungen die Möglichkeit eines spezifischen Einwirkens auf einzelne Muskel- gruppen. Ist nun die Möglichkeit eines spezifischen Einwirkens auch haupt- sächlich in der Heilgymnastik mit Vorteil zu verwenden, so ist dieser Umstand doch auch besonders bei Schwächezuständen etc. und namentlich im Mädchen- turnen, wo sich aus bestimmten Rücksichten nur eine Auswahl von Übungen an Geräten vornehmen lässt, wobl zu beachten. Zuletzt aber gewähren die duplizierten Bewegungen noch die Möglichkeit einer systematischen, stufen- mässigen Kräftigung der Bewegungsorgane. Kann z B. ein Kind aus dem Streckhang an der wagerechten Leiter nicht in den Beugehang übergehen, da es noch nicht die genügende Kraft besitzt, um die Schwere des Körpers zu überwinden, so muss es entweder die Übung unterlassen, oder der Lehrer muss es unterstützen Durch duplizierte Bewegungen der Armmuskeln wird jedoch eine sytsematische Kräftigung ohne ein Gerät möglich.

Als Vorstufe für diese beiden Gebiete, der aktiven Bewegungen, wie sie das Schulturnen verwendet, und der duplizierten Bewegungen, dienen solche Übungen, die mit Zöglingen schwächlicher Muskulatur, mit Kindern, die mit Gebrechen der Gliedmassen behaftet sind, denen die Fähigkeit des Stehens, Gehens, des Greifens und Haltens fehlen, vorgenommen werden Sie spielen in das Gebiet der Heilgymnastik hinüber und erfordern eine individuale Be-

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handlung. Es sind von uns versuchsweise Übungen vorgenommen nach Art und Weise der Methode von Dr. Bourneville im Bicêtre bei Paris Auf An- regung von Direktor Dr. Alt-Uchtspringe wurden 6 Knaben im Alter von 4 bis 7 Jahren genau nach dem Jehrgange Bournevilles behandelt. Es waren Kinder mit schwachentwickelten Beinen und Armen Mittels einfacher Apparate, als Stützen, Strickleitern, Treppen, Stäben etc. liess sich nach der Versuchszeit von 4 Monaten schon ein merklicher Fortschritt feststellen. Genaue Anleitung und Beschreibung der Apparate giebt Assistance traitement et éducation des enfants idiots et arrières par Bourneville. Burcaux du Progrès médical, Paris.

Dass neben diesen skizzierten Gebieten der pädagogischen Gymnastik das Spiel eine weitausgedehnte Verwendung finden muss, bedarf wohl nur der Er- wähnung. Möchten diese Zeilen dazu beitragen, dem Turnen, der Gymnastik in unseren Schulen einige Aufmerksamkeit zu schenken und möchten sie zur Förderung der Sache im Interesse unserer Zöglinge beitragen. „Bewegung er- hält das Woblsein aller Geschöpfe.“

Einige einfache Industriezweige der Anstalt Idstein.*)

Eines der wichtigsten Erziehungsmittel in unseren Anstalten ist der Handfertig- keitsunterricht. Dieser bat den Zweck, unsere Zöglinge an regelmässige Arbeit zu gewöhnen und sie in freien Stunden nützlicb zu beschäftigen. Weun wir dabei auch nicht in erster Linie den Erwerb verfolgen können uud dürfen, to darf derselbe doch nicht ganz unberücksichtigt bleiben. Nun ist es aber sehr schwer, aus der Menge von Berufszweigen und Handarbeiten solche herauszuwählen, welche von unseren schwachsinnigen Kindern erlernt werden können und dabei doch nicht gänzlich wert- los sind. Ganz besonders schwierig ist es aber, die auf der untersten Grenze stehenden bildungsfähigen Zöglinge zu beschäftigen, und doch dürfen wir diese nicht tagelang beschäftigungslos dasitzon lassen, wodurch die letzten Kräfte des verkümmerten Geistes nur vollends ganz abgestumpft würden. Für die besseren Zöglinge ist die Auswahl schon eine leichtere, wird aber duch auch wieder durch mancherlei Umstände sehr erschwert. Wir glauben darum, allen Leitern von Anstalten für Schwachsinnige einen kleinen Dienst zu erweisen, wenn wir in folgendem eine eingehende Beschreibung einiger Industriezweige resp. Handarbeiten, welche seit Jahrzehnten in der Mariaborger Anstalt mit Erfolg betrieben wurden und auch in Idstein sich bisher gut bewährt baben, veröffentlichen. Wir selbst schaffen uns dadurch eine wesentliche Erleichterung, insofern uns soit dem Besuch der Heidelberger Konferenz hier am 20. September 1895 sehr viele diesbezügliche Anfragen teils auch Aufträge zugegangen sind, die zu befriedigen immer viol Zeit in Anspruch nahm.

*), In Rücksicht auf die Wichtigkeit der Arbeit und die Erziehung zu derselben glauven wir den Lesern unseres Blattes einen Dienst zu erweisen, wenn wir ein in der Idsteiner Anstalt entstandenes Schriftchen „Einige einfache Industriezweige“ bier zum Abdruck bringen. Die Anstalt versendet das Schriftchen gegen Einsendung von Mk. 0,20 in Briefmarken Die Schriftleitung.

ME a

Waschseil- Strickerei.

Hierzu braucht man: 1. einen Strickapparat, l. einen Pfriemen oder Stocher, 3. ein Kästchen.

Der Strickapparat (siehe Zeichnung) hat eine Länge von ca. 12 cm, einen Durchmesser von 31/ cm und ist der Länge nach durchbohrt. Die Rohrweite beträgt ca. 1'/, cm. In eine der beiden kreisförmigen Stirnflächen sind 3 ziemlich starke Schrauben oder Nägel eingetrieben, welche in gleichseitigem Dreieck verteilt etwa U cm vom Holze senkrecht vorstehen.

Den Pfriemen zeigt die Abbildung nebenan.

Das Kästchen, welches zur Aufnahme des Kordelknäuels dient, hat cubische Form und eine äussere Dimension von 17 cm. Der Deckel ist durch 2 Schrauben derartig befestigt, dass man ihn beliebig losschrauben kann. In seiner Mitte befindet sich eine runde, etwa fingerbreite Öffnung, durch welche der Bindfaden beim Stricken gezogen wird.

Der Deckel des Kastens wird mittelst Schrauben- ziehers geöffnet und der Kordelknäuel in den Kasten gebracht. Zu merken ist, dass die Kordel nie von aussen, sondern stets von innen heraus abgewickelt werden muss. In der Höhlung im Innern des Knäuels wird sich nach kurzem Suchen und Probieren ein Ende bezw. der Anfang der Kordel finden lassen. Das gefundene Ende wird durch das Loch Ferm. des Kastendeckels gesteckt und von oben in den Apparct gebracht. Ein kleines Stück lässt man als Schwanz unten heraushängen. Bis der Anfang gemacht ist, wird der Apparat samt Kordelschwanz mit der linken Hand gehalten. Die rechte Hand wickelt, um anfangen zu können, die Kordel oben um die 3 Stifte (Schrauben) und zwar in der Weise, dass man an irgend einem Nagel, den wir mit a bezeichnen, beginnt. Die rechte Hand fährt mit der Kordel, die sich schon in der Höhlung des Apparates befindet, zuerst um Nagel a aussen herum, ohne jedoch den Nagel ganz zu umwickeln. Von der Aussenseite des Nagels a wird die Kordel nach der Innenseite des Nagels b geführt: und um Nagel b ganz herumgewickelt. Sodann läuft die Kordel auf die Innenseite des Nagels c, der ebeufalls einmal umwickelt wird. Hierauf kommt die Kordel wieder zu Nagel a und zwar auf dessen Aussenseite.e Nun wird mit den Pfriemen, auch Stocher oder Stecher genannt, die untere Kordel an Nagel a (es ist diejenige, welche gleich beim Anfang aussen an Nagel a vorbeiführt) über den Kopf des Nagels heraufgehoben und über Nagel a nach innen gezogen, wodurch eine Schleife (Masche) entsteht. Dann wird die Kordel zu Nagel b geführt und zwar 80, dass sie über der schon an Nagel b befindlichen Kordel zu liegen

113 kommt. Die untere Kordel an Nagel b wird ebenso mit dem Stocher über den Kopf des Nagels gehoben, wie bei a u.s.w.

So oft die Kordel über einen Nagel gehoben wird, muss dieselbe ziemlich gut angezogen werden.

Wenn sich die unten herauskommende fertige Waschleine durch die Drehung verwickelt (verdreht), so muss dieselbe, ehe sie zusammengebunden werden kann, erst auf- resp. retourgewickelt werden.

Ist ein Knäuel aufgebraucht, so wird ein neuer in den Kasten gebracht, dessen Anfang mit dem Ende des ersten durch einen festen sogenannten Weber- knoten verbunden wird, und die Arbeit geht weiter. Auf diese Weise können Seile in beliebiger Länge gestrickt werden. Ein Pfund Kordel (Preis 60 bis 70 Pfennige) giebt ca. 12 m Waschleinen, die zu 10 Pfenuige pro Meter ver- kauft werden. Wir benützen hier den Bindfaden 4 Dr. 21, T. II, welchen wir in Paketen & 3 kg kaufen.

Hat das Seil die gewünschte Länge, so werden die 3 Maschen abgehoben, das Ende durch dieselben geführt durch die zuletzt entstandene Schlaufe zuletzt und dasselbe dann fest angezogen. Ein Knoten dicht über diesem Abschluss giebt deinselben Halt und verhindert das Aufgehen.

Bandweberei.

Hierzu braucht man: 1. einen Webstubl, 2. ein Schiffchen, 3. ein Spulrad, 4. einen Haspel, 5. einen Zettelrahmen, 6. mindestens 20 Spulen oder Rollen.

1. Der Webstuhl.

Welbatsehl

VE makor! Ir

besteht aus:

a) der Vorderwand (ca. 30 cm hoch, ca. 18 cm breit und ca. 1,5 cm dick), welche durch Einschnitte, ca. 5 cm vom Boden bis 2 cm vom oberen Rande, in 20 Längsteile geteilt ist. Jeder dieser Teile hat in der Mitte ein kleines Loch zum Einschieben des Garnes.

b) dem hinteren Gestell, welches aus 2 vierkantigen Pfosten besteht; diese sind 2 cm dick, 3 cm breit und 20 um hoch. Zwischen diesen Pfosten bewegt sich eine Walze, an den beiden Enden mit 2 Scheiben versehen, von

114 denen jede einen Durchmesser von ca. 15 cm hat. Die eine dieser Scheiben (die rechte) ist mit Zacken versehen.

c) dem Boden, der rechten, linken und hinteren Leistenwand, welche letztere 5—7 cm hoch und ca. 1,5 cm dick sind.

d) einem Halter, welcher mittelst einer Schraube an der Innenseite der rechten Leistenwand angebracht ist. Mit diesem Halter wird die Walze mit den beiden Scheiben festgehalten, indem man ihn in die gezackte Scheibe ein- legt, so dass die Walze beim Weben nicht nachgeben kann.

e) einem Triebel (oder Wendel), welcher an dem durch den rechten Pfosten gehenden Zapfen der Walze angebracht ist.

f) eineın eisernen Haken, der an der Aussenseite der hinteren Leiste be- festigt ist und zum Festhalten des Webstuhls am Tisch dient.

2. Das Schiffchen. Ah feher.

MN

Es besteht aus einem Brettchen und ist t em dick, 4 cm breit und 18 cm lang. An den deiden Enden befindet sich je ein Ausschnitt, welcher 2,5 cm breit und ebenso tief ist. Die Kanten müssen abgerundet und die beiden Flächen ganz glatt sein. 3. und 4. Spulrad und Haspel sind dieselben, wie man sie bei Webern im Gebrauche findet. 5. Der Zettelrahmen.

Aoki aditi:

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Der Zettelrahmen ist aus Latten verfertigt und hat eine Höhe von 1,12 m und eine Breite von 1,10 m. Die Latten sind 7 cm breit und ca. 2 cm dick. Der ganze Rahmen ruht auf 2 Füssen. Durch die 6 senkrecht stehenden Latten sind in gleichen Entfernungen 6 Eisenstängchen durchgeschoben, welche eine Länge von ca. 1,20 m und einen Durchmesser von ungefähr !/, cm haben. Die- selben dienen als Axen der Spulen (oder Rollen).

6. Die Spulen (oder Rollen), `

deren einige bei der vorigen Abbildung eingezeichnet sind, haben eine Länge von ca. 13 cm und einen Durchmesser von ungefähr 5 cm. Die beiden Scheiben auf den Seiten messen 10 cm im Durchmesser.

Das Garn wird mittelst des Spulrads und des Haspels auf die Rollen ge- bracht. Ist die genügende Anzahl Rollen, welche sich nach der Zahl der zum Zettel zu verwendenden Fäden richtet, vollgewunden, so kommen diese in den Zettelrahmen. Von diesem aus werden nun die Faden durch die Vorderwand des Webstuhls gezogen und zwar etwa 4 Stück durch die Löcher und 5 Stück durch die Einschnitte. Es richtet sich die Zahl der Fäden natürlich nach der Breite des zu webenden Bandes; man nimmt aber immer einen Spaltfaden mehr ala es Lochfäden sind, d. b. bei 4 Lochfäden 5 Spaltfäden, bei 5 Lochfäden 6 Spaltfäden u. s. w. Ist dies nun geschehen, so werden die Fäden gemein- schaftlich auf die am Webstuhl befindliche Walze, welche vermittelst des Triebels gedreht wird, aufgezogen. Die Enden der Fäden werden, ehe sie die Vorderwand des Webstuhles ganz erreicht haben, zu einem Knoten zusammen- gebunden. Ist auch das Schiffehen mit dem nötigen Faden vollgewunden, so kann mit dem Weben begonnen werden.

Das Weben.

1. Das Schiffehen in die rechte Hand; Spaltfäden hoch;

2. Schiffehen hinein und Spaltfäden ab; an- klopfen; Schiffchen links heraus;

3. Schiffchen zurück; anklopfen; rechts heraus; Tau; 4. Spaltfäden hoch; Schiffehen rechts hinein; ET T}|} Spaltfäden ab; anklopfen; Schiffehen links Fi}! heraus;

5. Schiffchen links hinein; anklopfen; heraus; u. S. W. u. 3. W.

Das Trum muss immer zwischen Daumen und Zeigefinger festgehalten werden, bis es ge- nügend angezogen ist. Die beistehende Zeich- ei nung zeigt die Spaltfäden das eine Mal hoch, = das andere Mal tief.

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Die Verwendung der Bänder richtet sich ganz nach dem Garn, aus welchem sie gewoben sind. Hat man zu ihrer Herstellung weisses Garn be- nützt, dann geben sie dauerhafte Sackbänder, Henkel an Handtücher u. s. w. Blaues Garn giebt Bänder an Schürzen u. s. w. Auch schwarzer Faden kann zu Schuhnesteln verwoben werden. Schluss in nächster Nr.

Mitteilungen.

Worms. (Augenuntersuchung in der Hilfsschule.) Ausser dem der Hilfsschule beigegebenen psychiatrischen Arzte Dr. Bayerthal unterstützen uns erforderlichen Falls in uneigennütziger Weise noch zwei Ärzte und zwar ist dies Dr. Kilian, Spezialist für Ohren-, Hals- und Nasenleiden, sowie Dr. Gebb, Augen- arzt. Letzterer untersuchte im Laufe des Jahres unsere Kinder und es ergaben sich folgende Resultate: Lidrandentzündung 15,8 °;,, Pupillendifferenz 10,5 %,, Hornhaut- flecken 5,26 °/,, Strabismus 5,26 °/,, Bindehautentzündung 2,63 °/,. Jn liebens- würdiger Weise nahm er verschiedene Kinder unentgeltlich in Behandlung und erzielte, soweit es eben den Umständen nach möglich war, recht günstige Resultate. Weiter wurden unsere Schüler auf ihre Sehschärfe und Sehleistung geprüft. Es ge- schah das von seiten der Lehrer mit Hilfe der Tafeln von Professer Dr. Hermann Cohn in Breslau, welche neben leichter, sicherer Handhabung den Vorzug nicht allzugrosser Kostspieligkeit haben. Erläuternd sei erwähnt, dass wir es mit normaler Sehstärke zu thun haben, wenn das Kind die vorgehaltenen Zeichen auf eine Entfer- nung von 6 m deutlich erkennen kann. Die Sehleistung ist dann gleich ©, normai. Bei einer Entfernung unter 6 m ist Kurzsichtigkeit vorhanden z. B. bei 3 m ist Seh- leistung °/,. Bei grösserer Entfernung haben wir stärkere Sehleistung. So ist z. B. bei 12 m eine doppelte Sehstärke vorhanden gleich '?/,. Es ergaben sich folgende Resultate: Bei 1 m Entfernung (!/, Sehleistung) sahen 2 Kinder, bei 2m (?/,) 1 K., bei 3m(?/,) 4 K., bei 4 m (%,) 2 K., bei 5m (/,) 1 K., bei 6m (%,) 4 K., bei 7 m (7j) 2 K., bei 8m (8/6) 3 K., bei 9m (®/,) 6 K., bei 10 m (!°),) 1 K., bei 11 m (?!/;) 4 K., bei 12 m (1?) 6 K., bei 13 m (134) 4 K Durch die Freundlich- keit des Dr. Gebb und durch die liebenswürdige Unterstützung der Armen -Ver- waltung war es möglich, den kurzsichtigen Kindern unentgeltlich entsprechende Brillen anzuschaffen. Büttner.

Kristiania. (Anstalt für schwachsinnige Knaben in Lindern.) Aus dem vom Direktor der Anstalt, John Grue, herausgegebenen Bericht ist zu ersehen, dass zu Beginn des Berichtsjahres, also am 1. Juli 1900, 95 Knaben im Internat und 1 Externer in der Anstalt waren. Bis zum 30. Juni 1901 traten 40 Zöglinge neu ein, so dass 136 die Schule besuchten, von denen 12 epileptisch waren. Im Laufe des Jahres gingen 36 Zöglinge ab; 17 davon wurden konfirmiert. Eine über die Anstalt hinausgehende Fürsorge geniessen die Zöglinge nicht. Der Schul- unterricht dauert von 9—-1'/, Uhr vormittags. An den Nachmittagen werden die ZJöglinge von 3—6 Uhr in 6 Abteilungen von 3 Lehrern und 3 Lehrerinnen in industriellen Arbeiten unterwiesen. Es bestellen 6 Gruppen:

I,

1. Gruppe: Maler-, Bau- u. Tischlerarbeiten | 4. Gruppe: Bürstenbinden, 2. Schuhmacherarbeiten, 5. : Tuchälechtarbeiten, 3. u Korbflechten, 6. h Stricken, Stopfen und Weben.

In Gruppe 5 und 6 sind die neueingetretenen und ungeschicktesten Zöglinge beschäftigt. Ausserdem werden noch 2— 20 Zöglinge unter Aufsicht des Gärtners im Gaıten, Hof und Stall beschäftigt. Aus dem Berichte des Austaltsarztes ist zu ersehen. dass 26 ärztliche Inspektionen stattfanden, bei denen der Arzt mit dem Direktor die Einrichtungen der Anstalt, auch das Essen, auf die hygienischen An- forderungen hin prüften. Im Laufe des Winters und Frübjahrs traten verschiedene, gut verlaufende Epidemien (Masern, Influenza, Scharlacb) auf. 1 Todesfall an organischem Herzfehler trat ein. Bei Untersuchung der neu Eintretenden fand man 9 mit bedeutenderen, körperlichen Gebrechen. Besondere Aufmerksamkeit wurde den Zähnen der Zöglinge gewidmeil. Es erbot sich dann Zahnarzt Hans Holmsen die erstmalige Visitation gratis zu besorgen. Im März und April wurden sämtliche Zög- linge untersucht, und es ergab sich, dass von den 3600 untersuchten Zähnen 1170 beschädigt, und von diesen wiederum 845 so defekt waren, dass sie gezogen werden mussten. Die übrigen 825 liessen sich plombieren. Am 20. Oktober beging die Anstalt das Fest ihres 25 jährigen Bestehens.

Aus Amerika. (Die Verbreitung des Schwächsinns.) In der Augustsitzung 1901 der Amerikanischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft hielt der Vor- sitzende der Sektion H. Amos W. Butler, einen Vortrag über die Verbreitung des Schwachsinns und seine Bekämpfung, der unter dem Titel „a notable factor of sociai degeneration“ in der Zeitschrift „Sciense“ Nr. 581 Sept. 20, 1901 (New-York, Macmillan & Co.) erschienen ist. B. beschränkt sich in seinen Mitteilnngen fast aus- schliesslich auf den Staat Indiana, für den er eine genaue Statistik aufgenommen hat. Die Mehrzahl der Schwachsinnigen, führt er aus, bilden infolge ibrer lasterhaften Neigungen eine zerstörende Macht im Volksleben. Ausserdem sind sie fast alle für längere oder kürzere Zeit von der Armenpflege, sei es der privaten oder öffentlichen, abhängig und finden dann in Armenhäusern, Kinder in Waisenhäusern, Aufnahme, in denen sie ein elendes Dasein führen. In jedem einzelnen der 92 Armenhäuser des Staates Indiana befinden sich schwachsinnige Personen von der Höchstzahl 25 abwärts bis zu 2, im ganzen 970. Fast allo sind erwachsen, viele sind bilflos und bedürfen grösserer oder geringerer Pflege. Ohne Zucht aufgewachsen, auch der geringsten, ihrer Fähigkeiten angemessenen Ausbildung ermangelnd, können sie nicht nur nicht ihren Unterhalt erwerben, sondern bilden häufig einen Gegenstand der Sorge für ihre Pfleger. Dies ist besonders bei schwachsinnigen Frauen der Fall. 480 solcher Un- glücklichen, das ist 49,,°/, der gesamten schwachsinnigen Insassen, bevölkern die Armenhäuser. Eine Trennung der Geschlechter ist nur unter strengster Aufsicht durch- zuführen; wo diese infolge fehlender Einrichtungen nicht geübt wird, ist eine ständige Zunahme der Schwachsinnigen zu beobachten, was wiederum eine Erhöhung der Armen- lasten herbeiführt. Von dem Bureau des Board of State Charities of Indiana ist seit 12 Jahren umfangreiches Material über die Schwachsinnigen gesammelt worden. Zum Zwecke einer statistischen Darstellung der Lebensverhältnisse dieser Klasse hat Butler aus den Registern 511 Familien ausgeschieden, in denen Schwachsinn ver-

118 breitet ist. Die Zahl der hierzu gehörigen Personen betrug 1924. 18343 dieser Personen und zwar 889==46,, °), Männer und 1085—53,, °/, Frauen werden in öffentlichen Anstalten verpflegt. 1249 —64,,°/, (532 Männer und 717 Frauen) waren schwach- sinnig; 54 (21 Männer 33 Frauen) waren geisteskrank; 44 (25 Männer 19 Frauen) waren mit anderen Gebrechen (Blindheit, Taubheit, Lähmung, Epilepsie) bebaftet; 577 (311 Männer 268 Frauen) waren normal, oder ihre Gebrechen waren unbekannt. Es waren im ganzen vorhanden: 79 Epileptiker, 35 Blinde, 21 Taube, 19 Gelähmte, 101 körperlich und geistig Gebrechliche. Von diesen sind 267 —= 13,,°/, unehelich geboren. Die Eltern der 1924 Personen waren in 1042 (mehr als 54 °/,) Fällen minderwertig und zwar in 666 Fällen die Mutter, in 151 Fällen der Vater, in 225 Fällen (122 Männer und 108 Frauen) waren beide Eltern schwachsinnig. In 860 Fällen —= 44,, °/, waren die Eltern entweder unbekannt oder als normal bekannt; in 22 Fällen (= 1, °/,) waren die Eltern miteinander verwandt. Von den 717 schwach- sinnigen Frauen hatten 163— 22°/, zusammen 248 uneheliche Kinder (die einzelne Mutter 1—8 Kinder). Der Verfasser teilt eine ganze Reihe von Beispielen mit, aus denen hervorgeht, welche ungeheure Summe moralischen, geistigen und körperlichen Elends durch die sich ausserordentlich stark vermehrende schwachsinnige Bevölkerung hervorgerufen wird. Unter 241 Familien mit insgesamt 970 Personen ist beispiels- weise bei 221 Familien in 2 Generationen, bei 16 Familien in 3, bei 3 Familien in 4 und bei einer Familie sogar in 5 Generationen Schwachsinn nachgewiesen. Ernstere Aufmerksamkeit wurde diesen Unglücklichen zuerst im Jahre 1800 zugewendet. Den ersten Versuch, einen Idioten zu erziehen, machte, soweit bekannt, der berühmte Pariser Arzt Isard, der den als „Wilden von Avegron* bekannten schwachsinnigen Knaben zu bilden versuchte In Amerika war es das American Asylum for the Deaf and Dumb in Hartford, Conn., das im Jabre 1818 zum erstenmale idiotische Kinder unterrichtete. Anfang der 50er Jahre (New-York 1851, Pennsylvania 1852, Ohio 1853) wurden öffentliche Einrichtungen für schwachsinnige Kinder getroffen, und all- mählich erkannte ein Staat nach dem andern die Pflicht, für diese Unglücklichen durch Erziehung, Ausbildung und Pflege zu sorgen. Die Lösung dieser Frage liegt nach B.s Ansicht in einer allgemeinen Kenntnis dieser Dinge seitens des Publikums, vor- beugenden Massregeln, wie gesetzlicho Ehebeschränkungen und dergleichen, Erziehung schwachsinniger Kinder und Überwachung schwachsinniger Frauen.

(Aus Heft 11 der „Jugendfürsorge* 1901.)

Litteratur.

Der Selbstmord im kindlichen Lebensalter. Eine social- hygienische Studie von Dr. A. Baer, Geh. Sanitäts-Rat in Berlin. Leipzig 1901. Verlag von Georg Thieme. 84 Seiten. Preis Mk. 2.—

In der Tagespresse begegnen wir unter anderen Neuigkeiten nicht selten einer Mitteilung, dass sich hier und dort ein Kind im zarten Alter ertränkt, aufgehängt oder durch einen Sturz aus dem Fenster seinem Leben ein Ende gemacht habe. Die meisten Leser gehen wie über so viele andere Mitteilungen auch über diese gleich- giltig hinweg, und nur wenige empfinden das Betrübende, Tragische und Seltsame in

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diesen Ereignissen. Welch ein grausiger Widerspruch liegt aber darin, dass ein Kind, zum freud- und unschuldsvollen Lebensgenuss bestimmt, selbstmörderisch durch eigene Hand aus dem leben scheidet. Der Verfasser konstatiert, dass im allgemeinen eine Abhängigkeit der Grösse der Kinderselbstmorde von der Gesamtfrequenz der Selbstmorde nicht nachgewiesen werden kann, ebensowenig ein Parallelismus beider. Diese Thatsache liefort nach seiner Ansicht den Beweis, dass bei dem Selbstmorde im kindlichen Alter nicht dieselben Ursachen und Beweggründe vorherrschen wie bei dem Selbstmorde der Erwachsenen, sondern dass hier noch eine eigenartige und be- sondere Kausalnexität vorwaltet. Es würde zu weit führen, des Nähern auf die Aus- führungen des Verfassers’ betreffend die Ursachen und die Prophylaxis des Kinder- selbstmordes einzugehen. Nach Dr. B.s Darlegungen ist der Selbstmord im kindlichen Alter ein Produkt unseres modernen Kulturlebens und unserer sozialen Verhältnisse. Degeneration und Geistesstörung auf der einen, schlechte Erziehung und Frühreife auf der anderen Seite erklären das häufige Vorkommen der Kinderselbstmorde und ihre Zunahme in neuerer Zeit. Welche Massnahmen sind zur Verminderung des Selbstmordes im kindlichen Alter zu ergreifen? Eine geeignete Erziehung und eine rationelle unterrichtliche Behandlung. Insbesondere sind die körperlichen und geistigen Fähigkeiten der Kinder frühzeitig zu erforschen und festzustellen und danach die Grundsätze für Erziehung und Unterricht einzurichten. Dazu sind auch wir in unserer eigenartigen Wirksamkeit berufen als ein kleines Glied in der grossen Reihe der sozialen Bestrebungen der Jetztzeit.. Wir empfehlen unseren Lesern das vorliegende Buch recht warm.

Lehrgang der Zukunftsschule nach psychologischen Experimenten für Eltern, Erzieher und Lehrer dargestellt von Berthold Otto. Leipzig 1901. Ver- lag von H. G. Th. Scheffer. 220 Seiten. Preis Mk. 4.—.

Von Reformbestrebungen ist zur Zeit fast die gesamte pädagogische Welt erfüllt; die vorliegende Schrift bildet auch einen Beitrag zu denselben. Der Verfasser hätte vielleicht besser gethan, an Stelle des Lehrgangs der Zukunftsschule zunächst seine Darlegungen über Einrichtung und Begründung derselben der Öffentlichkeit zu über- geben. Man müsste doch in erster Linie die Zukunftsschule kennen, um über die Zweckmässigkeit eines Lehrgangs für dieselbe sich ein Urteil bilden zu können, be- sonders wenn man die bisherigen Bestrebungen des Verfassers wenig oder gar nicht kennt. Trotzdem haben wir den Lehrgang mit immer grösser werdendem Interesse bis zu Ende verfolgt und müssen den darin ausgesprochenen Reformvorschlägen fast durchweg beistimmen. Namentlich haben uns die Kapitel über den Begriff des natür- lichen Unterrichts und über den Anschauungs- und Sprechunterricht sehr gefallen, sie bieten geradezu eine Fülle von anregenden Gedanken auch für den Lehrer der Geistesschwachen. Es liegt auf der Hand, dass wir unsere Schüler dann am besten fördern würden, wenn wir einen naturgemässen, auf psychologischer Grundlage basieren- den Unterricht erteilen möchten. Einem sclchen Unterrichte redet der Verfasser in überzaugender, zutreffender und durchsichtiger Darstellungsweise das Wort. Der Lehr- gang will im wesentlichen zeigen, wie ein Kind lediglich durch die von seiner eigenen Natur verlangte begriffliche Bearbeitung aller Anschauungen, die ihm sein tägliches Leben selbst darbietet, zur formalen Geistesbildung und zur Weltanschauung gelangt.

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Die Befreiung des Kindes von der Gewaltherrschaft einer fehlgeleiteten Erziehungs- und Unterrichtsweise wird energisch gefordert; der Geist des Kindes soll sich zum Wahren, Schönen und Guten frei enthalten können bei einer naturgemässen, vernünftig wirkenden Fürsorge. Der Erzieher muss gewissenhafte Selbstbeobachtung der Schüler üben und Kenntnis des natürlichen Entwicklungs- und Bildungsganges der Kinder besitzen. Die in der Schrift gegebenen Formulierungen und Termini sind vielfach eigenartig gewählt und klingen befremdend, allein sie bezeichnen die Suche meist treffeııder als die sonst üblichen. -- Wer etwas wirklich Gehaltvolles lesen will, dem können wir die vorliegende Arbeit, welche auf dem Gebiete der Reformbestrebungen sicher zu den hervorragendsten gezählt werden muss, sehr warm empfehlen,

Rechenbuch in 4 Heften von J. Giese, Hauptlehbrer in Magdeburg und F. Loeper, Rektor in Barmen. Heft 4. Die Grundrechnungsarten bis 1000 und über 1000 hinausgehend. Aufgaben aus der Bruchrechnung, Zinsrechnung und Arbeiterversicherung. Zu beziehen durch: Hauptlebrer Giese, Magdeburg. Preis 30 Pfe.

In den bereits in Nr. 5 und 6 vorigen Jahrgang sbesprochenen drei Heften ist jetzt das vierte erschienen. Es bietet auf 55 Seiten ausreichenden und methodisch geordneten Übungsstoff für die Oberstafe der schwachsinnigen Schule. Die Aufgaben aus der Bruch- und Zinsrechnung, sowie die aus dem Gebiete des Kranken-, Unfall- Invaliditätsversicherung sind einfach gehalten, aus dem praktischen Leben gegriffen uud für die in das praktische Bernfsleben tretenden Schüler belehrend zusammen- gestellt. Auch Heft 4 sei zur Anschaffung bestens empfohlen. W.

An unserer Hilfsschule (für schwachbegabte Kinder) ist die Stelle einer Lehrerin zu besetzen. Anfangagehalt 960 Mk. pro Jahr, bei definitivor Anstellung Grundgehalt 900, Alterszulagen I><100, Wohnungsgeld 240 Mk. und eine persönliche Zulage. Befähigung für den Handarbeitsunterricht ist erforderlich. Lehrerinnen, welche auf dem Gebiete der Heilpädagogik thätig sind, erhalten den Vorzug. Meldungen sind schleunigst an das Mitglied der Stadtschuldeputation, Herrm Oberpfarrer Bartholdy hier, einzundesen.

Stolp i. Pom., den 16. Juni 1902. Der Magistrat.

Inhalt. X. Konferenz für das Idiotenwesen und Schulen für schwachsinnige Kinder. (Schluss). Volksschule und Hilfsschule. (F. Frenzel.) Die pädagogische Gymnastik in den Schulen für Schwachsinnige. (O. Segel.) Einige einfache Industriezweige der Anstalt Idstein (Schwenk.) Mitteilungen: Worms, Kristiania, Aus Amerika. Litteratur: Der Selbstmord im kindlichen Lebensalter. Lehrgang der Zukunftsschule. Rechenbuch in 4 Heften. Bekanntmachung.

Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. Druck von Johannes Pässler in Dresden.

Nr. 8. XVIIL (Ill) Jahrg.

Zeitschrift *

THENEW YORK fär die

Pehandinne Sehwachsinniger und Epilept

Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

ASTOR, LENOX ‚AND LDEN FOUNDATIONS.

Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Spezialarzt Dresden - Strehlen, für Norvenkranklältch Residenzetrasse 27. . In Stuttgart. Erscheint jährlich in 12 Nummern von | Zu beziehen durch alle Buchhandlungen

die gespaltene Petitzelle 25 Pfg. Litte- Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark,

mindestens einem Bogen. Anzeigen für A und Postämter, wie auch direkt von der ugust 1902. rarische Bellagen 6 Mark. 9 einzeine Nummer 50 Pfg.

Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

Sind Zahlenbilder oder Zahlenreihen beim ersten Rechenunterrichte in der Hilfsschule vorzuziehen? Von Hermann Horrix, Hauptlehrer der Hilfsschule in Düsseldorf.

Heutzutage spricht man viel und mit besonderer Vorliebe von „Zahl- vorstellung und Zahlbegriff“; selten wird aber darüber nachgedacht, ob es denn in der That wirkliche Zahlvorstellungen giebt und in welchem Umfange solche in Betracht kommen. Als die ersten Menschen den Wert von „Mein und Dein“ erkennen lernten, als sie erfuhren, wie schwer es wurde, mehrere nützliche Dinge irgend welcher Art durch ihrer Hände Arbeit oder vermöge der Über- legenheit des Geistes zu erringen, da haben sie wohl zuerst auf die genauere Unterscheidung zwischen der Einheit und den verschiedenen Vielheiten geachtet sowie zur Bezeichnung dieser Unterschiede die Zahlwörter erfunden und durch dieselben das Mehr und Weniger ausgedrückt. Dass sich in ihrem Geiste anfangs jedes Mal bei Nennung einer Zahl zugleich auch eine Vorstellung von dem Inhalte und zwar eine solche, die stets an die betreffenden Gegenstände, um die es sich handelte, gebildet hat, wird niemand bezweifeln wollen. Dies konnte jedoch nur solange geschehen, als ihr Geist noch auf den allerersten Staffeln der Entwicklung stand, in einer Zeit also, in welcher er .noch nicht die Fertigkeit schnellen Abstrahierens sich angeeignet hatte und in welcher. die Erwerbsthätigkeit noch nicht mit grossen Zahlen rechnete. Verhält es sich etwa heute mit dieser Zahlvorstellung beim Kinde, beim werdenden Menschen anders? Durchaus nicht! An Gegenständen des Anschauungskreises, vor- nehmlich an solchen, die dem leiblichen Bedürfnisse des kleinen Erdenbürgers dienen oder doch sonstwie einen Reiz auf ihn ausüben, lernt dieser zunächst

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neben der Einheit die „Vielheit im allgemeinen“ und dann erst in allmählicher Abstufung auch die einzelnen Vielheiten in ihrer Reihenfolge bis 10 kennen. Wenn er nach dieser Periode nun 7 Äpfel sieht, so weiss er also: „Das sind 7 Äpfel“; aber diese Schlussfolgerung liefert noch lange keinen Beweis dafür, dass sich das Kind jetzt auch immer, wenn es die Zahl 7 hört, 7 Äpfel oder 7 andere Dinge vor seinen Geist zaubert. In dem Stadium der Anschauung für die Zahlen von 1—10 könnte dies bedingterweise zugegeben werden, aber sobald der Schüler den Inhalt der Zahlen erfasst hat, stellt er sich gar nichts mehr darunter vor, und in grösseren Zahlräumen hat sich noch niemals jemand die Zahl der Einheiten vorgestellt, zumal dann nicht, wenn die Zahl ohne den ausdrücklichen Hinweis, sie sich vorzustellen, gegeben wurde. Wie merkwürdig würde es uns vorkommen, müssten wir uns bei Aufgaben wie 2736,45 : 3,50 stets bemühen, die richtige Vorstellung von dem Inhalte dieser Zahlen zu er- langen. Nicht alle Zahlen haften an Gegenständen, wohl aber werden wir uns beim Betrachten von Dingen auch der Anzahl bewusst, indem wir sie zählen oder vergleichen. Es ist also die Ansicht, dass sich mit einer Anzahl von an- geschauten Gegenständen der sogenannute Zahlbegriff verbindet, grundverschieden von der Meinung, dass zugleich bei dem Hören eines Zahlwortes jemand die betreffende Zahlvorstellung hat.

Um dem Kinde nun einen Begriff davon zu geben, was es mit den Zahlen soll, um es mit dem Vermehren und Vermindern derselben bekannt, zu machen, ist allerdings eine klare Veranschaulichung des Zahlinhaltes sowie der genannten Thätigkeiten zweifellos nötig. Dadurch erhält demnach der Schüler gewisser- massen einen Begriff von dem Unterschiede zweier oder mehrerer Zahlen und zwar auf der Basis des Hinzulegens und Wegnehmens, welche Thätigkeiten er sich aber später in die einfachen Begriffe „mehr und weniger“ überträgt. Diese Thätigkeiten sollen ihm also vor die Seele führen, um was es sich handelt und gleicherzeit sein Interesse für die Sache wachhalten; sie leiten den kleinen Rekruten jedoch keineswegs dazu an, in seinem Kopie mit den verschieden- artigsten Vorstellungen von Nüssen, Äpfeln, Kegeln u dgl zu hantieren. Sind diese Thätigkeiten ihm in Fleisch und Blut übergegangen, hat er an den vor ihm liegenden Gegenständen oder an graphischen Darstellungen einsehen gelernt, dass sie sich um ein Bestimmtes vermehren oder vermindern lassen, und dass man je nach der Art der Veränderung für jede ein anderes Wort gebraucht, kennt er ferner die Reihenfolge dieser Veränderungen und die Bezeichnungen dafür, also die Zahlwörter von 1—10, so erweist sich das eigentliche Rechnen mit unbenannten Zahlen nur als ein gedächtnismässiges Festhalten von drei Zahlwörtern, die sich in ihrem Zusammenhange so fest eingeprägt haben müssen, dass, wenn zwei davon genannt worden sind, das dritte sofort ins Gedächtnis tritt, gerade wie dies in der Musik beim Dreiklang der Fall ist, dessen dritten Ton wir unwillkürlich hören, wenn die beiden andern erklingen. Je häufiger diese drei Zahlwörter an das Ohr des aufmerksamen Schülers schlagen, desto tiefer prägen sie sich ein, desto inniger verbinden sie sich, und desto sicherer wird das jeweilige dritte reproduziert.

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Von den Veranschaulichungsmitteln, die diesem Zwecke dienen, hat bei normalen wie schwachbegabten Kindern dasjenige selbstverständlich die meiste Berechtigung, welches die Veränderungen an den einzelnen Zahlen am nach- haltigsten dem Gedächtnisse einverleibt. Zur Klärung der Ansichten, ob dies die Reihendarstellung oder gruppierte Darstellungen, welche wir Zahlenbilder nennen, bei schwach veranlagten Schülern besser vermögen, sollen die folgenden Ausführungen zu einem bescheidenen Teile beitragen.

Von vorneherein sei bemerkt, dass wir recht gut wissen und es auch nicht leugnen, dass jede folgende Zahl durch Anreihung von 1 an die vorhergehende entsteht, und dass, so betrachtet, das Zahlengebiet eine ins Unendliche fort- laufende Reihe ist. Damit hat man für uns aber noch lange nicht den Beweis erbracht, dass nun auch die Veranschaulichung von Zahlengrössen, besonders im ersten Rechenunterrichte bei geistig schwachen Individuen, immer in einer Reihe geschehen muss. Vielmehr scheinen uns ganz gewichtige Gründe gegen dieses Verfahren zu sprechen. Thatsächlich hat die Veranschaulichung in Gruppen keinerlei Hemmnis in sich für die Vorstellung, dass die Zahlen von 1—x eine fortlaufende Reihe von Einheiten sind und zwar deshalb nicht, weil sich durch die Gruppendarstellung mindestens so sicher, aber noch um vieles leichter die stetig um 1 sich vermehrende Zahlenreihe entwickelt. Die Ver- anschaulichung durch eine Reihe entspricht an erster Stelle schon bei einer kleinen Summe von Einheiten nicht mehr den Gesetzen der Optik und des natürlichen Sehens. Viele wilde Menschenrassen können z. B. nicht über 5 zählen, d. i. über jenen Punkt hinaus, bis zu welchem die Zahlunterschiede für das Auge deutlich sichtbar sind. Unser Auge sucht beim Zählen von Reihen gleichartiger Gegenstände, wie z. B. der Wagen eines Eisenbahnzuges, neben- einanderstehender Bäume, einer Frontlinie von Soldaten, einer dahinziehenden Prozession, einer Flucht von Fenstern, einer Schar davonfliegender Zugvögel, einer fortlaufenden Reihe brennender Laternen u. s. w. u. s. w. ganz von selbst nach Merkmalen, durch welche auf natürliche Weise diese Reihe, dem jeweiligen Gesichtsfeld entsprechend, in kleinere Reihen von 2, 3, 4 und 5, selten schon von 6 zerlegt wird. Solche Stützen für das Auge, die nicht gerade immer in gleichen Abständen zu sein brauchen, sind kleine Verschiedenheiten in der Form der Gegenstände, Ungleichheit der Entfernung, Nüancierungen in der Farbe und sonstige Abweichungen von der Regelmässigkeit. So weist, wie Gutzmann ausführt, die geschriebene oder gedruckte Sprache zwischen den einzelnen Wörtern Zwischenräume, die sogenannten Interverbalräume auf, und es fällt uns ausserordentlich leicht, vermöge dieser Interverbalräume lange Sätze und Ge- schichten zu lesen; unser Auge gewinnt an ihnen einen Ruhepunkt; die einzelnen Wörter, welche die Sätze zusammensetzen, treten deutlicher hervor alles Er- leichterungen des Lesens an sich. Geschähe diese Erleichterung nicht, so würde es recht schwer, das Gelesene leicht zu übersehen, und der Scherz ist wohl oft genug gemacht worden, dass eine Anzahl von Sätzchen ohne Interverbalräume und ohne grosse Anfangsbuchstaben, die ja schliesslich auch Lesehilfen sind, gedruckt wird. Man merkt dann erst, wie eminent diese Hilfsmittel zur Er-

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leichterung des Lesens dienen. Warum schreibt denn der kluge Lehrer bei der Schärfung durch „nn“ und „mm“ für den Anfang die beiden „n“ oder „m“ etwas auseinander? Doch wohl nur deshalb, um seinen Schülern den Überblick zu erleichtern. Dieses krampfhafte Spähen nach allerlei Hilfsmitteln beim Zäblen ist das sicherste Zeichen dafür, dass unser Gesichtssinn eine grössere Reihe durch das Auge nicht aufzufassen vermag, selbst dann nicht, wenn man lediglich mit den Augen die einzelnen Dinge aus ziemlicher Ferne, in der bekanntlich das Gesichtsfeld grösser ist, zählen wollte. Jedem von uns wird es sicherlich schon vorgekommen sein, dass er beim Abzählen einer solchen Reihe trotz eines jedesmaligen Kopfnickens und sogar ungeachtet des das Zählen gleichsam be- gleitenden Zeigens mit dem Finger, wie man zu sagen pflegt, darin verkommen ist, weil keine hinreichenden Unterschiede für die Auffassung durch das Auge da waren und weil auf Grund dieses Mangels an Ruhepunkten der Gesichtssinn und folglich auch der Zählsinn sich verwirrten. Erst dann, wenn die Möglichkeit vorhanden war, durch Vorbeigehen an den einzelnen Gegenständen oder durch Abteilen derselben in bestimmte Gruppen, das Auge zu unterstützen, konnte man zu einem Resultate gelangen. Nun macht aber das Vorbeigehen an den Gegenständen, wie das Daraufzeigen mit dem Finger oder auch ein Be- fühlen der Einheiten das Zählen zu einer rein mechanischen Thätigkeit, die auch von äusserst gering veranlagten Geschöpfen, wenn sie vermittelst eines nicht ganz fehlenden Gedächtnisses die Reihenfolge der Zahlwörter von 1—10 hersagen können, noch verrichtet wird, die aber für das Rechnen durchaus keinen Wert hat. Wer also das Finden der dritten Zahl für den Anfang einzig und allein durch Bilden der Reihe, also durch Weiterzählen nach oben oder unten hin, bewerkstelligen will, der ist, gelinde ausgedrückt, auf einem sehr schwer zu befahrenden Wege. Warum denn? Für den richtigen Aufbau einer Reihe sind z. B. bei der Aufgabe 7 2 folgende Operationen der Veran- schaulichung nötig. 7 Stäbchen, 7 Kugeln, 7 Punkte u. a. werden von 1 an- gefangen, indem man sie nebeneinander stellt, abgezählt.e. Darauf werden die zwei, wiederum von 1 angefangen, abgezählt und in die Reihe gesetzt; zum Schlusse findet dann die Abzählung von 1—9 statt. Ist damit in der Auf- fassung und Schnelligkeit für das Rechnen etwas gewonnen? Nein, denn das Ab- zählen geschieht so mechanisch, dass nur im günstigsten Falle hier und da ein Kind sich die Zahlwörter 7, 2, 9 merkt und in seinem Geiste festhält. Dazu hätte es aber dieser Manipulation nicht einmal bedurft; dasselbe würde es auch thun, wenn ihm diese Zahlwörter in obiger Reihenfolge mehrere Male bloss vor- gesprochen worden wären. So angeleitete Schüler greifen darum auch bei jeder sich darbietenden Gelegenheit verstohlen zu den Fingern, suchen bei gleich- zeitigem Befühlen von 1 bis zum ersten gegebenen Zahlwort daran die Reihe herzustellen, zählen in gleicher Weise die zweite ab und zuletzt die ganze Reihe von l an. Der Inhalt der drei Zahlen sowie auch der Begriff der sich auf- bauenden Reihe bleibt ihnen dabei in der That völlig fremd und zwar so lange, bis ihrem Gedächtnis endlich nach tausendfältiger Übung vom Klangzentrum her, vielleicht nebenbei auch durch den Tastsinn diese drei Zahlwörter sich

einverleiben. Der Gesichtssinn spielt dabei eine sehr untergeordnete Rolle, und da versteigen sich noch Methodiker zu der Behauptung, die Finger seien das natürlichste aller Veranschaulichungsmittel. Wie wenig also bei der Reihen- darstellung für das Operieren herauskommt, liegt nach dem Gesagten klar auf der Hand. Dass aber auch die Reihendarstellung, wenn sie über 5 hinausgeht, selbst für die noch wichtigere Anschauung schwierig, fast zu schwer ist, weiss jeder von uns aus Erfahrung, denn zu dieser Überzeugung muss derjenige ge- langen, welcher einmal Gelegenheit hatte, bei gleichem Lehrgeschicke, bei gleicher Hingebung für die Sache und endlich auch bei gleich schwachveranlagtem Schülermaterial die ganz verschiedenen Erfolge, ja bei der Veranschaulichung nach der Reihenmanier schier unübersteigbare Hindernisse zu sehen. Und wenn dabei in der Reihendarstellung durch die verschiedene Farbe der Klötze oder Punkte die Sache erleichtert werden soll, so ist das eben gar nichts anderes als ein Bestreben, die Reihe zu gruppieren. Würden die Anhänger der Zahlen- reihe nur noch den kleinen Schritt machen und die zweite Reihe von 6—10 nicht neben, sondern unter die erste von 1—5 setzen, so wären wir, die wir ihnen gerne zugeben, dass wir auch die Reihe von 1—5 anerkennen, die besten Freunde. Diese Gruppierung der Einheiten ist keineswegs am grünen Tisch entstanden, sie ist im Gegenteil hervorgegangen aus dem praktischen Leben, denn, um Raum zu gewinnen, um ferner einen leichtern Überblick zu haben, werden selten viele Gegenstände, welcher Art sie auch sein mögen, nebeneinander- gelegt, vielmehr verteilt man sie je nach der Zweckmässigkeit auf verschiedene Gruppen. Auch in Natur und Kunst kommt eine Bildung langer Reihen sehr selten vor; es sei nur erinnert an die vier Füsse vieler Tiere, an die Blatt- stellungen bei den Pflanzen, an die Personen auf einem Bilde u. s. w. Manche Gruppierungen sind natürlich sehr unregelmässig; dass bei diesen der Überblick schwieriger wird, hat der denkende Mensch schon längst erkannt. Darum machte er des leichteren Unterscheidens wegen auf Karten, Würfeln, Domino- steinen, auf Kegelbahnen u. s. w. regelmässige Gruppen und bediente sich so der Zahlenbilder in des Wortes eigenster Bedeutung. Und ist nicht, un auf den Aufbau des Zahlensystems hinzuweisen, auch die dekadische Abstufung der Unendlichkeit der Zahlenreihe eine Gruppierung gleichartiger Zahleninhalte, ge- schaffen zum Erfassen eines bestimmten Teiles der unendlichen Zahlenreihe, was ohne diese Gruppen thatsächlich unmöglich wäre? Diese Gruppen nun, mögen sie Zehner oder Hunderter heissen, stellt sich nicht der eine wie der andere vor, das richtet sich immer nach derjenigen Zusammensetzung, die sich uns in der Jugend am tiefsten eingeprägt hat. Aber in den allerwenigsten Fällen denken wir dabei an eine fortlanfende Reihe, wenn auch das Zählen den Trugschluss fördern könnte, dass, weil dieses immer weiter geht, auch die Vor- stellung von den Einheiten in einer Reihe geschehen müsse. Wir zählen Gegen- stände ab nach Zehnern, Dutzend, Ries und wie die Ordnungen alle heissen mögen. Weshalb geschieht es so? Doch wohl nur der bequemern Übersichtlichkeit halber. Und eben darum hat auch die Veranschaulichung der Zahlen von 1—10 in Gruppen und zwar in geordneten Gruppen ihre volle Berechtigung.

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Viele der Reihenmethodiker geben dies unbewusst auch zu, indem sie trotz ihrer Antipathie gegen das Wort „Zahlenbild“ die Zahlen von 1—10 in regelmässiger Gruppierung ihren Rechenfibeln einverleiben; alle Gegner der Zahlenbilder werden deren Lobredner, sobald der Zahlenkreis bis 10 durchgenommen ist, weil sie dann alle trotz der Reihe zur russischen Rechenmaschine greifen, welche das Prinzip der Reihenbildung durchbricht und Gruppen d. i. Zahlenbilder darstellt. „Wenn das Kind daran 5 volle Stäbe Zehner sieht, dann braucht es die Einheiten nicht mehr zu zählen“, so sagt man und spricht dadurch dasselbe aus, was wir mit unsern Zahlenbildern bezwecken. Wenn das aber erlaubt ist, warum soll denn nicht auch die Reihe von 1—10 nochmals in der Weise zerlegt werden, dass man zwei kleinere Reihen von je 5 untereinanderstellt und dadurch eine weitere Beihilfe dem schwachen Geiste leistet zur Erlangung der Kenntnis eines Zahlinhaltes? Am meisten kommt es auf eine klare Unterstützung des Ge- dächtnisses durch die Veranschaulichung der Zahlen von 1—10 an, denn die andern Zahlen werden in Anlehnung an diese Veranschaulichung bald erfasst. Wenn aber der Schüler auf Grund der Veranschaulichung durch die Zahlen- bilder den Inhalt der einzelnen Zahlen bis 10 auf den ersten Blick erkennt, so ist dies doch mindestens besser, als wenn er sie jedesmal wie dies bei einer Reihe nötig ist, zählen müsste.

Dazu gesellt sich noch der Umstand, dass wir uns sämtliche Operationen des Zerlegens, der Addition und Subtraktion, der Multiplikation und Division doch wohl viel eher in Gruppierungen von Zahlen als in nebeneinandergesetzten oder unterbrochenen Reihen vorstellen, falls wir uns einmal bestimmt vor- nehmen, sie uns vorzustellen. Dies hat wieder seinen Grund darin, dass man im geschäftlichen Leben, wo diese Operationen oft praktisch ausgeführt werden, wie z. B. bei Teilungen, die Anzahl der einzelnen Teile räumlich, in Gruppen getrennt, auseinanderlegt. Oder wird da eine zu zählende Gruppe erst in Reihen gelegt, bevor man ihre Einheiten addiert oder von der ganzen Gruppe solche abzählt ?

Je einfacher nun diese Gruppierungen der Zahlen von 1—10 zusammen- gestellt sind, je gesetzmässiger sich die eine Gruppe aus der anderu entwickelt, je bestimmter in der Form also diese Gruppierungen sich dem Auge darstellen, desto fester prägen sie sich zunächst als Ganzes, dann aber auch als verschiedene kleine Gruppen und endlich auch in allen ihren Einheiten dem Gedächtnisse ein, Ohne jedoch der Vorstellung von einer fortlaufenden Reihe der Einheiten auch nur im geringsten Abbruch zu thun, weil nämlich diese Vorstellung beim Kinde und erst recht beim schwachbegabten gar nicht aufkommt. Wir sind der Meinung, dass die Vorstellung von der sich allmählich aufbauenden Reihe von Zahlengrössen bis in die Unendlichkeit hinein nur demjenigen klar ins Bewusstsein tritt, der über den Aufbau des Zahlensystems zu wissenschaftlichen oder unterrichtlichen Zwecken nachdenkt, niemals aber dem, der bloss zu rechnen hat, am allerwenigsten darum unsern geistig schwachen Schülern. Es ist deshalb auch eine grundverkehrte Ansicht, die einförmige Reihe, welche gar keine Ab- wechselung bietet und folglich leicht das Auge ermüdet, müsse als Ver-

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anschaulichungsmittel gerade bei Schwachbegabten angewendet werden. Da nehmen die Vertreter der Zahlenbildertheorie denn doch für ihre Methode den Vorzug in Anspruch, dass sie ausser dem Gehörsinn durch Beseitigung dieser Einförmigkeit auch den Gesichtssinn zu einer angestrengten, aber erfolgreichen Thätigkeit zwingt, dem Gedächtnis in die Hände arbeitet und zugleich den Formensinn anregt, welcher rückwirkend den Gesichtssinn unterstützt. Weil der Formensinn in Verbindung mit dem Gesichts- und Tastsinn in mancher Beziehung für den Menschen von grosser Wichtigkeit ist, indem er in seinem Geiste Bilder hervorruft, die dieser bei der nötigen Ausbildung jederzeit zu reproduzieren vermag, so muss er ohne Zweifel auch dem ersten Rechenunter- richte schwachbefähigter Kinder insbesondere einen guten Dienst erweisen durch Einprägung von Zahlenbildern, die dem Zählsinn bei seiner Arbeit helfen und dadurch Jen sogenannten Begriff einer Zahl von 1—10 auf zweifache Weise festlegen. Diesen Schluss rechtfertigt in jeder Beziehung unsere eigene Er- fahrung sowohl bei normal veranlagten als auch bei schwachbegabten Schülern. Besonders zwei Fälle aus unserer Hilfsschule sind es, welche zum Beweise obiger Behauptung hier angeführt zu werden verdienen.

Der Kuabe P. M. konnte in seinem 12. Lebensjahre weder bis 10 zählen noch in diesem Zahlenraume rechnen. Als derselbe uns vorgestellt wurde, konnten wir nach genauer Beobachtung folgendes feststellen. Der Knabe, welcher durch den Biss eines Hundes plötzlich erschreckt worden war, hatte seit jenem Augenblicke eine eigenartige Agilität seines Geistes behalten, die es ihm nicht gestattete, eine kleine Weile seine Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand zu richten. Bei Betrachtung von Dingen, die ihm gerade zu besonderm Zwecke vor das Auge gebracht wurden, liess sich diese Flüchtigkeit des Geistes an dem unstäten Hin- und Herschweifen seines Auges erkennen. Dasselbe zeigte sich selbstverständlich auch bei ihm, wenn man ihm Gegenstände zum Zählen vor- legte. Wurden diese Gegenstände einzeln nach einander vorgeführt, oder durfte er die nebeneinanderliegenden Gegenstände einzeln mit dem Finger berühren, so konnte er wohl mechanisch bis 10 zählen, aber sobald eine Reihe von Gegen- ständen oder Punkten an seinen Geist herantrat, irrte das Auge vorwärts und rückwärts, ohne die Zahl der Dinge und wenn es selbst bloss 5 waren zu erkennen. Nachdem es endlich den Bemühungen des Lehrers gelungen war, das Auge des Schülers auf einen Punkt zu dirigieren, glaubte der erstere auch die Schwierigkeiten für das Erfassen einer Zahlreihe gehoben zu haben und ging deshalb aufs neue rüstig an sein schwieriges Werk. Sobald jedoch mehr Gegenstände oder Punkte als 2 in einer Reihe sich befanden, stellte sich das alte Übel wieder ein, und nur wenn der Schüler bei jedem folgenden Punkte den Kopf etwas nach rechts bewegte, brachte er es mit grosser Mühe fertig, eine Reihe zu zählen. Aber von Vorstellen und Behalten war noch keine Spur vorhanden. Darum griff der Lehrer zum Zahlenbild und siehe, das Auge blieb auf jedem ihm vorgelegten Zahlenbild von 1—4 ruhig haften. Sofort lernte der Schüler die 3 von 2 und 1 sowie die 4 von 1, 2 und 3 unterscheiden, wenn auch zunächst nur durch den Totaleiudruck, durcli die Form. Selbst die

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Aufgaben des Zerlegens, Addierens und Subtrahierens prägten sich ihm für den Anfang nur als Veränderungen der Form ein, die den jeweiligen Namen der betreffenden Zahlen trugen. Auf diese Weise lernte er die Zahlen als Bilder unterscheiden, die im Bilde enthaltenen Einheiten zählen und mit ihnen operieren ; aber niemals hat er es zum Auffassen einer dargestellten grösseren Reihe von Einheiten gebracht.

Ein zweiter von uns beobachteter Fall, bei welchem die Form des Zahlen- bildes eine Hauptrolle spielt, möge das Gesagte auch noch begründen. Der Knabe H. v. St. hatte in früher Jugend an tuberkulöser Entzündung der beiden Mittelfinger seiner rechten Hand gelitten. Nach einer daran vorgenommenen Operation trat bei demselben eine Lähmung der rechten Extremitäten und zugleich eine Schwächung des bis dahin gut veranlagten Geistes ein. Erst in seinem achten Lebensjahre war das Kind körperlich wieder soweit erstarkt, dass mit dem Unterrichte begonnen werden konnte. Da die Eltern jedoch einsahen, dass der Schulunterricht wenigstens in der ersten Zeit ihrem Sohne keinen Vorteil bringen werde, liessen sie ihm von einem Lehrer Privatunterricht geben. Dieser gab sich mit dem Kinde die grösste Mühe, konnte es aber nicht fertigbringen, dem Schüler die Zahl 3 einzuprägen, weshalb er nach unzähligen Versuchen den Unterricht einstellte, weil er sich sagte, dass er es mit einem abnormen Geisteszustande zu thun habe. Nun gab sich der bekümmerte Vater selbst daran, seinen Sohn zum Erfassen der 3 zu führen. Jedoch vergebens! Inzwischen verlegten die Eltern ihren Wohnsitz und baten mich, einmal zu versuchen, ob das innen schier unmöglich Scheinende vielleicht doch noch bei ihrem Schmerzens- kinde erreicht werden könne. Die angestellte eiigehende Prüfung seines Geistes- zustandes ergab inbezug auf Sinnesthätigkeiten, Unterscheidungsvermögen für Farben, Formen, Eigenschaften u. s. w. gar nichts Abnormes. Betreffs seines Vorstellungsvermögens konnte allerdings sehr bald festgestellt werden, dass er an Zwangsvorstellungen litt; er sprach dieselben, wenn sie sich ihm aufdrängten, immer offen aus. Merkwürdiger aber als diese psychopathische Minderwertigkeit war die, dass ihm jede Zahlvorstellung fehlte. Die Einheit vermochte er wohl von der Vielheit, die er mit „zwei“ bezeichnete, zu unterscheiden. Zuweilen nannte er sie auch „vier, acht“, einerlei wie viel Einheiten vor ihm lagen. Es geschah dies jedoch nur, wenn ich ihm auf seine Antwort „zwei“ bedeutete, dass das nicht richtig sei. Auch wollte es mir beim besten Willen nicht ge- lingen, ihn zur Erkenntnis der 3 zu bringen, obgleich hundertfache Ver- anschaulichungen sowie die Inanspruchnahme von Gesicht, Gehör und Gefühl zu diesem Zwecke wohl den Weg zu seinem Geiste nach unserer Ansicht hätte finden müssen. Nun verfiel ich auf die sinnreiche Idee des Bopparder Seminar- lebrers Schüller, die charakteristische Form der 2 aus 1 und der 3 aus 2 entstehen zu lassen. Es wurden zwei Punkte untereinandergezeichnet und durch einen senkrechten Strich miteinander verbunden. Dann liess ich ihn sagen: 1 Punkt oben am Strich, 1 Punkt unten am Strich sind 2 Punkte. Nach zweimaliger Wiederholung hatte sich der Begriff „2 festgesetzt, und der Knabe freute sich, mir 2 Griffel, 2 Streichhölzer u. s. w. richtig geben zu können. Als nun

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der dritte Punkt oben rechts daneben gesetzt und mit dem ersten durch einen wagerechten Strich verbunden worden war, gab ich ihm für die entstandene Figur den Namen „Haken“. Aus mehreren Zahlenbildern lernte er nun zunächst den Haken herausnehmen, und da dies fast sogleich fehlerlos gelang, so ver- tauschte ich das Wort „Haken“ mit dem Worte „Drei“ und liess ihn jetzt ab- wechselnd 1, 2, 3 heraussuchen. Nach erlangter Sicherheit versuchte ich, ob er das Bild der „Drei“ auch ohne die Striche, welche den Haken bildeten, von den andern Zahlenbildern unterscheiden könne. Auch dieses brachte er zu meiner grossen Freude bald fertig. Damit war es mir zur Gewissheit geworden, dass durch den Formensinn der Zählsinn des Knaben Anregung und thatkräftige Unterstützung erhalten hatte. Dass ich mich in meiner Ansicht nicht täuschte, bezeugte mir die von dieser Zeit an fast normale Entwickelung des Schülers im Rechnen. Diese zwei Fälle, von allen andern ganz abgesehen, waren, weil Erfahrung doch die beste Lehrmeisterin bleibt, für mich der mächtige Antrieb zu der Thatsache, dass in unserer Hilfsschule die Zablenbilder eine grosse Rolle spielen dürfen und sie auch spielen werden aus dem einfachen Grunde, weil zwei Untersinne des Auges Zähl- und Formensinn sich gegenseitig helfen und ergänzen und daher entschieden mehr leisten, als wenn der Zählsinn allein herangezogen würde, wie dies bei der Reihendarstellung nicht anders möglich ist. Dieser Erkenntnis wird sich niemand verschliessen können, und selbst unsere Gegner werden zugeben müssen, dass dieses Moment, welches nach unserer Meinung so sehr für die Zahlenbildertheorie spricht, keineswegs gering an- zuschlagen ist. Auch der häufig gemachte Einwand, dass in der Anwendung zweireihiger Zahlenbilder, welchen wir das Wort reden, Aufgaben vorkommen, bei welchen uns die so viel gerühmte Form schnöde im Stiche lasse, hält vor der sachlichen Entgegnung keinen Stand. Es wird aber auch keinem Lehrer schwachbegabter Zöglinge einfallen, einzig und allein sich auf die Form der Zahlenbilder zu verlassen; er wird dieselbe vielmehr nach der besondern Anlage jedes Zöglings mehr oder weniger in den Vordergrund treten lassen. Bei manchen prägt sich die Form dem Geiste ohne Zuthun des Lehrers Bhz unbewusst ein, bei andern hingegen wird der Lehrer wiederholt auf dieselbe hinweisen müssen. Was nun die Aufgaben betrifft, in denen das Zahlenbild oder die Form sich nicht so den Augen der Kinder präsentiert, wie sie es zu Anfang haben kennen gelernt, so ist die Sache gar nicht so schlimm, als es den Anschein hat. Es kommen dabei nur Operationen mit der 3* in Betracht, wie dies eine Veranschaulichung der umstehenden Aufgaben von 1—10 auf den ersten Blick darthut.*) |

Die schwierigen Fälle sind hiernach das Addieren ungerader Zahlen zu ungeraden und das Subtrahieren ungerader Zahlen von geraden. Von diesen können aber gleich mehrere als nicht dazu gehörig ausgeschieden werden. So lässt sich das Zerlegen einer Zahl in 1 und das übrige ohne besondere Schwierig- keiten in normaler Weise veranschaulichen. Auch das Zerlegen in 5 und das

*) Siehe auch „Die Zahlenbilder‘. Methodische Bemerkungen zum ersten Rechenunter- -ichte von Hermann Horrix. Verlag von Baedeker, Essen.

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andere geht leicht von statten bei 6 und 10; bei 10 deshalb, weil die Gleichheit der Summanden dem Kinde das Behalten der Aufgaben 5 +5 = 10, 10 5 = 5 erleichtert. Dasselbe gilt von den Aufgaben 3 + 3 = 6, 6 3 = 3. Somit bleiben als die schwierigsten Fälle, wo eben die Form in Frage kommt, was ja noch lange nicht immer der Fall ist, nur das Zerlegen der 8 in 5 und 3 sowie in 3 und 5, ferner das Zerlegen der 10 in 7 und 3 sowie in 3 und 7. Da jedoch 8 = 3 + 5 in derselben Weise veranschaulicht werden darf wie 8 =— 5 + 3 und 10 = 3 + 7 ebenso wie 10 = 7 + 3, so leuchtet sofort ein, dass nur das Zahlenbild 3 zuweilen auch in umgekehrter Form gehandhabt werden muss. Inwiefern dies nun ein grosses Hindernis für die von uns betonte Auffassung der Form ist, überlassen wir der geneigten Beurteilung. Die Praxis hat uns vom Gegenteil überzeugt und bewiesen, dass bei einiger Übung die umgekehrte Form des Hakens, welchen die 3 bildet, sehr leicht von den Schülern aufgefasst wird, schon deshalb, weil wir selbstverständlich unsere Schüler auch zählen lehren. Die Hantierung mit diesem Zahlenbild 3 bringt sie schon nach einigen Versuchen dahin, es umgekehrt, wo es nötig ist, anzusetzen; sie haben vorher hinlänglich Zeit und Gelegenheit, sich dasselbe in der eigentlichen Form genau zu besehen. Was schadet es aber auch, wenn ihnen hierbei wirklich ein kleines Hemmnis entstehen sollte; in Anbetracht der grossen Erleichterungen, welche ihnen die Zahlenbilder in allen andern Aufgaben gegenüber der Reihendarstellung gewähren, kann dies von gar keiner Wichtigkeit sein. Die Vorzüge der erstern lauten, kurz zusammengefasst, also:

l. Die Zahlenbilder tragen den Gesetzen des Sehens und Anschauens Rechnung; sie können mit einem Blicke überschaut werden und lassen daher leicht die Vielheit erkennen, ohne dass man genötigt ist, jedesmal alle Ein- heiten mechanisch abzuzählen.

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2. Sie vermitteln jedoch auch eine klare Vorstellung von den Einheiten jeder Zahl.

3. Sie haben eine bestimmte Form, die sich dem Gedächtnisse leicht und sicher einprägt.

4. Ein dem Gedächtnisse etwa entschwundenes Zahlenbild lässt sich ohne grosse Schwierigkeit wieder in dasselbe zurückrufen im Anschluss an ein be- kanntes, weil die Art und Weise der Darstellung sich stets gleich bleibt.

5. Die normalen zweireihigen Zahlenbilder veranschaulichen nicht bloss jede Zahl, sondern auch jede Aufgabe des Zahlenkreises von 1—20 und vor- nehmlich auch die Aufgaben mit Überschreitung des ersten Zehners recht deutlich. Selbst in der Veranschaulichung der Aufgaben von 20—100 leisten sie vortreffliche Dienste.

6. Durch die Anwendung der Zahlenbilder wird Zeit und Mühe gespart.

7. Sie lassen sich von Lehrer und Schüler bequem herstellen.

8. Deshalb sind sie besonders für die erste Schulzeit eine recht passende schriftliche Beschäftigung für unsere schwachbegabten Schüler.

9. Die an der Wand vor den Augen der Schüler aufgebängten Zahlenbilder ermöglichen eine stete und darum tief gehende Anschauung.

10. Nach der Durcharbeitung des ersten Zahlenkreises dienen sie unsern Schwächsten zur Selbsthilfe, wenn der schwache Geist der Stütze bedarf.

11. Sie erleichtern und das ist die Hauptsache dem Lehrer und den Schülern die schwierige Behandlung des Zahlenkreises von 1—20.

Das mag genügen zur Empfehlung der Zahlenbilder und zugleich zur Ver- teidigung eines Veranschaulichungsmittels für den ersten Rechenunterricht unserer schwachbegabten Zöglinge, von dem wir auf Grund langjähriger Er- fahrung in der Praxis der Hilfsschule nach reiflicher Überlegung behaupten, dass es, richtig angewandt, zu einem geistanregenden, geistbelebenden und geistunterstützenden Hilfsmittel wird. Möge daher ein jeder, der bis jetzt den Zahlenbildern feindlich gegenübergestanden hat, das Widerstreben gegen dieselben beiseite setzen und sich ihrer probeweise einmal beim ersten Rechen- unterrichte seiner schwachbegabten Schüler bedienen und dieselben erst dann, wenn sie die Feuerprobe bei ihm nicht bestehen, wieder in die Rumpelkammer werfen. Vielleicht erwerben sie sich doch, wenn ihre Vorteile und Mängel gegen die Reihenmethode sine ira et studio abgewägt werden, neue Freunde in unsern Hilfsschulen, was im Interesse von Lehrer und Schüler, deren schwere Arbeit es sei noch einmal gesagt sie unseres Erachtens ungemein fördern, nur zu wünschen wäre.

Einige einfache Industriezweige der Anstalt Idstein. (Fortsetzung.) Tuchend -Schuhmacherei. Hierzu ist an Handwerkszeug und Material folgendes nötig: 1. Partie Schuhleisten in aufsteigender Grösse von 0—18, von denen Nr. 13—18 noch mit abnehmbaren Aufsätzen zur Verfertigung von Stiefeln versehen sein sollten. !

Macher 12 mul. Sache

2. Ein Häkchen zum Flechten (siehe Zeichnung). Die Länge beträgt 20 cm; obere Breite ohne Bögchen 3 mm, mit dem Bögchen 6 mm; untere Breite 7 mm; Dicke bei dem oberen Ende 1 mm, beim unteren 2 mm; innere Weite des Bögchens 3 mm, innere Höhe desselben 2 mm. Die Ränder dürfen nicht zu scharfkantig aber auch nicht zu sehr abgerundet sein, dies gilt be- sonders für die Ränder des Bögchens. Die Rundung am obern Ende des Bög- chens muss ein wenig scharf, jedoch nicht schneidig sein.

3. Ein Arbeitskasten ca. 40 cm lang, 24 cm breit und 20 cm hoch —, welcher die noch übrigen nötigen Handwerkszeuge (Hammer, Beisszange, Nägel, Schere, Nadel, Faden) enthält.

4. Ein Schraubenzieher oder ein kleines Stemmeisen mit hölzernem Handgriff zum Abheben des oberen Teils des Leistes (Spickels), nachdem der Schub fertig ist.

Über das Zurichten der Tuchenden ist folgendes zu bemerken:

Zum Schuhmachen werden nur Militärtuchenden verwendet; dieselben müssen zunächst gerissen und auf Knäuel gewickelt werden. Je nach seiner Breite und Stoffart wird das einzelne Stück der Länge nach in 2—4 Bänder gerissen. Die Breite des einzelnen Bandes richtet sich nach der Nummer des Schuhes, zu welchem man es zu verarbeiten beabsichtigt. Für die Nummern 0—12 genügt eine Breite von 4—10 mm, für die Nummern 13—18 ist eine solche von 10—15 mm nötig. Beim Wickeln ist darauf zu achten, dass man nur Bänder von der gleichen Farbe und der gleichen Webart auf einen Knäuel windet, und dass man ferner von derselben Bandsorte immer eine gerade Anzahl von gleichgrossen Knäueln erhält. Die Knäuel werden paarweise zusammen gebunden. Zu 1 Paar Schuhe braucht man 2 Paar Knäuel, wovon 2 Stück je dieselbe Farbe haben müssen; also etwa 2 Knäuel schwarz und 2 Knäuel grau. Zu einem Schuh nimmt man 1 schwarzen Knäuel zum Zettel und den grauen zum Eintrag.

Fertigung eines Schuhes.

Der Anfang geschieht am Leisten hinten und zwar oben rechts, woselbst das Ende (Zettel) so angenagelt werden, dass noch ein etwa fingerlanges Stück oben übrig bleibt.

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Die Enden, welche ziemlich straff anzuspannen sind, laufen alsdann abwärts, am untern Nagel bei B innen vorbei, der Sohle entlang, über die Leistenspitze (bei C) und gehen dann auf dem Rücken des Leistes nach D, um den 1. Nagel der betreffenden Seite. Beim Umkehren an den 4 Nägeln hat man sich zu merken, dass der Endstreifen sowohl beim Aufwärts- wie beim Abwärtsgehen gleiche Lage hat, und zwar haben die Streifen vorn am Leist bei D Neigung nach links, während sich diejenigen auf der hinteren Seite nach rechts neigen.

Sind die Enden um den letzten 4. Nagel (bei A) gezogen, so geht der Streifen nicht mehr auf der Sohle zurück, sondern wendet sich an der Schuh- spitze (C) ausserhalb des dort sich befindlichen Nagels nach rechts und flicht sich unter dem 2., 4. und 6. Längsstreifen durch. Nun läuft der Streifen nach hinten, wird durch die dort abwärtslaufenden Enden dicht unter- halb der 4 Nägel bei A durchgeflochten und zwar so, dass man beim Flechten zum erstenmal unten vorgeht, damit die abwärtslaufenden Streifen ihre natürliche Lage beibehalten. Von hier aus geht es links vor, an der Schuhspitze wieder durch (diesmal unter dem 1., 3., 5. und 7. Streifen), dann nach hinten, dort wieder durch, links vor u. s. w. bis der Platz zwischen den 4 Nägeln an der Spitze voll ist.

Ist der Zettel soweit gemacht, dann beginnt man mit dem sogenannten Eintrag. Dieser fängt auf der rechten Seite in der Mitte der Sohle unten an, woselbst die Tuchenden mittelst eines Nagels befestigt werden. Auch hier muss ein kleines Stück, etwa von der Länge eines kleinen Fingers, übrig gelassen werden. Der Eintrag läuft dann auf der rechten Kante zwischen B und C nach vorn, innerhalb des an der Spitze (unten) stehenden Nagels vorbei, von hier aufwärts und am oberen Nagel, der rechts an der Spitze steht, aussen vor- bei, dann nach links, hier abwärts unten herum (immer ausserhalb der Nägel) rechts aufwärts u. s. w.

Ist man mit dem Eintrag soweit fertig, dass an den sogenannten Schlitz (am Oberfuss) gedacht werden muss, so sieht man nach, wie oft man etwa bis zu den vorn obenstehenden Nägeln mit den Enden umkehren könnte. (Bei Nr. 1—4 kehrt man meist zweimal um; bei 5 —12 dreimal, bei 13 und den folgenden Nummern 3—4 mal.) Hier aber ist beim Anfang des Schlitzes (also vor dem Umkehren) eines noch recht genau ins Auge fassen, von dem es hauptsächlich abhängt, ob das Geflecht beim Aufhören stimmt. Man darf nämlich nicht beliebig umkehren, sondern man hat dabei zuerst nachzusehen, wie sich das Geflecht, das man eben mit dem Eintrag macht, zu dem verhält, das hinten am Leisten durch die abwärtsgehenden und die der Länge nach rings um den Schuh laufenden Zettelstreifen schon gemacht ist. Kommt man mit dem Eintrag vorn, mit dem man den Schlitz anfangen will, auf der rechten Seite herauf, so sieht man sich dabei den allerersten Zettelstreifen hinten an, der ganz am Anfang am ersten Nagel befestigt und als erster Streifen abwärts geführt wurde. Bildet dieser hintere (erste) Streifen mit dem auf der rechten Schuhseite der Länge nach (von vorn nach hinten) laufenden Zettel genau das- selbe Geflecht, so darf diesmal nicht mit dem Schlitz begonnen, also auch noch

nicht umgekehrt werden. Vielmehr muss noch einmal ringsum geflochten und erst dann mit dem Schlitz begonnen werden, wenn der Eintrag vorn sich anders (also entgegengesetzt) durch den Zettel flicht, als es hinten beim allerersten abwärtsgehenden Streifen der Fall ist, d.h. wenn der Eintrag sich unten durch- flicht, muss der hintere erste abwärtsgehende Streifen sich oben durchflechten.

Ist der Schlitz fertig, dann kehrt man daneben, wenn man am obersten Zettelstreifen rechts oder links angekommen ist, wieder um und so fort, bis der Eintrag ganz fertig ist. Doch ist zu merken, dass immer auch wieder ein Stück vom Zettel gemacht werden muss, so dass beides so ziemlich mit. einander fertig wird. Der Zettel wird, wenn es vorn an der Spitze zu voll ist, da um- gekehrt, wo man nicht mehr weiter kann, so dass er sich im schon geflochtenen Eintrag umkehrt. Es ist jedoch soweit als möglich mit dem Zetttel vor- zudrisgen und müssen die Enden gut zusammen geschafft werden, da es sonst leicht lockere (löcherartige) Stellen giebt. Ist dann der Zettel ganz gut zu Ende gebracht, so flicht man ihn zum letztenmal noch von links nach rechts zurück zu dem Stückchen, das man beim Anfang des Eintrags übrig liess und näht den Zettelschluss und den Eintrag zusammen.

Beim Umkehren des Eintrags an den beiden oberen Zettelstreifen links und rechts ist darauf zu achten, dass man die Enden nur ganz leicht anzieht, da sonst die Längsstreifen mit nach unten gezogen werden, wodurch der Schuh eine schlechte Form bekommt und auch nicht warm hält, da er viel zu niedrig ist. Um dies gänzlich zu verhüten, ınuss auch, da sich der Zettel von selbst schon abwärts schafft, mit dem Häkchen immer wieder dementsprechend (nach oben schaffend) nachgeholfen werden. (Schluss in nächster Nr.)

Zur reichsgesetzlichen Regelung des Irrenwesens.

In der Ersten Morgenausgabe der „Kölnischen Zeitung“ vom 15. Mai d. J. be- findet sich ein Leitartikei, der sich mit der „reichsgesetzlichen Regelung des Irren- wesens* beschäfiigt und zwar mit besonderer Bezugnahme auf die privaten Anstalten für Irre, Epileptische und Idioten, sowohl weltlichen als kirchlichen Charakters. Wenn wir auch mit der Grundtendenz dieses Artikels, wonach im Interesse einer einwand- freien Verpflegung der Geisteskranken eine Verstaatlichung der Privatanstalten an- zustreben wäre, der Hauptsache nach einverstanden sind, so musste uns doch die recht unfreundliche und manchmal wenig objektive Kritik befremden, welche an den erwähnten Anstalten und zwar denken wir dabei in erster Linie an die kirch- lichen geübt wurde, und wir glauben es dem Öffentlichen Ansehen dieser Institute schuldig zu sein, jener Kritik durch einige Bemerkungen entgegenzutreten.

Dass in der staatlichen Fürsorge für Geisteskranke insofern eine Lücke besteht, alẹ die Zahl der öffentlichen Anstalten nicht ausreicht, um allen Irren, Epileptischen und Idioten die erforderliche Unterkunft zu gewähren, giebt der Schreiber jenes Artikels indirekt selbst zu. Damit ist die Existenzberechtigung all jener Anstulten, welche im

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Geiste der inneren Mission und auf Grundlage privater Wuhlthätigkeit diese seit Jahr- zehnten lebhaft empfundene „Lücke* auszufüllen bestrebt sind, von vornherein dar- gethan. Solange der Staat nicht selbst in umfassender Weise die Sorge für die Geisteskranken in die Hand nimmt, werden sie immer unentbehrlich bleiben, und man sollte ihnen nur mit den Gefühlen der Dankbarkeit entgegentreten dafür, dass sie sich jener Verlassenen und Kranken annebmen.

Nun haben allerdings verschiedene Umstände, so namentlich die noch heute in guter Erinnerung stehenden Enthüllungen aus dem Alexianerkloster Mariaberg im Jahr 1894, aber auch die fortwährenden nicht immer objektiven Angriffe von seiten der Ärzte auf die Privatanstalten dazu beigetragen, in der Bevülkerung ein gewisses Misstrauen gegen dieselben wachzurufen.

Jedoch abgesehen davon, dass in solchen Fällen der Schluss von einzelnen Bei- spielen auf die Allgemeinheit immer als einseitig erscheint, so ist namentlich darauf hinzuweisen, dass durch die Bestimmungen vom 20. September 1895 und durch die- jenigen vom 20. März 1901 alle Privatanstalten nicht nur ganz bestimmten Vor- schriften, sondern auch einer regelmässigen staatlichen Kontrolle unterstellt sind, welche in Bezug auf die Interessen der in diesen Anstalten untergebrachten Pfleglinge kaum noch etwas zu wünschen übrig lassen. Manche dieser Vorschriften zeigen sogar eine Schärfe, die zu wiederholten Klagen seitens der Privatanstalten Anlass gaben. (Wir erinnern z. B. nur an die Unterrichtsanstalten für geistig zurückgebliebene Kinder, welche, obwohl in erster Linie pädagogische Ziele verfolgend, trotzdem mit den Irren- häusern in eine Linie gestellt und mit diesen gleich behandelt wurden.) Jedenfalls ist durch jene Bestimmungen der Mitwirksamkeit des Arztes bei der Aufnahme und Entlassung von Kranken in und aus diesen Anstalten so viel freier Spielraum zuge- sichert, dass es beispielsweise völlig unmöglich erscheint, „bei der Frage der Ent- lassungsfähigkeit einzelner Kranken unbewusst eigennützigo Motive mitspielen zu lassen“, wie es in dem erwähnten Artikel heisst.

Auch bezüglich der Wartepersonalsfrage besitzen sowohl der leitende resp. be- suchende Arzt als auch die revidierende Besuchskommission auf Grund der Bestim- mungen so viel freies Einspruchsrecht, dass in diesem Punkte ornstliche Bedenken kaum noch berechtigt sind. Nicht unerwähnt möge bei dieser Gelegeuheit bleiben, dass ee auch nicht an solchen Beispielen fehlt, wonach ärztliche Leiter staatlicher Irrenkliniken bei der Revision privater Anstalten christlichen Charakters gerade über die Tüchtigkeit des Wartepersonals derselben sich sehr anerkennend aussprachen und - dies sogar im Gegensatz zu den Erfahrungen mit ibren eigenen Tflegern resp, Pflegerinnen.

Wenn ferner den Privatanstalton zum Vorwurf gemacht wird, dass sie ihre Lieferungen „nach eigenem Belieben und nach Willkür* ohne Ausschreiben an Ge- schäftsleute übertragen, soll das etwa heissen, dass dadurch allerlei unebrlichen Mani- pulationen zu Gunsten des Vorteils Einzelner Gelegenheit geboten sei? Dann müsste dem entgegengehalten werden, dass die Privatansta:ten in der Regel nicht nur weit mehr auf Sparsamkeit angewiesen sind als die staatlichen, sondern dass auch sie e stets einem Kuratorium unterstehen, welchem der Leiter regelmässig Rechnung abzu- logen hat. Dadurch ist ja allerdings die Möglichkeit unrcoller Vorkommnisse in der

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angedeuteten Richtung keiueswegs vollständig ausgeschlossen; aber sind etwa die Staatsanstalten vor solchen Unregelmässigkeiten im finanziellen Betriebe absolut ge- sichert? Auch darf wohl daran erinnert werden, dass Männern, die sich aus eigenem Antriebe dem Dienste der innereu Mission widmen, im allgemeinen doch ehrliche, selbstlose, gewissenhafte Gesinnung zugetraut werden kann. Der Verfasser jenes Artikels freilich und damit kommen wir auf den bedenklichsten Satz seiner Aus- führungen schreibt dem ärztlichen Gewissen eine höhere sittliche Kraft zu, wenn es gilt die selbstsüchtigen Gelüste der eigenen Person niederzuhalten, als allen andern z. B. theologischen, pädagogischen u. s. w. Gewissen. Dass tüchtige, ehrliche Gesinnung, welche sich aus freier Entschliessung dem einmal erkannten Guten widmet, etwas ist, das von dem akademischen resp. nicht akademischen Bildangsgrad des einzelnen Individuums abhängt, diesen Satz haben wir allerdings noch nirgends auch in keinem ethischen Werke gefunden. So wie wir die Menschen im all- gemeinen kennen, kann der tüchtigste Arzt seinen Kranken gegenüber zum gewissen- losen Geschäftsmann werden, während die einfachste Bausrsfrau imstande ist, an Leidenden völlig interessenlose Liebe zu üben. Mit anderen Worten: Hat ein Arzt einmal Neigung zu eigennützigen Bestrebungen, so wird ihm seine ärztliche Bildung an sich ebensowenig davon zurückhalten, so wenig ein selbstsüchtiger Theologe sich durch sein theologisches Wissen, oder ein gewinnsüchtiger Pädagoge sich durch seine pädagogischen Kenntnisse die genannten sittlichen Mängel korrigieren lassen wird vorausgesetzi, dass diese intellektuellen Fähigkeiten auf die Gemüts- und Willens-- spbären keiuen tieferen Einfluss gewonnen haben. Wo es gilt, in einem Berufe Selbstlusigkeit und Aufopferung zu üben, da entscheidet nie die theoretische oder praktische Bildung, sondern immer der Mann an sich. J. on Sch.

> Krankheiten +}

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Inhalt. Sind Zahlenbilder oder Zahlenreihen beim ersten Rechenunterrichte in der Hilfsschule vorzuziehen? (H. Horrix) Einige einfache Industriezweige der Anstalt Idstein. (Fortsetzung.) Zur reichsgesetzlichen Regelung des Irrenwesens. (J. Sch.) Anzeige.

Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. Druck von Johannes Pässler in Dresden.

Hierzu eine Beilage von J. M. Lehmann’s Verlag in München.

Nr. 9 u. 10. XVII. (Al) Jahrg

NEW YORK

Zeitschrift |.

Behandlung sehwachsinmger und Fpileptischer

Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Spezialarzt Dresden - Strehlen, für Nervenkrankheiten . Residenzstrasse 27. in Stuttgart. Erscheint jährlich in 12 Nummern von ! Zu beziehen durch alle Buchhandlungen

mindestens einem Bogen. Anzeigen für und Postämter, wie auch direkt von der die gespaltene Petitzelle 25 Pfg. Litte- September 1902. Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, rarische Beilagen 6 Mark. |

einzeine Nummer 50 Pfg.

Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

Das Personalheft im Dienste der Schwachsinnigenbildung.*) (Ein Beitrag zur Psychologie des Schwachsinns.) Von Fr. Frenzel, Leiter der Hilfsschule in Stolp i. Pom.

Es wird von verschiedenen Seiten immer mehr und zwar mit Recht betont, dass fortlaufende Beobachtungen unserer Zöglinge über den Zustand ihrer geistigen und körperlichen Beschaffenheit, über ihre Bildsamkeit und Gesundheit, sowie über den Fortschritt ihrer leiblichen und geistigen Entwicklung nötig seien. Dabei wären schriftliche Fixierungen unerlässlich. Die nötigen Auf- zeichnungen müssten für ein jedes Kind in einem eigens dazu angelegten Hefte, dem Personalhefte, nach einem bestimmten Schema nach Massgabe der vorhin angedeuteten Gesichtspunkte erfolgen. Für die Anlage des Personalheftes mögen im folgenden einige Richtlinien gegeben werden, die Ausgestaltung desselben kann den mannigfachen Bedürfnissen entsprechende Abänderungen erfahren. Die folgenden Zeilen wollen auch nur weitere Anregung in der Sache bieten und zu ferneren Erörterungen Veranlassung geben.

Personalhefte, Personalbücher, Personalakten, Individualhefte, Individuallisten, Erziehungslisten oder Erziehungsberichte führen die meisten Schulen und Erziehungsanstalten für 'schwachsinnige (schwachbegabte, geistesschwache) Kinder und zwar auf Veranlassung der vorgesetzten Behörden.

*) Die vorliegende Arbeit ist eine erweiterte Umarbeitung meiner am Schlusse dieser Ausführungen näher bezeichneten Abhandlung aus der Zeitschrift für Schulgesundheitspflege. Jahrgang 1900. 11. Heft.

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Es ist mir bekannt, dass eine Königl. Preussische Regierung in einer Nachfrage über eine Hiltsschule für schwachbegabte Kinder speziell darauf hinwies, dass Aufzeichnungen über die eingeschulten Kinder erfolgen müssten und auch halbjährliche Erziehungsberichte zu fertigen wären. Wegen der besseren und bequemeren Handhabung eines Heftes insbesondere für den Lehrer habe ich mich für Personalhefte entschieden; lose Berichte gehen häufig verloren, ihre Einverleibung in die Akten erfordert Zeit und Mühe und erscheint wenig praktisch, der Lehrer müsste beim Gebrauche der Aufzeichnungen stets zum ganzen Aktenstücke greifen. Die Versuche, welche man bisher mit der Ein- führung und Handhabung von Personalheften im Interesse einer zweckmässigeren Erziehungs- und Unterrichtsweise der Schwachsinnigen an den verschiedensten Orten gemacht hat, befriedigen voll und ganz und bieten mithin die beste Gewähr ihrer Zweckmässigkeit.

Das Titelblatt des Personalbeftes (Heftformat hochquart, 10 Blätter Konzeptpapier) erhält etwa nachstehende Aufschrift:

Personalheft dt:

Schüler........ bezw. Zögling der...........oeoooeoo: en er ee

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1. Seite.

Als a Vor und. Zupame::-. ae geboren aM ann nennen ABU ect ie Name, Beruf oder Stand der Eltern resp. des Vormundes oder der sonstig

Verpflichteten senioren A a eingeschult resp. aufgenommen am... aesir RN

Unter dem Kopfe: Bemerkungen über die gemachten Beobachtungen. 1. Das Wesen des Kindes _....... .............. 0.0 0000 00 nn nnnnnsnnnnsnnennnnnnnnnnnenennennnnn nn . Sein Sprachvermögen el ee en | 3. Sein Auffassungsvermögen .....oecooeeeeee ee

D

4. Bein "Gedächtnis: en. E ea e ETE 5. Etwaige sonstige Neigungen und Triebe ........... een 6. Körperliche Entwicklung, Gebrechen bezw. Missbildungen (Läh-

mungen, Erkrankungen der verschiedenen Organe, hereditäre Belastung etc.)

Doade r e en E AA re ee ee ons

7. Elterliche Auskunft (Familienverhältnisse, Krankheiten des Kindes, seine häusliche Beschäftigung, Führung ete.) . u | Zwischen den einzelnen Zeilen muss der nltige Raum für die Aufzeichnungen

139 übrig bleiben. Das vorstehende Schema*) berücksichtigt den geistigen und körperlichen Zustand des Kindes, seine Eigenarten und Fähigkeiten, seine Krankheiten, sein Milieu und verlangt bei genauer Ausfüllung die Mitwirkung von Eltern, Pädagogen und Ärzten; es dürfte somit den Forderungen der Gegenwart in ausıeichender Weise entsprechen.

Da es stets einer längeren Beobachtung und eines längeren gegenseitigen Verkehrs bedürfen wird, um ein Kind genügend erforschen zu können, so em- pfieblt es sich, die Bemerkungen zu den einzelnen Punkten erst nach Verlauf einer längern Zeit einzutragen. Man wird dann wohl nur in den seltensten Fällen fehl gehen, während in einer kürzeren Beobachtungszeit Irrtümer sich leicht einschleichen könnten.

3. Seite u. ff. Halbjährlich einzutragende Notizen. (Ostern, Michaelis).

1. Das Betragen des Kindes .................eennennneennnennanennn 2. Sein Fleiss und seine Aufmerksamkeit .......... .............e.eceon. 3. Seine Fortschritte (in den einzelnen Unterrichtsdisziplinen) _.................... 4. Angaben über etwuige besonders hervortretende Befähigungen, sowie über

die körperliche Entwicklung

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Zwischen den einzelnen Zeilen ist wiederum seling Raum für die Be- merkungen zu lassen. Da das Heft 20 Seiten enthält, jede Eintragung aber nur eine Seite beansprucht, so genügt es zum mindesten für eine Zeit von 8 Jahren. Die Notizen, in der angedeuteten Weise fixiert, geben gleichzeitig eine Zeugnisliste ab; es könnte deshalb die sonst gebräuchliche Zensurenliste in Fortfall kommen. Bei Umschulungen eines Schülers der Hilfsschule wäre das Personalheft nebst dem Überweisungsschreiben an die neue Schule des Kindes zu senden; die dortigen Lehrkräfte könnten sich auf Grund der Auf- zeichnungen des Personalheftes sofort über das betreffende Kind im wesentlichen orientieren.

Auf allseitige beifällige Aufnahme dieser Vorschläge wird von Hause aus verzichtet; es wäre aber im allgemeinen Interesse sehr erwünscht, wenn man sich über eine bestimmte Form in betreff des Personalheftes einigen möchte, um eine möglichst gleichmässige Handhabung der Aufzeichnungen durch- zuführen.

Was soll nun in das Personalheft bei den einzelnen Punkten eingetragen werden?

Für die Beantwortung der einzelnen Punkte sind thunlichst Beispiele an- zugeben, mit allgemeinen, dehnbaren Ausdrücken ist wenig gedient. Kurze skizzenartige Aufzeichnungen über Vorgänge, Zustände, Beobachtungen, Wahrnehmungen etc. liefern ein deutlicheres Bild, als allgemein abgegebene Urteile und Bezeichnungen.

*) Zur Vermeidung des vielen Schreibwerks sind in dem Schema nur verhältuismässig wenige Punkte aufgenommen.

Er

Für die Bezeichnung des Wesens mögen folgende Ausdrücke Verwendung finden: Lebhaft, erethisch-plapperhaft, ruhig, apathisch -sprechfaul, zutraulich, abstossend, dreist, bescheiden, zänkisch, eigensinnig, leicht gereizt, mitteilsam, träge etc. Einzelne kleine charakteristische Züge aus den gewonnenen Beob- achtungen sind hierbei anzugeben, wo es angebracht erscheint, auch die Grade der Geistesschwäche (Idiotie, Imbecillität, Debilität) resp. etwa vorhandene Typen (Microcephale, Aztekentypus etc.) näher zu benennen, um ein möglichst treues Individualbild des fraglichen Kindes zu entwerfen. Ich muss hierbei verzichten, das Eigenartige im Wesen des Schwachsinnigen, das Pathologische seines Vor- stellungs-, Gefühls- und Willensleben, weiter zu illustrieren, die Schilderungen würden über den Rahmen dieser Ausführungen hinausgehen; ausserdem existiert eine Menge wertvoller Schriften, die diese Materie in der weitgehendsten Weise erörtern.

Bei dem Sprachvermögen ist anzugeben, ob das Kind in seiner sprach- lichen Entwicklung annähernd normal vorgeschritten bezw. auf welcher Stufe der Sprachentwicklung es stehen geblieben ist. Auch sind etwaige Ursachen des sprachlichen Rückstandes namhaft zu machen.

„Der Gedankenausdruck ist bei dem Geistesschwachen, wenn nicht schon organische Fehler au sich die Entwicklung der Sprache aufhalten, nur daun nennenswert, wenn äussere Reize an ihn herangeführt und zur Empfindung ge- staltet werden, wenn er die Anschauung unterbrochen fortsetzen kann.“ „Sobald die Sprache allein auf die Gedankenbewegung angewiesen ist, wird sie unsicher, stockend, ungenau und arm; in vielen Fällen schwindet der sprachliche Aus- druck gänzlich.“ „Aus demselben Grunde gestaltet sich das schwachsinnige Kind, wenn es einige Geläufigkeit in der Wiedergabe von Erzählungen besitzt oder erlangt hat, einen Satz, der mehrere aufeinander folgende Handlungen be- zeichnet, in aufeinander folgende dem Sinne nach zusammenhangslose Einzel- handlungen um * „Es denkt in Anschauungen, Bildern und Handlungen und nicht in Begriffen“; ähnlich ist die Denkungsart mancher Taubstummen.

Bei dem Sprachvermögen kommen auch die Sprachstörungen, an denen schwachsinnige Kinder so häufig leiden, sowie die Ursachen jener Mängel und etwa vorhandene Defekte und Anomalien der Sprachorgane und des Gehörs zur Vermerkung. Zur Konstatierung letzterer ist nötigenfalls der Arzt heran- zuziehen.

Das Auffassungsvermögen wird bei schwachsinnigen Kindern kaum normal funktionieren; es erscheint meistens infolge mangelhafter Sinnesthätigkeit, physischer und psychischer Trägheit, sprachlicl.er Mängel etc. behindert. Der Wahrnehmungsprozess vollzieht sich bei manchen Kindern nur oberflächlich, oft ohne psychischen Parallelvorgang; bei andern wiederum beschränkt er sich unter Verwendung von speziell konkreten Vorstellungen nur auf Wieder- cıkızncı und Unterscheiden. Dabei gelingt ihnen die Konzentration auf einen Gegenstand meist selten. Beim Vorstellungsablauf sind die Urteils-Associ- ationen nur normal, wenn es sich um die Verknüpfung von Empfindungen mit einfachen konkreten Vorstellungen handelt. Urteile, welche unabhängig von

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Empfindungen sind und auf der Association mehrerer Erinnerungsbilder beruhen, werden selten gebildet, desgleichen solche, zu deren Bildung abstrakte Begriffe nötig sind. Zudem zeigen alle Associationen gewöhnlich eine auffällige Ver- langsamung. Der Urteilsmangel tritt besonders beim Schulunterrichte in viel- facher Hinsicbt recht fühlbar auf. In der deutschen Grammatik bleiben schwachsinnige Kinder meistens in den Anfangsgründen stecken; mit der Ortho- graphie ist es gewöhnlich ganz schlecht bestellt. Fast stets wird ihnen das Rechnen schwer. Addieren lernen manche, Subtrahieren schon wenigere; Multi- plikation (abgesehen von dem mechanischen Auswendiglernen des Einmaleins) und Division werden selten oder gar nicht begriffen, höhere Rechnungsarten überhaupt nicht mehr. In der Geschichte werden Namen, Thatsachen uud Zahlen wohl in einigen Fällen aufgefasst und behalten, dann aber, da der Zu- sammenhang zwischen denselben sehr locker ist oder oft gänzlich fehlt, in der Regel in ungenaue und mangelhafte Beziehungen zu einander gebracht. Zu einem Verständnis historischer Thatsachen kommt es nur in vereinzelten Fällen. Auch bei der biblischen Geschichte zeigen sich ähnliche Mängel; mangelhafte Reproduktion zusammenhangsloser Einzelheiten ist sehr häufig zu beobachten. In Unterrichtsgebieten mit sogenanntem „Anschauungsmaterial* zeigt sich da- gegen des Öftern ein gewisses Mass von Wissen und auch mitunter ein hoher Grad von Interesse.

Zur Beurteilung des Auffassungsvermögens ist eine genaue Kenntnis und längere, eingehende Beobachtung des einzelnen Zöglings nötig; nur bei ein- gehender Beobachtung, die sich auf das Reden, das Handeln, das Mienen- spiel und auf die Gesten und Gebärden des Schülers beziehen muss, wird man die Art und Weise der Bethätigung des Auffassungsvermögens und den Vorgang und Verlauf des Vorstellungsprozesses näher zu bestimmen vermögen. Es fällt uns dieses um so schwerer, da „die allgemeine Psychologie uns viel- fach noch nicht die genaue Beschreibung der seelischen Fähigkeiten und be- sonders noch nicht eine gründliche Analyse der natürlichen Entwick- lung des Kindes gegeben hat.“

Die Angaben beim Gedächtnisse mögen die verschiedenen Grade seiner Zuverlässigkeit (treu, oberflächlich, unzuverlässig), sowie seine besonderen Fähig- keiten (Gedächtnis für Namen, Zahlen, Memorierstoffe etc.) näher bestimmen.

Das Gedächtnis der Schwachsinnigen erweist sich gewöhnlich in Bezug auf Aufnahme und Wiedergabe des Stoffes mehr oder minder mangelhaft. Die Aufnahme wird infolge unbeständiger und geschwächter Aufmerksamkeit schwer beeinträchtigt; aber dennoch ist es durch hundertfältige, sich wiederholende Einwirkungen möglich, ilınen einen bestimmten Kreis von Kenntnissen zu ver- mitteln. Die Wiedergabe lässt gewöhnlich auch vieles zu wünschen übrig, sie geht nur in einzelnen Fällen und bei einigen Individuen, besonders wenn die Reproduktion nach Reihenfolge und Rhythmus erfolgen kann, ziemlich leicht von statten. Staunenswert ist es, wie manche, geistig ziemlich tief stehende Kinder längere Gedichte und Liederstrophen hersagen bezw. hersingen, allerdings manchmal in so monotoner Weise, dass mau dabei lebhaft an das Geplauder

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der Papageien und an das Abschnurren mechanischer Spreebmaschinen erinnert wird. Man ist in solchen Fällen geneigt, sich die Frage vorzulegen: „Wer, resp. was spricht in diesen Kindern?!“ Ich möchte an dieser Stelle, ohne weitere Erörterungen anzustellen, nur noch einen eigenartigen Fall von Ge- dächtnis bei einem Geistesschwachen, den ich in einer Anstalt für Geistesschwache zu beobachten Gelegenheit fand, anführen. Der Fall betrifft einen Knaben mit an- geborenem, rechtsseitigem Lähmungszustand, welcher zunächst lauge Zeit mit der linken Hand Spiegelschrift schrieb, dann aber auch allmählich mit derselben Hand richtig schreiben lernte; er war nur äusserst mässig begabt, machte sogar automa- tische Bewegungen. Dieser Knabe besass ein sehr gutes Gedächtnis, er konnte z. B. die Geburtstage seiner Mitschüler (ungefähr 20 bis 30 Termine), die Geburts- tage der Lehrkräfte und ihrer meisten Angehörigen, sowie eine grsse Zahl der Ge- burtstage des Pflegepersonals richtig angeben. Auch wusste er die Nummern der Kleidungsstücke (von 1—80) sämtlicher Knaben zu nennen. Seine Gedächtnis- leistungen waren noch in vielen anderen Beziehungen hervorragend, er erregte besonders bei Laien die grösste Verwunderung; bisher ist mir auch nicht an- nähernd etwas Derartiges von Gedächtnis unter Schwachsinnigen vorgekommen.

Bei den besonderen Trieben und Neigungen werden Notizen über etwa sich äussernde Stehlsucht, Verlogenheit, Unsittlichkeit, Pyromanie, Vagabundage, Tierquälerei, Zerstörungssucht, Necklust, Sammelwut etc. gemacht. Die dabei wahrgenommenen Vorgänge sind kurz zu skizzieren.

Bei dieser Gelegenheit möchte ich noch auf die ästhetischen Neigungen der Schwachsinnigen hinweisen, die, wenn sie auch unbestimmt sich äussern, doch eine gewisse Rolle bei ihnen spielen. Der Schwachsinnige ist im allgemeinen für Schönheit, Glanz und äussern Schmuck sehr eingenommen und freut sich dessen, was ihm prächtig erscheint. Wie eigenartig erstrahlt z. B. sein Auge unter dem Zauber des schön geschmückten, brennenden Weihnachtsbaumes, und wie freudig bewegt wird er davon! Er schmückt sich selbst gerne und ver- wendet dazu auch unansehnliche, ganz wertlose Dinge, wenn sie nur recht bunt sind und gehörig in die Augen fallen. Auch eine lebhafte Freude am Rhythmus ist bei dem Schwachsinnigen festzustellen. Wenn man an die Schwierigkeiten denkt, die mancher Zögling selbst bei ganz einfachen Verrich- tungen, 2. B. bei den ersten Schreibversuchen dem Erzieher bereitet, so muss man sich über die geringe Mühe wundern, die es kostet eine ganze Schar schwachsinniger Kinder dahin zu bringen, einen gespielten Marsch durch Hände- klatschen genau im Takte zu begleiten. Man müsste deshalb rhythmische Übungen, sowie die Musik in Dienst der Schwachsinnigenerziehung_ stellen, wie es z. B. in Frankreich, Holland und Belgien geschieht.

„Alle Neigungen, soweit sie nicht schädigend wirken, benutzen, hierbei das Interesse für irgend eine Thbätigkeit gewinnen, die Gelegenheit zu letzterer, wo sie sich bietet, olıne Verzug erfassen, ist eins der wichtig- steu Momente in der ganzen Schwachsinnigenbildung.“

Über Punkt 6 entscheidet der Arzt, besonders in solchen Fällen, wo ein Krankheitsbild vorliegt, oder wenn Zweifel bezüglich der Persönlichkeit des

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Kindes obwalten. (Defekte der Sinnesorgane, der Sprachwerkzeuge, eigenartige psychopatliische Zustände etc.).

Die Aufnahme der Schüler in die Hilfsschule erfolgt in der Regel unter Mitwirkung eines ärztlichen Sachverständigen, welcher auch die Aufzeichnungen zu Punkt 6 des Personalheftes zu besorgen hat. Bei dem grossen Interesse, das die Ärzte der Schwachsinnigenbildung heutzutage vielfach widmen, steht zu erwarten, dass uns auch von dieser Seite kräftige und wirksame C uterstutzang in unseren Bestrebungen zu teil werden wird.

Die meisten Erziebhungsanstalten für schwachsinnige Kinder verlangen über die aufzunehmenden Zöglinge ärztliche Gutachten. Gewöhnlich wird den Eltern resp. den Anmeldenden des Kindes ein ärztlicher Fragebogen zur Be- antwortung zugesandt. Die Eltern begeben sich damit und mit dem Kinde zu einem Arzte, der dasselbe beobachtet, untersucht und die in dem Fragebogen gestellten Fragen unter Mitwirkung der Eltern beantwortet. Da schwachsinnige Kinder in Gegenwart fremder Personen sich meistens äusserst scheu zeigen, so werden die ärztlichen Aufzeichnungen des Fragebogens namentlich bezüglich der geistigen Veranlagung des Kindes keinen Anspruch auf Vollgiltigkeit erheben können. Viel leichter dürfte man zu einem richtigen Urteil gelangen, wenn die ärztliche Untersuchung erst nach stattgefundener, längerer pädagogischer Be- obachtung erfolgen würde, sie hätte dann die Bedeutung einer Ergänzungsunter- suchung. So liess ich z. B. meine Schüler der Hilfsschule, die bei der Über- weisung dem Arzte vorgestellt waren, nach vierteljährigem Besuche der Schule noch einmal eingehend untersuchen. Ich vermochte den Arzt nun auf verschiedene Wahrnehmungen, die ich an den Kindern im Laufe des Unterrichts beobachtet hatte, aufınerksam zu machen, er gab mir die gewünschten Auskünfte; die ärztliche Untersuchung gewann so viel mehr an Wert für die pädagogische Behandlung.

Bei der Aufnahme eines Kindes in die Anstalt findet gewöhnlich eine ärzt- liche Untersuchung desselben unmittelbar statt; bei dieser Gelegenheit wären die Aufzeichnungen für Punkt 6 des Personalheftes einzutragen. Die Notizen des ärztlichen Befundes könnten darauf dem beteiligten Lehrer zur sofortigen Kenntnisnahme unterbreitet werden. Falls über das Kind ein ärztlicher Frage- bogen vorliegt, muss der Austaltsarzt bei seiner Untersuchung darauf Rücksicht nehmen und bei etwa sich ergebenden Widersprüchen genaue Untersuchungen anstellen; sein Urteil sull ausschliesslich massgebend sein.

Ärztlicher Beirat müsste dem Lehrer der Schwachsinnigen recht oft zu Gebot stehen. Ich erinnere mich noch gerne der Zeit, wo ich an einer Er- ziehungsanstalt für Geistesschwache den Rat des Anstaltsarztes stets einholen durfte. Die gemeinsam gepflogenen Besprechungen eröffneten mir in vieler Be- ziehung Aussichtspunkte, die mir vollständig ferne lagen, ich erhielt Anregung zur Weiterbildung, auch mein Interesse für die Schwachsinnigenbildung, welches vorher nicht besonders gross war, bekam kräftige Impulse.

Die Aufzeichnungen für Punkt 7 des Personalheftes erfolgen in den An- stalten auf Grund des ärztlichen Fragebogens, dieser ist dabei als Unterlage bezw. zur Vergleichung der darin verzeichneten Angaben mit den während des

Aufenthalts in der Austalt über das Kind gemachten Wahrnehmungen heran- zuziehen. Wo sich die Ergebnisse der Anstaltsbeobachtung mit den Aufzeichnungen des ärztlichen Fragebogens nicht decken, wäre Rückfrage bei den Eltern resp. Vormündern des Kindes oder den Ortslehrern bezw. Ortsgeistlichen erforderlich.

Die Hilfsschule macht ihre Aufzeichnungen für diesen Punkt nach Rück- sprache mit den Eltern des Kindes und nach augenscheinlicher Prüfung der Sachlage der Familienverhältnisse. Der Hilfsschule würde es sehr zum Vorteile ge- reichen, wenn sie öfters Beziehungen zum Elternhause ankuüpfen und pflegen wollte. Der öftere Verkehr zwischen Haus und Schule hat sich vielfach als eine segensreiche Einrichtung erwiesen, ich erinnere nur an die Versammlungen und Zusammenkünfte der Eltern im Schulhause, die Elternabende, welche in neuster Zeit auch bereits in weiteren Kreisen Eingang gefunden haben. Der Umstand einer genauen Kenntnis der häuslichen Verhältnisse des Kindes wird gewöhnlich beiderseits gewisse Vorteile im Gefolge haben, deren Wert jedoch hier unerörtert bleiben mag.

Die Eintragungen der halbjährlich zu machenden Notizen sollen am Schlusse eines Semesters geschehen; eine kürzere Zeit würde für die Be- obachtungen nicht ergiebig genug erscheinen, während nach einem halben Jahre auch schon geringe Veränderungen in der einen oder der andern Richtung der seelischen oder körperlichen Beschaffenheit des Kindes sich deutlicher äussern und besser ausgeprägt hervortreten. Wenn Kinder schon bei ihrer Aufnahme Kenntnisse und Fertigkeiten nachweisen, so sind Vermerke hierüber unter Punkt 7 der allgemeinen Beobachtungen niederzuschreiben; dieses wird haupt- sächlich bei den Kindern zutreffen, die in einem vorgerückteren Alter zur Auf- nahme gelangen, sei es in die Hilfsschule, sei es in die Erziehungsanstalt für schwachsinnige Kinder.

Bei Punkt 4 des Schemas der halbjährlich zu fertigenden Aufzeichnungen ist auch wiederum auf die körperliche Entwicklung Rücksicht genommen; bei ungünstiger körperlicher Entwicklung muss selbstverständlich der Arzt zu Rate gezogen werden. Es dürfte sich, wie bereits schon vorhin angedeutet wurde, sehr empfehlen, denselben sofort zu konsultieren, falls unerklārliche und aussergewöhnliche Veränderungen im Leben des Kindes eintreten sollten.

Bei Kindern, die in ihren Leistungen nur unerhebliche Fortschritte machen, wird man die Ursachen davon zu erforschen suchen, um ihnen im Bereiche der Möglichkeit die rettende Hand reichen zu können. Besonders hervortretende Fähigkeiten, wenn sie sich nicht gar zu einseitig kund geben, verdienen eine gewisse Pflege; schädigende und krankhafte Erscheinungen dagegen müssen wo- möglich schon im Keime unterdrückt und beseitigt werden.

Einst entdeckte ich unter meinen schwachsinnigen Schülern einen Knaben, der ausserordentlich viel Geschick im Zeichnen besass. Diese Fähigkeit wurde von mir weiterentwickelt; der Knabe leistete später so Erfreuliches, dass seine Leistungen allseitige Anerkennung fanden. Derartige Fähigkeiten entdeckt man gewöhnlich ganz zufällig, man darf sie dann aber nicht unbeachtet lassen, sondern muss sie möglichst vorteilhaft zu entwickeln suchen.

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Die Führung des Personalheftes veranlasst den Lehrer, sich mehr und mehr in das Wesen des Kindes zu vertiefen. Er muss, um ein massgebendes Urteil gewinnen zu können, mit dem Schüler in innige Beziehung treten, seine Gaben, Fähigkeiten und Eigentümlichkeiten lernt er dadurch viel besser kennen und würdigen, als es sonst der Fall wäre. Es entsteht leicht ein Band der Sympathie und des gegenseitigen Verständnisses zwischen ihm. und jedem einzelnen Kinde, wodurch die Zahl der missverstandenen Kinder ganz erheblich vermindert wird. Aus den Aufzeichnungen vermag der Erzieher und Lehrer das Mass der Leistungsfähigkeit und den Grad der geistigen Entwicklung eines jeden Kindes annähernd schon im voraus zu erkennen; es liest vor ihm klar, was die Erziehung durch Pflege, Aufsicht, Unterricht und Zucht zu fördern und was sie zu unterdrücken hat. Die fortlaufenden Beobachtungen fördern den pädagogischen und psychologischen Scharfblick des Lehrers und er- schliessen ihm ein äusserst interessantes Arbeitsfeld auf dem Gebiete der Kinder- forschung, Psychologie und Psychiatrie.

Die Aufzeichnungen bieten auch dem Arzte ungemein wertvolle Aufschlüsse, er wird seine Diagnose sicherer stellen und die therapeutischen Mittel zweck- mässiger zu wählen vermögen als ohne Kenntnis der früheren Vorgänge. Sämtliche Aufzeichnungen des Personalbeftes gewähren schliesslich wenn auch ein knappes, so doch ein klar umrissenes Bild des Entwicklungsganges, den ein Kind genommen hat.

Unsere Bestrebungen auf dem Gebiete der Erziebung und des Unterrichts erheischen volle Berücksichtigung der Individualität des Kindes, dieser Forderung werden wir um so mehr nachzukommen vermögen, wenn wir, wie es unser Personalheft verlangt, praktische Psychologie unter Mit- wirkung von Familie und Arzt treiben würden. Kein Teil der päda- gogischen Bildung ist im stande, auf die Berufsthätigkeit des Pädagogen einen so unmittelbaren Einfluss auszuüben, wie das praktische Studium der Psy- chologie, namentlich das Studium der anormalen und pathologischen Vorgänge und Zustände des kindlichen Seelenlebens.

THENEW YOR PUBL EA

ASTOR, LENOX ANU TILDEN FOUNDATION

Litteratur:

. Dr. Kühner. Das Lebensbuch. Kinderfehler 1897. 5. Heft. . J. Trüper. Schema zur Feststellung des leiblichen und seelischen Zustandes eines Kindes. Kinderfehler 1897. 5.—6. Heft.

. Dr. Michel. Personalbogen. Adorf i. V. 1900.

W. Schumann. Die Grundzüge der päd. Pathologie. Weimar 1900. Seite 98 u. ff.

Fr. Frenzel. Das Lebens- und Personalbuch im Dienste der Pädagogik und Schulhygiene. Zeitschrift für Schulgesundheitspflege 1900. 11. Heft. (Auch als Sonderabdruck erschienen.)

6. Personalbuch für die Hilfsschule der Stadt Stolp i. Pom.

7. Individualitätenheoft der Schröter’schen Erziehungsanstalt zu Dresden.

8. Erziehungsliste der Königl. Erziehungsanstalt zu Wabern.

(Die Eintragungen erfolgen in jedem Monat.)

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Nochmals die neue Anweisung vom 26. März 1901 und noch einiges andere. Von K. Ziegler, Idstein, Reg. Bez. Wiesbaden.

Zur Zeit, da der in den Nummern 9 und 10 des vorigen Jahrgangs dieser Zeitschrift abgedruckte Artikel über die Anweisung vom 26. März geschrieben wurde, tagte (am 23. Juli 1901) in Kassel bereits eine ausserordentliche Konferenz, der Anstaltsleiter Preussens, auf der über die neuesten Bestimmungen und über die Art und Weise, wie zu denselben Stellung zu nehmen sei, beraten wurde und bei welcher auch ein vom Kultusminister eigens zu diesem Zwecke ent- sandter Ministerialbeamter zugegen war Die Verhandlungen drehten sich im wesentlichen um die Thatsache, dass auch in der neuen Anweisung die von den Anstaltsleitern immer wieder betonte und gewünschte Trennung zwischen Idioten- anstalten und Irrenhäusern nicht stattgefunden habe und dass die Unterscheidung zwischen Bestimmungen für Kranke im Alter über 18 Jahren und solchen für Kranke im Alter unter 18 Jahren eine ganz unsachliche und unzweckmässige sei. Diese Unterscheidung zwischen jugendlichen und erwachsenen Geisteskranken hätte zwar den Unterrichtsanstalten, sofern dieselben nicht Zöglinge über 18 Jahren beherbergen, eine grosse Erleichterung gebracht, nicht aber den Anstalten für Kranke aller Altersstufen. Diese fielen vielmehr unter die Bestiinmungen des Abschnitts A, und da derselbe in erster Linie Irrenanstalten im Auge hälte, so seien die Pflegeanstalten dadurch aufs neue voll und ganz den früheren Härten ausgesetzt. Am besten und einfachsten wäre es darin einigten sich die an- wesenden Anstaltsvertreter wenn die Bestimmungen des Abschnitts B nicht nur auf Anstalten für jugendliche Kranke, sondern überhaupt auf sämtliche Idioten- und Epileptischen-Anstalten ohne Rücksicht auf die Altersunterschiede ihrer Insassen angewendet würden. Dass auf die Erfüllung dieses Wunsches jedoch kaum zu hoffen sei, waren sich die Leiter auf Grund ihrer früheren Erfahrungen recht wohl bewusst. Aber es sollte einmal der Versuch gewagt und in diesem Sinne eine Bittschrift an das Königl. Kultusministerium abge- schickt werden; ausserdem beschloss die Versammlung, ihre Wünsche event. noch durch eine besondere Deputation bei dem Herrn Minister vertreten zu lassen. Durch Vermittlung des Herrn Pastors von Bodelschwingh- Bielefeld wurde eine Audienz im Kultusministerium für Oktober in Aussicht gestellt. Vorher tagte aber noch die allgemeine Konferenz für das Idiotenwesen in Elberfeld.

Im Programme derselben war auch ein Vortrag über die Anweisung auf- genommen. Leider verzichtete der Referent (Direktor Schwenk-Idstein) wegen vorgerückter Zeit auf seinen Vortrag, infolgedessen diese Angelegenheit in der öffentlichen Debatte gar nicht zur Besprechung kam. Es wäre dies schon des- halb wünschenswert gewesen, als auch von ärztlicher Seite verschiedene Ver- ir ter anwesend waren und durch eine gegenseitige Aussprache und Verständigung am ehesten eine sichere Grenzregulierung zwischen den medizinischen und päda- gogischen Forderungen hätte stattfinden können. Übrigens scheinen die ärztlichen Teilnehmer an der Konferenz von den Verhandlungen derselben keine besonders

147 hohe Meinung mit nach Hause genommen zu haben, wenn anders das vollständige Verschweigen der Elberfelder Versammlung in der psychiatrischen Fachpresse (z. B. auch in der „Psychiatrischen Wochenschrift“,*) deren Herausgeber persönlich anwesend war) in diesem Sinne gedeutet werden darf.**)

Am 13. Oktober sodann fand die Audienz der in Kassel zu diesem Zwecke gewählten Kommission beim Herrn Kultusminister statt. Ihr ging eine mehr- stündige Konferenz mit dem Unterstaatssekretär von Wever und anderen zu- ständigen Medizinalbeamten voraus, in der die Wünsche der Anstaltsvertreter nochmals einer eingehenden Erörterung unterzogen wurden. Das Ergebnis dieser Konferenz war eine recht günstige Vereinbarung, die auch die Sanktionierung seitens des Herrn Ministers fand. Der nähere Inhalt dieser Vereinbarung, die schon damals durch die Schriftleitung den einzelnen Anstaltsvorstehern mitgeteilt wurde, ist auch aus folgendem ziemlich spät bekannt gewordenen Schreiben des Herrn Kultusministers an die Herren Regierungspräsidenten vom 25. Januar 1902 ersichtlich.

„In der Anweisung über Unterbringung in Privatanstalten für Geistes- kranke-Epileptische und Idioten vom 26. März v. Jahres J. M. I 1853, M. d. J. IIa 2311 M. d. g. Ang. M. 5020 ist Ew. Hochwohlgoboren durch die §§ 15, 19 Nr. 2. Abs. 1 Nr. 4. Abs. 2 und 1 und $ 21 Nr. 2 die Ermächtigung erteilt, nach gewissen Richtungen im Einzelfalle Be- stimmungen zu treffen.

In Erweiterung dieser Befugnisse wollen wir Ew. Hochwohlgeboren ferner allgemein ermächtigen, bei den Privatanstalten für Idioten auf Antrag eine Regelung der ärztlichen Thätigkeit nach dem $ 22 Nr. 7 der Anweisung „für Kranke unter 18 Jahren‘ gegebenen Vorschriften auch dann zu ge- nehmigen, wenn in den Anstalten Idioten im Alter von über 18 Jahren ver- pflegt werden. Vor der Genehmigung ist die Besuchskommission zu hören. Die Erteilung der Genehmigung wird sich, sofern es die Beschaffenheit der Kranken überhaupt gestattet, solchen Anstalten (insbesondere Wohlthätig- keitsaustalten) gegenüber empfehlen, welche sich mit der Verpflegung sowohl jugendlicher, wie auch erwachsener Idioten und gleichzeitig mit ihrem Unter- richt, ihrer Erziehung und Ausbildung beschäftigen.

Angesichts der doppelten Aufgabe, welche sich diese Anstalten in der Regel stellen: „der Pflege und der Unterweisung“, ist die Thätigkeit des Arztes soweit die Bestimmungen des $ 22 Nr. 7 der Anweisung in Frage kommen, vornehmlich auf medizinische, diätetische und hygienische Angelegen- heiten gerichtet. Es unterliegt keinen Bedenken, dies in deom Statute oder der Hausordnung der Anstalt zum Ausdrucke zu bringen.

Die in dem $ 20 Nr. 5 erwähnte Beantwortung schriftlicher und münd-

*) (Seit April 1902 „Psychiatrisch-Neurologische Wochenschrift“).

**) Es soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass Herr Sanitätsrat Dr. Berkhan aus Braunschweig, eines der ältesten Mitglieder der Konferenz, sich gerade in Elberfeld über die Fortschritte und Leistungen der Konferenzen während der letzten Jahrzehnte in sehr aner- kennenden Worten äusserte.

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licher Anfragen kann, soweit die Ausbildung, das äussere Verhalten u. s. w. des Pfleglings in Frage kommt, dem Unternehmer oder der mit dem Unter- richte betrauten Person, in geeigneten Fällen im Einvernehmen mit dem Arzte, überlassen bleiben.

Auch kann die für Kranke im Alter unter 18 Jahren im $ 22 Nr. 4 vorgesehene Bestimmung, betreffend Benrlaubungen auf in solchen Anstalten verpflegte Kranke im Alter über 18 Jahre ausgedehnt werden.

Die Befugnisse, Ausnahmen von der Bestimmung im $ 19 Nr. 3 über das Wohnen des Arztes in der Anstalt zu genehmigen, wird dem Regierungs- Präsidenten übertragen.

Vorstehende Anordnungen finden entsprechende Anwendung auf Anstalten, in welchen Epileptische unter ähnlichen Verhältnissen, wie in den oben cr- wähnten Anstalten, verpflegt werden, jedoch mit der Massgabe, dass die er- forderliche Genehmigung dem mitunterzeichneten Minister der Medizinal- Angelegenheiten vorbehalten bleibt.

Ferner bestimmen wir, dass diejenigen Anstalten, welche nur Kranke unter 18 Jahren verpflegen, für welche also die Ausfüllung des der An- weisung beigegebenen statistischen Formulars C ($ 21 Nr. 5 der Anweisung) bisher nicht vorgeschrieben ist, bis zum 8. Januar jeden Jahres dem zu- ständigen Kreisarzte eine Anzeige in 2 Exemplaren einzureichen haben, in welcher die Zahlen des Bestandes, des Zugangs und des Abgangs im letzten Jahre bei dem Abgange getrennt nach Entlassung und Tod aufzu- führen sind und zugleich anzugeben ist, wie viele der Verpflegten auf private und wieviele auf Öffentliche Kosten untergebracht waren. Der Kreisarzt hat ein Exemplar der Anzeige an Ew. Hochwohlgeboren weiterzureichen.“

Wider Erwarten sind damit die Wünsche der Anstaltsleiter in Erfüllung gegangen. Wenn die Angelegenheit auch nicht durch eine allgemeine Verfügung definitiv geregelt wurde, so ist jetzt doch den einzelnen Anstalten die Möglich- keit gegeben, durch besondere Eingaben an die zuständigen Regierungspräsidenten sich von den Bestimmungen des Abschnitts A frei zu machen.*) Bereitet die Besuchskommission, die der Regierungspräsident vor der Genehmigung hören soll, in den einzelnen Fällen keine Schwierigkeit eine Möglichkeit, die nicht ganz ausser acht gelassen werden darf so wäre damit ein langjähriger Konflikt, der eine ganz respektable Reihe von Konferenzen, Eingaben, Denk- schriften, Audienzen u. s. w. im Gefolge hatte, zu einem gewissen Abschluss gekommen.

Freilich die Frage, ob ärztliche oder pädagogische Oberleitung, ist damit keineswegs aus der Welt geschafft Diese dürfte noch oft die Gemüter be- schäftigen und wird wohl erst dann ganz von der Tagesordnung verschwinden,

*) Diese Eingaben wurden bereits im November v. J., also bald, nachdem die erwähnte Audienz beim Herrn Minister stattgefunden hatte, von den einzelnen Anstalten nach einem von der Schriftleitung ausgegebenen Vorgang eingereicht. Als Antwort ging denselben der oben abgedruckte Ministerialerlass vom 25. Januar 1902 zu.

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wenn die Ärzte in die nach ihrer Meinung ausschliesslich angezeigte Stellung unseren Anstalten gegenüber eingerückt sind. Denn dass die medizinischen und namentlich psychiatrischen Fachorgane immer wieder Einspruch erheben werden, wenn „Geisteskranke“ (und zu diesen werden trotz unserer Proteste eben auch die Idioten gerechnet) einer anderen als der unmittelbaren Aufsicht des Arztes übergeben werden, ist mit ziemlicher Sicherheit anzunehmen *) Das An- sehen, das die medizinische Wissenschaft augenblicklich in der Öffentlichkeit geniesst, ist nun einmal im Steigen begriffen, und damit wächst auch der Ein- fluss, den die Medizin auf den einzelnen Gebieten auszuüben vermag. Und nament- lich die Psychiatrie wieder ist es, die zur Zeit mit ihren Theorien vom gesunden und kranken Geistesleben immer aufklärender und umgestaltender auf die dies- bezüglichen volkstümlichen Anschauungen einwirkt, was umgekehrt zur Folge hat, dass auch ihr immer grösseres Vertrauen entgegengebracht wird. Man hat es bier mit einer ausser allem Zweifel segensreichen Strömung in der allgemeinen kulturellen Entwicklung zu thun, der man sich nicht aus beruflichem Sonder- Interesse oder weil ihr Wellenschlag neben dem morschen Alten auch einzelnes Gute umzureissen droht, entgegenstemmen darf. Mitschwimmen, auch wenn die Strudel manchmal über dem eigenen Kopfe zusammenschlagen, soviel als möglich davon profitieren und einzelne Bächlein auf die eigene Mühle leiten, das ist in solchen Fällen immer das Vernünftigste. Jetzt, nachdem uns die Regierung so grosses Entgegenkommen gezeigt hat, müsste es unsere Aufgabe sein, das Misstrauen gegen die Ärzte, wo es in unbegründeter Weise vor- handen ist, niederzukämpfen und dieselben zu einem friedlichen Wettstreit auf dem Gebiete der heilpädagogischen Pflege und Erziehung zu gewinnen suchen. Halten wir dabei in unermüdlichem, selbstlosem Streben die Fahne unserer Wissenschaft nur immer hoch, so braucht es uns um die Führerschaft und Ober- leitung im eigenen Hause nicht bange zu sein. Nur durch tüchtige, hervor- ragende Leistungen vermögen wir unserem Wirken in der Öffentlichkeit die nötige Achtung zu verschaffen, und nur wenn unsere heilpädagogische Gesamt- arbeit sowohl in theoretischer wie praktischer Beziehung sich als innerlich ge- festigtes, planvoll gegliedertes, aber doch einheitlich verbundenes Gebäude repräsentiert, wird sie sich dauernd einer einseitigen medizinischen Bevormundung erwehren können.

Vorläufig haben wir aber diese Ziele noch nicht erreicht. Denn dass unser Austalts-Unterrichtswesen in seiner Gesamtheit nicht das Bild darbietet, das es darbieten könnte, ist eine Thatsache, an der sich auch durch einzelne rühm- liche Ausnahmen nichts ändern lässt. Die Anstalten, in denen mit wirklich

*) Diese Vermutung hat sich bereits mehrfach bestätigt. Bekannt sind die zwei Artikel der „Kölnischen Zeitung‘ und des „Berliner Tageblattes‘‘, welche beide namentlich der letztere in fast gehässiger Weise gegen unsere Anstalten kritisieren. Eine Erwiderung auf den ersten Artikel, die aufzunehmen die Kölnische Zeitung sich weigerte, ist in der letzten Nummer dieser Zeitschrift abgedruckt. Übrigens werden sich solche Angriffe in der nächsten Zeit an- lässlich der geplanten und augenblicklich vielbesprochenen reichsgesetzlichen Regelung des Irrenwesens sicher wiederholen.

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pädagogischem Ernste gestrebt und nach jeder Richtung mit Volldampf gearbeitet wird, sind entschieden in der Minderzahl, und da, wo man den Pulsschlag des geistigen Lebens auf einem ganzen Gebiete für gewöhnlich am deutlichsten und unmittelbarsten zu fühlen bekommt Litteratur und öffentliche Versamm- lungen kann man bei uns keineswegs den Eindruck gewinnen, als ob ein voller Strom warmer Begeisterung und ernster Hingabe die gesamte Lehrer- schaft unserer Idiotenanstalten durchkreise.

Auf all die Ursachen dieser Erscheinung näher einzugehen, kann an dieser Stelle nicht die Aufgabe sein, Aber auf einzelne Punkte, die gewöhnlich nicht ernst genug genommen werden, sei doch hingewiesen. Ein Hauptgrund, warum wir ein einheitliches, gutorganisiertes, scharf ausgeprägtes Anstalts-Unterrichts- wesen noch nicht haben, liegt darin, dass es uns überhaupt an einem abge- schlossenen Kreis ökonomisch selbständiger, reiner Unterrichtsanstalten mangelt. Die übliche unmittelbare Verbindung zwischen Pflegehäusern und Erziehungs- anstalten hat der Schularbeit der letzteren noch nie Segen gebracht. Wo man auch hinblickt, fast immer ist in jenen grossen Anstalten, die Geistesschwache jeglichen Grades aufnehmen, die Schule stiefmütterlich in den Hintergrund ge- drängt Es kann ja auch gar nicht anders sein. Denn bis eine solche oft mehrere hundert Insassen fassende Anstalt von einem Leiter in ökonomischer Hinsicht überwacht und in Ordnung gehalten ist, kann bei diesem zur Ausübnng eines speziellen praktischen Schulinteresses nicht mehr viel Zeit und Kraft übrig bleiben. Man stelle sich nur einmal vor, welche unendliche Aufmerk- samkeit und Mühewaltung allein ein einziges Haus reiner Pfleglinge erfordert: an was da alles zu denken ist, wofür da immer gesorgt werden muss, bis jedem der Kranken in jeder Hinsicht volle Genüge gethan und das Haus äusserlich in täglicher Ordnung erhalten ist, bis man sich das Personal einigermassen erzogen und ihre oft nicht geringen Mängel und Schwächen ausgeglichen hat, unge- rechnet der vielen ausserordentlichen Vorkommnisse, die immer besondere Be- achtung beanspruchen, zu denen sich dann schliesslich noch auf dem Amts- zimmer ein Häuflein kürzerer und längerer Briefe von Angehörigen der Pfleg- linge gesellt, die alle baldiger Erledigung harren! Und nun soll derselbe Mann mit ungeteilter Teilnahme in der Schule vor seinen Kindern stehen, soll für die geistige Entwicklung sämtlicher ihm anvertrauten Schüler fortwährend ein offenes Auge haben, soll in den einzelnen Klassenzimmern Direktiven geben und den gesamten Schulorganismus überwachen, soll für allgemeine pädagogische Fragen ein dauerndes Interesse besitzen, bei methodischen Erörterungen jeder- zeit auf Grund unmiittelbarer Erfahrungen mitsprechen können und bezüglich der Fachlitteratur immer auf dem Laufenden bleiben! Nicht selten macht sich in solchen Anstalten auch irgend ein Industriezweig oder die Ökonomie der- massen breit, dass der Unterrichtsapparat darunter notleidet oder wenigstens gestört wird. Soviel dürfte wohl ausser allem Zweifel sein, dass die pädagogische Arbeit, wenn sie nicht die Seele einer in sich abgeschlossenen Anstalt aus- macht, wenn sie nicht von der gesamten Einrichtung unterstützt und getragen wird, wenn nicht der Herr des Hauses auch zugleich Herr der Schule nicht

151 bloss dem Namen nach! ist, dass sie in solch ungesunden Verhältnissen nicht gedeihen kann. Ist einmal eine Schule eingerichtet, so müssen auch alle Kräfte im Hause, des Leiters, der Lehrer, des Wartepersonals u. 8. w., sich auf sie konzentrieren und um sie kristallisieren.

Asyle für Bildungsunfähige und Unterrichtsanstalten gehören ihrem innersten Wesen nach nicht zusammen, weil sie verschiedene Ziele verfolgen. Uns gehört das pädagogische Arbeitsfeld und auf das sollten wir uns beschränken. Dann nur können wir die Prinzipien der Heilpädagogik rein und unverwischt durch- führen und ibre Rechte nach anderen Seiten hin kraftvoll vertreten. Die Pflege- häuser dagegen liegen viel mehr in der Nähe des ärztlichen Wirkungskreises. Auf sie hat die Psychiatrie auch in erster Linie ihr Augenmerk gerichtet. Nur weil die Unterrichtsanstalten gewöhnlich mit jenen verbunden sind und mit ihnen in eine Linie gestellt werden, bekommen sie die medizinischen Einflüsse in der bekannten einseitigen Weise zu fühlen.

Freilich mit der Sonderstellung der Unterrichtsanstalten ist es nicht allein gethan. Es muss sich damit noch die Sorge für ein tüchtiges Lehrpersonal ver- binden. Das ist ein Punkt, in welchem in unseren Anstalten schon sehr viel gesündigt wurde und teilweise jetzt noch gesündigt wird. Man sollte es kaum für möglich halten, aber ihatsächlich giebt es beute noch Anstalten, welche glauben, mit Lebrerwärtern, Brüdern, Schwestern u. s. w. ihrer pädagogischen Aufgabe Genüge leisten zu köunen. Es kann nicht immer und immer wieder das schon dutzendmal Gesagte wiederholt werden, dass die erzieherische Beein- flussung des geschwächten kindlichen Seelenlebens ganz besonderer Sorgfalt be- dürfe, dass dazu ein besonders hoher Grad geschulter psychologischer Einsicht und hervorragende methodische Geschicklichkeit nötig sei und dass man sich schwer an unsern Kindern vergehe, wenn man sie dem nächsten besten Bruder oder Wärter anvertraue. Wem diese Binsenwahrheit noch nicht klar geworden ist, und wer noch den Mut hat, Öffentlich von den besonderen Vorzügen seiner Lehrerwärter zu reden, dem ist eben nicht zu helfen.

Nun ist es seit einigen Jahren den preussischen Anstalten durch den in den früheren Nummern dieser Zeitschrift mehrmals besprochenen $ 11 des neuen Lehrerbesoldungsgesetzes allerdings fast ganz unmöglich gemacht, geprüfte, staatlich anerkannte Lehrkräfte für ihre Arbeit zu gewinnen. Aber und das war eben das Merkwürdige nicht ein einziger der Anstaltsleiter fühlte diesen Übelstand in dem Masse, dass er sich zu einem entsprechenden Vorgehen veranlasst gesehen hätte; und wäre diese Frage schliesslich nicht von den Anstalts- lehrern selbst öffentlich angeregt und auf die Tagesordnung gebracht worden, ganz sicher würde diese Angelegenheit heute noch ruben, obwohl jener $, wie man hintennach eingesehen hat, den „Lebensnerv unserer Anstaltsschulen zu durchschneiden droht.“ Ja noch mehr: Hätte nicht Direktor Schwenk-Idstein im letzten Augenblicke noch diese Sache ergriffen und auf der Konferenz in Elberfeld vertreten, wer weiss, ob der $ 11 dort nicht einfach „vergessen“ worden wäre, trotzdem er bereits in 3 Artikeln unseres Fachorgans (darunter sogar ein

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offener Brief „An den Vorstand der Konferenz zu Elberfeld!) der gemeinschaft- lichen Beratung dringend empfohlen worden war.*)

Sind seminaristisch geschulte Lehrkräfte in genügender Anzahl vorhanden, so muss des Anstaltsvorstelers vornehmste Aufgabe die sein, die unter seiner Leitung Arbeitenden für den neuen Beruf zu erwärmen und sie mit dem lebendigen Geiste ernster, liebevoller Hingabe zu beseelen, dem Einzelnen mit Rat und That helfend und fördernd zur Seite zu stehen und das ganze Kollegium zu einem einheitlich wirkenden Organismus zusammenzuschmelzen. Ich kenne eine Taubstummenanstalt, in der in bestimmten Abständen vom Leiter sowohl als auch von den einzelnen Lehrern und Lehrerinnen abwechslungsweise Lehrproben gehalten werden, an die sich jedesmal eine eingehende Kritik anschliesst; ebenso finden dort regelmässige Konferenzen statt, in denen spezielle Erfahrungen aus der laufenden Schularbeit oder in der Behandlung einzelner Kinder, sowie all- gemeine methodische und pädagogische Fragen einer gemeinsamen Besprechung unterzogen werden. Wer nennt auf Seiten unserer ldioten-Unterrichtsanstalten ein Gegenstück hierzu ?

Wichtig ist auch die Stellung, die der Lehrer seinem Vorgesetzten sowie den andern Mitarbeitern in der Anstalt gegenüber einnimmt. Die Gefahr, in dem meist absolutistisch regierten Kleinstaate der Anstalt in zu grosse Ab- hängigkeit vom Vorsteher zu gelangen, ist nicht gering; ebenso ist es nicht immer leicht, die möglichen Extreme im Verhalten gegen das übrige Anstaltspersonal durch richtigen Takt glücklich zu vermeiden. Als Glied der ganzen Anstalts- familie und eine Ausnahmestellung sollte er auf keinen Fall einnehmen wird sich der Lehrer den allgemeinen Sorgen und Pflichten derselben nicht ganz entziehen können und auch nicht wollen; aber zum Büreaugehilfen, zum Oberwärter, Krankenpfleger, Ökonomieverwalter sollte er nicht herabsinken.**)

*) Die Schritte, die inzwischen seitens des Vorstandes in dieser Angelegenheit gethan wurden, sowie die hierbei erzielten Erfolge wurden bereits in der Nummer 3 dieser Zeitschrift unter: „Die Schulen der privaten Wohlthätigkeitsanstalten in Gefahr!“ bekannt gegeben-

**) Dies darf jedoch nicht so verstanden werden, als ob der Lehrer sich überhaupt um solche Sachen nicht kümmern soll und als ob er es selbst in Ausnahmefällen unter seiner Würde halten müsse, auf jenen Gebieten helfend Hand mit anzulegen. Vom Stand- punkt der Anstaltsfamilie aus betrachtet wäre das nicht nur ganz undurchführbar, sondern auch höchst lächerlich. Wenn dagegen dem Lehrer neben seiner Hauptaufgabe noch eine Menge anderer Pflichten auferlegt werden, die nicht nur dem Erziehungs- berufe völlig fernliegen, sondern die auch bezüglich ihres Umfanges recht wohl eine besondere Kraft zu beschäftigen im stande wären, so ist das eine ungerechtfertigte Ein- schnürung des pädagogischen Interesses, die sich in der Praxis immer rächen wird. Ein lieber Freund, der ebenfalls in einer Anstalt arbeitet, neben seiner Schule aber auch noch den Posten eines Hausvaters zu versehen hat, erzählte mir einmal gelegentlich einer Unterhaltung, dass die Pflichten und Sorgen, die seine Aufgabe als Hausverwalter mit sich bringe, doch immer ihre Schatten in die Schulstube würfen, dass er nur selten mit einen wirklich freien und fröhlichen Sinn vor seine Kinder treten könne und dass er das immer als eine Schädigung seines pädagogischen Wirkens empfinde. Und das ist einer, der nicht nur seine Arbeit (auch die als Hausverwalter) mit viel Liebe und Eifer zu thun sich bemüht, sondern der auch mit keinerlei pedantischen und bureaukratischen Plackereien engherziger Vorgesetzter zu kämpfen hat.

Das würde nicht nur dem Ansehen seiner Person, sondern auch dem Ansehen seiner erzieherischen Arbeit sohaden. Es muss denı Lehrer genügende Zeit übrig bleiben zu einem eingehenden, fortlaufenden Fachstudium, zur eigenen Weiter- bildung auch in anderer als bloss beruflicher Beziehung und zur Erholung, lauter Momente, die insofern sehr wichtig sind, als sie ihn nicht in den Kleinlich- keiten und Widerwärtigkeiten des Schul- und Anstaltslebens versinken und ver- schrumpfen lassen und ihm die frische Spannkraft des Geistes und die ungetrübte Fröhlichkeit des Gemütes, die beim Idiotenlehrer nicht hoch genug anzuschlagen sind, erhalten. Aus demselben Grunde wäre es zu wünschen, dass den Anstalts- lehrern und -Lehrerinnen mehr als bisher Gelegenheit geboten würde, andere Anstalten und Schuleinrichtungen kennen zu lernen.*) Das bewahrt vor ein- seitiger Verknöcherung innerhalb der eigenen Schulwände, erweitert den Blick, regt an und trägt immer zur Aufmunterung und zur Erhöhung der Lehrfreudig- keit bei. Die pekuniären Unterstützungen, die dabei dem Einzelnen von der Anstalt gewährt werden, sind unbedeutend im Vergleich zu den idealen Früchten, die sie bringen können. Immer noch bin ich von solchen Reisen mit neuen Vorsätzen zurückgekehrt. Bald war es ein einzelnes Fach, für das ich frische Lust und Liebe zurückbrachte, bald irgend eine allgemeine pädagogische Forderung, die in den Vordergrund des Interesses geschoben werden war.

Ein weiterer, ebenfalls schon oft gerügter Übelstand in unseren Anstalts- schulen ist der häufige Wechsel des Lehrerpersonals.. Auf keinem Gebiete des Unterrichtswesens hängen die Erfolge so sehr von der praktischen Erfahrung und Tüchtigkeit des einzelnen Erziehers ab, wie auf dem unsrigen. Selbst wenn ein Lehrer in der Volksschule sich bereits den Ruf eines erfahrenen, umsichtigen,

*) Überhaupt wird nicht selten darüber Klage geführt, dass die jüngeren resp. nichtleitenden Anstaltslebrer unter sich in fast gar keinem Zusammenhange stünden und so wenig Gelegenheit hätten, zwecks gegenseitigen Gedankenaustausches und gemein- schaftlicher Interessenbethätigung miteinander in Verbindung zu treten. Das Be- dürfnis nach einem engeren Zusammenschlusse der Anstaltslehrer, das sich augen- blicklich wieder im Hinblick auf den $ 11 des Lehrerbesoldungsgesetzes in besonderer Weise fühlbar macht, wird gewöhnlich von den Anstaltsleitern auch anerkannt; sofort aber hört man auch die Frage: „Warum kommen Sie nicht auf unsere allgemeine Konferenzen?“ Diese Frage wäre an sich berechtigt, wenn nur nicht der nervus rerum hierbei eine so wichtige Rolle spielte. Die Konferenzreisen sind bekanntlich im all- gemeinen sehr kostspieliger Natur, wenigstens für das Portemonnaie eines Anstaltslehrers. Den Direktoren dagegen macht das meist weniger Sorgen, weil sie zwar nicht alle, aber doch weitaus die Mehrzahl von ihren Anstalten besondere Vergütungen erhalten. Bei den Anstaltslehrern gehen aber die Reisezuschüsse gewöhnlich wenn auch nicht überall aus. Man darf es ihnen also nicht gar zu sehr übel nehmen, zum mindesten nicht ausschliesslich auf Rechnung einer Interesselosigkeit setzen, wenn sie auf den Konferenzen so schwach vertreten sind. Könnte übrigens in dieser Beziehung sich nicht auf andere Weise etwas erreichen lassen? Allerdings müssten dann auch die Anstalts- lebrer und -Lehrerinnen sich mehr aus ihren verborgenen Anstaltsschlupfwinkeln ans Tageslicht hervorwagen, als dies bisher der Fall war, d. h. auf irgend welche Art zu- nächst einmal einander kundgeben, dass sie überhaupt existieren und dass sie schon ähnliche Wünsche gefühlt haben, wie die hier zum Ausdruck gebrachten. Wo dann ein Wille ist, dürfte sich am Ende auch ein Weg zu gegenseitiger Annäherung finden lassen.

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taktvollen und zielbewussten Praktikers erworben hat, bedarf es für ibn doch noch langer Erfahrung und Übung, bis er im stande ist, die geistig abnorme Kindesnatur mit ihren verschiedenartigen individuellen Mängeln und Gebrechen sicher und sachgemäss zu beurteilen und in jedem einzelnen Falle die richtigen Angrifispunkte für eine erfolgreiche erzieherische Behandlung zu finden. Das lernt sich nicht aus Büchern, das kann nur durch fleissiges, verständnisvolles Beobachten, Untersuchen, Vergleichen, Probieren u. s. w. angeeignet werden. Die beste Empfehlung für einen Idiotenlehrer ist seine praktische Erfahrung. Trotzdem darf die Zahl der Erfahrenen und Gereiften, die auf dem Arbeitsfelde der Idioten-Anstalts-Schulen ihre volle Kraft einsetzen und sich (NB!) nicht bloss mit dem Geben einzelner weniger Stunden begnügen, nicht überschätzt werden. Oft sind es kaum dem Seminar entlassene Leute, welche sich in die Anstalten melden, und die dann, ehe sie in dem neuen Berufe nur recht warm geworden sind und in praktischer Beziehung einigen festen Grund unter den Füssen gefunden haben, schon wieder ihr Bündel schnüren und den „düsteren Anstaltsmauern“ Valet sagen. Die Ursachen davon können verschieden sein: Entweder hat den Betreffenden das Anstaltsleben an sich nicht zugesagt oder fehlte es ihnen in ihrer Unterrichtsarbeit an der erwünschten Befriedigung oder wenn die vorigen Punkte nicht zutrafen -- bot ihnen die Anstalt nicht die genügende Garantie für eine sichere Existenz in derselben.

Es ist ja klar, dass nicht jeder Charakter und jedes Temperament in die eigenartigen Verhältnisse eines engen Anstaltslebens passt und ebenso steht es auch in Bezug auf die Unterrichtsarbeit bei Schwachsinnigen. Darum wird es immer Lehrer geben, die sich in einer Anstalt überhaupt nie wohlfühlen werden und können. Das befreit aber die Anstaltsvorsteher nicht von der Pflicht, im Interesse der ihnen anvertrauten Kinder und des heilpädagogischen Wirkens die tüchtigen Lehrkräfte einerlei, ob Männlein oder Weiblein den Anstalten so lang als möglich erhalten zu suchen. Bei der Erfüllung dieser Pflicht wird man namentlich die vorhin angegebenen drei Punkte im Auge behalten müssen.

Soll der Lehrer sich in der Austaltsfamilie bebaglich fühlen, so darf man ihm nicht nur die Pflichten eines Familiengliedes auferlegen, sondern man muss ihn auch an den gemütlich und geistig anregenden Gütern eines idealen Familien- lebens teilnehmen lassen. Mit anderen Worten: der Anstaltsleiter sollte nicht vor dem Opfer zurückscheuen, seinen Lehrern, soweit sie sich dessen würdig erweisen, die eigene Familie zu einem mehr oder weniger freien Verkehre zu öffnen. Dabei wird die „Hausmutter“ eine wichtige Rolle spielen müssen. Das „Ewig-Weibliche“ gilt überall als der Sonnenschein des Daseins; um so mehr sollte es da zu seiner erheiternden und erfrischenden Wirkuzg gelangen, wo Arbeiter sich auf einem Felde abmühen, das an der Schattenseite des Lebens liegt. Von solch einer Anstaltsmutter, die nicht nur ein Herz für die Kleinen, sondern auch für die Grossen hat, die neben ihrer Arbeit noch Zeit genug findet, sich teilnehmend um die mancherlei persönlichen Anliegen der Angestellten zu kümmern, die immer bereit ist, mit einem freundlichen Blick, einem ermanternden Worte die düsteren Wolken auf den Angesichtern zu zerstreuen, die es aber

155 auch versteht, mit sicherem Takte und feinem Verständnis nicht nur an der Er- ziehung der Unerzogenen, sondern auch an der Bildung (aber Herzensbildung nicht bloss äussere Scheinbildung!) der „Bereits- Erzogenen‘ mitzuwirken, von einer solchen Frau können reiche Ströme dauernden Segens in die Anstalt ausfliessen, und ein solcher Geist muss auch die düstersten Räume durchleuchten, durch- wärmen und freundlicher gestalten.

Aber auch die Schule braucht ihre Sonne, namentlich wenn dort graue Wolken den Frohsinn des Lehrers und seine Arbeitsfreudigkeit zu ersticken drohen. Und das sei der „Anstaltsvater.‘“ Sein voranleuchtendes Beispiel, seine unverwüstliche Schaffenslust, seine opferfreudige Hingabe, sein nimmermüder Fleiss müssen in den Herzen seiner Lehrer Funken der Begeisterung und des Nacheiferns schlagen, und von dem idealen Lichte seiner durchgeistigten Beruis- auffassung soll das gesamte Wirken um ihn her höhere Weihe und tieferen Ge- halt empfangen. Wenn freilich das Gegenteil der Fall ist, wenn öder Mechanis- mus und totes Schablonenwesen die ganze Arbeit beherrschen, wenn der Schul- organismus in dunpfer, begeisterungsloser Atmosphäre vorzugsweise ein nur vege- tatives Dasein fristet, wenn die Arbeiter Mietsknechte sind und in kalter, egoistischer Verschlossenheit aneinander vorbeischleichen, dann braucht es einen nicht wunderzunehmen, wenn ein junger, strebsamer Mensch, der noch Ideale in seiner Brust trägt und nicht Lust hat, sich als Toter bei Toten begraben zu lassen, der Anstalt deu Rücken kehrt und davonläuft.

Manchmal jedoch ist es auch die Unsicherheit der Stellung, was den Lelırer aus der Anstalt hinaustreibt. Die Errichtung mehrerer (nicht nur einer) definitiver, pensionsberechtigter Stellen müsste darum den Anstalten dringend empfohlen werden. Das wurde bis jetzt fast überall versäumt. Viele Anstalten sind der Meinung, dass definitive Lehrer, die nicht zugleich auch eine Hausvaterstelle oder einen ähnlichen Posten ausfüllen, eine Art Luxusartikel seien. Ja, nicht selten wird sogar der Hausvater im Lehrer höher geschätzt als der Pädagoge, und die Zahl der definitiven Lehrer richtet sich dann lediglich nach der Zahl der Hausverwalter-Stellen. In gewissem Sinne lässt sich letzteres ja vielleicht begreifen. Aber gegebenen Falls sollten sich die Anstalten doch auch dazu ent- schliessen können, aus rein pädagogischen Gründen und ohne jede Rücksicht auf vorhandene oder nicht vorhandene Nebenämter definitive Lehrerstellen zu schaffen. Denn es wäre eine arge Verkennung und Missachtung der heilpädagogischen Anstaltsaufgabe, wenn man ihr um ihrer selbst willen nicht grössere pekuniäre Opter bringen wollte, als die üblichen Gehälter für unständige Lehrer erfordern.

Ist es den einzelnen Anstalten auf die oben besprochene Weise gelungen, sich einen bleibenden Grundstock erfahrener Lehrer zu schaften, die in harmo- nischer Vereinigung die Ideen und Ziele der Anstaltspädagogik in sich verarbeiten und die Interessen derselben fördern und nach aussen vertreten, dann dürfte in diesen auch allmählich ein fröhliches und sicheres Standesbewusstsein erwachen und erstarken. Bis jetzt ist ja leider der „ldiotenlehrer“ noch kein Typus, der sich würdig an Blinden- und Taubstummenlehrer anschliesst; das wird auch der optimislischste Vertreter unserer heutigen Anstaltspädagogik nicht leugnen wollen.

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Wohl haben wir eine Konferenz, auf der sich die Leiter und Lehrer von Idioten- Anstalten als Vereinigung repräsentieren; aber ob auf derselben die Heilerziehung (nach ihrer theoretischen und praktischen Seite) als abgesondertes, scharfum- grenztes Spezialgebiet der pädagogischen Wissenschaft eine wirksame Vertretung findet und ob auf ihr namentlich ein spezielles, von regem, gemeinschaftlichen Streben getragenes Berufsbewusstsein zum kräftigen Ausdruck kommt, könnte trotz der hervorragenden Leistungen und der nachahmenswerten Begeisterung einzelner vielleicht fraglich erscheinen. Jedenfalls wäre das Bedürfnis nach einem engeren, organischen Zusammenschlusse nur pädagogischer Elemente leitende und nichtleitende, definitive und nichtdefinitive ein nicht unberechtigtes, wenngleich aus der augenblicklichen Sachlage nicht klar zu er- seben ist, wie einem solchen Bedürfnis event. Rechnung getragen werden könnte. Aber soviel ist sicher, dass die Schwachsinnigen-Pädagogik und namentlich das Anstalts-Unterrichtswesen durch ein enger organisiertes Zusammenwirken und Zusammengehen sämtlicher Anstaltslehrer und Anstaltslehrerinnen nur gewinnen würde und dass eine solche in sich gefestigte und nach aussen gewappnete Disziplin die sicherste Abwehr bildete gegenüber unberechtigten Ein- griffen von ärztlicher Seite.

Einige einfache Industriezweige der Anstalt Idstein. (Schluss.)

Noch ist zu bemerken, dass mit dem Eintrag, nachdem zum letztenmal auf der linken Seite umgekehrt wurde, wieder zurück nach rechts gegangen werden muss, dann rechts aufwärts, wo sich hinten das übrig gelassene Stück beim ersten Anfang des Zettels (am ersten Nagel) befindet. Dieses übrige Stückchen wird durch einige Streifen abwärts geflochten, damit es mit dem auf- wärtskommenden Schluss des Eintrags zusammengenäht werden kann.

Hierauf werden sämtliche Nägel ausgezogen, der am obern Teil des Leistes sich befindliche Spickel abgehoben und der Schuh vom Leist abgenommen. Sind nun beide Schuhe fertig, so werden sie auf derselben Seite, welche man beim Verfertigen aussen hatte, mit Wolle überzogen; ist dieselbe gut abgenäht, so wird der Schuh umgekehrt und ist zum Verkauf fertig.

Teppichflechterei.

Zum Teppichflechten wird dasselbe Material verwendet wie zum Schuh- machen. Der dazu erforderliche Rahmen ist aus harthölzernen Leisten mit 7 cm Breite und 3 cm Stärke hergestellt. Auf der oberen Fläche dieses Rahmens sind ringsum 3 cm vom inneren Rande entfernt Stifte eingetrieben. Diese Stifte sind zum Eindrücken der Endstreifen bestimmt und haben aus diesem Grunde keine Köpfe.

Die Teppiche werden bier in 3 Grössen angefertigt und dementsprechend sind auch die Rahmen:

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für Tischunterlagen 152 auf 92 cm, Bettvorlagen 120 „70, Pultvorlagen 82 „50 Der grösste Rahmen hat auf den Längsseiten je 100, auf den Breitseiten je 60, der mittlere 80 und 44, der kleine 54 und 32 Stifte

l. Fertigung des einfarbigen Teppichs.

a) Der Zettel: die etwa 15 mm breiten Tuchendstreifen werden der Länge nach auf den Rahmen gespannt und in die Stifte eingedrückt. Der Streifen geht je bis zum äusseren Rande des Rahmens.

b) Der Eintrag: Das Flechten oder Einziehen des Eintrags oder der Querstreifen beginnt bei den ersten bezw. letzten Stiften der Längsseiten des Rahmens, so dass die mitileren Querstreifen zuletzt eingezogen werden. Die Länge derselben entspricht der Breitseite des Rahmens.

2. Fertigung des gemusterten Teppichs.

Der bunte Teppich, der ein gefälligeres Aussehen hat, erfordert etwas mehr Aufmerksamkeit und Berechnung.

Nehmen wir die mittlere Grösse zum Beispiel.

a) Der Zettel: Die 44 Stifte werden etwa folgendermassen bespannt: links und rechts je 8 mit dunkelblau, dazu je 2 mit rot, je 8 mit grün und die mittleren 8 mit grau.

b) Der Eintrag: Bei diesem beobachtet man dieselbe Farbenfolge. Die Einteilung ist folgende: links und rechts je 15 dunkelblaue, dann je 2 rote, je 15 grüne und in der Mitte 16 graue Streifen. Abgesehen von der Berück- sichtigung dieser Farbenfolge wird hier beim Einziehen der Querstreifen genau so verfahren wie oben angegeben. Selbstverständlich können die Farben ganz willkürlich zusammengestellt werden.

Ist der Teppich fertig geflochten, so wird er genau beschnitten. Hierauf werden die äusseren Streifen provisorisch geheftet und der Teppich kann ab- gehoben werden. Derselbe muss alsdann noch zum Schluss am Endstreifen des Geflechts ringsum mit der Nähmaschine doppelt abgenäht werden.

Haben unsere Knaben in den eben aufgeführten und beschriebenen Hand- arbeitszweigen diejenige Fertigkeit erreicht, bei welcher fremde Hilfe nicht mehr nötig ist, dann sind sie in der Regel auch soweit gefördert, dass sie in leichtere Berufszweige aus dem Leben (Korbflechterei, Bürstenbinderei, Schneiderei, einfachen Buchbinderarbeiten, Gärtnerei, Anstreicherei etc.) mit Erfolg eingeführt werden können, denn die Voraussetzungen dazu sind dann in den meisten Fällen auch vorhanden. Die Zöglinge haben Ordnung und Pünktlichkeit gelernt; sie haben gelernt, ruhig bei der Arbeit zu sitzen und ihre ganze Aufmerksamkeit auf die- selbe zu konzentrieren; Fleiss und Ausdauer wurden erprobt, Auge und Hand geübt und auch das eigene Nachdenken angeregt, wodurch ganz gewiss die praktische Geschicklichkeit und freiere Selbständigkeit der Einzelnen vermehrt und gehoben wurde. Insofern die Knaben sich über ihre kleinen Leistungen

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freuten und sich anstrengten, bald wieder etwas fertig zu haben, wurde bei ihnen auch allmählich Lust und reges Interesse an der Arbeit wachgerufen, was gauz gewiss für ihre Weiterbildung von grosser Bedeutung ist.

Gewöhnlich haben sie diese Ziele erreicht, wenn sie auch in der Schule soweit gefördert sind, dass sie aus derselben entlassen werden können. Je nach- dem nun die körperliche Konstitution, die geistige Beanlagung und die Wünsche der Einzelnen sind, kommen die Zöglinge der Anstalt entweder in die Werkstätte für Korbflechterei, oder für Bürstenbinderei, Buchbinderei und wie diese alle heissen.

Idstein, im September 1901. Direktor Schwenk.

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Mitteilungen.

Leipzig. (Hilfsschule für Schwachbefähigte) In jedem Herb:te ver- öffentlicht die Hilfsschule zum Besten ihrer bedürftigen Kinder einen Jahresbericht. Zwar widmet auch der „Allgemeine Bericht über die städtischen Volksschulen zu Leipzig“, der alljährlich vom Vorsitzenden der Direktorenkonferenz erstattet wird, ihr einen besonderen Abschnitt, doch hat die Verteilung der erweiterten Sonderberichte, in denen auch wohlgesinnten Bürgern Kenntnis von der stillen Arbeit und der stetigen Fortentwickelung der Schule gegeben wird, sich als sehr erfolgreich erwiesen. Manches aus den seit dem letzten Referate im Jahrgange 1899 unserer Zeitschrift erschienenen Berichten darf wohl anf allgemeineres Interesse rechnen. So zunächst die Namens- änderung. Seit der Gründung am 19. November 1881 führte die Schule den Namen „Schwachsiunigenschule*“. Wiederholt hatten aber dio Stadtverordneten an- geregt, diese Bezeichnung als inhuman und abschreckend wirkend durch eine mildere zu ersetzen, aber immer hatte der Stadtrat diese Anregungen auf sich beruhen lassen, weil Weigerungen der Eltern, ihre schwachsinnigen Kinder in die Schwachsinnigen- schule zu schicken, nicht vorkamen und viele ihre schwachen Kinder aus eigenem Antriebe ihr zuführten endlich aber gab er den wiederholten Anträgen nach. So heisst die Schule seit dem 9. Mai 1899 „Hilfsschule für Schwachbefähigte“, doch dient sie noch derselben Sache wie früher. Sie giebt nicht etwa schwach befähigten Kindern der Volksschulen nur Nachhilfeunterricht, sondern will den ihr ganz anvertrauten schwachsinnigen Kindern eino ihren geringen Fähigkeiten entsprechende, möglichst allseitige Bildung übermitteln. Die Schülerzahl ist in den letzten Jahren un- gefähr auf gleicher Höhe geblieben. Das Schuljahr 1898/99 zählte 206 Kinder (122 Knaben und 84 Mädchen), das 1899/1900 199 Kinder (116 Knaben und 83 Mädchen). Ostern 1900 verliessen 23 Konfirmanden (17 Knaben und 6 Mädchen) die Schule, 2 Kinder verzogen nach auswärts und 4 mussten nach längerem erfolg- losen Besuche der Vorbereitungsklasse als bildungsunfähig entlassen werden; aufge- nommen wurden 24 Kinder aus Leipziger Volksschulen, 1 Knabe aus einer Hilfsklasse in L.-Plagwitz und 2 Mädchen, die bisher ohne Unterricht gewesen waren. Das Schuljahr 1900,01 begann mit 193 Kindern (107 Knaben und 86 Mädchen). Im Laufe des Jahres traten noch ein 8 Kinder aus städtischen Volksschulen, 5 von auswärts und 1 Mädchen, das noch keinen Unterricht genossen hatte, dagegen ver-

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zogen 6 Kinder nach auswärts, 1 Mädchen kam in eine Waisenkolonie, 1 Knabe in die Landesanstalt für Schwachsinnige in Grossliennersdorf, 1 Knabe in die Landes- anstalt für Epileptische in Hochweitzschen, 1 Knabe musste in die Erziehungsanstalt zu Bräunsdorf eingeliefert werden und 1 Mädchen erhielt körperlicher Schwäche wegen Privatunterricht Diese 193 Kinder wurden in 14 Klassen, von denen die 1. Kl. der 1., die 2. u. 3. Kl. der 2. die 4.—6. Kl. der 3., die ”.—11. Kl. der 4. und die 12.--14. Kl. der 5. Unterrichtsstufe angehörten, ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht, lediglich nach ihrer Leistungsfähigkeit verteilt. Die Klassen einer und derselben Stufe sind nicht genaue Parallelklassen, sondern die höhere hat auch immer etwas leistungsfähigere Kinder als die niedere; es werden darum wohl in ihnen im allgemeinen dieselben Stoffe behandelt, doch mit mancherlei Unterschieden hinsichtlich der Tiefe, des Umfanges und der Form der Darbietung. Von den neu eintretenden Kindern konnten eins der 2. Kl, eins der 5. Kl., zwei der 6. Kl.,, eins der 7. Kl., drei der 8. Kl., eins der 9. Kl., drei der 10. Kl., drei der 11. Kl, vier der 12. Kl. acht der 13. Kl. und acht der 14. Klasse zugewiesen werden.

Der Hilfsschule ist als Schulbezirk die ganze alte Stadt, die einver- leibten Ostvororte und das im Süden liegende Connewitz mit Lössnig zugewiesen, so dass der Schulweg bis zu °/, Stunde beträgt. Für die schwachsinnigen Kinder der einverleibten Westvororte bestehen 3 Hilfsklassen an der 24. Bezirksschule in L.-Plagwitz, die im Schuljahr 1900/01 von 32 Knaben und 11 Mädchen besucht wurden, und für diejenigen der nördlichen Stadtteile Gohlis und Eutritzsch an der 29. Bezirksschule 2 Hilfsklassen mit 23 Knaben und 9 Mädchen. Die für diese Klassen angemeldeten Kinder werden vor ihrer Anfnahme ebenfalls vom Leiter der Hilfsschule geprüft. Die Aufsicht über die betr. Klassen liegt aber dem Direktor derjenigen Schule ob, an denen sie errichtet sind.

Da ausser den höheren Bürgerschulen, in denen Französisch erteilt wird, sämt- liche Leipziger Volksschulen mittlere im Sinne des sächsischen Volksschulgesetzes sind, die sich in Bürger- und Bezirksschulen teilen, für die im allgemeinen bei gleichen Stundenzahlen derselbe Lehrplan gilt und die sich nur nach der Höhe des zu zahlenden Schulgeldes (in Bezirksschulen jährlich 4,80 Æ, in Bürgerschulen 18 Æ) unter- scheiden, so dass also die Bürgerschulen von Kindern besser situierter Eltern besucht werden, so lässt sich schon aus der Art der Schule, aus der die schwachsinnigen Kinder kommen, ein Schluss auf die häuslichen Verhältnisse ziehen. Vor ibrem Eintritte in die Hilfsschule hatten Bezirksschulen 146 Kinder (82 Knaben und 64 Mädchen), Bürgerschulen 39 (19 Knaben und 20 Mädchen) und den höheren Bürgerschulen nur 1 Knabe angehört. Da die Bezirksschulen der der Hilfsschule zugewiesenen Stadtteile im Schuljahr 1900/01 von 12811 Knaben und 13977 Mädchen, pie Bürgerschulen aber von 8218 Knaben und 8486 Mädchen besucht wurden, so kamen in den Bürgerschulen auf je 434 Knaben 1 schwachsinniger, auf je 424 Mädchen 1 schwachsinniges, überhaupt auf je 429 Kinder ein schwachsinniges, in den Bezirks- schulen dagegen schon auf je 157 Knaben 1 schwachsinniger, auf 219 Mädchen 1 schwachsinniges oder auf je 184 Kinder 1 schwachsinniges. In sämtlichen Schulen des Hilfsschulbezirks kamen auf 209 Knaben 1 schwachsinniger, auf 268 Mädchen 1 schwachsinniges oder überhaupt auf je 224 Kinder 1 schwachsinniges. Zieht man

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die Kinder der übrigen 5 Hilfsklassen mit inbotracht und vergleicht sie mit der Schülerzahl sämtlicher städtischer Volksschulen (30 927 Knaben und 32 719 Mädchen), so ist unter je 191 Knaben 1 schwachsinniger, dagegen erst unter 314 Mädchen 1 schwachsinniges und überhaupt unter 239 Kindern 1 schwachsinniges Kind. Da man wohl nicht annehmen kann, dass die Lehrer bei der Ausscheidung schwachsinniger Mädchen milder verfahren als bei Knaben, so scheinen diese Zahlen zu beweisen, dass der Schwachsinn bei Mädchen überhaupt seltener vorkomme als bei Knaben. Ein Vergleich der beiden Gruppen ehemaliger Bürger: und Bezirksschüler (auf 429 resp. 184 1 schwachsinniges Kind) lässt aber auch erkennen, dass missliche häusliche Verhältnisse, mangelhafte Wohnungen, dürftige Ernährung, Alkoholismus, schlechte elterliche Beaufsichtigung und Pflege etc., wie sie bei der ärmeren Bevölkerung, die ihre Kinder in die Bezirksschulen schickt, häufiger vorkommen, die Entstehung des Schwachsinns begünstigen.

Der allgemeine Körper- und Gesundheitszustand der meisten Kinder der Hilfsschule lässt sehr viel zu wünschen übrig. Viele sind im Wachstum zurückge- blieben, einige leiden an Lähmungen einzelner Glieder, andere zeigen abnorme Schädel- bildung oder Muskelschwäche, manche sind schwerhörig oder kurz- und schwachsichtig, einer sehr grossen Zahl fehlt infolge von Blutarmut, Skrofulose, Rhachitis, Nerven- schwäche oder anderen chronischen Leiden die Frische und Kraft des Körpers, die Heiterkeit des Gemüts und die Regsamkeit des Geistes. Der Schularzt fand bei der Untersuchung 75 Kipder als einer täglichen Milchspende höchst bedürftig und 83 andere als sehr bedürftig, zusammen also 158 oder 82 °/, aller Kinder. Die geringe Widerstandskraft des Körpers erliegt sehr schnell den Einwirkungen ungünstigen Wetters oder kleinen Fehlern in der Ernährung und verursacht zahlreiche Schul- versäumnisse wegen leichter Erkrankungen. 3707215, versäumte Tage, also bei einem Schülerbestande von 198 Kindern etwa 8 °/, aller Schultage waren im letzten Jahre zu verzeichnen. Durchschnittlich konnte jedes Kind die Schule an 191/, Tagen nicht besuchen gewiss eine hohe Zahl im Vergleiche zu den Versäumnissen normaler Schüler und eine eindringliche Mahnung dazu, durch Pflege des Körpers und Hebung des Gesundheitszustandes die unerlässliche Grundlage für eine gedeihliche Einwirkung auf den Geist zu schaffen. Von welch heilvollem Einflusse die dahin- zielenden Einrichtungen der Hilfsschule auf ihre Zöglinge bei längerem Besuche waren, zeigt das Sinken der durch Unpässlichkeiten veranlassten Schulversäumnisse von 13 °/o aller Schultage in den untersten auf 8°, in den Mittelklassen und 3!/,°/, in der 1. Klasse.

Jede Klasse hat täglich von 8—12 Uhr und dreimal von 2—4 Uhr, also wöchentlich 30 Stunden Unterricht. Da die Unterrichtsfächer möglichst im allen Klassen gleichzeitig betrieben werden, so werden die Kinder nach ihrer Begabung für die verschiedenen Disziplinen zwischen den einzelnen Klassen ausgetauscht. Die Ge- schlechter werden getrennt im Turnen und in Handarbeiten. Im Turnen werden die Knaben der oberen 4 Klassen unter 2 Lehrern vereinigt und ebenso die Mädchen, sonst turnen immer die Knaben und Mädchen zweier benachbarter Klassen unter je einem Lehrer. Die mit feinerem, musikalischem Gehöre und guter Singstimme begabten Kinder der oberen 4 Klassen übten ausser in ihrer Klassensingstunde noch wöchent-

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lich zweimal gemeinsam unter Leitung eines Lehrers auch schwerere Volkslieder und zweistimmige Gesänge. Es wurden dabei recht gute Erfolge erzielt, sodass die Weih- nachtsfeier durch den ausdrucksvollen Vortrag entspiechender Gesänge würdiger gestaltet werden konnte. In jeder Klasse werden wöchentlich 3/2 Stunden Sprechübungen vorgenommen, wodurch die vielen sprachleidenden Kinder zu geregelter Atmung, zur Herrschaft über ihre Sprachorgane und zu richtiger Aussprache der einzelnen Laute und Lautverbindungen gelangen, oder wodurch sie an grammatisch richtiges Sprechen gewöhnt werden sollen. Es waren immer 25--30;/, der Kinder Laut-, Wort- oder Satzstammler und etwa 5°/, Stotterer, namentlich erscheint die lallende und stam- melnde Sprache der Kinder der untersten Klassen nicht selten Fremden unverständlich. Wurden nun auch in diesen Sprechstunden und durch konsequentes Fördern einer möglichst korrekten Sprache im übrigen Unterrichte und im Umgange eine Reihe Sprachgebrechen beseitigt und das Sprachgefühl der Kinder entwickelt, so war es doch nötig, schwerere Fälle in besonderen Sprachheilkursen zu behandeln. Diese wurden von 2 Lehrern, die auf Kosten der Stadt in Berlin bei Dir. Gutzmann einen Lehr- kursus über Sprachstörungen besucht hatten, während des letzten Winterhalbjahres an 3 Nachmittagen von 3—4 Uhr in der Weise abgehalten, dass der eine die Stotterer, der andere die Stammler nahm. In der Erkenntnie, dass die Sprachfähig- keit für das spätere Fortkommen von grösster Bedeutung ist, wurden diese Kurse von den Eltern recht dankbar begrüsst und trotz der grossen Zahl der Teilnehmer und der Hindernisse, die der geistige Zustand und die Schwerfälligkeit der Sprachorgane mancher Kinder einer bewussten Einübung der Laute entgegenstellen, waren die Erfolge recht erfreuliche, sodass diese Sprachheilkurse jetzt in 4 Abteilungen von 4 Lehrern erteilt werden.

Als ein Fortschritt im inneren Ausbau der Hilfsschule erwies sich die Horstellung eines eigenen Lesebuches, das vom Lehrerkollegium gemeinsam bearbeitet wurde und dank des stets bewiesenen Wohlwollens der städtischen Behörden, die einen Be- trag von 1300 Mk. zum Zwecke der Drucklegung bewilligten, in zwei Teilen von je 10'/, Druckbogen Umfang im Verlage der Dürr’schen Buchhandlung erschien. In diesem Iesebuche, das aus dem Bedürfnisse der Hilfsschule erwachsen ist und ihrem Lehrplane sich eng anschliesst, hat sie ein lange entbehrtes Lehrmittel erhalten, das auch schon in anderen Hilfsschulen und Idiotenanstalten eingeführt worden ist.

Sehr bewährt hat sich die Einführung von regelmässigen Beschäftigungsstunden für die Kinder derjenigen Eltern, die sich tagsüber um ihre Kinder nicht genügend kümmern können. Wie ın Knaben- und Mädchenhorten stehen diese Kinder Montags und Mittwochs bis um 4 Uhr unter Obhut ihrer Lehrer, erhalten Nachhilfe in dem, was ihnen besonders schwer fällt oder in den Unterrichtsstunden nicht recht deutlich geworden ist, fertigen ihre Schulanfgaben, üben sich in leichten Handarbeiten, erfreuen sich an belehrenden Spielen oder kräftigen ihren Körper durch Bewegungsspiele im Freion, Etwa 70°/, aller Kinder nabmen regelmässig an diesen freiwilligen Stunden teil und wnrden dadurch nicht nur vor den verderblichen Einflüssen des Strassen- lebens bewahrt, sondern fanden auch angemessene Bethätigung ihrer Kräfte und Gewöhnung an gute Sitten und Gebräuche,

Die Konfirmanden werden im Sommerhalbjabre durch 2 Lehrer in wöchentlich

2 Nuchhilfestunden vorbereitet. Während sie aber früher den eigentlichen Konfir- mandenunterricht bei den Geistlichen der Parochie ihres Wohnbezirks gemein- schaftlich mit den normalen Kindern erhielten und daher nur geringen Nutzen davon haben konnten, erhalten sie denselben seit 2 Jahren abgesondert von den anderen in der nahen Johanniskirche gemeinsam bei einem Geistlichen und wurden von diesem auch konfirmiert und zum heiligen Abendmahle geführt. Eltern und Lehrer empfinden diese Wohlthat eines dem geistigen Vermögen der Kinder entsprechenden Konfirmanden- unterrichts recht dankbar. An der Konfirmationsfeier beteiligte sich das ganze Lehrer- kollegium, auch die Angehörigen der Einzusegnenden (Ostern 1901: 37) waren so zahlreich gekommen, dass eine recht ansehnliche Gemeinde den wohlthuenden und mahnenden Worten des Geistlichen lauschte.

Bei den Mittagsspeisungen, die für die entfernt wohnenden Kinder an den ersten 5 Wochentsgen stattfinden, wurden im letzten Schuljahre an 195 Tagen 17497 Teilnehmer, durchschnittlich jeden Tag 90 gezählt. Es wurden 8990 Doppel- portionen für 2249,80 Mk. verabreicht, wovon 430,10 Mk. durch eingegangene Speise- gelder der Kinder beglichen, der Rest von 1819,70 Mk. durch städtischen Zuschuss gedeckt wurde. Nach Tische führten je 3 grössere Mädchen abwechselnd unter An- leitung der Frau des Schulaufwärters das Abdecken der Tafeln, das Abwaschen der Teller und Löffel und das Ordnen des Speisezimmers aus und wurden dadurch, soweit es unter den gegebenen Verhältnissen möglich ist, auch an hauswirtschaftliche Arbeiten gewöhnt. Die übrigen Kinder beschäftigten sich während der Mittagsstunden unter Aufsicht dreier Lehrer mit Spiel.

Durch private Wohlthätigkeit wurde es möglich, an 163 Tagen des letzten Jahres 24134, also täglich im Durchschnitt 148 Kindern, 25 080 Flaschen sterilisierte warme Vollmilch zu verabreichen. Die Ausgabe dafür betrug 1755,60 Mk., die Beiträge der Kinder brachten 502,183 Mk., die übrigen 1253,47 Mk. mussten aus den nach Verteilung der Jahresberichte eingegangenen milden Gaben (1898: 2104,50 Mk., 1899: 2381 Mk., 1900: 1969,50 Mk.) gedeckt werden.

In einer Weihnachtsboscherung, die mit einer von den Eltern der Kinder und vielen Freunden und Gönnern der Schule zahlreich besuchten, einfachen, würdigen Christfeier verbunden wurde, konnten jedes Jahr eine grosse Anzahl Kinder mit den nötigsten Kleidungsstücken, Schulsachen etc. erfreut werden, die ebenfalls von den Spenden opferwilliger Bürger gekauft wurden. Weihnachten 1898 wurden für 98 Kinder 815 Mk., 1899 für 95 Kinder 820,88 Mk. und 1900 für 86 Kinder 795,71 Mk. ausgegeben. Viel Segen wurde durch diese wohlthätigen Einrichtungen gestiftet, viel äussere Not und leibliche Schwäche dadurch gelindert.

Nicht minder günstig wurde das körperliche Wohlbefinden der Kinder beeinflusst durch öfteres Baden unter den Brausen und im Bassin des Marienbades. Die Knaben und Mädchen der mittleren und oberen Klassen nehmen daran so gern teil (manche haben dabei das Schwimmen gelernt), dass ausser den vom Rate gespendeten Frei- karten noch eine erhebliche Summe aus der Wohlthätigkeitskasse verwendet wurde, zumal mit der körperlichen Erfrischung immer auch eine grössere geistige Regsamkeit Hand in Hand ging. Ebenso brachten wiederholte Spaziergänge der Klassen in Wald und Flur und in den zoologischen Garten, die zwar in erster Linie unter-

163 richtlichen Zwecken dienten, durch die Bewegung im Freien, wohin sonst viele der Kinder nur selten kommen, körperliche Kräftigung. Auch die Vereine, die sich die Hebung des Gesundheitszustandes der Schuljugend zur Aufgabe stellen, nahmen all- Jährlich eine Anzahl Kinder der Hilfsschule in Ferienkolonien ins Gebirge oder ins Soolbad oder in Milchkolonien auf, woher sie sichtlich gekräftigt zurückkamen.

Den abgehenden Konfirmanden standen die Lehrer bei der Berufswahl mit Rat bei, bemühten sich um geeignete Meister, passende Geschäfte oder Herrschaften und besuchten sie später in der Lehre. Ausserdem schlossen sich am 4. Februar 1900 eine Anzahl angesehener, mitten im praktischen Leben stehender Bürger zu einem „Hilfsschulverein“ zusammen, der sich die Aufgabe stellt, die Konfirmanden der Hilfsschule für einen Erwerb ausbilden zu lassen nnd, wenn nötig, solange mit Rat und That zu unterstützen, als sie sich nicht selbst zu unterhalten vermögen. Jeder Knabe wird einem Pfloger, jedes Mädchen einer Pflegerin überwiesen, die ihrem Schütz- linge bis zur Entlassung aus der Vereinspflege zur Seite stehen. Zweimal sind nun schon je 7 Knaben von diesem Vereine in gute Lehrstellen und 1 Mädchen bei eiuer Herrschaft untergebracht worden. Ostern 1901 verliessen 39 Konfirmanden die Hilfs- schule. Von den 14 Mädchen wollte eins in eine Rüschenfabrik, eins in eine Familie als Dienstmädchen gehen, eins wird wohl immer von den Eltern verpflegt werden müssen, ohne nennenswerto Dienste leisten zu können, die übrigen 11 aber sollten die Mutter in der Hauswirtschaft und anderen Geschäften unterstützen. Einen Knaben wünschten die Eltern nach Ostern in eine Anstalt zu bringen, einer konnte wegen in letzter Zeit oft und heftig auftretender epileptischer Anfälle noch keinem Berufe zu- geführt werden, zwei andere sollten zunächst noch zu Hause bleiben, von den übrigen gingen 4 als Buchbinder, je 2 als Schneider, Tischler, Korbmacher, je einer als Glaser, Kistenbauer, Klempner, Dachdecker, Steindrucker und Former in die Lehre, vier orhielten Beschäftigung als Laufbursche und einer als Zeitungsträger.

Im Lehrerkollegium trat eine Veränderung ein, Herr Dr. Gündel folgte am 1. Dezember 1900 einem Rufe als Direktor an die Idiodenanstalt Rastenburg in Ost- preussen, an seine Stelle trat Herr Stephan, der früher an der Schröter’schen Erziehungsanstalt für geistig zurückgebliebene Kinder in Dresden gewirkt hatte.

Um auch fremde Einrichtungen kennen zu lernen, wurden in den letzten Jahren auf Kosten der Stadt von je 2 Lehrern die Konferenz für das Idiotenwesen ste. in Broslau, die Idiotenanstalten in Kraschnitz, Leschnitz, Liegnitz, Alsterdorf, Idstein und Darmstadt und die Hilfsschulen in Breslau, Altona Hamburg, Lübeck, Bremen, Kassel, Frankfurt a. M. und Mainz besucht. Auch die Leipziger Hilfsschule konnte eine sehr grosse Zahl Gäste aus dem In- und Auslande begrüssen, die zum Teil in mehrtägigem Besuche ihre Einrichtungen kennen zu lernen wünschten. Ausserdem wurden die Kinder in den Michaelisferien am 25. September 1899 auf 2 Stunden zur Schule ge- rufen, um durch Vorführung des Sängerchors, der Knaben der ersten 4 Klassen im Turnen und aller Klassen in verschiedenen Lektionen den Besuchern der 12. General- versammlung des sächsischen Lehrervereins Gelegenheit zu geben, einigermassen einen Einblick in den Stoff und die Art und Weise des Unterrichtsbetriebs zu geben. Eine Ausstellung der Hefte, Zeichnungen und namentlich der Handarbeiten der Knaben und Mädchen zeigte, was schwachsinnige Kinder bei rechter Anleitung in den ver-

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schiedenen Zweigen zu leisten vermögen und wie dadurch die Erwerbsfähigkeit im praktischen Leben angebahnt wird. R. B. Gera. (Hilfsschule und Heilkursus.) Die Hilfsschule besuchten im An- fang des Schuljahres 76 Kinder, 44 K. und 32 M., von denen 25, 16 K.und 9 M,, auf die Oberstufe, 22, 18 K. und 9 M., auf die Mittelstufe und 29, 15 K. und 14 M., auf die Unterstufe kamen. Im Laufe des Schuljahres traten 3 Kinder wegen Wegzugs der Eltern aus und 6 traten ein, sodass der Bestand am Ende des Schuljabres 73 betrug. Kurz nach Ostern wurden die neuaufgenommenen Kinder von dem Schularzte Dr. Ahlors wiederum gründlich untersucht. Die Untersuchung er- streckte sich namentlich auf Schädelbildung, Gesichts- und Gehörschärfe, Nase und Rachen, Lungen- und Herztbätigkeit. Hierbei wurde wieder ein hoher Prozentsatz an Skrofulose und Rhachitis leidende: Kinder festgestellt. Mit Degenerationszeichen fanden sich zwei Knaben, von denen der eine auffallend grosse, abstehende Ohrmuscheln, und der andere nur ein Auge hatte. Der Gesundheitszustand sämtlicher Kinder war im allgemeinen ein guter; nur einige Fälle von Masern und leider auch drei mit Parasiten kamen vor. An der Milchspende beteiligten sich 18 Zöglinge; jeder erhielt zu seinem Frühstück in der Zeit von Pfingsten bis zu den grossen Ferien ein Glas gute Milch. In die Ferienkolonie wurde ein Knabe, in die Stadtkolonie zwei Knaben und zwei Mädchen aufgenommen. Ein grösserer Schulausflug und kleinere Spaziergänge im Interesse des Unterrichts mussten hinsichtlich des Haftpflichtgesetzes leider unterbleiben. Hoffentlich tritt hier seitens der massgebendeu Behörde bald eine Regelung ein. Nur die Kinder der Oberstufe besuchten an einem schönen Vormittag im September des Schuljahres die Blumen- und Gartenbau-Ausstellung, den in der Nähe des Ausstellungsplatzes stehenden neuen „Kaiser Wilhelm-Turm‘“ und das „Waldhaus“. Die Weihnachtsfeier der Hilfsschule fand am Sonutag vor Weihnachten, abends 5 Uhr im Schulsaale der Mittelschule, in schöner und würdiger Weise statt. Zu dieser Feier hatten sich ausser dem Lehrerkollegium die Eltern, Geschwister und Verwandten der Kinder, Freunde und Gönner der Schule zahlreich eingefunden und füllten den im hellen Lichterscheine des Weibnachtsbaumes erglänzenden Sual. Nach einem aufgestellten Programm wechselten Deklamationen und Gesänge von Weihnachts- gedichten und -liedern seitens der Kinder ab; verschönt wurde die Feier wieder durch den Mädchenchor der Mittelschule. Konfirmiert wurden Ostern d. J. 9 Kinder, 6 Knaben und 3 Mädchen, von denen einer Bäcker, ein anderer Buchbinder werden will, zwei in eine Zigarrenfabrik und zwei in ländlichen Dienst gehen; die Mädchen übernehmen Aufwartungen. Es ist Pflicht der Schule, dass sio dio Kinder auch nach ihrer Entlassung in ihre Obhut nimmt und sie vor Entartung bewahrt. Der Unterricht wird in halbstündigen Lektionen erteilt. Der Lehrer der Unterstufe, Herr Krause, wird von Ostern ab ganz an der Hilfsschule beschäftigt und übernimmt dann die zu errichtende Vorstufe noch mit. Der 6. Heilkursus wurde vom 21. Oktober 1901 an abgehalten. Zu diesem Kursus wurden 14 grössere Knaben, im Alter von 10 bis 14 Jahren, zugelassen, während die jüngeren Stotterer für den nächsten Heilkursus zurückgestellt wurden. Die Übungsstunden fanden täglich von 4—5 Uhr in einem Unterrichtsraume der Hilfsschule statt. Bei Feststellung der früheren Krankheiten der stotternden Knaben wurden Diphtheritis, Scharlach, Masern, Croup, Keuchhusten,

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Gehirnerschütterung, Gehirnentzündung, Skrofulose und Nasenwucherungen von den Müttern angegeben. In vier Fällen hatte sich die Sprache sehr langsam entwickelt und das Stottern bald bemerkbar gemacht. In den übrigen Fällen war das Stottern später, im 6. und 7. Lebensjahre, also in den ersten Schuljahren, oder auch nach überstandener Krankheit aufgetreten. Bei den meisten Knaben wurden zwar die an- gegebenen Krankheiten als Ursache zum Stottererübel bezeichnet, jedenfalls hat aber auch die Ansicht des Profossors Denhardt-Eisenach, welcher das Stotiern als eine Psychose, also als eine Seelenstörung auffasst, ihre Berechtigung. Dieses Übe! ruht in der Seele, bis es eines Tages durch irgend einen Umstand hervorgerufen wird. Bei zwei Brüdern, Joh. und Fr. H., deren Vater stottert, liegt ohne Frage Vererbung vor _ Das Merkwürdige ist nur, dass ein dritter Bruder, der im Alter zwischen den beiden steht, n'cht stottert. Je mehr man sich mit der Heilung der Stotterer be- schäftigt, desto mehr kommt man zu der Überzeugung, dass die Heilung dieses Sprach- gebrechens sehr schwer ist, und die eine Übungsstunde tärlich nur einen Tropfen auf den heissen Stein bedeutet. Jedenfalls werden die mit Stottern belasteten Kinder am ehesten und sichersten noch geheilt werden, wenn sie längere Zeit aus ihren Verhältnissen herausgenommen und in andere gethan werden, also vielleicht in eine Sprachheilanstalt. Aber auch da ist nicht immer mit Sicherheit auf eine anhaltende Heilung zu rechnen. So wurde der siebenjährige, goweckte Sohn einer sehr an- gesehenen Familie hier, weil er immer noch stotterte, ‚sobald die Übungsstunde vorüber war, zu Professor Denhardt in Eisenach gebracht, wo er woll acht bis zehn Wochen behandelt und als vollständig geheilt entlassen wurde. Hierauf besuchte er die zweite Vorklasse einer höheren Lehranstalt, arbeitete sich vom letzten zum zehnten Schüler seiner Klasse empor, bis er kurz vor Weihnachten einen Rückfall bekam, dass ihn seine Eltern sofort wieder zu Professor Denhardt bringen mussten. Daran ist nicht die Methode schuld, sondern der Seelenzustand des Sprachkranken selbst. Das Stottern ist nun einmal ein „unberechenbares Übel“. Die Hauptsache für den Sprach- leidenden wird immer die sein und bleiben, dass er stets, wo es auch sei, auf seine Sprache achtet, sich die nötige Ruhe zu bewahren weiss und mit voller Willenskraft gegen das in der Seele schlummernde Übel ankämpfet. Unter den vierzehn stottern- den Knaben zeigte sich das Stottern als Vokal- und Konsonantenstottern in einigen Fällen hochgradig, in den übrigen Fällen weniger stark. Besonders auffallend waren bei einigen Schülern die Mitbewegungen beim Sprechen, als: Nicken mit dem Kopfe, Stampfen mit dem Fusse, Zittern in den Beinen u. a. Die Behandlung der in den Kursus Aufgenommenen erfolgte nach der sogenannien Gutzmannschen Methode, welche durch die bekannten Übungsbücher von A. Gutzmann, die Vokaltafel von M. Weniger und die Vokal-Thotographien von H Piper unterstützt wurde. Die Erfolge des Unterrichts waren zufriedenstellend.. Wenn auch nicht bei allen Schülern von einer vollständigen Heilung die Rede sein kann, so haben sich doch sämtliche in ihrem Sprechen wesentlich gebessert, wie dies auch in der Schlussprüfung, die am 11. März dieses Jahres vor der Behörde stattfand, anerkannt wurde,

Mannheim (Hilfsschule.) Die Ostern 1901 mit 2 Klassen errichtete Hilfs- schule wurde am Schlusse des Schuljahres von 31 Kindern (21 Kn. und 10 M.) be- sucht.

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Zürich (Schweizerische Anstalt fürEpileptische.) Von den am 31. Dezember 1900 in der Anstalt weilenden 149 Kranken verliessen im Laufe des Jahres 1901 die Anstalt im ganzen 26, von denen 10 als gebessert und 2 als geheilt bezeichnet werden konnten. Aufgenommen wurden 42 Kranke Bei 69 %, aller Aufgenommenen entwickelte sich die Krankheit auf dem Boden erblicher Belastung, während sich in un- gefähr 31%, Tiunksucht in der Ascedenz nachweisen liess. Bei 2 weiblichen Kranken trat nach Kopfverletzung eine Verschlimmerung des Leidens ein, und bei 2 männlichen Patienten steht die Krankheit im Zusammenhang mit cerebraler Kinderlähmung. Gegen 62 °/, der Aufgenommenen erkrankten im Kindesalter (bis zum 13. Jahre) und bei etwa 19%, fällt die Erkrankung entweder in die Entwicklungszeit oder in die Zeit nach dem 20. Jahre.

Litteratur.

Die Geisteskrankheiten. Eine gemeinverständliche Darstellung von Dr. J. Finekh. München 1902. Verlag der „Ärztlichen Rundschau“ (Otto Gmelin). 88 Seiten. Preis 2 Mk.

Eine gemeinverständliche Darstellung der Geisteskrankheiten, welche die mannig- fachen Vorurteile des Publikums, die noch heute über das Wesen und die Behandlung der Geisteskranken vielfach bestehen, widerlegen will, fehlte bisher. Der Verfasser hat deshalb in seiner Abhandlung auch weniger Wert auf Vollständigkeit und Er- schöpfung des Materials gelegt, als vielmehr Bedacht auf eine möglichst anschauliche und klare Ausdrucksweise genommen. Seine Schrift bietet in der Hauptsache eine fassliche Darstellung des Wesens der Geisteskrankheiten, ihre bekannteren Formen, der Behandlung der Geisteskranken und ihrer Stellung im bürgerlichen Leben und vor Gericht. Der Schluss bringt einen kurzen geschichtlichen Abriss über die Ent- wicklung des deutschen Irrenwesens und stellt die Grundsätze auf, welche die moderne Fürsorge für eine rationelle Behaudlung der Geisteskranken zu beobachten hat. Einen hohen Wert erhält die Schrift dadurch, dass der Verfasser durch eine etwas breitere Schilderung der Ursachen der Geisteskrankheiten auf die Gefahren hinzuweisen sucht, welche die heutigen, vielfach ungünstigen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse unseres Volks für die geistige Gesundheit mit sich bringen. Die Menschheit soll aus der Kenntnis der Ursachen Massregeln zur Ver- hütuug der immer mehr um sich greifonden Geisteskrankheiten gewinnen und ihnen vorbeugen lernen. Infolge der innigen Beziehungen, welche zwischen Geisteskrankheiten und Geistesschwächen bestehen, gewinnt die vorliegende Schrift auch eine gewisse Bedeutung für uns, zumal sie die normalen und anormalen Funktionen des Gehirns in durchaus fruchtbringender Weise erörtert. Der Verfasser hat in der Darstellung fast durchweg an der gemeinverständlichen Ausdrucksweise festgehalten und nur da wissenschaftliche und technische Ausdrücke gewählt, wo sie nicht zu umgehen waren. Wir halten seine Schrift für den vorhin angedeuteten Zweck für vollkommen geeignet und überhaupt für beachtens- und lesenswert.

Die psychische Entwicklung und pädagogische Behandlung schwer- höriger Kinder. Von Karl Branekmann. Berlin 1901. Verlag von Reuther & Reichard. 96 Seiten. Preis Mk. 2.—.

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—{uu m M 0

Der Verfasser vorliegenden Buches ist Besitzer und Lehrer der Lehr- und Er- ziehungsanstalt für Schwerhörige und Ertaubte zu W.-Jena. Seine Arbeit kann des- halb als eine Frucht eigener Beobachtung und Erfahrung, wie sie ihm die praktische Lehr- und Erziehungsarbeit an schwerhörigen Kindern, sowie der tägliche familiäre Umgang mit ihnen ermöglichten, bezeichnet werden.

Im ersten Abschnitte der Arbeit wird das Empfindupgsleben des schwerhörigen Kindes besprochen. Seine Empfindungen sind nicht nur quantitativ oingeschränkt, sondern sie erleiden auch mannigfache qualitative Veränderung infolge der Gehör- schwäche. Dadurch wird das gesamte Empfindungsleben ungünstig beeinflusst, ins- besondere aber die Entwicklung der Sprachempfindungen. Der zweite Abschnitt behandelt das Vorstellungslebeu des schwerhörigen Kindes. Die Hemmung der Sprach- entwicklung, eive natürliche Folge der Schwerhörigkeit, bewirkt, dass ein solches Kind auf einer im allgemeinen niedrigen Stufe der geistigen Entwicklung stehen bleibt, Sein Vorstellungsleben erscheint verändert und verengt, ebenso sein Gemüts- und Willensleben. Die Charakterbildung leidet besonders, wenn, was so häufig geschieht, falsche Erziehungs- und Lehrmassnahmen zur Anwendung gelangen. Der dritte Abschnitt verbreitet sich über die pädagogische Behandlung des schwerhörigen Kindes. Es wird darin zunächst der Versuche gedacht, die geeignet erscheinen, eine Besserung der gestörten Hörfunktion herbeizuführen. Sodann kommt der Verfasser auf die Auf- gaben zu sprechen, welche das Haus einem solchen Kinde gegenüber zu erfüllen hat und behandelt zuletzt die Erlernung und Einübung der Sprache, die intellektuelle Ausbildung, die Gemütspflege und die künstlerische Erziehung. Im vierten Ab- schnitt fo.gt eine in psychologischer und pädagogischer Beziehung recht interessante Auseinandersetzung, die das Verhältnis zwischen dem optischen und akustischen Sprach- auffassungsweg erörtert und die Bedeutung der motorischen Sprachvorstellungen be- handelt.

Die grosse Anzahl schwerhöriger Kinder erfordert es dringend, dass wir uns unserer Erziehungspflichten gegen sie in der rechten Weise bewusst werden. Die Schwerhörigen sind nicht wie Vollsinnige zu behandeln, aber auch nicht wie Schwach- sinnige, sondern sie verlangen eine eigene, ihrer Individualität entsprechende päda- gogische und didaktische Behandlung. Die Grundprinzipien und Methoden zu einer solchen Behandlung finden wir in der vorliegenden Schrift klar und deutlich dargelegt.

Die Geisteskraukheiten des Kindesalters mit besonderer Berück- sichtigung des schulpflichtigen Alters. Von Dr. Th. Ziehen, Prof. an der Universität zu Utrecht. Berlin 1902. Verlag von Reuther & Reichard. 79 Seiten. Preis Mk. 1.80.

Die vorliegende Schrift bildet die erste Abhandlung eines Werkes, das in 3 Heften erscheinen und eine spezielle Darstellung der einzelnen Geisteskrankheiten des Kindes- alters, sowohl der angebornen wie der erworbenen, bieten wird. Das erste Heft behandelt die angebornen und erworbenen Psychosen mit Intelligeuzdefekt oder die Defektpsychosen des Kindesalters. Dadurch gewinnt die Schrift gerade für uns eine ganz besondere Bedeutung. Nachdem der Verfasser sich in wissenschaftlicher Dar- stellung und mit kritischer Würdigung des bisherigen Materials über die Häufigkeit und die Ursachen der Defektpsychosen verbreitet hat, kommt er zur Besprechung der

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Symptome, zunächst der psychischen, dann der körperlichen. Er beschreibt in gemein- verständlicher und doch wissenschaftlicher Art und W«ise die Äusserungen und Er- scheinungen des eigenartigen, von der Norn abweichenden Seelenlebens der. mit Defekt- psychosen behafteten Kinder. Die gewonnenen Erlebnisse bekunden den scharfsinnigen Beobachter und erfahrenen Psychiater und gebon uns wichtige Richtlinien zur Erkennung und Beurteilung psychopathischer Minderwertigkeiten. Beachtenswert sind auch dio Angaben über die eigentümlichen körperlichen Symptome, welche nicht selten an dem Körper der an Defektpsychosen leidenden Kinder wahrgenommen werden können. Dor Verfasser macht dann einige allgemeine Mitteilungen über Erkennungsmerkmale der angebornen Defektpsychosen (Imbezillität) und spricht im Anschlusse daran über die Heilungs- und Besserungsaussichten und über die Behandlung derselben. Die päda- gogische Mitwirkung in dieser Angelegenheit weiss er voll und ganz zu würdigen und beurteilt unsere Thätigkeit und unsere Bestrebungen auf dem Gebiete der Schwachsinnigenbildung sehr anerkennend. Seine Vorschläge für die Behandlung können wir durchweg billigen, da sie vom Standpunkte gründlicher Sachkenntnis, richtiger Beurteilung des Gegenstandes und eingehender pädagogischer Erfahrung aus gemacht werden. Den Schluss des Heftes bildet eine kurze Abhandlung über erworbene Defektpsychosen, unter welchen die Dementia epileptica einer ein- gchenderen Erörterung unterzogen wird. Ziehens Name bürgt für die Brauchbarkeit des Werkes; wir empfehlen es als eine hervorragende Erscheinung auf dem Gebiete der medizinisch-pädagogischen Litteratur.

Erzieher

(Ehrist) wird gesucht für einen nervös veranlagten 16 jährigen Knaben in einem Städtchen Mäbrens. Pädagogische Vorbildlung und Erfahrung namentlich im Unter- richte geistig zurückgeblieboner Kinder unbedingt notwendig. Unterrichtsgegenstände orstrecken sich etwa auf jene der Bürgerschule. Der Posten steht für mehrere Jahre in Aussicht.

Honorar 1600 Kronen und eine Renumeration von 800 Kronen nach Schluss jeden Schuljahres nebst vollkommen freier Station. Anträge zu richten an Dr. K., Franz, Wien IX. B. Fuchsthallergasse Nr. 8.

Seminaristisch gebildeter Lehrer für den Unterricht von schwachsiunigen und geistig aumiersebliebenen Kindern in unserer Blödenaustalt gesucht.

Direktion der Neinstedter Anstalten.

Inhalt. Das Personalheft im Dienste der Schwachsinnigenbildung. (Fr. Frenzel.) Nochmals die neue Anweisung vom 26. März 1901 und noch einiges andere. (K. Ziegler.) Einige einfache Industriezweige der Anstalt Idstein. (Schluss) (Schwenk.) Mit- teilungen: Leipzig, Gera, Mannheim, Zürich. Litteratur: Die Geisteskrankheiten. Die psychische Entwickelung und pädagogische Behandlung schwerhöriger Kinder. Die Geisteskrankheiten des Kindesalters. Inserate.

Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. Kommissions -Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden; Druck von Johannes Pässler in Dresden.

‚Ku V” Nr. 11. XVII. Al) J

- Zeitsehrift

für die

Behandlung Schwaclsinmger und Kplepüscher

Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Spezial Dresden - Strehlen, für Ne ek rankhaiten Residenzstrasse 27. in Stuttgart

Erscheint jährlich in 12 Nummern von | Zu beziehen durch alle Buchhandlungen

mindestens einem Bogen. Anzeigen für | ' und Postämter, wie auch direkt von dır die gespaltane Petitzelle 25 Pfg. Litte- | November 1902. | Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, rarische Beilagen 6 Mark. | einzelne Nummer 50 Pfg.

Die Original- Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

Das Freihandzeichnen in der Hilfsschule zu Leipzig.

Wenn wir es versuchen, uns über das Freibandzeichnen in der Hilfsschule auszusprechen, so geschieht dies nur unter besonderer Berücksichtigung der Ver- bältnisse, wie solche hier in Leipzig liegen. Es wird demnach nicht beabsichtigt, mit der folgenden Abhandlung etwas Allgemeingültiges bieten zu wollen. Wie sollte dies auch bei der durch die so mannigfache Organisation der Schulen für Schwachsinnige bedingten Verschiedenheit des unterrichtlichen Betriebes in ihnen möglich sein! Aber selbst innerhalb dieses engeren Rahmens kann es sich nicht um eine erschöpfende Auseinandersetzung über das beregte Lehrgebiet handeln. Vor allem soll jene Art des freien Zeichnens vollständig ausser acht bleiben, welche als Konturzeichnen gelegentlich und zwar im engsten Anschluss ins- besondere an den Anschauungsunterricht und die Realien bebufs Förderung des Interesses und Verständnisses für den zu behandelnden Lehrstoff und der Kenntnis der sich im Unterrichte dem kindlichen Auge bietenden Formen vom Schüler mehr oder weniger gefordert wird. Die folgende Darlegung betrifft nur das Freihandzeichnen, soweit dieses als gesondertes, selbständiges Fach Behandlung findet. Um jedoch den Ausführungen einen festeren Stützpunkt zu verleihen und die Grenzen unseres Freihandzeichnens deutlicher zu bestimmen, werden wir einerseits der Übungen gedenken müssen, die bei uns in dem ge- bundenen Zeichnen dem freien als Grundlage vorausgehen, und andererseits des öfteren hinüberzublicken haben in das Gebiet des Volksschulzeichnens.

In der Hilfsschule zu Leipzig wird das Zeichnen in allen Klassen betrieben, und es werden ihm in jeder derselben wöchentlich zwei Stunden gewidmet. In den unteren Klassen findet das Netzzeichnen seine Pflege, dem in den

„TILDEN FOUND AND |

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mittleren das stigmographische folgt. An dieses reiht sich das Mass- zeichnen der zweiten Klasse, das dann dem Freihandzeichnen der ersten Platz macht.

Der sich meist auch im Schwachsinnigen regende Trieb, sich zeich- nerisch zu bethätigen, fordert es, bei Zeiten durch geeignete Übungen erfasst, geleitet und gekräftigt zu werden, und die sich in einzelnen unserer Schüler verratende grössere Fähigkeit im Auffassen und Geschicklich- keit im Darstellen von Formen benötigen zu ihrer Ausbildung eine früh- zeitige Einwirkung unterrichtlicher Art, und sie bedürfen eine solche, auch wenn diese Seite geistiger Regung bei einer späteren Berufswahl etwa unberück- sichtigt bleiben sollte. Gerade im Schwachsinnigenunterrichte ist es unerlässlich, dass der Lehrer sich so zeitig als möglich der sich im Kinde äussernden Kräfte, seien sie, welcher Art sie wollen, bemächtigt, um einen möglichsten Einfluss auf den schwachen Geist zu erlangen Vor allen Dingen erscheint kein anderes Unterrichtsfach in dem Grade dazu geeignet, die für die geistige Entwicklung Schwachsinniger von grösster Bedeutung sich erweisende Bildung von Hand und Auge zu fördern, als das Zeichnen, und so ist in der Hilfsschule ein früh- zeitiges Einsetzen zeichnerischer Übungen geboten. Lassen sich doch gerade letztere so elementar gestalten, dass sie auch unseren Schwächsten ange- passt werden können, und so vom Leichten zunı Schweren anordnen, dass sie sich selbst dem äusserst langsamen Fortschreiten schwacher Kräfte anzuschliessen vermögen.

Auf der untersten Stufe mit den einfachsten Übungen beginnend, führt zu- nächst das Netzzeichnen, das in quadrierte Rechenhefte erfolgt, das Kind nach und nach durch ein Gebiet gerader und gebogenliniger Figuren hindurch Das stigmographische Zeichnen stellt dann, indem es die eine Stütze, die Linie, entzieht, grössere Anforderungen an die kindliche Leistungsfähigkeit und sucht diese noch durch Gewährung verschiedener, wachsender Punktweiten und durch Darreichung von Vorlagen mit zusammengesetzteren und mannigfaltigeren Formen zu erhöhen.

Der schwachsinnige Schüler, welcher im Anfange oft kaum dazu geschickt fst, den Stift richtig anzufassen, geschweige denn, ihn vorschriftsmässig zu tühren; er, dem es erst nicht möglich ist, mit diesem auf einer deutlich sicht- baren Linie eine kleine Strecke weit hinzufabren, ohne erheblich abzuweichen: derselbe erlangt, wenn auch ganz allmählich und oft erst nach Jahren, nicht allein die Fähigkeit, innerbalb eines Liniennetzes regelrechte, selbst krumm- linige Figuren einfacher Art darzustellen, sondern vermag es später auch, ent- fernter liegende, gegebene Punkte durch gerade, ja, wenn auch unter engem Anlehnen an das Punktnetz, durch gleichmässig gekrümmte Linien nach Mass- gabe einer Vorlage zu verbinden

So bekommt durch planmässige Übungen im Netz- und stigmo- graphischen Zeichnen die Hand grössere Leichtigkeit, Ruhe und Sicherheit, und das Auge wird befähigt für die Erkenntnis des Rich- tigen in Richtung, Grösse und Entfernung der Linien; der kindliche

Geist nimmt eine Summe von Formenbildern in sich auf, und der Sinn für Ebenmass und Schönheit, Reinlichkeit und Genauigkeit wird geweckt und geschärft,

In Anerkennung dieser Förderungen, die unsere Schüler durch das gebundene Zeichnen erhalten, ist es uns nicht gegeben, dem oft ausgesprochenen Urteile, welches jenen beiden Arten des Zeichnens jeglichen Wert abspricht, von unserem Standpunkte aus beizutreten. Im Gegenteil, wir erblicken in jenen Erfolgen die unerlässliche Grundlage, auf denen sich unser freies Hand- zeichnen aufbaut. Vor allem erscheint uns die Summe erzielter technischer Fertigkeiten wertvoll genug, dem gebundenen Zeichnen seine notwendige Stellung im Schwachsinnigenunterrichte zu sichern. Jene technische Vorbildung enthebt uns im Freihandzeichnen einer Menge sich sonst aufdrängender, zeitraubender und langweilender Vorübungen, der fortgesetzten Darstellung von Wagerechten, Senkrechten und Schrägen, von Winkeln u. dergl., und ermöglicht das sofortige, erfolgreiche Einrücken in das Gebiet geschlossener, lebensvoller Formen.

Gleichwohl stellen sich dem Freihandzeichnen, trotz jener Vorbildung, von vornherein nicht geringe Schwierigkeiten entgegen. Das Kind, bis jetzt gewöhnt, die Ausgangs-, Berührungs- und Endpunkte der Linien vorzufinden hat noch keine Veranlassung gehabt, die Grössen-, Richtuugs- und Entfernungs- verhältuisse selbst zu bestimmen, und es entgeht ihm deshalb die nach dieser Seite absichtlich hinzielende Ausbildung. Das Auge hat zwar jahrelang das Regel- und Ebenmässige zahlreicher Figuren geschaut, ist jedoch noch nicht zu jenem Sehen gelangt, welches dazu erforderlich ist, Teilpunkte in eine Linie, einzutragen, gleiche Grösse Linienteilen und Linien zu geben oder die Lage Entfernung und Richtung dieser frei, ohne jeglichen Anhalt, abzuschätzen. Und diese Schwierigkeiten steigern sich im Freihandzeichnen im Laufe der Zeit mehr und mehr; neu auftretende Formen, vor allem solche, die sich nicht mehr auf das Quadrat gründen, erheben neue, grössere Ansprüche an die Leistungsfähig- keit des Zeichners.

Man thut deshalb gut, wenn man seine Erwartungen hinsichtlich der Leistungen unserer Schüler im Freihandzeichnen nicht zu hoch spannt: Unsere Kinder müssen sich mit dem Bestimmen der Längen, Abstände usw., insbesondere im Anfange, oft recht abmühen, ehe sie das Richtige finden, und das Zeichnen schreitet deshalb sehr langsam fort. Die fertigen Zeichnungen sind oft nicht so regelrecht und so genau, und die Anzahl derselben ist am Ende des Schuljahres nicht allzu gross. Und so kann es geschehen, dass die etwa zu Ostern ausgestellten Freihand-Zeichnungen sowohl nach qualitativer als nach quantitativer Seite hin im Urteile des unkundigen Beschauers, z. B. auch hinter stigmographischen, zurückstehen.

In Erwägung letzterer Punkte könnte man versucht sein, dem Zeichner mechanische Hilfsmittel in die Hand zu geben, welche leicht und bequem über technische Schwierigkeiten hinweghelfen und ein genaueres und schnelleres Arbeiten in Aussicht stellen.

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Früher waren wir selbst in dieser Beziehung bis zu einem gewissen Grade duldsam, indem wir dem Schüler doch erst dann, nachdem derselbe vorher durch Augenmass die Grössenverhältnisse bestimmt und eingetragen hatte erlaubten, nun mittelst eines ihm erst jetzt zugänglichen Papierstreifens das Gefundene auf seine Richtigkeit hin zu prüfen und, wenn nötig, darnach zu verbessern. Doch, um den sich einschleichenden Unzuträglichkeiten auszuweichen, sind wir von dem „Probierstreifen“ abgegangen. Wenn wir aber, wie solches in unserer zweiten Klasse geschieht, dem Kinde gestatten, zum Bestimmen von End- und Teilpunkten ein Messband zu benutzen, so geschieht dies deshalb, weil wir die Einfügung des „Masszeichnens“ als einer wünschens- werten Zwischenstufe zwischen dem stigmographischen und dem Freihandzeichnen für nötig erachten. Das letztere würde man auch um einen guten Teil seines bildenden Wertes bringen, wollte man es mit dem geometrischen verbinden. Die Anwendung von Lineal, Zirkel u. s. w. lässt sich bei uns in das Bereich des Handarbeitsunterrichts verweisen. Hier giebt es Gelegenheit noch genug zur Übung im geometrischen Konstruieren, und mit dem erwähnten Unterrichtszweige liesse sich auch, wo man das Bedürfnis empfindet, ein nebenhergehender oder sich einordnender Kursus einer elementaren Konstruktionslehre verbinden.

Indem wir so gegen die Verwendung der einen wie der anderen Art von Messinstrumenten beim „freien“ Zeichnen sind, streben wir an, demselben auch in der Hilfsschule seinen Charakter zu wahren und das ihm innewohnende Vermögen, auf Hand und Auge ganz besonders bildend einzuwirken und die gesamte Geistesbildung fördernd zu beeinflussen, nicht zu verkümmern. Erschwernisse, die im Unterrichtte hemmend entgegentreten, dürfen nicht zu falschen methodischen Massnahmen drängen, sondern müssen gerade den Anreiz in sich bergen, durch ihre Überwindung noch unentwickelte Kräfte des zu bildenden aus ihrem Schlummer zu wecken, in das Feld geistiger Bethätigung zu rücken und grösserer Entwicklung entgegenzuführen.

Dazu lehrt die Erfahrung, dass jene Stützen auch dem Schwachsinnigen schliesslich entbehrlich sind. Kinder, denen es nicht möglich ist und wird, ohne solche zu arbeiten, sind nicht befähigt, freihändig zu zeichnen. Die innere Organisation der Hilfsschule, die ihre Schüler den einzelnen Fächern nach ihrer Leistungsfähigkeit zuerteilt, ermöglicht es, jene auf der vorhergehenden Stufe zurückzuhalten bez. dahin zurückzuversetzen.

Die Möglichkeit jedoch, auch unsere Schüler freihändig zeichnen zu lassen, bewegt sich freilich und zwar nichıt allein aus technischen Gründen in engen Grenzen. Es mag wohl dann und wann vorkommen, dass selbst aus der Reihe unserer Schwachsinnigen einer oder der andere durch besondere zeichnerische Begabung hervortritt, wie in der Volksschule ja auch mit- unter ein sonst Schwachbegabter im Zeichnen Vorzügliches leisten kann; im allgemeinen aber stehen auch in diesem Fache unsere Kinder weit hinter Norınalbegabten zurück. Unsere Zeichner, denen, jene seltenen Ausnahmen abgerechnet, eine genügende Geschicklichkeit der Hand und eine

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grössere Schärfe des Gesichts abgeht, denen das klare, schnelle Auffassen und eine stärkere Phantasie fehlt, die dem normalen Kinde eigen sind, können nicht jene hoben Ziele erreichen, zu denen sich ein mit gesunden Sinnen und kräftigem Geiste begabter Schüler emporschwingt. Ganze Gebiete des Volksschul- zeichnens kommen in Wegfall, weil sie über das geistige Niveau Schwach- sinniger hinausgehen. Oder welchem von unseren Schülern wäre es gegeben, uns in das Bereich der Perspektive und der Licht- und} Schattenlehre zu begleiten, welchen möglich, mit sicherem Blicke und gewandtem Stifte den Körper mit seinen verkürzten Flächen auf dem Papiere entstehen zu lassen, ihn nach Modell mit Wischer und Kreide plastisch wirkend darzustellen ?

So legt uns die geringere Begabung unserer Schüler hinsichtlich des Zeichen- stoffes Schranken auf. Für uns bleibt nur die Darstellung der unver- kürzten Fläche Ja selbst innerhalb der Bearbeitung des Flach- ornaments ist uns allenthalben Kürzung und Vereinfachung geboten; nur das Elementarste können wir auswählen.

Wenn wir uns nun anschicken, dem etwa zu bietenden Zeichenstoffe und dessen methodischer Behandlung näher zu treten, erscheint es angebracht uns zunächst des Stoffes zu erinnern, mit dem sich unsere Schüler vorher beschäftigt haben. Das Netz- und das stigmographische Zeichnen haben es natür- lich ebenfalls mit ornamentalen Gebilden zu thun, und sie führen das Kind in eine grosse Mannigfaltigkeit von Formen hinein. Doch all diese haben immer das eine gemeinsam, dass sie auf derselben Grundlage, auf dem Quadrate, fussen- Für das Freihandzeichnen würde das eine Einseitigkeit bedeuten, die als über- wunden der Vergangenheit angehört. Die Grundbestandteile, die in den Formen der Natur und Kunst wiederkehren, erblicken wir in einer grösseren Anzahl geometrischer Figuren, vor allem im Quadrate, im regelmässigen Acht-, Drei-, Sechs- und Fünfecke, im Kreise, in der Ellipse und der Spirale. Wollen auch wir unseren Kindern ein, wenn auch nur verhältnismässig einfaches Verständnis der Natur- und Kunstformen übermitteln, ihren Blick für das Gesetz- und Ebenmässige derselben nnr einigermassen schärfen und in ihnen den Sinn für die Schönheiten der sie umgebenden Welt der Gestalten wecken, so müssen wir alle die genannten Formen unserem Freihandzeichnen zugrunde legen. Nur durch den Aufbau der Ornamente auf dieselben erlangt der Schüler die Fähigkeit, die von ibm zu zeichnenden Figuren auf ihre Elemente zurückzuführen und seine Zeichenaufgabe wenigstens mit einigem Verständnis zu erfassen.

Unternehmen wir es nun, einen Gang durch das Bereich unseres Lehr- stoffes anzutreten, so kann derselbe nur ein kurzer sein; es kann dabei nur dem Hauptsächlichsten Beachtung geschenkt werden. Vor allem wird nicht all der Ornamente gedacht werden können, die sich etwa ausführen lassen; sie können nur angedeutet werden. Dagegen soll der Konstruktion der geometrischen Grundformen mehr Augenmerk zugewandt werden, damit zugleich erhelle, dass mit unseren Kindern ein Freihandzeichnen auf dieser Basis stattfinden kann.

Wir beginnen mit dem Quadrat und zwar, damit der Schüler vorerst im Bilden von Senkrechten und Wagerechten gleicher Länge, mithin zugleich von

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Parallelen geübt und mit dem Teilen derartiger Linien vertraut werde, mit dem auf der Seite stehenden, setzen mithin das auf die Spitze gestellte an zweite Stelle. Es fusst dies zwar auf derselben Grundlage wie jenes, auf dem Kreuz, und seine Herstellung ist kürzer; aber in ihm kommt absichtlich das Ziehen und vor allem das Teilen der Schrägen hinzu, welch beide Thätigkeiten, bei senkrecht liegendem Zeichenbogen ausgeführt, eine andere, schwierigere Stellung der Linie zum Auge und eine andere Haltung der Hand fordern, mithin eine weitergehende Ausbildung beider Organe bezwecken. Als Nebenform kann nach dem ersteren Quadrat das Rechteck, nach dem zweiten das gleichschenklig recht- winklige Dreieck eingelegt werden, welch letzteres, aus der Grundlinie und Höhe konstruiert, das den Kindern viel Schwierigkeiten bereitende Gleichmachen zweier Schenkel weiter zur Geltung bringt und so das Zeichnen des Achtecks noch mehr vorbereitet. Das Achteck fügt sich, sofern seine Herstellung aus den acht Strahlen und nicht auf Grund zweier, ineinander gelegter Quadrate geschieht, hier bequem an und kann,'dann auf die zuletzt gedachte Art gewonnen, zu einer weiteren Übung Veranlassung geben.

Da indes die geometrischen Formen die Grundlage abgeben, auf der sich das Ornament aufbaut, sei es, dass jene als Umriss das feste Gefüge bilden, innerhalb dessen sich das ornamentale Gebilde als Füllung einlegt, oder sei es, dass nur einzelne Teile derselben die Elemente zum Aufbau einer neuen Figur liefern, so haben sich beide von Anfang an eng mit einander zu vereinigen. Durch die Verbindung vorhandener oder leicht einzulegender Teilpunkte mittelst Gerader sind bereits innerhalb des ersten Quadrats soviel Fälle möglich, dass an Formen kein Mangel ist, und jede neue Grundform giebt zur Bildung neuer Figuren Anlass. Sind es besonders die Sterne und sternartigen Gebilde, die bier vorherrschen, so giebt doch auch die Umgebung Fingerzeige genug zu anderen Aus- führungen, zu Zeichnungen geradliniger, rechtwinkliger Gegenstände, zur Dar- stelllung von Füllungen in solchen usw.

Es liegt nun die Versuchung nahe, dass durch die jetzt. folgende Anreihung des Drei- und Sechsecks der dadurch veranlassten weiteren Behandlung der geraden Linie ein allzuweiter Spielraum gelassen werde, wodurch dann in Bezug auf die sich auf beide Elementarformen gründenden Figuren rein geradliniger Art der Zeichenstoff der Abwechslung gegen bereits Behandeltes entbehren und so der Einförmigkeit nahekommen würde. Es erscheint deshalb rätlich, schon jetzt oder besser bereits beim Achtecke die gebogene Linie, soweit sich deren Verlauf durch gewisse Teilpunkte oder Hilfslinien leicht bestimmen lässt, einzulegen, und ferner, damit dem Auge des Schülers schon zeitig der sichere Massstab für die Beurteilung gekrümmter Linien, der Kreis, gegeben werde, auch diesen schon jetzt herbeizuziehen. Dem Auftreten des Vollkreises steht in technischer Beziehung kein Hindernis entgegen, da das Achteck in seinen acht Strahlen die genügende Zahl der Berührungspunkte giebt. Des Kreises Ver- wendung zu Umriss, Kern, Ring u. dergl. lässt eine grössere Mannigfaltigkeit bei dem an Acht-, Drei- und Sechseck angeschlossenen Sternfiguren, Rosette, Bandverschlingungen usw. zu.

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Das gleichseitige Dreieck, um nun auf dieses zurückzukommen, bereitet besondere Schwierigkeiten. Grundlinie und Höhe sind zwar leicht hergestellt; schwer ist aber das Anlegen der zweiten Seite. Liegt doch hier die Doppel- forderung vor, dieselbe der Grundlinie gleichzumachen und zugleich mit ihrem Eudpunkte in die Höhe einmünden zu lassen. Damit dem Schüler doch einige Erleichterung werde, sei ihm hierbei gestattet, den Zeichenbogen zu drehen, dass der zu bildende Winkel senkrecht vor dem Auge steht, um leicht wieder zu entfernende Probelinien anzulegen. Ein Vergleich dieser mit der Grundlinie wird bald auf das Richtige führen. Schon das Zeichnen eines zweiten Dreiecks erfolgt ziemlich sicher.

In unmittelbare Beziehung zum Dreieck stellt sich das Sechseck. Bei seiner Konstruktion aus den zwei ineinander gelegten Dreiecken ist es ratsam, der Genauig- keit halber bei dem Einlegen des zweiten Dreiecks die Höhe zu teilen. Die Dreiteilung der Seiten, auf welche die Schüler zunächst kommen, lässt kleine Ungenauigkeiten mehr hervortreten und empfiehlt sich nur bei genauerem Zeichnen.

Nachdem durch die frühzeitige, bereits bei dem Achteck erfolgende Ein- führung des Kreises eine ziemliche Fertigkeit in der Bildung desselben erlangt ist, erscheint es angebracht, nun eine kurze, selbständige Übung desselben, dar- nach des Halb- und Viertelkreises folgen zu lassen. Das Zeichnen dieser Kreisteile übt das Auge sehr und die Zusammenstellung derselben zu Rosetten und Blättern, Kanten, Mustern u. dergl., sowie von Kreisabschnitten zur Wellen- und Schlangenlinie bringt dem Kinde neue Begriffe entgegen.

Durch das allmähliche Fortschreiten zu solchen Ornamenten, die sich durch mannigfacher und feiner gekrüämmte Linien auszeichnen, ist der Blick des Schülers so geschärft und die Fertigkeit der Hand so gesteigert worden, dass nun ohne grosse Not zu schwierigen Übungen übergegangen werden kann, zu denen die folgenden Grundformen Anlass geben. Von letzterem folgt zuförderst das Fünfeck. Schon die blosse Anlegung desselben innerhalb des Kreises ist nicht leicht. Fällt den Kindern bereits die Fünfteilung einer Geraden schwer so ist das Teilen einer vollen Kreislinie in fünf gleiche Teile ihnen geradezu unmöglich. Obgleich sich später mit schärfer Sehenden die unmittelbare Fünf- teilung des Halbkreises versuchen lässt, muss doch vorerst von der Zerlegung des Achtelkreises in Fünftel ausgegangen und dieser Weg für die Schwächeren beibehalten werden. Die Verwendung des Fünfecks zu Sternfiguren, Rosetten usw., deren Teile sich um den Mittelpunkt lagern, lässt sich kürzer abthun. Dagegen empfiehlt es sich, etwas ausführlicher auf solche Ornamente einzugehen, deren wesentliche Bestandteile ihren Ausgangspunkt an jener Stelle nehmen, wo sich die Verbindungslinie zwischen der zweiten und vierten Ecke einerseits mit der zwischen der fünften und dritten andererseits scheidet; denn hier ist uns ein weiterer Schritt hinein in das Gebiet des vegetativen Ornaments geboten und Anstoss gegeben, dem Kinde klarzulegen, mit welcher Regelmässigkeit sich alles aus dem einen Punkte heraus entwickelt und wie die Linien ineinander Ü er- gehen. Zur weiteren Pflege dieses Gedankens kann dann die Gewinnung ähn- licher Formen aus dem Sechs- und Achtecke dienen.

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Mit dieser Kenntnis tritt der Schüler in die Besprechung der Ellipse ei... Die Zeichnung derselben aus den beiden Achsen, die sich wie 3:4 verhalten und denen nach Bedarf später ebenso andere Verhältniszahlen zu Grunde gelegt werden können, fällt nicht schwer, sonderlich, da in den Eckpunkten des einge- legten Rechtecks noch eine ausreichende Hilfe geboten ist. Das Kind hat ver- schiedene elliptische Gegenstände gesehen, vielleicht auch in die Ellipse eingelegte Ros tten, Sterne usw. mit ihrem elliptischen Kerne, von denen zunächst einige we: ge gezeichnet werden. Durch Teilung der Winkel, bei der das Auge sich durch die ungleiche Länge der Achsen leicht täuschen lässt, oder des Umfanges lassen sich leicht derartige Schönheitsformen finden. Desgleichen bereitet es keine besonderen Schwierigkeiten, zu zeigen, wie die elliptische Form bei dem Umriss zu Krügen, Vasen u. dergl. verwertet werden kann und wie durch geringe Mühe hier einfache Fächer gezeichnet werden können. Grössere Sorgfalt erfordert jedoch die Palmette. Wir verzichten bei derselben auf umständliche Konstruktionen, lehren den Schüler die besondere Teilung des Umfangs und die bestimmte Ver- wendung der entstandenen Teile und lassen ihn, selbst auf die Gefahr hin, dass nicht alles haarscharf werden soll, die gebogenen Linien durch Augenmass finden. Es dürfte sich dann die Entstehung der Palmette innerhalb des Kreises unschwer anreihen lassen. Schliesslich suchen wir zum einfachen Blatte hinüberzuleiten. Hauptsache bei demselben ist, dass der Schüler zu der Erkennt- nis gebracht wird, dass jederzeit der Ausgang von der Hauptachse, die durch die Hauptrippe des Blattes gegeben wird, zu nehmen und dass die (uerachse, dusch die grösste Seitenausdehnung des Blattes bestimmt, nach Lage und Länge im Verhältnis zu jener, der Längsachse, abzuschätzen und der Umriss darnach mehr frei zu entwerfen ist. Nach Entwicklung eines regelmässigen Blattes, bei der auch, wie schon früher bei Umrissen von Vasen usw. zum Teil geschieht, die Eiform herbeigezogen wird, kann sehr wohl einmal der Versuch mit dem Zeichnen eines gepressten Naturblattes gewagt werden. Die besseren Zeichner können selbst einfachere Blätter, deren Grundform von der geübten abweicht, ja zusammengesetztere Blätter und auch Naturzweige verwenden.

So kommen wir am Ende zur Spirale und zur Schneckenlinie. Wir führen beide gleichzeitig vor und zeigen ihre Entstehung aus dem Linienkreuz. Die Schüler erkennen bald in der einen die Windung des Schneckenhauses wieder und erinnern sich dann auch der Spiralfeder der Uhr. Ein Hinweis auf die spiralig gewundenen Eisengitterverzierungen, auf die Spiralformen bei Laternen- trägern usw. lässt bald die häufige Benutzung der Spirale verspüren, und kurze Skizzen an der Wandtafel, beigebrachte Zeichnungen u. dergl. legen deren nicht seltenes Vorkommen in der Natur dar. Gründliches Anschauen einfacher Bei- spiele vermittelt doch einiges Verständnis dieser schwierigsten, aber auch schönsten Form, die sich in so mancherlei Zusammenstellungen zu allerhand Ranken, Blatt- und Blütengebilden dem Auge darstellt.

Wir wissen wohl, was man uns nach Darlegung des zu behandelnden Lehr- stoffes entgegenhalten wird; man wird sagen: „Das ist des Guten zu viel!“ Auf diesen Einwand möchten wir ein Zweifaches erwidern:

177 Erstens ist es durchaus nicht darauf abgesehen, dass das ganze Arbeitsfeld in einem Jahre durchschritten werde. Der Zeichenstoff soll sich vielmehr auf zwei Jahre verteilen, etwa so, dass der Schüler im ersten Jahre bis an das Fünfeck herankommt und im zweiten von diesem an bis zu Ende geführt werde. Das ergiebt innerhalb der Klasse zwei Abteilungen. Für einzelne Schüler, die nach diesem zweijährigen Kursus die Schule noch besuchen, lassen sich genug Figuren finden, die geeignet sind, Hand und Auge weiter zu üben. Diejenigen Kinder freilich, die nur ein Jahr frei zeichnen, müssen sich begnügen, von dem Lehrstoffe der ersten Abteilung nur eine Anschauung mit hinwegzunehmen, da sie nicht zum Zeichnen desselben gelangen; sie werden bei der Besprechung des- selben mit herangezogen. Den gesamten Unterrichtsstoff so zu kürzen, dass er in einem Jahre bewältigt werden könnte, würde deshalb nicht rätlich sein, weil bei einer allzuweit gehenden Beschneidung das Ornament hinter der geometrischen Grundform zu sehr zurücktreten und allzu dürftig ausfallen müsste, hierbei aber der Zeichenunterricht seiner Aufgabe nicht gerecht würde.

Zweitens wird nicht beabsichtigt, von jedem Schüler die Ver- arbeitung derselben Stoffmenge zu verlangen. Feststehende Forderung für alle ist zunächst nur die Beherrschung der Elementarformen. Sie bilden den gemeinsamen Ausgangs- und Vereinigungspunkt der zu einer Abteilung ge- hörenden Zeichner. Die Zeichnung ornamentaler Gebilde auf Grund jener ist dann das Gebiet, innerhalb dessen sich der Einzelne gemäss seiner Kraft bethätigt. Mag es dabei auch manchem gelingen, seinen Mitschüler an Zahl und Mannig- faltigkeit der gezeichneten Figuren zu überholen, so kommt doch auch derjenige zur Befriedigung, welcher es nur zu wenigen und einfacheren Formen bringt; denn er arbeitet wie jener nach seinem Vermögen. Dies möge uns auf die unterrichtliche Behandlung des Stoffes führen.

Es darf nicht übersehen werden, dass unsere wenigen, fürs freie Handzeichnen ausersehenen Schüler der Zeichenaufgabe gegenüber sich im Vergleich zu einander verschieden verhalten. Wie ungleich ist oft der Grad der Schnelligkeit und Klarheit im Auffassen und Verstehen der Formen, wie verschieden ganz besonders die Zeichenfertigkeit. Ja bei dem Einzelnen selbst finden wir nicht selten eine gar einseitige Veranlagung vor, derart wohl, dass die manuelle Fertigkeit das intellektuelle Vermögen weit übersteigt, oder auch, dass die schwerfällige, un- sichere Hand nur mit Mühe und dann noch ungenau zu Papiere zu bringen vermag, was der Verstand ganz leidlich erfasste, und dergl. mehr. Wenn sich nun unser Zeichenunterricht die Aufgabe stellt, die Kinder nach Massgabe dieser ihrer verschiedenen Kräfte zu bilden, dann muss er sich jederzeit all der indi- viduellen Verschiedenbeiten bewusst sein, und das Prinzip möglichster Indi- vidualisierung muss alle seine methodischen Massnahmen durchdringen.

Man könnte sich wohl zum Zwecke der besonderen Schulung jedes Einzel- nen dem ausschliesslichen Zeichnen nach Vorlagen zuwenden. Und gewiss, es stehen dieser Unterrichtsart Vorteile zur Seite. Vorausgesetzt, dass eine ge- nügende Zahl passender Vorlagen zur Verfügung steht, kann dem Kinde jeder- zeit eine dem Standpunkte seiner Handfertigkeit entsprechende Aufgabe zuerteilt

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werden und ihm so eine stetig wachsende, anerkennenswerte technische Förderung widerfabren. Auch lässt sich nicht leugnen, dass hierbei durch eine richtige Auswahl der Figuren der Sinn für das Schöne genügend gebildet werden kann. Jedoch bei näherer Betrachtung stossen wir auf einige, nicht unwichtige Be- denken. Bei der Zersplitterung der Kraft des Lehrers, die auch bei der ver- hältnismässig geringen Schülerzahl einer Klasse eintreten müsste, würde es ihm auch beim besten Willen, allen zu dienen, nicht gelingen, das intellektuelle Bedürfnis jedes Einzelnen, das dahin geht, zu einem wenigstens elementaren Verständnis der Aufgabe und so zu einem mehr bewussten Thun zu kommen, zu befriedigen. So darf man sich nicht verhehlen, dass bei einem Mangel an belehrendem Worte das Schaffen des Zeichners nur zu leicht zu einem mecha- nischen Tlıun, das Freihandzeichnen zu einer blossen Fertigkeit wird, die der des Schreibens nahe kommt. Endlich lässt ein solches Vorgehen jegliche selbst- schöpferische Regung des Geistes, sei sie auch noch so unscheinbar, gänzlich unberücksichtigt.

Die Volksschule hat diesen Weg verlassen, eben deshalb, weil bei dessen Betreten die Bidung des Geistes, vor allem des Verstandes und der Phantasie, vernachlässigt werden musste. Sie hat sich dem Klassenunterrichte zuge- wandt und versucht nun, indem sie das belehrende Wort zugleich an alle richtet, durch methodische Zergliederung der Zeichenaufgabe unter Benutzung von Skizzen, die au der Wandtafel vor den Augen der Kinder entstehen, nicht allein ein Verständnis über den Zeichenstoff zu erzielen, sondern auch die Phantasie anzuregen, dermassen, dass der Schüler in den Stand gesetzt werde, die Aufgaben seiner Fähigkeit entsprechend mehr selbständig und eigenartig zu lösen. Es ist einleuchtend, dass man sich bei diesem Verfahren der Vorlagen ganz entledigen kann, und der strenge Vertreter dieser, der sogenannten ent- wickelnden Methode oder, wie man auch sagt, des individualisierenden Klassenunterrichts, thut dieses auch. Allerdings bedarf es dann noch mancher Anregung, die der oder jener Schüler während des Zeichnens selbst vom umsichtigen Lehrer empfängt.

Es dürfte nicht schwer sein, zu erraten, welcher von beiden Unterrichts- arten wir mehr zuneigen und für welche wir uns entscheiden würden, wenn wir es mit normalen Kindern zu thun hätten. Im Schwachsinnigenunterrichte freilich ist die am vollkommensten ausgebildete Methode nicht immer die beste Wem würde es z.B. einfallen, schwachsinnigen Kindern das Lesen an Normalwörtern lehren zu wollen? Oder wer würde sich bei unserem Rechnen an die Grube’sche Weise binden? So ist's auch mit dem Freihandzeichnen in der Hilfsschule. Nicht etwa, dass wir uns hier auf die Urform alles Vorlagenzeichnens, auf das gedankenlose Kopieren werfen müssten; es giebt auch Unterrichtsmethoden, die die Vorteile der einen Richtung mit denen der anderen zu vereinen suchen, sogenannte Mittelwege, von denen wir einen betreten wollen.

Da die zu zeichnenden Ornamente auf den früher erwähnten geometrischen Formen ruhen, so hat sich der Unterricht zunächst damit zu befassen, den Schüler zu einem elementaren Verständnis der jeweiligen Grundform

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zu führen. Die Betrachtung derselben, die an’ der Hand eines vor den Augen der Kinder aus freier Hand des Lehrers entstehenden Wandtafelbildes stattfindet, sei kurz, halte sich nicht unnötig bei Nebensächlichem auf, hebe aber das Wesentliche um so schärfer hervor. Sie bemühe sich, vor allem das gegenseitige Verhältnis der Linien in Bezug auf Grösse, Richtung und Entfernung und dabei gleichzeitig die einfachsten Begriffe, wie Seite, senkrecht, wagerecht, gleichlaufend, Winkel, Grundlinie, Höhe, Umfang u. s. w., klarzulegen. Indem so auf der einen Seite durch die Herbeiziehung der elementarsten Erläuterungen aus der Formenlehre der Zeichenstoff zu grösserer Klarheit gebracht wird, erlangt auf der anderen Seite der Schüler über die wichtigsten Linear- und Flächen- formen eine einfache Kenntnis, die, in Verbindung mit den formenkundlichen Anschauungen und Belehrungen, welche der Handarbeitsunterricht bietet, uns an Stelle einer gesonderten „Formenlehre“ genügte.

Bei der Besprechung der Grundformen leisten mitunter Pappausschnitte, die dieselben ganz oder nur in einzelnen Teilen darstellen, einen guten Dienst. Vor allem gewähren sie, bunt überzogen, einen leichten und schnellen Überblick über die Fläche und geben so einen Vorteil, der besonders deshalb nicht unterschätzt werden darf, weil sich gerade unsere Kinder, mit dem Auge sklavisch an der Linie hängend, zur Beobachtung der Fläche selbst nicht ohne weiteres erheben. Auch nach technischer Seite hin können jene erläuternd wirken, z. B. beim Verflechten von Rahmen, Ineinanderfügen von Blättern u. s. w.

Umfangreicher und zugleich schwieriger ist nun die andere Aufgabe, die Behandlung des Ornaments selbst. Da die Besprechung der Grundform unter Benutzung der Wandtafel geschieht, so ist es naheliegend, zu versuchen, wie weit wir auch in dem zweiten Punkte an der Hand derselben mit unseren Kindern kommen. Jedenfalls kann hier gezeigt werden, wie durch gesetzmässige Teilung der Elementarform, durch gewisse Verbindung von End- und Teilpunkten oder auch durch Zusammensetzung von Linien und Linienteilen, die jener Form entnommen werden, einfache ornamentale Gebilde entstehen; es ist also hier die Möglichkeit gegeben, dem Kinde unter Anwendung des genetischen Unterrichts- verfahrens einen einfachen Begriff von der Entstehung des Ornaments und dem regelmässigen Aufbau desselben zu übermitteln. Dabei vermag der Unter- richtende zugleich auf das Kind anregend einzuwirken, dass dieses selbst mit sinnt, wie es hier oder da verfahren könne, um irgend eine andere Form heraus- zubringen oder auch in der Umgebung Geschautes oder von früher Behaltenes in die Aufgabe zu übertragen. Diese Anregung der auch in unserem Schwachen mehr oder weniger, wenn auch in geringerem Masse wie bei Normalen sich findenden Phantasie und der kindlichen Selbstthätigkeit ist jedenfalls ein nicht gering zu bemessendes Moment, das wir uns nicht entgehen lassen möchten.

Freilich, ganz werden wir hier mit der Wandtafel nicht auskommen; wir werden in vielen Fällen auch von der Vorlage Gebrauch machen müssen, und das um so mehr, je weiter wir in unserem Zeichengange vordringen, sei es, dass wir sie zu der allgemeinen Besprechung als Beispiel für den jeweilig behandelten Fall heranziehen, oder sei es auch, dass wir sie dem Schüler unter Anlehnung

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an den behandelten Stoff beim Zeichnen vorlegen. Für solche Kinder, deren allzu geringes Formengedächtnis nur wenig zu der Besprechung beizubringen bez. aus derselben mitzunehmen vermag und denen ein verschwindend geringer Grad von Phantasie eigen ist, wird sie stets von Vorteil sein und sie vor allzu dürren Reproduktionen bewahren. Und auch für den Begabteren wird es nicht ohne Wert sein, einmal eine verwickeltere Zeichnung nach Vorlage auszuführen oder unter Benutzung derselben auf neue Gedanken geführt zu werden.

Es giebt wohl kaum eine Vorlagensammlung, die ganz unserem Zwecke entspräche. Die Zeichen- und Vorlagenwerke für normale Schüler bringen jedoch manches, was wir sofort benutzen können, und geben ausserdem so viel Finger- zeige, dass es nicht schwer hält, geeignete Vorlagen zu schaffer. Einige geringe Abänderungen genügen in vielen Fällen, um den sich vorfindenden Stoff unseren Verhältnissen anzupassen. Um den Vorlagen eine Grösse zu geben, die einerseits ein deutliches Erkennen auch geringerer Biegungen ermöglicht, andererseits noch eine bequeme Verwendung auf der Schulbank zulässt, empfiehlt es sich, die- selben auf Folio auszuführen, und damit sie dem Denken des Schülers noch einigen Raum gewähren, insbesondere seine Einbildungskraft einigermassen an- regen, die Figuren nicht ganz vorzuzeichnen, sondern wenigstens späterbin selbstverständlich, soweit es sich mit der Form vereinbart nur in ihrem charakteristischen Teile, durch dessen Wiederholung das Ganze entsteht. Jeden- falls ist es gut, wenn zur Figur selbst kräftige schwarze, zu den Hilfslinien feinere rote Linien angewendet werden und wenn sich diese letzteren nach und nach auf das Nötigste beschränken; denn auch die Vorlage soll sich dem Streben des Unterrichts anschliessen, das dahin zielt, den Schüler je länger um so mehr von der ängstlichen Anklammerung an entbehrliche Hilfe zu befreien und ihn dadurch zu einem selbständigeren Thun zu führen.

Zu der Besprechung an der Wandtafel und zu der Herbeiziehung der Vorlage gesellt sich noch ein drittes, sehr wichtiges Mittel, das Kind mit seiner Aufgabe vertraut zu machen, das sind die Belehrungen, die dem einzelnen Schüler während der Ausführung der Zeichnung gegeben werden. Sie sind wertvoll deshalb, weil sie dem spezifischen Bedürfnisse des Einzelnen entgegen- kommen, und sie thun dies insbesondere dadurch, dass sie das Verständnis über den Zeichenstoff weiter fördern und sich der unscheinbarsten, schüchternen Äusserungen kindlicher Einbildungskraft bemächtigen und sie zu kleinen Er- gebnissen eignen Schaffens hinführen. Sie schliessen auch manche Winke nach technischer Seite hin in sich und stellen sich ebenso hierdurch den beiden vor- genannten unterrichtlichen Massnahmen ebenbürtig zur Seite. So wird es manchem der schwachsinnigen Kinder möglich werden, selbst im Freihandzeichnen Anerkennenswertes zu leisten.

Die Kinder benutzen den Zeichenblock und zwar, damit noch eine an- sehnliche Zeichnung erzielt werde, die Grösse 26:34 cm. Der Zeichenblock, eine Vermittlung zwischen Reissbrett und Zeichenheft, ist für unsere Schüler deshalb am geeignetsten, weil er sich, nicht zu umfangreich und leicht handlich, am besten auf der gewöhnlichen Schulbank und ohne störendes Geklapper be-

181 nutzen lässt, auch das Färben Jer fertigen Zeichnung ermöglicht. Wir verwehren keinem Kinde, erst recht nicht dem, der infolge seiner schweren oder zittrigen Hand in der linearen Ausführung nicht ganz befriedigt, das Austuschen der gelieferten Figur. Die Farbe giebt den Ganzen den wohlthuenden Abschluss; sie erhöht das Wohlgefallen an dem vollbrachten Werke, und das treibt zu neuer Arbeit kräftig an.

Es würde uns hier zu weit führen, wollten wir auf die Verwendung der Farbe beim Zeichnen näher eingehen. Wir hoffen, dies ein ander Mal thun zu können. Ebenso können wir zum Schluss nur in aller Kürze auf das enge Verhältnis hiuweisen, in dem das Zeichnen zur Handarbeit steht. Die nahe Verwandtschaft, die zwischen beiden besteht, lässt im Unterrichte innigere Beziehungen zu. Sie hat wohl auf den Versuch geführt, beide ganz mit einander zu verbinden. Die dabei sich als nötig erweisende Verschmelzung der Lehrgänge beider erscheint uns indes als ein Zwang. Die guten Erfolge einer hierbei in bester Absicht gewollten Konzentration werden sicher aufgehoben durch die ungünstige Wirkung, die der Mangel eines lückenlos aufsteigenden Lehrganges, wie er sich nur auf dem Grunde voller Berücksichtigung des besonderen Wesens jedes einzelnen Lehrfaches zu erheben vermag, zeitigt. Wir lassen deshalb jedem der beiden Lehrgegenstände seine Selbständigkeit, versäumen dabei aber nicht, verbindende Fäden da anzuknüpfen, wo sich Anhaltepunkte ungesucht ergeben. Vielleicht findet sich einer oder der andere der verehrten Leser, der die angeregte Frage, die Beziehungen des Handarbeits- und Zeichenunterrichts zu einander betreffend, in dieser Zeitschrift einmal näher beleuchtet. Denn nur der Aus- tausch gegenseitiger Erfahrungen kann hier wie überall am ersten und besten aufklärend wirken. H. Müller.

Mitteilungen.

Dortmund. (Westfälische Konferenz für das Hilfsschulwesen.) Am 2. Juli d. Js. fand hier die II. Konferenz für das Hilfsschulwesen statt. Sie begann mit einer Lehrprobe des Herrn Hilfsschullehrers Middelsdorf in Dortmund. Der- selbe führte den Rechenunterricht in seiner Klasse (einer Aufnahmeklasse) vor, und zeigte, wie er sich die Überleitung vom Rechnen mit Anschauungsmitteln zum reinen Kopfrechnen denkt. Die Notwendigkeit, diesen Schritt besonders sorgsam zu beachten, ergiebt sich einmal aus der Eigenart der Kinder dieser Schulen, die nicht wie die normalbegabten im stande sind, aus eigner Kraft von der Anschauung zur Abstraktion zu gelangen, und deren Rechnen deshalb fast stets ein rein mechanisches und ge- dächnismässiges bleibt. Herr M. liess zunächst mit den verschiedensten Anschauungs- mitteln rechnen, um sich davon zu überzeugen, ob alle Kinder im Rechnen mit Anschauungsmitteln sicher waren. Zur Überleitung zum Kopfrechnen benutzte er alsdann die Münzen, das Ein-, Zwei- und Fünfpfennigstück. Damit verknüpfte er die Einleitung in das schriftliche Darstellen der Rechenfälle. Es war ein besonderer Vorzug der Lektion, dass sie keine Schaufensterarbeit bot, sondern einen tiefen Blick thun liess in die mühsame Arbeit der Hilfsschulen. Herr M. zeigte sich dabei als

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geschickter, liebevoller Lehrer, der mit unermüdlicher Geduld den Geist der ihm an- vertrauten Kinder zu heben sucht. Wenn wir im Hinblick auf künftige Lektionen einen Wunsch äussern dürfen, so ist es der, die zur Behandlung gewählten methodischen Einheiten möchten so klein gefasst werden, dass sie in höchstens 30 Minuten wirklich zu Ende geführt werden könnten. Auch empfiehlt es sich, statt einer einstündigen Lektion zwei halbstündige in aufsteigenden Klassen anzusetzen; gerade für diejenigen Horren, die noch nicht viel Hilfsschulen gesehen haben, ist es sehr interessant, auf diese Weise den Erfolg der Hilfsschularbeit kennen zu lernen. Nach der Lektion begannen die Verhandlungen. Die Stadt Durtmund hatte ihr Interesse an der Sache der Hilfsschulen dadurch bekundet, dass sie ihren Bürgermeister, Herrn Lichtenberg, zu der Konferenz deputierte.e Als äusseres Zeichen ihrer Wert- schätzung kann der Umstand angesehen werden, dass sie für die Verhandlungen das Schaustück der alten Hansastadt, den prachtvollen, altertümlichen Rathaussaal zur Verfügung gestellt hatte, dem vor zwei Jahren die Ehre widerfuhr, das Interesse und die Anerkennung unseres Kaisers zu gewinnen. Hier versammelten sich die Teil- nohmer, unter denen wir viele bewährte Freunde der Hilfsschulen bemerkten, so Regierungsrat Eichhorn, die Schulräte Stordeur und Stegelmann, die Kreisschul- inspektoren Schreff, Dr. Schapler, Körnig, Pröbsting, Schürmann u.am Die Leitung der Versammlung übernahm der Vorsitzende des Verbandes der West- fälischen Hilfsschullehrer, Schmitz- Dortmund, der die Erschienenen mit herzlichen Worten Legrüsste. Ihm antwortete der Vertreter der Königl. Regierung zu Arnsberg, Horr Rogierungsrat Eichhorn, der seiner Freude darüber Ausdruck gab, dass die Sache der Hilfsschulen ein so reges Interesse gefunden habe. Freilich werde der Kreis derjenigen, die sich dauernd für diesen Zweig des Unterrichtswesens interessierten, immer ein beschränkter bleiben; aber das sei kein Nachteil, wenn innerhalb des kleinen Kreises nur emsig gearbeitet werde. Zu dieser Arbeit zum Wohle der ärmsten der Kinder unseres Volkes sei auch diese Versammlung berufen, und die Königliche Regierung wünsche ihr reichen Erfolg. Besonders habe sie sich gefreut über den kürzlich er- folgten Zusammenschluss der Hilfsschullehrer Westfalens, von dem sie eine Vertiefung der Arbeit innerhalb der Hilfsschulen und eine Förderung des Gedankens derselben in weiteren Kreisen erhoffe.e Der Kreisschulinspektor Schreff begrüsste die Ver- sammlung namens der Dortmunder Schulbehörde; er wies dabei auf das Wachstum der hiesigen Schule hin und auf die Förderung, der namentlich die Hilfsschulen auch in unserer Stadt von allen Seiten erfahre.

Sodann begannen die eigentlichen Verhandlungen, die sich nach dem Beschlusse der Hagener Konferenz auf den „Lehrplan für Hilfsschulen“ erstreckten. Eine damals gewählte Kommission hatte die Bearbeitung eines solchen übernommen. Da es den Gliedern derselben bei der räumlichen Entfernung von einander nicht möglich war, öfter zusammen zu kommen, so hatten sie, wie der Vorsitzende ausführte, nach folgendem Arbeitsplane gearbeitet. Schmitz-Dortmund hatte die allgemeinen Richt- linien zu einem Lelrplane ansgearbeitet.. Diese waren in der Kommission durch- beraten und nun hatten einzelne Herren die Aufgabe übernommen, je ein Fach im Anschluss an die erwähnten Richtlinien auszuarbeiten. Natürlich war dadurch das Material viel zu reichhaltig geworden, um in einer Konferenz bewältigt zu werden.

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Deshalb beschränkte sich die Versammlung auf Vorschlag des Schulrats Stegemann auf die Besprechung der Richtlinien. Wenn dieser Schritt auch notwendig war, so bleibt es doch zu bedauern, dass die Arbeiten der auderen Herren nicht zu ihrem Rechte kamen. Hoffen wir, dass die künftigen Konferenzen sich dieses Stoffes be- mächtigen werden. Die Verhandlungen ergaben, dass die Konferenz mit diesen Richtlinien (auf welche in einem späteren Artikel zurückgekommen werden soll), durchaus einverstanden war; nur über Einzelheiten liess sich eine allseitige Zustimmung nicht erzielen. So plaidierte Schulinspektor Dr. Schapler für eine zweistufge Gliederung ‘der Hilfsschulen, der er der grösseren Konzentration wegen den Vorzug vor der drei- stufigen giebt. Die sehr lebhafte Besprechung erstreckte sich vorzugsweise auf die Punkte. Schülermaterial, Gliederuug der Hilfsschulen, Religionsunterricht, Sprachunterricht und Turnen. Erfreulicherweise herrschte, wie oben bemerkt, in den Hauptpunkten vollständige Einmütigkeit, ein Umstand, der auf die zahlreich erschienenen „Neulinge“ den günstigsten Eindruck machen musste. Auf Vorschlag eines Herrn erklärte die Versammlung ihre Übereinstimmung mit den Forderungen der Richtlinien. Welcher Arbeitsgeist die Versammlung beseelte, zeigte der Umstand, dass trotz der langen Dauer der Versammlung alle Teilnehmer bis zum Schluss ausharrten. Möchte der Same, der auf dieser Konferenz ausgestreut wurde, Wurzel fassen, zum Wohle der ärmsten der Kinder unseres Volkes. 8.

Mainz. (IV. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands.) Am 14. bis 16. April 1903 findet dahier der IV. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands statt. Der Ortsausschuss, dem die Spitzen der Verwaltungs- und Schulbehörden in entgegen- kommendster Weise beigetreten sind, ist bereits ernstlich an der Arbeit, den Besuch des Verbandstages nüt-lich und augenehm zu gestalten. Die Tagesordnung, deren Veröffentlichung demnächst erfolgen wird, ist höchst zeitgemäss und praktisch. Dies, die günstige Lage der Versamm'ungsstadt und ihre sehr anziehende Nachbarschaft (National-Denkmal, Wiesbaden, Idsteiner Anstalt), dürften einen zahlreichen Besuch sichern.

Litteratur.

Die Willensprobleme in systematischer Entwicklung und kritischer Beleuchtung von Dr. N. Kurt. Weimar 1902. Verlag von R. Wagner Sohn. 75 Seiten. Preis Mk. 1,80.

Die vorliegende Arbeit ist eine geistreiche Abhandlung über die deterministische Lehre von der menschlichen Freiheit und Verantwortlichkeit gegenüber der indeter- ministischen, die kritisch beleuchtet und als unvereinbar mit den unwandelbaren ewigen Gesetzen des Denkens und mit allen objektiv aufgefassten Erfahrungsthatsachen hingestellt wird. Die Darstellung zeichnet sich durch logische Schärfe, überzeugende Schlussfolgerungen, und gerechte kritische Würdigung der gegenteiligen Meinungen aus. Besonders interessant ist der erste Teil der Schrift, in welchem eine systematische, scharf begrenzte Entwicklung der Lehre von der Notwendigkeit alles Geschehens, ins- besondere des menschlichen Thuns und Lassens geboten wird. So anrezond auch die ganze Abhandlung geschrieben ist, unseren Intentionen entspricht sie nur in geringer

184

Weise, denn bei den Geistesschwachen sind noch ganz andere Willensprobleme zu lösen und kritisch zu beleuchten. Immerhin aber verdient sie auch unsere Beachtung, da sie uns durch ihr Studium den Boden für unsere Forschungen in dieser Beziehung vielfach zu erschliessen geeignet erscheint.

Die Schädlichkeit des Missbrauchs geistiger Getränke. Ein Lehrbuch für die oberen Klas:en der Volksschulen, für Fortbildungsschulen und Erwachsene mit Erzählungen und 15 farbigen Abbildungen. Von Dr. med. E. Dicke, Sanitätsrat in Schwelm und Dr. med. E. Kohlmetz, Knappschaftsarzt in Sprockhösel i. W. Hattingen a. d. Ruhr 1901. C. Hundt. Preis 1.25 Mk.

Dieses Lehrbuch kaun auch in den Oberklassen unserer Anstalts- und Hilfs- Schulen benutzt werden. Sein mannigfacher Inhalt kann mit Erfolg im Unterrichte verschiedener Lehrgegeustände herangezogen werden. Die Sprache ist einfach, leicht verständlich, Fremdwörter sind vermieden oder wenn solche als technische Ausdrücke vorkommen, durch deutsche Wörter erklärt. Dem 3. Kapitel sind”5 farbige Tafeln beigegeben, welche die verderbliche Wirkung des Alkohols auf die inneren_Organe anschaulich zeigen. Wir können durch die Schule segensreich auf die Familien wirken, wenn wir dieses Werkchen den Bibliotheken unserer Schulen einreihen, es den Kindern leihweise mit nach Hause geben und so den Eltern Gelegenheit bieten, Belehrung daraus zu schöpfen. Ich glaube, an uns Lehrer schwachsinniger Kinder tritt sehr oft die Verpflichtung, direkt oder indirekt gegen den Alkohol; kämpfen zu müssen, wobei uns das besprochene Buch mit viel schätzenwertem” Material_ hilfreich zur Seite steht. W.

Offene Lehrerstelle.

Für die neu einzurichtende zweite Klasse an der hiesigen städtischeu Hilfsschule wird zu Ostern 1903 ein Lehrer gesucht, Grundgehalt 1400/Mk.,” neun Alters- zulagen von 180 Mk., freie Wohnung oder 400 Mk. Mietsentschädigung für Ver- heiratete, 200 Mk. für Unverheiratete.

Bewerber, welche mit der Behandlung geistig zurückgebliebener Kinder vertraut und. in einer für solche Kinder errichteten Schule mit Erfolg thätig gewesen siwd werden ersucht, ihre Meldungen nebst Lebenslauf, Zeugnisabschriften und Gesunde heitsattest binnen 2 Wochen nach Ausgabe dieses Blattes an uns einzi achen.

Die Schul-

LAG

Schwelm, den 6. November 1902.

Inhalt. Das Freihandzeichnen in der Hilfsschule zu sipzi

BEER

Mitteilungen: Dortmund, Mainz. Litteratur: Die Willensproble ER . - . . t a í

und kritischer Beleuchtung. Die Schädlichkeit des Missbrauel

Anzeigen. Ani

Für die Schriftleitung verantwortlich? W

Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. § Druck von Johannes

N > C . : AICINA Nr. 12. XVIII. EEN >

Zeitsehrift

für die

Behandlung Schwachsimmiger und Epileptiseher.

Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitătsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Dresden -Strohlen, für E EA NE Residenzstrasse 37. in Stuttgart.

STORT jährlich in 12 Nummern von Zu eael durch alle Buchhandlungen

mindestens elnem Bogen. Anzeigen für und Postämter, wie auch direkt von der

die gespaltene Petitzelle 25 Pfg. Litte- Dezember 1902 , Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, rarische Beilagen 6 Mark. | einzelne Nummer 50 Pfg.

Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

Ueber schwachsinnige Kinder*). Von Dr. E. Nawratzki, Assistenzarzt an der Irren- und Idiotenanstalt der Stadt Berlin zu Dalldorf.

In der folgenden Darstellung konnte es nicht meine Absicht sein, das Thema erschöpfend zu behandeln, vielmehr möchte ich nur auf einige Punkte näher eingehen, die noch einer verschiedenartigen Auffassung unterliegen und auch zu Kontroversen Anlass gegeben haben.

Schon die Umgrenzung des Begriffes Schwachsinn hat zahlreiche Aus- einandersetzungen hervorgerufen und ist bis jetzt noch nicht als zu aller Zu- friedenheit erledigt zu betrachten.

Bekanntlich unterscheidet man einen angeborenen und einen erworbenen Schwachsinn und hat sich gewöhnt, von letzterem nur bei solchen Individuen zu sprechen, die zunächst Zeit hatten, sich als geistig vollwertig zu erweisen und erst dann im Verlaufe einer regelrecht durchgemachten Psychose sekundär verblödeten. Von diesem soll hier nicht weiter die Rede sein.

Die Bezeichnung „angeborener Schwachsinn“ ist im allgemeinen als Sammel- name für mannigfache geistige Schwächezustände aufzufassen, die, noch so weit gefasst, das eine gemeinsam haben, dass sie auf augeborenen oder sehr früh erworbenen, mehr oder minder ausgebreiteten Entwickelungsstörungen des Central- nervensystems, speciell des Grosshirns, beruhen und die von ihnen betroffenen Kinder für die gewöhnliche erzieherische Behandlung ungeeignet erscheinen lassen. Hierzu mag bemerkt werden, dass die früh erworbenen Störungen, wenn sie in ihrem Effekt mit den angeborenen übereinstimmen sollen, bis zu einer Zeit erfolgt sein müssen, innerhalb welcher das grobe Gehirnwachstum noch

*) Vortrag, gehalten am 28 Februar 1902 in der freien Vereini gung Berliner Schulärzte

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nicht abgeschlossen ist, das ist nach Ziehen etwa bis zum 3. Lebensjahre. Man wird also verlangen dürfen, dass in jedem Falle von behauptetem Schwachsinn das Bestehen derartiger Bildungsfehler in dem nervösen Centralorgan wahr- scheinlich gemacht wird. Sonst gewinnt der Begriff Schwachsinn eine allzu vage Bedeutung, und man gelangt schliesslich dahin, dass jeder intellektuell höher Stehende den tiefer Stehenden als schwachsinnig bezeichnet.

Charakteristisch für diese Entwickelungsstörungen ist der Umstand, dass sie Dauerdefekte darstellen, dass also von einer Heilung eines von ihnen betroffenen Individuums nicht gut die Rede sein kann. Nichtsdestoweniger kann diese Person auf Grund der übrigen entwickelungsfähigen nervösen Elemente erziehungsfähig sein, wird aber Defekte stets erkennen lassen. Mit welchen Hilfsmitteln diese am lebenden Kinde noch nachgewiesen werden können, soll an einer späteren Stelle erörtert werden.

Geht man jetzt von der eben gegebenen Definition aus und hält nun Um- schau über die grosse Reihe der als anormal bezeichneten Kinder, so lösen sich ganz von selbst zwei Gruppen ab, die sich bei den Schwachsinnigen in unserem Sinne nicht gut unterbringen lassen.

Die erste Gruppe umfasst diejengen Kinder, welche mit gut angelegtem Gehirn zur Welt gekommen sind, sich bis zum schulpflichtigen Alter hin und darüber hinaus gut entwickelt haben, in ihrer Vorgeschichte nichts von solchen Momenten darbieten, die bei den Schwachsinnigen eine grosse Rolle spielen, welche dann aber unter der Ungunst äusserer Verhältnisse geistig und körperlich nicht recht vorwärts kommen. Das sind Kinder, die zu Hause ungenügend ernährt, vernachlässigt oder über ihre Kräfte hinaus zum Erwerb herangezogen werden oder die nach dem Überstehen erschöpfender Krankheiten sich nicht genügend schonen und erholen können. All diese Geschöpfe bieten die Symptome der Unterernährung dar. Sie sehen blass und leidend aus, sind apathisch, klagen oft über Kopfschmerzen, sind leicht erschöpft und in geistiger Hinsicht wenig aufnahmefähig. Manche der sogenannten Schwachbefähigten, von denen in neuerer Zeit so viel die Rede ist, sind wohl solche unterernährten Kinder. Ihre geistige Schwäche stellt sich nicht selten als etwas Accidentelles heraus, was zu der allgemeinen körperlichen Schwäche hinzutritt und als heilbar anzusehen ist. Mit der Hebung der Körperkräfte durch Verbesserung der äusseren Verhältnisse und Beseitigung sozialer Missstände schreitet auch die geistige Entwickelung wieder vorwärts. Solche Kinder würden vielleicht eher den Arzt nötig haben, jedenfalls dankbare Objekte besonderer hygienischer und sozialer Massnahmen sein, aber kaum eines besonderen heilpädagogischen Systems bedürftig sein, es sei denn, dass sie zu spät erkannt und zu lange vernachlässigt worden sind, Man kann diese Elemente nach Jean Demoor auch als pädagogisch Zurück- gebliebene bezeichnen.

Zu dieser Gruppe gehören noch diejenigen Kinder, bei denen adenoide Wucherungen im Nasenrachenraum sekundär durch Störungen in der Bilutzufulhr zum Gehirn ein erschwertes Denken, Auffassen und Aufmerken verursachen. Die geistige Unzulänglichkeit dieser Kleinen mit dem typischen Aussehen

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der „adenoiden Maske“ ist auch nur als etwas Sekundäres, Vorübergehendes zu betrachten. Sie lässt sich durch die operative Entfernung der hyperplastischen Rachenmandel beseitigen. Aber in solchen Fällen, in denen die Operation diesen Erfolg gezeitigt hatte, von einer operativen Heilung des Schwachsinns zu sprechen, wie dies geschehen ist, das verrät einen Standpunkt in der Frage nach den Ursachen des Schwachsinns, der wohl nicht als berechtigt anerkannt werden kann. Wir haben hier doch etwas Ähnliches vor uns, wie wenn Kinder durch andere körperliche Leiden psychisch beeinflusst werden, mögen es nuu Kopf-, Zahn- oder Leibschmerzen oder ernstere Leiden, z. B. Herz- und Nierenleiden sein. Auch diese Kinder werden unlustig, unaufmerksam, träge und rufen oft genug erst durch ihr verändertes psychisches Verhalten den Verdacht wach, dass sie körperlich krank sind.

Bei wirklich schwachsinnigen Kindern, die ja sogar zum grössten Teil mit jenen Wucherungen im Nasenrachenraum behaftet sind, hinterlässt die Operation keinen wesentlichen Effekt, wie mich die Erfahrung gelehrt hat. Lässt sich aber durch die Exstirpation der Rachenmandel die psychische Hemmung beseitigen, dann darf man wohl sagen, dass diese kein Schwachsinn gewesen ist. Zum Vergleich möchte ich auch an die Fieberdelirien erinnern. Es wird niemandem beifallen, diesen psychischen Störungen, die zuweilen auf der Höhe schwerer fieberhafter Erkrankungen auftreten, und von denen er weiss, dass sie mit dem Abklingen des Fiebers wieder verschwinden, diejenige Bedeutung beizumessen, wie irgend einer genuinen Psychose, sei es einer Paranoia, Melancholie oder Manie.

Die andere abzugrenzende Gruppe umfasst solche Kinder, die nicht im eigentlichen Sinne schwachsinnig sind, sondern nur schwache Sinne haben, wie Schwachsichtige, Schwerhörige, Blinde und Taube resp. Taubstumme. Bei ihnen liegen die Störungen in den percipierenden Sinnesorganen, also an der Peripherie, während das Centralorgan intakt sein kann. Eine Erschwerung der geistigen Eontwickelung ist allerdings bei diesen Individuen dadurch geschaffen, dass nicht von allen Sinnesorganen Reize nach dem Centrum fortgeleitet und hier weiter verarbeitet werden können. Und wir wissen, dass das Centralorgan solcher Reize bedarf, um sich weiter zu entwickeln. Aber so lange nur ein Sinnesorgan affıziert ist, können die übrigen vikariirend dafür eintreten. Und es wird sich bei solchen Individuen mehr darum handeln, bei eventuell gleichem Lehrstoff eine andere Lehrmethode anzuwenden, im Gegensatz zu den in strengem Sinne Schwachsinnigen, die das Produkt ererbter oder durch Krankheit früh hervor- gerufener Gehirnveränderungen repräsentieren und nicht nur eine Änderung der Lehrmethode, sondern vor allem eine Änderung des Lehrstoffs erheischen.

Nach Abzug solcher Gruppen, die sich dem Bilde des angeborenen Schwach- sinns nicht einfügen lasgen wollen, und deren Menge vielleicht hier und da eine kleine Verstärkung erfahren könnte, sehen wir uns noch immer einer recht statt- lichen Schaar von wirklich Schwachsinnigen gegenüber, die teils in Idioten- anstalten, teils in den Hilfschulen resp. in der Familie uns begegnen.'Y Ich möchte hier übrigens einschaltend bemerken, dass ich mich bisher ohne Weiteres

ee,

des Ausdrucks „Schwachsinnige* als Kollektivnamen für alle Arten geistesschwacher Kinder bedient habe und möchte hieran auch für meine weiteren Ausführungen festhalten. Ich bin mir aber wohl bewusst, dass diese Kollektiv-Bezeichnung noch keineswegs allgemein giltig ist, ja dass dieser Name in manchen Ein- teilungen nur für gewisse Untergruppen reserviert ist.

Die Gesamtzahl der Schwachsinnigen in dem uns hauptsächlich interessieren- den Lande, in Deutschland, findet sich bei Ziehen schätzungsweise zur Zeit auf mindestens 150000 angegeben. Darnach würde bei uns auf ca. 400 Einwohner ein Imbeciller kommen. In derselben Zusammenstellung wird noch mitgeteilt, dass nach Carlsen in Dänemark im Jahre 1888/89 auf ca. 500 1 Imbeciller entfiel, in Frankreich nach Kollmann in Jahre 1873 auf ca. 300 1 Fall von angeborenem Schwachsinn, in Österreich 1:683, in England 1: 771, in Italien nach einer Statistik Grimaldis aus dem Jahre 1892 1:1550. Die erheblichen Differenzen unter diesen Zahlen gestatten natürlich keinerlei Rückschluss auf die durchscbnittliche Intelligenz in den einzelnen Ländern, sondern lassen eher auf den geringen Wert der Statistiken schliessen.

Schon bei einer oberflächlichen Musterung der Schwachsinnigen drängen sich dem Beobachter ganz von selbst zahlreiche bemerkenswerte Unterschiede und Abstufungen auf, die bereits früh natürlich zu Gruppierungsversuchen führen mussten. Alle möglichen Gesichtspunkte sind hierbei massgebend gewesen. Aber bis auf Jen heutigen Tag feblt es uns noch an einer einheitlichen, all- gemein angenommenen Einteilung, die alle Wünsche hinsichtlich der Präzision befriedigte.e Wir sind in dieser Beziehung nicht viel weiter als vor 50 und 60 Jabren. Bereits die alten Irrenärzte unterschieden 3 Formen der Geistesschwäche: Blödsinn, Schwachsinn, Einfältigkeit. Morel gebraucht hierfür die Bezeich- nungen: Idiotisme, Imbecillit6, Simplicité d'esprit. Einer ähnlichen Einteilung begegnen wir jetzt von neuem, nur unter Zugrundelegung anderer Namen. So teilt Ziehen dieSchwachsinnigen im weiteren Sinne ein in: Idioten, Imbecille und Debile. Ich möchte dafür lieber setzen: Schwachsinnige schweren, mittleren und leichten Grades. Für all diese Gruppierungen sind die intellektuellen Ver- schiedenheiten massgebend gewesen. Und in der That ist dieses Einteilungs- prinzip auch unserem Gefühl nach das empfehlenswerteste. Denn schon bei der allgemeinen Bezeichnung Schwachsinnige haben wir zunächst weniger die moralischen und die den Willen ausdrückenden Qualitäten im Sinne, als vielmehr die intellektuellen Fähigkeiten. Einer gewissen Willkür ist allerdings die Absteckung der Grenzen zwischen den einzelnen Klassen unterworfen, was bei den fliessenden Übergängen von einer Gruppe zur anderen gar nicht Wunder nehmen kann. Immerhin lässt sich auf dieser Basis eine Verständigung unter den verschiedenen Beurteilern eher herbeiführen, sobald wenigstens in der Namengebung eine gewisse Einheitlichkeit hergestellt wird. Wird aber diese willkürlich gehandbabt, so ist eine Verständigung recht erschwert; dann gelangt man dahin, dass jeder Autor seine eigene Nomenklatur hat und bei jedem Namen immer erst eine besondere Definition hinzusetzen muss, um verstanden zu werden. Zuweilen geht die Willkür in der Namengebung wohl auch etwas zu weit, wenn z. B. Bezeich-

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nungen, die eigentlich dasselbe bedeuten und nur aus verschiedenen Sprachen entnommen sind, für verschiedene Zustände gewählt werden. So unterscheidet z.B. Fuchs: Imbecille und Schwachsinnige. |

Die Hoffnungen auf eine brauchbare Einteilung, die man aus der besseren Kenntnis der pathologischen Anatomie schöpfen zu können glaubte, haben sich bis jetzt als trügerisch erwiesen. Versucht hat man allerdings, darnach einzuteilen. Mit welcher Willkürlichkeit dabei schon verfahren worden ist, zeigt Ihnen viel- leicht der folgende Versuch einer Einteilung, die von Herrn Direktor Barthold auf dər X. Konferenz für Idiotenpflege und Schulen für schwachbefähigte Kinder vorgetragen worden ist. Ich habe unter seinen Leitsätzen Folgendes gegenüber- gestellt gefunden: 1. Unter den Begriff „Idioten“ stellen wir alle diejenigen Kinder, welche von Geburt oder von den ersten Lebensjahren an infolge einer überstandenen Gehirn-Erkrankung in ihrer geistigen Entwickelung geschädigt worden sind. Im Gegensatz hierzu unter No. 8: Zu den Schwachbefähigten rechnen wir alle Kinder, welche unter der Durchschnittsbefähiguug der Elementarschüler stehen. Die Schwachbefähigung dieser Kinder beruht nicht, wie durchgängig bei allen idiotischen Kindern, auf einem Gehirndefekt, sondern und nun unter anderen Tunkten der folgende auf einer Degeneration, verursacht: a) durch Trunksucht der Eltern, b) durch Syphilis eines Teils oder beider Eltern, c) durch nahe Verwandtschaftlichkeit derselben, d) durch geistige Minderwertigkeit der- selben. Dem ist entgegenzuhalten, dass sich an Gehirnen schwer idiotischer Kinder sehr häufig keine groben Defekte und keine Residuen überstandener Gehirnerkrankungen auffinden lassen, und dass andererseits Trinker und syphi- litische Eltern schwer idiotische Kinder gezeugt haben.

Auch aus dem Studium der Ätiologie und anderer auffälliger klinischer Be- funde heraus ist man zu keiner befriedigenden Gruppierung gelanrt. Immer hat sich der Übelstand ergeben, dass die Verschiedenheiten z. B. der ätioloxischeu Momente sich nicht mit den Verschiedenheiten der geistigen Zustandsbilder der Schwachsinnigen deckten. Nur zur Bildung von Untergruppen in der einen oder anderen Klasse kann man allenfalls auf die Ätiologie zurückgreifen, wie dies in neuerer Zeit geschehen ist. So werden z. B. Schwachsinnige schweren Grades gelegentlich noch eingeteilt in Cretins, myxoedematöse, syphilitische, epileptische Idioten, mikro- und hydrocephale, meningitische- und encephalitische Idioten. Diese Einteilung hat noch einen Sinn vielleicht im Hinblick auf therapeutische Eingriffe, die sich aus der einen oder andern Diagnose ergeben können.

Einzelne Autoren haben hervorstechende Syınptome ihrer Einteilung zu Grunde gelegt. Sie unterscheiden z. B. eine erethische und anergethische Form des Schwachsinns, je nachdem das schwachsinnige Kind eine starke motorische Unruhe an den Tag legt, z. B. ziel- und zwecklos herumläuft, viele ungeordnete automatische Bewegungen mit den Händen ausführt, schreit und dgl. m., oder ob es stumpf und in sich versunken dasitzt. Aber diese Anordnung gestattet ebenso wenig wie die vorhergehenden einen einwandfreien Schluss hinsichtlich der geistigen Potenz des Individuums.

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Dass die Einteilungsversuche nicht verstummen wollen, sondern immer von neuem trotz des spröden Materials aufgenommen werden, kann nur dem Wunsche entspringen, durch eine kurze, prägnante Bezeichnung das ganze Wesen und den Charakter eines Schwachsinnigen darzulegen und mit dem Namen zugleich die zweckmässigste Unterbringung auszudrücken. Dies dürfte schwerlich gelingen. Der Name thut eigentlich auch nichts zur Sache, sondern nur die genaue Kennt- nis des ganzen Individuums mit allem, was mit ihm zusammenhängt, kann einem die Wege zu einem erspriesslichen Wirken zeigen.

Wenden wir uns nun wieder der Einteilung zu, die auf dem Vorhandensein intellektueller Verschiedenheiten aufgebaut ist und für die Praxis am meisten zweckentsprechend erscheint, so rechnet man zu den Schwachsinnigen schweren Grades alle diejenigen, deren Denkkraft gleich Null ist. Das sind Kinder, die nichts aufnehmen und nichts reproduzieren können. Sie haben kein Gedächtnis. Alles, was ihnen zum so und so vielten Male vorgeführt wird, erscheint ibnen immer wieder als etwas ganz Neues, das sie für einen Augenblick vielleicht ansehen. Es gelingt schwer oder gar nicht, ihre Aufmerksamkeit auch nur für kurze Zeit zu fesseln. Die durch die Sinnesorgane, welche ganz intakt sein können, auf- genommenen Eindrücke bleiben nicht haften und werden auch nicht weiter ver- arbeitet. Von einer associativen Thätigkeit kann unter solchen Vorbedingungen selbstverständlich keine Rede sein. Der Tiefe ihres geistigen Niveaus entspricht ihr Sprachvermögen. Über einzelne gelallte oder gestammelte Laute und Worte einfachster Art kommen sie nicht hinaus. Sie lernen nichts und sind unfähig, irgend eine Arbeit zu verrichten. Von der Schilderung der andern Nebener- scheinungen, wie z. B. der Unsauberkeit, der Fressgier, der Gefühllosigkeit, dem plumpen, hässlichen Aussehen etc. will ich hier absehen, da ich nur die intellek- tuellen Eigenschaften betonen möchte.

Die Schwachsinnigen mittleren Grades sind mehr automatische Wesen, welche Handlungen ohne rechtes Verständnis für dieselben nachahmen. Mit einer Schwäche des Willens verknüpft sich bei ihnen Interesselosigkeit und geringe Aufmerksamkeit. Sie sind mit einem mässigen Gedächtnis begabt und eignen sich einige konkrete Begriffe an, sind aber meist unfähig, diese zu ver- knüpfen und selbständig Schlüsse daraus zu ziehen. Sie lernen etwas Lesen und Schreiben und kleine Additionen ausführen. Schwerer fällt ihnen das Subtrahieren und Multiplizieren; gar nicht begreifen sie das Dividieren. Eine grössere Fähigkeit besitzen sie für mechanische Arbeiten, für Zeichnen, Holz- schnitzen, Modellieren und dergl. m. Ihr Sprachschatz ist schon umfangreicher, als bei der vorigen Gruppe. Die Kinder sprechen bereits in kleinen Sätzen.

Die Schwachsinnigen leichten Grades endlich verfügen über ein grösseres Mass von Begriffen, verwenden sie wohl zu rechter Zeit und in geordneter Weise, haben aber ein langsameres Denkvermögen und schwächeres Gedächtnis. Ihr Sprach- vermögen zeigt keine wesentliche Einschränkung gegenüber den Vollsinnigen ; manchmal sind die Kinder geradezu schwatzhaft; aber ihr Wortschwall kann über ihre Gedankenarmut nicht hinwegtäuschen. Sie sind schwer zu fixieren, unbeständig und zerstreut und besitzen oft eine ungezügelte Einbildungskraft.

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Charakteristisch ist für sie noch die Unfähigkeit zu selbständigen Schlüssen und Handlungen. Zu dieser Gruppe von Schwachsinnigen werden wir auch diejenigen zählen müssen, bei denen dieVerstandestbätigkeit relativ geringere Defekte erkennen lässt, als das Empfinden und das Wollen. Das sind die boshaften, leicht erreg- baren, dünkelhaften Individuen, welche Sollier als antisozial charakterisiert, die sehr suggestibel sind und ihren gefährlichen Trieben und Neigungen willenlos nachgeben.

Es könnte fast scheinen, als ob die eben erläuterten Gruppen Anlehnung suchten an die Schuleinrichtungen für Schwachsinnige, die ja in Nebenklassen, Hilfsschulen und Idiotenanstalten bestehen, etwa dergestalt, dass Schwachsinnige leichten und ein Teil des mittleren Grades für die Nebenklassen und Hilfs- schulen, die übrigen für die Idiotenanstalten vorbehalten blieben. Dies trifft jedoch nicht ganz zu. Es trifft schon nicht zu für die Schwachsinnigen mit moralischen Defekten, die ihrem Intellekt nach dem leichten Grade angehören würden, für die aber zu erzieblichen Zwecken nur der Anstaltsaufenthalt in Frage kommen kann.

Mit nicht geringeren Schwierigkeiten als die Abgrenzung unter sich ist die Abgrenzung der Schwachsinnigen nach oben hin verknüpft gegenüber denjenigen, deren Beschränktheit noch in die physiologische Breite fällt, die also noch als physiologisch dumm zu gelten haben. Was besonders zur Verwischung der Grenzen beizutragen geeignet ist, ist die Verquickung der Überbürdungsfrage mit der Frage nach der Fürsorge für die verschiedenen Gattungen der Schwach- sinnigen. Die Untersuchungen über die Prüfung geistiger Fähigkeiten und ihre Anwendung bei Schulkindern, die über die Überbürdung etwas Aufklärung bringen sollen, sind in der Regel nicht auf geistesschwache, sondern auf minderbegabte Individuen zugeschuitten. Es ist ja richtig, dass, wenn man will, man auch bei Schwachsinnigen von einer Art Überbürdung reden kann, wenn sie an einem falschen Platze untergebracht sind. Aber es scheint mir doch ein wesentlicher Unterschied darin obzuwalten, ob man es mit der Insufficienz eines krankhaft veränderten oder eines sonst gesunden Gehirns zu thun hat. Der Arzt, der allerdings in beiden Fällen gehört werden müsste, hat eine verschiedenartige Thätigkeit insofern zu entfalten, als ihm in dem einen Falle obliegt, das Vor- handensein eines von Hause aus bestehenden Leidens des Centralnervensystems beim Kinde aufzudecken. Im anderen Falle hat er die ErsCheinungen der Über- müdung und Erschöpfung festzustellen und auf ihren Zusammenhang mit der Überarbeitung zu prüfen. Eine Verquickung beider Momente muss zu Unklar- heiten und Missverständnissen führen.

Wenn man sich vergegenwärtigt, dass der angeborene Schwachsinn auf Entwickelungsstörungen im Gehirn beruht, so erwächst hieraus für den Arzt die Aufgabe, zur Sicherung der Diagnose diese Störungeu auf plausible Art nach- zuweisen. Nach drei Richtungen hin muss er zu dem Zweck seine Nach- forschungen anstellen, um zu einem abschliessenden Urteile zu gelangen. Er hat 1. die Anamnese, 2. die Begleiterscheinungen am Kinde, 3. dessen geistige Beschaffenheit selbst zu prüfen. Je früher er bei einem Kinde in die Lage

= A

kommt, diese Feststellungen vorzunehmen, um so mehr schrumpft der dritte Weg zusammen; um so intensiver wird er dafür in den beiden andern Rich- tungen vorgehen müssen.

Die Anamnese kann ihm über mehrerlei Aufschluss geben, 1. über die Belastung, 2. über Störungen vor und während der Geburt, 3. über Erkrankungen und Verletzungen des Kindes in den ersten Lebensjahren, 4. über die Art seiner Entwickelung. Wir wissen, dass cerebrale Hemmungsbildungen schon auf einer schlechten Keimanlage beruhen können. Kranke Eltern produzieren oft kranke Keime. Vornehmlich lassen nervöse oder Geistesstörungen, darunter Epilepsie, ferner Trunksucht und Syphilis in der Ascendenz ein Mitergriffenwerden des Keimes befürchten. In der That begegnen uns in den Familien Schwachsinniger am häufigsten diese drei Krankheitsformen. Eine ähnliche Verschlechterung der Keimanlage infolge schlechter Ernährungsverhältnisse baben wir uns in den Fällen vorzustellen, wo phthisische Eltern schwachsinnige Kinder erzeugen.

Die sich entwickelnde Frucht kann vor der Geburt Störungen in der Fort- entwickelung erfahren durch psychische oder somatische Traumata der Mutter oder direkt durch eigene Erkrankungen. Während der Geburt kommt es infolge langer Dauer der Geburt oder durch eine etwa notwendig gewordene Kunsthilfe gelegentlich zu Blutungen in die Gehirhäute oder Gehirnsubstanz, die dann diffuse Veränderungen zur Folge haben können-

Erkrankungen während der ersten Lebensjahre, die das kindliche Gehirn direkt in Mitleidenschaft ziehen können, sind vornehmlich Stoffwechsel- und Infektionskrankheiten, z. B. Rachitis, Lues, Scharlach, Masern, Keuchhusten, Typhus, ferner direkte Erkrankungen und Schädigungen des Centralnervensystems, welche von jenen Infektionskrankheiten nicht abhängen, in Gestalt von Hirn- und Hirnhautentzündungen.

Sehr wichtige Aufschlüsse geben uns die Schilderungen der Eltern über die Art des Entwickelungsganges zurückgebliebener Kinder. Man sollte es deshalb nie verabsäumen, nach dieser Richtung hin zu forschen, und es gelingt auch in der Regel, durch passende Fragestellung das Nötige herauszubekommen. Be- sonders erweisen sich die Mütter, namentlich wenn sie mehrere Kinder gehabt haben, als scharfe und zuverläs.ige Beobachterinnen. Da erfährt man, dass das Kind schon in den ersten Jahren dadurch aufgefallen war, dass es anders war, wie andere Kinder. Es zeigte keine Teilnahme für die Umgebung, lachte nicht, griff nach nichts etc. Wenn man bedenkt, dass das normale Kind bereits 10 Tage nach der Geburt einer brennenden Kerze nachschaut, im 3. Monat schon fixiert, mit 3 oder 4 Monaten Personen und Gegenständen mit den Augen folgt, wenn ein reflexmässiges Lächeln auf dem Gesicht des normalen Kindes schon im 2. Monat erscheint, sobald ınan es aın Kinn oder an der Nasenspitze kitzelt, und das Kind am Ende des 7. Monats beim Anblick eines ihm sym- pathischen Gesichts regelmässig lächelt, so wird man die Bedeutung, die dem Ausbleiben dieser Vorgänge im ersten Lebensjahre, oder gar noch später, inne- wobnt, nicht unterschätzen und wo sie beobachtet werden, darin schon die ersten Zeichen der geistigen Minderwertigkeit zu suchen haben.

Weitere Anhaltspunkte zur Beurteilung eines Kindes gewähren uns ferner die Angaben über den Beginn des Gehens, Sprechens, Zahnens und über die Reinlichkeit. Schwachsinnige Kinder lernen meist erst sehr spät laufen und sprechen, wenn sie es überhaupt lernen und zwar erst im 3., 4. Lebensjahre und später. Noch länger bleiben sie Bettnässer, oft bis zum 6., 7. Jahr und darüber. Manche Schwachsinnige schweren Grades bleiben es ihr ganzes Leben hindurch.

Am Kinde selbst geben zunächst die Begleiterscheinungen einen wertvollen Hinweis auf das Vorhandensein cerebraler Veränderungen und sind zweierlei Art. Die erste Gruppe umfasst die somatischen Abweichungen formalen Charakters, Verbildungen und Missbildungen, die unter dem Namen Degenerationszeichen allgemein bekannt sind. Hierher gehören z. B. die Verbildungen des Ohres, wie das angewachsene Ohrläppchen, das Spitzohr, das Katzenohr, der Darwinsche Höcker, der stark vorspringende Anthelix des Wildermuthschen Ohres etc.; ferner zählen dazu die Missbildungen des Gaumens, in Gestalt des zu steilen oder flachen Gaumens, der Gaumenspalte, der Hasenscharte und des Wolfsrachens, ausserdem die Schädelanomalien, wie der zu grosse oder zu kleine Schädel und der Turmschädel, ebenso die Anomalien an den Augen, an den Gliedern u. s. w. Als zugehörig zu den körperlichen Abweichungen möchte ich hier auch das Zurückbleiben im Körperwachstum und das langsamere Wachstum anführen, das bei der Mehrzahl schwachsinniger Kinder zu beobachten ist. Die Bedeutung all dieser Degenerationszeichen liegt vornehmlich darin, dass, wo bereits der Verdacht auf Geistesschwäche besteht, sie diesen Verdacht noch zu verstärken vermögen. Man wird vielleicht auch vermuten dürfen, dass in den Fällen, wo solche Degenerationen an anderen Organen bestehen, wohl auch das Gehirn degeneriert sein könnte. Aus ihrem Fehlen oder Vorhandensein allein aber auf die Geistesbeschaffenheit eines Individuums zu schliessen, ist natürlich nicht angängig. Selbst aus der Zabl und der Schwere der Degenerationszeichen ist ein Rückschluss auf den Grad des Schwachsinns nicht immer möglich, da manch- mal die hochgradigsten Idioten die wenigsten Zeichen darbieten. Allerdings lehrt die Erfahrung, dass die schwersten formalen Veränderungen sich vorzugs- weise bei den Schwachsinnigen schweren Grades vorfinden.

‚Die andere Gruppe der Begleiterscheinungen enthält diejenigen Störungen, die direkt der körperliche Ausdruck eines Gehirnleideus sind. Hier tritt uns das ganze Heer von Lähmungen und Muskelsteifigkeiten entgegen, die in dem Bilde der cerebralen Kinderlähmung sich vereinigt finden und oft nur in geringen Residuen bestehen, die leicht zu übersehen sind, ferner die Symptome des Nystagmus, des Schielens, der choreiformen Zuckungen, des Gliederzitterns, Krämpfe, Schwindel, Kopfschmerzen u. s. w. Als eines der wichtigsten Symptome müssen die Sprachstörungen angesehen werden. Diese bestehen teils in einer Wortarmut, teils in einem mangelhaften Satzbau, oder in einer fehler- haften Wortbildung. Gerade die letztere Störung, die als Artikulationsstörang, als ein Stammeln in die Erscheinung tritt, findet sich bei sehr vielen Schwach- sinnigen. Selbst wenn das Sprachvermögen ziemlich gut entwickelt ist, lässt

ee.

die Aussprache meistens zu wünschen übrig, sei es, dass die Kinder undeutlich oder verwaschen, oder zu hastig sprechen, beim Sprechen anstossen u. dergl. m. Von dieser Menge von Begleiterscheinungen ist wohl bei jedem Schwachsinnigen das eine oder andere Zeichen immer aufzufinden und als unterstützendes Moment gut zu verwerten.

Wir gelangen nunmehr zu dem direkten Nachweis der geistigen Minderwertig- keit, zu der Betrachtung der geistigen Fähigkeiten schwachsinniger Kinder. Diese Untersuchung soll dem Arzte die objektive Grundlage für seine Diagnose ver- schaffen. Und eigentlich müsste er sie als sein ureigenstes Gebiet betrachten da er wie überall in der Medizin, so auch hier das Pathalogische aus den ob- jektiven Veränderungen zu erschliessen hätte. Aber gerade auf unserem Gebiete kann man die Mitwirkung anderer, in erster Linie der Pädagogen nicht entbehren. Diese müssen schon bei der Schwierigkeit der Materie für Materia Sorge tragen und den Arzt bei seiner komplizierten Aufgabe zu unterstützen trachten. Diese Aufgabe gestaltet sich um deswillen so schwierig, weil man es bei den schulpflichtigen Kindern mit Individuen zu thun hat, die in der Entwicklung begriffen sind, die also gewissermassen ein bewegliches Ziel dar- stellen, das getroffen werden soll. Hier ist ferner mit der Diagnose schon ein gut Teil Prognose verknüpft; und wie vorsichtig man in der Prognose zurück- gebliebener Kinder sein muss, weiss jeder, der mit ihnen sich zu beschäftigen Gelegenheit gehabt hat. Bei dem erwachsenen Schwachsinnigen ist der objektive Befund über den Geisteszustand leichter zu erheben, weil uns hier etwas Ab- geschlossenes entgegentritt und seine ganze Lebensweise Material genug zu seiner Beurteilung darbietet. Bei dem Kinde liegen noch zu wenig Äusse- rungen seines Seelenlebens vor, um daraus ein anschauliches Bild über seinen Geisteszustand zu gewinnen. Man ist deshalb genötigt, bei ihm mehr den elementaren Funktionen nachzuforschen und alsdann seine Entwickelung eine Zeitlang zu verfolgen, ehe man zu einem Urteil gelangt. Man ist auch darauf angewiesen, die zu prüfenden Kinder mit gleichaltrigen normalen zu vergleichen und daraus Schlüsse zu ziehen. Das Kind, das in die Schule eintreten soll, bringt einen gewissen Wissensschatz von Hause mit. Bei der Beurteilnng des Umfanges desselben wird man aber das Milieu zu berücksichtigen haben, in dem das Kind aufgewachsen ist, ob es dort überhaupt etwas lernen konnte u. s. w., ehe man daran geht, aus einem Vergleich mit anderen Kindern seine Schlüsse zu ziehen.

Die Funktionsprüfungen haben zum Gegenstande die Art der Sinneswahr- nehmungen, der Triebe, Gefühle, Aufmerksamkeit und der Sprache. Zu prüfen ist ferner der Orts- und Zeitsinn, der Farbensinn, das Gedächtnis und die Kombinationsthätigkeit. Es dürfte hier nicht am Platze sein, auf die Beschaffen- heit der einzelnen Funktionen bei den Schwachsinnigen und deren exakten Nach- weis näher einzugehen. Bekannt ist, dass z. B. die Aufmerksamkeit bei den Schwachsinnigen sehr mangelhaft ist, dass diese schwer zu fixieren und sehr leicht ablenkbar sind. Diesem Symptom ist von Sollier sogar eine solche Be- deutung beigelegt worden, dass er es seiner Einteilung zu Grunde gelegt hat. Unter den Trieben, die den Schwachsinnigen beseelen, nehmen einzelne zuweilen

einen für die Gesellschaft gefährlichen Charakter an, wie z. B. der Zerstörungs- trieb, der Mordtrieb, der Brandstiftungstrieb und andere. Sehr charakteristisch ist auch der Ortsveränderungstrieb, der sich teils als motorische Unruhe, teils als Wandertrieb, als Lust zum Vagabondieren äussert. Ich hatte z. B. einen Schwach- sinnigen zu untersuchen, der bis zur 4. oder 5. Klasse gekommen war, welcher mehrere Tage und Nächte von Hause fort war, sich herumgetrieben hatte und erst von der Polizei den Eltern wieder zugeführt wurde. Er hatte sich durch Bettelei erhalten und den Leuten dabei rührende Mitteilungen über das Elend zu Hause gemacht. Der Vater sei gestorben, die Mutter krank, Dinge, die über- haupt gar nicht wahr waren. Übrigens soll der Lehrer der Mutter auf deren Be- fragen, ob der Junge nicht am Ende kopfkrank sei, erklärt haben: Der ist klüger, als wir alle zusammen, also ein Beispiel dafür, wie solche Kinder doch zuweilen falsch beurteilt werden. Ein anderer Knabe wurde dadurch in der Schule sehr störend, dass er mitten in der Unterrichtsstunde ganz zwangsmässig aufgesprungen war, herumtanzte und schliesslich Kopf stand.

Von den übrigen Trieben, Gefühlen, Sinnesempfindungen,, Gedächtnis und Vorstellungen lässt sich im allgemeinen sagen, dass sie immer eine Herabsetzung oder Perversität deutlich erkennen lassen.

Die schweren Grade des Schwachsinns sind mit einem solchen Tiefstand all der genannten Funktionen verknüpft, dass bei ihrer Beurteilung Schwierig- keiten kaum entstehen können. Für die leichteren Grade sind Feststellungen bezüglich der höheren geistigen Funktionen, der associativen Thätigkeit, der Kenntnisse, des Entwicklungsganges erforderlich, für die sehr viel Zeit aufzu- wenden und auch die Hilfe des Pädagogen unumgänglich nötig ist. Da in diesen Fällen der Pädagoge durch seine Bestimmung der Fortschritte, die das Kind macht oder nicht macht, eigentlich von ausschlaggebender Bedeutung wird, so könnte man leicht auf den Gedanken kommen, ihn als ausreichende Instanz für die Erkennung des Schwachsinns leichten Grades anzusehen. Aber dann würden die Feststellungen der Anamnese und der Begleiterscheinungen fehlen, die wieder- um dafür nicht zu entbeliren sind, dass die geistige Beschränktheit auf patho- jogischer Basis beruht. So sehen wir, dass das Zusammenwirken von Pädagogen und Arzt bei der Fürsorge für schwachsinnige Kinder sich als etwas von selbst Gegebenes darstellt, was nicht umgangen werden sollte.

Ein Weihnachtsmärchen für die Eltern unserer schwachen Kinder.*)

Hoch oben im Gebirge, dessen Gipfel bis an den Himmel reichten, wo man die Engelein singen und den lieben Gott sprechen hörte, lag ein weiter, tiefer

*, Das Märchen ist entnommen aus einem demnächst erscheinenden Büchlein des den Lesern unseres Blattes bekannten Lehrers an der Idsteiner Anstalt K. Ziegler. Dasselbe führt den Titel „Unsere schwachen Kinder“ und enthält 8 Briefe, in denen sich der Verfasser an die Väter und Mütter geistig schvracher Kinder wendet, dieselben zu trösten sucht, ihnen die einfachsten Aufschlüsse über das Wesen und die Behandlung des Schwachsinns giebt und sie mit dem Leben und Treiben in unseren Anstalten bekannt macht. Das Märchen bildet den Schluss des 7. Briefes.. Auf den Gesamtinhalt des Büchelchens kommen wir später zu sprechen. Die Schriftleitung.

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Wald voll junger, zarter Tannen. Gleich einer Schar unschuldiger Kinder ent- sprossen diese dem jungfräulichen Boden; aus den blauen Lüften des Himmels tranken sie die Kraft ihres Wuchses, und in dem fiutenden Lichte der goldenen Sonne badeten sie ihre jugendlichen Glieder zu immer reinerer Schönheit. Über ihnen lag eine endlose Ruhe ausgebreitet, und nur wenn der laue Morgenwind sanft durch die schwankenden Ästlein und Zweiglein strich, erhob sich ein geheim- nisvolles Säuseln. Dann war der liebe Herrgott aus dem Himmel zu ihnen herab- gestiegen und es schien, als ob werdende Menschenseelen ihm ihre ersten Dank- gebete entgegenflüsterten-

Wenn es aber anfing, unten im Thale kalt zu werden, und wenn das Land, in Schnee gehüllt, wie ein silbernes Meer aus der Tiefe heraufblitzte, erfasste die jungen Bäumchen eine mächtige Sehnsucht hinab zu den Völkern der Menschen. Aus goldenen Sonnenstrahlen und wirbelnden Schneeflocken spannen sie dann weisse Kerzen, mit denen sie sich schmückten, ihre Nadeln und Zweige saugten sie voll der köstlichsten Düfte, und am Abend raunten sie sich wunderbare Mär- chen zu, wie bald die Engelein kommen und sie in der heiligen Nacht zu frommen Kindern hinuntertragen würden, und wie dann ihre Lichtlein glänzen und ihre Wohlgerüche die Herzen der Menschen erfreuen sollten.

Nur ein Bäumchen war unter ihnen, weit draussen am Ende des Waldes, ganz nahe den Wolken des Himmels, das hatte keine Sehnsucht nach den Tbälern da unten und es wusste auch nichts von den heimlichen Träumen seiner Brüder. Unverwandt schaute es hinein in den Himmel, wo die Engelein ihre bunten Reigen tanzten und der liebe Gott mitten unter ihnen herum wandelte, und wo aus Seinem grossen und guten Herzen eine feurige Sonne brannte, viel freund- licher und viel herrlicher als die Sonne auf Erden. Das Bäumchen konnte seine Blicke gar nicht mehr davon wegwenden, so sehr war es in die Seligkeit dieses Anblickes versunken. Aber darüber vergass es, gleich den anderen Bäumen Kerzen zu spinnen, und weil es nur nach dem Herzen des Vaters sich sehnte, versäunte es auch, seine Nadeln im Sonnenlicht zu baden und in sie den Duft. der Berge zu saugen. Grau und schlaff hingen diese daram am Holze herunter, und die Ästlein senkten sich krumm und knorrig zur Erde. So kam es, dass die anderen Bäumchen es nur das „dumme Krüppelbäumchen“ nannten und mitleidig zu ihm hinüberblickten. Aber dann lächelte Krüppelbäumchen jedesmal still vergnügt zum Himmel hinauf.

Am heiligen Abend war unter den Bäumchen eine grosse Bewegung. Mit leuchtenden Kerzen und duftenden Nadeln geschmückt, standen sie in langen Reihen und warteten, bis sie geholt würden. Da trat der liebe Gott unter sie mit einem goldenen Stabe, und jedes Bäumchen, das er damit berührte, wurde sofort von Engeln hinuntergetragen ins Thal zu den Menschen. Bald waren alle Bäumchen verschwunden, nur Krüppelbäumchen, das keine Kerzen, aber schlechte Nadeln hatte, wartete noch allein auf dem Berge. Verwundert blieb der liebe Gott vor ihm stehen und blickte es lange an, dass es bis in seine Würzelchen hinab erzitterte. „Wo hast du deine Lichter und deine Nadeln?“ fragte er end- lich das Bäumchen, „Ach vergieb mir, lieber Vater,“ schluchzte dieses. „Aber

ln.

du weisst es ja, ich habe nur nach deinem Herzen geschaut und mich nicht nach der Erde gesehnt. Da fand ich keine Zeit, mich mit dem Lichte zu schmücken, das die Menschen so sehr erfreut und das sie oft als das Höchste schätzen. Meine Brüder schalten mich darum auch „dumm®. Aber das Licht, das aus deinem Herzen strömt, das liebe ich sehr. Hab’ darum Mitleid mit mir!“

Da lächelte der liebe Gott gar freundlich, und sein grosses Sonnenherz fing an, wunderbar zu leuchten. „Du bist das schönste von allen,“ sagte er, „und beinahe reif für meinen himmlischen Garten. Aber du sollst auch zuvor hinunter zu den Menschen, und fehlt dir gleich der Glanz und der Duft, so sollst du darum nicht minder ihnen die fröhliche Botschaft von meiner Liebe und Freund- lichkeit verkündigen. Zwar werden die Menschen dich nicht mit Jubel empfangen, wie deine Brüder, und sie werden erst lange über dich weinen, ehe sie in deiner dunklen, unscheinbaren Gestalt meinen Geist und meinen Liebling erkannt haben. Aber ich will dich selbst in ein Hüttlein tragen, wo fromme und gute Kinder wohnen, die dich lieben und freundlich aufnehmen werden. Mit diesen Worten hob der liebe Gott das Bäumlein behutsam aus der Erde, drückte es zärtlich an seine Brust und trug es hinunter zu den dunklen Thälern. Die Enge. lein aber sangen, dass der ganze Himmel davon erschallte: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!“ Dabei war das Bäumchen eingeschlafen.

Wie es wieder erwachte, stand es in einer dunklen, ärmlichen Stube, und vor ihm auf dem Boden sassen zwei Kinder, ein Knabe mit seinem Schwesterlein. Die schauten gar traurig zum Bäumchen auf, und in ihren Augen glänzten ein paar helle Tıopfen. Lange weinten diẹ Kinder still vor sich hin. Endlich hörte das Bäumchen den Knaben sprechen: „Ach, wie freute ich mich auf den schönen Weihnachtsbaum mit den glänzenden Lichtern und den bunten Blumen zwischen den Zweigen. Aber nun hat uns das Christkindchen ein solch schlechtes, dummes Bäumchen gebracht, das nicht einmal mit Lichtern geschmückt ist!“ Und das Schwesterchen sagte: „Alle Kinder freuen sich heute und singen unter ihren Bäumchen fröhliche Lieder, und wir sitzen hier in der finsteren Stube und können uns nicht freuen und müssen immer wieder das welke, krüppelige Bäumchen an- sehen!“ So sprachen und weinten die Kinder und sagten das alles auch dem lieben Gott. Sie beteten, er möge sie trösten und möge sie nicht ungeduldig werden lassen. Dann wurden sie wieder froh und schlummerten leise ein.

Und während sie schliefen, hatten beide einen und denselben Traum. Der war recht seltsam. Die Kinder sahen das Bäumchen, wie es in ihrer Stube stand, ohne Lichter, mit grauen Nadeln und von krüppeliger Gestalt. Aber oben auf der Spitze sass ein schöner Engel in schneeweissem Gewande und mit einem gar lieblichen Gesichte. Der redete die Kinder freundlich an und sagte zu ihnen: „Ich bin der Schutzgeist dieses Bäumchens. Ich habe euere Thränen gesehen und euere Klagen gehört und bin gekommen, euch zu trösten. Fehlt euerem Bäumchen auch die schöne Gestalt und der helle Glanz der Kerzen, so brauchen euere Herzen darüber doch nicht traurig zu sein. Denn in seinem Innern glüht und leuchtet ein anderes Licht, das ist unendlich schöner als die Sonne, weil der liebe Gott

198 ihm selbst dieses Licht gegeben hat und es also nicht von der Erde, sondern von dem Himmel stammt. Darum bleibt dieses Licht aber auch den Menschen ver- borgen und kann nur von einfältigen und frommen Herzen erschaut werden. Weil ihr aber brave und artige Kinder seid und ihr eueren Vater im Himmel lieb habt, ist es möglich, dass ich euch die Augen öffne, dann werdet ihr sehen, wie auch aus einem solchen zwerghaften Bäumchen die Liebe und Güte eures Gottes strahlt, und ihr werdet erkennen, warum es gerade euch vom Himmel herab beschert wurde. Damit berührte der Engel die Augen der Kinder und verschwand.

Da fing das Bäumchen an zu glühen und zu leuchten, als ob des Himmels volle Herrlichkeit über ihm ausgegossen wäre. Aus dem Marke seiner Äste und Zweige strömte ein wunderbarer Glanz, und zwischen den Nadeln blitzte und funkelte es wie die Sterne am Himmel. Das Stämmchen aber, das am meisten gekrümmt und von Käfern arg zernagt und zerfressen war, strahlte am schönsten und hatte einen Glanz wie das grosse Sonnenherz des himmlischen Vaters, und aus seinem Innern heraus klang eine Simme: „In den Schwachen ist meine Liebe mächtig!“

Als die Kinder erwachten und sich ihre Träume vom Bäumchen erzählten, das jetzt wieder vor ihnen stand wie am Abend zuvor, waren sie über dieselben nicht wenig erstaunt. Aber ihre kindliche Einfalt glaubte dem, was sie in der Nacht gesehen und gehört hatten, und von nun an war ihre Trauer verschwunden. Wenn sie der Worte des Engels gedachten und des wunderbaren Glanzes, der von dem Bäumchen ausgegangen war, wurden ihre Herzen jedesmal hell und warm und ihre Freude an dem Bäumchen nahm immer zu. Manchmal kamen auch Nachbarskinder, denen vom Christkindchen grosse und schöne Weihnachts- bäume geschenkt worden waren, die hatten Mitleid mit dem Krüppelbäumchen und mit den beiden Kindern und wollten sie trösten. Dann lächelten diese aber immer glückselig zu ihrem Bäumchen hinüber und freuten sich ihres süssen Geheimnisses, das sie keinem Menschen anvertrauten.

Mitteilungen.

Gera. (Dr. Bartels }.) Am 25. Oktober d. J. verschied nach längerem Leiden Direktor Dr. Friedrich Bartels, ein um das hiesige Schulwesen verdienter Schulmann, Verfasser verschiedener Lehrbücher und Herausgeber der „Rheinischen Blätter“. Ihm verdankt auch die hiesige Hilfsschule ihre Entstehung, und ebenso werden sich des Verstorbenen gewiss noch die Besucher unserer Konferenzen erinnern.

Breslau. (Hilfsschulen.) Gegenwärtig zählt Breslau 9 Hilfsschulen, von denen die erste vor nunmehr 10 Jahren und zwar am 17. Oktober 1892 eröffnet wurde. Von den 9 Hilfsschulen sind 6 (1 par., 3 evang. und 2 kath.) dreistufig; 1 katholische hat 2 Klassen, und die 8. und 9. Hilfsschule zählen nur 1 Klasse. Die Gesamtzahl der Schüler beläuft sich in den 22 Klassen auf rund 440 Kinder, so dass im Durchschnitt 20 Kinder auf die Klasse zu rechnen sind.

Erfurt. (Hilfsschule.) Die wiederholt vorgekommenen Fälle, dass Eltern die Um- schulung ihrer geistig oft recht tiefstehenden Kinder nach der Hilfsschule verweigerten, sind die Veranlassung gewesen, dass von nun: an die Überweisung derartiger Kinder zwaugs- weise geschieht. Die hiesige Königliche Regierung ist der Auffassung der städtischen Schulkommission, welche in der Hilfsschule nur eine besondere Veranstaltung der Volksschule sieht, vollständig beigetreten. Diese Behörde hat daher auch das Recht, die Einschulung der Kinder zu ordnen Bei der Untersuchung derselben hat der Schularzt nar noch zu bestätigen, dass ihr ferneres Verweilen in der Volksschule hemmend und störend wirkt. Die zwangsweise Umschulung wird aber auch künftig das letzte Mittel zur Erreichung der Überweisung nach der Hilfsschule sein und nur auf solche Kinder angewendet werden, welche zwei und mehr Jahre ohne Erfolg die unterste Klasse der Volksschule besuchten. In allen Fällen wird selbstverständlich zuerst der Weg der Güte versucht. In diesem Jahre wurden zum ersten Male 4 Kinder zwangsweise umgeschult. Die Eltern haben keinen Widerspruch erhoben, waren in einem Falle sogar erfreut, dass es so gekommen ist.

Hessen. (Konferenz hessischer Hilfsschulen.) Einer Einladung des Herrn Hilfsschulleiters Wettig-Mainz Folge leistend, versammelten sich am 24. September die Lehrer und Lehrerinnen sämtlicher hessischer Hilfsschulen aus Mainz, Darm- stadt und Worms in Gross-Gerau und hielten eine Konferenz ab, der folgende Tagesordnung zu Grunde lag: 1. Der nächstjährige Verbandstag in Mainz. 2. Unser Lehrplan. Bezüglich des ersten Punktes teilte Herr Wettig mit, dass der nächste Verbandstag aller Hilfsschulen Deutschlands bestimmt in Mainz stattfinde, dass ein Oıtsausschuss dafür bereits gebildet sei und dass man in aller Bälde von dem Vorstand nähere Mitteilung erwarte. Von einer grösseren Ausstellung aller Schülerarbeiten aus den 3 Hilfsschulen wurde Abstand genommen. Sollte jedoch von irgend einer Seite eine Ausstellung der Handfertigkeitssachen gewünscht werden, so soll darüber in einer weiteren Konferenz beschlossen werden. Zum zweiten Punkte der Tagesordnung war von Herrn Wetttig-Mainz ein ausführlicher Lohrplan für alle Disziplinen ausgearbeitet worden, dem man im allgemeinen zustimmte. Doch behielt man sich vor, dass, sobald von der Regierung ein Lehrplan zur Genehmigung gefordert werde, noch einmal eingehendere Besprechungen und Ausarbeitungen statt- finden sollen. Nachdem die Tagesordnung erledigt war, wurden noch in zwangloser Weise mannigfache Erfahrungen ausgetauscht und verschiedene methodische Fragen besprochen. Man schied mit dem Bewusstsein, durch den lebhaften Gedankenaustausch und durch die detaillierten Besprechungen manches Lehrreiche gelernt, und manch schöne Anregung gewonnen zu haben.

Auch fernerhin sollen hin und wieder im Laufe des Jahres ähnliche Versamm- lungen stattfinden und zwar soll mit den drei Städten Mainz, Darmstadt und Worms die Runde gehalten werden. Das nächste Mal soll gegen Weihnachten oder im Januar zusammengetreten werden, sobald näheres bezüglich des Verbandstages bekannt ist. Irgend eine methodische Frage soll dabei wieder Behandlung finden. Einberufung und Aufstellung der Tagesordnung werden Herrn Wettig überlassen. Wünschen wir dem edlen Streben im Interesse der guten Sache den besten Erfolg. G. B.

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Litteratur.

Über die Denkschwäche der Schulkinder aus nasaler Ursache, Vor- trag, gehalten im Königsberger Lehrer-Verein von Dr. R. Kafemann, Privat- docent an der Universität Königsberg. Danzig. Verlag u. Druck von A. R. Kafemann. 1901.

Der vorliegende Vortrag bemüht sich über die Frage der nasalen Deukschwäche der Schulkinder, an welcher zahllose Eltern sehr interessiert sind und welche infolge von populären Gesundheitsartikeln mit allerlei unklaren, phantastischen Vorstellungen umrankt“ist, eine auch dem Laien vollkommen verständliche orientierende Übersicht zu geben. Es wird in demselben gezeigt, wie die Eltern einerseits keine Veran- lassung haben, sich den übertriebensten Befürchtungen hinzugeben, andererseits wird der durch Millionen vou Beobachtungen sichergestellte schädliche Einfluss der Nasen- verstopfung welchen Verfasser mit Hilfe von Experimentell psychologischen Unter- suchungen an sich selber geprüft hat eingehend und innerhalb der richtigen Grenzen gewürdigt. Die Lektüro dieses Vortrages kann allen beteiligten Elternkreisen auf das wärmste empfohlen werden.

Briefkasten.

W. i. M. Besten Dank! Wir bitten um weitere Mitteilungen. Th. F. i.B. Sendung erhalten und angenommen. Wenn Sie uns s. Z ein Exemplar der Denkschrift übermitteln wollten, würden wir Ihnen dankbar sein. R. M. i. F. Für freundliche Zusendung der Ausschnitte aus den dortigen Tagesblättern sind wir Ihnen sehr dankbar Wenn eine Verwendung der Ausschnitte hin und wieder auch nicht oder in anderer Form erfolgt, so siud dieselben uns doch jederzeit willkommen. Möchten recht viele Leser unserer Zeitschrift es Ihnen nachthun. Dir. I. Soh. i. I. Für gefl Zusendung der Drucksachen besten Dank!

Zur Beachtung.

Mit vorliegender Nummer schliesst die

Zeitschrift f. d. Behandlung schwachsinniger und Epilepüscher

ihren XVIII. Jahrgang. Form, Umfang und Preis der Zeitschrift bleiben im neuen Jahrgange unverändert. Bestellungen wolle man gefälligst bald bewirken.

Die Herausgeber.

Inhalt. Über schwachsinnige Kinder. (Dr. E. Nawratzki.) Ein Weihnachts- märchen für die Eltern unserer schwachen Kinder. (K. Ziegler.) Mitteilungen: Gera, Breslau, Erfurt, Hessen. Litteratur: Über die Denkschwäche der Schulkinder aus nasaler Ursache. Briefkasten. Anzeigen.

Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. Druck von Johannes Pässler in Dresden.

Hierzn eine Beilage aus dem Verlage von Reuther & Reichard, Berlin.

Zeitschrift

für die

Behandlung Sehwachsinniger und KDlleptscher.

Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

Stadtrat Dir. W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Dresden-Strehlen. Spezialarzt für Nervenkrankheiten in Stuttgart.

XIX. (XXI) Jahrgang 1903.

Kommissionsverlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. Druck von Johannes Pässler in Dresden.

3518006 ASTOR, LENOX an TILBEN FOUNDATIONG R

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10.

11.

13.

14.

15.

. Aus der Unterachtepraxie 12) ' . Beitrag zur Epileptikerbehandlung

. Das Auswendiglernen Ar

Inhaltsverzeichnis.

A. Aufsätze.

. Allgemein Interessantes aus dem

Taubstummenunterrichte (P. Rie- mann).

(Dr. Ackermann)

. Bericht über den W. Verbandatir

der Hilfsschulen (Fr. Frenzel) .

Deutschlands

Mittel der Sprachbildung Schwachsinniger (R. G. Wehle).

. Das Rechnen auf der Unkerstafe der

Hilfsschule (H. Giese) .

. Der Rechtschreibeunterricht in der

Hilfsschule (Br. Pohle)

. Die Fürsorge für Idioten und Fpi-

leptische in Württemberg (Dr. H. Wildermuth) . 125.

. Die Stellung des Arztes in der . 133

Hilfsschule (Dr. Berkhan) Die Befreiung der Zöglinge der Hilfs- schule vom Militärdienst (A.Müller) Die Auswechslung von Schülern in der Hilfaschule (Wettig) .

Abnormsachen (H. Stelling)

Die Entwicklung von Sprechen und Denken beim Kinde (Fr. Frenzel) Der Austausch von Schülern zwischen den verschiedenen Klassen der Hilfs- schule (P. Schwahn) ; Der Austausch von Schülern zwischen den verschiedenen Klassen der Hilfs- schule (W. Bock).

. Ein verkanntes Kind (G. Büttner) . Ergebnisse

einer zahnärztlichen Untersuchung von 84 Kindern der MagdeburgerHilfsschule(Dr.Greve)

. Störungen der Sprache und Schrift bei geistig schwachen Kindern (A. Müller) .

Seite

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. 165 . Die nordischen Versammlungen für

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19. 20.

Uber Epilepsie (Fr. Frenzel) . Unterrichtliche Spaziergänge mit Schülern der Hilfsschule (Th. Fuhr-

Seite

. 114

mann). ; . 49 21. Wie vermittelt die Hilfeschule a Zöglingen die Kenntnis der ver- wandtschaftlichen Verhältnisse (H. Horrix) . . a ar ee, a ESR 22. Wir W endende. ... (K. Ziegler) 53 B. Mitteilungen. 1. Berlin (Erziehungs- und Fürsorge- Verein) ; . . . 189 2. š (Fortbildungsschule für geistig Zurückgebliebene) 183 3. Z (Nebenschulen) . . 188 4. x (Vorträge über die Be- handlung schwachsinniger Kinder) . 188 5. Š (Zur Fürsorge für geistig Zurückgebliebene) 64 6. Borna (Sprache und Schreck) . 44 7. Bremen (Personalien) . . 14 8. Chemnitz (Hilfsklassen) . . 114 9. Dalldorf (Stiftungsfest) . 189 10. Erfurt (Hilfsschultag) . . 158 11. Frankfurt a. M. (Versammlung von Lehrern und Lehrerinnen an Hilfeschulen) . . 190 12. Görlitz (Hilfeschule) 14 13. Grossherzogtum Hessen (Ge- meinsame Konferenzen) . í . 158 14. Grossherzogtum Hessen (Hilfs- schulwesen) . . . 4 15. Grünberg i. Schl. (Hilfsschule) . 4 16. Hirschberg i. Schl. (Neue Hilfs- schule) . ; 44 17. Königshütte 0. s. (Hilfsschule) . 14 18. Langenhagen (Mortalität) . 45 19. Leschnitz O. Schl. (Erziehungs- anstalt) 66 20. ; ; (Personalien) 43

21. Leipzig (Hilfsschule) . Ho 4 22. á 'Pensionsberechtigung dër besonderen Zulage) 14 5. 23. Mainz (Schüler ohne Finger) .159 6. 24. .„ (IV. Verbandstag der Hilfs- schulen) . . a 14 7. 25. Mannheim (Hilfsschule; ; . 115 26. Meissen (Hilfsschule, . ... H` 27. Mühlhausen i. Th. (Hilfsschule) 96 28. Nürnberg (Intern. Kongress für x, Schulhygiene) . 159. 191 29. Offenbach (Fröffnung der neuen 9. Hilfsschule) 96 30. Oppeln (C éricbtaverbandiungi. 96 31. > (Verurteilung) . . . .116 32. Plauen i. V. (Vereinigung zur För- 10. derung des sächs. Hiifsschulwesens) 191 33. Sachsen (Landesanstalt für Epi- ı. leptische) . a A eine 43 34. Schreiberhau (ldiotenanstalt) 97 12. 35. Schöneberg (Ferienausflüge) . . 116 ` 86. Schwelm (Hilfsschule) 67 13. 37. Treysa (Hephata) . ; 67 | 38. Wandsbeck (Hilfsschule) 67 14. 39. Worms (Hilfsschule) 97:15. 40. 5 (Unsere Entlassenen) . 159 4l. : (Weihnachtsbescherung in 16. der Hilfsschule) . 45 42. Zürich en Stand de 17. Fürsorge) . 22.0.7160 | C. Literatur. 1. Auer, C., Kölle, K., Graf, H,, 18 Verbandlungen der IV. Schweize- rischen Konferenz für das Idioten- 19, wesen . 193 2. Baldwin, 7. M, Die Entwicklung | 20 des Geister beim Kinde und bei | der Rasse . . 46 3. Eschle,Dr., Das Arbeits- Sinto 98 ;: D.

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Ellenbach, M., Aus der Welt der Idioten. . . A ta Fischer. G., Gerichtliche Medizin F renzel, F r., Die Hilfsschulen für schwachbefähigte Kinder . : Gerhardt, J. M, Die Heilerzie- hungs- und Pflegeanstalten für schwachbefäbigte Kinder, Idioten und Epileptiker :

Hirt, E., Beziebungen de Seele lebens zum Nervenleben ; Laquer, Dr. L.. Die ärztliche Fest- stellung der verschiedenen Formen des Schwachsinns in den ersten Schnljahren . . .

Lehmann,E.., Silberfibel für Schule und Haus . Liebmann, Kinder . ; Muralt, Dr. ks v. ‚Über TnBralisches Irresein :

Neumann,E, Die Enistehungen der ersten Wortbedeutungen beim Kinde Otto, B., Mutterfibel Rude, A., Methodik des guanti Volksschulunterrichte . Schulthess, Dr. W., Schule und Rückgratsverkrümmung s Stelling, H., Die Erziehung der uchwachbefähigten und schwach- sinnigen Taubstummen und die Teilung nach Fähigkeiten überhaupt

Dr. A., "Stotternde

. Stilling, Dr. J., Die Kurzsichtig-

keit, ihre Entstehung und Bedeutung Unterlauf, G. Die Pflege der

Selbsttätigkeit .

. Ziegler, K., Unsere schwachen Kinder . Briefkasten . 48. 100. 116.

. 100 99

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r et ‚or 351866 UBI C I IBRAR Nr. 1. XIX. M) Jahrg. soat

Zeitschrift

für die

Pehandiune sehwachsinniger und Epileptischer

Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Dresden -Streohlen, für Nor renkreokteften Residenzetrasse 27. In Stuttgart. Be ae GSaPosthmter, Wie anendlranr sen ad die gespaltene Peuitzelle 25 Pig Lite- Januar 1903 Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark,

rarische Beilagen 6 Mark. | einzelne Nummer 50 Pfg.

Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

Störungen der Sprache und Schrift bei geistig schwachen Kindern. Vortrag, gehalten auf der Kreislehrer- Konferenz zu Erfurt, von A. Müller, Lehrer an der Hilfsschule in Erfurt.

Meine Damen und Herren! Das geistige Leben der Schwachsinnigen ist ein annormales, ein schwaches. Schwach sind ihre Sinne, sowohl in der Fähig- keit, Eindrücke der Aussenwelt aufzunehmen, als auch in dem Vermögen, die- selben nach dem Gehirn fortzuleiten: schwach ist ihr gesamtes Empfindungs- und Vorstellungsleben; erschwert die Fixierung, Assoziation, Reproduktion und Apperzeption der Vorstellungen, besonders der Bewegungsvorstellungen. Beim Sprechen und Schreiben sind es die Sprech- und Schreibbewegungsvorstellungen, welche das geistig schwache Kind nur langsam auffasst und schwer im Gedächtnis behält, Daraus erklärt sieh mit der verspätete Anfang des Sprechenlernens bei den Schwachsinnigen. Von den Kindern der hiesigen Hilfsschule hat eins erst im siebenten, vier im sechsten, sechs im fünften, ebensoviel im vierten und über zwanzig im dritten Jahre sprechen gelernt. Das Sprechen und Schreiben besteht aber nicht nur in der Bewegung der Sprechwerkzeuge, des Armes und der Hand, beide Verrichtungen sind vielmehr geistige Tätigkeiten, die an das psychische Leben des Einzelnen hohe Anforderungen stellen, wie keine zweite geistige Funktion.

Die Beherrschung der Sprache umfasst einerseits das Verständnis des Ge- sprochenen, anderenteils die Äusserung des Gedachten; ihre höchste Leistung erhält sie in der freien, verständlichen, zusammenhängenden Rede. Das Gesprochene nehmen wir mit dem Ohr wahr. Die Erregung des peripheren Teiles der Hör-

nerven wird nach dem Schläfenlappen des Grosshirns und zwar nach den

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er `

beiden letzten Dritteln in der ersten linksseitigen Schläfenwindung geleitet und hier, wenn die Erregung stark genug ist, im Klangzentrum als Gehörsvorstellung festgehalten. Soll aber das Gehörte verstanden werden, d. h. nicht bloss als etwas Gehörtes wahrgenommen, sondern auch der begriffliche Inhalt des Wortes, des Satzes zum Bewusstsein kommen, so muss die Erregung vom Klangzentrum nach den begriffbildenden Teilen des Grosshirns, nach der Denksphäre im Vorder- teil des Gehirns geleitet und hier festgehalten werden. So entsteht die Sach- vorstellung von dem gesprochenen Worte, die sich mit der Gehörsvorstellung zu einer Komplikation assoziiert. Das ist die eine Seite der Sprache. Zum andern umfasst die Beherrschung der Sprache die Äusserung des Gedachten. Die Äusserung des Gedachten setzt einen Gedanken voraus. Dieser hat als solcher noch keine motorische Triebkraft. Es bedarf eines gemütlichen Antriebes, der uns drängt, den Gedanken zu äussern. Nun wählen wir die Worte, die Lautkomplexe, die in dem sensorischen Sprachzentrum niedergelegt sind. Sach- und Gehörsvorstellung komplizieren sich. Wie kommt nun die Äusserung des Gedachten zu stande? Durch den gemütlichen Antrieb hat der Gedanke motorische Triebkraft erhalten. Die Erregung in den begriffbildenden Teilen des Grossbirns wird durch Leitungsbahnen nach dem motorischen Sprachzentrum, dem sog. Brocaschen Sprachzentrum in der dritten linksseitigen Stirnwindung geleitet, und dieser pflanzt die Erregung auf die expressiven Bahnen des Sprachapparates, auf die äusseren Sprachwerkzeuge weiter fort, welche dann die Artikulation oder die Bildung der Wörter verrichten. Psychologisch ausgedrückt, Sach- und Ge- hörsvorstellung assoziiert sich mit der Sprechbewegungsvorstellung.

Aus meinen Ausführungen über die Sprache erhellt, welch ein verwickelter -Apparat von nervösen Bahnen und gangliösen Zentren derselben zugewiesen ist. Ein einfaches Sprachzentrum im Gehirn gibt es nicht. Das zentrale Organ der Sprache ist vielmehr zusammengesetzt aus einer grossen Zahl räumlich ge- trennter, durch zahlreiche Bahnen unter sich verbundener, geistige, sensorische und motorische Funktionen vollziehender gangliöser Apparate. (Kussmaul.)

Wenn nun irgend ein Zentrum nicht funktioniert, irgend eine nervöse Bahu lädiert und infolgedessen nicht gangbar ist, so tritt Sprachstörung ein. Beruhen die Sprachstörungen in Störungen der Artikulation und Diktion, so redet man von reinen Sprachstörungen; sind sie der Ausdruck einer intellektuellen Störung, so bezeichnet man sie als Dyslogien. Da die Sprache der getreue Spiegel des Geistes ist, so wird sie auch jede Störung desselben zum Ausdruck bringen. Der Geist ist es ja, welcher der Sprache das individuelle Gepräge gibt. So wird sich auch in der Sprache der Schwachsinnigen ihr annormaler Geisteszustand wiederspiegeln. Ihr beschränkter Vorstellungskreis, der gestörte Ablauf der Vor- stellungen, das Fehlen einer raschen assoziativen Verbindung, der Mangel eines reichen Wortschatzes, alles das kommt in ihrer Sprache zum Ausdruck.

Welches sind nun die wichtigsten Redestörungen bei den geistig schwachen Kindern? Die apathisch Schwachsinnigen tragen. ein träges, gleichgültiges Wesen zur Schau, sie können kein Wässerchen trüben. . Bei ihnen merkt man die Verlangsamung des Assoziationsablaufes in der laugsamen,. ge-

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-dehnten, zögernden, monotonen Redeweise. Mitunter fangen sie an zu sprechen, verlieren dann aber sogleich die Lust fortzufahren.

Die erethisch Schwachsinnigen sind äusserst lebbaft, aufgeregt. Ihre Aufmerksamkeit ist sehr mangelhaft, ihr Gedächtnis nicht treu; die Erinnerung „wird meist phantastisch verändert. Die sepsychischen Anomalien kommen zum Aus- druck in ihrer Sprache; sie trägt den Stempel der Geschwätzigkeit. Ohne Sinn und Verstand schwatzen diese geistig Schwachen das tollste Zeug zusammen kommen vom Hundertsten ins Tausendste und sind im stande, stundenlange Monologe zu halten. „Wie heisst du?“ frage ich einen ganz vergnügt in die Welt schauenden Burschen. Monoton antwortet er mir. „Wie heisst du?“ „Hast du noch einen Bruder?“ frage ich weiter; als Antwort gibt er mir meine Frage zurück. Auf meine Aufforderung, den Satz zu sprechen: „Die Mutter ist zu Hause“, antwortet er, olıne irgend welche Aufmerksamkeit zu be- zeugen und ohne überhaupt einen Begriff mit dem Gesagten zu verbinden: „Hause“. Diese Störungen in der Redeweise bezeichnet man als Echosprache, Echolalie.

Das Versprechen infolge mangelnder Aufmerksamkeit, Skoliophrasie ge- nannt, finden wir oft bei zerstreuten und ängstlichen Geistesschwachen. Sie konzentrieren ihre Aufmerksamkeit nicht auf das, was sie sprechen und auf die Art, wie sie sprechen, de schweifen ab und merken auch nachher nicht, dass sie sich versprochen haben.

Viele Geistesschwache bekunden eine Unfähigkeit in dem Vermögen, die Wörter grammatisch zu formen und das Auszusprechende syntaktisch zu ordnen. Es kommt dann zu allerhand Störungen in der Satzbildung; das Kind drückt einen Satz durch ein Wort aus. Aufgefordert, den Satz zu sprechen: „Der Vater ist gut“, sagt es: „Vater“. Ein Knabe klagte mir „Bauch weh“; er wollte damit ausdrücken: „Mein Bauch tut mir weh“. Ein anderes Kind erzählte. Gestern fort gangen. Schiesshaus. Karrsell bin fahren. Kasper da. Tot hauen. . Poleziste kommen.

Die jetzt erwähnten Sprachstörungen waren der Ausdruck einer intellektuellen Störung. Ehe ich von den reinen Sprachstörungen rede, möchte ich einiges über das Stottern, als eines auch unter den geistig Schwachen verbreiteten :Sprachfehlers sagen. Nach einer im Jahre 1894 von dem Anstaltsdirektor Piper ‚aufgestellten Statistik stotterten von 3931 schwachsinnigen Kindern 304, also 7°/0; unter den 200 Kindern, die unsere Hilfsschule besuchten, befanden sich 5 Stotterer, 2'/, %,. Die Literatur über das Stottern ist fast bis ins Ungeheuere gewachsen; die Ansichten über das Wesen dieses Sprachfehlers sind so verschieden: dass man getrost behaupten kann, jeder Besitzer einer Sprachheilanstalt, jeder Wandersprachlehrer hat eine eigene Theorie, und seine Behandlung des Sprach- übels ist die allein richtige und führt zur sichern Heilung, womöglich schon in 8 Tagen. Nach Kussmaul beruht das Stottern in einer krampfhaften Funktions- .‚störung des Nervensystems, welche die Aussprache der Silben zu Beginn oder mitten in. der bis dahin glücklich geführten Rede durch krampfhafte Kontrak- ‚tionen, an den Verschlussstellen des vokalischen und konsonantischen Artikulations-

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rohres behindert. Nicht die Aussprache der einzelnen Laute, sondern die Verbindung der Konsonanten, namentlich der Explosivlaute, mit dem nachfolgenden Vokal bereitet dem Stotterer mitunter unüberwindliche Schwierigkeiten. Dies liegt daran, dass die bei der Silberfügung zusammenwirkenden drei Muskelaktionen, die exspiratorische, vokalische und konsonantische nicht harmonisch ineinander- greifen. Dem Stotterer feblt es an der für die Rede nötigen Herrschaft über die Atmung; er bringt es nicht fertig, die konsonantische Muskelaktion der vokalen unterzuordnen und kommt schon darum nicht in den rechten Rhythmus der Rede. Vor allem aber ist es eine grosse gemütliche Erregbarkeit und Ängstlichkeit, welche ihn der Willenskraft über den rhythmischen Gang der Rede beraubt. Schon der Gedanke, er könnte stottern, macht ihn stotternd. Die Behandlung, auf die ich hier natürlich nicht näher eingehen kann, ist eine gymnastische und didaktische; die gymnastische bezweckt eine Kräftigung des Gesamtorganismus, die didaktische hat es auf die Herstellung einer richtigen Koordination der Funktionen der Atmung, Stimmbildung und Artikulation abgesehen.

Die Sprachstörung, welche man bei den geistig Schwachen am meisten verbreitet findet, ist das Stammeln. Nach der schon vorhin erwähnten Statistik befanden sich unter 3931 Schwachsinnigen 177 Stammler, d. s. 25°%,. Von den 200 Kindern, die unsere Hilfsschule besuchten, waren 50 Stammler, auch 25°/,. Das Stammeln besteht in dem Unvermögen, einzelne Laute zu bilden; entweder lässt der Stamımler diese Laute in dem Worte aus oder setzt einen falschen für den richtigen ein; er verstellt die Laute und fügt neue hinzu. Man unterscheidet Laut-, Silben - und Wortstammeln. Wird die Sprache durch das Auslassen verschiedener Bestandteile derselben sehr undeutlich oder ganz unverständlich, so nennt man das Stammeln, Lallen, wohl auch Hottentottismus. Die ver- schiedenen Arten des Stammelns richten sich nach dem Ausfall der einzelnen Laute. Je nachdem r, l, g oder s ausgelassen wird redet man von Rhotacismus, Lambdacismus, Gammacismus, Sigmatismus. Letztere Sprachstörung nennt man auch Lispeln. Unter 3931 geistig schwachen Kindern befanden sich 512, also 13%, Lispler. Mitunter setzen die Stammler an Stelle des richtigen Lautes einen falschen, z. B. für r l, für g d, für l n. Es entstehen dadurch noch weitere Arten der erschwerten Artikulation. In welcher Weise die Sprache durch diese Sprachfehler entstellt wird, mögen einige Beispiele klar legen. „Der tneipt in de tnie“ klagt ein Schüler, und ein anderer ruft auf dem Spielhofe: „Wenn ich hintomme, dann tannste aber Kresche triechen“.

Das Stammeln ist bald ein angeborener, bald ein erworbener Fehler; erworben durch schlechte Erziehung und mangelhafte Übung; bald sind die Ursachen organischer Natur und bestehen in Anomalien des Gehirns und der äusseren 'Sprachorgane und in Schwerhörigkeit. Ich erinnere hierbei an die Nasenver- stopfung, an die Gaumenlähmung, an die verschiedenen Defekte der Zunge, der Zähne und der Lippen. Die Behandlung des Leidens ist eine individuelle. Durch operative Eingriffe können verschiedene organische Defekte gehoben werden. Die Hauptarbeit bleibt anch hier eine didaktische, heilpädagogische.

Nun noch einiges über die Störungen der Schrift bei geistig schwachen

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Kindern. Analog den Störungen der Lautsprache finden wir auch solche der Schriftsprache bei den Schwaclisinnigen. Noch verwickelter als bei der Sprache gestalten sich die Vorgänge bein Schreiben. Hier gesellen sich zu den Gehörs - und Sprechbewegungsvorstellungen noch die Gesichts- und Schreibbewegungsvor- stellungen. Ich setze den Fall, ein vorgesprochenes Wort soll aufgeschrieben werden. Was setzt dieser Willensakt bei dem Kinde voraus? Das Kind muss die Laute genau hören und aussprechen können, es muss die den Lauten ent- sprechenden Buchstaben kennen und im stande sein, dieselben niederzuschreiben Mittelst. der Schriftbewegung der Hund fügt es die Laute zu den richtigen Wort- bildern zusammen. Dies alles wird bedingt durch Assoziation der Lautvorstellung, Buchstabenform, Sprech- und Schreibbewegung. Leider kann ich der Kürze der Zeit halber nicht noch näher auf die physiologischen und psychologischen Prozesse beim Schreiben eingehen. Wenn man nun einerseits bedenkt, welch eine Menge feiner und bestimmter Arm- und Handbewegungen das Schreiben erfordert, andererseits sich daran erinnert, wie schwer dem Geistesschwachen die Koordination der Bewegungen und infolge des Mangels an Aufmerksamkeit die Erlernung der feineren, assoziierten Bewegungen fällt, so wird man es erklärlich finden, dass Schreibstörungen bei Schwachsinnigen öfters anzutreffen sind. Wie ich schon angedeutet habe, beruht in vielen Fällen die Ursache in einem rein psy- chischen Mangel, in einem Mangel an Aufmerksamkeit, Besinnung, Sorgfalt. In meiner Erfahrung ist mir ein Fall von Schreibstörung begegnet, dessen Ur- sache auf einen psychopatbischen Erregungszustand, der sich zur Geistesgestörtheit entwickelte, hinwies. Strümpell sagt, dass eine gänzliche Gesetzlosigkeit, eine ungewöhnliche Zahl und Dauerhaftigkeit der bei Kindern auftretenden Schreib- fehler auf eine bestehende Psychopathie schliessen lassen, während eine Häufung derselben während des Unterrichtes unter Umständen ein Ermüdungssympton darstellt,

Wie oharakterisieren sich nun die Schreibstörungen bei geistig schwachen Kindern? Einige Beispiele aus dem von mir gesammelten Material sollen es klar legen. Die Kinder haben den Satz aufzuschreiben: Die Blume ist blau. Ein Knabe schreibt: Die Blue ist blan. Er lässt den Buchstaben m in dem Wort Blume und den u-Bogen in dem Worte blau ausfallen. Ein Mädchen lässt fortgesetzt den untern Teil des kleinen d und ch weg. Ein Knabe ver- stümmelt die Wörter durch Weglassen von Silben. Anstatt glänzenden Scheibe am Himmel schreibt er: glänzen Scheibe an Himm. Oft fehlen ganze Wörter, Abzuschreiben ist: Die Sonne war untergegangen und stand. Es zeigt sich Folgendes auf der Tafel: Die war war aufgegangen sind stand. Die eine Art der Schreibstörung besteht also darin, dass Buchstabenteile, Buchstaben, Silben und Wörter ausgelassen werden. Oft treten Verwechslungen ein, so dass ein erst später aufzutretender Buchstabe früher erscheint oder umgekehrt. Folgende Beispiele mögen diese Art der Schreibstörung illustrieren. Das Kind schreibt Brat statt Bart, Starhlen für Strahlen, gloden golden, sparng sprang, Dröfer Dörfer, deir drei, hlot holt.

Ein dritte Art der Sprachstörung besteht darin, dass einzelne Buchstaben,

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Silben und Wörter durch andere ersetzt werden, so dass Verbildungen des Wortes und Satzes entstehen. Einige Proben mögen das zeigen. Geift Fleisch für kauft Fleisch, ganft Brote statt kauft Brote, Trischter Trichter, schonan schönen, sastige saftige, empem empor, herzlischte herrlichste, Fernsteht Fernsicht. Die Baume blau. Die Blume ist blau.

Mitunter entstehen Erweiterungen durch Wiederholungen und Voraus- nahmen einzelner Elemente oder durch Einschiebungen und Angliederungen neugebildeter Buchstaben. Z. B. f. Fad, Vater. Die war war aufgegangen. -— Die Sonne war aufgegangen, Frutter Futter, Snand Sand, zerberechen zerbrechen, steingt steigt, Bruater Bruder, ich haben ich habe, biltzen blitzt.

Die wunderlichsten Wort- und Satzgebilde kommen aber zu stande, wenn. Komplikationen der verschiedenen Schreibstörungen eintreten. Da hält es oft schwer, den Sinn des Niedergeschriebenen zu enträtseln. Man redet dann wohl vom Hottentottismus im Schreiben. Hier einige Beispiele. Die Baume seisse Die Blume ist blau; Ich baben deir Fasche Ich habe. drei Flaschen; Die Flau holt Fl Die Frau holt Fleisch; ich fre einen Vart Ich frage meinen Vater; Das Öl steingt im Sachtem Das Öl steigt im Dochte empor; Berthohhaus Berthold Hochhaus; Steirsch- Hölsern gbild Streich- hölzern gespielt; struten vom Verstonste streng verboten. |

Zwischen den Störungen der Schriftsprache und der Sprache der Stammler besteht eine Ähnlichkeit, so dass man die Schreibstörungen Schreibstammeln genannt hat. Jedoch bestebt keine Beziehung zwischen beiden; sie treten viel- mehr nebeneinander auf. Die Erfahrung lehrt, dass durch den Unterricht nicht nnr die Möglichkeit einer Besserung, sondern auch völlige Bereilignile des Schreibstammelns gewährleistet wird.

Zum Schluss möchte ich die verehrten Damen und Herren noch auf die Erscheinungen des Versprechens, Verlesens nnd Verschreibens bei normalen Kindern hinweisen. Diese Erscheinungen eröffnen dem aufmerksamen Beobachter und Forscher wunderbare Blicke in das Empfindungssystem der Sprache und geben ihm Anregung zum Studium des höchst interessanten. Gebietes der De gogischen Pathologie.

Literatur: Kussmaul, Störungen der Sprache.

Strümpell, Pädagogische Pathologie.

Berkhan, Störungen der Sprache und der Schriftsprache bei geistig schwachen Kindern.

Der Rechtschreibeunterricht in der Hilfsschule. Von Br. Pohle, Leipzig. a Über diesen Gegenstand hat bereits im Septemberhefte des ns 1899 Herr Kollege Horrix aus Düsseldorf seine Ansichten dargelegt. Wenn ich heute denselben Stoff behandle, so geschieht es, um meine persönlichen Ansichten über Ziel und Stoff des orthographischen Unterrichts genauer festzustellen und

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mich ‘eingehender über seine methodische Behandlung auszusprechen, als es in jenem Artikel geschehen ist. |

Der Rechtschreibeunterricht ist eine Plage, ein Kreuz für Lehrer und Schüler! Wie oft hat nicht jeder von uns diesen Klageruf gehört. Trotz der achtjährigen Mühe und Arbeit erlernt nur ein geringer Prozentsatz unsrer Volks- schüler, seine Gedanken oıthographisch fehlerlos niederzuschreiben. In der Fortbildungsschule kann man selbst in den oberen Abteilungen, die sich doch meistens aus den ersten Klassen unsrer Bürgerschulen rekrutieren, die Erfahrung machen, dass die orthographische Fertigkeit viel an Sicherheit zu wünschen übrig lässt. Wird dem Unterrichte zu wenig Zeit gewidmet oder bewegt er sich nicht in den rechten methodischen Bahnen? Wir haben dem hier- nicht nachzuforschen.

Ist nun aber jener Weheruf für die Normalschule berechtigt, wie oft muss er da nicht erst in der Hilfsschule zn hören sein! Hat der Volksschüler 8 Jahre lang Zeit zur Erlernung der Orthographie, so. gehen unsern Schülern die zwei- ersten, wenn nicht drei bis vier Jahre sọ gut wie verloren, da er anfangs kaum unterrichtsfähig ist, dann aber erst schwer mit den Anfängen der Lesefertigkeit zu kämpfen hat; stehen jenem die Wort- und Satzlehre als wesentliche Hilfs- mittel zur Erlernung der Orthographie zurseite, so ist es bei diesem infolge: seiner Denk- und Gedächtnisschwäche und seines meist sehr mangelhaften Sprachgefühls nur in sehr beschränktem Masse der Fall; ebenso sind unser6 Geistesschwachen lange nicht in dem Masse zum Hausfleisse heránzizienen als. es bei den Normalschülern möglich ist,

Nach diesen vergleichenden Erwägungen wird niemand von der Hilfsschule erwarten, dass sie, ausgenommen einzelne Fälle, bei denen einseitige: Begabung vorliegt, ihre Schüler zur vollen Fertigkeit in der Rechtschreibung bringt. Sollte es in dieser oder jener Schule wirklich der Fall sein, so könnte ich nur annehmen, dass der Orthographie unter Vernach- lässigung andrer Unterrichtszweige zuviel Zeit zugewendet worden ist. Zeugnis für meine Ansicht legt auch die Tatsache ab, dass weder mir noch meinen Spezialkollegen bei unsern alljährlichen Besuchen in Anstalten und Hilfsschulen je ein freies Diktat ohne Vorbereitung vorgeführt worden ist. Nach alledem müssen wir also, abgesehen von den Zöglingen, die wegen ihrer geringen Leistungen bereits aus Unterklassen entlassen werden müssen und denen, die infolge Kurzsichtigkeit, Schwerhörigkeit oder sprachlicher Gebrechen keine. nennenswerten Erfolge erreichen, auch für unsere besten Schüler, die aus den Oberklassen entlassen werden können, das Ziel für den orthographischen Unterricht wesentlich beschränken.

Wie kann das geschehen? Die geistige Schwäche, das geringe Fassungs- vermögen unsrer Zöglinge nötigt uns, einige Fächer aus unserm Lehrplane ‚ganz zu verbannen, in anderen aber, wie Religion, Naturkunde, -Geographie und Rechnen, uns auf ein Stoffminimum zu beschränken, wie es'voraussichtlich für die engbegrenzte Lebenssphäre, in der sich unsere Schüler als Erwachsene be- wegen werden, notdürftig genügen wird. Eine ähnliche Praxis müssen wir auch’

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bei der Erlernung der Orthographie einhalten. Worauf erstreckt sich die schrift- liche Tätigkeit eines Schwachsinnigen? Wird sie sich nicht mit der Abfassung eines Briefes oder einer einfachen Mitteilung, mit der Ausstellung einer Rechnung oder Quittung, mit der Ausfüllung eines Postformulars oder ähnlicher kleiner Arbeiten vollständig erschöpfen? Gehen wir ja doch auch in unsern Aufsatz- übungen nicht über diese schriftlichen Arbeiten hinaus. Jeder aber, der jahre- lang mit Schwachsinnigen verkehrt hat, weiss, wie einfach der Satzbau und die Ausdrucksweise, wie wenig umfangreich der Wortschatz ist, der bei ihren Arbeiten zur Verwendung kommt, und wie dieser Wortschatz meist der Umgangs- sprache entnommen ist und sich auf die konkretesten Begriffe beschräukt- Diesen Tatsachen entsprechend ist der orthographische Unterrichtsstoff für unsere Schulen auszuwählen und zu kürzen. Einige Darlegungen mögen zeigen, wie das zu geschehen bat.

In allen Klassen ist schon auf dem Gebiete der Gleichschreibung, wo Laut und Schriftzeichen übereinstimmen, bei der Auswahl der Diktatstoffe darauf zu achten, dass sie nur Gedanken und Wörter bieten, die dem lIdeenkreise und Sprachvermögen unsrer Schüler entsprechen, dass sie also dem Stoffkreise des alltäglichen Lebens entnommen sind, dagegen alle abstrakteren Redewendungen alle der Volkssprache nicht geläufigen Ausdrücke vermeiden. Ein Wörterbuch für Hilfsschulen lässt sich zu dieseın Zwecke natürlich schwer herstellen; die richtige Auswahl muss der Erfahrung des Lehrers überlassen bleiben. Bei der Andersschreibung dagegen, wo Laut und Zeichen nicht übereinstimmen, muss eine bestimmte Auswahl getroffen werden; so wäre die Gruppe mit ai vielleicht zu beschränken auf die Wörter „Hain, Kaiser, Mai, Mais, Saite und Waise“, dagegen wären auszuscheiden die Wörter „Bai, Hai, Laib, Laich, Laie, Maid und Rain“; die Gruppe auf ich könnte die Wörter „Bottich, Pfirsich, Rettich und Teppich“ enthalten, während Drillich, Estrich, Fittich, Kranich, Lattich und Zwillich* wegzufallen hätten. In ähnlicher Weise sind nicht nur alle Wörtergruppen zu beschneiden, in denen es auf einzelne Laute wie dt, j, qu, v, ph, th. u. s. w. ankommt, sondern z. B. auch eine feste Auswahl zu treffen in der Zahl der zur orthographischen Behandlung kommenden starken Verben, der Verhältnis- und Umstandswörter. „Längs, trotz, mangels, gemäss“ und ähn- liche Wörter werden unsere Kinder wohl schwerlich später schriftlich verwerten; darum können sie wohl beim Lesen oder im Sprechunterrichte mündliche Be- handlung erfahren, sollen aber nicht der orthographischen Übung unterliegen. Die Interpnnktionslehre kann sich mit Punkt, Komma, Ausrufe- und Frage- zeichen begnügen, Doppelpunkt, Semikolon, und andere Zeichen streichen, denn auch sie finden später keine Verwendung. Diese Beispiele mögen genügen, um die gewünschte Kürzung des Stoffes anzudeuten.

Nach den bisherigen Erörterungen liesse sich das Ziel des orthographischen Unterrichts in der Hilfsschule wohl in folgender Weise formulieren: An eine vollständige Erlernung der Rechtschreibung ist in der Hilfsschule nicht zu denken; der Unterricht hat für seine Schüler die Fertigkeit anzustreben, die einfachsten schriftlichen Arbeiten möglichst ortho-

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graphisch richtig ausführen zu können. Bei meinen weiteren Ausführungen werde ich mein Augenmerk besonders darauf richten, welche besonderen, vom Unterrichte der Volksschule abweichenden Massnahmen sich etwa treffen lassen, um uns sicherer und schneller zum Ziele zu führen.

In erster Linie möchte ich die Zeit bestimmen, die dem Rechschreibeunterrichte bei uns zuzuwenden ist. Sie darf vor allem nicht zu kurz bemessen sein. In den ersten Jahren schliesst sich das Schreiben vollständig an das Lesen an; besondere Stunden werden nicht für dasselbe angesetzt. In dieser Zeit müssen wir Hilfs- schullehrer der Gefahr aus dem Wege gehen, das Schreiben auf Kosten des Lesens, das man gern schneller fördern möchte, zu vernachlässigen. Es genügen nicht nur die letzten 10 Minuten für orthographische Zwecke; sollen wöchentlich mindestens 2 Stunden dazu verwendet werden, so sind von jeder Lesestunde mindestens 20 Minuten zu opfern. Für die Mittel- und Oberstufe verlangt Kollege Horrix, dass zweimal wöchentlich gut vorbereitete Diktate gefertigt werden sollen; ich stimme dem voll und ganz zu, frage aber, woher die drei Stunden Zeit nehmen, die doch wenigstens dazu nötig sind? Da die Lesefertigkeit in den Mittelklassen noch zu weit zurück ist, darf die dem Lesen gewährte Zeit nicht gekürzt, es muss also auf andere Weise Rat geschaffen werden. Meiner Meinung nach liesse sich hier der Zeichenunterricht von 2 auf 1 Stunde beschränken; in den Oberklassen aber sind die Diktate in den für Sprechunterricht angesetzten Stunden mit vorzubereiten, da für die Kinder dieser Stufe reine Artikulationsübungen wohl nicht mehr nötig sind, zumal wenn, wie es in Leipzig der Fall, die Stotterer und Stammler besonderen Unterricht geniessen. Gedenkt man der langsamen Perzeptions- und Apperzeptionsfähigkeit unsrer Schüler und der grossen Gedächtnisschwäche der meisten derselben, so dürfte die beanspruchte Zeit nicht zu reichlich bemessen sein. Dem möglichen Vorwurfe aber, dass zu viel Zeit rein mechanischer Arbeit gewidmet würde, begegne ich mit der Ansicht, dass bei unsern Schülern das Bedürfnis nach interessanten Stoffen gar nicht so gross ist, dass sie vielmehr ganz gern mit- arbeiten, wenn nur ein lebendiger, flotter Unterrichtsbetrieb stattfindet. Ein solcher Vorwurf würde derselben Besorgnis entspringen, die auch in der Volks- schule der Einübung der Stoffe zu wenig Raum gönnt und es z. B. im Rechnen bei vielen Schülern zu keiner Sicherheit in ihren Leistungen kommen lässt.

Im Anschlusse an die Zeitfrage für das eigentliche Rechtschreiben möchte ich erwägen, welche Förderung der übrige Unterricht unsrer Sache angedeiben lassen kann. Da sind zunächst zwei Massnahmen zu erwähnen, die jedenfalls auch anderwärts längst der Praxis angehören. Jede schriftliche Arbeit, sowohl die Hausaufgaben als auch die Diktate, sind mit Angabe von Ort und Datum zu beginnen und mit voller Namensunterschrift zu schliessen jedem Kinde ist im Laufe der Jahre ein kurzer Lebenslauf seiner Person einzuprägen und, wie auch Horrix erwähnt, auf der Oberstufe durch öÖftere schriftliche Fixation zum festen Eigentum zu machen. Zur Mithilfe könnten mehr als bisher der Schönschreib- und Rechenunterricht herangezogen werden. In ersterem ist es nicht nötig, denselben Satz, dasselbe Wort halbe Seiten voll

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zu schreiben, es kann eine grössere Abwechslung im Schreibstoffe herrschen; als solcher eignet sich unter andern Wörtergruppen eine Auswahl der ge- bräuchlichsten Vornamen. Die Rechenstunden können als orthographische Übung die Einprägung der Namen der Zeit- und Zählmasse, der ge- bräuchlichsten Münzen, Masse und Gewichte, der Grund- und Ord- nungszahlen übernehmen. | Die weitgehendste Unterstützung aber hat der octhözraphische Unterricht vom Anschauungs- und Realienunterrichte zu erwarten. Das Ergebnis jeder Stunde ist an der Wandtafel in Form von Stichwörtern oder kleinen Sätzchen festzuhalten, die gegen Schluss der Stunde nicht bloss zur sachlichen Wiederholung dienen, sondern auch orthographisch zu betrachten, womöglich auch abzuschreiben sind. Gut ist es, wenn mehrere Tafeln vorhanden, dass der Stoff melırere Tage hindurch zur Wiederbolung stehen bleiben kann. In den Mittel- und Öberklassen aber, wo Heimatkunde und Geographie, wohl auch etwas Geschichte getrieben wird, empfiehlt es sich, die Kinder ein Merkheft an- legen zu lassen, in welches nicht Stoffexzerpte, sondern nur neu auftretende Wortbilder Aufnahme: finden sollen zwecks sachlicher und ortbographischer Übung. Das Heft wird nur zum Zwecke der Wiederholung mit nach Hause gegeben,: hat sonst aber in der Schule zu bleiben.

Eine konsequente Durchführung der vorstehenden Massnahmen wird unsere Kinder ganz wesentlich in ihrem orthographischen Können fördern.

Wir wenden uns nun noch speziell zu Stoff und Methode des eigentlichen: Rechtschreibeunterrichts,.

. Der ganze orthographische Stoff gliedert sich in 3 Gebiete, in den Wörter- schatz der Gleichschreibung oder eigentlichen Rechtschreibung, in den der Andersschreibung und in das Gebiet der orthographisch-grammatischen Übungen.

Der Wörterschatz der Gleichschreibung ist für die ersten Schuljahre in der Fibel gegeben. Da der Stoff ziemlich umfangreich, halte ich es im Interesse unsrer gedächtnisschwachen Kinder für nötig, nach Analogie der Normalwörter eine Auslese aus demselben vorzunehmen und zu jedem einzelnen Laute, jeder Anlautverbindung eine kleine Gruppe von 5—6 Wörtern auszuwählen; diese Gruppen sind als orthographischer Grundstoffl, als das Einmaleins der Orthographie zu betrachten und als Memorierstoff zu behandeln. Wie Sprüche und Lieder in jeder Religionsstunde, so sind sie in jeder Lesestunde zu üben; das Kind muss Wortreihen wie. etwa: Dach, Dame, Dorf, Daumen, Durst oder: Stab, Stern, Stiro, Storch, Sturm oder: Wage, Wald, Weste, Wein, Wild, Woche, Wurm etc. mit Leichtigkeit auf Verlangen bilden können. An diesen Wortschatz schliessen sich nach dem Gesetze der Analogie die andern orthographischen Übungen an. Soll das öftere Anschreiben erspart bleiben, so können diese Gruppen ebenso wie die der PEEIRECHTEINNUE auf Papptafeln ge- druck: werden.

‘Das ganze Gebiet der And ersschreibung ist möglichst. in Wörter- gruppen festzulegen, die nach unserm oben-ausgesprochenen Ziele auszuwäblen sind. Sie. finden in. Diktatübungen Verwendung. . Die orthographischen. Grund-

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formen, die gleichartigen Merkmale erleichtern die Apperzepfion, die Kinder erhalten gleichsam. orthographische Begriffe. Wenig umfangreiche Gruppen, wie die mit aa, 00, ee, th, dt u. s. w. sind wie die oben erwähnten der Gleichschreibung als Memorierstoff zu behandeln. Die auszuscheidenden Wörter aber sollen durchaus nicht etwa unbeachtet bleiben; sie finden nur - mündliche Behandlung. Ein gleiches Verfahren ist, um das gleich bier zu er- wähnen, den in die Umgangssprache übergegangenen Fremdwörtern gegenüber zu beobachten. Sie werden nach einem Schulwörterbuche ausgewählt, auf der Oberstufe kurz erklärt und gelesen, aber nicht geschrieben. _ >

Orthographische Regeln, die dem denkenden Schüler . Übersicht ge- währen und Klarheit und Sicherheit in den erworbenen Wortschatz bringen, verbieten sich in der Hilfsschule, da sich unsere denkschwachen und oft auch denkträgen Zöglinge ihrer doch :nicht ‚bedienen würden; als Minimum können höchstens die 3 Sätze in Betracht kommen: 1. Nach langem Selbstlaute

kommt nur 1 Mitlaut. 2. Steht nach kurzem Selbstlaute nur ein Mitlaut, so wird er verdoppelt. 9. Stehen nach kurzem Selbstlaute 2 Mitlaute, so wird keiner verdoppelt. _ |

Zu den Übungen in der Gleich- und Andersschreibung, bei denen es haupt- sächlich auf Schulung des Gehörs und Gesichts ankommt, Denkarbeit aber wenig verlangt wird, sondern Übung und immer wieder Übung die Hauptsache ist, haben als drittes Moment orthographisch - -grammatische Übungen hinzuzutreten, bei denen auch kleine Ansprüche an das Denkvermögen, an die geistige Selbst- tätigkeit der Schüler gestellt werden. Es sind dies Übungen aus der Wort- und Satzlehre, soweit sie bei Geistesschwachen in Betracht kommen können. Aus ersterem.Gebiete würden: hierher gehören die Bildung der Mehrzahl der Hauptwörter durch Umlautung, Steigerung des Eigenschaftswortes, Beugung :des: Zeitwortes, Bildung neuer Wörter durch Vor- und Nachsilben und Wortzusammen- setzungen u. 8. w.; bei der Satzlehre handelt es sich aber keineswegs um Grammatik im schulmässigen Sirine, sondern um rein praktische Übungen zur Hebung des Sprachgefühls und zur Unterstützung der Erlernung der Orthographie, wie sie einer meiner Spezialkollegen wohl nicht unzutreffend als Konstruktions- übungen bezeichnet hat. Solche Übungen wären: Bildung einfach nackter Sätze nach gegebenen Gegenständen oder Aussagen, Erweiterung derselben durch Beifügungen und Ergänzungen, Bildung von Sätzchen zur Übüng der gebräuch- lichsten Verhältnis- und Umstandswörter u.s.w. Je nach dem sprachlichen Standpunkte der Klasse liessen ‚sich auf der Oberstufe wohl aüch kleine. .Wort- familien, gleichsam orthographische Lebensgemeinschaften, aufstellen, bei denen das Behalten ‘der Wortbilder darch die ‚sachliche le der Wörter sehr erleichtert wird.

Diese. Konstruktionsübungen sind im. Anschlüsse :an. das be oder im Sprechunterrichte zu betreiben und dienen als: Vorbereitung zu den 'Diktaten oder als: Unterlagen zu schriftlichen Aufgaben für die: Schäler.

Dem Hausfleisse :derartige Aufgaben zu stellen, "halte ich für die Oberstufe für viel nützlicher: als dis. Anfertigung: reiner Ab-

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schriften. Auch das beste Abschreiben bleibt mangelhaft, weil erstens viele leichte Wortbilder zu oft wiederkehren, weil zweitens in vielen Lesestücken zu wenig neue Wortbilder auftreten und weil drittens die einzelnen Formen in ihrer grossen Verschiedenheit zu schnell am Auge vorübergleiten, wegen der Enge des Bewusstseins zu rasch von heterogenen Erscheinungen ins Unbewusst- sein gedrängt werden und für das Gedächtnis verloren gehen.

In vielen Schulen ist zur Unterstützung dieser orthographisch-grammatischen und stilistischen Übungen in den Händen der Schüler eine sogenannte „Sprach- schule“, die allerdings von vielen Seiten nur als „Eselsbrücke“ oder als Faul- heitspolster für den Lehrer angesehen wird; ich würde ein solches Sprachheft, das natürlich für die Bedürfnisse der Hilfsschule besonders bearbeitet sein müsste, für unsere Schüler mit Freuden begrüssen, denn es liesse sich meiner Meinung nach sehr erspriesslich verwerten.

Die Ausführungen über den Stoff des Unterrichts seien mit der Bemerkung geschlossen, dass ich für jede Hilfsschule eine genaue Stoffübersicht für nötig halte, die sich nicht nur auf die Angabe der einzelnen Themen, sondern soweit möglich auch des Stoffes derselben erstreckt. Ist auch in grösseren Schulen eine Verteilung des Stoffes auf die einzelnen Klassen nicht möglich, so doch eine Scheidung für die Unterrichtsstufen, so dass jeder Lehrer weiss, welchen orthographischen Erscheinungen cr seine besondere Aufmerksamkeit zu widmen hat.

Meine Bemerkungen zur Methode des Rechtschreibens werden sich kurz auf das Lautieren, das Buchstabieren, das Abschreiben, die Korrektur und die Verbesserung erstrecken.

Die erste Vorbedingung für Erleınung der Orthographie ist, dass unsern spracharmen Kindern die neuhochdeutsche Sprache in Ohr und Mund gepflanzt wird; jeder Verstoss gegen Sprachrichtigkeit und Sprachreinheit muss mit Kon- sequenz zurückgewiesen und berichtigt werden. Neben dem sprachlichen Gehöre ist jedem Schüler durch einen sprachlichen Anschauungsunterricht im engeren Sinne, bestehend in Lautieren und Buchstabieren, ein sprachlautliches Gehör zu vermitteln. Dabei muss das Lautieren nach Gehörauffassung möglichst fleissig und lange getrieben und nicht zuviel durch das Lautieren auf Grund der Auffassung durch das Auge ersetzt werden. Lernt das Kind nicht hörend und sprechend schreiben, so werden Fehler wie Buchstaben- weglassung, Buchstabenversetzung und das buchstabenweise Schreiben sehr spät verschwinden. Treten die Wörtergruppen der Andersschreibung auf, so muss das Lautieren durch das Buchstabieren ergänzt werden und zwar ist letzteres in der Hauptsache zu betreiben nach Auffassung durch das Auge; wir vermögen auf grund der Gehörsauffassung nicht zu eagen, ob z. B. folglich, solcher, Kelch, borgen, horchen, Flug und Fluch mit g oder ch geschrieben, ob der A-Laut in Bär, Fehler, zählen so oder so bezeichnet wird; eine Unterscheidung der weich und hart gesprochenen Laute werden unsere Schüler ebenso nie nach dem Ge- höre erlernen. Mit dem Buchstabieren zu warten, bis mechanische Lesefertigkeit erreicht ist, dürfte nicht geraten sein, denn diese erlangen die meisten Schüler

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erst nach mehreren Jahren. Der Nachteil, dass hin und wieder Laut und Buchstabe verwechselt werden, muss mit in Kauf genommen werden.

Wie das Abschreiben allmählich in seiner Schwierigkeit zu steigern ist, hat Horrix in seinem Artikel eingehend dargelegt. Das Abschreiben von Sätzen ist durch die Darstellung mit Strichen vorzubereiten; die Länge der Wörter ist durch die Länge der Striche, die Zabl der Silben durch senkrechte Querstriche anzudeuten. Dem buchstabenweisen Abschreiben und dem Finger- zeigen ist dadurch zu begegnen, dass das Abschreiben möglichst oft als Chorübung, ja im Takte betrieben wird; man erzielt dadurch nebenbei grössere Aufmerksamkeit und zwingt die apathischen Kinder, sich aus ihrer Trägheit aufzuraffen, der sie sich so gern überlassen. Dem gleichen Zwecke dient es auch, das Fingerzeigen im Lesen möglichst bald zu untersagen, so schwer es auch besonders den erethischen Geistern fällt, der Schrift nur mit dem Auge zu folgen.

Au alle Abschriften, Diktate, Niederschriften aus dem Gedächtnisse u. s. w. hat sich ein nochmaliges Überlesen, verbunden mit Selbstkorrektur oder Öfterer wechselseitiger Korrektur, anzuschliessen. Die richtigen Wortbilder werden dadurch befestigt, die falschen durch Gegenüberstellung der richtigen verdunkelt, vor allem aber das so nötige Lesen der Schreibschrift geübt. Die Tagebücher die Diktat- und Aufsatzhefte müssen oft zu diesem Zwecke Verwendung finden Diese Schülerkorrekturen machen natürlich die Nachkorrektur durch den Lehrer nicht überflüssig; dieselbe hat nach zwei Gesichtspunkten hin zu erfolgen. Es ist zu unterscheiden, ob die Fehler hätten vermieden werden können oder ob sie aus Unkenntnis gemacht worden sind; im ersteren Falle sind sie nur anzu- streichen, im letzteren ist das richtige Wortbild an die Stelle des falschen zu setzen, oder, was noch besser ist, an das Ende der Arbeit zu schreiben, damit die Aufmerksamkeit nicht erst wieder auf das falsche Wortbild geleukt wird Die Verbesserung erfolgt wortweise, nur bei grammatischen oder stilistischen Fehlern satzweise; Kreuz, Strich und Fehlzeichen genügen zur Kenntlichmachung der verschiedenen Fehler.

Alle orthographischen Übungen haben möglichst rasch zu erfolgen nicht nur um die Aufmerksamkeit anzuregen, sondern vor allem um einer viel- seitigen, umfangreichen Übung willen. Mit Rücksicht auf letzteres sollen auch ‚die Diktate nicht den Charakter von Schönschriften annehmen, sondern man soll sich mit einer flotten, natürlich in ihren Formen korrekten Handschrift begnügen. In dem gleichen Interesse ist es auch wünschenswert, den Gebrauch der Schiefertafel bis in die obersten Klassen neben dem Tagebuche fortzusetzen.

Ich bin am Schlusse meiner Ausführungen. Möchten dieselben dazu bei- tragen, unsere Schüler auch auf orthographischem Gebiete dem Ziele der Volks- schule möglichst nahe zu führen.

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Mitteilungen.

Bremen. (Porsonslieh)) Mit Ende dieses Schuljahres legt der Ləifer dər 'hiesigen Hilfsschule, Herr Hauptlehrer Wintermann, sein öffentliches Amt nieder, "um sich fortan ganz und ausschliesslich der Leitung seines von ihm vor längeren Jahren gegründeten Pensionats für geistig zurückgebliebene Kinder zu widmen. An seine Stelle an der Hilfsschule tritt der bisherige 1. Lehrer derselben, Herr Friedrich.

‚Görlitz, (Hilfsschule.) Seit 1898 hat die hiesige Hilfsschule 3 aufsteigende Klassen mit 3 Lehrern. Dieselbe wird gegenwärtig von 54 Schülern besucht. Der Unterricht wird nur am vormiyage erteilt und beläuft sich auf wöchentlich 24 und 19 .Stunden.

Königshütte 0.S. (Hilfsschnle) Die ER Hilfsschule ist die einzige in Oberschlesien. Unterm. 24. November 1898 richtete die Königl. Regierung zu Oppeln an den dortigen Magistrat ein Auschreiben, in welchem auf die zunehmende Ent- ‚wickelung der Hilfsschulen hingewiesen und die Gründung einer solchen den mass- gebonden städtischen Behörden empfohlen wurde. Der Magistrat und die Schuldeputation von Königshütte traten in wohlwollender. Anerkennung des guten Zweckes einer Hilfs- .schule dem Vorschlage der Königl. Regierung näher. Es wurde eine Zählung der in den Volksschulen vorhandenen schwachsinnigen Kinder vorgenommen und da ihre Zahl (47) eine hohe war, so wurde die Errichtung einer Hilfsschule für schwachsinnige ‚Kinder vom i. April 1900 beschlossen. Die Eröffnung derselben fand am 2. April 1900 statt. Aufgenommen wurden 49 Kinder ohne Rücksicht auf die Konfession. Diese wurden in eine Ober- (23) und eine Unterstufe (26 Schüler) verteilt. Gegenwärtig -zählt die Hilfsschule in 3 aufsteigenden Klassen 77 Kinder. |

Leipzig. (Pensionsberechtigung der seitherigen besonderen Zulage.) Die. Lehrer an der hiesigen Hilfsschule und an den Hilfsklassen für Schwachbefähigte ‚erhielten bisher‘ in Hinsicht auf die Schwierigkeit ihrer Arbeit noch eine . besondere Vergütung von jährlich 200 Mk. Der. Gedanke nun, dass sich bei einem grösseren ‘und daher schnelleren Verbrauche von Kräften, wie ilın der Schwachsinnigenunterricht von dem Lehrenden fordert, womöglich eine zeitigere Pensionierung nötig machen werde, führte zu der Bitte an die städtischen Behörden, jene Remuneration in eine :pensionsberechtigte ‚Zulage umzuwandeln. .Das ist denn auch in wohlwollendster Weise geschehen. In ihrer Sitzung am vergangenen 29. Oktober stimmten die Stadtver- ordneten. der Ratsvorlage zu, laut welcher jene 200 Mk. als unwiderrufliche Stellen- zulage zu behandeln sind, wenn der. Stelleninhaber an der Hilfsschule oder an Hilfs- klassen für Schwachbefähigte fünf Jahre lang ununterbrochen Unterricht erteilt hat. So. ist ein längst gehegter Wunsch der hiesigen Lehrer der Schwachsinnigen durch das gütige Eutgegenkommen der städtischen Behörden in Erfüllung gegangen, dessen

die Bedachten jederzeit mit dankbarem Herzen gern gedenken werden. H. M. . Meissen. (Hilfsschule). Ostern d.. J. soll hier eme Hilfsschule errichtet werden. ; o

Mainz. (IV. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands) Am 14., 15. und 16. April d. J. wird, wie früher schon gemeldet, am hiesigen Orte der IV. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands stattfinden. In der Vorversammlung,

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‚welche am 14. April, abends 7'/, Uhr im Pröbesaale der „Liedertafel“, Grosse 'Bleichen Nr. 56 abgehalten wird, werden folgende Gegenstände zur Erörterung ‚kommen: 1. Das Rechnen auf der Unterstufe der Hilfsschule. (Referent ‚Hauptlehrer Giese-Magdeburg) und 2. Können die Kinder zwangsweise der ‘Hilfsschule zugeführt werden? (Referent: Rektor Grote-Hahnover), während für die Hauptversammlung am 15. April, vormittags 9 Uhr, folgende Tages- ordnung festgesetzt ist: 1. Das schwachbegabte Kind im Hause und in der Schule (Referent: Hilfsschulleiter Delitsch-Plauen i. V.), 2. Die Berück- sichtigung der Schwachsinnigen im bürgerlichen und Öffentlichen Recht des deutschen Reiches (Referent: Oberamtsrichter Nolte-Braunschweig), 3. Be- ratung über die dem 2. Vorbandstage vom Hauptlehrer Kielhorn- Braunschweig vorgelegten Leitsätze & über die Organisation der Hilfs- schule. Für den 16. April ist die Besichtigung der Sehenswürdigkeiten der Stadt Mainz etc, eventuell der Besach einer Idiotenanstalt in Aussicht genommen. Ohne Zweifel stehen auch diesmal wichtige Gegenstände zur Beratung. Auch nach der Seite der äusseren Veranstaltungen dürfen wir für den Mainzer Verbandstag die schönsten Hoffnungen hegen. Denn die gastliche Rheinstadt rüstet sich in lebhafter Begeisterung schon jetzt zu dom Empfang des Verbandes, und die Zusammensetzung des Ortsausschusses bürgt voll und ‚ganz für die denkbar freundlichste Aufnahme der Gäste. Die, geplanten Veranstaltungen, die altehrwürdige Stadt und der herrliche deutsche Rhein werden dazu beitragen, dass sich die Tage für alle Teilnehmer im höchsten Masse befriedigend gestalten werden.

Literatur.

Unsere schwachen Kinder. Acht Briefe aus der Erziehungs- und Unterrichtsarbeit an geistig Zurückgebliebenen für Väter und Mütter. Von K. Ziegler, Lehrer an. der Erziehungsanstalt Idstein im Taunus. Verlag Er- ziehungsanstalt Idstein 1903.

‘Das Buch, aus welchem’ die letzte Nummer dieser Zeitschrift eine Probe brachte, ist nunmehr erschienen. Das im voraus abgedruckte „Weihnachtsmärchen* war dem ‘7. Briefe („Am Weihnachtsfest“) entnommen. In den übrigen Briefen verbreitet‘ sich der Verfasser über folgende Gegenstände: Die Behandlung und Erziehung geistig ab-

normer Kinder im allgemeinen Über das Unglück des Schwachsinns Die ideale Seite unserer Anstaltserziehung Mehr Verständnis der Anstaltspflege und Anstalts- erziehung gegenüber Die Anstaltskinder in den Ferien zu Hause Beim Tode

eines blöden Kindes. Das Buch ist in erster Linie und hauptsächlich für. die Väter und Mütter und damit im allgemeinen für die erziehungspflichtigen Angehörigen geistig zurückgebliebener Kinder bestimmt. Denen will es mit heilpädagogischen Belehrungen und Ratschlägen an die Hand gehen, und ebenso will es ihnen in ihrer Sorge nm ein unglückliches . Kind Trost und. Zuspruch gewähren. . Was die ‚Lehrer an den Hilfsschulen, .insbesondere aber. .die Leiter. und Lehrer der. Anstalten: immer ünd immer wieder und jahrein jahraus mündlich und schriftlich den Angehörigen ihrer Zöglinge

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gegenüber auszuführen haben, das tut der Verfasser in seinen „Acht Briefen*. Die- selben belehren in einfacher und schlichter, dabei aber sehr ansprechender Form die Eltern schwachsinniger Kinder nicht nnr über das Wesen des Schwachsimnes, sondern sie geben auch gleichzeitig treffliche Winke über die Behandlung solcher Kinder in der Familie. Nicht minder führen einige der Briefe ihrer Leser in das Leben und Wirken unserer Anstalten ein, machen sie mit deren erziehlichen und unterrichtlichen Massnahmen bekannt und stellen dieselben in ungeschminkter Weise in das rechte Licht. Je mehr die Briefe, deren Form durchgeheuds als eine gelungene zu be- zeichnen ist, Leser finden werden, desto gerechter wird auch die Beurteilung unserer Arbeit werden. Den grössten Nutzen aber werden die Eltern von dem Buche haben. Dasselbe sollte darum in die Hand aller derjenigen Eltern kommen, welche in der Lage sind, ein minderbegabtes Kind zu besitzen, es sollte aber auch bei keinem unserer Berufsgenossen fehlen. S.

Unsere schwachen Kinder. Acht Briefe aus der Erziehungs- und Unterrichtsarbeit an geistig Zurückgebliebenen, für Väter und Mütter.

Von Karl Ziegler, Lehrer an der Erziehungsanstali Idstein i. T.

Das Schriftchen, welches den Vorstehern und Lehrern an Anstalten und Hilfs- schulen zur Verbreitung unter den Angehörigen schwacher Kinder bestens empfohlen wird, ist zu beziehen von der Erziehungsanstalt Idstein i. T.

Preis pro Einzelexemplar . aoa . . . 0.80 Mark, Bei einer Abnahme von 12 Stück =. u ir ne OO , Fer i „. 25 a- >- . 060 , 9 9 2 ? 50 » 9 e 2 * e 0.50 yn g í 100 > >... . 040 ,

Herr Hauptlehrer Horrix, Leiter der Hilfsschule zu Düsseldorf, schreibt am Schlusse einer längeren Rezension: „Kurz, die ganze Schrift ist mit soviel Liebe, Suchkenntnis und nicht zuletzt mit einer 80 gewandten Feder geschrieben, dass es mir eine helle Freude war, sie zu lesen. Möchte ihr wahrhaft goldener In- halt von allen Eltern und Erziehern voll und ganz gewürdigt werden!“

Inhalt. Störungen der Sprache und Schrift bei geistig schwachen Kindern. Der Rechtschreibeunterricht in der Hilfsschule. Mitteilungen: Bremen, Görlitz, Königs- hütte O.;S., Leipzig, Meissen, Mainz. Literatur: Unsere schwachen Kinder. Inserate.

Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. Druck von Johannes Pässler in Dresden.

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Nr. 2 u. 3.

für die

Behandlung Sehwachsinnioer und Ent f

Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Spezialarzt Dresden - Strehlen, für Nervankrankhalien Residenzstrasse 27. In Stuttgart. Erscheint jährlich in 12 Nummern von | Zu beziehen durch alle Buchhandlungen

:nindestens einem Bogen. Anzeigen für so und Postämter, wie auch direkt von der die gespaltene Petitzeile 25 Pfg. Lite- | März 1903. ; Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, rarische Bellagen 6 Mark. einzeine Nummer 50 Pfg.

Die Original- Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber

Das Auswendigschreiben als Mittel der Sprachbildung Schwachsinniger.

Eine Monographie.

Von der Sache zum Wort, vom Wort zum Zeichen, das ist die psycho- logische Grundlage des Schreibleseunterrichts, von der sich auch die Übungen im Auswendigschreiben als Mittel der Sprachbildung nicht entfernen dürfen.

Der Zweck des Auswendigschreibens ist die Erzieluug einiger Fertigkeit im sehriftlichen Ausdrucke. Die Kinder. werden geübt, einfache Gedanken, Laut- klänge und Schriftbilder klar zu erfassen, auswendig niederzuschreiben und die Treue der Niederschrift zu prüfen.

Das Auswendigschreiben dient dem Schreibleseunterrichte und der Recht- schreibung, sowie dem Sachunterrichte, dessen Stoffe benutzt werden, und schliesslich der schriftlichen Mitteilungsfähigkeit des Kindes. Stets wird dabei neben der Förderung der Sprachbildung nach ihrer äusseren Seite die Vertiefung des begrifflichen Inhalts des Sprachstoffes mit verfolgt.

I.

Der Anfang der Übungen im Auswendigschreiben fällt zusammen mit den ersten Schreiblese-Übungen, die im Klassenunterrichte schwachsinniger Kinder allgemein einige Selbstlaute zum Gegenstande haben. Im Vorkursus haben die Kinder durch Lautierübungen*) die einzelnen Laute im Wortklange unterscheiden gelernt. Sie folgen nun mit Vergnügen der Aufforderung, ein Wort mit „i“ oder „u“ zu nennen. Der aus dem lautierten Worte nochmals. herausgehörte Laut wird von den Kindern mässig laut im Chore gesprochen und dann

*) Wehle, Vorübungen zum Schreiblese-Unterrichte schwachsinniger Kinder. Verlag von Hellmuth Wollermann in Braunschweig.

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geschrieben. Nicht soviel Vergnügen wie die Selbstlaute, machen den Kindern die Mitlaute. Durch Personifikation lassen aber auch sie sich der Kindes- natur nahe bringen und schmackhaft machen. Der Laut „m“ z. B. hat wohl für den lallenden Säugling an sich Reiz, wie andere Laute auch, aber für das Schulkind und selbst für das schwachsinnige einen für die Dauer des Unterrichts ausreichenden Reiz nur, wenn das Kind dabei au einen ihm bekannten und es interessierenden Naturlaut denken kann, wie an das Brummen des Rindes. Da- durch wird ihm der an sich tote Laut und Buchstabe sofort lebendig. Verfasser hatte den Kindern einmal von der Heuernte und der Heimfalırt des Heuwagens erzählt und unter anderem das Wörtchen „heim“ als Diktatstoff benutzt. Beim Anschreiben des Wörtchens an die Wandtafel entstand infolge eines Sand- körnchens in der Kreide eine Lücke im Bindestriche zwischen „hei“ und „m“, da äusserte ein Kind: „Der Brummer hat sich abgespannt“. Das Kind phan- tasierte sich also „hei“ zum Wagen und „m“ zum ziehenden und nun ab- gespannten Zugochsen, welchen Vorgang es im Anstaltsgehöfte beobachtet latte. Dieser Naturtrieb des Kindes nach märchenhafter Ausgestaltung seiner Umgebung und seines Tun und Treibens wird auch beim Diktate nicht brach liegen gelassen, sondern es wird dem Kinde diese echt kindliche Denkweise gegönnt. Das hilft seinen schwachen Geist wecken und zur Selbsttätigkeit anregen. Verweilen wir gleich bei dem Wörtchen „heim“ als Diktatstoff. Es ist gelesen, an der Wand- tafel vorgeschrieben, wieder gelesen und von den Kindern abgeschrieben worden. In Bezug auf letzteres sei an ein Wort von Horrix erinnert: „Abschreiben, und verständig abschreiben, ist zweierlei“. (Zeitschrift f. d. Behandlung Schwach- sinniger 1899, Seite 167). In der nächsten Stunde wird wieder von dem Sach- gebiete, hier der Heuernte, ausgegangen, das Wort „beim“ mit besonders deut- licher Aussprache vor und vou den Kindern insgesamt nachgesprochen, langsamer wiederholt und bei nochmaliger Wiederholung in seine 3 Laute aufgelöst, so dass jeder Laut deutlich für sich erklingt. Die Buchstabennamen werden selbst- verständlich nicht gebraucht. Auch hierbei lässt sich der Siunlichkeit der Kindesnatur zweckdienlich Rechnung tragen, wie in der Zeitschrift 1887 Seite 101 u. f. für den Rechenunterricht in sehr empfehlenswerter Weise vorgeschlagen worden ist, indem die Finger, beim kleinen der linken Hand beginnend, hier nicht für die Zahlen, sondern für die Laute als Stütze gebraucht werden. Durch solche, den Augen sichtbare Versinnlichung der Laute verliert die Schwierigkeit der Begriffe „zuerst, dann, zuletzt“ in Bezug auf die Reihenfolge der Laute ihre Schärfe, auf welche Seite 100 der Zeitschrift von 1897 hingewiesen worden ist. Beim Heben des kleinen Fingers der linken Hand der Kinder wird „h“, beim Heben des Goldfingers „ei“ und beim Heben des Mittelfingers „m“ im Chore gesprochen. Anfänglich wird dies stets von mindestens einem Kinde einzeln wiederholt. Bei der letzten dieser Wiederholungen, vielleicht wieder im Chore, werden, als Einleitung der Synthese, die Laute wieder bei etwas gedehnter Aus- sprache durch schwache Aspiration verbunden, insbesondere der Mitlaut mit dem folgenden Selbstlaute, also „hei m“. Nun schreiben die Kinder das Wörtchen auswendig. Bei Wiederholung der Übung wird die unterstützende Analyse weg-

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gelassen. Ganz aufhören darf das Kopflautieren während der ganzen Schul- zeit nicht, wenn es auch später erlieblich zurücktreten wird. Auf der Oberstufe, doch nur bei günstigen Verhältnissen und auch nur teilweise, wird das Lautieren dem Buchstabieren Platz machen.

Ist die Niederschrift erfolgt, so wird den Kindern sofort Gelegenheit zur Selbstprüfung gegeben nach den an die Wandtafel geschriebenen oder in Druck- buchstaben angestellten oder nach beiden Vorbildern. Bei gleichzeitiger An- wendung vou Schreib- und Druckschrift von Anfang an braucht nicht (Zeit- schrift 1897, Seite 103, Absatz 7) „über die Schwierigkeit der Übertragung von Schreib- in Druckschrift“ geklagt zu werden. Ruhig und glatt schreitet der Unterricht fort.

Sind Schiefertafeln in den Händen dieser Kinder, so empfiehlt es sich, die Kinder von vorn herein dazu anzuhalten, falsche Buchstaben nicht wegzuwischen, sondern durchzustreichen und das Richtige darüber zu schreiben. Häufig wischen die Kinder gleich das ganze Wort oder noch melır weg und werden dadurch aufgehalten. Das Durchstreichen hat zwar den Mangel, dass durch dasselbe das falsche Wortbild dem Auge des Kindes nicht entzogen wird, aber bei dem Schreiben auf Papier geschieht solches auch nicht. Es werden aber die an das Durchstreichen gewöhnten Kinder weniger in Versuchung kommen, das Falsche auf dem Papier auch wegwischen zu wollen.

Lauttreue ist bei dem so mündlich und schriftlich vorbereiteten Wortdiktate nicht nötig, wohl aber bei den ersten nur mündlich oder gar nicht vorbereiteten Übungen.

Der Übergang zum Diktate von Sätzchen lässt sich dadurch herstellen, dass zunächst ein oder einigemale die einzelnen Wörter des Satzes durch Striche an- gedeutet oder auch z. T. ganz dargeboten werden; so z. B. bei der Schreiblese- "Übung des „P“, Seite 57 der Pestalozzifibel*) die Sätzchen:

(Der Pudel) | || naschte. („ ) | |] sehämte sich. i nascht) | || | nie wieder. Oder Seite 58 der Pestalozzifibel: (Der Bach) | | rauscht. (Der Nachen) | || schaukelt. Oder in Beziehung auf das Bienenhaus Seite 60:

Das Dach | | (ist rot). Die Wände | | (sind weiss).

Der Seim | | (ist süss). Oder die Umkehrung: | | trot. | | d weiss. | | t süss.

*) Wehle, Pestalozzifibel für den Schreiblese-Unterricht zurückgebliebener Kinder, auf lautsprachlicher Grundlage bearbeitet. Preis ungeb. 50 Pf., geb. 65 Pf., dazu unent- geltliches Begleitwort. Verlag von Hellmuth Wollermann in Braunschweig. 1900.

En

Eifrige Kinder versicheru wohl, besonders bei letzterer Form: „Ich bringe es ganz allein.“ Doch der Klassenunterricht muss auch die Schwächsten beachten.

Nachdem das Satzdiktat mit dieser verminderten Schwierigkeit, wobei es eigentlich nur Wortdiktat ist, geübt worden ist, wird ein kleines Sätzchen ganz diktiert, jedoch längere Zeit immer nur naclı sorgfältiger Vorbereitung und mit unmittelbar folgender Prüfung. Beim späteren Übergang zum freien Satzdiktat werden doch die nicht lauttreu zu schreibenden Wörter zunächst noch lautiert und dabei die vom Laute abweichend zu schreibenden Buchstaben hervorgehoben.

Es empfiehlt sich, auch beim Schreiben wie bein Druck in der Pestalozzi- fibel jeden Satz mit einer neuen Zeile beginnen zu lassen. So kann das Kind Anfang und Ende und daher auch das ganze Schriftbild des Satzes leicht. überschauen. Dadurch gewinnt das Kind mit dem Auge Satzanschauung, die, weil sinnlich, stärker wirkt, als Belehrung über Zeichensetzung u. s. w.

Mehrere Wörter oder Sätze hintereinander zu diktieren und erst dann der Klasse Gelegenheit zum Verbessern zu geben, ist im allgemeinen bei Schwach- sinnigen nicht ratsam. Nur zu leicht kann ein Kind nicht folgen. Das „Nicht- Können“ schafft Missstimmung, Unmut, und regt nicht au, sondern regt auf. Wird nach jedem diktierten Worte oder Satze sofort der Vergleich mit einem Vorbilde ermöglicht, so kann das zurückbleibende Kind seinen Tätigkeitstrieb wenigstens durch Abschreiben befriedigen. Es handelt sich ja nicht nur um schwachsinnige, sondern zum Teil auch um ausserdem verschrobene Kinder, deren Fehler durch den Unterricht zu bekämpfen sind, so dass der Unterricht zu einem heilpädagogischen wird. Iım Abschreiben müssen die Kinder ja doch auch geübt werden. Es schadet also wenig, wenn für indisponierte Kinder das Auswendigschreiben im einzelnen Falle tatsächlieh manchmal nur ein Abschreiben ist. Besser eine herabgesetzte Leistung, als gar keine oder eine ungesunde Reizung. |

Zwar nicht immer, doch auch nicht zu selten, werden z. B. nach dem Lesen einer Geschichte, ein paar kleine Sätzchen, deren Wörter möglichst schon im Lesestücke enthalten und beim Lesen schon lautiert oder sonstwie hervorgehoben worden sind, diktiert, z. B. im Anschluss an die bekannte Geschichte des zu scbnell fahrenden Fuhrmanns die Sätzchen: „Der Fuhrmann fuhr zu schnell. Ein Rad zerbrach. Eile mit Weile.“ (Leipz. Lesebuch f. Hilfssch. I. Seite 115.) Aber auch hierbei wird in der Regel jeder Satz nach deu Diktate angeschrieben, selbst wenn einmal die Lesebücher zum Nachsehen offen auf oder unter der Bank liegen gelassen wurden.

Das Auswendigschreiben lässt sich aber auch statt im Anschluss an das vorgesprochene Wort des Lehrers mit Anlehnung an geeignete, den Kindern vor Augen gestellte Sinnendinge üben, die entweder in der Natur, als Modell oder im Bilde gezeigt werden.

Liegt z. B. der Leseübung der Wald als Sachgebiet zu Grunde, wie Seite 36 der Pestalozzifibel, so werden nach Erinnerung an einen den Kindern bekannten ähnlichen Waldplatz, auf einem vorgezeigten Waldbilde z. B. Walthers Bilderbuch I, No. 25 die Dinge, deren sprachlicher Ausdruck der Lesestufe

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der Kinder entspricht, beim Lesen zugleich auf dem Bilde gezeigt, also hier Wald, Eiche, Äste, Säge u. s. w. Bei den ersten derartigen Übungen im Aus- wendigschreiben können wohl auch die Wörter als Diktat gegeben und dabei an die Wandtafel geschrieben werden. Oder die Kinder schreiben die Wörter bei gleichzeitiger Anschauung des Bildes oder der Gegenstände ab. In der nächsten Stunde werden die Wörter nochmals gelesen und dabei die Gegen- stände auf dem Bilde gezeigt; auch umgekehrt zeigt ein Kind die Gegenstände auf dem Bilde, während ein anderes Kind sie nennt und zugleich die Wörter an der Wandtafel zeigt; und nun endlich werden die Wörter auswendig geschrieben, wobei das Bild vor den Augen der Kinder bleibt.

Diese Art des Auswandigschreibens regt erfahrungsmässig auch erethische Kinder nicht auf, während apathische doch genügend angespornt werden. Das Auge und damit das Denken des Kindes hat im Bilde einen sinnlichen Anhalt. Hat das Kind ein Wort geschrieben und fragt es sich: „Was kommt nun dran?“ so gibt ihm das Bild die deutliche Antwort. Das Kind hat beim Schreiben Zeit, sich das Wort vorzulautieren oder nochmals zu schreiben und wird nicht vorwärts gedrängt. Es kann sich besinnen; der Unterricht wird zumal bei glücklicher Wahl und Vorbereitung des Stoffes sinnig: seine wertvollste Eigen- schaft für Geist und Nerven des Kindes. Dabei findet auch der Lehrer Zeit, den Schwächsten der Schwachen in der Not ein Helfer zu sein, und die Kräftigeren werden nicht aufgehalten. Auch das Verbessern vollzieht sich hierbei, trotzdem der Umfang des Sprachganzen weiterhin recht ansehnlich sein kann, doch ruhiger, als bei gleichlangem Diktate. Da es sich hier um Auffassung einzelner be- stimmter Wortbilder handelt, so schadet es auch nicht, wenn dabei einige Lese- schwierigkeiten voraus genommen werden, nur dürfen sich die Vorausnahmen nicht häufen. Lauttreue, so beachtenswert sie bei nur mündlicher Darbietung ist, spielt bier bei der schriftlichen Darbietung keine Rolle.

Haben die Kinder die Fibel durchgearbeitet, so öffnet sich ein weites Feld für die Ausdehnung und Vertiefung des Sprachverständnisses und der Recht- schreibung mit Hilfe solcher Durcharbeitung von Wörtergruppen. Umgebung, Tun und Treiben der Kinder liefern nun reichen Stoff, der nach schriftsprach- lichem Ausdrucke verlangt. Man braucht gar nicht wählerisch zu sein. Wie viele Dinge enthält nicht allein die Schulstube und gar erst die Hauswirtschaft, der Garten, das Feld im Anschauungskreise des Kindes, mit denen es jetzt schon oder später zu Lantieren hat und die zu seiner Interessensphäre gehören.

Hier lässt sich auch mit Vorteil auf das Verfahren Kölles im „Ersten Sprechunterrichte für geistig zurückgebliebene Kinder“ (Zürich, Albert Müller 1896) Seite 18 u. f. zurückgreifen. Es wird den Kindern etwa gesagt: Als ihr klein waret, habt ihr sprechen gelernt, wie die Dinge heissen, jetzt könnt ihr es auch schreiben. Das Nähere ist dort nachzulesen. Solche Rückerinnerung stärkt zugleich das Gedächtnis und gibt Gelegenheit, die Kinder merken zu lassen, welche Mühe ihr Unterricht dem Lehrer gemacht hat, sie aber auch ihre Fortschritte erkennen zu lassen, dass sie sich derselben freuen.

Wie solche durch Sinnendinge veranschaulichte Wörtergruppen der Ent-

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wicklung des Lautbewusstseins und der Rechtschreibung zu dienen vermögen, zeige ein Beispiel, das am Ende der Fibelstufe oder später geübt werden kann. Als sinnliche Unterlage diene das Weihnachtsfest selbst und das bekannte Weihnachtsbild von Ludwig Richter (Volksbilder No. 17), auf dem unter anderem folgendes dargestellt ist: Weihnachten, Dach, Fach, Rauch (Hinter- gaumen ch); Kirche, Licht, Leuchter, rechts, Wächter, Knecht Rupprecht (Vordergaumen ch); Wachs, Wachslicht, Christtag (ch = k). Vielleicht könnte das Wort Christbaum angefügt werden, obwohl der Gegenstand auf dem Bilde nicht dargestellt ist.

Sollte dieselbe Übung in anderer Jahreszeit vorgenommen werden, so müsste dieselbe sich auch an einen anderen Übungsstoff anschliessen. So vielleicht bei Behandlung des Waldes an das schon erwähnte Waldbild, wobei sich folgender Schreibstoff ergeben würde: Waldbaum, Mark, Buche, Eiche, Christbäume, Gewächse, Dickicht, Licht, Lichtung, Knecht, Axt, Max, Rauch, Haus, Fach, Dach, Bach, Jäger, gewichste Stiefel, Büchse, Dachs(-Hund), Fuchs (hat sich im Dickicht versteckt).

Es wird auch versucht, einige aus einem behandelten Unterrichtsstoffe her- geleitete Sätzchen im Zusammenhange niederschreiben zu lassen. Sie werden ebenfalls gelesen; wenn sie sich an ein Bild anschliessen, auf dieses bezogen, abgeschrieben, die Abschrift verbessert und diese wieder gelesen. Dienlich ist es, die angewandten Tätigkeitswörter noch besonders in der Nennform darzu- bieten. Ist z. B. vom „Arbeiten“ gesprochen worden, so können die Ordnungs- arbeiten der Kinder in der Stube, wo solche eingeführt sind, geschrieben werden, z. B. Max wischt die Tafel ab Otto hilft dabei Erich macht die Fenster auf und zu Paul legt Kreide und Stäbchen hin Willy liest die Papier- stückchen auf u. s. w.

Auf die Frage, wer unsere Schulstube gebaut hat, werden etwa folgende Sätze gebildet und niedergeschrieben: Die Wände hat der Maurer gebaut Die Dielen hat der Zimmermann gelegt Türe und Fenster hat der Tischler ein- gesetzt Das Schloss hat der Schlosser gemacht Die Angeln hat der Schmied geschmiedet Den Ofen bat der Töpfer gesetzt -— Wir halten die Stube in Ordnung.

So lassen sich auch Zeitformen üben, wie z. B. im Anschluss an das Bild „Winterfreuden* in Walthers Bilderbuch No. 30: Drei Knaben fahren herunter Das Mädchen am Baume ist auch herunter gefahren Ein Knabe fährt wieder hinauf Das Mädchen oben war schon einmal heruntergefahren Es wird bald wieder herunter fahren.

Ein anderes Mal wird im Zusammenhange mit der Geschichte vom Büblein auf dem Eise geschrieben: Das Eis hielt nicht Jetzt hält es Es wird auch den ‚grossen Schlitten aushalten Der Knabe fiel damals in das Wasser Jetzt ist er auf das Eis gefallen Der Pudelkopf fällt in den Schnee Ich werde auch in den Schnee fallen Das wird lustig werden.

Niemals sollen aber die Kinder derartige mehr oder weniger schablonenhafte Satzgruppen mechanisch auswendig lernen. Ihr weseutlicher Inhalt muss dem

23 eben behandelten Sachgebiete des Unterrichts angehören, der Inhalt der einzelnen Sätze vom Bilde oder den Dingen selbst deutlich ablesbar sein, so dass nur die Wort- und Satzformen zu merken sind; und hierzu ist ihre Gleichartigkeit eine wirksame Stüize. Dem Gedächtnisse wird also eine sehr geringe Leistung zu- gemutet. Deshalb eignen sich Satzgruppen, besonders solche, wie die ersten zwei Beispiele, sehr dazu, den Kindern zu einiger Fertigkeit im Auswendigschreiben ınitzuverhelfen, ferner die Sprachformen zu üben, ohne Formenlehre zu treiben, und endlich locken sie die Kinder zum Versuche, auch einmal ein Sätzchen niederzuschreiben, das ihnen nicht in den Mund gelegt worden ist, letzteres besonders bei freierer Anlage der Übung.

Wenn z. B. die Heuernte angeschaut und besprochen worden ist, werden etwa folgende auf dem Wiesenbilde in Walthers Bilderbuch inbaltlich dar- gestellten Sätze gelesen, ab- und auswendig geschrieben: Der Schäfer ruht aus Die Schafe grasen Der Vater schneidet Gras Ein Knecht schärft seine Sense Eine Magd und ein Knecht rechen Heu zusammen Der Kutscher ladet auf Die Magd oben drückt fest Die Pferde werden den Wagen heim- ziehen Die Esse raucht Die Suppe kocht Die Schwalben zeigen Regen an Macht schnell, ihr Leute!

Veränderte Niederschriften der Kinder werden bereitwilligst anerkannt, ebenso selbst gebildete Sätzchen. Hat einmal ein Kind ein Sätzchen ohne Vor- bild selbst fertig gebracht, und es wird die Leistung vom Lehrer anerkannt, so wächst der Mut zu weiteren Versuchen. So wird freies Niederschreiben eigener Gedanken gelegentlich und nebenbei angebahnt.

Dem Diktate verwandt ist das Auswendigschreiben eines wörtlich auswendig gelernten Sprachstoffes. Es ist ein summiertes Diktat, dessen Inhalt und Aus- druck bereits Eigentum der Kinder geworden ist. Hierher gehört schon das Auswendigschreiben der Zahlen in Buchstaben, die etwa bis 20 im Rechenunter- richte nebenbei gegeben werden, sowie die Namen der Wochentage und Monate. Hin und wieder findet sich der Brauch, dass ein Schüler jede Woche die Wochen- tage mit Kreide anschreibt. Auch eine der mannigfaltigen kleinen Anwendungen des Auswendigschreibens, die benützt zu werden verdienen.

Auch einige selbstbiograpbische Sätzchen empfehlen sich nach dem Vor- gange von Horrix (Zeitschrift 1899, S. 171), z. B.: Ich heisse Traugott Emil Fleissig Meine Heimat ist Blasewitz bei Dresden Der 25. April ist mein Geburtstag Da bekomme ich ein Ei.

Auf einer späteren Stufe: Ich bin geboren am 1. Februar 1889 An meinem letzten Geburtstage war ich 12 Jahre alt Ich stehe jetzt im 13. Lebensjahre Seit Mai 1898 bin ich Zögliug der Anstalt .... Meine Heimat ist Leipzig-Anger-Crottendorf Mein Vater ist Drahtsieb-Weber u. s. w.

Da die Kinder diese Sätzchen bald auswendig lernen, was in diesem be- sonderen Falle auch gerechtfertigt ist, so reihe ich sie hier ein. Diese Übung dient zugleich mit zur Entwickluug des Zeitbegriffes, der Selbstbesinnung, der Gemütsbildung, und da sich die Angaben teilweise ändern, auch ein wenig mit zur Anbahnung freien Gedankenausdruckes. Zu letzterem Ende wird bei den

24 Wiederholungen dieser Übung die Aufforderung angeschlossen: Schreibt noch etwas von zu Hause, was ihr wisst und was ihr wollt. Es wird nicht dazu gedrängt, aber jede selbständige Leistung anerkannt.

Zusammenhängen.le Stoffe lernen zu lassen, nur zu dem Zwecke, sie dann auswendig schreiben zu lassen, etwa zur Einübung von Rechtschreib- und sonstigen Wissensstoffen, ist abzuweisen. Nur gehaltvolle, sittlich-hebende Stoffe, ins- besondere Gedichte von dauerndem Werte für das Gemütsleben des Kindes ver- dienen eine so zeitraubende Behandlung, wie sie das Auswendigschreiben durch schwachsinnige Kinder voraussetzt Religiöse Merkstoffe im engeren Sinne sind ebenfalls auszuschliessen, um jeder Gefahr, sie ins Gewöhnliche zu ziehen, vor- zubeugen.

Wie ein Gedichtchen für das Kindergemüt fruchtbar gemacht wird, gehört nicht hierher; jedenfalls muss die Besprechung ebenso wie ganz sicheres Aus wendiglernen, vorangehen, damit das Auswendigschreiben den Kindern eine Lust ist, zu der sie der eigne Tätigkeitstrieb zu drängen vermag. Damit sich die Kinder die Wortbilder genau ansehen, wird das Gedicht vor dem Lernen, zugleich als Hilfe desselben, abgeschrieben. Schwere Wörter werden anfangs noch besonders, auch in der Grundform, vielleicht auch mit verwandten Wörtern zusammengestellt, abgeschrieben, um die Form klarer zum Bewusstsein zu bringen. Doch muss man sich bewusst bleiben, dass viel Vorbereitung und Erklärung unsern Kindern leicht zu viel wird.

Lay hat darauf hingewiesen, dass ein Vorbild in Schreibschrift vorteilhafter für die Rechtschreibung der Kinder ist, als ein Vorbild in Druckschrift. Nach- haltiger noch, als die Vorschrift, prägt sich die vom Kinde selbst ausgeführte Abschrift dem kindlichen (tedächtnisse ein, da bei dieser zur leiblichen Gesichts- anschauung die zur Auffassung der Vorschrift schon allein ausreicht hier noch die geistige kommt, dazu auch noch die Muskelbewegung beim Schreiben.

Wertvolle, sprachlich einfache, anschauliche Stoffe zum Auswendigschreiben auf der Fibelstufe und später sind unter anderem viele der bekanntesten Fabeln von W. Hey und sonstige kindliche Verschen, wie wir sie in allen Lesebüchern finden.

Ein harter Boden wird betreten, wenn es gilt, schwachsinnige Kinder einige oder auch nur einen Gedauken ohne vorangehende Darbietung der Form schreiben zu lassen. Da gilt es beizeiten tiefgründig vorzupflügen, nicht bloss durch fleissiges wörtliches Auswendigschreiben nach lautlichem und schriftlichem Vor- bilde, also in der Form gebundenes Auswendigschreiben, von dem bisher allein gehandelt wurde, sondern auch durch sorgsame Pflege aller Mittel der Sprach- bildung, von denen hier besonders das Antworten in ganzen Sätzen hervor- gehoben sei.

Das gebundene Auswendigschreiben von Gedanken aus dem Leben des Kindes selbst oder von Erzählsätzen im Anschluss an ein Bild, gibt dem Kinde, wie schon bemerkt wurde, gelegentlich auch schon Anregung zum Versuche im Auswendigschreiben in freigewählter Form. Bei der Wiederholung einer solchen Niederschrift, z. B. der vorerwähnten über die Wiese und die Heuerute, werden

25 die Kinder aufgefordert, zunächst zu schreiben, was der am Bache sitzende Knabe tut und was er wohl mit den Fischen dann tun wird. Oder es werden bei der mündlichen Wiederholung einer Wörter- oder Satzgruppe ein paar nicht unmittelbar vorbereitete Wörter oder Sätzchen dazwischen gestreut. Wenn ein solches neues Sätzchen von einem Kinde geschrieben worden ist, wird dies der Klasse verkündigt. Es wird überhaupt als Ziel hingestellt, sich nicht mehr alles vorsagen zu lassen. sondern selbst etwas zu schreiben. Weiterhin wird auch versucht, die auf dem Bilde dargestellten Vorkommnisse nach Be- handlung im Sachunterrichte ganz ohne schriftliche Vorbilder niederschreiben zu lassen. Oder sollen im Sachunterrichte den Kindern einige Sätzohen zum Abschreiben an der Wandtafel vorgeschrieben werden, so werden die Kinder zu- nächst angeregt, selbst einen der Gedanken schriftlich auszudrücken; oder es wird wenigstens die Gelegenheit zum freien Diktat eines Satzes benutzt, und erst nach einigem Harren auf Erfolg oder Misserfolg wird das Vorbild an der Wandtafel gegeben.

Ein weiterer Gelegenheitsantrieb ist der, einige frühere, im Anschluss an eine, die Kinder noch inmer sehr interessierende Geschichte geschriebene Sätze, von deren Wortlaut aber anzunehmen ist, dass er im Gedächtnisse der Kinder etwas verblasst ist, ohne nochmalige Vorbereitung wiederholen zu lassen. Die Lust an der Geschichte stärkt die Kraft zum Gelingen der Niederschrift.

Es wird auch eiumal versucht, ein sprachlich recht einfaches, früheres Unterrichtsergebuis, das ehemals nur mündlich gewonnen worden ist, dessen Wortschatz den Kindern inzwischen aber auch schriftlich geläufig wurde, schriftlich wiedergeben zu lassen. Es wird den Kindern etwa gesagt: Früher konntet ihr noch nicht ordentlich reden; ihr habt es aber besser gelernt. Bei wem denn? Seid nur recht dankbar dafür und grüsst recht höflich. Da habt ihr z. B. auch einmal vom Tische gesprochen: Wer macht denn den Tisch? (Der Tischler macht den Tisch.) Woraus wird er denn gemacht? Wie sieht unser Tisch aus? Was hat der Tisch hier? Ist dieser Tisch rund oder eckig? Was liegt auf dem Tische? Was ınachst du (oder Max) früh mit dem Tische? (Abwischen.) (Zu vergleichen: Kölle, Sprechunterricht, S. 26.) Die Unbestimmtheit dieser mündlichen Fragen wird mit Hilfe der Geberde gehoben. Es kommt hier bei der Fragestellung darauf an, schnelle und glatte Antworten in einfachsten Sätzchen zu erhalten, um jede Ablenkung durch abseits führende Antworten oder durch Hilfsfragen zu vermeiden, so dass die nachfolgende schriftliche Zusammen- fassuug der Antworten zu einer erzählenden Beschreibung möglichst erleichtert wird. Es kommt hier gar nicht auf die Ausdrucksweise oder auf Vollständigkeit und Ordnung der Gedanken au, sondern zunächst nur darauf, dass die Kiuder überhaupt einige Gedanken über einen Gegenstand niederschreiben, deren sprach- lichen Ausdruck sie nicht ganz wörtlich und im Zusammenhange inne haben.

Eine treffliche, mittelbare Vorbereituug des Auswendigschreibens ist das Abschreiben kleiner erzählender Beschreibungen oder Erzählungen als Ergebnisse des Sachunterrichts. Hat der mündliche Unterricht die Kinder geistig etwas ermüdet, so bildet die Veränderung der Unterrichtsforın beim Abschreiben eine

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'erholende Abwechslung durch die was für das Auswendigschreiben wichtig der Sprachschatz der Kinder befestigt, und ihnen anschauliche Bilder von Nieder- schriften in geordnetem Gedankengange gegeben werden, besonders wenn der Gedankengang durch Stichworte oder besser durch Oberbegriffe angegeben und angeschrieben wird. Letztere helfen dabei zugleich den Kindern an der Hand anschaulicher Übung in der Welt der abstrakten Begriffe allmählich einige sichere Eroberungen machen, z. B. bei Besprechung von Pflanzen: Grösse, Teile, Standort, Gesellschaft, Pflege, Nutzen, oder bei Besprechung eines Tieres: Kleid, Glieder, Grösse, Wohnung, Nahrung, Nutzen, Können. Damit soll jedoch nicht gesagt sein, dass sich der Sachunterricht selbst au derartige Schemas binden solle. Obwohl sich derartige Unterrichtsergebnisse nicht hervorragend zum Auswendigschreiben eignen, wird doch der Versuch gemacht werden können, solche schriftlich wiedergeben zu lassen, jedoch nicht wörtlich, denn wörtlich auswendig gelernt sollen sie nicht werden, und auch nur gelegentlich, wenn der Stoff das Interesse der Kinder gerade besonders angeregt bat.

Sehwachsinnige Kinder sind schwer dazu zu bringen, etwas auswendig zu schreiben, was ihnen nicht ganz in den Mund gelegt worden ist. Haben sie sich nur ein Sätzchen gemerkt, so klammert sich ihr Gedächtnis daran und kommt nicht los davon. Es ist, als sei ihr ganzer Sprachschatz verloren ge- gangen und ihr Denken unbeweglich an das Sätzchen gebunden, das ihnen zu- erst einfiel. Einem solchen Banne kann nur das lebhafteste, eigene Interesse des Kindes an der Sache selbt vorbeugen. Nun weiss ja der Lehrer meist aus Erfahrung, bei welchen Stoffen er auf lebhaftes Interesse rechnen darf und bei normalen Kindern lässt sich auf solche Erfahrungen einigermassen bauen. Bei schwachsinnigen wirken aber stärker als bei normalen Kiudern Nebeneinflüsse, die nicht immer im voraus zu erkennen sind, hemmeud oder fördernd ein, 2. B. kleine Zufälligkeiten im Unterricht oder während der Freizeit im Verkehr der Kinder untereinander, Witterungsverhältnisse, Ermüdung durch vorangegangenen Unterricht oder reichliche Körperbewegung u. s. w. Es empfiehlt sich daher nicht, sich vorzunehmen, in einer bestimmten Stunde eine Erzählung nieder- schreiben zu lassen, sondern wenn eine Erzählung beim Lesen oder Hören die Kinderherzen recht gepackt hat und sie sozusagen Feuer und Flamme dafür sind, dann ist es rechte Zeit, schnell einige Sätzchen von den Kindern sagen und gleich auch schreiben zu lassen. Die kindliche Ausdrucksweise wird beim Erzählen möglichst unangetastet gelassen, und nachgeholfen wird dabei tunlichst nur von den Kindern selbst. Der Impuls muss in den Kindern liegen und nach Äusserung streben; er soll nur benutzt werden. Umgekehrt darf wenigstens an- fänglich kein schriftlicher Gedankenausdruck von den Kindern erwartet werden, wenn sich die Triebkraft dazu nicht regt. Ist diese aber geweckt, so muss sie auch rasch benutzt werden, damit sie nicht durch Vorbereitung aufgezehrt wird.

Welchem Idiotenlehrer wären nicht solche sprachschwache Idioten bekannt, die in der Alltäglichkeit sprachlos erscheinen und im Affekt doch plötzlich den Mund auftun. Ein tiefstehender Blöder, den ich sonst nicht reden gehört habe, rief mir, als er Karussell gefahren war, voll Freude, wenn auch nicht ganz

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deutlich, so doch verständlich zu: „Herr Wehle, Reitschule!“ So wird man auch vor oder nach irgenwelchen heiteren oder ernsten, die Schüler anregenden Vor- .kommnissen diese am ehesten dazu bringen, das Erlebte schriftlich mitzuteilen. Künstliche Aufregungen, um dies zu erreichen, sind aber, wie alle Aufregungen, zu meiden. Den kräftigsten Impuls gibt das liebe Weihnachtsfest; doch auch andere, kleine, zufällige, aber die Kinder eben geistig beschäftigende Erlebnisse werden benutzt, die Schüler zu einer schriftlichen Mitteilung dessen anzuregen, was sie auf dem Herzen haben. Haben die Kinder einmal mitgemacht und Freude am Gelingen empfunden Misslingen wird möglichst vertuscht so wird es ihnen bald leichter werden. Nur dürfen die Anregungen zu freien, zu- sammenhängenden schriftlichen Mitteilungen im Klassenunterrichte nicht allzu- früh an die Schüler herantreten. Erst muss ausser der motorischen Schreib- fertigkeit einige Übung im mündlichen Erzählen in vollständigen Sätzen er- worben, sowie ein sicherer Besitz von einfachen sprachlichen Ausdrucksformen im akustischen und optischen Gedächtnis augesammelt sein, der zur freien Ver- fügung steht. Fällt die Niederschrift schlecht aus, beteiligen sich wider Erwarten zu wenige Schüler in genügender Weise, so wird ohne Zögern satzweise ein Vor- bild, zu dem sie selbst die Bausteine herbeischaffen, an der Wandtafel zum Ab- schreiben geboten, um sie durch den Misserfolg nicht zu entmutigen.

Diese wenig oder gar nicht vorbereiteten Niederschriften Herzensergüsse sollen es sein bedürfen bis zum Ende der Schulzeit unausgesetzter Pflege. Sie bilden die unerlässliche Vorstufe des reflektierenden schriftlichen Gedanken- ausdruckes zur Erreichung eines bestimmten Zweckes, der über das blosse Mitteilungsbedürfnis von Erlebtem etwas hinausgeht. Die impulsive schriftliche Mitteilung des Erlebten ist das „Hauptmittel“ zur Erreichung dieses Endes; die vorher angegebenen möchte ich als „kleine Mittel“ bezeichnen, die nur wahl- weise mitbenutzt werden.

An Stoffen und Gelegenheiten zu solchen Mitteilungen von Erlebtem fehlt es nicht. Der Hasc, das Reh, das Füllen, der Storch, die Zugvögelschar, die auf dem Spaziergange gesehen worden sind, regen das Mitteilungsbedürfnis der Kinder regelmässig an; oder wie es beim Beeren- oder Pilzesuchen, dem Ameisen- haufen, den Fröschen am Teiche, dem Spiele zuging. Wie wir in die neue Schulstube umzogen, wie der Ofen umgesetzt, wie die Fensterscheibe zerbrach und wieder eingezogen, oder wie die Stube geweisst wurde. Wie wir den Gärtner, den Säemann, den Kutscher im T'ferdestalle, den Steinklopfer am Wege, den Schmied besuchten. Was der Essenkelırer, der Dachdecker, der Schuhmacher beim Massnehmen, der Maurer am Mörtelkasten, der Zimmermann am Garten- zaune, die Köchin mit dem Braten, die Waschfrau mit den Hemden machte. Die Themen haben geringen Umfang und betreffen kleine Erlebnisse, deren Hauptverlauf sich in wenigen Sätzen ausdrücken lässt. Umfangreiche Erlebnisse, wie z. B. „In den Ferien“, sind unpassend, weil hier die Ereignisse teilweise schon zu weit zurückliegen und daher im Gedächtnis bereits etwas verschwommen; erscheinen, es auch zu viele sind, so dass eine Auswahl stattfinden müsste Wesentliches vom Unwesentlicben zu scheiden wäre. Das ist für Schwachsinnige

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zunächst zu schwer und weist sie daher auf weitgehende Hilfe des Lehrers an; deshalb ist es ungeeignet zur ersten Entwicklung selbsttätiger, freier, schrift- licher Mitteilungsfähigkeit und muss für die oberen Stufen aufgespart werden. Auch ein Thema, wie z. B. „Wie ich einen Schneemann baue“, ist hier noch nicht am Platze. Vielmehr müssen die Kinder den Schneemann tatsächlich so- eben gebaut haben, so dass sie nur zu erzählen brauchen: „Wie wir einen Schnee- mann gebaut haben“. Die erste Fassung gehört in den nachfolgenden Aufsatz- unterricht, da sie dem Kinde Reflexionen über erst vorzunehmende künftige Handlungen zuinutet, oder doch eine Veränderung der Zeitform, wenn der Bau des Schneemannes vorangegangen ist, oder eine phantasiemässige Umdeutung, wenn etwa eine Erzählung oder ein Gedicht zu grunde gelegt wird. Der Gedankengang der schlichten Mitteilung muss wenigstens ungefähr durch die Einzelhandlungen des soeben miterlebten Ereignisses gegeben sein, so dass die Schüler nicht viel Wahl haben und doch eine einigermassen erschöptende Mit- teilung machen können. So ist es doch möglich, einige Gedankenordnung zu erzielen, wenn auch nur nach der Zeitfolge, bez. räumlichen Anordnung und die Versuchung zu zielloser Schreiberei abzuhalten. Die Vorlage zur Niederschrift ist hier gewissermassen ein Gedankendiktat ohne Worte, ausgedrückt durch Ge- schehnissee Den wörtlichen Ausdruck haben die Kinder zu geben. Dies ist das Wesen des hier gemeinten „freien schriftlichen Mitteilens“. Die den Kindern anfänglich noch gewährte mündliche Hilfe im Ausdrucke nimmt nach Massgabe ihrer wachsenden Kraft ab. Vorausgesetzt bleibt immer unmittelbare Anschauung und das von den Kindern selbst ausgedrückte Verlangen, die „Geschichte aus- wendig zu schreiben“.

Die Verbesserung ist teilweise schon erwähnt worden. Sie geschieht während oder im unmittelbaren Anschlusse an das Schreiben im Beisein des Kindes. So- weit es die Zeit gestattet, wird das einzelne Kind durch Hilfsfragen zur Selbst- verbesserung angeregt, wo eine solche überhaupt möglich ist, insbesondere dazu, jalsch geschriebene Wörter mit Benutzung der Finger zu lautieren, wa dies zur Erkennung des Fehlers helfen kann. Ist es angängig, so wird der falsche Buch- stabe nicht durchgestrichen und dadurch erhalten, sondern in den richtigen um- gewandelt, so dass der Fehler verschwindet. Sonst wird das Wort ganz durch- strichen und richtig darüber geschrieben, womöglich von den Kindern selbst. Verbesserung mit roter Tinte ist bei Schwachsinnigen nutzlos, meist sogar schädlich, da durch diese die Aufmerksamkeit des Kindes immer wieder auf das falsche Wortbild gelenkt und dieses dadurch im optischen Gedächtnisse befestigt wird. Die Rechtschreibung Schwachsinniger gewinnt durch Verbesserung des Lehrers wenig oder gar nichts. Bei ihnen kommt alles darauf an, die Wörter lautlich und bildlich recht genau auffassen zu lassen und beim Niederschreiben Ablenkung der Aufmerksamkeit fern zu halten, so dass Fehlern möglichst vor- gebeugt wird.

Eine, wenigstens scheinbare Ausnahmestellung nehmen die ersten Versuche der Schüler, sich frei, in eignen Worten schriftlich auszudrūcken, hinsichtlich der Verbesserung ein. Es kann nicht befremden, dass sich da bei manchen

Kindern die Felıler so häufen, dass eine Einzelverbesserung überhaupt unmöglich ist. Mag es auch im allgemeinen richtig sein, dass die Kinder in der Schwach- sinnigenschule alles, was sie tun, ordentlich tun sollen, und dass ihnen daher das, was sie z. Z. noch nicht ordentlich tun können, auch noch nicht zugemutet werden darf, so ist doch hier eine Ausnahme zu machen. Unsere Schüler mögen zum freien schriftlichen Mitteilen angeregt werden, auch wenn sie noch nicht befähigt sind, es so gut zu machen, dass sie vor den Augen strenger Kritiker bestehen können. Recht- und Schönschreiben soll bei diesen ersten Versuchen ganz Nebensache sein, nur die Entwicklung der schriftlichen Mitteilungsfähigkeit kommt in Betracht. Es muss ja auch nicht alles korrigiert werden. Hat sich das Kind uur gemüht, so drückt man seine freudige Genugtuung über den gelungenen Versuch aus nebst Hoffuung auf nächstmalige weitere Besserung und überlässt die ganze Fehler-Kompagnie ihrem Schicksale. Oder man gibt den Schülern als Ersatz für ibre Arbeit ein Vorbild an der Wandtafel, das sie lesen und abschreiben, wenn man nicht in den sauern Apfel beissen will, und schreibt jedem Kinde einzeln seine ganze Arbeit ab, möglichst in der kindlichen Fassung und lässt nun diese durchgreifende Verbesserung vom Kinde wieder abschreiben, und damit diese sehr zeitraubende Lehrerarbeit besser lolınt, bei nächster Gelegenheit noch ein zweites Mal. Der Schüler sieht da vor seinen Augen das, was er schreiben wollte; diesen Ausdruck eignet er sich an; er sieht seine eigene Mühe gewertet, und das stärkt ihm den Mut zu neuem Anlaufe. Allerdings dürfen die Schulklassen nicht 18; 20 oder gar noch mehr Kinder haben. Auch wird man diese Art Verbesserung nicht lange beibehalten, sondern nur einige tMale als Übergangshilfe gebrauchen. Die verbesserte Niederschrift kann, aber muss nicht in das von Herberich (Bericht der 9. Konferenz in Breslau, S. 94) befürwortete Tagebuch eingeschrieben und gelegentlich von den Kindern wieder- holungsweise vorgelesen werden. Ein den Kindern als Ersatz ihrer eigenen, zu fehlerhaften, freien Niederschrift au der Wandtafel zum Abschreiben gebotenes Vorbild leistet ihnen ebenfalls gute Dienste. Ist nur ihre eigene Mühe aner- kannt worden, so nebmen sie auch, wie die Erfahrung lebrt, den Ersatz gern an und bilden sich an ibm. i

Es braucht nur gestreift zu werden, dass erzieherisch wertvolle, äussere Gewöhnungen, wie richtige Feder- und Körperhaltung, Regelmăssigkeit und Sicherheit der Schrift beim Auswendigschreiben mit gepflegt werden. Verlangt die Schule von der Schrift nicht mehr, als das Leben braucht, nämlich Deut- lichkeit und mässige Geläufigkeit, so können die Vorbereitungen zum Auswendig- schreiben die besonderen Übungen im Schönschreiben je länger, je ınehr er- setzen, oder sie werden doch die Ziele des Schreibuuterrichts wesentlich fördern.

Indem die Übungen im Auswendigschreiben dem Sachunterrichte dienen, tragen sie erheblich zur Sicherung des Erfolges des letzteren bei. Sind z. B. unsere Singvögel im Walde besprochen worden und werden diese in Natur oder doch im Bilde den Kindern vor Augen ;restellt und nun die Namen der- selben nach der nötigen Vorbereitung auswendi; geschrieben, so werden die

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Kinder dadurch zu wiederholter und längerer Anschauung der Objekte des Unterrichts veranlasst. Dem Sachunterrichte wird so Gelegenheit zu veränderter Wiederholung und Einübung geboten, nicht nur der Schriftbilder, sondern der Anschauung der Sachen selbst.

Das vorbereitende Lautieren beim Wortdiktat u. s. w. gibt erwünschte Gelegenheit, lautsprachliche Mängel, welche im Sprechunterrichte der Vorstufe nicht beseitigt wurden und solche inzwischen neu zugeführter Zöglinge zu be- kämpfen. Und dass ebenso bei der Vorbereitung zum Auswendigschreiben von Wörtergruppen die lautsprachliche Erkenntnis und Bildung gefördert wird, deutete das schon angeführte Beispiel von Wörtern mit ch an. Dabei werden die Kinder, deren Sprechmängel in Frage kommen, besonders berücksichtigt. Die fort- geschrittene, allgemeine geistige Entwicklung des Kindes hilft nun auch manche Sprechmängel beseitigen oder doch lockern, die früher noch festsassen, besonders das kindliche Stammeln. Die lautsprachliche Eutwicklung bleibt so, gleichlaufend mit der gesamten geistigen Entwicklung der Kinder in fortlaufender Pflege, allerdings nicht bloss bei den Übungen im Auswendigschreiben, aber ganz be- sonders bei ihnen, da hier der Anschluss am natürlichsten ist. Im Sach- und Leseunterrichte bedeutet die Einschaltung einer Sprechübung meist eine Uuter- brechung und Störung des Unterrichtsganges und wird darum wohl weniger gern vorgenommen.

Lautrichtiges Schreiben lässt sich überhaupt nur durch Auswendigschreiben angewöhnen, und wie wichtig ist das für das spätere Leben eines schwachsinnigen Menschen, dem alle Hilfen der Sprachlehre für die Rechtschreibung abgehen.

So notwendig für die erste Lesestufe des Kindes sorgfältiges „Buchstaben- Zusammenlesen ist“, so unerlässlich ist zur Erreichung späterer Geläufigkeit im Satzlesen das Erfassen ganzer Wörter mit einem Blicke. Zu letzterem Ende muss aber der Wortschatz dienstbereit vorrätig im Gedächtnisse angesammelt sein. Durch vieles Lesen und Abschreiben, besonders aber durch solches mit Auswendigschreiben verbundenes, kommt das Kind zu solchem Wortschatze; desto mehr nähert es sich dem ersehnten Ziele der Lesetertigkeit.

Auch die bescheideuste freie Mitteilung auf einer Postkarte erfordert schon schriftliche Ausdrucksfähigkeit, die ausser von der allgemeinen geistigen Ent- wicklung und der Schreibgeschicklichkeit der Hand abhängig ist von der Fertigkeit in der Übersetzung von Lautklängen in Schriftzeichen und vom Vorrat fertiger Wortbilder im optischen Gedächtnisse. Dass letzteres durch Lesen und Ab- schreiben und sonstige Gesichtsanschauung nicht genügend geübt wird, beweist die grössere Schwerfälligkeit im freien, schriftlichen Ausdrucke bei solchen Kindern, die im Auswendigschreiben nur wenig methodisch geübt worden sind. Schriftbilder, die nicht bloss durch das Auge aufgenommen, sondern dann auch vom Auge durch die Hand schriftlich auswendig wiedergegeben werden, muss das Auge erheblich genauer anschauen, als es beim blossen, selbst lautem Lesen und auch beim Abschreiben nötig ist. Verstärkt wird diese Übung des Auges weiter durch den prüfenden Vergleich zwischen Vorbild und Niederschrift. Wie schwer aber fällt manchen unserer schwachsinnigen Anfangsschüler schon

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das Behalten nur eines der einfachsten Buchstabenbilder! Es sind eingehende, das Auge übende, malende Vorübungen erforderlich. (Zeitschrift 1898, S. 28.) Das Auswendigschreiben einzelner Buchstaben und Wörter nach Diktat, sowie das Übertragen von Druck- in Schreibschrift geben weitere Übung des optischen Gedächtnisses zum Erfassen, Unterscheiden, Behalten und raschen Wiedergeben von Wortbildern. Die Übertragung von Druck- in Schreibschrift ist von Ver- tretern der reinen Schreiblesemethode als eine geistlose und darum wertlose Übung bespöttelt worden, sehr mit Unrecht. Dieses Übertragen ist gleichsam ein leichtes Diktat der Schreibschriftzeichen. Die Druckbuchstaben hat das Kind vor sich, aber die Schreibbuchstaben muss es sich vorstellen. Leicht ist diese Übung infolge der Formenverwandtschaft beider Alphabete, aber eben die Leichtigkeit dieser Übung macht sie anfänglich für schwachsinnige Leseschüler wertvoll, besonders für solche mit besonders geringem optischen Gedächtnisse. So wird dieses vorgebildet zum Auswendigschreiben von Wörtern und Sätzen, das zur weiteren Stärkung dient. Das wiederholte und nachhaltige Ansehen der Wörter, welches das Auswendigschreiben voraussetzt, schärft den Blick in der Auffassung der Schriftzeichen und stärkt das Gedächtnis für sie. Was der Mensch schnell und sicher sehen lernen will, muss er genötigt sein, oft und genau zu sehen und darüber Rechenschaft abzulegen, wie es beim Auswendig- schreiben und der schriftlichen Vorbereitung dazu geschieht. So wird der Weg vom Gegenstande durch Auge, Gehirn und Hand nach der Schreibfläche gangbar. Die Übung im Heraushören der Selbstlaute aus dem Wortklange hat noch besonderen Wert für Kinder in Stottergefahr, indem ihnen der Selbstlaut gewisser- massen als Bresche zur Eroberung des Wortes dient, ferner für Schwerhörige, wie für sonstige Sprachschwache.*) Bei den in der med.-pädagogischen Monats- schrift 1901, S. 21, von Neubert mitgeteilten Hörversuchen wurde z. B. das Wort „Arzneiglas“ von einem normalbegabten taubstummen bez. sehr schwer- hörigen Kinde aufgefasst und schriftlich wiedergegeben als „Harrfleissass“. Das Kind hat fast nur die Selbstlaute richtig erfasst. Ein tiefstehender Schwach- sinniger versuchte das Schelmenlied: „Im Grunewald ist Holzauktion* nachzu- singen, ohne es zu verstehen. Doch hatte er die Selbstlaute richtig erfasst und sang nun: „In Gunewald iss Golgaugon“. Die Hilfe des Selbstlautes zur Er- fassung der Rede bewährt sich also beim allgemein Geistesschwachen, wie bei nur Sprachschwachen. Auf der Vorstufe werden auch bei sorgfältiger Be- kämpfung der Hörstummheit und anderer Sprachmängel bei manchen solchen Schülern Rückstände bleiben, zu deren weiterer Bekämpfung die durch das Aus- wendigschreiben bedingte mehrmalige Wiederholung des betreffenden Sprachstoffes

gute Dienste leistet. . Auswendigschreiben, bez. die Vorbereitung dazu, verweilt allerdings sehr. Das scheint ein Nachteil zu sein. Aber gerade dieses Verweilen hilft den noch in besonderer Weise gebrechlichen Schwachsinnigen vorwärts zu kommen, 30

*, Horrix, Zeitschrift 1897, S. 101. Gutzmann: Der Stotterer 1899, S. 44 u. f. Wehle, Erster Schreibleseunterricht schwachsinniger Kinder, S. 22.

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Kindern mit krampfartigen Zuständen, kurzsichtigen Kindern, die keine Rrille tragen können, schwerhörigen, körperlich oder geistig besonders schwerfälligen, geistig verschrobenen Kindern. Manche Erziehungsanstalten und besonders die Hilfsschulen sind allerdings in der, wenn man so sagen darf, angenehmen Lage, sich hiergegen ebenso einfach, wie gründlich helfen zu können: sie weisen be- sonders gebrechliche Kinder ab. Aber Anstalten, die verpflichtet sind oder sich für verpflichtet halten, auch solchen Kindern ihre Tore zu öffnen und sie nach Möglichkeit und Zweckmässigkeit zu unterrichten, müssen auf Mittel und Wege sinnen, auch bei solchen Kindern noch kleine Ziele mit sichern Schritten zu er- reichen, wobei die dem Auswendigschreiben anhaftende Langsamkeit gerade förderlich ist. Damit soll den besonders gebrechliche Kinder abweisenden An-

stalten und Schulen kein Vorwurf gemacht werden. Deren Vorgehen wird mehr

und mehr bewirken, dass sich solche Kinder wenigstens teilweise in einigen An- stalten sammeln, die den besonderen Bedürfnissen dieser Kinder entsprechende Einrichtungen schaffen können. So gibt das Auswendigschreiben den Kiudern manche Gelegenheit, ihre Kräfte am Unterrichtsstoffe zu üben; nicht nur daran zu nippen und zu naschen, sondern ihn nach Massgabe ihrer Fähigkeit zu ver- arbeiten und ihrem Geistesleben und insbesondere ihrem Sprachleben einzu- verleiben. Auch die nachfolgende Verbesserung hilft mit dazu.

Ihre Lieblingsbeschäftigung ist das Verbessern allerdings durchaus nicht. Ein in der Schrift ordnungsliebender Knabe pflegte, wenn ich ihm etwas ver- bessern musste, mehr oder weniger unwillig zu bemerken: „Das sieht nicht schön aus!” Was er selbst geschrieben, war in seinen Augen schön und gut und nicht verbesserungsbedürftige. Hier muss das Kind erst erkennen oder doch ahnen

lernen, dass das Schöne auch richtig und wahr sein muss. Das Kind muss zu-'

nächst die Verbesserungsbedürftigkeit seiner Arbeit einseben und sich willig ver- bessern lassen. Das bürgerliche Leben stellt gerade in letzterer Hinsicht ‚häufig ausserordentlich hohe Anforderungen auch an die Schwachsinnigen und muss sie stellen. In der Schule Schwachsinniger schreitet der Unterricht in kleinsten Stufen vorwärts, so dass die Kinder nicht über ihre Kraft zu gehen brauchen, dass sie das Geforderte in der Regel auch wirklich ohne Übermüdung und Überreizung leisten können. Bei ihren Fehlern werden sie nun durch individuelle Verbesserung gewöhnt, sich verbessern zu lassen, sich etwas sagen zu lassen. Diese Gewöhnung ausbilden und befestigen zu helfen, macht die schriftliche Ver- besserung zu einem zwar kleinen, aber durch seine häufige Wiederkehr doch schätzenswerten Erziehungsmittel zur Förderung der im Leben nötigen Unter- ordnung und Verträglichkeit, Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit, des gewohnheits- mässigen Strebens nach Wahrheit und Recht im kleinen, dessen auch der Schwachsinnige in seinem Erkenntnisbereiche wenn auch in Schwachbeit fähig ist.

Beim Auswendigschreiben gemütlich wertvoller Gedichte ist die Gefahr zu beachten, dass die Kinder dieselben durch zu viele Wiederholung „ūber“ be- kommen; dann wäre auch der gemütbildende Wert hinüber. Bei zartfůhlender Beachtung dieser einschränkenden Bedingung wird aber hierbei die Gemäüts-

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3 bildung nicht nur nicht gefährdet, sondern belebt, einmal durch sicherere Be- festigung des Wortlautes und weiter und das ist hier die Hauptsache da- durch, dass die Kinder Gelegenheit zur Selbsttätigkeit finden. Jede Unterrichts- weise, welche diese fördert, ist aufinerksamster Pflege wert.

Ist auch die Selbsttätigkeit beim Auswendigschreiben nach gegebenem münd- lichen o:er schriftlichen Vorbilde nur eine anlehnende, so stebt gie doch immer- hin auf höherer Stufe als das blosse Abschreiben und Aufsagen. Voll entfalten kann sich der Trieb zur Selbsttätigkeit erst beim freien schriftlichen Mitteilen.

Bekommen die Kinder, wie es in der Volksschule bei dem gebundenen Auf- satze wohl meist geschieht, erst das Vorbild, so klammert sich das. Kind nicht bloss an die entwickelten Gedanken, ja weniger an diese, als an die gegebenen Worte und kommt weder zu eigenen Gedanken noch zu eigeneın Ausdrucke. Und selbst wenn es einen eigenen Gedanken auf dem Herzen hat, der gern heraus möchte, fühlt es sich vom Vorbilde des Lehrers wie umklammert und kommt doch nicht los von dessen Worten. Dieses Gefühl der Gebundenleit ist der. Mangel des gebundenen Aufsatzes, der Lehrern wie Kindern selten Freude macht, wenn nicht einige Fertigkeit im freien schriftlichen Mitteilen vorher er- worben wurde. Die Kinder hierzu immer wieder bis zum endlichen Gelingen anzuregen, sie von dem blossen Wiedergeben wörtlich aufgenommener Sprach- stoffe zum selbsttätigen schriftlichen Mitteilen zu bringen, ist das Endziel der Übungen. im Auswendigschreiben. Das normale Kind fängt, wenn es Er- wachsene schreiben sieht, selbst an, sich schriftlich mitzuteilen, als Spiel „Briefe“ zu schreiben an alle möglichen Personen, mit denen es in seiner Phantasie spielt, sogar auch an das Christkind. Schwachsinnige . Kinder bedürfen ıneist einiger Lockung und recht bequem gemachter Gelegenheit zu spielenden Schreiben. Einige sind schon in der Klasse, die selbst wollen und die andern erhalten von diesem Beispiel und Anregung zur Nachahmung; das Kind lernt da vom Kinde. So tritt spielende freie schriftliche Beschäftigung mit in den Dienst des Unterrichts und dem Spiele der Phantasie wird vom Unterrichte eine neuc, geistig höhere Betätigungsform gegeben. Wie sich auch schwachsinuige Kinder für diese Form des Spieles erwärmen, cıfährt der Lehrer nicht selten ganz unerwünscht, indem manchmal in: Unterrichte kleine freie Niederschriften auf den Tafeln der Kinder zu finden sind, statt der Aufgabe. Eiu beliebtes Spielchen ist z. B. das Aufschreiben der Namen der Mitschüler auf die Schiefer- tafel. Auch Liebe und Hass wird offenbart. „N. N. ist dumm!" „N. N. bin ich gut!“ Oder eine ganze Gruppe arbeitet unter Redaktion eines „Hellen“ daran, einen gemeiusamen Wunsch auszudrücken: „Herr Lehrer, wir wollen barfuss gehn.“ Ich möchte die altehrwürdige Schiefertafel in den Händen der Schwachsinnigen nicht missen. Sie gibt der Selbsttätigkeit mehr Gelegenheit zur Ausserung als das Papier. Die Bedenken der Hygieniker gegen die Schiefer- tafel gelten ähnlich auch vom Papiere; bei Jder Schiefertafel hilft aber viel die Scheuerbürste. Mag auch die Rechtschreibung bei solchen Versuchen „ganz entsetzlich“ sein, wie bei !olgendem unbeeinflusst niedergeschriebenen Ergusse:

34 „Der Rubrich hat einen Sack in den Sack hat er Nise und wer den schinft -— dan ist der Rubrich Pese und Wen der Rubrich Wirt Nicht Zuweihnachten ckommen -- der gomt Plos Wenn die Kinder folchen da brind er file Nise.“

. Wie man von den Kindern nicht verlangen darf, dass sie auf einmal sicher geben und richtig sprechen köunen, so darf auch nicht gleich eine richtige schriftliche Mitteilung erwartet werden, aber doch müssen die Kinder Gelegenheit zur Übung ihrer schriftsprachlichen Kräfte erhalten. Wer schwimmen lernen will, muss ins Wasser und nötigenfalls zunächst „pudeln“. Von allen schönen Belehrungen über grosse Anfangsbuchstaben u. s. w. ist bei dieser Niederschrift kaum eine Spur zu entdecken. Nur die erlangte Fähigkeit, den Laut in Schrift umzusetzen und einige Schriftbilder von Wörtern sind geblieben und ermöglichten diesem Knaben die Niederschrift, welche teilweise als dialektische Lautschrift gelten kann. Aus dieser Erfahrung muss aber der Schluss gezogen werden, dass es beim Sprachunterrichte im engern Sinne wesentlich darauf ankommt, Laut- bewusstsein und Schriftgedächtnis zu bilden und dabei Ohr und Auge an treues Zusamınenarbeiten mit der Hand zu gewöhnen, wozu vornehmlich das auswendig” schreiben dient.

Dem sich in obiger Niederschrift fühlbar machenden Bedürfnisse nach Ver- stärkung der Anschauung schriftlicher Satzformen lässt sich dadurch entgegen- kommen, dass in der Regel wie bei der Druckschrift in der Pestalozzifibel jeder Satz mit einer neuen Zeile begonnen wird. So vermag das Kind am ehesten leicht und sicher Anfang und Ende und damit das Schriftbild des ganzen Satzes zu überschauen und als Einheit ohne Beihilfe also selbst- tätig zu erkennen und in richtiger Form wiederzugeben. Die schriftliche Satz- auschauung wird durch diese Äusserlichkeit eine sinnenfälligere und das ist's, was der Unterricht Schwachsinniger wesentlich nötig hat,

In der Adventszeit wurde den Kindern, als der Ruprecht dagewesen, ein Weihnachtsbilderbuch gezeigt, das ihnen sehr gefiel. Mit Hilfe einiger kurzer Fragen, bez. Fragewörter setzten sie die bildliche Anschauung in mündliche Er- zählung um. Da einige Kinder den Wunsch äusserten, der unausgesprochen auch der meinige war, die „Geschichte“ aufzuschreiben, so wurde dem sofort entsprochen. „Tafel herauf! Schreibt!“ Da es sich um schriftliche Mitteilung nicht bloss von Erlebtem, sondern auch von bildlicher Anschauung handelte, so wurde als Hilfe eins der gezeigten Bilder vor den Augen der Kinder ge- lassen. Bei so flüächtiger, nur mündlicher Vorbereitung kann auf der Mittel- stufe bei schwachsinnigen Kindern keine auch nur annähernd fehlerfreie Nieder- schrift verlangt werden. Die dürftigste Niederschrift sah mit allen Fehlern so aus:

„Der Lehrer hat uns Biler zeig auf Biler (Die Zeile ist voll. Soll heissen: Bilderbuch) Kinder und Mutter spracht wem (wenn) irh* grte* (artig) sie” (seid) -- so brint der Ruprecht ieh* (euch) Äfl und Nüse im der Hand eine Rute.“

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Interessant ist hierbei besonders, dass dieser Knabe F. im mündlichen Erzählen zu den besseren der Abteilung gehörte. Es weisst dieser Fall darauf hin, dass alle Mühe, die Kinder durch Antworten in vollständigen Sätzen, mündliches /usammenfassen von Unterrichtsergebnissen und freies mündliches Wiedererzählen, kurz alle mündliche Ausbildung der Kinder, so gut sie ist, doch allein nicht genügt. Die methodische Übung im Auswendigschreiben mnss noch hinzu kommen, besonders wenn, wie hier, die schriftliche Ausbildung auf besondere Schwierigkeit stösst.

Nach dem Weihbuachtsfeste lieferte derselbe Knabe F. nach ebenso flüchtiger "mündlicher Vorbereitung folgende, wenigstens lesbare schriftliche Erzählung:

„Cirstfest* war gkomen. in Speisesaale branten das Betleben und die Crist- bäume das war ser hell auf den 'Tihs* lahen Gesche Ich hat eim Näh- kasten Flinte dnu* Soldaten Äbfe Süse Pfefrkusch bekom Ich bin dankbar für als“

Es sei auf die mit * bezeichneten Fälle des Schreibstammelns mit Um- stellung von Buchstaben aufmerksam gemacht. Dadurch, sowie durch sein zu langes, wenig nützendes Verbleiben in der Volksschule, wo es am „Abschreiben“ wohl nicht gemangelt haben wird, erklärt sich sein schriftsprachliches Zurück- bleiben. Als Vorbild erhielt der Knabe für die erste Niederschrift folgende, an seine Worte sich aulehnende Verbesserung:

„Der Herr Lehrer hat uns Bilder gezeigt. Drei Kinder und eine Mutter waren da. Die Mutter sprach: Wenn ihr unartig seid, so bringt euch der Ruprecht keine Äpfel und Nüsse. In der Hand hatte er eine Rute für die bösen Kinder.“

Die folgende Niederschrift war die ausführlichste und phantasiereichste. In den vielen Fehlern zeigt sich der zappliche Eifer des Knaben A.:

„Der Herr Lehrer hat uns Bilder gezecht. Es war eine Witwe Die hate drei Kinder und hate sie lieb eines Tages fürt sie ihre Kinder zum Knecht Ruprecht der Nigolaus sprach sind gute Kinder hier die Mutter sprach ja Da freute sich der Ruprecht und sagte Sind auch bose Kinder hier die Mutter sprach ja da ward der Ruprecht bose und sprach du begommmst. strafe und er nahm die Rute und schlug ihm und steckte ihm in Sack da Weinter der bose Junge und sprach ich wiel folgen und liess ihn gehn. Die fleisigen aber begamen Nüsse Apfel und geschenke Die Mutter sprach zu dem bosen Jungen Du hast strafe fertind —- und dann ging der Knecht Ruprecht vort und der Knabe folgter der Mutter.“

Auch diese Arbeit ist noch nicht ganz frei vom Schreibstammeln, das jedoch. hier kein ungesundes ist. Es hält sich in den Grenzen, wie bei normal be- anlagten Abc Schützen, denen es ebenso natärlich ist, wie den ganz jungen Kindern das Stammeln beim Sprechen, wie es sich auch bei Erwachsenen zeigt, die keine Fertigkeit im schriftlicheu Mitteilen erlangt haben, nur in der Mund- art zu sprechen gewöhnt sind und sich bei einer schriftlichen Äusserung des Hochdeutschen bedienen wollen. Ungesund wird das Schreibstammeln erst dann, wenn Fehler in bestimmten Richtungen verallgemeinert auftreten, wie das Um-

36 stellen von Buchstaben in der vorher angeführten Niederschrift des Knaben F, z. B. bei den Wörtern „irh, ieh, dnu, Tihs“. Auch beim Absohreiben zeigte sich bei jenem Knaben F das Schreibstammeln, wenn auch in mässigerer Aus- dehnung. Die Sinneswerkzeuge des Knaben F waren auch nach ärztlichem Gutachten in Ordnung. Er verstand im bekannte, von mir geflüsterte Wörter bis zu Il m Entferunng, während die Hörgrenze seiner Klasse durch- schnittliche 12?/, m betrug. Der Umfang seiner Gehörsauffassung war ebenfalls mittelgut, sonst hätte er gehörte Erzählungen nicht so verhältnismässig gut wieder erzählen können. Sein Gesichtssinn war im Verhältnis zu dem seiner | Mitschüler reichlich mittelkräftig, sowohl hinsichtlich des Grades der Sehleistung als des Umfanges der Auffassungsfähigkeit. Er erkannte die Figur der Breslauer Sehtäfelclhen bis auf 10 m Entfernung im sonnenhellen Saale, während die Durchschnittsleistung der Klasse 7,5 m betrug. Von Einzelbildern ihm bekannter Dinge, die ihm in Gruppen je 3 Sekunden lang vorgeführt wurden, vermochte er darnach durchschnittlich je 2,5 der Einzelbilder der Gruppen namlaft zu machen. Seine Sprache war frei von Stammeln. Er las und lautieıte seiner Lesefertigkeit angemessenen Lesestoff bei nicht abgelenkter Aufmerksamkeit richtig, wenn auch noch nicht fliessend.. Auch erkaunte er die Fehler des Schreibstaınmelns bald, wenn er darauf aufmerksam gemacht wurde und ver- mochte sie bei bekannten Wörtern selbst zu verbessern. Die äusseren Sinne können nach diesem Befunde die Fehlerhaftigkeit nicht verursachen. Schwache Befähigung, Unaufmerksamkeit und Mittelmässigkeit des Gehörs sind bei andern Kindern auch da, ohne die gleichen Folgen zu zeitigen und können daher wohl den Nährboden zur Entwicklung des Fehlers bilden, bez. seine Entwicklung fördern, aber nicht die wesentliche Ursache sein. Pflichtet man der Annahme bei, dass für die Schreibbewegungsantriebe besondere Zentren im Gehirne sind, so dürfte weiter anzunehmen sein, dass die fragliche Fehlerhaftigkeit in der Leitung vom Schriftbildzentrum zum Schreibbewegungszentrum zu suchen ist.

Es ist hier auf das Schreibstammeln eingegangen worden, weil sich das Auswendigschreiben von dem die Arbeit handelt als heilpädagogisches Gegenmittel bewährt hat, wenn es sachgemäss auf die fehlerhaft geschriebenen Wörter angewendet wird. Ein solches Wort wird gelesen, lautiert, abgeschrieben, wieder gelesen und lautiert und nun auswendig geschrieben. Allerdings muss ein solcher Fall in der Klasse individuell behandelt, die Aufmerksamkeit fixiert und die Niederschrift vom Lehrer unmittelbar überwacht werden.

Kehreu wir nun zurück zu der Niederschrift des Knaben A. Seine Gedanken machen, infolge des erregten Wesens, nicht selten arge Bocksprünge, duch liefert er bier eine Erzählung in geordnetem Gedankengange. Die Geschehuisse hat er im wesentlichen selbst erlebt und innerlich verarbeitet, so dass er aus dem Eigenen schöpfen kann. Die bildliche Anschauung aber wirkt zügelnd auf die Phantasie, ohne sie zu binden.

Es möge ıun nuch die, hinsichtlich der Rechtschreibung beste der gleich- zeitigen Niederschriften eines die Klasse im allgemeinen kaum überragenden Knaben K. folgen: „Der Herr Lehrer hat uns ein neues Bilderbuch gezeigt. Die

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Mutter machte die Türe auf und Knecht Ruprecht kam herein. Und der Knecht Ruprecht sprach: Sien den hier artige Kinder. Die Mutter sprach: ja.“ Dieser Knabe K ist wesentlich anders angelegt, ala der vorgenannte A. Seine Sinne sind scharf und die Auffassung durch diese übermittel umfangreich; dies in Ver- bindung mit seinem verhältnismässig sehr gut entwickelten Formensinne hilft ihm bei der Auffassung der Schriftbilder. Er arbeitet ruhig und siebt sich das Geschriebene noch einmal an, wozu ihn auch seine Ehrliebe anstachelt. Er würde aber sicher dabei den Faden, die Geduld und schliesslich die Kraft ver- lieren und stecken bleiben, wenn es sich um keine innerlich verarbeiteten Vor- gänge handelte, die sich lebendig vor seinem geistigen Auge phantasiemässig wieder abspielten. lass er mit der Arbeit nicht fertig geworden, liegt nicht nur an seiner Bedächtigkeit und Langsamkeit, sondern hier auch an einer zufällig eingetretenen Störung.

Die Fehler langen bei allen solchen Arbeiten zu; aber das schadet nichts. Die Rechtschreibung kommt hierbei zunächst nicht in Betracht. Diese an- geführten freien Niederschriften sind nicht die ersten der betreffenden Kinder. Übungen, welche ich als „kleine Mittel“ bezeichnet habe, sind schon voran ge- gangen, sowie auch eine Reihe ganz oder teilweise unverbessert gebliebene Ver- suche im freien Mitteilen. Die dabei geleistete Denkarbeit ist keine zu schwierige, da die Kinder den Boden des sinnlichen, kindlichen Interesses durchaus nicht zu verlassen brauchen. Es handelt. sich immer nur um zeitlich, räumlich und gemütlich, also überhaupt psychologisch nächstliegende einfache Geschehnisse, die in zeitlicher Folge wiedergegeben sind. Aber doch müssen die Kinder dabei nachdenken, denn sie haben weder ein mündlich genaues, noch ein schriftliches Vorbild, noch einen festgenagelten Gang bekommen. Das „Selbst- erlebnis“ ist das Vorhandene, zu dem der schriftsprachliche Ausdruck zu er- arbeiten ist. Die eigene Auffassung der sinnlichen Anschauung, die dabei in den Kindern entstandenen eigenen Phantasiebilder und kleinen Überlegungen kommen zu ihrem Rechte. Sprachbildung und Denkbildung decken sich. Der Selbsttätigkeit im schriftlichen Gedankenausdrucke wird hier die Bahn offen ge- halten und so der Boden für weitergehende Übungen bereitet. Das macht diese freien, schriftlichen Mitteilungen wertvoll.

Die Aufeinanderfolge der Übungen im Auswendigschreiben wird nicht immer die gleiche zu sein brauchen; doch lässt sich folgender, sehr allgemein gehaltener Gang angeben Anfangsstufe: Viele Laut- und Wortdiktate.

Etwa von der Mitte der Fibelstufe an: Fleissige Fortsetzung der Wortdiktate- Auswendigsohreiben einiger Wörter- und Satzgruppen bei gleichzeitiger Anschauung der Dinge oder deren Abbildungen.

Gegen Ende der Fibelstufe beginnt das Auswendigschreiben gelernter wertvoller Verschen. Wortdiktate, Wörter- und kleine Satzgruppen.

Im Anschlusse an die Fibelstufe: Häufiges Auswendigschreiben von dargebotenen Wörter- und Satzgruppen im Anschluss an den Sachunterricht, sowie von gelernten Gedichtchen.

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Einige Zeit nach der Fibelstufe:. Anregung der Kinder zu eigenen Versuchen, die geübten Stoffe frei zu erweitern oder ohne schriftliches Vorbild niederzuschreiben (kleine Mittel), sowie Erlebtes nach nur flüchtiger niündlicher Vorbereitung frei schriftlich mitzuteilen.

Mittelstufe: Fortsetzung dieser Übungen. Der Hauptwert wird nun und auch auf der Oberstufe auf das freie schriftliche Mitteilen von Selbsterlebtem gelegt, sowie von gelegentlicher, erzäblender Niederschrift besonders lebhaft wirkender sinnlicher Anschauungen im Unterrichte.

Immer kommt es darauf an, eine durch recht lebhafte, aber ungekünstelte Anschauung erzeugte, den Trieb zum Erzählen im Kinde wachrufende Vorstellungs- reihe schnell zu benutzen, die Triebkraft nicht durch Vorbereitung zu ver- brauchen, sondern zur Niederschrift verwenden zu lassen. Solches Vorgehen weist uns die Natur bei der Entwicklung der mündlichen Sprache des Kindes, deren einzelne Ausserungen nicht schulmässir und wohldisponiert erfolgen, sondern nach dem Bedürfnisse und der wachsenden Kraft, hervorgerufen durch die Wechselwirkung zwischen Innen- und Aussenwelt: inneren Trieb und äusseren Reiz, innere Befriedigung und äussere Anteilnahme. Das Auswendigschreiben wird auch nicht in besonderen Stunden oder Fachklassen, sondern in verschiedenen Unterrichtsstunden dann geübt, wenn sich passende Gelegenheit bietet, haupt- sächlich im Lese- bez. Deutschunterrichte.

Hat der Schwachsinnige im späteren Leben überhaupt Gedanken und Jas Bedürfnis, sie auszudrücken, zumal unter dem Drucke äusserer Umstände, so wird er dann auch im Rahmen einfacher, konkreter Lebensverhältnisse die nötigsten Mitteilungen und Wünsche auszudrücken vermögen, vorausgesetzt, dass die Schreibgelegenheiten bei ihm nicht zu selten werden und sich keine psychische Rückbildung einstellt. Günstigere Erfolge im schriftlichen Ausdrucke, wie sie der Aufsatz fordert, sind zwar auch in der Schule Schwachsinniger wünschens- wert, dürfen aber nicht durch einseitige, geistige Schulung ohne gleichzeitige Entwicklung praktischer Handarbeits-, überhaupt Lebenstüchtigkeit erstrebt werden. Dann wird sich die Behandlungsweise deın des sogenannten Aufsatzes in der einfachen Volksschule nähern, wenn auch nicht gleich sein. Damit hat es diese Arbeit nicht mehr zu tun. Horrix hat uns hierüber Seite 80 des Jabr- gangs 1896 dieser Zeitschrift das Nötigste gesagt. Hier soll nur gezeigt werden, wie unsere Schwachsinnigen Schüler im Auswendigschreiben von mündlich, schriftlich, in Bildform oder Handlung dargebotenen einfachen, sinnlichen Ge- danken geübt werden, Jie zeitlich, räumlich und gemütlich ganz nahe liegen.

So sehr in dieser Arbeit, selbst mit Hilfe von Kleinmalerei, das Auswendig- schreiben als Mittel der prachbildung Schwachsinniger empfohlen wird, soll deshalb doch die Sprache, als das Gewand, nicht über den Inhalt, den Gedanken gestellt werden. Diese Übungen im Auswendigschreiben sollen, wie die der Sprache überhaupt, nach Möglichkeit mit zur Herausbildung einer denkenden, im beschränkten Erfahrungskreise einigermassen urteilsfähigen, sittlichen Per- sönlichkeit helfen.

39 | Übersicht. I. Das Auswendigschreiben

1. von vorgesprochenen Lauten, Wörtern und Sätzen,

2. im Anschluss an vor Augen gestellten Siunendingen (Wörter- und Satzgruppen),

3. von wörtlich auswendig gelernten Sprachstoffen (Wort- und Satz-

reiben, Gedichte),

4. nicht wörtlich auswendig gelernter Sprachstoffe. (Gelegentliche An- regungen dazu. Fıeie Mitteilungen von Erlebtem und besonders leb- haft wirkender unterrichtlicher Anschauung.)

5. Die Verbesserung.

1I. 1. Materieller Wert des Auswendigschreibens für Schönschreiben, Aus- sprache, Rechtschreibung, Wort- und Satzlesen, Sachunterricht. 2. Formaler Wert für Schrift- und Laut-Auffassung uud Gedächtnis, Gemütsbildung, Selbsttätigkeit.

Die methodische Folge der Übungen. Grosshennersdorf i. Sa. R. G. Wehle, Lehrer.

Aus der Unterrichtspraxis. Erklärung eines Spruches auf der Mittelstufe einer Anstalteschule.

Einleitung: Wir haben in der letzten Stuude einen Spruch geiernt, der uns sagte, wie der liebe Gott ist. Welchen Spruch meine ich? „Barınherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von grosser Güte.“ Wie ist also der liebe Gott? Gott ist gnädig. Was tut er nicht gern? Er strait nicht gern. Was tut Gott lieber? Er verzeiht, vergiebt lieber. Was müssen die Menschen aber tun, wenn Gott ihnen verzeihen soll? Sie müssen ihn darum bitten.

Heute wollen wir einen Spruch lernen, der uns zeigt, wie wir den lieben Gott um Verzeibuug bitten sollen. Vortrag des Spruches: „Schaffe in "mir, Gott, ein reines Herz und gieb mir einen neuen, gewissen Geist. Ver- wirf mich nicht von deinem Angesicht und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir.“ -Nachdem der Spruch vorgesprochen worden ist, wird er von den Schülern einigemal satzweise nachgesagt, wobei namentlich auf eine deutliche Aussprache der einzelnen Wörter zu achten ist. Der Lehrer soll sich dabei überzeugen, ob der Spruch von den Schülern dem Wortlaute nach richtig auf- gefasst wurde.

Besprechung: L. Zu wem sagen wir diesen Spruch? Zu Gott. Wie sprechen wir zu Gott?

Schaffe in mir ein reines Herz. Wie könnten wir auch sagen statt „schaffe in mir ein reines Herz“? Gib mir ein reines Herz! Was ist das, wean wir

40 sagen: „Gib mir!“ Eine Bitte. Was tun wir also in dem Spruch? Wir bitten. Wie nennt man das, wenn man Gott um etwas bittet? Beten. Was ist also dieser Spruch? Dieser Spruch ist ein Gebet.

Saget mir andere Gebete, die ihr schon gelernt habt? Welches Gebet beten wir am meisten? Vaterunser. Mit welchen Worten beginnt das Vater- unser? Wie haben wir dieso Worte genannt? Anrede. Wen reden wir damit an? Den Vater im Himmel. Wo steht hier die Anrede? Am Anfang. Wie heisst die Anrede in unserem Spruch? Wo steht hier die Anrede? Ia der Mitte. Setzet die Anrede an den Anfang! Gott, schaffe in mir u. s. w. Wir sprachen vorhin vom Vaterunser. Wer hat das Vaterunser zum erstenmal gebetet? Wer hat unsern Spruch zuerst gebetet. Das will ich euch jetzt erzāhlen.

U.

Ich habe euch früher von verschiedenen Königen im alten Testament er- zählt. Wie heissen diese? Welches war der frömmste von ihnen? David.

Einmal tat David eine schwere Sünde. Da sandte Gott einen Propheten zu David und liess ihm sagen: Ich will dich strafen. Da wurde David traurig und betrübt. Seine Sünde tat ihm sehr leid. David wünschte, er hätte die Sünde nicht getan. David bereute seine Sünde, er tat Busse und betete ernstlich zu Gott: Herr, vergib mir meine Sünde. Strafe mich nicht und sei mir gnädig. Verwirf mich nicht von deinem Angesicht und nimm deinen heiligen Geist nicht von mir. Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz und gib mir einen neuen gewissen Geist.

IHI.

Wer hat also diesen Spruch gebetet? Was hatte David getan? Eine Sünde. Wer hat auch Sünde getan? Beispiele aus der bibl.: Geschichte. Adam und Eva waren gegen Gott ungehorsam. Was bekamen sie dafür? Strafe. Was hatte David also auch verdient? Was liess Gott dem König David darum auch sagen? Ich will dich strafen. Wie wurde David darüber? Betrūbt und traurig. Was wünschte David? O, dass ich die Sünde nicht getan hätte! Wie war ihm demnach seine Sünde? Seine Sünde war ihm leid. Was empfand David über seine Sünde? David bereuteseineSünde. David tatBusse.

IV.

Wie war das Herz des Königs David durch seine Sünde geworden? Un- rein. Was für ein Herz möchte er aber wieder haben? Ein reines Herz. Wer kann ihm sein Herz rein machen? Gott. Zu wem geht David also? Zu Gott. Um was bittet er den leben Gott? Um ein reines Herz. Wie spricht David? Schaffe in mir, Gott, ein reines Herz.

V.

David bittet aber nicht nur um ein reines Herz. Um was bittet David auch noch? Um einen neuen, gewissen Geist. David bittet um einen neuen Geist. Mit welchem Geist ist David also nicht mehr zufrieden? Warum ist

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er mit seinem alten Geiste nicht mehr zufrieden? (Antwort nicht unbedingt nötig. Diese Frage soll die folgende vorbereiten). Wie ist der alte Geist in David durch die Sünde auch geworden? Unrein. Wozu verfübrt ihn der alte, unreine Geist immer wieder? Zur Sünde. Was für einen Geist möchte also David? Einen neuen Geist. David möchte einen Geist, der sich wozu nicht mehr verführen lässt? Wie ist ein Geist, der sich nicht mehr verführen lässt? Zwischenfrage: Wie geht ein Kind, das nicht ınehr fällt? Sicher. Wie ist also ein Geist, der nicht mehr von den Wegen Gottes abweicht? Ein sicherer Geist. Um was für einen Geist bittet also David? Um einen sicheren Geist. Oder wie heisst es im Spruch? Wie bittet also David? Gib mir einen neuen, gewissen Geist. VI.

Wir haben gesehen, dass David traurig war über sein unreines Herz. Aber er war auch noch über etwas anderes traurig. Was war David, ehe er König wurde? Hirte. Wer hat ihn zum Könige gemacht? Gott. Wie meinte es Gott mit dem David? Gut. Oder wie war Gott gegen den David? Freundlich.

Gott war Davids Freund.

Wie verhielt sich aber David gegen Gott? David tat Sünde. Was konnte Gott jetzt dem David nicht mehr sein? Gott konnte nicht mehr Davids Freund sein. Gott könnte sagen: Du warst ungehorsam gegen mich, nun will ich auch nichts mehr von dir wissen Ich will dich nicht mehr sehen; du darfst nicht mehr vor mein Angesicht kommen.

Welchem Könige gegenüber machte Gott es so? Gegen Saul. Wie sagten wir damals? Gott verwarf den Saul. Was könnte Gott mit David auch tun? Jhn verwerfen. Wie wäre das dem David? Sehr leid. David wäre darüber sehr unglücklich. Wie bittet darum David den lieben Gott?

Verwirf mich nicht von deinem Angesicht.

VII.

Wie beten wir manchmal zum Schulanfang? Steh’ uns, Herr unser Gott, mit deinem Geiste bei u.s.w. Womit möge Gott uns beistehen? Mit seinem Geiste. Wenn Gott uns mit seinem Geiste beisteht, was gelingt uns dann? Unsere Arbeit. Ich erinnere euch an Joseph. Als was kam Joseph nach Ägypten? Als Sklave. Wer war aber bei ihm? Der Geist Gottes. Wie ging es «a dem Joseph? Was wurde aus dem Sklaven? Ein Herr über Ägypten. Was war David früher gewesen? Und was ist aus David geworden? Wer war auch mit David?

Mit David war der Geist Gottes.

Nun tat David aber Sünde. Wen hat David damit betrübt? Was kann Gott dem David nicht mehr lassen? Seinen Geist. Oder was könnte Gott mit seinem Geiste tun? Ihn von David nehmen. Wie wäre David darüber? Wie ginge es ihm? Ohne was will David nicht mehr sein? Ohne Gottes Geist. Wie betet David darum?

Nimm deinen heiligen Geist nicht von mir.

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VIII.

So betete David, als er über seine Sünde Busse tat. Was für ein Gebet ist das also? Ein Bussgebet. Was möge Gott dem David schenken? Erstens: Ein reines Herz. Zweitens: Einen neuen, gewissen Geist. Was möge Gott nicht tun? Erstens: Den David nicht von seinem Angesicht verwerfen. Zweitens: Seinen Geist nicht von David nehmen.

IX.

Wird Gott Davids Bitte erhört haben? Warum wird er sie erhört haben? Weil Gott barmherzig und gnädig ist. Gott verwarf den David nicht. David durfte noch lange König bleiben. Es ging ihm gut. Gott verzieh dem David, weil David Busse getan hatte und weil er Gott so ernstlich um Ver- gebung seiner Sünde bat. Ein anderes Mal versprach Gott den bussfertigen Menschen: „Ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben!“

Die Kinder beten um ein reines Herz. Wer kennt das Gebetchen? Ich bin klein, mein Herz sei rein u.s.w.

Anwendung:

Was tun wir Menschen jeden Tag? Um was müssen wir Gott darum auch jeden Tag bitten? Welches Gebet können wir darum jeden Abend beten? Schaffe in mir, Gott, u. s. w. = Einprägen: |

Geschieht in der Schule. Kann der grössere Teil der Schüler den Spruch einigermassen fliessend aufsagen, wird er an die Wandtafel geschrieben, wobei die nötigen orthographischen Bemerkungen zu geben sind. Die Schüler schreiben den_Spruch solange ab, bis sie ihn auswendig und ohne Fehler niederschreiben können. Z.

Ein verkanntes Kind. Von Gg. Büttner, Worms.

Nichts ist schneller gesagt als: Das Kind ist geistig zurück, es bleibt sitzen oder es kommt in die Hilfsklasse. Ob es aber mit dieser oberflächlichen Behauptung auch seine Richtigkeit hat, das ist doch eine andere Frage. Wie leicht kann in dieser Hinsicht ein Kind degradiert und zu etwas gestempelt werden, was es absolut nicht ist. Der menschliche Geist ist ein Buch mit sieben Siegeln; da heisst es, genau beobachten, genau nachforschen und nicht bloss kurz und im Vorübergehen urteilen. Nur nach längerer Beobachtung und eingehender Erforschung eines Kindes ist es möglich, ein einigermassen richtiges Urteil abzugeben, während im entgegen- gesetzten Falle die wunderlichsten Dinge zum Vorschein kommen können. Die Richtigkeit dieser meiner Behauptung sei durch folgenden interessanten Fall erwiesen. Die Schülerin A. K. ist das Kind einer ehr- und achtbaren Beamtenfamilie und gegenwärtig 8 Jahre alt. Sie hat noch drei Geschwister, von denen zwei taubstumm, sonst aber vollständig normal veranlagt sind. Das Mädchen ist körperlich gut ent. wickelt; es ist etwas nervös und schielt auffallend stark, was sein Ausschen beein-

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trächtigt und blöde erscheinen lässt. Die Koordination der Bewegungen fehlt ihm noch teilweise. Eine zu gutmütige Erziehung seiten der Mutter hat das Kind zimperlich gemacht. Als eine weitere unangenehme Folge der fehlerhaften Erziehung ist, dass das Kind nur bei der Mutter, nicht aber vor fremden Leuten spricht. Grade dadurch aber wurde es oft verkannt und als geistig minderwertig eingeschätzt.

Als das Kind 6 Jahre alt und damit schulpflichtig geworden war, wurde es wegen seines eigenartigen Aussehens und seiner scheinbaren Stummheit und unter Rücksicht darauf, dass es taubstumme Brüder hatte, für geistig zurückgeblieben gehalten und auf ein Jahr zurückgestellt. Ebenso ging’s auch im zweiten Jahr; es wurde angemeldet, aber wieder zurückgeschickt. Nicht so leicht ging’s bei der darauf- folgenden Anmeldung. Doch schnell fertig ist der Lehrer mit seinem Urteil. Es sieht so sonderbar aus, es gibt auf gesie!lte Fragen keine Antwort, nun ja das Kind ist schwachsinnig. Nach kaum halbjährigem Besuch der Normalklasse soll es der Hilfsklasse überwiesen werden. Jetzt zeigt sich das Kind im wahren Lichte. Es hat einen Vorstellungskreis, ein Denkvermögen, Urteils- und Schlussbildung, wie es ein gut veranlagtes normales Kind nicht besser haben kann. Sein Gedächtnis ist sehr gut entwickelt, denn es weiss alle biblischen Geschichten und Erzählungen, die in der Normalklasse vorgekommen sind. inhaltlich getreu mit guter Konstruktion zu erzälllen.. Obgleich man in der ersten Klasse sich nicht weiter mit ihm beschäftigte, beberrscht es auch den Zahlenrrum bis 6 und führt darin die entsprechenden Operationen aus Und ein solches Kind soll schwachsinnig sein! Es ist in kurzer Zeit dahin "gebracht worden, wie jedes andere Kind auf gestellte Fragen zu ant- worten. Kurzum, es ist absolut nichts zu entdecken, was auf irgend einen geistigen Defekt hätte schliessen lassen können. Im Gegenteil Das Kind ist und bleibt normal veranlagt, wenn auch sein Aussehen etwas anderes hätte annehmen lassen können. Seine Schächternheit und seine scheinbare Stummheit sind nur auf Kosten der fehlerhaften mütterlichen Erziehung zu setzen.

Selbstverständlich wird das Kind wieder in die Normalklasse zurückkommen. Man sieht aber, wie vorsichtig man sein soll bei Abgabe seines Urteils, und wie leicht man ein Kind falsch «inschätzen und behandeln kann.

Mitteilungen.

Leschnitz. (Personalien.) Der Leiter der hiesigen Erziehungsanstalt für Geistesschwache, Herr Kreisschulinspektor Weichert, ist durch Verleihung des Titels Schulrat ausgezeichnet worden.

Sachsen. (Landesanstalt für Epileptische) Die Leitung der Königlich Sächsischen Landes-Heil- und Pfleganstalt für Epileptische zu Hochweitzschen ist am 1. Oktober v. J. in ärztliche Hände übergegangen. Der zum Direktor ernannte Medizinalrat Dr. Böhme, der schon früher an dieser Anstalt tätig war, hat an dem genannten Tage seine neue Stellung angetreten. Ausser ihm sind noch 5 Ärzte an- gestellt. Der Normalbestand der Kranken ist auf 660 festgesetzt; augenblicklich beherbergt Hochweitzschen 675 Epileptiker (Männer, Frauen, Knaben, Mädcben), es

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herrscht somit zur Zeit noch Überfüllung. Seit 1. April 1902 ist zufolge Verordnung vom 1. März 1902 Ges. u. V.-Blatt S. 37 figd. für die Unterbringung in die Landes-Heil- und Pfleganstalt für Epileptische zu Hochweitzschen ein neues Regulativ giltig.

Borna. (Sprache und Schreck.) Ein ganz eigenartiger Fall von Sprachheilung trug sich Anfang Dezember v. J. in der hiesigen Hilfsschule zu. Ein 1Ojähriger Knabe hatte seit früber Kindheit in hohem Grade unter dem Stottern zu leiden und zwar war er durch Schreck um den normalen Gebrauch der Sprache gekommen. Während seine Mutter nämlich im Waschhause beschäftigt war und er im Hofe sass und spielte, fuhren unvermutet zwei junge Hunde auf ihn zu. Jetzt nach ca. 7 Jahren wurde das Stotterübel ganz plötzlich von selbst gehoben und wieder war Schreck die Ursache. Der Knabe hatte sich am Rande eines zugefrorenen Teiches zu schaffen gemacht, war ausgeglitten und mit einem Beine eingebrochen. Machte auch die Sprache anfänglich einen recht unsichern Eindruck und trat dann und wann beim Lesen von Wörtern, die mit „d“ und „t‘“ anlaateten, noch das Stottern auf, so ist doch gegenwärtig der Zustand ein recht befriedigender.

Grossherzogtum Hessen. (Hilfsschulwesen. Neue Hilfsschule in Offenbach a. Main) Wenn man wünschen muss, dass wenigstens alle Städte mit einer Einwohnerzahl von 20000 und darüber Hilfsschuleinrichtungen schaffen möchten, so ist man bei uns in Hessen daran, dieser Forderung gerecht zu werden. Es kommen allerdings darnach für unser Grossherzogtum nur fünf Städte in Betracht, nämlich Mainz, Darmstadt, Offenbach, Worms und Giessen. Bis jetzt begründeten schon Hilfsschulen Mainz seit 1892 mit 4 Klassen und Worms seit 1899 mit 2 Klassen. Giessen hat schon längere Zeit eine sogenannte „Nachhilfeklasse“, welche aber wahrscheinlich in Bälde in eine Hilfsschule umgewandelt werden dürfte. Offenbach war bis heute die einzige in Frage kommende Stadt ohne Hilfsschule, erfrenlicherweise aber beabsichtigt man daselbst Ostern dieses Jahres eine Hilfsschule einzurichten. Es sollen 2 Klassen gebildet werden, von denen jede nach den ge- machten Aufstellungen etwa 20 Schüler erhalten wird. Jede Klasse erhält einen Lehrer mit 26 Stunden wöchentlich. Um einen Austausch der Kinder in den einzelnen Fächern zu ermöglichen, werden die Stunden in den Klassen konform gelegt. Die ueue Hilfsschule wird nicht, wie mancherorts noch üblich, einem andern Schulbezirk angegliedert werden, sondern für sich bestehen und in einem besonderen Hause ein- gerichtet werden. Zum Leiter derselben ist der Lehrer Morbach bestimmt wordem während die 2. Stelle dem Lehrer Büttner übertragen ist. B.

Grünberg (Schl.). Hier besteht seit dem 1. Oktober v. J. eine Hilfsschule für schwachsinnige Kinder. Es werden 25 schwachsinnige Kinder in einer Klasse von einem besonders vorgebildeten Lehrer unterrichtet. Die Unterrichtsfächer sind die der Volksschule mit gesondertem Anschauungsunterrichte. S.

Hirschberg, Schl. (Neue Hilfsschule.) Seit Anfang des laufenden Schul- jahres besitzt auch Hirschberg eine Hilfsschule. Die Eröffnung derselben erfolgte Ostern 1902 mit 21 Kindern, denen später sich noch 2 anschlossen, so dass die Schule gegenwärtig 23 Kinder (17 evang., 5 katb. und 1 jüd.) zählt. Nach dem Geschlecht sind es 13 Kunben und 10 Mädchen. Die Eltern der Hilfsschulkinder

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äusserten sich erfreut über die neue Einrichtung. Ostern 1904 dürfte voraussichtlich eine zweite Klasse angeschlossen werden.

Langenhagen. (Mortalität) In dem letzten Berichtsjahr (1901/1902) betrug die Mortalität 4,8 °/ der Verpflegten. Von den 37 Gestorbenen waren 26 Pfleg- linge (16 m. u. 10 w.) und 11 Zöglinge (3 m. u. 8 w.), bei 18 Gestorbenen war Tuberkulose die Todesursache, bei 4 anderen wurde sie als Nebenbefund er- hoben. Von besonderem Interesse ist ein Unglücksfall.e Ein erwachsener epilep:ischer Zögling will zum Zeugausklopfen eine Rute von einer Weide abbrechen und fällt dabei in den Graben, der Schmutzwasser ableitet und mit stagnierendem, breiig flüssigem, zersetztem Inhalt angefüllt war. Er kriecht selbst wieder aus dem Graben heraus und ein Wärter, der durch lautes Stöhnen, ähnlich einem heftigen Brechakte, aufmerksam wurde, findet ihn am Rande liegend. Der Kranke erzählte den Horgang, geht nach oberflächlicher Reinigung selbst ins Haus und zu Bett. Die Brechneigung hielt an; sehr bald traten aber stürmische Erscheinungen wie bei einer akuten Vergiftung auf, Bewusstlosigkeit, Somnolenz, livide Färbung der Haut. Trotz reichlicher Magenausspülung trat schon wenige Stunden nach dem Unfall der Tod ein. ei der Sektion fand sich im Magen noch eine ganze Menge schwarzer, stinkender Jauche. in der Blattreste und dergl. schwammen, auch in das Darmrohr war diese Flüssigkeit schon ziemlich weit vorgedrungen. Die Lungen waren ganz frei. Der Kranke ist also nicht in der Flüssigkeit ertrunken, sondern hat sich durch Schlucken derselben vergiftet. Bei einem kleinen Pflegling, der an allgemeiner Atrophie und profusen Durchfällen zu Grunde ging, fand eich als Veranlassung ım entzündlich hochgradig veränderten Coecum eine Sammlung von Fremdkörpern, enthaltend 19 Kirsch-, 42 Zwetschenkerne, 1 Glasperle (Knopf einer Hutnadel) und 1 Gummiring vom Flaschenverschluss und anderes. Derartige Vorkommnisse sind in den Anstalten bekannt und ebenswenig zu verhindern, wie im folgenden Falle Ein erwachsener, epileptischer Zögling, der die Gewohnheit hatte, Brot stundenlang im Munde zu halten, stürzte auf dem BRückwege vom Frühstück in sein Haus plötzlich unter Krämpfen tot zusammen. Die Sektion ergab in der Trachea über der Bifurkation einen dicken Brodpfropf.

Worms. (Weihnachtsbescherung in der Hilfsschule). Dass die ab und zu aufgetretenen Vorurteile gegen unsere Hilfsschule nach und nach geschwunden sind, und dass unsere Bestrebungen allgemein die rechte Würdigung gefundeu hat, dafür dürfte uns die diesjährige Weilinachtsbescherung den besten Beweis liefern. Klein und unbedeutend, da es am „nötigen Entgegenkommen‘“ fehlte, waren die ersten diesbezüglichen Veranstaltungen, aber von Jahr zu Jahr wurde es besser, und mit der letzten Bescherung können wir schon recht zufrieden sein. Eiu erkleckliches Sümmchen hatten unsere Kinder selbst und zwar aus dem Verkauf der von ihnen ge- sammelten Abfälle (Stanniol, Zigarrenspitzen, Korkstopfe etc.) zusammengebracht, reichlich aber flossen auch Gaben, nachdem wir bei verschiedenen Wohltätern vor- gesprochen und durch die Tageszeitungen auf die Bescherung in der Hilfsschule anf- merksam gemacht hatten. DBeschert wurden den Kindern Bekleidungsgegenstände, Schulutensilien, Spiele und Spielsachen mit den üblichen Beigaben von Äpfeln, Nüssen Konfekt etc. Die Feier selbst bestand in Gebet, Liedervorträgen, Deklamationen und

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der Ansprache eines Lehrers. Es war eine Wonne, die lachenden Gesichter in heiliger Freude um den hell erstrahlenden Weihnachtsbaum zu sehen. Ganz besondern erfreulich war es, dass auf die ergangenen Einladungen hin sich zahlreiche Gäste einfanden, welche sichtliches Interesse für unsere Bestrebungen zeigten, und zwar sahen wir Vertreter der Behörde, Kollegen, Eltern der Kinder und zahlreiche Bürgers- leute. Sicherlich haben wir durch diese Veranstaltung wieder viel für unsere Sache gewonnen und Samen gestreut, der, so Gott will, reiche Früchte trägt zum Nutzen und Frommen unserer armen Schwachsinnigen. Überhaupt hoffen wir, durch Ein- führung von Elternabenden, durch Schaffung verschiedener Wohlfahrtseinrichtungen und durch das stets gütige Entgegenkommen der massgebenden Körperschaften dahin zu kommen, dass mit der Zeit unsere Bestrebungen allgemein diejenige Beachtung und Würdigung erfahren, die ihnen von Rechtswegen zukommt. Das Gute bricht sich immer Bahn, zeigt’'s auch nach Jahr und Tag sich an. Beharrlichkeit führt endlich doch zum Ziel. B.

Literatur.

Die Entwicklung des Geistes beim Kinde und bei der Rasse. Methoden und Verfahren von J. M. Baldwin. Unter Mitwirkung des Autors nach der 3. englischen Auflage ins Deutsche übersetzt von Dr. Ortmann. Nebst einem Vorwort von. Th. Ziehen. Mit 17 Figuren und 10 Tabellen. Berlin 1898 Verlag von Reuther & Reichard. 470 Seiten. Preis Mk. 8.—.

Das Interesse für die Psychologie des Kindes ist zur Zeit in stetem Zunehmen begriffen, wovou eine reichhaltige und zum Teil recht umfangreiche Litteratur Zeugnis giebt. Die Pädagogik gründete früher ihre Lehren auf eine von spekulativen Theorien mehr oder weniger durchsetzte allgemeine Psychologie des Erwachsenen und auf die gelegentlichen halbinstinktiven, unsystematischen und daher unwissenschaftlichen Be- obachtungen des Einzelnen. Die Psychrlogie des Kindes blieb dabei achtlos zur Seite stehen. Erst Preyor betrat neue Bahnen und führte in die kindliche Psychologie die fruchtbaren nenen Methoden ein. An die Stelle der Spekulation und der Gelegen- 'heitsbeobachtung trat wissenschaftliche systematische Beobachtung. Allein seine Be- obachtungen beziehen sich im wesentlichen nur auf ein Kind; er schildert nur die Seelenentwicklung eines Kindes, nicht die Psychologie des Kindes. Baldwin hat sich in dem vorliegenden Werke die Aufgabe gestellt, eine allgemeine Psychologie des Kindes zu schreiben, und dieser Versuch ist ihm im allgemeinen sehr gut ge- lungen, wenn er auch vielfach auf fremde Beobachtungen und fremde Wahrnehmungen zurückgreift und dieselben für seine Zwecke verwertet. Um möglichst genaue Ergeb- nisse bei dieser jungen Wissenschaft zu erzielen, ist es erwünscht, dass sich Ärzte, Väter, Mütter, Erzieher, Lehrer zu gemeinsamer Arbeit vereinigen. Ein Wegweiser dazu ist unerlässlich; daher hat Baldwin sein Werk auch treffend als „Methoden und Verfahren‘ bezeichnet. Im allgemeinen beziehen sich die Erörterungen Baldwins auf folgende Punkte: Nach den einleitenden Kapiteln (1, 2), die das genetische Problem und seine Untersuchungsmethode auseinandersetzen, werden im I. Teil (Kap. 8—6) betitelt . „Experimentelle IBegründung“, . eine Reihe von Tatsachen aus dem Kindes-

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leben berichtet, und die Gesetze, nach denen sich diese richten die Prinzipien: der Suggestion, Dynamogonesis etc. abgeleitet. Kapitel 5 giebt eine detaillierte Analyse einer willkürlichen Funktion, der Handschrift. Dann folgt im II. Teil (über biologische Entwicklung) die Theorie der Anpassung und Vererbung, und zwar wird diese im 7. Kapitel allgemein vorgetragen, ihre Anwendung auf den „Ausdruck dıs Affekts“ im 8. Kapitel auseinandergesetzt, und im 9. Kapitel werden die Beweise dafür aus der Biologie angeführt. Im III. Teil (psychologische Entwicklung) folgt (Kap. 10—15) eine genetischo Ansicht über den Fortschritt der Geistesentwicklung in ihren Haupt- stadien, Gedächtnis, Association, Aufmerksamkeit, Denken, Selbatbewusstsein, Wollen. Der IV. Teil (Kap. 16) enthält schliesslich eine allyemeine Synthese nebst einigen Bedenken über sozialen Fortschritt, die sich aus dem Vorangehenden ergeben. Die Darstellungsweise des Ganzen ist dermassen gehalten, dass die Theorie sich durch Induktion auf Thatsachen, die vorweg genommen werden, gründet und dann durch von den Thatsachen abgeleitete Deduktionen, die darauf folgen, bestätigt wird. Wir verlangen einen Abriss des normalen kindlichen Seelenzustandes, um die Ab- weichungen des geistesschwachen feststellen und verstehen zu können. Das vorliegende Werk bietet uns die weitzehendsten Aufschlüsse über das Seelenleben des Kindes in wissenschaftlicher, erschliessender Darstellung und wird uns bei unserem Studium des Kindes gute Dienste zu leisten vermögen; wir wünschen daher dem Buche weite Ver- breitung auch in unsern Kreisen.

Die Heilerziehungs- und Pflegeanstalten für sch wachbefähigta Kinder, Idioten und Epileptiker in Deutschlaud und den übrigen euro- päischen Staaten. Eine statistische Zusammenstellung unter Mitwirkung vou Oberlehrer J. P. Gerhardt nach authentischen Mitteilungen herausgegeben und der Konferenz zu Elberfelde gewidmet von P. Stritter, Dir. d. Alsterdorfer Anstalten. Mit einem Porträt von Pastor DDr. Sengelmann und einer Über- sichtskarte. Hamburg 1902. Agentur des Rauhen Hauses. Preis Mk. 2.50.

Das 140 Seiten umfassende Buch bildet die Fortsetzung der 1874 von Dr. Laehr herausgegebenen Statistik der „Idioten-Anstalten Deutschlands und der benachbarten deutschen Länder“, welche‘ später (1889) von DDr. Sengelmann fortgeführt und der „Konferenz für das Idiotenwesen* gewidmet wurde. Der Nachfolger Sengelmanns, P. Stritter, hat nun im Verein mit dem Oberlehrer an den Alsterdorfer Anstalten J. P. Gerhardt diese Statistik fortgesetzt, und die Agentur des Rauhen Hauses bietet jetzt dieselbe, welche bisher nur für den Fachgenossen der Herausgeber be- stimmt erschien, einem grossen Publikum dar. Für den Fachmann ist die vor- liegende Schrift ein unentbehrliches Handbuch zur Orientierung über die bestehenden Heilerziehungs- und Pflegeanstalten Schwachsinniger und Epileptischer im deutschen Vuterlande. Gewährt es doch in kurzer Form einen gründlichen Einblick in die Ein- richtung, den Charakter und den jeweiligen Bestand einer Anstalt; zugleich berück- sichtigt es die Geschichte desselben und erleichtert durch Angabe der Post- und Bahn- station eins schnelle Auffindung. Die Aufnahme vun über 100 ausserdeutschen An- stalten in allerdings wesentlich kürzerer Ausführung gestattet einen Blick in die Idiotenfürsorge anderer Kulturländer. Durch die Beigabe einer Übersichtkarte der deutschen. Anstalten und des Bildnisses Sengelmanns, sowie durch die ganze übrige

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geschmackvolle Ausstattung und den billigen Preis hat sich die Verlagsbuchhandlung bemüht, dem Büchlein den Weg in die Welt möglichst zu ebnen. Ausser den Fachleuten sei dieses Werkchen allen Behörden, Juristen, Ärzten, Geistlichen und Lehrern, welche ein Interesse an socialpolitischen Bestrebunehmegen nn, empfohlen. Vielen Eltern dürfte es ebenfalls ein geschätzter Ratgeber sein.

Bekanntmachung.

Offene katholische Lehrerinnenstelle.

An der paritätischen städtischen Hilfsschule für schwachbegabte Schüler ist eine katholische Lehrerinnenstelle baldigst zu besetzen. Erwünscht ist, dass die Lehrerin mit der Behandlung der Kinder mit Sprachgebrechen vertraut ist.

Grundgehalt 1300 Mk., Mietsentschädigung 300 Mk., Alterszulagen 100 Mk. Bei einstweiliger Anstellung 1040 Mk. Jahresgehalt und Mietsentschädigung.

Umzugskosten werden nicht erstattet.

Meldungen mit Lebenslauf und beglaubigten Zeugnis-Abschriften sind binnen 2 Wochen unter der Adresse: „An die Königliche Kreis- und Stadtschul- inspektion Barmen, Wegnerstrasse 3,“ einzusenden.

Barmen, den 16. Februar 1903, Die städtische Sehuldeputation.

Briefkasten.

R. MN. i K. und Dr. med. K. i. St. Einzelne Nummern aus früheren Jahrgängen, wie auch diese selbst, können Sie auch direkt bei der Schriftleitung bestellen. Von dem Jahre 1886 an sind noch vollständige Jahrgänge vorrätig, aus den vorhergehenden Jahren besitzen wir nur noch einzelne Nummern. Dir, R. i. k. Sie schreiben an die Schrift- leitung immer noch unter der früheren Adresse, obgleich dieselbe schon vor beinahe drei Jahren eine andere geworden und auf jeder Nummer der Zeitschrift angegeben ist. Wenn Sie fortfahren, Ihre Sendungen nach Dr.-Neustadt, Oppellstrasse 44b anstatt nach Dr.- Altstadt oder Dr.-Strehlen, Residenzstrasse 27 zu richten, müssen Sie auch immer mit einer verspäteten Bestellung rechnen. &.L. I.W Nach Mainz werden wir wohl schwerlich kommen, aber trotzdem wird unser Blatt ausführlich über den Verbands berichten. Vielleicht findet eine der nächsten Tagungen in unserer Nähe statt. A. S i. & Ihre Barsendung ist im Dezember hier eingegangen und darauf hin erhielten Sie No. 1 zugeschickt. Eine besondere Empfangsbestätigung in jedem Falle beizulegen, war bisher nicht üblich, es wurde eine solche auch nur dann verlangt, wenn dieselbe als Beleg bei einer Rechnungslegung von nöten war. W. i. G., P. I. F. i. St., H. M. i. G., E. W.i. |., Dir. G. i. L, P. i. L., H. i. B. Erhalten. Dr. K. R. i. L. Sehr dankbar würden wir Ihnen sein, wenn Sie uns die Berichte über die dortige Hilfsschule regelmässig zu- gehen lassen wollten. Die meisten Anstalten tun dies seit Jahren schon, von den Hilfs- schulen erfahren wir verbältnismässig wenig. A. H. i. B. Der von Ihnen geschilderte Fall ist so interessant, dass wir uns veranlasst fühlten, ihn in dieser Nummer schon be- kannt zu geben. Vor ungefähr 25 Jahren passierte uns etwas Ähnliches, indem ein für kewöhnlich sprachloser Knabe zu sprechen anfing, wenn er in Aufregung kam. Ihren Wunsch nach weiterer Mitteilung solcher Fälle teilen wir, und sehr gern stellen wir hierzu auch unsere Zeitschrift zur Verfügung. F. F. i. St. Unser „Idiotophilus“ ist uns infolge Ausleihens abhanden gekommen, und darum sind wir auch in diesem Augen- P z der Lage, Ihre Frage zu beantworten. Nächstens aber erhalten Sie brief- iche Auskunft.

Inhnit. Das Auswendigschreiben als Mittel der Sprachbildung Schwachsinniger. (Wehle). Aus der Unterrichtspraxis. (Z.) Ein verkanntes Kind. (G. Büttner). Mitteilungen: Leschnitz, Sachsen, Borna, Grossherzogtum Hessen, Grünberg, (Schl.) Hirschberg, (Schl.), Langenhagen, Worms. Literatur: Die Entwicklung des Geistes beim Kinde und bei der Rasse. Die Heilerziehungs- und Pflegeanstalten. Bekannt- machung. Briefkasten.

Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden, Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. Druck von Johannes Pässler in Dresden.

Nr. 4. XIX. í

Zeitschrift

für die

Behandlung SChWachsinniger und Eilepisher |

Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Spezialarzt Dresden - Strehlen, für Nervenkrankheiten Residenastrasse 37. in Stuttgart. Ersoheint jährlich in 12 Nummern von ' Zu beziehen durch alle Buchhandlungen mindestens einem Bogen. Anzeigen für Ä A il 1903 : and Postämter, wie auch direkt von der die gespaltene Petitzelle 25 Pfg. Lite- pr ° | Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark,

rarische Bellagen 6 Mark. einzelne Nummer 50 Pfg.

Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

Unterrichtliche Spaziergänge mit Schülern der Hilfsschule. Von Th. Fuhrmann - Breslau.

Die unterrichtlicben Spaziergänge sind im Bereiche der Pädagogik seit langem keine Neuheit mehr, wenn sie auch in unsern deutschen Volksschulen verhältnismässig selten Anwendung finden. Es erscheint ja auch, namentlich bei den Schülern der Landschulen, eine planmässig geordnete Einführung in die Kenntnis der Natur der Umgebung des Schulortes vielfach erübrigt, da die länd- lichen Verhältnisse selbst eine solche Kenntnis, wenn auch nicht in geordneter Weise, vermitteln. Anders verhält es sich hierbei bei den Kindern grösserer Städte, von denen sehr viele niemals oder nur sehr selten in die freie Natur kommen und dann auch nur vom Zufall oder der Laune ihrer Angehörigen ge- leitet und mit ganz andern Zielen und Zwecken, als sie das Schulinteresse wünschen muss. Für die Schüler unserer Hilfsschulen treffen diese Umstände in noch höherem Masse zu als bei den normalen Schülern der Volksschulen. Aus diesem Grunde erscheint die planmässige Durchführung unterrichtlicher Spaziergänge für diese Schüler besonders berechtigt und wünschenswert.

Die nicht zu unterschätzenden verschiedenen Schwierigkeiten, mit denen die Abhaltung unterrichtlicher Spaziergänge naturgemäss bei den Schülern der Hilfsschulen verknüpft ist, sind wohl die Ursache, dass dieselben noch nicht an allen deutschen Hilfsschulen angetroffen werden.

Der Verfasser begann vor fünf Jahren auf Anregung des Stadtschul- inspektors Herrn Dr. Handloss mit der Abhaltung unterrichtlicher Spaziergänge. Dieselben finden jeden Monat einmal an einem bestimmten Tage statt, so dass im ganzen Jahr nach Abzug des Ferienmonats Juli etwa 10—11 solcher

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Spaziergänge abgehalten werden, von denen einer der in die Sommermonate fallenden zugleich der mehr dem Spiel und der Erholung gewidmete Schul- ausflug in die weitere Umgebung der Stadt ist. Nur Regenwetter im Sommer und starke Kälte im Winter verhindert die Ausführung der unterrichtlichen Spaziergänge. In den ersten Jahren wurden nur die beiden letzten Unterrichts- stunden des betreffenden Schultages zum Spaziergang benutzt, und die Schüler hatten in den beiden ersten Stunden den vorgeschriebenen Unterricht, nur mit der Änderung, dass in der letzten halben Stunde ein Überblick über die im bevorstehenden Spaziergang zu besuchenden Teile der Stadt, ihre Sehenswäürdig- keiten oder sonstige in Betracht kommende Punkte gegeben wurde. Die Schüler nahmen dann ihre Schulsachen auf den Spaziergang mit, da eine Rückkehr zur Schule nicht mehr erfolgen konnte. In den letzten Jahren ist eine Änderung hierin insofern erfolgt, als die Kinder die Schulsachen an dem Tage des Schul- spaziergangs nicht mehr mitbringen, da sich diese als eine unnötige Belastung für die durch den mehrstündigen Spaziergang so wie so angestrengten Kinder herausstellten. Die Schüler erhalten in den ersten Stunden des betreffenden Tages nnr mündlichen Unterricht. Bei weiter ausgedehnten Spaziergängen wird nunmehr auch schon nach der ersten Unterrichtsstunde aufgebrochen. Auf dem Wege gehen die Schüler paarweise hintereinander und treten um den Lehrer herum, wenn Erklärungen gegeben werden sollen.

Die Lage der Hilfsschule V. (an der Promenade und in der Nähe der Oder und verschiedener sehenswerter Kirchen und Gebäude, sowie des Ringes) ist für die unterrichtlichen Spaziergänge sehr günstig, denn es sind durch dieselbe eine grössere Anzahl von Zielpunkten gegeben, die auf verschiedenen Wegen erreicht werden können und eine Fülle von interessantem und gutem Anschauungs- material bieten. Es seien hier die wichtigsten der in Frage kommenden Ziele und Wege in Kürze angegeben:

1. Die Promenade mit ihren mannigfachen Schmuckanlagen vom Dampfer- halteplatz über die Holteihöhe zur Liebichshöhe. Besteigen der letzteren.

2. Die innere Stadt, der Ring, das Rathaus, die Magdalenen- und Elisabeth- kirche, der Blücherplatz, die Denkmäler auf dem Ringe und Blücherplatze.

3. Der Neumarkt mit seinem Marktleben, der Ritterplatz und seine be- merkenswerten Gebäude und Denkmäler, die Sand-, Kreuz- und Domkirche.

4. Der botanische Garten.

5. Weg auf dem linken Oderufer von der Lessingbrücke an, Treidelsteg, Dampfüberfähre, Schiffahrtsverkehr auf der Oder, die Ohle und ihre Mündung, die Häfen, das Wasserhebewerk, das Überflutungsgebiet der Ohle am Weidendamm.

6. Die Sandvorstadt, der Waschteich und die noch unbebaute Gegend bis zur alten Oder, der Kanal und seine Schleusen.

7. Die Odervorstadt, der Bahnhof der Kleinbahn nach Trebnitz, die Gröschelbrücke über die alte Oder, der Hatzfeldtweg bis zur Trebnitzer Brücke.

8. Rechtes Oderufer von der Lessingbrücke an, die Uferstrasse, die Luther- kirche, der Kanalanfang bis zur Passbrücke und zum Scheitniger Park, ältere Teile des letzteren.

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9. Neue Teile des Scheitniger Parks, der botanische Schulgarten.

10. Süden der Stadt, Kaiser Wilhelm-Denkmal, Zentralbabnhof, Garten- strasse, Museum und Kaiser Friedrich-Denkmal, Exerzierplatz und Königl. Schloss.

11. Besuch des Kunstgewerbemuseums.

Im allgemeinen kann gesagt werden, dass das Aufsehen, welches ein Zug unsrer Schüler auf den verkehrsreichen Strassen erregt, immerhin nicht allzu- gross ist, und dass auch unliebsame fremde Zuhörer bei den Erklärungen und Belehrungen nur selten zu bemerken waren. Störungen irgend welcher Art sind auch bei den ins Freie führenden Ausflügen noch nicht eingetreten, wenn auch natürlich sehr oft neugierige oder verwunderte Blicke die scheinbaren Müssig- gänger streifen. Sehr erwünscht ist es, wenn sich auf den Spaziergängen für die Kinder Gelegenheit bietet, das mitgenommene Frühstücksbrot zu verzehren. Falls hierzu der Voraussicht nach keine Gelegenheit sein sollte (wie z. B. bei dem Besuche des Kunstgewerbemuseums), muss das Frühstück noch in der Schule gegessen werden. Ebenfalls von Vorteil ist es, wenn die Kinder auf dem Spaziergang einige Minuten auf Bänken oder im Freien im Grase sich ausruhen können. Freilich pflegt dieses Ausruhen nur ein sehr kurzes zu sein, da namentlich im Freien die Gelegenheit meist alsbald benutzt wird, um irgend ein Bewegungsspiel zu beginnen.

Das Betragen der Kinder bei den Spaziergängen und Ausflügen ist nicht immer und bei allen Kindern ein gutes. Das Ungewohnte der ganzen Verhält- nisse, die bei einem solchen Gange in Betracht kommen, die einmal unvermeidlich damit verbundene Lockerung der Schuldisziplin, die mannigfachen Ablenkungen für die Aufmerksamkeit auf dem Wege, die vielfache Ungleichheit in der Be- wegung der körperlich so verschiedenen Kinder und noch so mancher andre Umstand sind hierbei von grossem Einfluss und geben den Anlass zu Ungezogen- heiten und Störungen seitens der Kinder und zu mancher ärgerlichen Erregung für den Lehrer. Ganz besonders treten solche Ungezogenheiten und Störungen auf, wenn sich unter den Kindern boshafte, der Verwahrlosung bereits anheim- gefallene oder ihr anheimzufallen drohende Kinder befinden, wie es solche zeit- weise in jeder Hilfsschule geben dürfte. Diese Kinder sind es dann, welche besonders auf dem Rückwege so viel Grund zu Tadel geben, dass sich kaum ein anderer Ausweg zeigt, als sie bei späteren Spaziergängen von der Teilnahme auszuschliessen.

Die durchschnittliche Dauer eines unterrichtlichen Spazierganges beträgt 2—2!/, Stunden, in Ausnahmefällen 3 Stunden. Die Kinder werden vom Lehrer wieder bis in die Nähe der Schule zurückgeführt und erst dort entlassen. Solche Kinder jedoch, die erst einen Umweg zu machen hätten, wenn sie, anstatt von dem Rückwege direkt in ihre Wohnung zu gehen, erst wieder zur Schule mit- kommen müssten, können schon unterwegs nach Hause entlassen werden, voraus- gesetzt, dass sie den Weg genau kennen. Bei der vorhin angegebenen Dauer eines Spazierganges kommen die Kinder ungefähr zu derselben Zeit nach Hause wie an den gewöhnlichen Schultagen. Der Rückweg ist übrigens, wenn derselbe zu Fuss zurückgelegt wird, der bei weitem schwierigere und unangenehmere

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Teil eines unterrichtlichen Spazierganges. Die Kinder sind mehr oder weniger ermüdet und müssen nun denselben Weg zurückgehen, den sie vor kurzem frisch und munter zurückgelegt haben. Da entsteht durch zu langsames Gehen oder Stehenbleiben einzelner Schüler, die nicht mehr so schnell fortkönnen, alle Augenblicke eine Unordnung im Zuge, so dass der Lehrer nur mit Mühe die Kinder zusammenhalten kann. Aus diesen Gründen ist es dringend zu wünschen, dass auf dem Rückwege wenigstens bei den weiteren Spaziergängen eine Fahr- gelegenheit benutzt werden möchte. Gelegenheit hierzu würden überall die ver- schiedenen Linien der elektrischen Strassenbahn bieten, leider aber nicht um- sonst, so dass bei der grossen Armut der meisten unserer Schüler nur da eine solche Benutzung möglich ist, wo die daukenswerte Fürsorge der Schulverwaltung aus städtischen Mitteln einen kleinen Geldbeitrag für die Schülerausflüge ge- währt hat.

Bis jetzt sind die an der Hilfsschule V unternommenen Schulspaziergänge ohne Unglücksfälle oder unliebsame Vorkommnisse verlaufen, so dass hieraus ein Grund gegen die Abhaltung von Spaziergängen nicht herzuleiten ist.

Der aus den unterrichtlichen Spaziergängen hervorgehende Nutzen ist zwar nicht ein solcher, der sich wägen und messen lässt, ist jedoch ganz sicher vor- handen. Dies ist klar ersichtlich aus der Teilnahme der Kinder an allem Sehenswerten auf den Spaziergängen, aus ihren Antworten auf die hier und später im Unterricht an sie gestellten Fragen und aus den von ihnen selbst bemerkten und dem Lehrer alsbald mitgeteilten Beobachtungen. So machte z. B. ein Knabe, der Berge in Wirklichkeit noch nicht gesehen hatte und diese nur vom Unterrichte aus Abbildungen kannte, auf die am Horizonte unbeweglich aufgetürmten Wolkenmassen aufmerksam und sagte, dieselben sähen aus wie Berge, was in der Tat der Fall war. Dass jeder Spaziergang den Anschauungs- kreis der Kinder erweitert, ihre Auffassungs- und Beobachtungskraft steigert, ihre Empfänglichkeit für die Schönheit der Natur in jeder Jahreszeit anregt, dürfte jedem Lehrer, der Schulspaziergänge unternimmt, als ein wichtiger Grund, der für die Spaziergänge spricht, bald klar werden. Auch ein ethisches Moment kann bei den Spaziergängen, sofern sie ins Freie führen, vom Lehrer benutzt werden: es bieten sich oft Gelegenheiten, die Kinder zur Schonung der Pflanzen- und Tierwelt anzuhalten, sie vor Tierquälereien zu warnen und ihnen Mitgefühl mit der belebten Natur einzuflössen.

Einer der im Sommerhalbjahr unternommenen Spaziergänge trägt, wie schon erwähnt, den Charakter eines Schulausfluges und wird unternommen, um allen Schülern der ersten und den älteren Schülern der zweiten Klasse plan- mässig die Kenntnis der weiteren Umgebung unserer Stadt zu vermitteln. Für diese Schulausflüge ist seitens der städtischen Schulbehörde ein kleiner Beitrag alljährlich ausgeworfen, der für die armen Schüler (zu denen aber beinahe alle Schüler gehören) verwendet wird. Ein solcher Schulausflug wird von der Schule aus unternommen und dauert gewöhnlich von 8 oder 9 Uhr früh bis 3 oder 4 Uhr nachmittags. Die Kinder gehen zu Fuss nach dem Bestimmungsorte und kehren dann von dort entweder mit der elektrischen Balın oder dem Dampfer

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zurück. Bis jetzt wurden solche Ausflüge unternommen 1. nach dem Südpark und dem Kinderzobten, 2. nach dem Eichenpark von Pöpelwitz, 3. nach Oswitz, der Kapelle und der Schwedenschanze und 4. nach Wilhelmshafen und der Strachate. Die beiden hiesigen Dampfergesellschaften bewilligten auf Nach- suchen des Verfassers gern freie Rückfahrt für alle Teilnehmer. Da die Eltern und Angehörigen an diesen Ausflügen ebensowenig wie an den unterrichtlichen Spaziergängen teilnehmen eine Ausnahme macht nur der Besuch des zoolo- gischen Gartens —, so liegt die gesamte Beaufsichtigung und Sorge für die Teilnahme nur dem Lehrer ob. Jedoch kann hier mit Freude festgestellt werden, dass auch die weiteren Schulausflüge gut und ohne jeden Unfall ver- laufen sind und zwar einen ziemlich anstrengenden Tag für den Lehrer bildeten, für die Schüler jedoch eine Quelle so grosser Freude und ihnen zum Teil noch nie gewordener Genüsse bildeten wie z. B. der Dampferfahrten —, so dass grade diese Schulausflüge in die weitere Umgebung einen hervorragenden Platz unter den unterrichtlichen Spaziergängen behaupten und sorgsame Pflege in der Hilfsschule verdienen.

Wenn auch die obigen Ausführungen nur die Erfahrung weniger Jahre und an einer Schule darstellen, so sei dem Verfasser doch am Schlusse derselben der Wunsch gestattet, dass recht viele Lehrer an solchen Hilfsschulen, an denen für die Spaziergänge ähnliche günstige Verhältnisse vorhanden sind, wie an der in Rede stehenden Schule, einmal einen Versuch mit der Veranstaltung von unterrichtlichen Schulspaziergängen sowohl, wie auch von Schulausflägen machen möchten. Sie werden dann sicher auch zu Freunden dieser Einrichtung werden.

Wir Werdenden....

Von K. Ziegler, Idstein. Mein lieber Andreas!

Die edle Begeisterung und der warme Eifer, mit denen Du in Deinem letzten Briefe von Deinem neuen Wirken unter den Schwachen und Armen schriebst, haben meinem alten Herzen wohlgetan. So ist's recht! Mit fröhlichem Mut und mit ganzer Seele hinein in die Sache, der man sich einmal zugewandt hat, auch wenn in ihr nicht eitel Gold und Freude glänzt. Das trägt einen leicht über manche bittere Er- fahrung und herbe Enttäuschung hinweg, und der junge, hoffnungsfrohe Glaube, an dem später noch manche Stürme rütteln werden, kann herzhaft festen Boden fassen. Ha, was war ich damals, als ich, wie Du, in der ..... er Anstalt zum erstenmal meinen Spaten auf das dürre Erdreich unseres Arbeitsfeldes setzte, ein schaffenstoller Brausekopf, voll der höchsten Ideale, die wie schwellende Lavafluten Herz und Kopf durchglühten! Mit einem Meer von Liebe wollte ich das kleine Häuflein Kinder, das man mir anvertraute, überschütten und in die wüste, leere Nacht ihres Geistes wie der Herr an jenem ersten Schöpfungsmorgen ein allmächtiges: „Es werde Licht!“ rufen. Und heute? Doch Du brauchst Dich nicht an einen ausgetrockneten Graukopf zu kehren, den eben auch, wie so viele andere, das Alter mürbe gemacht hat, und der jetzt mit einem Sack voll kluger, dürrer Erfahrungen und mit viel, viel

54 Staub und Sand in den Augen sich still von seinem Wirkungskreise hinwegschleicht und an einem verborgenen Erdenwinkel sein letztes Stündlein erwartet. Gewiss, ein sorgloses, heiteres Herz, das noch mit raschen Schlägen an die Brust klopft, ist das Vorrecht Deiner Jugend, und wenn von diesem Herzen ein lachender Kinderglaube durch alle Adern rinnt, der die ganze Welt meint überwinden zu können, so braucht sie sich dessen nicht zu schämen. Und wenn die hohen Hoffnungen und Jugend- träume mit dem Alter auch nicht zur Reife gelangen, so haben sie doch im Gemüte gewurzelt und die guten Lebenssäfte in steter Zirkulation erhalten und dadurch das Innenleben vertieft, erweitert und veredelt.

Du magst nun ahnen, lieber Andreas, mit welchen Gefühlen ich Deinen „Hymnus“‘ anhören würde, der sich Dir beim Blick auf das, was meine vollwichtige Persönlichkeit für die Schwächsten und Geringsten getan hat, auf die Lippen drängen möchte. Du meinst es ja gewiss recht gut, aber hier würde Dir Deine jugendliche, voreilige Be- geisterung doch einen gar zu törichten Streich gespielt haben. So dicht und üppig wuchsen die Lorbeeren an meinem J,ebens- und Arbeitswege keineswegs, wie Deine Phantasie Dir vormalen will, und ausruhen lässt sich auf denselhen erst recht nicht. Ich bin herzlich zufrieden, dass ich durch das Distel- und Dorngestrüpp, an dem der Acker unseres Wirkens so reich ist, und durch die wüsten, sandigen Einöden, die ich nicht selten passieren musste, ohne ernsteren Leibes- und Seelenschaden hindurch- gekommen bin, und was mein Tun und Schaffen betrifft, das ich mir allerdings oft recht sauer habe werden lassen: ja du liebe Zeit, wo im grossen Welten- und Menschenlaufe merkt man etwas davon, und wer könnte mir heute etwas Bleibendes, Positives davon zeigen?! Es war ja meist nur ein zartes, flüchtiges und zudem krankes Keimen, was ich zu schützen hatte, dem nur selten ein kurzer Sommer, ge- wöhnlich aber ein rauher Herbst und ein kalter Winter folgte, und von reifen Ähren, die sonst den Schweiss des Landmannes belohnen, durfte ich herzlich wenig erblicken. Aber selbst wenn es etwas Grosses gewesen wäre, was ich im Leben zu stande brachte, hätte, wenn nicht ich „zufälligerweise‘“ von der Vorsehung an diesen Platz gestellt worden wäre, nicht jeder beliebige andere an meiner Stelle genau dasselbe viel- leicht noch Besseres vollbringen können? Warum also sich in die Brust werfen und mit selbstgefälligem Lächeln und bedeutsamem Augenaufschlag an ein „Lebens- werk“ zurückdenken, bei dem einem nur die grosse Ehre zu teil wurde, als „Aufseher‘ das Werden desselben überwachen zu dürfen, und wobei man eben auch weiter nichts als seine Pflicht getan hat!

Mir fällt da eine kleine Geschichte aus meiner Jugend ein, die ich Dir erzählen muss. Hinter dem Hause, das meine Eltern bewohnten, lag ein kleiner Hof. Hier entspross an einer geschützten Stelle inmitten wuchernden Unkrautes eine junge Fichte, die jedenfalls vom Wind gesät worden war. Als ich sie, ein kleiner Bursche, zum erstenmal entdeckte, überragte sie schon um ein Beträchtliches das zudringliche Ge sindel, von dem sie dicht umgeben war, und mit leuchtenden Blicken staunte ich das seltene Pflanzenwunder an. Diese platonische Bewunderung dauerte jedoch nicht gar zu lange; das schlanke, dünne Stämmchen mit seinem zierlichen Nadelkrönchen dünkte mich zu Höherem, Nützlicherem bestimmt zu sein, und schon wollte die kleine, ver- brecherische Hand zugreifen, um das zarte Tännchen abzureissen. Da autsch!

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fühlte ich einen heftigen, brennenden Schmerz an meinen Fingern und lief heulend und klagend davon. „Zufälligerweise‘“ hatten sich unter dem Unkraut auch Brenn- nesseln befunden, die auf diese Weise zu den Beschützern ihres grünen Kameraden geworden waren.

Nach einigen Wochen, als meine Mutter im Hofe Wäsche trocknete, zeigte ich ihr das kleine Bäumchen, das ich seit jenem Vorfalle ganz vergessen hatte, und empfing nun die nötige Belehrung, der auch die entsprechenden Mahnungen und Rat- schläge bezüglich der Verpflegung de3 Bäumchens nicht fehlten. Wie war ich nun stolz auf „meine“ Tanne, and wie wollte ich sie schützen und hegen, und wie schön malte ich es mir aus, wein ich einmal später im Schatten „meines“ Baumes für Papa und Mama ein Bänkchen zimmern würde, just so, wie drüben in des Nachbars Garten eines stand.

Mit der Verpflegung meines neuen Schützlings nahm ich es recht ernst. Schon nach etlichen Tagen beschäftigte ich mich mit dem Gedanken, das Tännchen von seinen lästigen Nachbarn zu befreien. Aber wie? Mit den Brennesseln hatte ich bereits schlimme Bekanntschaft gemacht, ich musste mich also eines Werkzeuges be- dienen. In der Nähe lag die grosse Gartenhacke, die aber meine kleinen Händchen nur mit Mühe umfassen, geschweige denn beim Gebrauche sicher führen konnten, Jedoch, was hinderts! Wupp, wupp ging es mit unbeholfenen, aber energischen Schlägen dem Unkraut zu Leibe. Wupp, wupp nnr noch ein Kleines, und meiu Tannenbäumchen wäre von meinen Hieben zu Tode getroffen am Boden gelegen; nur das „zufällige“ Erscheinen meiner grösseren Schwester verhinderte das drohende Unglück.

Die Tanne und ich, wir wuchsen miteinander um die Wette. Schon hatte sie mich an Leibeslänge überflügelt, da beschenkte mich eines Tages ein Onkel, der auf Besuch zu uns gekommen war, mit einem Messer das erste Messer! Dies und die kleine Tanne, die waren gerade für einander geschaffen. Das Messerchen schnitt vorzüglich: wutsch, wutsch —- wie die Ästlein und Zweiglein fielen! Unser Gärtner hatte im Frühjahr die Apfel- und Birnbäume ja auch beschnitten, das soll sehr zur Beförderung ihres Wachstums beitragen, also „man tu!“ „Au, au!“ mein rechtes Obr wurde unsanft nach allen Himmelsrichtungen hin- und hergezerrt. Drohend stand mein Vater hinter mir; „zufällig“ war er über den Hof gegangen und hatte just den günstigen Augenblick getroffen, das Bäumchen aus den Händen seines Beschützers zu erretten.

Nur langsam erholte es sich von seinem Schaden. Da drohte ihm eines Tages von fremder Seite Gefahr. Gassenkameraden, mit denen ich augenblicklich auf Kriegs- fuss lebte, waren in den Hof gedrungen und umstanden mit drohenden Gebärden und schadenfrohen Mienen meinen schwachen, wehrlosen Schützliing. Hoch oben vom Speicherfenster hatte ich die gefährliche Situation erblickt, ohne in diesem kritischen Augenblick selbst tätig eingreifen zu können. © weh, dachte ich, und lief mit fiiegender Hast die Treppen hinunter, nichts anderes erwartend, als dass die befürchtete Kutastrophe wohl schon eingetreten und mein Bäumchen aus dem Boden gerissen oder abgeschnitten worden sei. Aber wie erstaunte ich! Von jenen Gassenjungen war weit und breit nichts mehr zu sehen, und heil und gesund schaukelte mein

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Bäumchen im Winde. Ohne mein Zutun war es aus einer Gefahr errettet worden, die nach meinem Ermessen ihm hätte den Untergang bringen müssen.

Und so ging es weiter. Unter dieser meiner Wachsamkeit und Fürsorge wuchs das Bäumlein lustig heran und wurde später eine stattliche Tanne. Du kennst sie ja auch, lieber Andreas, wie sie heute mit ihrer dunkelgrünen, mächtigen Gestalt und mit ihren gewaltigen Ästen mitten aus meinem Heimatdörfchen emporragt und wie ein schützendes Wahrzeichen die kleine Häusergruppe beherrscht: meine Tanne, mein Werk! Oder nicht?

Du verstehst mich, und ich brauche Dir keine lange Deutung zu geben. Genau dieselben Gefühle, mit denen ich jetzt manchmal abends, wenn jene alte Geschichte in mir lebendig wird, zu der Tanne aufblicke, erfüllen mich bei der Erinnerung an das, was ich während der Zeit meines Wirkens für unsere schwachen Kinder getan habe. Demut, nur Demut und Bescheidenheit kann es sein, was in solchen Augen- blicken den Grund meines Herzens bewegt, und zwar habe ich diese Demut nicht erst hintennach und an meiner aus der Jugendzeit wieder erwachten Tannengeschichte gelernt, sondern diese Demut eben ist die köstlichste Frucht and der bedeutsamste Erfolg, die mir aus meiner Lebensarbeit herauswuchsen, und wer mich heute nach meinem Werke fragte, dem müsste ich jene Anstalt, die vor meinen Augen und unter meiner Aufsicht sich entwickelte, zeigen mit den Worten: Dies ist die Schule, durch die ich hindurch musste, um ein Mensch zu werden, und in der ich lernte, demütig zu sein; die Werkstätte, in der meine Seele ausgebaut wurde.

Ja, mein lieber Andreas, so ist es: Indem wir zu schieben glauben, werden wir geschoben, und indem wir meinen, an der Erfüllung einer T,ebensaufgabe zu arbeiten, hat das Schicksal uns auf seine Töpferscheibe gesetzt und dreht und modelt und er- zieht an dem Kern unseres Wesens, dass es ein fein hübsches und wohlgefälliges Werk werde. Solche Töpferscheiben gibt es gar viele in der Menschenwelt, sitzt doch jeder auf seiner eigenen, die immer genau für ihn eingerichtet ist und dazu passt, speziell seine Individualität herauszubilden und zu veredeln. Ich glaube aber, eine der vor- nehmsten Werkstätten, in der am schärfsten sondiert und am feinsten geschliffen wird, ist diejenige, in welche wir Erzieher von der Vorsehung geschickt werden. Das wusste schon der biedere Salzmann; Du kennst ja sein Ameisenbüchlein, woselbst er in dem Briefe an Johannes den Gedanken ausführt, dass, wenn wir uns ernstlich be- streben, unsere Pfiegebefohlenen zu erziehen, wir selbst veredelt werden. Ja selbst der grösste Menschenkenner unseres Volkes, Goethe, gibt an einer Stelle seines „Wilhelm Meister“ dieser Wahrheit Ausdruck, indem er ungefähr sagt: Was die Frauen an uns zu bilden übrig lassen, das werden die Kinder bilden. Diesem möchte ich aber noch hinzufügen (und ich hoffe, es Dir in der Folge zeigen zu können), dass unter allen Erziehungsgeschäften die Arbeit an den Schwachen und Geringen in be- sonderem Masse eine veredelnde Rückwirkung auf den Erzieher auszuüben vermag, vorausgesetzt, dass dieser seine Aufgabe nicht als totes Handwerk betrachtet, sondern mit ernstem Eifer auffasst. Ich wenigstens habo das an mir selbst recht oft er- fahren müssen, und gar manche scharfe Kante, manche verletzende Ecke meines Wesens wurde mir im Verkehr mit den Schwächsten der Schwachen abgeschliffen, ja solche, die ich früher nicht einmal kannte, kamen mir hier erst zum Bewusstsein.

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Dass hochfahrender Sinn und elhrgeiziges Streben, mit glänzenden Leistungen vor einer beifallspendenden Öffentlichkeit zu prunken, auf unserem Arbeitsfelde schlecht gedeihen, weiss jeder, der die Dürftigkeit und Unansehnlichkeit dieses Wirkens näher kennt. Da ist nichts, was fremde Bewunderer anlocken und die Aufmerksamkeit und lobende Anerkennung der Menge wecken könnte; leere und kranke Ähren auf schwachen ver- kümmerten Halmen: wer hätte bei der allgemeinen Jagd nach Glück und Genuss noch Herz und Gemüt für diese Verlassenen und Niedergetretenen am Wegesrand! Achtlos wälzt sich der breite Strom der Menge an ihnen vorüber und ebenso unbeachtet bleibt auch der Arbeiter, der sich barmherzig zu jenen Geringsten herabneigt, in seinem verborgenen Winkel stehen. Was könnte auch ein „Idiotenlehrer“ der grossen Welt da draussen bedeuten, die den Mann nur nach dem Titel wertet und vor jedem protzenden Geldsack kriechend auf die Kniee fällt! Die hat nur Sinn für das, was glänzt und Geschrei macht, über alles andere aber zuckt sie verächtlich die Achseln. Wie oft wollte ich in meiner jugendlichen Empfindlichkeit aufbrausen, wenn ich sah, wie manchmal Angehörige der sogenannten „besseren Stände“ mit dem Ausdruck des Mitleids oder schlecht verborgener Geringschätzung den Namen „Idiotenlehrer“ be- tonten, und wie selbst Leute von ganz iminderwertiger Bildung oft glaubten, mich fühlen lassen zu müssen, dass ich nur ein Lehrer Schwachsinniger sei. Heute lächle ich natürlich darüber. Denn die Menschen sehen und urteilen ja nur, wie sie’s ver- stehen, und wer wollte ihnen deshalb böse sein. Und eine angesehene soziale Stellung, ein Plätzlein in dem Stockwerk der sogenannten besseren und gebildeten Kreise brauchen wir ja gar nicht, das kann unseren Schwachen nichts nützen, und darum ist es gut so.

Auf der alleruntersten Stufe der langen Erziehungsleiter stehend, mag der Idiotenlehrer freilich manchmal in Versuchung geraten, mit unzufriedenen und neidischen Blicken nach den Sprossen über sich zu schielen, auf denen man mehr sieht und auch besser gesehen wird. Aber gerade der Umstand, dass sein stilles Verlangen nach Öffentlicher Anerkennung fast nie befriedigt wird, muss ihn anspornen, seine Augen immer mehr von dem äusseren Glanze abzuwenden und die Nichtigkeit solch eitlen Tandes verstehen zu lernen; die selbstsüchtigen Wünsche des eigenen Herzens zu bekämpfen und in ernstem Eifer nach der Fähigkeit reiner, selbstloser Hingabe an das Gute zu ringen; die Wertschätzung seiner Arbeit immer weniger bei andern, umsomehr aber in der eigenen Persönlichkeit zu suchen, wenn anders er nicht alle Lust und Liebe zu seinem Berufe verlieren will. Das Bestreben, nach aussen An- sehen und Einfluss zu gewinnen, macht seicht und oberflächlich, wie der Strom, der sich in immer grössere Breite verliert, an Kraft und Gefäll mehr und mehr abnimmt. Ist er aber von Natur in ein schmales, enges Bett gedrängt, so wird er sich vertiefen und auf starkem Rücken die schwersten Lasten tragen.

Überhaupt, der Hochmut des Menschengeschlechtes und das stolze Pochen auf die riesigen Fortschritte des menschlichen Geistes: wie lächerlich und töricht erscheint das, wenn man daneben tagtäglich an den Jammer und das Elend der Menschheit gemalınt wird, wie es z. B. in unseren Anstalten der Fall ist. Was sind all die Errungenschaften und Triumphe der menschlichen Intelligenz, wenn man ihnen die düsteren und unheimlichen Nachtseiten des Lebens entgegenhält! Wie viel soziale Not, wie viel sittlicher Schmutz und geistige Degeneration grinst uns aus den Akten

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und aus dem Leben der meisten unserer Kinder entgegen, und da sollte man noch herausfordernd das Haupt erheben und triumphierend auf unsere stolze Babel zeigen können? Ja, besitzen wir überhaupt eine solche? Gerade die ärztliche Wissenschaft hat während der letzten Jahrzehnte einen ungeahnten Aufschwung genommen und Entdeckung an Entdeckung, Erfindung an Erfindung gereiht. Und doch, was weiss sie uns Wahres und Richtiges zu sagen von jenem wunderbaren Gefäss des Geistes, jener kaum 3 Pfund schweren Nervenmasse, welche die kleine Schädelhöhle ausfüllt und in der sich die ganze ungeheure Welt des menschlichen Denkens, Fühlens und Wollens konzentriert? Hier ist ein Junge, unfähig, je einmal selbständig ins Leben hinauszutreten, aber mit einer Gedächtniskraft ausgerüstet, die das gewöhnliche Mass des normalen Menschen weit überragt; dort ein anderer, der weder schreiben, noch lesen, noch rechnen lernt, aber am Klavier eine Menge nicht leichter Musikstücke frei nach dem Gehör wiederzugeben vermag; und hier noch einer, in seinen Manieren und Geistesäusserungen beinah an den tierischen Blödsinn grenzend, und doch auf seine Art ein Zeichenkünstler mit entschiedenom Zeichentalent. Wunder über Wunder auch in dieser trübsten Atmosphäre menschlichen Seelenlebens, und wer gibt die Er- klärung dafür? Gewiss, über Planeten und Weltenkörper, die durch unendliche Räume von uns getrennt sind, wissen uns die Gelehrten mehr zu erzählen, als über die kleine Gehirnkugel, welche unseren eigenen Organismus belebt und regiert. Und mag der Scharfsinn unserer Forscher mit noch so viel Beharrlichkeit jenen innersten und letzten Vorgängen in der geheimnisvollen Seelenwerkstätte nachspüren, und möchte namentlich uns Schwachsinnigenlehrern oft das Herz vor Verlangen brennen, nur einmal einen klaren Blick in die Kompliziertheit und Verworrenheit der Vorstellungstätigkeit unserer Kinder zu werfen: demütig müssen wir uns mit der Unzulänglichkeit und Lücken- haftigkeit unseres psychologischen und psychiatrischen Erkennens bescheiden und uns durch diese Rätsel eben immer und immer wieder an die engen Grenzen unseres menschlichen Wissens und Könnens mahnen lassen.

Auch jener falsche Pädagogenstolz, der so gerne auf die Fortschritte des modernen Erziehungswesens pochen möchte, und in dessen Augen Psychologie, Didaktika und Methodika es schon so herrlich weit gebracht haben, findet auf dem Arbeitsfelde der Schwachsinnigenerziehung eine recht ernüchternde Abkühlung. Ich wenigstens musste das an mir selbst früh genug erfahren. Bepackt mit einem Sack voll papierener Weis- heiten und ausgerüstet mit den üblichen methodischen Künsten und Fertigkeiten betrat ich die Schwachsinnigenschule, wo ich in Anbetracht meines „psychologischen Scharfblickes* und meiner „praktischen Geschicklichkeit“, Attribute, die ich auf dem Boden der Normalschule in höchstem Masse erworben zu haben glaubte, Wunder der Lehrkunst zu vollbringen hoffte. Aber wie klein und gelemütigt stand ich bald vor meiner Klasse! Auf meine Fähigkeit, mit sicherem Verständnis auf die Denkweise und die seelischen Bedürfnisse der Kindesnatur einzugehen, hatte ich mir immer viel zu gute getan, und nun war ich meinen Kindern gegenüber gerade in diesem Punkte der reinste Stümper. Mit vielen ihrer psychischen Äusserungen wusste ich absolut nichts anzufangen, und das, was ich ihnen bot, würgten sie immer mit sichtlichem Unbehagen hinunter. Also ein gegenseitiges Sichnichtverstehen! Kann es etwas Schlimmeres für den Unterricht geben? Aber es war gut so! Unter den heftigen

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Stössen solcher und ähnlicher Erfahrungen brach die Selbstherrlichkeit meines päda- gogischen Wissens bald kläglich zusammen und machte einem neuen, besseren Erkennen Platz, das, obwohl in seinen Grundzügen klarer und gründlicher, doch nicht prunkte und protzte, sondern sich jederzeit bescheiden an seine engen Grenzen erinnern liess. Überhaupt habe ich auf diese Weise einen grossen Teil meiner Freude an dem be- stechenden Glanz klug ausgedachter Theorien verloren, dafür aber den wirklichen Wert der schlichten anspruchslosen Tat um so höher schätzen gelernt.

In anderen Beziehungen ging es mir nicht viel besser. Du kennst ja die Eigen- art unserer Familie: das vorwärtsdrängende Temperament, welches vor keinem Hinder- nis zurückschreckt; der nie rastende Feuereifer, der, erfüllt vom Bewusstsein seiner eigenen Kraft, überall durchdringen und rücksichtslos zum Ziele gelangen will; die harte, unbeugsame Energie, die nur ein Vorwärts, aber kein Rückwärts kennt an sich gar keine üblen Eigenschaften, die auch ich in hohem Masse auf den Lebens- weg mitbekommen hatte, mit denen ich aber bei meinen schwachen Kindern schlecht ankam. O weh, was gab es da zu kämpfen und zu ringen in ehrlicher Selbst- erkenntnis und ernster Selbstzucht! Das meiste, was ich anfasste, war nicht genug- sam überdacht und infolgedessen verkehrt, und das wenige, das mir hätte gelingen können, verdarb mir mein zügelloser Übereifer. Recht bald fühlte und erkannte ich auch hier, dass von der Schlichtheit und Einfältigkeit, die mit bescheidenem Sinne anfängt, geduldig warten kann und nicht ungestüm zufährt, im Unterricht auf meine Kinder eine still wirkende Kraft und ein verborgener Segen ausströmte, die ich früher bei höherem Eifer und bei mehr Schweiss fast immer vermisste. Und merkwürdig, diese unscheinbare Erfahrung, im engen Kreise meiner Kinder gefunden, bestätigte sich auch draussen in der Schule des Lebens. Auch da fand ich den Weg zum Herzen meiner Nächsten nie im Sturm, der die Felsen zerbrach, und nicht im Erdbeben, das die Leute zittern machte, und nicht im Feuer, das eigenmächtig alle Hindernisse auffressen und aus dem Wege räumen wollte, sondern im stillen, sanften Säuseln und so hab’ ich’s gehalten mein ferneres Leben hindurch und bin damit gut gefahren.

Freilich, lange dauerte es, bis ich zu dieser Gesinnung mich praktisch hindurch- gerungen hatte, und ohne viele schmerzliche Enttäuschungen über die Schwäche des eigenen Ichs ging es nicht ab. Du kannst Dir denken, wie schwer es gerade mir wurde, all die aufwallenden Affekte und leidenschaftlichen Gemütsbewegungen, zu denen unsere Arbeit im reichsten Masse Anlass gibt, die aber gerade hier von der unheil- vollsten und schädlichsten Wirkung sein können, niederzukämpfen und sie im Zaum zu halten. Wenn es im Unterricht absolut nicht vorwärts gehen wollte, wenn die Köpfe meiner Schüler selbst der geduldigsten, klarsten und anschaulichsten Arbeit hartnäckigen Widerstand leisteten, oder wenn das, was ich heute mit viel Mühe und Not in das Bewusstsein der Kinder gebracht hatte, am andern Tage wieder in die bodenlose Tiefe des Vergessens gesunken war, wenn überhaupt nach wochenlangem Mühen und Üben der Boden immer noch keine verheissungsvollen Keime zeigte, dafür aber Unkraut auf Unkraut aufschiessen liess: wie wollte es da im Herzen kochen und gären und wie leicht öffnete sich dann ein Ventil, durch das sich der zurückgehaltene Ärger nach aussen Luft zu verschaffen suchte! Und wie oft unterlag ich dem heissen Kampfe! Das waren für mich dann immer die trübsten und dunkelsten Augenblicke,

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wenn die schmerzliche Reue im Gewissen brannte, die innere Schamröte vor dem eigenen Ich in mir aufstieg, und wenn sich dann aus der verzagten und kleinmütigen Seele der bange Notschrei losrang: „Wer wird mich erretten von dem Leibe dieses Todes!" So brach das stolze Selbstbewusstsein und die Selbstherrlichkeit in mir zusammen, und so wurde der Boden meines Herzens umgeackert, dass er zur Aufnahme eines besseren Samens bereit würde und höhere Kräfte in sich wirken liesse.

Die Krankenpflege ist eine vorzügliche Erziehungsschule für Erwachsene. Da müssen die eigenen Wünsche zurückgestellt, «ie harien und meist wenig rücksichts- vollen Formen, durch die sich das „Ich* im gewöhnlichen Umgange zu behaupten ptlegt, unterdrückt und das ganze Fühlen und Denken in liebevoller Hingabe auf die Bedürfnisse und das Wohl des Patienten konzentriert werden. Kein Wunder, wenn sich über das Wesen und Benehmen derer, die in jener Atmosphäre zu leben und zu wirken gewohnt sind, mit der Zeit eine harmonische Ruhe und Weichheit des Gemütes ausbreitet, die auch im übrigen Verkehr auf die Gesunden ihre milde- und freundliche Wärme ausstrahlt. Wie in der Stille des Krankonzimmers der Pfleger, so müssen aber auch wir in der Schule geistig abnormer Kinder mit doppelter Sorgfalt über der psychischen Entwicklung unserer Schwachen wachen, mit liebevollem Verständnis auf ihre persönliche Eigenart eingehen, ihre intellektuellen und sittlichen Mängel zu ver- stehen, zu begreifen, zu entschuldigen und zu bessern suchen, geduldig all ihre un- berechtigten und berechtigten, guten und törichten Wünsche und Bitten anhören und nachsichtig prüfen, kurz alle Erscheinungen ihres Seelenlebens als unter dem Einfluss der Schwäche entstanden denken, nie aber von vornherein hinter denselben Äusserungen eines bösen Willens vermuten, für welche dieselben verantwortlich zu machen wären. Dieses Sichhineindenken in den geistigen und sittlichen Gesichtskeis der schwachen Kinder ist die Seele unseres gesamten heilpädagogischen Wirkens, auf dieser Fähigkeit beruht aber auch die praktische Lebenspsychologie, jenes zarte Empfinden, das auch den feinsten Eigenheiten des Nächsten gerecht zu werden sucht und das in der alles- begreifenden und allesverzeihenden Liebe gipfelt. Darum es kann kaum anders sein —: wessen Auge und Herz in der täglichen Schularbeit an jene psychologische Klein- und Feinarbeit gewöhnt ist, der wird unmöglich draussen mit stumpfer, kalter Verständnislosigkeit an dem Gemütsleben seiner Mitmenschen vorübergehen können, der wird auch hier die Mühe nicht scheuen, ihre Taten und ihr Verhalten aus ihrer Beanlagung und ihrem Charakter heraus erklären und verstehen zu lernen, er wird tiefer blicken, als die oberflächliche Welt zu blicken gewohnt ist, und wird bald zu der Überzeugung gelangen, dass gar viel Böses, das von fanatischen Moralpredigern kurzweg verdammt wird, im Grunde genommen nichts anderes ist, als das unter dem Einfluss schlechter Erziehung oder sozialer Not oder anderer Missverhältnisse noch nicht reif gewordene Gute, und er wird dementsprechend auch mit Liebe und Nach- sicht die Fehler und Vergehen und die sittliche Unreifheit seiner „werdenden“ Brüder beurteilen nach dem bekannten Grundsatze: „Alles verstehen heisst alles ver- zeihen!“ An dieser Lektion, die eine der heilsamsten war, die ich während meiner Unterrichtsarbeit empfing, habe ich lange herumstudiert und bin bis heute noch nicht mit ihr fertig geworden; welche unendlich praktische Bedeutung sie aber für die Selbsterziehung und die sittliche Durchbildung der einzelnen Persönlichkeit gewinnen

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kann, das wirst Du erst später voll und ganz würdigen lernen, wenn Dich Deine Wege noch tiefer in die Menschenschicksale hineingeführt haben.

Das Rührendste im Berufe des Schwachsinnigenerziehers schien mir immer die dankbare Genügsamkeit zu sein, mit der auch die kleinsten Erfolge freudig begrüsst werden. „Heute hat Karl beim Essen die erste Kartoffel allein geschält!* „Jetzt kann Martha ihre Strümpfe und Schuhe selbst anziehen!“ „Fritzchen sprach heute im Unterricht zum erstenmal Mama!“ „Ernst zeigte mir gestern den ersten a!“ „Endlich hat Anna im Rechnen das Wegnehmen begriffen!“ u. s. w. Wie helle, lieb- lich blinkende Sterne leuchten mir solche und ähnliche Scenen heute noch aus meinen Anstaltserinnerungen entgegen und deutlich sehe ich dabei jedesmal das glückstrahlende Gesichte einer Pflegerin, einer Lehrerin oder eines Lehrers auftauchen. Wie dürftig und gering diese Resultate, und doch so viel Glück und Freude! Wahrlich, wer so bescheiden hoffen, so herzlich danken, so kindlich sich freuen lernt, der muss es auch fertig brinugen, mit fröhlichem Kinderglauben die trüben Schickungen und Er- fahrungen des Lebens zu überwinden. Freilich, nicht jeder bewahrt sich ein solches Kindergemüt und insbesondere fällt es nicht jedem leicht und zu diesen gehörte ich selber diese dankbare Genügsamkeit im Hoffen, Verlangen und Fordern auch den erwachsenen und gesunden Brüdern gegenüber anzuwenden. Aber die Parallele liegt nahe Würden wir auch im ausserberuflichen Verkehre unsere Mitmenschen mehr im Lichte der Pädagogik, insbesondere der Schwachsinnigenpädagogik betrachten eine keineswegs paradoxe Forderung —, mit um so bescheideneren Ansprüchen würden wir an sie herantreten, um so weniger würden wir von ihnen getäuscht werden und mit um so grösserer Dankbarkeit würden wir das wenige Gute, das wir von ihnen erfahren dürfen, hinnehmen.

Jedoch, wer wäre nie getäuscht worden? und leider Gottes gehörte ich auch recht oft zu jenen Kurzsichtigen und Blinden, die sich immer und immer wieder betrogen fühlen, wo sie es im Grunde gar nicht sind, und die das ist aber das Schlimmste nun auch die Hoffnung verlieren. Was ist aber ein Schwachsinnigenlehrer ohne Hoffnung? Ein Vogel ohne Flügel, ein Frühling ohne Knospen. Unsere Arbeit gleicht einem Schifflein, das getragen wird von dem Meer der Liebe, gelenkt durch das Steuer des Verstandes, getrieben aber durch das sanfte Wehen der Hoffnung. Hoffnung macht reich, Verzagtheit arm, das hatte ich hundertmal in meiner Schule erfahren, nun wollte ich aber auch im Leben nicht als griesgrämiger Bettler herumlaufen. Sprossen doch in meinem dürren und harten Schulgärtlein manchmal ganz unerwartete Keime hervor, warum sollte ich das Gleiche nicht auch hoffen können, wenn ich hinaus- trat auf den weiten Menschheitsacker! Und konnte ich bei meinen Kindern und bei meinen Brüdern draussen den Glauben an den endlichen Sieg des Guten nicht ver- lieren, warum sollte ich nicht auch mir Mut zusprechen, wenn ich ob mir selbst verzagen wollte, wenn die Schwäche und Unvollkommenheit des eigenen Wesens mich niederdrückte, wenn ich in wmühseligem Kampfe der Härte des eigenen Herzens oft nicht ein Quentlein selbstloser Liebe abringen konnte und ich nur einen endlos langen und dornenvollen Weg bis zum Ziele vor mir sah! So lernte ich hoffen und habe gehofft; die“ Hoffnung war die Luft, in der ich mich stärkte, wenn die Hände in der Schule lässig werden wollten, in der ich mich erholte, wenn das Leben neue Wunden ge-

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schlagen hatte, in der die kranke Seele wieder zu neuem Kampfe gemas, wenn sie ermattet am Wege niedergesunken war.

Jede Hoffnung braucht aber einen festen Ankergrund; oberflächliche Gemüter, die mit leichtem Sinn an den wechselnden Formen eines äusserlichen Flitterdaseins haften, fühlen nie das Bedürfnis, ihre Seele in dem Boden unvergänglicher Wahrheiten Warzel schlagen zu lassen und aus demselben Kraft und Stärke für die irdische Pilgerreise zu schöpfen. Zu solch innerlicher Vertiefung wird aber wohl jeder ganz unwillküörlich gedrängt, der an den Schwachen und Kranken nicht nur mit dem Kopf, sondern auch mit dem Herzen arbeitet und ihre und der Ihrigen Leiden und Freuden mit erlebt. Wer könnte das tiefe Welı der ängstlich besorgten Mütter unserer Kinder und den oft mühsam zurückgedrängten Schmerz der Väter mit ansehen, ohne dass nicht das eigene Herz von den Gefühlen innigster Teilnahme und tiefsten Mitleides durchzittert würde? Wer würde nicht gerührt bei dem Anblick der wunderbaren und mächtigen Liebe, durch die auch die schwächsten und blödesten Kinder, in denen scheinbar alles geistige Leben erloschen ist, mit den Elternherzen oft noch in zähester Kraft verbunden sind? Wessen Herz könnte gleichgültig bleiben, wenn ihm aus den glanzlosen Blicken, aus dem lallenden Munde, aus den entgegengestreckten Ärmchen, kurz aus der ganzen rührenden Unbeholfenheit dieser Kleinen noch ein so hohes Mass dankbarer Anhänglichkeit entgegenschlägt, wie es der Uneingeweihte bei diesen Ge- schöpfen nie und nimmer vermuten würde? Welcher Lehrer fühlte bei seiner Befreiungs- arbeit an diesen gefosselten und umnachteten Seelen nicht seine innere Abhängigkeit von dem Jawort und dem Segen unsichtbarer Schicksalsmächte? Wen triebe der Gedanke an die dunklen und rätselhaften Lebensführungen dieser Unglücklichen, die dem Glauben an eine göttliche Liebe und Weisheit so schroff gegenüberstehen, nicht zu ernstem Fragen und stillem Nachsinnen an? Wer könnte sich den hämischen Einflüsterungen des Zweifels entziehen, wenn solche geistig Tiefstehenden, in denen nie ein Funke irdischen Bewusstseins aufleuchtete, ins Grab sinken und das hoffende Gemüt auch über diese dunkelsten Grüfte hinaus an einer verklärten Auferstehung des Geistes festhalten will? Solchen Fragen und seelischen Konflikten, die tagtäglich au den Erzieher schwacher Kinder herantreten, lässt sich nicht ohne weiteres aus dem Wege gehen; jeder ernste, selbständige Charakter wird sich mit ihnen auseinander setzen und ihnen gegenüber Stellung nehmen müssen. Das aber entwickelt und vertieft die religiösen Gefühle und den sittlichen Ernst und lässt die Weltanschauung des Ein- zelnen zu höherer Klarheit, Reinheit und Kraft heranreifen.

Du siehst, lieber Andreas, viel wichtiger als die Frage, was habe ich im Leben getan und erreicht, ist die andere, was bin ich in meiner Arbeit und durch sie ge- worden und was haben meine Schüler aus mir gemacht. Wir alle miteinander, das ganze, weitverzweigte Menschengeschlecht, bilden eine seelische Einheit; unser aller Leben ist zu einem zusammenhängenden Schicksal verflochten, das getragen wird durch das Wechselspiel gegenseitig sich erziehender und sich emporentwickelnder geistiger und sittlicher Kräfte, die sich in den einzelnen Individuen kristallisieren und offen- baren. Und warum sollten in diesem, in wunderbarer Harmonie emporwachsenden Lebensbaum individueller Geisteskräfte unsere Kinder eine minder wichtige Stelle ein- nehmen, als wir selbst? Die unscheinbaren Wurzeln, der harte, knorrige Stamm mit

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seiner saftlosen, spröden Rinde, die grünenden, schwellenden Blätter, die zarten, duftenden Blüten, sie alle sind gleich notwendig, um den Samen hervorzubringen, aber dieser selbst wieder wäre völlig wertlos, wenn in dem entwicklungsfähigen Abbild der Mutterpflanze, das er in sich trägt, auch nur das kleinste und nebensächlichste jener Einzelorgane fehltee Nimm dem Lichte den Schatten, und Du zerstörst ihm nicht nur eine Seite seines anmutigen Farbenspiels, sondern Du vernichtest es selbst; reiss eine Welle aus dem brandenden Ocean, und Du unterbrichst seinen ganzen endlos langen Wogenstrom; eine einzige Form des menschlichen Elends und ihre Träger hinweg- gedacht, und es fehlte ein Hammer in der grossen Menschheiteesse, in der Menschen- schicksale geschmiedet und geläutert werden.

Überhaupt wer ist Hammer und wer ist Amboss? Sind wir nicht beides zugleich und zu gleicher Zeit? Indem ich gedrückt werde, übe ich mich im Gegendruck; und wo auf der einen Seite eine stärkere Kraft mich verdrängt, da presse und drücke ich auf der andern, ganz unbewusst und ohne dass ich es möchte. Und wenn ich seufze und weine, so sind das die Dissonanzen, die in der grossen Menschheitssymphonie sich zu seligen Harmonien verschmelzen; und weun ich jubiliere und jauchze, so klingen mir auch aus diesen Obertönen der Lust die herben Schicksalsakkorde meiner Brüder entgegen.

Aber noch mehr! Wenn ich ehemals in stillen Stunden der inneren Ruhe und Selbst- sammlung mit sinnenden Blicken dem Treiben und Spiel meiner Kinder zuschaute, wenn ich ihre bösen und ihre guten, ihre kranken und ihre gesunden Gefühle und Strebungen in natür- licher Unbefangenheit aus dem Schachte ihres Seelenlebens hervorbrechen sah, und wenn sich dann die eigene Seele, versunken in solches Schauen, ahnend und wie im Traum hinabverlor in jene letzten Tiefen, aus denen alles leibliche und geistige Leben quillt, was fand ich da im Grunde anderes, als mich selbst, das Urbild meines eigenen Geistes wieder? In dem unvollkommenen Spiele meiner Kinder erkannte ich das Stückwerk des eigenen Schaffens und Wirkens; ihr Denken, Fühlen und Wollen erschien mir als ein lebendiger Widerhall dessen, was in mir selber sprach. Ich und meine schwachen Schüler, im Spiegel der Ewigkeit gesehen, ein gegenseitig sich durchdringender und zu einem Geistesleibe sich verschmelzender Seelenreigen: ist das nicht etwas Grosses und Erbabenes? Wenn ich an ihrer Entwicklung arbeitete, arbeitete ich zugleich an der Veredelung meines eigenen Wesens; ihre Fortschritte waren meine Fortschritte; wenn die Banden und Fesseln ihres Geistes sprangen, durchzitterte meine Seele die Freude und das Glück der endlichen Befreiung; mein Kämpfen und Ringen brachte auch ihnen Erlösung, und meine Siege waren der erquickende Tan für die ermatiete Kraft ihres Strebens.

Ich der Nordpol, sie der Südpol, oder umgekehrt aber wer ist oben und wer unten? Ich der Lehrer, sie die Schüler aber wer der Erzieher und wer der Er- zogene? Wir alle Zöglinge einer Schule, Kinder eines und desselben Vaters, geborgen in der treuen Hut des ewig Einen. Mögen sie vorn oder hinten sitzen, mögen sie sich hassen und drängen oder lieben und kosen, mögen sie lachen oder hadern und greinen, die Kindlein —- in heiterer Ruhe bleibt die hehre Vaterseele.. Sie weiss ja, die Kindlein üben dabei die Kräfte und ‚wachsen und wenn sie Schaden nehmen

64 in der Zeit, heil wird alles in Ewigkeit!'*) Wohl dem, der diesen letzten Sinn des Lebens erkannt hat. Er wird demütig und vertrauend seine Bahn ziehen und starken Herzens über alle Widerwärtigkeiten des Lebens hinwegkommen.

Das durfte auch ich, lieber Andreas, während meines Wirkens an den Schwachen recht oft erfahren. Wenn mich da schmerzliche Erfahrungen und Anfechtungen nieder- zudrücken und mutlos zu machen drohten, oder wenn Unzufriedenheit ob der kümmer- lichen Arbeit ins Herz schleichen wollte, dann war es immer die Erinnerung an jene Gedanken, die mir neue Kraft und frische Berufsfreudigkeit gaben. Und wenn ich heute zuräckblicke, so kann ich es nicht ohne Rührung und Dankbarkeit dafür, dass ich gerade durch diese Schule, durch die Schule der Schwachsinnigen, geführt wurde.

Mit dem Wunsche, dass auch Du in Deinem Schaffen bald zu solcher Erkenntnis kommen mögest, grüsst Dich in herzlicher Liebe und Zuneigung

Dein treuer Vetter.

Mitteilungen.

Berlin. (Zur Fürsorge für geistig Zurückgebliebene) Am 26. März wurde hier in einer zahlreich besuchten Versammlung ein „Erziehungs- und Für- sorgeverein für geistig zurückgebliebene Kinder“ gegründet. Zweck und Ziel des Vereins, der seine Tätigkeit auf Berlin beschränken und den engsten Anschluss an bereits vorhandene, ähnlichen Zwecken dienende Vereine erstreben will, bestehen darin, Verständnis für die Ausbildung und Erziehung der geistig zurückgebliebenen (schwachsinnigen) Kinder zu wecken und zu beleben und an der geistigen, leiblichen, sittlichen und wirtschaftlichen Förderung dieser geistig Minderwertigen mitzuwirken. Zu diesem Zweck will man das öffentliche Interesse für die bereits bestehenden so- genannten Hilfsklassen wecken, um die diese besuchenden bedürftigen Kinder mit Nahrung und Kleidung zu versehen und ihnen geeignete Ferienpflege zu verschaffen, nach dem Austritt aus der Schule aber für die geistig Zurückgebliebenen eine ge- eignete Beschäftigung verschaffen und sie auch späterhin überwachen. Die Ver- sammlung genehmigte den Statutenentwurf und einen Aufruf an das grosse Publikum, in den um tatkräftige Unterstützung dieses gemeinnützigen Vereins in warmen Worten gebeten wird. Zum Vorsitzenden wurde gewählt Schulinspektor Dr. v. Gizicki.

Leipzig. (Hilfsschule) Der nach Michaeli vergangenen Jahres erschienene siebente Jahresbericht über die Hilfsschule für Schwachbefähigte in Leipzig unterscheidet sich von seinen Vorgängern dadurch, dass er zugleich ein Jubiläumsschriftchen ist. Er schickt deshalb den besonderen Mitteilungen über das Schuljahr 1901/02 einen kurzen Rückblick über die Gründung der Hilfsschule und über ihre Entwicklung in der Zeit ihres Bestehens voraus. Am 19. November 1901 waren 20 Jahre verflossen, seitdem die hiesige Hilfsschule nach mehreren vergeblichen Anläufen, die bis in die sechziger Jahre zurückreichen, in Gestalt einer einzigen Hilfsklasse ins Leben trat. In den dahingegangenen zwei Jahrzehnten wuchs sie bis auf 14 Klassen an, in denen 14 Lehrer und 1 Handarbeitslehrerin voll beschäftigt

*) Man vergleiche Bruno Wille, Offenbarungen des Wacholderbaumes.

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sind. Daneben entstanden nach und nach noch 2 Hilfsklassen in Leipzig-Gohlis für die nördlichen und 8 solcher in Leipzig-Plagwitz für die westlichen Vororte. Der um das hiesige Hilfsschulwesen und vor allem um die Einrichtung und Ausgestaltung unserer Hilfsschule hochverdiente Leiter dieser, Herr Direktor K. Richter, konnte wohl mit besonderer Befriedigung auf das durch ihn Geschaffene zurückschauen. Mit tief empfundenem Danke gedachte er bei der am Abende des Jubiläumstages im engsten Kreise des Kollegiums abgehaltenen, erhebenden Feier der grossen Opferfreudigkeit, die unsere städtischen Behörden dem Werke an den Schwachsinnigen entgegen- brachten und unentwegt bewahrten. 78247,33 Mk., d. i. gegen 300 Mk. für jedes schwachsinnige Kind, wendete die Stadt im Jubiläumsjahre für die Hilfsschule und die Hilfsklassen auf, zu welcher Summe sie bei einer Einnahme von 7071,38 Mk. einen Zuschuss von 71175,95 Mk. zahlte, fürwahr ein beredtes Zeugnis von der Grösse wohlwollender Fürsorge unserer Stadt Leipzig für die bedauernswerten Schwachen am Geist!

Die ausführlichen Mitteilungen in den Jahrgängen XV, S. 105 ff. und XVIII, S. 158 ff. dieser Zeitschrift entheben uns der Aufgabe eingehender Berichterstattung über die Entwicklung unserer Hiltsschule seit ihrem Bestehen. Auch aus dem speziellen Berichte über das Schuljahr 1901/02 bringen wir nur weniges. Interessieren dürfte zunächst eine Zusammenstellung über die körperlichen Gebrechen der Schüler, die zwar nur der dem Lehrer besonders auffallenden Fehler gedenkt und so auf Vollständigkeit keinen Anspruch erhebt, aber immerhin einen Einblick in die Tiefe des Elendes unserer Schüler gewährt.

a) Kurzsichtigkeit . . . . . . 4 Knb. 7 Mdch. = 11 Linksseitige Erblindung Aut Horalisntenbing L „p o = l1 Schwerhörigkeit 4 „p 83 , = 7 Stammeln 16 p T p == 23 Stottern Ben ee Epilepsie 8 2o- pe S Lähmung rechts l „, = 1 Lähmung links I a = y åd Verkürzung des rechten Panes Lo o = y S d Verkürzung des linken Beines . ,„, 2 , 2 Verkrümmung der Beine . F y O” 2 Verkrämmung des Rückgrates . E j 2 ae S

b) Kurzsichtigkeit und Schwerhörigkeit . 3: 5. a E S Kurzsichtigkeit und Stammeln , , L ag S l Kurzsichtigkeit und Stottern E y s a d Kurzsichtigkeit und Epilepsie , L a =: 4 Stottern und Stammeln 2 = 2 Epilepsie und Stammeln . l p I a en Schwerhörigkeit und Stammeln ee A 2 y = $ Schwerhörigkeit und Stottern . . . . . » L a = 1 Linksseitige Lähmung und Stammeln . . , L y ee 4 Linkssəitige Lähmung und Stottern ll. —- ,„, = |]

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Rückgratverkrümmung und Stammeln . . 1 Knb. Mdch. = Beinverkürzung links und Stammeln . . . ,„ l y = Boinverkürzung links und Stottern . . . » b y Linksseitige Lähmung und Kurzsichtigkeit . 1 = Lähmung und Verkürzung der linken Hand 2 „n = Rückgratverkrümmung und Verkürzung des rechten Beines . . . 2x 2 2 2 2. 1... 1% c) Rechtsseitige Lähmung, Schwerhörigkeit und Stammeln . 2 Toy Rechtsseitige Lähmung, Stottern u. Sammeln 1 .„ = 1 Kurzsichtigkeit, Schwerhörigkeit u. Epilepsie ,. Lähmung und Verkrümmung beider Beine und Epilepsie . . . 2 22... 1 —- y c 1 d) Linksseitige Lähmung, Schwerhörigkeit, Stottern und Stammeln . . . . . li ea

Nicht weniger als 93 unserer Kinder, d. i. 55 '/, °/,, litten nach obigem an den verschiedensten Gebrechen; 31 davon waren doppelt, ja drei- und vierfach belastet. Der nächste Jahresbericht wird sich eingehender mit diesem Punkte befassen, indem er in eine diesbezügliche Statistik auch die nur dem geübteren Auge des Arztes erkeunbaren, tiefer liegenden Mängel mit aufnehmen wird.

Dann erwähnen wir noch einiges über den Handarbeitsunterricht. In den Nähunterricht der Mädchen, der sich sonst in seinem Gange dem Nadelarbeitsunter- richte der hiesigen Volksschulen anschliesst und aus ihm das wichtigste entnimmt, wurde das Maschinennähen eingefügt, zu dem zunächst die Mädchen der zwei oberen Klassen heraugezogen wurden. In den zwei Beschäftigungsstunden, in denen sie früher vom Lehrer mit den Knaben zusamınengenommen und besonders mit Vor- zeichnen, Ausstechen und Ausnähen oder auch mit Stuhlflechten beschäftigt wurden, versuchten sie, von der Nählehrerin angeleitet, die nötigsten Nähte am Maschinen- tuche, übten sich im Nähen von Schürzen, Röcken, Hemden u. dergl.

Weiter kam die Gartenarbeit hinzu. In einem hinter dem Hauptgebäude der auch den Klassen der Hilfsschule mit als Unterkunftsort dienenden dritten Bürger- schule sich befindenden Hofe, der bis dahin brach lag, wurden vier grössere Beete angelegt, die den vier oberen Klassen zugeteilt wurden. Hier arbeiten nun die Kinder insbesondere in Sommerhalbjahre und zwar vor allem Montags und Mittwochs nach- mittag, indem sie graben und hacken, pflanzen und jäten und dergl. Lässt sich bei dem beschränkten Raume die Gartenarbeit auch nur in bescheidenem Masse betreiben, so freuen wir uns doch, dies wichtige Erziehungsmittel, das neben gesundheitfördernder Betätigung auch genug der geistigen Anregung bietet, in nnseren Plan mit aufge- nommen zu haben. H. Müller.

Leschnitz 0./S. (Erziehungsanstalt für Geistesschwache) Die hiesige Anstalt wurde der Schauplatz eines grauenhaften Verbrechens. Der 17 jährige Zögling Scholz tötete die bereits zehn Jahre an der Anstalt amtierende Lehrerin Marie Bartsch, indem er ihr mit einem Messer den Hals durchschnitt. Der Bursche setzte darauf das Zimmer, welches die Lehrerin bewohnte, in Brand und beteiligte

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sich mit Eifer an den Löscharbeiten. Seine blutbefleckten Sachen wurden ihm jedoch zu Verrätern, und er gestaud sein Verbrechen ein. (Pr. L. Z.) Schwelm. (Hilfsschule.) Die hiesige Hilfsschule für schwachbegabte Kinder begann ihr drittes Jahr mit einem Bestande von 81 Kindern, 17 Knaben und 14 Mädchen. Eine Neuaufnahme fand zu Ostern wegen der für eine Klasse zu hohen Schülerzahl nicht statt. Von den Kindern standen im 15. Lebensjahre 1 Knabe,

14. » 2 Mädchen, 18. 4 1 2 1 E 12. a 1 Š 4 š 11. z 5 Knaben, 2 » 10. Š 6 = 8 E

9. ` 2 j 2 »

8 a 1 Knabe.

Nach dem Religionsbekenutnis der Eltern sind 23 Kinder evang.-lutherisch, 2 Kinder evang.-reformiert und 6 Kinder katholisch. Seit dem 12. September besuchen die katholischen Kinder den Religionsunterricht in der katholischen Schule. Während der Sommermonate war der Schulbesuch durch die in Schwelm herrschende Masernepidemie stark beeinträchtigt. Im Laufe des Schuljahres sandten die Städte Bielefeld, Gelsen- kirchen, Lüdenscheid, welche für ihre schwachbegabten Kinder Hilfsschulen einrichten, Lehrer nach hier, damit diese dem Unterricht in der Hilfsschule zuhörten und nähere Informationen einzogen. —- Die hohe Schülerzahl veranlasste den Leiter der Schule in einer Eingabe an die Schuldeputation die Notwendigkeit der Errichtung einer zweiten Klasse darzulegen. Die Schuldeputation beschloss einstimmig die Errichtung derselben und brachte den Beschluss vor die städtischen Behörden. Die Vorlage wurde am 9. Oktober 1902 von der Stadtverordnetenversammlung einstimmig genehmigt und die Anstellung eines zweiten Lehrers beschlossen. Gewählt und von der Kgl. Regierung bestätigt wurde Lehrer Soost aus Barmen; er tritt am 1. Juli seine Stellung hier an.

Treysa. (Hephata.) In unserer Erziehungs- und Pflegeanstalt für Schwach- sinnige und Krüppel weilten zu Beginn des Jahres 1902 141 Zöglinge (85 K. und 56 M.). Der Zugang betrug 55 Zöglinge (35 K. und 20 M.). Es wurden also ver- flegt im Jahre 1902 196 Zöglinge (120 K. und 76 M). Am Schulunterricht nahmen 96 Zöglinge teil. Aus der Schule wurden entlassen 23, nur beschäftigungs-, aber nicht schulfähig waren 29 Zöglinge.e Die übrigen konnten nur verpflegt werden. Von den Knaben erlernten die Bürstenmacherei 12, die Korbmacherei 5, die Gärt- nerei 6, die Schreinerei 3, die Schneiderei 4, die Schlosserei 1, die Seilstrickerei 31, mit landwirtschaftlichen Arbeiten u. dergl. mehr wurden 18 beschäftigt. Von den Mädchen erlernten 35 die weiblichen Handarbeiten, in der Küche wurden 2, in der Wäscherei 3 und in der Hausarbeit 4 beschäftigt. 37 der Zöglinge sind verkrüppelt oder gelähmt, 6 haben nur 4 Sinne (sind taubstumm oder blind), 3 haben nur 3 Sinne (sind taubstumm und blind zugleich), 23 können nicht gehen, 19 leiden an Krämpfen. ` Wandsbeck. (Hilfsschule.) Hier beabsichtigt man für Ostern d. J. eine einklassige Hilfsschule zu errichten.

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e e für den 1V. Verbandstag der Hilfsschulen Deuisehliinds zu Mainz am 14., 15. und 16. April 1903.

Dienstag, den 14. April. 1. Näthmittags 4 Uhr gemeinsame Sitzung des Verbandsvorstandes und .deg Ortsausschusses. 2. Abends 7!/, Uhr Vorversammlung im Probesaale der „Liedertafel®, Grosse Bleiche 56. a) Das Rechnen auf der Unterstufe der Hilfsschule. Hauptlehrer Giese- Magdeburg; b) Können die Kinder der Hilfsschule zwangsweise zugeführt werden? - Rektor Grote- Hannover; c) Rechnungsablage und Revision der Kasse; d) Vorstandswahl. | (Von mittags 2—6. Uhr werden auf dem Empfangsbureau „Rheinische Bierhalle“, gegenuber dem Hauptbahnhof, den ankommenden Gästen „Führer“ und Festzeichen abgegeben und sonst jede Auskunft erteilt.)

Mittwoch, den 15. April. l. Morgens 9 Uhr Hauptversammlung im Konzertsaale der „Liedertafel‘“.

a) Das schwachbegabte Kind im Hause und in der Schule. Hilfsschul- leiter Delitzsch -Plauen i. V.;

b) Die Berücksichtigung der Schwachsinnigen im \ bürgerlichen und öffent- lichen Rechte des deutschen Reiches. Oberamtsrichter Nolte- Braunschweig;

c) Beratung über die dem 2. Verbandstage vom Hauptlehrer- Kielhorn- Braunschweig vorgelegten Leitsätze.

2. Nachmittags 2'/, Uhr gemeinsames Mittagessen.

. Besichtigung der Stadt: Dom, Römisch-germanisches Museum.

4. Abends 8 Uhr Festabend in der Stadthalle am Rhein, veranstaltet von 5 Mainzer Gesangvereinen.

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Donnerstag, den 16. April.

Besuch der psychiätrischen Klinik in Giessen oder der Erziehungs- anstalt Idstein i. T. In Giessen wird Herr Universitätsprofessor Dr. Sommer über „angeborenen Schwachsinn“ sprechen. (Ort und Zeit der Abfahrten werden in der Hauptversammlung bekannt gegeben.)

Inhalt. Unterrichtliche Spaziergänge mit Schülern der Hilfsschule. (Th. Fuhr- mann.) Wir Werdenden ... (K. Ziegler.) Mitteilungen: Berlin, Leipzig, Lesch- nitz O.S., Schwelm, Treysa, Wandsbeck. Tagesordnung des IV. Verbandstages . der Hilfsschulen Deutschlands zu Mainz am 14., 15. und 16. April 1908.

Für die Echriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. Druck von Johannes Pässler in Dresden.

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Nr. 6 u. 6. XIX. AIM Jahrg. re, @ o Leitsehrift für die

Behandlung, Schwachsiniger und Enileptischer

Organ der Konferenz für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitäterat Dr. med, H. A. Wildermuth, : Spezialarat Dresden - Strehlen, für Nervenkrankheiten Residenzstrasse 27. In Stattgart.

Erscheint jährlich In 12 Nummern von ' Zu beziehen durch alle Buchhandlungen

mindestens einem Bogen. Anzeigen für J j 1903 und Postäinter, wie auch direkt von der

die gespaltene Petitzelle 25 Pfg. Lite- un ° | Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, rarische Bellagen 6 Mark. | einzelne Nummer b0 Pfg.

Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift BASE Eigentum der Herausgeber.

Beitrag zur Epileptikerbehandlung.

Von Oberarzt Di. Ackermann, II. Arzt der K. S. Heil- und Pflegeangtalt Hochweitzschen. `. Die in die Anstalt neu aufgenommenen Kranken empfiehlt es sich der Aufnahme- bezw. Beobachtungsstation zu überweisen, sie eventuell zu Bett zu legen und dann längere oder kürzere Zeit zunächst im Bett zu halten. Den meisten besonders weiblichen Kranken und Kindern tut nach den vorherge- gangenen Aufregungen und Anstrengungen, die mit deın Abschied aus den heimatlichen Verhältnissen und . der Reise nach der Anstalt erklärlicherweise verbunden sind, die anfängliche Bettruhe recht wohl. Da auf diese Weise auch die Überwachung und Beobachtung von seiten des Pflegepersonales eine wesent- lich leichter auszuführende ist, so kann diese Art der ersten Verpflegung nur auf das angelegentlichste empfohlen werden. Sehr zu berücksichtigen ist bei frisch zugeführten Kranken der Umstand, ob dieselben bereits vor ihrer Zu- führung Antiepileptica, insbesondere Bromsalze erhalten haben. Da bekanntlich ein brüskes Aussetzen dieser Medikamente das Auftreten gehäufter Anfälle mit ihren unter Umständen lebensgefährlichen Folgen begünstigt, so muss "auch in dieser Hinsicht vorsichtig zu Werke gegangen, das heisst den Kranken zunächst das Medikament in der bisherigen Dosis weiter gegeben und nur allmählich damit herabgegangen werden. Da die Bettruhe an und für sich. in vielen Fälleh schon günstig auf die Epileptiker wirkt, so wird man durch anfänglich ver- ordnete diesbezügliche Behandlung um so eher vor Uneugenehmmen Überraschunger nach dieser Richtung hin bewahrt bleiben. : Die Bettbehandlung. wird auch sonst noch bei unseren Kranken vielfach und mit grossem Vorteil in Anwendung gebracht. Die Bettstationen gewähren

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einerseits einem gewissen Stamm von Patienten dauernde Unterkunft (chronisch unrubige, körperlich und geistig hinfällige), die sonst noch vorhandenen Plätze werden aber von einem ziemlich häufig wechselnden Publikum in Anspruch ge- nommen; Kranke, die an gehäuften Anfällen leiden, die sich im prae- oder post- epileptischen Dämmerzustand befinden u. s. f, finden hier geeignete Pflege. Auf diese Weise ist es möglich, die soeben näher bezeichneten, insbesondere auch die unruhigen Kranken der Bettbehandlung teilhaftig werden zu lassen und die Isolierung auf ein kaum nennenswertes Mindestmass zu beschränken.

Im Rückblick auf den neuerdings so heftig entbrannten Streit zwischen den Anhängern der Zellen- und denjenigen der zellenlosen Behandlung mag hier ausdrücklich Erwähnung finden, dass nach den hierorts gemachten Erfahrungen der Behauptung, dass gerade Epileptiker sich weniger für die zellenlose Ver- pflegung eigneten, nicht beigetreten werden kann. Wie überhaupt in der Therapie jedes einseitige Vertreten und Verfechten eines Prinzips seine grossen Bedenken hat, so ist es auch hinsichtlich der Isolierung Geisteskranker im allgemeinen und Epileptischer im besonderen. Jeder Fall liegt anders. Aber soviel kann wohl gesagt werden, dass wenigstens bei unseren Kranken, wobei allerdings bemerkt werden mag, dass chronisch tobsüchtige nach den Bestimmungen des Regulatives von der Aufnahme ausgeschlossen bezw. nach einer Pflegeanstalt zu versetzen sind, nur äusserst selten ein Fall sich findet, der mit Bettruhe nicht zu behandeln wäre, bei dem also Verbringung in das Einzelzimmer unter allen Umständen stattfinden müsste. Es wird deshalb bier in Hochweitzschen insofern einem Prinzip gehuldigt als zunächst aufgeregte Kranke auf den gemeinsamen Saal in das Bett gebracht werden, und die Erfahrung hat gelelırt, dass Fälle, die ınan früher einfach in die Zelle sperrte und von denen man eine Beruhigung im Bett kaum erwartet bätte, sich doch tatsächlich im Bett beruhigten. Belästigen die Kranken ihre Umgebung und hat man die Füglichkeit, sie im Bett in ein Einzelzimmer unter ständiger Beaufsichtigung von Pflegepersonal zu bringen, so soll man den übrigen Kranken diese Wohltat erweisen, unter Umständen wird man dadurch auch dem vielleicht durch seine Umgebung ebenfalls irritierten Kranken eher Ruhe verschaffen.

Im Anschluss hieran mag noch die Frage der medikamentösen Beruhigungs- therapie gestreift werden. Dieselbe dürfte zum Teil wenigstens in innigem Konnexe mit der Platzirage stelen. Je mehr man die Möglichkeit hat, die Kranken zu dislozieren, um eventuell ein störendes Element zu eliminieren oder ein solches aus der Nähe eines ihm unangenehmen Patienten in sympatischere Verhältnisse zu bringen, um so mehr Ruhe wird man auf der Abteilung haben. Jedenfalls ist der Verfasser kein Anhänger der forzierten Narcoticaverordnung. Auch hier ist eine kausale Therapie, die Erörterung der Gründe, woher kommt die Erregung, wodurch ist sie bedingt, am Platze. Und tatsächlich lässt sich dann durch Verlegung und andere Gruppierung der Patienten zunächst schon viel erreichen, zumal bei unseren Kranken, den Epileptikern, die Reizbarkeit und Unverträglichkeit mit gewissen Elementen in der Umgebung eine grosse Rolle spielt. Auf die Dauer zeitigt auch das anhaltende Verordnen grosser Dosen von

71 Narcotieis, mögen sie nun von dem sie Empfehlenden als noch so harmlos an- gepriesen werden, bei den betreffenden Kranken sicher eine vermehrte Reizbarkeit. Es bildet sich auf diese Weise ein bedenklicher circulus vitiosus.

Auch mit Dauerbädern wurden neben der Bettbehandlung bei auf- geregten Kranken mit meist günstigem Erfolge hier Versuche gemacht, wenn auch bisher noch nicht in grösserem Umfange. Jedenfalls hat sich nach der bisherigen Erfahrung die Befürchtung, dass dieselben dem Epileptiker in bezug auf sein Grundleiden schädlich sein möchten, nicht als begründet erwiesen. Für das Irrige dieser Annahme spricht ja auch die Tatsache, dass man selbst beim Status epilepticus d. i. bei gehäuften Anfällen anderwärts die Kranken viele Stunden selbst Tage im Dauerbad gehalten hat. Zweifellos günstig wirkt bei dieser Art der Beruhigungstherapie auf die Aufregungszustände der Kranken oft schon der Umstand, dass die letzteren durch die Verbringung in das Bade- zimmer aus ihrer bisherigen Umgebung herausgenommen werden.

Was nun die spezifisch, medikamentöse Behandlung der Epileptiker an- betrifft, so erhält die Mehrzabl unserer Kranken noch Brompräparate, neuerdings häufiger in Gestalt des Bromnatriums. Hierbei mag nicht unerwähnt bleiben, dass Verfasser auch in dieser Beziehung mit Alt-Uchtspringe sympathisiert, der eine kritiklos angewandte Bromdarreichung direkt verwerflich nennt und dem Ausspruche des berühmten englischen Nervenarztes Seguin „einen Fall einmal sehen und eine Bromkur verordnen ist eine höchst tadelnswerte Nachlässigkeit“ volle Berechtigung zuspricht. Dies wird uns aber nicht verhindern, die ausser- ordentlich segensreiche und in so vielen Fällen zweifellos die Epilepsie in hohem Masse lindernde Wirkung der Brompräparate anzuerkennen und diese Tatsache allein genügt, um dieselben zu den wertvollsten, zur Zeit unersetzlichen Bestand- teilen unseres Arzneischatzes zu machen. Die Ermittelung der in dem einzelnen Falle erforderlichen und dienlichen Tagesdosis und die auf Grund dieser Er- fahrungen konsequent weitergeführte Verordnung derselben ist Aufgabe des Arztes, ebenso wie es Pflicht desselben ist, bei denjenigen Patienten, deren Leiden nachgewiesenermassen auch durch hohe Bromgaben nicht oder gar ungünstig be- einflusst wird, die eingeschlagene Therapie zu sistieren. Bei der Beurteilung der Kranken sind wir hier mehr wie je auf die Angaben und auf die Sorgfalt in der Buchführung und Berichierstattung des Pflegepersonales angewiesen und es kann dieses deshalb nicht oft und nicht eindringlich genug auf die Wichtigkeit seiner dienstlichen Pflichten und auf die treue Erfüllung derselben hingewiesen werden.

Von neuerdings empfohlenen Bromverbindungen wurden Versuche mit Bromo- coll angestellt. Das letztere ist seiner chemischen Zusammensetzung nach eine Di-Brom-Tannin-Leimverbindung und enthält etwa 20°), Brom, also bedeutend weniger als Bromkalium, dessen Bromgehalt ungefähr dreimal so gross ist. Bei unseren unter Berücksichtigung dieser Verhältnisse mit Bromocoll behandelten Patienten sind die diesem Heilmittel zugeschriebenen Wirkungen nicht zu beobachten ge- wesen. Der Einfluss desselben auf die Häufigkeit und Heftigkeit der Anfälle war ganz gering, bei einigen ziemlich edmenten Kranken äusserte sich die Wirkung des Mittels in Zunahme der Benommenheit, so dass der Gebrauch aus-

12

gesetzt wurde. Eine Anzahl von Kranken weigerte sich auch, das Mittel im trockenen Zustande einzunehmen (Schwerlöslichkeit). Der einzige deutliche Er- folg, der hier beobachtet wurde, bestand darin, dass bei einigen mit Bromaone behafteten Patienten die Hauterkrankung verschwand und auch nach monate- langem Gebrauch der gewöhnlichen Broınpräparate nicht zum Vorschein kam, während die Anfälle auch hier nicht beeinflusst wurden. Der Widerwille der Kranken gegen die Einnahme des Mittels war bei der Pulverform wie bei der Tablettenform der gleiche. Ein wesentliches Moment gegen den weiteren Ge- brauch des Mittels bildet schliesslich sein hoher Preis. Versuche mit Bromocoll- salben gegen Hautkrankheiten sind hier nicht gemacht worden.

Die von Strümpell empfohlene Kombination von Brom mit Chloral (Be- handlung der genuinen Epilepsie, Handbuch der Therapie, herausgegeben von Dr. F. Pentzoldt und Dr. R. Stintzing) erwies sich in einigen Fällen mit sehr häufigem Petit-mal von besonders günstigem Erfolg.

Die von Bechterew in die Behandlung eingeführte Verbindung der Brom- salze mit Adonis vernalis wurde in den mit Herzfehlern komplizierten Fällen von Epilepsie mit befriedigendem Resultate in Anwendung gezogen.

Auch wurde nach Vorgang von Alt-Uchtspringe ausgiebiger Gebrauch von Jodkalium gemacht und zwar zunächst und hauptsächlich wurde dasselbe Patienten, in deren Vorgeschichte luetische Infektionen zu konstatieren waren und dann solchen Kranken, deren Leiden auf Herderkrankungen des motorischen Rindengebietes basierte, verabreicht. Da die Versuche noch nicht abgeschlossen vor uns liegen, wird der Erfolg dieser Kuren Gegenstand späterer Bericht- erstattung sein müsssen.

Im Vordergrund des therapeutischen Interesses stand in der jüngsten Zeit in Hochweitzschen die bereits im Jahre 1900 bei verschiedenen Kranken ein- geleitete metatrophische Behandlung der Epilepsie nach dem Vorgange von Richet und Toulouse. Die von Oberarzt Dr. Krell im Irrenfreund (XLI. Jahrgang, Nr. 11 u. 12) referierten Beobachtungen fanden auch im weiteren Verlaufe Be- stätigung. Vor allen Dingen soll auch hier wieder darauf hingewiesen werden, was damals schon betont wurde, dass diese Behandlungsart sich nur für Anstalts- kranke eignet, da sie unter Umständen nicht ungefährlich ist, ziemlich plötzlich Bromvergiftungserscheinungen herbeigeführt und daher beständiger ärztlicher Überwachung bedarf. Die Vorsicht gebietet, dass man, wie dies auch Balint- Budapest hervorhbebt, mit kleinsten Bromdosen beginnt. Es ist hier mit Bruch- teilen eines Grammes Bromnatrium pro die der Anfang gemacht worden. Die Wirkung der Bromsalze und nach den hiesigen Versuchen, speziell des Brom- natriums, ist eben bei der chlorarmen Diät eine so hochgradig gesteigerte, dass man mit kleinsten Gaben recht wohl auszukommen vermag. Es dürfte diese Erscheinung auch das Charakteristikum dieser Therapie sein. Diese geringer zu bemessende Einfuhr der Bromide, die an und für sich mit Freuden zu begrüssen wäre, gereicht aber leider dem Organismus nicht zum Vorteil, da eben verhältnis- mässig kleine, sonst wohlbekömmliche Dosen .bei chlorarmer .Diät bereits der- artig deletäre Folgen haben, wie sie sonst bei normaler Kost erst bei hohen

Gaben in die Erscheinung treten. Dazu kommt, dass andrerseits die Verab- reichung von künstlich salzfrei gemachter Nahrung auf die Dauer hygienisch als nicht unbedenklich zu erachten ist. Es erscheint nicht unmöglich. dass einige Hautstörungen bei zwei weiblichen, plötzlich auftretender Decubitus bei zwei männlichen Kranken mit der Hypochlorierung in ätiologische Verbindung zu bringen sind; die Annahme, dass es sich hierbei um Symptome von Bromis- mus, der ja bekanntlich in den mannigfachsten krankhaften Hautveränderungen zum Ausdruck kommt, handelt, soll nicht vollständig von der Hand gewiesen werden. Von zahnärztlicher Seite wurde eine Erscheinung an den Zähnen einer mit chlorarmer Diät behandelten Tatientin in ursächlichen Zusammenhang mit dem verordneten Kostregime gebracht und dürfte auch dieser Behauptung durch- aug nicht jegliche Berechtigung abgesprochen werden. In Anbetracht des Um- standes, dass man zunächst hinreichende Erfahrungen mit der neuen Behandlungs- art gemacht zu haben glaubte und in Erwägung der eben beschriebenen Ver- hältnisse beschloss man zunächst von einer Fortsetzung der Versuche abzusehen. Zu bedauern ist, dass in Ermangelung geeigneter Apparate und des diesbezüglich vorgebildeten Beamtenpersonales von einer Vornahme von Stoffwechselunter- suchungen bei diesen mit chlorarmer Diät beköstigten Patienten nicht hat vor- genommen werden können. Die geplante Errichtung eines Laboratoriums für physiologisch-chemische Analysen und die bereits erfolgte Anstellung eines Anstaltsapothekers dürfte in Zukunft die Füglichkeit bieten, derartige Unter- suchungen hier vorzunehmen.

Der Kuriosität halber mag hier erwähnt werden, dass man anderwärts therapeutische Versuche bei Epilepsie mit Verabreichung von erheblichen Mengen von Kochsalz und wie es scheint mit teilweisem Erfolg gemacht hat. Bemerkt wird aber und dies spricht für die Berechtigung der metatrophischen Behandlung, dass bei der Kochsalztherapie in einzelnen Fällen das Auftreten ge- häufter Anfälle beobachtet worden ist.

Zu den gefürchtetsten Ereignissen, die in früherer Zeit in der Epileptiker- anstalt sich einzustellen pflegten, gehört der Status epilepticus, d. i. das der- artig gehäufte Auftreten der Anfälle, dass unter Umständen einzelne Intervalle zwischen ihnen nicht mehr deutlich zu erkennen sind. Diese Zustände sollen nach einigen Beobachtern an und für sich seltener in den Anstalten geworden sein und mag das umsomehr der Fall sein, je besser und intensiver die Patienten in gesundheitlicher Beziehung überwacht werden. Diese Paroxysmen haben aber auch entschieden in ihrer Furchtbarkeit eingebüsst, seit durch Wilder- muths Verdienst das Amıylenhydrat in die Epilepsiatrie eingeführt worden ist. Die trostlose Situation, in der man sich als Arzt befand, wenn man zu einem Status epilepticus hinzugerufen wurde, liess den Verfasser in den ersten Jahren seiner hiesigen Tätigkeit unausgesetzt auf die gegen diese Zustände empfohlenen Massnahmen, so weit sie in der Literatur bekannt wurden, sein Augenmerk richten. Die Versuche, die von Habermaas-Stetten, dem Nachfolger Wilder- muths, angestellt und bei denen das Amylenhydrat subcutan gegeben beim Status elepticus sich von geradezu lebensrettender Wirkung erwiesen haben sollte,

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wurde vom Verfasser in der Weise nachgeprüft, dass er es in der Form von Klystieren einführen liess. Die prompten Erfolge, welche hierdurch herbeigeführt wurden, liessen Verfasser weitere Kreise im Junibeft 1896 dieser Zeitschrift auf die vorzügliche Wirkung des Amylenlhydrats erneut aufmerksam machen. Auf der 59. ordentlichen Versammlung des psychiatrischen Vereins der Rheinprovinz am 19. Juni 1897 zu Bonn referierte Flügge, dass er in der Anwendungsweise dem Vorgange des Verfassers dieses folgend bei Erwachsenen 5., g Amylen- hydrat in 50., g Wasser und 20,, g Mucilago gummi arabici gegeben habe. Erwies sich diese Menge nicht als ausreichend, so wurde nach einigen Stunden noch die Hälfte der angegebenen Dosis appliziert, nur in 2 Fällen erreichte man erst mit 10, g (2>x<5,, g mit einer zwischenliegenden P.ıuse von 4 Stunden) den gewünschten Erfolg. Eine üble Einwirkung auf das nachherige geistige oder körperliche Befinden des behandelten Kranken wurde niemals konstatiert. Bei der Applikation des Klysma hat sich auch nach Flügges Erfahruugen die strenge Befolgung weiterer, vom Verfasser damals empfohlener Regeln, die loco citato wiederholt sind, als ungemein wichtig und in Frage kommend heraus- gestellt. Gleichgünstige Erfahrungen haben nach Flügge in dieser Beziehung gemacht Alt-Uchtspringe, der in seinem II. Verwaltungsberichte schreibt „Bei der Bekämpfung des Status epilepticus erwies sich das Amylenhydrat in subcutaner und rectaler Darreichung nach wie vor als das wirksamste Mittel.“ Auch Dr. Naab -Bethel bei Bielefeld (Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie ete., 57. Band, 1900) nennt die Verabreichung des Amylenhydrats im Kiysma die gebräuchlichste, in neuerer Zeit fast ausschliesslich geübte Methode. Desgleichen schreibt Binswanger (Die Epilepsie, Spez. Path. u. Ther. XII. Band) dem Amylenhydrat sowohl bei innerer Darreichung, und da dieselbe bei schweren soporösen Zuständen nicht möglich ist, per Klysma eine günstige Wirkung zu, Dieser Autor gibt an, dass er bei Status epilepticus auch vom Chloralhydrat einen guten Erfolg gesehen habe, während Naab (siehe oben) keine sehr günstigen Erfahrungen in dieser Hinsicht gemacht haben will. In einigen leichteren Fällen wurde auch bei uns Chloralhydrat mit Nutzen angewendet. Ebenso konnte man sich von der günstigen Wirkung des Chloroforms in einem unserer Fälle über- zeugen. Da die Epilepsie eine ätiologisch so eminent verschiedene Krankheit ist, so wäre von Haus zu erwarten, dass die Applikation von Amylenhydrat uns beim Status epilepticus auch hier und da im Stiche lassen würde. In der Tat wollte es uns scheinen, dass in manchen Fällen von partieller (Jacksonscher) Epilepsie die Wirkung keine so recht prompte gewesen wäre.

Dem Amylenhydratklystier soll die Applikation eines Reinigungsklystiers voraufgehen und nicht selten war besonders bei Kindern, aber auch bei Er- wachsenen infolge dieser letzteren Massregel schon ein Nachlassen der Paro- xysınen zu beobachten. Dieser günstige Einfluss der mechanischen Reinigung führt uns aber auf die neuerdings vielfach vertretene Ansicht, dass es sich an und für sich in vielen Fällen, besonders bei der sogenannten idiopathischen Epilepsie um Intoxikationserscheinungen handelt, die eben beim Status epilepticus ganz besonders in den Vordergrund treten. Dass bei solchen Erwägungen die

75 Eliminierung der Toxine aus dem Körper von hervorragender Bedeutung sein muss, dürfte klar auf der Hand liegen.

Auf Beschaffung angemessener und zweckdienlicher Ernährung hat der Arzt bei dem Epileptiker ganz besondere Sorgfalt zu verwenden. Bezüglich der Getränke mag hier noch Erwähnung finden, dass in Hochweitzschen das Bestreben vorherrschend ist, Alcoholica für Epileptiker prinzipiell zu untersagen. Aus diesem Grunde ist auch der Verbrauch des einfachen Bieres allmählich auf ein Mindestmass beschränkt worden. Die Ansicht, dass das „Einfache“ in dieser Beziehung ganz harmlos sei, ist irrig. Erst kürzlich hat Dr. Süss, Assistent am hygienischen Institute der Technischen Hochschule zu Dresden gelegentlich eines Vortrags in dem Vereine deutscher Chemiker den Prozentgehalt an Alkohol der einfachen Biere anf 1,,5,— 2,4, angegeben. Der Verfasser hat in früheren Jahren, als bei Festlichkeiten noch einfaches Bier gereicht wurde, an hiesigen Kranken die berauschende Wirkung in grösserer Menge wenossenen einfachen Bieres be- obachten können. Neuerdings erhalten die Kranken hiesiger Anstalt auch bei festlichen Gelegenheiten, Tanzbelustigen und dergleichen ausschliesslich Limonade, die uns ein Mineralwasserapparat wohlfeil liefert. Nicht selten hört man auch von ärztlicher Seite den Einwurf, dass man doch die Kranken das einfache Bier ruhig trinken lassen möge. Hierzu muss gesagt werden: Die Frage der Alkohol- abstinenz in der Epileptikeranstalt hat eine prinzipielle Bedeutung und zwar nach der erzieherischen Seite hin. Speziell in der Heilanstalt für Epileptische soll den Kranken systematisch, tagtäglich und möglichst eindringlich zum Be- wusstsein gebracht werden, dass für sie der Alkohol in jeder Form ein ganz besonders starkes und deshalb ängstlich zu meidendes Gift ist. Die Patienten sollen hier zu einer Lebensweise erzogen werden, deren hygienische Grundzüge sie auch sach ihrer Entlassung zu befolgen haben. Die Epileptikerheil- anstalt hat demnach in gewisser Beziehung genau dieselben Aufgaben wie z. B. die Kuranstalt für Schwindsüchtige: Die Kranken zu einer vernünftigen, ihnen zuträglichen Lebensweise anleiten.

Die Arbeit in der Irren- und Epileptikeranstalt soll nicht als „Selbstzweck, sondern als ein im Interesse der Pflezlinge erwünschtes Mittel zur Gesundung und Beruhigung aufgefasst werden“. Die Dosierung hat von seiten des Arztes zu geschehen und ist: dieser Umstand bei dem in seinem Befinden so zahlreichen Schwankungen unterworfenem Epileptiker ganz besonders zu betonen.

Die Erteilung des Unterrichts der kranken Kinder in hiesiger Austalt betrug die Zahl derselben im Jahre 1901 durchschnittlich 48 erfordert eine grosse Geduld und Ausdauer von seiten des Lehrers. Aber nicht allein die Ge- duld ist es, die als Erfordernis an einen Lehrer für epileptische und schwach- sinnige Kinder gestellt werden muss, es gehört auch ganz besondere Befähigung und gute Beanlagung dazu. Es liegt dies eigentlich klar auf der Hand und doch wird es noch viel zu wenig wohl zum Teil selbst in pädagogischen Kreisen anerkannt. Ws ist dem Verfasser deshalb eine um so grössere Freude gewesen, erst kürzlich aus dem Munde des Leiters einer grossstädtischen Schule, der auch eine Abteilung für Schwachbelähigte angegliedert ist, zu hören, dass

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er für seine Person als Lehrer für diese Klasse nur ganz hervorragend befähigte Kräfte bestimmt und auch unter diesen wieder eine besonders strenge Auswahl halten muss. Das Beste scheint ihm eben für diesen Zweck gerade gut genug!

| Bericht über den IV. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands zu Mainz am 14., 15. und 16. April 1903. Von Fr. Frenzel-Stolp i. Pom.

Über die Verhandlungen des Verbandstages erscheint ein eingehender Bericht als Sonderdruck, auch wird darüber in der „Zeitschrift für Kinderforschung“ aus- führlich berichtet. Wir können deshalb auf eine ausführliche Berichterstattung verzichten, wollen aber unsern Lesern doch eine Gesamtübersicht über die Ver- handlungen des Verbandstages bieten und die in mancher Beziehung recht interessanten und anregenden Darbietungen mit einigen Bemerkungen begleiten.

Die Vorversammlung, welche am 14. April abends 7 Uhr im „Heilig- Geist-Restaurant“ stattfand, war von etwa 200 Teilnehmern besucht, darunter befanden sich Vertreter von Ministerien, Regierungen, Schulbehörden und Städten; auch Ausländer waren erschienen, u. a. aus der Schweiz, England und Österreich- Ungarn. Nach einer kurzen Begrüssung durch den Verbandsvorsitzenden, Stadt- schulrat Dr. Wehrhahn-Hannover hielt Hauptlehrer Giese-Magdeburg einen Vortrag über „das Rechnen auf der Unterstufe der Hilfsschule“*), der zur Annahme folgender Leitsätze führte:

l. In der Hilfsschule kommen auf der ersten Stufe Addition und Sub- traktion im Zahlenraume von 1—5 und auf der zweiten Stufe dieselben Grundrechnungsarten von 1—10 zur Behandlung.

2. Durch mannigfache und häufige Veranschaulichung und praktische Selbsttätigkeit der Schüler wird Bechenverständnis angebahnt.

3. Durch vielseitige Übung und unermüdliche Wiederholung ist Rechen- fertigkeit zu erzielen.

4. Für die Hilfsschule ist ein den Verhältnissen derselben angepasstes Rechenbuch wünschenswert.

In der Debatte, die ungemein lebhaft geführt wurde, kamen verschiedene Meinungen über den ersten Rechenunterricht zum Ausdrucke, unter denen be- sonders die des Schulinspektors Scherer-Worms unsere Beachtung verdient. Er verlangte individuelle Behandlung des Rechenunterrichts und Anschluss des- selben an den „Werkunterricht*. Nach dem Grundsatze: Was der Mensch darstellen kann, das versteht er, hat seine Forderung eine gewisse Berechtigung. Eine genaue psychologische Darstellung des Rechnens hätte für unsere Schulen einen grossen Wert, allein daran fehlt es noch immer. Es wäre wirklich lohnend, die Frage: Wie entstehen und entwickeln sich ursprüngliche Zahlvorstellungen bei unsern Schülern? auf Grund psychologischer Be- obachtungen zu beantworten. Ohne die Beantwortung dieser Frage schweben alle Rechenmethoden, deren es jetzt eine ganze Menge gibt, in der Luft. Daher

*) Siehe Seite 87.

17 müssen wir es uns auch versagen, auf die Auseinandersetzungen anderer Redner einzugehen, da wichtige Fragen von prinzipieller Bedeutung nicht von ihnen be- rührt wurden.

Rektor Grote-Hannover referierte über die Frage: Können die Kinder zwangsweise der Hilfssehule zugeführt werden? Seine Ausführungen riefen einen lebhaften Meinungsaustausch hervor und führten zur Annahme folgender Leitsätze:

1. Es liegt im Interesse der Gemeinde, der Schule, des schwachbefähigten Kindes und seiner Eltern, dass da, wo Hilfsschulen bestehen, jedes schwach- befähigte schulpflichtige Kind die Hilfsschule besucht.

2. Es muss durch gesetzliche Bestimmungen oder behördliche Ver- fügungen die Möglichkeit gegeben werden, Kinder, welche als schwachbefähigt erkannt sind, auch gegen den Willen der Eltern der Hilfsschule zu über- weisen.

3. Die zwangsweise Überweisung hat nur da einzutreten, wo Eltern hartnäckig ihre Einwilligung zur Überführung ihres Kindes in die Hilfsschule verweigern, oder ihren Kindern nicht einen entsprechenden Unterricht an- gedeihen lassen.

4. Die zwangsweise Überweisung ist abhängig zu machen von einer pädagogischen und ärztlichen Feststellung der Schwachbefähigung des zu überweisenden Kindes,

5. Der Erlass gesetzlicher Bestimmungen vder behördlicher Verfügungen, welche die zwangsweise Überweisung von Kindern in die Hilfsschule er- möglichen, ist überall da anzustreben, wo zur Zeit solche Bestimmungen oder Verfügungen noch nicht bestehen.

Die Hilfsschullehrer wollten anfänglich durch die Erfolge ihrer Tätigkeit die Eltern willig und geneigt machen, ihre Kinder den Hilfsschulen anzuvertrauen. In den meisten Fällen ist ihnen dieses auch gelungen, und nur selten waren besondere Massnahmen erforderlich. Bei der heutigen Ausbreitung der Hilfs- schulen wäre es nun an der Zeit, wenn durch gesetzliche Bestimmungen die Einschulung schwachbegabter Kinder in die Hilfsschulen besonders geregelt würde, wie dieses z. B. schon in Braunschweig durch ein Landesgesetz geschehen ist. Das preussische Unterrichtsministerium scheint die Auffassung zu vertreten, dass die Hilfsschulen nur eine besondere Veranstaltung der Volksschulen bedeuten; es hat daher in einigen Fällen die Beschwerden der Eltern gegen die Einschulung ihrer schwachbegabten Kinder in die Hilfsschulen als ungerecht- fertigt zurückgewiesen. Einzelne Bezirksregierungen, z. B. die Königliche Regierung zu Erfurt, sind dieser Auffassung beigetreten und ordnen im Weigerungsfalle die zwangsweise Einschulung in die Hilfsschulen an. Um jedoch eine Gleich- mässigkeit in der Behandlung solcher Fälle zu erzielen, wäre ein Erlass gesetz- licher Bestimmungen oder behördlicher Verfügungen über die zwangsmässige Einschulung schwachbegabter Kinder in die Hilfsschulen anzuerstreben. Zur Erreichung dieses Zweckes können zwei Wege beschritten werden; es kann ent- weder der Vorstand des Verbandstages an massgebenden Stellen in diesem Sinne

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petitionieren, oder die betreffenden Schulen resp. Schulverwaltungen, wo Weigerungs- fälle auftreten, wenden sich an ihre Abgeordneten, um landesgesetzliche Be- stimmungen in dieser Angelegenheit allmählich zu erwirken. Es würde sich empfehlen, beide Wege zur Erreichung diesbezüglicher Verordnungen zu beschreiten.

Im geschäftlichen Teil der Vorversammlung wurde zunächst eine Statutenänderung des Verbandes in dem Sinne vorgenommen, dass auch die soziale Fürsorge für die den Hilfsschulen überwiesenen Kinder während und nach der Schulzeit als Aufgabe des Verbandes gelten soll. Des weiteren wurde beschlossen, bei den Staatsregierungen auf die Einrichtung von Kursen für die Aus- und Fortbildung der Hilfsschullehrer hinzawirken, eine aktuelle Massnahme im Interesse der Hilfsschulbestrebungen, die anderweitig erkannt und auch bereits durchgeführt worden ist. So fand in der Zeit vom 24. April bis zum 1. Juli 1899 ein Bilduugskurs für Lehrer und Lehrerinnen an Spezialklassen für Schwachbegabte in Zürich statt. Nach dortigen Mit- teilungen ist eine Wiederholung derartiger Bildungskurse für die Zukunft ge- plant. Eine recht gründliche Vorbildung erhalten die Lehrer an der Landes- idiotenanstalt zu Budapest. Sie müssen dort zunächst einen einjährigen Bildungskursus an der Anstalt absolvieren, während dessen sie praktisch und theoretisch mit dem ganzen Gebiete des Schwachsinnigenbildungswesens bekannt gemacht werden. Amı Schlusse des Jahres findet die Prüfung für Idiotenlehrer statt; ihre Ablegung berechtigt zur definitiven Anstellung als Idiotenlehrer.

Die Taubstummen- und Blindenlehrer müssen bei ung auch eine gründliche Vorbildung nachweisen, ehe sie definitiv als solche angestellt werden. Erstere haben zu diesem Zwecke die Taubstummenlehrerprüfung abzulegen ; ihre Prüfungsordnung besteht schon seit dem Jahre 1878. Die Blindenlehrer streben zur Zeit auch naclı einer Fachprüfung; auf dem letzten Blindenlehrer-Kongresse wurde diese Angelegenheit ebenfalls zur Sprache und Diskussion gebracht. Es wäre daher an der Zeit, wenn wir gleichfalls eine besondere Prüfung für Lehrer für Schwachbegabte verlangten. Bei der heutigen Ausbreitung unserer Schulen und Anstalten dürfte dieser Wunsch gerechtfertigt erscheinen, ohne dass er noch besonders begründet werden müsste. Wenn für jene Kategorien von Lehrern besondere Fachprüfungen nötig sind, dann sind sie für uns erst recht erforderlich, da unser Arbeitsgebiet jenen Arbeitsgebieten an Umfang und Eigenart zum min- desten gleich, wenn nicht noch umfangreicher und eigenartiger als die ihrigen gestaltet ist.

Es ist so oft die Frage erörtert worden, mitunter sogar mit einer gewissen Gehässigkeit, wem die Leitung der Anstalten für Schwachsinnige gebürt, ob dem Arzte oder dem Pädagogen. Diese Frage könnte mit der Einführung einer Fachprüfung zunächst für Lehrer, später für Vorsteher sulcher Anstalten (analog den Prüfungen der Taubstummenlehrer und der Vorsteher der Taubstummen- anstalten) aus der Welt geschafft werden. Auf dem Gebiete des Taubstummen- bildungswesens ist mit der Durchführung der Prüfungen grosse Klarheit und weitgehende Übersicht in vielen Beziehungen erzielt worden, so dass die dortigen Verhältnisse geradezu nachahmenswert erscheinen.

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Zun Schlusse der Vorversammlung kamen noch einige Vereinsangelegenheiten zur Verhandlung, u. a. wurde Bericht über den Stand der Verbandskasse er- stattet und dem Kassenführer Entlastung erteilt; bei der zuletzt vorgenommenen Vorstandswahl wurden die ausscheidenden Vorstandsmitglieder durch Zuruf wieder- gewählt, so dass der Vorstand derselbe geblieben ist. Es gehören demselben folgende Mitglieder an: Stadtschulrat Dr. Wehrhahn, Hannover, 1. Vorsitzender. Hauptlehrer Kielhorn, Braunschweig, 2. Vorsitzender. Rektor Grote, Han- nover, 1. Schriftführer. Rektor Henze, Hannover, 2. Schriftführer. Rektor Basedow, Hannover, 3. Schriftführer. Lehrer Bock, Braunschweig, 1. Rechnungs- führer. Schulvorsteher Wintermann, Bremen, 2. Rechnungsführer.

Die Hauptversammlung fand um 9 Uhr im Konzertsaal der Liedertafel statt und war von etwa 300 Teilnehmern besucht. In seiner Begrüssungsrede gab der Vorsitzende des Verbandes, Stadtschulrat Dr. Wehrhahn -Hannover, einen kurzen Überblick über die überaus rasche Entwicklung des Hilfsschul- wesens in den letzteu Jabıen. Während im Gründungsjahre des Verbandes (1898) in 52 deutschen Städten Hilfsschulen mit 4300 Kindern bestanden, sind gegen- wärtig in 147 deutschen Städten solche Schulen mit ca. 15000 Kindern vor- handen. Die Zahl der Schüler hat sich seit 1898 etwa vervierfacht. Trotzdem entbehren noch immer viele Tausende schwachbegabteı Schüler eines geeigneten Unterrichts, so dass der Verband noch manche Arbeit auf dem Gebiete der Verbreitung der Hilfsschulen zu leisten hat. Nach dieser kurzen Übersicht seitens des Verbandsvorsitzenden folgten die üblichen Begrüssungen. Die Ver- sammlung wurde begrüsst im Namen der Grossherzoglich Hessischen Regierung durch Oberschulrat Dr. Scheuermann, im Namen der Stadt Mainz durch den 1. Beigeordneten Dr. Schmidt und im Namen des ÖOrtsausschusses und der Lehrerschaft durch Kreisschulinspektor Dr. Zang. Vom Geh. Oberregierungsrat Brandi im preussischen Kultusministerium lag ein Begrüssungsschreiben vor. Die Versammlung beschloss, Danktelegramme zu entsenden an das preussische Unterrichtsministerium, an Geheimrat Brandi und an Oberschulrat Eisenhut- Darmstadt. Nach Bestätigung der Beschlüsse der Vorversammlung folgten die Vorträge. |

Hilfsschulleiter Delitsch -Plauen i/V. referierte über das Thema: „Das schwachbegabte Kind im Haus und in der Schule.“ Seiner Arbeit lag folgender Gedankengang zu Grunde:

Kindlicher Schwachsinn wird vielfach erst nach der für die geistige Ent- wicklung sehr bedeutsamen vorschulpflichtigen Zeit erkannt.

Ihn verursachen Entwicklungsstörungen in der Grosshirnrinde.

Er äussert sich in Verzögerung und Schwächung, seltener in krankhafter Steigerung, geistiger Funktionen. Er entstellt auch die äussere Erscheinung des . Schwachbegabten.

Der immer lästiger fallende Mangel an äussern Reizen (? Ref.) und innern Vorzügen entzieht den Bedauernswürdigen das allgemeine Wohlwollen, trübt selbst die ihnen besonders nötige elterliche Liebe.

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Mit dem Eintritt in die Schule wird die Schwäche der minderbegabten Kleinen der Öffentlichkeit preisgegeben.

Die Volksschule für normale Kinder überbürdet und bedrückt schwachbegabte Schüler bis zur Gefährdung ihrer Gesundheit.

Meist unterstüzt das Elternhaus den verfehlten Versuch der Schule, anormale Kinder zu normalen Leistungen zu zwingen.

Nach fruchtlossem Bemühen von Schule und Haus werden schwachbegabte Zöglinge im wesentlichen sich selbst überlassen, obgleich gerade sie der Leitung bedürfen.

Die Erziehung Schwachbegabter können Hilfsschulen eher übernehmen als Hilfsklassen. |

Doch sind an die Organisation der Hilfsschule folgende Sonderforderungen zu stellen:

Eine sorgfältige Aufnahmeprüfung vereine in der Hilfsschule nur schwach- begabte Schüler. i

Eine nach Bedürfnis später wiederholte ärztliche Untersuchung der An- gemeldeten führe zum Ausschlusse von Kindern mit schweren Sinnesdefekten und von Kranken, die ihre Mitschüler gefährden, führe aber auch zu ärztlicher Hilfe und pädagogischer Schonung leidender Schüler.

Die Hilfsschule sei hinreichend gegliedert und zweckmässig mit Lehrkräften, Lehrstunden und Lehrmitteln bedacht.

Der Hilfsschullehrer gewinne erst seine Schüler, erwecke erst ihr Selbst- vertrauen. Er unterrichte individuell, sei Erzieher, verbinde sich demgemäss, soweit es dienlich ist, mit den Eltern seiner Zöglinge, treffe anderseits Mass- regeln zur Verhütung falscher Behandlung oder im Elternhause drohender Ver- wahrlosung. Er leite seine Pfleglinge von der Schule ins Leben, wenn nötig bis zu geeigneter Berutsstätte, bleibe auch den aus der Hilfsschule Entlassenen auf Wunsch (oder Bedürfnis d. Ref.) ein treuer Berater und Helfer. Er wehre unverständiger Beurteilung und Behandlung Schwachbegabter, erwecke das all- gemeine Mitgefühl für ihr unverschuldetes Elend und werbe diesen Stiefkindern der Natur hilfbereite Freunde.

Zur Erfüllung solcher Pflichten bedarf er hinreichender Gelegenheit zur Selbstbildung, Freiheit der Bewegung im Amte und behördlicher Unterstützung seiner Erziehungsmassregeln wie seiner sonstigen humanen Bestrebungen.

Unter allen diesen Voraussetzungen werden Hilfsschulen den Schwach- begabten zum Segen gereichen.

Eine Besprechung dieses Vortrages, der mit einer gewissen Wärme vom Referenten zum Ausdruck gebracht wurde, fand nicht statt. Im allgemeinen boten seine Ausführungen für den Fachmann wenig neue Aussichten und be- achtenswerte Anregungen, es lag dieses wohl in der Fassung der Aufgabe be- gründet; die Allgemeinheit dagegen wird sicher manches profitiert haben, sowohl < in Beziehung auf die Psychologie des Schwachsinnes, als auch nach der Seite der pädagogischen und didaktischen Behandlung der Schwachbegabten hin.

Als zweiter Referent berichtete Oberamtsrichter Nolte -Braunschweig über

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„die Berücksichtigung der Sehwachsinnigen im bürgerlichen und öffent- lichen Recht des Deutschen Reiches.“ Redner beleuchtete zunächst die Rechtsstellung der Schwachsinnigen nach dem Bürgerlichen Gesetzbuche, be- rührte hierauf die für die Rechtspflege der Schwachsinnigen massgebenden Paragraphen des Reichsstrafgesetzbuches und verbreitete sich des weiteren über die Zivilprozessordnung in ihrer Bedeutung für solche Personen. Er bot eine Zusammenstellung und Erläuterung des hier in Betracht kommenden sehr reichen Materials und gab Aufschluss über Geschäftsfähigkeit, Geschäftsbeschränktheit, Geschäftsunfähigkeit, Entmündigung, Vormundschaft und Pflegschaft. So inter- essant auch seine Darlegungen waren, so wenig vermochte man ihnen zu folgen, da sie manche juristische Kenntnisse voraussetzten, die den meisten Pädagogen, namentlich in der Bekanntschaft der vielen bezeichneten Paragraphen ver- schiedener Gesetzbücher vollständig mangeln. Interessant war es zu vernehmen, dass Redner bisher keine Fälle von Geistesschwäche in seiner richterlichen Praxis zu behandeln Gelegenheit hatte. Von der Drucklegung dieses Vortrages ver- sprechen wir uns manche Vorteile für die Rechtspflege der Schwachsinnigen.

Eine lebhafte Debatte entspann sich bei der folgenden Beratung über die bereits dem II. Verbandstag vom Hauptlehrer Kielhorn-Braunschweig vorgelegten Leitsätze über die Organisation der Hilfsschule, welche in folgender Fassung angenommen wurden:

G. Der Unterricht. I. Allgemeine Gesichtspunkte.

l. Der Unterricht trage erziehlichen Charakter, er suche die Kinder für das tägliche Leben tüchtig zu machen und deren Erwerbsfähigkeit anzubahnen.

2. Nicht auf die Stoffmenge kommt es an, sondern auf eine zweck- entsprechende, sorgfältige Verarbeitung und vollständige Aneignung des Stoffes. Überbürdung ist zu vermeiden.

3. Die Darbietung des Stoffes sei einfach, knapp. anschaulich und möglichst lückenlos aufbauend.

4. Lehr- und Anschauungsmittel müssen ausreichend und mannigfaltig vorhanden sein, damit der Unterricht von der Anschauung ausgehen und durch die Anschauung unterstützt werden kann.

5. Häusliche Arbeiten sind auf das Mindestmass zu beschränken.

b. Schulspaziergänge sind oft zu unternehmen; sie dienen unterrichtlichen Zwecken und können in die Unterrichtszeit fallen.

II Der Stundenplan.

1. Die Unterrichtsstunden für Lehrer betragen im Durchschnitt wöchent- lich etwa 24; daneben ist ihnen die Verpftichtung aufzuerlegen, die Wohlfahrts- bestrebungen für die Hilfsschulschüler zu fördern.

2. Die Unterrichtsstunden für die Kinder betragen in der Regel wöchent- lich 20—26 einschliesslich Handarbeit und Turnen.

3. Die Verteilung auf die einzelnen Tage ist derart vorzunehmen, dass ein Wechsel zwischen mehr und minder ermüdenden Fächern stattfindet.

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4. Jede Unterrichtsstunde werde durch eine Pause von 10—15 Minuten gokürzt.

5. Soweit als möglich finde der Unterricht des Vormittags statt.

6. In der mehrklassigen Hilfsschule ist darauf Bedacht zu nehmen, dass einzelne Kinder in einzelnen Fächern ausgewechselt werden können.

Es ist durchaus erforderlich, dass feste Grundsätze für die Organisation der Hilfsschule gewonnen werden, denn nur auf sicherer Grundlage kann die Hilfs- schule gedeihen und Segen schaffen. Den Hilfsschullehrern muss wohl eine gewisse Bewegungsfreiheit gestattet werden, das verlangt die individuell verschiedenartige Veranlagung ihrer Schüler, aber besser ist es, wenn die Ziele und Grundsätze der Hilfsschule in bestimmter Form und Fassung in die Öffentlichkeit gelangen. Die Kielhornschen Leitsätze über die Organisation der Hilfsschule haben in ihrer Folge nun schon drei Verbandstage beschäftigt, sie gelten als das Fun- dament, worauf der ganze Hilfsschulbau gegründet ist.

Den Schlussvortrag hielt Hilfsschullebrer Mayer-Mannheim über das Thema: „Welche Besonderheiten ergeben sich für den Sach- unterricht in der Hilfsschule?“ Er wies zunächst darauf hin, dass bei den Schwachbegabten erst ein gewisser Aufmerksamkeitszustand geschaffen werden müsse, bevor der Unterricht beginnen kann. Dieser Zustand sei durch Übungen der Sinne anzubahnen und herbeizuführen. Dem Formenunterricht sei eine besondere Pflege zu widmen. Von grösster Bedeutung für die Hilfsschule erscheine ein besonders geregelter Darstellungsunterricht (Arbeitsunterricht), wo- durch eine zweckmässige motorische Ausbildung erzielt wird. Die Erziehung und Bildung durcli Arbeit möge unsere besondere Beachtung verdienen. Dieses ungefähr waren die Ideen, welche Redner entwickelte Die Beispiele, welche zu den Sinnesübungen (Auge, Ohr, Geschmack, Tastsinn) bezeichnet wurden, sind allgemein gebräuchlich, sie lehnten sich in der Hauptsache an Dr. Liebmanns Vorschläge an. Es lässt sich nicht leugnen, dass die Darlegungen des Referenten etwas für sich haben, da schliesslich eine zweckmässige motorische Ausbildung in vielen Fällen doch unser Hauptbestreben bleiben wird. Auf- merksamkeit ist nach Preyer ein Willensakt; Betätigung des Willens aber ver- langt motorische Leistungen, und diese setzen motorische Ausbildung voraus. Es ist zuerst von Du-Bois-Reymond-Berlin hervorgehoben worden, dass jede Leibesübung auch eine Geistesgymnastik bedeutet. Jede Tätigkeit wirkt auf das Nervensystem zurück und hängt von diesem ab und trägt so zur Bildung dessen bei, was wir Geist nennen. Das schwachbegabte Kind zeigt sich als ein Schwäch- ling in Bezug auf Aufmerksamkeit und Wollen, das sind diejenigen psychischen Tätigkeiten, welche „alle untergeordneten Funktionen des Geistes verdichten und konzentrieren“. Daher wird eine zweckmässige Massnahme, durch welche jene Tätigkeitsäusserungen gestärkt und gepflegt werden, ganz gleich ob es ein Arbeits- unterricht oder eine Sinnesübung ist, wohl am Platze sein. Diese Ideen sind bereits von Dr. Demoor praktisch durch das eurhythmische Turnen für die Schwachsinnigenpädagogik verwertet worden. Neu waren also die Darbietungen des Referenten durchaus nicht, dazu Jagen auch keine Leitsätze vor, so dass eine

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kritische Beurteilung seiner Ausführungen erst möglich sein wird, wenn die Drucklegung des Vortrages erfolgt ist. Auch scheint man auf dem Gebiete der Volksschule der Erziehung durch Arbeit in einzelnen Kreisen eine gewisse Beachtung zu schenken ; bahnbrechend in dieser Angelegenheit geht Seminar-

oberlehrer Lay vor, der durch seine Arbeiten ja hinlänglich genug bekannt sein dürfte.

Als Versammlungsort für den nächsten Verbandstag wurde Bremen in Aussicht genommen. Während der Verhandlungen lief vom preussischen Kultus- ministerium ein Danktelegramm ein. Nach dem gemeinschaftlichen Mittagsmahl besichtigten die Teilnelımer die Sehenswärdigkeiten der Stadt, den Dom, die Rheinanlagen und das Römisch-Germanische Museum. Zum Abschluss der Ver- anstaltungen fand abends 8 Uhr ein Festabend in der Stadthalle, dem zweit- grössten Saale Deutschlands, statt, der einen äusserst schönen Verlauf nahm. Hilfsschullehrer Büttner-Mainz erfreute die Gäste durch einen formvollendeten Prolog, Oberlehrer Stenner-Mainz entbot im Namen des Ortsausschusses ein herzliches Willkommen, und Stadtschulrat Dr. Wehrhahn-Hannover gab dem Danke der Gäste für den überaus liebenswürdigen Empfang im „güldenen Mainz“ mit beredten Worten Ausdruck. Die Gesamichöre verschiedener Mainzer Männergesangvereine fanden grossen Anklang, ebenso die Leistungen der Musik- kapelle. Nur zu schnell verliefen die schönen Stunden bei den wohlgelungenen musikalischen Darbietungen, bei Unterhaltung und anregendem, gemütlichem und humorvollem Geplauder, selbst die Satire erschien und forderte ihre Opfer. Es hatte sich jemand aus der Versammlung dem Vitriol, das sich überall durch - frisst, ähnlich bezeichnet, sofort wurde ihm die wenig schmeichelhafte Bezeichnung: „Vitriolmensch“ beigelegt. Eine Lehrerin, die mit Chic und Konformität ge- kleidet war, erhielt den Beinamen: „Die Moderne“.

Am 16. April fanden die Besuche der psychiatrischen Klinik zu Giessen und der Erziehungsanstalt für schwachbegabte Kinder zu Idstein i./T. statt. Universitätsprofessor Dr. Sommer-Giessen empfing in liebenswürdiger Weise die Teilnehmer und versammelte sie in dem Hörsaale der Klinik zu einem interessanten Vortrage Er sprach über das Thema: „Die verschiedenen Formen der Idiotie vom Standpunkte der Therapie und Prophylaxe“. Die Thesen seines Vortrages waren folgende:

1. Bei den unter dem Sammelnamen Idiotie zusammengefussten Zu- ständen von geistiger Störung handelt es sich um das Endresultat sehr verschiedener Krankheitsprozesse.

2. Die Idiotie ist nur in einem Teil der Fälle angeboren, bei dem andern handelt es sich um Krankheiten, welche in den ersten Lebens- jahren erworben worden sind.

3. Mehrere Gruppen der in den ersten Lebensjahren erworbenen Idiotie, vor allem die Hydrocephalie, sind im Beginn der Krankheit thera- peutisch beeinflussbar und werden bei weiterm Fortschritt der Behandlungsmethoden vermutlich heilbar sein.

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4. Auch die unheilbaren Zustände von Idiotie, speziell die epileptischen Formen, erweisen sich öfter in einzelnen Symptomen als besserungsfähig.

5. Einige Gruppen der angeborenen Zustände von Jdiotie im engern Sinne bilden einen Gegenstand der Prophylaxe.

6. Mit Bezug auf die angedeuteten Formen von Idiotie erscheint es als eine hygienisch und sozial-ökonomisch dringende Aufgabe, die Zahl der idiotischen Geistesstörungen durch Prophylaxe und soweit als möglich, durch Therapie im Beginn der Störung zu vermindern,

7. Als Grundlage für die pädagogische Behandlung der Idiotie ist eine medizinische Psychologie auf naturwissenschaftlichem Boden erforderlich.

Dr. Sommer hat sich in seinen Ausführungen im ganzen wenig an diese Thesen gehalten, sondern ist andere Wege gegangen. Er gab zunächst eine Erklärung der Anlage der ganzen psychiatrischen Klinik und eine Beschreibung der einzelnen Häuser und Gartenanlagen. Daran schloss sich ein Rundgang durch verschiedene Häuser mit Besichtigung einzelner Räume unter demonstrativer Erklärung an. Zurückgekehrt nach dem Hörsaale begann er seinen eigentlichen Vortrag, der durch zalılreiche photographische Aufnahmen anschaulich erläutert wurde. Er verbreitete sich zunächst über die Hydrocephalie. Diese ist nach seiner Darstellung eine sekundäre Folge innerer primärer Erkrankungen. Der Flüssigkeitsandrang im Gehirn ruft periodisch wachsende Störungen hervor. Die Hydrocephalen bieten im allgemeinen eine gute Prognose, ihre Behandlung wird sich für die Zukunft in therapeutischer Beziehung günstig gestalten lassen, namentlich bei weiterm Fortschritt der medizinischen Behandlungsmethoden. Meistens kommen Restzustände der Hydrocephalie in die ärztliche Behandlung, in welchen Fällen in der Regel nichts mehr zu machen ist. Es wäre wünschens- wert, wenn Primärzustände den psychiatrischen Kliniken zugewiesen würden. Alsdann kam Redner auf die Mikrocephalie zu sprechen, die nach seinem Urteile wenig beeinflussbar ist und eine ungünstige Prognose bietet. Die Mykro- cephalen sind die reinen Schmerzenskinder sowohl für den Pädagogen wie für den Arzt. Die Therapie bat bisher bei ihnen keine nennenswerten Resultate er- zielen können. Referent ging dann zur Beschreibung des Kretinismus über, der seiner Ansicht nach medizinisch sehr günstig zu behandeln geht. Er kam auch auf die Behandlung der Kretinen mit Schilddrüsenextrakt zu sprechen und entwickelte darüber äusserst optimistische Ansichten. Auch einer Art Rhachitis, welche sehr grosse Ähnlichkeit mit dem Kretinismus bekundet, wurde von ihm bei dieser Gelegenheit beschrieben, welche jedoch eine ungünstige Prognose und Therapie entgegengesetzt dem reinen Kretinismus bietet. Zuletzt gab er eine Be- schreibung der Porencephalie und Epilepsie, von beiden Gruppen sagte er für die Behandlung viel Günstiges aus. Er meinte sogar, dass die Epilepsie mit dem Fortschritte der medizinischen Wissenschaft zu heilen sein werde. Die Porencephalen sind, wenn nicht Lähmungen vorliegen, einer motorischen Aus- bildung fähig. Sie behalten mechanische Reihen gut, abstrakte Sachen dagegen schlecht, sind grossartig im Reproduzieren automatischer Wortreihen und können

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in der Handtertigkeit ausgebildet werden. Zum Schlusse wurden noch mehrere anormal gebaute Schädel vorgezeigt, woran sich belehrende Mitteilungen knüptten. Im ganzen war der Vortrag des Professors Dr. Sommer in seiner anschaulichen Darstellung für uns Pädagogen sehr lehrreich; wir sind ilım deshalb zu grossem Dank verpflichtet. Der Veröffentlichung seiner Ausführungen sehen wir mit ge- spannter Erwartung entgegen und erhoffen auch des weiteren von ihm noch manche Anregungen. Unerwähnt darf nicht bleiben, dass Dr. Sommer aus- drücklich herverhob, Ärzte und Pädagogen müssen auf dem Gebiete der Schwach- sinnigenbildung Hand in Hand miteinander wirken, wenn etwas Erspriessliches geleistet werden soll. Überhaupt liessen seine Darlegungen erkennen, dass er der pädagogischen Mitwirkung auf diesem Gebiete grosse Bedeutung beilegte und sie richtig zu werten wusste.

Beim Verlassen der psychiatrischen Klinik ereignete sich noch ein recht drastischer Vorfall. Ein Teilnehmer des Verbandstages, der jedenfalls infolge des Festabends einen Flüssigkeitsandrang im Gehirn hatte, klagte über heftige Kopt- schmerzen. Schnell war jemand mit dem guten Rate dabei: „Sie hätten sich einen von den Schädeln des Professors aufsetzen sollen, dann würde er Ihnen nie mehr Schmerzen bereiten können.“ Der also Beratene soll stillschweigend da- vongegangen sein.

Von Giessen begaben sich einzelne Teilnehmer noch nach Idstein i./T., um die dortige Erziehungsanstalt für Schwachbegabte zu besuchen. Es war kein offizieller Besuchstag mehr, aber dennoch wurden wir als liebe Gäste auf das herzlichste aufgenommen und mit grösster Bereitwilligkeit in die Anstalts- wirksamkeit eingeführt. Wir hospitierten in den einzelnen Schulklassen, be- suchten die Wohn- und Schlafräume und nahmen die Werkstätten in Augenschein, selbst Küche, Keller, Speisesaal und Baderaum waren uns geöffnet. Die Lage der Anstalt ist eine äusserst günstige, ebenso zweckmässig erscheint die Grup- pierung der einzelnen Anstaltsgebäude, die Anlage des Turnplatzes, Gartens und Parkes. Die innere Einrichtung sämtlicher Räume ist geschinackvoll und praktisch getroffen, alles war äusserst sauber, hell, luftig und machte den Eindruck eines wohlgeordneten Hauswesens, bis zu dem komfortabel eingerichteten Pensionat, in welchem doch verschiedene Insassen vereinigt waren. Wenn schon der äussere Eindruck der Anstalt angenehm wirkte, um so viel mehr Freude bereitete uns das innere Leben des wohlorganisierten, musterhaft eingerichteten Erziehungsheims. Wir sahen fröhliche Kindergesichter, freundliches Hauspersonal, freudige Lehr- personen und durchweg munteres Leben und Weben im Hause, in der Schule und auf dem Spielplatze. Wo sich alles so schön und wohlgeordnet unter weit- blickender Oberleitung vollzieht, da ist den Ärmsten unter den Armen eine rechte Bildungsstätte bereitet, in der sie zu nützlichen Gliedern der Menschbeit erzogen werden. Die Schule, an welcher erfahrene, äusserst strebsame Lehrer wirken, kann als Muster einer Anstaltschule bezeichnet werden, wir sahen selten so erfreuliche Resultate in einer Erziehungsanstalt für Schwachbegabte, wie hier, auch fanden wir selten ein so zielbewusstes, pädagogisch gewandtes und psycho- logisch richtiges Arbeiten in einer Anstalt wie in Idstein. Es würde zu weit

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führen, Einzelnes eingehender zu schildern, wir wollen nur noch bemerken, dass die Erziehungsanstalt für Schwachbegabte zu Idstein als Musteranstalt in jeder Hinsicht bezeichnet werden muss. Wir schieden von Idstein mit dem Bewusstsein, dass wir etwas wirklich Hervorragendes und Vollendetes auf dem Gebiete des Schwachsinnigenbildungswesens gesehen und manche Anregungen für unsere Schulen gewonnen hätten.

Der 1V. Verbandstag bot seinen Teilnehmern mannigfache Belehrungen, hoffentlich ist in dieser Beziehung ein jeder befriedigt heimgekehrt. Einzelne Vorträge waren allerdings von unendlicher Länge, so dass erzāhlt wurde, ein Teilnehmer wäre beim Beginne des einen Vortrages schnell nach dem nahe gelegenen Wiesbaden gefahren, hätte sich dieses angesehen, und als er von seinem Besuche zurückkehrend den Saal aufsuchte, stände noch immer der- selbe Referent am Rednerpulte in seinem Vortrage. Wir schliessen unsern Bericht mit dem Wunsche, dass es dem Verbande vergönnt sein möge, das Interesse für die Fürsorge der Schwachbegabten wach zu erhalten und die Hilfs-

schulbestrebungen zu verständnisvoller Würdigung und Pflege zu führen.

Prolog.

Verfasst und gesprochen von H. Büttner, Hilfsschullehrer in Mainz.

Gebrochen ist des Winters Macht, Verweht bald seine Spur; Ein neues Leben jetzt erwacht, Im Wald, auf Wies’ und Flur.

„Wach’ aufl* ruft uns nun alles zu, Die Vöglein, Blumen, Aun. „Wach auf, du Menschenkind! auch du Sollst Gottes Wunder schau’n:“

Viel tausend Knösplein zart verhüllt Im hoffnungsvollen Grün. Des Frühlings Sonn’, dies Zauberbild, Lässt daraus Blumen blühn.

Wie freut sich dann des Menschen Herz Und hebt uns hoch die Brust, Wird frei von Kummer, frei von Schmerz, Es winkt nur Freud’ und Lust.

Doch ach in kühler Maiennacht Ein rauher Windstoss fegt, Zerstört die Blüten, all die Pracht, Die kaum Natur gehegt.

O, so schwindet auch beim Kinde Mancher Eltern Hoffnungsstrahl. Wo sie wähnen, Glück zu gründen, Sprossen Jammer, Sorgen, Qual.

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Oft schon in des Lebens Frühling Schleichen Krankheitskeime ein, Trüben Herz und Geist dem Liebling. Süsse Hoffnung weicht der Pein!

Vergebens Haus und Schul’ sich rühret, Zu wecken hier des Geistes Licht. Ein Fortschritt wird dann kaum verspüret, Des Schicksals Schlag er weichet nicht.

Nur eine Rettung jetzt noch winket, Die lohnen kann ein ernst Bemühn, Wenn dem Armen, der da sinket,

Drei Wunderblumen bald erblüh’n.

„Liebe“ nennet sich die eine, Die zweite wird „Geduld“ genannt, Die, mit „Ausdauer“ vereinet, Des Geschickes Härte bannt.

Ihr wackern Lehrer pflanzet, pfleget Diese Blumen immerdar! Übt die Kunst, die da noch reget, Wo andrer Müh’ vergeblich war.

Geniesset einst den süssen Frieden, Der Euch beschert vom Himmel ward, Wenn Ihr gemildert stets hienieden Der Wunden Schmerz, das Schicksal hart.

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Drum lasst uns wacker streiten Der Kinderfreund er spende Heil Auf dem von uns betret’'nen Pfad. Auf Euer Streben, Euer Tun! Gott wird unser Schifflein leiten, Seine Hand mag alles geben, Der Segen uns versprochen hat. Mög’ über Eurem Werke ruh’n!

Das Rechnen auf der Unterstufe der Hilfsschule. Vortrag, gehalten auf dem IV. Verbandstage der Hilfsschulen Deutschlands zu Mainz am 14. April 1903 von H. Giese, Hauptlehrer in Magdeburg.

I,

Das Rechnen ist auch in unsern Schulen eins der wichtigsten Unter- richtsfächer. Neben einem hohen formalen Wert hat es einen grossen prak- tischen Nutzen: es rüstet das Kind mit einer Fertigkeit aus, die schon während der Schulzeit ihm manchen Vorteil bringt, nach derselben aber unent- bebrlich ist. Denn im „häuslichen und bürgerlichen Leben wird täglich ge- _ messen, gewogen, gezählt und überschlagen, oder, mit einem Worte, gerechnet“. Wer nicht rechnen kann, kommt ebenso schwer vorwärts als der des Lesens und Schreibens Unkundige, auch er wird an allen Ecken und Enden über- vorteilt, betrogen. Ja, für manchen ist es noch wichtiger, als die beiden vor- hergenannten Fertigkeiten. Der Knecht und der Tagelöhner z. B. brauchen oft wochenlang nicht zu lesen und zu schreiben; rechnen aber müssen auch sie jeden Tag.

Unsere schwachbegabten Schüler können nur einen geringen Rechen- stoff bewältigen, und ibre spätere Lebensstellung verlangt auch keinen umfang- reichen. Wenn sie die vier Grundrechnungsarten bis 100 im Kopfe sicher lösen können, mit der schriftlichen Darstellung derselben bis 1000 vertraut sind, auch die bekanntesten Münzen, Maße und Gewichte und ihre Schreibweise kennen und die gebräuchlichsten Brüche anzuwenden imstande sind, dann haben sie eine für ihre Verhältnisse ausreichende Rechenfertigkeit sich angeeignet.

Dieser Stoff würde sich auf die sechs Schuljahre der Hilfsschule am besten so verteilen: 1. Schuljahr: Addition und Subtraktion bis 10; 2. Schuljahr: dieselben Arten bis 20; 3. Schuljahr: dieselben bis 100; 4. Schuljahr: Mul- tiplikation und Division bis 100, und die beiden letzten Jahre: die Grund- rechnungsarten bis 1000, dezimale Schreibung von M Pf, m cm, hI—1 und die bekanntesten Fälle aus der Bruchrechnung.

Selbstverständlich kann diese Aufstellung nicht für sämtliche Hilfsschulen Gültigkeit beanspruchen. Wer nur eine geringe Anzahl Schüler unterrichtet, diese zu einer Abteilung vereinigen kann und wöchentlich 5 oder sogar 6 Stunden Rechenunterricht erteilt, leistet mehr als der, der unter nicht so günstigen Verhältnissen arbeitet.

Für die Unterstufe der Hilfsschule also für das erste und zweite Schul- abr verlangte ich Addition und Subtraktion im Zahlenraum 1--20

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Wir tun gut, wenn wir in diesem Kreise die beiden anderen Grundrechnungen noch nicht lehren, sondern sie für das vierte Schuljahr aufsparen.

Unsere Rekruten haben vollauf zu tun, die beiden erstgenannten Arten dem Wesen und ihrer Bezeichnung nach auseinander zu halten. Treten nun aber noch zwei oder richtiger drei andere hinzu denn Enthaltensein und Teilen wollen unterschieden werden dann ist Verwirrung da.

Multiplikation und Division sind ein abgekürztes Addieren und Subtrahieren. Daraus ergibt sich, dass sie, weil sie eben abgeleitet sind, nur dann mit Erfolg behandelt werden können, wenn die beiden Stammarten zur vollen Sicherheit und Geläufigkeit gelangt sind. Dazu gehört aber vielfache, auch nach Beendigung dieses Kreises noch andauernde Übung.

Es folgt hieraus aber auch weiter, dass sie, weil sie das Verfahren be- deutend abkürzen, schwieriger aufzufassen sein müssen als die Stammarten. Und das bestätigt die Erfahrung. Die meisten Schüler unserer Unterstufen sind nicht zum klaren Erkennen der beim Malnehmen, Teilen und Enthaltensein auf- tretenden Zahlenbeziehungen zu bringen. Mit einem verständnislosen Aneignen aber ist ihnen ebenso wenig wie andern Kindern gedient. Auch die Hilfsschule muss das Rechnen auf allen Stufen als Übung im klaren Denken betreiben und „darf es nicht zum mechanischen Drill herabsinken lassen“.

Und wenn es wirklich gelingen sollte, unsere Zöglinge schon auf der Unter- stufe zur Einsicht in diese beiden Rechnungsarten zu führen, auch dann stände der Gewinn in keinem rechten Verhältnis zu der aufgewandten Zeit und Arbeit. Nur wenige neue Zablenverhältnisse wären ihnen hierdurch klar geworden, und diese so mühsam erworbenen Kenntnisse würden, da sie im folgenden Schuljahre, das Addition und Subtraktion im Zahlenraum 1—100 treibt, nicht gebrauch! werden und deshalb auch selten zur Wiederholung kämen, bald verloren sein.

Selbst für den ersten Unterricht normaler Schüler sind einige Methodiker mit der Durchnahme der beiden ersten Grundrechnungsarten zufrienden, so Sobo- lewsky*) und Hübner.**) Darum meine ich, auch wir begnügen uns auf der Unterstufe mit diesen.

Im ersten Schuljahre kommen Addition und Subtraktionim Zahlen- raum 1—10 zur Behandlung. Welche Übungen werden hier vorgenommen ? Die Zahlen treten in einer bestimmten Reihenfolge auf, die das Kind durch das Zählen kennen lernt. Man lässt vorwärts und rückwärts zählen, bald mit

*) Wir finden es für gut, in dem Zahlenraum bis 20 nur eben die Grundaufgaben des Zuzählens und Abziehens vorzunehmen und sich mit dem Vervielfältigen und Teilen nicht erst sehr einzulassen, ausser etwa solche naheliegende Bemerkungen, wie statt 747=14 sagen zu lassen 2X7=14. Es sind ja doch nur gleichsam ein paar Brocken, die man davon beibringen kann, und die nachher im Zahlenraum bis 100 sich ohne Mühe mit Leichtigkeit nachholen lassen. Allenfalls das Einmaleins der 2 kann man vornehmen, da dies sich inner- halb des Zahlenraumes 1—20 zu Ende führen lässt.

**) Wenn die Verhältnisse nicht die vollständige Durcharbeitung gestatten, kann die Multiplikation und Division im Gebiete 1—20 ausgeschieden werden, da sie bei Behandlung des Zahlenkreises 1—100 gründlich einzuäben sind.

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dieser bald mit jener der den Schülern bekannten Zahlen beginnen und den Platz der einzelnen in der Reihe bestimmen.

Jede Zahl steht mit der voraufgehenden in enger Beziehung; sie ist aus ihr durch Zulegen der Einheit gebildet worden. Als Einheit kann sich der Schüler nur ein sinnlich wahrnehmbares Ding denken. Deshalb übt er das Zählen zuerst an ihm bekannten Dingen, dann an Zeichen und, wenn die Zahlenreihe richtig aufgefasst worden ist, auch ohne sinnliche Veranschaulichung.

Das Zählen ist eine sehr wichtige Übung, doch genügt es m. M. allein nicht, den Inhalt der Zahl voll und ganz erkennen zu lassen. Es setzt die be- treffende Grösse wohl in Vergleich zu ibren beiden nächsten Nachbarn, aber nicht zu den entfernteren, wenigstens nicht auf direktem und leichtem, sondern auf einem umständlichen und deshalb für unsere Schüler nicht gangbaren Wege. Und doch ist es durchaus notwendig, dass das Verhältnis aller Grundzahlen zu- einander klar erkannt wird. Das Kind soll nicht nur wissen, dass z. B. die 6 aus 5-4-1 besteht ein verständiges Zählen hat ihm das gezeigt sondern, dass sie sich auch aus 442, aus 343, aus 2-44 und aus 1-5 zusammensetzt. Darum ist ebenfalls fleissiges Zerlegen der Grundzahlen in zwei Posten er- forderlich.

Die Umkehrung dieser Übung ist das Ergänzen, bei dem der Rechner von der kleineren der zu vergleichenden Grössen ausgeht. Wählt man leicht- verständliche Ausdrücke, so werden diese Rechenvorgänge auch von unsern Schülern bald aufgefasst.

Zerlegen und Ergänzen in diesem Kreise möchte ich nicht missen, durch sie wird das Auffassen der Zahlen sicherer und klarer, das mechanische Aus- wendiglernen der verhältnismässig wenigen Aufgaben erschwert und das schwierige und gefürchtete Überschreiten des Zehners vortrefflich vorbereitet und so wesent- lich erleichtert.

Mit ihnen sind dem Wesen nach das Zuzählen und Abziehen gleich. Wenn das Kind verstanden hat, dass die grössere Zahl aus 2 kleineren zu- sammengesetzt ist, so muss es doch auch leicht einsehen, dass durch Zusammen- bringen dieser beiden die grössere wieder entsteht und durch Wegnehmen des einen Postens von der Vollzahl der anderen übrig bleibt.

In welcher Aufeinanderfolge man diese Gruppen auftreten lässt ob Zer- legen und Ergänzen vor oder nach dein Zuzählen und Abziehen ist gleich- gültig; denn sie sind, wie schon gesagt, nur verschiedene Formen derselben Arbeit.

Der Zahlenraum 1—10 wird von verschiedenen Methodikern in 2 Gruppen, in 1—5 und 6—10, zerlegt, und in jeder derselben treten die einzelnen Rechen- arten nacheinander auf. Dieser Gang ist für den Unterricht schwachbefähigter Schüler nicht zu empfehlen. Sie alle wissen, wie schwer die meisten unserer Zöglinge zum Erkennen und Unterscheiden selbst nur weniger, auch der kleinsten Zahlengrösse, zu bringen sind, und wie mancher von ihnen, wenn er auch nach vieler Mühe die Zahlen sachlich richtig aufgefasst bat er kann 2 und 3 vor- gelegte Gegenstände nachlegen doch noch nicht imstande ist, sie sprachlich

90 zu unterscheiden: er vergisst oder verwechselt die Vokabeln. Ganz unmöglich ist es solchem Schüler, mehrere Zahlenvorstellungen kurz nacheinander auf- zunehmen. Mit jeder neuen Grösse muss er längere Zeit operieren und sie mit den bekannten in Beziehungen setzen können, wenn der empfangene Eindruck haften bleiben soll. Für ibn darf der neue Kreis sich nur jedesmal um eine Einheit, vergrössern, wir müssen im ersten Schuljahre von Zahl zu Zahl fortschreitend vorgehen, also die Gruppen 1 und 2, 1—3, 1—4 und s. f. bis zur 10 bilden.

Wie geschieht die Bildung dieser Abschnitte, und welche Übungen sind in ihnen vorzunehmen, um den Schüler zu einem denkenden Rechnen zu bringen? Normale Kinder sind bei ihrer Aufnahme in die Schule schon mit den aller- ersten Anfängen des Rechens bekannt; sie unterscheiden 1, 2, 3 und auch wohl noch mehr Gegenstände, sie können diese zählen, sie kennen die Ausdrücke „viel“ und „wenig“, „mehr“ und „weniger“ und verstehen den Sinn derselben. Anders bei unsern Pfleglingen! „Man darf bei ihnen richts, garnichts voraus- setzen, sonst wird man bittere Enttäuschung erfahren.“ Antworten, wie diese: Das ist ein Ofen! Das ist eine Tür! zeigen noch nicht, dass sie eine klare Vorstellung von der Eins haben. Und Redewendungen wie: Ich habe zwei Ohren! Ich habe zwei Augen! sind nur in den allerseltensten Fällen nicht aus- wendig gelernt. Deshalb gilt als erste Arbeit: Gewinnung des Begriffs der „Eins“ und zwar im Gegensatz zu dem „Viel“. Das Kind sieht hier einen - Ball, dort viele Bälle hier einen Pfennig, dort viele Pfennige. An der Wand- tafel steben ein Strich und viele Striche, ein Kreis und viele Kreise. Der Lehrer zeigt ihm einen Bogen mit vielen Bildern, einen Baukasten mit vielen Steinen und dergleichen mehr. Es antwortet: Das ist ein Klotz! Das ist ein Stäbchen! Das sind viele Bilder! Das sind viele Kugeln!

Ist die Eins klar erkannt, lasse man die Zwei aus dieser (durch Zerlegen einer Einheit) entstehen und setze diese beiden Zahlengrössen in Vergleich zu- einander: Der Lehrer hält einen oder zwei Finger, einen oder zwei Schiefer in die Höhe, und die Schüler tun dasselbe, ohne den Namen der Zahl zu bringen ; sie lernen die beiden Grössen ihrem Inhalte nach unterscheiden. Auf die Frage: Wieviel Dinge zeige ich? geben die Schüler jedesmal die Menge und die Art derselben an: Das ist eine Uhr! Das sind zwei Tafeln! Mit dem Inhalte wird der Name verbunden. Der Lehrer verlangt: Zeigt Ihr einen Finger ! zwei Schiefer! Bringe mir einen Klotz! zeichne zwei Striche u. s. w.— Der eine Schüler erhält einen Pfennig, der andere zwei Pfennige. Es wird ent- wickelt: A hat mehr als B; und umgekehrt: B hat weniger als A. Es wird gezählt: 1 Fenster, 2 Fenster! 1 Stäbchen, 2 Stäbchen! u. s. w. Das Rückwärtszäblen ist schwieriger und tritt deshalb erst später auf. Nach diesen Übungen beginnt das eigentliche Rechnen. Bei unsern Schülern wird man aber nicht schon hier sämtliche für den Kreis bis 10 vorge- schlagene Rechenformen heranziehen wollen, sondern mit einer Art sich begnügen und die übrigen nach und nach einführen. Ebensowenig kann man verlangen, dass alle unserer Schüler schon in den ersten Schulwochen in ganzen

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Sätzen antworten sollen; man kann zufrieden sein, wenn sie am Schluss dieses Schuljahres sich an die vollständige Form gewöhnt haben.

Sind die Übungen bis zur Zwei sicher, vergrössert sich der Kreis um eine Einheit, und ähnlich wie das erste wird nun das zweite Zahlengebiet 1—3 be- handelt, dem dann die Gruppen 1—4, 1—5 u. s. f. bis zur Zehn folgen.

Das Verständnis jeder Rechenoperation kann nur au Dingen gewonnen werden; deshalb rechnet das Kind in jeder Gruppe zuerst mit benannten Zahlen und zwar 1. mit Hilfe der Verauschaulichungsmittel und 2. ohne die- selben. Sein Sachgebiet ist die Schulstube und das Elternhaus. Die ihm be- kannten Gegenstände werden im Unterrichte herangezogen. Es lernt auch das Ein-, Zwei-, Fünf- und Zehnpfennigstück und das Verhältnis zwischen Woche und Tag kennen.

Ist die Vorstellung klar und deutlich, so tritt auch die unbenannte Zahl auf. Obwohl das Leben die Aufgaben in solcher Fassung nicht bringt, kann die Schule ihrer doch nicht entbehren; denn sie erfordern weniger Zeit und eignen sich infolgedessen besonders zur Einübung und Befestigung des Rechenstoffes.

Das Rechnen soll sich den Bedürfnissen des praktischen Lebens anpassen; schon deswegen allein müsste die Schule angewandte Aufgaben stellen. Sie beleben aber auch den Unterricht, fördern das Interesse, die Denkkraft und die Sprachfertigkeit des Kindes. Sowohl dem Inhalte wie der Form nach müssen sie recht einfach sein.

Neben der mündlichen Übung geht eine schriftliche Beschäftigung ber. Ehe die Ziffern geschrieben werden, behilft man sich mit andern Zeichen. Der senkrechte Strich (als Bild des Fingers), der Kreis (Bild der Kugel) und auch das Quadrat (Bild dns Würfels) eignen sich sehr gut hierzu. So schreibt man z. B. naclı Behandlung der Zwei an die Wandtafel: einen Strich und darunter zwei Striche, lässt diese als „einen Finger“ und zwei Finger“ lesen, die Gruppe abschreiben und auch später nach Diktat aufschreiben. Wenn möglich, können auch kleine Additions- und Subtraktionsaufgaben mit den ge- nannten Zeichen dargestellt und gelöst werden.

Kommen die Ziffern zur Anwendung, dann treten die übrigen Zeichen mehr und mehr zurück. Ich habe sie gewöhnlich nach Behandlung der Fünf ein- geführt, bei sehr geringer Schreibfähigkeit der Schüler auch einige Stufen später.

Das Rechenpensum des zweiten Schuljahres ist Addition und Subtraktion im Zahlenraum 1—20 Einer eingehenden Belehrung über Jehner und Einer bedarf es hier nicht; eine solche ist in diesem Kreise wertlos, weil der Stellenwert noch nicht gebraucht wird, und bei unsern Schülern auch nicht ausführbar, weil sie zur Erfassung des Zehnersystems noch nicht zu bringen sind. Es genügt, wenn sie verstehen, dass z. B. die Zahl 11 aus 10 und 1 zu- sammengesetzt ist.

Die Vorgänge von 10—20 werden leicht aufgefasst, wenn der erste Zahlen- Jaum sicher ist; es findet hier nur eine Wiederholung statt. Darum ist es

92 auch gleichgültig, in welcher Reihenfolge man noch Bildung der neuen Zahlen die betreffenden Aufgaben auftreten lässt.

Bedeutende Arbeit erfordert dagegen die zweite Gruppe, das Über- schreiten des Zehners, weil das Kind bei jeder Aufgabe eine dreifache Tätigkeit ausübt. Ergänzen und Zerlegen sind die beiden schwierigsten Übungen. In ihnen muss der kleine Rechner vollkommene Sicherheit und Geläufigkeit erlangen; ohne langes Besinnen muss er jede Einerzahl zur Zehn ergänzen bezw. sie von der Zehu abziehen und die zweite Zahl der Additions- und Subtraktionsaufgaben zerlegen können, wenn die erste genannt wird. Die Probe ist ein verständiges Vorrechnen seitens der Schüler. Man nehme die Mühe des Einübens mit in den Kauf; der Vorteil ist nicht gering!

Die Schüler lernen im zweiten Schuljahre das Verhältnis zwischen. Dtz. und Stck., Mdl. und Stck., J. und Mt. und die Geldsorten im Werte von 1—20 M, sowie das Liter- und Metermass kennen. Wo irgend eins dieser Zählmasse nicht gebräuchlich ist, fällt es natürlich fort; wo dagegen ein anderes bekannt ist, wird das herangezogen.

Das ist der Stoff für die beiden ersten Schuljahre. Zuzählen und Abziehen von gemischten Zehnern übe ich auf der Unterstufe noch nicht, einmal, weil hier doch nur ein kleiner Teil solcher Aufgaben gelöst werden kann, und dann, weil es uns in diesem Kreise an Zeit zur gewinnbringenden Durcharbeitung derselben fehlen würde.

II.

Das Rechnen ist aber nicht nur ein sehr wichtiger, sondern auch ein sehr schwieriger, ja der schwierigste Unterrichtsgegenstand der Hilfsschule, weil das Denkvermögen unserer Schüler so ungemein schwach ist. Sie bedürfen Ver- anschaulichungen in weit grösserer Zahl und weit stärkerem Maße als normale, um zum Verständnis der Zablen und Rechenvorgänge geführt werden zu können.

Die Anschauung sei wahr! An konkreten Dingen muss die Vorstellung gewommen werden. Das Kind zählt zuerst an Dingen; es lernt an Dingen die verschiedenen Rechenarten verstehen. Es werden ibm Münzen, Maße und Ge- wichte durch unmittelbare Anschauung bekannt gegeben; Abbildungen oder Be- schreibungen von ihnen wären zwecklos.

Die Anschauung sei mannigfaltig! So genügt nicht, dass das Meter- mass nur gezeigt wird. Das Kind soll mit demselben auch messen, z. B. Länge und Breite der Schulstube angeben. Das Litermass wird mit Sand oder Wasser gefüllt. Die Geldstücke werden gezählt, dem Werte nach verglichen, gewechselt. Die Gewichte werden nach ihrer Schwere geordnet und auf einer einfachen Wage passende Gegenstände gewogen. Jeder Hilfsschule wünsche ich einen Kautladen, wie ihn die Anstalt Idstein und die Hilfsschule Barmen haben: da wird gekauft. und verkauft, gemessen und gewogen, bezahlt und gewechselt, mit einem Worte, praktisch gerechnet. Natürlich können die hier aufgezählten Übungen nicht sämtlich auf der Unterstufe vorgenommen werden.

Die Anschauung wiederhole sich! Bei unsern Schülern muss sie häufiger auftreten als bei andern, nicht nur bei der Durchnahme, oft auch bei der Ein-

übung und Wiederholung. Ist auch der betreffende Vorgang verstanden und bis zur Sicherheit geübt, so ist doch nicht selten bei manchem Schüler nach kurzer Zeit alles wieder vergessen. Und das passiert demselben Stoff leider nicht nur einmal! Selbst während der Durchnahme einer Gruppe gehen die grund- legenden Vorstellungen derselben oft verloren. So wundert man sich wohl, dass das Zuzählen' und Abziehen von 10—20 nicht schnell und sicher aufgefasst wirl. Und die Ursache? Dieselben Verhältnisse des ersten Zehners sind nicht mehr klar. Nicht Trägheit, sondern Schwäche ist schuld hieran. Da hilft nur eins: erneute Veranschaulichung.

Aber nicht nur Rechenfähigkeit, sondern auch Rechenfertigkeit muss gewonnen werden. Verständnis allein hat keinen Wert fürs Leben, sondern nur im Verein mit dem Können. Darum folge der Einführung in das Verständnis die Übung, die solange dauert, bis der Schüler selbständig und sicher die ihm gestellten Aufgaben lösen kann. Darum keine neue Art beginnen, bevor nicht die alte sein Eigentum geworden ist! Und besonders die Beziehungen der Zahlen bis 20 zueinander müssen klar erkannt und fest eingeprägt werden, natürlich nicht mechanisch auswendig gelernt. Denn wer in den Rechenelementen nicht sicher ist, kann kein Rechner werden.

Die gedächtnismässige Aneignung der hier inbetracht kommenden Aufgaben wird durch folgende Rechenvorteile unterstützt:

1. Vertauschen der Summanden. Das Kind rechnet 9-++2 leichter als 2-49.

2. Ausgehen von bequemen Aufgaben. Bei 7 +8 erinnere der Rechner sich an 747! Die Summe aus 2 gleichen Zahlen bleibt bekanntlich leicht haften.

3. Zurückführen auf die Grundzahlen. Bei 18-3 denke man an 8—3!

4. Heranziehen einer verwandten Rechnungsart. Leichter als 10—8 ist die betreffende Ergänzung. Bei grösseren Zahlen, wie 81—79, ist dieser Vorteil och auffälliger.

5. Gegenüberstellen von Zuzählen und Abziehen.

Als dritte im Bunde gelte die Wiederholung! Doch sei sie nicht planlos, bald hierin, bald dorthin greifend, sondern trete ebenfalls geordnet auf, zwar nicht denselben Weg einschlagend, wie die Durchnahme, sondern, um Ab- wechselung zu bringen, nach andern Gesichtspunkten geordnet! Hat man, wie ich vorschlug, im ersten Kreise die beiden Grundrechnungsarten von Zahl zu Zahl fortschreitend behandelt, so lasse man hier erst die Eins, dann die Zwei etc. zu allen Einern zulegen und von diesen abziehen, lasse Reihen bilden oder be- nutze Tabellen und das Schülerheft zu diesem Zwecke, nehme einmal die beiden Rechnungsarten getrennt und das andere Mal zusammen durch! Nur sorge man dafür, dass die behandelten Stoffe sämtlich in einem bestimmten Zeitraum zur Wiederholung gelangen und vergesse auch in den höheren Klassen nicht, auf die der Unterstufe oft zurückzugreifen, um sie hierdurch fest einzuprägen und zum unverlierbaren Eigentum des Rechners zu bringen!

Es ist nicht zu befürchten, dass das Interesse der Schüler hierbei verloren gehen könnte, dass ihnen die häufige Durchnahme desselben Stoffes langweilig

würde. Nein, solche Arbeit erweckt die Arbeitsfreudigkeit des Kindes und hebt sein Selbstvertrauen; es sieht, dass es etwas gelernt hat, dass es weiter kommt. Und das ist ein zweiter Nutzen anhaltender Übung und unermüdlicher Wieder- holung. Ä Ein anschaulicher Unterricht bedarf Anschauungsmittel. Zunächst wähle man einfache Gegenstände aus der Umgebung und dem Anschauungs- kreise des Kindes, wie Finger, Schiefer, Würfel, Stäbchen, Kegel und Kugeln, und ziehe dann auch graphische Darstellungen, wie Striche, Punkte und Kreise, zur Veranschaulichung heran!

Von künstlichen Anschauungsmittelu benutzen wir in unsern Unter- klassen den von Müller-Zeitz verbesserten Tillichschen Rechenkasten bezw. das von Troelltsch herausgegebene Nürnberger Rechenbrett und die russische Rechenmaschine, letztere mit 20 recht grossen und sauber gestrichenen Kugeln. Bei der Vorführung ordne man die betreffenden Körper und Zeichen so, dass der Schüler die- Aufgaben. ebenso wie bei der schriftlichen Darstellung also von links nach rechts ablesen muss.

Andere praktische Hilfsmittel zu erwähnen, erlaubt mir leider die Zeit nicht die Besprechung wird gewiss auf solche hinweisen.

Es empfiehlt sich, mit den Anschauungsmitteln abzuwechseln; denn die Jahlenbegriffe sind um so klarer, je grösser die Zahl der verschiedenen Gegen- stände ist, an denen sie gewonnen werden. So behaupten Heinze und Hübner, und ich stimme ihnen bei.

Um das Auffassen der Zahlengrössen und Rechenvorgänge zu. erleichtern, bringt man die Dinge und Zeichen wohl in bestimmte Gruppen und schafft so die Zahlenbilder, über deren Wert. die Meinungen ja sehr geteilt sind. Ich benutze sie gern als ein, aber nicht als einziges Anschauungsmittel, lasse die (Grössen bis zur 10 auf diese Art darstellen und ordne sie in zwei Reihen, weil in solcher Gruppierung das Zerlegen und Zusammensetzen der Zalılenbilder keine nennenswerten Abweichungen von der ursprünglichen Form bringen.

Besonders solche Anschauungsmittel sind mir lieb, die das selbstän- dire Darstellen der Schüler zulassen. Die Kinder wollen nicht nur zusehen und zuhören, sie wollen selbst arbeiten, selbst tätig sein. Darum benutzen sie auch so gern die Finger im ersten Rechenunterricht. Man unterstütze diese Neigung! Nur schade, dass so mancher unserer Schüler so ungeschiekt in der Handhabung dieses Mittels ist! Jeder meiner Rekıuten erhält im ersten Jahre einen Pappkasten mit 10 Holzwürfeln von 3cm Höhe der Lehrer benutzt solche von 12 cm Seitenkante und im folgenden einen Rechenkasten mit 20 Kugeln. Die Übungen gestalten sich vielseitig, sie erwecken rechte, freudige Lernlust und bringen reichen Gewiun. Allen Kollegen, und nicht nur denen an der Hilfsschule, möchte ich die Mahnung ans Herz legen: Lassen Sie Ihre kleinen Schüler auch im Rechenunterricht selbst darstellen! Sie werden bald Wohlgefallen an ihrem frischen, fröhlichen Arbeiten finden und sich mit ihnen über die Unterrichtserfolge freuen! Lust und Liebe zum Dinge, macht Mühe und Arbeit geringe. „Eine Tätigkeit selbst ein einziges Mal ausführen bringt

mehr Gewinn, als sie zehnmal von fremder Hand machen sehen,“ so urteilt hierüber Beetz. Und Grass: „Das einmalige Selbstdarstellen nützt oft mehr als stundenlanges Zuschauen beim Veranschaulichen durch andere.“

TI.

Und nun zum Schluss eine von unserm Vorstande gewünschte kleine Zugabe: |

Die Rechenbuchfrage. Unsere Schulen zeigen in betreff der Einrich- tung ein recht buntes Bild: von einklassigen geht es bis zu sechsstufigen auf- wärts; die eine Anstalt hat eine „Vorstufe“, die andere nicht; hier werden in einem Fortbildungsunterricht die aus der Schulpflicht Eintlassenen weiter ge- fördert, und dort gibt’s diese segensreiche Einrichtung noch nicht,

Um den Unterrichtsbetrieb zeigen zu können, greife ich eine Gruppe heraus, die dreistufige Hilfsschule, wie wir sie auch in Magdebnrg haben. Jede Klasse umfasst 2 Jahrgänge, hat also auch mindestens zwei Abteilungen. Während die eine vom Lehrer unterrichtet wird, muss die andere schriftlich: beschäftigt werden. Haben die Schüler passende Aufgabenhefte in Händen, dann heisst es: Abteilung I oder II rechnet Nr... .. ! Fehlen sie aber, dann ist man ge- zwungen, die zur stillen Beschäftigung bestimmten Aufgaben entweder an die Wandtafel zu schreiben oder sie zu diktieren. Abgesehen davon, dass man bei dieser Art der Aufgabenstellung nie sicher ist, ob die Aufgaben auch richtig niedergeschrieben werden kurzsichtige bezw. schwerhörige Schüler können es beim besten Willen nicht und ob die für die häusliche Arbeit bestimmten auch leserlich bleiben, geht durch das Anschreiben und Diktieren viel kostbare Zeit verloren, die, zum Unterrichten benutzt, bedeutend mehr Segen bringen würde.

Das Rechnen fordert gedächtnismässige Aneignung einzelner Stoffe, wie des Einmaleins und der Währungen und verlangt richtige Schreibung der Bezeich- nungen für Münzen, Masse und Gewichte. Auch hierfür leistet ein Aufgabenheft gute Dienste. |

In seinem späteren Leben begegnen dem Kinde angewandte Aufgaben. Hat es diese aber noch nie schriftlich dargestellt gesehen denn wer von uns würde der Rechenstunde soviel Zeit nehmen, um solche anzuschreiben oder zu diktieren? daun wird’s mit dem Verständnis und der Ausrechuung derselben in den allermeisten Fällen wohl recht hapern.

Das Aufgabenheft zeigt sodann auch die riehtige Form der Darstellung. Es ist ein Wegweiser, nicht nur für die Schüler, sondern auch für die Eltern, die ihren Kindern bei der häuslichen Arbeit gern helfend zur Seite stehen wollen.

Durch Schülerhefte wird endlich auch dafür gesorgt, dass Einbeitlichkeit, Vollständigkeit und richtige Stufenfolge nicht leidet, was sonst leicht, besonders in vielklassigen Anstalten und bei eintretendem Lehrerwechsel geschehen kann. Darum meine ich: Auch in Hilfsschulen wird der Rechenunterricht durch Schüler- hefte wesentlich unterstützt.

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Über die Einrichtung eines solchen Buches brauche ich nicht viel Worte zu machen. Was es an Stoff enthalten muss, habe ich bereits angedeutet. Vielleicht wären noch leicht verständliche Aufgaben aus der Arbeiterversicherung aufzunehmen, die, wenn nicht während der Schulzeit, so doch in einem Fort- bildungskursus zur Durchnabme gelangen würden.

Dass der Rechenstoff unsern Schülern in einem besonderen Zuschnitt ge- boten werden muss, ist selbstverständlich. Alle schwierigen Zahlenverhältnisse und Lösungsformen fallen fort, von allem Beiwerk und Nebensächlichen wird abgesehen, und nur das Notwendige und Erreichbare darf Aufnahme finden. Der Stoff ist aus dem Anschauungskreise unserer Schüler zu nehmen, muss ihre spätere Lebensstellung berücksichtigen und in einer leichten, ihnen zusagenden Form geboten werden. |

Andererseits muss der Stoff bedeutend erweitert werden. Der Fortschritt darf nur in kleinen Schritten geschehen, jede Gruppe nur eine Schwierigkeit bringen, der Aufbau muss lückenlos sein. Nur durch viele Übung wird Sicher- heit erzielt, darum muss das Schülerheft reichlichen Übungsstoff bringen, es muss jede Gruppe möglichst allseitig behandelt werden.

Das sind meine Ansichten und Wünsche über den „Rechenunterricht auf der Unterstufe der Hilfsschule“. Ich schliesse hiermit und sage Ihnen für Ihre freundliche Aufmerksamkeit meinen besten Dank!

Mitteilungen.

Mühlhausen. (Hilfsschule.) Mit dem 1. Mai d. J. ist hier eine 2. Hilfs- klasse mit 25 Schülern errichtet worden. Den Unterricht hat der Lehrer Grosch übernommen. Die 1. Klasse zählt 30 Schüler. Auffallend ist es, dass unter 55 Schülern beider Klassen 7 Geschwisterpaare sich befinden.

Offenbach a. Main. (Eröffnung der neuen Hilfsschule) Am Montag den 20. April wurde die neue Hilfsschule mit 2 Klassen und einem Bestand von 54 Kindern eröffnet. Da noch Zuwachs zu erwarten steht, so ist die Gründung einer dritten Klasse beabsichtigt und wird ein diesbezöglicher Antrag von dem Leiter, Herrn Lehrer Marbach, gestellt werden.

Oppeln. (Gerichtsverhandlung.) Vor der hiesigen Strafkammer hatte sich der Zögling der Idiotenanstalt zu Leschnitz, Paul Scholz, wegen Mordes, begangen an der Lehrerin Anna Bartsch, und wegen Brandstiftung zu verantworten. Der Angeklagte ist 17 Jahre alt; er benahm sich gegen seine Vorgesetzten stets störrisch und führte, wo er nur konnte, Diebstähle aus. So vermutete er auch bei der Lehrerin, Fräulein B.,, Geld und Wertsachen. Er heckte nun den schousslichen Plan aus, seine Lehrerin, die ihm stets zugetan war, zu ermorden und zu berauben. Die Tat führte er auch alsbald aus. Er begab sich unter dem Vorwand, sich von Fräulein J. ein Buch zu leihen, in deren Zimmer und schnitt ihr mit einem haarscharf geschliffenen Taschenmesser den Hals durch. Alsdann nahm er die goldene Uhr an sich, suchte nach andern Schmucksachen und steckte schliesslich das Zimmer in Brand. Ais ob

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nichts geschehen wäre, begab er sich zu den andern Zöglingen, die veim Frühstück sassen. Der Brand und der Mord wurden bald bemerkt, und die durch den Anstalts- arzt und den inzwischen herbeigeeilten Gendarmen angestellten Ermittelungen ergaben die Schuld des Angeklagten. Der Staatsanwalt beantragte die höchste zulässige Strafe von 15 Jahren Gefängnis. Der Gerichtshuf beschloss, den Angeklagten behufs Unter- suchung seines Geisteszustandes auf 6 Wochen einer Irrenanstalt zu überweisen. (Pr. L.-Z.)

Schreiberhau. (Idiotenanstalt.) Die mit der ‚Anstalt bisher verbunden ge- wesene „Bettungshausschule* ist im vergangenen Jahre aufgegeben worden, und die dadurch freigewordenen Räume hat man zur Erweiterung der Erziehungsanstalt für Schwachsinnige benutzt. Am 1. Januar 1902 betrug die Zahl der Zöglinge 116 (62 männl. und 54 weibl.), während am Schlusse des vergangenen Jahres die Anstalt 126 Zöglinge (67 männl. und 59 weibl.) zählte. Von den neu eingetretenen Zöglingen waren 26 unter und 5 über 18 Jahre alt.

Worms a. Rhein. (Hilfsschule) Unsere Hilfsschule, welche nunmehr seit Ostern 1899 besteht und gegenwärtig zwei Klassen umfasst, wurde im abgelaufenen Schuljahr von 49 Kindern besucht und zwar von 80 Knaben und 19 Mädchen, welche sich so verteilten, dass in der obersten Klasse 25, in der untersten Klasse 24 Kinder waren. Am Schlusse des Schuljahres hatten wir uns noch eines Besuches vom Gross- herzoglichen Ministerium in Darmstadt zu erfreuen, indem Herr Geheimer Oberschulrat Dr. Scheuermann aus Darmstadt im Beisein von Herrn Kreisschulinspektor Professor Dr. Frenzel und Herrn Stadtschulinspektor Scherer die beiden Hilfsklassen einer eingehenden und sehr zufriedenstellenden Prüfung unterzog. Entlassen konnten wir am Schlusse des vorigen Schuljahres 9 Kinder, von denen wir die feste Hoffnung hegen dürfen, dass sie alle erwerbsfähig und später selbständig ihr Fortkommen finden werden. Davon werden 2 Schlosser, 1 Metzger (im Betrieb seines Vaters), 1 Haus- bursche, 2 Fabrikarbeiter, 2 Näherinnen und 1 Büglerin. Neuaufgenommen wurden 10 Kinder, so dass wir mit Beginn des neuen Schuljahres einen Bestand von 50 Kindern haben, welche sich auf die beiden Klassen so verteilen, dass jede Klasse 25 Kinder zählt. Da nächstes Jahr voraussichtlich wenig Abgänge und mehr Neu- aufnahmen zu erwarten stehen, so besteht an massgebender Stelle die Absicht, mit Ostern nächsten Jahres eine neue dritte Klasse zu errichten, was wir im Interesse der Sache nur mit Freuden begrüssen würden. Bereits seither schon wurden im Handfertigkeitsunterricht genommen Stäbchenlegen, Papierfalten, Papierflechten, Papp- arbeiten und Holzarbeiten. Aber von der Ansicht ausgehend, dass in dieser Beziehung für unsere Armen nicht genug ‚geschehen könne und dass, wie Herr Schulinspektor Scherer-Worms in der Debatte auf dem letzten Verbandstage in Mainz so richtig hervorgehoben hat, der ganze Unterricht in der Hilfsschule auf Anschauen und Dar- stellen beruhen und der Muskelsinn eine sorgfältigere Ausbildung erfahren müsse, wollen wir in diesem Jahre noch das Formen und Modellieren mit Ton hinzunehmen. Und zwar soll dieses Formen den ganzen Unterricht, alle Disziplinen durchwoben und unterstützen.

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Literatur.

Die ärztliche Feststellung der verschiedenen Formen des Schwach- sinns in den ersten Schuljahren. Von Dr. L. Laquer. München 1901. Verlag von Seitz & Schauer. 14 S. Preis Mk. 1,—.

In kurzer Darstellung skizziert der Verfasser die drei bekannten Formen der Geistesschwäche: Debilität, Imbecillität und Idiotie.e. Andeutungsweise werden auch einige Fingerzeige für die Erziehung und Behandlung Schwachsinniger geboten, sonst verfolgt die Schrift hauptsächlich schulärztliche Zwecke. Besonders hervorheben wollen wir, dass der Verfasser die Arbeit der Pädagogen auf dem Gebiete des Schwach- sinnigenbildungswesens richtig einzuschätzen weiss. Wenn die gesamte Ärztewelt in dieser Angelegenheit auf dem Standpunkte stände, welchen Dr. Laquer in seiner Schrift vertritt, so würde eine Verständigung zwischen Ärzten und Pädagogen leicht möglich sein und manche Voreingenommenheit schwinden. Den Ärzten an Hilfs- schulen und an Anstalten für schwachbegabte Kinder können wir die Schrift zu Informationszwecken angelegentlich empfehlen.

Die Pflege der Selbsttätigkeit im ersten Rechenunterrichte mittelst des Unterlaufschen Rechenapparates. Von G. Unterlauf. Verlag von C. Gesch in Berlin O, Friedrichsberg und Straussberg. 16 Seiten. Preis Mk. 0,30.

Der Rechenunterricht, unser Schmerzenskind, erfreut sich auch in unsern Schulen einer ganz besondern Pflege; man ist vor allen Dingen bemüht, ihn recht anschaulich und natürlich zu gestalten, um die Schüler zur Selbsttätigkeit und Selbständigkeit zu erziehen. Schon aus diesem Grunde halten wir scharfe Umschau und beachten alle Vorschläge, die zur Verbesserung des Rechenunterrichts gemacht werden. Mit Interesse haben wir deshalb die Ausführungen vorliegender Schrift verfolgt und müssen manchen Folgerungen durchaus beistimmen Es ist richtig, wie hervorgehoben wird, dass das Kind durch Vergleichen der Zahlbilder miteinander zu dem Zahlbegriff geführt werden muss nnd nicht etwa durch Zählen. Die Zahl soll als ein gleichmässiges, von 1 zu 1 fortschreitendes, individuelles Ganze dargestellt werden. Dieses erscheint besonders für uns von grösster Wichtigkeit. Der vom Verfüsser erfundene Rechenapparat ist auf Grund dieser Erkenntnis konstruiert und lässt Zahlbild nach Zahlbild vor den Augen der Kinder entstehen. Die Schüler können an ihm zur Selbstveranschaulichung angeleitet werden und somit zur Selbsttätigkeit. Überhaupt bieten die kurzen Dar- legungen der kleinen Schrift viele anregende Gedanken über den ersten Rechenunterricht, wir empfehlen sie zur prüfenden Erwägung.

Das Arbeits-Sanatorium. Von Dr. Eschle. München 1902. Verlag der Ärztlichen Rundschau (Otto Gmelin). 26 Seiten. Preis Mk. 1,—.

Der Verfasser vorliegender Schrift, Direktor der Kreispflegeanstalt Sinsheim in Baden, versteht unter Arbeits-Sanatorium eine solche Anstalt, die für eine Reihe an sich ganz verschiedener Krankheitsformon bestimmt ist, in der aber die Landwirtschaft und eine Anzahl gewerblicher Betriebe das Band bilden sollen, das ihre Iusassen vereinigt. In unsern Anstalten gelangt dieses Prinzip schon vielfach zur Anwendung, und wie es scheint, mit günstigem Erfolge. Ob aber derartige Massnahmen für ver- schiedene Kategorien von Krankheitserscheinungen, wie der Verfasser sie durchgeführt

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wissen will, sich praktisch erweisen dürften, könnte bezweifelt werden, da hier in erster J,inie Individualisierung am Platze wäre. Immerhin aber verdienen seine Aus- führungen eine gewisse Beachtung, da sie Vorschläge von tief einschneidender Be- deutung für den Ausbau von Wohlfahrtseinrichtungen in weitgehender Beziehung bieten.

terichtliche Medizin. Der von dem Zentralkomitee für das ärzt- liche Fortbildungswesen in Preussen im vorigen Frühjahr veraustaltete Vortrags-Cyklus über gerichtliche Medizin, bei welchem viele der hervor- ragendsten Vertreter dieses Faches beteiligt waren, ist nunmehr als Sonderband des Klinischen Jahrbuches im Verlage von Gustav Fischer in Jena im Buchhandel erschienen. Preis: 5 Mk., geb. 6 Mk.

Die Erziehung der schwachbegabten und schwachsinnigen Taub- stummen und die Teilung nach Fähigkeiten überhaupt. Dargestellt an der Hand eines Reiseberichts über dänische und norwegische Taubstunmen- anstalten von H. Stelling, Taubstummenlehrer in Emden. Leipzig 1902. Verlag von Carl Merseburger. Preis Mk. 1,80.

Der Verfasser beschreibt zunächst in kritischer Darstellung die Massnahmen, welche in Dänemark und Norwegen auf dem Gebiete der Taubstummenbildung zur Trennung nach Fähigkeiten getroffen sind und tritt dann mit seinen Forderungen zwecks einer besseren Beschulung der Taubstummen für Deutschland, speziell für die Provinz Hannover hervor. Seine Ausführungen bekunden durchweg tiefes Verständnis der anormalen Erscheinungen in der geistigen Entwicklung des Kindes und bieten auch wertvolle Fingerzeige für die Erziehung und Bildung anormaler Kinder in metho- discher und schultechnischer Beziehung. Dadurch gewinnen seine Erörterungen auch für uns eine ‚grosse Bedeutung, zumal sie eine Fülle von anregenden Gedanken und weitgehenden Aussichten enthalten. Die neuste pädagogische Literatur findet in der Arbeit kritische Beleuchtung, die gewonnenen Grundsätze verdienen ausdrückliche An- erkennung und Beachtung auch für unser Gebiet, namentlich deshalb, weil der Ver- fasser sich schon vorher in einer anregenden Arbeit mit der Fürsorge für die schwach- begabten Kinder beschäftigt hat und Erfahrungen in dieser Angelegenheit besitzt. Das Buch verdient in vollstem Masse unsere Empfehlung.

Beziehungen des Seelenlebens zum Nervenleben. Grundlegende Tat- sachen der Nerven- und Seelenlehre von Dr. med. Eduard Hirt. München 1903. Verlag von Ernst Reinhardt. |

Die Schrift handelt in knapper Darstellung von den Anfängen und Grundlagen des Seelenlebens in seinen Beziehungen zum Nervenleben. Der Verfasser geht in interessanter Weise von der werdenden Seele aus und kommt dann ganz von selbst zu den Wechselbeziehungen zwischen Materie und Psyche. Er erschliesst uns einen Einblick ia die Abhängigkeit seelischer Erscheinungen von bestimmten Zuständen unserer nervösen Gebilde und beantwortet im Anschlusse hieran die Frage nach den Grundlagen der verschiedenen geistigen Begabung (Veranlagung). Zuletzt spricht er darüber, dass psychische Vorgänge sich in verschiedenartigen körperlichen Erscheinungen wirksam zeigen, deren sichtbare Zeichen uns Aufschlüsse über die tiefinnerlichen Regungen eines Menschen bieten können. Er nimmt durchweg Bezug auf pathologische Erscheinungen des Seelenlebens, so dass seine Ausführungen auch einen gewissen

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Wert für die Psychiatrie besitzen. Leider ist die Darstellung in einzelnen Teilen eine sehr gedrängte und .skizzenhafte, so dass ein selbständiges Überdenken und Ausbanen des Gebotenen im Sinne des Verfassers für den, der bisher von ihm aoch nichts ge- lesen hat, doch zweifelhaft erscheinen dürfte. Für uns besitzt die Schrift trotzdem einen hohen Wert, da sie geeignet erscheint, uns in die Kenntnis des menschlichen Seelenlebens und seiner wichtigsten pathologischen Erscheinungen in überaus ver- ständlicher Weise einzuführen. |

Aus der Welt der Idioten.. Von Matthias Ellenbach, Lehrer an der Idiotenanstalt in Budapest. Mit einem Vorworte von Direktor Johann Bereinza. Verlag von Ludwig Tokty in. Budapest. 1903. Preis 2 Kronen.

Das in ungarischer Sprache erschienene Werkchen gibt im 1. Teile in kurzen Umrissen einen Überblick über die Idiotenfürsorge in Ungarn. Im zweiten Teile folgt ein Hinweis auf den gegenwärtigen Stand der Idiotenfürsorge im Auslande, ins- besondere in Deutschland. Der Verfasser gibt alsdann in kurzen Zügen eine Erklärung vom Wesen des Idiotismus und Kretinismus und den Ursachen der geistigen Minder- wertigkeit. Hierauf berichtet der Verfasser über seine Studienreise im Auslande und bespricht die Anstalten Hartheim, Ecksberg, Alsterdorf, Kückenmühle, Idstein, Regens- berg, Paris, Rüti und Prag. In den einzelnen Abschnitten wird die Geschichte jeder Anstalt dem Leser vor Augen gestellt, worauf die Beschreibung des Anstaltsgebäudes, der Pflege, der Erziehung, des Unterrichtes und insbesondere der Heranbildung zum nützlichen Gliede der Menschheit sich anschliesst. Zur besseren Veranschaulichung des Gesagten dienen 10 Illustrationen. Zum Schlusse gedenkt der Verfasser noch der sogenannten Aushilfsklassen (Hilfsschulen).. Der Verfasser hat durch Herausgabe seiner Erfahrungen sicher ein nützliches Werk getan, denn abgesehen ‘davon, dass das Buch zu den bahnbrechenden gezählt werden kann, wird es gewiss auch die Herzen der Menschenfreunde Ungarns rühren und für die Sache der unglücklichen Blöden erwärmen. Mentor.

Brief kasten.

C.F.i.W. Einzelne Exemplare von Nr. 2 und 3 dieses Jahrganges können nicht mehr abgegeben werden. Der darin enthaltene Aufsatz von Wehle „Das Auswendig- schreiben als Mittel der Sprachbildung Schwachsinniger“ ist aber als Sonderabdruck erschienen und durch die Buchhandlung von Hellmuth Wollermann in Braunschweig und Leipzig, sowie ronst durch den Buchhandel für je 30 Pf. zu beziehen. J. P. i. D. Sehr bedauert, hoffentlich passt es ein anderes Mal. Dir. F. K.i. Z Für Nr. 4 zu spät und für gegenwärtige ` Ken nan a o Ein sicherer Korrespondent für

die Schweiz fehlt uns immer noch. Für die Karten besten Dank; hoffentlich berichten Sie uns regelmässig

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Inhalt. Polia zur Epileptikerbehandlung. (Dr. Ackermann.) Bericht über den IV. Verbandstag der Hilfsschulen Deutschlands. (Fr. Frenzel.) Das Rechnen auf der Unterstufe der Hilfsschule. (H. Giese.) Mitteilungen: Mühlhausen, Offen- bach a. M., Oppeln, Schreiberhau, Worms. Literatur: Die ärztliche Feststellung der verschiedenen Formen des Schwachsinns in den ersten Schuljahren. Die Pflege der Selbsttätigkeit. Das Arbeits-Sanatorium. (ierichtliche Medizin. Die Erziehung der schwachbegabten und schwachsinnigen Taubstummen und die Teilung nach Fähig- keiten überhaupt. Beziehungen des Sesienlehens zum Nervenleben. Aus der Welt der Idioten. Briefkasten. l

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Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden, Druck von Johannes Pässler in Dresden.

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Nr. %. XIX. (Ill) Jahrg.

Zeitschrift

für die

Behandlung sehwachsinnieer und Epilepüscher.

Organ der Konferenz | für das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Dresden - Strehlen, für Me eenkhälen Residenzstrasse 27. In Stuttgart.

' Zu beziehen durch alle Buchhandlungen

"nindestens einem Bogen. Anzeigen für } li 1903 und Postäniter, wie auch direkt von der

die gespaltene Petltzeile 35 Pfg. Lite- u i Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, rarische Beilagen 6 Mark. | eiuzeine Nummer 50 Pfg.

Erscheint jährlich in 12 Nummern von

Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

Allgemein Interessantes aus dem Taubstummenunterrichte. Von P. Riemann- Weissenfels.

Gewiss wird es mauchem Leser dieser Zeitechrift von Interesse sein, in der jetzigen Zeit, wo die Wissenschaft der Methode des Taubstummenunterrichtes vielfach neue Bahnen eröffnet hat, wo durch dieselbe der Unterricht an den Taubstummen ein ganz anderer und seine Ziele höhere geworden sind, sich

einmal einigen allgemeines Interesse beanspruchenden Ansichten aus dem Gebiete

des Taubstummenunterrichtes zuzuwenden.

Zwar kann es dabei nicht ausbleiben, dass diesem und jenem manches Be- kannte geboten wird; jedoch begegnet man ja alten Bekannten immer wieder gern und begrüsst sie um so lieber, je mehr sie sich allgemeiner Gültigkeit und Beliebtheit erfreuen. Wer aber ausschliesslich nach Neuem sucht, dem rate ich von vornherein, diese Arbeit lieber nicht zu lesen.

Als die Menschen anfingen, sich die Bildung der Taubstummen angelegen sein zu lassen, war ihre Absicht auch stets dahin gerichtet, sie aus jener Iso- lierung, in welche sie ihr Gebrechen stellte, die sje der Kenntnisse beraubte, welche die Menschen besassen, und die jeder Intelligenz so überaus gefährlich wird, herauszureissen. Man suchte ihr intellektuelles Leben auf Grundlage der Ertabrung zu stellen und die Tätigkeit der den höchsten Geistesqualitäten dienenden Nervenorgane durch sinnliche Wahrnehmungen bis zu einer gewissen Grenze hin zu korrigieren. Nach der physiologisch wie psychologisch fest- stehenden Tatsache, dass die Sinne vorzugsweise uns das Material für unsere spezifisch psychischen Tätigkeiten liefern, wandte man sich ganz naturgemäss dem

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Auge der unglücklichen Taubstummen zu und suchte ihnen mit Hilfe dieses Sinnes die Wege in die Wissensgebiete zu ebnen. Vor allem strebte man da- n&äch, den Taubstummen das zu geben, was sie als Folge ihres Gebrechens nicht auf dem gewöhnlichen Wege erlernen konnten, die Sprache. Zu diesem Zwecke liessen es sich Männer, die sich im 16., 17. und 18. Jahrhundert um die Begründung und Ausbreitung des Taubstummenunterrichtes verdient gemacht haben, wie Pedro de Ponce (t 1584), Bonet, Wallis (geb. 1616), Amman (1669 1724), Kerger, Raphel (1673—1740), Arnoldi (1737—1783), Pereira (1715 -1780), Deschamps u. a. angelegen sein, neben dem mecha- nischen Sprechen ein klares Verständnis der Sprache zu erzielen, wozu ihnen in ausgedehntem Maße die Gebārdensprache, in der Regel aber auch Bilder und die Sache selbst, an welche das Wort unmittelbar angeschlossen wurde, diente, und wobei manche der Genannten die Schriftsprache, andere die Lautsprache in den Vordergrund stellten.*)

Wenn man bedenkt, dass die Gebärde jedem hörenden Kinde bei der Er- lernung der Lautsprache überaus wichtige Dienste leistet, und dass sie sich bei dem taubstummen Kinde notgedrungen als die alleinige Form seiner Gedanken- kundgebung festsetzt, so ist es nur zu natürlich, dass sie bei dem Taubstummen- unterrichte einen wichtigen Ausgangspunkt bot und noch heute als solcher volle Berücksichtigung finden muss. Ein kurzes Verweilen bei der Gebärdensprache ist darum hier durchaus gerechtfertigt.

„Die Wünsche und Gemütsbewegungen kleiner Kinder werden in einer geringen Anzahl von Lauten, aber in einer grossen Mannigfaltigkeit von Gebärden und Grimassen mitgeteilt. Die Gebärden eines Kindes zeigen Verständnis schon lange vor dem Sprechen und zwar trotzdem, dass frühe und nachdrückliche Bemühungen dahin aufgewandt werden, es in letzterem, nicht aber in erterem zu unterrichten, und zwar schon von frühester Zeit an. Es lernt Wörter nur, soweit sie ihm gelehrt werden, und lernt sie durch Vermittelung von Zeichen, die ihm nicht ausdrücklich gelehrt werden. Noch lange nach seinem Vertraut- sein mit der Sprache hat es acht auf die Gebärden und Gesichtsausdrücke seiner Eltern und Wärterinnen, als ob es deren Worte auf diese Weise zu über- setzen und zu erklären suchte.“**) Daraus ersehen wir deutlich, dass die Gebärdensprache im Vergleich zu der artikulierten Sprache das einfachere, natär- lichere und darum primitivere Mittel zur Mitteilung ist. Diese allgemeine Wahrheit finden wir auch in der Tatsache ausgedrückt, dass die Gebärdensprache stets von Menschen zu Hilfe genommen wird, die ihre artikulierte Sprache gegenseitig nicht verstehen. „So z. B. haben die Indianer, die im zivilisierten Osten gezeigt wurden, häufig durch Anwendung der von ihnen erfundenen Prinzipien einer sozusagen „lautlosen Muttersprache“ eine erfolgreiche Unter- haltung mit weissen Taubstummen angeknüpft, die uustreitig keinen anderen den Indianern bekannten Kodex dieser Kunst besitzen, als den von ihrem gemein- samen Menschentum abgeleiteten. Die Indianer bezeigten das grösste Vergnügen

*) Vergleiche Walther, Geschichte des Taubstummen-Bildungswesens, S. 16. *+) Mallery, Sign-language among the North American Indians,

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bei der Begegnung mit den Taubstummen, ganz wie Reisende in einem fremden Lande erfreut sind, wenn sie auf Personen treffen, die ihre Sprache sprechen.“*)

Mag diese Unterhaltung der Taubstummen und Indianer noch so primitiv gewesen sein, so geht doch immerhin daraus hervor, dass mit Hilfe von Zeichen bezw. durch Ausdruck und Anwendung derselben eine ganz erkleckliche Summe von Kenntnissen aufzunehmen ist. Es ist uns auch vollständig einleuchtend, wenn de l'Éppée (1712—1789), der Begründer des Pariser Taubstummen- institutes, sagt: „Jeder Taubstumme, den man uns bringt, hat schon eine Sprache, die ihm geläufig und um so ausdrucksvoller ist, als sie die Sprache der Natur selbst und allen Menschen gemein ist. In dieser Sprache bringt er es durch die häufige Anwendung derselben zu einer solchen Fertigkeit, dass er sich den Personen, mit welchen er zusammen lebt, ja selbst solchen, die vorüber- gehend davon Gebrauch machen, verständigen kann. Er drückt darin seine Bedürfnisse, Wünsche, Neigungen und Besorgnisse, seiue Furcht, seinen Schmerz, seinen Kummer etc. aus, und irrt sich nie, wenn andere ähnliche Gefühle auf gleiche Weise äussern. Er empfängt in ihr Aufträge, führt sie treu aus und legt genau Rechenschaft ab. Es sind allein die verschiedenen Eindrücke, welche er in seinem Innern empfunden hat, die ihm diese Sprache, und zwar ohne Hilfe der Kunst, verschafft haben. Und diese Sprache ist die Sprache der Zeichen. Man kann ihn daher unterrichten; und um zum Ziele zu gelangen, handelt es sich darum, ihm die französische Sprache zu verschaffen. Welches wird die kürzeste und leichteste Methode sein? Wird es nicht diejenige sein, welche sich in der Sprache ausdrückt, an welche er sich gewöhnt hat und in welcher man ihm selbst sagen kann, was er zu wissen notwendig hat?‘“**)

Leider hatte aber die von ihm ausgebildete Sprache mit der ursprünglichen Gebärdensprache nicht viel mehr gemein, und es ist zweifellos, dass man bei Annahme seiner Ansicht, man habe nur nötig, die Gebärdensprache unserer „konventionellen“ Sprache analog zu gestalten, um aus jener in die Lautsprache übersetzen zu können, den Gedanken aufgeben muss, den Taubstummen durch seinen Unterricht zum Verkehre mit seinen hörenden Mitmenschen zu befähigen. Selbst zugegeben, dass man möglicherweise bis heute soll dieser Beweis noch erbracht werden einmal ein vollständig konventionelles Gebärdensystem aus- zuarbeiten verimöchte, welches allen abstrakten Worten und Beugungen der ge- sprochenen Sprache entspräche, und dass alsdann das eine Zeichensystem an Stelle des anderen treten könnte, in ähnlicher Weise, wie das Zeichensystem der Schrift das der Sprache zu ersetzen vermag, so berechtigt dies noch nicht zu der Annalıme, dass ein so vervollkommnetes Gebärdensystem durch einen natürlichen Entwickelungsprozess entstehen könnte, und wenn wir den wesentlich ideographischen Charakter solcher Zeichen berücksichtigen, so erhebt sich die wohlberechtigte Frage, ob selbst unter den dringendsten Uhnständen (wie z. B. für den Fall, dass der Mensch oder seine Vorfahren nicht imstande gewesen

*, Mallery, a. a. O. * Walther, Geschichte des Taubstummen - Bildungswesen».

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wären zu artikulieren) die Gebärdensprache zu irgend einem annähernden Ersatz für die Wortsprache sich hätte entwickeln können.*)

De l’Ep6e sowohl, wie sein Nachfolger Sicard (1742—1822) haben sich die grösste Mühe gegeben, ein vollständiges Wörterbuch der Zeichen zu schreiben, aber ihre Aufgabe nicht zu lösen vermocht. Letzterer gab sich dieser Arbeit ganz besonders hin und zog auch die grammatischen Formen unserer Sprache, die de l’Ep&e etwas Äusserliches waren und die er ibrer rein konventio- nellen Natur wegen lehrte, wie man etwa eine Regel lehrt, als ein Abbild der Funktionen des Geistes und der Operationen des Denkens auf und bezeichnete und lehrte sie in diesem Sinne. Es ist wahrlich bewunderungswürdig, welche grosse hingebende Liebe sie bei ihrem Unterrichte an den Taubstummen be- tätigten; aber aus ihrer Isoliertheit konnten sie dieselben dennoch nicht reissen. Sobald sich die Gebärdensprache zu einer künstlichen ausgestaltet, sobald sie sich rein konventioneller Zeichen zum Ausdrucke bedient, so versteht sie eben nur ein kleiner Kreis von Eingeweihten, während die grosse Masse der hörenden Menschheit ihr verständnislos gegenübersteht. Dazu kommt, dass auch die aus- gebildetste Gebärdensprache an Schwerfälligkeit und unter dem noch ernstlicheren Mangel an Genauigkeit leidet, und dass sie zur Entwickelung von Abstraktionen viel ungeeigneter ist, als die gesprochene Sprache. Die mehr oder weniger als rein konventionelle Zeichen dienenden Worte sind nicht an materielle Dinge gebunden, denn obwohl sich gewiss alle ursprünglich auf sinnliche Wahr- nehmungen bezogen und nicht notwendig ideographisch zu sein brauchen, lassen sie sich doch leicht als Zeichen für allgemeine Ideen verwenden und dienen schliesslich zum Ausdrucke für die höchsten Abstraktionen. „Worte sind die leicht zu handhabenden Rechenpfennige des Gedankens.“ Gebärden dagegen, die stets mehr oder weniger ideographisch sind, sind auch viel enger an sinnliche Wahrnehmungen gebunden und können deshalb nur, wenn auf „vertraute Dinge“ gerichtet, als Ausdrucksmittel mit Worten rivalisieren, während sie nie den hohen Flug zu dem feineren Medium der reinen Abstraktion zu nehmen im- stande sind.**) So erklärte denn auch der internationale Taubstummen- Kongress 1900 iu Paris: Mit Rücksicht auf die unbestreitbare Überlegenheit des Wortes über die Zeichen nach der Richtung, dass es den Taubstummen der Gesellschaft wiedergibt und ihm auch eine vollkommenere Kenntnis der Sprache vermittelt, die Beschlüsse des Mailänder Kongresses aufrecht zu erhalten. Diese Beschlüsse, die im Jahre 1880 vom internationalen Taubstummenlehrer-Kongress zu Mailand gefasst wurden, lauten: 1. „In der Überzeugung der unbestrittenen Überlegenheit der Lautsprache gegenüber der Gebärdensprache, insofera jene die Taubstummen dem Verkehre mit der hörenden Welt wiedergibt und ihnen ein tieferes Eindringen in den Geist der Sprache ermöglicht, erklärt der Kongress, dass die Anwendung der Lautsprachmethode bei der Erziehung und dem Unter- richte der Taubstummen der der Gebärdensprache vorzuziehen sei.“ 2. „In Er- wägung, dass die gleichzeitige Anwendung der Gebärdeusprache und des ge-

*) Romanes, Die geistige Entwickelung beim Menschen. *) Romanes, a.a O.

105 sprochenen Wortes den Nachteil mit sich führt, dass dadurch das Sprechen, das Absehen von den Lippen und die Klarheit der Begriffe beeinträchtigt wird, erklärt der Kongress, dass die reine Lautsprachmethode vorzuziehen sei.“

So hat denn die deutsche Methode, die von jeher daran festgehalten hat, dass die Taubstummen die Lautsprache erlernen müssen, wenn sie eine wahrhaft menschliche Bildung erlangen sollen, immermehr an allgemeiner Anerkennung und Verbreitung gewonnen, und ihr Sieg ist soweit vorgedrungen, dass sie jetzt auch in Nordamerika die erste Stelle einnimmt.*)

Die deutsche Taubstummenschule wird nie vergessen, wie tief die gesprochene Sprache dem aufbauenden Einfluss der Gebärde verschuldet ist und darum die natürliche Gebärde, d. i. Mimik und Aktion, bei ihrem Unterrichte stets zur Anwendung bringen. Sie weiss, dass die Taubstummen der natürlichen Gebärde zur Bildung des Gemütes und Willens bedürfen, und dass sie der lebendigen Erfassung des gesprochenen Wortes in hervorragender Weise dient, während dieselbe durch Anwendung blosser künstlicher Zeichen um kein Jota gefördert wird, ja sogar Hemmung erfährt und deshalb in einer Schule, die die Taubstummen befähigen will, mit ihrer hörenden Umgebung zu verkehren, keine Verwertung finden kann und darf.**)***)

Nicht weniger interessant und wichtig, wie die Stellung des deutschen Taubstummenunterrichtes zur Gebärde, ist seine Stellung zur Schrift. Es soll dieserhalb auch hier die Stellung der Schrift in der Taubstummenschule in einem besonderen Abschnitte charakterisiert werden.

Schon weiter oben sagte ich, dass verschiedene der genannten Männer bei ihrem Unterrichte die Schriftsprache in den Vordergrund stellten. So führte Pedro de Ponce erst, nachdem seine Schüler einen gewissen Sprachschatz ge- sammelt und eine ziemliche Kenntnis der Schriftsprache erlangt hatten, die Lautsprache auf Grundlage der erlernten Schriftsprache ein. Bonet liess den Sprachunterricht ebenfalls erst eintreten, wenn sich die taubstummen Schüler vermittelst der Schrift eine Elementarsprache angeeignet hatten. Ferner ver- langte Wallis, die taubstummen Kinder sind sobald als möglich mit der Schriftsprache bekannt zu machen, denn für sie ist die Schrift das, was für die Hörenden der Laut ist. Am meisten huldigte aber diesem Prinzipe die Wiener Schule, deren Hauptvertreter Venus (1774—1850), Schwarzer (1808—1834 Direktor in Waitzen) und Reitter (1781—1830) sind. Sie hielt daran fest, dass sie die Schriftsprache als die Basis des gesamten Sprachunterrichtes be- trachtete und ihre Schüler mit Beginn des Unterrichtes in diese Sprache ein- zuführen suchte, die Lautsprache aber erst lehrte, wenn die Schüler bereits einen Sprachkursus in der Schriftsprache durchgemacht hatten, und zwar hauptsächlich zwecks Befestigung dieser. Darch ihre Herrschaft, welche sie ein halbes Jahr- hundert in Deutschland behauptete, beeinflusste sie nicht nur den Taubstummen-

*) S. Bitt. f. Tbst.-Bld., Jahrg. XIV, Nr. 7, S. 112.

**) (+, Riemann, Extreme.

***) Man vergl. des Verf. Aufs. „Die Gebärdensprache“ in Nr. 1 u. 2 d. Bitt. f. Tbst.- Bld., Jahrg. VI.

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unterricht in ganz Österreich und Süddeutschland, sondern wirkte auch auf die in den norddeutschen Taubstummenanstalten angewandte Methode, also auf die Leipziger und Schleswiger Schule, ein.*) Und, ist es Zufall oder Fügung, in allerjüngster Zeit trat Kollege Göpfert-Leipzig dafür ein, als Grundlage für den Sprachunterricht der Gehörlosen nicht mehr, wie bisher, das Absehen und Sprechen, sondern die Schriftform der Wortsprache zu wählen. Mit ihm ver- band sich Forchhammer-Nyborg (Dänemark) durch die Herausgabe seines „imitativen Sprachunterrichtes“.

Alle diese Männer gingen bei der Begründung ihrer Ansicht davon aus, dass das Absehen des Gesprochenen vom Munde sehr schwierig und künstlich und meist ein unsicheres und unvollkommenes Mittel der Sprachaneignung sei, während die Schrift für den Taubstummen die am leichtesten erkennbare und am sichersten auffassbare und auch am leichtesten verständliche Ausdrucksform der Wortsprache sei. In dieser Allgemeinheit hat der Satz sicher etwas Richtiges, Bestechendes und für den ersten Augenblick auch Einleuchtendes. Bei jeder Sinnesperception gelangen nur diejenigen Nervenerregungen in der Seele zur Perception, welche, bevor sie von anderen verdrängt werden, der Seele die ihr für ihre Tätigkeit nötige Zeit lassen. Es wird niemand leugnen, dass die Schrift- zeichen dem Auge einen weit konstanteren Stützpunkt bieten, als die flüchtigen Bewegungen des sprechenden Mundes und darum auch der Seele eine genügendere Zeit zur Perception gewähren. Aber was nützt dem Taubstummen eine der- artige Perception der Schrift selbst bei richtiger Verbindung mit den durch die Schriftbilder bezeichneten Begriffen für sein Zusammenleben mit seiner hörenden Umgebung?! Die Verfechter der Schriftform für den ersten Taubstummen- unterricht sagen selbst, dass die Schrift auch für den Taubstummen erst ihren rechten Wert erlangt, wenn er gelernt hat, die Lautsymbole der Buchstaben in Sprechbewegungen umzusetzen, also mit lauter Stimme lesen gelernt hat. Sie fordern darum auch: Der Unterricht im Sprechen hat sich dem Sprachunterrichte auf Grund der Schriftform sofort anzuschliessen. Mit dieser Tatsache kommen sie genau auf dieselben Schwierigkeiten, die diejenigen zu überwinden haben, welche von vornherein vom Absehen und Sprechen ausgehen; ja, es ist sogar zu behaupten, dass sich bei ihrer Methode die Schwierigkeiten des Artikulierens noch steigern, denn sie wollen nun gleich von deutsamen, nach phonetischen Rücksichten ausgewählten Lautverbindungen (Normalwörtern des Artikulations- unterrichtes) ausgehen, während bei dem sonst üblichen Verfahren der Einzellaut im Vordergrunde steht. Sind nun aber dieselben Schwierigkeiten auf diesem wie auf jenem Wege zu überwinden, so ist es doch eine alte Erfahrung, dass man dieselben um so leichter überwindet, je früher man sich an sie heranmacht. Es wird sich auch hier zeigen, dass der gerade Weg der kürzeste ist. Wird der Taubstumme zuerst nur auf die Schriftform der Sprache hingewiesen, so wird ihm wobl die Auffassung und Anwendung des Äusseren der Wortsprache erleichtert, nicht aber die Begriffsbildung und das Erfassen logischer Beziehungs-

*) Walther, Geschichte des Taubstummen - Bildungswesens.

107 verhältnisse, die doch das Wichtigste der Sprachaneignung ausmachen. Aber auch die zugegebene Erleichterung der Auffassung und Anwendung des Äusseren der Wortsprache wird uns viel bedeutungsloser erscheinen, wenn wir bedenken, dass die „Schärfe des Sehens“ und um eine solche handelt es sich doch auch beim Lippenlesen nicht bloss abhängig ist von dem katoptrischen und diop- trischen Apparat des Auges, der die Aufgabe hat, die von einem leuchtenden Punkte auf das Auge fallenden Strahlen in einem Punkte der Retina zu ver- einigen, so dass niemals mehrere, im Objekt getrennt liegende Punkte auf die- selbe Stelle der Retina ihr Licht werfen können; nicht bloss bedingt durch die Konstruktion der Retina, durch die sie befähigt ist, die mit Hilfe jenes Apparates entworfenen Lichtpunkte in der Sonderung, in welcher sie auf ihrer Oberfläche entworfen wurden, dem Gehirn mitzuteilen; die Schärfe des Sehens ist viel- mehr ebenso sehr und noch mehr abhängig von dem Grade der Aufmerksam- keit, welchen die Seele den von der Retina aufgenommenen Bildern zuwendet oder zuwenden kann.“*) Und der berühmte Physiologe E. H. Weber erklärt ganz im allgemeinen: „Damit die Vorstellung einer Empfindung zustande (d.h. eine Empfindung uns zum Bewusstsein) komme, muss die Aufmerksam- keit auf die vorzustellende Empfindung hingelenkt werden, während die Em- pfindung allein auch dann zustande kommt, wenn wir unsere Aufmerksamkeit mit aller Anstrengung auf einen anderen Gegenstand richten.“ Gerade die spezifisch psychische Tätigkeit der Aufmerksamkeit, die einzige Pforte in den Geist der Schüler, lässt uns bei unserem Unterrichte, der den Taubstummen zum Verkehr mit seinen hörenden Mitmenschen befähigen will, das Ausgehen vom Absehen und Sprechen gerecht und natürlich erscheinen. Bei genügender Aufmerksamkeit seitens der Schüler, und soviel kann man von jedem kleinen, bildungsfäbigen taubstummen Kinde verlangen, werden die vielfach undeutlichen und rasch verschwindenden optischen Lautbilder bald an Bedeutung und bleiben- den Wert gewinnen. Es wird sich bei ihnen bald eine ähnliche Tatsache voll- ziehen, wie sie Helmholtz bei dem sogen. Wettstreit der Sehfelder charakteri- siert, indem er sagt: „Dadurch, dass man die Aufmerksamkeit auf ein ganz schwach beleuchtetes Objekt fesselt, kann man ein dasselbe deckendes viel helleres, im Netzhautbilde des anderen Auges stehendes Objekt verdrängen.“ Durch ein solches Schärferwerden der kleinsten sichtbaren Lautbewegungen wird der Taubstumme gewiss manches sehen, wovon wir uns bei normalen Sinnen gar keine rechte Vorstellung machen können. Dazu kommt, dass durch das Ausgehen vom isolierten Sprachlaute und dem gleichzeitigen Erlernen des Ab- sehens mit dem Sprechen sich einesteils die Schwierigkeiten verringern, andern- teils durch möglichst lange und vielseitige Übung eine grössere Fertigkeit im Absehen erreichbar ist. Eine vielseitige Übung und Pflege des Absehens ist aber unbedingt notwendig, wenn es dem Taubstummen für das praktische Leben den grossen Nutzen gewähren soll, zu dem es für ihn werden kann. Mässigen Anforderungen an seine Absehtertigkeit muss und wird er jedoch jederzeit ge-

*) Ludwig, Lehrbuch der Physiologie des Menschen.

108 nügen, wenn er von vornherein zu rechter Aufmerksamkeit auf diese seine Auf- gabe angeleitet wird. Die allgemeine Wahrheit des Satzes: „Wer in der Schule gelernt hat, mit angestrengter Aufmerksamkeit, mit voller Hingabe, mit inniger Sammlung seiner Aufgabe sich zu widmen, der hat eine Zucht des Willens durchgemacht, die ihm zeitlebens zu gute kommen wird“, wird sich auch dem Taubstummen für sein Absehen bestätigen.

Unser praktisches Ziel, den Gehörlosen durch seinen Unterricht aus seiner Isolierung möglichst herauszureissen, verlangt unbedingt. dass die Lautform unserer Sprache der Schriftform vorausgehen muss. Die Schrift aber kann auf allen Stufen bei der Auffassung schwer absehbarer Lautverbindungen und der Einprägung des Sprach- und Wissensstoffes schätzenswerte Dienste leisten und können die Bedenken gegen ein Vorherrschen derselben desto mehr zurücktreten, je mehr das Lautwort Träger der Gedanken geworden ist und die mangelhafte Auffassungsfähigkeit mancher Schüler ihre Unterstützung fordert.

In diesem Sinne urteilte auch die Mehrzahl der Teilnehmer an der Ver- sammlung des Bundes deutscher Taubstummenlehrer zu Hamburg (1900) und gab dadurch von neuem ihre ablehnende Stellung zur Gründung des Taubstummen- unterrichtes auf die Schrift kund. Damit hat diese vielumstrittene Frage hoffentlich für längere Zeit eine glückliche Lösung gefunden.

Unentschieden ist dagegen heute noch die Art und Weise der Verwertung der Gehörreste bei Taubstummen. Man steht in den beteiligten Kreisen in dieser Beziehung noch mitten im Streite. Es gibt zwar wohl kaum einen Taubstummen- lehrer, der der Verwertung der Gehörreste bei seinen Zöglingen nicht das Wort redete; denn dazu zwingt ihn neben der grossen Anzahl der Taubstummen, die noch einen Rest vun Gehör für Schall und Töne, Sprachlaute, Wörter und ganze Sätze besitzen, der bedeutende praktische Nutzen, welchen die Verwertung der Gehörreste den Schülern in Bezug auf ihre intellektuelle Ausbildung und den gesamten Unterrichtszweck gewährt. Verschieden denkt man aber über die hierbei einzuschlagenden Wege.

Einige wollen nur eine gelegentliche Berücksichtigung der vorhandenen Gehörreste im Unterrichte in der Weise, dass sie die mit solchen Resten begabten Schüler in ihre Nähe setzen, so dass ihnen der im gewöhnlichen Artikulations- ton erteilte Unterricht Gehörsanregungen in Menge bietet, ihnen auch wohl ins Ohr gesprochen wird, sie ferner öfters ein Hörrohr in die Hände bekommen, damit sie sich selbst sprechen hören und ihre Stimme mit dem Klangvorbilde vergleichen können. Sie achten also während der ganzen Schulzeit darauf, dass die vorhandenen Gehörreste zum Auffassen der Lautsprache verwendet werden und zur Erzielung der Reinheit, des Wohlklanges und der Natürlichkeit der Stimme führen. In diesem Sinne hat ein rationeller Taubstummenunterricht die vorhandenen Gehörreste während des allgemeinen Klassenunterrichtes stets benutzt und wird sie auch sicher stets benutzen; eine weitere Berücksichtigung muss er aber entschieden zurückweisen.

Andere wollen die hörenden Schüler in besonderen Stunden ausserhalb des

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gewöhnlichen Unterrichtes nebenher durchs Ohr unterrichten, dieselben aber im übrigen an dem allgemeinen Unterrichte teilnehmen lassen.

Hier wird den von der Natur schon an und für sich Bevorzugten den gänzlich Tauben gegenüber durch eine Art Privatunterricht ein ganz bedeutender Vorteil gewährt. Angenommen selbst, dass es sich in diesen Stunden in der Hauptsache um Wiederholung der Klassenpensen und -stoffe handelt, so muss doch das Wissen der betreffenden Schüler auf diese Weise ein viel festeres und tieferes werden. Jeder Lehrer wird nun gewiss allen seinen Schülern von ganzem Herzen ein solches Wissen wünschen, muss aber seine Wünsche zurückdrängen, wenn sich deren Erfüllung auf Kosten der Schwachen und Schwächsten vollzieht. Ein solcher Fall liegt aber hier vor; denn man setzt leider die bei den Hör- schülern erlangte tiefere geistige und sprachliche Bildung fast ausschliesslich auf Rechnung der Gehörübungen oder wenn man will, auf den Sprachunterricht durch das Ohr, und übersieht dabei ganz und gar, dass dieselbe Privatstunden- zahl sicher den gleichen Erfolg, abgesehen von den akustischen Wirkungen, bei den meisten unserer gutbefähigten totaltauben Schüler erzielen würde.

Diese Art der Verwertung der Gehörreste bei Taubstummen zählt nur wenig Anhänger und ist auf die Dauer wohl unhaltbar. Man stimmt vielmehr lieber denen zu, welche einer vollständigen Trennung der mit grösseren Gehörresten begabten Kinder von den eigentlichen Taubstummen das Wort reden. Mag diese Trennung nun durchgeführt werden durch Bildung von Hörerklassen oder Höreranstalten. |

Eine derartige Trennung der Schüler lässt sich nach 1 bis 2 Schuljahren um so sicherer vornehmen, als es Professor Dr. Bezold in München gelungen ist, in der kontinuierlichen Tonreihe ein Mittel herzustellen, mit welchem sich die noch vorhandenen Gehörreste in Bezug auf Qualität und Quantität genau feststellen lassen und seine Untersuchungen ergeben haben, dass das Vorhanden- sein des Gehörs für die Tonstrecke b’—g” die Bedingung für das Hören der menschlichen Sprache ist; denn in ihr liegen «ie Eigentöne der Vokale.

Als notwendig erweist sich aber die Trennung der Hörer von den Total- tauben im Hinblick auf die Eigenart beider Gebrechen, die Pflicht, welche die Menschheit ihnen gegenüber hat, und die Arbeit, die die Ausbildung derartiger Kirder fordert.

Taubheit und Schwerhörigkeit sind in ihrem Wesen so verschieden, dass die Errichtung besonderer Anstalten für die Schwerhörigen volle Berechtigung hat. Ihr Unterricht bezieht sich, abgesehen von seinen sonstigen Zwecken, im wesentlichen auf:

1. die Bildung des sensorisch -akustischen Zentrums, 2. die Bildung des motorisch-akustischen Zentrums, 3. Einschleifung der höheren Sprachbahn.*)

Dies sind Massnahmen, die sich mit dem Unterrichte Totaltauber nicht

vereinigen lassen und darum nach einer Ausscheidung aller derjenigen Kinder

*, R. Brohmer, Von der Verwertung der Gehörreste bei Taubstummen. Biltt. f. Tbst.-Bid., Jahrg. XV, Nr. 11.

110 aus den Taubstummenanstalten drängen, die noch einen Unterricht durch das Ohr empfangen können.

Den Taubstummenanstalten, die doch ihren Unterricht ausschliesslich dem Gebrechen der eigentlichen Taubstummen anzupassen haben, würde eine solche Scheidung zum Segen gereichen und ihnen aus derselben gewiss mancher Vorteil erwachsen.

Wenn wir auch gern anerkennen, dass die Methode des Taubstummen- unterrichtes in den letzten Jahrzehnten ganz wesentliche Verbesserungen erfahren hat, so wird doch niemand bestreiten, dass dieselbe nach manchen Seiten hin noch erfolgreicher auszugestalten und besserungsfähig wäre. Unter anderem dürfte uns eine Frage noch recht oft und viel beschäftigen, nämlich die:

Wie führen wir die Taubstummen zu einem recht häufigen, verständigen, geistbildenden Lesen nach der Schulzeit?

Es ist dies eine Frage, die mit unserem Ziele, die Taubstummen der Menschheit wiederzugeben, eng verbunden ist. Harms sagt: „Wer nicht liest, der lebt nicht“. Doppelt wahr sind diese Worte für die aus den Anstalten ent- lassenen Taubstummen, wenn sie dann nicht gern und häufig lesen; denn ihr mündlicher Verkehr mit den Vollsinnigen bleibt nun einmal für ihr ganzes Leben verschiedenen Schwierigkeiten unterworfen, und sie sind zu ihrer Fort- bildung und weiteren Belehrung vielfach allein auf das Lesen angewiesen. „Die Lektüre ist das vornelimste geistige Förderungsmittel für den erwachsenen Taub- stummen“* (Vatter).

Manchem Leser erscheint es sicher befremdlich, dass uns obige Frage über- baupt Sorge macht. Nun, das mechanische Lesen lernen ja die Taubstummen verhältnismässig bald und ohne grosse Schwierigkeiten; allein, zu einem geist- bildenden Lesen gelangt eine grosse Zahl von ihnen auch heute noch nicht. Wer bedenkt, dass wir den Taubstummen in der Schule ihre ganze Sprache erst schaffen müssen, der wird auch einen richtigen Schluss auf ihren Umfang und den daraus resultierenden Tatsachen ziehen.

Vielleicht führt uns „der freie Anschauungsunterricht“, der mit gutem Rechte immermehr an Terrain in unseren Schulen gewinnt, zur Lösung beregter Frage; vielleicht bedarf es aber auch hier noch psychologischer Studien und Er- örterungen. In Anbetracht der Gewissheit, dass alles Lernen, wie überhaupt alles Tun, das nicht mit Lustwerten behaftet ist, für das Handeln und für die Charakterbildung ganz wirkungslos ist, wird sich der Lehrer mit allen metho- dischen Werkzeugen ausrüsten, um den Kindern in der Schule den Unterricht angenehm zu machen. Aus diesen Erwägungen heraus will es mir nicht als das Richtige erscheinen, unseren Schülern bei ihrem ersten Leseunterrichte fast ausschliesslich Satzreihen beschreibender Form und Wiederholungen des im Anschauungsunterrichte bereits behandelten Stoffes zu bieten. Wo soll denn da das Interesse bei den Kindern am Stoffe herkommen, und wo bleibt dabei die für unsere Schüler in den ersten Schuljahren an und für sich so überaus dürftige Ausbildung des Empfindungsvermögens?! Muss man es sich schon versagen, den Anschauungsstoff mit wahrhaft kindlichen Erzählungen zu würzen und da-

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durch denselben gemütbildender zu gestalten, so ist doch ihr seltenes Auftreten beim ersten Leseunterrichte noch viel schmerzlicher. Es bleibt unumstösslich wahr, „der Weg zu dem Kopfe muss durch das Herz geöffnet werden“, und der bekannte Leipziger Germanist Rudolf Hildebrand sagt: „Das blosse Wissen, der blosse Verstand gibt uns von einem Gegenstande nur die Umrisse und die Fläche, . . . die Farbe aber und den Duft und die Seele oder das volle Leben, die Tiefe gibt uns allein die eigenste Beteiligung, d. h. das Empfinden, das Gemüt.“ Ein vorzüglicher Schlüssel in das Gemüt, das Herz und den Kopf eines Kindes ist die Erzählung. Darum mit ihr möglichst früh auch binein in unsere Anstalten, vor allem in unsere ersten Lesebücher. Sie helfen dazu bei- tragen, die Taubstummen, die durch ihr Gebrechen vielem Kummer und Elend verfallen sind, zu einer beglückenden Selbsttätigkeit zu führen und ihnen im späteren Leben manche erbauliche und fröhliche Stunde lesend zu bereiten.

Freilich darf man hier nicht übersehen, dass eine derartige Einführung nicht nur durch die langsame geistige und sprachliche Entwickelung unserer Schüler schwer wird, sondern dass zu diesem Zwecke auch die Erzählungen erst gesammelt bezw. gemacht werden müssen. Aus dem „Vermächtnis an die liebe Jugend“ von Christoph von Schmid habe ich, so gut seine Erzählungen auch später zu verwerten sind, unter 200 auch nicht eine geeignete finden können. Es geht das schon aus ihrer Bestimmung „für Knaben und Mädchen mittleren Alters“ hervor. Meines Erachtens kommen hier nur Erzählungen für Kinder von 4—7 Jahren in Frage, wie sie von Müttern oder anderen in diesem Sinne erzäblenden Personen gehalten werden.

Sollte nun dieser oder jener Leser durch meine Ausführungen zu einem Sammeln oder Selbstverfassen solcher Erzählungen Anregung empfangen haben, so wäre dadurch den Taubstummen ein schöner Dienst geleistet.*) Schliessen aber will ich diese Arbeit mit dem Wunsche, dass immer weitere Kreise Interesse an der Versorgung der Taubstummen mit passenden Erzählungen nehmen möchten. Er hat sicher ebensoviel Berechtigung, wie die in unseren belletristischen Zeitschriften oft wiederkehrende Bitte un Herstellung von Er- zäblungen in Blindenschrift für Blinde.

Über Epilepsie.

Zu den vielen Entstehungsursachen der Epilepsie, welche man vermutet, will Dr. Tiburtius, Oberarzt an der Anstalt für Epileptische zu Karlshof b. Rasten- burg in Ostpreussen, nach der Psychiatrisch-neurologischen Wochenschrift**) eine neue entdeckt haben. Der Umstand, dass das Krankheitsbild der genuinen (echten) Epilepsie in seinen Erscheinungen eine unverkennbare Ähnlichkeit mit gewissen Geistesstörungen auf toxischer Basis besitzt, führte ihn zu der berechtigten Annahme, dass als Ent-

*) Inzwischen sind vom Koll. E. Reuschert-Berlin zwei Hefte mit kleinen Fr- zählungen für taubstumme Kinder herausgegeben.

**) Pgychiatrisch-neurologische Wochenschrift. Jahrgang 1903. Nr. 6. Verlag von Carl Marhold in Halle a. S. Preis für das Vierteljahr 4 Mark.

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stehungsursach oe der genuinen Epilepsie eine Intoxikation und zwar eine Auto-Intoxikation vorliegen könne.

Es gilt als erwiesen, dass der tierische Organismus unter Umständen Gifte produziert, die den Körper krank machen können. Gewöhnlich werden die Gifte durch verschiedene Vorgänge aus dem Körper ausgeschieden; sie wirken erst dann schädigend, wenn sie in bestimmten Mengen in den Organen sich angesammelt haben. Die Epilepsie sei auf eine solche Giftansammlung im Organismus des Epileptischen, die eine eigenartige Vergiftung herbeiführe, zurückzuführen, das Gift, durch welches sie hervorgerufen werde, sei aber zur Zeit noch völlig unbekannt. Man vermutet, dass das Gift in den Organen und Säften des Körpers sich befinde, vielleicht auch in seinen Ausscheidungen. Es soll nicht an einer bestimmten Stelle des Organismus entstehen, sondern im Gesamtorganismus sich entwickeln. Als Entstehungsursache wird abnorme Säftebildung in Verbindung mit mangelhaften Ausscheidungsapparaten bezeichnet. Das Gift sammelt sich nach und nach im Körper an, bis die Säfte damit gesättigt werden; die mit Gift gesättigten Säfte rufen zuerst im Gehirn, das von allen Organen am schnellsten auf derartige Einwirkungen reagiert, Veränderungen und Reizzustände hervor, deren Folgen Aura, Krämpfe und Bewusstseinsstörungen sind.

Dr. Tibartius vermutet über die Wirkung des Giftes, dass bei Herabsetzung der Erregbarkeit des Gehirns eine grössere Anhäufung desselben notwendig sei, um Vergiftungserscheinungen zu erzeugen. Unmittelbar vor dem Anfall müsse der Organismus mit dem Gifte aber nahezu gesättigt sein, so dass schon ein kleines Mehr an seelischer oder stofflicher Schädlichkeit den Anfall bewirken könne. Die Bestätirung dieser Auffassung findet er darin, dass oft ein unbedeutender Anlass, z. B. ein ganz kleiner Ärger oder Schreck, die schwersten Krämpfe zur Folge haben kann. Auch weist er darauf hin, dass viele Epileptiker den Anfall dann bekommen, wenn eine Vermehruug der Säfte im allgemeinen stattfindet, wobei ja auch eine beschleunigte Vermehrung des fraglichen Giftes eintreten muss, wie z. B. nach eingenommener reichlicher Mahlzeit. Aus eigener Erfahrung können wir diese Beobachtung bestätigen. Fast nach jedem Besuche, den unsere epileptischen Kinder seitens ihrer Angehörigen empfingen, wobei sie häufig überreichlich Naschwerk und heckerbissen einnahmen traten in der Regel gegen ihre sonstige Gepflogenheit Anfälle auf, die nicht selten von grösster Heftigkeit waren.

Bei behinderter Sekretionsauescheidung, in welchem Falle ja auch die vermutliche Ausscheidung des fraglichen Giftes behindert würde, haben wir gleichfalls epileptieche Anfälle beobachtet So stellten sich bei einem Kinde, wenn es längere Zeit an Hart- leibigkeit litt, regelmässig Krämpfe ein, während diese bei offenem Leibe gänzlich ausblieben.

Dr. Tiburtius nimmt des weiteren an, dass das Blut als Träger des vermut- lichen Giftes zu betrachten sei; er glaubt aber auch, dass selbst Kot, Urin, Schweiss und Speichel den betreffenden Giftstoff oder Spaltungsprodukte desselben enthalten. Während des Anfalls findet die Ausscheidung des den Krampf verarsachenden Zuviels von dem fraglichen Gift statt. Das beweist die enorme Arbeit, welche die Sekretions- organe und der Darm-Traktus innerhalb der kurzen Zeit des Anfalls leisten. Der Krampfanfall bedeutet desshalb eine Art von Selbsthilfe des Organismus, wodurch dieser sich des schädigenden Stoffes entäussert.

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Nach dem Anfall soll die Quelle, aus welcher die giftige Säftemischung dem Organismus zufliesst, unverstopft bleiben; sie kann aber allmählich durch physio- logische Prozesse, wie Wachstum, Gravidität zum Versiegen kommen. So erinnern wir uns hierbei, dass einst bei einem epileptischen Zöglinge die Anfälle ungefähr Jahr während einer Zeit, in welcher er ganz bedeutende Wachstumserscheinungenı aufwies, verschwanden, dann aber beim Stillstand des Wachsens sich nach und naclı wieder einstellten. Dieser eigentümliche Ausfall war uns damals ganz unerklärlich; wir suchten nach allen möglichen ursächlichen Umständen, konnten jedoch keinen bestimmten Anhalt dafür finden.

Dr. Tiburtius berichtet ferner, dass es ihm in zahlreichen Fällen durch be- stimmte Massnahmen gelang, typische epileptische Krämpfe willkürlich zum Verschwinden zu brıngen bezw. dieselben zu erzeugen. Die Verhinderung geschah dadurch, dass zu einer Zeit, wo der Organismus augenscheinlich mit dem fraglichen Gift beinahe gesättigt war, nur ein ganz geringer Zufluss von Blut zum Gehirn bewerkstelligt wurde. Der Anfall blieb dann auf kurze Zeit aus. Versuche zur Herbeiführung des Anfalls in völlig anfallsfreien Zwischenräumen durch künstliche Ansammlung von Blut im Gehirn bei vorn übergeneigtem Oberkörper gelangen nicht. Daraus zieht Dr. Tiburtius den Schluss, dass eine blosse Anhäufung des Blutes im Gehirn, ohne dass dieses gleichzeitig mit dem vermeintlichen Gifte gesättigt werde, Krämpfe durch- aus nicht zu erzeugen vermag.

Die willkürliche Herbeiführung des Anfalls erfolgte dadurch, dass die Epileptischen veranlasst wurden, minutenlang mit gespannter Aufmerksamkeit auf einen in unmittelbarer Nähe vor ihren Augen gehaltenen Gegenstand zu starren, wobei sie sich gleichzeitig mit dem Zeigefinger der rechten Hand langsam über Stirn und Nase streichen mussten. Der Anfall stellte sich jedesmal mit frappierender Sicherheit ein, allerdings nur dann, wenn die Kranken erklären konnten, dass ihre Zeit bald gekommen wäre. Die Anspannung der Aufmerksamkeit bewirkte eine Anhäufuns des Blutes im Gehirn, womit auch das noch fehlende Quantum des fraglichen Giftes ins Gehirn geschafft und die Bedingung zur Loslösung des Anfalls hergestellt wurde.

Für die Möglichkeit beider Eventualitäten stehen uns Beispiele aus unserer Er- fahrung zur Illustration zu Gebote. In unserer Schule gibt es gewisse Kinder, die den epileptischen Anfall manchmal durch eigenartige Stimmäusserungen oder durch Cyanose annoncieren. Wenn es dann sofort gelingt, sie zu erfassen und zum Gehen (mit Unterstützung) zu bringen, so kommt der Anfall nicht zum Ausbruche, er wird unterdrückt. Es scheint, als ob durch die motorische Tätigkeit des Organismus beim Gehen eine Ausscheidung des vermeintlichen Giftes irgendwie herbeigeführt würde. Kine Sekretion ist hierbei nicht beobachtet worden. Es entzieht sich such unserer Kenntnis, nach wie langer Zeit der Anfall dann wieder auftrat. Im Unterrichte ist es uns Öfter passiert, dass bei angestrengter Inanspruchnahme der Aufmerksamkeit plötzlich Anfälle bei epileptischen Kindern ausgelöst wurden, gewöhnlich in der Weise, dass schnell hintereinander sämtliche epileptische Schüler davun befallen wurden. Dieses eigenartige Auftreten der Anfälle lässt vermuten, dass es sich hierbei nicht allein um eine psychische Ansteckung handeln könne, sondern os bestätigt die Annahme des Dr. Tiburtius, dass eben durch die Anspannung der Aufmerksamkeit

114 eine lebhaftere Blutzufuhr zum Gehirn erzielt werde, die durch die dabei gleichzeitig eintretende Vermehrung des fraglichen Giftes den Sättigungspunkt zur Loslösung des Anfalls herbeiführe.

Dr. Tiburtius hat durch Versuche an Tieren festgestellt, dass der bei einem Epileptiker während des Anfalles abgehende Urin giftig wirkt, während der Harn gesunder Menschen sich vollständig unschädlich erweist. Die Tiere sollen gewöhnlich an krampfartigen Zuckungen gestorben sein. Versuche mit andern Körperflüssigkeiten der Epileptiker haben nach seinen Mitteilungen bisher noch keine Resultate von Belang ergeben.

Welche Aussichten für die Behandlung resp. Heilung der Epilepsie eröffnen uns die Ansichten des Dr. Tiburtius? An einer Stelle wird erwähnt, dass eine infektiöse Allgemeinerkrankung (mutmasslich die Meningitis im frühen Kindesalter) in ätiologischem Zusammenhange mit der genuinen Epilepsie stehe. Diese fieberhafte Allgemeinerkrankung wäre auf eine Infektion durch das vermeintliche Epilepsie-Gift zurückzuführen. Es müssten nun Versuche zur Isolierung dieses frag- lichen Epilepsie-Giftes aus dem Gesamtorganismus angestellt werden. Gelänge dieser Versuch, daran würde sich ein zweiter anschliessen, nämlich der Versuch einer Serum- Therapie der Epilepsie.

Es sind bei der Epilepsie- Therapie schon so oft optimistische Ansichten zum Ausdrucke gebracht worden, so dass es geboten erscheint, weniger zuversichtlich in die Zukunft zu blicken. Die meisten auf die Heilung der Epilepsie gerichteten Ver- suche iu den letzten Jahren (die Flechsig’sche Behandlung, die Behandlung nach der Methode Toulouse-Richet etc.) haben fast durchweg nur die Erfahrung bestätigt, dass wir die Epilepsie zwar lindern aber nicht heilen können. Immerhin aber ver- dienen die berechtigten Vermutungen des Dr. Tiburtius weitere Beobachtung und Nachprüfung. Wir raten dringend dazu und bitten im Interesse der Wissen- schaft und der leidenden Epileptischen um Mitteilung der ge- wonnenen Ergebnisse. Fr. Frenzel, Stolp. i. Pom.

Mitteilungen.

Chemnitz. (Hilfsklassen). Gegenwärtig zählt Chemnitz an der 2. und 9. Bezirksschule Hilfsklassen für Schwachbefähigte;, am 1. Oktober d. J. werden auch solche an deı 3. Bezirksschule neu eingerichtet. Jede der genannten Bezirksschulen hat eine Unter-, Mittel- und Oberklasse. Knaben und Mädchen sind getrennt. Die Stundenzahl der 3 Klassen beträgt 16, 20 und 22. Die Leitung liegt in den Händen der Direktoren der betreffenden Bezirksschulen. Nenerdings sind in einer Knaben- unterklasse Fröbelarbeiten, bestehend in Stäbchenlegen, Ausnähen, Papierflechten und Formen mit Plastilina, probeweise genehmigt worden. Es steht zu erwarten, dass hiermit endlich der Anfang zur Einführung des Handfertigkeitsunterrichts an allen Hilfsklasseun gemacht ist. Auch wird seit kurzem für jedes Kind bei seinem Eintritte in eine Hilfsklasse eine Schülercharakteristik angelegt, ebenso ist die Aufnahme durch Einführung von gedruckten Aufnahmeformularen strenger geregelt worden. Infolge eines im hiesigen „Pädagogischen Vereine“ gehaltenen Vortrages über psychopathische

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Minderwertigkeiten, der sich in der Hauptsache auf das Schülermaterial der Hilfsschulen bezog, beantragte der Vorstand dieses Vereins die Erteilung eines „besonderen“ Konfirmationsunterrichts für Hilfsschüler. Er fand bei den massgebenden Kirchen- behörden bereitwilliges Entgegenkommen. Zum IV. Verbandstage der Hilfsschulen Deutschlands sandte die Stadt einen an den Hilfsklassen beschäftigten Lehrer nach Mainz, der dann einen „mündlichen“ Bericht vor dem Schulausschusse, dem Bezirks- schulinspektor, den Direktoren und Lehrern sämtlicher Hilfsklassen geben musste. Möchte das in der sich daran anschliessenden Besprechung zum Ausdruck gebrachte Verlangen nach Einrichtung von „selbständigen“ Hilfsschulen bald in Erfüllung gehen!

Mannheim. (Hilfsschule.) Die hiesige Hilfsschule war im Schuljahr 1902/03 von 52 Kindern (36 Knaben und 16 Mädchen) besucht. Diese verteilen sich auf 2 Stufen mit je 2 Parallelklassen. Zugewissen werden ihr nach einer Prüfung durch den Schulleiter und einen Arzt die Kinder, welche auch im zweiten Jahre ihres Schulbesuchs in einer Wiederholungsklasse I, in welcher die Repetenten der Anfänger- klasse vereinigt werden, trotz der dort bestehenden günstigeren Unterrichtsbedingungen (geringe Klassenstärke durchschnittlich 80 Kinder successiver Abteilungsunter- richt, erfahrene Lehrkräfte) nicht gefördert werden konnten und auch solche Kinder, welche schon im ersten Jahre sich unzweifelhaft als schwachsinnig zu erkennen gaben. Um den Unterricht möglichst individuell gestalten zu können, ist bei geringer Klassen- stärke (Maximum 20) der successive Abteilungsunterricht und der parallele Stunden- plan eingeführt. Der für ein Kind längstens 3 Stunden dauernde Vormittagsunterricht ist unterbrochen durch eine längere Pause, während welcher im Schulhofe Bewegungs- spiele gemacht werden. Entsprechend der Rückständigkeit in ihrer ganzen Entwickelung lassen wir diese Kinder in der Schule in systematischem Verfahren durch Spiel, spezielle Sinnesübungen, Handarbeit (Papier-, Karton-, Stäbchenarbeiten und Modellieren), Garten- arbeit in dem im Schulhofe angelegten Unterrichtssgärtchen und zahlreiche Unterrichts- gänge ins Freie zunächst den Entwicklungsgang durchmachen, den ein normales Kind, dem es nicht an Kraft und Lebensenergie fehlt, im vorschulpflichtigen Alter durch- macht. Durch Entsendung in Ferienkolonieen oder in Solbäder, durch Verabreichung von warmem Frühstück, bestehend aus Milch und Brötchen, durch Verschaflung von Freiplätzen am Mittagstisch der Volksküche, durch ausgiebige Benutzung der Schul- brausebäder, durch gymnastische Übungen, durch Spiele und Spaziergänge im Freien suchen wir eine gesunde, körperliche Entwicklung zu fördern. Auch wenn so die Kinder für einen mehr schulmässigen Unterricht fähig gemacht sind, bleibt der konkrete Sachunterricht im Mittelpunkt. Er umfasst Anschauungs- und Darstellungs- unterricht. Dieser letztere baut sich aus zum Handarbeitsunterricht, der mit dem An- schauungsunterricht nicht mehr notwendig in organischer Beziehung stehen muss. Das Kind soll zur Arbeit fähig gemacht und so gefördert werden, dass es später in einfachen sozialen Verhältnissen selbst für sich sorgen kann. Darum werden auch Fertigkeiten erlernt, mit denen Knaben und Mädchen im ungünstigen Falle direkt nach der Schulentlassung wenigstens einen Teil ihres Unterhaltes verdienen können, wie z. B. das Stuhlflechten. So ist es uns gelungen, das Selbstvertrauen und den Mut unserer anfänglich so energielosen und eingeschüchterten Schwachen bedeutend zu heben und in ihnen eine erfrenliche Lust und Liebe zur Arbeit und zur Schule

116 zu erzeugen, und ihre Leistungsfähigkeit ist wesentlich gewachsen. Die Eltern, die anfangs der: neuen Schuleinrichtung misstrauisch gegenüberstanden, bringen ihr nun volles Vertrauen entgegen und ergreifen gern Gelegenheit, ihrer neuerlangten Hoffnung für die Zukunft und ihrer Freude über die günstige Veränderang ihres Kindes Aus- druck zu geben.

Zur Erklärung des „sucoessiven Abteilungsunterrichtes“ und des „parallelen Stundenplanes“ sei noch das Folgende gesagt: Die Schüler jeder Klasse sind nach ihren Fähigkeiten in 2 Abteilungen geteilt, welche wöchentlich 6 Stunden getrennten Unterricht in Rechnen und Deutsch erhalten, während die übrigen 16 Stunden gemeinsam erteilt werden. Die Abteilungsstunden liegen .am Anfang und am Ende der Unterrichtszeit.e. In der ersten Hälfte der Woche kommt die Abteilung B, welche die besseren Schüler der Klasse enthält, morgens um 8 Uhr zur Schule und hat von 8—9 Unterricht im Lesen und Rechnen. Um 9 Uhr kommt die Ab- teilung A, welche die schwächeren Schüler vereinigt, dazu, und nun wird die ganze Klasse (A und B) unterrichtet in Religion, Schreiben oder Anschauungs- und Dar- stellungsu: terricht u. s. w. Um 10 Uhr bezw. 11 Uhr wird die Abteilung B entlassen, und nun hat die Abteilung A von 10—11 bezw. 11—12 allein Unterricht im Rechnen und Lesen. In der zweiten Hälfte der Woche beginnt die Abteilung A um 8 Uhr. Um weitere Teilung der Klasse zu vermeiden, sind im Stundenplane der ver- schiedenen Klassenstufen die gleichen Unterrichtsfächer auf die gleichen Stunden gelegt, damit einseitig geförderte Kinder ausgetauscht werden können, wie das in der laeipziger Hilfsschule in ausgedehntem Maße der Fall ist. O. M.

Oppeln. (Verurteilung). Der ehemalige Zögling der Idiotenanstalt zu Leschnitz Paul Scholz wurde in der neuerlichen Verhandlung zu 10 ‚Jahren Gefängnis verurteilt. Bei Begründung dos Urteils führte der Vorsitzende des Gerichtshofes aus. dass leider die Gesetzgebung eine höhere Strafe nicht zulasse.

Schöneberg. (Ferienausflüge.. Auf Anregung der Schulärzte hat der Magistrat unter Zustimmung der Stadtverordneten beschlossen, den bedürftigen Kindern der Hilfsschule während der grossen Ferien durch Veranstaltung von Ausflügen nach dem Grunewald eine Erholung zu schaffen. Es kommen dabei etwa 30 Kinder in Frage, die dreimal wöchentlich hinausgeführt werden sollen. Die Kosten für diese Ausflüge sind mit 485 Mk. berechnet worden.

Briefkasten.

H. M. i. Ch. Besten Dank! 0. M. i. M. Besten Dank für den Bericht. Da der Vortrag bereits anderwärts erscheint, so würde derselbe in unserer Zeitschrift lediglich als Abdruck erscheinen. Um solches zu vermeiden, müsste derselbe eine Umarbeitung erfahren. R.R.i.K. Die nächste (Xl.) Konferenz soll in Stettin abgehalten werden. Was Sie sonst zu wissen begehren, erfahren Sie am besten durch den Vorsitzenden der- selben, Herrn Erziehungsinspektor Piper-Dalldorf. Die vorherige Bekanntgabe der

Leitätze zu den Vorträgen blieb bisher nicht ein stiller, sondern ein „lauter: Wunsch. P., Sch. i. M. In nächster Nr.

Inhalı. Allgemein Interessantes aus dem Taubstummenunterrichte. (P. Riemann.) —- Über Epilepsie. (Fr. Frenzel) Mitteilungen: Chemnitz, Mannheim, Oppeln, Schöneberg. Briefkasten. i

Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden, Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. Druck von Johannes Pässler in Dresden.

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Nr. 8. gar oT? XIX. (Ill) Jahrg. für die “LIBRARY M

Behandlung Schwaclsinniger Und Fe

Organ der Konferenz für das "Idiotenwhsen.— Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

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Die Original- Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

Der Austausch von Schülern zwischen den verschiedenen Klassen der Hilfsschule.

Von P. Schwahn, Lehrer an der Hilfsschule zu Mainz.

Der Charakter der Hilfsschule ist ein eigenartiger. Derselbe wird in seiner Natur durch das anormale Wesen der Schüler geschaffen und in seiner Richtung durch deren Defekte gegeben. Er weicht von deın Charakter der Normalschule insoweit ab, als sich das anormale Kind von dem normalen unterscheidet. Denn während wir uns das letztere in der Regel körperlich und geistig gesund und im Besitze voller Sinne und gesunder Geisteskıäfte denken, haben wir in ersterem ein Kind vor uns, das an Geist und Körper krank, schwach oder gar verkümmert ist. Dem Lehrer an der Normalschnle sind im allgemeinen die Geistestore seiner Schüler geöffnet; der Lehrer der Hilfsschule hingegen findet diese viel- fach verschlossen. Und indem so jener das geistige Ackerland seiner Zöglinge ohne besondere Hindernisse fruchtbringend bebauen kann, hat dieser in vielen Fällen sich zuerst den Weg zum geistigen Brachfeld seiner Kleinen freizumachen, um es bereinigen und anpflanzen zu können, dann noch in der schwachen Hoff- nung auf Ernte. Der Lehrer der Hilfsschule ist hiernach an erster Stelle Heil- pädagoge und hat als solcher in seiner Tätigkeit mehr Liebe und Geduld, sowie grössere Hingebung und Ausdauer von nöten als der Normallehrer. Was jedoch die allgemein giltigen Grundsätze der Pädagogif"angelt, sind diese für beide Schulen die gleichen; nur werden sie sich hier und dort in Mass und Art der Anwendung und Durchführung voneinander unterscheiden so die Sätze: von der Sache zum Wort, vom Wort zum Zeichen! vom Nahen zum Entfernten, vom Leichten zam Schweren, vom Bekannten zum Unbekannten ;

118 unterrichte anschaulich, naturgemäss, individuell, anziehend, interessant, lebendig, klar, leicht fasslich, praktisch, dauerhaft! eile mit Weile! wiederhole! u. a. m.

Nun steht noch die Hilfsschule da als ein junger Trieb an dem grossen und weitverzweigten Baume des Erziehungs- und Unterrichtswesens, neu in ihrer Einrichtung, unvollendet in ihrem Ausbau und allenthalben, soweit Erfahrung, Kraft und guter Wille reichten, in ihrer Eigenart zweckmässig ausgestaltet. Allein auch sie wird, unvollkommen wie alle menschlichen Institutionen, sich bald "im Wechsel der fortschreitenden Entwicklung verbesserungsbedürftig er- weisen. Ja, schon heute dürfte sich an ihr diese oder jene Anordnung, Mass- nahme und Bestimmung wenig empfehlen oder gar als nachteilig herausstellen.

So erscheint mir z. B. der an vielen Hilfsschulen üblich gewordene Aus- tausch von Schülern, welche. im Deutsch oder Rechnen besonders zurück sind, von schwerwiegendem Nachteil für die Schule und ihre Schüler. Wo immer ich dieser Frage in Rede oder Schrift begegnete, konnte ich mich mit ihr nicht vertraut machen und heute, wo meine eigene Klasse von dem Aus- tausch in Mitleidenschaft gezogen ist, kann ich mich auch noch nicht von dessen Nützlichkeit und Notwendigkeit überzeugen; ich fühlte mich vielmehr zu diesen meinen Ausführungen stärker veranlasst. Wenn ich mir daher erlaube, Gründe gegen einen Austausch von Schülern geltend zu machen, darf mir dies nicht als Neuerungssucht, auch nicht als Anmassung, noch weniger als Überhebung gedeutet werden. Zum allergeringsten ist es Absicht, die Hilfsschule dadurch in ihren Grundfesten zu erschüttern. Es geschieht nur im Interesse der Sache, für welche einzutreten jeder Lehrer nicht nur berechtigt, sondern sogar ver- pflichtet ist.

In Hilfsschulklassen, welche verschiedene Abteilungen aufweisen, können wohl Kinder, welche in einem gewissen Fache sehr schwach sind und in dem- selben auf einer oberen Stufe nicht leicht fortkommen, unberufen und still- schweigend noch ein Jahr weiter auf der seitherigen Stufe unterrichtet werden, ohne dass sie dadurch eine besondere Kränkung erfahren oder dadurch die Schul- ordnung gestört würde. Diese Massregel ist in Anstalten für Schwachsinnige, wie auch in der Volksschule mit verhältnismässigem Erfolg in Anwendung.

Aber nun zeigt es sich, dass diese Massregel unter vorstehenden Verhält- nissen von einem Austausch zwischen verschiedenen Klassen und Lehrern, von einem sich täglich wiederholenden Ausscheiden und Zurückverweisen grund- verschieden ist, und dass gerade in dieser Verschiedenheit die Gründe zu finden sind, welche gegen den Austausch sprechen.

Stellen wir uns einmal den Hergang beim Austausch vor Augen! Da sehen wir täglich in den Deutsch- und Rechenstunden ein Anzahl Schüler von Klasse zu Klasse wandern, um daselbst zu suchen, was man ihnen oben nicht geben konnte ? weil sie in den betreffenden Disziplinen rückständig sind, und sie wandern von oben nach unten, selten in entgegengesetzter Richtung, so dass dabei die oberen, resp. die oberste Klasse entlastet, die untere belastet wird. Was die eingesessenen Schüler der unteren Klassen bei der Einwanderung ge-

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winnen und wie sich dabei die Arbeit des betroffenen Lehrers gestaltet, weiss der praktische und erfahrene Lehrer zu beurteilen!

Ist schon durch die Eigenart der Hilfsschule, sowie durch die ungünstigen Verhältnisse, unter welchen sie bezüglich des verschiedenen Geschlechtes und Glaubensbekenntnisses der Schüler, bezüglich der Handarbeit, des Singens, Turnens und Zeichnens zu leiden hat, einerseits ein Zerreissen, andrerseits ein Kombinieren von Klassen notwendig und dadurch innerhalb des Schulkörpers eine, der Natur des anormalen Kindes wenig zusagende Unruhe und Bewegung geschaffen worden, so wird dieser nachteilige Zustand noch in bedenklichem Masse verschlimmert durch den oben erwähnten, mir nicht viel versprechenden Austausch. Der zweifelhafte Erfolg desselben wird für unsere geistig und körper- lich unsicheren, schwankenden und energielosen Kleinen, denen eine äussere Ruhe und Stetigkeit recht heilsam wäre, um einen zu hohen Preis erkauft; denn die „heil'ge Ordnung, diese segensreiche Himmelstochter“, ist durch die bezeichneten Übelstände illusorisch gemacht. Wie wohltätig dagegen wirkt dieselbe an der Normalschule, wo man eine derartige Einrichtung mit ihren Missständen nicht kennt! Und doch hat auch dort eine jede Klasse ihre schwachen Kinder, welche auch in manchen Fächern ungenügende Kenntnisse vorweisen. Allein man weiss, dass ein Austausch nie und nimmer den heilsamen Einfluss einer guten Schul- ordnung aufwiegen kann.

Die massgebenden Faktoren bei der Auswahl der zum Austausch zu bringen- den Schüler sind wohl das Lehrziel der Klassenlehrer und der Hilfsschul- vorstebher.

Die Lehr- oder Unterrichtsziele werden in der Regel durch den allgemeinen Lehrplan festgelegt. Da aber für die Hilfsschulen ein solcher wegen ihrer Eigen- art und wegen der grossen Verschiedenheit der Örtlichkeiten und ihrer Ver- hältnisse nicht zustande kommen kann, liegt die Entscheidung bei obigem Ge- schäfte in Händen des jeweiligen Leiters und Klassenlehrers, welche auch die Klassenziele nach Möglichkeit abgrenzen.

Wo nun des Klassenlehrers Urteil über diesen oder jenen rückständigen Schüler allein massgebend ist, ladet derselbe nicht selten das Odium auf sich, im gegebenen Falle nicht ganz selbstlos zu handeln, um etwa einen unsympathischen Schüler los zu werden, oder sich gar einer lästigen Arbeit zu entledigen!

Liegt aber die Entscheidung bei dem Hilfsschulleiter, so hat dieser eine eingehende Prüfung der in Frage kommenden Kinder vorzunehmen, welche jedoch, wenn nur einmal vorgenommen, ein falsches Resultat ergeben kann, da das schwachsinnige Kind heute gut, morgen weniger gut aufgeräumt ist. Hieraus folgt, dass ein Austausch in Anbetracht der durch ihn hervorgerufenen Un- zuträglichkeiten und Schwierigkeiten als eine nicht zu empfehlende Einrichtung erscheint.

Der Austausch fordert ferner die Vereinigung wo möglich sämtlicher Hilfs- schulklassen einer Stadt in einem einzigen Lokale, eine Forderung, welche ja im Interesse einer einheitlichen Leitung und einer zweckmässigen Klassenbildung gut und wünschenswert ist, die aber in sehr grossen Städten von der Gemeinde,

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Familie und von den Schülern oft schwere Opfer erheischt. Kinder, die da einen stundenweiten Weg zur Schule machen müssen, sind in Gesundheit und Leben ernsten Gefahren ausgesetzt, gewisslich immer ermüdet. Die Eltern dann haben nicht geringe Sorgen und Mühen, ihre ohnmächtigen Kleinen rechtzeitig und wohlbehalten zur Schule und wieder heim zu bringen, Den Städten endlich fällt es oft recht schwer, im Zentrum des Ortes die geeigneten Räumlichkeiten zu finden. Gewiss wären viele dieser Gefahren und Opfer erspart, könnte die Hilfsschule au verschiedenen Punkten des allzuausgedehnten Ortes errichtet werden.

Ein anderes! Der Austausch an der Hilfsschule erschwert die Auf- stellung des allgemeinen Stundenplans und lässt der pädagogischen Forderung bezüglich der Aufeinanderfolge der einzelnen Unterrichtsstunden einer Klasse wenig Gerechtigkeit widerfahren. Jeder Hauptlehrer oder Rektor einer Hilfs- schule wird uns zugeben, dass ihm schon bei der Aufstellung des Stundenplans die Festlegung der Stunden, welche die kombinierten Klassen im Singen, Turnen, Zeichnen, in Religion und Handarbeit fordern, seine freie Bewegung hindern; tritt nun noch der beabsichtigte Austausch mit seiner Forderung auf Gleich- legung sämtlicher Stunden im Deutsch und Rechnen für alle Klassen hinzu, so sind ihm alle Hände gebunden. Dadurch ist er genötigt, auch mit Rücksicht auf die Lehrer, Singen, Zeichnen, Turnen und Handarbeit als erste oder letzte Stunden zu legen, während die wichtigen Fächer, welche des Kindes Geist frisch und kräftig fordern, in unmittelbarer Aufeinanderfolge zu liegen kommen, eine Anordnung, welche ein grober Verstoss gegen die Pädagogik ist, für einen ge- deihlichen Unterricht von den nachteiligsten Folgen. Einen nicht geringeren pädagogischen Missstand schafft die Gleichlegung der wertvollen Disziplinen da- mit, dass der Unterricht der Kleinen in genannten Fächern auf den unteren Stufen. sich, wie in den oberen Klassen, auf die Dauer einer ganzen Stunde er- strecken muss. Wie langweilig, wie ermüdend und abstumpfend wirkt eine solche Stunde auf unsere geistigen und körperlichen Schwächlinge! Sprächen daher neben den hier gegebenen Erwägungen keine sonstigen Gründe mehr gegen einen Austausch, so wären diese Grund genug, überall von demselben abzusehen.

Habe ich in meinen Ausführungen hinreichend dargetan, wie durch den vielfach beliebten Austausch die äussere und innere Organisation der Hilfsschule in ihrem wirksamen Einfluss auf Unterricht und Erziehung gestört und ge- schädigt wird, so erübrigt nur noch zu zeigen, wie derselbe für einen gedeih- lichen Unterricht selbst mehr Schatten- als Lichtseiten erkennen lässt.

Man preist den Austausch als eine zweckmässige Einrichtung, weil man in ihm Mittel und Weg zur rettenden Tat erblickt. Durch ihn sollen die schwachen Kinder, welche in eine höhere Klasse aufgestiegen sind, das Ziel zum guten Fortkommen aber nicht erreicht haben, auf der seitherigen niederen Stufe das Versäumte in dem betreffenden Fache nachholen. Nun erscheint es auffallend und merkwürdig, dass die Normalschule trotz ihres hohen Alters sich von dieser vermeintlichen Zweckmässigkeit nicht überzeugen konnte. Dort ist man bis jetzt der Ansicht gewesen, das ein Austausch entweder dem Zurückgebliebenen

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nichts nütze oder aber, dass man den erhofften Erfolg bei gutem Willen und etwas Mühe auch ohne Austausch erzielen könne.

Indem ich auch dieser Ansicht bin, balte ich die erwähnte Massregel einer- seits für unnütz, andrerseits für ganz überflüssig. Zur Begründung meiner Behauptung gebe ich nachfolgende Umstände zur Erwägung: Da ist ein Schüler, welcher zwei Jahre ohne Erfolg die Volksschule besuchte. Als anormales Kind wurde derselbe der Hilfsschule zugewiesen, woselbst er jetzt auch schon im dritten Jahre sitzt. Zur Zeit sind seine allgemeinen Kenntuisse soweit be- friedigend, dass er in eine höhere Klasse aufstieg. Nur im Rechnen ist der Schüler so unbewandert, dass er heute, nach vierjährigem Schulbesuch, nicht imstande ist, innerhalb des Zahlenkreises 1—20 mit Überschreitung des Zehners ab- und zuzuzählen. Dieser Umstand veranlasst seinen Austausch im Rechen- unterricht, weil man es oben für ausgeschlossen hält, dass der Betreffende in der neuen Klasse mit fortkomme.

Wie die Sache in dem angezogenen Falle liegt, das Ergebnis des Aus- tausches wird im fünften Schuljahr je nach dem Grade der geringen Befähigung ein verschiedenes, ein zweifaches sein. Vermag das Kind kaum und nur an der Anschauung, Rechenbrett oder Rechenmaschine, die Zahlen 1—20 in ihrer Grösse, in ihrem Unterschied, in Mehr oder Weniger zu erkennen und nur höchst not- dürftig zu- und abzuzählen; hat es aber diese Vorstellung in der Abstraktion nicht, begreift es nicht, mit der reinen Zahl zu operieren, ist ihm vielleicht bei der Abstraktion 5 -+ 7 = 8, 12 -+ 6 = 11 oder 19 7 = 4; ist es in dem Grade schwankend und unfähig, dann holt auch der Austausch das Versäumte im fünften Jahr nicht nach; das „Eis“ kommt auch in diesem Fall nicht zum Brechen! Und dieser Fall ist, dass sich zu dem Mangel an Geist, an Zablen- vorstellung und an Zahlenbegriff noch der Umstand pädagogischer Fehler gesellt. Vier Jabre hindurch operiert das arme Kind in dem engen Raum 1—20 und wenig oder garnichts blieb haften. Und jetzt beginnt das alte Spiel von neuem; nichts Neues, nichts Interessantes, sondern immer wieder das Alte, das Nicht- erfasste wird ihm dargeboten. Wie soll nun der sich in den längst ausgefahrenen Geleisen fortbewegende Unterricht das schwerfassende aber leichtvergessliche Kind anregen, begeistern, erfreuen und anspornen? Wie nicht anders zu er- warten, sehen wir das ärmste von den armen Kindern teilnahmlos, gelangweilt, abgestumpft, jeder Energie und jeglichen Strebens bar! Kann dann auch der Lehrer seinem alten Schüler keine neue Seite abgewinuen und demselben in An- betracht seiner Schülerzahl keine besondere Rücksicht angedeihen lassen, dann geht derselbe auch im fünften Jahr leer aus. Also ist unter solchen Verbält- nissen ein Austausch nutzlos. Überflüssig wird derselbe aber da sein, wo bei dem ausgetauschten Schüler die Sache günstiger steht. Da sitzt neben dem soeben geschilderten Jungen ein zweiter, der in demselben Zeitlauf die gleiche Schule passierte, sich von jenem nur dadurch unterscheidet, dass sein Auge etwas heller blickt. Er gestaltete sich zu einem wackeren Schüler der Hilfsschule. Frohen Mutes zog derselbe in die höhere, neue Klasse ein. „Doch mit des Geschickes Mächten“ denn bald hat der neue Lehrer entdeckt, dass auch

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dieser zweite Schüler im Rechnen nicht sattelfest ist, dass er zwar notdürftig bis 20 in der Abstraktion zu- und abzählen kaun, nicht aber beim besten Willen den Übergang des ersten Zehners beherrscht. Der Lehrer verurteilt ihn darum ebenfalls zum Austausch. Schon in der nächsten Stunde vernimmt der Arme schmerzlich überrascht des Lehrers Bescheid und wandert mit seinem Kamerad unter Tränen, ganz trostlos wieder hinab zur unteren Klasse, wo er niedergeschlagen, gekränkt und beschämt als Dümmster unter den Dummen seinen Platz beim Rechnen einnimmt. In diesem Gefühle ‚geht er jetzt fast täglich das ganze Jahr hindurch diesen Weg der Verdemütigung als Aus- geschiedener; und heilt auch die Zeit alle Wunden und mildert sich die Strenge der Bitterkeit in der Erinnerung an den Ausschluss, der Stachel bleibt.

Dr. Demoor berührt in seinem „anormalen Kind“ den gleichen Ge- danken und verwirft dabei ganz entschieden jede Massregel, welche das Kind in seinem Ehrgefühl zu verletzen und vor den andern Kindern zu beschämen imstande ist; denn auch das schwachbegabte Kind habe Ehrgefühl. Eine Schule, welche sich zur Aufgabe setze, den Ärmsten der Armen Freude, Trost, Linderung und Hilfe zu bringen, müsse alles verhüten, was dieser Absicht zuwider sei!

Nehmen wir an, das zweite Kind, das da besser veranlagt ist, erreicht trotz der unliebsamen Verhältnisse das Ziel der Unterklasse. Ist es aber mit seinen Mitschülern auf der oberen Klasse im Rechnen gleich? O nein! Diese blieben ja während dieser Zeit nicht stehen und sind somit wiederum einen be- deutenden Schritt voraus. Unser Schüler war zurück und bleibt zurück, setzt sich selbst der Austausch bis zu seiner Entlassung aus der Schule fort. Ja, der Austausch ist die alleinige Ursache, dass er fortgesetzt zurückgehalten wird, ein Zustand, den eine gesunde und vernünftige Pädagogik nicht gutheissen kann. Wäre das Kind durch einen einjährigen Wechsel den Mitschülern auf der oberen Klasse gleichzubringen, dann könne man sich, wenn auch mit schwerem Herzen, mit einer solchen Massregel einverstanden erklären, bei den tatsächlichen Ver- hältnissen nicht. Darum bleibe ich bei meiner Ansicht und sage noch einmal, dass der letztere Schüler, so er im Rechnen gleich seinen Mitschülern in der oberen Klasse mit derjenigen Rücksicht behandelt worden wäre, welche die Hilfs- schule ihren Zöglingen schuldet, er hätte nicht allein das Ziel der unteren Klasse erreicht, sondern noch vieles von dem gewonnen, was den übrigen Schülern ge- boten wurde. Zu meiner Rechtfertigung lasse ich hier Gutzmann sprechen, der bezüglich schwachbegabter Schüler sagt: „Einer trage des andern Last! Dies muss überall im Gemeinwesen, besonders in der Schule beherzigt werden, wo begabte und unbegabte, geistig frische und träge, fleissige und faule Kinder nebeneinander sich entwickeln sollen. Wieviel Zeit nimmt ein schwachbegabtes Kind im Vergleich zu einem gutbegabten in Anspruch, wenn der Lehrer es nicht will fallen lassen, sondern es immer und immer wieder heranzieht, um 68 möglichst auf dem Niveau der Klasse zu halten.“

Das ausgetauschte Kind kann in dem betreffenden Fach nicht auf das Niveau seiner Klasse gehoben werden, weil es in eine niedere Sphäre ver- setzt ist, und aus der niederen Sphäre kann es sich ebensowenig direkt

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auf das Niveau der höheren Klasse erbeben, als ein Junge, der in einem Bassin das Schwimmen erlernt, sich sofort im offenen Strom über Wasser halten kann. Jenes ist nur möglich, wenn der Schüler in seiner einge- tretenen Klasse verbleibt und sein Lehrer den Forderungen Gutzmanns entspricht. Volksschulen, Realschulen, Gymnasien und selbst Lehrerseminare haben Zöglinge, welche in diesem oder jenem Unterrichtszweig ganz Ungenügendes leisten; darob bleiben sie weder sitzen, noch werden sie ausgetauscht. Man hofft, dass sie sich in dem rückständigen Fach durch Fleiss und eigene Kraft oder durch die besondere Mühe und Kunst der neuen Lehrer bessern würden. Ist dem nicht so, nun, dann sagt man, dass es dem Schüler in dem genannten Gegenstand überhaupt nicht gegeben sei, dass es einmal nicht gehe, dass es auch kein Unglück sei, wenn er in einer Disziplin nichts leiste, er möge nur im Leben mit seinen besseren Gaben und Fähigkeiten fleissig wuchern! Darum auch an der Hilfsschule keinen Austausch! Alle rückständigen Schüler unter- richte man in ihrer Klasse und behandle sie mit soviel Liebe, Hingebung, Geduld und Ausdauer, als man von jedem Lehrer der Hilfsschule verlangen kann, und ohne welche dieselbe ihrer Bedeutung und Aufgabe weder entspräche, noch in die Tat umsetzte.e Wird doch auch nur in diesem Sinne ihre Tätigkeit höher gewertet und der Lehrer vielfach demgemäss belohnt!

Gewiss, es leuchtet mir ein, dass man durch den Austausch minderwertiges Material abschieben, die Klassen und Abteilungen mit Schülern gleicher Fähig- keiten und Leistungen bilden und sich dadurch die Arbeit um ein ganz Be- deutendes erleichtern kann! Aber ebenso klar ist es, dass dadurch in den unteren Klassen, in welchen kein Austausch möglich wird, alles Material ge- sammelt, dem Lehrer daselbst die Last erschwert und die übrigen Schüler be- einträchtigt werden. Gerade die unterste Klasse ist schon an sich am meisten belastet; hier ist die Sammelstätte aller körperlichen und geistigen Defekte; hier muss zuerst der Weg zum verödeten Geistesfeld gebahnt und dasselbe ur- bar gemacht werden; hier sind die Geistestore dem Lichte zu Öffnen und Sinn und Geist für den Unterricht fähig zu machen, damit man später weiterbauen kann. Niemand nimmt hier dem Lehrer jene Schüler ab, von welchen er schon im voraus sieht, dass sie in manchen Unterrichtsfächern nicht mit der Mehrzahl gleichen Schritt halten können! Drum schicke man keine Schüler von oben hinzu, welche noch die Arbeit erschweren helfen!

Individuelle Behandlung der Kinder! das ist die erste Forderung der Hilfsschule, von deren Erfüllung sie Heil und Segen erhofft und das mit Recht. Allein nichts arbeitet genannter Forderung mehr entgegen, als eben der Austausch. Denn da, wo die Klassen oder Abteilungen, wie eben erwähnt, in den wertvollsten Disziplinen nur mit Schülern von fast gleichen Anlagen und Leistungen zusammengesetzt, die rückständigen dagegen ausgeschlossen werden, kann von einem individuellen Unterrichte keine Rede mehr sein; viel- mehr greift da ein Gesamtunterricht Platz, der bei günstiger Beurteilung noch als ein naturgemässer denkbar ist. Die Schlagwörter „individuelle Behandlung“ oder „individueller Unterricht* haben hier Sinn und Bedeutung verloren!

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Der Austausch trägt ferner zur Entfremdung zwischen den ausgeschiedenen Schülern und ihren Lehrern bei, welcher Umstand einen nicht zu unterschätzen- den Nachteil involviert. Kann doch tatsächlich der Fall eintreten, dass ein Kind gleichzeitig in Religion, Singen, Turnen und Handarbeit einen anderen als seinen Klassenlehrer hat. Rechnet man noch zu diesen die Stunden im Austausch, so geschieht es, dass das betreffende Kind wöchentlich 14—19 Unter- richtsstunden nicht unter der Obhut seines Klassenlehrers steht. Inwieweit es unter solchen Verhältnissen seinen Lehrer entfremdet wird, vermag der Leser zu beurteilen. Auch brauche ich nicht besunders darzutun, welch nütz- lichen und heilsamen Einfluss es bezüglich seiner Erziehung und Schulung dadurch verlustig geht; denn wie wenig Gelegenheit ist in vorliegendem Fall dem Klassenlehrer geboten, die guten und schlechten Seiten, die Vorzüge und Mängel seines Schülers genügend kennen zu lernen und ihn demgemäss zu be- handeln. Der Austausch schafft den Fachunterricht; dieser aber ist für eine gedeihliche Erziehung weniger förderlich als der Klassenunterricht, was durch die Erfahrung hinreichend bestätigt wird.

Ein Austausch endlich verstösst gegen den Konzentrationsgedanken des Unterrichts, welcher in nachstehendem Satze seinen Ausdruck findet: „Alles soll ineinander greifen, eins durchs andere blühen und reifen.“ Diese Idee fordert, dass die Vorstellungen und Gedanken der Schüler nicht isoliert, sondern in gehörige Wechselbeziehung gesetzt werden. Zu diesem Zwecke sind alle Unterrichtsgegenstände in gegenseitige Beziehung aufeinander und in gemein- same Beziehung auf die zu erstrebende sittliche Bildung zu bringen. Die in einem Unterrichtsgegenstande bereits gewonnenen Vorstellungen müssen als verwandte und bekannte Dinge zur Gewinnung neuer Gedanken in einem anderen Fach als Anknüpfungs- und Stützpunkte dienen. Dieser Weg ist dem ausgeschiedenen Schüler gegenüber ausgeschlossen, da ja derselbe in den wichtigen Fächern, wie Deutsch und Rechnen, isoliert ist. Noch malen sich da die Schatten schwärzer, wo man sogar ein Kind wegen ınangelhaften Lesens austauscht und so das Deutsch, zu welchem doch Anschauungs- und Sprech- unterricht, Schreiben, Aufsatz und Lesen zählen, unnatürlich auseinanderreisst. Wohl liessen sich noch mehr Gründe anführen, welche gegen den Austausch an den Hiltsschulen sprechen, doch will ich mit meinen Ausführungen schliessen, in dem ich kurz resumiere: der Austausch von Schülern an der Hilfsschule erscheint mir weder notwendig noch wünschenswert. Derselbe veranlasst ein permanentes Wandern von Schülern und eine empfindliche Mehrbelastung der untersten Klassen; er schafft eine lästige Unruhe im Schulkörper und stört ohne Not die Schulordnung; den Leitern und Lehrern bereitet derselbe Schwierigkeiten und Unzuträglichkeiten; den Kindern, Eltern und Gemeinden ladet er unter Umständen schwere Opfer auf. Der Austausch erschwert ferner die Aufstellung des Stundenplans, fordert die unpädagogische Gleichlegung der Stunden, die verwerfliche Aufeinanderfolge der schwierigen Unterrichtsstunden und die er- müdende Unterrichtszeit für die Kleinen. Manchen Schülern nützt derselbe unterrichtlich absolut nichts, vielen wenig, einigen was Geringes, das ihnen

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jedoch leichter ohne ihn geworden wäre. Er wirkt bei den Ausgeschiedenen schmerzlich, entmutigend, abstumpfend, sehr kränkend und verletzend. Endlich wird durch den Austausch der Lehrer an den oberen Klassen weniger selbstlos und opferwillig, der individuelle Unterricht bedeutungslos gemacht. Er entfremdet Lehrer und Kinder, fördert weniger die Erziehung und verstösst zuletzt gegen die Konzentrationsidee der Schule.

Wo man nun nach dem Gesagten Wert und Bedeutung, Erfolg und Segen der Hilfsschule nicht in hochtönenden Schlagwörtern, nicht in verwickelter Schulorganisation, nicht in gekünstelten Einrichtungen und ni=ht in zwecklosem und überflüssigem Zerreissen und Zusammensetzen der Klassen sucht, sondern in einfach natürlicher Schulordnung, wie in stiller und selbstloser Tätigkeit der Lehrer, da verschone man die Schule mit dem vielerorts üblichen Austausch und anderen sinn- und nutzlosen Massregeln!

Die Fürsorge für Idioten und Epileptische in

Württemberg.*) Von Sanitätsrat Dr. Wildermuth in Stuttgart.

Eine planmässige Fürsorge für Schwachsinnige und Epileptische bestand bis in die ersten Jahrzehnte des vorigen Jahrhunderts in Württemberg so wenig, wie in anderen deutschen Ländern,

Zuerst waren es die Schwachsinnigen, deren man sich annahm. Besonders war es die endemische Form der Idiotie: der Kretinimus, der die Aufmerksamkeit von Menschenfreunden auf sich lenkte; viel später bekümmerte man sich um die Epilep- tischen. Weiterhin hat sich die Fürsorge für Idioten und Fallsüchtige gemeinsam entwickelt. Sie muss auch gemeinsam besprochen werden.

Die Anstalten für Schwachsinnige und Epileptische. Die erste Anstalt für Idioten in Württemberg, soviel ich weiss in Deutschland überhaupt die erste, gründete der Pfarrer Haldenwang im Jahre 1835 in Wildberg. Sie bestand bis zum Jahre 1847, wo ihre Insassen in die Anstalt zu Mariaberg übersiedelten.

Den Anstoss zu weiterer Entwicklung der Idiotenfürsorge gab die Tätigkeit des Dr. Guggenbühl, der auf dem Abendberg in der Schweiz eine Anstalt für Kretinen errichtet hatte. Mit schallendem Ruf verkündete er der Welt die Heilbarkeit des Kretiniismus. Guggenbühl selbst, eine durchaus problematische Mischung aus Philantropie, Genialität und Charlatanerie, hat ein übles Ende genommen. Aber es gebührt ihm das Verdienst, die praktische Fürsorge für die Idioten weithin angeregt zu haben. Zweifellos waren es gerade die marktschreierisch übertriebenen und aus- posaunten „Heilerfolge“ bei Krefinen, die anderen Männern den Mut gaben, sind mit einem Gebiet des kranken Lebens zu befassen, das bisher für durchaus trostlos und unfruchtbar gegolten hatte.

In Württemberg brachte Dr. Rösch, der sich schon früher mit dem Kretinismus beschäftigt hatte, bei der K. Regierung eine statistische Erhebung über den Krotinismus

*) Aus dem Württ. Mediz. Correspondenz-Blatt 1902,

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in Württemberg in Anregung. König Wilhelm I. interessierte sich persönlich für die Sache und Rösch wurde mit der Abfassung beauftragt. Die Erhebungen machte Rösch teils persönlich, teils durch Vermittlung von Fragebogen an die Pfarrämter und die Ärzte. Er berechnete, dass 4967 Kretinen im Lande seien, darunter 2901 unter 15 Jahren. In dieser Zahl sind alle Personen inbegriffen, die Erscheinungen der kretinistischen Entartung, wenn auch nur in körperlicher Hinsicht, zeigen. Bei der damaligen Bevölkerungszahl von za. 1'/, Millionen betrug die Prozentzahl der Kretinen ca. 0,32. Dabei ist zu bemerken, dass der Name Kretinismus damals lange nicht in der scharfen Umgrenzung wie heute, und vielfach als Bezeichnung für alle Formen idiotischen Schwachsinns gebraucht wurde.

Die Heil- und Pflegeanstalt für Schwachsinnige zu Mariaberg. Die Zahl der Idioten war gross genug, um endlich an eine ordentliche Fürsorge die Hand zu legen. Leider kam es nicht zur Gründung einer Staatsanstalt. Aber es wurde dem Dr. Rösch die Staatsdomäne Mariaberg, ein altes Kloster im Laucherttal am Südabhang der rauhen Alb, für seine Zwecke zur Verfügung gestellt. Am 1. Mai 1847 wurde die Anstalt mit 15 Kranken eröffnet; 10 davon stammten aus der Anstalt in Wildberg. Heute zählt die Anstalt 107 m., 40 w. Idioten.

Erwähnt möge hier noch werden die „Erzielungs- und Bewahranstalt für schwachsinnige Kinder“ dos Lehrers Helferich. Helferich, früher Lehrer auf dem Abendberg, später in Mariaberg, richtete seine, stets kleine Anstalt zunächst auf der Felgersburg bei Stuttgart ein, verlegte sie dann auf die Solitude, von dort nach Hofstett-Emerbach auf der Alb, schliesslich nach Göppingen, wo sie einging.

Die Heil- und Pflegeanstalt Schloss Stetten i. R. Eine weitere ‚‚Heil- und Pflegeanstalt für schwachsinnige Kinder‘ eröffnete Dr. G. F. Müller von Tü- bingen, ein psychiatrisch vorgebildeter Arzt. am 21. Mai 1849 in Rieth bei Vai- hingen. Am Schluss des Jahres zählte eie 12 Kranke. Im Jahre 1851 wurde sie in das kleine Schwefelbad zu Winterbach im Remstal verlegt. Von dort kam sie im Jahre 1864 in das benachbarte Schloss Stetten i. R. In Winterbach war die Anstalt mit 51 Kranken eröffnet worden, in Stetten zogen 63 ein. Im Jahre 1867 war der Bestand etwa 90 Ptleglinge.

Beginn der Fürsorge für Epileptische. Natürlich war unter den Idioten, die iu den erwähnten Anstalten verpflegt wurden, auch stets eine grössere oder kleinere Anzahl Epileptischer. Von einer planmässigen Fürsorge war noch wenig die Rede gewesen. Erst im Jahre 1862 ist die kleine Anstalt Pfingstweide bei Tett- nang errichtet werden. Sie war von Anfang an nur für erwachsene männliche Kranke bestimmt und zählt auch heute nicht mehr als 30 Insassen. Den Anstoss zu einer weiter aussehenden Fürsorge für Epileptische gab die südwestdeutsche Konferenz für Innere Mission in Bruchsal im Jahre 1865. Das ärztliche Referat über die Epileptikerfrage hatte der verstorbene Oberamtsarzt Dr. Moll, der als Arzt der Pfingstweide sich näher mit der Epilepsie beschäftigt hatte. Dieses Referat ist eine ganz vorzügliche Arbeit, die in gemeinverständlicher Form auf streng wissenschaftlicher Grundlage die leitenden Gesichtspunkte für die Epileptikerfürsorge entwickelte.

Das Ergebnis der Konferenz war die Errichtung einer Anstalt für Epilep- tische im Zusammenhang mit der Idiotenanstalt in Schloss Stetten.

127 Finanziell wurde das Unternehmen besonders durch die Graf Wartensleben-Stiftung von 80 000 Mk. gesichert, die der Johanniterorden auf Grund einer testamentarischen Ver- fügung des Erblassers der Anstalt zuwandte.

Die Gesehichte der Doppelanstalt in Stetten vom Jahre 1867 an bis heute hat bewiesen, dass die Verpflegung von Idioten und Epileptischen im Rahmen einer Anstalt durchaus keine Nachteile mit sich bringt.

Mit der Errichtung einer Abteilung für Epileptische trat in Stetten auch die Änderung ein, dass ein besonderer Anstaltsarzt, der aber daneben Praxis ausübte, angestellt wurde, nicht als Direktor, sondern dem geistlichen und Verwaltungs-Vorstand koordiniert. Die Ärzte der Anstalt waren: 1867—1880 Dr. Häberle, gestorben als Oberamtsarzt in Ulm 1894, 1880 —1889 Dr. Wildermuth, jetzt in Stuttgart. Seit 1889 bekleidet Dr. Habermaas die Stelle.

Seit der Anstellung eines Arztes erscheinen regelmässig ärztliche Jahresberichte. Diese machen nicht den Anspruch, wissenschaftliche Arbeiten zu sein, aber sie geben einen Überblick über die ärztliche Wirksamkeit einer solchen Anstalt, über die Ergeb- nisse der Behandlung, zum Teil auch in Kürze die Sektionsresultate. In letzter Zeit hat Dr. Habermaas eine sorgfältige Arbeit über die Prognose der Epilepsie er- scheinen lassen, beruhend auf genauen Nachforschungen über die Kranken, die in Stetten behandelt worden sind.

Seit 1882 ist in der Anstalt eine Ambulanz für Krampfkranke eingerichtet.

Nach dem letzten Jahresbericht enthielt die Anstalt:

| 138 m., 112 w., im ganzen 250 Epileptische,

180 82, 262 Idioten.

Ausser den genannten Anstalten bestehen im Lande noch: Die Pflegeanstalt in Heggbach, OA. Biberach. Diese Anstalt wurde im Jahre 1888 von der Kongre- gation der barmherzigen Schwestern in Reute errichtet. Sie befindet sich in einem alten Kloster, das der Fürst v. Waldburg-Wolfegg den Schwestern geschenkt hal. Anstaltsarzt ist Dr. Sautter in Laupheim.

Zur Zeit enthält die Anstalt ausser 54 Kranken, die wegen körperlicher Ge- brechen verschiedener Art verpflegt werden:

23 m., 28 w. im ganzen 51 Epileptische, 4 4) » „90 Idioten.

Ferner: Die Pflege- und Bewahranstalt Liebenau bei Tettnang. Diese Anstalt verdankt ihre Entstehung der aufopfernden und menschenfreundlichen Tätigkeit eines einzigen Mannes. Pfarrer Aich hatte sich seit Mitte der 50er Jahre überall nach den Krüppelhaften, Schwachsinnigen und Epileptikern umgesehen und sich von der jammervollen Lage vieler überzeugt. Im Jahre 1866 schon erwarb er ein Haus mit Garten in Tettnang, indem er Krüppel, Idioten und Epileptische aufnahm. Bald erwiesen sich die Räume zu klein, aber die Mittel zur Erweiterung fehlten. Aich unternahm nun weite Wanderungen durch Deutschland und Österreich, überall für seinen Zweck sammelnd, bis er ein ordentliches Kapital beisammen hatte. Es war nun möglich, das alte montfortische Schloss Liebenau zu kaufen. Das Unter- nehmen gedieh rasch, es wurde ein Neubau aufgeführt, in neuerer Zeit auch eine landwirtschaftliche Kolonie errichtet. Seit 1897 wurde ein ärztlicher Vorstand ange-

stellt: Dr. Weissenrieder, der die Behandlung der Kranken und dem ganıen Betrieb in wissenschaftlich-ärztliche Bahnen lenkte.

Die Anstalt enthält jetzt ausser einer grossen Anzahl unheilbarer Kranker der verschiedensten Gattung:

23 m. 385 w., im ganzen 58 Epileptische, 101 146. 247 Idioten.

Da diese Anstalten dem vorhandenen Bedürfnis lange nicht genügten, so hat die Regirrung des Neckarkreises in Markgröningen eine Landarmenanstalt errichtet, in der 44 m, 46 w. Schwachsinunige untergebracht sind.

Ferner wurde in Verbindung mit dem Diakonissenhaus in Schwäb.-Hall ein „Schwachsinnigenheim“ für erwachsene weibliche Schwachsinnige errichtet, meist ältere Kranke, indem sich 92 Pfleglinge befinden.

Zum Schluss folge hier eine Übersicht über den dermaligen Bestand unserer Anstalten:

'l Idioten Epileptische SE a Er W l! ar e Mariaberg . . 2 2 2 2! 107 | 40 En Schloss Stetten .R . . . ».2.2..2...2..5.180 ı 82 138 | 112 Pfiegeanstalt Hoggbach : . : 2 2202.00 41 . 49 23 | 28 Pflegeanstals Liebenau. . . . . . . . .. 101 , 146 23 ; 35 Diakonissenbaus Hall . 2. 22.222.011 %2] | Landesarmenanstalt Markgröningen . . . . 4 . 46 | | 473 455 184 | 175

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Im ganzen sind also in Anstalten untergebracht: 1287 Idioten und Epileptische.

Hilfsschulen für Schwachsinnige. Das Hilfsschulwesen fûr Schwachsinnige, das in don meisten anderen Ländern schon besteht und sich als eine vortreffliche Ergänzung der Idiotenfürsorge überall bewährt bat, ist in Württemberg noch völlig unentwjckelt.. In Stuttgart ist vor einigen Jahren eine solche Schule mit sehr tüchtigen Lehrkräften eingerichtet worden Aber da es sich um ein Privatunternehmen handelte, das von den zuständigen Behörden in keiner Weise unterstützt wurde, so ist die Klasse über oinen bescheidenen Umfang nicht hinausgekommen.

Erst in allerneuster Zeit, am 28. September 1902, haben in Ulm a. D. die bürgerlichen Kollegien beschlossen, versuchsweise eine Hilfsschule für zirka 30 Kinder evangelischer Religion zu errichten, die in der allgemeinen Schule nicht mitkommen können. Die Schule ist im vorigen Jahre eröffnet worden.

Statistisches in Bezug auf die Anstaltsfürsorge. Die Zahl*) der Idioten in Württemberg beträgt nach der Zählung vom Jahre 1841: 3800, 2,4 auf 100 Ein- wohner, nach der Zählung von Koch im Jahre 1855: 3810, 2,0 auf 100 Einwohner. Seitdem hat eine allgemeine Zählung nicht mehr stattgefunden.

Legen wir das Verhältnis der von Koch gefundenen Zahlen zu grunde, so würden wir nach der jetzigen Bevölkerungsziffer zirka 4200 Idioten anzunehmen haben.

*) Die in folgendem angeführten Zahlen sind der Übersichtlichkeit halber abgerundet.

129

Die Vergleichung der Zahlen von Koch und Rösch ergeben eine Abnahme des Idiotismus. Koch selbst zieht diesen Schluss mit grösster Zurückhaltung. Man wird aber immerhin sagen dürfen, dass die Idiotie nicht zugenommen hat.

Von besonderem Interesse wäre namentlich eine neuere Zählung der Kretinen, Man nimmt an, dass der Kretinismus im Lande im allgemeinen abgenommen habe. Das dürfte richtig sein, aber ein sicherer zahlenmässiger Beleg ist nicht vorhanden, Sicher ist die Abnahme erwiesen für Tübingen und seine Umgebung, wo der verstor- bene Oberamtsarzt Krauss im Jahre 1885 Erhebungon angestellt hat. In einem anderen Bezirk, dem Oberamt Brackenheim, hat Oberamtsarzt Dr. Schmid Unter- suchungen angestellt und in einer vortrefflichen Arbeit veröffentlicht. Hier wurde eine nicht unerhebliche Zunahme des Kretinismus festgestellt. Rösch fand in diesem Bezirke 1841 auf 1000 Einwohner 4,9 Kretinen, Sick 1853: 3,4, Koch 1875: 4,6, Schmid 5,38. Die Kosten dieser Zunahme tragen 3 Gemeinden, während in den anderen der Kretinismus zum Teil erheblich zurückgegangen ist.

Die Verhältnisse liegen also in den verschiedenen Landesteilen sehr ungleich.

Es ist sehr zu bedauern, dass seit 27 Jahren keine allgemeine Zählung mehr vorgenommen worden ist. Eine solche ist nötig, um feststellen zu können, in welchem Umfange die vorhandenen Anstalten nicht genügen. Jetzt können wir nur mit sehr ungefähren Schätzungen rechnen. Die Altersstufen, die für die Anstaltsfürsorge in erster Linie in Betracht kommen, sind die unter 15 Jahren. Koch berechnet die Zalıl der Idioten unter 16 Jahren auf 728, das gäbe, auf die heutige Bevölkerung be- rechnet, über 1000.

Legen wir aber die ganz vorzügliche Schweizer Schulstatistik aus dem Jahre 1897 zu Grunde, so müssten wir für Württemberg gegen 2000 idiotische Kinder im schul- pflichtigen Alter berechnen, die einer Anstaltspflege bedürfen, während nur ca. 900 Idioten überhaupt in Anstalten Aufnahme finden können.

Eine Zählung der Epileptischen ist im ganzen Lande noch nie vorgenommen worden. Moll hat im Jahre 1862 in 5 Oberämtern in verschiedenen Gegenden des Landes Zählungen veranstaltet und aus deren Ergebnis 1657 Epileptische für ganz Württemberg berechnet. Die Zahl ist wohl zu niedrig. Wenu wir die anderwärts in neuerer Zeit gefundenen Werte auf die jetzige Bevölkerungszahl von Württemberg übertragen, müssen wir etwas über 3000 Epileptische annehmen. Von diesen sind nach einer Berechnung, deren nähere Ausführung nicht hierher gehört, ca. 700 als anstaltsbedürftig anzunehmen. Von diesen gehören ca. 200 in Irrenanstalten, 500 in offene Asyl. Nun sind jetzt schon untergebracht:

in Schloss Stetten . . . . . . 250 der Pflegeanstalt Hoggbach . . 51 Der u Liebenau . . 58

zusammen 359 Eine Erweiterung der Fürsorge bis zu einer einigermassen genügenden Ausdehnung liegt hier also im Bereich der Möglichkeit. Allerdings ist die grösste Anstalt, Stetten an der Grenze ihrer Erweiterungsfähigkeit angelangt. Ob und inwieweit dies bei Liebenau und Heggbach der Fall ist, ist mir nicht bekannt. (Schluss in nächster Nr.)

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Literatur.

Über moralisches Irresein. Ein Vortrag von Dr. med. L. v. Muralt. München 1903. Verlag von Ernst Reinhardt. 30 Seiten. Preis 80 Pf.

Der Verfasser sucht in einer gemeinverstāndlichen Darstellung das moralische Irresein (Moral insanity) als eine selbständige Krankheit nachzuweisen und zu begründen, während andere Autoren die gegenteilige Lehre über die Moral insanity vertreten. Er kommt damit den Lehren Lombrosos vom „geborenen Verbrecher* näher, besonders mit seiner Erklärung, dass sich „wissenschaftlich keine bestimmte Grenze zwischen moralisch Irren und geborenen Gewohnheitsverbrechern“ ziehen lasse. Wie bei den intellektuellen Schwachen verschiedene Grade der Minderbegabung vor- handen sind, so sollen auch bei den moralischen Schwachen sich alle möglichen Übergänge und Zwischenstufen von annähernd guter Ausbildung der moralischen Gefühle bis zum völligen Fehlen derselben vorfinden. Die Erziehung und Heranbildung moralisch defekter Kinder müsste in besonderen, ihren Mängeln Rechnung tragenden Schulklassen oder Instituten versucht werden. Zur Lösung dieser Erziehungsaufgaben wären Ärzte, Pädagogen und Rechtskundige berufen. Sache des Arztes würde es sein, auf die krankhafte Natur der abnormen Anlage autmerksam zu machen, dem Pädagogen fiele dagegen die Aufgabe zu, seine speziellen Erfahrungen bei der Ein- richtung der besondern Methoden geltend zu machen, und der Jurist hätte die Formen aufzustellen, welche am geeignetsten erscheinen möchten, die Abnormen vor sich selbst und die Gesellschaft vor ihnen zu schützen. Da die Schrift vielfach unser Gebiet berührt, so empfehlen wir sie unsern Lesern zur prüfenden Erwägung, ohne jedoch irgend welche Stellung zu der beregten Frage vor der Hand einnehmen zu wollen.

Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde. Von Ernst Meumann. Leipzig 1902. Verlag von Wilhelm Engelmann. 69 Seiten. Preis Mk. 1,20.

Verschiedene Forscher haben schon das Gebiet der Sprachentwicklung des Kindes bearbeitet; allein es sollen nach des Verfassers Meinung sich manche Irrtümer in ihren Darstellungen befinden, so dass es geboten erscheint, zu einer objektiven Auf- fassung von dem wahren Gange der ersten Vorgänge der kindlichen Sprachentwicklung anzuleiten und eine einzig berechtigte Methode der Interpretation der Kindersprache zur Geltung zu brivgen. Diese Methode hat in der Durchführung folgende drei Grundsätze zu beachten:

1. Wo nicht besondere Gründe entgegenstehen, haben wir uns die Wortbedeutungen und die psychophysischen Prozesse, die bei ihrer Gewinnung und Verwendung in Aktion treten, so einfach wie möglich zu denken.

2. Wo die Wortbedeutungen des Kindes nicht vollkommen eindeutig sind, muss die allgemeine körperlich-geistige Entwickeltheit des Kindes die massgebenden Gesichtspunkte für die Interpretation abgeben.

3. Wenn irgend möglich, muss die Deutung der kindlichen Worte, ihrer Ge- winnung und Verwendung aus spätern Entwickelungsstadien geschehen, die der Beobachtung besser zugänglich sind.

131

Die Bearbeitung des Materials umfasst neun Abschnitte, deren Inhalte folgende sind: 1. Vorbedingungen und Vorstufen der kindlichen Sprachentwicklung. 2. Die Entwicklung des Sprachverständnjsses beim Kinde. . 3. Die erste Stufe des aktiven Sprecheng: Die emotionell-volitionale Sprachstufe oder Stufe der Wunschwörter.

. Die Intellektualisierung der emotionellen Sprache.

. Die associativ-reproduktive Sprachstufe des Kindes. a. Einige besonders schwierige Fälle erster Wortbedeutungen des Kindes.

. Die logisch-begriffliche Stufe der kindlichen Wortbedeutung.

. Die Tätigkeit des Schliessens beim Kinde.

9. Die Frage der Worterfindung des Kindes.

Bei der Bearbeitung dieses Stoffes lag es dem Verfasser hauptsächlich daran, darch rein empirische Deutung der Tatsachen und Beobachtungen eine möglichst objektive Darstellung von dem wahren Gange der ersten Prozesse der kindlichen Sprachentwicklung zu bieten. Es erscheint überflüssig, daranf hinzuweisen, welch einen grossen Wert die Kenntnis der Sprachentwicklung des Kindes für den Lehrer der Geistesschwachen besitzt. Aus der vorliegenden Schrift kann er wie aus einer Quelle zur Bereicherung seines Wissens nach dieser Seite hin schöpfen, zumal sie geradezu eine Fülle neuer und anregender Gedanken enthält. Die ganze Abhandlung zeichnet sich dazu durch logische Schärfe vorteilhaft aus und zwingt gleichsam zur Überlegung und zum weitern Nachdenken; sie verdient unsere ganze Beachtung.

Stotternde Kinder. Von Dr. med. A. Liebmann, Arzt für Sprachstörungen zu Berlin. Berlin 1903. Verlag von Reuther & Reichard. 96 Seiten. Preis Mk. 2,40.

Der Verfasser hat bereits mehrere Arbeiten auf heilpädagogischen Gebiete ver- öffentlicht, die sich fast durchweg eines guten Rufes erfreuen. Nach einer kurzen Einleitung, worin das Wesen des Stotterns geschildert wird, gibt er in dem vorliegen- den Buche an 15 Beispielen stotternder Kinder eine Beschreibung und Behandlung dieser Fälle. Er lehrt uns, dass bei der Behandlung stotternder Kinder das psychische Moment die grösste Rolle spiele, und dass jeder Fall ausschliesslich individuell zu behandeln sei. Die Ausführuugen enthalten viele beachtenswerte pädagogische Rat- schläge und interessante Charakterschilderungen stotternder Kinder. Dadurch erhält die Schrift auch für uns eine gewisse Bedeutung, namentlich auclı deshalb, weil sie uns die wichtigsten Richtlinien zur Behandlung unserer sprachgebrechlichen und stotternder Schüler bietet. Die Darstellung der Behandlung an Beispielen besitzt gewiss ihre Berechtigung und erscheint auch recht lelırreich, allein wir möchten einer allgemeinen Entwicklang der grundlegenden Gedanken der Stottererbehandlung im Interesse der Vermeidung schematischer Erörterungen doch den Vorzug geben. Eine solche Darlegung würde an Übersicht und an Bequemlichkeit zwecks schnellen Orientierens sehr gewinnen. Unstreitig bedeutet aber das Buch eine bedeutsame Er- scheinung auf leilpädagogischem Gebiete und verdient die Beachtung aller be- teiligter Kreise.

Methodik des gesamten Volksschulunterriehts. Unter besonderer Be- rücksichtigung der neuern Bestrebungen von Adolf Rude, Rektor in Nakel.

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132 1. Teil: Religion Geschichte Deutsch. Osterwieck a. Harz 19093. Verlag von A. W. Zickfeldt. 296 Seiten. Preis geh. Mk. 2,80, geb. Mk. 3,50.

„Das Werk will in erster Linie zum Studium auf methodischem Gebiete die nötige Handhabe bieten und auch die Wege dazu nachweisen. Die Pädagogik und die Methodik sind seit einigen Jahrzehnten in einem gewaltigen Ringen begriffen; die

d Pler Schulkundenweisheit ist abgetan, und weitgehende Reformen gelangen immer mehr E t gebr Geltung. Mitten in die Reformbewegungen hinein will der Verfasser seine

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Leser führen, doch so, dass nur endgültige Resultate vom praktischem Werte ihnen vorgelegt werden sollen. Im kleinen Monographien, die oft knapp gehalten sind, aber doch das Wesentlichste übersichtlich bringen, werden die methodischen Belehrungen geboten. Der Verfasser steht auf Herbart’schem Boden; es gelangen auch vielfach Herbartische Grundsätze in methodischer Beziehung zur Durchführung. Die ganze Darstellung der Methode ist vom Geiste des erziehenden Unterrichts durchdrungen, daher kann seine Methodik zur Vertiefung der praktischen Schularbeit viel beitragen. Wir halten das Werk in seinem ganzen Umfange zur Fortbildung des Lehrers für sehr geeignet, besonders auch deshalb, weil es zugleich eine Einführung in die wert- vollste methodische Literatur der Neuzeit bietet. Es gehört unstreitig zu den hervor- ragenden Firscheinungen auf dem pädagogischen Büchermarkte und hat deshalb unsere beste Empfehlung. Das Buch bildet den 8. Band der Sammlung: Der Bücher- schatz des Lehrers, herausgegeben von K. O. Beetz, Schuldirektor in Gotha,

Lehrergesuch.

An unserer Anstalt ist zum 1. Oktober eine l,ehrerstelle durch eine jüngere Kraft zu besetzen. Das Gehalt beträgt für einen einstweilig angestellten Lehrer Mk. 1200. Bei fester Anstellung beträgt das Grundgehalt Mk. 1350, die Alters- zulagen Mk. 150 zahibar in 10 Zwischenräumen von je 2 Jahren.

An Mietsentschädigung werden für einen unverheirateteu Lehrer 250 Mk., für einen verheirateten 450 Mk. gewährt.

Meldungen mit Lebenslauf, Zeugnissen und Gesundheitsattest an die Direktion der evangelischen Idiotenanstalt Hephata in M.-Gladbach.

Vom Verfasser oder durch die Schriftleitung dieser Zeitschrift gegen Einsendung von Mk. 0,60 zu beziehen

Aus der Praxis der Vorschule.

Von Gustav Nitzsche,

Oberlehrer der Landesanstalt für schwachsinnige Kinder in Grosshennersdorf (Königreich Sachsen).

Inhalt. Der Austausch von Schülern zwischen den verschiedenen Klassen der Hilfsschule. (P. Schwahn.) Die Fürsorge für Idioten und Epileptische in Württem- berg. (Dr. Wildermuth.) Literatur: Ueber moralisches Irresein. Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde. Stotternde Kinder. Methodik des gesamten Volksschulunterrichts. Anzeigen. |

Für die Schriftleitung verantwortlich: W. Schröter in Dresden. Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden, Druck von Johannes Pässler in Dresden. - |

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Nr. 9 u. 10. XIX. (All) Jahrg.

Zeitschrift

für die

Behandlung Schwachsinniger und Enilentischer

Organ der Konferenz für - das Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen

herausgegeben von

Stadtrat Direktor W. Schröter, Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth, Dresden -Strehlen, füge r Ten krankrehlen Residenastrasse 27. in Stuttgart.

Erscheint jährlich in 18 Nummern von Zu beziehen durch alle Buchhandlungen mindestens einem Bogen. Anzeigen für

u te: wie auch direkt von der die gespaltene Petitzelle 25 Pfg. Lite- | Oktober 1903. chriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, rarische Beilagen 6 Mark. einzeine Nummer 50 Pfg.

Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

Die Stellung des Arztes an der Hilfsschule, die Stellung des Lehrers Schwachsinniger zur Medizin in früherer Zeit. Von Oswald Berkhan, Arzt in Braunschweig.

Schon seit einer Reihe von Jahren ist von ärztlichen Kreisen darauf hin- gewiesen, wie nützlich und notwendig es sei, Ärzte anzustellen, denen die ge- sundbeitliche Überwachung der Schule und der Schüler zu übertragen sei und mehr und mehr hat man damit begonnen, dieser Forderung gerecht zu werden.

Hier möchte ich nun die Frage der Anstellung von Ärzten an Hilfsschulen berühren.

“Die Kinder, welche Hilfsschulen besuchen, gehören zu den Schwachbe- fähigten, sie leiden an Schwachsinn geringen Grades. Der Schwachsinn geringen Grades aber gehört, wie der mittleren und hohen Grades gemeinsam dem. Krankheitsbilde an, welches Idiotie, angeborene oder früh erworbene Geistes- schwäche, genannt wird.

Es ist damit ein anderes Gebiet gegeben, auf welchem der Schularzt in der ihm zukommenden Weise wirken soll.

Wie ein Lehrer der Hilfsschule Verständnis für das eigenartige Gebiet, besondere Lust und Liebe für sein Fach haben soll, so auch der Arzt, der hier ein Mehr zu leisten hat als der Arzt an einer Normalschule.

Er hat zunächst in Gemeinschaft mit den Lehrern die Schwachsinnigen zu prüfen und festzustellen, welche unter ihnen am wenigsten schwachsinnig sind, somit am meisten Aussicht auf eine erfolgreiche Ausbildung bieten und

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diese für die Aufnahme in die Hilfsschule zu bestimmen, andrerseits die, welche an Schwachsinn mittleren und hohen Grades leiden, einer Idiotenanstalt zuzuweisen.

Ferner hat derselbe nicht nur die körperlichen, sondern auch die geistigen Gebrechen der eine Hilfsschule besuchenden Kinder festzustellen und zu be- achten. Ausser Skrofulose, Rhachitis, Hautausschlägen, Störungen des Seh- und Hörvermögens sind es die Sprach- und Schreibgebrechen, die Erscheinungen der Kinderlähmung, krankhafte Unruhe, Anfälle von Abwesenheit und Schwindel, psychische Erregungszustände, geschlechtliche und andere moralische Abirrungen, die einer besonderen Beachtung bedürfen und Kenntnis der Idiotie und damit der Psychiatrie erfordern.

Weiter hat ein an Hilfsschulen wirkender Arzt die Ursachen des Schwach- sinns zu erforschen, ob demselben eine erbliche Belastung durch Schwindsucht, Lustseuche, Trunksucht, Geisteskrankheit, oder überstandene Kinderkrankheiten, wie Masern, Scharlach, Diphtherie, Hirnentzündung zu grunde liegen.

Der Arzt wie der Lehrer haben ferner die Schwachbefähigten nach Kräften vor Unbilden in der menschlischen Gesellschaft zu schützen, ihnen auch nach ihrem Austritt aus der Schule beizustehen, wenn es sich um gerichtliche Ver- wickelungen oder um Einforderung zum Militärdienst handelt So weitgehend fasse ich die Pflichten eines Arztes, der an der Hilfsschule mitwirkt, auf.

Aus diesem geht hervor, dass Ärzte an Hilfsschulen, um solchen An- forderungen genügen zu können, psychiatrisch gebildet sein müssen

Schularzt und Lehrer haben jeder in seinem Fach vorzugehen, aber in Übereinstimmung und sich ergänzend. Steht doch der eine auf dem Boden der Psychiatrie, der andere auf dem der pädagogischen Pathologie.

Seit ich den Anlass zur Gründung unserer Hilfsschule 1880/81 gegeben, habe ich derselben als Berater zur Seite gestanden und ist es mir immer eine Freude gewesen, mit ihren Lehrern zu verkehren, ihnen manche Anregung sowie Bereicherung meiner Kienntnisse verdankend.

Es wird nicht ausbleiben, dass durch eine gemeinsame Tätigkeit des Arztes mit dem Lehrer der Hilfsschule das psychiatrische Fach so gut wie das päda- gogisch-pathologische einen rascher als bisher sich vollziehenden Ausbau er- leidet, die Hilfsschule aber mehr und mehr umgrenzt eine Sonderstellung er- reicht, welche nicht künstlich geschaffen wird, sondern sich von selbst bildet, ja schon gebildet hat ein kleiner Staat im grossen Staate der Pädagogik

Nach Besprechung der Schularztfrage treibt es mich nun, einen geschicht- lichen Rückblick zu tun und die Frage aufzuwerfen: „Wie verhielten sich die anerkannt bedeutendsten Lehrer, welche sich in früheren Zeiten mit Erziehung und Unterricht von Blöd- und Schwachsinnigen beschäftigten, der Medizin gegenüber?*

Achtung gebietende Gestalten treten uns da entgegen, sich, fern vom Ge- triebe der Welt, abmühend mit der Erziehung und dem Uıterrichte der am Geiste Schwachen, mit Wort und Schrift für dieselben eintretend, die medi- zinische Wissenschaft anrufend, dass ihnen Aufklärung gegeben würde über die

135 Hindernisse, welche hemmend auf die Entwicklung der geistigen Kräfte ihrer Zöglinge einwirkten und schliesslich unter Sorgen und Mühen sich dem Studium der Medizin widmeten, um mit ärztlichen Kenntnissen ausgerüstet in ihrem Lehrfach weiter zu wirken.

Zunächst habe ich da anzuführen den Volksschullehrer Kern, 1814 zu Eisenach geboren. 1834 wurde er durch den Oberkonsistorialrat Töpfer zu Eisenach veranlasst, zwei bei demselben zur Konfirmation angemeldete schwach- sinnige Knaben, die bis dahin noch keinen Unterricht empfangen hatten, vor- zubereiten. Der eine der beiden Knaben war zugleich taubstumm. Nach gutem Erfolge erhielt er darauf zwei gleichartige Kinder.

Er ging nun, um sich für seine Tätigkeit mehr auszubilden, nach den Taubstummenbildungsanstalten zu Weimar und Leipzig und errichtete, 1839 nach Eisenach zurückgekehrt, daselbst ein Institut zur Erziehung von Schwach- und Blödsinnigen, in welchem auch Taubstumme unterrichtet wurden. Ausser- dem erteilte er noch den Schulamtskanditaten Anweisung zur Erziehung taub- stummer und sprachgebrechlicher Kinder.

Die fortwährende Zunalıme des Besuchs seiner Anstalt und der Wunsch, seiner Erziehungsmethode eine streng anatomisch-physiologische Grundlage zu geben, veranlasste ihn, 1847 die Anstalt nach Leipzig zu verlegen. Hier schrieb er: Pädagisch-diätetische Behandlung Schwach- und Blödsinniger, Leipzig 1847 (Klinkhardt), eine wegen seiner Klarheit ausgezeichnete Abhandlung.

Da er jedoch sehr bald die Überzeugung gewann, dass eine vollständige medizinische Ausbildung für seinen Zweck von hohen Werte sein würde, widmete er sich noch dem Studium der Medizin und erwarb durch Ver- teidigung seiner Dissertation: De fatuitatis cura medica et paedagogica conso- cianda (Über die gemeinschaftliche ärztliche und pädagogische Behandlung des Schwachsinns) die Doktorwürde.

Rührend ist es, schreibt Sengelmann in seinem Idiotophilus 1885, wie Kern in seinem Lebensabriss seiner Frau bei Gelegenheit seiner Doktor- Promotion bekennt: „Und wenn ich heute hier stehe, die höchsten Ehren der medizinischen Wissenschaft zu empfangen, so muss ich Dir, liebste und treuste Lebensgefährtin, von ganzem Herzen Dank sagen; denn ohne Deine Ausdauer, ohne Deinen rastlosen Eifer, ohne Deine Sorgfalt und Bemühungen, die oft ganz auf Dir ruhten, hätte ich mein vorgestecktes Ziel nie erreicht

Seine Anstalt führte er dann fort, nannte sie jetzt „Erziehungs-, Unter- richts- und Pflegeanstalt für Schwach- und Blödsinnige“ und verlegte sie später nach Möckern bei Leipzig.

Das Gebiet seiner Tätigkeit der Psychiatrie zugehörig betrachtend, schrieb er in der Allg. Zeitschr. für Psychiatrie Bd. 12 1855: „Gegenwart und Zukunft der Blödsinnigenbildung“, wobei er Guggenbühl und Saegert bespricht. Nochmals wird von ihm Guggenbühl und auch Gläsche besprochen im 13. Bd. derselben Zeitschrift höchst lesenswerte Aufsätze

Auf der Versammlung deutscher Irrenärzte in Eisenach hielt er einen Vortrag: „Die Staatsregierungen sind nicht verpflichtet, für Erziehung uni

136

Unterricht der Blödinnigen zu sorgen‘ (Zeitschr. Psych. 17. Bd. 1860, Anhang >).

Vom Standpunkte des Dr. Kern, der einer blühenden, gesuchten Privat- anstalt vorstand, lässt sich eine solche Forderung oder Behauptung begreifen, die Irrenärzte aber setzten nach einer längeren Erörterung fest, dass der Staat wohl die Aufgabe habe, für die Pflege der Geistesschwachen zu sorgen, dass aber ei er direkten Hilfe eine geregelte Fürsorge für die heilbaren und un- heilbaren gemeingefährlichen Irren vorangehen müsste.

Dann tritt mir in der Geschichte die würdige Gestalt des Inspektors Landenberger entgegen. Er war Volksschullehrer in Württemberg und wurde im Jahre 1851 von seinem Schwager, Dr. med. Müller, als Hauptlehrer an die Heil- und Pflegeanstalt für schwachsinnige Kinder in Winterbach berufen.

„Es ist,“ schreibt K. Kölle („Ein Pionier auf dem Gebiete der Fürsorge für Schwachsinnige“: J. Landenberger, Zeitschr. f. d. Beh. Schwachs. u. Epileptischer, Jahrgang 1901), „ein ganz seltenes Zusammentreffen, dass ein Arzt eine Erziehungs- anstalt für Schwachsinnige gründete und einen Lehrer fand, der ihn vollständig ver- stand, so dass ein Zusammenarbeiten möglich war, wie wir es heutzutage wohl wünschen, aber selten antreffen. Landenberger gab sich aber nicht damit zufrieden, dass der Arzt mit seinem pädagogischen Standpunkte übereinstimmte, sondern er lernte von seinem Schwager die naturwissenschaftliche Arbeit auf diesem Gebiete kennen.“

Landenberger war ein philosophisch angelegter, dabei streng religiöser Mann; die wenigen Stunden, die ich bei ihm er war derzeit Vorsteher der Anstalt zu Stetten verlebte, gehören zu meinen schönsten Erinnerungen. Wie er über die ärztliche Seite auf seinem Gebiete dachte, geht wohl am besten aus dem 14. Anstaltsberichte 1862 hervor, in welchem er unter anderem schreibt:

„Da wir nun den kindlichen Blödsinn als eine auf angeborener oder in früher Jugend entstandener Hirnerkrankung beruhende Schwächung oder Störung der Seelen- tätigkeit anzusehen haben, so muss es Aufgabe der Anstalt sein, die Ursache des vorhandenen Gebrechens möglichst zu erforschen, zu beseitigen, die noch freien, oder durch das Bemühen der Anstalt frei gewordenen Vermögen auszubilden, um das un- glückliche Kind zu einem nützlichen Glied der menschlichen Gesellschaft zu machen, oder wo ein Rückbilden des Gebrechens, ein Heilen oder Bessern des abnormen Zustandes nicht möglich ist, das Kind menschenwürdig zu verpflegen. Leicht ergibt und entscheidet sich hiernach die Aufgabe und das Gebiet des Arztes und das des Eıziehers und Lehrers; nur ist die Scheidung zwischen beiden Gebieten nicht der Art, dass sich eines um das andere nicht zu kümmern hätte. Der Arzt muss vielmehr bei seinen medizinichen und diätetischen Verordnungen pädagogisch, der Erzieher und Lehrer im Sinne wahrer Heilkunst verfahren; beide müssten also nach einem gemein- schaftlichen Plane arbeiten Die Regeln für die Behandlung der Blöden und Geistes- schwachen müssen beide, der Arzt und der Lehrer, der Entwicklung des gesunden Kindes entnehmen, da ja in der Tat der Verlauf des kranken Lebens nur aus den Gesetzen des gesunden Lebens recht begriffen werden kann.“

Diesem trefflichen, unvergesslichen Manne lasse ich folgen den Dr. med. Heyer. Er war Elementarlehrer, darauf Hauptlehrer an der Königl. Taub-

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stummenanstalt in Berlin und errichtete dann eine Heil- und Bildungsanstalt für Blöd- und Schwachsinnige.

„Um mich allseitig für die Idiotenangelegenheit zu befähigen‘ schreibt er in seiner Abhandlung: Beiträge zur Lösung der Idiotenfrage, von Friedrich Heyer, Dr. med, Berlin, 1861 „fasste ich noch im Alter von 34 Jahren den Entschluss, ein ordentliches ärztliches Studium durchzumachen. Unter vielfachen Entbehrungen und mit persönlichen Opfern, weil ich meiner äusseren Verhältnisse halber die Stellung als Hauptlehrer an der hiesigen Königl. Taub- stummenanstalt nicht aufgeben durfte, erwarb ich mir an hiesiger Universität den Grad des Dr. med. et chir.“

Bemerkensnert ist nun folgende Stelle in seinem Schriftchen:

„Dass die medizinischen Studien auf das pädagogische Wirken einen höchst wohl- tätigen Einfluss üben, bedarf wohl kaum eines Beweises. Wie ganz anders betrachte ich jetzt manche Unarten und Fehler des Kindes; wie nachsichtig und milde bin ich geworden bei gewissen Schwächen und Versehen, um wieviel eher erachte ich jetzt aus seinem Mienenspiele, aus seiner Haltung u. s. w. die innere Ermüdung! Nur der Arzt wird gewisse Fehler des Sehvermögens, gewisse Anomalien um das Zahnen und die Entwicklung der Pubertät, die physischen und psychischen Erscheinungen vor dem Veitstanze, vor der Epilepsie u. s. f. rechtzeitig erkennen und richtig deuten. Er wird andere Übel durch zweckmässige Gymnastik, durch körperliche und geistige Diät abwenden und die Kinder nicht mit Arbeit überbürden, wie es leider so oft zum Nach- teile derselben geschieht. Es wäre in der Tat nicht so übel, wenn ausser den Schul- revisoren auch alle Landlehrer von dergleichen etwas verstehen müssten, und die darauf angewandte Zeit würde nicht nur den Eltern und Kindern nützlich, sondern ihnen selbst viel bildender sein, als das mechanische Abschreiben von Choral-Varianten, von zweck- losen Lautlehren u. s. w. Indem ich hiermit bekenne, dass ich früher aus Unkennt- nis mancherlei pädagogische Schnitzer machte, aber zeitig genug darüber aufgeklärt, mich dem Studium der Medizin zuwandte, kann ich anderseits den Wunsch nicht unterdrücken, dass zum besten der gesamten Erziehung recht viele und einflussreiche Leute diese Meinung zu der ihrigen machen und geeigneteu Orts dafür eintreten möchten! Was ich dem Gesagten nach schon für gesunde Kinder fordere, gilt im höchsten Maße für Idioten und Halbidioten, wie und wo man sie auch erziehen mag.“

Diesem reihe ich an Dr. med. Kind, geboren zu Döben bei Grinma, wo sein Vater Kantor war. Auf dem Lehrerseminar in Grimma vorgebildet, war er bis 1849 an mehreren, namentlich Privatschulen tätig und wurde dann als Lehrer an der Erziehungsanstalt für Schwach- und Blödsinnige des Dr. Kern bei Leipzig angestellt.

„Hier trat,“ wie Dr. Köhler im Nekrologe-Kind (Zeitschr f. Psychiatrie 41. Bd., 1885) schreibt, „der Wendepunkt in seinem Leben ein. Kern, welcher als ehemaliger Taubstummenlehrer schon seit 1839 der Idiotenbildung sein ganzes Interesse zugewendet, das Unzureichende bloßer Pädagogenbildung er- kannt hatte und 1847 mit einem Teil seiner schwachsinnigen Zöglinge zum Zweck des akademischen Studiums der Medizin nach Leipzig übergesiedelt war, schuf in Kind die gleiche Überzeugung und war die Veranlassung, dass der-

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selbe nach glücklich überstandener Maturitätsprüfung sich gleichfalls dem Studium der Medizin mit Ernst und Eifer hingab. So trat der eigentümliche Umstand ein, dass zu derselben Zeit drei in derselben Anstalt tätige Personen neben dem pädagogischen Beruf dem medizinischen Studium oblagen: Kern, Kind und Referent (Köhler), welcher als Mediziner sich mit Unterricht schwachsinniger Kinder beschäftigte nach dem in Kern zur Überzeugung gelangten Prinzip: „cura fatuitatis et medica et paedagogica consocianda“ (Dissertation Kerns: Die ärztliche und pädagogische Behandlung des Schwachsinns müssen gemein- sam stattfinden).

Kind erwarb sich 1860 nach Verteidigung seiner Dissertation: De cranio, cerebro, medulla spinali et nervis in idiotia primaria (Über den Schädel, das Gehirn, das Rückenmark und die Neıven bei der Idiotie) die Doktorwürde, blieb zunächst als Lehrer und Hausvater in der Kern’schen Anstalt, praktizierte dann in Grimma 2 Jahre und wurde 1868 zum Direktor der Anstalt zur Er- ziehung schwachsinniger Kinder zu Langenhagen ernannt, wo er bis zu seinem Tode 1885 wirkte.

Wie viele andere werden sich auch manche der Leser dieser Zeitschrift von den Konferenzen her, denen er beiwohnte, des biedern, anspruchslosen, ge- lehrten, für sein Fach ganz aufgehenden Mannes rühmlichst erinnern.

Er schrieb, den Boden der Psychiatrie betretend: Über das Längenwachstum der Idioten (Archiv f. Psych. u. Nervenkrankheiten, 6. Bd., 1876), über die ge- schwisterlichen Verhältnisse der Idioten (Zeitschr. f. Psych 33 Bd. 1877), über die Idiotenfrage in legislatorischer Beziehung, Bericht auf der Jahresversammlung des Vereins der Deutschen Irrenärzte 1879 zu Heidelberg (Zeitschr. f. Psych., 36 Bd, 1880), über den Einfluss der Trunksucht auf die Entstehung der Idiotie (Zeitschr. f. Psych., 40. Bd, 1884).

Das sind die Männer, welche als Lehrer, begeistert für ihr Fach, Fühlung suchten mit der Medizin, zur besseren Kenntnis des Schwachsinns und damit zum Wohle ihrer Zöglinge, schliesslich Medizin studierten, den Boden der Psychiatrie betraten und weiter wirkten in ihrem Lelhrfache.

Und wenn sie auch Schwachsinnige höheren Grades erzogen und unter- richteten als die in Hilfsschulen befindlichen Schwachbefähigten ihre Er- ziehung, ihr Unterricht hatten gleiche Ziele, sie decken sich, wenn auch nur in einer Abstufung.

De fatuitatis cura medica et paedagogica consocianda, die Behandlung des Schwachsinns muss gemeinschaftlich eine ärztliche und eine pädagogische sein dieser Satz Kern's gilt bei Schwachsinnigen höheren, mittleren und geringen Grades.

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Wie vermittelt die Hilfsschule ihren Zöglingen

die Kenntnis der verwandtschaftlichen Verhältnisse? Von Hermann Horrix, Hauptlehrer der Hilfsschule in Düsseldorf. Wie das Ablesen der Zeit von der Uhr, so macht auch das Unterscheiden und Erlernen der verwandtschaftlichen Verhältnisse unsern schwachbegabten

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Schülern viel Kopfzerbrechen. Das kann auch nicht anders sein, da die einzelnen Neben- und Untergrade der Verwandtschaft, je nach der Stelle, von welcher aus man sie betrachtet, ihre Namen ändern, so dass die ganze Verwandtschaftsreihe einem Kinde, dessen Horizont beschränkt ist, das sich nicht in diese feinen Unterschiede bineinversetzen kann, wie Kraut und Rüben durcheinanderläuft. In den meisten Fällen sind für schwachveranlagte Schüler alle Menschen, die sie nicht mit ihrem Vor- oder Zunamen bezeichnen, ausser Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Grossvater und Grossmutter einfach nur Onkel und Tante, zumal in einer Grossstadt, wo sie manchmal ihre Verwandten kaum kennen lernen. Was die Kenntnis der verwandtschaftlichen Verhältnisse betrifft, so könnte sich der Schwachbegabte glücklich preisen, der mit dem Knappen Veit in „Undine* singen kann: „Vater, Mutter, Schwestern, Bıüder hab’ ich auf der Welt nicht mehr“, weun er ihrer nicht so häufig und so notwendig bedürfte. Aber auch selbst dann, wenn er keine Verwandten hat, treten ihm im Leben die ver- schiedenen Bezeichnungen zu oft entgegen, als dass er das Verständnis ihrer Bedeutung entbehren köunte. Darum bleibt der Hilfsschule nichts anders übrig, als darüber nachzusinnen, auf welche Weise sich dieses Gebiet am besten be- ackern lässt, wie sie ihre Schüler systematisch von Stufe zu Stufe in die Ver- wandtschaftsgrade einführen und sie dadurch auch von einem Teile des Bannes befreien kann, der ihren Geist umlagert. Derartige Dinge leruen sie nun einmal am allerwenigsten aus sich selbst, und doch ist die Kenntnis derselben ihnen schon deshalb nötig, weil ihr geistiger Standpunkt nicht selten nach solchen Kleinigkeiten, für welche manche Leute sie halten, beurteilt wird. In mehreren Hilfsschulen hängt die sinnreiche Tafel zur Verauschaulichung der Verwandtschafts- verhältnisse von Th. Giertz, welche allerdings in erster Linie für Taubstumme berechnet ist. Bei aller Anerkennung, die wir dem verehrten Verfasser für seine schöne Arbeit zollen, müssen wir jedoch erklären, dass seine Tafel für Hilfsschüler zu schwer verständlich ist. Die Hilfsschule geht eben am zweck- mässigsten von der unmittelbaren Anschauung aus und zwar, um die Wechsel- beziehung in den Bezeichnungen für verschiedene Menschengruppen den Kindern zum Bewusstsein zu bringen, zunächst von Lehrer und Schüler, Knaben und Mädchen. Die Übungen verteilen sich demnach auf folgende Gruppen, welche nach und nach behandelt werden: I. Gruppe: Allgemeine Verhältnisse. II. Gruppe: Verwandtschaftsverhältnisse durch Geburt. Ill. Gruppe: Verwandtschaftsverhältnisse durch erste Heirat. IV. Gruppe: Verwandtschaftsverhältnisse durch zweite Heirat. V. Gruppe: Verwandtschaftsverhältnisse durch Adoptierung. VI. Gruppe: Entferntere Verwandtschaftsverhältnisse. VII. Gruppe: Allgemeine Wiederholung.

I

1. Wer steht vor euch? Was seid ihr? Wie sagt der Lehrer zu euch? Wie sagt ihr zu mir?

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2. Die Knaben treten aus den Bänken. Wer steht im Schulzimmer? Wer sitzt in den Bänken? Wie sagt der Lehrer, wenn diese aufstehen sollen?

3. Wen hat Gott zuerst erschaffen? Was war Adam? Wen hat er dann erschaffen? Was war Eva? Wie sagte Adam zu Eva, wenn er sie nicht beim Namen nannte? Wie sagte Eva zu Adam? Wer ist auch Mann und Frau? Wie sagt der Vater zur Mutter? Wie die Mutter zum Vater?

Ia.

Hier fängt schon die Schwierigkeit des Auseinanderhaltens der Begriffe „Sohn, Tochter, Bruder und Schwester“ an.

Wer gibt euch Nahrung und Kleidung? Warum könnt ihr euch noch keine Kleidung kaufen? Wer gibt euern Eltern das Geld dazu? Was müssen sie dafür tun? Warum könnt ihr noch kein Geld verdienen? Was seid ihr? Wie sagen darum die Eltern zu euch? Wie nennt ihr Vater und Mutter? Wie sagen die Eltern von ihren Knaben (Jungen)? Wie nennen sie ihre Mädchen, wenn sie den Namen nicht gebrauchen? Wer sorgt für die Söhne und Töchter? Wen sollen Söhne und Töchter lieb haben? Wie hiessen die Söhne Adams? Wie hiess der Sohn Abrahams? Wie hiessen die Söhne Isaaks? Wie viele Söhne hatte Jakob? Wie hiess der Vater unseres Kaisers? Wie die Mutter? Wie nennt der Kronprinz unsern Kaiser? Wie der Kaiser den Kronprinz? Wie die kleine Prinzessin Luise? Wie schreiben die Knaben unter den Neu- jahrsbrief an die Eltern? Wie die Mädchen? Wie die Kinder über den Neu- jahrsbrief, wenn Vater und Mutter noch beide leben, wenn der Vater tot ist, wenn die Mutter tot ist? Wie nannte Joseph den Jakob, wie Jakob den Isaak, wie Isaak den Abraham? Wie Abel die Eva, wie Kain den Adam? Wie nannte Maria den Knaben Jesus, wie Jesus die Maria? Wie bist du mit deinem Vater verwandt? Wie ist deine Mutter dir verwandt? Wer keinen Vater und keine Mutter mehr hat, ist Waise? Was ist denn eine Halbwaise ?

IIb.

Wie viele Söhne haben deine Eltern? Wie viele Töchter? Wie nennst du die Töchter deiner Eltern? Wie nennen die Töchter die Söhne? Wie viele Schwestern hast du? Wie viele Brüder hast du? Wie viele Brüder hatte Jakob, Joseph? Wie viele Schwestern hatte Joseph, Rachel? Wie heisst der Bruder unseres Kaisers? Wie viele Schwestern hat unser Kaiser? Wie nennen die Schwestern des Kaisers den Prinz Heinrich? Wie die Prinzessin Luise den Kronprinz? Wie sagt der Kronprinz zur Prinzessin Luise? Wie Joseph zu Benjamin? Wie Juda zu Simeon? Wie sagte das Mädchen zu Moses, das in der Ferne stehen blieb, wie zu Aaron? Wie war Moses dem Mädchen verwandt? Wie das Mädchen dem Moses, dem Aaron? Wie bist du dem Sohne, der Tochter deines Vaters verwandt? Wie der Tochter deiner Mutter, dem Sohne deiner Mutter? Wie ist die Tochter deines Vaters, der Sobn deiner Mutter dir verwandt? (Es ist ungemein wichtig, die Verwandtschaft immer vom Stand- punkt der Ascendenz wie auch der Descendenz angeben zu lassen.) Wie schreibst du über einen Brief an deinen Bruder, an deine Schwester? Wie schreibst du

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unter den Brief an deinen Bruder, an deine Schwester? Wie schreibt deine Schwester über einen Brief an dich? Wie schreibt sie darunter? Wie ent- schuldigt deine Schwester dich beim Lehrer, wenn du nicht zur Schule kommen kannst? Wie deinen Bruder, deine Schwester?

IIc.

Wie sagt dein Vater zu deiner Schwester, wenn er sie nicht beim Namen ruft? Wie nennt deine Mutter deinen Bruder, deine Schwester? Wie nannte Jakob die Brūder Josephs? Wie nannten die Brüder Josephs den Jakob? Wie nennt Prinz Heinrich den Vater, die Mutter des Kaisers? Wie nannte Kaiser Friedrich den Bruder unseres Kaisers, wie dessen Schwestern? Wie nennen die Schwestern des Kaisers den Prinz Heinrich? u. s. w.

Wie nennt man Schwestern und Brūder mit einem gemeinsamen Namen? Wie nennen die Schwestern sich einander, wie die Brüder? (nicht Gebrüder).

IId.

Wie nennst du den Vater deines Vaters, deiner Mutter? Wie viele Gross- väter habt ihr, wenn keiner noch gestorben ist? Wer hat noch beide Grossväter? Wer hat nur einen? Welcher ist das? Wie sagt ihr zu der Mutter eures Vaters, eurer Mutter? Wie viele Grossmütter habt ihr also auch? Wer hat sie noch beide? Wer hat nur noch eine? Welche ist das? Welche ist denn gestorben? Wenn wir sagen wollen, dass es die Mutter des Vaters ist, so müssen wir sie nennen: die Grossmutter „aus Vaters Haus“ oder „vom Vater her“ oder „väterlicherseits“. Was wirst du denn hinzusetzen, wenn die Mutter deiner Mutter gemeint ist? Was, wenn der Vater deines Vaters be- zeichnet werden soll? Was, wenn der Vater deiner Mutter gemeint ist? Wie hiess der Vater Josephs? Wie der Vater Jakobs? Wie musste Joseph zu Isaak sagen? Wie hiess der Vater Jakobs? Wie der Vater Isaaks? Wie nannte also Jakob den Abraham? An der Wand hängen 3 Kaiserbilder; Wilhelm I. Friedrich III. und Wilhelm II. Wie heisst der Vater unseres Kaisers? Wie der Vater Friedrichs lII.? Wer war also der Grossvater unseres Kaisers? Wie heisst der Vater unseres Kronprinzen? Wie der Vater unseres Kaisers? Wie war Kaiser Friedrich mit unserm Kronprinzen verwandt? Wie sagt mein Sohn zu meinem Vater, zu meiner Mutter?

Wie heisst der Vater unseres Kronprinzen? Wie die Mutter unseres Kaisers? Wie ist die Mutter unseres Kaisers mit dem Kronprinzen verwandt? Wie hiess die Mutter des Kaisers Friedrich IH.? Wessen Grossmutter war sie? Wessen Grossmutter ist meine Mutter? Wie schreibst du über einen Brief an den Vater deines Vaters, deiner Mutter? Wie an die Mutter deines Vaters, deiner Mutter? Wie bist da mit deinem Vater verwandt? Wie mit deiner Mutter? Dein Grossvater sagt zu dir „Enkel“. Grossmutter sagt auch wohl mal: „Mein Engel“, aber nur dann, wenn du brav bist, sonst bist du ihr Enkel. Sprich: „Ich bin der Enkel meines Grossvaters und meiner Grossmutter.“ Wessen Enkel ist der Kaiser, der Kronprinz? Wie schreibst du unter einen Brief an deinen Gross- vater, an deine Grossmutter?

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IIe.

Wie schreibt deine Schwester darunter? Sage: „Meine Schwester ist die Enkelin meines Grossvaters und meiner Grossmutter. Mein Grossvater ist auch der Grossvater meiner Schwester. Meine Grossmutter ist auch die Grossmutter meiner Schwester.“ Wessen Grossvater ist der Grossvater des Kronprinzen, des Kaisers auch? Wie hiess der Enkel Abrahams, Isaaks? Wessen Enkel ist mein Sohn, wessen Enkelin meine Tochter? Wie nennt dein Vater deinen Grossvater väterlicherseits, deine Grossmutter väterlicherseits? Wie ist deine Grossmutter mütterlicherseits mit deiner Mutter verwandt? Wie dein Grossvater mütterlicher- seits? Wie sagt dein Grossvater, deine Grossmutter väterlicherseits zu deinem Vater? Wie dein Grossvater, deine Grossmutter mütterlicherseits zu deiner Mutter? Wie viele Enkel hat dein Grossvater, deine Grossmutter in euerem Hause? Wie viele Enkelinnen? Wer ist der Enkel des Grossvaters? Wer die Enkelin? Wer ist der Enkel, die Enkelin der Grossmutter ?

If.

Wessen Vater hat einen Bruder? Wie heisst der Bruder deines Vaters? Wie nennst du ihn? Auch der Bruder deiner Mutter ist dein Oheim oder Onkel. Wie viele Oheime väterlicherseits, mütterlicherseits hast du? Wie ist denn die Schwester deines Vaters, deiner Mutter ınit dir verwandt? Wie viele von deinen Tanten väterlicherseits leben noch? Wie viele Tanten mütterlicherseits sind schon tot? Wenn der Bruder deines Vaters oder deiner Mutter verheiratet ist, so nennst du deren Frauen auch Tante. Ist die Schwester deines Vaters oder deiner Mutter verheiratet, so sind deren Männer auch deine Oheime. Wie heisst der Oheim väterlicherseits unseres Kronprinzen? Wie viele Tanten väterlicher- seits hat er? Ist die Frau des Prinzen Heinrich seine Tante väterlicher- oder - mütterlicherseits? Kennst du einen Oheim Josephs? Hatten Kain und Abel auch einen Onkel und eine Tante? Warum denn nicht? Wie sagen denn Onkel nnd Tante zu dir, Joseph? Du weisst es nicht, sie sagen zu dir „Neffe“ und zu deiner Schwester „Nichte“. Wie bist du also mit deinem Oheim ver- wandt, Joseph? Sprich: „Ich bin der Neffe meines Oheims. Ich bin auch der Neffe meiner Tante.“ Sage das auch, Jakob, Hermann, Wilhelm! Wie nennen Onkel und Tante dich, Gertrud? Sage: „Ich bin die Nichte meines Onkels und meiner Tante.“ Wiederhole du das, Anna, Elisabeth, Thusnelda! Was schreibst du über einen Brief an deinen Onkel, Joseph? Was darunter? Was schreibst du darüber Gertrud? Was darunter? Was schreibt dein Oheim über einen Brief an dich, Jakob? Was an dich Thusnelda? Was schreibt er darunter? Wie heisst ein Neffe des Prinzen Heinrich? Wie heisst eine Nicbte desselben? u. s. f.

Ilg.

Hat dein Vater auch Neffen? Wer ist das? Wie sind die Nichten deines Vaters mit ihm verwandt? Wessen Kinder sind es? Wie nenut deine Mutter die Söhne ihres Bruders, ihrer Schwester, des Bruders oder der Schwester deines

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Vaters? Wie sagt dein Vater zu den Töchtern seines Bruders, seiner Schwester, des Bruders oder der Schwester deiner Mutter? Wie sind die Söhne der Frau seines Bıuders mit deinem Vater verwandt? Wie deren Töchter? Wie nennt der Vater die Söhne des Mannes seiner Schwester? Wie die Töchter? Was sagt deine Mutter zu den Töchtern der Frau ihres Bruders, des Mannes ihrer Schwester? Wie nennt der Prinz Heinrich die Söhne der Kaiserin? Wie die Kaiserin die Tochter des Prinzen Heinrich? Wie ist der Prinz Heinrich mit der Tochter der Kaiserin verwandt? Welche Neffen Esaus kennst du? Hatte Isaak auch einen Neffen, eine Nichte väterlicherseits? Warum denn nicht? Wie nennt der Bruder deines Vaters deine Schwester? Wie die Frau des Bruders deiner Mutter? Wie viele Oheime, Tanten hat dein Bruder, deine Schwester?

Dass vom Erhabenen zum Lächerlichen nur ein Schritt und von Ernst zu heiterm Scherz oft nicht weit ist, das musste ich einınal erfahren, als ich mich schon zum hundertsten Male bemühte, einem meiner Zöglinge die verwandt- schaftlichen Beziehungen zu dem Bruder seines Vaters und umgekehrt einzu- prägen. Die Sache möge hier kurz Erwähnung finden zu Nutz und Frommen aller, denen bei der überaus grossen Schwierigkeit dieser Materie für unsere Kinder manchmal der Mut entsinken möchte, denen aber eine ganz ausserhalb des Ralımens der Besprechung liegende Antwort, welche den etwas humorvoll ungelegten Erzieher anstatt zum Ärger über die vergebliche Mühe zur Heiterkeit stimmt, so recht ins Bewusstsein ruft: „Versuche es noch einmal mit diesem geistig armen Kinde, vielleicht krönt jetzt ein Erfolg dein Werk.“ Darum also, bitte, Verzeihung für die kleine Abschweifung! Auf meine Frage an die Schüler: „Hat dein Vater einen Bruder?“ erfolgte prompt die Antwort: „Ja.“ Wo wohnt der Bruder deines Vaters? „In Rheydt“ Darauf sagte ich: „Schön nächsten Sonntag sollst du nach Rheydt fahren. Du gehst dann zu dem Hause, wo der Bruder deines Vaters wohnt uud schellst dort. Die Tür wird geöffnet, und siehe, der Bruder deines Vaters steht vor dir.“ Wie wirst du ibn anreden? „Guten Morgen, lieber Onkel!“ „Recht, deine Schwester fährt auch einmal hin, der Onkel öffnet wieder.“ Wie wird der Onkel zu deiner Schwester sagen? „Guten Morgen, liebe Nichte!“ „Dein Vater fährt auch nächstens zu deinem Onkel in Rheydt.“ Bevor ich jedoch die Frage, wie der Vater den Onkel an- reden werde, stellen konnte, gab er die Antwort: „Nein, der Vater fährt nicht nach Rheydt.“ „Doch,“ sage ich, „er wird demnächst einmal hinfahren.“ Aber wiederum erhielt ich zur Antwort: „Nein.“ Schon wollte ich verzagen, da dachte ich an den Ausspruch Sailers von der Hauptsumme der Lehrertugenden und wiederholte zum dritten Male mit erhöhtem Nachdruck: „Du bist gefahren, deine Schwester ist gefahren, nun soll dein Vater auch einmal hinfahren.“ Da aber platzte die Bombe, und er antwortete: „Nein, nein, der fährt sicher nicht hin, der ist neulich nicht zur Hochzeit eingeladen worden.“ Das brachte für mich die vollständige Erlösung aus schwerer Not; ich musste unwillkürlich laut auflachen bei dem Gedanken, dass ich den schwachbefähigten Schüler in seine Familienverhältnisse einweihen wollte, er aber nun mich in des Wortes ureigenster Bedeutung in dieselben eingeweiht hatte.

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Ih.

Wie viel Söhne hat dein Oheim? Wie viel Töchter? Zu ihnen sagt dein Vater oder deine Mutter „Neffen oder Nichten“. Das dürft ihr aber nicht sagen. Die Söhne eures Oheims sind eure Vettern, die Töchter eure Cousinen. (Es ist eigentlich nicht zu begreifen, warum die französische „Cousine“ noch immer zum feinen Ton gehört. Gibt es denn kein schönes deutsches Wort für diese Dame. Wir würden, wenn es uns gestattet wäre, darin ein Wörtchen mit- zureden, selbst auf die Gefahr hin, dass man uns einer etymologischen Un- wissenheit zeihen würde, das Wort „Base“ und wenn sie klein und niedlich wäre, die Bezeichnung „Bäschen“ anwenden. Bei vielen Schriftstellern werden denn auch tatsächlich „Vettern und Basen“, sei es nun als wohlwollende oder auch als klatschsüchtige und ränkeschmiedende zusammen in Bewegung gesetzt. Wie sich der deutsche Sprachverein zu dem Fremdwort „Cousine“ stellt, ist uns nicht bekannt.) Sie nennen euch auch Vettern und Cousinen. Wenn ihr also an einen Vettern schreibt, so setzt ihr über den Brief: „Lieber Vetter“ und darunter „euer Vetter“. Wie schreibst du nun über, wie unter den Brief an deine Cousine, Joseph? Wie schreibt deine Cousine über, wie unter den Brief an dich, Joseph? Wie schreibst du über, wie unter einen Brief an deine Cousine, Johanna? Wie über und unter den Brief an deinen Vetter, Elise? Nenne ein- mal alle deine Oheime mit ihrem Vor- und Zunamen! Nenne die Vornamen der Kinder deines Oheims N.! Wie ist der Sohn H. mit dir verwandt? Wie die Tochter 2.? Die Kinder aller Oheime und Tanten sind eure Vettern und Cousinen. Wie viele Vettern hast du nun? Zähle sie einmal auf! Wie viele Cousinen? Zähle sie auch! Wie viele Vettern und Cousinen hat deine Schwester? Warum hat sie genau so viele wie du? Kennst du einen Vetter des Kronprinzen? Wie sagt der Kronprinz zu den Söhnen der Schwestern seines Vaters? Wie zu . den Töchtern des Bruders seiner Mutter?

Da der heimatkundliche Unterricht in der Hilfsschule, was die Geschichte betrifft, nur vom regierenden Kaiser als Sohn wenigstens einstweilen noch ausgeht, und in der Ascendenz bis auf den Grossvater, von diesem Punkte aus ge- rechnet, reicht und höchstens noch den Prinzen Heinrich und die kaiserlichen Kinder in seinen Bereich zieht, so ist es selbstverständlich, dass das Gedächtnis unserer schwachbefähigten Schüler nicht mit noch mehr Namen als eben nötig, belastet wird, damit sie nicht schliesslich alle kaiserlichen Verwandtschaftsverhältnisse, auch die, welche sie notwendig kennen sollen, miteinander verwechseln. Gerade zur Einprägung der unumgänglichen Begriffe in dieser Beziehung empfehlen sich feststehende Merksätze im Anschlusse an die betreffenden Einzel- und Familienbilder.

Illa.

Wessen Grossvater mütterlicherseits lebt noch? Wie ist deine Mutter mit ihm verwandt? Ist er auch der Vater deines Vaters? Dein Vater sagt von ihm: „Er ist mein Schwiegervater.“ Wie wird dein Grossvater mütterlicher- seits wohl zu deinem Vater sagen? Wie die Grossmutter mütterlicherseits? Wie nennt dein Vater deine Grossmutter mütterlicherseits? Wer hat noch einen

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Grossvater väterlicherseits? Was sagt dein Vater von ihm? Deine Mutter auch? Weisst du, wie deine Mutter ibn nennt? Wie ist denn deine Mutter mit deinem Grossvater väterlicherseits verwandt? Wie nennt deine Grossmutter väterlicherseits deine Mutter? Wie deine Mutter diese Grossmutter? Wie schreibt dein Vater an deinen Grossvater mütterlicherseits über, wie unter den Brief? Wie deine Mutter an deine Grossmutter väterlicherseits? Wie an deinen Grossvater väterlicherseitse? Wie schreibt dein Grossvater väterlicherseits an deine Mutter über und unter den Brief? Wie deine Grossmutter mütterlicher- seits an deinen Vater? Vater und Mutter sind Mann und Frau, oder Gatte und Gattin, oder Gemahl und Gemahlin. Wie wird nun der Vater, die Mutter des Mannes von der Frau genannt? Wie der Vater, die Mutter der Frau von dem Manne? Wie nennt der Vater, die Mutter des Mannes die Frau desselben? Wie der Vater, die Mutter der Frau den Mann der Frau? Wie viele Schwieger- töchter hatte Noe? Wer war das? Wie hiess der Schwiegervater unserer Kaiserin? Wie der Schwiegervater der Kaiserin Friedrich? Wie die Schwieger- mutter unserer Kaiserin? Wie nannte Kaiser Friedrich unsere Kaiserin? Wie nannte die Frau des Prinzen Heinrich den Kaiser Friedrich? Wie nennst du den Schwiegervater deines Vaters, deiner Mutter? Wie nennst du die Schwieger- mutter, den Schwiegervater deiner Mutter? Wie nennt der Schwiegervater deines Vaters, deiner Mutter dich?

IIIb.

Wer von euch hat eine Schwester, welche schon verheiratet ist? Wie sagt dein Vater zu deiner Schwester? Wie zu dem Manne deiner Schwester? Wie aber sagst du zu ihm? Was ist er? Wie sagt er also zu dir? Wie bist du also mit ihm verwandt? Wer von euch hat einen verheirateten Bruder? Wie sagt deine Mutter zu deinem Bruder? Wie zu der Frau deines Bruders, dem Manne deiner Schwester? Wie sagst du zu der Frau deines Bruders? Wie ist sie mit dir verwandt? Wie bist du mit ihr verwandt? Die Frauen aller deiner Brüder nennst du Schwägerinnen? Wie nennst du die Männer aller deiner Schwestern? Wie sagt denn dein Vater zu der Frau seines Bruders, dem Manne seiner Schwester? Wie ist deine Mutter mit der Frau ihres Bruders, dem Manne ‚ihrer Schwester verwandt? Hast du einen Onkel väterlicherseits? Wie ist er mit deinem Vater verwandt? Wie kann er aber mit ihm verwandt sein? Wen hat er dann geheiratet? Wie ist dein Onkel mütterlicherseits mit deiner Mutter verwandt? Wie kann er aber auch mit ihr verwandt sein? Wen hat er dann geheiratet? Wie sagt dein Vater zu ihm? Wie sagt deine Mutter zu ihm, wenn er ihre Schwester geheiratet hat? Wie sagt dein Vater zum Bruder, zur Schwester deiner Mutter? Wie nennt deine Mutter die Frau des Bruders deines Vaters? Wie ist der Bruder deines Vaters mit deiner Mutter verwandt? Wie ist dein Vater mit dem Manne der Schwester deiner Mutter verwandt? Wie sagst du zum Schwager deines Vaters? Wie nennst du den Schwager, die Schwägerin deiner Mutter? Wie nennt die Schwägerin deines Vaters dich? Wie bist du mit dem Schwager deiner Mutter verwandt? Wie nannte Sem die

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Frauen von Cham und Japhet? Wie war die Frau Japhets mit Cham, mit dessen Frau verwandt? Wie sagte die Frau des Cham zu der Frau des Sem? Wie nennt der Kaiser die Frau seines Bruders Heinrich? Wie nennt die Kaiserin den Prinzen Heinrich® Wie ist der Kaiser mit dem Gemahl seiner Schwester verwandt? Wie mit dem Bruder seiner Gemahlin? Wie sagt seine Schwester zur Kaiserin? Wie nannte die Frau des Jakob die Frau des Esau? Wie war die Frau des Joseph mit Benjamin verwandt? Wie sagte die Frau des Juda zur Frau des Simeon? Wessen Vater hat keine Schwäger? Warum denn nicht? Wessen Mutter hat keine Schwägerinnen? Hatten Adam und Eva Schwäger, Schwägerinnen? Warum wohl nicht? Hatte die Frau des Isaak Schwäger und Schwägerinnen® Warum nicht? Wie ist dein Schwager, deine Schwägerin mit deineın Vater, deiner Mutter verwandt? Wie nennst du den Schwiegersohn, die Schwiegertochter deines Vaters? Wie bist du mit dem Schwiegersohn, der Schwiegertochter deines Vaters, deiner Mutter verwandt? Wie nannte Sem die Schwiegertöchter seines Vaters? Alle? Welche denn nicht? Wie sagt deine Schwägerin zu den Söhnen deines Vaters? Welcher ist ausgenommen? Wie sagt sie zu den Schwiegertöchtern deiner Mutter? Ist eine ausgenommen? Wer von euch hat keinen Schwager, keine Schwägerin? Warum denn nicht? Wann wirst du denn Schwager, Schwägerin werden? Schwager und Schwägerin sind dir durch ihre Heirat mit deiner Schwester, deinem Bruder verwandt geworden, ihr seid verschwägert. Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Grossvater, Grossmutter, Onkel und Tante sind dir seit deiner Geburt, von deiner Geburt an verwandt gewesen. Nenne die Verwandten deines Vaters seit seiner Geburt, die du kennst. Seit wann ist deine Mutter deinem Vater verwandt? Seit wann seine Schwiegersöhne®? Bei diesen Fragen, die mitunter recht schwer zu beantworten sind, wird der Lehrer häufig Ge- legenheit haben, die Verhältnisse zu entwickeln. Selbstverständlich beteiligen sich alle Schüler an dieser Geistesarbeit, auch wenn die Frage an einen Schüler gestellt ist. IV.

Wer hat einen zweiten Vater, eine zweite Mutter? Wie bist du damit verwandt? Wie ist der zweite Vater, die zweite Mutter mit dir verwandt? Wie sagt deine zweite Mutter zu deiner älteren Schwester? Wie zu deinem älteren Bruder? Wie viele Söhne, Töchter hatte dein Vater, als er zum zweiten Male heiratete? Wie sagt deine Stiefmutter zu diesen? Wie sagen diese zu deiner zweiten Mutter? Wie sagst du zu ihnen? Das sind deine rechten Brüder und Schwestern? Wie viele Söhne hatte deine Mutter, als sie zum zweiten Male heiratete? Wie sagst du zu ihnen? Wie dein zweiter Vater? Wie ist dein Stiefvater mit diesen verwandt? Wie viele Söhne haben dein Stiefvater und deine Mutter, dein Vater und deine Stiefmutter? Wie nennst du diese Kinder? Es sind deine Halbbrüder. Wie viele Töchter haben dein Vater und deine Stiefmutter, dein Stiefvater und deine Mutter? Wie wirst du diese nennen? Wie nennt deine Stiefmutter, dein Stiefvater sie? Wie nennt dein Stiefvater, deine Stiefmutter euch Kinder vom ersten Vater, von der ersten Mutter? Wie

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war Juda mit Joseph, Simeon mit Benjamin verwandt? Warum waren es Halb- brüder? Hatten diese Halbbrüder den Joseph lieb? Das war nicht recht; auch Halbbrüder und Halbschwestern sollen sich lieben. Sie haben ja denselben Vater (dieselbe Mutter). Ebenso muss man seinen Stiefvater und seine Stief- mutter von Herzen gern haben; sie vertreten Gottes Stelle und die Stelle des verstorbenen Vaters oder der verstorbenen Mutter. Diese sehen vom Himmel herab auf euch, ob ihr diesen auch gehorsam seid. Auch Stiefvater und Stief- mutter, Halbbruder und Halbschwester müsst ihr unterstützen, wenn sie in Not geraten. Kann ein Kind auch wohl einen Stiefvater und eine Stiefmutter zugleich baben? Wann denn? Diesen soll es erst recht dankbar sein dafür, dass sie ihm Wohnung, Nahrung und Kleidung geben, denn wenn es die Stiefeltern nicht bätte, so wäre es ganz verwaist und verlassen. Wie nennst du denn die Brüder, die Schwestern deiner zweiten Mutter, deines zweiten Vaters? Wie nennen sie dich? Wie ist der Vater deines zweiten Vaters, deiner zweiten Mutter mit dir verwandt? Wie bist du mit ihnen verwandt? Wie nennen sie dich also? Wie nennt dein erster Vater denn die Brüder und Schwestern seiner zweiten Frau? Wie nennt dein zweiter Vater die Brüder, Schwestern deiner ersten Mutter? Wie sagt deine erste Mutter denn zu den Brüdern und Schwestern deines zweiten Vaters? Wie sagt deine zweite Mutter zu den Brüdern und Schwestern deines ersten Vaters? Wie ist dein Grossvater väterlicherseits mit deiner zweiten Mutter verwandt? Wie deine Grossmutter väterlicherseits? Wie ist dein Grossvater mütterlicherseits mit deinem zweiten Vater verwandt? Wie deine Grossmutter mütterlicherseits? Wie nennt deine zweite Mutter den Gross- vater väterlicherseits? Wie nennt dein zweiter Vater deinen Grossvater mütter- licherseits? Wie deine Grossmutter mütterlicherseits? Wie sagt deine zweite Mutter zu der Grossmutter väterlicherseits? Wer ist dein Stiefbruder? Wer deine Stiefschwester ?

Vs

Manche Kinder haben keinen Vater und keine Mutter mehr; sie sind Waisenkinder oder Waisen. Da gibt es gute Menschen, welche sie in ihr Haus nehmen und für sie sorgen, als wären sie ihr Vater oder ihre Mutter. Häufig tun dies die Verwandten, manchmal nehmen aber auch Leute, welche diesen Kindern gar nicht verwandt sind, sie auf und pflegen sie wie eigene Kinder. Das sind dann ihre Kinder zum Pflegen oder ihre Pflegekinder. Wie nennt ein solches Kind den Mann, der es anstatt des Vaters pflegt? Wie die Frau, die es an Stelle der Mutter pflegt? Wie hiess der Pflegevater des Heilandes? Kinder sollen schon ihren Eltern dankbar sein durch Fleiss und Gehorsam, durch Liebe und ein gutes Betragen; aber noch tausend mal mehr Dank, als Kinder ihren Eltern, schulden Pflegekinder ihren Pflegeeltern. Was würde aus diesen armen Kindern werden, wenn nicht gute Pflegeeltern für sie sorgten, Ihr aber müsst, wenn ihr .gross geworden seid, stets solchen armen Waisen- kindern helfen; der Herr wird es euch sicher lohnen, denn er hat gesagt: „Wer ein solches Kind aufnimmt in meinem Namen, der nimmt .mich auf.“

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| | yI.

Von den entferntern Verwandtschaftsverhältnissen kommen für unsere Schüler nur sehr wenige in Betracht. Ausgeschieden werden vor allen die Seitenlinien Grossonkel, Grosstante, Grossnefie und Grossnichte, schon deshalb, weil sie ja von normal veranlagten Menschen, wenn überhaupt als Verwandte betrachtet, mit den Namen „Onkel, Tante, Neffe, Nichte“ belegt werden, wie ja auch ent- fernter stehende Vettern und. Basen (Cousinen) einfach diesen Namen behalten. Die einzige Gruppe, die möglicherweise den Kindern davon noch näher steht, ist Urgrossvater und Urgrossmutter. Wessen Grossvater hat noch einen Vater? Der ist aber schon sebr alt. Wie alt ist er? Wie sagst du zu ihm? Wie sagst du zu seiner Frau? Was ist diese Frau? Wie alt ist sie? Wie bist du mit deinem Urgrossvater verwandt? Wie mit deiner Urgrossmutter? Wie schreibst du über und unter einen Brief an deinen Urgrossvater und deine Ur- grossmutter? Wie sagt dein Urgrossvater zu deinem Grossvater, zu deiner Grossmutter? Wie ist dein Urgrossvater denn mit. deinem Vater verwandt, wie mit deiner Mutter? Wie sagt deine Mutter zu deinem Urgrossvater väter- licherseits, mütterlicherseits? Wie sagt dein Vater zu deinem Urgrossvater mütterlicherseits? Wie zu deinem Urgrossvater väterlicherseits? Wie heisst der Urgrossvater unseres Kronprinzen? Wie seine Urgrossmutter? Wer war der Urenkel Abrahams?

VII.

Wer ist dein Bruder? Wie nennst du den Vater deiner Mutter? Wie sagt der Mann deiner Schwester zu dir? Wie bist du mit deinem Grossvater verwandt? Wie heisst die Schwester deines Vaters? Wie nennt dein Vater die Mutter deiner Mutter? Wie sagt der Bruder deines Vaters. zu dir? Wer ist dein Urgrossvater? Wie nennt deine Grossmutter dich? Wie sind die Töchter deines Oheims mit dir verwandt? Zu wem sagst du Schwägerin? Wie nennt dein Grossvater mütterlicherseits deine Mutter? Wer ist dein Vetter? Wie sagen Onkel und Tante zu dir? Wie nennst du die Töchter, die Söhne deiner Eltern? Wie bist du mit der Frau deines Bruders verwandt? Wie nennst du die Mutter deiner Grossmutter? Wer ist deine Tante? Wer auch? Wer ist deine Schwester? Wann erhält man eine Schwiegermutter? Wer ist das? Wer ist Pflegevater? Nenne Söhne der Schwester deiner Mutter. Wie sind sie mit dir verwandt? Hat dein Grossvater mütterlicherseits eine Tochter. Wer ist das? Wie sagst du zu dem Sohne deiner Tante? Wie sagt dein Grossvater väterlicherseits zu deiner Mutter? Wie bist du mit deiner Schwester verwandt? Wer ist deine Cousine? Wie sagt der Vater zu dem ‚Manne seiner Tochter? Wie nennt die Schwiegertochter den Vater ihres Mannes? Wie heissen die Kinder, die keinen Vater mehr haben? Wie sagt deine Tante zu dir? Wie sagst du zu dem Vater deines Vaters? Wie bist du mit der Mutter deiner Mutter verwandt? Wie nennt ein Kind seine zweite Mntter? Wann bekommt man eine Schwägerin? Wer ist das? Wie nennt deine Schwester dich? Wie nennt der Vater seine Knaben? Wie nennen deine Schwestern deine Mutter? Wie sagt dein Oheim zu dir? In welchem Verhältnis. steht

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dein Vater zu deinem Oheime mütterlicherseits? Wie ist der Schwiegervater deines Vaters mit deiner Mutter verwandt? Von wem wirst du Urenkel genannt? Wer ist ein Pflegesohn? Wie wird die Schwester des Vaters genannt? Welcher Grossvater ist der Schwiegervater deines Vaters? Wer sagt zu deiner Mutter Tochter? Wie heisst die Schwester deines Vetters? Wer ist dein Halbbruder ? Wie nannte Jakob die Brüder Josephs? Wie sagt deine Tante zu deiner Schwester? Wer ist deine Grossmutter? Wessen Sohn ist dein Vetter? Wessen Vater ist dein Onkel? Wer sagt zu deiner Tante „Mutter“? Wie sagt dein Vater zu den Söhnen deiner Tante? Wie nennt man den Sohn des Onkels? Wer sind Geschwister? Wie sagst du zur Schwester deines Vaters? Wie nennt der Mann deiner Tante dich? Wer sind Grosseltern? Wie nennt man die Schwester seiner Frau? Wer ist der Bruder des Mannes? Wer sagt zu zu dir „Sohn“? Wie ist dein Schwager mit dir verwandt? Wer ist dein Enkel? Welcher Unterschied ist zwischen Vetter und Neffe? Wie nennst du die Töchter deines ersten Vaters und deiner zweiten Mutter? Wie sagt deine Stiefmutter zu dir? Wer sagt zu dir Schwiegertochter? Wessen Tochter ist deine Tante mütterlicherseits? Wer sind Waisen? Wie nennst du den Solın deines Bruders? Wie nennt die Tochter deiner Schwester dich? Wann wird man Schwieger- vater? Wann ist dein Grossvater zuerst Grossvater geworden? Was ist ein Stiefvater? Wie nennt man den Vater seiner Frau? Wie bist du mit dem Bruder deiner Schwester verwandt? u. s. f. u. s. f.

Dass demnach die systematische Übung der Verwandtschaftsverhältnisse unbedingt in den Lehrplan der Hilfsschule gehört, wird niemand bestreiten, welcher der Fülle von Unterscheidungen dieser Verhältnisse, wie sie in vorstehenden Zeilen zum kleinsten Teile gezeigt worden sind, ein einziges Mal sein Augen- merk zugewandt hat. Ist es nicht eine Übung des Unterscheidens, d. b. Denkens, wie kaum eine andere, wenn sie nur recht betrieben wird. Nicht alle Schüler werden das ganze Pensum verarbeiten, ımauche bleiben ganz gewiss auf halbem Wege stehen. Das darf aber den Hilfsschullehrer nicht abhalten, jede Gelegen- heit wahrzunehmen, um das in geordneter Reihenfolge Geübte bei diesen letztern zu erweitern, bei allen aber einzureihen und zu verwenden. Wenn wir ein Rechenbuch für Hilfsschulen schreiben würden, so würden wir sicherlich bei den angewandten Aufgaben anstatt der üblichen Benennungen „Anna Fritz u s. w.“ auch die Verwandtschaftsbezeichnungen in hervorragendem Maße anwenden, nicht, damit die Rechenstunde zu deren Erklärung benutzt werde, sondern hauptsächlich deshalb, damit der Lehrer gezwungen sei, mal wieder den diesbezüglichen Stoff ‚aufzufrischen. Und kommen nicht in der biblischen Geschichte, in vielen Lese- -stücken, in der Heimatkunde und bei Familienereignissen der Schüler, an welchen die Schule innigen Anteil nehmen soll, manche Fälle dieser Art vor, die zu- nächst an und für sich erörtert werden und dann den Ausgangspunkt zu einer Wiederholung oder Nachholung, jedenfalls aber zu einem kleinen ’Streifzug durch das Verwandtschaftsgebiet bilden? Versäumen wir in dieser Beziehung nichts, denn es ist eine gewaltige Übung für den schwachen Geist; sie lebrt ihn um sich schauen, wenn auch in einem engern Kreise, und bereitet infolgedessen ein

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Umschauhalten für grössere Kreise vor. Die Kinder lernen dadurch zugleich sich einfügen in die bestehende Gesellschaftsordnung durch Liebe und Gehorsam, zudem wird in ihnen das Gefühl rege, dass sie nicht allein stehen und nicht für sich allein hinträumen dürfen, sondern dass sie einer grosseu Familie ange- hören, von denen allerdings die einen Mitglieder sie mehr interessieren als andere, dass sie ferner als Mitglieder dieser Familie nicht stille stehen sollen, vielmehr tüchtig mitarbeiten müssen zu ihrem und dem allgemeinen Wohle, dabei in festem Glauben und Vertrauen den Blick nach oben wendend zu dem allgütigen Vater aller Menschenkinder.

Die Befreiung der Zöglinge der Hilfsschule vom Militärdienst.

Vortrag von A. Müller, Lehrer an der Hilfsschule in Erfurt.

„Nicht für die Schule, sondern für das Leben!“ sagt ein altes, wahres Wort. Die Schule soll erziehen für das Leben, ihre Zöglinge heranbilden zu brauchbaren und nützlichen Gliedern der Gesellschaft. Der erziehende Unter- richt soll charakterbildend wirken; das Wissen, das wir unseren Schülern über- mitteln, soll der Herausarbeitung der Persönlichkeit dienen, die Erziehung zum sittlichen Handeln das oberste Unterrichtsprinzip sein. Durch Erfüllung dieser Forderungen erzieht die Schule für das Leben. Auch die Hilfsschule, die es mit der Erziehung geistig nicht normaler Kinder zu tun hat, soll der Forderung: „Nicht für die Schule, sondern für das Leben!“ nachkommen. Ihre Zöglinge brauchen ganz besonders eine Erziehung für das Leben; ja noch mehr, diese geistigschwachen, unselbständigen, wankelmütigen und leicht verführbaren Kinder bedürfen auch nach der Schulzeit der führenden Hand des Erziehers. Daraus erwächst für die Hilfsschullehrer die Pflicht, sich der aus der Schule entlassenen Hilfsschulzöglinge anzunehmen, ihnen mit Rat und Tat beizustehen. Gar mannigfache Aufgaben sind da zu erfüllen. Ich will nur hinweisen auf die Berufswahl der Kinder, auf ihre Unterbringung bei tüchtigen Meistern, die ein Verständnis und warmes Herz für die Schwächen ihrer Schutzbefohlenen haben, auf die Fortbildungsschule, die organisch mit der Hilfsschule verbunden sein muss, auf die Einrichtung von Elternabenden, zu denen auch die ehemaligen Zöglinge der Hilfsschule mit zugezogen werden könnten. Aber mit dieser Fürsorge ist es noch nicht genug getan. Die Schwachsinnigen bedürfen eines besonderen Schutzes im öffentlichen Leben, einer besonderen Berücksichtigung in der Rechtspflege Ich erinnere hier an die Frage der verminderten Zu- rechnungsfähigkeit, an den Nacheid. Es ist darum äusserst wichtig und zweck- mässig, wenn die Schülercharakteristik ein Urteil des Lehrers über den Grad der Zurechnungsfähigkeit des Schwachsinnigen enthält, der Lehrer als Sach- verständiger vom Gericht geladen wird in Strafsachen ehemaliger Hilfsschul- kinder. So mancher geistig Schwacher ist dadurch vor dem Gefängnis bewahrt worden. Besonderer Berücksichtigung bedürfen die Schwachsinnigen auch in militärischen Angelegenheiten.

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Sind unsere Knaben den Anforderungen, die der Militärdienst an Geist und Körper stellt, gewachsen? Der Militärdienst stellt an die Itelligenz und an den Körper des Soldaten hohe Anforderungen. Der Soldat soll kriegstüchtig gemacht werden; er soll selbständig, schlagfertig und schnell handeln lernen, seine Sinne schärfen. Er soll kriegsfertig sein, alle Pflichten und Obliegenheiten seines Berufes genau kennen, die nötige Sicherheit im Weaffengebrauch und Geschicklichkeit zu allen Dienstverrichtungen besitzen. Er soll mutig und tapfer sein, vor keiner Schwierigkeit und Gefahr zurückschrecken, sein Körper stark und kräftig zum Ertragen von Beschwerden aller Art.

Und nun vergegenwärtigen wir uns das psychische Leben unserer Zöglinge mit all den Schädigungen im Empfindungs- und Vorstellungsleben, mit dem Mangel an Farben-, Zeit-, Raum-, Zahlen-, Beziehungs- und Allgemeinvorstellungen höherer Ordnung, denken wir an den Defekt nuf dem Gebiete der komplexen Vorstellungen, an die Verlangsamung des Denkprozesses und vor allen Dingen an die gesteigerte Weckbarkeit der Aufmerksamkeit und die erhehlich gestörte und herabgedrückte Konzentrationsfähigkeit derselben -- der hin und wieder auftretenden Wahn- und Zwangsvorstellungen gar nicht zu gedenken ver- gegenwärtigen wir uns ferner die Armut in ihrem Affektleben und die un- günstige Beeinflussung der Handlungen durch die ethischen und intellektuellen Defekte, die Bewegungsstörungen, den krankhaft gesteigerten Bewegungsdrang und im Gegensatz dazu die Trägheit und Langsamkeit ihrer Bewegungen, die mancherlei körperlichen Gebrechen, mit denen unsere Knaben behaftet sind, die epileptischen Anfälle: so müssen wir sagen, unsere Knaben sind den An- forderungen, die der Militärdienst an den Soldaten stellt, nicht gewachsen, sie sind unfäbig zum Dienst mit der Waffe.

Und wie geht es den geistig Schwachen während ihrer Dienstzeit, wie ge- staltet sich das Zusammenleben mit ihren Kameraden? Die bedauernswerten, in ihrer geistigen Entwicklung zurückgebliebenen Rekruten werden von ihren Kameraden gehänselt und veralbert; als die „Dummen“ sind sie die Zielscheibe des Spottes, der Gegenstand der Neckereien und schlechten Spässe. Man hat sie überall zum Besten; in der Stube, in der Kantine, auf dem Kasernenhofe, auf dem Exerzierplatze, auf dem Marsche. Wer Soldat war, weiss davon zu erzählen, was so ein armer Mensch, der zum Korporalschafts- oder Kompanie- schaf ernannt wird, zu erdulden hat.

Und was haben sie von ihren Vorgesetzten zu erwarten? Wir wissen, dass die Behandlung der Soldaten namentlich durch Unteroffiziere noch zu wünschen übrig lässt. Den Charakter eines geistig normalen Soldaten wird der Vorgesetzte mit der Zeit wohl erkennen. Ungemein schwierig aber ist es für die psychologisch und pädagogisch wenig oder gar nicht geschulten Unter- offiziere und Leutnants, das Verhalten eines geistig Zurückgebliebenen recht zu beurteilen. Da wird Unfähigkeit für Trotz und Bosheit, mangelnde Einsicht für bösen Willen gehalten, und nun folgt Strafe auf Strafe von der Strafe- Stubenjour bis zum strengen Arrest Misshandlung auf Misshandlung. Und nun versetze man sich in die Lage eines solchen armen Rekruten. Von seinen

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Kameraden gehänselt, veralbert, verspottet, von seinen Vorgesetzten beschimpft, bestraft und gemisshandelt, ist es da ein Wunder, wenn er sich zu ungesetz- lichen Handlungen, zur Desertion, Subordination, Misshandlung der Kameraden, hinreissen lässt oder Selbstmord verübt? Aus all dem Gesagten geht hervor, dass geistige Krüppel nicht Soldat werden dürfen, dass wir nichts unversucht lassen müssen, sie vom Militärdienst zu befreien.

Aber nicht nur unsere Zöglinge haben ein Interesse an ihrer Befreiung vom Militärdienst, auch die Militärverwaltung selbst. Es muss ihr doch daran liegen, nur körperlich und geistig gesunde Rekruten zur Ausbildung zu be- kommen. Auswahl ist ja genug da, und so mancher geistig und körperlich Gesunde wird als Überzähliger zurückgestellt. Jedenfalls wird durch Einstellung geistig Schwacher die Qualität des Heeres nicht erhöht. Das ist die eine Seite der Frage, und nun die andere. Unter den Soldatenmisshandiungen nehmen die Fälle, bei denen es sich um Schwachsinnige handelt, einen ziemlich hohen Prozentsatz ein. Es liegt im Interesse der Militärverwaltung, wenn der Soldaten- misshandlungen immer weniger werden. Diese Möglichkeit ist gegeben, wenn die geistig Zurückgebliebenen vom Dienst mit der Waffe befreit werden.

Ist nun eine Befreiung unserer ehemaligen Zöglinge vom Militärdienst möglich? Ja, sie ist ermögiicht auf Grund der Wehrordnung vom 22.11. 1888 8 63,7 und $ 9, Anlage 4 der Heeresordnung. $ 63,7 lautet: „Jeder Militär- pflichtige, sowie seine Angehörigen sind berechtigt, spätestens im Musterungstermine Anträge auf Zurückstellung oder Befreiung von der Aushebung zu stellen. Die Beteiligten sind berechtigt, ihre Anträge durch Vorlegung von Urkunden und Stellung von Sachverständigen und Zeugen zu unterstützen.“ Unter Hinweis auf diesen Paragraph hat seiner Zeit das preussische Kriegsministerium auf eine Eingabe des Herrn Hauptlehrers Kielhorn-Braunschweig, die Befreiung der Schwachsinnigen vom Dienst im Heere betreffend, erwidert, es sei dem Ver- langen nach „Befreiung der Schwachsinnigen vom Dienste im Heere“ Genüge getan.—

Was kann die Hilfsschule zur Befreiung ihrer Zöglinge vom Militärdienst tun? Die Hilfsschulleiter haben dafür Sorge zu tragen, dass die Schwach- sinnigen und ihre Angehörigen mit den Bestimmungen des oben erwähnten Paragraphen bekannt werden. Diese Bestimmung könnte gedruckt und dem Abgangszeugnis beigefügt werden. Als selbstverständlich muss vorausgesetzt werden, dass die Vorsteher von Hilfsschulen den Schwachsinnigen resp. ihren Eltern als Zeuge und Sachverstänndiger beistehen. Das ist der eine Weg, der ein- geschlagen werden könnte. Herr Hauptlehrer Kielborn-Braunschweig, de: in dieser wichtigen Frage die erste Anregung gegeben hat, geht folgenden Weg. Er hat mit dem Zivilvorsitzenden der Ersatzkommission zu Braunschweig ein Abkommen getroffen dahingehend, dass er jedes Jahr etwa im Februar die Gutachten über die stellungspflichtigen ehemaligen Zöglinge der Hilfsschule einreicht und ihre Ausmusterung be.ntragt. Ich kann nur empfehlen, es möchten alle Berufs- genossen dasselbe tun. Dann werden wir ein gutes Stück ırfüllen von der Aufgabe, die wir uns mitgestellt haben: Schutz den Schwachsinnigen im öffent- lichen Leben.

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Ergebnisse einer zahnärztlichen Untersuchung von 84 Kindern der Magdeburger Hilfsschulen.

Von Zahnarzt Dr. Greve, Magdeburg.

Als im Frühjahr 19023 die Schulkinder Magdeburgs zahnärztlich untersucht wur- den zwecks Aufstellung einer ganz Deutschland betreffenden Sammelstatistik, habe ich mein besonderes Augenmerk auf die Hilfsschulen gerichtet.

Untersacht wurden im ganzen 84 Kinder. Für die tatkräftige Unterstützung bei der Arbeit sage ich auch an dieser Stelle dem Leiter der Schulen, Herrn Haupt- lehrer Giese, meinen besten Dank.

Die Untersuchung hat interessante Ergebnisse gehabt. Um den gewonnenen Zahlen greifbaren Wert zu geben, stelle ich sie den aus der Untersuchung der anderen Schulkinder gewonnenen Zahlen gegenüber.

Die Hauptkrankheit der Zähne, die Zahnfäule oder Zahncaries, ist scheinbar bei den Kindern der Hilfsschulen etwas geringer, denn 5,95 °;, hatten intakte Gebisse gegenüber 3,07°/, der übrigen Kinder. Indessen mag das Zufall sein, da hier 4522, dort nur 84 Kinder untersucht wurden.

Sehr hoch ist der Prozentsatz an sogen. rachitischen Zähnen. Derartige Zähne erkennt man daran, dass sie verkrüppelt, ausgefressen aussehen, was von einer mangel- haften Schmelzbildung herrührt und wissenschaftlich als Hypoplasie bezeichnet wird. Die Zahlen sind 80,95°/ bei den Kindern der Hilfsschulen gegen 20,40°/, bei den anderen Kindern.

Da die hypoplastisch: Ausbildung der Zähne auf Rachitis zurückgeführt wird, so gewinnt der hohe Prozentsatz gerade bei Kindern der Hilfsschulen ein besonderes Interesse.

Noch interessanter aber ist dabei die Stillungsfrage. Von vielen Autoren wird behauptet, dass Rachitis lediglich dadurch entstehe, dass die Kinder nicht an der Mutterbrust genährt seien. Sieht man sich nun die Zählkarten daraufhin näher an, so ergibt sich die überraschende Tatsache, dass von den 80,95%, mit hypoplastischen Zähnen behafteten Kindern 21,43°/, von der Mutter gestillt waren, 9,52 °/ dagegen nicht. Dabei ist erwähnenswert, dass ich diejenigen Karten, auf denen diese Frage unbeantwortet geblieben war, zu den nicht gestillten gerechnet habe. Wahrscheinlich ist es indessen, dass wenigstens ein Teil davon auch gestillt wurde.

Wenn nun die Hypoplasie der Zähne in der Tat auf rachitischer Grundlage be- ruht, so geht aus der Tatsache, dass die gestillten Kinder in weit höherem Maße als die anderen damit behaftet sind, hervor, dass die Rachitis direkt nichts mit der Stillung der Kinder zu tun hat. Man wird daher zu dem Schluss gezwungen, dass vielmehr in der schlechten Nahrung (bei den gestillten Kindern in der geringeren Qualität der Muttermilch gegenüber der Tiermilch) die oder eine Ursache zur Rachitis zu suchen ist. Die Maßregeln zur Verhütung der Rachitis hätten demnach damit zu beginnen, dass für eine ergiebige Ernährung der Schwangeren und der Kinder gesorgt würde.

Unter den gefundenen Anomalien beanspruchen die sogen. kontrahierten und hochgezogenen Gaumengewölbe ein besonderes Interesse. Es wurden 2,38%), gegen 0,17%, bei den übrigen Kindern festgestellt. Dieser Unterschied in der Zahl kann

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nicht überraschen, wenn man bedenkt, dass derartige Gaumenbildungen auf einer Ver- bildung des Schädels und zwar meistens einer Deviation des Septums beruhen. Das kommt so zustande, dass aus unbekannter Ursache die basalen Schädelteile in der Entwick- lung zuräckbleiben, während die Gesichtsknochen, wozu auch die Kiefer gehören, die normale Grösse erreichen, Verhältnisse, wie sie bei Idioten in weit grösserem Maße zutreffen.

Nebenbei bemerkt findet man bei Cretins salche Verbildungen nicht, weil bei diesen sämtliche Knochen im Wachstum zurückbleiben.

Durch das erwähnte Missverhältnis werden Knochen wie z. B. die Nasenbeine, die Nasenscheidewand, die Nasenmuscheln, ferner Knochenteile, die die Augen- und die Kieforhöhle bilden helfen, verlagert, wodnrch namentlich der Nasenrachenraum eingeengt wird.

Deshalb findet man bei den Kindern an Hifsschulen auch so viele Mundatmer. Die primären Ursachen der Mundatmung sind nicht die bekannten adenoiden Wucherungen, sondern die Verengerung des Nasenrachenraumes, während die Wuche- rungen nur sekundär die Ursache sind. Die Gaumenbildung ist nicht die Folge, sondern die Ursache der Mundatmung.

Im engsten Zusammenhang mit diesen Erscheinungen stehen andere an Auge und Ohr. Namentlich sind es Strabismus (Schielen) und pathologischer Astigmatismus, die von der Schädelverbildung abhängen. Infolge Verbildung der Orbita, selbst wenn es nur in geringem Maße der Fall ist, kommt es zu einer Verbildung des Bulbus und zu anomaler Insertion der denselben bewegenden Muskeln es entsteht Astig- matismus und Strabismus.

Als Zahnarzt habe ich nur eine oberflächliche Aufnahme der Augen- und Ohr- leiden machen können. Trotzdem fand ich bei 20,240% der Kinder Strabismus; bei 8,57%, starke Myopie (Kurzsichtigkeit) und bei ebenfalls 8,57%, Hornhaut- erkrankungen, welch letztere früher von einem Augenarzt festgestellt waren. Ein Kind war auf einem Auge blind; die Ursache war nicht festzustellen. Auf Astigmatismus konnte nicht untersucht werden, doch zweifle ich garnicht, dass eine genaue augen- ärztliche Untersuchung solche nicht nur in grosser Menge finden würde, sondern auch uoch andere Fehler.

Stark schwerhörig waren 3,57, der Kinder. Ein Kind litt an Epilepsie und eines an starkem Nystagmus (unwillkürlichen Schwankungen des Bulbus).

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Die Fürsorge für Idioten und Epileptische in Württemberg. Von Sanitätsrat Dr. Wildermuth in Stuttgart. (Schluss.)

Die innere Entwicklung der Anstalten, Still, in weiteren Kreisen nur wenig beachtet, nie von dem öffentlichen Interesse getragen, wie das Irrenwosen, haben sich die Idioten- und Epileptikeranstalten entwickelt. Wandlungen im Innern ‚haben sio im Verlaufe der Jahre doch erfahren.

Es möge mir erlaubt sein, auf diese Verhältnisse einzugehen, da sie sich im wesentlichen in ganz Deutschland in derselben Weise gestaltet haben.

Wie im übrigen Deutschland ging auch in Württemberg die erste grössere Be- wegung zur Fürsorge für die Idioten von Ärzten aus, die warmherzige Menschenliebe mit ernstem wissenschaftlichen Streben vereinigten. In hohem Grade war dies bei Dr. Rösch der Fall, aber auch Dr. Müller wahrte neben allerlei pietistischen und therapeutischen Wunderlichkeiten seinen ärztlichen Standpuukt.

In erster Linie verdient Dr. Rösch ein dauerndes Andenken in der ärztlichen Welt, besonders in der Psychiatrie. Seine statistischen Erhebungen im Lande über den Kretinismus sind oben erwähnt. Sie sind in dem I. Band des Werkes „Neue Erhebungen über den Kretinismus“, das er mit Maffei von Salzburg herausgab, niedergelegt. Bösch’s Erhebungen sind für derartige Untersuchungen geradezu müstergültig. Er gibt nicht eine einfache Zählung der Kranken, er bringt bei jedem Bezirk, ja bei jedem Ort eine Beschreibung der geologischen Verhältnisse, der Wasser- versorgung, des wesentlichen Charakters, der Lebensweise der Einwohner. Einen grossen Teil der Untersuchungen hat Rösch selbst vorgenommen. Soweit ihm dies nicht möglich war, liess er sich von Ärzten und Pfarrern auf Grund von Fragebogen berichten.

Rösch hat den Begriff des Kretinismus weiter gefasst, als dies nach unseren heutigen Anschauungen zulässig ist. Er fasst eigentlich alle Formen der Idiotie unter dem Begriff der kretinistischen Entartung zusammen. Das ist unrichtig. Aber er hat völlig recht, wenn er eine Anzahl körperlicher Defekte: Kropf, Zwergwuchs, Taudbstummheit in den Kretinismus einreiht,. Die statistische Arbeit wird eingeleitet durch eine vollständisch literarisch-historische Untersuchung über den Kretinismus und näher erläutert durch eine Anzahl sehr guter Krankengeschichten, zum Teil mit Sektionsergebnissen.

Rösch hat das Hauptverdienst bei der Gründung der Anstalt in Mariaberg. Er war nicht selbst Arzt an der Anstalt, wandte aber als Vorstand des Verwaltungs- rates dem Unternehmen seine fortgesetzte Teilnahme zu. Den Ernst seines wissen- schaftlichen Strebens beweist die Zeitschrift, die er ins Leben rief: „Beobachtungen über den Kretinismus*, von der aber nur 3 Hefte erschienen sind. Das letzte wurde im Jahre 1852 herausgegeben. Der Inhalt der auch äusserlich sehr gut aus- gestatteten Zeitschrift war reichhaltig. Von ihrem Inhalt erwähnen wir die durchaus wissenschaftlichen Jahresberichte aus Mariaberg, Pathologisch-anatomische Abhandlungen von F. Betz in Heilbronn, „Mikroskopisch-chemische Unter- suchungen des Blutes, Stuhles und Harnes schwachsinniger Kinder* von Erlenmeyer in Bonn, „Über das Irresein im kindlichen Alter und dessen Zusammenhang mit dem Kretinismus“ von Röseh. Eingehende „Geschichtliche Mitteilungen über die Verbreitung des Kretinismus in der Schweiz vor dem Jahre 1840“ brachte Dr. Mejer-Ahrens-Zürich. „Betrachtungen über die mutmassliche Genesis des Kretinismus in den Tälern von Chamounix und Aosta“ rühren von Dr. F. K Stahl in Sulzheim her.

Ausserdem enthält das Blatt eingehende Mitteilungen über den Fortgang der Idiotenfürsorge und kritische Besprechungen der Literatur auf diesem Gebiete.

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Rösch wurde in die politische Bewegung der 48er Jahre verwickelt, ist später nach Amerika ausgewandert und in St. Louis im Jahre 1867 gestorben. Er war der württembergische Arzt, der auf dem Gebiete der Idiotie wissenschaftlich und praktisch am meisten geleistet hat. Die Anregung, die er gegeben, hielt noch einige Zeit an. Vom Jahre 1850—58 war der Professor der Medizin in Tübingen, Dr. Autenrieth, Vorstand des Verwaltungsrates. Von ihm stammt eine ganz hübsche Abhandlung im IX. ‚Jahresbericht der Mariaberger Anstalt, in der die historische Entwickelung der Ansichten über Gehirn und Seele bis zur Zeit der Reformation dar- gestellt wird. 1858—1859 trat Griesinger an seine Stelle. Er ist der Verfasser des XII. Jahresberichtes der Anstalt, in dem er in kurzen Zügen die wesentlichen Formen der Idiotie skizziert und namentlich scharf den Kretinismus von der nicht endemischen Idiotie scheidet. An einer Stelle sagt Griesinger, nachdem er über die praktischen Aufgaben der Anstalten gesprochen:

„Die Anstalten für schwachsinnige Kinder haben noch eine andere grosse Be- deutung. Ganz wie man von den Geisteskrankheiten erst etwas Zusammenhängendes, theoretisch Sicheres und praktisch Brauchbares weiss, seit es möglich ist, diese Kranken in zweckmässigen Irrenanstalten zu beobachten, so kann auch von den kaum be- gonnenen Studien über den angeborenen und in früher Jugend eingetretenen Blödsinn nur durch lang fortgesetzte, allein in den Anstalten mögliche treue und sorgfältige Beobachtung ein Resultat erwartet werden.“

Griesinger erinnert dann an die wissenschaftlichen Leistungen Rösch's, „deren Wiederaufnahme und Fortsetzung nach Kräften angestrebt werden soll“.

Griesinger's Erwartung ist nicht in Erfüllung gegangen.

Die erste Periode in der Entwickelung des Idiotenwesens wir können sie als die ärztlich-philanthropische bezeichnen ging zu Ende. Die zweite Periode steht in engem Zusammenhang mit dem Wiederauflebon einer planmässigen christlichen Wohltätigkeit, namentlich in protestantischen Kreisen, mit den Organisationen und Bestrebungen, die man unter dem Namen der „Innern Mission“ zusammenfasst. Ihre Leistungen verdienen alle Anerkennung. Die be- stehenden Anstalten wurden vergrössert und verbessert, in ganz Deutschland neue gegründet. Die Bewegung war und ist streng konfessionell, geistlich - pädagogische Gesichtspunkte treten in den Vordergrund.

Die Hauptstärke besonders auch in den württembergischen Anstalten war von Anfang an der Schulunterricht. Er hat sich unter der verdienstvollen Tätigkeit von Männern, wie Landenberger, Kölle, Pfarrer Schall, Lehrer Thumm in Stetten Rall in Mariaberg u. a. zu einem pädagogischen Spezialfach entwickelt.

Auch der gewerbliche und landwirtschaftliche Betrieb und Unterricht hat in den letzten Jahrzehnten grosse Fortschritte gemacht.

Die ärztlich-wissenschaftliche Tätigkeit trat in den Hintergrund Nirgends war der Arzt an leitender Stelle, höchstens war er koordiniert, und erst in allerneuester Zeit ist dem Arzt der grössten Anstalt des Landes gestattet und ermöglicht worden, seine Kraft ausschliesslich der Anstalt zu widmen. Die Folgen sind nicht ausgeblieben. Es lässt sich nicht leugnen, dass nach den vielversprechenden Anfängen der 40er und 50er Jahre eine Stagnation in der Erforschung der idiotischen

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Zustände eingetreten ist. Nur vereinzelt sind aus den Idiotenanstalten wissenschaftliche Arbeiten geliefert worden. Jahr für Jahr geht ein unschätzbares klinisches und anatomisches Material verloren, obgleich besonders der anatomische Stoff nach dem Stand unserer Kenntnisse für die Untersuchung dankbarer ist als der der Irrenanstalten.

Die vielen anderen Gründe, die in unmittelbarem Interesse der Pfleglinge gegen diese Zurückdrängung des ärztlichen Einflusses und für Einführung der ärztlichen Leitung der Anstalten sprechen, sollen hier nicht angeführt werden. Das ist schon zur Genüge geschehen und man wird es müde, immer wieder dieselben Klagen zu erheben. Es hilft ja doch nichts!

Die Zurückdrängung der ärztlichen Wirksamkeit an diesen Anstalten steht in engem Zusammenhang mit dem Verhalten des Staates. Er hat sich um Idioten- und Epileptikerfürsorge äusserst wenig gekümmert und sich auf die Gewährung erheblicher oder unerheblicher Beiträge und Medizinalvisitationen beschränkt. Das war, mit Ausnahme des Königreichs Sachsen, bis auf die allerneueste Zeit in Württem- berg nicht schlechter als im übrigen Deutschland.

Erst seit Erlass des Gesetzes vom 11. Juli 1891 ist in Preussen eine staatliche Fürsorge angebahnt worden. Dieses Gesetz bestimmt, dass die einzelnen Provinzen verpflichtet sind, „für Bewachung, Kur und Pflege der hilfsbedürftigen Geisteskranken, Idioten, Epileptischen, Taubstummen, Blinden, soweit dieselben der Anstaltspflege bedürfen, in geeigneten Anstalten Fürsorge zu treffen“. In einzelnen Provinzen, wie in der Provinz Sachsen, ist diese Bestimmung schon in grossartige Weise durchgeführt worden, in anderen, z. B. der Rheinproviuz, wird dies in kurzem der Fall sein.

In diesen Neuschöpfungen wurde die Organisation der Anstalten nach Art. der Irrenhäuser mit ärztlicher Direktion in einer Weise ausgeführt, die den Anschauungen und Wünschen der Psychiatrie durchaus Rechnung trägt.

Damit ist in dem leitenden deutschen Staat für die Idioten- und Epileptikerfürsorge eine neue Periode angebrochen: die Organisation der Anstalten nach Art der Irrenanstalten mit ärztlicher Oberleitung.

Dass es auch in Württemberg durchaus nötig wäre, dass der Staat sich um Idioten und Epileptische kümmere, geht aus den angeführten Zahlen zur Genüge hervor. Hier sind Aufgaben zu lösen, der die Privatwohltätigkeit nicht mehr ge- wachsen ist. Der Überfüllung der Anstalten dadurch abzuhelfen, dass man die Idioten in Landarmenanstalten mit allen möglichen anderen Defekten zusammen unterbringt, ist ein übler Ausweg. Es bedeutet die Rückkehr zu dem wenig berühmten Prinzip der englischen „Almshouses*.

Auch die Angliederung einer Abteilung von Schwachsinnigen an die Diakonissen- anstalt in Hall, die im wesentlichen ganz anderen Zwecken dienen muss, ist ein un- genügender Notbehellf.

An eine Änderung dieses Zustandes, an eine staatliche Regelung der Idioten- und Epileptikerfürsorge, wie sie in den preussischen Provinzen in die Wege geleitet worden ist, ist in Württemberg in absehbarer Zeit gar nicht zu denken. Selbst wenn an leitender Stelle der Wille dazu vorhanden wäre, so würde es an den nötigen

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Mitteln fehlen. Alles, was der Staat in dieser Richtung aufwenden kann, wird auf Jahre hinaus von der Irrenfürsorge in Anspruch genommen werden.

Wir müssen zum Schluss also feststellen, dass sich in Württemberg die Idioten- und Epileptikerfürsorge noch völlig in dem Stadium der geist- lich-konfessionellen Leitung befindet.

Mitteilungen.

Erfurt. (Hilfsschultag.) Am Sonntag, den 6. September, vormittags 10 Uhr, fand in Roses Restaurant die erste Versammlung der Lehrer und Lehrerinnen der Hilfsschulen der Provinz Sachsen, Thüringens und Anhalts statt. Es waren die Hilfsschulen folgender Städte vertreten: Magdeburg, Nordhausen, Mühlhausen, Eisenach, Gotha, Erfurt, Weimar, Saalfeld, Pössneck und Meiningen.

Nach der Begrüssung durch Herrn Hauptiehrer Kannegiesser-Erfurt wurden für die Leitung der Versammlung folgende Herren gewählt: Hauptlehrer Kannegiesser als Vorsitzender, Lehrer Busch-Magdeburg zu dessen Stellvertreter und Lehrer Ahl- Erfurt zum Schriftführer.

Hierauf ergriff Herr Kannegiesser Jas Wort, indem er zunächst noch einmal die Bedürfnisfrage nach einer Vereinigung darlegte und sprach sodann über Zweck, Aufgabe und Form derselben,

In der darauffolgenden Besprechung wurden folgende Sätze angenommen:

1. Wir bilden eine freie Vereinigung der Lehrer und Lehrerinnen an den Hilfsschulen der Provinz Sachsen, Thüringens und Anhalts ohne Satzungen und feste Beiträge.

2. Erfurt ist ständiger Vorort unter dem Vorsitz des Herrn Hauptlehrer Kannegieosser. i

8. Die freie Vereinigung bezweckt die Pflege des Hilfsschulwesens.

4. Alljährlich werden im Herbste Wanderversammlungen abgehalten und zwar in denjenigen Orten der Provinz Sachsen, Thüringens und Anhalts, in welchen sich Hilfsschulen befinden.

Es erscheint hierbei wünschenswert, dass solche Orte berücksichtigt werden, in welchen grössere Lehrerversammlungen tagen.

Sodann hielt Herr Lehrer A. Müller-Erfurt einen Vortrag über: Die Be- freiung unserer Schwachsinnigen vom Militärdienste Im Anschluss an den in dieser Zeitschrift erscheinenden Vortrag ersuchte Referent die Teilnehmer der Versammlung im Februar des kommenden Jahres hiernach die geeigneten Schritte zu tun und ihm ihre dabei gemachten Erfahrungen mitzuteilen.

Die nächste Versammlung wird 1904 während der Herbstferien in Halle a S. abgehalten werden. Auf allseitigen Wunsch erfolgte nach dem gemeinsamen Mittags- mahle die Besichtigung der Erfarter Hilfsschule. A.

Grossherzogtum Hessen. (Gemeinsame Konferenzen.) Geleitet von dem Gedanken, dass es von eminenter Bedeutung sei, wenn sich die Kollegen der Hilfs- schulen ab und zu zusammenfinden, um die gegenseitigen E:fahrungen auszutauschen, um Fragen aus der Praxis zu besprechen und zu diskutieren, um über die neuesten

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-Literaturerscheinungen zu referieren, wurde voriges Jahr die Abhaltung gelegentlicher Konferenzen verabredet. Unsere erste solche Zusammenkunft, bei der die Städte Mainz, Darmstadt und Worms vertreten waren, wurde in Gross-Gerau ab- gehalten. Auch unsre zweite Versammlung fand ebendaselbst am 27. Juni statt. Zu derselben waren auch Vertreter von Frankfurt und Idstein erschienen. Die dritte Konferenz soll Samstag, den 24. Oktober in Frankfurt stattfinden und hoffen wir daselbst wieder vertreten zu sehen Frankfurt, Idstein, Mainz, Darmstadt, Offenbach und Worms. Wünschen wir der Versammlung im Interesse der edlen Sache den besten Erfolg.

Mainz. (Schüler ohne Finger.) Wir haben hier in unserer Hilfsschule ein ganz cigenartiges Kurosium aufzuweisen. Durch Beschluss des Schulvorstandes wurde uns nämlich ein siebenjähriges Mädchen überwiesen, das ohne Finger geboren ist. Nur an der linken Hand befindet sich an der Stelle des kleinen Fingers ein Ansatz, mit dem es fasst und auch beim Schreiben den Griffel führt. Auf Verwendung der Lehrerin und des Schularztes hin wird nun durch einen hiesigen Bandagisten eine Vorichtung konstruiert, um dem Kind das Schreiben mit der rechten Hand zu er- möglichen.

Nürnberg. (Internationaler Kongress für Schulhygiene.) In der ersten Märzwoche 1904 wird in Nürnberg der erste internationale Kongress für Schulhygiene tagen. Die Einladung zu demselben ist von den ersten und hervorragendsten Hygienikern unterzeichnet und wendet sich an alle, welche an der schulhygienischen Förderung Interesse besitzen. Der Kongress wird seine Arbeiten in folgende 10 Ab- teilungen zerlegen: Hygiene der Schulgebäude und ihrer Einrichtungen. Hygiene der Internate.. Hygienische Untersuchungsmethoden. Hygiene des Unterrichts und der Unterrichtsmittel. Hygienische Unterweisungen der Lehrer und Schüler. Körperliche Erziehung der Schuljugend.. Krankheiten und Kränklichkeitszustände und ärztlicher Dienst in den Schulen. Hilfsschulen für Schwachsinnige, Parallel- und Wiederholungsklassen, Stottererkurse, Blinden- und Taubstummenschulen, Krüppelschulen. Hygiene der Schuljugend ausserhalb der Schule, Ferienkolonieen und Organisation von Elternabenden. Hygiene des Lehrkörpers. Vorsitzender des Ortsausschusses ist Oberarzt Hofrat Dr. Stich und das Schriftführeramt liegt in den Händen der Lehrer A. Dörr und Degebeck.

Worms. (Unsere Entlassenen.) Bei unserm schweren und aufreibenden Beruf gibt es immerhin auch Momente, die uns erfreuen, erheben und mit neuem Mut beleben. So freuen wir nns besonders, wenn wir sehen, wie der schwache kind- liche Geist sich aus den tausend Fesseln löst und langsam entwickelt, wenn wir sehen, wie das arme Kind schlieslich doch erwerbsfähig gemacht wird und im öffent- lichen Leben keinen Schiffbruch leidet. Mit uusern bereits entlassenen Kindern haben wir bis jetzt glücklicherweise auch noch keine Enttäuschung erlebt. Wie wir durch Besuche im Elternhaus, durch Nachfrage bei den Lehrherrn und auf der Polizei fest- stellen konnten, ist noch keines derselben wegen einer gröberen Verfehlung mit der Polizei in Konflikt geraten. Bis jetzt haben wir 22 Kinder entlassen, nämlich 11 Knaben und 11 Mädchen. Von den 11 Knaben sind: 1 Fuhrmann, 1 bei seinen Eltern, 1 Gärtner, 1 Metzger (im Betrieb seines Vaters), 1 Taglöhner, 1 Schlosser und

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5 Fabriker. Bei den letzteren 5 wurde namentlich dafür gesorgt, dass sie in Werk- stätten kamen, wo Vater oder Brüder waren. Von den Mädchen sind: 1 bei den Eltern, 1 Kindermädchen, 2 in der Fabrik, 2 Büglerinnen und 5 Näherinnen. Sonst haben wir noch 7 Abgänge zu verzeichnen. 2 Kinder mussten nämlich wegen hochgradigen Schwachsinns der Idiotenanstalt Bessungen überwiesen werden; 3 Kinder gingen ab wegen Wegzugs der Eltern und 2 Kinder verloren wir durch Tod. Beide litten an Lungenschwindsucht.

Zürich. (Gegenwärtiger Stand der Fürsorge für die geistessch wachen [schwachsinnigen] Kinder in der Schweiz.) Im Anfang dieses Jahres wurde vom Vorstand der schweizerischen Konferenz für das Idiotenwesen eine Statistik über die am 1. Februar 1908 in der Schweiz bestehenden Anstalten für Schwach- sinnige und Schulen für Schwachbegabte aufgenommen. Die Ergebnisse derselben sowie überhaupt der Stand der Fürsorge für die Geistesschwachen in den einzelnen Schweizerkantonen wurden den Teilnehmern der IV. Schweiz. Konferenz für das Idiotenwesen in Luzern (Mai 1903) in einem längern Referate vorgeführt. Fassen wir das wichtigste hier kurz zusammen.

Es bestehen gegenwärtig in der Schweiz 22 Erziehungs- und Pflegean- stalten für geistesschwache Kinder mit 867 Insassen, während im Jahre 1897, wo die erste eidgenössische Zählung der schwachsinnigen, gebrechlichen und verwahrlosten Kinder stattfand, erst 411 Kinder in 13 Anstalten versorgt waren. Rechnet man die in den beiden Anstalten für Epileptische in Zürich und Bern befindlichen schwach- sinnigen Pfleglinge dazu, so ergibt sich eine Gesamtzahl von 958 in Anstalten ver- sorgten geistesschwachen Kindern. Unter den 867 erstgenannten Kindern befinden sich 663 bildungsfähige, 120 bildungsunfähige, 59 taubstumme und 25 epileptische. Die älteste dieser 22 Anstalten ist Zürich - Hottingen, gegründet 1849, die grösste St. Josef- Bremgarten, die augenblicklich 221 Zöglinge hat. Seit ihrer Gründung haben sämtliche Anstalten zusammen 3028 Kinder, 1630 Knaben und 1398 Mädchen, aufgenommen.

Fast ausschliesslich verdanken diese Anstalten ibre Entstehung christlicher Liebestätigkeit oder gemeinnützigen Korporationen; seit einer Reihe von Jahren erhalten dieselben aber auch Beiträge des Staates, hauptsächlich aus den Erträgnissen des Alkoholmonopols. Der Staat hat seine Pflicht erkaunt; mehrere der in nächster Zeit zu errichtenden Anstalten werden auf staatlichem Boden stehen. Andererseits ruht der gemeinnützige und wohltätige Sinn privater Kreise nicht; so sind in dem kleinen Kantone Glarus innerhalb Jahresfrist 100 000 Fr. auf freiwilligem Wege zur Gründung einer kantonalen Anstalt für Schwachsinnige gesammelt worden. Für die bildungsunfähigen (blödsinnigen) Kinder geschah bis jetzt verhältnismässig weniger; auch hierin soll und wird es besser werden. Zürich geht hier mit gutem Beispiel voran; die neue kantonale Pflegeanstalt für geistesschwache (blöds.) Kinder in Uster, für mindestens 50 Pfleglinge berechnet, kommt noch dieses Jahr unter Dach.

Auch die Frage der besonderen Fürsorge für die schwachsinnigen taub- stummen Kinder, von dem kürzlich verstorbenen Direktor Erhard, St. Gallen, an- geregt und befürwortet, wird in Bälde ihre Lösung gefunden haben; Schloss Turben-

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thal (Kt. Zürich) wird, als erste schweizerische Anstalt für schwachsinnige Taubstumme, im Frühjahr 1904 eröffnet werden.

Die Statistik über die in der Schweiz gegenwärtig vorhandenen Spezialklassen (Hilfsschulen) für Schwachbegabte ergibt für die letzten Jahre ebenfalls eine be- trächtliche Zunahme. Es bestanden nämlich im Sommer 1903 58 Hilfsklassen mit beinahe 1200 Schülern, was gegenüber von 1897 eine Zunahme von über 100%, bedeutet.

Ein für die Schüler der Spezialklassen und Erziehungsanstalten für Schwach- sinnige bestimmtes Lesebueh ist von einigen Lehrern in Zürich, Winterthur und St. Gallen bearbeitet worden und im Sommer dieses Jahres erschienen. Das reich illustrierte, best ausgestattete Lehrmittel „Mein Lesebüchlein * besteht aus 3 Teilen; es ist bereits an den meisten Schulen und Anstalten für Geistesschwache, auch an einigen Taubstummenanstalten, der Schweiz eingeführt und erfährt eine günstige Be- urteilung. (Verlag: K. Jauch, Lehrer, Zürich II, Preis für alle 3 Teile 1 fr. 80 ct.)

Endlich bestehen an einigen Orten, besonders in den Kantonen Appenzell und St. Gallen, in vielen kleineren Gemeinden, Nachhilfeklassen für Schwachbegabte Die schwachen Kinder erhalten hier von Lehrern der Normalklassen teils vor, teils nach der gewöhnlichen Schulzeit einen besondern, individualisierenden Unterricht. Man ist sich wohl bewusst, dass diese Nachhilfeklassen nur ein Notbehelf sind und die eigentlichen Hilfsklassen nicht zu ersetzen vermögen; immerhin wirken sie Gutes und sind an den Orten, wo die Errichtung einer Spezialklasse untunlich ist, zu begrüssen. Noch dieses Spätjahr wird das Bundesgesetz betr. die Unter- stützung der schweiz. Volksschule durch Bundesgelder in Wirksamkeit treten; dasselbe wird den Kantonen Mittel in die Hand geben, auch für Erziehung und Aus- bildung der geistesschwachen Kinder mehr als bisher zu tun. Es ist daher zu hoffen, dass die Bestrebungen der Freunde dieser armen Kinder immer mehr sich verwirk- lichen werden. Beiläufig sei noch erwähnt, dass der gedruckte Bericht über die Verhandlungen der IV. Schweiz. Konferenz f. d. Idiotenwesen in Luzern beim Präsidenten derselben, Herrn Sekundarlebrer Auer in Schwanden - Glarus, à 1 fr. 50 ct. zu be- ziehen ist. H. Qraf.

Literatur.

Die Hilfsschulen für sehwachbefähigte Kinder in ihrer Entwickelung, Bedeutung und Organisation. Darg stellt von F. Frenzel, Leiter der städt. Hilfsschule in Stolp in Pommern. Hamburg und Leipzig. Verlag von Leopold Voss. 1903. Preis Mk. 1.

Vorliegendes Buch gibt eine kurze Darstellung über die Entstehung, Bedeutung und Organisation der Hilfsschulen. Der Entstehung und Entwicklung der Hilfs- schule ist das 1. Kapitel gewidmet, in dem die Zeit bis zum Reformationszeitalter als die- jenige bezeichnet wird, in welcher für die Blöden und Schwachen eine Fürsorge nicht bestand. Sie teilten das Los der Geisteskranken überhaupt und der Viersinnigen. Aber auch das 17. und 18. Jahrhundert änderte an dem Schicksale der Geistesschwachen wenig, und nicht selten kam es vor, dass Geisteskranke und Geistesschwache für Hexen und Zauberer gehalten und verfolgt wurden. Eine vernünftige Auffassung des Zustandes dieser

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Unglücklichen brach sich erst Bahn mit dem Aufblühen der Naturwissenschaften, aber wenn auch hier und da einzelne Anfänge von einer Fürsorge für die Geisteskranken und Idioten vor die Erscheinung traten, so hatten dieselben nur eine lokale Bedeutung. Erst dem 19. Jahrhundert war es vorbehalten, Wandel zu schaffen. Zunächst ent- standen Anstalten, einzelne von Ärzten, die meisten jedoch von Geistlichen und Pädagogen begründet. In den sechziger Jahren schritt man zur Errichtung von Hilfs- schulen, deren Zahl in Deutschland gegenwärtig annähernd 200 beträgt. Weit be- trächtlicher würde ihre Zahl sein, wenn seiten aller Einzelregierungen die Einschulung schwachbegabter Kinder in Hilfsschulen gesetzlich geregelt würde, wie solches zuerst in Sachsen und darnach in Braunschweig geschah. Vielleicht trägt zur Erreichung dieses Zieles der 2. Abschnitt des Buches bei, in dem der Verfasser sich über die Notwendigkeit und den Nutzen der Hilfsschulen verbreitet. Über die Frage, welche Kinder eigentlich in die Hilfsschule gehören, spricht Verfasser im 3. Abschnitte, während im 4. und 5. Abschnitte die erziehlichen Aufgaben nnd die Schuleinrichtungen und Unterrichtsmaßnahmen der Hilfsschule behandelt werden. Eingehend verbreitet sich das Buch über den Lehrplan der Hilfsschulen und über die Frage der Schülerzahl der einzelnen Klassen Einen besonderen Abschnitt (8.) widmet Verfasser dem Lehrer der Hilfsschule. Als höchste Schülerzahl der einzelnen Klassen bezeichnet Verfasser 15—20, wir halten dies für zu reichlich bemessen und möchten einer Klasse nicht mehr als höchstens 15, den unteren Klassen aber nie mehr als 10 Kinder zugeteilt sehn. In jeder Beziehung stimmen wir den Forderungen bei, welche Verfasser inbetreff der Lehrer stellt, und ebenso teilen wir seine Ansichten über die Tätigkeit des Arztes in den Hilfsschulen und über zu schaffende Einrichtungen zur Fürsorge für die aus der Hilfsschule Entlassenen. Wir empfehlen das Buch, das auf jeder Seite den erfahrenen Hilfsschulmann erkennen lässt, und das durch sein Literaturverzeichnis auch zum Weiterstudium ein vortrefflicher Wegweiser ist, aufs angelegentlichste. W. S.

Die Kurzsichtigkeit, ihre Entstehung und Bedeutung. Von Dr. J. Stilling, Prot der Augenheilkunde zu Strassburg i. Els. Berlin 1908. Verlag von Reuther & Reichard. 75 Seiten. Preis Mk. 2.

Die vorliegende Schrift behandelt in einer gemeinveretändlichen Abhandlung das Wesen, die Entstehung und Bedeutung der Kurzsichtigkeit (Myopie), Zunächst weist per Verfasser nach, dass dieser Mangel des Gesichts zu allen Zeiten bestanden habe, insbesondere bei den Kulturvölkern. Als Ursache der Kurzsichtigkeit stellt er neben anatomischen Abweichungen im Augenbau vorzüglich die Nahearbeit bin. Zur Ver- meidung der Kurzsichtigkeit in der Schule ist nach seiner Empfehlung auf gute Beleuchtung, zweckmässige Körperhaltung, passende Subsellien und guten Bücherdruck zu halten. Es steht zu erwarten, dass mit der Vervollkommnung unsrer Bildungs- mittel und mit dem allgemeinen sozial-hygienischen Fortschritt unsres Volkes auch eine Abnahme der Kurzsichtigkeit eintreten werde. Wer ein interessantes Kapitel aus der vielversprechenden Wissenschaft der sozialen Hygiene studieren will, dem sei die vorliegende Abhandlung, welche den Gegenstand erschöpfend und wissenschaftlich behandelt und eine Fülle interessanter Beobachtungen bietet, warm empfohlen, vor allen den Schul- und Anstaltsärzten.

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Schule und Rückgratsverkrüämmung. Eine schulhygienische Studie von Dr. W. Schulthess, Privatdozent in Zürich. Hamburg und Leipzig 1902. Verlag von Leopold Voss. 40 Seiten. Preis Mk. 0,80.

Dass die Schule sich auch die körperliche Fürsorge ihrer Zöglinge angelegen lassen sein muss, wird immer mehr dringende Forderung der Schulhygieniker. Eine ganz bedeutende Anzahl von Schriften, welche die verschiedensten Wünsche in schulbygienischer Beziehung zum Ausdrucke bringen, ist bereits erschienen, ihre Zahl aber wächst noch weiterhin. Die vorliegende Schrift will einen Beitrag zur Lösung der schulhygie- nischen Fragen bieten und uns mit den Rückgratsverkrümmungen von Schülern mit besonderer Hervorhebung derjenigen, welche durch die Schuld der Schule hervorge- rufen worden, bekannt machen. Der Verfasser skizziert zunächst die verschiedenen Formen der Rückgratsverkrümmungen und verbreitet sich dann über die Mittel und Wege, welche die Schule zu gebrauchen hat, um den Rückgratsverkrümmungen entgegenzuarbeiten. Wir müssen seine Forderungen durchaus billigen und empfehlen namentlich unsern Anstalten und Schulen die gegebenen Ratschläge zur Beherzigung. Die Ausführungen sind klar und bestimmt und werden durch die beigegebenen Abbildungen bestens erläutert Es könnte nur unsern Schülern zum Vorteil gereichen, wenn wir aufmerksam auf die zweckmässigen Ratschläge, welche in der Schrift gegeben werden, hören und sie befolgen möchten.

Silberfibel für Schule und Haus nebst ausführlichen Anweisungen. Leichteste, sicherste und vorteilhafteste Lesemethode, nach der wohl jeder Vater und jede Mutter unterrichten kann. Von Ernst Lehmann, Lehrer. Wenigenjena 1903. Selbstverlag des Verfassers. 32 Seiten. Einzelpreis gegen Postanweisung frei vom Verfasser Mk. 1,—, für die Herren Buchhändler und Kollegen 85 Pf.

Dieser vielversprechende Titel einer Fibel liesse vermuten, dass nun das Problem der Fibelfrage endgültig gelöst wäre. Die Idee, gleich zu Anfange ganze Silben zu lesen, ist schon vor vielen Jahren in der „Hiobfibel‘“ durchgeführt worden. Bei den ersten Leseübungen einzelner Laute soll bereits ein ganzer Gedanke ausgedrückt werden; die Schüler zeigen z. B. das o und lesen: o ein Bündel Stroh etc. Um das Behalten der einzelnen Laute den Schülern zu erleichtern, sind neben den Bildchen kleine Verse gedruckt, die oft eigenartig anmuten, wie z. B. dagegen kann die Kuh ganz sicher schon das u. Siehst du dies Bündel Stroh —, so liest du auch schon o ete. Unserer Ansicht nach kommen die Doppellaute au, ei, eu und der Um- laut ä schon zu zeitig zur Behandlung; sie liessen sich sehr gut für später aufheben. Zweilautige Silben treten bald auf; leider ist hierbei das phonetische Prinzip wenig berücksichtigt. Mit den zweilautigen Silben wird das Silbenlesen geübt, welches den Grundstock des Lesens bildet. Stets soll dabei den Kindern auch ein Sprachinhalt gegeben werden, so dass die Silben dadurch bedeutungsvoll werden. Durch Beziehung aufeinander soll der Konzentration Rechnung getragen werden. Es sind in letzter Zeit so viele neue Fibeln erschienen, dass es geboten erscheint, jede Neuerscheinung mit einem gewissen Mass von Vorsicht aufzunehmen. Wir raten deshalb zur Prüfung dieser Methode durch einzelne Versuche.

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Miütterfibel. Eine Anleitung für Mütter, ihre Kinder selbst lesen zu lehren. Von Berthold Otto. Leipzig 1903. ni von K. G. Th. Scheffer. 128 Seiten. Preis Mk. 2,40.

Die Schrift bildet in der Hauptsache eine Anleitung zur - Einführung der Kinder in eine vernünftige Jautbildung, Lautzusammensetzung und Jerlegung der Wörter in Laute. Sie behandelt also die theoretische Vorarbeit zum Lesenlernen, die von den Müttern auf Grund der vorliegenden Anweisungen geleistet werden kaun. Die Kinder sollen nach diesem Verfahren genau lernen, an welcher Stelle des Mundes jeder einzelne Lant gebildet wird und welche besondere Bewegung nötig ist, um ihn zu erzeugen, d. h. sie lernen die Laute in ihrer Entstehung begreifen, Daher nennt der Verfasser sein Verfahrem „begriffliche Methode“ des Lesenlernens. Jedem Laute wird mit Bezug auf seine Bildung ein entsprechender Name gegeben, z. B. a = Öffner, e Drücker, i = Quetscher, o = Runder, u = Spitzer. Das Wort „Lampe“ wird folgendermaßen zerlegt: Zungenbrummen (l), kurzer Öffner (a), Lippenbrummen (m), Lippenstoss (p), kurzer Drücker (e). Die Kinder erhalten also für jeden Laut einen Namen, der in innigster Beziehung zu seinem Wesen steht. Es lässt sich nicht leugnen, dass ein solches Verfahren das I,esenlernen gut und erspriesslich vorbereiten und eine phonetische Schulung der Kinder erzielen wird, wie sie bisher keine Lose- lehrmethode erreicht haben dürfte. Die Idee der phonetischen Schulung im ersten Leseunterrichte halten wir durchaus für berechtigt, allein "die Einführung der Kinder in einen ganzen Apparat von Benennungen, die später im wirklichen Lesen ganz ver- schwinden, erscheint uns zu umständlich und überflüssig. Der Schwerpunkt beim Lesenlernen wird hauptsächlich auf eine innige Verbindung von Laut und Lautzeichen zu legen sein, allerdings kann eine phonetische Schulung der Kinder nach der Weise des Verfassers dem Lesenlernen goldene Brücken banen. Daher empfehlen wir die Vorschläge des Verfassers unseren Lesern zur Beachtung und raten zum Versuchen und Prüfen derselben. Die ganze Schrift zeichnet sich. durch klare Gliederung und übersichtliche Darstellung der Gedanken, die in pädagogischer und didaktischer Beziehung mancherlei Anregungen bieten, vorteilhaft aus; kein Leser wird das Buch ohne Nutzen aus der Hand legen.

Anhalt. Die Stellung des Arztes an der Hilfsschule, die Stellung des Lehrers Schwachsinniger zur Medizin in früherer Zeit. (Dr. Berkhan.) Wie vermittelt die Hilfsschule ihren Zöglingen die Kenntnis der verwandtschaftlichen Verhältnisse. (H. Horrix) Die Befreiung der Zöglinge der Hilfsschule vom Militärdienste. (A. Müller.) Ergebnisse einer zahnärztlichen Untersuchung von 84 Kindern der Magdeburger Hilfsschule. (Dr. Greve.) -- Die Fürsorge für Idioten und Epileptische in Württemberg. (Dr. Wildermuth.) Mitteilungen: Erfurt, Grossherzogtum Hessen, Mainz, Nürnberg, Worms, Zürich. Literatur: Frenzel, F., Die Hilfsschulen für schwach- befähigte Kinder. Stilling, Dr. J., Die Kurzsichtigkeit. Schulthess, Dr. W., Schule und Rückgratsverkrümmung. Lehmann, E., Silberfibel. Otto, B., Mütterfibel.

Für die Schriftleitung verantwortlich: W, Schröter in Dresden. Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hofbuchhandlung in Dresden. Druck von Johannes Pässler in. Dresden.

16 J4 | a Nr. 11 u. 12. XIX. (ll) Jahrg.

Zeitschrift

für die

Behandlung Schwachsinniger und KDleptscher

Organ der Konferenz für das ; Idiotenwesen.

Unter Mitwirkung von Ärzten und Pädagogen herausgegeben von Stadtrat Direktor W. Schröter, _Sanitätsrat Dr. med. H. A. Wildermuth,

Spezialarzt

Drenden - Strehlen, für Nervenkrankheiten

Residenzstrasse 27. in Stuttgart Erscheint jährlich in 12 Nummern von | Zu nenenen durch alle Buchhandlungen nindestens einem Bogen. Anzeigen ron | Dezember 1903 und Postämter, wie auch direkt von der

lie gespaltene Petitzelle 25 Pfg. Lite- « ;, Schriftleitung. Preis pro Jahr 6 Mark, rarische Bellagen 6 Mark. | einzeine Nummer 50 Pfg.

Die Original - Aufsätze dieser Zeitschrift verbleiben Eigentum der Herausgeber.

Die Auswechslung von Schülern in den Hilfsschulklassen. Im Lichte der Praxis dargestellt von Hilfsschulleiter Wettig, Mainz.

Kielhorn, der rührige und verdiente Hilfsschulveteran, welcher seit 1881 die Braunschweiger Hilfsschule leitet, hat zum 2. Verbandstag deutscher Hilfs- schulen zu Kassel 1899 über die Organisation der Hilfsschule eine Reihe von Thesen vorgeschlagen. Die Beratung derselben erstreckte sich bis jetzt über drei Verbandstage, nachdem der Verbandsvorstand zuvor eingehende Spezial- beratungen darüber gepflogen. Auf dem Mainzer Verbandstage wurde unter anderın auch die nachstehende These widerspruchslos angenommen: „IIT. Stunden- plan. 6. In der mehrklassigen Schule ist darauf Bedacht zu nehmen, dass ein- zelne Kinder in einzelnen Fächern ausgewechselt werden können.“ Obschon die These 4 Jahre bekannt war, hat sich in der Literatur unseres Wissens hiergegen kein Widerspruch erhoben. Als in Mainz sich zuvor Arno Fuchs-Berlin für die Freiheit des Stundenaustausches innerhalb derselben Woche sprach, wurde ihm vom Referententische aus unter allgemeiner Zustimmung mit Hinweis auf die in Frage stehende These das Unmögliche seiner Forderung dargetan. Geh. Oberregierungsrat Brandi, der Referent für das Volksschulwesen im preussischen Unterrichts-Ministerium, schreibt in einem sehr instruktiven Artikel über die Hilfsschule („Die Woche“. Jahrg. 1903, Heft 31) hierzu: „Ein und dasselbe Kind kann verschiedenen Klassen angehören, wenn es beispielsweise für Rechnen kein Verständnis besitzt, dagegen im Lesen Fortschritte macht, oder umgekehrt.“

Es dürfte deshalb nicht nur in Mainz, sondern auch sonst einiges Kopf- schütteln erregen, dass man jetzt post festum diese in langjähriger Erfahrung

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erprobte Massregel als „sinn- und nutzlos“ hinstellt. Dem Verfasser des Artikels (Nr. 8 dieser Zeitschrift) muss allerdings zugute gerechnet werden, dass er seinen Widerspruch nicht früher geltend machen konnte, weil er zur Zeit des 4. Verbandstages erst ein Jahr an der Hilfsschule unterrichtete und ihm zudem in dieser Zeit keine Gelegenheit gegeben war, den Erfolg der Schülerauswechse- lung zu beobachten; andere Hilfsschulen als die Mainzer kennt er nicht und von Anstalten hat er nur die Idsteiner gelegentlich des Verbandstages zu Ostern d. J. gesehen. Seine Beschäftigung mit der einschlägigen Literatur ist gleich alt und gleich umfangreich. Man wird daraus die Gemütsruhe begreifen, mit der er schreibt: „Wo immer ich dieser Frage in Rede oder Schrift begegnete, konnte ich mich mit ihr nicht vertraat macben und heute“ (nach ungefähr 4 wöchentlicher Beobachtung) „wo meine Klasse von dem Austausch in Mit- leidenschaft gezogen ist, kann ich mich auch noch nicht von dessen Nützlichkeit und Notwendigkeit überzeugen.“

Mit dem Verband und dessen Vorstand sind wir auf Grund schönster, selbst damit erzielter Erfolge bestens von der Nützlichkeit der Auswechselung überzeugt und gestatten uns deshalb, unbeirrt von dem wissenschaftlichen Mäutelchen des Herrn Verfassers, das doch nur seine persönliche Gereiztheit schlecht verdeckt, streng sachlich dafür einzutreten.

Die Auswechselung einzelner Kinder in einzelnen Fächern ist selten eine dauernde Einrichtung, sondern meistens eine vorübergehende. Sie greift nur dann Platz, wenn das Bedürfnis aus dem geistigen Standpunkt des Kindes gewissenhaft festgestellt ist. Dieselbe erfolgt olıne Rücksicht auf Personen, besonders nicht, um die oberen Klassen zu entlasten. Das wäre gefrevelt an den armen Kindern. Es können jahrlang ganze Klassen davon verschont bleiben, andrerseits kann der Fall eintreten, dass sie in demselben Jahrgang mehrfach nötig wird. Sie gilt nicht bloss für die unteren, sondern für alle Klassen der Hilfsschule. Massgebend für ihre Anwendung ist allein das Bedürfnis, d. h. das wohlverstandene Interesse des davon betroffenen Kindes. Hat dieses Bedürfnis seine Befriedigung gefunden, so fällt die Auswechslung weg, nicht früher und nicht später. Eine Überlastung der Klasse darf durch sie nicht hervorgerufen werden. Sie ist nur mit Erfolg durchführbar, wenn Jas ganze Hilfsschul- personal alle Kinder der Schule mit gleicher Liebe und Wärme umfasst; ängstliches Besorgtsein nur für die eignen Klassenkinder vereitelt den Erfolg. Sie erfordert eine gewisse jugendliche Elastizitāt und präzise Anwendung der psychologischen Gesetze seitens des Lehrers. An ihr lässt sich die Tauglichkeit zam Hilfsschullehrer trefflich erproben.

Die ihr gemachten Vorwürfe treffen nicht.

In der Regel kommen die Kinder nach zweijährigem, erfolgreichem Ver- weilen in der Normalschule zur Hilfsschule Hier gilt es nun ihre zurück- gebliebenen langsamen Geisteskräfte zu wecken, anzuregen und zu fördern. Das geht langsam und mühsam für beide Teile von statten. Nicht immer gelingt es genügend, nicht immer gleichmässig in allen Disziplinen. Das eine versagt im Rechnen, das andere im Behalten der Buchstabenformen, das dritte im

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Sprechen nnd Erfassen der einfachsten Sachverhältnisse. Wenn sich uun am Ende des Schuljahres dieser Zustand auch noch zeigt, was tun? Es „unberufen und stillschweigend noch ein Jahr weiter auf der seitherigen Stufe unterrichten‘, ist allerdings ein einfaches Mittel. Kind und Eltern sird ja seit 2 Jahren ans „Sitzenbleiben“ gewöhnt. Sie werden leicht abzufinden sein. Ist man aber dem Interesse des Kindes damit gerecht geworden? Nur in dem einen Fall, dass es in allen Disziplinen versagt. Wenn auch nur in einem Fach bessere Leistungen vorhanden sind, nicht mehr. Hier muss die Hilfsschule zu Mitteln greifen, die in der allgemeinen Volksschule nicht durchführbar sind. Dafür ist sie gegründet, dafür ist ihre Klassenfrequenz so klein, dafür werden ihre Lehrkräfte besonders honoriert! Ein so!ches Mittel ist die Auswechselung der Kinder in mehrklassigen organisierten Hilfsschulen. Ist das Kind nur in einem Fach fortgeschritten, so wird ihm unter ausdrücklicher Anerkennung seiner Leistung erlaubt in diesem Fache mit der nächstfolgenden Klasse zu arbeiten. Mit Freude und Stolz vernimmt es dieses Lob im Gegensatz zu früher, wo es vielleicht nur Tadel und Zurücksetzung erfuhr. Es wird in diesem Falle nach oben aus- gewechselt. Ist das Kind in mehreren Fächern genügend fortgeschritten und nur in einem zurückgeblieben, so steigt es in die nächste Klasse auf. Seine Leistungen werden anerkannt, ihm aber zugleich bedeutet, dass sein Fleiss und sein Streben noch erweiterungsfähig sind und ihm zugleich greifbar veranschaulicht, in welcher Richtung das geschehen muss; es wird in diesem Fach nach unten ausgewechselt Ein solches Kind auch in der zurückgebliebenen Disziplin in der oberen Klasse unterrichten und mitschleppen wollen, hiesse die olınehin schon schwere Arbeit der Hilfsschule unnötig vermehren und die Kraft des Lehrers zwecklos verbrauchen. Gar leicht käme es auch zur praktischen An- wendung des Satzes: „Wer nicht mitkommt, den lasse ich ruhig sitzen!“ Nun dazu braucht ınan aber keine Hilfsschule! aber ein Kind nicht eher laufen lernt, als bis es auf den Beinchen stehen kann, bringt man es vernünftiger- weise dahin, wo es am leichtesten stehen lernt. An der geschickten und klugen Darstellung und Auffassung dieser Momente den betroffenen und den anderen Kindern gegenüber zeigt sich der brauchbare Hilfsschullehrer. Die richtige Ausführung ist wirkliche individuelle Behandlung, kein „Schlagwort“! Wine Darstellung nun, welche in solcher Ausführung unserer Massıegel für das Kind eine „Kränkung“, eine „Verletzung des Ehrgefühls“, eine „Verdemütigung als Ausgeschiedener“ erblickt, oder gar das „Gegenteil von individueller Be- handlung“, stellt die Tatsachen auf den Kopf und ist eben „nicht ver- traut“ mit der Sache! Aber der Lehrer, der den Ausgewechselten los wird oder erbält, einerlei! kann der jetzt „Gesamtunterricht Platz greifen lassen?“ Wie naiv! Das kann nur jemand behaupten, der die Hilfsschule und ihre Kinder nicht genügend kennt, oder sich in der Normalschule in eine Schablone ein- gewöhnt hat, aus der er nicht heraus kann. In meiner 11jährigen Hilfsschul- praxis fand ich niemals eine Klasse, in der Gesamtunterricht erteilt werden konnte; fast jeder Schüler musste mehr oder weniger besonders (individuell) an- gefasst werden. Wer etwas anderes erwartet, vergisst, dass er an der Hilfs-

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schule ist. Die in einzelnen Fächern ausgewechselten Kinder bringen keine Ausnalhıne, weder beim Kommen noch beim Geben. Das mir in dieser Zeit unterstellte Lehrpersonal hat mit einer einzigen Ausnahme auch immer so ge- dacht. Es beruht eben die ganze Einrichtung auf Gegenseitigkeit und in diesem Sinn haben wir den zitierten Ausspruch Gutzmanns: „Einer trage des andern Last!“ etc. wie wir hoffen, im Interesse unsrer armen Hilfsschulkinder richtig angewandt. Eine Mehrbelastung der gerade so oft betonten untersten Klasse ist dadurch niemals entstanden. Ihre Frequenz war stets die kleinste. Auch die Auswahl der auszuwechselnden Kinder macht von diesem Gesichts- punkt und Willen sus durchaus keine Schwierigkeiten. Der Hilfsschulleiter braucht das Kind gar nicht einmal zu prüfen, um unglücklicherweise gerade dann zu kommen, wenn es „nicht aufgeräumt“ ist; er muss durch seine Klassen- besuche während des Jalıres sein Urteil mit dem Klassenlehrer gebildet haben. Es darf aber niemand an „abschieben“ oder „oben“ und „unten“ denken, sondern es ist nur die eine Frage zu beantworten: was nützt meinem Zögling?

Dass die Auswechselung nur möglich ist, bei Gleichlegung der ent- sprechenden Stunden versteht sich hiernach von selbst. Eine vollständige Gleichlegung ist nicht nötig und wird wohl auch nirgends der Fall sein. „Unpädagogisch“ kann das aber nicht sein.. Auf dem Mainzer Verbandstag äusserte sich Pietzsch-Leipzig bierüber folgendermassen: „Diese Einrichtung ist auch von erziehlicher Bedeutung insofern, als sie es ermöglicht, im allge- meinen reclıt schwache Kinder, die jedoch in einigen Fächern etwas mehr leisten, in diesen Fächern in eine höhere Klasse zu bringen; dadurch aber wird das Selbstbewusstsein derselben mächtig gefördert. Auf diese Weise er- reichen auch möglichst viele Kinder wenigstens in der Mehrzahl der Fächer die 1. Klasse.“ (Bericht ü. d. 4. Verbandstag etc. Seite 124.) Dass Kielhorn seine These auch auf ihren pädagogischen Wert geprüft und erprobt, dürften nachstehende Sätze beweisen, die er in seinem einleitenden Vortrage zu der in Rede stehenden Debatte gesprochen (Bericht Seite 108): „. .. . wir wollen aus den uns anvertrauten Kindern religiöse und sittliche Menschen bilden! .... Wir wollen sie dahin führen, dass sie ihren himmlischen Vater empfinden, lieben und erkennen lernen und dass sie die Brüder auf Erden lieben! .... Die Bildung des Herzens, des Gemütes, der Lebensfreudigkeit sei unsre nächste Aufgabe. Das Rechtsgefühl, das Rechtsbewusstsein werde in der Kindern wach- gerufen und geschärft! .... In führende Lebensstellungen einzurücken, ist unseren Kindern versagt. Erziehen wir sie daher so, dass sie willig werden und sich führen lassen; denn der willige und fügsame geistesarme Mensch ist wohl zu leiden, während der unbotmässige überall gemieden wird. Sorgen wir aber auch dafür, dass sie sich nicht blindlings führen lassen, dass sie prüfen und urteilen lernen, ob der Führer nicht ein Verführer ist. ... . Selbsterkenntnis und Menschenkenntnis, Nächstenliebe und Liebe zu Gott das sind Dinge, die unseren Kindern als tägliche Nahrung vorgesetzt werden müssen .. .“ Einem Manne, der so spricht vor einer Versammlung von erfahrenen, zum grossen Teil in höheren leitenden Stellen sich befindlichen Männern, wird man doch keine

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„unpädagogische“ Massregel zutrauen. Und was soll man von einer Ver- sammlung denken, die derselben einstimmig und widerspruchslos zustimmt ?

„Der Austausch erschwert die Aufstellung des Stundenplanes, fordert die unpädagogische Gleichlegung des Stundenplanes, die verwerfliche Aufeinander- folge der schwierigen Unterrichtsstunden und die ermüdende Unterrichtszeit für die Kleinen.“ Vier schwere Vorwürfe in einem, allerdings zusammenfassendeu Satzel Einer davon wurde soeben erledigt. Eine besondere Eıschwerung der Aufstellung des Stundenplanes ist mir durch diese fragliche Massregel nicht erwachsen. Die Erschwerung trat meistens erst ein, wenn ausgesprochene und nicht ausgesprochene Sonderwünsche indirekt sich geltend zu machen ver- suchten. Unvermeidliche Umstände, welche einen wirklichen Austausch nach sich ziehen, wie die Zusammensetzung der Religionsklassen in Simultanschulen und diejenige der Handarbeits- und Turnklassen mit Rücksicht auf die ver- fügbaren Räume und wenn Knaben und Mädchen vereinigt sind, können hier nicht in Betracht kommen, machen sich auch in der Normalschule häufig in noch schärferer Form geltend.

Bei der Debatte über die Unterrichtszeit wurde auf dem 4. Verbandstag von autorativer Seite wiederbolt betont, dass in der Hiltsschule die Unterrichts- stunden alle schwer sind, mögen sie folgen wie sie wollen. Eine jede nimmt die ganze Kraft des Lehrers in Anspruch.

Welche Fächer für den Schüler schwieriger sind, darüber ist bekanntlich der Streit noch nicht entschieden, ebensowenig als es genau feststeht, in welcher Stunde die Kinder am leistungsfähigsten sind; es haben die bekannten Er- müdungsmessungen hierüber recht eigentümliche, zum Teil sich widersprechende Resultate ergeben. Volle Unterrichtsstunden dürfte es wohl nirgends mehr geben. Kielhorn hat auf dem Mainzer Verbandstage folgende These zur An- nahme gebracht: „Jede Unterrichtsstunde werde durch eine Pause von 10 bis 15 Minuten gekürzt.“ Unsere Hilfsschule hat, konform dem nebenan gelegenen Gymnasium, nach jeder Stunde 15 Minuten Pause. Und die restierenden 45 Minuten sollte man nochmals teilen? Was bliebe nach Abzug der hierzu nötigen Vorkehrungen dann noch für den Unterricht übrig? Wie lange könnte man sich dann in einer Rechenstunde von 20 Minuten bei einer Klassenstärke von 18, 20, 24 Schülern mit dem einzelnen beschäftigen? Oder soll nicht jeder täglich daran kommen? Im Deutschen aber ist der Wechsel zwischen Lesen, Schreiben, Anschauung und Gedicht in jeder Stunde, jeden Augenblick möglich. Wer hindert den Hilfsschullehrer daran, bei eintretender Erschlaffung rasch einmal ein Liedchen singen zu lassen oder einige Freiübungen im Stehen vorzunehmen? „Langweilig, ermüdend, abstumpfend“ soll das sein? Dann haperts anderswo! Was trifft also von den 4 Vorwürfen? Nichts! sie sind zweckentsprechend gesucht!

Nicht besser ist es bestellt mit den drei weiteren: Störung der Schulordnung, schwere Opfer für Eltern und Gemeinden, Verstoss gegen den Konzentrationsgedanken.

Die Ordnung an der Hilfsschule ist vielleicht etwas anders als an der Normalschule; aber eine andere Ordnung ist doch noch keine Unordnung.

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Die Gleichlegung einer Anzahl Stunden für den ganzen Schulkörper bringt dem schwachbegabten Kinde selbst beim Übertritt in eine andere Klasse keine neue Zu- mutung Die wichtigsten Stuuden liegen für dasselbe die ganze Schulzeit hindurch an den gleichen Tagen und den gleichen Stunden. Wenn nun das eine oder andere Kind am Schlusse einer Stunde aufmerksam zu machen ist, dass es nach der Pause vom Hofe aus in ein anderes Klassenzimnier zu gehen hat, um nach der zweiten Pause wieder im ersten Klassenzimmer einzutreffen, kann man das ein „Illusorischmachen der heiligen Orduung, dieser srgensreichen Himmelstochter“, „ein permanentes Wandern“ nennen? Ist wirklich eine stärkere Übertreibung und Verdrehung möglich? Die Ordnung an der Hilfsschule ist gerade durch die Gleichlegung stabiler als irgendwo. Es verlangt das Ans- wechseln des einzelnen Kindes in einzelnen Fächern nur eine gewisse Mühe das im Anfang häufig nötige Erinnern des verges lichen Kindes was aller- dings der an langjährigen „Gesamtunterricht“ gewöhnte Lehrer leicht vergisst. Für mich gebört dieses Erinnern eben auch zur individnellen Behandlung.

Mit der Forderung einer Teilung der Hilfsschule und Verlegung „an ver- schiedene Punkte des allzu ausgedehnten Ortes“ wird trotz gegenteiliger Ver- sicherung die Hilfsschule selbst angegriffen. Hier kann auch ein „Nicht- vertrautsein‘“ nicht geltend gemacht werden. Auch der jüngste Tehrer kennt die Vorteile der mehrklassigen Schule vor der einklassigen.

In grösseren Städten und wo sich sonst das Bedürfnis geltend macht, wie Breslau (9), Dortmund (2), Dresden (2), Essen (2), Hamburg (8), Leipzig (3) Köln (2), Charlottenburg (3), hat man mehrere Hilfsschulen errichtet, wie aus den beigefügten Zahlen zu ersehen ist. Einige sächsische Städte machen eine Aus- nahme. In anderen Städten, wie beispielsweise Frankfurt a. M. und unseres Wissens auch Leipzig erhalten weitwohnende Kinder Freikarten zur Benützung der Strassenbahn auf dem Schulweg. Kleineren Städten eine Zerstücklung ihrer organisierten Hilfsschulen zumuten, heisst dieselbe ihres Erfolges und damit ihrer Existenzberechtigung berauben. Das klassische Beispiel hierfür ist Berlin, weil man dort die nötigen Beweise unfreiwillig gesammelt hat. Ent- gegen den meisten übrigen deutschen Städten hat man dort erst 1898 an- gefangen, die schwachbegabten Kinder in Einzelklassen zu sammeln. Man hoffte, nach dem Verwaltungsbericht des Magistrats, bessere Resultate zu erzielen und die Kinder baldigst dem regulären Unterricht wieder zuführen zu können. Die Einzelklassen wurden besucht 1898 von 267 Kindern, 1899 von 648, 1900 von 701. In den ersten 3 Halbjahren konnten davon nur 21 und im Jahre 1900 nur 20 Kinder dem Normalunterricht zurückgegeben werden. „Damit,“ schreibt Dr. v. Gizyeki, Stadtschulinspektor in Berlin-Pankow, „ist aber auch die Auffassung widerlegt, als könnten die Nebenklassen auf die Dauer ein unselbständiges Anhängsel der Gemeindeschulen bleiben .... man muss hier doch für weitere Kreise die Tatsache feststellen, dass wir es in unseren Nebenklassen mit unendlich verschieden gearteten Individuen zu tun haben, deren jedes seinen eignen Charakter und sein Temperament, seine Schwächen und Fehler, ja unter Umständen seine besonderen günstigen Anlagen und

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Talente auf engbegrenztem Gebiete besitzt. Diese Individualitäten in jedem Falle zu erkennen, erfordert ernstes, wissenschaftliches Studium, sie richtig zu behandeln, hervorragenden pädagogischen Takt.“ Dann fährt er weiter: „Da die vereinzelten Nebenklassen in sich gewöhnlich Kinder mit ganz verschiedenen Entwicklungsstufen vereinigten, sah man sich auch in Berlin genötigt, dem System der Hilfsschule insoweit entgegenzukommen, dass man an verschiedenen Stellen mehrere, einander übergeordnete Nebenklassen kombinierte. Auf diese Weise entstanden zablreiche kleine Schulorganismen, welche es dem Lehrer er- möglichten, gleichweit geförderte Kinder in Gruppen zu vereinigen. Einzelne Nebenklassen befinden sich zur Zeit (Ostern 1902) noch an 15 Gemeiudeschulen, je 2 an 17, je 3 an 6, 4 an einer Schule und 7 an einer Schule.“ Ein weiteres Nähern zu dem Hilfsschulsystem besteht in der Erhöhung der wöchentlichen Unterrichtsstunden von 12 auf 18—24. „Die Hilfsschule bietet den versprengten Einzelklassen gegenüber dieselben Vorteile, wie die melırklassige Stadtschule gegenüber der einklassigen Dorfschule. Bei schwachsinnigen Kindern aber ist die Scheidung in Gruppen von gleicher Entwicklung noch notwendiger als bei normalen Kindern“ „Natürlich bedürfen selbständige Hilfsschulen ihrer eignen Räume mit zweckmässiger Ausstattung. Am besten werden sie in eignen Schulbäusern mit ausreichendem Hofe und einem nicht zu kleinen Garten unter- gebracht. Dass auch eine selbständige pädagogische Leitung durch einen sach- verständigen Rektor, eine ausreichende Sammlung von Lehrmitteln und eine die wichtigste Fachliteratur umfassende Lehrerbibliotbek vorhanden sein müssen, bedarf kaum einer besonderen Erwähnung“ Soweit v. Gizycki. Er mutet den Städten ganz „schwere Opfer“ zu und redet der „Vereinigung gleich weit ge- förderter Kinder in Gruppen“ auf Grund unliebsamer Erfahrung entschieden das Wort. Also auch hier, Herr Schwahn, stehen Sie allein, nein, doch nicht, sondern bei den Gegnern der Hilfsschule; die sind aber in der Regel auch „nicht vertraut“ mit der Sache Nun zum „Konzentrationsgedanken!“ Die Ausführung desselben ist bei normalen Kindern schwer und selten möglich. In der pädagogischen Literatur findet man deshalb die widersprechendsten Ansichten vertreten. Wir sind überzeugt, dass ein geschickter Hilfsschullehrer bei passender Gelegenheit auch das in anderen Fächern Erlernte zu benützen oder zu befestigen weiss. Wie oft wird das aber bei den fast gänzlichen Ausscheiden der Realien in der Hilfsschule möglich sein? Niemals wird das ausgewechselte Kind dabei zu Schaden kommen. Wir halten die diesbezüglichen Ausstellungen deshalb gleichfalls für gesucht und deplaziert.

Andere, die Sache wenig treffende Behauptungen seien hier übergangen.

Einig mit den Beschlüssen des Mainzer Verbandstages deutscher Hilfs- schulen wollen wir aber allen, die „Wert und Bedeutung, Erfolg und Segen der Hilfsschule nicht in hochtönenden Schlagwörtern suchen“, sondern in „stiller selbstloser Tätigkeit“, die alle Kinder der Illilfsschule mit gleicher Liebe und Hingebung umfasst, auch die „oberste Klasse‘ hiervon nicht aus- nimmt, allen diesen wollen wir die vortrefflich bewährte Einrichtung des Aus- wechselns einzelner Kinder in einzelnen Fächern bestens empfehlen! .

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Der Austausch von Schülern zwischen den versehiedenen Klassen der Hilfsschule. Von W. Busch, Lehrer an der Hilfsschule in Magdeburg.

Unter dieser Überschrift veröffentlicht Herr Schwahn-Mainz einen Artikel in Nr. 8 dieser Zeitschrift und verwirft in seinen Ausführungen einen Austausch von Schülern zwischen den verschiedenen Klassen der Hilfsschule, und zwar aus folgenden Gründen:

1. Durch einen derartigen Austausch wird ein permanentes Wandern von Schülern veranlasst; dadurch kommt eine lästige Unruhe in den Schulkörper, und es wird ohne Not die Schulordnung gestört;

2. die unteren Klassen erleiden dadurch eine empfindliche Mehrbelastung ;

3. Leitern und Lehrern bereitet dieser Austausch Schwierigkeiten und Unzuträglichkeiten;

4. Kindern, Eltern und Gemeinden werden dadurch unter Umständen schwere Opfer auferlegt;

5. der Austausch erschwert die Aufstellung des Stundenplanes, fordert un- pädagogische Gleichlegung der Stunden, die verwerfliche Aufeinanderfolge der schwierigen Unterrichtsstunden und die ermüdende Unterrichtszeit der Kleinen;

6. manchem Schüler nützt dieser Austausch absolut nichts, vielen wenig, einigen Geringes, das ihnen jedoch ohne ihn geworden wäre;

7. die Ausgeschiedenen werden entmutigt, abgestumpft und verletzt;

8. die Lehrer der oberen Klassen werden durch den Austausch weniger selbstlos und opferwillig;

9. der individuelle Unterricht wird bedeutungslos gemacht;

10. Lehrer und Kinder werden entfremdet und die Erziehung weniger gefördert;

11. dieser Austausch verstösst gegen den Konzentrationsgedanken ;

12. in Normalschulen findet ein solcher Austausch auch nicht statt.

Obwohl ich dem Herrn Schwahn in einigen seiner Ausführungen zu- stimmen muss und anerkenne, dass ein Austausch von Schülern zwischen den verschiedenen Klassen eventuell zum Schaden für die Schule und die Kinder werden kann, möchte ich doch einen solchen Austausch nicht unter allen Um- ständen verwerfen und ihn als eine „sinn- und nutzlose Massregel“ bezeichnen.

1. Wenn dieser Austausch ein permanentes Wandern von Schülern ver- anlasst, d. h. wenn von diesem Austausch viele Kinder betroffen werden und derselbe auf ein Kind in mehreren Fächern angewandt wird, so kann man allerdings von einer lästigen Unruhe im Schulkörper sprechen, wodurch ohne Not die Schulordnung gestört wird. Wird von dieser Einrichtung aber nur in dringenden Fällen Gebrauch gemacht, wie z. B. in der Magdeburger Hilfsschule, in welcher von über 300 Kindern nur etwa 15 in einzelnen Fächern in eine untere Klasse versetzt werden, so kann man wohl von einer lästigen Unruhe im Schulkörper nicht reden. Früher lagen die Verhältnisse in Magdeburg so, dass ein Austausch der Schüler zwischen den verschiedenen Klassen nicht statt-

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finden konnte. Nachdem das jetzt aber möglich ist, haben wir zwar stets die Vorteile, welche diese Einrichtung mit sich bringt, wahrgenommen, nachteilige Erscheinungen dagegen konnten wir nicht bemerken.

2. Dass durch einen solchen Austausch die unteren Klassen, die an und für sich schon die schwierigste Arbeit haben, noch mehr belastet werden, wenu in einzelnen Fächern auch noch Kinder der oberen Klassen hinzukommen, lässt sich nicht abstreiten, ist für mich aber noch kein Grund, deshalb von einer solchen Einrichtung abzusehen. In erster Linie kommt doch immer das Interesse der Kinder, und es wird wohl ohne Zweifel die Entlastung der oberen Klassen, und der Vorteil, den ein Kind durch eine derartige Einrichtung gewinnt, grösser sein, als die Belastung, welche die untere Klasse dadurch erleidet.

3. Dass Leitern und Lehrern der Hilfsschule bei einem derartigen Aus- tausch Schwierigkeiten und Unzuträglichkeiten entstehen, kann ich nicht finden. Bei uns pıüft zwar der Leiter der Schule die einzelnen Kinder, richtet sich aber in zweifelhaften Fällen stets nach dem Urteile der Lehrer, von denen er allerdings bis jetzt nicht befürchten musste, dass sie durch eine derartige Ein- richtung einen „unsympatischen Schüler los werden“, oder sich gar „einer lästigen Arbeit entledigen wollen“. Dass von den Lehrern das entgegengebrachte Vertrauen nicht gemissbraucht wurde, zeigt sich auch aus dem Umstande, dass unter den Lehrern selbst bis jetzt nicht die geringste Klage laut wurde. So wie es bei uns ist, wird es sicher auch an anderen Orten sein.

4. Wenn Kindern, Eltern und Gemeinden durch einen solchen Austausch schwere Opfer auferlegt werden, sollte man allerdings lieber davon absehen. Dass man aber bis jetzt, um einen solchen Austausch bewerkstelligen zu können, selbst die Klassen einer grösseren Stadt in einem Schulhause unterbrachte, ist wohl nirgends vorgekommen. Dass es aber ein Vorteil ist, wenn die Klassen eines Stadtteils zusammenliegen, braucht wohl nicht bewiesen werden. In Magdeburg liegen 13 Klassen an 6 verschiedenen Orten. Wären diese 13 Klassen an 3 Orten uutergebracht, so würde der Schulweg für die Kinder der einzelnen Klassen durchaus nicht weiter, unsere Schulorganisation aber bedeutend besser sein. In kleineren Städten wird man erst recht die Klassen zusammenlegen können, ohne dass der Schulweg für die Kinder zu weit ist, wenn man nicht gerade für die Hilfsschule das äusserste Ende der Stadt wäblt. Dies gilt selbstverständlich nur für Hilfeschulen mit aufsteigenden Klassen. Wenn man dagegen den Standpunkt vertritt, die Kinder bis zu ihrer Konfirmation in einer Klasse und bei einem Lehrer zu lassen, ist es gleichgültig, ob die Klassen zusammen- liegen, oder an verschiedenen Orten untergebracht sind.

5. Der Begründung, dass ein solcher Austauch die Aufstellung des Stunden- planes erschwert, eine unpädagogische Gleichlegung der Stunden, eine ver- werfliche Aufeinanderfolge der schwierigen Unterrichtsstunden und die ermüdende Unterrichtszeit der Kleinen fordert, kann ich nicht zustimmen. Wenn jede Klasse ihren eigenen Lehrer hat (wo das nicht der Fall ist, sind unnormale /ustände, die wir hier gar nicht in Betracht ziehen dürfen) wird die Aufstellung des Stundenplanes nicht erschwert sein: jede Klasse wird in ein und derselben

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Stunde in ein und demselben Fache unterrichtet. Ob in der Unterklasse der einstündige oder halbstündige Unterricht der bessere ist, will ich nicht ent- scheiden. Man muss aber immer bedenken, dass sich der Unterricht niemals eine volle Stunde, sondern nur 45—50 Minuten ausdehnt, und wenn man weiter bedenkt, dass selbst in einer 3—6 klassigen Hilfsschule in den einzelnen Klassen immer noch verschiedene Abteilungen sind, die unterrichtet sein wollen, so ist meines Erachtens eine volle Unterrichtsstunde weder für den Lehrer noch für die Schüler zu lang. Als Lehrer der Unterstufe habe ich bis jetzt noch nicht sefunden, dass eine solche Unterrichtsstunde auf meine Kinder „langweilig, er- müdend und abstumpfend“ wirkte.

6. Am wenigsten finde ich die Behauptung begründet, ein solcher Austausch nütze manchem Schüler absolut nichts, vielen wenig, einigen Geringes, das ihnen jedoch ohne den Austausch geworden wäre. Dafür, dass mancher Schüler absolut keinen Erfolg von dieser Einrichtung hat, wählt Herr Schwahn einen extremen und vereinzelten Fall, und auch hier scheint mir der Beweis noch nicht erbracht zu sein. Vor allem können die 2 Jahre, welche das Kind in der Volksschule verbrachte, gar nicht gerechnet werden, es sei denn in negativem Sinne Am meisten fürchte ich die Arbeit an den Kindern, welche 2 und melır Jahre in der Volksschule Stumpfsinn getrieben haben; am liebsten sind mir die Kinder, welche ohne eine Schule besucht zu haben, mir überwiesen werden. Es bleiben also für das betreffende Kind nur die 2 Jahre der Hilfsschule übrig, in welcher Zeit es nicht im Zahlenkreise 1—20 rechnen lerute. Bei vereinzelten Kindern können nun die Behauptungen des Herrn Schwahn zutreffen, jedenfalls soll man aber einen vereinzelten Fall nicht verallgemeinern. Es ist sehr leicht möglich, und an unserer Schule haben wir Beweise dafür, dass bei einem Kinde im 3. und 4. Schuljahre in einem Fache, in welchem es bis jetzt fast vollständig aussetzte, ganz leidliche Fortschritte zu verzeichnen waren. Dass einem Kinde der Unterricht in einem solchen Fache der unteren Klasse nicht interessant ist, gebe ich gerne zu. Jedenfalls ist ihm aber der Unterricht in dem betreffenden Fache einer höheren Stufe, in welchem es überhaupt dem Unterrichte nicht folgen kann, noch wninteressanter. Dabei dürfen wir auch schliesslich nicht vergessen, dass das Kind in jedem Fache, wenn irgendwie möglich, etwas lernen soll. Hat es bis jetzt in der unteren Stufe nicht im Zahlenkreise 1—20 rechnen gelernt, so ist doch vollständig ausgeschlossen, dass es in der oberen Klasse bis 100 rechnen lernt. Jedenfalls ist aber bei einer Versetzung des Kindes in eine untere Klasse die Möglichkeit vorhanden, dass es auch in diesem Fache noch das Ziel der Unterstufe erreicht, auf welchem dann weiter gebaut werden kann. Dass ein solcher Austausch von einem Schüler, der in einem einzelnen Fache nicht recht sattelfest ist, nicht gerechtfertigt ist, wird jeder zugeben. lst aber die Gefahr vorhanden, dass ein Kind in einer oberen Klasse keine Fortschritte macht, ja vielleicht sogar das notdürftig Gelernte wieder verloren geht, so ist eine Zurückversetzung in dem betreffenden Fache in eine untere Stufe angebracht.

7. Dass ein Kind durch die Versetzung in eine untere Klasse unangenehm

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berührt wird, ja sich vielleicht verletzt fühlt, ist begreiflich. Macht man aber von einer solchen Versetzung überhaupt keinen Gebrauch, so wird sich sehr oft ergeben, dass ein Kind überhaupt nicht in eine höhere Klasse versetzt werden kann. Dies ist dem Kinde dann noch viel schmerzlicher. Ausserdem wird ein Lehrer das Interesse des Kindes besser vertreten können, als dieses selbst. Nicht beipflichten kann ich der Anschauung des Herrn Schwahn, dass die ausgeschiedenen Kinder entmutigt und abgestumpft werden. Im Gegenteil: diese Kinder werden nicht durch die Versetzung in eine untere Klasse, in welcher sie schliesslich dem Unterrichte folgen können, sondern vielmehr in der höheren Klasse, in welcher sie überhaupt an dem Uuterrichte nicht teilnehmen können, entmutigt und stumpfsinnig, wie sie es in der Volksschule wurden.

Punkt 8 fällt mit Punkt 2 und 3 zusammen. Es sei hier nur nochmals gesagt: zuerst die Schüler, dann erst der Lehrer.

9. Wenn ein Kind in 14—19 wöchentlichen Unterrichtsstunden nicht unter der Obhut des Klassenlehrers stebt, so ist das ein Übelstand, wie er kaum grösser gedacht werden kann. Daran ist aber nicht der Austausch schuld. Wie ich schon oben erklärte, soll jede Klasse ihren Klassenlehrer haben; von Fach- lehrern (ausgenommen vielleicht Handfertigkeit in der Oberklasse) kann doch in unserer Schule nicht geredet werden. Wenn wir dann ferner zur Bedingung machen, dass dieser Austausch für ein Kind nur in einem Fache und auch hier nur ausnahmsweise erfolgen darf, so kann er sich nur auf wenige Stunden er- strecken. Dass unsere Kinder individuell behandelt sein wollen, wird niemand bestreiten. Man darf aber auch nicht zu weit gehen, wenn man nicht den Standpunkt vertreten will, die Kinder sollen während ihrer ganzen Schulzeit in einer Klasse und bei einem Lehrer sein. Sobald man aber aufsteigende Stufen hat, müssen die Kinder in erster Linie nach dem Grade ihrer Kenntnisse in diesen Stufen untergebracht sein.

10. Dass Lehrer und Kinder entfreındet werden, und die Erziehung wenig gefördert wird, wenn der Austausch in der von Herrn Schwahn geschilderten Weise erfolgt, muss zugegeben werden; wenn er aber in der Weise erfolgt wie bei uns, so ist er für die Kinder in jeder Hinsicht von Vorteil.

11. „Ein Austausch verstösst gegen den Konzentrationsgedanken.“ „Alles soll ineinandergreifen.“ Wenn man diesen Sätzen olıne jede Einschränkung zu- stimmt, kann ein Kind überhaupt nicht eher in eine höhere Klasse versetzt werden, als bis es das Pensum der vorhergehenden Klasse vollständig beherrscht. Dass aber Herr Schwahn diese Bedingungen selbst nicht stellt, gehi aus seinen Ausführungen klar hervor.

12. Auth der Grund, weil in Normalschulen kein Austausch stattfindet, darf auch in der Hilfsschule keiner stattfinden, ist nicht stichhaltig. Wir gehen schon in so vielen Sachen, und zwar in ganz berechtigter Weise, nicht mit den Normalschulen; warum sollen wir es gerade in diesem Falle machen? Ganz unbegreiflich ist mir die Parallele zwischen Volksschülern, Gymnasiasten und Seminaristen einerseits und den Kindern der Hilfsschule andererseits! Ausserdem ist noch gar nicht gesagt, dass auch in Volksschulen ein solcher Austausch

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nicht angebracht wäre. Ich stelle auf dem Standpunkte, dass die Normalschulen mit der Zeil viel mehr von uns, als wir von ihnen lernen können.

Dies wären kurz meine Bemerkungen zu den Ausführungen des Herrn Schwahn. Wenn ich auch fast durchweg einen gegensätzlichen Standpunkt vertrete, so bin ich ihm doch für seine Ausführungen dankbar. Er hat eine Frage angeschnitten, über die noch viel gedacht und geredet werden muss, bis sie völlig geklärt ist.

Die nordischen Versammlungen für Abnormsachen. Von H. Stelling-Emden.

In seinen „Bemerkungen zu den Verhandlungen der IX. Konferenz für das Erziehungswesen der Schwachsinnigen“ („Kinderfehler*, Jahrg. IV, S. 21 ff.) regt Direktor Trüper-Jena den Zusammenschluss aller Interessenten der gesamten Heilpädagogik zu einem gemeinsamen heilpädagogischen Kongresse an, mit der Begründung, dass dann mehr geschehen könne und werde zur Ausbildung der wissenschaftlichen physiologischen und psychologischen Grundlage der Heilpädagogik, und dass dann der Einfluss dieser sämtlichen Interessenten auf die öffentliche Meinung mehr Nachdruck gewinnen werde. Diese Idee ist nun in den nordischen Ländern schon seit einer Reihe von Jahren in die Wirklichkeit umgesetzt. Bereits zum fünften Male haben die Angestellten der skandinavischen und finnländischen Blinden-, Taubstummen- und Idioten-Anstalten, der Krüppel- und Epileptiker-Asvle und die Sprachheillehrer ihre gemeinsamen Versammlungen abgehalten. Mit Rück- sicht auf die jetzt mitvertretenen Kliniken und Asyle hat man die Bezeichnung Abnormschulversammlung fallen lassen und dafür die jedenfalls zutreffendere Benennung „Versammlung für Abnormsachen“ angenommen.

Wenn man sich allerdings das Progranım eines solchen Kongresses näher ansieht, so bekommt man nicht gerade den Eindruck, als ob die innere Verwandtschaft des Berufes diese verschiedenen Fachmänner zu gemeinsamer Tagung zusammen- geführt habe. Wenigstens lässt die geringe Zahl der auf den letzten beiden Ver- sarnmlungen in gemeinsamer Sitzung behandelten Gegenstände nicht darauf schliessen. Noch weniger ist dies aus der Zeitschriftenfrage herzuleiten. Der Antrag auf Vereinigung der beiden Zeitschriften: „Nyt Tidskrift for Abnormvaesenet* und „Nordisk Tidskrift för Döfstumskolan* ist in diesem Jahr zum zweiten Male durch den Widerstand der Taubstummenlehrer abgelehnt worden. Man wird also wohl nicht fehl gehen, wenn man annimmt, dass es finanzielle Gründe mit gewesen sind, die im Norden diese Vereinigung zu stande gebracht haben.

Die „Fünfte Nordische Versammlung für Abnormsachen“ tagte vom 6. bis 10. Juli d. J. in Stockholm. Der gute Ruf und die günstige Lage däs Ortes sind sicher die Veranlassung gewesen, dass an Vertretern der Behörden und der Wissenschaft, an Freunden dieses grossen Missionswerkes und an Fachgenossen und -genossinnen etwa 700 erschienen waren. Zum ersten Mal nahmen aucb 3 Deutsche an dieser eigenartigen Zusammenkunft teil: Landesversicherungsrat. Hansen-Kiel, bekannt durch seine Bemühungen um die Erweiterung des Hand-

Bien

arbeitsunterrichts in deutschen Vflegeanstalten, dessen auf einer finnischen Webe- schule ausgebildete Tochter, Fräulein J. Hansen und Taubstummenlehrer Stelling- Emden wollte als Fachmann sich ebenfalls in erster Linie davon überzeugen, was von den im Norden gepflegten praktischen Arbeiten auf deutschen Boden verpflanzt werden kann.

Für die eigentlichen Verhandlungen waren 4 Tage vorgesehen. In den gemeinsamen Sitzungen gelangten im ganzen 7 Sachen zum Vortrage, von denen aber nur die Zeitschriftenfrage eine längere Besprechung zur Folge hatte. Prof. v. Scheele-Upsala machte die Zuhörer mit seinen interessanten Forschungen über „Die innere Sprache“ bekannt. „Die schädliche Einwirkung der Ge- fängnisarbeit auf den Absatz der von Abnormen hergestellten Pro- dukte“ und „Die Mässigkeitsbestrebungen unter den Abnormen“ waren ebenfalls für die Allgemeinheit berechnet. Und da sich für eine Gruppe von Sprachheillehrern nicht die genügende Teilnehmerzahl gefunden hatte, mussten auch folgende beide Themen dahin verwiesen werden, nämlich: „Wohin gehören die Kinder, welche an Aphasie leiden?* und „Die Atmung und die nervösen Sprachfehler, insonderheit das Stammeln‘“.

Die übrigen sehr zahlreich angemeldeten Arbeiten waren den Gruppen über- wiesen worden. ÖObenan standen die Taubstummen-Gruppe und die für die Geistes- schwachen mit 25 bezw. 21 Themen. Das Programm der Blinden-Sektion wies 15 Vorträge auf. Von Vertretern der Krüppel- und Epileptikersache waren dagegen nur 11 bezw. 3 Anmeldungen eingegangen. Dass nicht alle diese Themen in den 4 Tagen erledigt werden konnten, selbst wenn die aufs neue angenommene Geschäftsordnung streng gehandhabt woıden wäre, nach welcher dem Vortragenden für die Einleitung und Begründung seiner Leitsätze nur 20 Minuten bewilligt werden dürfen, und jedem Redner das Wort höchstens 2 mal auf 5 Minuten erteilt werden darf, liegt auf der Hand.

In der Gruppe für den Unterricht und die Pflege der Geistesschwachen kamen z. T. recht interessante Vorträge zur Verhandlung. Der Leiter der von Kopenhagen nach Breining auf Jütland verlegten Kellerschen Anstalten, Prof. Dr. Chr. Keller, sprach „Über die Beziehungen zwischen den Anstalten für Geistesschwache und Geisteskranke“, und suchte die Frage zu klären, ob die Fürsorge für die Geistesschwachen sich auf dem rechten Wege befinde, wenn sie sich mehr und mehr von den Geisteskranken loszumachen suche. Un- gefähr die gleiche Materie behandelte Direktor Hedmann-Tavastehus (Schweden). Er beklagt, dass die geisteskranken Kinder im eigentlichen Sinne des Wortes, die in den Idiotenanstalten höchst störende Elemente abgeben, immer noch nicht die genügende Berücksichtigung finden. Die bildungsunfähigen können den Asylen überwiesen werden. Aber die unterrichtsfähigen Schwachen? Mancherlei Un- annehmlichkeiten drängen auf Absonderung. In grossen Anstalten kann dies durch Bildung einer besonderen Abteilung geschehen; besondere Anstalten würden allerdings die beste Organisation abgeben.

„Über das Ziel des theoretischen Unterrichts bei schwachsinnigen Kindern“ referierte Direktor Jönssen-Kaallered (Schweden). Schulinspektor

178 Keller-Breining befasste sich im besonderen mit der Konfirmation dieser Kinder und will sie auf die bestbegabten beschränkt wissen.

Der vorzugsweise praktische Sinn der skandinavischen Heilpädagogen trat schon in den 3 über das Arbeitsheim und das Asyl angemeldeten Vorträgen hervor, noch melır aber in den beiden, die sich mit den Handarbeiten und dem Slöid bei Geistesschwuchen beschäftigten Die von dem Slöidlehrer K. Johanssen-Stockholm gebotene Arbeit: „In welchem Maße fördern Slöid und Handarbeiten des geistesschwachen Kindes Erziehung? Welchen Nutzen gewährt eine grössere oder mindere Fertigkeit darin dem Fortkommen des Geistes- schwachen?“ fand allgemeinen Beifall. Der Redner führte aus, dass die praktische Betätigung bei solchen Kindern eine viel grössere Bedeutung hat, als bei den normalen, weil durch die Arbeit mit den Händen auch die Geisteskräfte geweckt werden. Durch die Hände kann man zum Gehirn des Kindes gelangen. Nur die Anstalten, welche ihren Zöglingen einen sorgfältig angeordneten Handfertigkeits- und Handarbeitsunterricht bieten, berücksichtigen in richtiger Weise das Bedürfnis des geistesschwachen Kindes. Soll dies erreicht werden, so muss allerdings folgendes gefordert werden:

1. Dor Slöid ist den übrigen Unterrichtsfächern völlig gleichzustellen.

2. Er muss sowohl in den Vorbereitungsklassen als in den nächstfolgenden Abteilungen den erziehlichen Zweck als Hauptziel im Auge behalten und darf deswegen hier nur von pädagogisch gebildeten Lehrkräften erteilt werden.

3. Vom 4. Schuljahr ab kann versucht werden, eine Spezialisierung dieses Unterrichts anzubahnen, wobei soviel wie möglich auf des Zöglings persönliche Beanlagung als auf seine künftige Lebensstellung Bedacht zu nehmen ist. Dieser Fachunterricht muss vorzugsweise von Fachlehrern geleitet werden.

Bei dem Thema: „Über die Ausbildung des Lehrerpersonals für die Idiotenschulen® wurde in Erwägung gezogen, ob es sich nicht empfehle, für die Idiotenlehrer ähnliche Einrichtungen anzustreben, wie sie in anderen Zweigen des Abnormschulwesens bestehen. Soweit dem Berichterstatter bekannt ist, ist Schweden von den nordischen Ländern das einzige, das in dem Manilla-Institut vor Stockholm ein Taubstummenlehrer-Seminar und in der Storkholmer Idioten- Anstalt ein „Seminar zur Ausbildung von Lehrern für geistesschwache Kinder* besitzt.

Die Frage: „Muss das Lehrerpersonal in der Anstalt oder ausser- halb derselben wohnen?“ ist jedenfalls nicht ohne Bedeutung. In umfang- reichem Maße an der Aufsicht beteiligte Lehrer können keinesfalls mit der nötigen Frische ihre Stunden erteilen, weswegen beispielsweise in der Anstalt „Gamle Bakkehus“ vor Kopenhagen die eigentlichen Lehrkräfte nur ihre Unterrichtsstunden zu geben haben, im übrigen aber von allen Arbeiten befreit sind und darum auch ausserhalb wohnen.

In der Sektion für den Unterricht und die Pflege der Epileptischen brach zunächst Frau E. Ramsay, die talentvolle Leiterin der Anstalt Wilhelmsro (Schweden), eine Lanze für „die elendigsten Kinder Schwedens“, die bildungs- unfähigen und verkrüppelten Idioten mit und ohne Epilepsie In einer längeren

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Ausführung sprach Oberarzt Dr. med. Sell von der Anstalt Dianalund bei Terslöse (Dänemark) über „Die Arbeit der Epileptiker in offenen Kolonien‘. Anstatt der grossen Anstalten empfiehlt er Kolonien mit einzelnen Häusern für je 25 30 Kranke. Jedes Haus soll seinen eigenen Hausstand mit einer eigenen Küche haben, damit die P’fleglinge mit den Hauseltern bezw. der Hausmutter eine Familie bilden. Ausserdem müssen vorhanden sein: Werkstätten, (arten und Feld für die Beschäftigung der Kranken und ebenso besondere Räume für die Gottes- dienste u. s. w.

Was die Stockholmer Versammlung gegen die früheren besonders auszeichnete, das war die damit verbundene Ausstellung von praktischen Arbeiten, wie sie in einer Reihe schwedischer, dänischer und finnländischer*) Abnormanstalten im Laufe des vorhergehenden Jahres hergestellt worden waren Wenn unter den ausstellenden Gruppen sich die für die Idivten-Anstalten infolge des Umfanges ihrer Ausstellung besonders auszeichnete und schon deswegen am meisten Aufsehen erregte, so ist das nicht zu verwundern. Neben den Erzeugnissen der Schulen für Geistessprache waren auch die der notwendig mit einer Idioten-Anstalt zu verbindenden Arbeitsheime ausgestellt. „Wenn man bei den Taubstummen und Krüppeln den Eifer und das erziehliche Geschick bewundert hatte, durch welche das Zustandekommen so schöner Sachen bewirkt worden war, so war man geradezu erstaunt beim Anblick all der geschmackvollen, ja man möchte sagen: einen künstlerischen Blick verratende Sachen verschiedenster Art, wie sie von idiotischen und geistesschwachen Personen verfertigt worden waren.“ Die Fachmänner dürften sich darin einig gewesen sein, dass die dänische Abteilung hinsichtlich des päda- gogischen Aufbaues obenan stand. In der schwedischen und finnländischen Ab- teilung für die älteren Geistesschwachen fielen besonders die Produkte der Weberei und Klöppelei in die Augen Und wenn Landesrat Hansen-Kiel es anstrebt, diesen beiden Arbeitszweigen auch in Deutschland Einganır zu verschaffen, so wird er ohne Frage am ehesten Erfolg haben, wenn er zunächst an die Idioten-Anstalten denkt. Hier gibt es Kranke, die zeit ihres Lebens dort verbleiben. Und da, wie das von schwedischer Seite ganz richtig betont wird, die bei der Weberei zur Verwendung gelangenden leuchtenden Farben ungemein anregend auf die Tätigkeit geistig tiefstehender Menschen einwirkt, so sollte nicht so ängstlich gefragt werden, ob die Anstalten dabei auf ihre Kosten kommen.

In derartigen Ausstellungen dürfte ein nicht gering unzuschlagender Nutzen der gemeinsamen Tagung von Vertretern aller heilpädagogischen Anstalten zu suchen sein. Ohne Frage können die einzelnen Zweige manches voneinander lernen auf diesem rein praktischen Gebiete. Und dass auf diese Weise auch der Eindruck auf die öffentliche Meinung zu erreichen ist, zeigte sich in Stockholm ganz deutlich in der Beachtung, die diese Ausstellung selbst bis in die höchsten Kreise hinein fand. Gleich am Eröffnungstage beehrte der Ehrenpräsident der Versammlung, Prinz Kar] mit seiner hohen Gemahlin, der Prinzessin Ingeborg, die Ausstellung

*) Über Norwegen siehe: Stelling, „Die Erziehung der schwachbegabten und schwachsinnigen Taubstummen.“ Ein Reisebericht über dänische und norwegische Taubstummen-Anstalten. Leipzig, Carl Merseburger, 1902.

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mit einem lüngeren Besuche. Am Schlusstage erschien selbst Se. Majestät der König Oskar. Unter Führung des Versammlungssekretärs, des Majors v. Feilitzen, wurde eine eingehende Besichtigung der einzelnen Gruppen vorgenommen, wobei verschiedene Gegenstände, die dem Könige besonders gefielen, angekauft wurden.

Möge auch diese Versammlung dazu beitragen, dass die Fürsorge für die Abnormen in den nordischen Ländern in immer weiteren Kreisen Verständnis und werktätige Unterstützung finde!

Die Entwicklung von Sprechen und Denken beim Kinde.*) Von Fr. Frenzel in Stolp i. Pom.

Das anfängliche Studium der Sprachentwicklung des Kindes lieferte meistens biographische Aufzeichnungen über angestellte Beobachtungen Später ver- glich man die einzelnen Beobachtungen, stellte die daraus gewonnenen Ergebnisse zusammen und erhielt auf diesen Wege eine Darstellung einer allgemeinen Durchschnittsentwicklung. Diese beiden Richtungen in der Spracherforschung des Kindes boten im allgemeinen nur eine Beschreibung der Tatsachen, nicht aber eine Erklürung derselben. Einen Schritt weiter auf diesem Gebiete sing der Nord- amerikaner Baldwin,**) welcher die Einzeltatsachen des kindlichen Seelenlebens zu erklären und Gesetze für ihren kausalen inneren Zusammenhang aufzustellen ver- suchte. Auf diesem Wege will Ament ihm weiter folgen und die Anbahnung einer zielbewussten erklärenden Forschung und die scharfe Trennung einer reinen und angewandten Richtung auf dem Gebiete der Kinderpsychologie, insbesondere der Kindersprachwissenschaft anerstreben.

In der Sprachentwicklung des Kindes unterscheidet der Verfasser wie die bis- herige Forschung drei Stufen: 1. Die Stufe des Schreis, 2. die Stufe des Lallens und 3. die Stufe der Wortbildung.

1. Wenn das Kind geboren ist, kann es nichts wie unartikulierte Stimm- produkte, Schreie, hervorbringen, die nicht einmal sprachliche Bedeutung haben, sondern ausschliesslich Retlexerscheinungen sind; die physiologischen Vorgänge spielen sich ohne Dazwischentreten des Bewusstseins und des Willens ab. Sprach- liche Bedeutung erlangen die Schreie, sobald sie dem Ausdrucke körperlicher Zu- stände dienen, was in der Regel bereits ziemlich früh eintritt. Der Schrei, verschieden variiert oder modifiziert, wird allmählich Ausdruck des vitalen kindlichen Gefühls- lebens bei Hunger-, Kälte-, Hitze-, Nässe- oder Schmerzempfindungen. Hierin liegt bereits die primitivste Verknüpfung verschiedener Zentren mit dem sprachlich- motorischen Zentrum, in dieser Verbindung sind die Anfänge der Sprachentwicklung zu suchen.

2. Auf der zweiten Stufe bringt das Kind schon artikulierte Laute und Silben von überreicher Mannigfaltigkeit hervor. Diese Lautproduktionen haben

*) Ein Referat über das im Verlage von Ernst Wunderlich in Leipzig neulich erschienene treffliche Buch: Die Entwicklung von Sprechen und Denken beim Kinde von Wilhelm Ament. 213 Seiten. Preis geb. 2,80 Mk.

*) Baldwin: Die Entwicklung des Geistes beim Kinde und bei der Rasse- Berlin 1898.

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zunächst noch nicht den Charakter eigentlicher Sprachlaute, sie sind nur anders geartete Gefühlsäusserungen, wie die primiliven Schreilaute Auch die Bildungen von Lautwiederholungen gehören noch ganz dem Stadium der reinen Gefühlsäusserung des Kindes an. Bald nach dem Auftreten der Wiederholungslaute (mämmäm) beginnt das Kind zufällige Gerüusche, unter diesen namentlich Sprachlaute, nach- zuahmen; zunächst werden die Laute völlig verständnislos nachgeahmt.

3. Auf das allmähliche Verstehen und Nachahmen der gehörten Wörter folgt nach geraumer Zeit die selbständige Anwendung der Wörter, um damit etwas zu bezeichnen. Das ist das dritte Stadium in der Sprachentwicklung des Kindes. Das Kind benennt bewusst Gegenstände seiner täglichen Umgebung; die Wort- bildung hat begonnen. Das akustische und motorische Sprachzentrum treten in Beziehung.

Wenn das Kind in das Stadium der Wortbildung eingetreten ist, beginnt für dasselbe die Periode der Erlernung der Muttersprache; in dieser stehen sich zwei Faktoren unvermittelt gegenüber;

1. Das Subjekt des Kindes und 2. die Formen der Muttersprache.

Das Verhältnis dieser beiden ist bereits vielfach erörtert worden. Die Be- obachtung hat ergeben, dass das Subjekt des Kindes einerseits Formen erfindet, andererseits Formen nachahmt. Der Wortschatz (Vokabularium) des Kindes, den es sich erwirbt, ist auf das Schaffen des in ibm waltenden ursprünglichen Sprach- geistes zurückzuführen, während die Sprachformen aus der Muttersprache gewonnen oder entlehnt werden. Die Muttersprache zeigt bei den einzelnen Kindern viel Gemeinsames. „Die Worte sind sehr verschieden, die Gesetze ihrer Bildung gleich.“ Diese Regel soll für alle Sprachen zutreffen. Es erfolgt die Sprachentwicklung des Kindes analog der Sprachentwicklung des ganzen Stammes oder des ganzen Volkes, dem es angehört. Haeckel’s biogenetisches Grundgesetz gilt auch für die Ent- wicklungsgeschichte der Sprache: „Die ontogenetische Entwicklung der Sprache ist eine kurze Wiederholung der phylogenetischen.“

Der Verfasser bringt im Anschlusse an diese Ausführungen ein Kapital aus der Lautlehre der Kindersprache, worin die Laute, wie sie genetisch in der Kindersprache auftreten, hinsichtlich ihrer Reihenfolge und Schwierigkeit näher er- örtert werden. Wir finden an dieser Stelle auch Belehrungen über Lautwandlungen, über Lautverschiebungen und Lautversetzungen, über Lautassimilationen und den Akzent.

Der folgende Abschnitt behandelt die Wortbildungslehre der Kindersprache. Als wortbildende Momente kommen folgende in Betracht:

1. Die freie Erfindung, . die Nachahmung, . die Wortbildung durch Ableitung, . die Wortbildung durch Zusammensetzung, . die Wortbildung durch Kontamination, . die Wortbildung durch Etymologie.

Je CO N

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Die Aufeinanderfolge der einzelnen Momente repräsentiert zugleich im wesent- lichen auch einen gewissen Entwicklungsgang in der Wortbildung der Kindersprache.

1. Der Urquell der kindlichen Wortbildung ist die spontaue Stimmreaktion des Lallens, die anfangs Laute erzeugt und aus diesen die Silben: ma, ba, da, la, a, na, ha etc. entwickelt, welche nach der kindlichen Gewohnheit redupliziert, ınama, baba, dada, lala, fafa, nana, haha etc. lauten. Diese Reduplikationen kind- licher Lallsilben bilden die sogenannten Urwörter, welche man in sämtlichen Sprachen des indogermanischen Stammes verfolgen kann. (Mama, Papa, Ada, Aka ete) Den Übergang von der Wortbildung durch freie Erfindung zu der durch Nachahmung bilden die bekannten Onomatopoeticas, Schallnachahmungen von Naturlauten, die aber nur bis zu einem gewissen Grade eigene Erfindungen des Kindes darstellen. (Mumu! mähmiäh! wauwau! tiektick etc.)

2. Die Wortbildung durch Nachahmung von Wörtern der Muttersprache, auf welcher der wichtigste Teil der Spracherlernung beruht, stellt wie die onomato- poetische Wortbildung eine Schallnachahmung dar. Die Versuche in der Nach- almung sind zunächst unsicher und tastend. Laute, Silben und Wörter, ja sogar ganze Sätze unterliegen der umgestaltenden Tätigkeit des Kindes und lassen der- artig geformte Produkte entstehen, dass häufig ein Verständnis derselben ohne Kenntnis des Entstehens unmöglich ist. Die Wortumgestaltungen des Kindes sollen übrigens eine nicht zu verkennende Ähnlichkeit mit den Erscheinungen des Ver- sprechens, Verlesens und Verschreibens Erwachsener besitzen. *)

Der Verfasser bemüht sich die Umgestaltungen und Veränderungen, welche das Kind an der Muttersprache vollzieht, zu klassifizieren. Er konstatiert Änderungen an Einzellauten wie an Silben in der Form der Elision. Nicht der Laut an sich, sondern der Lautaufbau des Wortes ist maßgebend für die Schwierigkeit der Aussprache eines Lautes. Derselbe Laut wird in einem Worte gewandt, in einem andern ungenau, Ja gar nicht ausgesprochen. Einfache Konsonanten am Anfange eines Wortes werden selten abgestossen, von Doppelkonsonanten in der Regel der erste: schlafe== lafe, Stein =tein, seltener der zweite: blau= bau Duas r als zweiter Konsonant wird gewöhnlich elediert: Brot== Bot, braten =- baten. Ein alleinstehender Konsonant am Ende eines Wortes wird meistens fortgelassen, von Doppelkonsonanten der erste oder der zweite.

Die Elision der Silben zeigt sich im Anfange auch in dem Bestreben, die Wörter einsilbig auszusprechen: Marie=Mi, Soldat==dat; mit Vorliebe werden Anfangs- und Endsilben, welche unbetont sind, ausgestossen

Nicht so häufig zeigt sich die Einfügung von Lauten und Silben in Wörtern, aber doch kann man in der Sprachentwicklung des Kindes Wörter, die als Redu- plikationssilben nach der Art der Lallsilben gebildet sind: Blume= bume etc. ver- nehmen. Man findet ‚ferner Umgestaltungen durch Metathesis: Fiscl-schif, rufe- fure, durch Prolepsis und Metalepsis: Löwe==töne, Oskar=Ottal ete.

Ein Wort kann auch eine völlige Umwandlung dadurch erleiden, dass sich um einen besonders auffallenden Laut desselben einige ganz andere Laute gruppieren:

Ber Vergl. Meringer und Mayer, Verlesen und Versprechen. Stuttgart 1895, Eine überaus interessante Schrift, welche die Beachtung weitester Kreise verdient.

Frosch =loch. Endlich erstreckt sich die Veränderung auch auf ganze Sätze, be- sonders auf Liedertexte: Guter Mond, du gehst so stille = Guter Mund, du hast so viele etc.

Es kommen in der Kindersprache noch eine ganze Menge anderer Umgestaltungen und Veränderungen vor,*) die einer methodischen Einordnung grosse Schwierigkeiten bereiten. Merkwürdig ist es, dass der grösste Teil der Umgestaltungen Analogien in volkssprachlichen Erscheinungen findet; dieses bietet wiederum einen Anbalts- punkt mehr dafür, dass die ontogenetische Entwicklung der Sprache eine kurze Wiederholung der phylogenetischen ist

3. Wenn das Kind auf dem Wege der Nachahmung bereits in den Besitz von Wörtern der Muttersprache gelangt ist, so wirkt die Nachahmung auf einem neuen Gebiete weiter. Am Erlernten hat das Kind abgelauscht, wie die Sprache ihre Wörter bildet und wie sia diese beugt. Das Kind versucht sich dann selbst darin, das Abgelauschte auf eigene Faust zur Bildung von Wörtern und zu deren Beu- gungen anzuwenden, indem es nach bekannten Wörtern und Beugungen die Bildung neuer Wörter und Beugungen vollzieht oder ableitet. Ein mit einem Hammer arbeitender Mensch wird z. B. „Pocher“ genannt.

4. Bei der Wortbildung durch Zusammensetzung werden neu erlernte Wörter mit den entsprechenden alten verbunden; aus Wule (Gans) wird Wuleänschen gebildet.

5. Wortbildung durch Verschmelzung ist der Vorgang, dass zwei verwandte Ausdrucksformen sich gleichzeitig ins Bewusstsein drängen, so dass keine von beiden rein zur Geltung kommt, sondern eine neue Form entsteht, in der sich die Elemente der einen mit den Elementen der andern mischen. Aus „allerlei Buntes‘ wird „bunterlei“ gebildet etc.

6. Die spätesten Wortbildungen werden vom Kinde in jener Zeit vorgenommen, wo sein Geist die Bedeutung des letzten Restes aller ihm noch unbekannten Wörter der Muttersprache zu erfassen sucht, wobei denselben durch Gestaltveränderungen ein bekannter Sinn untergeschoben wird. Für Kirchenmaus wird Küchenmaus, für Frost = Frosch, für graben = Raben etc. gesprochen.

Bei den vier letzten Fällen der Wortbildung handelt es sich im wesentlichen auch wohl nur um Nachahmung; die feine Detaillierung des Verfassers indessen verdient vollste Anerkennung.

Das zweite Kapitel aus der Wortbildungslehre des Kindes bringt eine statistische Übersicht über die ersten 200 Begriffe eines beobachteten Kindes.

Um das Material für die Untersuchungen über die Begriffe hinsichtlich ihrer Wortform und Bedeutung zu erlangen, beobachtete der Verfasser ein Kind und notierte von dem Augenblicke an, wo dasselbe das erste bedeutungsvolle Wort sprach, jedes neue Wort auf ein Blatt und numerierte die Blätter in chronologischer Reihenfolge. Jedes neue Wort wurde weiter verfolgt, ob sich der begriftliche Inhalt oder sein Uiufang bei späterem Gebrauche änderte, vergrösserte oder ver- kleinerte Daneben wurde auch die Wortform beobachtet.

*) Recht mannigfach und eigenartig sind auch die Veränderungen und Umgestaltungen, welche schwachsinnige Kinder an Wörtern, Sätzen, Liedertexien etc. zu Wege bringen; man könnte ein ganzes Lexikon solcher Inomatomanien schreiben.

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Über die ersten 200 Begriffe sind Berichte nach den vorhin angedeuteten Ge- sichtspunkten in dem Buche abgedruckt, wobei auch jede spätere Änderung des Begriffes oder der Form nebst Datum vermerkt steht. Dann folgt eine statistische Übersicht dieser Wandlungen nebst vielen Tabellen und Kurven. Dies alles muss im Original gelesen werden, da das Referat keine übersichtliche Darstellung zu geben vermag.

Im Anschlusse an das Tagebuch wird die Entwicklung der Wortbedeutung näher erörtert. Die Erörterung bezieht sich auf Sachvorstellung, Wortvorstellung und Begriff.

Die ersten Sachvorstellungen entstehen durch die ersten Sinneseindrücke von unserer Umgebung; sie sind anfänglich arm an Inhalt und demgemäss von sehr weitem Umfange. (Undifferenzierte Sachvorstellungen). Je mehr sich aber Sinnesorgane und Geist entwickeln, je mehr die Beobachtungsfähigkeit wächst, desto reicher wird der Inhalt der Sachvorstellungen und um so begrenzter erscheinen sie. (Differenzierte Sachvorstellungen). Aus den differenzierten Sachvor- stellungen entstehen allgemeine Sachvorstellungen. (Allgemeine Bedeutungsvor- stellungen, allgemeine Vorstellungen).

Die Sachvorstellungen assoziieren und reproduzieren sich untereinander, worin das Grundprinzip des Denkens zu suchen ist. Diese Vorgänge erheben das Erlernen der Wörter zum Bedürfnis. Ihr Auftreten ist die grundlegende Vor bedingung für das Auftreten der Sprache. Es kommt somit später eine Assoziation von Wort- und Sachvorstellungen zu stande. Die Verknüpfungen von Wort- und Sachvorstellungen können

1. als einfache Assoziation erfolgen und

2- durch ein Gewebe von Assoziationen und Reproduktionen, d. h. durch einen komplizierten Denkprozess herbeigeführt werden.

l. a. Die Assoziation der Wortvorstellung mit der Sachvorstellung bildet sich unmittelbar auf Grund der Kontignität, d. h. des Zusammengegebenseins im Be- wusstsein. Im Kinde entsteht eie Assoziation häufig spontan, wenn sich z. B. Lall- wörter wie mamamam, bababab etc. mit den Vorstellungen von herbei eilenden Personen, von dargereichter Nahrung u. a verknüpfen, wobei man drei Stadien unterscheiden kann. Im ersten Stadium schreit das Kind, worauf Personen kommen und Nahrung reichen, im zweiten, damit Personen kommen und Nahrung reichen und im dritten, um Personen und Nahrung zu rufen.

1. b. Die Assoziation der Wortvorstellung mit der Sachvorstellung bildet sich mittelbar auf Grund einer mit beiden im Assoziations- bezw. Reproduktionsverhältnis stehenden Sachvorstellung. Hierher gehören alle Wörter, die durch Verallgemeinerung eine erweiterte Bedeutung erlangen. Ein Kind überträgt z. B. das Wort „deda,“ das „Tante“ bedeutet, auch auf seine Vettern.

2. Die andere Art der Assoziation ist mit einer Neubildung von Wörtern ver- bunden, die in der Muttersprache teils gebildet, teils nicht gebildet werden. Für „Schnee“ wird die Bezeichnung „schnei“ gebildet auf Grund der Redensart: es schneit etc.

Die erworbene Wortbedeutung ist beim Kinde keineswegs konstant; sie ändert

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sich mit der Umfangsverengerung und Umfangserweiterung der Begrifie. Ältere selbstgeschaffene Wörter werden nach einiger Zeit vom Kinde ganz aufgegeben ung durch die gebräulichen der Muttersprache ersetzt.

Bei den Begriffen hebt der Verfasser hervor, dass die ersten Begriffe nur Keime der späteren enthalten, er nennt sie Urbegriffe. Diese sind noch mit undifferenzierten Vorstellungen verknüpft. Wenn aber das Kind die Umgebung genauer zu differenzieren vermag, entstehen die Einzelvorstellungen und werden mit Wortvorstellungen, häufig mit Wörtern, die in der Muttersprache einen All- gemeinbegriff bedeuten, also einen grössern Umfang, in Beziehung gebracht. Das Kind bezeichnet zunächst nur seine Mutter mit „Mama“. Mit der weitern Ent- wicklung der Einzelbegriffe entstehen wieder Wortverallgemeinerungen infolge des noch bestehenden Wortmangels. Das Kind gewinnt dann für Dinge, die in gewisssen Beziehungen zu einander stehen, die gleichen Bezeichnungen. Fortdauernde Ver- gleichung der Begriffe führt allmählich zur Bilduug von Allgemeinbegriffen, welche denen der Muttersprache teils entsprechen, teils nicht entsprechen.

In der Entwicklung vom Ur- zum Einzel- und Allgemeinbegriff tritt später cine Abkürzung ein, so dass mit dem Einzelbegriff begonnen wird. Wenn die Er- fahrung des Kindes in der Umgrenzung der Begriffe noch weiter gewachsen ist, so wird es alle Wortbedeutungen, mögen es Einzel- oder Allgemeinbegriffe sein, im ersten Augenblicke klar zu erfassen vermögen.

Es ist iiusserst interessant, die Entwicklung der Allgemeinbegriffe aus den Einzelbegriffen nicht nur beim Kinde, sondern auch bei den Völkern an der Hand ihrer Sprache zu verfolgen. Bei manchen Urvölkern drückt sich das Beharren auf einer niedrigen Stufe des Denkens in ihrer Armut an Allgemeinbegriffen aus. Die Melanesier können im allgemeinen nur bis 10 zählen, die Australier ge- wöhnlich nur bis 3 oder 5. Für Einzelbegriffe, z. B. für einige Vögel, Fische, Bäume etc. haben sie wohl Einzelbezeichnungen (Namen), aber es fehlt ihnen der Allgemeinbegriff „Vogel“, „Fisch“, „Baum“ etc. Die Tasmanier sagen für hart „steingleich“, für rund „mondgleich“ ete.*) Eine ähnliche Ausdrucksweise findet man bei einigen Kindern, die „gross“ und „klein“ durch eine Verbindung mit „Mama“ und „Kind“ ausdrücken.

Der Verfasser kommt nach diesen Ausführungen auf die verschiedenen Arten der Begriffe zu sprechen. Welche Arten von Begriffen das Kind am meisten be- vorzugt, erkennt man aus den vorbin erwähnten Tagebuchaufzeichnungen und Tabellen. Ganz besonders ist das Lebende, sich Bewegende, was die Kinder anzieht. Von den ersten LO Wörtern eines beobachteten Kindes bedeuteten sechs =: Menschen, eins = ein Tier und drei waren Interjektionen.

Zur bessern Erkenntnis der kindlichen Vorstellungen (des kindlichen Gedanken- kreises) werden von dem Verfasser auch die kindlichen Zeichnungen nach dem Beispiele nordamerikanischer Autoren (Sully und Tracy) herangezogen und er- örtert. Die ersten Zeichnungen sind in der Regel ein Wirrwarr gebrochener, ohne Sinn gekritzelter Linien. Nach längerer Zeit zeigt sich erst das Bestreben, mit

*) Die angeführten Beispiele entstammen den Völkerkunden von Ratzel und Peschel und den Reiseschilderungen v. d. Steinen.

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ihnen einen Sinn auszudrücken, obwohl die zeichnerische Fähigkeit nicht erheblich gewachsen ist. Mit kühner Phantasie wird das gemachte Gekritzel als irgend ein Gegenstand bezeichnet. Noch viel später kann man den Anfang einer gewissen Ordnung erkennen, von einer Ähnlichkeit aber ist noch wenig oder garuichts zu verspüren. Allmählich differenzieren sich die Zeichnungen zu gewissen Schemas. Auf dieser Stufe bleiben bereits viele Kinder stehen. Die Fähigkeit zu individua- lisieren erreichen nur talentvolle Kinder, sofern nicht der Unterricht eingreift. An den Zeichnungen der Kinder aus frühster Zeit zeigt sich wie an den ersten Begriffen: Geringer Inhalt, grosser Umfang.

Das folgende Kapitel behandelt die Satz- und Formenlehre der Kinder- sprache, d. i. die Entwicklung der Sütze und ihrer Bedeutungen. Der Verfasser unterscheidet dabei folgende Stufen: 1. Satzworte, 2. Sätze ohne Flexion, 8. Sätze mit Flexion und 4. Urteile und Schlüsse.

Zuerst dient ein einzelnes Wort zur Bezeichnung eines Gedankens (Satzes); „dudu“ bedeutet: Was tust du? Dann reiht das Kind zwei oder mehrere Wörter aneinander, ohne sie zu flektieren; „babe dschidschi“ heisst: „Babette ist mit der Eisenbahn fortgefahren.“ Anreihungen unflektierter Wörter aneinander finden sich auch in manchen Ursprachen. Schwachsinnige Kinder flektieren häufig auch nicht, ebenso taubstumme, wenn sie erst die Anfangsgründe der Lautsprache erlernt haben, oft aber auch noch später.

Allmäblich wendet das Kind auch Flexionen an, die jedoch oft ganz von der Muttersprache abweichen, namentlich in den Füllen, wo diese unregelmässige Formen bildet. Ein kleines Mädchen sagte z. B.: „Olga auszieht hat“ = Olga hat sich ausgezogen.

Die psychologische Entwicklung der Urteile geht in ihren ersten Anfängen auf psychische Erscheinungen vor der Sprachbildung zurück. Ein Kind, dus bein Anblicke eines farbenprächtigen Hahnes freudig lacht, tut psychisch dasselbe, wie ein älteres, das seine Bewunderung durch das Wort „schön“ ausdrückt. Aber nur im letzteren Falle sprechen wir von einem Urteile und unterscheiden dabei drei Stufen in der Urteilsbildung:

1. Eine Vorstellung wird durch ein Wort reproduziert. („schön“).

2. Auf dem Wege der successiven Reproduktion werden mehrere Wörter durch eine Anzahl simultan oder successiv gegebener Vorstellungen ausgedrückt. („Hahn schön‘).

8. Die Reproduktion von Wörtern erfolgt durch Wörter auf Grund selbständiger zwischen ihnen entstandener assoziativer Beziehungen. („Der Hahn ist schön.“) Die Kopula wird nicht durch eine dazu gehörige Sachvorstellung, sondern durch das aus der Muttersprache bekannte Urteilsverhältnis der beiden Wörter „Hahn“ und „schön“ ausgelöst.

Eine stufenartige Entwicklung, parallel der Wort- und Urteilsbildung, lässt sich auch an der Fähigkeit, Schlüsse zu ziehen und ausdrücken, beobachten. Auf der ersten Stufe wird eine komplizierte Schlusskette in einem durch ein Satz- wort repräsentierten Urteil angedeutet, auf der zweiten schon durch eine grössere Zahl von Wörtern u. s. w. Zunächst treten die induktiven Schlüsse auf, die teils

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denen der Erwachsenen entsprechen, teils aber auch anders geartet sind, ein geschränkt oder verallgemeinert. Die letztere Art tritt besonders häufig auf. kinzelerfahrungen werden mitunter auffallend über die Gebühr verallgemeinert. Ein Kind hört z. B. das Märchen vom Rotkäppchen; nun hält es jeden grossen Hund für einen Wolf; jede Grossmutter muss eine Haube haben ete Es fragt seine Grossmutter, ob sie die wäre, die der Wolf gefressen hätte u. s. f.

Kinder vermögen noch mangelhaft zu prüfen; sie folgern an den nächstliegenden Reproduktionen, unterscheiden noch nicht wesentliche von unwesentlichen Merk- malen, Ursache von Folge und lassen sich durch die Gleichheit der Bezeichnung leicht verleiten, Gleichheit der bezeichneten Vorstellungen anzunehmen.

Der deduktive Schluss ist erst möglich, wenn das Kind durch Induktion allgemeine Gedanken sich erworben oder angelernt hat; er folgt also dem induk- tiven Schlusse in weitem Abstande.

Darauf kommt der Verfasser auf die Stilistik des Kindes in seinen schrift- lichen Aufzeichnungen zu sprechen. An der Hand einiger Kinderbriefe wird die Stilistik einer eingehenden Kritik unterzogen. Die Armut ah Wörtern beeinflusst den Ausdruck ganz erheblich; es kommen vielfache Wiederholungen eines und des- selben Wortes in den Briefen vor, ferner Pleonasmen, häufige Metapher etc. (Ein Kind sagte beim Anblicke der brennenden Laterne eines Radfahrers: „Er hat Lichtungen “) Bildliche Ausdrücke der Muttersprache werden wörtlich genommen. Charakteristisch ist in den Briefen der übermüssige Gebrauch bestimmter Verben, ı B. haben, tun, kriegen etc.

Der Satzbau ist durchweg einfach; der Gedanke leidet einerseits an grosser Knappheit, andererseits an Häufung bestimmter Vorstellungen; ebenso ist die Dar- stellung bald übermässig kurz und lückenhaft, bald übertrieben deutlich. Eigen- artig erscheint der häufige unvermittelte Gedankenwechsel, die Fixierung jedes Ge- dankens, der gerade das Hirn durchblitzt (enfant terrible), das in den Vordergrund- stellen des eigenen Ichs und das Beimessen von grosser Bedeutung kleinlichen Dingen aus der nächsten Umgebung. Den ergötzlichen Kinderbriefen ist als Gegen- stück die wörtliche Übersetzung einer Mythe der Bantu-Stämme Südafrikas gegen- übergestellt, um zu konstatieren, dass eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Stile der kindlichen Aufzeichnungen und der sprachlichen Ausdrucksweise unkultivierter Völker besteht.

Einen Abschluss in der menschlichen Erkenntnis bildet die Ausbildung einer Welt- anschauung; auch das Kind mit seinen mangelhaften Kenntnissen gelangt zu einer solchen. Die kindliche Weltanschauung ist die Urmutter aller Weltanschauung überhaupt. Das Kind besitzt, wie es der Verfasser an Beispielen aus eigener Be- obachtung und aus der Literatur*) zeigt, seine Ansichten über ein göttliches Wesen, die Weltkörper, die Erde, das Verhältnis der lebenden und unbelebten Wesen etc.

Wenn die Untersuchungen, Vergleichungen und Erklärungen des reichen Be- obachtungsmaterials auch nicht auf die Gewinnung pädagogischer Vorschriften und

*) Die einschlägische Literatur dieses Gegenstandes findet sehr häufig Berücksichtigung und kritische Würdigung.

188

Imperative gerichtet sind, so dürften die angestellten Erhebungen selbst, wie auch die Ergebnisse derselben für uns überaus interessant und lehrreich sein. Es ist in unsrer Zeitschrift schon wiederholt auf den grossen Wert, welchen eine genaue Kenntnis der Sprachentwicklung des Kindes für den Lehrer und Erzieher der Schwachsinnigen bedeutet, hingewiesen; die hier nüher besprochene Schrift er- scheint gerade wegen ihrer sachgemässen, prägnanten Ausführungen mehr als alle bisher bestehenden Arbeiten dieses Gebiets geeignet, uns weitgeliend Aufschlüsse über die elementarsten Regungen der Kindersprache zu geben. Wir wünschen daher dem Buche eine weite Verbreitung und eine eingehende Be- nutzung auf dem Gebiete des Schwachsinnigenbildungswesens

Mitteilungen.

Berlin. -(Nebenschulen.) Es bestehen hier gegen 90 Nebenklassen und 1 Hilfsschule. Die neueste Nebenschule, bestehend aus 7 Klassen, wurde mit Beginn des Winterhalbjahres im Schulgebäude Brunnenstrasse 186 eröffnet.

Berlin. (Vorträge über die Behandlung geistesschwacher Kinder.) Am 15. Oktober begaun Herr Erziehungsinspektor Piper-Dalldorf seine Vortrüge über „die Behandlung geistesschwacher Kinder“. An der grosseu Zahl der Anmel- dungen zeigte es sich, dass diese Vorträge einem allseitig empfundenen Bedürfnisse ont- sprechen. Leider konnten wegen des beschräukten Raumes nur einige 380 Hörer berücksichtigt werden; weit über die doppelte Anzahl derselben musste «uf den nächst- jährigen Kursus vertröstet werden. Horr Inspektor Piper beabsichtigt nämlich, diese Vorträge, die mit zahlreichen Demonstrationen verbunden sind, im nächsten Jahre zu wiederholen, dann aber nicht nur für Berliner, sondern auch für auswärtige lehrkräfte-

Berlin. (Fortbildungsschule für geistig Zurückgebliebene.) Demnächst wird hier in dem Schulhause, Brunnenstrasse 186, eine Fortbildungsschule für geistig zurückgebliobene Knaben und Mädchen eröffnet werden. Zur Aufnahme sollen zugelassen werden ehemalige Schüler und Schülerinnen von Noben- klassen und solche junge Leute, welche sich infolge von Krankheit, geistiger Minder- wertigkeit u. s. w. nicht das volle MaR an Schulkenntnissen und Fertigkeiten der Volksschule aneignen konnten. In jeder Klasse sollen höchstens 12 Schüler unter- richtet werden, damit sich der betr. Lehrer oder Lehrerin auch mit jelem einzelnen eingehend beschäftigen kann. Beruf und Eigenart eines jeden Schülers soll bei Er- teilung des Unterrichts eingehend berücksichtigt werden. Dieser Unterricht beschrānkt sich vorläufig auf Deutsch, Rechnen und praktische Gesellschaftskunde. Unter letzterem Fach soll das genaue Bekanntmachen mit den wichtigsten sozialen, Wohltätigkeils- und Verkehrseinrichtungen, Post u. s. w. zu verstehen sein. In einer besonderen Klasse sollen auch schwerhörige geistig Zurückgebliobene unterrichtet werden. Der Besuch dieser Fortbildungsschule ist kostenlos. Der Unterricht findet für beide Ge»chlechter je zweimal in der Woche statt (Montag und Donnerstag von 7—9 Uhr für Knaben, Dienstag und Freitag von 6—8 Uhr für Mädchen). Herr Filialleiter A. Fuchs nimmt die Anmeldungen entgegen.

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Berlin. (Erziehungs- und Fürsorge-Verein.) In der Sitzung des Er. ziehungs- und Fürsorge-Vereins für geistig zurückgebliebene (schwachsinnige) Kinder am 3. November sprach zunächst Herr Dr. Gündel, Direktor der Idiotenanstalt Rastenburg über „Die Organisation der Hilfsschule‘. Er ging von dem Grundsatz aus, dass für diese Schule das Wort „Bete und arbeite“ zu gelten habe und bezeichnete als Ziel desselben, dass die Kinder konfirmations- und erwerbs- fähig zu machen seien. Redner sprach dann ausführlich über die Unterrichtsstoffe und Unterrichtsmethoden in der Hilfsschule. Als besondere Unterrichtsgegenstände sollten nach seiner Meinung auch das Formen, sowie der Sprech- und Handfertig- keitsunterricht gelten. -— Der zweite Redner war Herr Stadtschulinspektor Dr. von Gizicki, Vorsitzender des oben genannten Vereins. Er gab einen hochinteressanten Ausblick in die Zukunft der Berliner Nebenklassen. Schon lange sähen die Päda- gogen der Entwickelung der Nebenklassen in der Reichshauptstadt mit Spannung entgegen. Wohl sei bei der Umwandlung der Nebenklassen in Hilfsschulen das Für und Wider reiflich zu erwägen, aber der Hauptgrund dagegen, nämlich der Kosten- punkt, habe nach seiner Meinung keine Berechtigung. Jedes Kind der Neben- klasse koste Berlin jährlich 257,60 Mk., während Frankfurt a. M. ungefähr 230 Mk., Dresden 185,50 Mk. dafür aufwende. Die Frequenz könnte in den Klassen der Hilfsschule bedeutend erhöht werden, während sie jetzt durchschnittlich nur 14,,, beträgt und auch bei der jetzigen Zusammensetzung des Schülermaterials kaum höher sein dürfte. So betrage die Frequenz in Charlottenburg 18,9, in der Hölderlin- schule in Frankfurt a. M. 20,8. Man würde also bei der Umgestaltung die Mittel gewinnen nicht nur zur Errichtung von Stellen für die Leiter solcher Schulen, sondern auch zur Anlegung von Schüler-Werkstätten und zur Einrichtung von Kursen für die Ausbildung von Lehrpersonen. Der reiche Segen würde sich dann später auch beim Etat der Armenverwaltung, der Krankenhäuser und Ge- füängnisse wohl bemerkbar machen. Beide Vorträge wurden mit grossem Beifall aufgenommen, doch musste der vorgeschrittenen Zeit wegen auf eine Diskussion leider verzichtet werden. -—- Am Mittwoch den 11. November hielt die vom Verein gewählte „Soziale Kommission“ ihre erste Sitzung ab. Die Tagesordnung war folgende: 1. Aufgabe, Organisation und Arbeitsweise der Sozialen Kommission des Erziehungs- und Fürsorge-Vereins. Referent: Herr Rektor Pagel aus Berlin. 2. Beschlussfassung über Bildung von Schulausschüssen und Gewinnung von Organi- sationen. Die Versammlung war von bestem Erfolg gekrönt, denn von den ungefähr 40 Erschienenen liessen sich weit über die Hälfte als Mitglieder von Schulaus- schüssen und einzelne auch als Organisator solcher Schulausschüsse einschreiben.

Dalldorf. (Stiftungsfest.) Am 17. November beging unsere Idiotenanstalt ihr 22. Stiftungsfest Wie immer, so war auch dieses Mal die Anzahl der er- schienenen Freunde und Förderer der Anstalt eine grosse. Unter ihnen bemerkten wir u. a. die Schwester des Oberbürgermeisters Kürschner von Berlin, die mit sichtlichem Interesse den Darbietungen der Zöglinge folgte, sowie den Direktor und mehrere Ärzte der städt. Irrenanstalt. Die Feier wurde eröffnet durch eine Andacht mit einer sich anschliessenden Ansprache des Leiters der Anstalt, Er- ziehungs-Inspektor Piper. Nach derselben wurden seit dem Bestehen der Anstalt,

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den 18. November 1881, 1680 Zöglinge, (1117 Knaben und 563 Mädchen) auf- genommen und 1488 Zöglinge, (987 Knaben und 504 Mädchen) entlassen. Der gegenwärtige Bestand beträgt 192 Zöglinge, (133 Knaben und 59 Mädchen); die Anstalt hat Raum für 220 Zöglinge Die Kinder wurden in einer 6stufigen (12klassigen) Schule von 6 Lehrern und 4 Lehrerinnen unterrichtet. Am Schusse des Schuljahres konnten u. a. versetzt werden von der II. in die I. Klasse 12 Zörlinge. Den Konfirmandenuuterricht besuchten in 2 Abteilungen 21 Knaben und 6 Mädchen, und 7 Knaben und 3 Mädchen konnten konfirmiert werden. Von der Buchbinderwerkstatt wurden geliefert: 228 Neuanfertigungen, 101 Reparaturen, ausserdem 800 Schreibhefte für den Bedarf der Anstalt, 18000 Schreibhefte für die städtische Schuldeputation, 1483 verschiedene Hefte für die Fachschulen und 2 Bünde für die Blindenanstalt. Ähnliche Resultate wurden in den übrigen Werkstätten erzielt. In der Gärtnerei wurde für Schnittblumen und Topfgewächse der Betrag von 733,50 Mk. vereinnahmt. Zur Erlernung eines Handwerks kamen von den entlassenen Knaben im ganzen 14 und zwar wurden Gärtner 6, Tischler 4, Schuh- macher, Schneider, Korbmacher und Buchbinder je 1. Die übrigen Entlassenen kamen teils zu den Eltern, teils zu Landleuten behufs Beschäftigung in der Land-, Haus- und Handarbeit. In der Lehre und Pflege befinden sich gegenwärtig 75 Zög- linge (55 Knaben und 20 Mädchen). An Pflegegeldern wurden mit Rücksicht auf die Leistungen sowohl der Burschen als auch der Mädchen 1140 Mk. weniger als veranschlagt ausgegeben. Auf die Ansprache folgten Unterrichtslektionen in ver- schiedenen Fächern. Besonders interessant erschien den Anwesenden das Modellieren mit Plastelina. In der Turnhalle fand alsdann die launige Begrüssung der Gäste durch 9 Zöglinge statt, deren jeder eine in der Anstalt betriebene Beschäftigung -— bez. Handwerk vertrat, und hieran schloss sich die Vorführung einiger Turn- klassen an. Zum Schluss erfreute die Anwesenden noch die Hauskapelle durch eine musikalische Darbietung. Nach Besichtigung der ausgestellten Arbeiten der Zöglinge und nach Einnahme eines von dem Anstaltskuratorium gelieferten solennen Frühstücks verliessen die Teilnehmer die Feier vollbefriedigt und mit reichen Anregungen versehen die gastlichen Räume der inmitten ausgedebnter Parkanlagen idyllisch gelegenen Anstalt. Die Zöglinge selber wurden am Abend noch durch Lichtbilder mit begleitenden Text und durch kinematographische Darbietungen belustigst.

Frankfurt a. M. (Versammlung von Lehrern und Lehrerinnen an Hilfsschulen.) Wie wir schon ver:chiedentlich in Gross-Gerau tagten, so lud dies- mal Herr Hilfsschulleiter Wettig-Mainz zu einer Versammlung wach Frankfurt ein. Diese Versammlung fand Samstag, den 24. Oktober statt und war von 25 Damen und Herren aus Fraukfurt, Idstein, Offenbach Darmstadt, Mainz, Worms und Wiesbaden besucht. Nachdem Herr Rektor Bleher-Frankfurt die Erschienenen in warmen Worten begrüsst und seiner Freude über das zahlreiche Erscheinen Aus- druck gegeben hatte, leitete Herr Wottig-Mainz die weiteren Verhandlungen. Als erster Punkt stand auf der Tagesordnung die Bildung eines Vereines und Wahl des Vorstandes, doch stellte man vorerst diesen Punkt zurück und ging zu dem Referate des Kollegen Schnaidt-Idstein, „Das Losebuch in der Hilfs-

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schule“, über. Beferent legte seinen Ausführungen folgende Fragen zu grunde. 1. Wolche Auforderungen stellen wir un! müssen wir stellen an ein Lesebuch für Hilfsschnlen? 2. Kanı ein Lesebuch für Normalschulen diesen Anforderungen gerecht werden? 3. Wie verhält sich’s in dieser Bezielung mit dem Leipziger Hilfsschul- esebuch? Es wurde uutor anderem treffend hervorgehoben, dass der Anlage eines guten Lesebuches ein gut auszearbeiteter Lehrplan zu grundo liegen müsse, und da:s die Anordnung des Stoffes in wicderlolenden konzentrischen Kreisen stattfinden müsse. Die Stücke dürfen nicht gross sein und sollen 2 Druckseiten nicht überschreiten. Der Stil sei einfach, aber nicht trocken. Gute Gedichte sollen reichliche Aufnahme finden Gute Abbildungen können bei richtiger Verwendung nur zweckdienlich sein, Die Frage, ob ein Lesebuch für Normalschulen Ersatz biete, sei entschieden zu vernoinen. Bezüglich des Leipziger Hilfsschullesebuches sagte Herr Schnaidt, der 1. Teil desselben sei, obgleich ihm auch noch verschiedene Febler und Mängel anhafteten, im grossen und ganzen genommen zur Verwendung zu empfehlen, während der 2. Teil in seiner jetzigen Form als mangelbaft bezeichnet werden müsse. Die Debatte über den Vortrag war sehr lebhaft. Es beteiligten sich an derselben vornehmlich Bleher, May und Hofimann-Frankfurt, Wettig und Büttner-Mainz, Schnaidt und Ziexler-Idstein und Büttner-Worms. Wettig-Mainz hat schon verschiedentlich mit Herrn Direktor Richter-Leipzig Verhandlungen gepflogen, wonach verschiedene Lesestücke aus dem 2. Teil ausgeschieden und passende dafür eingestellt werden sollen. Auch habe er persönlich Vorschläge und Ausarbeitungen gemacht. Es soll nun in diesem Sinne mit Leipzig weiter verhandelt werden. Na h Erledigung der Lese- buchfrage schritt man zur Bildung eines Vereines. Zum Vorsitzenden wurde Wettig- Mainz, dor die erste Anregung zu den früheren Konferenzen gegeben hatte, gewählt. Als Stellvertreter wurde Rektor Bleher-Franfurt bestimmt. Die nächste Ver- Sammlung soll nächstes Frübjahr und voraussichtlich in Worms stattfinden. Büttner- Mainz wird über den „Handfortigkeitsunterricht* in der Hilfsschule, Ehrhardt- Frankfurt möglicherweise über den „Geographieunterricht“ referieren.

Nürnberg. (Internationaler Kongress für Schulhygiene.) Für die Abteilung für Hilfsschulen ist Hilfsschulleiter Fr. Frenzel in Stolp i Pom. als Referent bestellt worden.

Plauen i. V. (Vereinigung zur Förderung des sächsischen Hilfs- schulwesens.) In den letzten Septembertagen tagte hier der „Sächsische Lehrer- verein. Bei dieser Gelegenheit traten die anwesenden Leiter und Lehrer von Hilfsschulen zusammen und gründeten eine „Vereinigung zur Förderung des sächsischen Hilfsschulwesens“. Diese Vereinigung wird vorläufig immer in An- schluss an die Versammlung des Sächsischen Lehrervereins als eine Nebenversammlung desselben tagen. Zum Leiter der ersten Versammlung wurde deren Einberufer, Öberlehrer Delitsch-Plauen, gewählt. Derselbe hielt auch einen Vortrag über die Grundlinien zur psychischen Diagnose in der Hilfsschule Der Vortragende führte aus: Die Aufoahmeprüfungen für Hilfsschulen und Nachhilfe- klassen haben nur die Bedeutung einer psychischen Voruntersuchung. Man müsse in eingehendster Weise das Geistesleben schwacher Kinder analysieren. Dabei habe man sein Augenmerk auf jede einzelne Empfindungsqualität zu richten, ihre

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Intensität zu bewerten und ihrem Gefühlstone nachzuspüren. Auf dieser Basis könne man die Energie der Assoziationsvorgänge verstehen und den individuellen Gefühls- und Willensregungen gerecht werden. Die ganze Darlegung lehnte sich an ein Beispiel aus der Praxis an und klang in einer Hervorhebung des Wertes einer so gründlichen Diagnose aus. Die Debatte beschäftigte sich mit den örtlichen Gepflogenheiten bei der Aufnahme in die Hilfsschule.. Im Einverständnisse mit dem Referenten wurde besonders betont, dass trotz sorgfältigster Prüfung eine unzutreffende Beurteilung der Befähigung der Kinder entstehen könnte. An die Prüfung müsse sich, sofern man zu festen Resultaten kommen wolle, ein um- fassendes Beobachten der Kinder in und ausserhalb der Schule anschliessen. Den 2. Vortrag hielt Direktor Tätzner-Dresden über „Vor- und Fort- bildung der Nachhilfeschullehrer. Er ging von dem erfreulichen Umstande aus, dass sich im Königreiche Sachsen das Nachhilfeschulwesen der besten Ent- wickelung erfreue und dass die Gemeinden mit Eifer die nötigen Geldmittel auf- bringen. Bei der Frage, ob die Nachhilfeschulen in Wirklichkeit das leisteten, was man von ihnen erhoffe, müsse man in allererster Linie nach der Tätigkeit des Lehrers sehen, denn in keiner Schulkategorie seien Erfolge oder Misserfolge so von der gesamten Tätigkeit des Lehrers abhängig wie in der Nachschule.. Warmes Herz, unermüdliche Geduld und ein hohes Maß von Selbstüberwindung seien zwar unerlässliche Bedingungen für ein gesegnetes Tun; der Nachhilfeschullehrer müsse aber auch über einen sicheren Blick und über eine geübte Hand, die richtigen Mittel anzuwenden, verfügen. Der Referent beleuchtete hierauf die Vorbildung des Lehrers und gab zu erkennen, dass die sächsischen Seminarien mit anzuerkennendem Ernste bemüht seien, die nötigen Vorkenntnisse zu vermitteln; der Vortragende ist aber der Meinung, dass die Seminarien nur dann ihre Aufgabe, die Lehrer mit den einschlagenden Gebieten aus der Hygienie, der Pathologie, der Psychopathologie und der Psychiatrie vertraut zu machen, in zweckdienlicher Weise lösen könnten, wenn der Seminarkursus auf 7 Jahre verlängert würde. Der Referent kam hierauf auf die Seminarübungsschulen zu sprechen und führte aus, wie sehr es erwünscht sei, wenn in diesen Schulen sich auch geistig minderwertige Kinder befänden. Solche Schüler seien für die angehenden Pädagogen die sogenannten schönen Fälle, an denen für die Praxis namentlich durch ein mit Verständnis gepflegtes Beobachten der Eigenart des Kindes viel gelernt werden könnte, mehr als durch das systematisch geordnete und in schön logischem Aufbau erfolgende Dozieren der Lehre von den Fehlern der Kinder. Ferner wurde der Wunsch ausgesprochen, dass die Bezirks- schulinspektoren in den Hilfslehrerkonferenzen den jungen Lehrern Anleitung zur Behandlung schwachsinniger Kinder geben möchten und dass sie bei den vorzu- nehmenden Revisionen den älteren Lehrern mit ermunterndem Rate zur Seite ständen, aber auch nicht duldeten, dass man die Schwächlinge links liegen lasse. Bezüglich der Lehrer, die in den Dienst der Nachhilfeschule übergehen, wünscht der Vortragende, dass diese vor ihrem Eintritte in das Amt eines Nachhilfeschul- lehrers Urlaub erhielten und einige Wochen in einer Nachhilfeschule hospitierten ; es sei aber nicht angebracht, gleich den Unterricht in verschiedenen Fächern zu besuchen; besser sei es, sich zunächst nur in einem Fache gründlich zu orientieren

rn.

und die Unterschiede zu studieren, die sich bezüglich des Stoffes und der metho- dischen Darbietung in den aufsteigenden Klassen zeigten. Für die Fortbildung des Nachhilfeschulwesens wünschte der Vortragende Errichtung von Lehrer- oder unter Umständen von Kreisbibliotheken, die kostspielige Werke der Fachliteratur zu enthalten hätten, und Gewährung von Mitteln zu Instruktionsreisen. Dann schilderte der Vortragende, wie durch die ins Leben gerufene Vereinigung für die Fortbildung des Lehrers gesorgt werden könnte, und schliesslich empfahl er mit überzeugenden Worten die Errichtung von Ferienkursen an der Landesuniversität Leipzig In der Debatte erklärte man sich mit dem Gebotenen einverstanden und fasste einstimmig den Beschluss: „Die Vereinigung zur Förderung des sächsischen Hilfsschulwesens beantragt bei dem Vorstande des Allgemeinen Sächsischen Lehrer- vereins, dass dieser bei den vorzunehmenden Schritten bezüglich der an der Landes- universität anzustrebenden Einrichtung von Fortbildungskursen für Lehrer auch Vortragende zu gewinnen sucht, welche Förderung der Erziehung geistigminder- wertiger Schüler in das Bereich ihrer Forschungen gezogen haben.“

Am Schlussse der 35 Teilnehmer zählenden Versammlung regte der Vor- sitzende an, dass die Mitglieder der Vereinigung, soweit sie dem Verbande deutscher Hilfsschulen nicht angehören, auch diesem beitreten. Es zeichneten sich 12 Herren.

Literatur.

Verhandlungen der IV. Schweizerischen Konferenz für das Idioten- wesen in Luzern am 12. und 13. Mai 1903. Herausgegeben im Namen des Konferenzvorstandes von C. Auer, Sekundarlehrer in Schwanden (K. Glarus), K. Kölle, Direktor der Erziehungsanstalt für Geistesschwache auf Schloss Regensberg, und H. Graf, Lehrer an den Spezialklassen in Zürich V. Selbst- verlag des Konferenzvorstandes. Preis Fr. 120.

Vorliegender Bericht, dem wir eine weite Verbreitung wünschen, gibt ein getreues Abbild nicht nur der Verhandlungen der IV. Schweizerischen Konferenz für das Idiotenwesen, sondern der in der Schweiz bestehenden Sorge für Schwach- und Blödsinnige überhaupt, indem er alle in den einzelnen Kantonen bestehenden Anstalten, Spezial- und Nachhilfeklassen unter Angabe der Zahl der Lehrer und Schüler anführt Man ersieht aus den Mitteilungen, welch eifriges Streben in der Schweiz auf dem Gebiete der Erziehung Geistesschwacher herrscht, und wie man daselbst darin wetteifert, den bedauernswerten Geschöpfen ein menschenwürdiges Dasein zu bereiten. Die Verhandlungen der Konferenz dauerten 2 Tage. Nachdem am 1. Tage zunächst der Vorsitzende der Konferenz, Sekundarlehrer Auer in Schwanden, über den gegenwärtigen Stand der Sorge für geistesschwache Kinder in der Schweiz unter besonderer Berücksichtigung der in den letzten beiden Jahren erzielten Fortschritte berichtet hatte, hielt der ärzt- liche Vorsteher der Anstalt für Epileptische in Zürich, Dr. med. Alfred Ulrich, einen Vortrag über den Schwachsinn bei Kindern, seine anatomische Grundlage, seine Ursachen und seine Verhütung. Ein mangelhaft ent- wickeltes oder krankes Gehirn bildet immer die Grundlage des Schwachsinns, ver- ursacht durch bestimmte Schiädlichkeiten, wie erbliche Belastung, Trunksucht und

194 Syphilis bei den Eltern, Krankheiten, Verletzungen, physische Erregungen der Mutter während der Schwangerschaft, Verletzungen der Kinder vor und während der Geburt, Verletzungen und Krankheiten des Gehirns in der ersten Kindheit, häusliche Verhältnisse u. s. w. Redner: fasste schliesslich den Inhalt seines Vor- trages in folgenden Thesen zusammen:

1. Schwachsinn ist der Sammelname für die mannigfaltigen verschiedenen geistigen Schwächezustände.

2. Der Schwachsinn ist die seelische Äusserung einer körperlichen Erkrankung (des Gehirns).

Die Erkrankung ist angeboren oder erworben, sei es bei der Geburt, sei es in frühester Jugend.

3. Die anatomischen Grundlagen der Gehirnerkrankung sind verschie- denster Art: Wachstumshemmungen, Entwicklungsfehler, Missbildungen, entzünd- liche und ähnliche Vorgänge im Gehirn. (Zu kleines, zu grosses Gehirn, Fehlen einzelner Teile, Erweiterung der Hirnhöhlen durch Flüssigkeitsansammlung u. s w.).

4. Als Ursachen der dem Schwachsinn zu grunde liegenden Gehirnerkrankung kennen wir:

Die erbliche Belastung.

Die Vergiftung der Keimzellen mit Alkohol und anderen Giften (Trunksucht bei den Eltern, Rauschzustand während der Zeugung).

Syphilis der Eltern.

Ausfall der Tätigkeit der Schilddrüse.

Erkrankungen, Vergiftungen und Verletzungen des kindlichen Gehirns vor, während und nach der Geburt.

5. Die vorbeugenden Massnahmen zur Verhütung des Schwachsinns bestehen theoretischerseits in der Erforschung der Ursachen, praktischerseits in der Be- kämpfung der bekannten Ursachen.

Die Hauptaufgaben sind: Aufklärung des Volkes über das Wesen und die Folgen der erblichen Belastung. Die Bekämpfung des Alkoholmissbrauches sowie anderer Gewohnheitsgifte. Die Bekämpfung der Syphilis. Die Bekämpfung der Tuberkulose. Die Bekämpfung des Kretinismus. Die Bekämpfung der Armut sowie des Elendes überhaupt. Fernere Mittel zur Verhütung des Schwachsinns sind: Schonung und richtige Pflege der Mutter während der Schwangerschaft. Schonung der Kinder während der Schwangerschaft, bei und nach der Geburt.

Im Anschluss und zur Ergänzung dieses Vortrages kam eine Arbeit des am Er- scheinen verhinderten Dir. F. Kölle zur Verlesung, die in eingehender Weise die Ursachen des Schwachsinns behandelt.

Über den Inhalt beider Vorträge entstand eine lebhafte Debatte, von einer Abstimmung über die Thesen aber wurde abgesehen.

Der 2. Tag war in erster Linie den Lehrern und Pflegern der Schwachsinnigen gewidmet, indem der Vorsteher der Erziehungsanstalt in Mauren, P. Oberhänsli,

über die Stellung der Lehrkräfte und übrigen Angestelten in den An- stalten für Schwachsinnige sprach und Lehrer J. Herzog-Luzerh die Stellung der Lehrkräfte an den Spezialklassen behandelte. Es geschah an der Hand folgender Thesen:

l. Die Spezialklasse für Schwachbegabte ist ein integrierender Bestandteil der Volksschule. Der Lehrer an derselben ist deshalb den gesetzlichen Vorschriften und Verordnungen unterstellt, die für die Primarschule Gültigkeit haben.

2 Es kann kein Lehrer zur Übernahme einer Spezialklasse gezwungen werden; deshalb muss ihm der Rücktritt in die Normalschule freistehen, wie er auch von den Behörden in dieselbe zurückversetzt werden kann.

3. Durch seine spezielle berufliche Ausbildung erhält er eine gewisse selb- ständige Stellung, und in der Schulführung soll er so weit Freiheit erhalten, dass er Lehbrziel, Lehr- und Lektionsplan den jeweiligen Verhältnissen anpassen kann.

4. Der Lehrer der Minderbegabten muss manches Angenehme entbehren, was im Verkehr mit geistig frischen Kindern ihn erfreut und ermutigt; auch tritt ihm im Verkehr mit den Kindern und deren Eltern manches Unangenehme entgegen.

5. Die Arbeit in der Hilfsschule stellt hohe Anforderungen an die Kräfte des Lehrers. Diese vermehrten Anforderungen sollen durch eine Besoldungszulage einigermassen ausgeglichen werden.

6. Der Lehrer soll sich der aus der Hilfsschule entlassenen Zöglinge in liebe- voller Fürsorge annehmen.

Den Schluss der Vorträge bildete der Vortrag des Vorstehers J. Straumann von Schloss Biberstein bei Arau über die Sorge für die Schwachsinnigen und Schwachbegabten nach ihrem Austritte aus den Anstalten bezw Spezialklassen. Diesem Vortrage waren folgende Thesen zu grunde gelegt:

1. Erziehung und Unterricht in Anstalten und Spezialklassen für Schwachsinnige und Schwachbegabte sind so zu gestalten, dass auf ein möglichst selbständiges Fortkommen der austretenden Zöglinge Bedacht genommen wird.

2, Zu diesem Zwecke ist neben den Schulfächern dem Handfertigkeitsunter- richt und den Handarbeiten alle Aufmerksamkeit zu schenken.

3. Es sollen nach dem Vorgehen der Schweiz von (remeinnützigen Gesellschaften in den Orten, wo Anstalten und Spezialklassen für Schwachsinnige und Schwach- begabte errichtet sind, Kommissionen ernannt werden, die Patrone für austretende ZJöglinge bestellen.

4. Diese Patrone haben den erwerbsfühigen Schwachsinnigen geeignete Plätze zu suchen und ihnen mit Rat und Tat an die Hand zu gehen.

5. Für die nur zum Teil erwerbsfähigen Schwachsinnigen sind Asyle mit land- wirtschaftlichen Betrieb zu gründen.

Der Staat leistet angemessene Beiträge, und die Gemeinden, deren Orts- angehörige hier versorgt sind, sorgen für genügende Kostgelder.

6. Damit für die unglücklichen Idioten allseitig gesorgt werde, sind Blöd- sinnige und erwerbsunfähige Schwachsinnige in besonders zu gründenden Pflege- anstalten unterzubringen.

Die finanzielle Unterstützung geschieht wie bei These 5.

196

Unser hochverehrter Gönner und Freund,

Geheimer Hofrat Herrlich zu Berlin,

welcher im Oktober 1899 in voller geistiger Frische sein 60 jähriges Dienstjubiläum feierte, hat das Zeitliche gesegnet. Alle Teilnehmer unserer Konferenzen, welche den Verewigten

als einen eifrigen Besucher und unermüdlichen Helfer derselben, sowie stets wohlwollenden Freund kennen gelernt haben, bewahren ihm ein treues Andenken.

H. Piper,

Vorsitzender der X. Konferenz für das Idiotenwesen und Schulen für schwachsinnige Kinder.

Die XI. Konferenz für das Idiotenwesen und Schulen für schwachsinnige Kinder

findet im September 1904 zu Stettin statt Der Unterzeichnete

bittet, etwaige Wünsche für die Konferenz, sowie Vorschläge für die Beratung,

Einsendung von Themen spätestens bis Ende März 1904 einzusenden. Dalldorf, im November 1903. H. Piper,

Vorsitzender der X. Konferenz.

Zur Beachtung!

Mit vorliegender Nummer schliesst die Zeitschrift für die

Behandlung Schwachsinniger und Epileptischer

ihren XIX. Jahrgang. Form, Umfang und Preis der Zeitschrift bleiben im neuen Jahrgange unverändert. Bestellungen wolle man gefälligst bald bewirken.

Die Herausgeber.

Briefkasten.

R. W. i. B. Obgleich die Vorteile des Austausches auf der Hand liegen, so ist es ewiss nur interessant, wenn derselbe einmal von verschiedenen Seiten beleuchtet wird. Im übrigen aber hat nicht die oder jene Hilfsschule den Austausch zuerst eingeführt, sondern es bestand derselbe vielmehr früher in einigen Anstalten, ebenso besteht unseres Wissens dieselbe Einrichtung auch in einigen Priavatschulen für normale Kinder. -- B. K.i. L Ob am besten halb- oder kan a nage Lektionen zu halten sind, darüber gehen die Meinungen auseinander; vielleicht erörtert diese Frage aber einmal einer der Kollegen. Unsere Zeitschrift steht zur Verfügung.

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Inhalt. Die Auswechslung von Schülern in der Hilfsschulklasse.. (Wettig.) Der Austausch von Schülern zwischen den verschiedenen Klassen der Hilfsschule. (W. B ock.) Die nordischen Versammlungen für Abnormsachen. H. Stelling.) Die Entwicklun von Sprechen und Denken beim Kinde. (F. Frenzel.) Mitteilungen: Berlin, Dalldorf, Frankfurt a. M,, Nürnberg, Plauen i. V. Literatur: Auer, Kölle, Graf, Verhandlungen der IV. schweizer. Konferenz für das Idiotenwesen. Anzeigen. Briefkasten.

Für die Schriftleitung verantwortlich: W, Schröter in Dresden. Kommissions-Verlag von H. Burdach, K. S. Hufbuchhandlung in Dresden, Druck von Johannes Pässler in Dresden.

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