p

Zeitschrift für

Experimentelle Pädagogik,

Psychologische nnd pathologische Kinderforschung

mit Berücksichtigung der

Sozialpädagogik nnd Schnlhjgiene

unter Mitwirkung von:

Prof. Dr. If. Ach, Königsberg i. P. ; Dr. E. Ebert, Lehrer, Zürich ; Dr. A. Engrels- perger, Lehrer in München; L. F. GSbelbeeker, Hauptlehrer in Konstanz; Prof. Dr. H. H. Goddard in Vineland, N. J.; Frau Dr. L. Hoesch Ernst in Godesberg ; Prof. Dr. Ch. H. Jadd, Yale University, New Haven; Prof. Dr. Krogins in St. Petersburg; Dr. Aug. Mayer , Lehrer in Würzburg ; Prof. Dr. A. Xetschajeff in St. Petersburg ; Dr. L. Pfeiffer, Lehrer in Würzburg; Prof. Dr. Banschbar? in Budapest; Dr. Fr. Schmidt, Lehrer in Würzburg; Prof. Dr. Schuyten in Antwerpen; Prof. Dr. E. D. Starbuck in Richmond, Indiana; Prof. Dr. G. M. Stratton, Johns Hopkins University Baltimore ; Dr. A. StSssner, Seminaroberlehrer in Pirna ; Dr. 0. Ziegler in München

herausgegeben von

K Meumann,

o. Professor der Philosophie u. Pädagogik a. d. üniv. Münster iW.

I

'V. IBand.

OTTONEMNlCH ^\ Q 1

vtKLne \ " I

LEIPZIG.

1907.

Inhalt.

Abhandlungen. Seite

Visuelle Erinnerungsbilder beim Eechnen. Von K. Eckhardt,

Frankfurt a. M 1—22

Experimentelle Untersuchungen über den Aufsatz des Volks- schülers in Haus und Schule. Von Friedrich Schmidt, "Würzburg 23 50

Harmloses kindliches Gredankenspiel oder phantastische Lüge, abnorme Selbsttäuschung oder pathologische Einbildung. Von F. L. Gröbelbecker, Konstanz 50 63

Arbeiten aus dem städtischen pädagogischen Laboratorium Ant- werpens. Von Marx Lobsien, Kiel 63 66

Der sechste Sinn der Blinden (Nachtrag zu der in Bd. HI, 3/4 und Bd. rV, 3/4 veröffentlichen Abhandlung). Von Ludwig Truschel, Straßburg i. E 66—77

Zur Frage vom sechsten Sinn der Blinden. Von Aug. Krogius,

St. Petersburg 77—89

Erziehung eines anormalen Mädchens. Von L. Maurer,

Langenzenn bei Fürth (Bayern) 89 105

Der Anteil der nachkonstruierenden Tätigkeit des Auges und der Apperception an dem Behalten und der Wiedergabe einfacher Formen. Von Gustav Albien, Königsberg . 133 156

Die Ideale der Kinder. Von Henry Herbert Goddard,

West ehester (Pennsylvania) 156 173

Bericht über den Kongreß für Kinderforschung und Jugend- fürsorge zu Berlin. Von Alf onsEngelsperger, München 174 197

Die Entwicklung des Interesses des Kindes, Von Ladislaus

Nagy, Budapest 198—218

Neulandstrecken für das pädagogische Experiment. Von Paul

Lang, AVürzburg 218—222

Seite "Weitere Untersuchungen über die Beziehungen zwischen Schädel- umfang und Intelligenz im schulpflichtigen Alter. Von Dr. med. Bayerthal, Worms 223—230

Mitteilungen und Diskussionen.

Die experimentelle Pädagogik in Belgien. Von T. Jonckheere,

Brüssel 105—112

Ein „Institut für angewandte Psychologie und psychologische

Sammelforschung" 112 116

Literaturberichte 116—131 und 231—252

Abhandlung'en .

Visuelle Erinnerungsbilder beim Rechnen.

Ein Beitrag zur Didaktik des ßechenunterrichts der Unterstufe. K. Eckhardt, Frankfurt a. M.

Die gesamte ältere Psychologie, die Herbartsche nicht ausgeschlossen, schildert als ihr Objekt eine nur begrifflich existierende, schematische Xormalpsyche. Die Notwendigkeit einer solchen begrifflichen Zusammen- fassung der übereinstimmenden psychischen Tatsachen kann durchaus nicht bestritten werden. Jede Wissenschaft sucht soweit als möglich zu einem systematischen Abschluß zn gelangen, und das spekulative Denken findet in dem innerlich zusammenhängenden System seine Be- friedigung. Aber schon vom rein psychologischen Interesse aus bedarf diese Darstellung einer Ergänzung. Bei dem Bestreben, möglichst zn einem System zu gelangen, wird man das Studium der Besonderheiten des individuellen Seelenlebens vernachlässigen und durch allerhand Hypo- thesen und Spekulationen ins Innere zu dringen suchen. Das ist ver- gebliches Mühen. Man wird über das Zentrum des Kreises erst etwas erfahren, wenn man die Peripherie untersucht. Und nur die peripherischen Äußerungen des Seelenlebens sind unserer Beobachtung gegeben.

Von didaktischem Interesse aus ist eine Psychologie, die eine Normal- psyche zum Gegenstand der Betrachtung hat. eine nahezu unfruchtbare Wissenschaft. Die Didaktik ist Kleinarbeit. Sie hat es mit wirklichen, nicht schematischen Seelen zu tun. Sie will jeder Individualität gerecht werden, denn sie will ja mit der rechten Technik die nötige Ökonomie der geistigen Arbeit verbinden. Deshalb interessiert sie nicht die Frage nach dem Wesen der Aufmerksamkeit, sondern nach den individuellen Äußerungen der Aufmerksamkeit; nicht Erörterungen über das Wesen des Gedächtnisses sind von didaktischem Interesse, sondern die Frage nach den individuellen Formen des Lernens, Erinnerns und Vergessens sind für die Unterrichtslehre von Bedeutung. Eine Psychologie, deren Gegenstand eine Normalpsyche ist, wird auch die für die unterrichtliche Arbeit so bedeutsamen Unterschiede zwischen der Kindesseele und dem Seelenleben Erwachsener übersehen müssen. Unsere Unterrichtsarbeit ist eine Aneinanderreihung von vielen Einflüssen, die, einzeln betrachtet,

Meumann, Exper. Pädagogik. V. Band. 1

2

oft recht geringfügig aussehen. Bei dem Blick auf die großen Ideale, die als helle Leitsterne am fernen Himmel stehen, darf das Nächst- liegende nicht übersehen werden, darf man nicht vergessen, daß der Weg zum Ziel aus vielen tausend einzelnen Schritten zusammengesetzt ist. Jeder Schritt soll zweckmäßig sein; deshalb bedürfen wir als Führerin nicht einer systematischen Psychologie, wie sie noch so sehr verbreitet ist, sondern einer Anleitung, die typischen Eigentümlichkeiten der Kinder zu würdigen und zu pflegen. Zur fruchtbaren pädagogischen Kleinarbeit ist die Fortentwicklung der experimentellen Pädagogik notwendig. Nun steht man in Lehrerkreisen der Lehre von den Vorstellungstypen und Arbeitstypen noch sehr abwartend, um nicht zu sagen skeptisch, gegen- über. Man glaubt, diesen Typen könne man doch keine individuelle Ausbildung gewähren. Dazu müsse man die einzelnen Typen in ver- schiedene Klassen sondern. Man sucht sich vor dem pädagogischen Imperativ dieser Lehren dadurch herauszureden, daß man auf den alten Grundsatz des Comenius hinweist: Man soll möglichst vielen „Sinnen" gerecht werden. Man vergißt, daß sich diese Typen weniger auf die Wahrnehmung, als auf die Erinnerung beziehen, übersieht, daß der Gregen- satz zwischen fixierender und fluktuierender Aufmerksamkeit mit den „Sinnen" zunächst nicht viel zu tun hat.

Allerdings ist dieser Skeptizismus erklärlich, weil die Frage nach der didaktischen Bedeutung der Typen noch zu wenig besprochen worden ist. In diesen Ausführungen soll auf eine Seite dieser Bedeutung hin- gewiesen werden : die Kenntnis der Typen gibt uns die Möglichkeit, dem einzelnen Schüler auf die Vorteile seiner individuellen Arbeitsweise auf- merksam zu machen, ihm den rechten Grebrauch seines Typs zu zeigen und geläufig zu machen. Wie das im Rechnen geschehen kann, besonders beim Rechenunterricht auf der Unterstufe, sei der Gegenstand dieser Ausführungen. Ich beschränke mich wieder auf einen Punkt: Wie kann der visuelle Typ im Rechnen besonders gepflegt werden?

Das Rechnen hat es mit Zahlbegrifi'en zu tun. Begriffe sind nicht vorstellbar ; sie können nur dann sinnliche Existenz erhalten, wenn eine Individualvorstellung als Repräsentantin über die Schwelle des Bewußt- seins tritt. So kommt es, daß die rein logische Tätigkeit des Rechnens von verschiedenen Vorstellungen begleitet ist. Diese brauchen nicht immer visueller Art zu sein. Man denkt gar oft nur an diese Art Vor- stellungen, wenn von konkreten Vorstellungen die Rede ist und faßt nur sie in dem Wort Anschauungen zusammen. Das Rechnen ist von motorischen Innervationen begleitet, der Akustiker reproduziert Klangbilder der Zahlwörter, der Visuelle Gesichtsbilder verschiedener Art.

3

Im Hinblick auf diese letzteren soll hier versucht werden, zu zeigen, welche Bedeutung sie für das „Zahlengedächtnis" haben, inwieweit sie eine Rolle bei den Rechenoperationen spielen, und ob sie einer Beein- flussung durch den Rechenunterricht zugänglich sind.

Hinsichtlich der Beobachtungen, die dem Folgenden zugrunde liegen, ist folgendes zu bemerken: die Versuchspersonen sind Schulkinder vom 8. 10. Jahr. Die Versuche erstrecken sich über einen Zeitraum von 2 Jahren. Es war dies möglich, da ich die Klasse von der zweiten Hälfte des ersten Schuljahrs an durchgeführt habe.

Hinsichtlich der Art der das Denken an Zahlen begleitenden Gre- sichtsvorstellungen mußte ich mich natürlich auf die Aussagen der Kinder auf Grund ihrer Selbstbeobachtung verlassen. Da die Art der Selbst- beobachtung verhältnismäßig einfach war, die Versuche sich in längeren und kürzeren Zwischenräumen wiederholten, also fehlerhafte Aussagen, die durch suggestive Einwirkungen und dergl. immerhin denkbar waren, doch auffallen mußten, so dürfte diesen Aussagen doch ziemliche Grlaub- würdigkeit zugesprochen werden. Natürlich ist anderweitige Nachprüfung erforderlich.

Die Feststellung der Vorstellungstypen erforderte die Anwendung von Untersuchungsmethoden, die dem geistigen Standpunkt der Kinder gerecht werden : Reproduktion visueller und akustischer Wahrnehmungs- inhalte mit und ohne Unterdrückung der Sprechinnervationen, Ablenkung während der Auffassung durch visuelle, akustische und motorische Ein- drücke; Ablenkung zwischen Wahrnehmung und Reproduktion durch visuelle, akustische und motorische Eindrücke; Rückwärtsbuchstabieren und dergl. mehr. Zur Kontrolle wurden wieder die Schüleraussagen über Selbstbeobachtungen herangezogen. Entsprechende Vorversuche gingen stets voraus. Die Ergebnisse der Untersuchungsmethoden stimmten mit den Schüleraussagen überein, sodaß deren Glaubwürdigkeit dadurch auch an Bedeutung gevsdnnt. Es macht den Kindern recht viel Freude, sich selbst in dieser Weise zu beobachten, und wenn auch der sprach- liche Ausdruck, in den sie ihre Beobachtungen kleideten, oft recht kind- lich war, traf er doch meistens das Richtige. „Ich fühle, wie es in mir spricht" ; „ich möchte alles mitsprechen^ ; „ich sehe die Zahl, und dann geht sie weg, und es ist alles schwarz. Und dann kommt sie wieder, und idi höre ganz deutlich den Klang, wie Sie sprechen" u. s. f.

Eine gewisse Vorsicht erfordern die Versuche mit künstlicher Unter- drückung der Sprechbewegungen. Bei manchen Kindern war die innere motorische Innervation oder motorische Wort vor Stellung? nie völlig zu unterdrücken.

1*

_ 4

Zur Erklärung der Tabelle.

Die visuellen Erinnerungsbilder sind (erste Versuchsreihe ^)) P == visuelles Punktgruppenbild, sog. Zahlenbild. Z = vis. Bild der isolierten arabischen Ziffer. Zr = » n arabischen Ziffer innerhalb der Zifferreihe (vergl.

Metermaß). + S = Zu der Ziffervorstellung treten Phantasievorstellungen sachlicher

Art; die Tafel, auf der die Ziffer sichtbar ist; der Lehrer, der

sie anschreibt etc. Ak. j Vor Stellungstypen; bei gemischten Typen gibt die Groß- Vis. ? und Kleinschreibung und die Anordnung an, welche Typen vor- Mot. ) herrschen.

Zahlengedächtnis, d. h. das unmittelbare Behalten der Zahlen. L = gelesene Zahlen, 1 Die Zensur bezieht sich auf das Gedächtnis H = gehörte Zahlen, j beim ungestörten Lernen, abl. = leicht ablenkbar, d. h. andre Eindrücke, besonders akustische (a)

und eignes Sprechen (m) bewirken Vergessen der Zahlen. Rechenfertigkeit. Übungen im Addieren : immer 10 zweistellige Zahlen wurden (schriftlich) addiert; Subtrahieren in ähnlicher Weise (Kopfrechnen). Aus der Zeit, die zum Ausrechnen nötig war, und der Anzahl der richtigen Fälle ergab sich die Zensur für die (jetzige) Rechen- fertigkeit.

1 = Gut

2 = Mittel

3 = Unter Mittel

4 = Gering. Die Zwischenstufen sind dementsprechend zu deuten.

Begabung: 1 = Gut

2 = Mittel

3 = Unter Mittel

4 = Schwach.

Diese Zahlen geben im großen und ganzen ein Bild der geistigen Reife, wie sie sich in der Beteiligung am Unterricht, den Fragen der Schüler, der Entwicklungsstufe des Urteilens, der Art des Verständ- nisses beim Lesen, der sprachlichen Gewandtheit und dergl. äußert. Die Zahlen für Zahlengedächtnis, Rechenfertigkeit und Begabung sollen nur den Zweck haben, daß der Leser ein allgemeines Bild von den einzelnen Versuchspersonen erhält. Bei Folgerungen aus den Versuchsergebnissen werden sie nur vorsichtig und da mit Vorbehalt verwendet.

1) Erklärung der Abkiirzungen in der II. und III. Versuchsreihe s. bei Besprechung ders. u. S. 14.

©

o

o

ja <

o >

na

o

P.

a

a5

X5

N]

(M (M <M3M3<l7a(M (Mi-'tHCM'^

CO

(M

COCOeOCOCCXMT'KNT-t^CQ

^

cm"

TtH

(M 3<l -^"CO CO iH CO !M (M ^ T-I

-TIS

■^

ü

S3

«

3

I 1

(-1 o

S3

-^^

n"^

'S»

-^ CO

S3

s;

N3S3£s3 '

I I + I : 1 +i+ I M

s:

S3 s:

og

o

QQ -+3

s^^-^

2 3

o -

ISO

n3

:33

^ ^ S K^ -^ =^ ^ ®

i..:c^

T-i c4 co-^'ic:oi>cx5o5Ö'-^c4cö

6

o

B

coo^ü5I^D^£to^5^^DI^c^5^0l^5^^M■l-^l-A|-^l-^l-'

II

töh-'pcOpOKipsaihl^COlNSr-OCDOO^aiÜll^

CO

o

Ansch

S-«= f B S-3 3 S 3 S «-^S-triä.S^I ^.S-

g

B

Oi

TS

N 1

+ P

CSJCS CS3 CS CS CS »2 CSN ^

•-♦>

I 1 ++ 1 + + + +P CS++ 1 1 g-l 1 1

1

ww muimm^ mm tsi

HH

l' +

<!

N m

CO

c

CS CSCS CS3

JS + + + jS ^1 + CS

CO

3

es CS-^ N-^--^ P M CS3CSP CSi»| CSo + P CS3+ P » CSCSO + CS++0 + P g.

j^_

1

rt-

•o

^ N NN "* "^ N

4 4 rl ''^

N »-

N ^ ^

t-H

N Np N^NN ' ' CsJ^CSJ -

H <^

!:£§

CT CO o

g^ N ^

t3-

co

hH

t— (

N

(—(

ES N NN N^ N p g-g'g='NNgN§g-NNNg^N„NNg

< 00

•99 JS3

2.

CX5JW CO h(i^ CSS H-^JNOJND COtOtO00t-ta5O500t|i.C0t>S

Begabg.

"bx "üTüx "üT ~bt "cn

J>5 00 CO tf». 1— ^J-'JCJxS 00 00JWJn£J-^JnDjW_>-^JW5OJ>5

Rechen -

fert.

l^oooooI^s^tOI^D^^I^Dl-'coco^^cocooooooo^^s

f

N

B

toooooi>e(-^i-ii-*'tC)i-'h-»'tobctocoüiOococ«to

W

ÖBÖöP^ £. öö 2.^.3 2. Ö.S.

Igigigjg:!.^ 1 ^ s^p 1 |;i ^ i i p

2

trK rt- rt- CT»- c-t-fiS a't-'cr'«^<^t— ''— '<^*— 'CT'— 'J— 'er

CD

O

*^^ »— > 1— ' t— ►—

B

P*

r^ " " l^ . ^ r-- i^ r^ 1—1 1— ' . 1— ' t— ' H— "

c-t-

TS

CO 5

<1

O

o

er

•^

<s>

ct-

s

q^

1— '

4

ö

p

fu

Oft?

s

O

o

C3-

P

e-t-

ö

*-"

p-

s

s

<

fO

»^

Ca

•t—

ö O'

S

o

o

tr

<rt-

»

O

n

O!

i-*-

<rK

CO

p:

Ci

*^

tr

PT

fD

q:^

»

B

Ol

O

er

ei-

Cd

n

1^

^

^

7

OQ >

OQ

iH

OQ

60

O

u o

«

o

o

.2

'c

'S

O

s «

1

J

«1

f— H -|J ^ ^j .fj &J3 &0i--4 ^ .u bC^j ,(j> ,(j> .^ .^ .«_3 ^ ^j

§2 <^$^§§§§S2§2"^22.S2 2

(MfM(M<M(MCM'M(M.r-<'M-i-l(M(M'^^(M(Mi-ii-l(M

Cq(MOa^<M(M<MCvJ<M(M<MG»acM-rH,-lG<l(Mi-i(MfM

SqBSag

(N tH l-H 5<l <M T-TcO •«# T-i ^ CO ffl (M^Ol y-i OD t-Tcm .^ CO

ja

2

OQ

i

<»•

l-H

1 h

2 2^"^ ^*

Cs3 N CS] S3 S3 N N N «= ■" § !3 « N ^^ S3 N S3 CS: ^^ NN ^ =*ts3

OQ

OQ

'S

£•2 > *^

t-H

1— t

^Cs:SJNNts:s3Cs3»S3+S3NN3S3NNS3 «S3

' IS)

1

.-3

•s

50

>

■s

u

^ NN

r/2 ü »^ 02 ^ _, _,

+ «NN g +n:nNnnnn Tn^ §N^ s

+ N NN

N

«2 1 +

+ +NflH+ 1 1 i 1 + + + 1 +^+ + +N + NN N * NNN N sNNN N

1

a s

§

O SQ

a <

■^1" »yl |y|

^.co i .2 > .2 ^.2 ^.2 ;S .2 .2 .S -^ '^ .S .2 9 .2

.2>>!> >.c2^i;;:t>>>>>> >p> «;>

u a

'S

CG

£2 ^' }S '^ ^ QO Ci O ■^-^ 5Q cd tJh iO CC b-' O) oi ö ■^ c4 cococorocojoco'*'^'*. ■«t'<ti"^'<f'*'*i-^iOOio

P3

= 6 =». g j c

« pH «

N ei

i.2

© sc TS 03 C es

§ « s

'S 'S

00 ©

© ÖC

.5 « *H

« .. s

"Sä

O C © © CD

CS 09 OO

ü "O

00

© -a

^ s?

«: s;

.- ©

bC ^

© ^

-5

SS

-w 3 o »

S 00 C ^ 00 '«-> Ä

u ©

© CO

c -?

CO ©

*" 00

03 O

'S sc

Ö 'O

o

« ©

S '=^

u

1.1

•<-> 00 C|-i

^ ^ '^

Co .5

c

CO Vi

.2 .S

■s s

.rt ©

.. s

o -t* o .ö: ^ 'S

00 .s!S

3 es

statistische Übersiclit. n. V. 1. Nicht visuell 13 von 52 Schülern = 25 ''/o

gem. 2, Visuelles Vorstellen neben anderen Typen nicht

bevorzugt 19 von 52 = 36,5 °/o

vis 3. Visuelles Vorstellen bevorzugt 20 von 52 = 38,5 "/o

Anm. : Aus der Tabelle geht hervor, daß auch unter Grruppe 1 und 3 die meisten Schüler dem gemischten Typ angehören.

Erste Versuchsreihe. Den Kindern wurde eine Zahl genannt. Sie mußten angeben, ob sie eine Gesichtsvorstellung hatten, und welcher Art diese sei.

I. Die Arten der Gesichtsvorstellungen.

Es treten folgende Gesichtsbilder auf:

a. (ausnahmsweise als Reminiszens aus dem 1. Schuljahr) die Punktgruppe,

b. die arabische Ziffer isoliert,

c. die arab. Ziffer in der Reihe,

d. desgl. in Verbindung mit sachlichen Phantasievorstellungen.

a. DiePunktgruppe. Am Ende des I. Schuljahrs begannen die Punktbilder zurückzutreten. Die Schüler waren schon um diese Zeit in das Rechen (Addieren und Subtrahieren) bis 100 eingeführt , sodaß der Gebrauch der Ziffern , der Aufbau bis 100, das Zurücktreten der Zahlbilder u. a. bewirkten, daß sich die visuellen Punktbilder bald dissoziierten.

Am Beginn des 2. Schuljahrs auf diese Zeit bezieht sich das „früher" der Tabelle fanden sie sich noch bei einem Schüler. % Auch bei diesen visuellen Punktbildern zeigten sich

^ Phantasievorstellungen sachlicher Art. Da sich meine Ausführungen hauptsächlich auf das Rechnen im 2. Schuljahr beziehen, sehe ich von einer Behandlung dieser Form der Gesichtsvorstellungen ab. Bemerkt sei nur, daß die Kinder auf Grund der nebenstehenden Dienstbachschen Zahlbilder ins Rechnen eingeführt wurden. Dieselben wurden gezeichnet und an der russischen Rechenmaschine dargestellt.

b und c. Die Erinnerungsbilder der arabischen Ziffern. Die russische Rechenmaschine wurde auch vielfach im 2. Schuljahr zum Addieren und Subtrahieren zweistelliger Zahlen benutzt. Bemerkens-

9

wert ist, daß kein Schüler Erinnerungsvorstellungen visueller Art auf Grund der Kugelgruppierungen dieses weit verbreiteten Lehrmittels bildete ^). Die Zahlen wurden in diesem Schuljahr visuell nur als Ziffern in verschiedenen Formen vorgestellt. Diese Ziffervorstellungen sind die konkreten Gebilde, welche als Repräsentanten der Zahlbegriffe, die wie alle Abstraktionsprodukte nicht vorstellbar sind, denselben sinnliche Existenz verleihen. Die Aufgabe dieser Repräsentanten wird um so besser erfüllt, je deutlicher in ihnen das Charakteristische des Zahlbe- griffs, die Gliederung einer Vielheit in Einheiten, zur Darstellung kommt. Darin liegt der didaktisch bedeutsame Unterschied des visuellen Vor- itellens der isolierten Ziffer und der Ziffer, die in einer räumlichen Strecke, der Zahlenreihe lokalisiert wird. Jene Vorstellung zeigt keine Spur mehr von dem ursprünglichen Wesen der Zahl. Deshalb scheidet Pestalozzi die Ziffer vorläufig aus und prägt die Strichreihen der Ein- heitentabelle dem visuellen Gedächtnis ein. Die 2. Form der Ziffervor- stellung jedoeh läßt die Gliederung der Vielheit in Einheiten sowohl wie das „Verhältnis des Mehrs und Minders" (Pestalozzi) erkennen. Als simultane Vorstellung kann die Zifferreihe natürlich nur dem visuellen Typ vorstellbar sein. Für denselben hat sie dann die gleiche Bedeutung wie die Zahlbilder. Der Größenunterschied wird hier wie dort rein räumlich aufgefaßt: Von 1 36 ist eine größere Strecke als von 1 27.

Zu dieser Gruppe (visuelle Vorstellung der Ziffer als Glied einer Reihe, Zr) gehöre ich selbst. Schon aus diesem Grund habe ich gerade dieser Vorstellungsform besondere Aufmerksamkeit zugewendet, da die Möglichkeit der Kontrolle größer ist. Es bandelt sich um folgendes: Wenn ich mir eine bestimmte Zahl denke, so tritt die betreffende Ziffer mehr oder weniger deutlich aus der dunkel vorgestellten Zahlenreihe hervor: die benachbarten Zahlen werden mehr oder weniger deutlich, besonders die Zehnerzahlen, wenn die betreffende Zahl in der Nähe einer solchen steht. Die Ziffer steht innerhalb einer Strecke. So gleicht mein visuelles Zahlenvorstellen etwa dem Sichtbarwerden eines Zentimeter- maßes, bei dem die 5 und 10 immer deutlich markiert sind. Zur weiteren Dlustration vergleiche man die beiden oben angeführten Schüleraussagen (S. 7 Anm.)!

Diese Linie reicht bei mir bis zu 1000. Von da ab schieben sich die Tausender, Zehntausender u. s. w. enger zusammen. Aber die Tatsache, daß die Zahlen auf einer unendlich verlängert gedachten Linie, die von

1) Man vergl. dagegen, was Jänisch vom „vorstelligen Rechnen" hofft. S. Jänisch, die Zahlenkreise 1 10, 1—100, 1—1000. Potsdam 1899. S. 17 u. f., 63 u. f.

~ 10

mir aus geradlinig gezogen ist, erscheinen, bleibt auch für die großen Zahlen gültig. So reproduziere ich eigentlich räumliche Strecken. Interessant ist auch Gruppe

d. Auftreten von Phantasievorstellungen sachlicher Art. Der eine sieht die Ziffern auf der Bank, der andre an der Schul- tafel, der dritte sah sie durch den Lehrer, der 4. durch einen Schüler anschreiben. Manche Phantasten leisten in diesen Umrahmungen des nüchternen Ziffernbildes Erstaunliches. Da kommen Gestalten aus der Phantasiewelt, Könige und Prinzen, die auf ihren Schildern die Zahl stehen haben und dergl. m. Es liegt die Frage nahe, ob diese Phantasie- vorstellungen nicht das Zahlengedächtnis stören und eine ungünstige Wirkung auf die Rechenoperationen ausüben. Doch darüber später.

2. Das Verhältnis dieser Arten zu den Vorstellungstypen.

(I. Versuchsreihe, „jetzt".)

Zahlvorstellungen vis. Art

.4

a <!

°/o

1

nicht oder schwach vis.

II

gemischter Typ vis. nicht be- vorzugt

m

Vorwiegend visuell

Zahl

'lo

Zahl

*/o

Zahl

"/o

a. keine Ges. verst. (oder selten)

13

25

13

100

1 Vorwiegend ; . b. die isolierte Ziffer '

1

46

18

75

6

25

Vorwiegend c. die Ziffer in der 15 Reihe lokalisiert

29

1

6,6 14

93,4

Wieviel von b u. c mit Sachvorstellungen?

13

25

10

77

3

28

Vorst.-Typen

Zahl

0 ,0

Z

Zr

Zahl o/o

Zahl

»/o

II. gem. Typ

19

36,5

18

94,6

1

5,4

III. vis. Typ bevorz.

20

38,5

6

30

14

70

11

Kein Gesichtsbild. Das Resultat ist eigentlich selbstverständ- lich. Wo kein visuelles Vorstellen vorhanden ist. oder wo es zurück- tritt, treten motorische und akustische Vorstellungen an die Stelle der Gesichtsbilder. Diese Gruppe scheidet von der folgenden Betrachtung als nicht zum Gegenstand gehörig aus. Es wurde diese Nebeneinander- stellung der Gruppe ohne vis - Zahlenvorstellungen und der Akustiker und Motoriker hauptsächlich deshalb eingefügt, weil man bei den ersten Versuchen in einer Klasse (s. die Rubrik „früher") vermuten könnte, daß es visuell arbeitende Kinder gibt, die infolge eines zweiten An- schauungstyps nicht imstande sind, visuelle Vorstellungen beim Rechnen zu bilden. Anfänglich treten dieselben allerdings mehr zurück (s. unten : 5.5 die Entwicklung der visuellen Erinnerungsbilder), aber die Möglich- keit, beim Rechnen visuell zu arbeiten, ist nur dem nichtvisuellen Typ versagt.

Die isolierte Ziffer mit und ohne sachliche Phantasievorstellungen überwiegt bei Gruppe II, dem gemischten Typ, bei dem das visuelle Vorstellen nicht bevorzugt wird. Nur einer, dessen visuelles Vorstellen allerdings auch manchmal versagt, sieht die Ziffer in der Reihe. Bei 5 weiteren Schülern dieses gemischten Typs tritt in letzter Zeit neben- bei die Zahlvorstellung in der Reihe auf.

Von den rein und vorzugsweise Visuellen sind es nur 6, welche die Ziffer isoliert sehen. Auch diese neigen in letzter Zeit zur Vorstellung der „Ziffer innerhalb der Strecke", wenigstens zeigen die noch za be- sprechenden Versuche der 2. und 3. Versuchsreihe, daß die meisten Schüler, die vorzugsweise visuell arbeiten, imstande sind, mit der „Ziffer innerhalb der Reihe'' zu operieren.

Die Ziffer in der Reihe wird, wie schon angedeutet, von einigen Schülern des gemischten Typs manchmal gesehen ; als ständig wieder- kehrendes Gesichtsbild gehört sie ausschließlich dem vorzugsweise visuell vorstellenden Typ an. Bemerkenswert ist, daß das Vorstellen der Ziffer in der räumlichen Strecke ein Produkt der Übung ist und unter Rubrik „früher" völlig fehlt.

Die Phantasievorstellungen scheinen um so zahlreicher und „phantastischer" zu werden, je mehr das visuelle Vorstellen zurücktritt. Jedenfalls strengt sich der Schüler, dessen visuelles Vorstellen schwächer ist, mehr an, um auch bei den Versuchen etwas zu sehen; der Erfolg findet sich dann in den Phantasiegebilden. Das visuelle Vorstellen für Sachen mag auch in diesen Fällen das für Zeichen überwiegen.

Als wichtigstes Ergebnis des seither Erörterten bezeichne ich: Es wurde oben schon darauf hingewiesen, daß die Vorstellung der ^.Zahl innerhalb der Zifferreihe" das einzige Erinnerungsbild ist, welches eine

12

intuitive Anschauung der Größe und Zusammensetzung ermöglicht. Die Versuche zeigen, daß, w i e vorauszusehen war , nur die Visuellen derartige Erinnerungsbilder aufweisen. So wertvoll solche „innere Anschauungen" sind, so darf man ihre Exi- stenz deshalb noch nicht allgemein voraussetzen^).

3. Die visuellen Erinnerungsbilder und das Zahlengedäclitnis.

Mit dem Wort „Zahlengedächtnis" ist das unmittelbare Behalten von Zahlen während der Lösung einer Rechenaufgabe gemeint.

Die Zensuren in der ersten Tabelle beziehen sich auf die Grüte des Zahlengedächtnisses für das ungestörte Lernen und Merken von Zahlen. Für die Praxis müssen diese Noten eine Änderung erfahren: Die Ab- lenkbaren werden beim Kopfrechnen ein schlechteres Zahlengedächtnis aufweisen, wie die Schüler, die durch andre Eindrücke weniger gestört werden. Da es hier nur auf Näherungswerte ankommt, wird man viel- leicht die Zensur bei „abl.'^ um 50°/o, bei „zieml. abl." um 25 "/o, bei „wenig abl." um 10 "/o vergrößern, wählend sie für „nicht abl." unver- ändert bleibt. In der untenstehenden Tabelle ist der Kürze halber die Durchschnittszahl bei „abl." und „wenig abl." um 50°/o vergrößert worden, während „wenig abl." wie „nicht abl."' behandelt wurde.

Zahl

Zahlengedächtnis

Rechen- fertigkeit

Bega-

a

b

c

d

bung

1) Nicht visuell

13

2,1

85 >

15%

rund 2,8

2,3

2,2

2) Visuell mit Phantasievorst.

14

2,5

50%

50 >

rund 3

2,5

2,6

3) Visuell ohne Phantasievorst.

25

1,8

24 «/o

76%

rund 1,9

2,3

2,2

Zum Vergleich sind die Zensuren für Rechenfertigkeit und Begabung beigefügt.

Es bedeutet a = Durchschnittszahl für die Güte des Zahlengedächt- nisses beim ungestörten Lernen; b gibt die prozuentale Anzahl der Ab- lenkbaren, c die der Nicht- und Wenigablenkbaren an; unter d findet

1) Wie Kallas, Räther, Jänisch u. a.

- 13 -

man einen Näherungswert für die Güte des Zahlengedächtnisses beim Kopfrechnen, die Ablenkbarkeit wnrde berücksichtigt.

Es ist zu beachten, daß diese Durchschnittszahlen einem 3 stufigen Zensursystem (1, 2, 3) entnommen sind, während sich die für Begabung und Eechenfertigkeit auf eine Zensureinteilung in 4 Grade beziehen. Die Durchschnittszahlen für das Zahlengedächtnis müßten also bei einem Vergleich mit jenen entsprechend erhöht werden. Doch sind ja keine mathematischen Folgerungen aus jenen Annäherungswerten zu ziehen I Es sollen überhaupt aus diesen Ergebnissen einer statistischen Zusammen- stellung, die jedenfalls TJngenauigkeiten enthalten muß. keine voreiligen Schlüsse gezogen werden. Die Vermutung liegt jedoch nahe man ver- gleiche Gedächtnis mit Begabung und Rechenfertigkeit der einzelnen Gruppen! daß die Xicht\dsuellen und die „Phantasten"' in ihrem Zahlengedächtnis benachteiligt sind. Recht instruktiv ist fol- gender Versuch:

Die Schüler merken sich durch Lesen oder Hören, motorische Hilfen gestattet, einige Zahlen. Zwischen Einprägung der Zahlen und Repro- duktion schaltet man einen motorisch - akustischen Eindruck ein, etwa Ohorsprechen einer Gedichtstrophe, einer Einmaleinsreihe etc. Die Xicht- visuellen fallen nun merkwürdig gegen die andern ab. Von 3 drei- stelligen Zahlen wurde von ihnen durchschnittlich 1. von 4 fast durch- weg gar keine behalten, während die Visuellen gar keine oder geringere Störungen im Behalten zeigten. So erklärt es sich, daß der Akustiker beim Kopfrechnen so leicht durch eine Frage des Lehrers, durch das flüsternde Rechnen des Nachbars aus dem Konzept gebracht werden kann und wieder von vorn anfangen muß. So kommt es, daß beim Kopf- rechnen die motorischen Innervationen, die beim Durchdenken der Auf- gabe die WortvorsteUungen des Motorikers begleiten, die motorischen Ziffervorstellungen stören. Die visuellen Erinnerungsbilder werden wenig von solchen motorischen Wortvorstellungen gestört. Das Gesetz der „rückwirkenden Hemmung" (Groos, Seelenleben des Kindes) äußert sich offenbar hauptsächlich bei Eindrücken desselben Sinnesgebiets.

Berechtigt ist auch wohl die Vermutung, daß die -Phantasten" ihre Neigung, die nüchternen Zahlen in einen Rahmen lebensvoller Sachvor- stellungen zu schließen, mit einem schlechteren Zahlengedächtnis bezahlen müssen. Doch ist zu solchen Verallgemeinerungen umfangreicheres Be- obachtungsmaterial erforderlich.

Als wesentlichstes Ergebnis dieser Erörterungen hebe ich hervor: Der Visuelle hat in seinemTyp eine wesentliche Hilfe für sein Zahlengedächtnis, falls er diese Hilfe zu benutz.en versteht.

14

4. Die visuellen Erinnerungsbilder und die Rechenoperationen.

(2. und 3. Versuchsreihe).

Versuch : Welche visuellen Erinnerungsbilder werden bei der Lösung der Aufgabe 24+15 reproduziert ?

Die Selbstbeobachtung ist hier etwas schwieriger. Die Kinder sind geneigt, die visuellen Bilder nach erfolgerter Lösung zu beschreiben. Diese entsprechen meistens der Form 24+15 = 39. Es handelt sich jedoch um die Beobachtung dessen, was man innerlich sieht, während man denkt: 24 + 10 = 34 + 5 = 39, also ist 24 + 15 = 39.

Es zeigen sich folgende Gruppen :

a. Keine visuellen Bilder.

b. Einzelne Ziffern: 24 15 39. Z.

c. Nur das Resultat in der Form des schriftl. Rechnens: 24 + 15 =■ 39. (ZifFerschrift-

bild). Zschr.

d. Die Operation als schriftl. Rechnen: 24 + 10 = 34

34+ 5 = 39. Zschr.

e. Die Operation als Vorwärtsgehen in

der Reihe. Zr.

In jedem Fall bedeutet demnach der Gedankenstrich ( ), daß die Operation selbst von keinen visuellen Bildern begleitet ist, sondern nur das Resultat.

Der Eindruck ist entweder ein deutlich simultaner dadurch, daß die zuerst reproduzierten Bilder im Blickpunkt des Bewußtseins bleiben, oder ein sukzessiver, wenn die ersteren von den folgenden verdrängt werden. Ein Blick auf die Tabelle lehrt, daß die Gruppe e (Anein- anderlegen von Strecken in der Zifferreihe) in erster Linie ihre Ver- treter bei den Schülern hat, die vorzugsweise visuell arbeiten. Daß die Anzahl der „Zr" in der II. Versuchsreihe größer ist als in der ersten, ergibt sich aus dem Wesen des Reizes: dort eine Zahl, hier Operieren mit Zahlen.

In dieser Versuchsreihe haben die Gesichtsbilder Z, d. h. die an- einandergereihten Ziffern und Zschr , das Schriftbild der ausge- führten Operation, nur Bedeutung als Zahlengedächtnis. Die Operationen der Schüler sind nur von motorischen Innervationen oder Klangbildern begleitet, erst die Ergebnisse werden visuell vorgestellt.

Auf einer Zwischenstufe steht Gruppe d, das sind die , welche im Kopf schriftlich rechnen. Eine sinnliche Überzeugung gewährt dieses

15

Gesichtsbild nicht, es dient anch in erster Linie als Zahlengedächtnis. Der Schüler sieht „24 + 10 = 34"; wie die Zufügung der 10 die Summe 34 ergeben hat, ist lediglich Denkarbeit, ohne daß visuelle Vorstellungen das Zufügen selbst begleiteten.

Ganz anders ist es mit der letzten Gruppe. Aus der Zahlenreihe tritt in einiger Entfernung hinter 20 die 24 auf; dann weiter zurück, häufiger auch weiter rechts, die 34 und dann 39.

O ... 24 O 39 O . . . .

24 34 39

Diese Schüler sind verhältnismäßig leicht imstande, Aafgaben wie 24 + 55 so zu beantworten : 24, 74, 79.

Diese Zahlenreihe trat bei einigen Schülern schon auf, als ich nur die russische Rechenmaschine benutzte. Da ich selbst, wie schon gesagt, diesem Typ angehöre, versuchte ich dieses Vorstellen bei allen Visuellen einzuüben. Die meisten Visuellen stellen sich nun beim Addieren und Subtrahieren, besonders beim Ergänzen die räumliche Reihe vor, in der sie nun vorwärts und rückwärts gehen.

3. Versuchsreihe:

Stellt euch die Reihe 3. 6. 9 bis 30 vor! Welcher Art sind die Gesichtsvorstellungen ?

Auch hier zeigt sich einesteils der Unterschied, Vorstellungsreihen mehr simultan oder sukzessiv zu reproduzieren. Andernteils haben wir auch hier wieder den Unterschied zwischen den Reihensehem uud den Schülern, die nur isoliert Ziffern sehen. Die letzteren sehen die Ziffern entweder dicht aneinander gereiht (nebeneinander oder senkrecht untereinander) (Z), oder das Schriftbild der schrift- 1x3 = 3 (Zschr.) lieh ausgeführten Operation. Die Reihenseher legen 2x3 = 6 ihrer Vorstellung wieder die Reihe zugrunde. Die u. s. f. Einmaleinszahlen stehen entweder durch Lücken getrennt unter den entsprechenden Zahlen der Zifferreihe, oder, was der häufigste Fall ist, werden innerhalb der Zifferreihe sichtbar. Die Zwischenzahlen treten entweder zurück, und es zeigen sich Strecken zwischen den Zahlen der Einmaleinsreihe, oder auch sie sind undeutlich sichtbar.

Die Lücken sind beim 1 . 8 natürlich größer, als beim 1 . 3, und die Reihe mit 8 reicht bis 80, ist also doppelt so lang wie die mit 4.

Als wichtigstes Ergebnis dieser Versuchsreihen hebe ich hervor: Visuelle Vorstellungen können die grundlegenden Rechen- operationen begleiten. Die Rechenseher haben in ihrer Vorstellungs weise gleichsam eine innere Anschauung für ihr Verfahren.

16

5. Die Entwicklung der visuellen Gesichtsbilder.

Die ersten Versuche schienen zu zeigen , daß die visuellen Er- innerungsbilder beim Rechnen nur in geringer Anzahl vertreten seien. Die Ungeübtheit der Kinder, Selbstbeobachtungen anzustellen, mag mit die Hauptursache zu den ersten Versuchsresultaten gewesen sein. Die in der Tabelle angefühlten Gesichtsbilder unter „frülier" geben das Durchschnittsergebnis der Versuche an, die den ersten, einführenden Vorversuchen nachfolgten. Somit zeigen sie] die Tatsache, daß das visuelle Vorstellen beim Zahlendenken anfangs zurücktrat. Durch häufige Übung im willkürlichen Reproduzieren visueller Erinnerungsbilder im Rechnen , wohl auch durch die Selbstbeobachtungen wurde allmählich das visuelle Zahlvorstellen geläufiger und häufiger.

Vor allem zeigte es sich aber, daß die Art des visuellen Erinnerungs- bildes durch unterrichtliche Beeinflussung modifiziert werden kann. Und zwar ist der Erfolg um so größer, je mehr das visuelle Vorstellen gegenüber andern Vorstellungsweisen bevorzugt wird.

Es handelte sich , wie schon mehrfach gesagt , um die Einprägung der ZifFerreihe und Einübung der Fähigkeit , sie als Grundlage der elementaren Rechenfälle zu benutzen.

Eine zweite Richtung zeigt die Entwicklung der visuellen Er- innerungsbilder darin , daß die Phantasievorstellungen sachlicher Art allmählich zurücktreten können.

Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse.

1. Eine unterrichtliche Bedeutung haben nur die visu- ellen Erinnerungsbilder der Schüler, die dem visuellen Typ angehören oder vorzugsweise visuell arbeiten.

2. Die Zahl dieser Schüler ist verhältnismäßig groß, sodaß ihre bes ondere Berücksichtigung wünschenswert ist.

3. Die visuellen Erinnerungsbilder zeigen sich als wertvolle Hilfen des Zahlengedächtnisses.

4. Auch die ersten Rechenoperationen können durch die visuellen Erinnerungsbilder erleichtert werden.

5. Die Schüler zeigen sich ohne Anleitung in der Hand- habung und Ausnutzung dieser Vorstellung durchweg un- sicher und unbeholfen.

6. Die Zahl der visuellen Zahlvorstellungen ist durch Übung steigerungsfähig, ihre Art kann modifiziert und der Schüler in der Verwendung derselben angeleitet werden.

17

Didaktische Folgerungen.

Als allernächste Folgerung ergibt sich wohl die , man soll in der Beurteilung der Kinder vorsichtig sein. Der kleine Rechner, dem die Aufgabe nicht glücken will, leidet gar oft an Störungen des Zahlen- gedächtnisses durch Eigentümlichkeiten seines Typs. Nun hat auch der in dieser Hinsicht benachteiligte Motoriker manche Hilfen, sein G-e- dächtnis zu stützen. Ich erinnere nur an die Schreibbewegungsvor- stellungen. die durch darauffolgende Sprechinnervationen weniger ge- hemmt werden. Bei ausgesprochen schlechtem Zahlengedächtnis ist meistens die Unfähigkeit , seinen Vorstellungstyp auszunutzen und un- zweckmäßige Anwendung derselben zurückzudrängen, die einzige Ursache. Hier gilt es. den Schüler seine geistigen Gaben gebrauchen zu lehren.

Das schlechte Zahlengedächtnis führt sich auch oft auf die lebhaften begleitenden Phantasievorstellungen zurück. Häufig hat ein solches Bild die Tendenz, im Blickpunkt des Bewußtseins zu verharren und die übrigen nötigen Erinnerungsbilder zu hemmen. Häufig ist diese Hemmung rückwirkend. Gesellt sich zu diesem eigenartigen Sachtypus noch die Neigung, immer wieder auf dieselbe Vorstellung zurückzukommen (Per- severationen), so ist damit die denkbar ungünstigste Voraussetzung für das Zahlengedächtnis gegeben, hier ist fortwährende Übung erforderlich.

Ebert und Meumann zeigen, daß eine Übung des Gedächtnisses in formaler Hinsicht eine Entwicklung des Gedächtnisses zur Folge hat. Außerdem gilt es, den schon zu lebhaften Phantasten nicht noch weiter in seiner Neigung zu unterstützen. Man soll nie vergessen, daß die so beliebte Pflege der schöpferischen Phantasie sowohl eine fördernde als auch eine hemmende sein muß, je nach der Individualität. Das von manchen Reformlern beliebte Darbieten der ersten Lernobjekte durch Umkleidung in allerhand Phantasievorstellungen sachlicher Art, die die einzuprägenden nackten Grundformen dieser Lernobjekte verhüllen , ist ein Verstoß gegen den Grundsatz der Ökonomie und Technik des Lernens.

Unsere Versuchsergebnisse finden die Hauptbedeutung der visuellen Zahlvorstellungen nicht in der Unterstützung des Zahlengedächtnisses, sondern legen die Vermutung nahe, ob diese Vorstellungen nicht auch für die Zahlauffassung und die Rechenoperationen nutzbar gemacht werden können. Aus dem Beobachtungsmaterial geht hervor, daß eine Gruppe diese Gesichtsbilder für die Operationen benutzen kann. Das sind die Reihenseher.

Das Pestalozzische Rechenverfahren verfolgte schon diese Idee, natürlich nicht für den visuellen Typ allein, sondern für sämtliche

Meumann, Exper. Pädagogik. V. Band. 2

18

Schüler. Es ging darauf hinaus, die visuellen Erinnerungsbilder für alle als Grundlage des Verfahrens zu benutzen.

Es ist bekannt, daß Pestalozzis 8 Übungen an der Einheitentabelle ohne Kenntnis der Ziffern gerechnet wurden. Erst nach vollen- deter Rechenfertigkeit werden diese „Verkürzungsmittel", diese mathe- matischen Abbreviaturen eingeführt. „Es ist aber wichtig, daß das Bewußtsein der Urform der Zahlenverhältnisse durch die Verkürzungs- mittel der Rechenkunst selbst im menschlichen Geist nicht geschwächt, sondern durch die Formen, in welchen diese Kunst gelehrt wird, mit großer Sorgfalt tief in denselben eingeprägt, und aller Fortschritt dieser Kunst auf den fest erzielten Zweck des im menschlichen Geist tief er- haltenen Bewußtseins der Realverhältnisse , die allem Rechnen zum Grunde liegen, gebaut werde." (Wie Gertrud ihre Kinder lehrt). D.h.: die Zahlvorstellungen sollen als visuelle Erinnerungsbilder eingeprägt werden. Diese Gedächtnisbilder sollen die Gliederung der Vielheit in Einheiten darstellen.

Im Anschluß an die Aufgabe: „Zu welcher Anzahl am Ganzen ver- halten sich 1^/3, wie sich 3 Ganze verhalten zu 8^/7?" sagt Türk (Briefe aus Münchenbuchsee 1806 S. 101): „Bis hierher lernten nun unsre hie- sigen Zöglinge unsre gewöhnlichen Zahlzeichen durch die arabischen ZiiFern noch nicht kennen , aber , wenn sie nunmehr die sämtlichen Übungen der Elementarbücher vollendet haben, werden ihnen diese Zeichen und der Wert der Ziffern, den sie nach der Stelle , welche sie einnehmen, erhalten, bekannt gemacht".

Grüner, einer der wenigen, die Pestalozzis Idee der Elementar- bildung seinerzeit innerlich erfaßt haben , hält sehr viel von diesem zifferlosen Rechnen , bei dem die Einheitentabelle visuell eingeprägt wird. „Du mußt dich", schreibt er in seinen Briefen aus Burgdorf (1806 S. 232 u. f.), „der arabischen Ziffer - Abbreviaturen entwöhnen, wenn die populärere, natürlichere Anschauung dir zur Natur werden und den Typus der Tabelle dir in dein Gehirn zeichnen soll." An andrer Stelle: „Mache dich sobald als möglich von dem Zifferwesen frei und halte dich an die Anschauung der Tabelle". Nun werden wohl doch bei diesem gleichmäßigen Berücksichtigen des visuellen (Tabelle), kinästhetischen und auditiven Vorstellens (Chorsprechen) die „mathe- matischen Abbreviaturen" früher entstanden sein, als Pestalozzi annahm, nicht als arabische Ziffern, sondern als Wortvorstellungen. Aber doch betont Pestalozzi gerade den Wert der visuellen Erinnerungsbilder als Grundlage des Verfahrens, und die Resultate des pestalozzischen Rechenunterrichts waren ausgezeichnete. Auch seine Gegner bestätigen

19

dies. (Vgl. Niemeyer). Deshalb ist die Frage wohl berechtigt: Hat diese Idee pädagogische Bedeutung?

Es handelt sich also um folgendes: die meisten Schüler haben beim Rechnen visuelle Erinnerungsbilder. Falls dieselben unterrichtlich be- einflußt werden, treten sie bei den vorwiegend visuell arbeitenden Schülern in engeren Zusammenhang mit dem Rechenverfahren. Ist diese unterrichtliche Beeinflussung von didaktischem Interesse?

Ich wende mich gleich gegen ein hier mögliches Mißverständnis. Man könnte annehmen, es handle sich um die Frage, ob auch die höheren Rechenoperationen dem Auge veranschaulicht werden sollten. Gegen- über dieser Yeranschaulichungssucht gilt es eine scharfe Grenze zu ziehen. Veranschaulicht werden nur die primären Rechenoperationen: Zerlegen bis 10. Alle sekundären, von jenen abgeleiteten Rechenfälle sind auf dem Wege des logischen Denkens entstanden. Sie können nur durch Zurückführen auf ihre Vordersätze erklärt werden.

Als vorzügliches Mittel zur Veranschaulichung der grundlegenden Rechenoperationen habe ich die oben erwähnten Zahlbilder gefunden. Sie sind übersichtlich, brauchen nicht umgeschüttelt zu werden, er- möglichen ein einziges visuelles Erinnerungsbild. Das ist die wesentlichste Frage bei der Beurteilung solcher Zahlbilder, (Zahl- typen): Kann die betreff'ende Punkt groppe auch als visuelles Er- innerungsbild Grundlage der Rechenoperation sein? Es ist das Wesentliche verkannt, wenn von der Frage ausgegangen wird (Lay): Welche Punktgruppe wird am raschesten aufgefaßt? Es handelt sich um die Einprägung eines einheitlichen visuellen Bildes, welches zum Operieren mit den Zahlen bis 10 geeignet ist.

Sobald die Sicherheit in den grundlegenden Operationen erzielt ist, tritt die Ziff'er auf: allmählich dissoziiert sich die Punktgruppe. Die Verkürzungsmittel treten an ihre Stelle. Ich möchte nun von dieser Entwicklungsstufe an die Pestalozzische Idee der Verwendung visueller Erinnerungsbilder beim Rechnen mehr berücksichtigt sehen.

Die einzige Möglichkeit ist die, daß von jetzt ab die Zifferreihe ein fest eingeprägtes Gesichtsbild wird. Da die vorerwähnten Zahl- büder nun vergessen werden müssen, wäre es vielleicht rat&amer, für das erste Rechnen eine Gruppierung zu verwenden, wenigstens für den visuellen Typ, die in der Ziff'erreihe später gebraucht wird. Das ist nur bei der ReihendarsteUung der Fall. Die Schwierigkeiten des Zerlegens hatten mich seither abgehalten, diese Gruppierung im ersten Schuljahr zu verwenden. Doch könnte die Übersichtlichkeit und Zer-

20

legbarkeit vielleicht erzielt werden, wenn der 5. und 10. Punkt durch andere Färbung markiert wird.

Es handelt sieh hier nur um ein simultanes Erfassen von 4 Ein- heiten. Ich will nur noch bemerken, daß ich in der Verwendung dieser Punktreihe keine Anerkennung des reinen Zählprinzips sehe. Die Ein- führung in das Rechnen kann nur durch simultane Anschauung der ge- gliederten Vielheit geschehen.

Jedenfalls wären praktische Versuche, inwieweit die so gegliederte Punktreihe dem visuellen Typ von Vorteil oder Nachteil ist, von Interesse.

Doch nach dieser Abschweifung wieder zur Zifferreihe. Ich be- nutzte nunmehr für das Rechnen im II. Schuljahr nicht die russische Rechenmaschine , sondern die an der Tafel angeschriebenen Teile der Zifferreihe. Die Schüler werden angeleitet, innerhalb der ihrem Gre- dächtnis eingeprägten Reihe heimisch zu werden. Deshalb werden Orientierübungen vorgenommen. Welche Zahl steht vor 50? Welche Zahlen stehen zwischen 78 und 80. Vergleiche die Strecke bis 27 mit der bis 29 ! Das Addieren erfolgt ohne Zerlegen : 20 -f- 10 =: 30, 24-1-10 = 34; 26 -i- 10 = 36; es wird darauf aufmerksam gemacht, daß die räumliche Entfernung 21 bis 31, 26 bis 36 immer dieselbe bleibt und gleich viel Einheiten enthält. Da die ganze Reihe nicht angeschrieben werden kann, helfe ich mir mit folgender Darstellung^):

1234 5 6789#1234567 etc.

Diese Reihe paßt nun auf die verschiedenen Zehnerzahlen. Beim Addieren und Subtrahieren werden die Kinder angeleitet , in dieser Zahlenreihe, die dem Gredächtnis eingeprägt wurde , dem Gehirn ein- gezeichnet" ist , vorwärts und rückwärts zu gehen. Auf diese Weise werden die visuellen Erinnerungsbilder dem Verfahren dienstbar gemacht. Ich habe öfters die Beobachtung gemacht, wie sehr schwache Schüler auf diese Weise bald das Addieren und Subtrahieren verstanden. Die Verwechslungen 35 und 53 kommen nicht vor, und 72 -f- 2 konnte nie 92 geben.

Dem sicheren Rechner sind diese begleitenden Gesichtsvorstellungen eine Kontrolle der Rechenmechanismen ; sie leiten wegen ihrer Darstellung der Größenunterschiede zum Abschätzen an; sie bewahren später davor, sich in der Dezimalstelle zu irren, da die ungefähre Größe stets in räumlicher Darstellung angedeutet wird. Dem schwachen Rechner sind sie ein wirkliches Veranschaulichungsmittel, eine Lesetafel, auf der er die Resultate der Addition und Subtraktion ablesen kann.

1) Praktisch wäre vielleicht eine ca. 4 m lange Latte mit den Zahlen von 1 100.

21

In diesen Gresichtsbildem ist dem visuellen Typ ein wesentlicher Vorteil gegeben. Xur zu oft ist er sich dieses Vorteils nicht bewußt. Deshalb werde die Benutzung der visuellen Gesichtsbilder bei den vi- suellen Typen planmäßig unterrichtlich gepflegt. In dieser Beschränkung wollen wir Pestalozzis Idee von der unterrichtlichen Verwendung vi- sueller Erinnerungsbilder beim Rechnen das Wort reden.

Es ist sehr wahrscheinlich, daß sich die Zifferreihe dem Visuellen dauernd einprägt. Ich habe in der 11. Klasse (7. Schuljahr) in der Algebra beobachtet, wie die Visuellen ihren Typ recht praktisch zur inneren Veranschaulichung der positiven und negativen Zahlen (Thermo- meterskala) zu benutzen verstanden: Für sie war deshalb auch die Auf- gabe 18 ( 9) nichts Widerspruchsvolles und Unvorstellbares. Gerade wie sie 18 16 einst rechneten, daß sie an ihrer Skala ablesen konnten: Von 16 bis 18 sind's 2, so lesen sie nun ab: Von 9 über die Null auf- wärts bis +18 sind's 27.

Ich selbst habe die genannten visuellen Erinnerungsbilder auch für Brüche, "^/g ist mir das Verhältnis der Strecke 0 bis 2 zur Strecke 0 bis 9, ein Zeichen , daß das einmal eingeprägte und durch immanente Wiederholung befestigte Erinnerungsbild der Zifferreihe noch eintreten kann, wenn sich die Rechenoperationen schon längst in Mechanismen umgewandelt haben.

Der visuelle Typ kann auch zu mißbräuchlicher Verwendung führen. Es gibt Schüler, die die Operationen im Kopf in der Form des schrift- lichen Verfahrens lösen. Da erfordert der visuelle Typ besondere Auf- merksamkeit, und es ist wertvoU. die visuell veranlagten Schüler zu kennen, um diese Neigung rechtzeitig unterdrücken zu können. Be- sonders vom 'S. Schuljahr an, wenn das schriftliche Verfahren ein an- deres wird als das des Kopfrechnens, sind die Visuellen nach der Richtung hin besonders zu beobachten.

So ergibt sich, wie wertvoll die Kenntnis der Anschauungs typen ist. Es handelte sich in diesen Ausführungen um eine Frage von ver- hältnismäßig untergeordneter Bedeutung, nämlich um die : Wie kann man einem bestimmten Typ die Vorteile seines Arbeitens geläufig machen? Von dieser Frage wurde nur ein spezielles Gebiet: das Zahlenvorstellen des visuellen Typs herausgegriffen. Und auch dieses eng begrenzte Gebiet konnte in den vorliegenden Ausführungen nicht vollständig be- handelt werden. Vielleicht gebt der eine oder andre Leser den hier angedeuteten Gedanken von der Ausnutzung der visuellen Erinnerungs- bilder weiterer nach. Besonders erwünscht wäre es, wenn von Lehrern, die einem andern Typ angehören . weitere Beobachtungen gemacht würden. Ob nun dadurch die vorliegenden Ausführungen ergänzt oder

22

korrigiert werden, in jedem Fall ist eine gemeinsame Behandlung dieser Frage vom psychologischen und didaktischem Interesse^).

1) Es ist nicht unmöglich, daß die entgegengesetzten Ansichten der Methodiker über den elementaren Rechenunterricht zum Teil durch die individuellen Verstellungs- und Aufmerksamkeitstypen derselben verursacht worden sind. Bei den philosophischen Erwägungen über das Wesen der Zahl u. dgl. stützt man sich unwillkürlich auf die Er- gebnisse der Beobachtung seiner eignen psychischen Vorgänge und vergißt, daß man seinen individuellen Typ nicht auf alle ausdehnen darf, sonst wird die mit so viel Ge- lehrsamkeit behandelte philosophische Darstellung des Zahlproblems zu einer irreführen- den Voraussetzung der didaktischen Folgerungen. Es ist oben schon auf Pestalozzis Verallgemeinerung seines visuellen Typs hingewiesen worden. Dem gleichen Typ scheint Kallas anzugehören, weil er fordert: „Das Bemerkenswerte und Neue für die elemen- tare Rechenmethodik ist dieses : l. es wird verlangt, daß der Rechner und der Lehrer keine Zahl isoliert denke, sondern beim Denken jeder Zahl die ganze Zahlenreihe in in- tellektualer Intuition habe, 2. es wird verlangt, daß alle zu übermittelnden Sätze : Rechen- gesetze. Erklärungen, Auflöseweisen nur im Hinblick auf die Baugesetze der Zahlenreihe entspringen sollen". (Kallas, die Methode des elementaren Rechenunterrichts, Mitau 1889). Man vergleiche dagegen Knilling, (Zur Reform des Rechenunterrichts): „Ich stehe nicht an, zu behaupten, alles Rechnen ist im letzten Grunde Sache des Ohrs und der Lippen, bloße mechanische Fertigkeit, nicht aber Betätigung des Vorstellungsvermögens (bezieht sich wohl auf die visuellen Erinnerungsbilder ! E) oder irgend einer anderen Vorstellungs- laraft". Wenn man sich ferner der scharfen Worte Diesterwegs nicht nur gegen den Mißbrauch des visuellen Vorstellens („Afterkopfrechnen"), sondern gegen das visuelle Vorstellen überhaupt beim Rechnen erinnert, findet man genügend Beispiele, wie die Methodiker ihren individuellen Vorstellungstypus auf alle Individuen ausgedehnt haben.

Die Kinderpsychologie warnt uns davor, Erscheinungen, die wir am Seelenleben Erwachsener beobachten, den Kindern unterzuschieben. Die experimentelle Pädagogik macht auf die Gefahr aufmerksam, daß aus den Selbstbeobachtungen leicht irrige Ver- allgemeinerungen abgeleitet werden können, und daß man gern geneigt ist, sich in Bezug auf seinen Vorstellungstyp bei der Unterrichtsarbeit nicht zu neutralisieren.

23 -

Experimentelle Untersuchungen über den Aufsatz des Volksschülers

In Haus und Schule^).

Von Dr. Friedrich S c h m i d t - Würzbarg.

Die meinen Untersuchungen zu Grrunde liegenden Methoden veran- lassen mich einige Worte über die herrschenden Methoden in der Volks- schule im allgemeinen zu reden. Fast alle methodischen Anweisungen, wie sie uns in den Lehrbüchern der Seminarien und Fortbildungskonfe- renzen, in den Abhandlungen der pädagogischen Literatur entgegentreten, wurden auf konstruktivem Wege gewonnen d. h. auf Grund von ge- legentlichen, hie und da gemachten Wahrnehmungen und Beobachtungen wurden Regeln, Forderungen aufgestellt , welche , wenn sie auch nicht immer einwandfrei waren, in der Schulpraxis realisiert werden sollten. Dabei konnten weniger die Leistungen des Schulkindes als Richtschnur gelten als vielmehr Anschauungsweisen Erwachsener, welche in die kind- liche Arbeitsweise hineingetragen und in der Praxis verglichen wurden, was wir deutlich z. B. aus den überfüllten Lehrplänen ersehen können. Eine Folge dieses konstruktiven Verfahrens war eine unfruchtbare Diskussion subjektiver Meinungen, nach welchen jeder recht zu haben glaubte und die unsere ganze Volksschulmethodik nicht ins beste Licht setzten. In neuerer Zeit nun wurden Versuche angestellt, welche die Schüler einer Klasse oder auch zu Hause unter ganz bestimmten Be- dingungen arbeiten ließen. Diese Leistungen wurden einer systematischen Beobachtung unterzogen und hieraus wiederum vorsichtige Folgerungen gewonnen. Auf diese Weise will man die Pädagogik zu einer selb- ständigen Wissenschaft mit eigenem kinderpsychologischen Forschungs- gebiet erbeben. Freilich sind der Versuche noch wenig und die ganze Wissenschaft noch jung, die Untersuchungen selbst recht mühsam und ihre Ergebnisse machen langsamen Schritt, aber wenn zahlreiche Pioniere dieses Neuland bebauen wie in Karlsruhe und neuestens in Leipzig, wie in Zürich und Kiel und wenn sich analog der Gesellschaft der experim. Psychologie eine deutsche Gesellschaft für experim. Pädagogik gründen würde : dann stünde es bald in methodischen Dingen anders ■). Diese exp.

1) Vortrag gehalten in der freien Vereinigxing der philos. Pädagogik auf der deut- schen Lehrerversammlung zu München 1906.

2) Inzwischen ist ein Aufruf zur Bildung einer „Gesellschaft für experimentelle Pädagogik" ergangen.

24

Pädagogik unterscheidet sich also von der alten dadurch, daß sie eine Wissenschaft vom arbeitenden Kinde also von einem Lernenden ist und nicht eine Wissenschaft für die Lehrenden, die ihre Methoden mehr auf Grund der Spekulation ausbauten.

Wie sich nun das exp. Verfahren im besonderen gestaltet, will ich im Gebiete des Aufsatzes zeigen. Auf Grund der exp. Arbeiten: „Über Einzel- und Gesamtleistung des Schulkindes von Dr. Mayer- Würzburg ^) und meiner Untersuchungen über die Hausaufgaben des Schulkindes *) kam ich zu der Frage nach der Qualität des Haus- und Schulaufsatzes. Zu diesem Zwecke ließen wir in einer 4., 5., 6., 7. Mädchenklasse und in den entsprechenden 4 Knabenklassen Aufsätze anfertigen, die einmal in der Klasse und dann (dieselbe Arbeit) zu Hause, oder erst da und dann dort gefertigt wurden: in einer Klasse wurde der Aufsatz vorbe- reitet, in einer andern nicht. Sämtliche Schüler gingen in die Würz- burger Volksschule.

Die allgemeinen Bedingungen der häuslichen Aufsätze wie das Verhalten der Eltern und Geschwister, der häuslichen Arbeitsräume, der häuslichen Arbeitszeit, sowie jene des Schulaufsatzes wurden in Be- rücksichtigung gezogen und werden bei entsprechenden Anlässen mitge- teilt. Um einen Maßstab für die Qualität beider Aufsatzarten zu er- halten, stellten wir eine Fehlerskala in °/o auf, deren Werte zwar will- kürlich sind, aber mit unbeugsamer Konsequenz an die Arbeiten gelegt wurden. Wir unterschieden materielle und formelle Fehler; die Summe beider gab den Maßstab für den Vergleich der Haus- und Schulaufsätze. In materieller Hinsicht sind folgende Fehlerarten unterschieden worden:

a) das Fehlen einzelner Elemente oder Komplexe d. i. der Buch- staben und Wörter ;

b) die Zutaten d. sind überfl. B. u. W. ;

c) Vertauschungen und Verwechslungen von B. u. W. ;

d) Verstöße gegen die zeitlichen Verhältnisse;

e) Verstöße gegen den Kasus;

f) Herstellung falscher Beziehungen;

g) Verstöße gegen die objektive Wahrheit; h) Verfehlungen des Ausdruckes ;

i) unstatthafte Wiederholungen.

In formeller Hinsicht kamen in Betracht:

a) Verstöße gegen Groß- und Kleinschreibung;

b) falsches Trennen oder Aneinanderschreiben ;

1) Engelmann, Leipzig 1903.

2) Engelmann, Leipzig 1904.

25

c) Verstöße gegen die Satzzeichen:

d) Weglassang von Anhängseln wie u-Haken etc.;

e) Überschreibungen;

i) Verschreibungen im Texte.

Dieses schematische Verfahren kann nicht als geisttötendes, lebens- vemeinendes, unpersönliches, nüchtern-berechnendes bezeichnet werden, denn gerade es führt uns zur soliden Basis der Gesetzmäßigkeiten kind- lichen Seelenlebens, zeigt uns das "V^'achsen und Werden des kindlichen Geistes und ist die beste Quelle zur Befriedigung der Bedürfnisse und drängender Lebensfragen jugendlicher Seelen. Und namentlich eines noch: es schützt uns vor allzukühnen Neuplänen ohne solide psycho- logische Grundlage.

Die inneren Bedingungen, welche im Schüler selbst liegen, er- schlossen wir auf Grund amtlich eingeführter Zensurlisten und der Auf- satznoten ev. eingehenderer Schülercharakteristiken durch den Klassen- lehrer oder die Lehrerin. Man muß hier wohl unterscheiden zwischen exp. Psychologie und exp. Pädagogik insofeme, als es letzterer im Massen- unterrichte einfach unmöglich ist, die feinen, von zufälligen Erscheinungen losgelösten individualisierenden Züge zu charakterisieren und quellen- mäßig zu benutzen. Dieser Mangel berechtigt aber noch lange nicht, Klassenuntersuchungen als solche für einen Pädagogen als nicht lehr- reich genug zu bezeichnen. Hauptgesichtspunkt bleibt für den Päda- gogen, daß unter normalen Bedingungen gearbeitet wird. In diesem Punkte hat Meumann ^) nicht Recht, wenn er die gesamte Individualität des Schülers (hier bei unsem Versuchen von 302 Schülern) ausgiebig festgestellt wissen will. Denn dann müßte man auch ev. die Forde- rungen, die auf dem 3. internationalen Kongreß für Psychologie in München für exp. Untersuchungen aufgestellt wurden berücksichtigen, die da mit Aschaifenburg, Kemsies, Trüper den Einfluß des Kaffees, Schlafes; Ernährung, Pausen, ganze Gemütsverfassung, Wille, Charakter u. s. w. auf die Leistungen des Schülers bestimmt wissen wollten. Das geht für unsere Sache zu weit.

Wir kommen nunmehr zu den Versuchsergebnissen und diskutieren die Aufsätze der IV. Mädchenklasse. Am 20. März v. J. gab die Lehrerin in der Schule das Thema: „Der Solnhofer Knabe". Die Mäd- chen sollten niederschreiben, wie derselbe die Solnhofer Steine bekannt machte. Diese Schulleistung, ein Ergebnis des Unterrichtes und des Vortrages, war ein Probeaufsatz, d. h. die Kinder wußten, daß er be- notet wurde und großen Wert hat für ihre Qualifikation.

1) Haus- und Schularbeit. Leipzig. Elinkhardt 1904.

26

I. Tabelle der materiellen Fehler in der IV. Mädchenklasse

I. Tabelle

der formellen Fehler

in der IV. Mädchenklasse

Fehlerarten

Haus- aufsatz

Schul- aufsatz

F. W.

31,86

88,50

U. W.

33,92

88,30

Wv.

1,54

26,46

Fr. W.

13,32

17,94

F. B.

44,89

114,69

U. B.

38,24

95,67

Bv.

1,72

5,97

Fr. B.

59,13

86,92

Zf.

3,95

12,75

Kf.

57,50

63,92

F. Bez.

3,59

6,65

Sf.

8,05

18,81

A.

4,50

5,13

W.

42,24

44,07

Haus-

Schul-

Fehlerarten

aufsatz

aufsatz

s.

9,25

7,73

vt.

4,00

2,32

ü.

O.Ol

0,10

G. u. K.

16,91

27,00

Anh.

4,60

3,96

Zt.

4,94

5,01

Az.

4,60

3,95

I 44,31 I 50,07

I. Tabelle der gesamten Fehlerwerte in der IV. Mädchenklasse

Hausaufsatz

Schulaufsatz

388,76

725,85

344,45 I 675,78

Am 28. März wurde genau derselbe Aufsatz als Hausarbeit gegeben.

"Wenn wir nach dieser Fehlertabelle die Hauptziffern betrachten, so ist der Hausaufsatz sowohl in materieller als formeller Hinsicht quali- tativ besser ausgefallen als der Schulaufsatz, ein Ergebnis, das sich auch erwarten läßt. Greifen wir ganz allgemein einige Ziffern heraus! Es ist für diese Altersstufe (10 Jahr) eine ganz auffallende Erscheinung, daß die Schularbeit im Prüfungsgedanken sowohl das Fehlen von Ele- menten und Komplexen als die überflüssigen Zutaten von solchen in hervorragender Weise begünstigt gegenüber dem Hausaufsatz. Wenn wir auch nachweisen können, daß der Einfluß des kindlichen Gedächt- nisses als ein durchaus glücklicher bezeichnet werden muß nicht nur inbezug auf Inhalt, sondern auch auf Korrektur durch die Lehrerin, so sind gerade in diesem Falle die durch Prüfungsnoten veranlaßten Auf- merksamkeitsverhältnisse der Mädchen in Hinsicht auf diese beiden Fehlerquellen nicht günstig zu nennen. Es ist hier die ganze innere Willensverfassung, absichtlich und bewußt gute Schulaufsätze zu machen, eine noch recht widerstandsarme, vom Prüfungsgefühl und Prüfungs- stimmung abhängige.

27

Dieser „Prüfangsdrack'' zeigt sich auch sehr in den Vertauschungen von Buchstaben und Wörtern, in den Beschreibungen objektiv wahrer Tatsachen in der Wiedergabe zeitlicher Verhältnisse. Dagegen ist die Ausdrucksföhigkeit der Mädchen in Haus und Schule ziemlich gleich gut, da der Hausaufsatz fast durchweg eine Reproduktion der Schulleistang war incl. der da und dort relativ gleichmäßig auftretenden Kasusfehler und unstatthaften Wiederholungen von Wörtern. Dadurch zeigt die eigentliche Stilleistung ein großes Ankleben an die Form, ein noch nicht entwickeltes freies Schaffen, keine selbständige Darstellung und Verarbeitung eigener Gedanken. Durch den Gleichlaut der Haus- und Schulaufsätze ist für die Lehrerin selbst eine gewissenhafte Vorbereitung zu notieren, ob aber dieselbe die schriftliche Darstellung kindertümlicher Gedanken förderte, ist keine Frage bei solchen deutlichen Nacherzählungen.

Die Ergebnisse in formeller Beziehung wurden nicht erwartet. Von den Fehlerarten sticht die Groß- und Kleinschreibung in der Schule un- vorteilhaft ab und es wurde im ganzen zu Hanse schöner als in der Prü- fungsstunde geschrieben. Dieser Aufsatz als Nacherzählung bietet weiter hier kein Interesse und wäre eine andere Kategorie von Aufsätzen, die natürlich in der Klasse auch zum Zuge kommt, für uns dankbarer. Im übrigen verdienen die Handschriften der Mädchen relativ volles Lob.

II. TabeUe II. Tabelle

der materiellen Fehler der formellen Fehler

in der IV. Knabenklasse in der IV. Knabenklasse

Fehlerarten

Haus-

Srhul-

aufsatz ' aufsatz

Fehlerarten

Haus- aufsatz

Schul- aufsatz

F. W. u. W. Wv. Fr. W. F. B. o. B. Bv.

33,30 4,32

7,66 30.01 10,26

22,62 18,88

17,16

17,44

5,98

Fr. B.

11,18

11,64

Zf.

0,53

Kf.

17,66

16,11

F. Bez.

0,44

Sf.

3,70

1,16

A.

1,02

3,55

W.

94,50

56.67

S.

1,98

0,67

Vt.

1.28

2,40

u.

0,48

1,83

G. u. K.

13,30

10,78

Anh.

1,98

0,37

Zt.

6,13

Az.

1,00

l 19,02 23,48

II. TabeUe der gesamten Fehlerwerte in der IV. Knabenklasse

213,61 ! 172,18

Hausaufsatz

Schulaufsatz

232,63

195,66

28

Einen interessanten Gegensatz bilden die Aufsätze in der IV. Knaben- klasse insoferne, daß einmal der Hausaufsatz zuerst und der Probe- aufsatz später gefertigt wurden und zum andern das Thema: „Der schulfreie Nachmittag" ohne jegliche Vorbereitung zur Bearbeitung stand. Der H.-A. wurde am 28. März und der Sch.-A. am 2. April gefertigt. Nach der Fehlertabelle fiel der H. A. in materieller Hinsicht bedeutend schlechter und in formeller Beziehung dagegen besser aus als der Sch.-A. Die fehlenden Elemente und Komplexe werden mit großer Wucht in das Haus verlegt. Wir finden hierin eine Bestätigung früherer Unter- suchungen und bezeichnen diese Auslassungen als typisch-häusliche Fehler. Sie sind zurückzuführen auf ein bedeutendes Nachlassen der Aufmerk- samkeit, welche das Schreiben kontrollierte; in der Schule förderte der Erinnerungs- und Prüfungsgedanke die Konzentration der Aufmerksam- keit und verdichtete sich zu einem vorsätzlich guten Arbeiten. Dies macht sich besonders auch geltend in den objektiven Schilderungen der jugendlichen Erlebnisse dieses Nachmittages , in einer kürzeren und präziseren Gedankenfassung. Als typischen Schulfehler können wir in Hinsicht auf die Komplexe die überfl. Zutaten nennen, was wir auch in unserer früheren Arbeit bereits aussprachen. Die Ursache liegt in einem gewissen Übereifer, rascherem Denken mit nachkommendem Nieder- schreiben. Dies zeigt sich auch deutlich in der schulischen Fehlergruppe der „Fr. W.". Eine gewisse Stabilität in Haus- und Schulaufsatz weisen die Ziff'er der fremden B. und der Kasusfehler auf. In formeller Hinsicht sprechen für die Hastigkeit der Schulaufsätze der Umstand, daß Ver- bindung und Trennung von Wörtern und Buchstaben nicht ordnungs- gemäß sich vollzogen und daß der Prüfungsaufsatz im allgemeinen formell minderwertiger ist als der Hausaufsatz, eine Erscheinung, die nicht in der Praxis geläufig ist.

Nun zur spezielleren Analyse dieser Tabelle! Unter diesen 32 Ar- beiten der 4. Knabenklasse befinden sich 10 Hausaufsätze, die qualitativ besser ausfielen als ihre entsprechenden 10 Prüfungsaufsätze, eine Tat- sache die bislang empirisch noch nicht nachgewiesen wurde. Wir geben diese Gruppe in einer besonderen Tabelle. Aus ihr greifen wir 3 für uns besonders günstige Fälleßheraus. Es sind die H. u. Seh. der Schüler Nr. 9, 5 und 6.

Der Schüler No. 9 hat in seiner Zensurliste den Vermerk : „Manch- mal recht nachlässig!" Dies gilt für seinen Prüfungsaufsatz. Er ist noch gut beanlagt und seine Aufsatznoten schwanken zwischen gut und noch gut. Sein Hausaufsatz wurde in der von uns schon früher als günstigste Zeit festgestellte Stunde von 5 6 angefertigt ohne jedwede Störung und Mithilfe.

29

«4-1

SO

*— ! ^

o

.— 1

00 00

CO

o o*"

co'

35

1—1

T-T

(M

0,32 0,04

1,31

00

00

CO

CO

T-T

CO

o'~

CO 00 CO '_^»0 1-^

T-To'^i-r

<M

o

O^

co'

CO (M

CX3^GC

0,94 0,94

^.

o

O

O

00

»

o

o

ooo

2,00 0,72

cö~

Oi o

o o

o'' ^

CO o

i-iO

co^i-T

et.

.

(M

1,72

1,72

CO

CO

-*

CD CO

CO

T-T

CM

CO

1—1

o

00

CO

o'

cc

(M

CD^

(M

CO

o"

0,05 3,24

CO

(N

05

00

o

<M

o •6~

1— t

co"

1—1

00 Oif

0,07 0,21

^

:13

^4

(D

in

«4-1

03

P

^

fti

EH

^

-^

Ä

(D

<1

P-l

(/J

5Q

00 05

Ci

' o

O

lO o

CO,

CO

CO

Oi

i-T

(M

(M

lO

Oi

CO

05 1—1

O

o~

ccT

00

(M

CO

CO

t^

Ol

co'"

o"

8

CO

o

iSC

CO

o

o

iH

O

■r-4

0?

92

(N

O

o

o

00*^

oo

o"

Cd

rt* I>

t>-

•^H

(M

1-H

Ci^

^

'^

CO

(MiH

i-T

Ttl

o

o

■I-l

33

o

Ttl

CO

oo''

1—1

o"

oo"

1

o

o

i '^

o

lO

lO

! "

of

(M (M"

Q

CD

<D

-»J -iJ

I. Materiel F. W. Ü. W.

pq

<^

1—1

s

O

t— 5 i— (

i— i 1— i 1— i

- 30

Der Schüler No. 5 hat den Vermerk: „Nachlässig bezüglich der Hausaufgaben! Muß scharf kontrolliert werden." In der Anlage ist er einmal gut, einmal noch gut, im Aufsatz, gut mittelmäßig noch gut qualifiziert. Seinen Hausaufsatz fertigte er wiederum von 5 6, Störungen kamen keine vor und geholfen wurde ihm auch nicht.

Schüler No. 6 wurde in der Anlage mit III, II/lII und IL im Auf- satz durchweg mit II zensiert. Er fertigte seinen Hausaufsatz von ^/aß bis V^7, wurde nicht gestört; sein Vater hat ihm geholfen. Diese 3 Einzelfälle stützen sich auf den schon früher von uns aufgestellten und nachgewiesenen Satz, daß die Kinder zu Hause besser arbeiten, wenn sie vor allem Ruhe und Zeit haben als in der Klasse. Diesen bessern Ausfall setzen wir nicht nur auf Rechnung der in der Stille besser arbeitenden Phantasie, sondern auch des neue und alte Ideen kombinierenden Verstandes auf Grund eines intensiveren Gedächtnisses, was alles beiträgt zur Entfaltung eines größeren Sprachreichtumes und einer besseren Stilform. Einen Einfluß hieraufhat auch die Zeitfrage. Zu Hause arbeitet der Schüler, wenn er günstige Arbeitsbedingungen hat mit einer relativ langen Arbeitszeit, in einem ihm bequem liegenden Arbeitstempo; in der Schule ist der Wille des Lehrers bestimmend; der Ehrgeiz in der Masse beschleunigt das Tempo nicht immer zu Gunsten der Qualität der Arbeit; dazu kommt die große individuelle Einzel wirkung des Prüfungs- gedankens auf die ganze Gemütslage und Stimmung, die die intellektuelle Frisiche produktiv und qualitativ herabsetzen kann; denken wir nur an das sog. „Prüfungsfieber".

Was uns aber die 10 Fälle des Besserausfalles der Hausaufsätze nahe legen, ist der wohl zum erstenmale ausgesprochene Gedanke, ob wir mit unsern Schülern dem eigentlichen Ziele des Aufsatzunterrichtes, flotte Darstellung der Gedanken, nicht zweckmäßiger zusteuern, wenn wir die Aufsätze überhaupt nicht vorbereiten. Die Ausdrucksfähigkeit des Schülers, die Ordnung des zeitlichen Verlaufes der Tatsachen, der ganze kindertümliche Stil wurde hier quasi vom Lernenden selbst her- ausgetragen und nicht wie in der IV. Mädchenklasse von der Lehrenden hineingetragen. In den Arbeiten der VI. Klasse kommen wir darauf nochmals zurück. Hier liegen die psychologischen Quellen für die Be- gründung der Anschauungen eines Scharelmann und aller ästhetisch- und künstlerisch wirkend wollender Aufsatztheoretiker. Gerade diese müssen in erster Linie sich des exp. Verfahrens bedienen, wenn sie dem rätsel- haften Kindergeiste dienen wollen.

Wir kommen jetzt zu den Aufsätzen der V. Mädchenklasse. Der Probeaufsatz wurde am 20. März und der Hausaufsatz am 26. März ge- fertigt. Das Thema hieß: „Das Grab des König Alarich" nach dem

31

IV. Tabelle

der materiellen Fehler

in der V. Mädchenklasse

IV. TabeUe

der formellen Fehler

in der V. Mädchenklasse

Haus-

Schul-

Fehlerarten

aufsatz

aufsatz

F. W.

28,92

33,40

U W.

4,14

18,18

Wv.

3,72

Fr. W.

2,00

5,40

F. B.

19,65

37,61

U. B.

11,79

23,36

Bv.

1,03

4,40

Fr. B.

9,70

14,16

Zf.

3,44

6,44

Kf.

13,31

41,77

F. Bez.

0,40

1,91

Sf.

1,70

11,42

A.

2,30

14.88

W.

21,97

27.41

Fehlerarten

Haus- aufsatz

Schul- aufsatz

s.

vt.

ü.

G. u. Anh. Zt.

Az.

K.

16,00 0,76 0,01

2,78 1,99 0,87 0,90

20,97 0,68 0,21

11,86 2,40 5,87 0,86

: 23,31 , 42,85

IV. Tabelle

der gesamten Fehlerwerte

in der V. Mädchenklasse

120,35 I 244,06

Hausaufsatz

Schulanfsatz

143,66

286,91

bekannten Gedichte von Platen, das im Lesebuche stand. Die Haus- aufsätze sind ca. noch einmal so gut als die Schulaufsätze ausgefallen in materieller und formeller Hinsicht. Dieser materielle Vorsprung der H.-A. ist zum größten Teil dem glücklichen Gedächtnis der Mädchen zu- zuschreiben, das nicht nur fast durchweg den wörtlichen Gleichlaut der Pr.-A. reproduzierte, sondern auch die mit roter Tinte durch die Kor- rektur veranlaßte Verbesserung. Von den 40 Haus- und Schulaufsätzen wurde z. B. der einleitende Satz 38 mal im Wortlaute gebracht und nur 2 Schülerinnen erlaubten sich eine andere Fassung. Innerhalb des Um- fanges des Aufsatzes sind von den 40 Aufsätzen mehr als die Hälfte gleich groß und der Rest weist nur eine Differenz der Wörter bis 10 inner- halb der Leistung eines Schülers in Haus und Schule auf. Einmal hatte der Schulaufsatz ausnahmsweise 26 Wörter mehr als der H., was zugleich die größte Differenz war. Dieser literarische Aufsatz ist Beispiel dafür, wie jede Sprachfreiheit, jede Entwickelung der Ausdrucksfähigkeit, jeder formale Fortschritt kindlicher Intelligenz unterbunden wird. Er sinkt herab zu einer gewöhnlichen Abschreibeübung, wozu das Original im Gedächtnisse, liegt. Sollte aber ein solcher Aufsatz den Zweck haben, die Kinder an

32

eine sprachlich-richtige Darstellung zu gewöhnen, so heiße man dies nicht Aufsatz, denn sein Zweck wird nicht erreicht. Die Tabelle besagt:

Durchweg in allen Fehlergruppen ist der Einfluß des Gedächtnisses für Wortlaut und Korrektur deutlich zu erkennen. 31 Kinder sind zu Hause nicht gestört, was auch als Vorteil für die H. nicht zu unter- schätzen ist; die Störungen der 9 andern verursachten keine geringere Qualität der H.-A, als ihre entsprechende Pr.-A. Einige Worte über das Wesen der Störungen, die von vielen Pädagogen überschätzt werden. Störungen schlechthin gibt es nicht. Die Schulkinder können Störungen kompensieren, ja überkompensieren und so eine gesteigerte Arbeitsleistung hervorrufen. Dann spielt die Gewöhnung an ungünstige Arbeitsbedin- gungen diese Rolle, daß sie gegen ablenkende Reize schützt. Durch Gegenüberstellung von Hausaufsätzen eines und desselben Schülers so zwar, daß einmal der Schüler gestört und dann nicht gestört wurde hat sich ergebsn, daß Hausaufsätze mit Störungen besser ausfielen als solche ohne Störungen. Auch die räumliche Beschränkung wirkte nicht verschlechternd auf die Qualität der H.-A. Diese häusl. Störungen sind rein äußerlicher Art und haben mit den psychischen Störungen nichts gemein.

Die verhältnismäßig hohen Zahlen beim Fehlen von Buchstaben und weniger deutlich bei Komplexen charakterisieren diese Sorte wieder als typische Hausfehler, wie die niedern Zahlen der Zutaten für die typischen Schulfehler sprechen. Die hohen Ziffern der Wiederholungen von gleichlautenden Wörtern zeigt die Unbeholfenheit in Darstellung eines leichten Stiles und den großen Schlummer des Sprachgefühles ^). An den Kasusfehlern ersieht man die Wirkung der Korrektur: besonders in formeller Hinsicht ist die Tabelle lehrreich. Der Hausaufsatz ist schöner ausgefallen als der Prüfungsaufsatz, trotzdem die Kinder auch im Schön- schreiben Noten erhielten. In einem einzigen Fall fiel der Schulaufsatz formell besser aus. Die Schülerin ist Repetentin der V. Klasse, mittel- mäßig beanlagt, hat im Aufsatz die Noten 4, 2 3, 2 3, kam aus einer Klosterschule; bei Fertigung der häual. Arbeit wurde sie unterbrochen, indem sie einen Gang besorgen mußte; Arbeitszeit war 6 7 Uhr.

Wir kommen nun zu den Aufsätzen der V. Knabenklasse. Hier haben wir es zu tun mit Aufsätzen, die auf Grund einer naturgeschicht- lichen Lektion gewonnen wurden. Das Thema heißt: „Die Bewegung der Ringelnatter". Der H. wurde 8 Tage nach dem Pr.-A. gefertigt.

1) Eine neue Untersuchung soll zeigen , ob diese Fehlerart , die der stilkritische Lehrer vorerst als unstatthaft bezeichnet, nicht ihre Ursache in der kindertümlichen Sprache hat.

33

V. TabeUe der materiellen Fehler in der Y. Knabenklasse

V. TabeUe

der formellen Fehler

in der V. Knabenklasse

Fehlerarten

Hans- aufsatz

Schul- aufsatz

F. W.

10,16 1

37,16

ü. W.

5,04

35,80

Wv.

4,46

4,26

Fr. W.

5,96 ;

27,16

F. B.

27.16 '

46,06

U. B.

22,06 ;

43,22

Bv.

3,15

Fr. B.

51,09

44.41

Zf.

j

1,00

Kf.

32,68 !

33,98

F. Bez.

1.63

8.96

Sf.

2,16

25,10

A.

4,77 ;

12,83

W.

55,05

54.16

Fehlerarten

Haus- 1 Schal- aufsatz I aufsatz

225.37 I 374.10

s.

10,10

11.64

vt.

3,98

5,86

u.

1.35

1,21

G. u. K

17,48

22,34

Anh.

1,66

1.06

Zt.

5,09

1 11,55

Az.

4.15

1,88

>

; 43,81

55,54

V.

Tabelle

der genannten Fehlerwerte

in der V.

Knabenklasse

Hausaufsatz

Schulaufsatz

269.18

429.64

Wie zu erwarten fielen die Pr.-A. bedeutend schlechter aus in materieller und formeller Hinsicht. Dieses enger begrenzte Thema läßt genau die Gliederungspunkte erkennen , (Beine, Bewegung, Biegsamkeit, Wirbel, Schutz) nach welchen der Stoff erarbeitet wurde. Wenn auch im all- gemeinen durch die Natur des Stoffes ein relativer Grieichlaut zu ver- zeichnen ist, merkt man mit großer Deutlichkeit, daß die Knaben in der Umformung des Ausdruckes, Umstellung der Sätze, Anknüpfung rich-^ tiger Beziehungsverhältnisse, logischen Ordnung der Gedanken eine ge- wisse Routine infolge stattgehabter Übungen aufweisen. Nach unseren Erfahrungen ist von allen Volksschulklassen gerade die V. jene, welche inbezug auf Kasusfehler und überhaupt Orthographie oft haarsträubende Leistungen aufweist. Das zeigen auch die hohen Fehlerwerte in fast allen Fehlerarten. Diese Aufsätze tragen rein beschreibenden Charakter. Der eigentliche Vorgang der Bewegung der Ringelnatter ist für diese Altersstufe gerade nicht leicht zu nennen. Ein Schüler schrieb ihn so nieder: „Sie bewegt sich durch Seitwärtsschlängeln fort. Das Schwimmen geschieht ebenso. Dazu braucht die Ringelnatter einen biegsamen Körper. Die Wirbelsäule läßt sich besonders gut biegen. Die Wirbel sind durch Muskel verbunden. Jede Wirbel besitzt eine Gelenkpfanne, in welcher

Meumann, Exper. Pädagogik. V. Band. O

- 34

sich der (lelenkkopf des nächsten Wirbels dreht. Die fehlenden Glied- maßen werden durch die Rippen ersetzt. Durch viele Muskel der Körper- wand sind die Rippen leicht vor- und rückwärts beweglich. Sie sind unten nicht verwachsen und abgestumpft. Die Rippen greifen vor, stemmen sich ein und tragen den Körper vorwärts. Sie hat am Bauche Schuppen, welche sie etwas aufrichtet, um das Ausgleiten zu verhindern." Man darf wohl sagen, daß diese Leistung einem Präparanden und Gym- nasiasten auch Ehre gemacht hätte. Ob aber die Beschreibung dieses Bewegungsvorganges ein günstiger Stoff für einen Aufsatz ist, verneine ich. Ich betone, Stoff für einen Aufsatz. Das kann er schon um deswillen nicht sein, weil ja die Knaben mit denselben Worten in nahezu gleicher Aufeinanderfolge arbeiten müssen, wozu ein spezifisch-stilistisches 'Moment gar nicht hinzuzutreten braucht. Das Kindertümlich - Produk- tive fällt ganz aus dem Rahmen eines solchen Aufsatzes heraus. Alle Schüler begannen fast überall gleichlautend damit, daß die Ringelnatter keine Beine hat, beschrieben den Bewegungsvorgang wie ich ihn verlas mit mehr nur äußerlichen Variationen, indem ein oder mehrere Worte weggelassen oder hinzugetan wurden oder auch ein Nebensatz in Weg- fall kam und endigten alle damit, daß die Bauchschuppen das Aus- rutschen verhindern. Nur zwei Schüler von 47 endigten nicht mit dem- selben Schlüsse , weil sie nur ^/4 der Beschreibung darstellten und die Prüfungsnoten IV. bezw. III IV erhielten.

Die Schwierigkeit der Darstellung des Bewegungs Vorganges, der ganz klare Vorstellungen voraussetzt, läßt die vielfachen Wiederholungen in Schul- und Hausarbeit; die orthographische Unsicherheit dieser Alters- stufe, die hohen Werte der überflüssigen' Zutaten und auch der fehlenden Komplexe und Buchstaben erklären; die in Haus- und Schule fast gleich hoch gebliebenen Ka>usfehler geben beredtes Zeugnis dafür, daß der richtige Gebrauch der Fälle des Hauptwortes den Knaben große Schwierig- keiten bereiten, trotz der in Unterklassen vielleicht oft geübten Beugung des Hauptwortes als solches und vielleicht weniger als angewandt im Satze. Daß von den Schülern der Bewegungsvorgang nicht allgemein klar erkannt wurde, ergibt der hohe Ziffernwert bei den Sachfehlern; daß aber eine gründliche Aufklärung und sachliche Besprechung der Probearbeiten stattfanden, dafür sprechen ein kräftiges Wort die sehr niedern Fehler tei den Hausaufsätzen^). Daß ferner auch auf Verbesserung des Aus- druckes hingearbeitet wurde, finden wir ebenfalls in den Hausaufsätzen bestätigt. Ferner zeigt die Tabelle sehr klar, daß überflüssige Zutaten

1) Nach Aussage des Klassenlehrers fand inzwischen auch eine Wiederholung der naturgeschichtlichen Lektion statt.

35

speziell typische Schulfehler sind, von denen sich die fehlenden Kom- plexe und Elemente als typische Hansfehler abheben, wenn auch nicht in so scharfer Weise. Die Herausarbeitung richtiger Beziehungen ge- lang in den Hausaufsätzen bedeutend besser. Ob diese Erscheinung im Prüfungsgedanken oder aber im Gredächtnis an die Korrektur seinen Grund hat. wollen wir hier nicht untersuchen. Charakteristisch ist die große Stabilität der Wortvertauschnngen in Haus- und Schulaufsatz. In formeller Hinsicht finden wir hohe Werte bezüglich der Groß- und Kleinschreibung und Satzzeichen in beiden Aufsatzarten. Hinsichtlich der Schrift sind in der Schule hauptsächlich zusammengehörige Züge getrennt und zu Hause getrennt vorzutragender Buchstaben zusammen- gehängt worden. In der Schule kamen mehr Verschreibungen im Texte vor als zu Hause, während Buchstaben und Wörter sowohl als wie Weglassen von Anhängseln da wie dort ziemlich gleichmäßig notiert wurden.

Bei diesem Aufsatze kamen wir noch auf einen andern Gedanken : In der V. Klasse treten bei uns in Würzburg die Realien mit ihrem großen Stoffumfang gebieterisch in den Lehrplan.

Unsere Lehrordnung verlangt: ^Die Aufsatzübungen dürfen keine gesonderte Stellung im Unterrichte einnehmen und etwa fremde, be- ziehungslose Stoffe behandeln , sondern sie müssen mit dem gesamten Unterrichte, namentlich mit dem Sachunterrichte in engstem Zusammen- hange stehen und mit dem Schnlleben in Verbindung gesetzt werden. Vorzugsweise sind Aufgaben zu wählen, bei welchen die Kinder Selbst- erlebtes , auf eigener Erfahrung und Beobachtung Beruhendes be- richtigt und erweitert durch den Unterricht darzustellen haben". (S. 56). Wir müssen für den Aufsatz auf Grund der Erfahrungen in den V. Mädchen- und Knabenklassen vor einem Ausnützen eines streng- realistischen Stoffes zu Aufsatzzwecken warnen ; was dabei für den eigentlichen Stil herausspringt haben wir gesehen. Wenn wir ferner den Status quo des grammatikalischen und orthographischen Wissens eines Schülers der V. Klasse berücksichtigen und betonen, wie schwierig es ist, richtige Anwendung desselben bei Einkleidung des realistischen Stoffes zu finden, dann lasse man lieber die Finger von diesem unreifen Produkt und führe es durch fleißigen mündlichen Vortrag zur Reife. Dies gilt insbesondere auch für die erdkundlichen Themata.

Die Tatsache ich erfahre sie heuer wieder von neuem und andere Kollegen bestätigten mir sie daß die aus der Volksschule zu ent- lassenden Schüler noch recht unbeholfen im sprachlichen und schrift- lichen Ausdruck sind, hat im bisherigen Aufsatzbetriebe einen seiner gewichtigen Gründe. Wenn wir ferner bedenken, daß solche mangelnde

3*

36 -

(— !

1—1

Q

^Ng.5-.q:<pO

^ t> oc hrj ^ :

►^

S

r- h

fD

<^

§

•-1

c-t-

-

!

1— '

,

1^

o

t— ^ 0 l— '

CO to to

09

h— '

LnD 05 CO

00 cn

1

i*

Ol

00 h*^ 00

^^ 0:1 05

1—^

t— ^

O H-^ oo

H*

tf^ tO H-^ tO

00

t-*-o o o

0

tO H-' 0 1-^

CO

CO 03 "^ CO

05

t*^ tO 05 INS

1— '

oo

tO i-'

l-* OK-' tO

!-»•

o ^

INS kJ^

Oi^ <1 ^fi. CD

CO ^

CD

CD rf^

tC 00

00 4^ 00 Oi

00

ooc

0

1— ». 1— ' '-' !-*•

!

CO

a>o\^

00

-vi »sj -1 ^

»t>- j

05

C" Ü» CO

^

h^ ij:». h^. rfi.

QO

I-* tO h-t-

tc to

o o

88 8

80

Cn j

o

00000

0 H- (-^ 05

^'

H^

00 00 CD rf^ CD

CD 00 00 Oi

00

rf^ rfi. 0 ot 0

0 000

h-

OS

OOH-^OOO

0 00

)->. 0 05 l-'

<i

^

00 1-*^ O O 00

00 *^00

^ 00 M- -<1

«o

00 00:1 O^ 05 00

00 *-00

05 00 05 0?

{}0

0

CO

1,23

0,62 1,23

Ins

oo

1— ' tc

00

Vi

oj>3jr> p V^ o~o"to

CO 00 CO 05

0

05 tf^

05 ~CD

CO

^^ pp

00 »-^

OO'ff^'Vl

^ rf^ *-

<1

-V]

000 00"^ 0

^ I-' Ol

copp

^'ji.^rf^'bo 00 rfi.-<i

Vi

00

0

00 00

^ «vi

05

c™

2S

0

8

0

OS

8

1— ' 1— '

QO 00

05

OS

"o'co CO 00

'-'-P P

"biVi ~bo

CO 05 00

J~'P CO 05

CO

•<!

w

w

!=!

hj

^

Cb

•^

0

w

52

Ol

w

ö

(D

•-b

po:

e+-

M

Cb

37

Aufsatzleistungen eine wesentliche Förderung in unsern Sonntags- und Fortbildungsschulen nicht erfahren, dann müssen wir heute mit Sorge um die Aufsatzraethodik und Ausdruckergiebigkeit unserer Volksschule bezw. Volksschüler erfüllt sein. Nach eingehender Analyse dieser Fehlertabelle sind unter 47 Arbeiten, die zu Hause gefertigt wurden, sieben, welche qualitativ besser ausfielen als ihre entspr. Probeaufsätze in der Schule, was aus einer Spezialtabelle ersichtlich war. Wir be- sprechen wieder die 8 günstigsten Fälle. Im ersten Falle verhalten sich die H: Seh wie 8:2,3: im zweiten wie 12,32:4,62 und im dritten wie 16,49:6,93.

Schüler No. 5 hat den Vermerk im 1. Schuljahre „eifrig, aber sehr unbeholfen", im 2. „ein Muttersöhnchen'*. Er ist gut beanlagt und hat die Aufsatznote gut. Seinen H. -Aufsatz hat er nicht auf einmal fertig gemacht, sondern in der Zeit von 2 b^. Dabei hat er sein Konzept vom Probeaufsatz benutzt. In der langen Arbeitszeit hat er Gränge besorgt; dann in der Küche geschrieben, wo ihn die Mutter öfters fragte.

Schüler Ko. 5 hat den Vermerk im 4. Schuljahre: „Blutarm, darum schläfrig und teilnahmslos". In der Anlage hat er II— III im Aufsatz 2 3 und 2. Seinen Hausaufsatz hat er in der Zeit von V26 V*^ S^' fertigt, gestört wurde er nicht.

Schüler No. 1 kam zu Anfang des Schuljahres aus einer klöster- lichen Schule. In Anlage und im Aufsatze ist er mittelmäßig zensiert. Er arbeitete zuhause von 6 7 und ist während der Arbeit unterbrochen worden.

Der Hausaufsatz des l. Schülers (No. 5) unterscheidet sich von dem Probeaufsatz in materieller und formeller Beziehung. Materiell zeigt der H.-A. durch die Verschiedenartigkeit der Fehlerarten einen Haus- arbeiter, der offenbar im Zustand einer gewissen Indifferenz arbeitete, ohne Arbeitsernst und Vorsatz, was man sonst unter dem Ausdruck „Bummler" zusammenfaßt. Dagegen zeigt die Schulleistung, abgesehen von einem Feblerwert, keinen andern auf.

Seine Aufmerksamkeitsverhältnisse waren hier offenbar konzentriert, vielleicht durch den Prüfungsgedanken oder sonst wie. Formell war der H.-A. tadellos. Er nahm sich vor , schöne Formen zu schreiben, während diese in der Schule ein wenig entgleisten.

Der H.-A. des 2. Schülers No. 1 ist nahezu dreimal so schlecht, als der Pr.-A. : Hier fällt ebenfalls die materielle Seite sehr tief in die Wag- schale. Diese schlechte Leistung wurde ohne äußere Störung vollbracht. Die innere Verfassung der Teünahmlosigkeit und Schläfrigkeit scheint der Grund zu sein. Es gibt solche energielose, hinträumende, aller

38

Pflicht bare Hausarbeiter, die aber durch äußere Anlässe wie z. B. eine Prüfung sich nach der Seite des Willens hin zusammenraffen können und ganz gute Leistungen vollbringen wie der Pr.-A. aufweist. Formell wurde in H. u. Schule fast gleich gut und hübsch gearbeitet.

Der H.-A. des 3. Schülers No. 7 ist mehr als 2^/4 mal so gering als der Pr.-A. Der Klassenlehrer hat seine Schüler 5 Jahre und diesen hier inbetracht kommenden erst ein ^n Jahre in der Schule. Dieser Umstand spielt gewiß eine Rolle, wenn wir die fast in jeder Rubrik notierten Fehler ansehen, doch ist der gute Ausfall des Pr.-A. ein Beweis dafür, daß auch ein mittelmäßig beanlagter und benoteter Schüler aus Vorsatz relativ gute Leistungen hervorbringen kann. Im allgemeinen wollen wir festhalten, daß H.-A. schlechter als ihre entspr. Pr.-A. ausfielen und daß wir nicht so ohne weiteres Urteile über häusliche und schulische Leistungen abgeben dürfen, auch dann nicht, wenn letztere Prüfungs- arbeiten waren.

Wenden wir uns jetzt den Haus- und Schulaufsätzen der VI. Knabenklasse zu. Diese Arbeiten machten uns aus 2 Gründen die sonst sehr langweilige Korrektur angenehm, einmal wegen der Originalität

VI. Tabelle

der materiellen Fehler

in der VI. Knabenklasse.

VI. Tabelle

der formellen Fehler

in der VI. Knabenklasse.

Haus-

Schul-

Fehlerarten '■

aufsatz

aufsatz

F. W.

11,46

12,88

U. W.

2,00

11,80

Wv.

2,00

4,82

Fr.W.

1,48

3,80

F. B.

29,90

31,55

U. ß.

19,34

14,93

Bv.

4,22

1,10

Fr. B.

14,61

35,18

Zf.

1,40

Kf.

16,49

23,46

F. Ber.

0,43

Sf.

1,81

A.

1,60

1,43

W.

30.32

38,95

133,42

183,54

Fehlerarten

Haus- aufsatz

Schul- aufsatz

s.

8,87

8,89

Vt.

3,33

2,30

u.

1,23

0,62

G. u. K.

6,88

10,54

Anh.

3,04

2,36

Zt.

3,96

10.85

Az.

0.85

1.78

t 28,16 i 37,34

VI. Tabelle der gesamten Fehlerwerte in der VI. Knabenklasse.

Hausaufsatz

Schulaufsatz

161,58

220,88

39

des Themas: „Warum ich lachen mußte'' und zum andern deswegen, weil kein Aufsatz vorbereitet war. Zugleich ist zu vermerken, daß zwischen Pr.-A. und H.-A. die 17\/2tägigen Osterferien dazwischen lagen. Ersterer wurde am 5. März , letzterer am 25. April geschrieben. Im ganzen waren es 36 Schüler. Sie mußten lachen über lustige Akte im Theater, über ein Zwiegespräch zwischen einem Münchner und Berliner, über Max und Moritz, Maskenzüge, über Mehlklöße, über Marktgespräche, komische Dinge bei einer Hochzeitsfeier, eine Episode des Kriegsministers Asch mit einem Wachposten , über eine Geschichte von 10 kleinen Negerlein, auch das Lied: „0, Susanna^ und „trinken mr no a Tröpfle aus dem klene Henkeltöpfche" gaben Stoff zum Lachen. Die Frische der kindlichen Sprache, die Drolligkeit, aber auch die Aufrichtigkeit der Aus- führungen verursachten in meinem eigenen häuslichen Kreise beimYorlesen große Heiterkeit. Eine Probe: Als ich vor ein paar Wochen auf die Straße ging, begegnete mir ein Schulkamerad und erzählte mir folgende Geschichte. Einst saßen ein Bayer und ein Berliner in einer Wirtschaft. Da plötzlich richtete sich der Berliner auf und sprach: Bei uns in Berlin haben sie einem Bayern das Herz herausgenommen, entfettet, gereinigt, wieder eingesetzt und jetzt kann er wieder saufen!" Den andern, der selber ein Bayer war, verdroß diese Rede nicht wenig. Dann fing er auch an zu reden und sprach: „Dös is gar nichs, bei uns in Münke haben sie einen Berliner die Ohren 5 Zentimeter weiter nach hinten gesetzt, damit er das Maul weiter aufreißen kann.'' Darüber mußte er lachen. Wie diese Art von Aufsätzen die kindliche Courage hinsichtlich der Darstellung urwüchsiger Ausdrücke hervorlockt, sagt diese Erzählung : Der Kriegsminister von Asch war auch bei dem Kriege 1870/71 . dabei. Als er am 22. Januar 1871 nachts einen Brief an den Grafen Moltke abgeben mußte, rief ein bayrischer Vorposten: „Haiti wer da?" denn der Vorposten meinte, es wäre ein Franzose. Aber dem Kriegsminister sein Pferd war im größten Galopp uud konnte nicht gleich stehen bleiben, er ritt weiter. Nun aber schrie der Vor- posten noch einmal „Halt, wer da?" Jetzt wollte der Vorposten schon schießen, aber der Kriegsminister schrie: „Halts Maull Saudununer Kerl!" Als dieses der Vorposten hörte, schoß er nicht. Als der Kriegsminister von Asch am andern Tag wieder zurückkam , kam er auch zu dem Vorposten und fragte ihn, warum er denn nachts so ein Geschrei mache und warum er nicht geschossen habe. Der Vorposten sagte: „Herr Kriegsminister, weil sie gesagt haben: „Halts Maul, sau- dummer Kerl!" An ihrer Stimme erkannte ich, daß Sie ein Bayer sind. Ahnlich waren die eigenen Beobachtungen der Schüler auf dem Stadtmarkte in Würzburg, wo eine Butterverkäuferin darüber

- 40

ärgerlich wurde, weil eine Kundin zu viel versuchte und nichts kaufte und andere originelle Gassenerlebnisse. Aus der Fehlertabelle geht im allgemeinen hervor , daß der Einfluß der Osterferien auf die Qualität der H.-A. einen die Pr.-A. überschlagenden Fehlerwert nicht erfahren hat, denn materiell und. formell fielen jene besser aus als diese. Die sehr hohen Werte in den Wiederholungen in H. und Seh. sind aus dem Bestreben des Lehrers zu erklären, die Schüler zu einer logischen Auf- einanderfolge der Gredanken zu zwingen. Um keine falschen Beziehungs- wörter zu gebrauchen und diese Fehlergruppe ist so gut wie nicht hier verzeichnet sind die Schüler gewöhnt, ein und dasselbe Wort in 2 auch in 3 Sätzen zu wiederholen. So kommt es, daß erst das eine und dann das andere Wort dieselbe Häufung durchmacht , welche den ganzen Aufsatz durchziehen und gerade nicht wohlgefällig wirken ^). Alsdann kommen die Verstöße gegen fremde Buchstaben, was mit der oft schwierigen Schreibweise jener Wörter zusammenhängt, die zwar in den täglichen Erlebnissen der Schüler eine Rolle, aber nicht in der Schule eine solche spielen. Ich meine, das ist ein Fingerzeig dafür, daß wohl in der Schule oft Dinge behandelt werden , die viel zu wenig mit dem praktischen Leben in Verbindung stehen, und darum hilft sich der Schüler einfach mit akustischen Wortbildern, ungekümmert um das, was die Orthographie dazu sagt. Sobald aber durch die Korrektur er das richtige Wortbild sieht, dann fallen die Fehlerwerte rapid von 35,18 auf 14,61. Das wäre eine dankbare Aufgabe für sich und namentlich für den Psychologen wertvoll, inweit die Schüler die viel eindringlicheren roten Korrekturzeichen merken und wie dadurch der qualitative bessere Ausfall in die Erscheinung tritt. Was korrigieren die Lehrer alljährlich in ihren Heften, was ist der tatsächliche Eifekt davon? Hier in unserm Falle ist er bedeutend und durchgehends zeigt er seine Wirkungen neben andern Faktoren. Die Kasusfehler fallen auch hier wiederum sehr ins Gewicht; die überflüssigen Komplexe charakterisieren sich als typische Schulfehler im Gegensatz zu jenen in den Hausaufsätzen. Sehr lehr- reich ist diese Tabelle hinsichtlich der Stilfehler : Ausdruck und Sach- fehler. Innerhalb all der sprachlichen Inkorrektheiten leuchten ihre niedern Fehlerwerte intensiv hervor. Klare Vorstellung über objektive Dinge zeigen diese H.-A. durchweg und die Pr.-A. nahezu. Damit ist sehr viel gewonnen, wenn der rechte Name die Sache richtig deckt, denn in dieser Übereinstimmung oder jener der Vorstellungen unter sich liegt das Wesen der Wahrheit, welcher die Schule in erster Linie zu dienen

1) Vgl. Schmidt, Experimentelle Untersuchungen über die Hausaufgaben des Schul- kindes. 1904 Leipzig. Engclmann S. 98.

41

hat. Die Fähigkeit der Schüler diese Wahrheit auszudrücken ist das Ziel des Aufsatznnterrichtes nnd diesem Ziele wahrlich kommen die freien, kindertümlichen und unvorbereiteten Haus- und Schulaufsätze in den Ziffern 1,60 bezw. 1,43 sehr nahe. Und wenn Wahrheit Leben ist, dann lasse man aufleben den kindlichen Geist in diesen Aufsätzen mit ihrem Kinderzauber und glücklichem Stil. Rein formell fielen die H.-A. besser als die Pr.-A. aus. Zur genaueren Analyse dieser Tabelle ist folgendes zu sagen: (VII. Spezialtabelle siehe S. 42).

Von 36 Arbeiten zu Hause sind 6 schlechter ausgefallen als ihre entsprechenden Pr.-A. Wir besprechen davon wiederum die H.-A. der Schüler Nr. 6, 3 und 2. Die Werte verhalten sich jeweils wie 12,40 : 9,29; 12,21 : 10,67 und 7.91 : 6,68 sie sind demnach ziemlich konstant in ihren Differenzen.

Schüler No. 6 hat folgende Vermerke: Im 2. Schuljahre: Ist von schwächlicher Körperkonstitution. Er kränkelt häufig. Dies hemmt den Fortgang im ünterrichtserfolge. Muß die 4. Klasse repetieren. Im Rechtschreiben gehts gar nicht. Er verwechselt heute, was er gestern recht zu machen wußte. Hat für die falsch geschriebenen Wörter kein Unterscheidungsvermögen. Im Fleiß ist er mit 11, im Aufsatz mit III benotet. Sein H.-A. wurde von 3 ^1-24:^ im Wohnzimmer allein am Tisch gefertigt. Mit 45 Worten schrieb er , wie ein Neger in der Schule sang. Sein korrespondierender Pr.-A. enthielt 132 Wörter; fügte noch eine Erzählung bei, die davon handelte, wie sein Bruder in Himmelspforten bei Würzburg über den Main einen Stein warf und da- bei einen tollen Sprung machte, worüber er auch lachen mußte. Die Erzählung von dem Neger wurde hier mit 13 Worten erweitert.

Schüler No. 3 hat im 3. Lebensjahre den Vermerk: „Sehr teil- nahmslos im Unterricht." Anfangs wurde er in der Anlage mit II III, später mit III IV zensiert: sein Fleiß ist mittelmäßig, seine Aufsatz- leistungen gut. Arbeitete zuhause [in Gegenwart seiner Mutter und seines Bruders, welche ihn störten; einmal wurde er unterbrochen; Ar- beitszeit von 4 ^/45^. Sein 88 Wörter umfassender H. - A. beschrieb einen Maskenzug, der durch Würzburg zog. Über einen tanzenden Bären mußte er lachen , weil er wie eine Ente wackelte. Der Probe- aufsatz hatte eine Erweiterung von 53 Wörtern.

Schüler No. 2 ist „mäßig begabt, aber sehr willig xmd fleißig. Im einem 46 Worte umfassenden H.-A. erzählte er, wie ein Fräulein aus der Straßenbahn herausfiel, worüber die Leute und er auch lachen mußten. Diese Arbeit ist ohne Störung, im Beisein seiner Schwester von 3 4'' gefertigt worden. In seinem 74 Worte umfassenden Pr.-A. erzählte er, wie freche Knaben den Zylinderhut eines Studenten mit

42

l-H

(—1

hH

1— 1

t— 1

^H

CD

Formelle :

S. Vt.

ü.

G. u. K. Anh. Zt. Az.

i

1

a

hl

<-•-

<t>

^

o

O 1-^ 1-* INS h-' to

-)

to

CT O O O O O

1—'

o*

OT

o o o o o o

<!

O H^

Ins tO tO

O

too

1—^ 1— k 1— >■

Ml

1—

OD CD

00 00 00

(-^

1^&

OOO

tO i— tO lO

^s

rf^ tc tc

CO 1-^ tN2 bS

03

h-

tO 1— ^ 00

CO 05 CO 05 OS

tc

o

to

00

o

CO

rf^

05

h4^

to

05

o oo

CO 1— ' >— 1

cr>

CK OC CO

oo "tf^ >4i-

Üt

"*J ^ ^

CO h-^ .—

H^

<^

o ^^^ o

CO ^4i^

tf»'

^ rf^ Ol

CO ^

05

o

OT hj:^ CK

CO rf^

Oi

OOOOO

t— 1-

o

o

t— l'

O'

^ 00 CO O CO

^

oo

00

^

H-

05

O Ol H-' tO ^-

CO

03

05

to

Ofc

o

t-l

to

CO

(^

o

00

05

CT.

KS

00

00

CO

rf^

rf^

h-

o

oo oo

05

'— '

l-l

«^

o ^ <z>^

05

hi^

h)i^

OS

<l

CD*- Mi^OO

o:

00

00

H-

o

1—'

a:

o

05

*^

ÜT

Ol

o

CT

o oo

o

l-L

o

h- ^

CD

05 1-^ rf^

00

Ol

oo

05

Ü<

05

o oo

1— »•

CO

»-*

CO

O

oo oo

o

CO

CO

iND

"Vi 1— ' CO

^

^

o

05

rf^ ÜT CO K]

Ol

CK

o

43

kleinen Steinen und Hölzchen am Faschingstage bewarfen nnd mit dem Rand des Hntes davonliefen.

Wir kommen jetzt zu den Aufsätzen der VI. Mädchenklasse.

Vin. Tabelle

der materiellen Fehler

in der VI. Alädchenklasse.

VIII. TabeUe

der formellen Fehler

in der VI. Mädcbenklasse.

Fehlerarten

Haus- aufsatz

Schul- aufsatz

F. W.

15.16

13,99

Ü. W.

2,72

6.86

Wv.

4,72

Fr. W.

2,58

5,56

F. B.

23,72

36.11

o. B.

7,98

5,73

Bv.

1,88

2,65

Fr. B.

12,19

13,10

Zf.

1,25

4,23

Kf.

8,68

26,83

F. Bez.

1,33

1,24

Sf.

3,15

4,22

A.

3,59

7,35

W.

5,99

814

Fehlerarten

Haus- aufsatz

Schul- anfsatz

90.22 140,73

s.

18,73

17,66

Vt.

0,93

0,43

u.

0,06

G. u.

K.

3,80

2,48

Anh.

0,41

0,53

Zt.

4,36 1

5,06

Az.

6.16 ;

1,67

34.45

27,83

VUI.

Tabelle

dei

gesamten Fehler

in der VI.

Mädchenkla

sse.

Hausaufsatz

!

Schulaufsatz

124,67

168,56

Auch diese Arbeit gehört zu den freien Aufsätzen. An einem Mittwoch war ein Schneesturm, so daß die Kinder ganz zuhause blieben. Diese Gelegenheit benützte die Lehrerin und gab ohne jegliche Vor- bereitung denH.-A. : „Ein Stündchen am Fenster meines Wohnzimmers." Materiell sind 'die Hausaufsätze und formell die Schulaufsätze besser ausgefallen. Erstere wurden am 26. März , letztere am 17. März ge- fertigt. Hier zeigt sich bei den Kasusfehlern der Einfluß der roten Tinte recht deutlich, während die fehlenden Komplexe und Elemente, die überflüssigen Zutaten in Haus- und Schularbeit mehr einen ver- schwommenen Charakter annehmen. Die Ausdracksfähigkeit dieser Klasse sticht durch die verhältnismäßig niedern Stilziff'ern günstig von den übrigen sprachlichen Inkorrektheiten ab. Von den 39 Hausauf- sätzen sind 11 qualitativ besser ausgefallen als die zuerst gefertigten und entsprechenden Schulaufsätze. Wir stellen diesmal nur die 3 gra- vierendsten Fälle dar: im ersten FaUe ist das Fehlerverhältnis von

44

H : Seh = 4,82 : 0,02 ; im zweiten wie 4 : 0,83 und im dritten wie 7,27 : 3.52.

IX. Spezialtabelle über drei bevorzugte Hausaufsätze in der VI. Mädchenklasse. A. Hausaufsätze. B. Prüfungsaufsätze.

Fehlerarten

I. Materielle :

F. W.

1,20

2,00

3,84

U.W.

Wv.

Fr. W.

F. B.

0,60

0,50

0,86

U. B.

0,43

Bv.

Fr. B.

1,00

0,43

Zf.

0,50

Kf.

0,43

F. Ber.

Sf.

0,43

A.

W.

0,60

IL Formelle :

S.

1,80

0,33

vt.

0,02

0,04

u.

G. u. K.

Anh.

0,05

Zt.

0,43

Az.

0,60

III. Gesamtwerte 4,82 4,00 j 7,27

0,52

0,52

1,04

0,66

0.52

0,02

0,22

0,39 0,01

0,52

0,02 I 0,88 i 3,52

Schülerin No. 1 ist in Fleiß und Aufsatz mit I gezeichnet. Zum Hausaufsatz schrieb sie folgendes hinzu : „Diesen Aufsatz fertigte ich zwischen o 7 Uhr. Durch das Spielen meiner Geschwister wurde ich hie und da etwas gestört. Ich schrieb am Tische im Wohnzimmer. Meine elterliche Wohnung besteht aus 3 Zimmern und einer Küche." Der Probeaufsatz wurde mit Note I zensiert. Diese beiden Aufsätze haben je 1 66 Wörter und eminenten gegenseitigen Gleichlaut ; nur einige wenige Ausdrücke sind verändert worden. Nach den auch mündlich ge- pflogenen Untersuchungen haben wir hier einen Fall, wie Hausaufgaben durch psychische Störungen qualitativ leiden und ersehen aus dem Gleichlaut die hohe Bedeutung des kindlichen Gedächtnisses.

45

Schülerin No. 2 ist gut beanlagt, in Fleiß vorzüglich und im Auf- satz mit I II zensiert. Zum H. -A. wurde notiert: Diesen Aufsatz fertigte ich zwischen 4 6 Uhr. Bei der Anfertigung dieses Aufsätzchens wnrde ich nicht das Geringste gestört. Ich schrieb am Fenster unserer Küche. Unsere Wohnung besteht aus drei Zimmern und einer Küche." Offenbar ist hier von der Schülerin das Nichtvorhandensein rein äußer- licher Störungen gemeint , die keineswegs eine Besserung oder Ver- schlechterung der Qualität im Gefolge haben müssen. Trotz der langen häuslichen Arbeitszeit fiel der H.-A. umfänglich geringer aus als der Pr.-A. (195:221). Auffallend ist wiederum der riesige Gleichlaut beider Arbeiten ; nur wurde zuhause der eine oder andere Gedanke nicht dar- gestellt. Beim H.-A. wurden ganz besonders die im Pr.-A. korrigierten Verbalzeiten richtig wiedergegeben.

Schülerin No. 3 ist mittelmäßig beanlagt, in Fleiß und Aufsatz mit II gezeichnet. Zum H. - A. schrieb sie : Diesen Aufsatz fertigte ich zwischen 8 und 9 Uhr. Durch dem Pfiff der Lokomotive wurde ich gestört. Ich schrieb am Küchentisch. Meine elterliche Wohnung besteht aus 2 Zimmern und einer Küche." Der H.-A. ist bedeutend umfang- reicher als die Sch.-A. Zugaben waren Betrachtungen über das Sonnen- licht, über das Herabfallen dichter Schneeflocken, ein Straßenbild von bahnbrechenden Schnee schauflem und von mit Schirmen überspannten Pas- santen. Man ersieht hieraus, daß die ausmalende Schilderung durch die unmittelbare Anschauung lebhafter ist als jene nur durch Erinnerungs- vorstellungen hervorgerufene. Diese Tatsache ist gewiß ein Grund da- für, daß unter Umständen der H.-A. mehr Bedeutung haben kann als der Sch.-A.

Wir gehen jetzt zu den H.-A. der VII. Mädchenklasse über. Am 17. März hatten die Kinder den Probeaufsatz : ;,Des Menschen Leben gleicht einem Flusse:" am 18. März war derselbe H.-A. zu fertigen. Im allgemeinen ersehen wir aus der Fehlertabelle eine relativ gleich gute Qualität beider Arbeiten in Haus und Schule. Angefangen von der Quelle des Flusses bis zum Meer der Ewigkeit werden Vergleiche gezogen zwischen Fluß und Menschen. Durch die Natur des Stoffes ist eine Gliederung durchweg zu erkennen. In der Konstruktion der Sätze jeder einzelnen Schülerin in Haus und Schule herrscht eine gewisse Freiheit der Sprache , losgelöst vom Gebundensein an die Form. Der Vergleich stützt sich auf folgende Punkte : Quelle hilfloses Geschöpf: Zuflüsse körperliche und geistige Nahrung; Arbeiten da wie dort: Hindernisse auf beiden Seiten; Mündung Tod. Bei Vergleichung der Haus- und Schulaufsätze hält die Qualität beider Arbeitsarten qualitativ so ziemlich die Wagschale: Von 23 Aufsätzen sind 12 H.-A. besser und

46

X. Tabelle

der materiellen Fehler

in der VII. Mädchenklasse.

X. Tabelle

der formellen Febler

in der VII. Mädchenklasse.

Fehlerarten

Haus- aufsatz

Schul- aufsatz

F.W.

4.24

12,95

U.W.

6,32

5,48

Wv.

4,16

0,74

Fr. W.

4,38

3,42

F. B.

4,44

7,73

U. B.

0,75

4,48

Bv.

Fr. B.

2,31

3,90

Zf.

Kf.

7,35

1,80

F. Ber.

2,08

1,21

Sf.

4,43

7,77

A.

4,56

2,57

W.

22.42

22,36

Fehlerarten

Haus- aufsatz

Schul- aufsatz

s.

5,93

4,54

vt.

0,63

0,34

u.

G. u. K

1,56

2,69

Anh.

0,06

0,14

Zt.

0,98

1,86

Az.

0,83

0,38

9,99

9,95

X. Tabelle

der gesamten Fehlerwerte

in der VII. Mädchenklasse.

67,44 74,41

Hausaufsatz

Schulaufsatz

77,43

84,36

11 H.-A. schlechter als die entsprechenden Pr.-A. Bei den 12 besseren H.-H. wurden 7 Schülerinnen überhaupt nicht gestört und die übrigen 5 gaben rein äußerliche Störungen an, wie Haustüre aufmachen, Abend- essen einnehmen innerhalb der Arbeitszeit u. s, f. Von den 11 minder- wertigen H.-A. sind 5 Mädchen durch längere Unterredungen mit Eltern und Geschwistern gestört worden, drei Mädchen wurden nicht gestört und die übrigen drei gaben keine Auskunft hierüber. Eine spezielle Analyse des Einflusses der Störungen auf die mindere Qualität der H.-A. setzt eine genaue Protokollaufnahme des psychischen Zustandes des Schul- kindes, sowie über das soziale Milieu voraus und wäre ein Problem für sich. Von den 12 besser ausgefallenen H.-A. besprechen wir die 3 deut- lichsten Fälle.

Schülerin No. 1 ist gut beanlagt, im Fleiß durch alle Jahrgänge hindurch 1, im Aufsatz bald 2, bald 1 2. Zum H.-A. schrieb sie: Ich schrieb diesen Aufsatz von 5 6''. Dabei bin ich nicht gestört worden. Der H.-A. ist umfänglich gleich dem Pr.-A., hat nahezu dieselben Wörter und zeigt nur sehr wenig Variationen, er gleicht also einer Abschreib- übung, wozu das Gedächtnis die Unterlage gab.

47

XI. Spezialtabelle über die bevorzugten Hausaufsätze in der VII. Mädchenklasse. A. Haosanfsatz. B. Prüfungsaufsatz.

Fehlerarten

1

I. Materiell :

F. W.

0,92

U.W.

Wv.

Fr. W.

F. B.

0,47

U. B.

Bv.

Fr. B.

Zf.

Kf.

F. Ber.

0,60

Sf.

A.

W.

0.94

1,19

IL Formell:

S.

0,24

vt.

0,03

0,07

u.

G. u. K.

Anh.

Zt.

Az.

0.46

1

2

3

0,92

1,80

0,76 0,76

0,46 0,92

0,45

0,45 0,45

1,52

0.23 5,u6

0,45

0,19

0,11 0,03

0,23 0,01

0,09

0,45

0,06 0,38

III. (Tesamtwerte

1.68 1.86 1,38

773 , 4,29 3,76

Schülerin Xo. 2 hat im Aufsatz 2, in Fleiß I. Auch sie wurde zu Hause nicht gestört und arbeitete von 6 7''. Sie schrieb in konkreter Sprache und großer Kürze ihren H.-A.. der nur 84 Wörter aufweist, während der Pr.-A. deren 220 besitzt. Der Pr.-A. dagegen zeigt Phrasen auf wie: „Der ^lensch endet auch und steigt ins Grab hinein. Kein Tropfen des Flusses geht im Ozean verloren, so kommt auch nur der Körper vom Menschen fort, aber keine Seele im Meer der Ewigkeit". Zu Hause das nüchtern-ruhige Denken; in der Prüfungsstunde der phrasen- hafte Stil.

Schülerin Xo. 3 ist noch gut beanlagt, hat im Aufsatz 2 3. Sie konnte ihren H.-A. mit aller häuslichen Ruhe fertigen. H.- und Pr.-A. zeigen je eine größere stilistische Selbständigkeit, was sich namentlich im Gebrauche bezw. im Wechsel guter Vergleichsbüder bemerkbar macht.

48

Als letzte Klasse führe ich meine eigene VII. Knabenklasse vor. XII. Tabelle XII. Tabelle

der materiellen Fehler der formellen Fehler

in der VII. Knabenklasse in der VII. Knabenklasse

Fehlerarten

Haus- aufsatz

Schul- aufsatz

F. W.

10,08

13,54

U. W.

1,64

3,32

Wv.

2,68

1,00

Fr. W.

6,60

2,68

F. B.

11,89

14,82

Ü. B.

10,29

11,77

Bv.

0,32

Fr. B.

12,19

11,77

Zf.

0,15

0,96

Kf.

11,46

9,67

F. Bez.

2,98

2,37

Sf.

1,48

1,66

A.

2,15

2,47

W.

13,67

17,34

Fehlerarten

s.

vt.

ü.

G. u. Anh. Zt. Az.

Haus-

Schul-

aufsatz

aufsatz

7,28

6,66

1,78

1,97

0,71

0,54

1,56

0,40

0,78

0,67

0,33

0,87

1,81

12.98 12,38

XII. Tabelle der gesamten Fehlerwerte in der VII. Knabenklasse

87,26 i 93,69

Hausaufsatz

S<hulaufsatz

100,24

106,07

Die Schüler pflegten in fast ausnahmsloser Weise den freien Aufsatz. Um nun mich davon zu überzeugen, ob ein gewisses Plus im Stil sich auch in einem realistischen Aufsatz bemerkbar mache, gab ich auf Grund einiger naturgeschichtlichen Lektionen am 25. März den H.-A.: „Was uns die Leinwand erzählt" und am nächsten Tag dasselbe Thema als Probeaufsatz. Die Fehlertabelle besagt im allgemeinen, daß hier wie in der parallelen Mädchenklasse, obwohl die Aufeinanderfolge der H.-A. und Sch.-A. eine umgekehrte ist, die beiden Qualitäten relativ gleich gut sind. Daraus dürfte der vorsichtige Schluß gezogen werden, daß die Oberklässer eine gewisse Konstanz der Leistungen aufzuweisen haben als die jüngeren Altersstufen, deren Arbeiten qualitativen Schwankungen mehr unterworfen sind. Die niedern Zifl'ern der eigentlichen Stilfehler lassen die gute Wirkung der freien Aufsätze deutlich erkennen. Es zeigte sich eine gewisse Beherrschung der Sprache trotz der Vorbereitung und der ganzen Natur des AufsatzstofFes. Dazwischen treffen wir auch alte Bekannte wie stellenweise stilistische Monotonie, engherzigere An- klebung an die Form und Mangel kindertümlichen Stiles, weshalb wir nun unsere Ergebnisse kurz so formulieren wollen:

49

Es erhebt sich vor allem die Frage mittels welcher Aufsatzarten erreicht man das Ziel des Aufsatzunterrichtes am besten?

1) Wenn wir das Ziel desselben in einer flotten Darstellung der Gedanken erblicken, so können es nicht die sog. literarischen-reaüstischen AnfsatzstoflPe, sondern die originell-kindertümlichen nur sein, mittels der dieses Ziel erreicht wird.

2) Der literarisch-realistische Aufsatztypus bringt Einförmigkeit in den Stil, klebt sehr an der Form, unterdrückt die freie, sprudelnde Kindersprache in ihrem eigentümlichen Zauber und verhindert so eine Entfaltung eines schönen Stückes kindertümlichen Seelenlebens.

3) Die freien, originellen, kindertümlichen Aufsätze dienen dem wirklichen Leben mehr als die andern und erhöhen die Ausdrucks- fähigkeit des Schulkindes.

4) Unvorbereitete Haus- und Schulaufsätze steuern dem Aufsatzziele sicherer zu als wohl vorbereitete, gut disponierte Realienstoffe, die als „Aufsatz" keinen hohen stilistischen Wert aufwiesen.

5) Hausaufsätze zeigten in dem Fehlen von Komplexen und Ele- menten, Schulaufsätze in den überflüssigen Zutaten typische Fehler.

6) Der Prüfangsgedanke kann sowohl zu vorsätzlich gutem Arbeiten, als auch zu minderwertigen Leistungen führen, was jeweils an den ent- sprechenden H,-A. gemessen werden konnte ^).

Aus unsern Untersuchungen ergab sich auch die Frage des Ein- flusses der roten Tinte auf die Qualität der Aufsätze; wie sich die Ausdrucksfähigkeit auf verschiedenen Altersstufen vervollkommnen kann, wohin der Schwerpunkt der produktiven Tätigkeit jugendlicher Stilisten zu verlegen ist, in das Haus oder in die Schule. Die hohe Bedeutung solch aufgestellter Fehlertabellen besagen dem Lehrer, wo die typischen Verstöße jedes einzelnen Schülers in materieller und formeller Hinsicht liegt und so bietet sie die beste Handhabe für einen individuellen Unter- richt und jedenfalls bietet ein solch exp. Verfahren bessere und um- fassendere Einblicke in die stilistischen häuslichen und schulischen Leistungen als das nur konstruierende, bei dem der eine Methodiker in derselben Sache recht zu haben glaubt und sein Gregner auch. (In einer Resolution wurden die gewonnenen Sätze mit allgemeinem Beifall an- genommen und folgender Beschluß gefaßt: Die 2. Sitzung der „Fr. V. f. philos. Päd." nimmt mit Interesse Kenntnis von den Ausführungen des

1) Der Einfloß des Prüfongsgedanken auf die Qualität wurde in einer folgenden Untersuchung bestimmt und darüber das Referat: Haus- und Prüfnngsaufsatz auf dem Berliner Kongreß für Kinderforschung und Jugendfürsorge am 2. Oktober 1906 erstattet (Als Sonderabdruck zum Preise von Mk. 1.20 erschienen bei: Nemnich-Leipzig 1907.) Menmanii, Exper. Pädaeogik. V. Band. 4

50

Referenten Dr. Schmidt und überweist die von ihm aufgestellten Leit- sätze, da sie sehr wertvolle Winke enthalten, den Lehrer versammlangen als Material für wissenschaftliche Diskussionen und den einzelnen Lehrern zur Verwertung in der Praxis.)

Harmloses kindliches Gedankenspiel oder phantastische Lüge, abnorme Selbsttäuschung oder pathologische Einbildung?

Ein pädagogisch-psychologischer Bericht von L. F. Göbelbecker in Konstanz.

Einer meiner Religionsschüler der ersten Klasse (Hm., geboren am 20. November 1897, jetzt 7 Jahre alt und geht seit letzte Ostern zur Schule) war dieses Spätjahr (1904) einige Zeit an Masern erkrankt. Bei seinem Wiedereintritt in die Schule am 10. Oktober fragte ich ihn: „Was hat dir gefehlt, mein Lieber?" „Nichts, ich war in Amerika", entgegnete der wohlerzogene, sonst wortkarge Junge schlagfertig mit lächelnder Miene und erzählte mir im Beisein seines Klassenlehrers, den ich sofort rufen ließ, vor den andern Schülern in auffälligem Zusammen- hange fließend seine Erlebnisse auf der Reise. Ich hielt seine Phan- tasmen lediglich für eine nervöse Nachwirkung vorausgegangener Fieber- er scheinungen und hatte erst vor, den Herrn Papa, einen höheren Be- amten, davon in Kenntnis zu setzen. Doch stand ich aus verschiedenen Bedenken hiervon ab, nahm aber nach ca. 6 Wochen, am 24. November, zu einer nochmaligen Untersuchung Veranlassung, wobei ich wiederum, sowohl durch die Form der Frage, als durch die Betonung ihrer Glieder, durch Wort und Miene, jede subjektive Einwirkung peinlichst vermied und jede Beeinflussung, die den Knaben zur Phantasterei, zur Darbietung von Absonderlichem hätte reizen können, vorsichtig unterließ. Trotzdem erzählte der Kleine abermals dieselbe Geschichte fast wortgetreu, und ich veröffentliche das direkt niedergeschriebene Zwiegespräch nachstehend buchstäblich :

Warum hast Du dein Brüderlein (dasselbe ist 5^/2 Jahre alt und kommt bisweilen mit ihm zur Schule) heute nicht mitgenommen?

Kn. Es ist nicht ganz wohl; dann hat die Mama gesagt, es soll daheim bleiben.

Was fehlt ihm denn?

Kn. Es hat einen dicken Backen.

BI- SO, so? (Halb verwundert, halb mitleidsvoll!) Sag ihm einen schönen Gruß, und das wird schon wieder besser werden. (Beruhigend, vertrauenerweckend, doch nicht sentimental!) Du bist ja jetzt auch wieder ganz gesund und warst viel ärger krank. (Aufmunternd in mehr heiterer Stimmung!). Was (besinnend im Wiederholungstoni) hat Dir damals alles gefehlt^)?

Kn. Nichts ! Ich war in Amerika -). Dort hab' ich gesehen, daß unser Herr Lehrer auf den Bänken her umgesprungen ist, und hab' aof einem Baume Kastanien geholt. Dann bin ich zu einem Dachfenster hineingegangen und dann nach Afrika geflogen zu den Menschenfressern und hab' sie geschossen. In der Schule beim Herr Lehrer Sehn, bin ich auf die Tafel gesessen.

Den Lehrer Sehn, (bei dem der Kleine nie Unterricht hatte, und den er höchstens vom Sehen oder nur dem Namen nach kannte) kennst Du ja wohl gar nicht.

Kn. Bei dem Herrn Lehrer Sehn, in meinem Himmel, in meinem Himmel, der schöner ist, als der da droben. Ich hab' einen extraen Himmel und einen lieben Gott und ein Christkindchen und Engel.

Waram (NB. Nicht im Wiederholungston! Halb gleichgültig, in langsamem Tempo und gewöhnlicher Gesprächsstimme bei gleichmäßiger Betonung!) bist Du nach Amerika?

Kn. Ich hab' nach den Dampfschiffen schauen müssen^.

Du hast nach den Dampfschiffen schauen wollen?

Kn. NeiD! (Mit auffälliger Entschiedenheit!) Ich hab' nach den

1) Von der Aufforderung: „Erzähle nochmals, was Du mir damals (beim Wieder- eintritt am 10. Oktober) alles gesagt hast!" habe ich grundsätzlich Umgang genommen, da nichts weniger in meiner Absicht lag, als den Knaben an jenes Phantasiespiel zu er- innern und sein Gedächtnis zu prüfen. Vielmehr wollte ich untersuchen, welche freie Antwort er mir jetzt gibt. Ganz unwissend, bezw. vergeßlich und teilnahmslos hätte ich mich dabei wohl kaum stellen dürfen, da ich ihn dadurch sicher etwas stutzig gemacht hätte; lieber hätte ich ihm noch die Meinung, bezw. Überzeugung suggeriert, als wäre ich von der Krankheit schon einmal ganz genau unterrichtet gewesen und könnte mich im Augenblick nur der Einzelheiten nicht mehr erinnern. Darum stellte ich obige Frage, allen Ernstes mich besinnend, in gemütvollem Wiederholungston.

2) Der Knabe verriet während der ganzen Erzählung durchaus natürlichen Ernst. Von wem und was er schon alles von Amerika und Afrika hörte, ist mir nicht bekannt. Mitte November d. J. war ein Onkel aus Amerika vorübergehend bei den Eltern auf Besuch. Vielleicht hat man ihm von diesem schon oft erzählt und dadurch das Ziel seiner Träume übers Meer gelenkt. Doch sprach er weder am 10. Oktober, noch am 24. November, noch sonst in meiner Gegenwart von diesem Onkel.

3) Dieses „müssen" fiel mir auf; darum stellte ich die nachfolgende Qualitäts- frage und zwar, um ihr mehr den Sinn der rein rhetorischen Frage beizulegen, im ent-' sprechenden Wiederholungston und ohne das Wort „wollen" zu betonen.

^*

52

Dampfschiffen schauen müssen. Ich bin hingegangen, wo ich hab' hin müssen, wo der liebe Grott^) gesagt hat.

"Wann? (Schwebender Ton!)

Kn. Früher, wenns g'schneit hat^). Auf einem Baume hab' ich Schneeballen') auf die Kinder geworfen. Dann bin ich in ein Kamin g'schlupft und bin ganz nunter bis ins Zimmer. Ich bin in die Küche und hab' mir was g'holt, en Apfel und e Birn, und bin wieder naus zum Kamin nach Amerika. Ich bin auf einem Pferd geritten und hab's so arg gepeitscht, bis es auf den Baum hinauf ist. Ich hab' Flügel g'habt, einen ganzen Eisenbahnwagen voll. Zwei hab ich ans Pferd gepappt, weil ich meine Flügel daheim g'habt hab'. Dann hat der liebe Gott gesagt, 's Pferd soll mit mir nach Amerika fliegen. Meine Flügel hab' ich nicht da*). Der liebe Gott hat gesagt, ich soll sie daheim lassen, weil er was daran machen will. Ich bin auch mit meinen Flügeln schon fortgeflogen, alle paar Tage einmal. Nächsten Sommer geh' ich vielleicht nach Afrika.

1) NB. Mein Religionsunterricht entbehrt jeden orthodoxen Kolorits, auch jeder sinnen- und geistberausehenden Weise. Ich verkehre stets väterlich schlicht mit den Kleinen ; meine religiösen Darbietungen sind durchaus natürlich, frei von läppischer Sen- timentalität und theologischer Salbaderei. Meine Schüler sind heiter und bewahren sich durchweg den kindlichen Freimut, sodaß weder eine objektive Ergriffenheit, noch ein persönlicher Nimbus apperzipierend hineingestrahlt hätten in die .augenblicklichen Be- trachtungen des Knaben. Er sprach nicht von Gott, weil er in der Religionsstunde vor mir stand, sondern weil das religiöse Moment ohnedies mit hineingewoben war in sein phantastisches Gedankengespinnst.

2) Es fiel am gleichen Tag hier Schnee, Tags zuvor der erste dieses Winters. Ob der Knabe auch bei seiner Erzählung am 10. Oktober von Schnee redete, weiß ich nicht mehr anzugeben. Es ist dies der einzige Passus der Geschichte, an den ich mich nicht mehr erinnern kann.

3) Ich glaube eher doch nicht mit voller Sicherheit , mich erinnern zu können, daß er im Herbste konsequent bei den Kastanien blieb, so daß seine Kombinationen so ziemlich zeitgemäß, d.h. im variierenden Detail, wozu ich indessen das religiöse Moment nach dem direkt gewonnenen Eindruck durchaus nicht rechnen kann, von den momentanen Einwirkungen seiner Umgebung bedingt waren und zwar bei aller Konstanz der leitenden Hauptidee.

4) t)iese Bemerkung, die ich für eine Art Erklärungsversuch hielt, erregte im Mo- ment in tnir den "Verdacht, als handle es sich um eine phantastische Lüge, in dem Sinne, als hätte sich die appellierende Wirklichkeitserscheinung des Knaben seinem Traumgebilde plötzlich entgegengestellt und ihn zur Besinnung gebracht, ohne daß er geneigt oder mächtig genug gewesen wäre, das Weiterspinnen des begonnenen Fadens zu unterlassen. Vielleicht wollte er sich auch nicht entpuppen. Doch kann ich kaum an- nehmen, daß er bei vollem Bewußtsein seiner aller Wahrscheinlichkeit entbehrenden Kom- binationen, dieses objektiven Unsinns, dieser groben Lügerei, bei mir den erforder- lichen Glauben vorausgesetzt hätte.

53

Wie lange bleibst du fort? (Nicht im Wiederholangston !)

Kn. Das weiß nur mein lieber Gott^).

Ist das alles so ? Hast Du das Geschichtchen nicht erfunden ? Hast Du so geträumt ? ^)

Kn. Nein! (Ohne jegliche Spur von Verlegenheit, ohne jedes Lügensymptom!)

Hat Dir schon jemand der Papa, die Mama, ein Kindermädchen, der Großvater, der Onkel, die Tante, ein anderer Knabe oder sonst je- mand — von solchen Sachen erzählt?

Kn. Nein, ich weiß es, weüs der liebe Gott mir gesagt hat. (Be- stimmt, in kindlich -glaubensinnigem Tone und „ehrfurchts- voller" Miene.)

Hast Du den lieben Gott schon gesehen ?

Kn. Ja, den lieben Gott im andern Himmel und in meinem Himmel. (In wieder etwas heiterer Stinmiung.)

Wo hast Du ihn gesehen?

Kn. In meinem Himmel.

Wo ist Dein Himmel?

Kn. Auf der Erde.

Wo auf der Erde?

Kn. Ganz unten in meinem Zugwagen. Alle Züge (in faselnder Miene) auf der ganzen Welt gehören mir ; dem H. (damit meint er sein 5^/2 jähriges ßrüderlein) gehören auch einige. Der Zug fahrt so schnell, daß Du gar nicht sehen kannst, wo der liebe Gott und das Christ- kindchen drin ist^).

Wie sieht denn der liebe Gott aus?

Kn. Mein lieber Gott sieht ganz weiß aus, so weiß wie der Schnee. (Durchaus nicht im Tone leerer Schwatzhaftigkeit ! Miene weder für die eine, noch für die andere Deutung charakteristisch 1)

Weiter !

Kn. Auch blau und rot und gelb; er glänzt. Er hat alles ge- macht, was auf der Erde ist*). Und mein lieber Gott hat jetzt gemacht,

1) Am 10. Oktober sagte er an dieser Stelle: „Ich bleibe 300 Jahre fort; dann komme ich wieder, wenn alle Menschen gestorben sind. Den Zahlbegriif 300 besitzt der Kleine selbstredend noch nicht. 300 Jahre bedeuten für ihn eben schlechtweg eine lange, lange Zeit.

2) Der Roman war zu Ende, und jetzt erst konnte ich mir erlauben, durch einige Fragen der Sache tiefer auf den Grund zu gehen.

3) Ohne den Ernst des kleinen Erzählers beobachtet zu haben, würde man aus dem bloBen "Worte hier schlechtweg wieder einen lügenhaften Erklärungsversuch vermuten.

4) Dieses reproduktive urteil entstammt u. a. dem Religionsunterricht in der Schule.

54

daß es schneit ^). (Ohne in Ton oder Miene krankhaftes Selbstgefühl zu verraten !)

Erzähle weiter!

Kn. Ich weiß nichts mehr.

Hast Du das auch schon dem Herrn Papa gesagt?

Kn. Nein!

Warum nicht?

Kn. Weil der liebe Grott mirs noch nicht erlaubt hat. (Im hei- ligsten Ernst!)

Erzählst Du es ihm, wenn Du nach Hause kommst?

K n. Ich weiß es noch nicht ; wenns der liebe Gott haben will. (In wiederum sehr ernstem Tone!)

Soll ich das alles, was Du mir erzählt hast, Herrn Papa mitteilen, soll ich's ihm schreiben? (NB. Ohne den Verdacht der Lüge durch- blicken zu lassen,)

Kn. Ja! (Ohne Zögern und ohne jegliches Bedenken.)

Was wird er wohl dazu sagen?

Kn. Ich weiß es nicht.

Geh' zu Herrn Seh. (sein Klassenlehrer) und sage ihm, er möge so gut sein und Dir auf einen Zettel schreiben, wann Du damals wieder zur Schule kamst!

Kn. (Zu seinem Klassenlehrer) Einen schönen Gruß von Herrn G., und Du sollst mir auf einen Zettel schreiben, wann ich wieder aus Amerika zurückgekommen bin.

Am nächsten Tage traf ich den Knaben bei andern Schülern im Gange des Schulhauses und fragte ihn beim Vorübergehen kurz : Hast Du's dem Herrn Papa erzählt? worauf er allen Ernstes antwortete: Nein, wenns der liebe Gott haben will. Dieselbe Geschichte erzählte der Schüler am 1. Dezember ohne mein Beisein mit größter Sicherheit auch Herrn Rektor K., der den Knaben an genanntem Tage zum Zwecke der von mir geforderten Nachprüfung meiner Untersuchungsergebnisse zu sich allein auf sein Amtszimmer rufen ließ, und fügte auf die an ihn gerichteten Fragen mit aller Schlagfertigkeit und Bestimmtheit hinzu, daß er von Amerika aus mit seinen eigenen Flügeln nach Hause zurückgeflogen

1) Dieses Einzelurteil entsprang jedenfalls einem augenblicklichen assoziativen Anstoß und hat zum unmittelbar vorausgegangenen allgemeinen Urteil lediglich illu- strierende Tendenz. Auch ließen in diesem Augenblick Physiognomie und Ton der Rede die Regung vorwiegend intellektueller Gefühle erkennen, so daß man wohl kaum annehmen darf, daß in seine Apperzeptionsprozesse auf Schritt und Tritt das religiöse Moment eingeschlossen ist. Dabei beachte man, daß sein Denkakt folge- richtig, seine Vorstellungsfolge vermittelt, seine Assoziation einheitlich war.

55

sei, und daß ihn ;,sein" Grott in Afrika in einen großen Wald geführt und ihm dort die Menschenfresser, welche schwarz seien, gezeigt hätte.

Hierauf übersandte ich an den Herrn Papa, mit dem ich über diese Angelegenheit inzwischen schon eine mündliche Unterredung hatte, zn meiner weiteren psychologischen Orientierung nachhstehende Fragen und erhielt von ihm die in Klammern beigesetzten Antworten:

1) Welches ist der Grundzug des Wesens ihres Knaben Hm? In Sonderheit seinen Geschwistern und andern Kindern gegenüber, die mit ihm verkehren? Ist er egoistisch oder gar herrschsüchtig? Ge- fällt er sich in altklugen Plänen? Wird dieser Hang durch irgend welche Person unterstützt? Was für ein Temperament und Gemüt hat er?

(Egoistisch ist Hm. nur insoweit, als es Kinder im allgemeinen zu sein pflegen, herrschsüchtig nicht. Selbstverständlich gibt er beim Spiel als der ältere in der Kegel den Ausschlag. Verkehr hat er nur mit seinen zwei Brüdern 5V2 und 27« Jahre alt und einem gleich- altrigen Knaben, K. Seh. ^), der ihm an Lebenserfahrung und -Verständnis, soweit dieses Wort bei so kleinen Kindern Anwendung finden kann, weit über ist. Von altklugen Plänen ^) kann bei Hm. nicht gesprochen werden.)

2. Ist die Gemütsentwickelung des Knaben im Vergleich zu seinem Alter etwas zurückgeblieben? Wird er absichtlich „kindlich" gehalten, und welchen Umgang hat er?

(Er hat ein außerordentlich kindliches Wesen und Gemüt und ist in Anschauungen und Geistesäußerungen vielleicht für sein Alter zu kindlich, etwas zurück. Eine Absicht, ihn „kindlich" zn halten, besteht bei seinen Eltern nicht ; es ist wohl eher die Eolge davon, daß er mit Kameraden selten zusammen kommt ^.

3. Welche ausgesprochene Richtung hat sein Interesse?

1) Ein sehr aufgeweckter, lebhafter, temperamentvoller Knabe; ob Hm. auch zu diesem schon über derlei Dinge, über seine Reise nach Amerika, über seine Flügel and seinen Gott und dgl., sprach, habe ich aus gewissen Gründen nicht erforscht, so interessant und wichtig es vielleicht auch gewesen wäre.

2) Ein vorlautes, altkluges Wesen hat der Kleine auch in der Schule noch nicht geoffenbart. Er ist äußerst, ja auffällig ruhig. Dabei begegnet er mir mit durchaus kind- lichem Vertrauen; auch redet er mich noch mit „Du" an eine Freiheit, die ich ihm wohl gestatte.

3) Nach meiner Beobachtung ist er für Lob und Tadel sehr empfänglich und zeigt für „recht" und „unrecht", für „gut" und „böse", für „artig" und „unartig" ein zartbe- saitetes und inniges, mehr mädchenhaftes Gemüt. Beim ersten Begegnen ist er äußerst schüchtern und zurückhaltend und hat vor EIrwachsenen großen Respekt.

56

(Besondere Interessen *) hat er nicht.)

4. Hat er besonders lebhaftes Interesse für religiöse Dinge?

(Nein ! Er betet mittags und abends. Etwaige an sein Gebet an- knüpfende Fragen sind stets durchaus kindlich. Daß er von „meinem Himmel", „meinem lieben Gott" spricht, kommt lediglich daher, daß er und sein Bruder H. immer alles gleichmäßig bekommen und er so ge- wissermaßen bei allem, was er sieht, sagt: „Das gehört mir, das H." So machen sich z. B. beide gern den Spaß, bei Spaziergängen die Passanten (oder die Eisenbahnzüge) abzuteilen : der Mann gehört mir, der dem H., alle Soldaten mit Helm mir, dem H. alle Männer mit Zylinder u. s. w., alles durchaus in kindlicher Eröhlichkeit.)

5. Zeigt er schon so viel Ernst, daß er mit religiösen Dingen nicht scherzt '?

(Von bewußtem Ernst bei religiösen Dingen kann nicht die Rede sein ^).

6. Hat man sich bemüht, über religiöse Dinge (das Wesen Gottes z. B.) a) oft und eindrucksvoll,

b) sehr anschaulich und konkret und c) auch bezüglich seiner eigenen Beziehungen zu Gott] anthropo- morphistisch mit ihm zu reden ? (Nein, nicht mehr als allgemein zu geschehen pflegt : daß der liebe Gott böse ist, wenn Kinder nicht folgen u. s, w.) ^).

7. Hört er oft und gerne Märchen? Oder sonstige phantastische Erzählungen? Speziell solche aus der Mythologie? Indianergeschichten u. dgl. ? *). Welche Geschichten bevorzugt er in Sonderheit ?

(Erzählungen hört er außerordentlich gern und hat dafür ein außer- ordentliches Gedächtnis *). Nach Wochen macht er auf Kleinigkeiten

1) Weiß nicht, ob mich der Herr Papa hier richtig verstanden und das Wort „In- teresse" als psychologischen und pädagogischen Terminus aufgefaßt hat.

2) Gerade sein ausgesprochener Ernst religiösen Dingen gegenüber, den ich wiederholt und zwar schon letzten Sommer beobachtete, ließ mich vermuten, daß es zu Hause sehr religiös zugehen müsse. Allerdings hatte ich mich hierin, doch lediglich im Schluß auf die spezielle Ursache, wie mich der Vater nachdrücklich versicherte, ge- täuscht. Es ist dieser Umstand aber nur ein Beweis dafür, daß im Gemüt des Kleinen selbst der schwächste und spärlichste Same tiefgehende Wurzeln schlug.

3) Auch sein Klassenlehrer und ich haben in dieser Hinsicht dem pädagogischen Anschauungs-, bezw. Anschaulichkeitsprinzip kein Opfer gebracht. Vergl. übrigens 2. Mos. 20,4!

4) Phantastische Darstellungen hat ihm die Schule weder in Wort, noch in Bild geboten.

5) Diese Beobachtung habe auch ich an ihm gemacht, während er vom Memorieren der vorgeschriebenen Spruch- und Liedertexte durchaus kein Freund ist. Dem bindenden einprägenden Mitsprechen zieht seine Phantasie allem Anscheine nach die Freiheit in der

B7

aufmerksam, die anders wieder erzählt werden. Es werden ihm nur die gewöhnlichsten Erzählungen und Märehen Rotkäppchen etc. ge- boten. Er bevorzugt solche, in denen Zwerge auftreten, und hört die gleichen Geschichten immer gern wieder, phantasiereich brauchen sie nicht zu sein. Mythologische Erzählungen hat er noch keine gehört).

8. Werden ihm auch Dinge aus Natur- und Menschenleben in märchen- artiger Weise erzählt?

(Nein!)

9. Erzählt er selbst oft und aus eigenem Antriebe? (Nein; er hört lieber zu).

10. Zeigt er dabei eine besonders lebhafte Phantasie, „dichtet" er selbst, und verrät er Neigung zum Absonderlichen, zu Abenteuern u. dgl. ?

(Nein! Er hat keinerlei Hang zu Phantasierollen, und Neigung zum Absonderlichen habe ich nie bemerkt).

Sphäre behaglicher Träumerei vor und das ist mit Rücksicht auf unsem religiösen MemorierstoJBF, der vom psychologischen und hygienischen Standpunkte aus (und nicht nur im Interesse des heranwachsenden Geschlechts, sondern auch in dem der Religion) vor dem Forum der "Wissenschaft als das schrecklichste Torturmittel des kindlichen Ge- hirns gebrandmarkt werden muß, sicher kein schlechtes Kriterium seiner Beanlagung. Man denke nur an Paul Gerhardt's 9 strophi^es Morgenlied, das die 6 jährigen Anfanger sich durch freies Nachsprechen bis auf den letzten Laut anzueignen haben der reiz- Tollen Mühewaltung des einübenden Lehrers gar nicht zu gedenken! Lautet doch da die 1. Strophe: Wach auf, mein Herz, und singe

dem Schöpfer aller Dinge,

dem Greber aller Güter,

dem treuen Menschenhüter!

Die 3. Strophe : Heut, als die dunkeln Schatten mich ganz umgeben hatten, hast Du, 0 Gott, gewehret, daß mich kein Leid versehret, etc. etc.

Die 9. Strophe: Herr, segne meine Tritte,

mein Herz sei deine Hütte,

dein Wort sei meine Speise,

bis ich gen Himmel reise! Welche Mühe, welche Plage erst für die armen Kleinen, wenn der betr. Lehrer aus psychologischer Unkenntnis beim Memorieren dieser 36 Kunstrerse gar noch der zer- splitternden, auseinanderreißenden Teilmethode huldigt! Herr, vergib ihnen gewissen Theologen nämlich ; denn sie wissen nicht, was sie tun I Man vergl. auch D r. E. Meumann's Untersuchungen über die Entwickelung des Gedächtnisses und die Me- thoden des Memorierens, wie er sie u. a. in klarer und einfacher Darstellung in seiner Schrift „Über die Ökonomie und Technik des Lernens. Leipzig, Julias Klinkhardt. 1903'' niedergelegt hat.

58

11. Neigt er auch zu phantasievoller Auffassung der Sinnendinge und Vorgänge im Gebiete sinnlicher Wahrnehmung?

(Nein, durchaus nicht!)

12. Beschäftigt er sich gern und oft mit Bilderbüchern, und mit welchen? Weilt er besonders gerne vor Schaufenstern, an welchen Bilder ausgestellt sind?

(Schaufenster liebt er, wie alle Kinder, speziell Spielwarenläden) ').

13. Welche Beobachtungen wurden bezüglich des Charakters seines Spiels gemacht? Übernimmt er bei gemeinschaftlichen Spielen auch älteren Knaben gegenüber gerne die führende Rolle? Treibt er namentlich gerne für sich allein dramatische Phantasiespiele, bei welchen er in der Illusion die Heldenrolle übernimmt?

(Seine Spiele sind kindlich ; von Heldenrollen u. s. w. ist dabei nicht die Rede. Beim Spiel bevorzugt er fast ausschließlich Eisenbahn und Pferde, wobei er den Kutscher oder Eisenbahnschaffner macht-).)

14. Träumt er oft, bezw. spricht er häufig im Schlaf? Wovon und in welcher Art?

(Er hat einen guten, gesunden Schlaf, ohne Traumerscheinungen.)

15. Erzählt er gerne seine Träume, und hält er dieselben bisweilen sogar für wirkliche Erlebnisse?

(Selten erzählt er, er habe das und das geträumt, und dann sind es immer Vorgänge aus seinem Kindesleben.)

16. Wie sind seine körperlichen Glesundheitsverhältnisse im allge- meinen — früher und jetzt und insbesondere mit Rücksicht auf das Nervensystem ?

(Er war immer vollständig gesund.)

17. Hatte er schon oft und namentlich während seiner letzten Er- krankung starkes Fieber, bzw. trat dabei fieberhafte Phantasietätigkeit in die Erscheinung?

1) Indessen müssen ihm die Flügel der „Engel" und des „Christkindchons" besonders imponiert und in ihm den lebhaften Wunsch, auch solche zu besitzen, nachhaltig erregt haben ; denn als ich am 6. Dezember mit weitgehendster Erlaubnis der Eltern ihn wieder zur Wirklichkeit zurückzuführen suchte und in dieser Absicht u. a. bemerkte : Du hast doch gewiß noch keine Flügel gehabt. Kein Mensch hat Flügel, auch das Christkindchen hat keine. Flügel machen ihm nur die Maler und andere Künstler, damit das Bild oder die Figur schöner aussehen und die ganz kleinen Kinder meinen sollen, das Christ- kindchen könne vom Himmel auf die Erde und von der Erde wieder zum Himmel fliegen etc. etc. Da entgegnete er, wenn auch höflichst, doch mit aller Entschiedenheit : Ja wohl, das Christkindchen hat Flügel; die Mama hat mir's gesagt. Wer in seiner Jugend hätte diesen unschuldigen Kinderglauben nicht auch gehabt ! Auch ist die Sehnsucht nach Flügeln und bisweilen nicht nur im Knabenalter viel allgemeiner, als man geradehin zu wähnen glaubt! Daher immer noch das Suchen nach einschlägigen Erfindungen.

2) Er scheint nach allem reiselustig ins Weite zu zielen! Knabenart 1

59

(Nur einmal hatte er eine Halsentzündung und letztes Spätjahr Masern, ohne starkes Fieber und ohne Phantasieen.)

18. Hat er bei seiner Genesung davon erzählt und in welcher Weise ? Oder geniert er sich, krank gewesen zu sein?

(Nein !)

19. Greift ihn das Lernen an und welche Lerntätigkeit am meisten? (Das Lernen macht ihn müde, besonders das Lesen'). Vom Ernst

der Schule hat er noch nicht genügende Yorstellung.)

1) Der Grad der Begabung des Knaben für den F o r m e n Unterricht kann der unausgesprochenen Entwickelungen wegen vorerst noch niclit festgestellt werden. Blutarmut und Nejvensch wache sind indessen nicht zu konstatieren. Nach meiner meiner Beobachtung bekundet er überhaupt bis jetzt nur S a c h interesse. Der Mechanis- mus des Lesens hat für ihn keinen Reiz. Das Lernen selbst erscheint ihm noch als Plage, ohne schon die nötige moralische Eeife zur vollständigen momentanen Überwindung der Abneigung, zur Steigerung der Energie durch mächtigen Willensentschluß zu besitzen. Die Konzentration der Aufmerksamkeit auf ein gegebenes Ziel ist für ihn ein mühseliger "Willensakt, zugleich ein Kampf gegen Antipathie, und damit gleichsam zweifache und verlängerte Arbeit. Deshalb die rasche und große Ermüdung, deshalb vor allem die Mittelmäßigkeit seiner Leistungen. Sein Lemakt vollzieht sich ohne die Seele des Ge- dächtnisses, ohne die Attraktionsfunktionen des Interesses, und nur der die inneren Widerstrebungen überragende Willensrest steht seiner Apperzeption als durch mittelbare Motive erregte und durch Hemmung geschwächte Kraft zur Verfügung. Das emotionale und voluntarische Moment des Lemaktes wird von Theorie und Praxis leider immer noch zu wenig beachtet, und wenn es geschieht, dann greift man fast allenthalben zu ver- fänglichen künstlichen Reizmitteln, zum Zuckerbrot oder zum Meerrohr, zu Maßnahmen, die in ihrer gewohnheitsmäßigen Anwendung mit Rücksicht auf die moralischen Folge- erscheinungen im allgemeinen schlechterdings zu verwerfen sind, wenn ich auch aufgrund eigens unternommener Experimente erfahrungsmäßig zugeben muß, daß dieselben im speziellen Falle bisweilen geradezu Wunder wirken, nicht nur in Hinsicht auf das reine Wollen, bezw. die Willenshandlung, sondern auch bezüglich des von Willensmomenten durch- drungenen intellektuellen Könnens. Hatte ich doch u. a. einmal einen achtjährigen, kör- perlich gesunden und geistig sonst normalen, wenn auch nicht besonders gut begabten Schüler, der wahrscheinlich infolge der entsprechenden häuslichen Erziehung seine Additions- und Subtraktionsaufgaben einige Zeit regelmäßig nur dann zu lösen vermochte, wenn bei ihm durch wirkliche Wahrnehmung der Rute oder durch Erinnerung an vor- ausgegangene Bestrafung auf vasomotorischem W'ege die erforderliche Konzentration des Bewußtseins herbeigeführt wurde. Andere Schüler wiederum scheinen bei allzugroßer Strenge vor Angst geradezu den Verstand zu verlieren. Im allgemeinen bleibt als psycho- logische Tatsache bestehen: „Was man aus Liebe tut, geht noch einmal so gut!" und für Kinder gilt so recht das Milton'sche Wort: „Es gibt keine Pflicht, die nicht der Heiterkeit bedürfte, um recht erfüllt zu werden!" Wiederholt habe ich darum in meiner „Lehrlust" (1895), sowie in meiner „ünt errichtspraxis" (1904) auf die hohe pädagogische Bedeutung des Gefühls für Auffassung, Gedächtnis und geistige Selbst- tätigkeit hingewiesen und von solchen Erwägungen und Erfahrungen ausgehend, schon vor 12, bezw. 15 Jahren die Anlage und Ausstattung meines ersten Lesebuchs für Kinder grund- sätzlich so getroffen, daß ich mir bedingungsweise erlauben durfte, ihm den Titel „Lern-

60 -

20. Wurden abnorme geistige Funktionen (Halluzinationen u. dgl.) bei ihm beobachtet ? Bei welcher Veranlassung und welcher Art ?

(Niemals, fürchtet sich im Dunkeln nicht, hat von Geistern u. dgl. keine Vorstellung. Mir macht er den Eindruck, daß er sich bei seiner Erzählung einen von ihm durchaus als erlaubt angesehenen Scherz ^) machen wollte. Beim Wiedererzählen spielte sein Gredächtnis eine große Rolle. Es ist ihm die Sache jetzt recht fatal, und er möchte am liebsten, daß man nicht mehr davon spräche. Zu Hause war er nur mit Mühe dazu zu bringen, die „Geschichte" auch dem Papa zu erzählen, und auf die Frage : Warum hast Du denn diese Geschichte Herrn G. erzählt ? folgte zuerst ein langes Schweigen . . ., dann ... ich weiß nicht" und endlich: „Ich hab' dem Herrn Lehrer was erzählen wollen.")

Auch mir gab er am 6. Dezember auf die Frage : Warum hast Du denn das alles erzählt ? Warum von deinen Flügeln gesprochen, trotzdem Du keine hast? Warum hast Du gesagt, Du hättest den lieben Gott gesehen, wenn es nicht wahr ist ? etc. etc. nach längerer Pause die Antwort: „Ich weiß es nicht" und [machte eine Miene, als wollle er von der ganzen Sache nichts mehr wissen. Hingegen hörte ich die Be- merkung: „Ich wollte dem Herrn Lehrer was erzählen" trotz wiederholten Eindringens niemals aus seinem Munde. Gleichwohl unter- schob auch ich anfangs hin und wieder seinen phantastischen Darlegungen das Motiv der scherzweisen Erzählung und nahm an, er hätte in kind- lichem Übermut zur guten Stunde mir als Bubenstreich vielleicht etwas aufbinden, vor meinem Blicke nach raschgefaßter Idee einen einheitlich aufgebauten Roman im kleinen Stil entrollen wollen. Auf andere, ernstere Vermutungen kam ich erst, als der Knabe am 10. Oktober die Geschichte schlankweg in Gegenwart seines Klassenlehrers und am 1. Dezember Herrn Rektor K. frank und frei erzählte und dies immer wieder mit denselben Worten, trotzdem er am 24. November nach seinen Erfahrungen in der Schule vor den Folgen eines plötzlichen Geständ- nisses nicht hätte zurückschrecken brauchen und es für einen wirklichen Spaßvogel doch wohl viel mehr Reiz gehabt hätte, wenn er mir bei dieser

lust" beizulegen. Endlich vergleiche auch bezüglich des vorliegenden Falles Meumann's scharfsinnige und allseitig gründliche Untersuchungen über Haus- und Schularbeit. (Dr. E. Meuraann, Professor an der Universität in Zürich, Haus- und Schularbeit. Experimente an Kindern der Volksschule. Leipzig, Julius Klinkhardt. 1904).

1) Als Scherz betrachtete ich es auch, wenn er eines Tages mir gegenüber konse- quent, allerdings mit spitzbübischem Lächeln, behauptete, er hätte von Papa und Mama noch nie Schläge bekommen, trotzdem dies der Wirklichkeit nicht ganz entspricht, da er, wenn auch selten, doch schon zu Hause wiederholt die Rute fühlte und sich dabei, wie der Herr Papa schriftlich bemerkte, jeweils mehr zerknirscht als weich zeigte.

61

zweiten Erforschung deren Tendenz er ja nach den Voraussetzungen der väterlichen Deutung hätte ahnen müssen kurz entgegnet hätte : „Gelt, ich soU Dir wieder das Geschichtchen erzählen ? 0, Du hast's ge- glaubt I" Noch will ich unentschieden lassen, welche Ernüchterungs- wirkung die inzwischen ergangene Drohung des Vaters hatte, der dem Knaben das Gerede von seiner Reise nach Amerika bei strengster Strafe untersagte. Anderseits könnte die Tatsache, daß der Kleine erst nach der väterlichen Zurechtweisung wenn man überhaupt so sagen darf die Geschichte allen Ernstes und mit größter Bestimmt- heit auch Herrn Rektor K. erzählte, zu dem Schlüsse führen, daß die Phantasterei des Jungen, wenn nicht das Grundstadium einer fixen Idee, so doch drei Stufen aufweist:

I. Am 10. Oktober erlaubte er sich einen Scherz.

II. Am 24. November und den folgenden Tagen beging er, unter- stützt durch ein auffällig gutes Gedächtnis für derlei Dinge, eine phan- tastische Lüge.

III. Am 6. Dezember gesteht er seinen Scherz und seine Lüge mit den Worten : „Ich hab dem Herrn Lehrer was erzählen wollen."

Dieser Deutung widerstreitet indessen die bejahende Antwort, welche der Knabe ohne jedes Bedenken allen Ernstes auf die Frage gab: „Soll ich das alles auch dem Herrn Papa erzählen?" Und wäre er wirklich naiv genug, bei Vater und Lehrer den Glauben an die Wahrhaftigkeit seiner Erzählung vorauszusetzen, so wäre diese Naivität für einen 7 jährigen, körperlich gesunden Jungen so abnorm, daß wir sie unstreitig als pathologisch bezeichnen müßten. Eins oder das andere : entweder gehört die Spinnerei als Aktion oder die Arglosigkeit des Erzählers ins Bereich des Psychopathischen wenn nicht, dann läge bei der frei- mütigen Wiederholung der Erzählung eine Verstellungskunst und eine Kühnheit bedenklichster Art vor, deren moralischen Schwerpunkt ich in den Worten erblickte : „Ich hab's dem Papa noch nicht erzählt, weil mirs mein lieber Gott noch nicht erlaubt hat". „Ich erzähle es ihm, wenns mein lieber Gott haben will". Doch war ich von der Wahrheits- liebe des Schülers von vornherein so überzeugt, daß ich dieselbe nicht einen Augenblick in Frage stellte und darum unterließ, besondere Er- kundigungen darüber einzuziehen. Ich wäre weit eher geneigt, phan- tastische Träumerei und Autosuggestion anzunehmen, der durch ver- schiedene Einwirkungen später Ernüchterung und Scham (?) folgte.

Item, bleibt nach den zur Verfügung stehenden Daten selbst unent- schieden, ob wir es hier mit einem harmlosen kindlichen Gedankenspiel,

62 -

mit einer phantastischen Lüge '), mit einer abnormen Selbsttäuschung oder mit krankhafter Einbildung zu tun haben: drei Momente als Er- gebnis meiner Untersuchung möchte ich doch vor allem hervorheben:

1. Die Aussagen des Kindes gleichen selbst dann, wenn sie nach einer einheitlichen Idee selbständig aneinander gereiht sind und stets wort- getreu wiederholt werden, nur zu oft einer trüglichen Kette unhalt- barer- Seifenblasen und welchen fixen Glauben schenken efFekt- haschende Untersuchungsrichter trotzdem oft gerade dem Kindermund!

2. Die märchenhafte Duselei in der Kinderstube kann je nach der Disposition, dem psychophysischen Typus der Kleinen in einem kind- lichen Gehirn bisweilen die größte Verwirrung anrichten und zur be- denklichsten Phantasterei und Lügerei führen.

3. Namentlich hat die Schule die Pflicht, bei der Pflege der Phan- tasie, zumeist der religiösen, alle Vorsicht zu beachten und den zügel- losen Flattergeist des Kindes immer und immer, wieder zur Wirklich- keitswelt zurückzuführen wenn auch nicht gerade in die abstoßende Dürre und reizlose Gemütsarmut des krassesten Positivismus.

Die Idee der Wahrhaftigkeit und der Ernst des Unterrichts, prak- tische und psychologische Gründe zwingen uns, in der Schule dem Kinde nur Tatsachen vorzuführen, und auch der erdichteten Handlung muß, gerade so lange Geist und Gemüt für einen freieren und höheren Kunst- genuß noch nicht reif sind, der Charakter der kausalen Wahrscheinlich- keit gewahrt bleiben. Allermeist aber soll der angehende Schüler mit eigenen Augen sehen und eigenen Ohren hören und im Dienste der not- wendigen Selbstüberzeugung und wirklichen Selbstbildung die auf dem Wege direkter Wahrnehmung und objektiver Anschauung erzeugten Vorstellungen gedanklich richtig in gegenseitige Beziehung setzen lernen. Niemals darf der Lehrer ein bedingtes X in ein freies U verwandeln, nie weiß in schwarz, nie blau in grün verkehren. Und wie der Schöpfer des kunstgemäßen Dramas, so ist auch unser kleiner Dichterling selbst beim Aufbau einer Handlung nicht nur an die Einheit von Ort und Zeit, sondern nächstdem an das Gesetz der Kausalität, an das Prinzip der Wahrscheinlichkeit, an die Normen der Logik, Ästhetik und Ethik ge- bunden. In Sonderheit aber bleibt bei aller Freiheit der Darstellung die Objektivität die Grundtendenz des ersten Unterrichts, und ist es wahr, wie Kant behauptet daß die größte Zweckmäßigkeit aucb immer die vollendetste Schönheit ist, dann greifen die Forderungen der Verstandes- kultur und die der Gemütsbildung harmonisch ineinander. Diese Grund-

1) Vergl. auch Dr. G. Stanley Hall, „Ausgewählte Beiträge zur Kinderpsychologie und Pädagogik. IV. Das Lügen der Kinder. Altenburg. 1902.

63

sätze leiteten mich u. a. bei der Herausgabe meines neuesten Lehr- uftd Lesebuchs: „Das Kind in Haus, Schule und Welt"*).

Möge vorstehend veröffentlichte Untersuchung zu weiterer For- schung auf diesem Gebiete anregen, und möge es mir vor allem gelungen sein, zu zeigen, in welcher Weise ein Lehrer derar- tigen psychischen Erscheinungen auf den Grund zu gehen hat: dann ist der Zweck meiner Berichterstattung erfüllt.

1) 0. Nemnich, "Wiesbaden 1903. Vergl. auch des Verfassers „Unterrichtspraxis im Sinne naturgemäßer Reformbestrebungen für das Gesamtgebiet des ersten Schuljahres u. ihre theoretische Begründung vom Standpunkte der Kinderpsychologie". Wiesbaden. 0. Nemnich. 1904. I. TeU, S. 36 bis 40, II. Teil S. 4 bis 7 u. s. f.

Arbeiten aus dem städtischen pädagogischen Laboratorium

Antwerpens.

(Schluß aus dem Jahre 1905). Von Marx L o b s i e n , Kiel.

9. Nachtrag: Verschiedenes:

a) E. t'Kindt: Hoe trekken de leerlingen eener hoogste klas eene rechte lijn van een decimeter ? Jaarb 1905 S. 23 ff.

b) ders. : Het ideal der kinderen. ebend. S. 36 ff.

c) Schuyten : Over variatie in de natuur. ebd- S. 45 ff.

d) ders. : Over de validiteit van het lager aanschouwingsonderwijs. ebd. S. 61 ff.

a. Wie ziehen die Zöglinge einer Oberklasse eine gerade Linie von 1 decm, Länge? 30 Prüflinge einer Oberklasse einer Volksschule im Alter von 11 14 Jahren wurden gegen Ende des Schuljahres folgendem Ver- such unterworfen : Jeder Prüfling empfing zu Beginn der Untersuchung 16 Blättchen Papier von 20 cm Seitenlänge und ein Lineal von 1 dem Länge. Die Länge der Linie ist den V. P. bekannt. Auf ein gegebenes Zeichen legen die V. P. den Maßstab mit der rechten Hand auf das Blatt, um ihn dann nach •/2 Min. so schnell wie möglich auf ein gegebenes Zeichen hin zu verbergen. Nun erst wird ihnen gesagt, daß sie auf das Papier eine Gerade von 1 dem Länge entwerfen sollen und zwar derart, daß auf das erste Blatt mit der Rechten von links oben nach rechts unten

64

^ , auf das zweite mit der linken Hand in gleicher Richtung auf die folgenden Blätter gezogen wird u. s. f. nach folgender Übersicht : (R = rechte, L = linke Hand) R "^ und i^, L "^ und i^, R "^ und /, L »^ und /, R -> und ^~ , L -> und <—, R ^ und f ? L ^ und '|^. Jedes Blatt wurde nach der Benutzung durch die freie Hand umgewendet. Der Versuch wurde im folgenden Jahre wiederholt.

Die entworfenen Linien wurden einer doppelten Messung unter- zogen, es ward bestimmt 1. deren scheinbare Länge, d.i. der Abstand zwischen ihren beiden Endpunkten und ihre wirkliche Länge , d. h. die Länge der gezogenen Linien, um zu sehen, wie weit sich der Schüler der richtigen annähere; die letztere wird berechnet. Mithin wird ein doppeltes untersucht: 1. Der Begriif der Länge eines Dezimeters, 2. die richtige Linie. Die Ergebnisse werden beiderseits in 10 Milli- meterdistanzen geordnet, 3. ward auf den Neigungswinkel der Schrägen zur Diagonale des Blattes und 4. darauf geachtet, ob die Wagerechten und Senkrechten die Mitte der Blattseite innehielten, bezw. wie weit sie sich davon entfernten. Das Ergebnis der in zwei umfänglichen Tabellen dargestellten Beobachtungen ist : die V. P. verfügten im all-, gemeinen über eine genaue Auffassung der Distanz eines dem und waren imstande, in den verlangten Richtungen Dezimeterlängen zu zeichnen, die 1 dem. recht nahe kamen, besonders mit der rechten Hand.

b. Die Ideale der Kinder.

Der Verf. erhebt die Frage, ob Kinder über Ideale verfügen, d. h. Vorstellungen von VoUkommenheitszuständen. Er glaubt, mit nein ant- worten zu müssen. Den vorhandenen Untersuchungen nachgehend wirft er ihnen vor, daß ihre Ergebnisse durch mancherlei Einflüsse zu sehr ge- trübt seien, als daß man von Kinder idealen in den Angaben der V. P. reden könne, es stecke zuviel vom Versuchsleiter darin. Kindt will in seinen Versuchen vollkommene Freiheit für die Beobachter, nur her- nach unterwirft er sie insofern einem Zwang , als er sie nach dem Warum ihrer Entscheidung fragt: Wem möchtest du ähnlich werden? Warum? Ergebnis: Die Schüler nannten als Ideal, (hier, wo sie durch keinen bestimmten Hinweis des Versuchsleiters bestimmt wurden) nahezu ausschließlich Personen ihrer Umgebung. Auch in der Begründung zeigt sich weit größere Übereinstimmung als bei den früheren Unter- suchungen; trotz aller kleineren Differenzen dominierten Güte, Liebe, Macht und Ehre. Die Schule machte sich zwar deutlicher bemerkbar: von 8 Beobachtern behielten vorderhand nur 3 dasselbe Ideal unter an- nähernd gleicher Begründung bei; bei den übrigen zeigte sich Wandel-

65

barkeit, sodaß sich die jugendlichen Ideale als wenig widerstandsfähig erweisen.

c. Über Variation in der Xatur. Die Arbeit erörtert einleitend den Begriff der Variation in der Natur und geht dann ihren mannigfachen Formen in der leblosen und belebten Xatar. der Natur und Geisteswelt nach. (Jährliche Tempe- raturkurven, Erhebungen der Erdoberfläche. Variation der Xaturkräfte: das Tanzen der "VS'ellen. ihre Ausbreitung am bespülten Ufer. Einfluß des Windes auf losen Sand , das Errichten von Gebäuden in den ver- schiedenen Zonen , chemische Variationen, periodische Befruchtung der Blumen, Fruchtlänge von Oenothera Lamarckiana. Keimen der Saat, diskontinuierliche Variation, die Form der Baumstämme, usf. Geburten und Todesfälle, periodische Längs- und Gewichtszunahme der Kinder, periodische Wärmeausstrahlung, Muskelkraftvariation, jährliche Auf- merksamkeitskurve des Bandes , geistige Arbeitskurve , ergographische Kurven usf.). Überall offenbart sich, ungeachtet der unendlichen Varia- tionsmannigfaltigkeit im besonderen, die Quetelet - Kurve zu gründe liegend (wahre oder pseudo). die in Gestalt einer Welle verläuft.

d. Über die Validität des niederen Anschauungsunterrichts. Schuyten tritt nachdrücklichst für das Prinzip der Veranschaulichung ein; alles, was nur möglich, müsse den Sinnen der Schüler vorgeführt werden. Der Besuch einer R echen stund e . die von einem Lehrer ge- geben wurde, dessen methodische Spezialität auf diesem Gebiete liegt, der von sensoriellen Vorstellungen beim L'nterrichte fast ganz abstra- hierte — und doch überraschende Resultate zeitigte, machten Zweifel an die Allgemeinverbindlichkeit der alten pädagogischen Wahrheit rege. Er stellte im Juni 1905 in zwei Oberklassen (Mädchen- und Knaben-) einen Versuch an , dessen Aufgabe war , zu erkunden , auf welchem Wege, ob auf dem auditiven oder visuellen (der dann noch durch den ersten verstärkt wird) eine Zahl (Ziffern-) reihe am leich- testen und sichersten ins Gedächtnis aufgenommen werde. Er wählte die Zahlenreihen:

59 37 65 83 72 94 26 48

69 23 58 76 42 87 35 94 Die erste Reihe ward ausschließlich auditiv dargeboten, jede Zahl ward vom Versuchsleiter vor- und von den V. P. nachgesprochen ; alle 8 wurden auf ein gegebenes Zeichen niedergeschrieben. Das geschah nach- einander 3 mal. wobei durch Umfalten des Papiers ein Nachschreiben unmöglich gemacht wurde. Der ganze Versuch dauerte etwa 5". Bei

Meumann, Exper, Pädagogik. V. Band. 5

66

der zweiten Weise wurde der Zählrahmen benutzt. Jede Zahl wurde gezeigt, auf ein Zeichen ausgesprochen und dann wurden alle 8 nieder- geschrieben, Zeit etwa 6". Somit kommen zwei Versuchsarten in Frage, eine auditiver, eine visu-auditiver Art. Zahl der Prüflinge : 32 Knaben und 27 Mädchen, Ergebnis: Die Resultate der zweiten Ver- suchsreihe, die man als die günstigeren doch erwartete, blieben nicht unerheblich hinter den andern zurück. Eine Wiederholung des Versuchs nach einigen Wochen bestätigte das Er- gebnis durchaus. Dieses Resultat war Schuyten so überraschend, daß er erst fernere Untersuchungen abwarten will, bevor er weitere Schlüsse zu ziehen wagt.

Der sechste Sinn der Blinden.

(Nachtrag zu der in Bd. III, 3/4 und Bd. IV, 3/4 veröffentlichten Ab- handlung). Von Ludwig Truschel, Straßburg i. E.

Dieser Nachtrag soll von den in Bd. IV, S. 138 und 140 ange- deuteten TJnterproblemen handeln, weil dem Verfasser bei seinen Vor- untersuchungen mehrere bisher nicht mit dem 6. Sinn des Blinden in Beziehung gebrachte Erscheinungen und bezügliche Hypothesen sich auf- gedrängt haben, die er hiermit, ohne sie selbst weiter zu verfolgen, nebst Literaturnachweis den berufenen Spezial-Forschern als eventl. verwertbares Material aufzeigen, bezw. sie zur etwaigen Inangriffnahme anregen möchte.

Die hauptsächlichsten Schlußergebnisse des physikalisch - physiolo- gischen Teils der Voruntersuchungen seien hier kurz wiederholt.

1) Der sogenannte sechste Sinn der Blinden beruht ausschließlich auf der Reizung der Grehörsorgane durch reflektierte Schallwellen. (Bd. II, S. 136, Sonderdruck, S. 149).

Eingeschränkt wurde dieser Satz wiederholt durch den Hinweis auf die mögliche Beteiligung nicht untersuchter Reizgattungen (Strahlen des nicht leuchtenden Spektrums z. B.).

2) Veränderungen in der Tonhöhe sind (soweit die I. Gattung der X-Reize in Betracht kommt) das Hauptkriterium für die X-Empfindungen, namentlich der Maßstab für die Abschätzung des Abstandes zwischen Ohr und Reflektor. (S. 140, bezw. 153).

3) Je geringer der Abstand vom Reflektor ist , dem man unver- mittelt gegenübertritt, desto größer ist das Intervall zwischen der ur-

p

67

sprimgKclien und der sekundären Tonhöhe und umgekehrt. Am häufigsten sind die Intervalle von Sekunde bis Quarte. (S. 139,. bzw. 152).

Wie die Fähigkeit der „akustischen Raumwahmehmung" sich bei den Blinden entwickelt, welchen Einfluß dieser Sinn auf die übrigen Raumvorstellungen gewinnt, und wie er planmäßig ausgebildet und den praktischen Forderungen des Lebens in erhöhtem Maße dienstbar ge- macht werden kann, hat Verf. in den anschließenden Kapiteln IV und V (Bd. IV) in raschen Strichen darzulegen versucht. TJnerörtert mußten jedoch u. a. folgende Fragen bleiben:

1) Wie entstehen die pp. Intervalle? 2) Besteht ein physikalischer Unterschied zwischen den als I. und den als II. Grattung bezeichneten X-Reizen? 3) Welche Teile des Grehörsorgans werden gereizt? 4) Rea- gieren auf beide Reizgattungen dieselben Organe?

Da Vf. diesen schwierigen Problemen als Laie gegenübersteht, so wollen die nachstehenden Ausführungen nur Hinweise sein und sich auf den ganz bescheidenen Zweck beschränken, der eingangs ausgesprochen wurde.

Welche akustischen Erscheinungen sind überhaupt mit der X- Wahr- nehmung verbunden?

Zunächst ist offenbar ein rein quantitativ-zeitliches Mo- ment zu beachten. Sowohl bei größerem als bei geringerem Abstand tritt zu dem direkten Schallwellenbündel das reflektierte hinzu, und da der Weg der Reflexionswellen in jedem Falle länger ist als der der direkten, so entsteht genau genommen auch immer ein Unterschied in der Zeit der Ankunft. Dieser Unterschied ist jedoch, da in der Länge der beiden Schallwege in der Regel nur eine Differenz von höch- stens 3 5 10 m besteht, so minimal, daß von einem Echo im gewöhn- lichen Sinn nicht die Rede sein kann.

Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß auf größere Entfer- nungen nicht auch das Echo für das Sensorium der Blinden eine wich- tigere RoUe spielt als für uns Sehende, ebenso wie die Blinden auf allerlei andere Fern-Reize des Greruchs und der Hautsinne (Luftdruck und Temperatur) sowie des Gehörs , auch soweit gewöhnliche , direkt empfundene Geräusche und Töne in Betracht kommen . in erhöhtem Maße angewiesen sind. Aber alle diese Empfindungen weichen nach meinen bisherigen Beobachtungen weder in ihrem Charakter noch in ihrer Intensität ab von den gleichartigen der Voll.-,innigen und haben also mit dem in Frage stehenden „sechsten Sinn der Blinden" nichts zu tun.

5*

68

Als wichtiger wird man vielleicht den Unterschied ansprechen, der sich zwischen den rechts- undden linksseitig en Empfin- dungen einstellt in der Weise, daß bei einer Drehung des Kopfes oder bei seitlicher Stellung des Reflektors das zugewandte Ohr durch die Reflexionswellen stärker gereizt würde als das abgewandte, auf das die direkten Wellen deutlicher und reiner wirkten. Die Neigung des blinden Beobachters, dem Objekt ein Ohr direkt zuzukehren, unter Umständen also den Kopf rasch zu drehen, zeigte sich während meiner Experimente bei jeder Grelegenheit mit unzweifelhafter Deutlichkeit und war durch keine entgegengesetzte Verhaltungsmaßregeln zu unterdrücken. (Man vergl. die diesbezügl. Bemerkung Bd. IV, S. 136; Sonderdruck S. 149). Vielleicht bietet der X-Sinn den Physiologen überhaupt wertvolles Ma- terial zur Nachprüfung der Theorien über Schall-Lokalisation.

Auch Schallstärke und Klangfarbe variieren in der Nähe eines Reflektors. Es versteht sich von selbst, daß der Schall mit der Annäherung der Quelle an eine Wand zunächst immer stärker wird. Aber diese Zunahme der Intensität hat ihre nahe Grenze. Schließlich tritt das Gegenteil ein: der Schall wird schwächer. (Interferenz). Die Intensität korrespondiert selbst in den einfachsten Fällen nicht durch- gehend mit dem Abstand, viel weniger bei der Mitwirkung zweier oder mehrerer Reflektoren oder gar in geschlossenen Räumen. Ich erinnere ferner an die Abhängigkeit dieser beiden Kategorien von dem Material, bezw. der Überkleidung des Reflektors, sowie von der Größe, Gestalt, Füllung, Wandbekleidung ganz oder teilweise geschlossener Räumlich- keiten. Infolge dieser vielseitigen Bedingtheit ist mit der Annäherung an einen Reflektor bald eine Ab- bald eine Zunahme der Schallstärke und von Fall zu Fall ein ganz erhebliches Variieren der Klangfarbe verbunden. Ein halbwegs sicheres Kriterium kann also hierin nicht liegen. Und da geübte Blinde sich tatsächlich nur sehr selten in der Ab- schätzung des Abstandes täuschen, so muß das Hauptkriterium in etwas Anderem zu suchen sein. Ich erblicke es , wie in Bd. IV ausgeführt und eben wiederholt wurde, in den Veränderungen der Tonhöhe (so- weit die I. Gattung der X-Reize in Betracht kommt) :

Bei direktem Zugehen auf einen Reflektor (Wand z. B.) ent- , steht eine chromatische Tonleiter in auf-, beim Abgehen eine solche in absteigender Folge. Tritt man einem Reflektor unvermittelt gegenüber, so entsteht zwischen dem Reflexions-Ton und der ur- sprünglichen Tonhöhe ein Intervall, das jeweils mit dem Abstand in umgekehrter Proportion korrespondiert.

69

Wie können solche Intervalle entstehen? Da sie bei direktem Zn- oder Abgehen während der Annähe- rung oder während der Entfernung vom Reflektor auftreten, drängt sich die Frage anf, ob hier nicht das Dopplersche Prinzip mitspielt.

Im vorigen Heft habe ich unter einer Reihe ähnlicher Beobachtungen folgenden Fall erwähnt:

Man fährt im Schnellzuge an einem andern stehenden Zng (oder auch einem langsamer fahrenden), oder einem Stationsgebäude, einem Wärterhänschen , einer Passerelle . einer ganz nahen Signal- stange 0. a. vorbei: das Gerassel hat für die Daner des „Nebeneinander" einen höheren Ton. (Bd. IV, S. 139, Sdr. S. 152).

Ich füge hinzu, daß selbstverständlich bei entsprechender Stellung einer Fläche des Reflektors mit der Annäherung eine chromatische Er- höhung, mit der Entfemimg ein chromatisches Fallen verbunden ist, analog den bei den X-Wahrnehmungen beobachteten Er- scheinungen.

Man vergleiche damit ein ähnliches, anf Dopplers Prinzip beruhendes Phänomen :

Während der Zug eine kleine Station passiert, macht die Signal- glocke fünf Schläge und erzeugt dadurch fünf Töne von objektiv gleicher Schwingungszahl. Der Beobachter im Zug hört die beiden ersten wäh- rend der Annäherung, den dritten im Angenblick des Nebeneinander nnd die beiden letzten nach der Durchfahrt, also bei wachsendem Ab- stand. Infolge der raschen Fortbewegung empfindet er die beiden ersten las höher, den 4. und 5. als tiefer; nur den 3. hört er in annähernd objektiver Höhenlage (wenn die Glocke sich nicht vor, sondern etwas entfernt neben dem Gebäude befindet).

Nach Dopplers Prinzip erklärt sich dieser Vorgang daraus, daß man infolge der Annäherung an die Tonquelle mehr Schwingungen empfindet, während die Weiterentfernung das Umgekehrte zur Folge hat. Das Intervall zwischen dem objektiven nnd dem subjektiven Ton ist also bedingt durch die Geschwindigkeit der Fortbewegung entweder der Schallquelle oder des Beobachters. Bezeichnet man den objektiven Ton mit w, den subjektiven mit n*, die Geschwindigkeit des Beobachters mit a, die Geschwindigkeit des Schalls mit c, so ist^) bei der Annäherung des Beobachters an eine ruhende Tonquelle also wie in dem vorstehenden Beispiel:

1) Nach Müller-Pouillet-Pfaundler, Physik. Braunschweig, Vieweg. 9. Auflage. S. 733.

- 70

Durch mehrfache praktische Untersuchungen (Probefahrten mit Lo- komotiven *) u. a.) wurde dieses Gesetz nachgeprüft und bestätigt :

Bei einer Höchstgeschwindigkeit von 20 m in der Sekunde wurde als größtes Intervall zwischen dem subjektiven und dem ob- jektiven Ton ca. eine halbe Tonstufe erreicht.

Bei den (zu andern Zwecken veranstalteten) Probefahrten der elek- trischen Schnellbahn Berlin - Zossen wurden , wenn ich mich recht ent- sinne, bei Greschwindigkeiten von ca. 55 m in der Sekunde entsprechend höhere Intervalle beobachtet.

Die Vorgänge bei einer X- Wahrnehmung lassen sich insofern hiermit vergleichen, als man bei direkter Annäherung (an eine Wand z. B.) die reflektierende Wand als ruhende Tonquelle und den sich nähernden Blinden als Beobachter betrachtet, wobei man allerdings von allen andern Einflüssen , die bei einer solchen Reflexion mitspielen , absehen muß. Nach ganz geringer Annäherung hat sich der Ton bereits um mehr als eine Terz erhöht.

Setzen wir die Gang- Gre seh windigkeit = 2m und untersuchen wir, um zu erkennen, ob das Dopplersche Prinzip hieran beteiligt sei, 1. welche Geschwindigkeit zu einer Terz - Erhöhung erforderlich wäre, 2. welche Erhöhung eine Zweimeter - Geschwindigkeit nach Dopplers Prinzip zur Folge haben müßte.

Zu 1 : Der dem Trittgeräusch (dem von der Wand reflektierten) zu gründe liegende, hier also objektive Ton n sei a' = 435 Schwingungen; der subjektive Ton n^ wäre dann eis'* = ca. 548 Schw. ; c (Schallge- schwindigkeit) = 340; a (Annäherungsgeschw. gesucht) = oc.

548.340 „.. ^^^

X = T-.7= 340 = öö,o . . .

4do

Es wäre also die unerhörte Geschwindigkeit von 88,3 . . . m in der

1) Buij's Bailot, Pogg. Ann. 1845. LXVI. S. 321 f. Vogel, 1876. CLVIII. S. 287 f.

Mach, Wien. Akad. d. W. 1878. LXXVII. S. 299 f.

71

Sekunde erforderlich, um nach Doppl. Pr. eine Terz-Erhohung herbei- zuführen.

Zu 2: G-esucht ist das Intervall zwischen subjektivem und objek- tivem Ton, also die Differenz n^ n = x. n (wie oben) = 435 ; c = 340 ; a = 2.

.. = «(1+1)

na

n^ n =z = X c

485.2 ^__ ^ = -34^ = 2,oo9

Es ergäbe sich also nach Doppl. Pr, eine Erhöhung um ca. 2V2 Schwingungen, mithin ein dem bloßen Ohr unmerkliches Intervall, während es doch tatsächlich eine Terz , d. h. in diesem Falle eine Er- höhung von 113 Schw. empfindet. Selbst bei einer Ganggeschwindig- keit von 4 m betrüge die Differenz noch keine Achtel-Tonstufe, d. h. in dem angenommenen Falle keine 6,659 sondern bloß 5,118 Schw. ; mit einer solchen Geschwindigkeit ließ ich die Versuchspersonen jedoch selbst- verständlich nicht laufen, da sie dabei das Hindernis nicht nur nicht besser, sondern in der Regel überhaupt nicht oder nicht anders gemerkt hätten als mit dem Anprall.

Ich erinnere ferner daran, daß in sehr zahlreichen Fällen seit- liche Wahrnehmung erfolgte bei plötzHch eintretender seitlicher Reflexion, wobei also das Dopplersche Prinzip gar nicht in Frage kommt, daß überhaupt die Intervalle ganz unabhängig von der nur ganz tm- wesentlich variierenden Annäher ungs geschwindigkeit und unabhängig von der Annäherungsrichtung ausschließlich mit dem Abstand zwischen Beobachter und Reflektor zu korrespondieren schienen.

Da sich aus den verschiedenen Abstufungen des Abstandes und der dadurch bedingten Tonhöhen eine regelmäßige Skala ergibt, dachte ich von Anfang an an die Möglichkeit einer Art (unvollkommener) ste- hender Wellen zwischen dem Körper des bl. Beobachters und dem Reflektor. Da das Trittgeräusch wie alle Geräusche aus harmonischen Schwingungen verschiedener Dauer zusammengesetzt ist, so wäre vielleicht die Möglichkeit gegeben, daß jeweils eine Tonhöhe die mit ihrer Schwingungszahl korrespondierende Distanz fände , sich also je- weils für eine Tonhöhe die Bedingungen erfüllten, unter denen (durch In- terferenz) stehende Wellen von ganz geringer Intensität und kurzer Dauer sich bilden könnten. Diese beständen bei ganz geringem Abstand aus

72

halben Schwingungen mit Phasenwechsel, wodurch die Lokalisation we- sentlich erleichtert würde ^).

Beim Eintritt in einen ganz oder teilweise begrenzten Raum, z. B. einen Tunnel wäre die Situation etwas komplizierter. Da schwänge zu- nächst die ganze Luftmasse als Längssäule in einem verhältnismäßig tiefen Ton und unterrichtete dadurch den Blinden über die Dimensionen des ganzen Raumes. Zn gleicher Zeit schwängen aber auch die seit- lichen (unvollkommenen) stehenden Wellen (zwischen den Wänden und dem Körper des bl. Beobachters) und unterrichteten ihn über den Ab- stand von den Wänden.

Ob diese angenommenen Möglichkeiten alle wirkliche Möglichkeiten sind, vermochte ich als Laie selbstverständlich nicht zu beurteilen; es konnte und kann auch nicht meine Aufgabe sein, mich mit dieser Ma- terie zu beschäftigen.

Ich muß mich deshalb damit begnügen, im Nachstehenden hinzu- weisen auf die Bemühungen zweier angesehener Forscher, auf die ich später zufällig aufmerksam wurde. Mit den bezüglichen Wahrnehmungen der Blinden brachten sie zwar die akustischen Erscheinungen nicht in Zusammenhang, aber die Verwandtschaft läßt sich unschwer erkennen. Müller-Pouillet^) glaubt die Veränderungen des Reflexionsge- räuschs in der Nähe einer reflektierenden Wand auf den Umstand zu- rückführen zu können, daß, wie er mit der Seebeckschen Sirene nach- gewiesen habe, schon zwei Impulse genügten, um einen Ton wahrzu- nehmen. Er sagt:

Man wähle eine Stelle nahe an einer den Schall reflektierenden Mauer , von wo man das einförmige Geräusch eines entfernteren Wasserfalls oder eines Eisenbahnzuges hören kann. Alle die un- zähligen Einzelimpulse, welche von der Schallquelle ausgehen, ge- langen dann zweimal an das Ohr : das erste Mal direkt, das zweite Mal nach Reflexion an der Mauer. . . . Falls diese Aufeinander- folge für sich eine Tonwahrnehmung hervorzurufen vermag, so muß man bei 1 m Distanz den Ton 340 hören, (ungefähr /'. D. Vf.). Um den Ton a^ der Normalstimmgabel von 440 Schw. zu hören, muß

340 man sich auf -j^pr = 0,77 m der Mauer nähern. (Also auf 0,23 m

Annäherung ein Terz-Intervall. D. Vf.) Diese Töne werden nun unter günstigen Umständen wirklich gehört. Nur die erste Auffin-

1) Vergl. z. B. A. Gray. Fortschritte der Physik 53 I S. 568.

2) a. a. 0.

73

düng macht manchmal Schwierigkeiten; sie gelingt am leichtesten, wenn man das Ohr ziemlich rasch der Mauer nähert und es wieder entfernt, weil dann der gesuchte Ton ansteigt und absinkt. . . . Beim Vorübergehen an den Bäumen einer Allee, welche einem rau- schenden Flusse parallel verläuft, hört man bei jedem Stamme den auf- und absteigenden leisen Ton" (S. 732). Soweit Müller-Pouillet.

Genauer hat van Gulik^) die Erscheinungen untersucht. Er er- wähnt den Irrtum Müller-Pouillets, die Wellenlänge gleich dem Abstand zu setzen. Nach seinen Beobachtungen ist die Wellenlänge gleich dem doppelten Abstand. (Also halbe Schw., s. oben. D. Vf.). Van Gulik stellte genauere Beobachtxmgen und Messungen an auf einem Bahnhof und an einem Wasserfall. Über die ersteren berichtet er im wesentlichen folgendes.

„Ich legte horizontal auf den Perron ein großes Brett an eine solche Stelle, daß die vom Brett reflektierten Wellen in das Ohr gelangten; wenn nun die Schallquelle und das Brett (seine horizon- tale Lage beibehaltend) in die Höhe gehoben wnrde, so erhöhte sich der Ton. Auch wenn das Brett aus der horizontalen Lage in einen schrägen Stand gebracht wurde, änderte sich der Ton*. (1. c. S. 288).

Ebenso erhöhte sich der Ton, wenn van Gulik, sich bückend, das Ohr dem Brett näherte, und zwar bis zu einer Oktave.

An einem Wasserfall rief van Gulik dieselbe Erscheinung hervor, indem er veranlaßte, daß die Schallwellen von einem vertikalen Brett senkrecht reflektiert wurden. Das dem Fall zugekehrte Ohr verschlossen, das off'ene dem Brett zugewandt, näherte er sich diesem bis er den Ton o' hörte.

I. (S. 288).

Ton

Wirkliche Wellenlänge

Gemessene Wegdifi'erenz

c"

133 cm 66,5 cm

136 cm 69 cm

Eine Bestätigung dieser bloß mit dem Gehör beoba<ihteten Erschei- nnngen durch Resonatoren gelang van Gulik nicht. Überhaupt fiel ihm

1) D. van Gulik, Archives Neerlandaises Serie ü, T. 6, p. 287 ff.

74:

II. (S. 289).

Ton

Wirkliche Wellenlänge

2 X 40 cm 2 X 33 cm

Abstand d. Ohres vom Brett

41cm 34 cm

ni. (S. 292).

Ton

Gemes

sener Abstand

Berechneter Abstand

c"

34 cm

33 cm

a'

41 cm

40 cm

c',c",g",e"(?)

67 cm

67 cm

a' (Oberton)

83 cm

80 cm

eine genaue Tonbestimmung sehr schwer^). Man unterscheidet", sagt er, „den Ton fast nur bei Bewegung, also durch seine Änderung". (S. 292).

Auf mathematischem Wege kam v. Gr. zu dem Ergebnis, daß durch die Reflexion die ganze Tonreihe in das Geräusch hineingetragen werde. (Vergl. oben Tabelle III). Er führte die Rechnung aus. als ob die har- monischen Schwingungen, aus denen jedes Geräusch zusammengesetzt ist, unabhängig unter sich von der Quelle ausgesandt würden. Knoten- und Bauchlinien dieser Töne legten sich nebeneinander und jede Knotenlinie dehnte sich zu einem allerdings unreinen Spektrum aus. In Bezug auf diese spektrale Zerlegung sei ein beliebiges Geräusch einem Gemisch lauter harmonischer Schwingungen gleichwertig. Wir könnten deshalb sagen, daß die Töne des Geräusches wie die Farben des weißen Lichts bei dem Lloydschen Spiegelversuche räumKch getrennt würden und eine Tonspektrum bildeten Art. (S. 293). Soweit van Gulik.

Vielleicht würde eine Nachprüfung und Weiterführung dieser Unter- suchungen unter Verwendung geübter Blinder zu wertvollen Ergebnissen führen.

Es wird nicht überflüssig sein, auch an dieser Stelle noch einmal

1) Vgl. meine ähnlich lautenden Bemerkungen über die X-Wahrnehmungen Bd. IV S. 141, Sdr. S. 154.

75

daran zu erinnern, daß durcli die vorstehenden Ausfüliningen die II. Gattung der X-Reize niclit berührt wird.

Den durch diese konstant wirkenden Reize hervorgerufenen Eindruck darf ich %'ieUeicht in Parallele setzen mit dem bekannten „Kochen* in einem großen Schneckengehäuse. Halten wir ein solches dicht an ein Olir, so bleibt uns kein Zweifel darüber, daß es sich nur um die durch Re- sonnanz und Reflexion verstärkten und veränderten Greräusche aus der Umgebung handelt. Wir hören ab und zu, wie gewisse mit dem freien Ohr ganz deutlich als solche nnterschiedene Einzelgeräusche sich aus dem sonst ganz konstanten und eintönigen Gresumme hervorheben. Ent- fnrnen wir die Schnecke etwas vom Ohr, so beibt nur der Eindruck des konstanten Summens bestehen ; der Einfluß der Einzelgeräusche , aus denen es entsteht, verliert sich vollständig : wir merken bloß noch, daß ^ etwas summt" auf der betreffenden Seite.

Ahnlich dürfte vielleicht der akustische Vorgang sein, der sich zwischen der Wand oder dem in die Nähe des Ohrs gehaltenen Gregen- stand und dem Ohr abspielt. Nur daß hier der verstärkende Einfluß der Schneckenwindungen und -Wandungen wegfällt, die resultierende Wirkung infolgedessen sehr viel schwächer ist und den meisten Sehenden, da sie nicht genötigt sind, darauf zu achten, unbemerkt bleibt.

Ich darf wohl erwarten, daß unter den intelligenten Blinden, die schon jähre-, z. T. jahrzehntelang ihren eigenen X-Sinn zum Gregenstand sorfältiger Beobachtungen gemacht haben, einer oder der andere selbst- ständig zu dieser Frage Stellung nehmen wird.

Aber ich vermute, daß sich das Problem hiermit nicht erschöpft, auch dann nicht, wenn man weiterhin die Möglichkeit einer Beteiligung unbekannter, bezw. von mir nicht in Erwägung gezogener oder nicht untersuchter Reiz-Gattungen außer Acht läßt. Der ausgesprochen räum- liche Charakter dieser Empfindungen (bes. II. Grattung) und die ver- blüffende Lokalisationsfahigkeit , die sie trotz ihrer so außerordentlich geringen Intensität aufweisen, drängten mir schon bei Beginn meiner Untersuchungen die Vermutung auf, daß diese Erscheinung eine ganz spezifisch physiologische Grundlage haben dürfte und sich mit physi- kalischen (s. oben) und entwicklungsgeschichtlichen (Kapitel IV) Erör- terungen schwerlich hinreichend erklären lassen würde.

Einerseits wiesen die räumlichen Eigenschaften der offenbar unter der Hörschwelle (Hören im gewöhnlichen Sinne) liegenden Reize von selbst auf die Frage: wirken diese Reize nur infolge von Summation, oder werden sie anstatt im sogenannten Hörlabyrinth vielleicht im Tonuslabyrintb perzipiert. das ja am Zustandekommen der räum- lichen Empfindungen erwiesenermaßen sehr wesentlich beteiligt ist?

76

Andrerseits wurde icli auf dieses Organ hingewiesen durch die Beob- achtung, daß die Blinden dem sogen. Drehschwindel (und Höhen- schwindel?) in ähnlicher Weise unterworfen sind wie die Sehenden.

Brachte ich z. B. einen Blinden in kreisende Bewegung, so hatte er ebenso wie jeder Vollsinnige die Empfindung, als rotiere der Boden unter ihm in entgegengesetzter Richtung. Erfolgte dieses Experiment an einem Ort, wo sich andere, vom Boden aufragende Gegenstände be- fanden, so tanzten diese während der ganzen Dauer des Drehschwindels mit. Das war auch dann der Fall, wenn der Blinde mit verschlossenen Ohren und desorientiert an den betreffenden Ort gebracht worden war, also das Mitkreisen (der Bäumchen z. B) nicht die Folge einer be- stimmten Erwartung sein konnte, vielmehr auf den Einfluß der betref- fenden X-Empfindungen zurückgeführt werden mußte.

Nach ziemlich übereinstimmenden Forschungen (Groltz, Breuer, Ewald, Kreidl, Strehl , Cyon , Nagel , Barany , Abels u. A.) ist der Sitz dieses Schwindelgefühls und der damit verbundenen Reaktionsbewegungen im Tonuslabyrinth zu suchen , und dieses wird zugleich als peripheri- sches Organ des Raumsinns überhaupt bezeichnet. Allerdings scheint man dabei soweit ich unterrichtet bin, ausschließlich subjektive Reize im Auge zu haben, wie sie den Bewegungsund Lageempfindungen zu Grunde liegen, während ich mit dem Hinweis auf den X-Sinn der Blinden die Frage , auf werfen möchte , ob nicht die X - Reize als ob- jektive Reize einen wesentlichen Anteil hätten an all dem, was mit Raumsinn , statischem Sinn , Drehschwindel , Höhenschwindel und dergl. bezeichnet worden ist. Ich vermute , daß diese Reize nicht nur auf das Sensorium der Blinden, sondern wenn wir sie auch we- niger beachten und anscheinend nicht so empfindlich dafür sind auch auf das der Vollsinnigen wirken. Wo wir gehen, stehen, sitzen, liegen, fahren, wirkt unsere Umgebung (auch der Boden !) mittels der X-Reize auf uns ein. Vielleicht ist das unbehagliche Gefühl, das wir bei Drehung sowie bei Erhebung von der Bodenfläche oder an einem steilen Abhang empfinden, wesentlich mit auf die Störung, bezw. Verminderung dieser Reizwirkung zurückzuführen.

Sollten diese Vermutungen durch exakte fachmännische Forschungen auch nur teilweise bestätigt werden, so wäre damit für die Blinden und Sehenden, besonders aber für die ersteren, eine bedeutsame Beziehung räumlich zur Umgebung nachgewiesen und damit eine Korrektur, bezw. eine Bereicherung des Begriffes Raumsinn sowie unserer Einsicht in die Entstehung der Raumvorstellung überhaupt und der Raumvor- stellungen im einzelnen nachgewiesen. Der X-Sinn würde dann eines- teils auf einer erhöhten Übung im Empfinden und Verwerten einer be-

77

stimmten Gattung schwächster undeutlichster Tonintervalle beruhen, andernteils (für ßaumsinn wichtigster Teil) in einer erheblichen, eben- falls durch Übung erworbenen Verfeinerung des statischen Sinns in seiner objektiven Componente bestehen, und als eigent- liches Organ des ^.sechsten Sinns der Blinden'^ ergäbe sich der Vestibularapparat.

Zur Frage vom sechsten Sinn der Blinden.

Von Dr. Aug. Krogius, Doc. der Freien Hochschule (in St. Petersburg).

Vor kurzer Zeit ist in der Zeitschrift „Experimentelle Pädagogik", Bd. III, H. 3/4 der erste Teil der Abhandlung „Der sechste Sinn der Blinden'' von Ludwig Truschel erschienen. Da ich längere Zeit mit derselben Frage beschäftigt bin, hoffe ich durch die l^Iitteüung der Er- gebnisse meiner Untersuchung, die auf vollkommen anderem Wege, als die- jenigen L. Truschels gewonnen worden sind, zur allseitigen Beleuchtung des Problems etwas beitragen zu können. In diesem Artikel beschränke ich mich darauf, die Ergebnisse meiner Arbeit in aller Kürze zusammen- zufassen ; ausführlicher wird die Frage in meiner nach einigen Wochen erscheinenden größeren Arbeit : „Das Seelenleben der Blinden" behandelt. Ich benutze hierbei die Gelegenheit, meinen innigsten Dank meinem teuren Kollegen. Herrn Prof. Netschajew, der mir sein reichlich ausge- stattetes Laboratorium für experimentelle pädagogische Psychologie freundlichst zur Verfügung stellte, auszusprechen, Auch bin ich allen meinen Versuchspersonen, besonders aber Frl. Alexandrow, die mir bei der ganzen Arbeit behilflich war, den größten Dank schuldig.

Der Lösung der Frage über den sechsten Sinn der Blinden habe ich hauptsächlich durch vergleichend - psychologische Untersuchungen an Blinden und Sehenden näher zu kommen gesucht. Zu diesem Zweck habe ich mehrere Reihen Untersuchungen vorgenommen.

Die erste Reihe betraf die Druckempfindlichkeit der Haut bei Blinden und Sehenden. In der Stimgegend, ungefähr in der Mitte zwischen beiden Augenbrauen, wurden drei Druckpunkte mittelst des von Frey- schen Haarästhesiometers (cf. Zimmermanns Katalog, 1903, X. 400) auf- gesucht, und auf diese drei Punkte der Reihe nach (um eine Ermüdung zu verhüten) ein bestimmter Druck appliciert. Zur Untersuchung wurde Strattons Druckwage (cf. Zimmermanns Katalog, 1903, X. 408), die es

78

gestattet , den Druck ohne geringste Erschütterung zu verändern , ge- braucht. Da mittelst dieser Wage jedoch nur eine Untersuchung der Druckempfindlichkeit der Hand möglich ist, so ist der Apparat etwas von mir modifiziert worden. Die Entfernung zwischen dem druckaus- übenden Stift und dem Gestell auf welchem das zu untersuchende Glied ruht, wurde durch Anbringung eines zweiten Brettes und Verkürzung des ersten bedeutend vergrößert. Auf diese Weise konnte der Kopf der in horizontaler Lage sich befindenden Versuchsperson bequem auf das Gestell (das speziell für den Kopf verfertigt wurde) gelegt werden. Sowohl bei dieser, wie auch bei den übrigen Untersuchungen habe ich Binets Methode „der unregelmäßigen Änderungen" (Annee Psycholo- gique, 1903), die eigentlich eine Modifikation der Methode der richtigen und falschen Fälle darstellt, angewandt. Nach eigener Erfahrung stimme ich Binet vollkommen bei, daß durch diese Methode eine leichte und sichere Orientierung über die Sensibilitätsverhältnisse zu erreichen mög- lich ist. Als Normalreiz habe ich 4 Gramm genommen. Die Vergleichs- reihen wurden in einer bestimmten Reihenfolge gewechselt: 4-}-l'/2, 4 72, 4+ 1, 4 1, 4 1^2, 4-f V2. Die Applikation jedes Reizes dauerte 1^/2 Sek. ; der Vergleichsreiz folgte unmittelbar dem Normalreiz. Es wurden 10 Blinde und 10 Sehende (alles Erwachsene, 20 30 Jahre alt) untersucht, mit einem jeden wurden 60 Versuche gemacht. Die fol- genden Tabellen stellen die Zahl der von einem jeden in 10 Bestim- mungen gemachten Fehler dar, wobei die Gleichheitsurteile für '/a Fehler gerechnet wurden. (H in den Tabellen == Herr).

Blinde.

Normal- und Vergleichs- reiz

0 'S

«

OS

tu

s

s

CO

'S

0

'eS <

'S

0

ei

'S

0

'S

'S

03

Gesamtzahl d. Fehler bei jed. Vergleichsreiz

4 5,5 4 3,5 4 5 4 3 4 2,5 4 4,5

0,5 7

2,5 5 5 1

0

3,5 4,5

6

4

2,5

1,5 6 2 2 4

4,5

1,5 4

2,5

4,5 2

3,5

2

6,5

3

4

1 1,5

2,5 4

1,5 2,5 3,5 2,5

2 1

3,5 0

1,5

6

1

3

1,5 1,5

3 3,5

1.5

2,5

2

2

1,5 3

0 2,5 2 0 0 4

12,5

40

25

27,5

25,5

32

Gesamtzahl d. Fehler bei jed- Versuchspers.

21

20,5

20,0

18,0

18,0

16,5

14

13,5

12,5

8,5

162,5

79 - Sehende.

Normal- und Vergleichs- reiz

SD

o o

'S

&4

5

OD

'S

o

ab

o

Frl.A.Rütb. 11. Semljan.

Gesamtzahl d. Fehler bei jed. Vergleichsreiz

4 5,5 4 3,5 4 5

i 3 4 2,5 4 4,5

5,5 4 6

4,5 5

5.5

6 3 9

1,5 2 8

4 4 6 2 2 7,5

5 2,5 4 7 2 4

5 3 5

4 3 3

4 5 5 3

l 4,5

1,5 5 3 5,5 4,5 2,5

1,5 5 3

2,5 2 6

2 4 1 0 4 5

0,5

5,5

2

1

0,5

5

35 41

44 31 26

51

Gesamtzahl d. Fehler bei jed. Versuchspers.

30,5

29,5

25,5

24,5

23

22,5

22

20

16

14,5

228

Aas dieser Tabelle ist ersichtlicli, daß die Sehenden im Allgemeinen mehr Fehler, als die Blinden gemacht haben (228; 162,5). Anch trifft dasselbe bei jedem einzelnen Vergleichsreiz zn. Das Maximnm der Fehler bei jeder Versnchsperson ist anf Seiten der Sehenden (30.5, 29,5), das Illinimum anf Seiten der Blinden (8,5; 12,5 etc.). Bei einigen Sehenden ist jedoch die Zahl der Fehler geringer, als bei den Blinden, trotzdem erstere keine Spar des sechsten Sinnes besaßen. Es ist folglich nicht möglich den Fernsinn der Blinden darch eine Vervollkommnang der Drnckempfindlichkeit za erklären, wenngleich eine solche Yervoll- kommnang bei den Blinden tatsächlich in einem gewissen Maße statt- findet.

Th. Heller sagt in seinen „Stadien znr Blindenpsychologie" (p. 115), er vermate daß bei den Blinden die Drackempfindlichkeit der Stirn mehr, als diejenige der Hand entwickelt sei. Um diesen Satz za prüfen, habe ich eine Untersachang der Drackempfindlichkeit des rechten Zeige- fingers bei Blinden and Sehenden vorgenommen. Die Untersnchnng ge- schah ganz analog derjenigen der Drackempfindlichkeit der Stirn , nur daß für die Hand selbstverständlich eine andere Unterlage gebraucht warde. Es ergaben sicii folgende Zahlen: (Siehe folg. S.)

Wir sehen aas diesen Tabellen, daß die Blinden wiedemm in ihren Bestimmnngen weniger Fehler , als die Sehenden (167,5 j 196) gemacht haben. Das Maximum der Fehler jeder Versuchsperson ist auch hier auf Seiten der Sehenden (29,5 ; 26), das LIinimum auf Seiten der Bliaden (9,5 etc.) Jedoch ist der Unterschied kleiner, als in der Drackempfind-

- 80 - Blinde.

Normal- und Vergleichs- reiz

s

CO

Ö

w

'S

o

KD O

"08

'S

o t

4

'S

'S

o

O

'S

a

es

'S

CO

CO

Gesamtzahl d. Fehler bei jed. Vergleichsreiz

4 5,5 4 3,5 4 5 4 3 4 2,5 4 4,5

3

3 6,5

1 1,5

8

3 6,5

5

1,5 2,5

3

1,5 6

4,5

2,5 3

3,5

1,5 5

4,5 2 1

3,5

2 3,5 0,5 4,5

3

3

2,5 4 2,5 2,5 3,5 1,5

2 3 2 2 3 3

1,5 7,5

1 2 1

1

0 2 3 1 0 7

0 1 3 0

1,5 4

17

41,5

32,5

19

20

37,5

Gesamtzahl d. Fehler bei jed. Versuchspers.

23

21,5

21

17,5

16,5

16,5

15

14

13

9,5

167,5

Sehende.

Normal- und Vergleichs- reiz

CO

'S

CO

'S

bo u <v

oa 'S

<

bb

2

'S

's

o ^^ o

h4

'S

biD

2

Gesamtzahl d. Fehler bei jed. Vergleichsreiz

4 5,5 4 3,5 4 5 4 3 4 2,5 4 4,5

3

8

8

5,5

3,5

1,5

8 0,5 7,5 0,5

0 9,5

5

3 6,5

1 0,5

8

2,5 4,5 4,5 2,5 2,5 5,5

1,5 5,5 1,5 5,5 3 5

2,5

3,5

3

2

0

5,5

3 3 2 2

1 4

0 6 0 4 3 2

2 4,5

1 2,5 0,5

3

0,5

3,5

0,5

2

1 5

28

42

34,5

27,5

15

49

Gesamtzahl d. Fehler bei jed. Versuchspers.

29,5

26

24

22

22

16,5

15

15

13,5

12,5

196,0

Kchkeit der Stirn (162,5 ; 228). Demgemäß stehen sich auch die Maxima und Minima der Fehler bei den Sehenden einer- und bei den Blinden andrerseits näher. Bei den Blinden ist die Druckempfindliehkeit der Stirn größer, als diejenige des Fingers (162,5; 167,5), bei Sehenden um- gekehrt (228; 196). Hellers Vermutungen finden wir also durch diese Zahlen bestätigt.

In den letzten Jahren haben viele Neuropathologen die Härchen- empfindungen als eine besondere Art von den übrigen Tastempfindungen

81

unterscilieden. Jene sollen von den übrigen Tastempfindungen ganz un- abhängig sein. Ohne in die Diskussion dieser Frage einzugehen, er- laube ich mir die Ergebnisse meiner Untersuchung über die Empfindungen dieser Art bei Blinden und Sehenden mitzuteilen. Die Untersuchung wollte ich zuerst mittelst des elektrischen Trichoästbesiometers Bech- terews (cf. Obosrenije Psychiatrii, 1898, H. 10) vornehmen, er erwies sich jedoch als für meine Zwecke unbrauchbar, da die von ihm hervorge- rufenen Reize zu stark waren , und bei dem Schluß des Stroms ein starkes Geräusch entstand, das höchst störend auf die Aufmerksamkeit der Versuchsperson wirkte. Darum bediente ich mich einer höchst ein- fachen Modifikation dieses Apparates. Mein Apparat bestand aus einem ungefähr 1 '/s cm. langen , sehr feinen Härchen einer Daunfeder , dessen Ende ich in eine Klemme mit einem langen und dünnen Handgriff be- festigte. Indem ich letzteren in die Hand nahm, führte ich mit dem freien Ende des Härchens einen ungefähr 1 cm. langen Strich über die Hand der Versuchsperson: die Berührung war so leicht, daß das Här- chen eine kaum merkbare Krümmung bekam. Die Versuchsperson wurde gefragt, ob sie eine Berührung gefühlt habe, und im Falle einer be- jahenden Antwort mußte sie die berührte Stelle mit dem Finger zeigen. Er erfolgten die Berührungen an folgenden 6 Stellen: 1) Über der Mitte der Augenbrauen, auf der ^,2 Höhe der Stirn, 2) in der Mtte zwischen beiden Augenbrauen, 3) am oberen Lid, 4) ungefähr 1^/2 cm. unter der Glitte des unteren Lids, 5) etwas über der Mitte der Nasen- mundfalte , 6) in der Schläfengegend. Jeder Punkt wurde 10 mal ohne bestimmte Reihenfolge berührt. Die Zahlen I, II, III, IV, V und VI entsprechen den obengenannten Punkten. Die Zahl der Fehler, d. h. derjenigen Fälle, wo die Berührung nicht gefühlt worden ist, ist in folgenden Reihen angegeben. (Siehe folg. Seite).

Aus dieser Untersuchung folgt, daß die Blinden eine höhere Här- chenempfindlichkeit, als die Sehenden besitzen. Der L^nterschied ist je- doch auch in dieser Hinsicht kein so auffallender, daß man durch ihn den Fernsinn der BHnden erklären könnte viele Sehende machten bei diesen Bestimmungen ebensoviel Fehler , wie die Blinden , trotzdem sie keinen Fernsinn besassen.

Schließlich habe ich noch den Temperatursinn bei Blinden und Se- henden untersucht. Zu diesem Zweck bediente ich mich der Heizspitzen Kiesows (Zimmermanns Katalog 1903, X. 397), die mit Wasser ver- schiedener Temperatur gefüllt wurden. Die Reize wurden etwa V2 cm. nach unten und lateralwärts von der medialen Falte des rechten Augen- lids applicirt, an eine Stelle mit sehr entwickeltem Temperatursinn (cf.

Meumann, Exper. Pädagogik. V. Band. 6

- 82 - Blinde.

Berührte Stellen

'S 'S

a

'S 'S

70 O

s

'S

o

'S

CO

a

s

o

Oh

'S

Gesamtzahl d. Fehler bei jed. berührt. Stell.

I II

in

IV

V VI

1

2 8 2 0 5

0 1

9

1 3 4

3 2 7 2 2 2

0 2

7

0

3 0 7 0 4 2

3 0 6 0 3 2

2

1 5 0 0 2

0 0 4 0 0 2

1

5

3

'S

12 8 53 11 12 21

Gesamtzahl d. Fehler bei jed. Versuchspers.

18

18

18

17

16

14

10

6

117

Sehende.

s

o3

bJb

o

!«i

^

äo

o

CfS

Gesamtzahl d.

Berührte Stellen

<

S

o cn

<5

^

03

o

0)

Fehler bei jed.

'S

K

'S

'S

öi

berührt. Stelle

I

5

9

1

8

2

1

1

3

5

3

38

II

0

3

0

2

4

0

0

0

0

0

9

III

10

10

10

10

7

9

10

8

7

9

90

IV

4

0

0

2

3

0

6

2

0

1

18

V

9

0

8

2

5

8

4

4

5

3

48

VI

2

6

6

0

3

4

0

0

0

0

21

Gesamtzahl d.

Fehler bei jed.

30

28

25

24

24

22

21

17

17

16

224

Versuchspers.

Physiologie der Hautsinnesnerven von Prof. Groldseheider, 1898, Bd. II, p. 168. Cf. auch beigelegte Tabelle - Topographie des Kältesinns). In dieser Gegend wurden 3 Kältepunkte aufgesucht, und auf diese der Reihe nach (um die Ermüdung zu verhüten) die Kiesowschen Heizspitzen appliziert. Die Applikation jedes Reizes dauerte 1,5 See, das Intervall zwischen der Applikation des Normal- und Vergleichsreizes war 15 See. Bei den Vorversuchen erwies sich, daß sogar bei geringer Vergrößerung •des Druckies die Temperaturunterschiede bedeutend besser aufgefaßt

83

wurden. Damm erschien es notwendig, den Druck der Heizspitzen konstant zu machen, was bei AppKkation mittelst der Hand vollkommen unmöglich war. Ich schlug folgendes Verfahren ein. Die Versuchs- person legte sich auf ein Bett, unter den Kopf wurde ein kleines Kissen untergelegt. Die Heizspitze wurde an einen Hebel einer sehr empfind- lichen Apothekerwage aufgehängt; letztere wurde durch die den an- deren Hebel belastenden Aufsatzgewichte zuerst ins Gleichgewicht ge- bracht, wonach von den Aufs atzgewichten 2 Gramm fortgenommen wurden. Die am anderen Hebel aufgehängte Heizspitze wurde auf einen der vorher bestimmten Kältepunkte appliziert (wobei der Zeiger der Wage auf 0 stehen blieb), und übte folglich auf letzteren einen konstanten Druck von 2 Gramm aus. Das Verhältnis der Normal- zur Vergleichs- reihe ist in den folgenden Tabellen angegeben. Wegen der Schwierig- keit der Experimente wurden mit jeder Versuchsperson nicht 60, son- dern nur 30 Versuche gemacht, die Zahlen bedeuten also die Fehler in je 5 Bestimmungen.

Blinde.

Vergleichs- u. Normalreiz

'S

w

'S

< '^ i

'S

'& o O

'S

4

BD

■s

'S

Frl.Klotsch.

o .

c

so

E=4

00

es

Gesamtzahl d. Fehler bei jed. Vergleichsreiz

29,6 29 28,8 29 29,4 29 28,6 29 28,4 29 29,2 29

1,5

2,5

4

1

1

1,5

1

2 4 2 1 1,5

1,5

3 2,5 1,5

1 1,5

0,5

1,5

2

2

2

2,5

0,5 3,5 1 2 0 3

0 2 2 2 0 3

2 2 2,5 0 0 2

0,5

3

1

1.5

2,5

0

0 2,5 0,5

2

1 2

1 1 0 0 2

4

8,5 23 19,5 14 10,5 21

Gesamtzahl d. Fehler bei jed. Versuchspers.

11,5

11,5

11

10,5

10

9

8,5

8,5

8

8

96,5

Auch bei diesen Versuchen haben wir ein Resultat, das den früheren ganz analog ist die Zahl der Fehler ist bei den Sehenden größer, als bei den Blinden (108 ; 96,5). Das Maximum ist wiederum auf Seiten der Sehenden (13; 12,5; 12), das Minimum auf derjenigen der Blinden (8; 8; 8,5). Aber auch hier finden wir, daß die Zahl der Fehler bei Blinden und Sehenden sich nicht dermaßen unterscheidet, daß wir dui'ch eine besondere Verschärfung des Temperatursinns den sechsten Sinn der

84 Sehende.

Vergleichs- u. Normalreiz

< 'S

<

bc

03

'S

bo

o u W

PQ

K

bc <u CQ

^

'S

bb

2

w

J3

od

CO

o o

CO

1'

CO

Gesamtzahl d. Fehler bei jed. Vergleichsreiz

29,6 29

2

1

3

3

3

2

2

0,5

2

1,5

20

28,8 29

2

4,5

1,5

2,5

1,5

2

3

2,5

1

3,5

24

29,4 29

3

0,5

2

1

2,5

2

2

1,5

2

1

17,5

28,6 29

2

2

2

2,5

1

2

0

1,5

2

1

16

28,4 29

1

1,5

1,5

0

1

1

2

1

0

0

9

29,2 29

3

3

2

2,5

2

2

1

2,5

2,5

1

21,5

Gesamtzahl d.

Fehler bei jed.

13

12,5

12

11,5

11

11

10

^

9,5

8

108

Versuchspers.

Blinden erklären könnten. Bei dieser Untersuchung haben wir uns je- doch der gewöhnlichen punktförmigen Reize bedient. Es ist aber be- kannt, daß den Temperaturreizen eine kumulative Wirkung eigen ist. Das klassische Beispiel hierfür ist der Versuch mit dem Eintauchen der Daumen in kaltes resp. warmes Wasser : taucht man beide Daumen ein, so ist die Temperaturwirkung intensiver, als es beim Eintauchen eines Daumens der Fall ist (cf. Sanford Cours de psychologie experimentale, 1900, p. 11). Die Anwendung der pimktförmigen Reihe war folglich für die Charakterisierung des Temperatursinns ungenügend. Es wäre ja leicht möglich, daß der Unterschied in der Temperaturempfindlichkeit vom Prozeß der Kumulation eine weitere Vergrößerung erhielte. Ich habe darum noch andere Reize gebraucht. Ich nahm einen Metallzy- linder von ungefähr 8 cm. Diameter , mit dünnen Wänden auf einer un- gefähr 30 cm. langen Grlasstange befestigt, einen von solchen , die von Physikern zur Untersuchung der strahlenden Wärme gebraucht werden. Die eine Seite dieses Zylinders war weiß, die entgegengesetzte schwarz. Nachdem ich das untere Ende der Glasstange in die Hand nahm, näherte ich ganz lautlos den Zylinder, der entweder leer, oder mit Wasser von Zinmiertemperatur , oder endlich mit Wasser von 42" C. gefüllt war, dem Gesichte der Versuchsperson. Die Geschwindigkeit der Annäherung war ungefähr 1 Meter in 50 60 Sekunden. Die Zahlen in den folgenden Tabellen bedeuten die Entfernung in cm. , in welcher die Annäherung des Zylinders richtig bestimmt wurde. Jede Zahl stellt das Ergebnis aus 8 10 Versuchen dar.

- 85 Blinde.

u

o

•g

'S

a 'S

1X4

E»4

O

ao

o c

<

'S

hin

'S

Frl. Kusn.

c

ei

!Z4

C S3

Leerer oder mit

"Wasser V. Ziminer-

temperat. gefüllt. Zylinder

13

13,5

13,5

14

16,5

17,5

19,5

19,5

22,5

37,5

47,5

21,3

Mit 42° C Wasser

gefüllter Zylinder

20

24

25

26

29

30

31,5

33,5

31,5

57,5

62,5

33,7

Sehende.

u

.2.

o

est okol.

2

O

.2

.H-

Gesamt-

M

es

B

S^

f^

CO

tS

00

<

'.^

<

1-3

OQ

;

s

>.:]

ergebnis

K

W

S

Pm

£

£

h N

Leerer oder mit

"Wasser V. Zimmer-

temperat, gefüllt.

Zylinder

0,5

0,5

0,5

0,5

0,5

1

1

1

6,5

9

2,1

Mit 42« C "Wasser

gefüllter Zylinder

9

11

12,5

13,5

13,5

11

11

13,5

17,5

22,5

13,5

Wir seben ans diesen Tabellen, daß der IJnterscliied zwischen den Blinden und Sehenden stark ausgeprägt ist, Die am genauesten die Annäherung des Apparates bestimmende Frl. Philip, ist Lehrerui im Blindeninstitut und giebt an, daß sie den Fernsinn hat sie kann sich z. B. frei im dunklen Räume mit geschlossenen Augen bewegen , ohne anzustoßen. Frl. Alex, konnte nicht genau angeben , ob sie auch den Femsinn besitzt, doch scheint es auch bei ihr, wenn auch in geringerm Grade, der Fall zu sein. Aus der Tabelle ist außerdem ersichtlich, daß die Intensitäten des Fernsüms im ersten und zweiten Falle (die Be- stimmung der Annäherung des leeren und des von 42" C warmen Zy- linders) einander genau proportional sind. Da sich der zweite Fall vom ersten nur durch intensivere Temperatureinwirkung unterscheidet, so können wir schließen, daß der Femsinn eine Funktion des Temperatur

86

sinns ist. Es ist vielleicht noch von einiger Bedeutung hervorzuheben, daß in den meisten Fällen die Blinden die eben empfundene Annäherung des 42" C warmen Zylinders ganz ebenso wie diejenige des leeren Zy- linders beschrieben „sie fühlten einen Schatten".

Daß wir hier keine Wirkung der Bewegung der Luft haben, stellte ich auf folgende Weise fest. Ich lenkte die Aufmerksamkeit der Blinden durch ein Gespräch ab und brachte unterdessen den Zylinder in eine Entfernung, die etwas kleiner als die der eben wahrnehmbaren Annähe- rung entsprechende war. Der Blinde merkte in der Regel diese An- näherung nicht. Alsdann brach ich das Gespräch ab und bat den Blinden zu sagen, ob ein Gegenstand vor ihm sei. Trotzdem, daß sonst der Blinde, wie auch der Apparat sich in Ruhe befanden, fand die Bestim- mung statt.

Es schien mir folglich eine enge Beziehung zwischen dem Tempe- ratur- und Fernsinn vorhanden zu sein. Ich konnte nicht vermuten, daß wir hier mit irgend einer anderen Temperatur Wirkung als derjenigen der strahlenden Wärme zu tun haben. Um diese Frage weiter aufzu- klären, habe ich folgende Versuche vorgenommen. Ich kehrte den in eine verhältnismäßig nahe Entfernung gebrachten Zylinder abwechselnd mit seiner schwarzen und mit seiner weißen Wand zur Versuchsperson. Die Sehenden erhielten verschiedene Empfindungen meist nur dann, wenn der Zylinder mit Wasser von 42" C gefüllt war. Die BKnden aber er- kannten einen Unterschied auch beim leeren oder mit Wasser von Zimmertemperatur gefüllten Zylinder. Wurde letzterer zu ihnen mit der schwarzen Seite gekehrt, so bestimmten fast alle Blinden mit voll- kommener Sicherheit, daß der Gegenstand zu ihnen näher sei, als dann, wenn er zu ihnen mit der weißen Wand gekehrt war. Da in diesen Versuchen nichts außer der Intensität der Wärmeausstrahlung (von der schwarzen resp. weißen Wand) geändert wurde, so beweist dieser Ver- such aufs augenfälligste die Abhängigkeit des Fernsinns von der Ein- wirkung der strahlenden Wärme der Gegenstände.

Man könnte mir vielleicht erwidern, daß der von mir untersuchte Fernsinn nur für eine geringe Entfernung (Maximum auf 62 cm.) galt. Dagegen muß ich hervorheben, was ich schon einmal gesagt habe und was durch meine Versuche bestätigt worden ist man darf nicht die cumulative Wirkung der Temperaturreize vergessen. Ich habe mit einem verhältnismäßig kleinen Gegenstande (8 cm. Diameter) experimentiert. Je größer der Gegenstand, desto größer seine Wirkung. Größere Gegen- stände können folglich in größerer Entfernung wahrgenommen werden. Ich gebe aber gerne zu, daß der Fernsinn nicht nur durch den Tempe- ratursinn bestimmt wird. Eine wesentliche Componente mag wol der

87

Gehörsinn abgeben. Schon Heller hat es in seinen Studien zur Blinden- psychologie (cf. p. 113 und ff.) festgestellt. Besonders lehrreich in dieser Beziehung ist der soeben erschienene erste Teil der Untersuchungen Truschels.

Mit dieser Annahme stehen jedoch die Ergebnisse von Griesbachs Ar- beit: Vergleichende Untersuchungen über die Sinnesschärfe Blinder und Sehender (Archiv für die gesamte Physiologie, Bd. 74) in krassestem Widerspruch. In dieser Arbeit, die so warm von vielen Typhlopäda- gogen begrüßt wurde, beweist Griesbach, daß nicht nur keine Verfeine- rung der Sinne, sondern im Gegenteil, eine Herabsetzung deren Funktion bei den Blinden zu konstatieren sei. Das betrifft auch den Gehörsinn. ;,In Bezug auf die Bestimmung der Schallrichtung besteht kein erheb- licher Unterschied zwischen Blinden und Sehenden ; eine kleine Differenz spricht mehr zu Gunsten der Sehenden (p. 608)", behauptet Griesbach. Fragen wir jedoch nach der Methode, mit HüKe deren dieser Satz fest- gestellt worden ist, so erweist sie sich als eine etwas zweifelhafte. Beim Ertönen eines Signals streckte die Versuchsperson den Arm mit geballter Faust horizontal nach derjenigen Richtung, aus welcher sie den Schall wahrzunehmen glaubte. Die Visierlinie wurde zwischen der Ohrmuschel der Versuchsperson und dem Capitulum meta carpi ihres in die Vola eingeschlagenen Mittelfingers gezogen.

Als ich meine Untersuchungen über den Gehörsinn der Blinden be- gann, schlug ich Griesbachs Methode ein, aber überzeugte mich nach wenigen Vorversuchen, daß sie mir keine Lösung der Frage geben könne. Bei ihr werden erstens die kinästhetischen Empfindungen der Blinden in Anspruch genommen ein neues Moment, das zur Funktion des Gehörsinns hinzukommt, und von Griesbach gamicht in Betracht ge- zogen worden ist. Zweitens habe ich mich überzeugt, daß die Blinden überhaupt sehr schwer begreifen, was es bedeutet, in der Richtung eines bestimmten Gegenstandes die Hand auszustrecken sie stellen sich nicht klar vor, in welcher Beziehung die Richtung der Hand (desto mehr der von Griesbach gebrauchten Visierlinie) zur Lage des Gegen- standes stehen kann. Die Raumvorstellungen der Blinden haben viel Eigentümliches, die Frage über das Verhältnis der verschiedenen Rich- tungen ist für sie besonders kompliziert. Darum konnte Griesbachs Untersuchung auch zu keinem sicheren Resultat führen.

Ich habe den Gehörsinn der Blinden auf andere Weise untersucht. Hier fasse ich nur ganz im Allgemeinen die Ergebnisse meiner Arbeit zusammen. Die Untersuchungen wurden zuerst an einem freien Platze, mit einem Radius von ca. 8 Meter vorgenommen. Als Reize wurden zuerst ein starker Pfiff und dann lautes Rechnen (bis fünf) gebraucht.

88 -

Der Normalreiz wurde in der Richtung von 90" (als die frontale Richtung linker Hand gerechnet, also 90° = sagittale Richtung), von 135° (d. h. mehr nach rechts), und von 180° (in frontaler Richtung, rechts) gegeben. Der Vergleichsreiz wurde nach der Methode der Minimal- änderungen etwas mehr nach rechts oder nach links, als der Normalreiz geliefert, wobei die Versuchsperson nur wörtliche Bestimmungen geben mußte: „Zweiter Pfiff mehr nach rechts, oder mehr nach links, oder in derselben Richtung, wie erster" etc. Jede Versuchsperson hat im Mitt- leren ca, 150 Bestimmungen gemacht. Es wurden 20 Blinde und 20 Sehende (Mädchen, durchschnittlich 14 15 Jahre alt) untersucht. Dabei ergaben sich für die Raumschwelle der Lokalisation der Gehörseindrücke folgende Zahlen :

Blinde

Sehende

Stimme

Pfiif

90°

135°

180°

90"

135°

3,9

4,8

9,9

6,5

8,0

6,6

11,3

18,2

10,9

16,1

Aus dieser Tabelle, die anf Grrund etwa von 6000 Versuchen zu- sammengestellt worden ist, sehen wir , daß die Schwelle bei den Sehenden bedeutend größer ist. Mit dieser Untersuchung konnte ich mich jedoch nicht begnügen. Erstens, konnten die objektiven Reize nicht immer gleichgemacht werden sowohl die Stimme, wie auch der Pfiff wechselten fortwährend. Außerdem schien es mir notwendig, bei der Methode der Minimaländerungen sehr große Abweichungen als zufällig zu betrachten und sie außer Betracht zu lassen. Darum habe ich eine zweite Untersuchung vorgenommen, mit objektiv vollkommen gleichen Reizen, nach Binets Methode der regelmäßigen Änderungen. Es wurde ein Viertelkreis mit einem Radius von ungefähr l^/o Meter aus Stahl verfertigf, auf einem massiven Stativ derart angebracht, daß er in allen Richtungen gestellt werden konnte. Längs dieses Kreises konnte eine elektrische Glocke leicht verschoben werden. Die Versuchsperson setzte sich ins Zentrum des Kreises und letzterer wurde auf das Niveau der Ohren gehoben und in horizontale Lage gebracht. Die Untersuchung wurde bei der Lage des Normalreizes 45° (als wiederum die frontale Richtung linker Hand gerechnet) vorgenommen. Jeder Reiz dauerte etwa eine Sekunde, der Intervall zwischen beiden Reizen etwa ebenso- lange. Es wurden 30 Blinde und 30 Sehende (wiederum Mädchen von durchschnittlich 14 15 Jahren) untersucht. Eine jede Versuchsperson

89

hat 60 Messungen gemacht. Jede Zahl folgender Tabelle stellt die mittlere Zahl der Fehler auf 10 Bestimmungen dar.

Vergleichsreiz

Gesamtergebnis

cnalreiz 45'*

50« (+ )

44'-' (— P) , 48« (+ 3") 42» (_ 3«) ^ 400 (- 5«) 46° (-f P)

(auf je 60 Bestimmungen)

durchschnittlich

],^

0,67

3,0

1,67

2,1

1,47

3,27

12,2 Fehler

W

2,45 ir sehen .

4,5 die An

3,8 er a h e n (

2,82 ier Seh

1,98 enden e

4,6 n thalte

20,2 n mehr

Fehler, als diejenigen der Blinden. Die Behauptung Truschels, der den Fernsinn auf die Verschärfung des Grehörs zurückführt, stößt also keineswegs auf Widersprüche.

Zweifellos ist aber bei dem Fernsiun auch dem Temperatursinn etue große Rolle einzuräumen. Die Bedeutung des Gehör- und Temperatur- sinns wechselt bei verschiedenen Individuen, wie auch aus den oben an- gefürten Tabellen über den Temperatursinn klar hervorgeht. Denselben Eindruck habe ich auch aus den subjektiven Angaben der Versuchsper- sonen erhalten. Ein interessantes Zeugnis der individuellen Differenzen in betreff der verschiedenen Bedeutung für den Fern-, des Gehörs- resp. den Temperatursinn giebt uns Le^^'^ in seinem Buch: ,,Blind and the Blindness" (p. 64 u. ff.). Bei Levy ist der sechste Sinn vorzüglich auf den Temperatur-, bei Kilburne auf den Gehörsinn zurückzuführen. (Eingegangen den 25. Dec. 1906).

Erziehung eines anormalen Mädchens.

Von L. M a a r e r , Langenzenn bei Fürth (Bayern).

Im Oktober 1905 sah ich ein Mädchen, dessen auffallendes Benehmen mir sofort das anormale Kind verriet. Der Vater bemerkte meinen fragenden Blick und bald wußte ich, daß das Mädchen für hochgradig schwerhörig gehalten wurde. Tatsache war, daß es sich nur sehr schwer verständlich machen konnte. Ich beschloß, das Mädchen zu unterrichten. Das Kind ist schön, 8V2 Jahre alt, hat rotblonde Locken, ist sehr kräftig entwickelt, in seinen Bewegungen äußerst gewandt, im Verkehr

90

mit den Kindern als „böse" bekannt, d. h. es verteidigt sein Recht. Gar mancber größerer Junge hat einen derben Puff von ihm davongetragen. Ich möchte fast sagen, im Verkehr mit ihresgleichen, in ungebundener Freiheit gleicht sie mit ihren großen leuchtenden Augen mehr einer wilden Katze. Ihr Wille ist scharf ausgeprägt, das Gemütsleben innig, teilnahmsvoll, mitleidig, sie fühlt des Anderen Schmerzen, Freude und Leid. Sie ist äußerst ordnungsliebend und lernbegierig. So kam das Mädchen Grethl zu mir. Nach eingehender Prüfung ihres Wort- schatzes und des Vermögens, denselben und damit sich selbst anderen mitzuteilen, kam ich zu einem vernichtenden Resultat. Grethel war arm , sehr arm an Begriffen. Sie konnte sich nur mit ihrer nächsten Umgebung verständigen. Fragte sie ein der Familie Fremder, so gab sie gar keine Antwort, schaute die Frager selbst mit ihren großen Augen fragend an und lief davon. Es kostete große Mühe, das Kind zum Sprechen zu bringen. Wo ich anpackte, was ich fragte nirgends irgend welche Reagenz. Rudimente des Wortschatzes gleich alteriger Kinder sonst nichts. Sie nannte den Tisch = Stuhl , die Leute = Papa, die Großmutter = Eibahn (Eisenbahn). Dabei war ihr Reden, ihr Sprechen ein hervorquellendes Kauderwelsch; es kam mir vor, als wenn das Kind die Worte sprechen wollte, aber sein Vermögen nicht ausreiche. Die Eltern hielten das Kind für fast taub und sprachunfähig. Grethl besuchte die Schule, mußte jedoch und das ist selbstver- ständlich — die Klasse repetieren und müßte sie immer repetieren, wenn ihr nicht geholfen worden wäre.

Die bange Frage für mich war die: Wo einsetzen? Das war mir zur Gewißheit gekommen, daß Grethl nicht so schlecht hört, wie die Eltern angenommen haben. Das Kind war fast begriffios. Das be- stärkte den Glauben, als wäre es wirklich in einem sehr hohen Grade taub. Nachdem mir einmal diese Tatsache zur Gewißheit geworden war, ging ich rücksichtslos auf das Ziel zu, den Bewußtseinsinhalt des Kindes mit Begriffen zu bereichern. Welchen Bewußtseinsinhalt ein vorschul- pflichtiges normales Kind hat, habe ich schon des öfteren erörtert z. B. in der Zeitschrift für Psychologie und Pathologie von Kemsies. Eine weitere Abhandlung über das Anschauungsvermögen des 6 jährigen Kindes erscheint demnächst in dieser Zeitschrift und eine dritte Arbeit liegt in ihrer Analyse vor mir : der Bewußtseinsinhalt eines 5 jährigen Kindes. Praktisch führte ich den Vergleich zwischen dem Begriffsinhalt eines 2 jährigen Kindes und dem der anormalen Grethl durch. In der Quan- tität war das '2jährige Kind überlegen, in der Qualität und Intensität Grethl.

Grethl kannte die meisten Buchstaben ; eine Anzahl kleiner und die

91

größere der Großbuchstaben fehlte. Diese Tatsache legte die Diagnose klar, daß Grrethl nicht so schlecht hören könne. Denn entgegengesetzten Falles hätte sie im Massenunterricht nicht einmal die wenigen Buch- staben kennen gelernt, sie gab ferner Winke zu erfolgreicher Behand- lung. Die Schrift war gut. Mit Hilfe dieser wenigen Kenntnisse ließ sich schon etwas bewerkstelligen. Der Unterricht erstreckte sich diesen Tatsachen entsprechend auf: Sprechen, Lesen, Schreiben und Anschau- ungsunterricht. Nach 6 "\r\'ochen schon konnte ich „Rechnen" hinzu- nehmen und nach 8 Memorieren. Als Lesebuch diente mir das „Brügge- mannsche" nach phonetischen Prinzipien eingerichtete. Als Anschauungs- mittel benützte ich die „Bilder zum ersten Anschauungsunterricht für die Jugend von Eduard Walther, Direktor der Königlichen Taubstummen- anstalt zu Berlin". Nebenbei bemerkt: Eine für derartige Zwecke ge- radezu mustergültiges Werk.

Zuerst wollte ich mir genau notieren, welchen Wortschatz das Kind eigentlich in sich berge. Da ich aber wie schon bemerkt zu meiner größten Verwunderung erkannte, daß der Bewußtseinsinhalt ein ganz minimaler sei, schrieb ich mir das auf, was Grethel nicht wußte. Hier folgen die negativen Ergebnisse der ersten Tage :

Das Kind wußte nichts von: Star, Speise, Traum, Schlaf, Wand, Spiegel , Tisch , LeLnstuhl , Sofa , Ofen , Kachel , Klavier , Waschtisch, Flasche, Strauß, Veüchen, Fell, Wald, Wolle, Wolke, Wirt, Hals, Finger, gelb, Wolf, Flügel, Stiefel, dort, Zwirn, Ferse, kurz, werfen, Mark, klopfen, wie, wo, Aste, später, Gras. Türe, spritzen. Fleisch, Zähne, Schnupfen, Zigarren, Tabak, Thee, Gewehr, Joppe, Jahr, Woche, Tag, Monat, rechts, links, Absatz, Spitze, Schmied, Semmel, Scheune, Sonne, Spazierstock, Zähne, Stirn, Zehe, Zündholz, (kennt keinen Vogel) vier, Baum, Kirche, Turm, Schmied . Dach, Brücke, Kopftuch, Wochentag, hören, sehen, riechen, gehen, Dreschflegel. Ziege. Xase, Schwanz, Deichsel, Stnnde, Gans, Flügel, Frühstück, Fußboden, Decke, Krug, Straße, hobeln, Bauer.

Nun lasse ich diejenigen Wörter folgen, von denen Grethel eine Erklärung gab :

Lampe = das ist Licht.

Tisch = Stuhl.

Lehnstuhl = Sofastuhl (nachdem der Begriff Sofa gegeben war).

Zeitnng = Papier.

Pfanne = Teller.

Beil = Messer.

Reibeisen = Mein Mariele sein Zwieback.

92

Laterne = Licht.

Greld = kaufen.

Speise = Fleisch.

Bier = Seidle Bier essen.

Säbel = Messer.

Schankel = Karussell.

Feuer = grennt (brennt).

Herr = Küche.

Großmutter = Eisbahn (Eisenbahn).

Otto = weiter Weg.

Papa = Grrathaus (Rathaus).

(Eine Freundin der Mutter heißt Wagenhöfer) = schöne Frau.

Baum = Holz.

Fehler, entstanden durch Klangassoziationen. Schule = Stuhl; erst nach längerem Besinnen wo bei die Stuhl drin is, is Schule.

Veilchen = Feuer (Klangassoziation = ei).

Fell = Löffel (Silbenassoziationsklang feil).

Wald = Tafel (a).

Hals = heiß (Klangassoziation = Holz).

gelb = Geller (soll Teller heißen).

dort = Storch (o).

Zwirn (Bim) Suppe.

Ferse = Vogel.

kurz = Suppe.

Einschaltung: von kurz oder lang kein Verständnis; ebenso- wenig von kürzer oder länger.

werfen = waren.

Äste = essen.

spritzen = schwitzen.

Scheune = schneien.

vier = führen.

Zähne = Sehne (beides ohne reale Bedeutung).

Spazierstock = was spüren.

Zähne = zehn.

Hobeln = Ofen.

Abel = Tafel.

Ich komme jetzt auf die Aussprache selbst. Es war dem Kinde unmöglich, den „k-Laut" hervorzubringen, wenn k verlangt wurde. An-

93

dererseits sprach es das k, wenn es dasselbe nicht hervorbringen sollte, so vor r und Dr. =

statt Blume sprach es krume

V

drei

n

JJ 'krei

JJ

Frau

7}

krau

}}

Bube

JJ

JJ C^uge

7)

BriUe

JJ

Grille

n

r

JJ

n kr

JJ

rau

JJ

krau

»

rei

JJ

v krei

JJ

rein

JJ

j, krein

JJ

Rind

JJ

Tind

JJ

brin^^t

JJ

kringt

JJ

drauf

JJ

krauf

JJ

braut

JJ

brauk

JJ

treu

JJ

- kreu.

Sodann setzt es vor manche Konsonanten den „S-Laut" oder „Seh''. Z. B. statt Töchter = Stöchter

Knaben = Schnaben

kneife = schneife

j, knote = schnote

Nase = Schnase

Der G-Laut wird zum „K^-Laut, wenn auf g Vokal folg t. Umstellung der Laute.

Statt Schreibtisch = breischtisch

blase = balse

trage = targe

ji Fleisch = schleisch

eitel = eitle

naseweiß = anseweiß

fließen = fleißen

Fleisch = schleif

Thee = et

Krug = urgk

Teppich = keppi.

Sie bringt oft das „F" im Auslaut nicht deutlich hervor so: Feuer assoziiert :

grennt statt brennt.

94

Auch erscheint bei dem achtjährigen Kinde noch das „d" des An- fangsstadiums im Sprechen : Statt Gaul = Daul

Fußboden = Dudoden. Flexion keine Spur

Geld kaufen, Bier 10 Pfg.

ich hab 1 Karussell fahr

Hab mein Kaffee trunkt

hat mein Papa mitbringt

Wo was der Bu?

Die Anwendung des Artikels war äußerst mangelhaft, am häufigsten gebrauchte sie den weiblichen Artikel: die.

Geradezu auffallend ist der vollständige Mangel irgend welcher Zeitbestimmung. (Beute ist der 7. April). Bis 1. April wußte sie noch nicht den Unterschied zwischen Tag und Nacht, Vormittag und Nach- mittag, kannte weder die Wochentage noch die Monate , weder Jahres- zeiten noch Feste.

Nun hatte ich diesen fast leeren Kopf zu füllen, dem Bewußtsein Inhalt zu verschaffen. Gerade mit einem Abschnitte fertig, fühle ich den Drang in mir, die schöne Arbeit in ihrem Anfangsstadium schriftlich niederzulegen.

Aus dem bereits dargelegten , geht klar hervor , daß sich die Ge- samtarbeit in zwei Hauptgruppen zu teilen hatte :

1. in Sprechübungen

2. in Sprachübungen. Selbstverständlich ist hier mit dem Worte „Sprach" nicht Gram- matik gemeint, sondern die Sprache als der Ausfluß des Wortschatzes. Weil dieser nur in minimaler Quantität vorhanden war, mußte er erst beschafft werden. Damit er in seiner Qualität rein aufgespeichert werden konnte, mußten die Sprechübungen vorausgehen und die Sprachübungen dieselben nur insoweit begleiten, als bestimmte Wärter als solche be- zeichnet werden konnten, die Grethel auszusprechen vermochte.

Die Sprechübungen.

1. Daß die Fehler, die Grethel im Sprechen kund gibt, auf physio- logische Ursachen zurückzuführen sind, ist klar. Doch waren diese krankhaften Erscheinungen nicht von so tiefgehender Natur, als daß ich wirklich ernste Bedenken über die Heilung derselben hegte, obwohl die Eltern das Grundübel ihres pathologischen Kindes eben in diesen

95

Erscheinungen erblickten. Meine Diagnose war richtig. Nach 5 monat- lichem Unterricht sprach das Kind lautrein. Ich wendete dabei ver- schiedene Kunstgriffe an, die ich ja als bekannt voraussetzen darf! Ich verweise an dieser Stelle auf den Vortrag , den Albert Liebmann am 7. Febr. 1902 im Verein für Kinderpsychologie zu Berlin gehalten hat. (Zeitschrift für „Pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene" von Kemsies IV 19U2 S. 97—120).

Nachdem ich konstatieren konnte . daß kein Laut mehr versagte, wußte ich, daß im Sprachorganismus selbst nichts Krankhaftes zu ent- decken sei. Diese Lautverstümmelungen, wie „z" statt „p**, „s" statt „sch^, „1" statt „r" erscheinen auch bei normalen Kindern während der Periode des Sprechenlernens. Wenn auch der „K"-Laut vor dem „R"- Laut noch oft erschien, trug ich keine Bedenken, daß der „R^-Laut nicht doch zuletzt noch rein erscheinen würde. Eine fortgesetzte Übung in dem Sprechen des „R" mit Anweisung auf den richtigen Ansatz, die Übung in der Embouchure, in der besonderen Art und Weise , wie die Instrumente (hier die Einzelsprachorgane) zur Hervorbringung des ge- wollten Lautes zu gebrauchen seien , half bald über die Schwierigkeit hinweg.

Ein Berühren des Kehlkopfes erzeugte statt T (in Kind) lautrichtiges -K". In Verbindung hiermit förderte die Übung in der Embouchure die Umwandlung des „krauf" in „drauf".

Die Anwendung des weichen „sch^-Lautes vor dem „h^-Laut deutete ich auf ein von Grethel selbst erfundenes Hilfsmittel, um das „h" wirk- lich hervorzubringen.

Aus der Tatsache , daß einzelne Laute in verschiedenen Zusammen- setzungen richtig zum Ausdruck kamen, während sie dort, wo sie wirklich angewendet werden sollten, versagten, schloß ich, daß dies in der Schwierigkeit Worte zu bilden seinen Grund haben müsse. Z. B. vor „R- spricht das Kind den „K^-Laut rein und richtig aus. In dem Worte „Kind" wird das „K" zu „T" in „Katze" zu „H" = Hatze.

In „Bube" wird das B im Anlaut zu (x = Guge, während „Gold" wie „Hold" gesprochen wird. Es ist demnach die Diagnose richtig, daß die Einzelorgane des Sprechorganismus gesund sind. Die mangelhafte Aussprache liegt in der Unfähigkeit, Laute zum Worte richtig zu ver- binden. Das Hauptübel liegt also nicht in der Aussprache der Laute, sondern in der mangelhaften Fähigkeit Worte zu bilden.

Klar und deutlich tritt diese Tatsache vor Augen, wenn wir die Entwicklung des Kindes in dem Stadium verfolgen, innerhalb dessen es Worte zu bilden hat.

96 -

Wie schon eingangs bemerkt, benützte ich das Brüggemansche Lese- buch, das auf phonetischer Grundlage aufgebaut ist.

Im Anschluß an die 5 Vokale werden hier die Konsonanten in Ver- bindung mit den einzelnen Vokalen geübt ; z. B. a am ma mam mama am a alla ala lala a r u. s. w. Ebenso mit o u a e i .

Das Kind las und mußte das Grelesene sofort niederschreiben d. h. es las, schrieb und sprach d. h. optische, akustische und kinematische Übungen wurden angestellt, um dem Gesamtsprachorganismus produk- tives Leben einzuhauchen. Während dieser Übungen fiel sofort die Tat- sache auf, daß das Kind die Laute fast vollständig umstellte. Statt blase liest es balse trage liest es targe Fleisch liest es schleif krug schreibt es urg Teppich liest es keppi Auch diese scheinbare Anormalität erschien mir nicht für schlimm. Ich erinnerte mich der Untersuchungen, die ich einst über das Rechtr schreiben anstellte. Verwertet sind die Ergebnisse derselben in der schon erwähnten Zeitschrift für Päd. Ps. . v. Kemsies III 1901 S. 343 bis 348. Dort findet man dieselben Umstellungen:

z. B. kars statt Gras. Ich beziehe mich auf die dort verzeichnete Fußnote : „Solche Metathesen- Umstellungen zwischen Vokalen und Konsonanten innerhalb verschiedener Silben finden sich vielfach in der historischen Entwicklung der Sprachen". Das anormale Kind hat eben die physiologischen Stadien in einem späteren Lebensalter zurückgelegt als das normale. Ohne therapeutische Behandlung wäre Grethel in dem Anfangsstadium der physiologischen Entwicklung nach meiner Schätzung der eines 2V2 jährigen Kindes stehen geblieben. Durch die therapeutische Behandlung konnte sich der Sprachorganismus regen und heute nach 5 Monaten Unterrichtszeit ist auch von diesen Umstellungen keine Spur mehr vorhanden.

Neben dieser Erscheinung finden wir noch die gewöhnliche kind- liche Sprechweise des bekannten: Du Dost, Fußboden = Dudoden. Mit diesen Darlegungen wollte ich nur den Beweis führen, daß dieses 8 jährige Mädchen in seiner Sprechfähigkeit trotz ihrer wohlausgelbil- deten körperlichen Gestaltung und trotz der Tatsache, daß im Sprech- organismus selbst kein namhafter Fehler zu finden ist, daß dieses Mäd- chen eben ganz einfach „nur" zurückgeblieben ist. Die unter- richtliche Behandlung nach den dargelegten Grundsätzen förderte das Kind innerhalb 5 Monaten derart, daß es sehr gut lesen kann, die

97

deutsche Schreib- und Druckschrift sowohl, als auch die Antiqua. Sie beherrscht beide im Lesen und Schreiben derart , daß der prüfende Schulinspektor dies anormale Kind im Lesen und Schreiben nicht von dem normalen Kindern zu unterscheiden vermochte. Sofort drängen sich uns zwei Fragen auf:

1. Worin ist die Ursache dieses Zurückbleibens zu suchen? und

2. Was ist das Grundübel ?

1) Das Kind hatte in den ersten Lebensjahren viel an Konvulsionen zu leiden. Schon in seinem ersten halben Lebensjahre trug der Arzt für die geistige Entwicklung Sorge. Erst später entdeckten die Elternj^ daß das Kind sehr schlecht höre. Sprechen konnte es bis zu seinem 4. 5. Lebensjahre nicht und sich nur durch unartikulierte Laute ver- ständlich machen. Das Grundübel ist meines Erachtens aber nicht die Schwerhörigkeit. Denn Grethel hört die Vögel singen, hört auf 8 m Kinder sprechen, hört durch eine dicke Wand hindurch plaudern und singen, hört alles Pfeifen, ja sie hält sich die Ohren zu, wenn zu stark gepfiffen wird. Es scheint also, daß die Gehörorgane sogar ziemlich empfindlich sind. Wenn ich ohne die Stimme zu erheben, normal spreche, versteht sie das, worauf sie zu reagieren imstande ist. Wenn ein Wort, ihr völlig fremd, zu ihrem Innenleben dringt freilich dann sagt sie: hab ich nicht standen (verstanden). Weil nun der Bewußtseinsinhalt ein gar so ärmlicher, minimaler war, daß man kühn behaupten darf: ein 2 jähriges Kind besitzt einen quantitativ größeren Begriff'fonds , weil die Sprechwerkzeuge, die Muskelsynergien vollständig gesund sind und das Kind bei minimalem Gehörfehler doch nicht sprechen kann, so er- gibt sich hieraus eine ganz andere Diagnose. Bevor ich auf dielbe ein- gehe muß ich eine Behauptung Gustav Siegerts zurückweisen. G. S. schreibt in einem Aufsatz über „Pathologisches aus meinen Schulklassen" (Zeitschrift für Kinderfehler v. J. Trüper I, S. 176. „Auch die miß- bräuchliche Anwendung der Zungenverschlußlaute d und t an Stelle der Gaumenverscblußlaute g und k und umgekehrt erklärt sich aus orga- nischen Schäden".

Das ist nach meiner Meinung vollständig unrichtig. Das sind keine organische Schäden. Das Kind braucht sehr lange, bis es schön, deutlich sprechen kann. Es bemüht sich zunächst, so deutlich zu sprechen, wie es die Sprache von seiner Umgebung vernimmt. In diesem Bemühen muß es sich sehr anstrengen, mehr, als wir Erwachsene, denen zwar die mündliche Wortbildung immer gelingt, nicht aber stets die münd- liche oder schriftliche Satzbildung. Diese Anstrengung ist ein vom Kind zu überwindendes Hindernis. Das Kind bildet sich seine Sprache selbst (Siehe Preyer, Compayre. Jahn) d.h. es büdet sich nicht eine

Menmann, Exper. Pädagogik. V. Band. 7

98

andere, neue, fremde Sprache, sondern jedes Eünd kommt auf dem ihm individuellen Wege zu der Sprache seiner Umgebung. Auf diesem Wege hat es Hindernisse zu überwinden. Diese Hindernisse äußern sich in Stottern, Stammeln und allen jenen Fehlern, die G. S. ja auch syste- matisch geordnet hat und die auch bei Grethel bermekbar waren.

Was nun das Grundübel , an dem Grethel leidet , betrifft , so wage ich die Behauptung aufzustellen, daß sie durchaus nicht so schwerhörig war, als von den Aerzten angenommen wurde, sondern durch die im ersten halben Jahre aufgetretenen Konvulsionen die Psyche derart al- teriert wurde, daß sie der Außenwelt gegenüber oder für die Eindrücke aus der Außenwelt fast vollständig indifferent geworden ist. Weil sie infolge dessen fast auf keine Einwirkungen reagieren konnte, hielt man sie für taub. Ein Beweis hierfür dürfte wohl der sein, daß ihre Ge- berdensprache sich nur auf das Gefühlsleben erstreckte, während sie vollständig versagte, wenn sie Objekte zeigen sollte. Ich erinnere mich soeben eines 7 jährigen Taubstummen. Dieser Junge konnte sich durch seine lebhafte Geberden spräche ziemlich deutlich verständlich machen. Grethel stand anfangs da wie ein Ölgötze. Hätte sie Yorstellungen aufnehmen können, so hätte sie gewiß Gegenstände ihres Wohnzimmers wie Tisch, Stuhl, Teller, Löffel, Spiegel p.p. wenigstens im Bilde wiedererkannt. Aber von alle dem keine Spur. Ebenso fehlte jeglicher Formen- und Farbensinn, jegliche Zeitbestimmung und der Ortssinn war ganz minderwertig ausgeprägt und heute noch, nach fünf Monaten, braucht sie lauge, um sagen zu können, daß es „Nacht" ist, wenn man schläft, „Morgen", wenn die Sonne aufgeht und man Kaffee trinkt , ,.Mittag" wenn man die Suppe ißt und „Abend", wenn man Licht anzündet.

Daß das Kind hören konnte , beweist der Umstand , daß es Rudi- mente doch in sich mit der Zeit aufnahm ; daß es sehen konnte, beweist sein Alltagsleben, daß es sprechen konnte, das Hervorbringen falsch an- gewendeter Wörter ; daß es riechen konnte , seine Vorliehe für Blumen und der Gesichtsausdruck, wenn sein Schwesterchen unreinlich war; be- wundem mußte ich seinen ausgesprochenen Ordnungssinn, seine Reinlich- keit. So reifte in mir nach und nach das Urteil, daß die Gehirnpar- tieen alle gesund seien, daß die physiologische Beschaffenheit der Zentren normal sei, nur daß sein Gesamtseelenleben, die seelische Kraft, auf welche sich die Teilkräfte der Zentren konzentrieren daß diese Kraft zu schwach war, um aufnähme- und produktionsfähig sein zu können.

Oben sagte ich, daß das Kind sehen konnte. Wie ist aber die Frage zu beantworten: Warum kennt das Kind keine einzige Farbe? Zeigte ich ihm bunte Bilder, oder die Farbenskala, so erhielt ich lange

99

Zeit die Antwort : Alles weiß. Es reagierte also auf die Farbe in keiner Weise.

Erfährt der FarbenanschaumigsimteiTicht nicht eine fortwährende Übung, ist die Benennung der Farben bald vergessen.

Es sah die Dinge seiner Umgebung täglich und doch blieb kein Bild andauernd in seinem Bewußtsein haften , während es jetzt nach dem fünfmonatlichem Unterricht z.B. eine Leiter, ein Viereck, einen Tisch fast tadellos auf die Wandtafel zeichnet.

Aus dem allen ist zu entnehmen, daß hier der Fall gege lien er- scheint, als hätte die Psyche des Kindes bis zu dem Moment eines in- tensiven Unterrichtes ein traumhaftes, nur in Gefühlen sich äußerndes Dasein geführt. Trauer, Schmerz, ausgelassene Freude bei Neuerschei- nangen, sich Wichtigmachen bei den geringsten Anlässen, kokettes Auf- treten, stark ausgeprägtes Selbstbewußtsein, hoher Grad von Eitelkeit, Teilnahme, Mitleid, Güte sind Züge, die heute noch besonders charak- teristisch hervortreten; Zorn, eine gewisse Wildheit namentlich den Knaben gegenüber geben dem Mädchen ein Gepräge furchtlosen, eigen- willigen Auftretens.

Wäre das Mädchen wirklich taub gewesen, so würde es sicher eine gewisse Unsicherheit auf der Straße geäußert haben nichts von alle dem.

Vergleiche ich den Bewußtseinsinhalt dieses anormalen Kindes mit dem eines normalen 2 jährigen, so finde ich, daß dieser quantitativ viel bedeutender ist als jener.

Sollte ich zu der Annahme berechtigt sein, hier vor mir ein mensch- liches Wesen zu haben, das bis zu seinem Eintritt in den ihm besonders erteilten Unterricht ein Mensch war ohne Sprache mit all ihren weitest- gehenden Konsequenzen; welches zwar gesunde Organe hatte, durch- lassungsfähig, fortleitungsfähig, welche jedoch den Anschluß an die mo- torischen Zentren nicht fanden? Hatten die Konvulsionen eine so furchtbar hemmende Wirkimg hervorgebracht?

Compayre schreibt in seiner Entwicklung der Eandesseele S. 283: „Die Tätigkeit des Gehirns ist also notwendig, um die Verbindung zu ermöglichen, damit die äußeren Eindrücke des Gehörs in innere, geistige Bilder umgewandelt werden können, die nunmehr ihrerseits geeignete Bewegungen in den Sprachorganen veranlassen. Die Gehimentwicklung des Kindes, welche zur Ausübung dieser Tätigkeit notwendig ist, tritt nicht sofort ein". Diese Tätigkeit des Gehirns scheint nun bei Grethel nicht eingesetzt zu haben oder doch nur so rudimentär , daß die Um- gebung, ja selbst Arzte die Meinung hegten, das Kind wäre taub Auf- fallend bleibt immer der Umstand, daß dieses Ruhen der Tätigkeit so

7*

100

lange 8 Jahre angehalten hat. "Weil „die Erwerbung der Sprache alle Fortschritte des Kindes kurz zusammenfaßt, da alle seine Fähig- keiten dabei mitwirken", (Comp. S. 281), deswegen mußte jetzt, nachdem der Sitz des Grundübels mir klar geworden war, jene oben geschilderte Tätigkeit in das Rollen gebracht werden, sie mußte jetzt einsetzen dürfen um dieses leere Menschengefäß mit einem Seeleninhalt zu füllen, der es ermöglichte, daß die geistigen Partieen in dem Kinde geweckt und in ihm der wahre Fortschritt von dem Anormalem zum Normalen betätigt werden konnte.

Es war ein hartes Stück Arbeit. Ich ging von der Wohnstube aus und zeigte dem Kinde die in derselben befindlichen Gegenstände. Die Unkorrektheit der Aussprache trat für mich zunächst in den Hinter- grund. Galt es doch dem 8 jährigen das auf unterrichtlichem Wege beizubringen was das l\/2 jährige innerhalb seiner Umgebung von selbst lernt. Damit der Lehrer einen Begriff hiervon bekomme, setze ich die Wörter nochmal hierher, die Grethel vollständig unbekannt waren, auf welche sie in keiner Weise reagierte:

Wand, Brille, laufen (Grethel kannte die Verschiedenheit des Gehens- wie Gehen, laufen springen, hüpfen, nicht, während das normale 2 jährige den Unterschied in seinen Ausdrucksbewegungen fein markiert. Ich er- wähne hier das zweijährige Kind öfters, weil ich stets den Bewußt- seinsinhalt des normalen Zweijährigen verglich mit der anormalen acht- jährigen Grethel) Teppich, Fußboden.

Daß ich es hier mit einem anormalen Kinde zu tun hatte, das in seiner Sprachentwicklung dem eines 1^/2—2 jährigen Kinde glich, be- weist der Umstand, daß es Wörter fast durchweg so nachsprach, als wenn es eben 2 Jahre alt wäre. Ich will damit sagen, daß das 8 jährige Kind als ein 2 jähriges zu betrachten war. Statt Fußboden sprach es z. B. Dudoden. Also nicht allein in der Leere des Bewußtseinsinhaltes glich es dem 2 jährigen, sondern auch in der Qualität der Sprachäuße- rungen, sodaß es unumgänglich notwendig ist zum besseren Verständnis dieser Abnormität die Sprachentwicklung des 2jährigen Kindes als Parallelismus hier mit hereinzuziehen und zu verfolgen. Daß das acht- jährige Kind rascher vorwärts schritt als dem 2 jährigen es möglich ist, liegt in der Natur selbst begründet. Die Gehirnstruktur des achtjäh- rigen ist eben doch kräftiger quantitativ entwickelt als die des zwei- jährigen. Zudem ist die große Intelligenz der achtjährigen Grethel nicht zu unterschätzen. Sie unterstützte mich im Unterricht in einer ganz hervorragenden Weise.

Ich lasse diese Bemerkungen bei Wörtern einfließen, die so recht deutlich zeigen, daß der Parallelismus zwischen dem 8jährigen Anor-

101

malen und dem 2jährigen Normalen in der Tat gegeben ist: Worter, die es nicht kennt: Teuer, Korb, Reibeisen.

Compayxe schreibt a. a. 0. S. 13. Während die Erfindungsgabe des Kindes unter dem schon erörterten Gresicbtsponkte sehr beschränkt ist, hält sie sich schadlos, wenn es für das Blind gilt, den Sinn der Worter, die es fertig der Sprache der Eltern entnimmt, oder die es selbst her- gestellt hat, zu erweitem, zu verallgemeinem und abzuändern. Oder Preyer: ^Xacbdem sich die erste Assoziation zwischen einer Vorstellung und einer Silbe durch Eingebung oder auf instinktmäßige Weise einmal gebildet hat, ;. findet das Kind neue Assoziationen von selbst*.

Auch dieser Fall ist bei Grethel gegeben. Star =^ ist das Taube Laterne ^ Licht Lampe == Licht Zeitung = Papier Alles was Flügel hat ist Vogel.

Sodann finden wir die sog. Identifizierung. Sie sieht ein » Reib- eisen" und kann das Objekt nicht benennen. Sie weiß aber, daß ihrem Schwesterchen der Zwieback auf dem Gregenstand, der ihr hier im Bude gezeigt wird, gerieben wird. Rasch sagt sie: das ist Mariele sein Zwieback. Es identifiziert eine Handlung mit dem Gregenstand, an welchem diese Handlung vorgenommen wird. Das ist ein Stuck der Selbstbildung der Sprache durch die Kinder. Ich zitiere hier das Wort Taines -die Originalität, die Erfindungsgabe ist beim Kinde so lebhaft, daß wir von ihm seine Sprache lernen, wenn es von uns die unsere lernt«.

Eine Freundin ihrer Mutter war bis ungefähr Weihnachten -die schöne" Frau, obwohl man ihr oft den richtigen Namen gesagt hatte.

So ist Schnabel der Mund, der Säbel das Messer, Schaukel das Karussell; keinen Begriff hatte es femer von: Traum, Schlaf, Wand, Spiegel, Tisch, Lehnstnhl, Sofa, Ofen, Kachel. Klavier, Waschtisch, Wein, Flasche.

Statt Veilchen sagt es j,Feuer". Diese Klangassoziationen (Vei = Feu) finden wir auch bei normalen Kindern. Wenn sich das Kind ein Wort nicht erklären kann, wenn es den das Wort deckenden Begriff noch nicht als Bestandteil seines Bewußtseinsinhaltes hat . dann heKen die Assoziationen. Ich untersuche gegenwärtig den Bewußtseinsinhalt, das Denkvermögen eines 5 jährigen Kindes. Selbst dieses wendet noch die sog. Klangassoziationen an : z. B.

Das Kind weiß nicht, was ein Arzt ist, obwohl es den Doktor

102

kennt. Es besinnt sich und sagt Adler. Es kennt den Krebs nicht und sagt: recht.

Statt „Rudi" = ausruhen. Zwirn = Birn Zwiebel näher = nähen

leicht = Grab (im Stillen erschien die Klangassoziation : Leiche, diese führte zu Grrab).

Statt kosten = Post

Stier = Stirne

fluchen = fliegen

gaffen = Affen

Summe = Suppe

Segen = Holz sägen

Fohlen = fädeln u. s. w.

Dieselben Assoziationen finden wir nun bei Grrethel: Veilchen = Feuer Fell = Löffel Wald = Tafel Hals = Holz gelb = Greller (soll Teller heißen).

Weil Grethel damals noch nicht Teller sprechen konnte, sondern nur „Geller" hervorzubringen imstande, produzierte sie als Erklärung von Gelb = Gelber. Ein glänzender Beweis für den Sprachmechanismus und dafür wie lose die Worte noch ohne den realen Begriffshintergrund in der Seele des Kindes haften.

Zwirn = Birn Suppe (siehe 5 jähriges)

kurz = Suppe

dort = Storch

Abel = Tafel

Aste = essen

spritzen = schwitzen

Scheune = schneien

Spazierstock =^ was spüren

Zähne = gehn

vier = führen (Hermine, eine Frau tut Mariele führen die)

Hobeln = Ofen.

Weitere Wörter, die es nicht kennt.

Strauß, Fell, Wald, Wolle, Wolke, Star, Wirt, Hals, Finger, gelb, Wolf, Flügel, Stiefel, dort, Zwirn, Ferse, kurz, werfen, Mark, klopfen,

103

Kaffeemühle, Gras, Türe, Schnupfen. Zigarren, Tabak, Thee, Gewehr, Joppe, Jahr, Woche, Tage, Sohle, Absatz, Spitze, Schmied, Sonne, Spa- zierstock, Stirn, Zehe, Zündholz, Kirche, Turm, Dach, Brücke, Kopf- tuch, Wochentage, hören, sehen, riechen, schmecken, sprechen, gehen, Dreschflegel, Ziege, Schwanz, Deichsel, Stunde, Grans, Flügel, Frühstück, Krug, Strafe, hobeln, Bauer.

Ferner keine Idee von rechts und links , keine Antwort auf die Fragen: wo oder wie.

Greife ich nun in den Bewußtseinsinhalt des zweijährigen, so finde ich hier bereits entweder ausgesprochen oder gedeutet: (hingedeutet) Tisch, Stuhl, Sofa, Bild, Ofen, Mutter, Luise, Hermine, Paula, Sesselchen, Schwamm, Sportwagen, Weckla, Zucker , Schaufel , Milch , Geburtstag. (Auch diesen kannte Grethel nicht). Spiegel, Zeichnen, Taschentuch, sämtliche Kleidungsstücke, Körperteil, gehen, laufen, knieen, springen, schlafen, Hand, Türe, Wand, Kommode. Spiegel, Fußboden, Vorhang, Fenster, Nähtisch, Lampe, ewiges Licht, KLalender, Aschenbecher, Zünd- holz , Federhalter , Stift , Federbüchse , Nähmaschine , Zimmer , Schlaf- zimmer, Sophakissen, fortgehen, guten Tag sagen. Danke sagen, gut, brav, böse, Löffel, essen, Katze, Vogel, Ei, Uhr, ich. Hund, Maus, lesen, Vögelein, Henne, Pfanne, Wasser, Holz, Schuh, Bier, Bügeleisen, Pferd, Eäder, Baum, Garten, Apfel, Sonne, Mond, Bett, Engel.

Eine weitere Arbeit stellt den Bewußtseinsinhalt des 5 jährigem fest. So führte ich Grethel ein in unseren Sprachschatz und heute nach 5 Monaten kann sie sich schon sehr gut verständigen. Am Schlüsse dieser Arbeit füge ich den Wortschatz Grethels an. Was Grethel an Wörtern gelernt hat, schreibt sie auch und seit ein paar Wochen ver- sucht sie sich auch in der zeichnerischen Darstellung derselben.

Mit dem Fortschritt in der Sprachentwicklung hielt die Besserung des Gehörs gleichen Schritt. Heute hört Grethel wieder das Ticken der Uhr (auf dem rechten Ohr etwas schwächer) und mit mäßig lauter Stimme gesprochen versteht sie jedes Wort, welches auf Verwandtes im Bewußtsein stößt.

Sprach Grethel früher nur in unvollkonmienen Sätzen nach Art der kleinen Kinder (Beispiele folgen), so übt sie sich jetzt in Sätzen zu sprechen und zwar ist sie stolz , wenn sie sich gut ausdrücken kann.

Früher sagte sie z. B. : Hab mein Kaffee trunkt ; hab mein Vater mitbringt; ich hab 1 (hebt dabei einen Finger in die Höhe) Karussell fahr, langt schon.

Eine Flexion kannte sie nicht. Alle Wörter hatten den Artikel: „die".

Nun will ich in aller Kürze die Behandlung skizzieren, welche ich

- 104

dem Kinde angedeihen ließ. Die Distriktsscliulinspektion konstatierte in einem Ansclireibeii vom 10. April 1906, daß „die Leistungen der Gret- chen Wölfel im Lesen und Schreiben sich nicht wesentlich von denen ihrer Mitschülerinnen unterschieden". Die Kgl. Lokalschulinspektion versagte mir ein Zeugnis, mit dem Bemerken, ,,daß sie in die Schulverhältnisse grundsätzlich nicht weiter eingreife als es Notwendigkeit und Pflicht erforderte".

Ich zeigte dem Kinde die eingangs erwähnten Bilder dann, wenn mir die Gregenstände selbst nicht zur Verfügung standen. Jedes Wort wurde deutlich vorgesprochen, das Objekt gezeigt, dessen Zweck ent- weder erklärt oder vorgeführt und das Wort geschrieben. Geschriebenes Wort, gesprochenes Wort und Objekt selbst bildeten fortwährend im Unterricht den Konzentrationspunkt der Psyche des Kindes. Dabei wendete ich dieselbe Methode an, die Albert Liebmann in der Zeitschrift für Päd. Ps. von Kemsies IV, 2 S. 104 beschreibt: ,,Man zeigt z.B. dem Kinde die Gegenstände des Zimmers in möglichst lebendiger Weise, um das Interesse des Kindes zu erregen. Man rückt den Tisch von seinem Platz. Man legt den Stuhl auf die Erde, entlockt den Gegen- ständen allerlei Geräusche nimmt Bilder und Figuren herunter, zieht Vorhänge auf und nieder, läßt die Uhr schlagen , läßt den Wasserhahn laufen". Es erinnert diese Methode lebhaft an die Berlitz-Schule. Daß das Kind in so kurzer Zeit im Lesen und Schreiben solche Fortschritte machte, daß es seinen Mitschülerinnen gleichgestellt werden konnte, schreibe ich dem Umstände zu, daß das Ohr, das Auge und die Hand zu gleicher Zeit in Tätigkeit versetzt wurden.

Etwas anderes war es nun mit dem Rechenunterricht. Voraus- schicken muß ich hier, daß ich ein Gegner der Rechenmethode bin, die sich zunächst an die Zahl 5 hält, dann an das Zehnersystem. Nach meiner Ansicht gehören Systeme gereifteren Menschen. Darüber ein ander Mal.

Wochenlang ging es im Rechnen nicht vorwärts. Die Eltern und die Lehrerin (d. h. die Klassenlehrerin) hatten die Überzeugung, daß im Rechnen mit Grethel nichts anzufangen sei. Ich war anderer Meinung und ich behielt Recht. Wie mir die Lehrerin mitteilt, findet sie sich auch hier zurecht , allerdings mit Hilfe von Anschauungsmitteln und diese sind ihre Finger. Grethel rechnet innerhalb der Zahlen 1—40 verhältnismäßig gut d. h. Zuzählen, Abziehen, Vervielfachen. Dividieren habe ich noch nicht versucht. Mit 1, 2, 3, 4, 5 operiert sie rasch und geläufig, schwieriger gestaltet sich das Abwickeln der Rechenoperationen mit den Zahlen 6, 7, 8, 9.

Es liegt nicht im Rahmen dieses Aufsatzes, über den Rechenunter-

105

rieht zu berichten. Ich wandte diese Methode Erweiterung des Zahl- begriffes von 1 zu 1 ungeachtet der fünf und zehn bis über zwanzig bei normalen Kindern wiederholt an und hatte sehr gute Resultate zu verzeichnen.

Nachdem Grethel jetzt einen Wortschatz besitzt, mit dem sich operieren läßt, kann sie auch ganz gut weiter geführt werden. Die nächste Aufgabe wird jetzt die sein, sie über den logischen Zusammen- hang der Wörter zu orientieren, damit es möglich wird, den ge- wonnenen Wortschatz durchzubilden, damit sie ihn sicher anzuwenden versteht.

M^itteilung^n und Diskussionen.

Die experimentelle Pädagogik in Belgien.

Von T. Jonckheere, Brüssel.

Es ist keineswegs notwendig, auf die hohe Wichtigkeit der experi- mentellen Pädagogik in einer Zeitschrift hinzuweisen, die ausschließlich dieser Wissenschaft gewidmet ist. Die Tatsache, daß die Zeitschrift für experimentelle Pädagogik nicht allein in Deutschland, sondern auch in andern Ländern eifrige Leser und Leserinnen gefunden hat, be- weist, daß man deutlich einzusehen beginnt, daß die Pädagogik auf der genauen Kenntnis des Kindes beruhen muß. Es ist nur erstaunlich, daß eine so beträchtliche Zeit verflossen ist, bis man zu einem Resultat gelangt ist , das eine elementare Wahrheit darstellt. Nichts- destoweniger würde man sich einer seltsamen Täuschung hingeben, wenn man annehmen wollte, daß die Notwendigkeit eines wissenschaftlichen Studiums des Kindes schon heutzutage von der Mehrheit der Er- zieher und Schulautoritäten zugestanden werde.

Ich glaube, mich nicht zu täuschen, wenn ich sage, daß diese Situa- tion nicht allein in Belgien sich findet, sondern daß sie alle Länder charakterisiert. Viele glauben noch immer, daß allein die Praxis des Unterrichts den Erzieher bilden und ihm die gewollte Erfahrung ver- leihen könne. Das ist ein Irrtum. Gewiß kann die Erfahrung eine hohe Bedeutung erlangen, aber sie ist wertlos, wenn sie nicht auf die Kenntnis

106

der Psychologie des Kindes gründet. Diese letztere hat in der Tat den Zweck, das Wesen des Kindes im allgemeinen und einer jeden jungen Individualität im besonderen genau zu bestimmen; zunächst um auf diese Weise die vielen Vorurteile zunichte zu machen, die unser Gehirn noch anfüllen, in Bezug auf all das, was das Problem der Erziehung betrifft; dann aber, um so die zahlreichen „Versuche", die heute noch die Praxis des Unterrichts begleiten, auf ein Minimum zurückzuführen, und endlich, um genau festzustellen, welches die wahren Prinzipien sind, die uns leiten müssen, wenn wir mit Erfolg an der Entwicklung der Intelligenz und des Karakters arbeiten wollen.

Belgien hat an der Bewegung, welche seit einer Reihe von Jahren auf die Erneuerung der Pädagogik hinzielt, lebhaften Anteil genommen.

Der Zweck dieses Berichtes ist der, genau festzustellen, in welcher Lage sich die experimentelle Pädagogik in diesem Lande zur Zeit be- findet.

Ebenso wie die meisten Länder besitzt Belgien Laboratorien für experimentelle Psychologie, so an der Universität Brüssel, an der Uni- versität Gent und an der Universität Löwen. Das Laboratorium in Brüssel wird von Fräulein Dr. J. loteyko geleitet, das in Gent von Professor J. J. Van Biervliet und das in Löwen von Professor A. Thiery.

Im Jahre 1900 hat die Stadt Antwerpen ein Laboratorium für Pä- dologie errichtet. Die ganze Einrichtung führt den Namen: ;,Paedo- logische Schooldienst en Paedologisch Laboratorium". Die Arbeiten, die im Laboratorium oder unter Mitwirkung desselben entstehen, werden alljährlich in einem Werk veröffentlicht, das den Titel führt: „Paedo- logisch Jaarboek" und seit 1900 erscheint^). Dieses Jahrbuch wird in niederländischer Sprache veröffentlicht, aber den meisten Abhandlungen folgt eine Zusammenfassung in französischer, deutscher oder englischer Sprache.

Dank der Tätigkeit des Direktors dieses Laboratoriums in Ant- werpen ist im Januar 1902 in dieser Stadt eine Gesellschaft für Pädo- logie gegründet worden: die „AUgemeen paedologisch Gezelschap", und im November 1903 ist in Gent eine Sektion dieser Gesellschaft ent- standen.

Im Jahre 1903 hat Herr Schuyten an der Schule „des Hautes Etudes" eine Reihe von Vorlesungen über Pädologie gehalten.

Inzwischen (November 1901) hatte Herr V. JVlirguet , damals Di-

1) Vgl. den Bericht über das pädol. Laboratorium in Antwerpen in Heft 1 Bd. II und den über seine Untersuchungen seit seinem Bestehen in Heft 3/4. Bd. IV.

107

rektor des Seminars in Hny. eine pädagogische Zeitschrift „L'Ecole na- tionale" gegründet, in welcher seit 5 Jahren pädologische Berichte er- scheinen. Verschiedene Probleme sind hier in Angriff genommen worden, so : Das Kind und der Alkohol ; das Kind nnd der Tabak : das mutmaß- liche Verhalten des Kindes in einem bestimmten Fall; über den G-rad der geistigen Minderwertigkeit der Kinder, welche die Voksschulen be- suchen; über Sprachstörungen.

Durch Anregungen von Professor J. Demoor an der Universität Brüssel (medecininspecteur de l'enseignement special ä BruxeUes et secre- taire general de la Societe protectrice de FEnfance anormal) wurde da und dort ein Schulmann auf die experimentelle Pädagogik aufmerksam.

Im Jahre 19<J4 erschien eine bemerkenswerte experimentelle Arbeit über geistig zurückgebliebene Kinder von Dr. A. Ley. damals Arzt der Hilfsschule in Antwerpen, zur Zeit Chefarzt am Sanatorium für geistes- kranke Frauen in Fort Jaco in Uccle bei Brüssel. Dieses Buch ist be- titelt: „Larrieration mentale". (Beitrag zum Stadium der Pathologie des Kindes).

Seit dieser Zeit widmet sich auch Dr. Decroly solchen experimen- tellen Nachforschungen über normale und anormale Kinder.

Eine solche Tätigkeit wie wir sie eben überblickt haben konnte nicht ohne Wirkung bleiben. Im September des Jahres 1905 nahm die Stadtverwaltung von Brüssel, die 2 vom Staate genehmigte Seminarien besitzt, das eine für Lehrer , das andere für Lehrerinnen, die Pädologie als obligatorisches Fach in den Lehrplan ihres Lehrerseminars auf. Der Unterricht hier wird vom Verfasser dieses Artikels erteilt.

Der Erste, welcher dem Direktor des Seminars, Herrn A. Sluys, vorschlug, den neuen Zweig in den Lehrplan dieser Anstalt aufzunehmen, war Dr. Demoor ^). Der Direktor unterstützte diese Bitte lebhaft. Hier soll ein Auszug aus dem Brief folgen, den Dr. Demoor an Herrn A. Sluys richtete:

Die pädagogischen Wissenschaften haben sich im Laufe dieser letzten 10 Jahre rasch entwickelt. Sie haben angefangen, exakt und selbst ex- perimentell zu werden. Dieser Fortschritt ist der Sorgfalt zuzuschreiben, welche darauf verwendet worden ist, alle psychischen und anderen Fähigkeiten des Kindes systematisch zu erforschen, um so eine neue Wissenschaft zu gründen: die Pädologie.

Die Untersuchung des Kindes geschieht nach genau definierten Ge-

1) Dr. Demoor erteilt am Seminar Unterricht in physiologischer Psychologie und in Pädagogik der Schwachsinnigen.

108

setzen ; das Resultat der Untersuchung bietet für denjenigen großes Interesse, welcher in Zukunft die Erziehung zu leiten hat.

Der Lehrer muß also mindestens imstande sein, eine solche Unter- suchung genau ausführen zu können, damit er den wahren Karakter seiner Schüler erkennen lernt.

Ich erwarte, daß eine Stunde in der Woche im 4. Kurs hinreichen wird, den Zöglingen eine genügende Einsicht in das, was Pädologie ist, zu erteilen, und auch hinreichen wird, gleichzeitig sie praktisch in die Untersuchungen einzuführen , die dazu dienen , die Eigenschaften eines Schülers genau zu bestimmen. Damit ein solcher Unterricht zu einem Resultat führen kann, wird es nötig sein, daß die Schule ein Labora- torium für Pädologie besitzt. Dieses Laboratorium würde dem ent- sprechen, was in Antwerpen die Laboratorien von Herrn Dr. Schuyten und Herrn Dr. Ley darstellen. Es könnte übrigens gleichzeitig dem Lehrerseminar zum Unterricht in der Heilpädagogik dienen.

Es ist bekannt, daß im Seminar von Emporia in Kansas der erste Unterricht in Pädologie erteilt worden ist. Am Seminar in Lima (Peru) ist dieser Zweig in den Lehrplan aufgenommen, aber es wird darin aus Mangel an einer geeigneten Lehrkraft nicht unterrichtet. In Europa gebührt Brüssel die Ehre, den neuen Zweig zuerst in den Lehrplan für Seminarien aufgenommen zu haben.

In den 2 Seminarien, im Lehrerseminar in Charleroi und im Lehrer- seminar in Mons, welche die Provinz Hainout (Belgien) im Oktober nächsten Jahres eröffnet, wird ebenfalls Unterricht über Pädologie ge- halten werden. In beiden Anstalten ist er Fräulein Dr. J. Joteyko übertragen. Das Programm dieser beiden Schulen schreibt in Bezug auf die Errichtung eines Laboratoriums für Pädologie folgendes vor :

„Lange Zeit war die Pädagogik unserer Seminarien eine "Wissen- schaft a priori, allgemein und unbestimmt, ihr Charakter mehr Formel. In Folge davon fehlte es den Unterrichtsmethoden , welche daraus her- vorgingen, weil sie sich auf schlecht definierte Prinzipien stützten, an einer wissenschaftlichen Grundlage, und sie bemühten sich vergebens, von Routine und Tradition los zu werden. Es wird also für den zu- künftigen Lehrer zur Notwendigkeit werden, sich mit der experimen- tellen Pädagogik vertraut zu machen, die eine concrete und induktive Wissenschaft ist, eine Wissenschaft, die durch Beobachtung und strenges Experiment die physiologischen und psychologischen Phänomene der Kindheit studiert und unter Beihülfe der Soziologie sich verbindlich macht , daraus diejenigen Unterrichtsmethoden herzuleiten . die logisch richtig sind , und sich am besten zur Pflege des Körpers , des Greistes und des Karakters des Kindes eignen.

109

In Folge davon wird jedem neu zu errichtenden Seminar ein Labo- ratorium für Pädologie angegliedert, wo die Zöglinge sich direkt und praktisch im Gebrauch dieser Methoden üben. Sie sollen hier die Kunst erwerben, sowohl die Schüler nach ihrer physischen Konstitution, ihren intellektuellen Fähigkeiten und ihren moralischen Fehlem und Eigen- heiten zu analysieren und individuell zu studieren, als auch die ge- machten Beobachtungen logisch zu interpretieren. Sie werden dann viel eher geneigt sein , jeden Schüler nach den Bedürfnissen seiner In- dividualität zu behandeln, anstatt sich darauf zu beschränken, das un- persönliche Niveau ihres Unterrichts auf die verschiedenartigsten Na- turen auszudehnen. Um die Erziehung eines Kindes mit Erfolg zu leiten, ist es unumgänglich notwendig , daß man es genau kennt , und wenn man zu diesem Ziel gelangen will, muß man in den Stand gesetzt werden, es nach aUen seinen physischen, intellektuellen und moralischen Betätigungen zu studieren".

Der Fortschritt der Ideen auf dem Gebiet der experimentellen Pädagogik geschieht übrigens mit einer solchen Intensität, und man be- ginnt so sehr sich von der Notwendigkeit zu überzeugen , daß neues Licht in das ungeheure Ganze der zerstreuten Elemente dringen muß, aus denen Jahrhunderte hindurch unsere empirischen Erziehungssysteme entstanden sind, daß die Pädologie sobald als möglich und mit dem- selben Recht in den Lehrplan unserer Seminarien aufgenommen werden muß wie die Psychologie und die Pädagogik.

Auf dem „Zweiten Kongreß für Neurologie und Psychiatrie", welcher in Brüssel Ende August vorigen Jahres abgehalten worden ist. hat man sich beklagt, daß die Arbeiten über Pädologie und Psychiatrie so wenig bekannt seien. Es wurde verlangt, daß die Arzte in Zukunft ein größeres Interesse für die psychologischen Untersuchungen des Kindes zeigen. Auch wurde hervorgehoben, daß es wünschenswert wäre, wenn alle diejenigen, die zu unterrichten haben, genaue Kenntnis über den jeweiligen Stand der Kinderpsychologie bekommen könnten. Daher hat der Kongreß die Wünsche ausgesprochen: 1) daß die Pädologie in den Lehrplan der Lehrerseminarien aufgenommen werde, ^) 2) daß die Lehrer durch Veröffentlichung von Broschüren Kenntnis von den wichtigsten Arbeiten über Künderpsychologie bekommen sollten.

Dieser zweifache Wunsch, dessen Wichtigkeit vor Augen liegt, soll

1) Schon auf dem „Ersten internationalen Kongreß für Erziehung und Schutz der Kindheit in der Familie" (Lüttich, September 05) wurde eine ähnliche Resolution gefaßt, dahingehend, daß die Seminar-Zöglinge in den Seminarien zur Beobachtung des Kindes angeleitet werden sollten.

110

an den Herrn Minister des Innern und des öffentlichen Unterrichts ge- sandt werden.

Ein Kongreßmitglied hat weiterhin die Abhaltung von Ferienvor- lesungen über Psychologie und Pädologie für Lehrer vorgeschlagen. Es ist nicht ohne Interesse hervorzuheben, daß die „Societe protectrice de l'Enfance anormale" schon seit mehreren Monaten über die Organisation ähnlicher Vorlesungen beratschlagt. Die Sache liegt nicht sehr einfacli, denn es müssen zahlreiche Faktoren in Betracht gezogen und vor allem einige praktische Fragen gelöst werden. Auch ist nützlich, die Erfah- rungen kennen zu lernen , welche benachbarte Völker gemacht haben. Im letzten Februar hat die „Soci^te" die Mitteilung erhalten, daß zu Ostern in Gießen unter der Leitung von Professor Sonmier eine Ferien- vorlesung: Kurs der medizinischen Psychologie mit Bezug auf Behand- lung und Erziehung der Schwachsinnigen" (2 7. April 1906) abgehalten werde. La Societe beschloß sofort, den Herrn Minister des Innern und des Unterrichts und den Herrn Minister der Landwirtschaft zu bitten, Herrn T. Jonckheere und Herrn Dr. Decroly als Delegierte zu dieser Vorlesung zu senden. Die Tatsache , daß die beiden Herrn Minister dieser Bitte bereitwillig entgegengekommen sind, bezeugt ihr hohes In- teresse , das sie diesem Werk der Erziehung entgegenbringen. Und gerade die Untersuchung schwachsinniger Kinder bietet ein ausgedehntes Arbeitsfeld für die experimentelle Pädagogik.

Um diesen kurzen Bericht zu beendigen , ist es vielleicht nicht un- nötig, einige Einzelheiten aus der Organisation dieses Unterrichts in Pädologie am Lehrerseminar in Brüssel aus dem Jahr 1905 1906 zu geben.

Die Vorlesung ist als obligatorisches Fach in den Lehrplan des vierten Jahrganges aufgenommen und nimmt wöchentlich eine Stunde in Anspruch. Sie hat theoretischen und praktischen Karakter zugleich; denn es ist an der Schule ein Laboratorium für Pädologie gegründet worden.

Dieses Laboratorium, zu dessen Errichtung die Stadtverwaltung von Brüssel einen ersten Beitrag von 500 fr. (400 M) geleistet hat , besitzt folgende Apparate :

1. Kymographion (Registrier-Apparat) und Stativstab mit Mikro-

meterschraube.

2. Mar ey sehe Schreibkapsel mit Feinstellung gegen die Trommel.

3. Mareysches Ventil.

4. Zeitmarke mit V* Sekunden-Kontakt.

5. Markiermagnet mit Elektromagnet.

- 111

6. Pneumograph nach Lehmann.

7. Cardiograph nach Marey.

8. Sphygmograph volumetrique nach Franpois Franck.

9. DyDamometer elliptique nach Collin.

10. Algesimeter nach Cheron.

11. Aesthesiometer nach Manouvriez.

12. Brückenwage.

13. Apparat znm Messen der Körpergröße.

Hierzu kommen noch folgende weitere, neuerdings angeschaffte Apparate :

1. Apparat zur dreidimensionalen Analyse von Bewegungen an

den Händen, nach Sommer.

2. Baraesthesiometer nach Eulenburg.

3. Chromatophotoptometer nach Chibret.

4. Chromatoskop nach Ribeiro Santos.

5. Sehproben nach Snellen.

6. Doppel-Olfaktometer nach Zwaardemaker. 7) Akkumulator mit 2 Zellen.

Das Laboratorium wird dann alle Apparate, die zu einer theore- tischen und praktischen Vorlesung über Pädologie unbedingt notwendig sind, enthalten.

Der theoretische Teil soll folgende Abschnitte enthalten : Greschichte der Pädologie Ziel der Pädologie Methode Physische Erfor- schung des Kindes Erforschung der Sinnesorgane Psychische Er- forschung des Kindes.

Im praktischen Teil muß notwendig jeder theoretische Satz beson- ders demonstriert werden. Diese Demonstration erstreckt sich womög- lich auf ein normales Kind, ein anormales und zugleich auf eine er- wachsene Person , (einen Schüler des 4. Jahrganges z. B.). In diesem praktischen Teil soll auch in Zukunft , wenn die Zeit es erlaubt , vom Lehrer und den Zöglingen eine einfache Untersuchung ganz durchge- führt werden.

Die Schüler besitzen kein Lehrbuch, aus dem einfachen Grrund, weil ein solches bis jetzt noch nicht veröff'entlicht worden ist. Es bleibt dem Vortragenden vorbehalten, auf die Spezialwerke, die bis jetzt erschienen sind, und ganz besonders auf die einschlägigen Zeitschriften hinzuweisen.

Dieser Bericht zeigt deutlich, daß der Fortschritt der experimen- tellen Pädagogik nicht aufgehalten wird, trotz der Gleichgültigkeit der- jenigen , die an den langsamen aber nützlichen Bemühungen der Arbei- tenden kein Literesse haben, daß er nicht aufgehalten wird trotz des

112

spöttisclien Lächelns von Seiten derer , welche die langen und Greduld erfordernden Arbeiten lächerlich zu machen suchen, die oft die geringste pädologische Untersuchung nach sich zieht. Die Entwicklung der päda- gogischen Ideen geschieht fast unmerklich unter dem Einfluß von Ar- beiten, die sich jedes Jahr mehren , und die schließlich ein Ganzes von wissenschaftlich bewiesenen Tatsachen darstellen werden, das man weder ignorieren noch läugnen kann. Dank dieser Tätigkeit, die sich in allen Ländern zeigt, und die unweigerlich unter den jungen Lehrern, welche eine Vorlesung über Pädologie gehört haben, zahlreiche Mitarbeiter finden wird, kann man mit Gewißheit voraussagen, daß die Zeit nicht mehr fern ist, wo das Werk der Erziehung eine wesentlich exakte Grundlage hat, und wo alle pädagogischen Probleme , trotz ihrer Mannigfaltigkeit nach der allein richtigen Methode behandelt werden, nämlich nach der experimentellen.

Ein „Institut für angewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung''.

Durch das tatkräftige Vorgehen der Herren Dr. W. Stern und Dr. O. Lipmann ist in Wilmersdorf bei Berlin (Aschaffenburgerstraße 27) ein „Institut für angewandte Psychologie und psychologische Sammel- forschung" ins Leben gerufen worden, dessen Arbeiten in vieler Be- ziehung eine wertvolle Ergänzung zu unseren Bestrebungen auf dem Gebiete der experimentellen Pädagogik bilden werden.

Die Aufgaben, die sich das Institut gestellt hat, sind durch seine Satzungen von den Begründern in ausführlicher Weise formuliert worden.

Schon auf dem letzten Kongreß für experimentelle Psychologie in Würzburg gab Herr Dr. Stern die ersten Anregungen, die dann zu einer vorläufigen Ausarbeitung von Statuten und erstem Arbeitsprogramm des Instituts führten. Diese wurden dann aufs Neue von den Begründern nach gemeinschaftlicher Durchberatung mit Herrn Prof. G. E, Müller in Göttingen und Prof. E. Meumann in Münster i. Westf. während des Kongresses für Kinderforschung und Jugendfürsorge im Oktober 1906 in Berlin aufgestellt. Der Zweck dieser Zusammenkunft in Berlin war namentlich der, eine Einigung der Institutsbestrebungen mit den Ar- beiten der Gesellschaft für experimentelle Psychologie herbeizuführen und dem Vorstand dieser Gesellschaft ein Aufsichtsrecht und aktive An- teilnahme an den Arbeiten des Instituts einzuräumen. Dieser Zweck

113

wurde auch erreicht und es ist zu hoffen, daß damit die Ausbreitung der psychologischen Sammelforschung in ein neues Stadium gerückt worden ist.

Über die Aufgaben des Instituts möchten wir unsre Leser zunächst orientieren durch den Abdruck des ersten Entwurfs der Satzungen^):

Der Vorstand der „Gesellschaft für experimentelle Psychologie" hat beschlossen, ein „Institut für angewandte Psychologie und psychologische Sanunelfor- schung" ins Leben zu rufen, welches am 1. Oktober 1906 eröffnet wird.

Das Institut hat nicht den Charakter eines psychologischen Laboratoriums, tritt also nicht in Konkurrenz zu den bestehenden psychologischen Instituten ; es soll vielmehr als Zentralstelle für die Organisation gemeinschaftlicher Untersu- chungen und für die Anlage psycho logis eher Sammlungen dienen. Es will nicht nur die Fachpsychologen unter einander, sondern auch diese mit den Ver- tretern der mannigfachen Anwendungsgebiete zu systematischer Arbeitsgemeinschaft ver- binden.

Das Institut wird geleitet durch einen von der Gesellschaft für experimentelle Psy- chologie eingesetzten Ausschuß, dem z. Z. Prof. G. E. Müller (Gröttingen), Prof. Meu- mann (Münster), Prof. Sommer (Gießen), Privatdozent Dr. Stern (Breslau), Dr. Otto Lipmann (Berlin) angehören. Dr. Stern ist Leiter, Dr. Lipmann Sekretär; ihnen üegt die eigentliche Verwaltung des Instituts ob.

I. Aufgaben des Instituts.

Neben der stillen Forscher- und Laboratoriums - Arbeit der reinen Psychologie, für welche die Analyse der Bewußtseinserscheinungen und die Feststellung psychischer Ge- setzmäßigkeiten Selbstzweck ist, beginnt sich seit einigen Jahren eine Forschungsweise von sehr abweichender Tendenz und Methode geltend zu machen.

Die Absicht geht auf Gewinnung solcher psychologischer Ergebnisse , die auf andere Gebiete des Lebens und des Wissens Anwendung gestatten : auf die der Er- ziehung und des Unterrichts, der Rechtspflege , der Psychiatrie und Psychopathologie einerseits, andererseits auf eine Reihe theoretischer Disziplinen, wie Sprachwissenschaft, Erkenntnistheorie, Ethik, Ästhetik usw.

Dem Verfahren nach muß die angewandte Psychologie in ganz anderem Maße als die reine Psychologie sammelnd vorgehen. Da sie die Fülle der seelischen Diffe- renzierungen, Entwicklungsformen und ümweltbedingungen berücksichtigen muß, bedarf sie zu ihren Schlüssen eines umfangreichen Massenmaterials. Femer darf sie nicht, wie die reine Psychologie, das Studium der künstlich vereinfachten elementaren Bewußtseins- erscheinungen bevorzugen, sondern sie muß, durch Einbeziehung der komplexen Seelen- phänomene und Fähigkeiten, eine größere Lebensnähe ihrer Ergebnisse erstreben.

Bei der Durchführung dieser Forderungen erhoben sich aber Schwierigkeiten, welche den Erfolg dieses so aussichtsreichen Forschungsgebietes teilweise ernsthaft bedrohten.

Die erste Schwierigkeit bestand darin, das Postulat der größeren Lebensnähe mit demjenigen Grade wissenschaftlicher Exaktheit zu verbinden, der eine einwandfreie V e r-

1) Die Beratungen des Vorstandes der Gesellschaft für experimentelle Psychologie über das Verhältnis dieser Gesellschaft an dem Institut sind noch nicht abgeschlossen. Meumann, Exper. Pädagogik. V. Band. 8

- 114

■Wertung der Ergebnisse rechtfertigt. Hier wird z. T. erst eine, den besonderen Auf- gaben angepaßte, Methodik ausgearbeitet werden müssen.

Sodann aber führt das Verlangen, Massenmaterial zu schaffen, leicht zu einem rein extensiven Betrieb, der sich auf Kosten der Intensität mit der schnellen Anhäufung und der Verrechnung recht großer Materialmengen begnügt; (hierher gehören nicht wenige der im Auslande sehr verbreiteten Fragebogen-Erhebungen). Verzichtet aber der Forscher wie meist in der deutschen Wissenschaft auf so fragwürdigen Untersuchungsstoff, dann vermag er als Einzelner eben nur an einer kleinen Zahl von Versuchs- oder Beob- achtungs-Personen fragmentarische Arbeit zu leisten.

Diese Mißstände haben in den letzten Jahren schon mehrfach dazu geführt, daß die Forderung einer Organisation psychologischer Arbeitsgemeinschaft erhoben wurde. Für Einzelprobleme ist sie auch bereits hier und da verwirklicht worden, und einige Laboratorien haben sich auch schon die Pflege eines besonderen Anwendungsgebietes (namentlich der experimentellen Pädagogik) zur Aufgabe gemacht. Aber alle diese Unter- nehmungen sind, so dankenswert sie sein mögen, von der privaten Initiative des einzelnen Forschers abhängig; die bedauerliche Zersplitterung der Kräfte ist nicht beseitigt; die Forderung des einwandfrei gewonnenen und verarbeiteten Massenmaterials harrt noch immer der Erfüllung.

So ergibt sich die Notwendigkeit einer dauernden Organisation, welche für die Probleme der angewandten Psychologie die Arbeitsgemeinschaft der Interessenten herbei- und durchzuführen und das Verfahren der Sammelforschung methodisch auszu- bauen hätte.

Ein Bedenken sei schon im voraus beseitigt. Bei der Heterogenität der verschie- denen oben aufgezählten Anwendungsgebiete kann es zweifelhaft erscheinen, ob ihre ge- meinsame Unterstellung unter eine Zentrale zweckmäßig, und ob nicht Sonderinstitute für pädagogische Psychologie, für forensiche Psychologie u. s. w. empfehlenswerter wären. Demgegenüber muß hervorgehoben werden, daß die angewandte Psychologie in vielen Be- ziehungen eine wirkliche Forschungseinheit darstellt. Gemeinsam sind den mannigfachen Anwendungsgebieten zunächst gewisse methodologische Besonderheiten, die eine Zentralisation der Bearbeitung wünschenswert machen : die Forderungen des Massenmaterials, des sammelnden und statistischen Verfahrens, der größeren Lebensnähe, der höheren Komplexion der zu untersuchenden Phänomene. Sodann aber haben sie auch sachlich so viele Probleme gemeinsam, daß ihre Trennung unzweckmäßig wäre; ja, es gibt Fragen, bei deren Untersuchung man noch gamicht übersehen kann, nach wievielen Richtungen sich die Anwendbarkeit der Ergebnisse erstrecken wird. So sind Ermüdungsmessungen, Intelligenzprüfungen, Gedächtnisforschungen für den Pädagogen ebenso wichtig wie für den Psychiater. Die Aussage ist nicht nur ein Problem der foren- sischen, sondern auch der pädagogischen und pathologischen Psychologie, sogar auch der Geschichtswissenschaft. Vor allem aber ist es das weite Gebiet der seelischen Entwick- lung (Psychogenesis), auf dem sich die Kindespsychologen und Pädagogen mit Vertretern der Kulturwissenschaften : Historikern, Linguisten, Kunstwissenschaftlern u. s. w. treffen. Hier bestehen also Aufgaben, die nur ein die ganze angewandt« Psychologie umfassendes Institut zu lösen vermag.

II. Betrieb des Instituts. Den Aufgaben des Instituts (dessen Tätigkeit durch private Mittel für längere Zeit sichergestellt ist) dienen folgende Einrichtungen:

115

1 . Kommissionen. Für jedes zu bearbeitende Spezialthema wird vom Ausscbuß eine Kommission ge- bildet, die ihrerseits wieder Hilfskräfte zur Durchführung ihrer Untersuchungen heran- zieht. Auch Xichtmitglieder der Gesellschaft können einer Kommission angehören oder als Hilfskräfte fungieren.

Die Kommissionen beraten und beschließen über:

a) die zu wählende Methode,

b) Umfang, Zeit, Orte, Material der Untersuchung,

c) die heranzuziehenden Hilfskräfte,

d) die Art der statistischen Verarbeitung,

e) die Art und Herausgabe der Publikation.

2. Sammelarchiv und Bibliothek.

Das Sammelarchiv ist bestimmt :

a) für die vom Institut selbst zu veranstaltenden Sammlungen, die sich auf be- stimmte psychische Äußerungen und Leistungen beziehen.

b) als Depot von psychologischen Gelegenheits- und Rohmaterialien {Tabellen, Proto- kollen, kasuistischen Beobachtungen u. s. w.), welche der einzelne Forscher nicht zu ver- werten gedenkt oder schon verwertet hat, und nun zu weiterer Benutzung zur Verfü- gung stellt.

c) Dem Sammelarchiv soll eine Bibliothek angegliedert werden, welche die sehr zersplitterte Literatur zur angewandten Psychologie in ihren Haupterscheinungen umfaßt.

Die Materialien des Sammelarchivs und der Bibliothek können gegen eine Gebühr im Institut benutzt und z. T. auch nach auswärts entliehen werden.

3. Übernahme fremder Materialien.

Das Institut übernimmt in gewissen (vom Ausschuß zu genehmigenden) FäUen, gegen eine Gebühr die rechnerische Verarbeitung übersandter Protokolle und überläßt die Re- sultate dieser Verarbeitung dem Autor zur Verwertung,

Das Institut befindet sich in Berlin- Wilmersdorf, Aschaffenburgerstr. 27 ((dicht am Pragerplatz), Gartenhaus 4 Treppen.

Als reguläre Arbeitszeit gelten wochentäglich die Stunden von 9 2 Uhr. Außerdem findet Sonnabend Nachmittag von 6 7 Uhr Sprechstunde des Sekretärs statt

Organ des Instituts ist die vom Jahre 1907 ab erscheinende „Zeitschrift für an- gewandte Psychologie und psychologische Sammelforschung", herausgegeben von WiUijun Stern und Otto Lipmann.

Für den Arbeitsplan der ersten Zeit sind, vorbehaltlich der Genehmigung durch den Gesamtausschuß, folgende Themen in Aussicht genommen :

1. Entwicklung des Sprechens und Denkens in den ersten Lebensjahren des Kindes (nebst Berücksichtigung völkerpsychologischer Parallelen).

2. Die Aussagciu ihrer

a) foroüsischen,

b) pädagogischen Bedeutung.

3. InteUigenzprüfung.

4. Eigenart und Entwicklting der hypemormalen Begabungen.

5. Anschauungstypen.

8*

116

Sammlungen sollen zunächst angelegt werden über:

1. Kinderzeichnungen und andere kindliche Kunstbetätigungen,

2. kindliche Sprachentwicklungen, Sprachschätze und besondere Sprachphänomene,

3. hypernormale Begabungen.

Inzwischen sind die Institutsleiter nicht müssig gewesen. Zu meh- reren der in dem Arbeitsprogramme entworfenen Aufgaben wurden aus- führlichere Programme versandt, nachdem schon in der erwähnten Sitzung in Berlin die ersten Arbeitskommissionen festgesetzt worden waren.

Da diese ausführlichen Arbeitsprogramme zum Teil sehr lehrreich sind, werden wir von Zeit zu Zeit das eine oder andere besprechen, wenn die Leiter des Instituts sie durch Veröffentlichung in ihrem eigenen Organ bekannt gemacht haben.

Literaturberichte.

Neue pädagogische und kinderpsychologische Literatur.

Pädagogisches Jahrbuch, Rundschau auf dem Gebiete des Volksschulwesens 1905. Unter Mitwirkung namhafter Schulmänner. Herausg. v. Otto Schmidt und Her- mann Rosin. 2 Tle in 1 Bd. 3. Jahrgang. Berlin, Gerdes u. Hödel 1906. Mk. 5.20.

Jahrbuch der pädagogischen Literatur für Lehrer, Erzieher und päda- gogische Schriftsteller IL Bd. Das Jahr 1902. Herausg. v. Max Hohnerlein. Horb 1906. P. Christian Mk. 4.50.

Fr. Kir stein, Dr. med. Mitwirkung des Lehrers bei Bekämpfung übertragbarer Krankheiten. Berlin, J. Springer 1907. Mk. 1.20.

W. F. Türmer, Die Veranschaulichung im Schulbetrieb der Gegenwart. Pädag. Zeitfragen. 11. Heft. München 1907. Höfling. Mk. —.60.

A. Wahrheit. Die Bedeutung der Phantasie im Lichte der Jugendschutzbe- strebungen. Ein Beitrag zur Frage der Sexualpädagogik. Dieselbe Sammlung. 12. Heft.

F. G r ü b e r , Pinselspiele, Unterhaltung mit Pinsel u. Farbe im Dienste der Kunst- erziehung 1. Tl. 2. Heft. W-Jena 1906. Thüringer Verlagsanstalt. Mk. 1.—

H. Jantzen, Die Mädchenschulreform. Vortrag. Königsberg i. Pr. Graefe und Unzer 1906. Mk. —.80.

Leo Diet, Über die Kongruenz und das Kongruenzgefühl und über graphische Darstellbarkeit körperlicher Objekte. Wien 1907 A. SchroU u. Co. M. 1.20.

H. Langhans, Methodik des ersten Schreib- und Leseunterrichts. Hannover 1907. C. Meyer. M. 1.25.

H. Loebner, Die Grundzüge des Unterrichts- und Erziehungswesens in den Ver- einigten Staaten von Nordamerika. Wien 1907. F. Deuticke. M. 5.

117

Paul Förster, Anti-Roethe! Eine Streitschrift. An die Freunde des huma- nistischen Gymnasiums. Leipzig 1907, Teutonia- Verlag.

K. Leuterich, Elementarer Lehrgang f. d. modernen Zeichenunterricht. 2. verm. Aufl. Stuttgart 1907. K. Wittwer. M. 2.50.

K. Markert, Die Freude und Kraft des Kindes und der erste Leseunterricht. M. 0.80 Markert und Schander, Mein erstes Lesebuch. Xümberg 1907. F. Korn.

A. Pabst, Die Knabenhandarbeit in der heutigen Erziehung. Leipzig 1907. B. G. Teubner.

Schauen und Schaffen, Zeitschr. des Vereins deutscher Zeichenlehrer herausg. V. H. Grothmann. Halbjährl. Nr. 4. Stade. A. Packwitz.

Gust. Broesicke, Anatomie, Physiologie und Hygiene des menschl. Körpers. Gemeinverständlich dargestellt für den Schulgebrauch. Leipzig 1906- F. C. W. Vogel. M. 3.

Fr. Dreyer, Deutsche Kulturgeschichte. Als Grundlage f. d. Unterricht in der deutschen Geschichte. Langensalza 1906. Schulbuchhandlung. M. 4.

Fr. Friedrichs, Das Schulzeichnen und seine Verwertung. Flensburg 1906. Heuwald. Mk. —.60.

A. Geyer, Der moderne Zeichenunterricht. 2. Aufl. Langensalza 1906. Schul- buchhandlung. M. .50.

Fr. Kuhlmann, . Bausteine zu neuen Wegen des Zeichenunterrichts. H. Das Gedächtniszeichnen. Dresden 1906. A. MüUer-Fröbelhaus. M. 1. .

H. Lukas und H. ültmann. Elementares Zeichnen nach modernen Grundsätzen. Derselbe Verlag. M. 3.

J. Moses, Die hygienische Ausgestaltung der Hülfsschule. Leipzig. Engelmann 1906. M. 1.—

H. Tewes, Völkertypen. (Japaner, Beduinen, die Menschenrassen. Tafeln und Erltrgn.) Leipzig 1906. F. E. Wachsmut.

Wege zur Kunst, Vorträge zur künstlerischen Erziehung der Jugend von S. Both und V. Roth. Hermannstadt 1906. W. Krafft.

M. Kunz (Direktor der Blindenanstalt lUzach-Mülhausen i. E.) Rückblick, ümblick, Ausblick. Vortrag, geh. am 11. Blindenlehrerkongreß in Halle a. d. Saale. 2—6. Aug. 1904. Halle a. S. Buchdruckerei des Waisenhauses 1905. S. A. aus dem Kongreßbericht.

Der vorliegende Vortrag giebt einen ausgezeichnet orientierenden Überblick über die Entwicklung und den gegenwärtigen Stand des Blindenanstaltswesens in- und außer- halb Deutschlands. Er sei allen, die sich für die Blindenerziehung interessieren lebhaft empfohlen.

Lehrmittel-Verlag der Blindenanstalt Illzach-Mülhausen 1903. Direktor Kunz hat einen ausgedehnten Lehrmittelverlag mit seiner Blindenanstalt in Illzach-Mülhausen verbunden, über dessen hauptsächlich für Blinde bestimmte Lehrmittel dieser Katalog ausführlich berichtet. Besonders sei noch hingewiesen auf pädagogische Abhandlungen, die in dem gleichen Verlage erscheinen. Von diesen seien erwähnt : Das Modell in Dienste des geographischen Unterrichts. Das Bild in der Blindenschule. Der geographische Unterricht in der Blindenschule. Ist es ratsam, Blinde zu Sprachlehrern auszubüden ? Büder und Zeichnungen in der Blindenschule. Zur Geschichte der Blinden- fürsorge und Blindenbüdung. Zur Blindenpsychologie („Das Sinnenvikariat"). Verglei- chende Messungen der Sinnesschärfe Blinder und Sehender. Sämtlich von M. Kunz (die zuletztgenannte Schrift stützt sich auf Versuche von Griesbach).

Fr. Nietzsches Werke, Taschenausgabe, Bd. I und H. Leipzig, C. G. Nau- manns Verlag. 1906.

118

Die Verlagsbuchhandlung von C. G. Naumann in Leipzig veranstaltet seit kurzem eine Taschenausgabe der Hauptwerke Nietzsches, die in sehr handlichem Format mit tortrefflicher Ausstattung in Druck und Papier erscheint und bis Ende März d. J. fertig vorliegen soll. Für den Inhalt dieser Ausgabe ist in Aussicht genommen:

Band I. Homer -Rede. Geburt d. Tragödie. Der griech. Staat. Das griech. Weib. Musik u, Wort. Homers Wettkampf. Zukunft unserer Bildungsanst. Das Verhältnis der Schopenh. Philos. zu einer deutsch. Cultur. Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen. Über Wahrheit u. Lüge. (1869/73). ü. Unzeitgemäße Betrachtungen inkl. Wir Philologen. IH. Menschliches Allzumenschliches. Aus d. Nachlaß (1876/77). IV, Vermischte Meinungen und Sprüche. Wanderer und sein Schatten. Aus dem Nachlaß (1877/79). V. Morgenröthe. Aus d. Nachlaß (1880/81). VL Die ewige Wiederkunft. Fröhliche Wissenschaft. Lieder des Prinzen Vogelfrei. Aus dem Nachlaß : Gedichte (1871/86). VH. Also sprach Zarathustra. Aus d. Nachlaß (1882/85). VHL Jen- seits V. Gut u. Böse. Genealogie d. Moral. Aus d. Nachlaß (1883/86). IX. Wille zur Macht (1882/88). X. Wille zur Macht (Fortsetzung). Fall Wagner. Nietzsche contra Wagner. Götzen-Dämmerung. Antichrist. Dionysosdithyramben (1882/8). Preis pro Band brosch. M. 4. ; geb. M. 4.80.

In dem Vorwort zum ersten Bande erfahren wir, daß die vorliegende Ausgabe vor allem Wert legt auf Anordnung und Aufeinanderfolge von N.'s Schriften. In der großen Gesamtausgabe seiner Werke wurden nämlich 2 Abteilungen gemacht, indem die acht Bände der ersten Abteilung die von N. selbst veröffentlichten Schriften enthalten, wäh- rend die zweite Abteilung den Nachlaß umfaßt. Dadurch wurde natürlich die zeitliche Folge der Abfassung der Werke aufgehoben. Diese ist nun in vorliegender Ausgabe hergestellt und sie erhält dadurch einen eigenen Wert, indem sie leichter als die an- deren Ausgaben über die ganze Entwickelung N.'s orientiert. Dem ersten Bande hat die unermüdliche Schwester N.'s, die bekannte Verfasserin seiner dreibändigen Biographie einen gedrängten Lebensabriß ihres Bruders und einen Überblick über seine innere Ent- wicklung beigegegeben. Auch dadurch erhält diese^ Taschenausgabe den Wert, eines der besten Hilfsmittel zur Einführung in das Studium der Persönlichkeit und des Schaffens N.'s zu sein. Dem zweiten Bande ist ebenfalls eine Einleitung beigegeben, in der Frau Elisabeth Förster - Nietzsche mit Anknüpfung an den Inhalt des ersten Bandes über die Probleme orientiert, die N. in den Schriften der beiden ersten Bände beschäftigten. Über Inhalt und Bedeutung der übrigen Bände werden wir nach dem Erscheinen der ganzen Ausgabe noch besonders berichten.

Neue Zeitschriften.

1. Philosophische Wochenschrift. Unter Mitwirkung hervorragender Fachgelehrter. Herausgegeben von Prof. Jerusalem, Wien, Prof. Linkel , Gießen, Dr. Renner, CLarlottenburg. Bd, 1906 u. 7. Verlag v. H. Rohde, Leipzig. Preis viertel- jährlich 3 Mk.

Es ist ein erfreuliches Zeichen für die Ausbreitung des Interesses für Philosophie in weitere Kreise der Gebildeten, daß die Herausgeber und. der Verlag eine philosophische „Wochenschrift" begründen konnten, die durch ihr häufiges Erscheinen, und durch den ausgezeichneten Kreis ihrer Mitarbeiter eines der besten Orientierungsmittel über den Wandel der philosophischen Stimmungen und über die philosophische Arbeit unsrer Zeit

119

werden dürfte. In den bisher erschienenen Heften die jedes ungefähr drei Bogen umfassen sind Abhandlungen über alle unsre Zeit bewegenden philosophischen Fragen einschließlich der Probleme der Grenzwissenschaften, der Philosophie (Rechtsphilosophie, Religionsphilosophie, Sozialwissenschaften u. a. m.) erschienen. In regelmäßigen Beigaben von Referaten wird der Leser über die neueste philosophische Literatur orientiert. Die „Mitteilungen" enthalten Berichte über Institute, Kongresse , Yereinstätigkeit. Perso- nalien u. s. f. Bücheranzeigen geben die neusten philosophischen Erscheinungen an. Eine „Zeitschriftenschau" giebt Überblicke über philosophische und verwandte Zeitschriften. Von den bisherigen Mitarbeitern nennen wir, außer den Herausgebern: 0. Braun, F. Clement, J. Dammüller, W. Geißler, R. Honigs wald, Horst-Kramer, A. Kohut, G. Opitz, Rohland, L. Roth, Th. Schwartze, F. Staudinger, Th. Sternberg.

2) The Journal of Abnormal Psychologie, Editor Morton Prince M. D. Associated Editors: Münsterberg, James J. Putnam, August Hoch, Boris Sidis, Charles L. Dana, Adolf Meyer. Vol. 1. Heft 1. April 1906. Boston, Mass. The Old Corner bookstore, Inc.

Diese neue amerikanische Zeitschrift wird in erster Linie Abhandlungen aus dem Gebiete der klinischen und Laboratoriums - Untersuchungen über abnorme geistige Er- scheinungen bringen. Die erste Nummer enthält einen Artikel von Pierre Janet: The pathogenesis of some impulsions;] eine Studie von Bechterew: What is Hypnosis? und Untersuchungen von Putnam: Recent experiences in the study and treatment of hysteria at the Massachussets General Hospital; with remarks on Freud's Method of treatment by „Psycho- Analysis". Morton Prince behandelt: The psychology of sudden religious conversion. Über die einzelnen Abhandlungen werden wir besondere Besprechungen bringen, soweit sie für unser Arbeitsgebiet Interesse haben.

3) Zeitschrift für allgemeine Ästhetik und Kunstwissenschaft, herausg. von Max Dessoir. 1. Bd. 1. Heft. Stuttgart, Ferdinand Enke, 1906.

Die ersten Hefte dieser Zeitschrift enthalten Abhandlungen von Lipps, K. Lange, H. Riemann, G. Simmel, H. Spitzer und Th. Poppe, J. Segel, K. Groos, Spitzer, Vol- bebr und anderen namhaften Ästhetikern der Gregenwart und Besprechungen neuerer ästhetischer Literatur.

4) Manhem, Schwedische Zeitschrift für Erziehung und Unter- richt, herausg. von Frans v. Scheele. Stockhohn, Wahlström und Widstrand, 1906.

Von dieser neuen pädagogischen Zeitschrift liegen bis jetzt vier Hefte vor, die zeigen, daß in Schweden die neuen Methoden pädagogischer Forschung sich Boden er- obern. Der Name des Herausgebers Frans v. Scheele ist in pädagogischen Kreisen wohl- bekannt, seine redaktionelle Tätigkeit bürgt für einen gediegenen Inhalt der Zeitschrift.

Handarbeit.

Papst Dr. A. Seminardirektor, die Knabenhandarbeit in der heutigen Er- ziehung (Aus Xatur und Geisteswelt) Leipzig. B. G. Teubner 1907.

Die Bedeutung der Handarbeit und die vielseitigen Erfahrungen seines Verfassers mögen die eingehende Besprechung des wertvollen Büchleins in der experimentellen Pädagogik rechtfertigen. Denn die Handarbeit bleibt die ursprüngliche Form aller Experi- mente, jeder Prüfung von Ursachen und Wirkungen unserer Tätigkeit

120

Zur Begründung des Handarbeitsunterrichtes aus der Kulturgeschichte wird erstlich gezeigt, wie die Werkzeuge ursprünglich zur Verstärkung der Tätigkeiten dienten, welche die Hand ausübt. Der Stein mit einem Holzstiele, die Urform des Hammers und der Axt, ist eine Nachbildung des Vorderarmes mit der geballten Faust. Der Zahnreihe an Säge und Feile dienten die Schneidezähne als Vorbild. Dann bot die Natur nebst den Rohstoffen auch zur technischen Arbeit dienliche Formen, als Dornen, Zähne und Knochen- stücke von Tieren, Feuersteine. Durch die Benutzung des Feuers wurde das Härten, Aushöhlen, Zuspitzen und Glätten solcher Stoffe ermöglicht. Die Vervollkommnung der Werkzeuge führte durch die Vervielfältigung der Verrichtungen auch zur weiteren Aus- bildung der Handfertigkeiten. Denn das verbesserte Werkzeug verlangt eine sorgfältigere Behandlung und gestattet zugleich eine vielseitigere Verwendung. Durch den Gebrauch des Werkzeuges wurde nicht nur die Hand geübt, sondern auch der Tastsinn geschärft. Die Hand, von der unmittelbaren Berührung mit dem harten Stoffe befreit, konnte mit verminderter Anstrengung allmählich ihre Beweglichkeit und Geschmeidigkeit steigern, ihre Tastempfindungen verfeinern. Der Feinmechaniker kann seine Hand zu einem so feinen Werkzeug entwickeln, daß sie bei Prüfung und Einpassung der Mikroskopröhre Diffe- renzen empfindet und ausgleicht, die mit technischen Maßen nicht mehr faßbar sind. Anderseits fordert die Vervollkommnung der Maschinen wieder bessere Ausbildung der Arbeiter, welche diese bedienen. Solche darf nicht nur die Organfertigkeiten steigern, sie muß auch das Sachverständnis erweitern und das Taktgefühl verfeinern.

Die Besprechung der physio-psychologischen Grundlagen der Handarbeit, macht darauf aufmerksam, daß die Koordination der Bewegungen der feineren Muskel- gruppen länger eingeübt werden muß als die einfacheren Verrichtungen der größeren Glieder, weil zu jener auch die Hemmung der unzweckmäßigen Mitbewegungen zu erlernen ist. Für die technische Erziehung hat besonders die feinere Anpassung der Muskelbe- wegungen und des Augenmaßes an die Zwecke und Regeln der wechselnden Verrichtungen bleibenden Wert, weil solche auch die Nervenzentren der Erinnerung und Einbildung be- tätigt, aus denen gegliederte Vorstellungen und geregelte- Verrichtungen hervorgehen. „Nicht die Axt und das Brecheisen, sondern der leichte Hammer, die Säge, der Hobel, Meißel, Messer und Schere sind die Werkzeuge, die in der Handarbeitsschule zur Ver- wendung kommen sollen."

Die frühzeitige Entwicklung der Tastempfindungen und -bewegungen beim Kinde weist darauf hin, daß Handfertigkeiten in früher Jugend am leichtesten erworben werden, (Vom 8. 16. Altersjahr). Die Hand- wie die Zeichen- und Sprechübungen schließen sich am besten an Spiel und Kampf des Kindes mit einfachen Dingen und gegen äußere Wider- stände an. Sie gehen, wie die frühesten Zeichenversuche, von schematischen Grundformen und elementaren Verrichtungen aus. Anfänglich muß die Handführung sich den Wirkungen des Werkzeuges anpassen. Das Kind muß Schere und Messer führen lernen, daß die Schnitte genau den vorgezeichneten Richtungen und Bogen folgen. Der Knabe muß Säge, Hobel und Feile so halten und führen lernen, daß die Schnitte und Flächen eben werden. Je sicherer Augenmaß und Handführung die vorgezeichneten Formen herstellen, die vor- geschrieben Zwecke erreichen, umso mehr verketten sich die Vorstellungen der Mittel und Zwecke. Dann erscheint das Werk der Hand nach und nach als Werk des eignen Vor- stellens, als Äußerung des steten Willens und des persönlichen Taktgefühles. Dadurch gewinnen Erzeugnisse der Handarbeit, gleich Zeichen und Worten, Bedeutung für den Austausch der Vorstellungen und Gefühle.

Handfertigkeit, Zeichen- und Sprachbildung. Abgesehen von dem Zu- sammenhang zwischen der Rechtshändigkeit und Sprachentwicklung, der von der Forschung

121

doch noch nicht vollständig aufgehellt ist, suchen wir die Förderung, welche Handfertigkeit und Sprachbildung einander wechselseitig bieten, vielmehr in dem Gewinn an geistigem Leben. Die Handfertigkeit soll nämlich zu sachlich begründeten und zweckmäßig ge- gliederten Vorstellungen führen, zu einem den tatsächlichen Zuständen und Vorgängen angemessenen Ausdruck in Worten und Zeichen, in Satzbau und Darstellung befähigen, richtige und genaue Wertung der Erzeugnisse in ihrer Herstellung sichern. Durch die angemessene Verbindung von Hand-, Zeichen- und Sprechübung soll der Schüler, der Lehrling sich von seinen individuellen, mechanischen Gewöhnungen erheben zum Ver- ständnis allgemein gebräuchlicher Formen der Auffassung und Darstellung, in welchen der Zusammenhang der Erscheinungen, Ursachen und Wirkungen der Vorgänge zur Geltung kommen. Im angemessenen Wechsel mit dem anschaulichen und sprachlichen Austausch der Vorstellungen sichert Handfertigkeit der Einbildung die Mittel und Wege zur zweckmäßigen Verwirklichung ihrer Absichten, befestigt sie den klaren Überblick über den Bau der Gegenstände, sowie die Einsicht in die Wirkungen der Kräfte.

Das Verständnis für den Zusammenhang der Erscheinungen, für Ursachen und Wirkungen der Vorgänge setzt Verkettung sachlicher Vorstellungen aus der Handarbeit mit formalen Vorstellungen aus der Zeichen- und Sprachübung voraus und solche tritt erst ein, wenn durch elementare Organübungen des Augenmaßes und der Handführung bei der Handarbeit und dem Zeichnen einerseits, des Sprachgehöres und der Wortfügung anderseits die Wechselwirkung zwischen Wahrnehmungen und Bewegungen, spontanen Erinnerungen und Einbildungen soweit geregelt ist, daß sie weder durch äußere Störungen noch durch innere Hemmungen von der zweckmäßigen Reihenfolge der Be- obachtungen und Bewegungen abgelenkt wird. Erst wenn der Schüler vorgezeichnete Richtungen und Bogen mit dem Zeichenstift, dem Messer, der Schere oder Säge einiger- maßen sicher einhält, kann man ihn mit Worten anweisen, vorgeschriebene Umrisse nach- zuzeichnen, auszuschneiden oder auszusägen. Wenn der Lehrling imstande ist ebene Flächen glatt abzuhobeln oder zu feilen, runde Flächen genau abzudrehen, kann man ihm be- fehlen Körper von vorgezeichneter Gestalt und Größe herzustellen. Wenn der Schüler gelernt hat seine Anschauungen planmäßig aufzuzeichnen, über seine Verrichtungen sich in treffenden Worten klar und bündig auszusprechen, wird er seine Tätigkeiten in weiterem Zusammenhang zweckmäßig regeln und seine Ansichten im Verkehre zur Geltung bringen können. Aber anfänglich müssen Werk- Zeichen- und Sprechübung gesondert nebeneinander hergehen, damit der Schüler seine ganze Aufmerksamkeit auf die Ein- stellung der Sinne und das Wirken der Muskeln, sowie auf die genaue Anpassung der Bewegungen an die Beobachtungen richten und dadurch die Wechselwirkung zwischen den sensorischen und den motorischen Zentren des Sehens und Tastens, des Hörens und Sprechens, den Erinnerungen und Einbildungen ungestört sich anbahnen kann.

Arbeitsgemeinschaft. Gleich jeder folgerichtigen Betätigung der Organe, des Verstandes und der Gefühle zu bestimmten Zwecken trägt auch die Handarbeit zur Festigung des Charakters bei; namentlich dadurch, daß sie den Menschen an sachliche Prüfung der Erlebnisse gewöhnt und zur Dienstbereitschaft befähigt. Überhaupt bereitet die Handarbeit den sachlichen Boden der Arbeitsgemeinschaft, auf welchem die verschie- denen individuellen Anschauungen und Bestrebungen sich zusammenfinden und ver- ständigen können. So stehen Lehrer und Schüler bei den Übungen der Handarbeit ohne Vermittlung einer Überlieferung den Stoffen und den durch diese wirkenden Kräften gegenüber. Denn die Führung der Werkzeuge und die Gestalt der Werkstücke ist zu- nächst nur von räumlich-stofflichen Bedingungen und technischen Zwecken abhängig. Auf

122

die Gemeinschaft der durch die sachlichen Verhältnisse gestellten Aufgaben gründet sich die Arbeitsgemeinschaft des Lehrers mit den Schülern, welche in der Arbeitsgemeinschaft der Leitenden und der Ausführenden im Berufsleben ihre natürliche Ergänzung findet. Nicht überliefertes Wissen, wie beim geschichtlichen Unterricht, hat der Lehrer der Handarbeit und des Zeichnens fortzupflanzen, sondern die Beobachtungen und Bewegungen, die spontanen Erinnerungen und Einbildungen der Schüler soll er durch stufenweise ge- steigerte Aufgaben so lenken, daß diese ihre Vostellungen sachgemäß gliedern und ver- knüpfen, ihre Verrichtungen zweckmäßig regeln lernen.

Praktische und pädagogische Ziele. Ohne Zweifel arbeiten methodisch geordnete Werkübungen, wie Papp- und Holzarbeiten, Modellieren und Metallarbeiten der Werkstattlehre gründlicher vor als der einseitige Sprach- und Zeichenunterricht, der sich mit Worten und oberflächlichen Anschauungen begnügt.

Aber auf tatsächliche Erfahrungen im Sinne der experimentellen Pädagogik kann sich die Berufswahl erst dann stützen, wenn sich aus den Leistungen und der Vor- stellungsweise erkennen läßt, ob ein junger Mensch mehr der verständig berechnenden Bautätigkeit des Mechanikers zuneige oder der anschaulichen Auflas sungs weise der Aus- stattungsgewerbe. In diesen beiden Richtungen beruflicher Tätigkeit geben sich auch die Bestrebungen zur Förderung des Arbeitsunterrichtes kund. „Die eine, die von der Notwendigkeit bestimmt wird dem Gewerbe und der Technik geeignete Kräfte zuzuführen, kann man die praktische nennen. Die andre wurzelt in der Erkenntnis, daß die Entwicklung des kindlichen Geistes nur durch Selbsttätigkeit und Bearbeitung der ihm zugänglichen Bildungselemente möglich ist, zunächst also durch technische Arbeit". In weiterem Sinne durch Begründung des methodischen Sachverständnisses und des kunstsinnigen Taktgefühles auf die elementaren Organfertig- keiten des Augenmaßes und der Handführung, des Sprachgehöres und der W^ortfügung.

Diese pädagogische Richtung hat die Kunsterziehung des Menschen zum Ziele, jene praktische strebt mehr nach Ausbildung aller physischen und geistigen Kräfte im Dienste der Weltwirtschaft und des Weltverkehres.

Nationale Ziele. Der schwedische Slöjd verfolgt vornehmlich erziehliche Zwecke. „Das Kind soll lernen selbst zu beobachten und aus eigenem Antrieb tätig zu sein, nicht erwarten, daß ihm alles und jedes erklärt wird. Der Lehrer soll ihm nichts zeigen, was es durch den Gebrauch seiner eigenen Kräfte auffinden kann, er soll nicht über den Gebrauch der Werkzeuge reden, sondern er soll sie gebrauchen. Der Schüler soll beobachten, wie der Lehrer sie gebraucht; er soll dazu die Haltung des Körpers be- obachten und das Maß von Kraft abschätzen, das zur Ausführung einer bestimmten Be- wegung notwendig ist."

Der französische Handarbeitsunterricht soll nicht nur die Formauflfassung durch das Augenmaß und zweckmäßige Handführung lehren, sondern auch das Formverständnis anbahnen durch die Verbindung mit dem messenden Zeichnen und Rechnen. Auch in den englischen Volksschulen soll die Handarbeit nebst der Entwicklung des Be- obachtungsvermögens der Ausbildung von Raum- und Zahlbegriffen dienen, „auf Grund der Selbstbetätigung und im Zusammenhange mit dem Sachunterricht."

Das Bildungsideal der europäischen Völker ist erwachsen aus den sprachlichen Überlieferungen des Altertums, das der Amerikaner dagegen aus dem technischen Schaflfen der Neuzeit. Unsere Gewerbeschulen betrachten die Werkstattlehre als Vor- bedingung für einen mit Namen bezeichneten Beruf, dessen technische Fertigkeiten durch den Inhalt dieses Begriffes umschrieben sind. Der Maurer muß lernen, wie man Stein-

123

blocke zu Wänden aufeinanderschichtet, der Zimmermann, wie man Balken zu festen Gebinden zusammenfügt, der Schreiner, wie man Wände mit Holz vertäfert, Gestelle und Kasten aus Rahmwerk baut, der Spengler, wie man aus Blechtafeln Gefäße bildet usw. Die technische Mittelschule (Manual Training High School) in Amerika lehrt dagegen die Werkstattarbeit nur als ein „Element der allgemeinen Bildung auffassen und pflegen". Dem Amerikaner erscheint „diejenige Bildung als die beste für einen jungen Menschen, die ihm den Eintritt in die verschiedenen Lebensverhältnisse und Berufsarten ermöglicht, ohne ihn von vornherein für eine bestimmte Richtung festzulegen".

Diese Wertschätzung der technischen Fertigkeiten für die Zwecke der Geistesbildung wird unterstützt durch die Ergebnisse der psychologischen Forschung. Ein Hauptvertreter dieser pädagogischen Auffassungsweise, John Dewey, baut sein Erziehungssystem auf dem Tätigkeitstriebe des Kindes auf. Vier Triebe hat die Schule zu entwickeln: sich mitzuteilen, zu forschen, zu schaffen und sich künstlerisch zu betätigen. „Die technischen Arbeiten in Holz und Metall, das Weben, Nähen und Kochen müssen so in den Er- ziehungsplan aufgenommen werden, als seien sie Lebenszweck und nicht nur Lehr- fächer". Das gilt aber auch schon von den elementaren Organfertigkeiten. Denn man vergesse nicht, daß der Lebenszweck des Kindes zunächst von den momentanen Anre- gungen abhängt, die es in seine Erinnerungen aufnehmen, durch seine Einbildungen sich aneignen und deren Wirkungen das Kind nach seinen Neigungen in Handbewegungen oder AVorten zum Ausdruck bringen soll. Daß bei den Organübungen des Augenmaßes und der Handführung deren Anwendung zu berücksichtigen sei, gibt auch der schwedische Slöjd zu, indem er sich an Gebrauchsgegenstände hält. Doch nicht minder als technische Arbeit ist die Sprache Lebenszweck. Diese ist für die Entwicklung des geistigen Ver- kehres so unentbehrlich als die technische Arbeit für den Fortschritt der Kultur. Darum gilt es, technische und sprachliche Erziehung der Jugend in einer der Fassungskraft und dem Arbeitstakt des Einzelnen angemessenen Weise zu paren.

Auf der Unterrichtsausstellung in St. Louis trat der Einfluß des von den Vereinigten Staaten gegebenen Beispieles einer starken Betonung des technischen Unterrichtes sehr hervor. Das gilt vor allem auch von Japan, dessen Ausstellung durch Reichhaltigkeit, vorzügliche Ajiordnung und methodische Durchbildung die Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Es zeigte sich, daß die Japaner namentlich in der Metalltechnik Modellformen und Arbeitsverfahren anwenden, die den deutschen fast vollständig gleichen, ohne daß ein geschichtlicher Zusammenhang zwischen beiden Systemen erkenntlich wäre. Diese Ähnlichkeit bestätigt, daß jede echte Technik materialgerecht sein muß.

Kunsterziehung. In der Tat bedingen gleiche Natur des Stofi'es, gleicher Körperbau und die gleichartige Entwicklung der Vorstellungen auch bei allen Völkern übereinstimmendes Sachverständis und technisches Verfahren. Doch äußere Reize be- stinunen nicht allein die Taktgefühle, welche das Geistesleben regeln, sondern vornehmlich individuelle innere Triebe. Solche Triebe verursachen den Wechsel der physischen und psychischen Zustände, welcher sich durch die Taktgefühle kund gibt, vermittelst dieser Richtung, Dauer und Stärke der Blick- und Tastbewegungen bestimmt und jede Art der Kunstübung regelt. In dieser Kunstübung offenbart sich also das individuelle Geistes- leben des Menschen und jedes Volkes, das ihr Wirken über die allgemein gültigen Regeln erhebt, den Erzeugnissen ihrer Tätigkeit im Weltkampf der Arbeit besonderen Wert verleiht. Darum dürfen wir nicht nur „durch Arbeit zur Arbeit", sondern wir sollen durch Veredlung der Taktgefühle zur Kunstübung erziehen.

Zürich, März 1907. F. Graberg:

124 - Zur Konzentration der technischen Arbeit und Berufsbildung.

Naumann D. Fr. Neudeutsche Wirtschaftspolitik. Berlin 1906. Hilfe. Bendel H. Zum Ausbau des gewerblichen Fortbildungsschulwesens. Zürich 1907. Gebrd. Leemann und Gs.

Diese beiden Zeugnisse zweier Männer von vielseitiger Lebenserfahrung weisen über- einstimmend auf die Konzentration der technischen Arbeit und Berufsbildung hin.

Reichstagsabgeordneter D. Fr. Naumann, Mitarbeiter der Hilfe, geht von den Tatsachen der Bevölkerungsvermehrung aus. Wo im Deutschen Reich vor 90 Jahren 2 Menschen lebten, leben jetzt 5. Der Vermehrungsvorgang hat die ganze germanisch-slawische Menscheitsgruppe ergriffen und ist über sie hinaus sichtbar. Nach- dem der Mensch die Natur technisch gebändigt hat, und nachdem Krieg und Hungersnot seltener geworden sind, fehlen die Hemmnisse der alten Zeit. Wo sind Wölfe? Wo ist Pestilenz ? In günstigen Jahren erreicht Rußland einen Zuwachs von 18°/ oo, Deutschland, Holländer, Dänen und Norweger 15°/ oo", Österreich-Ungarn, Großbritannien, Belgien 12° oo y Finnland. Schweden, Schweiz ll°/oo; Italien 10°/oo; Frankreich oo- In den Vereinigten Staaten von Nordamerika stieg die Zahl in 20 Jahren um 26 Millionen.

Diese Vermehrung zwingt die Völker Nahrungsmittel durch Bearbeitung von Stoffen zu erkaufen. Daraus entspringt der W ettbewerb um die beste Technik, die beste Form und die beste Organisation der Arbeit und des Handels. „Wo ist die höchste- menschliche Leistung zur Massenerscheinung geworden? Wo gibt es die wenigste Arbeits- vergeudung, die wenigste Verschleuderung von Zeit an wertlose Produkte, die wenigsten Störungen des Produktionsprozesses ? Wo gibt es die vollendetste Ausnützung der inländischen Naturschätze, die verständigste Verwendung der Anlagen und Be- gabungen der Bevölkerung, die gewandtesteAnpassung an die Bedürfnisse der Käufer? Nicht auf die Menge der Leistungen kommt es an, vielmehr auf deren Vervollkommnung. Denn Masse ohne Steigerung der Arbeitsqualität wird zur Last. Alle einfache und ungelernte Arbeit hat die Tendenz so billig wie möglich bezahlt zu werden, da jeder sie nachmachen kann. Nur Waren, die nicht jeder nachmachen kann, erleichtern das Dasein eines Volkes. Was sich in der Welt bezahlt macht ist stets nur die höhere Qualität. Höhere Qualität der Ware ist aber nicht möglich ohne höhere Qualität der Arbeitskräfte, und zwar aller Arbeitskräfte. Die gute Arbeit muß Volkscharakter werden."

Wie erziehen wir unser Volk zu guter Arbeitsleistung ? Wie können wir die Organ- fertigkeiten des Augenmaßes und der Haudführung, des Sprachgehöres und der Satzbildung, das Sachverständnis der Maßverhältnisse von Raum, Zeit und Kraft, der Beziehungen zwischen Stoffeigenschaften und Arbeitsverrichtungen steigern, daß die Arbeitsqualität im Volk erhöht wird? Wie können wir die Taktgefühle des kunstsinnigen Schaffens und der sittlichen Lebensführung veredeln, damit sie sich immer gewandter den materiellen und geistigen Bedürfnissen der Käufer anpassen ? Nur durch Konzentration der technischen Arbeit, durch planmäßiges Zusammenwirken aller Faktoren der Berufsbildung, insbesondere auch der genauen Prüfung aller Vorgänge im Seelenleben der Heran- wachsenden mit dem lebendigen Unterrichte, sind diese Aufgaben zu lösen.

Tatsächlich wird die Konzentration der Arbeit schon begründet durch die Vermehrung der Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Gruppen und Einzelgliedern eines wachsenden Volkes. „Schon der Stadtbewohner ist an größere Zahl von Rücksichten und Regeln gebunden als der Ackerbauer, der auf seinem Gute allein sitzt und seinen Bedürfnissen selbst genügt. Das höchste Maß von Vorschriften tritt jedoch erst dann

125

ein, wenn an Stelle der Selbstwirtschaft die Produktion für den Verkauf trittj Der Ver- käufer wird abhängig vom Käufer, aber auch vom Mitverkäufer. Der deutsche Landmann wird abhängig vom Verkäufer in Argentinien, der Händler in der Kleinstadt vom Kaufmann in der Großstadt, der Bauer von der Kaufkraft des Städters, der Städter von der Kauf- kraft des Landes, der Exporteur von der Leistung der Gewerbe seines Hinterlandes, der Importeur von Geschmack und Zahlungsfähigkeit seiner Abnehmer, der Fertigfabrikant vom Halbzeugfabrikanten, der Walzwerksbesitzer vom Kohlenbesitzer, der Mieter vom Hausbesitzer, der Hausbesitzer von der Nachfrage nach Wohnungen, der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber, der Arbeitgeber von Zahl und Qualität der vorhandenen Arbeitskräfte, der Beamte von der Steuerkraft der Bevölkerung, der Geschäftsmann von den Vorschriften des Beamten. Es entsteht ein Netz von Verträgen, Tarifen, Gewohnheiten, Rechten, Krediten, Gesellschaften, Pflichten, wie es nie vorher in der Menschheit so verwickelt und bunt vorhanden gewesen ist." Der Einzelmensch gilt nur in dem Grade, als er seine Individualität im Dienste seiner Umgebung oder im Wettbewerbe seiner Genossen zu entfalten vermag. Wir sagen nicht mit N. : „Der Einzelne hört auf eine Größe zu sein." Denn die Wettspiele der Sportübungen vde die Wettkämpfe auf allen Gebieten der technischen, wissenschaftlichen und Kunsttätigkeit zeigen deutlich ein Ringen der Indivi- dualität nach Geltendmachung der persönlichen Kräfte , das eben die Arbeitskraft steigert.

Bodenbesitz, Wohnungsbau, Beschaffung von Kleidung, Nahrung, Holz, Eisen und Kohle, sowie der Güteraustausch liegen unserem Hauptzweck femer als die Frage nach der Organisation der Arbeit. Als Arbeit wird erklärt: „zweckvolles Handeln, dessen Ziel die Überwindung lebensfeindlicher Mächte ist" und als solche sind genannt : Hunger, Kälte und Hitze, Dürre und Überschwemmung, Überwältigung durch Tiere oder fremde Menschen, Vereiosamung, Dunkelheit, Krankheit und Tod. In diesem Sinne der Notwehr gegen Natur- und Schicksalsgewalt wirkt die Arbeit nur als Gesamtleistung sozialer Kreise, von Familie, Sippschaft, Rasse, Stand, Ortschaft, Volk, weil die Kraft des Einzelnen zu dieser Notwehr nicht ausreicht. Solche „Arbeitsgemeinschaft"' tritt bei wachsender Volksdichtigkeit stärker hervor, ist aber schon in kleinem Kreise vorhanden und zeigt in Arbeitsteilung und Arbeitsleitung die Merkmale der Organisation. Solche besteht aus folgenden Elementen:

a) Erlangen der Rohstoffe;

b) Schutz der Stoffe und Arbeitsvorgänge vor feindlichen Gewalten. (Naturereignisse, Tiere, Streiker, Militär, Rechtsbildung) ;

c) Feststellung der Arbeitstechnik für jeden Rohstoff.

d) Herstellung der Werkzeuge und Hilfsmittel für jede Art von Technik

e) Verteilung der Arbeitskräfte auf die verschiedenen Aufgaben.

f) Anordnung der Arbeitdisziplin in den einzelnen Gruppen.

g) Austausch der gewonnenen Waren.

Von diesen Elementen kommen hier bloß die von c bis f angegebenen Tätigkeiten in Betracht.

Technik. Wie die Sprache auf einem Schatz überlieferter Worte und Satzformen, so beruht die Technik auf einem Schatz überlieferter Sachkenntnisse und Handfertigkeiten. In beiden Fällen unterscheidet sich die Neuzeit von der Vergangenheit durch zielbwußtere Analyse und Synthese von Zuständen und Vorgängen. Gleich jeder »schöpferischen Syn- these" erwachsen Sprache und Handwerk ursprünglich aus aufdämmernder Erkenntnis,

1) Bücher, Entstehung der Volkswirtschaft § 233. 2. Aufl. Tübingen 1898. H. Laupp.

126

unwillkürlichem Geschick und erwachsendem Taktgefühl. Allmählich lernt man den Zu- stand der Stoffe und Werkstücke beachten, die Wirkungen der Handgriffe und Werkzeuge unter wechselnden Bedingungen vergleichend prüfen, die Flächenumrisse aufzeichnen, Stoffe, Tätigkeiten und Erzeugnisse benennen, Ausdehnungen messen, Dinge und Schläge zählen, Kräfte wägen und so die Vorstellungen gliedern, die Verrichtungen regeln. Man zerlegt den Schlag des Hammers in seine Teilwirkungen, überläßt der Schwere der Masse und der Spannkraft des Dampfes die Stoßwirkung und behält der Wachsamkeit und Geistesgegenwart des leitenden Arbeiters das Regeln der Bewegungen vor. Die verstandes- mäßige Gliederung des Arbeitsvorganges, die Herstellung von Hilfsmitteln, Werkzeugen und Maschinen hat also doch keine „Entpersönlichung" der Handarbeit zur Folge, wie N. sagt und man früher glaubte. Wohl aber fordert die Überwachung der stetigen Be- wegungen von Maschinenteilen, die nach vorberechneten Naturzwecken wirken, strammere Regelung der psychischen Verrichtungen als die Führung der Handwerk- zeuge; insbesondere die Anpassung der Aufmerksamkeit an den Takt der Werkzeugbe- wegungen und sicheres Eingreifen bei jeder Störung des Betriebes. Am elektrischen Webstuhl muß die Arbeiterin gleichzeitig die Bewegungen der Kettenfaden und die des Schußfadens überwachen, während der Motor die Triebrolle dreht. Schon die Koordination dieser beiden Richtungen der Aufmerksamkeit setzt persönliche Triebregungen voraus, die erst nach längerer Übung dem Gang der Maschine und den Wechselfällen der Arbeit sicher folgen.

Dagegen ist richtig, daß die Verwendung von Maschinen nur scheinbar die Arbeit von Menschenhänden erspart, sowie daß die Maschine erst bei hohem Grade der Vervoll- kommnung wirtschaftlichen Gewinn bringt, indem sie nicht nur schnellere, sondern auch genauere Arbeit liefert als die Menschenhand.

Konzentration. Mit den genaueren Arbeitsbedingungen, den sicher geregelten Verrichtungen, mit der Vereinigung vielseitiger Arbeitskräfte, der zum wirtschaftlichen Betriebe notwendigen Massenproduktion, welche die Maschinenarbeit herbeiführt, ist auch eine mannigfaltigere Arbeitsteilung verbunden uud diese fordert zur übereinstimmenden Leitung der verschiedenen Zweige übersichtliche Gruppierung der Einzeltätigkeiten, räumliche, mechanische und kaufmännische Konzentration der einzelnen Akte In Indien hat die Bevölkerungsdichtigkeit auch ohne Maschine eine weitgehende Arbeitsteilung hervorgerufen. Auch im Sklaven- und Klientenwesen des alten Rom war das Spezia- listentum in der Arbeit weit verbreitet. Mit der Maschine hat nur die Absonderung ge- werblicher Handgriffe zugenommen. „Die große Zwangsgewalt der Umgestaltung, die Volksvermehrung, hat ihre besondere Wirkung dadurch erhalten, daß sie mit der Rati- onalisierung der Technik zusammentraf. Dieses Zusammentreffen ist der Kern dessen, was wir als modern bezeichnen."

Arbeitsverfassung. Teilung und Konzentration wirken nun in der neuen Arbeitsverfassung zusammen. Im Handel führt die Gliederung der Gütervermittlung zu Spezialgeschäften nach Maßgabe der verschiedenen Arbeitsverfahren, die Konzentration derselben dagegen zum Warenhaus, nach den Gesichtspunkten der Konsumation. Der Massenverbrauch führt zum Großbetrieb, die persönlichen Dienstleistungen erfordern Spezialisierung der Kenntnisse und Fertigkeiten.

Persönliche und Berufsbildung. Hier scheiden sich die Wege. Von seinem volkswirtschaftlichen Standpunkt aus sieht N. nämlich den Großbetrieb ins Grauenhafte sich ausdehnen. „Wir bekommen wieder gebundene Zeit im Wirtschaftsleben, wo der Einzelne untertaucht. Um uns herum türmen sich unliberale Gestaltungen: Syndikate, Preiskartelle, Riesenbetriebe, Arbeiterverbände, Verkaufsgenossenschaften aller Art". Wir

127

vermögen dagegen in der Ausdehnung der Großbetriebe keine so besorgniserregende Gefahr zu erkennen. Denn erstens beweist die Zunahme der Streikbewegungen, daß die individuellen Stimmungen der Arbeiter sich immer wieder geltend machen gegenüber vor- herrschend verstandesmäßiger Anordnung der Leitenden. Namentlich aber in der Pflege der persönlichen und Berufsbildung aller Arbeitenden erkennen wir den sichersten Aus- gleich zwischen den allgemein gültigen gesetzlichen Ordnungen der Geschäftsbetriebe und den verschiedenen Stufen individueller Naturanlage der Arbeitenden. Denn die persönliche Bildung soll nach P a u 1 s e n * die unbestimmte Naturanlage ererbter Fähigkeiten zu indi- viduell ausgeprägten Kenntnissen und Fertigkeiten entfalten. Die Berufsbildung wiederum soll den Einzelnen befähigen, diese Kenntnisse und Fertigkeiten im Dienste des geschäft- liche!: und sozialen Verkehres fruchtbringend zu verwerten.

Nun hängt das Gedeihen jedes technischen oder kaufmännischen Groft- oder Klein- betriebes nicht allein von der Arbeitsverfassung ab, sondern hauptsächlich auch von der persönlichen und beruflichen Bildung jedes einzelnen Arbeiters, jedes leitenden oder ver- waltenden Beamten. Die in allen Berufskreisen sich mehrenden Bestrebungen nach tech- nischer, kunstgewerblicher, kaufmännischer und wissenschaftlicher Fortbildung zeigen, daß neben dem wirtschaftlichen Aufschwünge, der zu allgemein gültigen Ordnungen drängt, doch auch geistige Strömungen sich geltend machen, welche die individuelle Freiheit der Einzelnen zu wahren bemüht sind. Damit aber diese geistigen Bestrebungen sich den wirtschaftlichen gegenüber behaupten, ist notwendig, daß jene sich ebenfalls konzentrieren.

Vertiefung der beruflichen Fortbildung. Hören wir darüber den viel- jährigen eidgenössischen Experten für gewerbliche Fortbildung, Professor Bendel. Er begründet die Notwendigkeit derselben wie folgt: „Das stete Anwachsen der Bevölkerung unseres Landes, die dadurch hervorgerufene intensive Ausnützung unserer bisherigen und die Schaffung neuer Erwerbsquellen, die zunehmende Erschwerung unseres Exportes, die Bekämpfung der fremden Konkurrenz im Inneren, die Steigerung unserer kulturellen Bedürfnisse und unser Wille, die nationale Unabhängigkeit zu bewahren, stellen stetsfort neue und schwierigere Aufgaben an die wirtschaftliche und technische Leistungsfähigkeit der Gesamtheit wie der Einzelnen. Deren erfolgreiche Lösung setzt allseitige, erhöhte Anstrengungen eines jeden, der nicht müßig am Wege stehen will oder muß, klaren Willen und den Einsatz persönlicher und bürgerlicher Tugenden voraus. Die Führer bedürfen mehr denn je intelligenter, gut instruierter und disziplinierter Massen, die vor keiner Schwierigkeit zurückweichen. Für die auf den Gebieten der Gewerbe und Industrien be- tätigten Massen aber bildet über einer mehr oder weniger ausgebauten Volksschule die gewerbliche Fortbildungsschule fast die einzige Gelegenheit neben der Werkstattarbeit, die Urteilskraft zu schärfen, jene Kenntnisse und Fertigkeiten, welche zur erfolgreichen Ausübung des Berufes und zur raschen Erfassung der an ihn herantretenden Neuerungen erforderlich sind, sich zu erwerben und die sittlichen Kräfte zu steigern. Bie Benutzung dieser Bildungsgelegenheit wird somit für die breite Masse zur Notwendigkeit."

Unter solchen in steter Fortentwicklung begriffenen Verhältnissen hat sich die Auf- gabe der beruflichen Fortbildung vertieft. Die heutige gewerbliche Fortbildungsschule darf sich nicht mehr bloß auf Befestigung des in der Volksschule erworbenen Wortwissens, auch nicht auf die Pflege einzelner Fertigkeiten beschränken. Sie ist vielmehr berufen, den Lehrlingen die grundlegenden Kenntnisse und Fertigkeiten beizubringen, die zur Einsicht in den Zusammenhang der technichen und wirtschaftlichen Verhältnisse notwendig sind, und zwar in einer das selbständige Beobachten und Prüfen anregenden

1) Kultur d. Gegenwart II. S. 55. Berlin 1906. B. G Teubner.

128

Weise, so daß die Anwendung der Kenntnisse und Fertigkeiten im Berufsleben dem Schüler nahegelegt ist. Gleichzeitig sollte die Schule das Verständnis jedes einzelnen für seine beruflichen und bürgerlichen Pflichten und Rechte fördern, die Liebe zur Heimat pflegen und das Verantwortlichkeitsgefühl wecken.

Gliederung der Berufsbildung. „Die Werkarbeit soll den Ausgangs- und Anknüpfungspunkt für das Wirken der Fortbildungsschule bilden, das Ziel des Unter- richtes aber die Vergeistigung der Werkarbeit sein, wodurch der Arbeitende und Lernende selbst auf eine höhere Bildungsstufe gehoben wird." Immer allgemeiner bricht sich die Überzeugung Bahn, daß es notwendig sei, alle Lehrlinge gesetzlich zum regel- mäßigen Besuch der gewerblichen Fortbildungsschule, die Lehrmeister aber zum Einräumen der hiezu erforderlichen Tageszeit zu verpflichten, weil es der Mehrzahl der jungen Leute an Willenskraft gebricht zur ausdauernden geistigen Tätigkeit neben der körperlich an- strengenden Berufsarbeit. Von der obligatorischen Fortbildungsschule müssen Lehrling und Lehrmeister verlangen, daß ihr Unterricht eine stete Ergänzung der Werkstattlelire bilde, überall anknüpfe an deren Vorkommnisse, deren Vorgänge erläutere und begründe. Der Lehrling muß dies verlangen, weil die Gegenstände und Verrichtungen des Berufes seine Anschauungen und Erfahrungen erweitern, sein Interesse wecken und das Fundament für den Aufbau seiner Existenz bilden. Der Lehrmeister muß dies verlangen, weil er für das Opfer an Zeit, die er dem Lehrling einräumt, als Gegenleistung sachverständiges und planmäßiges Arbeiten desselben beanspruchen muß.

Für diese ergänzende berufliche Ausbildung kommen drei Momente in Betracht: technische Kenntnis der Stoffe und Arbeitsverfahren, geschäftliche Einsicht in den wirtschaftlichen Verkehr und Verständnis der sozialen Beziehungen zwischen Be- rufsarbeit und bürgerlichem Leben.

Planmäßige Unterweisung in den Berufskenntnissen bahnte neben der Werkstattlehre bisher nur der Unterricht im Werkzeichnen an, indem er die Werkformen nach der Lage ihrer Grenzflächen gliedern und den Zusammenhang ihrer Risse übersichtlich dar- stellen, Pläne von Bauten und Maschinen anfertigen lehrte. Die geschäftliche Einsicht in den wirtschaftlichen Verkehr bereiten Rechnen und Buchführung vor, auf höherer Stufe auch Kostenberechnungen. Dagegen sind Geschäftsbriefe nur eine kümmerliche Anwendung der Sprachbildung auf den beruflichen Unterricht. Tech- nische Kenntnisse und Erfahrungen findfen ihre sprachliche Erklärung und Begründung in der Berufskunde. Diese soll den Lehrling einführen in den Arbeitsraum, dessen Beschaffenheit und Einrichtung, ihn bekannt machen mit den Rohstoffen und Halb- fabrikaten, deren Gewinnung, Eigenschaften, Wert, Kennzeichen ihrer guten und schlechten Beschaffenheit, Aufbewahrung; ihn unterweisen in den verschiedenen Verarbeitungsarten der Stoffe, in Gang und Verlauf des Betriebes, Arbeitsteilung, Verkauf; endlich ihm Ein- blick verschaffen in die geschichtliche Entwicklung des Handwerks, des speziellen Berufes und dessen jetzige Lage^). Dieser Unterrichtsstoff kann aber den Schülern nur nach Maßgabe ihrer Fassungskraft und persönlichen Arbeitserfahrung so dargeboten werden, daß die Belehrung deren Einsicht in den Geschäftsbetrieb vertieft, deren Tüchtigkeit und Arbeitslust fördert.

Stufen der Fortbildung. Dennoch fragt es sich im Hinblick auf die vielen mittelmäßig oder schwach begabten Lehrlinge, welche der Pflichtbesuch entgegen ihrer Neigung der Schule zuführt, inwiefern es ratsam sei die Werkstattlehre von vornherein mit vielem Wort- und Zahlunterricht zu begleiten, bevor durch Ausbildung der technischen

1) Dr. M. Mehner Fortbildungsschulkunde S 84.

129

und Zeichenfertigkeiten die körperlichen Sachvorstellungen fest angeeignet sind. Wir geben gerne zu, daß die raschere wirtschaftliche und soziale Entwicklung der heutigen Berufstätigkeit auch eine frühere Gewöhnung an den Verkehr durch sinnbildliche Zeichen, Worte und Zahlen fordert. Aber nicht zu unterschätzen ist die Gefahr der Oberfläch- lichkeit, welche sich auf den Gebrauch der Sinnbilder auch dann verläßt, wenn demselben nur ungenügende sachliche Erfahrungen zu Gebote stehen. Soche Bedenken erweckt uns, neben der Berufskunde, namentlich die Forderung des Verständnisses für die bürgerlichen Pflichten und Rechte, wenn sie an die Lehrlinge gestellt wird. Wäre es nicht angezeigt solchen Unterricht, wie den höheren Sach- und Zeichenunterricht, auf die Zeit größerer Reife zu verlegen V Wann soll der minderbegabte Lehrling, dessen Kräfte schon die Werkstattarbeit mehr als bei anderen in Anspruch nimmt, der zu den elementaren Zeichen-, Sprach- und Rechenübungen längere Zeit braucht, um ein beschränktes Ziel zu erreichen, der doch auch der religiös-sittlichen Unterweisung und der Erholung bedarf, wann soll dieser zu bürgerlicher Belehrung Zeit finden ? Wird ein Lehrling, der mit Mühe die Werkstattunterweisung begreift und daneben sich den Zerstreuungen hingibt, geordnete Vorstellungen von sozialen Verhältnissen sammeln können ? Nicht die Schule, sondern die ernsten Erfahrungen des Lebens können solche junge Leute allmählich zu einer ge- wissen Reife bringen.

Konzentration der Berufsbildung. Hat überhaupt die Schule, die vor- herrschend auf sinnbildlichen Verkehr angewiesen ist, allein die Konzentration der Be- rufsbildung zu besorgen ? Nein. Die jedem fruchtbringenden Berufsunterricht zugrunde legenden Arbeitserfahrungen sammeln und ordnen zunächst die Techniker selbst. Ge- werbemuseen bringen die mustergiltigen Erzeugnisse zur übersichtlichen Darstellung. Lehrwerkstätten pflanzen die erprobten Arbeitsverfahren fort. Fachvereine der Meister und Gehilfen regen ihre Mitglieder durch Ausstellungen und Besprechungen zu steter Wahrnehmung und Prüfung der technischen Fortschritte an. Wie zur Konzentration der Arbeit haben auch zur Konzentration der Berufsbildung alle Organe des geschäftlichen und sozialen Lebens zusammenzuwirken, denn sie wächst mit der Tätigkeit aller und dient allen zum Wohle. Doch einleiten kann die Schule solche Konzentration, indem sie die Organfertigkeiten steigert, das Sachverständnis sicher begründet, die Taktgefühle veredelt. Denn jeder Akt der Aufmerksamkeit, jeder sichere Zug, jedes treffende Wort, jede treue Erinnerung und formrichtige Einbildung, die von klarem Sachverständnis und geregeltem Takte zeugen, kräftigen die Konzentration des W i 1 1 e n s , welcher das Wahre sucht, das Schöne pflegt und das Gute schaö't.

F. Graberg.

Scherer, H., Schulrat. Die Pädagogik als Wissenschaft von Pesta- lozzi bis zur Gegenwart in ihrer Entwicklung im Zusammenhange mit dem Kultur- und Geistesleben dargestellt. L Abteilung: Die Entwicklung des Kultur- u nd Geisteslebens. Leipzig 1907. E.Brand- stetter. 416 S. gr. 8«. Preis 6 M.

Der verdiente Herausgeber der „Pädagogischen Jahresberichte" bietet mit vorliegendem Buche den zweiten Band eines vorläufig vierbändig geplanten größeren Werkes mit dem Haupttitel: „Die Pädagogik in ihrer Entwicklung im Zusammenhange mit dem Kultur- und Geistesleben und ihrem Einfluß auf die Gestaltung des Erziehungs- und Bildungs- wesens mit besonderer Berücksichtigung der Volksschulpädagogik und des Volksschul- Meumann, Exper. Pädagogik. V. Band. 9

- 130

Wesens." Zur Rechtfertigung seines Unternehmens hemerkt der Autor: „Ein Werk, das die Geschichte der Pädagogik als eine Entwicklungsgeschichte des pädagogischen Ge- dankens und der pädagogisschen Tat erfaßt, hat , . , die neue Zeit noch nicht geliefert, trotzdem der Entwicklungsgedanke neu belebt worden ist und eine neue Grundlage er- halten hat. Der Verfasser dieses Buches hat mit dem ersten Bande der „Pädagogik in ihrer Entwicklung" dazu einen Versuch gemacht. So mangelhaft und verbesserungs- sedurftig dieser Versuch, der in dem vorliegenden Bande seine Fortsetzung findet, auch bein mag. so dürfte er doch nicht ohne Wert für die Entwicklungsgeschichte der Päda- gogik sein. Er zeigt doch wenigstens, in welcher Richtung die Lösung der Aufgabe liegt, welches Material zur Verfügung steht und wo noch Lücken in der Bearbeitung des Quellstoffes sind. Unsre Zeit ist für die Aufnahme solcher Gesamtamtdarstellungen nicht günstig. Sie neigt auf wissenschaftlichem Gebiete zur Einzelforschung hin. So wertvoll nun diese auch ist, so darf doch nicht übersehen werden, daß durch sie gar leicht der Überblick über das Ganze und die Stellung des Einzelnen zum Ganzen, respektive der Wert desselben für das Ganze verloren geht. Geringwertiges wird oft vielfach, Wert- volles oft gar nicht bearbeitet. Der Wert der Bildung liegt aber nicht in der Menge von Einzelwissen, sondern in der Zusammenfassung desselben zu einer Ge samt ans c hauung." Eine solche „Gesamtanschauung" zu bieten, hat Verfasser offensichtlich einen enormen Fleiß und eine bedeutende Darstellungskraft auf- gewendet; daß der Effekt nicht völlig den durch den Wortlaut des Titels ausgelösten Erwartungen entspricht, wird verständlich, wenn man bedenkt, daß Seh. sein Ziel ohne jede Mitwirkung von Fachgelehrten zu erreichen suchte. Er wollte dadurch jenem Mangel an Einheitlichkeit vorbeugen, welcher sich z. B. an Schmids „Geschichte der Er- ziehung" zeigt. Doch fragt es sich eben, ob angesichts einer Aufgabe, wie der hier vor- liegenden, und der Begrenztheit auch der tüchtigsten Arbeitskraft die Einheitlichkeit der „Gesamtanschauung" nicht Schaden leidet. Entging der Verfasser jener Scylla, so doch nicht ganz dieser Charybdis. Statt vieler Belege dafür nur ein einziger: Gerade das Ausgehen von Pestalozzi, dem anerkannt sozialen Denker, hätte bei einer Darstellung der Entwicklung der Pädagogik als Wissenschaft im Zu- sammenhange mit dem Kulturleben dazu zwingen müssen, den engen Zusammenhang zwischen Volksbildung und Volkswirtschaft unserer sozialpolitisch orientierten Zeit ausführlich darzutun. Dies ist nicht geschehen, doch ließe sich diesem Mangel zur Not in einem der folgenden Bände abhelfen. Dessenungeachtet ist aber das Ganze kritischen Lesern durchaus zu empfehlen und zwar nicht nur Pädagogen von Fach.

„In der Einleitung ist eine Orientierung über den Stand der Pädagogik zu der Zeit gegeben, in welcher die mit Pestalozzi beginnende Periode in der Entwicklung der Pädagogik einsetzt. Der Inhalt selbst zerfällt in drei Abteilungen. Die erste Abteilung beschäftigt sich mit der Entwicklung des Kultur- und Geisteslebens der betreffenden Zeit, die zweite führt die daraus hervorwachsende Entwicklung der wissenschaft- lichen Pädagogik vor. Die dritte Abteilung endlich macht mit den wichtigsten Dar- stellungen der wieder auf diesen aufgebauten empirischen Pädagogik bekannt".

Es wäre zu wünschen, daß dieser abschließende Literaturnachweis in der 2. Auflage des Buches gesichtet und vermehrt erschiene. Auch ein „Sachregister" sollte nicht fehlen. Dazu würde es den Gebrauch des Buches etwas erleichtern, wenn an Stelle der überflüssigen Wiederholung des Hauptgesichtspunktes am Kopfe von gegen vierhundert Seiten der Inhalt jeder einzelnen Seite mit drei, vier Stichwörtern angegeben wäre.

131

In der Angabe des Titels des in Aassieht stehenden dritten Bandes des Gesamt- werkes ist auf Seite XYII anscheinend ein Druckfehler untergelaufen, sodaß dieser Titel wohl lauten dürfte: „Die Pädagogik als Kunst von Pestalozzi bis zur Gegenwart",

Dr. Ernst Ebert, Zürich.

Dr. Schumann, J. Chr. Gottlob und Professor G. Voigt. Lehrbuch der Pädagogik. Erster Teil: Einleitung und Geschichte der P. mit Musterstücken aus den j. Meisterwerken der verschiedenen Zeiten. 12. vermehrte und verbesserte Auflage, Karl Meyers Verlag, Berlin und Hannover. 484 S. gr. 8". Preis gebunden 5,20 M.

Einem Lehrbuche, welches wie das vorliegende seit seinem erstmaligen Erscheinen im Jahre 1874 die zwölfte Auflage erlebt, müssen ohne Zweifel eine Reihe ganz be- deutender Vorzüge innewohnen. Es hat sich wie es scheint im praktischen Unterricht besonders der preußischen Seminare bewährt und bedarf kaum einer weiteren Empfehlung. Sache der Unterrichtenden wird es sein, den angehenden Lehrern das zu bieten, was das Buch mehr oder weniger vermissen läßt, vor allem bei konzen- trierterer Darstellnng schärfere Herausarbeitung der Probleme und innigeres Beziehen des Erziehungswesens zu den wirtschaftlichen Verhältnissen.

Dr. Ernst Ebert, Zürich.

A-bh-andlungen.

Der Anteil der nachkonstruierenden Tätigkeit des Auges und der Apperception an dem Behalten und der Wiedergabe einfacher

Formen

von Dr. Gustav Albien, Königsberg.

Einleitung.

Rückblick auf die Creschichte der Methode des Zeidienmiterrichts.

Obgleich die zeichnerische Begabung oft zum Gegenstande von Unter- suchungen gemacht worden ist,') fehlt es bis zum heutigen Tage noch immer an einer genauen psychologischen Analyse des zeichne- rischen Aktes, insbesondere mit Rücksicht auf die individuellen Unterschiede der Begabung und ihre Ursachen. Die zeichnerische Tätigkeit ist ein komplexer Tatbestand, der sich aus einer Summe von Partialtätigkeiten zusammensetzt. Um ihn ganz zu verstehen, ist es notwendig, jene Elemente zu erforschen. Die Tendenz der Analyse dieser Untersuchungen ist, womöglich die elementaren Vorgänge zu finden, welche beim Zeichnen zusammenwirken. Insbesondere sollte die Art und Weise untersucht werden, wie die elementaren Vorgänge zusammenwirken, und wie individuelle Differenzen in den Elementar- vorgängen zusammenwirken. Welche Bedeutung die genaue Erkenntnis dieser Elementarvorgänge für die Pädagogik hat, liegt klar zu Tage. Kann doch eine der kindlichen Psyche und ihrer Entwickelung ent- sprechende Methode im Zeichenunterricht erst nach Erforschung jener Elementar Vorgänge aufgestellt werden. In der Unkenntnis dieser Tat- sache liegt die Ursache der Unsicherheit in der Wertschätzung der einzelnen Zeichenmethoden. Wie weit die Grundsätze bei der Auf- stellung von Lehrplänen für den Zeichenunterricht auseinandergingen, möge ein kurzer geschichtlicher Abriß zeigen.

Das Verständnis für den erziehlichen Wert des Zeichenunterrichts hat sich, trotzdem bereits die großen Pädagogen des 17. und 18. Jahr- hunderts (Comenius, Rousseau, Pestalozzi)-) dafür eingetreten sind, nur all-

1) Siegfried Le\'instein, Kinderzeichnungen bis zum 14. Lebensjahr, Leipzig 1905. Georg Kerschensteiner, Die Entwickelung der zeichnerischen Begabung, München 1905.

2) Prof. 0. Pupikofer, Die i^eform des Volksschul-Zeichenunterrichts im Lichte Pestalozzis. Leipzig 1904. II. Auflage.

Meumann, Exper. Pädagogik. V. Band. 10

134

mählich Bahn gebrochen, und in den neuesten Lehrplänen der preußischen Unterrichtsbehörde von 1901 gelangen die naturgemäßen Bedingungen, unter denen allein ein erfolgreicher Unterricht möglich ist, zur Berück- sichtigung. Wenn der tatsächliche Erfolg noch kein so bedeutender ist, als zu erwarten stände, so findet dies in rein äußerlichen Ursachen seine Begründung, welche an dieser Stelle zu erörtern sich erübrigt. Das Zeichnen war während zu langer Zeit „technisches" Fach, als daß es so schnell den vollen Wert eines allgemein bildenden erhalten könnte. Wie verschieden seine Bewertung im Laufe der Jahre gewesen, auf G-rund welch zahlreicher divergierender Motive die Aufstellung einer exakten Methode versucht worden ist, davon legt eine in wenigen Konturen an- gelegte Skizze Zeugnis ab. Eine gedrängte bis zum Jahre 1838 gehende Übersicht über die Methodengeschichte bietet Hentschel.^) F. Worms liefert in Diesterwegs Wegweiser -) eine Kritik jener B,ichtungen und vervollständigt die Methodengeschichte bis 1875. Wohl gemerkt, es handelt sich hier um den Zeichenunterricht an Volksschulen. Die höheren Schulen waren mehr oder weniger vom Stande der jeweiligen Kunst- richtung abhängig, und zwar umsomehr, als an höheren Schulen meist akademisch gebildete Maler, jedenfalls aber an Kunstakademien aus- gebildete Zeichenlehrer tätig waren. Die gegenwärtige Zeit sieht beide Strömungen vereinigt. Die allgemein gültigen Gesichtspunkte bei Fest- legung der Ziele und Pläne sind die gleichen. Verfolgen wir also zu- nächst die Entwicklung des Zeichenunterrichts in den Volksschulen.^) Die ersten Bestimmungen für Elementarschulen finden sich in den Regulativen, Ministerialerlaß vom 1., 2. und 3. Oktober 1854. Der Zeichenunterricht soll dem Bedürfnisse des praktischen Lebens angepaßt werden : Fertigkeit in der Handhabung von Lineal und Maß. Die Provinziaibehörden waren nicht immer von der Notwendigkeit des Zeichenunterrichts überzeugt: Siehe das E-egierungszirkular in Köln 1861, nach dem der besondere Unterricht im Zeichnen wegfallen soll. Andererseits nennt die Regierung zu Oppeln am 10. November 1864 den Zeichenunterricht „einen wichtigen Unterrichtszweig." Die Ausführungen lassen ebenfalls praktische und technische Zwecke erkennen, sollen aber auch den Ordnungs- und Schönheitssinn der Kinder wecken. Hinsicht- lich der methodischen Behandlung des Stofi'es wird besonders Gewicht auf das Vorzeichnen und Erklären gelegt, ebenso „langsames Fort-

1) Hentschel, Wegweiser, 4. Auflage 1856.

2) Diesterwegs Wegweiser. 3 Bände. Essen, bei Baedeker. 5. Auflage 1875. (Hier Band II, Seite 381 fl),

3) Jahrbuch für den Zeichenunterricht (1. Band) und Kunstunterricht Band I, Hannover 1905. Seite 161 ff.

135

schreiten und genaues Nachbilden" verlangt. Ferner sollen die Indivi- dualität sowie größeres oder geringeres Talent bei den Schülern berück- sichtigt werden (Individualpädagogik).

Leider blieb es bei gutgemeinten Verfügungen; aus vereinzelten Berichten, z. B. aus einem Reisebericht von 1865 über die Einrichtung einer Seminarübungs schule, ersieht man, daß es bei äußerlichen Maß- nahmen verblieb.

1865 veröffentlichte die Unterrichtsbehörde einen umfangreichen Lehrplan, in welchem in bezug auf den Zeichenunterricht gesagt wird: Er solle das Auge und die Hand bilden, und wenn die Bildung einer sichern und gewandten Hand auch sein nächstes Ziel sei, solle er doch zugleich auf jeder Stufe mit geeigneten Sprechübungen verbunden werden. Die Aufgabe dieser Besprechung ist, das Kind zu einer klaren Erkenntnis und sichern Unterscheidung der Formen und Maße der Dinge, die seine Umgebung erfüllen, zu erziehen. Weiter wird das gedankenlose Abmalen von allerlei Vorlageblättern ausgeschlossen.

Wie nahe kommt doch bereits diese Verfügung den modernen Lehr- plänen !

In späteren Erlassen wird darauf hingewiesen, daß die Begabteren unter den Schülern zur perspektivischen Betrachtung und Darstellung einfacher geometrischer Körper angeleitet werden sollen.

1870 wird dem Zeichenunterricht von der Königlichen Unterrichts- behörde eine ganz besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Durch die Mißerfolge des deutschen Kunstgewerbes auf der Weltausstellung in Paris im Jahre 1869 kam man zu der Einsicht, ein rationell erteilter Zeichenunterricht werde diese Niederlage beseitigen helfen. Die damals gehaltenen Vorträge und die Verhandlungen seitens der Regierung lassen gründliche Reformvorschläge erkennen, die sich in manchen Punkten mit den heutigen Grrundsätzen decken; nur trat, wie zu erwarten war, das Nützlichkeitsprinzip zu sehr in den Vordergrund. „Der Zeichenunterricht soll zur künstlerischen Darstellung führen, indessen soll der Volksschul- unterricht nur grundlegend wirken." „Verständnis, Geschmack und Neigung sollen gefördert werden." Ferner werden viele technische Ratschläge (Zeichenmaterial, Körperhaltung usw. betreffend) erteüt.

In einer Verfügung vom 6. Mai 1872 (Regierung in Merseburg) heißt ein Satz : Jede Aufgabe muß vollständig zum geistigen Eigentum des Schülers geworden sein, so daß er dieselbe auch nach Entfernung der Vorlage in gleich guter Ausführung und möglichst richtig zu lösen imstande ist, und jede ähnliche, gleich schwierige Aufgabe nach der- selben Methode zu lösen vermag. Ein Satz, der auch in den heutigen Lehrplänen stehen könnte.

10*

136

Die Falkschen Bestimmungen vom 15. Oktober 1872, die für den Unterricht im Allgemeinen von einschneidender Bedeutung waren, hielten sich betreffs des Zeichenunterrichts an die früheren Bestimmungen. Man blieb bei Lineal, Maß und Zirkel. Der am meisten in die Augen fallende Fortschritt war die Festlegung bestimmter Stunden für den Zeichen- unterricht.

1875 erschien das Flinzersche Lehrbuch ^) über den Zeichenunterricht. Obwohl dasselbe von der Unterrichtsverwaltung nicht besonders empfohlen wurde, hat es bei den Vorschriften für die Lehrpläne im Zeichenunterricht eine ausschlaggebende Rolle gespielt. F. sucht frischeres Leben in die Nachzeichenmethode zu bringen ; er will den inneren Zusammenhang und die logische Entwickelung der zur Darstellung gelangenden Formen klar gelegt wissen. Wenn auch vieles in dem Lehrbuche über die Leistungs- fähigkeit der Volksschule hinausgeht, so haben die Lehrer doch mancher- lei Anregung aus ihm erhalten.

Nun folgte eine Zeit der Erhebungen und Besprechungen, die schließ- lich zur Einführung der Dr. Stuhlmannschen Methode führten. 1887 (Minist. Erlaß vom 20. Mai) wird der Beginn des Zeichenunterrichts mit dem 2, Schuljahr festgesetzt (2 wöchentliche Halbstunden). Vom 3. Schul- jahr ab 2 Stunden wöchentlich Netzzeichnen. Aufgabe : TJbung der Hand Entwicklung des Auffassungsvermögens, ferner Anregung des Verständ- nisses und des Vorstellungs Vermögens für einfache ebene Formen. „Alle Formen werden vom Lehrer entweder an der Schultafel ganz oder teil- weise entwickelt und nur mündlich beschrieben." Im 4. bis 6. Schuljahr soll freies Zeichnen ebener Gebilde ohne Netzvordruck betrieben werden, (regelmäßige Figuren, gerad- und kreislinig begrenzte und krummlinige Figuren) und zwar zunächst im Klassen-, später im Abteilungsunterricht. Wesentlich Neues brachten die Bestimmungen für die Oberstufe; an- geordnet wird das Zeichnen nach der Wirklichkeit. Die Fähigkeit, Erscheinungen körperlicher Gegenstände aufzufassen, soll besondere Be- rücksichtigung erfahren. (Geometrische Körper, Gipsmodelle). Einzel- unterricht. Die Schüler sollen Sicherheit im genauen Auffassen und richtigen Darstellen des Umrisses erlangen und hiernach auch zur Be- obachtung und Wiedergabe der Beleuchtungserscheinungen einfacher körper- licher Gegenstände angeleitet werden. Zum Gebrauch für den Lehrer erschien auf Veranlassung der Unterrichtsbehörde ein Leitfaden bei Spemann-Stuttgart. Vielleicht ist in der sich hieraus entwickelnden Kopiermethode ein Grund für die Strömung zu suchen, welche gegen die Stuhlmannsche Methode einsetzte. Die Absicht der Behörde war

1) Prof. Fedor Flinzer, Lehrbuch des Zeichenunterrichts an deutschen Schulen. Bielefeld 1903. Velhagen und Klasing.

I

137

gut, aber an der ungenügenden Vorbildung der Lelirpersonen , an ver- schiedenen äußerlichen Umständen (Lehrmitteln, Zeichensälen etc.) schei- terten die erhofften Erfolge. Man gewann allmählich die Erkenntnis, daß auf diesem Wege wenig zu erreichen sei, und mit der Reform des Zeichenunterrichts an den höheren Schulen sollte es zugleich zu einer gründlichen Umgestaltung des Volksschulzeichenunterrichts kommen.

1901 erschienen die Lehrpläne für die höheren Unterrichtsanstalten, ein Jahr später ein neuer Lehrplan für die Volksschulen, jedoch ohne daß die allgemeine Einführung verfügt wurde. Erst die Verfügung vom 29. Februar 1904 durfte mit der Einführung des neuen Planes beginnen.

Bevor wir auf die grundlegenden Gesichtspunkte des neuen Lehr- plans eingehen, skizzieren wir noch in gedrängter Kürze die Greschichte des Zeichenxmterrichts an den höheren Lehranstalten:

Wie bereits erwähnt, wurde hier der Unterricht meist von Künstlern im Nebenfach erteilt, so daß er trotz der Verfügungen abhängig von der jeweiligen Kunstrichtung blieb.

Wilhelm von Humboldt (Brief vom 19. Oktober 1809), bemerkt, daß der Zeichenunterricht unvollkommen erteilt werde, und es an einer sicheren Methode mangele. Höchstens wird eine gewisse Fertigkeit er- langt, welche für die allgemeine Bildung nur von geringem Nutzen ist. An eine Bildung des Schönheitsgefühls und -geschmacks sei gamicht zu denken.

In einer Zirkularverfügung des Ministers vom 14. März 1831 heißt es, daß dem Zeichenunterricht an vielen Anstalten bedeutende Hinder- nisse im Wege ständen; es wird daher dem Direktor und den Aufsichts- behörden empfohlen, ihm die nötige Aufmerksamkeit zuzuwenden. Hier wird schon bestimmt: Der Zeichenunterricht soll in zwei aufeinander folgenden Stunden erteilt werden. (Heute!)

In dem erwähnten Erlasse finden sich auch noch andere wohlgemeinte Forderungen vor, die heute entsprechend vertieft aufgenommen sind. Jedoch darf bezweifelt werden, daß sie in größerem Umfange zur Aus- führung gelangt sind, da spätere Verfügungen dieselben Mängel zur Sprache bringen.

1859 am 9. Oktober erließ der Minister für Realschulen ein Reglement: ^der Zeichenunterricht solle auch zu einer gründlichen Beschäftigung mit den G-egenständen der Natur, der Technik und der Kunst vorbereiten.'' „Richtigkeit der Auffassung, Schärfe der Konturen, Genauigkeit und Sauberkeit der Ausführung sind die Hauptsache; Anwendung von Farben ist nur in seltenen Fällen zu gestatten.'' 1863 erschienen neue ein- gehende Bestimmungen für den Zeichenunterricht. Er wurde als all- gemeines Bildungsmittel für die Jugend anerkannt. Auf den „Stand

138

der Kunst und der Industrie" wird Rücksicht genommen. Methodisch wichtig sind folgende Bemerkungen: Allmähliche Folge vom Leichten zum Schweren unter Vermeidung pedantischer Einförmigkeit. Anleitung zum verständigen Anschauen der Natur und der Meisterwerke der bildenden Kunst durch planmäßige Übungen in der Auffassung der charakteristischen Formen der Dinge. Das Zeichnen soll nicht mecha- nische Handfertigkeit, sondern ein auf inneres Verständnis gegründetes Können sein. "Wenn man diese und ähnliche Leitsätze liest, so ist es erstaunlich , wie bei derartig zweckmäßigen Vorschriften der Zeichen- unterricht bis in die neueste Zeit hinein auf so niederer Stufe stehen bleiben konnte. Am 31. März 1882 erschienen neue Lehrpläne. Das Zeichnen nach lebenden Pflanzen soll geübt werden. Zeichnen nach kunstgewerblichen Gregenständen , Skizzieren nach Ornamenten, Dar- stellung wirklicher Gegenstände (Maschinen- und Architekturteile) lassen erkennen, daß besonders praktische Gresichtspunkte bei der Aufstellung des Planes maßgebend waren.

Die im Jahre 1892 erschienenen Lehrpläne geben zumeist äußerliche Neuerungen an : Stundenzahl etc. Methodisch bemerkenswert ist die Anweisung, daß durch geeignete Besprechungen auf das Verständnis der Form und Farbe hingewirkt werden soll.

So war im Laufe fast eines Jahrhunderts eine durchgreifende Reform des Stoffes und der Methode auf natürlicher, der kindlichen Psyche entsprechender Grundlage nicht zustande gekommen. Neben das anfangs geübte Kopiersystem traten als Vorlagen Gipsmodelle, kunstgewerbliche Gegenstände etc. Man ging von der abstrakten Linie aus , und stieg zu Körpern auf. So befand man sich im Prinzip immer im Gegensatz zu den Forderungen bedeutender Pädagogen früherer Zeiten, von denen die Grundsätze vertreten waren, man müsse von der Gesamterscheinung der Dinge ausgehen (Rousseau) und das Kind selbst beobachten und wiedergeben lassen.

Vorbereitet war jene neue (alte!) Strömung durch Georg Hirth und Konrad Lange ^). Die Hamburger Lehrervereinigung machte für dieselbe Propaganda durch Herausgabe verschiedener Veröffentlichungen, unter denen die wichtigste das "Werk von Liberty Tadd, die künstlerische Erziehung der Jugend^), war.

1) Georg Hirth, Ideen über Zeichenunterricht usw. München 1894. Konrad Lange, Das Wesen der Kunst. 2 Bde. Berlin 1901.

2) J. Liberty Tadd, Neue Wege zur künstlerischen Erziehung der Jugend. Leipzig 1900. R. Voigtländers Verlag.

Das vorliegende Buch ist eine Übersetzung des 1899 in Amerika und England er- schienenen: New Methods in Education etc. by J. Liberty Tadd, Director of the Public.

139

Es wirkte, trotz seiner Übertreibangen und Unredlichkeiten (man warf ihm vor. Flinzersche Zeichnungen kopiert zu haben), äußerst an- regend. Andere Publikationen folgten; immer wieder wurde darauf hingewiesen, daß der Zeichenunterricht dem geistigen Standpunkte des Kindes anzupassen sei, daß er individuell gehandhabt werden müsse. Die IJnterrichtsbehörde ließ Erhebungen anstellen und ernannte Eevisoren des Zeichenunterrichts. Der Eevisionsbefund , im Dezember 1900 ver- öffentlicht, war ganz vom Hauche des neuen Geistes durchweht. Im Februar 1901 erschienen die neuen Lehrpläne und am 3. Aprü 1902 die dazu gehörigen „Ausführungsbestimmungen " . Die leitenden Grundsätze sind für Volksschule und höhere Lehranstalt die gleichen. Ihr Ziel ist: Die Schüler sollen befähigt werden, die Xatur und Gegenstände ihrer Umgebung nach Form und Farbe zu betrachten und das Resultat ihrer Be- obachtungen einfach und klar darzustellen. Damit ist eine Xeugestaltung des Zeichenunterrichts von Grund auf eingeleitet. Das früher vorherr- schende abstrakte Element ist endgültig verbannt, und die dem Kinde näher stehende „farbige" Natur zum Gegenstande der Betrachtung geworden. Auch das Lehrverfahren paßt sich der psychischen Veran- lagung des Kindes an: es wird vom Ganzen ausgegangen, ein analy- sierendes Sehen verlangt, klare Vorstellungen sollen gebildet mid mit einfachen Strichen dargestellt werden. Hinzu tritt Zeichnen und Skizzieren vor der Katur. Es gehört nicht in den Rahmen dieser ein- leitenden Übersicht, die Vorteile der neuen Zeichenmethode darzulegen. Als Hauptzug tritt in allen Bestimmungen hervor : Entwickelung des Formen- und Farbensinnes in einer der kindlichen Xatur entsprechenden Weise. Dadurch wird der Zeichenunterricht seiner untergeordneten Stellung entrückt und tritt in die Reihe der allgemein bilden- den Fächer.

Läßt nun auch die Behörde es sich, angelegen sein, durch Informa- tionskurse, Lehrmittel etc. die Grundsätze der neuen Methode zu ver- breiten, sind femer die großen Gesichtspunkte des neuen Lehrverfahrens festgelegt, so müssen doch, zwecks Ausbauung und Ergänzung desselben, Einzelforschungen über die Elemente des Vorganges beim Zeichnen unter- stützend hinzutreten. Als ein in dieser Richtung sich vollziehender Versuch mögen die folgenden Untersuchungen betrachtet werden.

School of Industrial Art Philadelphia Xew-York, N. Y., Orange Jndd Company London, Sampson Low, Marston & Co. 1899.

Die Übersetzung ist nicht wörtlich, sie kürzt und faßt zusammen. Die Be- arbeitung ist auf deutsche Verhältnisse zugeschnitten.

140

Ziel nnd Methode der Torliegenden Unter snchnn gen.

Begründung der Methode. Um in die psychologische Analyse des zeichnerischen Aktes einzudringen, stellten sich die vorliegenden Versuche zunächst ein Ausgangsproblem, durch dessen Behandlung einige der wichtigsten Partialvorgänge des Zeichnens mit Bezug auf ihren An- teil an dem Zustandekommen des zeichnerischen Aktes geprüft werden sollten. Um dies klar zu machen, mögen einige allgemeine Überlegungen über die beim Zeichnen beteiligten psychischen Partialprozesse voraus- geschickt werden. Sie sollen uns zugleich zur Begründung unsrer experi- mentellen Methode dienen. Zugleich sei bemerkt, daß diese hier voraus- geschickte Analyse des zeichnerischen Aktes sich zum Teil erst aus den folgenden Versuchen selbst ergab.

Das Zeichnen setzt sich wenn es Nachzeichnen, nicht G-edächtnis- zeichnen ist aus zwei ganz verschiedenen Teilprozessen zusammen, die beide wieder sehr kompliziert sind; es besteht aus einem optisch- wahrnehmenden Teil und der eigentlichen graphischen Wiedergabe des aufgefaßten und innerlich verarbeiteten optischen Bildes. Das „optische Bild" kann auch kinästhetische Elemente enthalten, wenn der Zeichner beim Sehen die Vorlage oder das Objekt in Gedanken umfahren, nach- gezeichnet oder geradezu mit Augenbewegungen verfolgt hat. Wir wollen von diesen kinästhetischen Empfindungs- und Vorstellungs- elementen (Bewegungsempfindungen, Muskel-, Sehnen- und Gelenk- empfindungen und ihren Vorstellungen) aber vorläufig einmal absehen, weil sie bei den meisten Individuen hinter die optischen Elemente zurück- treten nnd bei unseren Versuchen künstlich ausgeschlossen wurden. Be- trachten wir also zunächst den optisch wahrnehmenden, dann den „graphischen" Teilprozeß der zeichnerischen Tätigkeit. Die optische Wahrnehmung setzt sich aus Elementen zusammen, welche durch äußere Reize erzeugt sind. Wenn sie im Bewußtsein apperzipiert wird, tritt sie in Beziehung zu dort enthaltenen Vorstellungen und zwar zu solchen, die mit ihr in associativer Verbindung stehen (Ziehen). So enthält die Wahrnehmung ein objektives Moment (Empfindungen und räumlich- zeitliche Eindrücke, die von äußern Reizen ausgehen) und ein subjek- tives Moment (Vorstellungen aus den früher erworbenen Erfahrungen). Diese simultane einzige Wahrnehmung nennt Wundt eine Assimilation. Durch diese wird nun von dem motorischen Zentrum aus die Hand in Bewegung gesetzt, um die im Bewußtsein vorgestellte Wahrnehmung zu graphischer Darstellung gelangen zu lassen. Je mehr nun bei dieser das subjektive Moment (Assoziation bekannter Vorstellungen) vorherrscht, desto mehr wird die objektive Empfindung beeinflußt. Schon diese erste

141

psychologische Überlegung zeigt, daß das Zeichnen ein sehr komplizierter psTchophysischer Akt ist. Seine beiden Seiten, der optisch - auffassende und der motorisch - graphische Prozeß lassen sich aber noch weiter in eine Anzahl Partialvorgänge zerlegen, die beim Zeichnen stets zusammen- wirken, nämlich: 1. in einen rein optischen Prozeß, die Tätigkeit des Auges (der Augen), der sich wieder zusammensetzt aus dem diop- trischen Prozeß: der Abbildung des gesehenen Objektes auf der Netz- haut, und dem motorischen Prozeß der Einstellung der Augen auf den jeweils gewählten Fixationspunkt und die Augenbewegungen, die zum Auffassen eines Objektes nötig sind mittelst der Augenmuskeln. 2. An diesen optischen Prozeß schließt sich der passiv aufnehmende Emp- findungsprozeß, durch den uns die räumlich (und zeitlich) ge- ordneten Empfindungen an Helligkeiten, Farben, linearer oder flächen- hafter Ausbreitung, das Neben- und Hintereinander der Objekte zum Bewußtsein kommen, und der durch Bewegungsempfindungen des Auges, unter Umständen auch durch Bewegungsempfindungen der nachzeichnen- den Handbewegungen begleitet sein kann. 3. Die Empfindungen machen die Vor Stellungsdispositionen früher erworbener optischer und kinästhetischer Vorstellungen, die ihnen ähnlich oder mit ihnen assoziiert sind, aktuell, auf Grund dessen bringt das wahrnehmende Individuum Elemente früher erworbener Gresichts- und Bewegungsvorstellungen zu den objektiv gegebenen Eindrücken hinzu, mittelst deren das objektiv Gegebene erst „aufgefaßt", wiedererkannt, identifiziert und interpretiert wird. Eine gesehene Form oder Farbe fassen wir auf Grund dieser reproduzierten Vorstellungen früher bekannter Formen und Farben als diese bestimmte einzelne Form und Farbe auf. 4. Diese „hinzuwahr- genommenen" oder apperzipierten Vorstellungen ( apperzipieren heißt hinzuwahrnehmen ) assimilieren sich unmittelbar mit den passiv aufgenommenen Eindrücken, die damit eigentlich zu aktiv aufgenommenen werden; sie verschmelzen mit ihnen zu einem für unser Bewußtsein völlig einheitlichen Ganzen (Wundts Assimüationsprozeß), wodurch erst unsre Vorstellung oder Auffassung von dem gesehenen Objekt konsti- tuiert wird. 5. Hierzu können in zweiter Linie sekundäre Re- produktionen von früher erworbenen Vorstellungen (ja sogar Ur- teile und Beurteilungen) kommen, die in entfernteren assoziativen Beziehungen zu dem aufgefaßten Objekt stehen, und mit denen unsre Vorstellungstätigkeit in freier Weise mehr oder weniger von dem Objekt abschweift und es in Beziehungen zu anderen Wahrnehmungen und Vorstellungen bringen kann. 6. In allen diesen Vorgängen ist zu- gleich unsre Aufmerksamkeit in eigenartiger Weise tätig, haupt- sächlich in der Form, daß sie sich auf die gegebenen Eindrücke

142

oder einem Teil derselben richtet. Hierdurch werden diese „beachtet, für unser Bewußtsein bevorzugt, während die nicht beachteten gehemmt werden. Die beachteten Eindrücke bestimmen zugleich, welche Assi- milationsvorstellungen jeweils im Bewußtsein vorherrschen. Es sind immer die, welche durch die beachteten Partialeindrücke reproduziert werden. 7. Es ist nun besonders zu beachten, daß mit diesen ersten sechs Bestimmungen nur die allgemeinen Teilprozesse der Wahrnehmung ihrer Art nach angegeben sind, was uns damit noch vollständig fehlt, ist der Einblick in die Art und Weise, wie diese Prozesse zusammen- wirken müssen um im Dienste einer vollständigen und genauen Beobachtung des Objektes zu arbeiten. Die psychologische Analyse der Wahrnehmung begnügt sich zumeist mit der allgemeinen Angabe ihrer Partialvorgänge, sie beachtet dagegen die Frage nicht, wie unsre Wahrnehmung im Dienste eines bestimmten Zweckes arbeitet, z. B. des Zweckes einer vollständigen und genauen Beobachtung eines Objektes und seiner zeichnerischen Wiedergabe oder Darstellung. Eben dies ist die Aufgabe einer psychologischen Analyse des Zeich- nens, denn beim Zeichnen arbeitet unsre Wahrnehmung im Dienste des uns vorschwebenden Zweckes: das Objekt so vollständig und so genau zu erfassen, daß es in allen seinen Teilen graphisch dargestellt werden kann. Es ist daher zunächst notwendig sich darüber klar zu werden, wie die bisher genannten Teilvorgänge der Wahrnehmung zu- sammen arbeiten müssen und was zu ihnen etwa noch hinzukommen muß , damit die Wahrnehmung zu einer vollständigen und genauen Beobachtung des Objektes wird, die das Objekt so analysiert, daß es gezeichnet werden kann. Betrachten wir deshalb den Vorgang einer planmäßigen analysierenden Beobachtung eines Objektes, und sehen wir zu, wie dabei die genannten Partialvorgänge der Wahrnehmung arbeiten.

Bei plänmäßiger zielbewußter analysierender Wahrnehmung oder Beobachtung, wie sie beim Zeichnen stattzufinden hat, tritt der Wahrnehmende sogleich mit einer bestimmten Absicht oder einem vorgefaßten Ziel der Beobachtung an das Objekt heran (die „Absichts- oder Zielvorstellung" der Beobachtung). Bei dieser wirkt ein eigen- tümliches Willensmoment mit, die „Einstellung" auf Beobachtung. Wir haben z. B, die Absicht, die Konturen, oder den Wölbungsschatten oder die Farben der Schatten zu beobachten usw. Schon durch diese vor- gefaßte Absicht wird der ganze Wahrnehmungsprozeß in eine bestimmte Bahn geleitet, indem unter den zahllosen möglichen Elementen der Auffassung, die uns zum Bewußtsein kommen, eine bestimmte, dieser Absicht entsprechende Auswahl getroffen wird. Die Aufmerksamkeit

143

richtet sich in erster Linie auf das von dem Objekt, was im Sinne dieser Absicht ist, entweder auf Konturen oder auf Farben, oder auf Modellierung des Objektes u. s. f. Damit wird auch sogleich der plan- mäßige Charakter der ganzen Wahrnehmung eingeleitet. Indem nun die Aufmerksamkeit sich entsprechend der Absicht oder dem Ziel der Beobachtung auf einen bestimmten Teil der gegebenen Eindrücke richtet, werden nun auch die Reproduktions- und Assimilationsprozesse bestimmt; diejenigen Vorstellungen tauchen auf und assimilieren sich mit den Eindrücken, welche teils den Eindrücken selbst, teils dem Be- obachtungsziel entsprechen. Hierdurch wird wieder nur ein Teil der Eindrücke zur Auffassung kommen, während andere unbeachtet oder gehemmt bleiben, z. B. nur Konturen oder nur Farben u. s. f. In allen diesen FäUen besteht nun die Möglichkeit, daß die „assoziativen Faktoren", d. h. die von uns zu den gegebenen Eindrücken hinzugebrachten und sich mit ihnen assimilierenden Vorstellungen über die Eindrücke überwiegen, oder auch, daß die Eindrücke über die Vorstellungen überwiegen. Im ersten Falle nimmt die Wahrnehmung einen mehr subjektiven, im zweiten einen mehr objektiven Charakter an.

Nunmehr läßt sich klar machen, worauf es beruht, daß der Wahr- nehmnngsprozeß (die Beobachtung) mehr oder weniger vollständig und mehr oder weniger genau sein kann. Er ist um so voll- ständiger, je mehr einzelne Schritte die sukzessiv die einzelnen Teile oder Eigenschaften des beobachteten Objektes fixierende Aufmerksamkeit und die sich an sie anschließende assimilierende Vor- stellungstätigkeit tut. Fixiert meine Aufmerksamkeit nur den Gesamt- eindruck der Form, so reproduziere und assimiliere ich auch nur Form- gesamtvorstellungen und gewinne nicht mehr in meiner Auffassung als eine unbestimmte Gresamtvorstellung des Objektes, der zahlreiche Einzel- heiten fehlen werden. Wandert hingegen meine Aufmerksamkeit und das assimilierende Vorstellen in einer Reihe sukzessiver Auffassungs- akte, Schritt für Schritt auf alle Einzelheiten der Form des Objektes, so kommen mir auch sukzessiv alle Details seiner Form zum Bewußtsein. Dieser Teil der Wahrnehmung ist das eigentlich analysierende Sehen. Es besteht also darin, daß ich die fixierende Aufmerksamkeit und die ihr folgende assimilierende und auffassende Tätigkeit möglichst viele einzelne Schritte tun lasse, um mir alles an dem Objekt bemerkenswerte nacheinander zum Bewußtsein zu bringen. Hier- zu muß man aber weiter beachten, daß auch die fixierende Aufmerksam- keit bei ihrem sukzessiven Durchwandern des Objektes beständiger Leitung und fortwährender Antriebe bedarf, um wirklich alle der direkten Beobachtung zugängliche Eigenschaften desselben zu erfassen.

144

Woher stammen diese Antriebe? Sie stammen zum Teil ans den Absichts Vorstellungen des Beobachtenden, d. h. wir können jederzeit bemerken, daß ein Mensch um so vollständiger beobachtet, je mehr Gesichtspunkte, je mehr Kenntnisse und Wissen er schon hat, wodurch er seine Beobachtung leiten lassen kann. Daraus folgt, daß wir Indivi- duen, denen es noch an Beobachtungs zielen mangelt, diese mit- teilen müssen. Hierin besteht das Eingreifen des Erziehers in die Beobachtung, er kann dem beobachtenden Individuum die Gesichtspunkte der Beobachtung angeben und dadurch dessen Beobachtung voll- ständiger und reicher machen. Der Antrieb zu sukzessiv weiter- schreitender Beobachtung stammt aber zum Teil aus dem loßen all- gemeinen Entschluß, der „Einstellung" auf vollständige Beobachtung. Wenn nun diese allgemeine Einstellung keine Gesichtspunkte zur Be- obachtung dem vorhandenen Wissen entlehnen kann, so kann sie sich auch durch das Objekt selbst leiten lassen. Der Wille zur Beobachtung erzeugt dann z. B. ein Absuchen des Objektes mit den Augen, ein Ab- tasten mit der Hand und wir können auf diese Weise zur Kenntnis von Eigenschaften des Objektes gelangen, die weit über unser früheres Wissen von ihm hinausgehen. Es ist daher pädagogisch besonders wichtig, das Beobachten nicht nur durch Mitteilung von Gesichtspunkten zur Be- obachtung anzuregen, sondern auch durch Aufrechterhaltung des Willens zur Beobachtung und das eigentliche Absuchen des Objektes.

Hiermit haben wir aber erst festgestellt, wovon die Vollständig- keit der Beobachtung abhängt. Von dieser unterschieden wir ihre Genauigkeit, ihre Treue oder „Objektivität". Diese letztere hängt nun auch wieder, zum Teil wenigstens, von der Vollständigkeit ab, denn je lückenloser wir ein Objekt analysierend beobachten, desto mehr besteht die Möglichkeit, daß die Beobachtung treu werde, oder es genau erfasse. Aber die Genauigkeit der Beobachtung hängt nicht allein von ihrer Vollständigkeit ab, sondern mehr noch von dem Verhältnis, in welches die as similierenden Vor Stellungen und die objektiv gegebenen Eindrücke zueinander treten. Überwuchern die assimilierenden Vorstellungen die gegebenen Eindrücke, so nimmt die Wahrnehmung einen subjektiven und ungetreuen Charakter an; der Wahrnehmende bringt sich in diesem Falle nicht genau zum Bewußtsein, was die Natur der gegebenen Eindrücke ist, oder er scheidet nicht streng genug zwischen subjektiven Zutaten und Eindrücken, oder er überläßt sich zu sehr den durch die Eindrücke angeregten sekundären Assoziationen und Reflexionen, er deutet, interpretiert, reflektiert und urteilt ohne vorher genau gesehen zu haben. Wenn der Wahrnehmende dagegen seine Vorstellungen mehr durch die objektiven Eindrücke be-

145 -

stimmen läßt, und die hinzugebrachten Vorstellnngen nur verwendet, um die Eindrücke richtig aufzufassen, so nimmt die Wahrnehmung objektiven Charakter an und wird „treu" und „genau". Keine der beiden Ver- haltungsweisen stellt in ihrem Extrem den idealen Fall der Beobachtung dar: weder das absolute Überwiegen der hinzugebrachten Vorstellungen noch die vollkommen passive Hingabe an die Eindrücke. Denn die erstere ist benachteiligt durch Ungenauigkeit, die letztere dadurch, daß die Eindrücke nicht genug in Beziehung gesetzt werden zu den übrigen Vorstellungen und Erkenntnissen des wahrnehmenden Individuums. Die Wahrnehmung gewinnt dann den Charakter des .beziehungslosen", nüchternen, ideenarmen Stehenbleibens bei dem was objektiv gegeben ist. Gerade von dem Zeichner verlangen wir aber, daß er nicht b 1 o s sieht was da ist das kann nur für die erste Grundlegung der zeichnerischen Fähigkeiten und für das rein technische Zeichnen genügen. SoD. sich das künstlerische Zeichnen entwickeln, so muß der Zeichner ebensowohl imstande sein, lückenlos und genau zu beobachten, als sich eine eigene Auffassung von den Formen, Farben, den Dingen, ihrer räumlichen Anordnung, ihren Stimmungswert, ihrer symbolischen Bedeutung u. a. m. zu bilden, d. h. psychologisch gesprochen, zu dem analysierenden Sehen muß eine lebhafte beziehende und kombinierende Tätigkeit seiner Phantasie hinzutreten.

Es ist wichtig zu bemerken, daß bei der Sinneswahrnehmung alle die bisher genannten Tätigkeiten in beständiger Wechselwirkung zueinander stehen. So ist z. B. das Schritt für Schritt ein Objekt analysierende Sehen stets von der rein optischen Fixation der einzelnen Punkte des Objektes begleitet: hier wirken also der optische and analy- sierende Teil des Sehens zusammen ; und ferner muß bei jedem einzelnen Schritt der fixierenden Aufmerksamkeit immer wieder ein assimilierender und auffassender Prozeß eintreten. Von der Genauigkeit der optischen Fixation hängt die Genauigkeit der sich anschließenden ideellen Prozesse ab; durch die einzelnen Schritte der Aufmerksamkeit werden die ein- zelnen Vorstellungen des Assimilationsprozesses angereiht und je mehr assimilierende Vorstellungen bei dem wahrnehmenden Individuxmi an- geregt werden, desto vollständiger wird wieder die Auffassung dessen was objektiv gegeben ist.

Endlich ist noch besonders zu beachten, welche Rolle die zu den Eindrücken hinzugebrachten VorsteUangen spielen. Ein Teü derselben verschmilzt unmittelbar mit den gegebenen Eindrücken, assimiliert sich ihnen total zu einem eiaheitlichen Ganzen, vermittelt ihre Auffassung und macht für uns „das wahrgenommene Objekt" aus. Ein Teü der apperzipierten Vorstellungen kann aber auch in ein freieres Verhältnis

146

zu den Eindrücken treten. Diese können wieder eine zweifache Be- deutung haben. Einerseits bringen uns solche Vorstellungen, die mit ähnlichen Dingen wie dem jetzt beobachteten assoziiert sind, ganz besonders die Verschiedenheit des gegenwärtigen Objektes von früher gesehenen zum Bewußtsein oder Verschiedenheiten des gegen- wärtig gesehenen Objektes von dem Anblick, den es uns gewöhnlich bietet, sie assimilieren sich dann dem Objekt, und zugleich treten sie in Gegensatz zu ihm. Wir haben z. B. bisher das Wasser eines uns be- kannten Flusses stets in klarer blaugrüner Färbung gesehen, erblicken wir ihn dann einmal in schmutzig - gelber Färbung, so assimilieren wir zwar auch diese gelbe Farbe mit dem gegebenen Eindruck, zugleich aber tritt die Vorstellung des Gelb für uns in Gegensatz zu dem gewohnten Anblick, es stellt sich eine Hemmung der Assimilation ein und die Vor- stellung wird für unser Bewußtsein betont, sie macht uns damit zugleich auf das Neue und Eigenartige an dem gegenwärtigen Anblick aufmerksam. Endlich schließen sich wie schon erwähnt wurde an die unmittelbar mit dem Objekt assimilierten Vorstellungen sekundäre Assoziationen an, durch deren Vermittelung das Objekt von uns in Beziehung zu der ganzen Fülle früher erworbener Vorstellungen und Erkenntnisse treten kann. Wir deuten, interpretieren das Objekt, geben ihm eine „eigene Auffassung". Dieses Spiel der sekundären Assoziationen können wir als eine zu dem Assimilationsprozeß hinzutretende Tätigkeit unsrer Phantasie und unsrer Reflexion bezeichnen. Sie vermittelt uns zugleich in höherem Sinne das ^Verständnis" des Objektes.

8. Dieser ganze einheitKche und doch in seiner Zusammensetzung sehr komplizierte Prozeß geht beim Zeichnen in mehr oder weniger großer „Vollständigkeit" der graphischen Ausführung voraus. Er kann in seiner Zusammensetzung, seinen Bestandteilen und deren Bedeutung für den ganzen Prozeß individuell variieren. Bei dem einen Individuum bleibt z. B. das analysierende Sehen unvollständig und un- genau, bei einem anderen wird es vollständig und genau; ein anderes beachtet wenig, aber das wenige genau; ein Individuum überläßt sich voreilig dem Spiel der sekundären Assoziationen oder seiner Reflexion während ein anderes mehr bei den gegebenen Eindrücken stehen bleibt, sich aber keine eigene Auffassung der Dinge bildet.

Je nach diesem individuellen Verhalten des wahrnehmenden Teils des zeichnerischen Aktes sind auch die ideellen Mächte, welche die Führung der Hand übernehmen, individuell verschieden. Bei dem einen Zeichner läßt sich die Hand von dem treu und genau erfaßten Gesichts - bild leiten, bei dem andern mehr von Phantasiezutaten oder Reflexion. Bei dem einen Individuum folgt die Hand Punkt für Punkt dem genau

147

das Objekt analysierenden Sehen, bei einem andern treten assimilierende Vorstellungen von früber gesehenen ähnlichen Objekten oder ein erlerntes Schema für das analysierende Sehen ein. Endlich kann auch bei sehr motorisch veranlagten Individuen die Bewegungsvorstellung den nach- zeichnenden Bewegungen oder Augenbewegungen dem Gesichtsbild gleich- wertig werden, vielleicht sogar bisweilen über dieses vorherrschen. So ließen sich leicht die möglichen individuellen Unterschiede der zeichne- rischen Begabung zum Teil schon aus dieser allgemeinen Analyse der Partialvorgänge des Zeichnens ableiten. Aber mit dem bloßen Schema möglicher Begabungsdifferenzen können wir zwar Licht bringen in das Verständnis der wirklich vorkommenden zeichnerischen Begabungs- typen, aber wir können uns den Nachweis der vorkommenden Typen nicht ersparen. Diesen kann uns allerdings die experimentelle Analyse bringen.

9. Zu dem, was wir soeben als die Führung der Hand durch irgend einen der dominierenden Teilvorgänge des ideellen Teils des zeichne- rischen Aktes nannten, kommt nun ferner bei der graphischen Darstellung der Objekte die beständige innere Kontrolle über die ausführenden Arm-, Hand- und Fingerbewegungen. Wir überwachen die ausführenden Be- wegungen einerseits mit dem Auge, indem wir die resultierende Zeichnung und ihre Übereinstimmung mit dem uns vorschwebenden Original als Maßstab für die Korrektheit der Bewegungen benutzen (ähnlich wie uns beim Singen der hervorgebrachte Ton über die korrekte Funktion der Stimmbänder orientiert); zugleich kontrollieren wir die zeichnenden Bewegungen mit den kinästhetischen Empfindungen (Muskel-, Sehnen- und Grelenkempfindungen).

Diese allgemeinen Überlegungen über die Analyse des Zeichnens, die sich schon auf die im Folgenden zu entwickelnde experimentelle Analyse stützen, zeigen jedenfalls, daß sowohl die Korrektheit und Origi- nalität der Ausführung der Zeichnung im Allgemeinen, wie die Art der individuellen zeichnerischen Begabung von außerordentlich verschiedenen Faktoren abhängen kann. Nur die experimentelle Analyse vermag uns nun genauer den relativen Anteil dieser einzelnen Faktoren oder Teiltätigkeiten an dem Zustandekommen einer Zeichnung und an den Begabungstypen klar zu machen.

In den folgenden Versuchen soll zuerst einmal der Anteil einiger dieser Partialphänomene an dem Zustandekommen des Zeichnens sowohl wie an der individuellen zeichnerischen Begabung experimentell geprüft werden. Der Weg. der dazu führen kann, ist die künstliche Aus- scheidung eines oder des andern mitwirkenden Phänomens. Ich ver- suchte zunächst eine solche Peirtialtätigkeit auszuschalten, die auch

- 148

didaktisch wichtig ist, nämlich das analysierende Sehen und die mit diesem verbundene analysierende und konstruierende Auffassung des gegebenen Objektes. Das heißt ich versuchte zuerst einmal fest- zustellen, wie sich der Zeichner verhält, wenn er an der Analyse ein- facher zu zeichnender Formen gehindert wird und sich rein auf das optische Gesichtsbild als solches verlassen muß. Zu diesem Zwecke mußte der Zeichner in eine Lage gebracht werden, in der er die Vor- lage nicht mit Auge, Hand und innerer Analyse erfassen kann. Um das zu ermöglichen, mußte alles äußere und innere Nachzeichnen nnterdrückt werden, zugleich aber mußte es ausgeschlossen werden, daß sich der Zeichner auf Analogien mit bekannten Figuren stützen kann, denn sonst kann die Erinnerung an früher gesehene Figuren als Ersatz- mittel für die mangelnde Analyse der gegenwärtig gesehenen Figur eintreten.

Hierdurch mußte zugleich klar werden, welche Bedeutung das Verstehen einer Form für die Möglichkeit ihrer zeichnerischen "Wiedergabe hat, denn das Formenverständnis ist an das analysierende. Sehen gebunden. Ferner war zu erwarten, daß dabei die individuellen Begabungen sich unter dem Gesichtspunkte scheiden würden, was das optische Bild für sie zu bedeuten hat. Das optische Bild ist näm- lich — wie die folgenden Versuche beweisen werden stets zugleich ein innerlich verarbeitetes Bild, mit der Behinderung des analysierenden Sehens behindert man daher zugleich die Entstehung des optischen Bildes. Wenn das zutrifft, so müssen durch jene Behinderung gerade die Zeichner am meisten in Verlegenheit geraten, die sich beim Zeichnen auf ein durch analysierendes Sehen gewonnenes Bild verlassen, der Zeichner dagegen, der sich mehr auf Phantasie und Reflexion verläßt, wird nicht in gleichem Maße behindert. So konnte die Unterdrückung des analysierenden Sehens zugleich zu einer Scheidung der sehenden und der mehr reflektierenden Zeichner führen (vgl. Punkt 8 der obigen allgemeinen Analyse des Zeichnens).

Wenn nun unsere Vorlagen dem Zeichner nicht erlauben sollten, sich auf die Erinnerungen ihm von früher her bekannter Figuren zu stützen, so mußten wir von Figuren ausgehen, die dem Kanon der bekannten Formenelemente nicht angehören oder sich von ihm nach Möglichkeit entfernen. Es war zugleich lehrreich die Figuren abzu- stufen, sodaß sie sich schrittweise bekannten Formen annäherten, denn hiermit konnte der Einfluß der Bekanntheit der Figuren und damit die Unterstützung des Zeichners durch Erinnerungs -Analogien besonders dargestellt werden.^)

1) Daß bei einzelnen Kindern mit besonders reger Phantasie doch Beziehungen

149

Es wurden deshalb

1. Zeichnungen als Vorlagen gewählt, bei welchen die Anlehnung des Gedächtnisses und der Auffassung an bekannte Figuren auf ein Mindestmaß beschränkt werden konnte.

"Wenn wir uns den zeichnerischen Akt etwa so vorstellen:

Rdz-

^mpünd.

(assocüertßji^ ___--^ cmtn

graphr.

Darstelhmg ^ " m^nC.

daß mithin der Kreis durch Deckung der graphischen Darstellung mit dem äußern Reiz gleichsam geschlossen ist, so ergibt die Erfahrung, daß das Bewußtsein nicht nur in der Pfeilrichtung funktioniert, sondern, sobald der Reiz in Wirksamkeit tritt, auch ein entgegengesetztes "Wirken der ausgelösten Kräfte stattfindet. Die Hand, als Ausführende des motorischen Zentrums macht, während der Reiz wirkt, die Be- wegungen mit; dieser Akt geschieht durch automatische Zuordnung. Von 51 Schülern der Quinta, mit denen ich hierauf bezügliche Versuche vermittelst "Wandtafelzeichnungen anstellte, reagierten sichtbar mit zeich- nenden Handbewegungen, die sich unwillkürlich einzustellen schienen, 29 Kinder, also über 50 ^o. An mir selbst mache ich die Erfahrung, daß mich bei Beobachtung einer komplizierten Zeichnung ein Gefühl in der Hand auffordert, die Linien nachzuziehen, welche das Auge abtastet. Um den Eindruck möglichst objektiv zu gestalten, mußten

2. durch die Methode der Störungen die konstruierende Tätigkeit des Auges und der Hand und die konstruierende Auffassung (Apperception) ausgeschlossen werden.

3. Den oben angeführten komplexen Tatbestand in seine Elemente zu zerlegen bediente ich mich folgender Mttel:

a) Ich verwandte Zeichnungen von schematischen Figuren, die dem optischen Bilde nach relativ einfach und wenige Details enthaltend dabei konstruktiv schwierig sind (s. Beilagen I, la, 11 und III).

zwischen vorgelegten Zeichnungen und im Bewußtsein schlummernden Vorstellungen ge- funden wurden, zeigen einige weiter unten angefiihrte Beispiele.

1) Lichtheim nimmt ein besonderes (auch räumlich verschiedenes) Begriffszentrum an, andere Physiologen legen dasselbe mit dem Wahmehmungszentrum zusammen mit besonderer funktioneller Bedeutung. Diese Unterscheidung ist aber rein theoretisch und modifiziert die Tatsachen praktisch nicht (z. verg. Dr. Weber, Abbild, aus Bastian: Über Aphasie, Engelmann, Leipzig. S. 92).

Meumann, Exper. Pädagogik. V.Band. H

150

Nr. I stellt schematisch einen Teil des Nervengeflechts des Sym- pathikus dar und ist aus Gegenbaurs Anatomie entnommen.

Die Zeichnung an sich ist aus einfachen Strichen zusammengesetzt, die Schwierigkeit der Ausführung besteht in der eigentümlichen Ver- schlingung der Linien. Dies wurde auch in der Tat von den meisten Vpn. als Grund angegeben, wenn die Zeichnung mißlang. Jedoch es könnte ja gegen Benutzung obiger Vorlage eingewendet werden , daß sie, zu lang gestreckt, aus dem Bildfelde des Fixierenden herausfalle. Daher wurde mit einer andern Zeichnung (I a) , die statt drei nur zwei Schlingen enthielt, ein Kontrollversuch angestellt: auch hier ergab sich ein ähnliches Resultat (Tafel 11).^) Ebenfalls ließen Umfragen bei den Vpn. darauf schließen, daß das eventuelle negative Ergebnis aus der Vorlage nicht resultiere. Nr. II ist relativ einfacher und sollte neben dem Hauptzwecke noch zur Kontrolle für etwaige assoziative Vor- stellangen dienen. Und in der Tat fanden mehrere Vpn. mit leicht be- weglicher Phantasie Beziehungen zu verschiedenen assoziativen Ver- bindungen. Nr. m ist der Schwierigkeit nach zwischen I und II ein- . zureihen.

b) Ein Schwanken des Blickes und eine Bewegung des Auges entlang den Linien wurde durch starre Fixation eines Punktes, das unwillkür- liche Nachzeichnen mit der Hand durch rythmische Bewegungen der- selben ausgeschaltet. Es entsteht nämlich (siehe oben) während der Fixation unter Mitwirkung der Aufmerksamkeit ein Inbewegungsetzen des motorischen Apparates (Arm und Hand), welches sich dadurch ver- meiden läßt, daß die Hand in gleichmäßigem Tempo hin und her bewegt wird. Übrigens ließ sich ein Erfolg dieser Methode nicht durchgängig konstatieren : einige der Schüler mußten beide Hände fest auf den Tisch legen und so die Zeichnung fixieren.

c) Die Methode zur Ausschaltung des Willens gelangte zur An- wendung, d. h. es wurde den Vpn. eingeschärft, bei der Fixation der Zeichnung jede bewußte Willensregung zum Nachzeichnen zu unter- drücken. Jedes Kind erhielt die genaue Anweisung: Denke nicht daran, daß du die Vorlage später nachzeichnen sollst, sondern fasse sie starr und fest ins Auge. Freilich muß hierbei bemerkt werden, daß die Kontrolle keineswegs einwandsfrei ist, da man bei ihr einzig und allein auf den guten Willen der betreffenden Vp. angewiesen ist.

1) Die Figuren wurden bei der Betrachtung in solche Entfernung vom Auge der Versuchspersonen gebracht, daß ein wesentlicher Anteil des indirekten Sehens an der Auffassung nicht statt fand.

151

Die Versuche.

Instrnktion. Die Versuclie wurden mit den Schülern einzeln in meiner "Wohnimg angestellt. Die ersten leitete mein verehrter Lehrer, Herr Prof. M. , die folgenden wurden dann nach den erhaltenen Direk- tiven im Zeitraum von ca. acht Wochen vorgenommen, wobei ich täglich etwa zwei bis vier Schüler einer Prüfung unterzog. Diese be- anspruchte bei jedem Kinde durchschnittlich eine halbe Stunde, indem ich zur Ausfrage der jüngeren Knaben einer etwas kürzeren, der älteren, um eingehendere Resultate zu erzielen, einer etwas längeren Zeit be- nötigte, ohne daß jedoch als Höchstmaß eine volle Stunde überschritten wurde. Denn trotzdem zwischen den einzelnen Versuchen bei derselben Vp. Pausen eingeschaltet wurden , lag doch die Gefahr nahe , daß bei eintretender Ermüdung die Versuche ein ungenaues und anfechtbares Resultat ergeben könnten. Auch erhielt eine mehrfach vorgenommene Abwechslung die Kinder bei vollem Interesse. Vor Beginn des Versuches wurde ihnen genau erklärt , worauf es ankomme. Bei besonders leb- haften Schülern wurden außerdem vorher noch einige Übungen vorge- nommen, die darin bestanden, einen Punkt genau zu fixieren. Dies gelang bereits nach einiger Übung. Besondere Vorsicht war bei den Schülern in Bezug auf das Sehvermögen geboten. Durch einige Fragen bezw. Leseproben überzeugte ich mich, daß die Sehweite richtig genommen wurde. Wie wichtig eine hierauf bezügliche Untersuchung war, davon überzeugte ich mich bei einem Schüler (Nr. 31. Rudolf K.) , der auf einem Auge weitsichtig, auf dem andern kurzsichtig, erst in einer be- stimmten Entfernung mit beiden Augen gleich scharf zu sehen vermochte. Den Vpn. wurde eingeschärft, ihre Aufmerksamkeit starr auf den be- zeichneten Punkt zu richten, der durch ein rotes Sternchen markiert war (s. Beilage I III), und zwar bei I links von dem Linienzuge (ihn in die Schlingen zu bringen, fehlte es an Raum); bei II in der rechten Hälfte und bei III in der Mitte. Ein Unterschied bei der Fixation ließ sich durch diese verschiedenen Stellungen nicht konstatieren. Alle Vpn. erklärten, daß die ganze Zeichnung in das Gesichtsfeld falle. Eine besondere Einrichtung mußte getroiFen werden, um zu ermöglichen, daß für den Schüler die zu fixierende Zeichnung eine bestimmte Zeit (in diesem Falle 10 Sekunden) frei lag. Zu diesem Zwecke wurde aus zwei Kartonstücken eine Art Verschluß konstruiert: Das eine erhielt einen parabelförmigen Ausschnitt und wurde mit dem andern so auf die Zeichnung gelegt, daß nur das Sternchen frei lag, auf welches nun die Vp. das Auge einstellte. Durch seitliches Hinwegziehen beider

11*

152

Kartonstücke wurde die Zeichnung frei gelegt und dann durch schnelles Zudecken wieder dem Auge entzogen.

<

""1

vor derFuuäoTi

wahrend depFücatioTi

Verfahren in den Hauptstadien, a. Zeichnen nach fixierendem Sehen.

Bei diesen Versuchen liegt die Gefahr besonders nahe , daß das Auge den Fixationspunkt verläßt und auf Momente über die Zeichnung gleitet. Dadurch wird natürlich das Resultat illusorisch. Und in der Tat mußte auf einigen wenigen Versuchsblättern notiert werden: Nicht strenge fixiert. Besonders trat dieses unwillkürliche Abschweifen bei Vpn. mit fluktuierendem Aufmerksamkeitstypus hervor. Jedes Kind wurde vorher besonders darauf hingewiesen, daß die Aufmerksamkeit ganz auf das Sternchen zu konzentrieren, jedes Wegirren von diesem zu vermeiden sei. Im Verlaufe der Untersuchung machte ich die Er- fahrung, daß schon ein geringstes Abweichen des Auges vom Fixätions- punkte zu bemerken war. Wenn ich nämlich den Standpunkt zum Kinde ein wenig tiefer nahm, so daß ich das Auge von unten herauf sehen konnte, war jedes Schwanken und Unsicherwerden des Blickes zu be- obachten. Hierauf bezügliche Nachfragen bestätigten diese Wahrnehmung. Auf diese Weise erreichte ich ein einwandfreies Fixieren. Als Ver- suchszeit galten in der Regel zehn Sekunden, die von einer Hilfsperson nach der Sekundenuhr festgestellt wurden. Um in einzelnen Fällen zu bestimmteren Resultaten zu gelangen, wurde die Zeit des Fixierens auf zwanzig Sekunden erhöht. (Die Zeit ist auf den betreflFenden Tafeln vermerkt). Als Regel galten zwei nach einander vorgenommene Ver- suche; wo Hinweise auf ein noch zu vervollständigendes Resultat vor- lagen, oder wo die Kinder selbst es wünschten, in der Meinung, es besser machen zu können, wurden drei bis vier Versuche veranstaltet. Nach jedem derselben wurden folgende Fragen gestellt:

- 153

Hältst du die Zeichnung für richtig? Erfolgte eine verneinende Antwort, so wurde weiter gefragt:

Kannst du sagen, was falsch ist?

"Wo fehlt etwas?

Woran liegt es wohl, daß du nicht genau siehst und genau zeichnen kannst? Die Antworten wurden protokolliert und die obigen Fragen in jedem speziellen Falle ergänzt und erweitert, um den jeweiligen Tatbestand möglichst klar festzulegen. Besonders interessant und lehrreich war die Art und Weise, wie die Vpn. nach der Fixation an das Zeichnen gingen. Aus dem Spiele der Gebärden ließen sich oft Schlüsse auf den psy- chischen Zustand machen, die für die Analyse der zeichnerischen Tätig- keit von Wichtigkeit waren und bei den einzelnen Versuchen besprochen werden.

b. Zeichnen nach der Vorstellung aus dem Gedächtnis.

(Hier kurz Gedächtniszeichnen (Gdz.) benannt).

Die Vp. durfte die Zeichnung so lange betrachten, bis sie glaubte, dieselbe aus dem Gedächtnis zeichnen zu können. Die Zeit wurde ver- merkt; ebenfalls wurde festgestellt, welche Dauer die Ausführung be- anspruchte. Nach Lösung der gestellten Aufgabe richtete ich an den Schüler folgende Fragen:

Ist die Zeichnung schwierig?

Warum wohl? oder

Woran liegt das?

Worauf verläßt du dich beim Gedächtniszeichnen? Die Fragen mußten dem Intelligenzgrade des Betreffenden oft in anderer Form angepaßt, mitunter auch erweitert werden; denn fallt es schon dem Erwachsenen schwer, auf Fragen, welche die Selbstbeobachtung betreffen, Antwort zu geben, wie viel mehr Mühe hat das Kind, sich über das Gefragte klar zn werden und einer befriedigenden Antwort Ausdruck zu verleihen. Um so wichtiger waren hier die Rückschlüsse aus dem physischen auf den psychischen Zustand.

c. Abzeichnen der Vorlage.

Jede Zeichnung wurde zxmi Schlüsse abgezeichnet und die Zeit notiert.

Die Versuchspersonen. Die Vpn. sind einer hiesigen Realschule entnonmien, und zwar den Llassen Sexta bis Untersekunda.

154

Dem Alter nach ordnen sie sich:

Sexta 9 10 Jahre,

Quinta 11 12 Jahre,

Quarta 13 14 Jahre,

Tertia 15 16 Jahre,

Untersekunda 17 18 Jahre. Die Sextaner haben noch keine Zeichenstunden. Alle andern er- halten wöchentlich je 2 Stunden Unterricht im Freihandzeichnen. Die Tendenz der Auswahl war, aus jeder Klasse möglichst gute, mittelmäßige und schlechte Zeichner und Schüler mit guter, mittelmäßiger und schlechter Intelligenz herauszusuchen. Weil ich in allen oben genannten Klassen den Zeichenunterricht habe, die Klassen 30 (obere Klassen) bis 50 (untere Klassen) Schüler zählen , außerdem Doppelklassen bestehen, fiel dies besonders leicht. Ich wählte aus jeder Klasse

2 gute,

2 mittelmäßige,

2 schlechte Zeichner.

Ihrer allgemeinen Intelligenz nach wurde von den zweien einer mit guter und einer mit schlechter Intelligenz gewählt. Natürlich wurde das Schema nicht genau nach der Klassenliste festgestellt, sondern ich traf meine Wahl nach persönlichen Erfahrungen. Wo die Verhältnisse es erforderten, wurden zur Kontrolle noch einige weitere Schüler her- zugezogen und untersucht. So stellte sich die Zahl der Vpn. auf fünf- undvierzig, welche sich folgendermaßen verteilten.

Gruppe I.

9—10 Jah

re.

1. Paul T.

9 Jahre

^49.

2. Walter Seh

. 10

n

"/49.

3. Kurt W.

9

n

^2/49.

4. Alfred Z.

10

»

2V49.

5. Fritz ß.

9

n

'^/49.

6. Franz Gr.

9

J7

^>.

7. Erich K.

9

r

»°/49.

8. Paul E.

10

»

*%9.

9. Paul V.

10

r

3«/41

als KontroUver Suchsperson.

Gruppe IL 11—12 Jahre.

10. Walter B. 11 Jahre V^u

11. Franz K. 11 «Ai.

12. Paul E. 11 ^'hi.

155

13. Kurt P.

11 .

"/«.

14. Fritz Z.

11 r

^=»41.

15. Erich K.

11 n

"*1.

16. Alfred M.

11 «

*«/47.

17. Heinrich H.j

11 r,

*"/«. als Kontrollver

18. Fritz B. J

12 «

*/4i. Suchspersonen.

Gruppe III.

13-14 Ja

thre.

19. Alfred L.

13 Jahr

e ^47.

20. Ernst Z.

14 V2

35

V21.

21. Walter Gr.

13

n

^'/50.

22. Ernst K.

13

j)

23/47.

23. Bruno W.

13

T

^V*7.

24. Willy 0.

13

n

2750.

25. Ernst E.

13

V

37«.

26. Georg St.

13

7)

^V/47.

27. WiUy Seh.

13

»

*750.

28. Emil T.

13

n

*V47.

Gruppe IV.

15—16 Jahre.

29. Karl Seh.

15 Jahre V48.

30. Kurt L

15

»

3/42.

31. Rudolf K.

15

»

'In.

32. Willy H.

15

»Vse.

33. Erich G.

15

»

»736.

34. Benno G.

15

7>

"/26.

35. Heinrich F

. 15

»

3743.

36. Wilhelm J

. 16

JJ

»743.

37. Paul St.

15

J>

"/43.

Gruppe V. 17—18 Jahre.

38.

Wilhelm K.

18

»

V26.

39.

Kurt H.

17

»

»/28.

40.

Paul B.

17

n

726.

41.

Heinrich R.

18

»

"/36.

42.

Reinhold L.

17

»

"/3I.

43.

Kurt S.

17

»

"/3I.

44.

Alfred K.

17

»

"/28.

45.

Otto G.

17

»

2«/28.

156

Da sich bei den Kindern ein reges Interesse für die Versuche, welche ihnen teilweise großes Vergnügen bereiteten, konstatieren ließ, wobei sit scheinbar unter Aufbietung aller psychischen Kräfte ihr Bestes gaben, sind die Ergebnisse umso weniger anfechtbar.

(Schluß, sowie Bilderatlas zu der Arbeit folgen in dem nächsten Hefte.)

Die Ideale der Kinder.

Von Henry Herbert Goddard, Ph. D. Professor der Psychologie und Pädagogik, State Normal Sthool West ehester, Pennsylvania.

Ein erzieherisches System kann man nach den Idealen beurteilen, die es den Kindern giebt, auf die es einwirkt. Der Brunnen kann nicht höher steigen als seine Quelle. Ein Kind kann nie besser werden als sein Ideal. Grieb ihm weite und edle Ideale und es wird Sorge tragen, sich nach ihnen zu richten, gieb ihm enge und gewöhnliche und es wird von Anfang an beschränkt werden. Seine Ideale stammen häufiger aus dem Schulleben als irgend wo anders her. Giebt ihm die Schule nicht die großen Ideale, so wird es sie wahrscheinlich nie bekommen.

Es ist eine häufig beobachtete Tatsache, daß die Ideale sich ändern sowie des Kindes Persönlichkeit sich mit den fortschreitenden Jahren entwickelt. Das Ideal des sehr jungen Kindes ist Vater, Mutter, Onkel, Tante oder irgendwelche Bekannte. Allmählich ändert sich das und macht großen Männern der Geschichte, oder großen bekannten Persön- lichkeiten — (öffentlichen Charakteren) der Gegenwart Platz. Das ist recht; denn so ausgezeichnet die Eltern sein mögen, das Kind muß sich doch ein anderes Ideal bilden, oder wir erleben, was man in China sieht, wo die Kinder ihren Eltern und Vorfahren göttliche Ehrungen er- zeigten und ein stagnierendes, um nicht zu sagen, entartetes Geschlecht aus ihnen geworden ist.

Ein Josef, (Bibel) , ein Bismarck , der Kaiser , Jesus , eine Königin Luise, eine Ruth, sollten die Stellen derjenigen einnehmen, denen Knaben oder Mädchen gleichen möchten und sie tun es auch.

Dies alles ist bekannt und man hat solche Arbeiten wie diese für nutzlos gehalten; weil sie uns nur sagen, was wir schon wissen. Aber sie tun mehr. Sie bestätigen die oben erwähnten Tatsachen, aber sie tragen auch zur Beantwortung viel größerer Fragen bei, z. B. : „Wie schnell sollte diese Entwickelung der Persönlichkeit vor sich gehen?" Es giebt dafür einen richtigen und einen falschen Maßstab. „Wenn die Entwickelung der Persönlichkeit zu schnell vor sich geht , so wird das zu einer Unvollständigkeit (Halbheit) des Charakters und zu sorglosem

157

Leben füliren. Wenn sie andrerseits zu langsam fortschreitet, so haben wir einen Stillstand in der Entwickelxmg, welcher nahrhaften Boden für Dummheit, Rohheit und Trunkenheit giebt, die eigentlichen Früchte eines trägen, sich selbst genügenden Geistes." (Earl Barnes in Pedago- gical Seminary. Vol. VII, No. I, p. 11).

Da, wie schon bemerkt, die Schule in hohem Maße verantwortlich für die kindlichen Ideale ist, so ist es eine pädagogische Frage von nicht geringer Wichtigkeit geworden, zu erfahren, welches der richtige Maßstab für die Schnelligkeit der Entwickelung ist?

Um das richtige Maß für die Entwickelung der Persönlichkeit fest- zustellen und um eine endgültige Norm darüber aufstellen zu können, sind in England und Amerika mehrere Arbeiten an verschiedenen Gruppen von Kindern, unter verschiedenen Bedingungen gemacht worden.

Solche Arbeiten müssen an verschiedenen Gruppen von Kindern oft wiederholt werden, ehe man weitere Allgemein-Bestimmungen aufstellen kann. „Die Botanik hat sich nicht auf das Studium der Flora eines einzigen Landes aufgebaut, sondern dasselbe Studium mußte in allen Weltteilen wiederholt werden. Erst nachdem man solche Studien oft wiederholt hatte, wurde es möglich weitgehende Verallgemeinerungen über die geographische Verteilung der Pflanzen und den Einfluß des Klimas, des Bodens und der Feuchtigkeit auf ihre Entwickelung festzu- stellen. Bei dem Studium des Kindes wird jedes gute, sorgfältig wieder- holte Experiment dazu beitragen Tatsachen für gesunde Allgemeinbe- stimmungen aufzubauen, welche die Einwirkung von Rassen, Einrich- tungen, Anschauungen und erzieherischer Arbeit festlegen können. (Barnes in „studies in Education, Vol. 11 pag. 40). Diese besondere Arbeit sollte tausendmal wiederholt werden in Stadt und Land, bei Reich und Arm, in verschiedenen Nationen, mit verschiedenem Verfahren, mit verschie- denen Lehrern" (Ibid p. 320).

Als ein Beitrag mehr zu diesen Arbeiten ist die vorliegende gemacht worden an einer Gruppe von Kindern in einer der kleineren Städte Preußens. Das gewöhnliche Verfahren, Kinder in dieser Sache zu prüfen, ist das. ihnen als Aufsatzübung die schriftliche Beantwortung folgender Fragen aufzugeben: „Welcher Person, unter denen die du gesehen, oder von denen du etwas gehört oder gelesen hast, möchtest dn am liebsten ähnlich sein? Warum?

Die folgenden Anweisungen wurden gegeben:

„An den Lehrer oder die Lehrerin". Schreiben Sie, bitte, die Fragen auf die Wandtafel, und lassen Sie die Kinder ihre Antworten aufs Papier schreiben. Um das Resultat zu erreichen muß alles ruhig zugehen. Keine Fragen oder Erklärungen dürfen den Kindern gestellt

158

werden. Es genügt, wenn sie geheißen sind die Antworten aufzuschreiben. Stil und Orthographie sind Nebensachen. Wir möchten nur die eigenen Gedanken der Kinder haben. Ein Papier ohne Antwort ist ebenso gut wie eins mit voller Antwort, d. h. wenn das betr. Kind keine Antwort hat abgeben können. Aber Name (event. „Knabe" oder „Mädchen") und Alter, oben auf das Papier geschrieben, wird von jedem verlangt.

Man hat dieser Art des Experiments vorgeworfen, daß eine Beant- wortung der Fragen reine Lanne, Nachahmung, zufällige Wahl oder unüberlegte Antwort ohne Bedeutung sein wird. Daß einige derartige Antworten vorkommen ist sicherlich wahr. Daß deren aber nur wenige sind, ist mehr als bewiesen durch die Tabellen imd Kurven die in diesen und ähnlichen Arbeiten eingereicht worden sind. Die allgemeine Über- einstimmung der Kurven bei verschiedenen Gruppen, von verschiedenen Beobachtern gemacht, zeigt entschieden, daß wir vor einem Gesetz oder vor Gesetzen in der kindlichen Entwicklung stehen.

Verschiedene geringe Schwierigkeiten kommen dem vor , der die Methode kritisch prüft, welche, wenn sie sachlich wären die Resultate mehr oder weniger zerstören würden. Die Erfahrung hat indessen ge- zeigt, daß sie nicht ernst zu nehmen sind.

Ein Tadel ernsthafterer Art muß in Betracht gezogen werden. Es ist geltend gemacht worden, daß diese Arbeiten uns nicht sagen, was wir tun sollen. Ich führe die Antwort von Earl Barnes an : „Hier sind die Kritiker wieder im Unrecht. Es ist die einzige Art und Weise auf die wir sagen können was sein sollte. Wenn solch eine Arbeit in hun- dert Orten wiederholt werden könnte, so würde eine Übereinstimmung darüber erreicbt, wann die Eönder unter den vernünftigsten und und gesündesten Bedingungen leben. Viele Erwägungen , geschichtlicher soziologischer , ökonomischer , politischer und auf die Basse bezüg- licher Art, müssen in solch einem Urteil zusammentreffen. Und auf solchem Boden könnten wir eine Richtschnur aufstellen, nach der sich andere Bodenbeschaffenheit richten sollte. Was wir auf diesem Felde sowohl, wie auf dem der Botanik bedürfen, ist nicht die Ausbeutung eines malerischen Feldes hier oder dort, sondern die Flora eines jeden Ortes, wie gewöhnlich sie auch sei, muß durchgearbeitet werden, sodaß wir im Verständnis der großen Gesetze wachsen, welche die Entwickelung der Kindheit regieren". (Pedagogical Seminary Vol. VII No. 1 p. 12).

Wir wenden uns nun ohne weitere Einleitung zu den Tatsachen.

Die oben angeführten Fragen und Anweisungen wurden im Januar 1904 von dem Verfasser an die Lehrer einer Stadt in Preußen verteilt, die für ihre ausgezeichneten Schulen wohlbekannt ist.

Die Lehrer machten ihre Sache mit der Klugheit, Treue und Sorg-

159

falt, durch welclie der deutsche Lehrer berühmt geworden ist. Als Resultat wurden mir nach wenigen Tagen die Antworten von 1590 Kindern übergeben. Die Kinder waren alle aus den Volks- und Mittel- schulen. 749 waren von Mädchen, 841 von Knaben geschrieben.

Diese Antworten wurden alle sorgfältig gelesen, in Gruppen ein- geteilt und gezählt. Die beifolgende Tabelle gibt die Gruppen und Untergruppen in welche sie eingeteilt wurden und den jedesmaligen Altersprozentsatz derjenigen, welche die in die Gruppen gehörenden Personen gewählt hatten.

Prüfen wir nun diese Zahlen. Das erste was von Interesse ist wird vielleicht der Geschlechtsunterschied sein.

Wenn wir die erste Rubrik „Bekannte'^ vornehmen, bemerken wir, daß in demselben Prozentsatz Knaben und Mädchen irgendwelche Be- kannte zu ihrem Ideal gewählt haben. In allen früheren Arbeiten hatten mehr Mädchen als Knaben „Bekannte" gewählt.

Wir müssen uns beständig daran erinnern, daß wir mit einer ganz andern Gruppe zu tun haben, als wir je vorher studierten. Die deutsche Schule sowohl als die deutsche Gesellschaft ist in verschiedene Klassen geteilt. Diese Kinder hier stammen alle aus einer Klasse. Solch eine scharf begrenzte Gruppe würde in Amerika oder der Schweiz, wo die Bürgermeisterstochter in der Schule neben der Tochter des Mannes der selbst seinen Stall versorgt oder die Straße kehrt, sitzt, unmöglich zu haben sein. Nun geben uns die amerikanischen Arbeiten die Beschajffen- heit des amerikanischen Durchschnittkindes, während uns diese deutschen die Beschaffenheit des Durchschnittkindes einer scharf festgelegten so- zialen Gruppe geben der Bauern und Arbeiterklasse.

Es ist schwierig, den Grund für die Verschiedenheit zwischen dieser Gruppe und andern zu bezeichnen. An und für sich bedeuten die Zahlen zunächst natürlich nur, daß es keine schnellere Entwickelung von Knaben oder Mädchen giebt. Ist das nicht vielleicht charakteristisch für die Erwachsenen dieser Gruppe? Die Bauerfrau ist genau so tätig, so lebhaft, so gewandt als ihr Mann. Er sieht nicht weiter als sie, hat kein größeres Interesse an öffentlichen Persönlichkeiten, keine Verwendung für Politik, keine größere Verantwortung.

Die Wahl der öffentlichen Charaktere scheint dem zunächst zu widersprechen. Sie weist 12 °/o mehr Knaben als Mädchen auf. Dies kommt indessen daher, daß die Mädchen Charaktere aus der Dichtung und der Bibel, welche Gruppen nicht in der Liste, „öffentliche Cha- raktere'' mit eingeschlossen sind, wählten.

Zweimal so viel Mädchen und Knaben wählten biblische Personen (einschließlich der Gottheiten). Bietet dies nicht eine wesentliche Unter-

160

Stützung der Ansicht, daß Frauen religiöser veranlagt sind als Männer ; und daß der Unterschied fundamental ist, da er sich schon so augen- scheinlich in früher Kindheit zeigt?

Die Mädchen wählten häufiger männliche Ideale , als die Knaben weibliche. Dies werden wir später behandeln.

Ebenso viel Knaben als Mädchen konnten die Fragen nicht beant- worten; sie sagten einfach: „Ich weiß es nicht".

Tabelle I.

Einteilung von Antworten mit dem Altersprozentsatz der betrefPenden Klassen. Obere Linie: Knaben, untere Mädchen.

Alter : Anzahl der Papiere „Bekannte" Vater oder Mutter Andere Verwandte Andere Bekannte Öffentliche Personen Kaiser oder Kaiserin Fremde

Aus der Dichtung Aus der Bibel Gott Jesus

Biblische Personen Das andere Geschlecht Keine Antwort Bekannte Deutsche

6.

10. 11. 12. 13. 14. Total

K. M.

23

120

38

99 76

131 135

124

84

103 122

97 101

103 108

64 62

841 749

K. M.

61

70 58

62 75

59 61

46

48

37 29

27 36

21 42

37 33

47

47

K. M.

35

58 29

34 33

36 17

22 16

12 12

10

15

4 17

14 10

25 18

K. M.

17

6 11

15 13

23

18

12 9

11 7,5

10 9

9 6

21 12

13 10

K. M.

9

6

18

13 29

8 26

12 23

14 9,5

7 12

8 19

2 11

9

19

K. M.

0

2 14

19 11

23 14

39 27

46 24

57 32

62 35

53 29

35 23,5

K. M.

0

2 3

17 10

16 9

20 12

16 10

12

7

7 9

3 3

12 9

K. M.

0

0 0

0 0

0 0

1 4

1 3

7 3

8 3

9 3

3 2

K. M.

0 0

2 0

4 3

6 9

6

8

7 14

6

7

8 27

4

8

K. M.

22

3 26

14

8

8 9

6 16

8 26

4 13

8 16

3 14

7 15

K. M.

9

1 11

1 0

0 1,5

0 0

1

1

2 0

2 0

0 0

1 1

K. M.

13

2 15

9

8

5 5

2 13

3

8

2

4

6 3

3 5

4

7

K. M.

0

0 0

4 0

2

2,5

4 2

4 17

0 9

0 13

0 9

2

7

K. M.

35

33

58

13 26

16 27

11 14

9 31

6

38

1 23

1 33

12 33

K. M.

17

31 2

3 6

0 13

3 0

4 13

5 5

3 0

0 0

6 14

K. M.

0

0 11

2

1

7 5

19 11

28 11

37 22

47 23

42 23

21 12,5

Indem wir nun zu der Frage kommen, die uns hauptsächlich inter- essiert : Wie schnell entwachsen die Kinder ihrem ausschließlich lokalen

161

Bekanntschaftsideal , in das weitere der öffentlichen oder historischen Persönlichkeit? finden wir, wenn wir den Prozentsatz prüfen, daß das lokale Ideal eine langsame Abnahme mit dem zunehmenden Alter zeigt (Siehe Tafel 1, Rubrik: Bekannte'') und der öffentliche Charakter zeigt eine* entsprechende Zunahme. (Vergleiche in der Zeichnung die obere Linie in Figur 1 und die tiefere in Figur 2).

%wo

90 SO

70 60 SO

30 20 10

Mter

10

11

12

13

1. Preicss

m

2. Xem Ji

3. Lomdo

Tsar

5. ¥ew ädstie, Pa.

1

W 1

^^"^^^^ j

'-^-""^ ^

^v '

k-.^

\,

N

-^

^^

N.

\^

^"^

^

"''^^

^^^^

"~""~~

^^^^^

Fig. 1.

Mit andern Worten : es giebt eine allmähliche aber sehr regelmäßige Zunahme, von dem engeren zum weiteren Ideal die allgemeine Be- wegung ist klar und stimmt vollständig mit dem überein, was wir er- warten und wissen, daß es praktisch der Fall ist. Aber was können wir über die Schnelligkeit der Erweiterung der Ideale sagen? Ist sie schnell genug oder ist sie zu schnell? Wir haben bis jetzt noch nicht genug Arbeiten, um imstande zu sein, diese Frage entscheidend zu be- antworten. Wir können aber einige Merkmale entdecken, die sehr auf die Richtung in der die Antwort liegt, hinweisen.

In Fig. 1 und 2 haben wir die Kurven für diese und vier andere Gruppen von Kindern entworfen, 3 amerikanische und 1 englische. Man wird sehen, daß im Vergleich mit den übrigen die Gruppe, welche wir jetzt studieren, sich viel langsamer und unvollständiger entwickelt. Die Kurve „Bekannte" senkt sich stark im Alter von 9—11 Jahren, während sie sonst fast eben bleibt. Die Kurve „öffentliche Charaktere'' steigt nirgend höher als bis zu dem Punkt der von den amerikanischen Kindern vor dem Alter von 10 Jahren erreicht worden ist.

162

Diese Verschiedenheit ist sehr bedeutsam. Im Alter von 14 Jahren haben weniger als die Hälfte der Bauernkinder irgendwelche Kenntnis der großen Männer aus Vergangenheit und Gegenwart, welche sie an- spornen könnten, ihnen ähnlich zu werden.

%mo

90

so

70 60

so w

30 20 10

AUer ;

' t

i

' 10 11 12

13

/

1. Xew

Casäe,F(i.

Vereinigte

Staaten-

2. Mim

3. Fem

<£SOta 1£. i

Jerse/f, ^

zUfornia, 'oniffte

Vereinigte taten.

Staaten

l

^^

i. Loju 3. Freii

5?Ä sserv

y^

2^

■-—

""^

3^^^-

y

X^"

^^-'^

__---

"-

/a

C-' ''

-"*'/-

^-^^

/

y^

'/"/'

y^y'

^-^

^ ^

-^^^"^

_^^

^

Fig. 2

Es lohnt sich die Mühe zu sehen, welche Personen ihnen zusagen.

Die folgende Liste enthält die Namen derjenigen, welche von beiden, Knaben und Mädchen, gewählt worden sind. Die Nummer giebt die Anzahl, nicht den Prozentsatz. 1. Spalte: Knaben, 2.: Mädchen.

Der Kaiser

100 Knaben

20 Mädchen

Wühelm I

23

n

5

»

Luther

20

»

17

»

Friedrich der Grroße

17

n

3

7)

Bismarck

12

»

2

n

Grroßer Kurfürst

3

r)

2

n

Sokrates

2

n

1

n

Goethe

2

7J

1

n

Gustav Adolf

2

j?

2

n

Ludwig Richter

1

»

4

»

Diogenes

1

j)

2

V

Friedrich HI

1

»

1

»

Die folgenden sind nur von Knaben gewählt :

163

Siegfried 12

Blücher 12

Armin 8

Friedrich "Wilhelm 8

Karl der Grroße 7

Schul 6

Piquart 5

SchiUer 4

Andreas Hofer 4

Prinz Heinrich 4

Ziethen 3

De Wet 3

TiUy 2

Teil 2

Sabusky 2

Roland 2

Theodor Kömer 2

Friedrich II 2

Ludwig Wetzel 2

Francke 2

Wallenstein 2

König von Sachsen 1

Reuter 1

Pabst 1

Kaiser Ludwig 1

Kronprinz 1

Falb 1

Friedrich LEI 1

Tacitus 1

Prinz Eugen 1

Botha 1

Bonifazius 1

Alexander der Große 1

Alarich 1

Nansen (Entdecker) 1

Die folgenden wurden nur von Mädchen gewählt

Kaiserin Augusta 38 Königin Luise 43 Hanibal 4 Goethe und Schiller 2

164

Werner von Kiburg 2 Jungfrau von Orleans 2 Friedrich Barbarossa 1 Königin Elisabeth 1 Friedrich der Weise 1 Königin Henriette 1 Herzog von Schwaben 1 Pestalozzi 1.

Die Wahl des Kaisers beträgt 12 "/o der Knaben und 3 "/„ der Mäd- chen. In einer amerikanischen Arbeit wählten 34 7o der Knaben und 24 % der Mädchen George Washington. Mc. Kinley, der damals Präsi- dent war, erhielt 7 7o der Knaben und 6^2 der Mädchen. Ob diese Kinder Fremde weniger lieben oder „Bekannte" mehr, das zeigt sich darin, daß sie Vater und Mutter 2 bis 4 mal so oit wählten als es Kinder aus New Jersey im gleichen Alter tun.

So weit diese Gruppe von Kindern in Betracht kommt ist es klar, daß ihre Persönlichkeit nicht in höherem Maße entwickelt ist. Wenn das nicht wünschenswert ist, dann ist dies ein klarer Hinweis darauf, daß eine Änderung in der Pflege der Ideale erstrebt werden muß. Ob es wünschenswert ist, ist nicht die Sache des Verfassers zu- diskutieren.

Solch ein Zustand wäre für Amerika , nicht zu wünschen , wo jeder Bürger eine Stimme in der Regierung hat. Dort muß ein jeder Knabe sein Ideal bis zur höchsten Höhe ausbilden. Weder am Kinde noch am Staate, dessen Bürger das Kind sein wird, hat eine Schule ihre Pflicht getan, wenn sie nicht jedes Kind mit den größten Seelen die unter den Menschen gelebt haben , in Berührung gebracht hat. Nicht jedes Kind wird durch solche Berührung angefeuert werden, aber so lange wir nicht voraussagen können, welches Kind sich dadurch an- spornen läßt, ist es ebenso weise wie gerecht, jedem Gelegenheit zu geben zur Bildung seiner Ideale.

' Religion.

Die Wahl biblischer Personen , einschließlich der Gottheiten , ist recht groß. Durchschnittlich 15 °/o. Alle amerikanischen Arbeiten wiesen etwa 3% auf, aber die Bibel wird nicht in den öffentlichen amerikani- schen Schulen gelehrt.

Es folgt eine Liste der biblischen Personen, welche die Kinder in unserer Arbeit gewählt haben. Die Zahlen bezeichnen die Anzahl, nicht den Prozentsatz:

165

Knaben :

Mädchen :

David 6

Ruth 21

Abraham 4

Jonathan 16

Petrus 2

David 8

Johannes 1

Maria 3

Josef 1

Hannah 3

Jakob 1

Moses 1

Samuel 1

Petrus 1

Samuel 1

Man sieht, daß die Zahl nicht groß und die Liste nicht lang ist. Sie ist jedenfalls nicht so lang wie sie sein sollte, wenn man die Zeit bedenkt, welche die Kinder auf das Studium der Bibel in der Schule anwenden.

Wahl des anderen Geschlechts.

Professor Barnes hat die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, daß die Mädchen ihr Ideal oft unter den Männern wählten und er fragt ob eine Erziehung richtig ist, welche Mädchen lieber Männern als Frauen glei- chen lassen möchte. Es ist wahr, unsere Literatur- weist mehr große Männer als Frauen auf, aber es hat viele große Frauen gegeben, nur ist nicht so viel über sie geschrieben worden.

Diese preußischen Kinder zeigen dieselbe Neigung; doch nicht so ausgedehnt. Fig. 3 zeigt die Kurven der verschiedenen Gruppen. Die

AUer

%ioo

90 80 70 60 50 iO 30 20 10

Meumann, Exper. Pädagogik. V. Band.

lO

U

12

13

li

1. Mmnes ita u. Coli

'brnza

2. Fem Ca^Oe, Pa.

3. New Je^ey

i^.I^vicssm 5. London,

^"^

^

i

\

'-^—-

^

1

-^^

^,^'

y

^

■--.^

^.^\

^\

^^^.^

X

3"

^

^**^

\

6

^^

_,--^

Fiff. 3

12

166

preußische Kurve ist die niedrigste, ausgenommen England. Es ist etwas schwierig dies zu erklären. Diese Kinder hören zwar viel von Königinnen und Kaiserinnen und anderen gekrönten Häuptern ; aber die Frauen sind längst nicht so vorherrschend im öffentlichen Leben, wie in Amerika. Die Liste derjenigen, welche die preußischen Kinder wählten zerfällt in 3 Gruppen:

Geschichte

Bibel Mythologie oder Dichtung

Königin Luise 43

Ruth 21

Gudrun 2

Die Kaiserin 38

Maria 3

Königin Griselda 1

Königin Elisabeth 1

Hannah 1

Kriemhilde 1

Königin Henriette 1

Prinzessin Goldhaar 1

Jungfrau von Orleans 1

Waschfrau 1

Mittelschulen versus Volksschulen.

Die Resultate dieser beiden Schulen sind getrennt gehalten und in Tabellen gebracht um die Verschiedenheiten zwischen den beiden Gruppen zu zeigen. So getrennt wird die Zahl für jedes Alter zu klein, um ganz genügende Resultate zu ergeben. Es bleibt aber die Möglichkeit Vermutungen auszusprechen und wir geben die Tabellen.

Eins der bemerkenswertesten Dinge beim Vergleich dieser Tabellen ist der hohe Prozentsatz der Volksschüler, welche den Kaiser wählten: 19 > Knaben und 18 % Mädchen, gegen 6 "/o und 2 "/o der Mittelschule. Der Kaiser ist diesen Kindern in der Hauptsache ein Mann, der mit großem Gefolge reist und äußeren Glanz und äußere Macht entfaltet. Der Geist jüngerer Kinder wird durch solche Dinge angezogen.

In den Mittelschulen werden mehr „Bekannte^ gewählt als in den Volksschulen ; im Verhältnis von 53 % bis 41 °/o. Dieser Widerspruch zu dem, was man erwartet, kommt unzweifelhaft durch die häufige Wahl des Kaisers ; der, während er als öffentlicher Charakter zählt, so zu sagen beides ist, „öffentlicher Charakter" und „Bekannter".

In der Mittelschule wurden „fremde Personen" 5 mal mehr gewählt als in der Volksschule. Die höchste Gruppe hat den weitesten Blick.

Was die Dichtung angeht, so wählten die Knaben in beiden Schulen gleich ; aber die Mädchen der Mittelschulen wählten 3 mal so viel Ideale aus der Dichtung als die andern.

Man kann eine merkwürdige Einteilung der religiösen Wahl beob- achten. Die Volksschulen wählten biblische Personen (14 : 1). Die Mittelschulen nennen Jesus (12:2).

167

Die Volksschule miterläßt die Antwort ebenso oft wie die Mittel- schule.

Tafel n.

Einteilung von Antworten mit jedesmaligem Altersprozentsatz in den betr. Klassen. Obere Linie: Mittelschule, untere Linie Volks- schule. Geschlecht der antwortenden Schüler : Knaben.

Alter Anzahl der Papiere Bekannte

Vater oder Mutter Andere Verwandte Andere Bekannte Öffentliche Personen Kaiser oder Kaiserin Deutsche Geschichte Fremde Geschichte Dichtung

Religiöse Personen Gott Jesus

Biblische Personen Keine Antwort Das andere Geschlecht

9 10 11 12 13 14 Total

M.

60

42

80

72

43

45

64

38

444

V.

60

57

51

52

60

52

39

26

397

M.

83

80

74

54

33

35

22

30

53

V.

58

51

58

36

40

18

22

42

41

M.

65

32

41

25

9

11

5

8

26

V.

50

37

26

19

13

10

3

23

23

M.

7

27

28

17

14

18

11

22

18

V.

5

8

14

4

10

4

5

20

8

M.

11

21

5

12

10

6

6

0

8

V.

3

6

18

13

17

4

12

0

10

M.

0

12

17

30

42

53

65

65

34

V.

3

26

32

51

46

62

55

35

36

M.

0

10

8

8

12

5

3

5

6

V.

3

24

30

37

20

18

12

0

19

M.

0

2

10

22

28

37

53

45

23

V.

0

2

2

12

28

40

38

35

16

M.

0

0

0

0

2

11

9

15

4

V.

0

0

0

2

0

4

5

0

1

M.

0

5

4

8

9

5

2

2

5

V.

0

0

4

2

3

8

12

16

5

M.

2

7

5

4

9

2

7

2

5

V.

5

19

12

8

7

6

10

4

9

M.

2

2

0

0

2

2

2

0

1

V.

0

0

0

0

0

2

3

0

1,2

M.

2

2

3

1

2

0

5

2

2

V.

0

14

10

2

3

4

7

4

6

M.

0

2

3

3

5

0

0

0

2

V.

0

5

2

6

3

0

0

0

2

M.

17

0

0

3

57

0

0

0

4

V.

32

4

0

3

4

6

0

3

10

M.

30

20

17

13

7

11

2

2

12

V.

38

8

14

10

10

2

0

0

12

Gründe. Die Gründe die für die Wahl angegeben werden , werfen oft viel Licht auf die Situation. Die folgende Tabelle giebt die Rubriken in welche die Gründe eingeteilt sind und den Prozentsatz für jedes Alter. (Siehe Tabelle IV).

Auf dieser Tabelle ist die Linie „Keine Antwort aus Tabelle I,

12*

168

während „Kein Grrund" diese nnd auch diejenigen einschließt, welche die Frage beantworten, aber keinen Grund angeben.

Kinder nehmen eine allgemeine und unbestimmte Grüte in ihrem Ideal wahr, welche sie mit „gut und fromm" bezeichnen. Dieser Aus- druck verschwindet stufenweise mit den Jahren, wo sie anfangen eine besondere Tugend zu unterscheiden und zu würdigen,

Tafel ni.

Einteilung von Antworten mit dem jedesmaligen Altersprozentsatz in

der betreffenden Klasse. Obere Linie: Mittelschule, untere Linie:

Volksschule. Geschlecht der Schüler : Mädchen.

Alter

6

7

8

9

10

11

12

13

14

Total

Anzahl der Papiere

j

M. V.

23

38

49 27

53

82

55 29

46 76

47 54

44 64

42 20

397 352

Bekannte

M. V.

61

58

75 74

87 45

50 45

22 33

38 33

64 30

33

30

54 39

Vater oder Mutter

i

M. V.

35

29

35 30

19 16

15 17

4 17

13 25

14 19

5 20

17 19

Andere Verwandte

'.'

M. V.

17

11

14 11

8 25

6 17

4 9

2

6

5 6

12 10

8 12,5

Andere Bekannte

M. V.

9

18

26 33

60 4

29 11

14

7

23

2

45 5

19 0

29

7,5

Öffentliche Personen

::

M. V.

0

14

4 26

6 20

18 46

20 26

21 41

22 43

23 45

14 33

Kaiser oder Kaiserin

i

M. V.

0

3

2 26

4 12

2 31

2

14

2 11

0 15

0 10

2 16

Deutsche Geschichte

M. V.

0

11

2 0

2

8

10 15

9 12

13 30

20 25

17 35

9

164

Fremde Geschichte

M. V.

0

0

0 0

0 0

6 0

9 0

6 0

2 3

5 0

3 0,5

M.

0

0

0

2

13

14

25

11

38

12

Dichtung

V.

0

4

4

4

4

3

5

3,5

M.

22

26

13

6

22

26

9

7

10

14

Religiöse Personen

V.

0

11

4

26

17

22

20

164

M.

9

11

0

0

0

0

0

0

0

1

Gott

V.

0

3

0

1

0

0

0

1

M.

13

15

13

6

20

22

6

5

0

12

Jesus

V

0

5

0

0

2

2

8

2

M.

0

0

0

0

2

4

2

2

2

1

Bibel

V.

0

3

4

25

15

20

20

14

M.

35

58

29

17

50

41

23

23

88

35

Das andere Geschlecht

V.

22

33

35

25

40

24

20

30

M.

17

2

8

0

0

18

7

0

0

5

Keine Antwort

V.

0

20

1

11

5

2

0

9

Wiederum mutet materieller Besitz stark das unreife Gemüt an und wird stufenweise weniger wichtig, wenn die Persönlichkeit sich entwickelt und die wahrhaft menschlichen "Werte geschätzt werden.

169

Unsere Gruppe ergiebt einen ungewöhnlicli hohen Prozentsatz für ma- teriellen Besitz : 14 "/o Knaben und 5 7o Mädchen. Barnes findet 7 ^jo und 2 0/o, während Chambers 6°/o Knaben und Mädchen zusammen an- nimmt. Dieser große Unterschied ist unzweifelhaft durch die Tatsache zu erklären, daß unsere Kinder alle aus den ärmeren Ständen sind und viele Entbehrungen kennen, welche aus der Armut stammen. Barnes Londoner Arbeit bestärkt uns darin.

Tabelle IV.

Einteilung der Gründe mit dem jedesmaligen Altersprozentsatz in der betreffenden Klasse. Obere Linie: Knaben, untere: Mädchen.

Alter Keine Antwort

Keinen Grund Gut, gütig Materieller Besitz

Charaktereigenschaften

Äußere Bedingung oder Erscheinung

Intellektuelle od. künst- lerische

Macht haben Dinge zu tun

6

K.

M. 17 K.

M. 52 K.

M. 17 K. M. 5

K. M. K. M.

K. M. 0

0

0

K. M. 9

7

31

2

43

30 16 37 4 9 4 9 2 0 0 0

0 13

10 11 12 13 14 Total

3 6

16

15

0

13

9

1

34 31 54 44 22 26

3 0 8 4

30

4 13 5 0 16 29 23 14 13

12 16

7

6 5 4 1

0 0

7

17 22

9

12

1

3

3 0

5 5 8 2 13 17

7 5

3 0 3 5 6 17 11 0

32 34 40 43 44 57 66 63

8

16

2

3

12 3

3 2

5 11 0 0

12 12 0 0

0 0 3 0

9 12

6 1

60 74

8 9 5 3

9 0

6 6

17

15

20

28

14

5

30

43

7

7

2

2

6 1

Der Grund welcher eine aufsteigende Linie zeigt ist: „Charakter- eigenschaften" ; bei Mädchen im Alter von 14 Jahren eine Höhe von 74 °/o erreichend. Dies ist hauptsächlich durch „Tapferkeit" verursacht, was wieder beweist , daß ein unreifer Geist sich durch primitive Tu- genden am meisten angezogen fühlt. Ganz mit dem letzten Punkte übereinstimmend ist die große Inanspruchnahme der „äußeren Erschei- nung". Diese wird etwa 2 bis 3 mal öfter erwähnt als in jeder andern Arbeit.

„Mächtige Dinge zu tun" („oder die Macht haben Dinge zu tun") wurde als Grund von 17 ^lo und 12 °/o der New-Jersey Kinder angegeben von unsem 6 % und 1 %.

Hauptsächlich „intellektuelle und künstlerische Eigenschaften" sind angegeben wie folgt : N. J. 7 %, New Castle, Pa. 5 °/o. Die Unsrigen 2 ''/o.

Die Gründe bestätigen auf diese Weise die richtigen Antworten.

170

Da wir nun wissen, daß wir -mit einer G-ruppe zu tun haben, die auf einer niedrigen sozialen Stufe steht, durch Armut und enge Umgebung eingeschränkt und begrenzt, haben wir da nicht das Recht, diese Kurven als die niedrigste Grrenze für die kindliche Entwickelung anzusehen? Wir möchten nicht noch tiefer herunter gehen. Eine Arbeit an Kin- dern von Gymnasien und Töchterschulen würde uns wohl die höchste Stufe angeben. Im letzteren Falle dürften die Kurven wohl so hoch über den amerikanischen sein, als die der Volksschulen darunter sind.

Ein Vergleich von Gymnasium und Realgymnasium würde wahr- scheinlich einige interessante Punkte ergeben.

Die folgenden Details der Studie über die Gründe „öffentliche Cha- raktere" zu wählen, dürfte von Interesse sein. Die Zahlen bedeuten die wirkliche Anzahl und nicht den Prozentsatz.

Gründe der Knab Tapfer 48 Fromm 38 Gut 31

vollbrachten Dinge : militärische 23 religiöse 9 andere Taten 12 taten Gutes 9 materieller Besitz 19 Patriotisch 15 äußere Erscheinung 9 geistig u. künstlerische 15 altruistische 12 der Höchste 13 treu 1 kühn 2

äußerliche Erscheinung 2 demütig 2 lebte einfach 2 beliebt 2

liebte sein Volk 2 sonst 2

guter Charakter 1 so könnte ich reiten 1

en für ihre Wahl, ist mächtig 8 ist der Herrscher 17 mutig 9 stark 12

edler Charakter 2 weit gereist 2 energisch 2 ein Held 6 geduldig 2 wohlerzogen 2 ist ein Ritter 1 kann schießen 1 kann predigen 1 stolz 1

gehorchte den Eltern 2* tötete Goliath 1 lebte einfach 5 giebt uns Brot 1 kämpfte für seinen Glauben 2 stahl von den Reichen um den Ar- men zu geben 3 wünschte frei zu sein 1 brauchte nicht zu arbeiten 1

171

Grründe der Mädchen. Fromin 8 edel 1

menschenfreimdlicli 21 Freundschaft 14 intellektuelle u. künstlerische 7 tapfer 6

starker Glaube 3 große Taten 3 gut 5

fleißig 2

patriotische 3

leutselig 3

wahr 2

tugendhaft 1

so furchtbar Rache nimmt 1

Gründe der Knaben den Kaiser zu wählen. Gut und freundlich 18 SteUung, Ehre, Ruhm 21 Macht 7

Ich habe ihn gern 2 Materieller Besitz 18 äußere Erscheinung 8 menschenfreundlich 5 moralische Eigenschaften 3 Er herrscht 7 militärische Eigenschaften 1

Gründe der Mädchen für die Wahl der Kaiserin.

Gut 7

die Höchste 8 angenehm 3 wohltätig 1 menschenfreundlich 3 stolz 1 tugendhaft 1 gütig 1

schön 3

ist Königin 2

fromm 4

mitleidig 2

reich 4

sanft 2

edler Charakter 1

Gründe für die Wahl Martin Luthers.

Knaben : guter Mann: streng erzogen 2 übersetzte die Bibel 3 mutig 2 fromm 8 klug 1

Mädchen : Bibelübersetzer 3 fromm 7 klug 1

führte die Reformation 2 machte uns lutherisch 1 berühmt 1

172

führte die Reformation 2 große Taten 1

war ein Dichter 1 liebte seine Eltern l

Grründe der Mädchen für die "Wahl der Königin Luise.

Tat so viel für die Armen 17 tugendhaft 2

Promm 11 gütig 2

mitleidig 7 gerecht 1

sanft 7 geduldig 2

edler Charakter 4 zufrieden 1

gut 7 eine fromme Frau 2

angenehm 1

Gründe der Mädchen für die Wahl von Ruth, selbstlose Hingabe an Naemi 13 bescheiden 2 fromm 5 mitleidig 3 gut 2 sanft 1 fleißig 4 gehorsam 1

Gründe für die Wahl von Jesus. Knaben : gut und fromm 19 hat uns Gutes getan 3 gehorchte den Eltern 2 giebt uns Brot 1 mächtig 1 starb für uns 2 half den Armen 1

Mädchen : Gut und fronmi 18 errettet uns von Sünde 5 er ist ohne Sünde 7 starb für uns 4 liebte uns 3 kann Tote erwecken 3 hat so Vieles getan

173

lehrte 2

ist Gottes Sohn 2

litt für uns 1

gut zu Kranken u. Armen

geduldig 2

tat Wunder 1

hilfreich 1

predigte das Evangelium 1

beschützt mich 1

kann alle Dinge machen 1

gottesfürchtig 1.

Bibliographie.

A. Die wichtigsten Zeitschriften.

1. A study of children's ideals ; by Estelle M. Darrah, Populär Science Monthly Vol. 53.

p.p. 88—98.

2. Children's ideals; by Earl Barnes. Pedagogical Seminary Vol. VII p.p. 3—12.

3. School children's ideals; by Catherine J. Dodd. national review (London) vol. 24.

p.p. 875—889.

4. Children's Ideals ; by Adelaide E. WycoflF. Pedagogical Seminary vol. VIII p. p.

482—494.

5. A Type study on Ideals by Earl Barnes. Studies in education vol. 11 publ. bythe

author.

6. Die Ideale der Kinder. Johann Friedrich. Zeit, für Ped. Psy. vol. III p. p. 38 64.

7. The Evolution of Ideals : by Will 6. Chambers ; Ped. Seminary VoL X p. p. 101—143.

B. Verwandte Zeitschriften.

8. The Development of Children's Political Ideas ; by Earl Barnes Studies in Education

Vol. 2. p. p 5—24.

9. Political Ideas of Amerikan Children; by Earl Barnes Studies in Education Vol. 2.

p.p. 25-30.

10. Children's Hopes ; by J. P. Taylor, New- York School Report 1895—96.

11. Children's Ambitions by Haltie Mason Willard, Studies in Education Vol. I p.p.

243—253.

12. A. Study in Children's Social Enviconment; by Sarah A. Young. Barnes Studies

in Education Vol. II p.p. 134—140.

13. Children's Ideals of Lady and Gentleman by Anna Barnes Studies in Education

Vol. 2 p. p. 243 - 258.

14. Children's Attitudes Toward Future Occupations; by Earl Barnes Studies in Edu-

cation Vol. 2. p. p. 243—258.

15. School Girls' Ideas of Women's Occupation ; by Sarah Young studies in Education

Vol. 2. pp. 259-270.

16. Vocation al Interests of Children; by Will S. Monroe Education. Jan. 1898.

17. Negation Ideals by Henrj- H. Goddard Studies in Education, Vol. 2. p. p. 392—898

174

Bericht über den Kongress für Kinderforschung und Jugendfür- sorge zu Berlin.

Von Dr. Alfons Engelsperger, München.

Der Kongreß für Kinderforschung und Jugendfürsorge fand in der Zeit vom 1 4. Okt. 1906 in den Räumen der kgl. Universität zu Berlin statt und war zunächst für Angehörige des deutschen Sprachgebietes bestimmt. Alle jene, welche auf dem Grebiete der an "Weite und Tiefe der Probleme stetig wachsenden jungen Wissenschaft der Kinderfor- schung oder an der sich immer nötiger erweisenden Jugendfürsorge arbeiten, haben den Zusammenschluß freudig begrüßt und danken denen, welche den Kongreß anregten und mit vieler Mühe vorbereiteten. Wohl an Tausend mögen der Einladung gefolgt sein : Vertreter von Wissen- schaft und Praxis, Pädagogen, Psychologen, Soziologen, Arzte, Juristen ; hervorgehoben sei die große Beteiligung von Frauen. Eine Reihe zu- ständiger Ministerien und anderer hoher Behörden, auch viele deutsche und außerdeutsche Städteverwaltungen hatten Vertreter gesandt.

Zu Vorsitzenden des Kongresses wurden Prof. Dr. W. Münch (Berlin), Direktor J. Trüper (Jena) und Dr. Wilh. Ament (Würzburg) gewählt, die mit anderen Männern des vorbereitenden Ausschusses sich um das Zustandekommen des Kongresses außerordentlich verdient machten.

Prof. Dr. W. Münch wies nach kurzer Begrüßung auf die Bedeu- tung des Kongresses hin, der Theorie und Praxis umfassen soll und eigentlich nur Proben von dem großen Vorrat an Problemen auf dem Gebiete der Kinderforschung und Jugendfürsorge zu geben vermöge.

Von der großen Zahl der Vorträge war der kleinere Teil für den Gesamtkongreß bestimmt, der größere für die Verhandlungen in den einzelnen Sektionen. Da es sich um den ersten Kongreß dieser Art handelt, dürfte es gerechtfertigt erscheinen, besonders in der vorlie- genden Zeitschrift auf die einzelnen Vorträge näher einzugehen, als bei Berichterstattungen sonst üblich ist. Ich will mich dabei an die offiz. Vortr. -Ordnung halten ^).

Montag G. K. sprach Prof. Dr. Baginsky (Berlin) über: Die Impressionab ilität der Kinder unter dem Einfluß des Milieu.

Der Vortragende betonte zunächst, daß sich in den letzten Jahr- zehnten infolge der Richtung der modernen Philosophie eine Annäherung

1) G. K. Vorträge für den Gesamtkongreß, S.A. für die anthropologisch - psycholo- gische, S. B. psycholog.-pädagogische, S. C. philantrop.-soziale Sektion.

175

zwischen dieser und den Naturwissenschaften vollzogen habe; gemein- same Arbeit sei besonders auf dem Gebiet der Entwicklung der Psyche des menschlichen Kindes nötig. Hier könne der Arzt aus persönlichen Erfahrungen heraus manche Ergebnisse mitteilen.

Unter „Impressionabilität" (vielleicht Eindrucksfähigkeit) will B. die Fähigkeit verstehen, sich unter dem Einfluß des Greschehens in seinem Wesen zu wandeln, unter „Milieu" (das ebenfalls schwer zu verdeutschen sei) die Umgebung, die G-esamtheit von Einrichtungen, Lebensgewohn- heiten und dergl., die auf ein Individuum unter bestimmten Verhält- nissen einwirken. Bei leichteren Erkrankungen begegne der Arzt immer wieder der Erscheinung, daß vielfach von außen kommende Eindrücke das Krankheitsbild verändern. Bei demselben Kind und sonst unver- änderten Krankheit s Vorgängen bringe der Wechsel der Umgebung auch einen Wechsel der Krankheitserscheinung zu stände. So machte ein sehr verwöhntes 5 jähriges Kind die Nacht zum Tage, wollte nachts spielen, essen , es hatte den Eltern seinen Willen vollständig aufge- drängt. Unter dem Einfluß der letzteren konnte von einer Heilung keine Rede sein. In ein Sanatorium verbracht, war es in 14 Tagen durch Einwirkung der neuen Umgebung, Hausordnung etc. ohne medi- zinische Mittel zu einem willigen Kind geworden. Nach einer Reihe weiterer Beispiele ging ß. auf die psychologische Seite dieser Er- scheinungen über. Die kindlichen Vorstellungen seien nicht gefestigt, die Assoziationen leicht lösbar, und darum sei die kindliche Psyche so außerordentlich leicht beeinflußbar durch neue Wahrnehmungen.

Typisch sei für das Kind die Einschätzung der Vorstellung als Wirklichkeit, und darin seien die Quellen der Phantasie, der Autosug- gestion, der Furcht und Lüge zu suchen. Auf die praktische Bedeu- tung dieser Verhältnisse übergehend hob B. hervor, daß viele unter dem Einfluß eines ungesunden Milieus entstandenen schlechten Gewohnheiten und dergl. bei besserer Gestaltung desselben verschwinden. Besondere Bedeutung komme den Kinderlügen zu. Kinderaussagen vor Gericht seien nichtig, um so mehr, je öfter das Kind seine Aussage wiederholen müsse. Deutsche Gerichte seien davon noch nicht überzeugt; Schweden besitze ein Gesetz, nach welchem Kinder unter 15 Jahren nicht als Zeugen vernommen werden dürfen.

Zum Schlüsse empfiehlt der Redner den Wechsel des Milieus gege- benenfalls in der Medizin als Heilfaktor zn benützen.

Prof. Dr. M e u m a n n (Königsberg) referierte dann über die wissen- schaftliche Untersuchung der Begabungsunterschiede der Kinder und ihre praktische Bedeutung:

Erst die gegenwärtige Psychologie ermöglicht durch ihre Verbin-

176

düng von Beobachtung und Experiment einige sichere Angaben über die Begabung. Bezüglich des Begriffes der Begabung ist der Sprachgebrauch nicht ganz feststehend. Im weiteren Sinne versteht man unter Bega- bung die intellektuelle Befähigung des Menschen überhaupt, im spezi- elleren einen höheren Grad von Begabung. Nach weiteren etymolo- gischen Betrachtungen ging M. auf die Besprechung der theoretischen Aufgaben der wissenschaftlichen Begabungslehre über ; solche wären :

1. das "Wesen der Begabung im engeren Sinne, d. h. die Wirksam- keit des angeborenen Momentes im Intellekt festzulegen,

2. das der Begabung im weitern Sinne, d. h. soweit sie den ange- bornen und erworbenen Faktor umfaßt ;

3. die Entwicklung der kindl. Begabung durch die einzelnen Jahre der Schulzeit hin zu verfolgen , das Charakteristische und die individu- ellen Differenzen der kindl. Begabung festzustellen.

Mit dieser qualitativen Seite des Problems sind auch wichtige An- haltspunkte bezügl. der quantitativen Seite gewonnen , d. h. bezügl. des Grrades der Begabung. Aufgabe der Intelligenzmessungen wäre es , die Durschnittsbegabung für jedes Entwicklungsjahr festzustellen und die vorkommenden Abweichungen davon. (Hervorragende Begabung, das schwache Kind).

Die praktische Aufgabe der Begabungslehre wäre nun, die theo- retischen Ergebnisse auf Erziehung und Unterricht anzuwenden. Dabei stoßen wir zunächst auf den Begriff der Schulbegabung. Wer in Schul- fächern viel leistet, erscheint begabt, wer nicht, unbegabt u. dgl. Gre- rade die fundamentale Seite der geistigen Arbeit komme in manchen Schulfächern nicht zum Ausdruck. Aus diesen und anderen Gründen müsse der Begriff „Schulbegabung" einer Revision unterzogen werden.

In praktischer Hinsicht sei die Frage nach der Bildungsfähigkeit der kindl. Begabung von außerordentlicher Bedeutung : z. B. wie weit lassen sich Mängel der Begabung durch geeignete Übung ausgleichen.

(Beispiele). Eine letzte Gruppe von praktischen Problemen wäre die Frage nach der Trennung der Schüler nach ihrer Leistungsfähigkeit. Auch hierzu müsse die wissenschaftliche Begabungslehre Stellung nehmen. An einem Beispiele zeigt M., welche Bedeutung die experiment. Analyse der Begabung haben könne. Erst die genaue Analyse z. B. der zeichne- rischen Tätigkeit ermögliche die Auffindung der Mängel und die An- wendung geeigneter Mittel zu deren Beseitigung.

Hierauf ging M. auf die einschlägigen Methoden ein, welche bereits ausgebildet wurden und deren Wert sehr verschieden sei.

Hierbei seien jene auszuscheiden, welche nur den Charakter von Ergänzungen der wissenschaftl. Forschungen beanspruchen können z. B.

177

biographische Xotizen, die Fragebogen-Methode, u. dergl. Bezüglich der wissenschaftl. Methoden wurde erwähnt, daß jedes Hauptproblem seiner besonderen Untersuchungsmethoden bedürfe. Zu den schwierigsten Fragen zähle die nach dem angeborenen Moment der Begabung. Ohne die An- nahme eines solchen können wir nicht auskommen. Wir müssen dieselbe von dem Erziehungsmoment zu trennen suchen. Wir besitzen Anhalts- punkte, z. B. : je mehr Übung nötig sei zu einer bestimmten Leistung, desto geringer sei die Anlage und umgekehrt. Noch eine Reihe anderer Gresichtspunkte sei möglich.

(Hier wurde der Vortrag abgebrochen).

Als Dritter sprach

Rektor Ufer (Elberfeld) über das Verhältnis von Kinder- forschung und Pädagogik. Redner warnt vor einer Überschätzung der Kinderforschung in pädagogischer Hinsicht. Am meisten sei bis jetzt das Seelenleben von der Geburt bis zum 6. oder 7. Lebensjahr er- forscht worden, und der Ertrag sei wertvoll für Haus und Kindergarten. Betreffs des schulpflichtigen Alters wären die Ergebnisse in entwicklungs- geschichtl. Hinsicht dürftig und unvollständig und werden es vielleicht bleiben . sei es , weil sich die Schwierigkeiten zu sehr mehren , sei es, weU möglicherweise, natürlich von dem Einfluß der Pubertät abgesehen, eine eigentl. Entwicklung in dem frühern Sinne nicht mehr stattfinde, sondern mehr eine Erstarkung.

Die Pädagogik werde daher wohltun, das von der Vergangenheit ererbte Gut nicht achtlos bei Seite zu werfen, zumal in ihm doch auch Ergebnisse der Kinderbeobachtung verwertet wären , dabei aber Neues, falls es wirklich neu sei, zu benutzen. Eine weit größere Be- deutung komme der Kinderforschung in pädagog. Hinsicht zu, wenn es sich um das Gebiet der unterschied!. Beanlagung handle. Was die Kinderforschung bezüglich der Psychologie der Geschlechter beigebracht habe, mahne die eifrigen Reformer entschieden zur Vorsicht.

Einen sehr wichtigen Beitrag könne die Kinderforschung liefern wenn es sich um Kenntnis der Individualität handle und besonders dann, wenn Psychopathisches in Frage komme.

In der sich an beide Vorträge anschließenden Diskussion kam in deutKcher Weise die entgegengesetzte Stellungnahme zum Ausdruck. (M. war am Erscheinen verhindert).

Zunächst betonte K e m s i e s , daß der Lehrer sehr wohl die Bega- bung des Kindes erkennen könne. Schon in den ersten Assoziations- und Kombinationsübungen trete oft die Veranlagung hervor. Man soll das Individuum immer als Ganzes betrachten und nicht zu sehr auf das

178

Einzelne eingehen. Zwischen der Wissenschaft der Kinderforschang und der praktischen Pädagogik bestehe nur ein gradueller Unterschied; die fortwährende Beobachtung sei auch eine Art von Experiment und könne stets als Experiment fortgesetzt werden. Darum sollen die Er- fahrungen der alten Pädagogen nicht so ohne weiteres über den Haufen geworfen werden.

Sickinger führte aus, daß die verschiedenen Testmethoden große Unterschiede hinsichtlich der geistigen Leistungsfähigkeit der Kinder nachgewiesen hätten, ebenso Kerschensteiners Buch hinsichtlich der zeichnerischen Begabung. Die Zusammenfassung der Individuen in ent- sprechende Gruppen erweise sich als notwendig. Selbst wenn die wissenschaftl. Methoden einen hohen Grad von Zuverlässigkeit erreichen, so erlangen sie nicht denjenigen der Beobachtungen , die wir im Lauf des Jahres machen.

Dr. Stern (Breslau) vertrat den Standpunkt des Psychologen und bedauerte, daß man das trennende Moment zu sehr hervorgehoben habe. Man habe geglaubt , das Experiment des psych. Laboratoriums gleich auf die Praxis übertragen zu können. Die Vertreter der Wissenschaft wollen durchaus nicht wie viele andere eine Umwälzung der gesamten Pädagogik. Besonders Meumann arbeite auf eine Fühlungnahme zwischen Theorie und Praxis hin. Die Pädagogik müsse uns die Probleme geben ; wir suchen diese mit exakten Hilfsmitteln zu lösen; es sei ein Geben und Nehmen, nicht ein gegenseitiges Bekämpfen. Wenn man kritisch in der Anwendung der psychol. Ergebnisse verfahre, dann dürfe man mehr von der Zukunft erwarten, als Kemsies und Sickinger annehmen.

Man solle nicht davon reden, daß durch die Experimente bloß Selbst- verständlichkeiten nachgewiesen würden; es sei schon ein Verdienst, etwas bewiesen zu sehen, was man bisher nur unklar wußte. Beispiele erläuterten dies.

Dr. Brahn hob hervor, daß die experimentelle Pädagogik noch keine 10 Jahre alt sei. Er habe an 200 Schulkindern die Verschieden- heit der Begabung festgestellt, ehe Sickinger seine praktischen Ver- suche ausführte. Die Autosuggestion, die beim Experiment in Frage komme, verhalte sich zu jener bei der pädagogischen Beobachtung wie eins zur Million. Die wissenschaftl. Beobachtung könne jeder nach- prüfen; nirgends hersche so viel Phrase wie in der Pädagogik. Einen ausgesetzten Preis für Nachweis einer pädagogischen Tatsache könne niemand verdienen.

Ufer will keinen Gegensatz zwischen Pädagogik und Psychologie und wünscht den experimentellen Untersuchungen den besten Erfolg. Münsterberg gegenüber verlange er, daß jeder Lehrer Psychologie treibe.

179

Psychologie und Pädagogik sollten einander gegenüber Bescheidenbeit üben ^).

Dr. W. Ament (Würzburg) berichtete über eine erste Blütezeit der Kindersee lenknnde um die Wende des 18. Jahrhundert. Er führte im allgemeinen folgendes aus : Die moderne , um das Kind entstandene Bewegung ist nicht die erste. Die Beobachtungen von Tiedemann 1786 sind nämlich nicht die einzigen ihrer Art im 18. Jahrb. gewesen. Die Kinderforschung erlebte vielmehr damals schon als Folgeerscheinung des durch Rousseaus Emil 1762 angeregten Aufschwungs der Pädagogik im Philantropinismus einerseits und des durch den philos. Empirismus (Locke 1690) angeregten Aufschwungs der Erfahrungsseelenkunde ander- seits eine erste Blütezeit, die aber bis auf wenige Spuren wieder in Vergessenheit geriet. Nach einigen zerstreuten Vorläufern setzte sie etwa unter Basedow und Campe wieder ein und erstreckte sich in langer Entwicklungskette bis etwa nach 1830. Tiedemann erscheint mit großer Wahrscheinlichkeit abhängig von Rousseau und den Philantropen. Ganz wie die moderne Bewegung begann die damalige zuerst mit Kinder- beobachtungen und sogar Kindertagebüchem, (Pestalozzi, Dillenius, Jean Paul u. a.) und führte über vergleichende Lebensgeschichten schließlich zu systematischen Gesamtdarstellungen. Hinsichtlich der Methode hatte sich die Kinderforschung jener Tage in diesen Werken bald erschöpft und nicht die Kraft , sich gegen den Ansturm der nach Kant wieder neu auflebenden spekulativen Systeme, besonders jenes Herbarts, zu halten. Mit der Erfahrungsseelenkunde wurde von diesen auch ihr Sprößling hinweggefegt.

Der Vortrag wurde durch eine Ausstellung der Literatur der Kinderseelenkuude von Locke 1690 bis Preyer 1882 in Erstlingsaus- gaben ergänzt. Schade, daß diese Znsammenstellung nach wenigen Tagen wieder auseinanderging.

Nachmittags begannen die Verhandlungen der Sektionen.

S. A. Dr. W. Stern (Breslau) sprach über Grundfragen der Psychogenesis. Die wissenschaftl. Erforschung der seelischen Ent- wicklung hat noch viele Mängel der Anföngerschaft an sich und bedarf einer Selbstbesinnung auf prinzipielle Gesichtspunkte , die in das Chaos seelischer Entwicklungstatsachen und Entwicklungsbedingungen Ordnung zu bringen geeignet sind.

Von Bedeutung sind die Grundfragen der Psychogenesis

1) Dr. Elsenhans (Heidelberg) sprach in einer S. Sitztmg über die Anlagen des Kindes. Leider konnte ich diesen Vortrag, sowie die sieb daran knüpfende Debatte nicht hören.

180

1. für die Kinderpsychologie, der die Erforschung des geistigen "Werdeprozesses Selbstzweck ist,

2. für die Pädagogik, die das Ideal „entwicklungstrea" zu sein nur dann erfüllen kann, wenn sie die Grundlinien der Seelenentwicklung kennt,

3. aber auch für die Kulturwissenschaft; denn geistige Entwick- lung gibt es nicht nur ontogenetisch im Einzelindividuum, sondern auch phylogenetisch in Gattung, Menschheit, Volk ; und ob zwischen beiden Parallelen bestehen, ist eine der wichtigsten Fragen der Psychogenesis.

Die seelische Entwicklung im Kinde kann entweder biographisch behandelt werden als Entwicklungsgeschichte einer heranreifenden Per- sönlichkeit durch eine Reihe von Stadien hindurch, oder monographisch als Entwicklungsgeschichte einer Funktion z. B. der Sprache.

Stern behandelte dann 1. die Tatsachen, 2. die Ursachen der Psy- chogenesis, 3. den genetischen Parallelismus.

1. Was die Tatsachen der Psychogenesis betrifft, so kann es sich nur um die Nachweisung einiger allgemein gültiger Grundzüge handeln :

a. Alle Entwicklung, auch die psychische, ist, quantitativ betrachtet, Steigerung oder "Wachstum,

b. qualitativ genommen ist Entwicklung nicht Proportionalwachstum, sondern eine Folge von Metamorphosen mit fortwährenden Verschie- bungen der Verhältnisse. Das 6 jährige Kind ist weder körperlich noch geistig nur ein Säugling in größeren Dimensionen, sondern etwas quali- tativ andersartiges. Über die Phasenfolge der seelischen Entwick- lung besteht eine bedauerliche Unkenntnis. Durch fortschreitende ver- gleichende Erforschung vieler Entwicklungsprozesse kann die in diesen liegende feste Ordnung in der Reihenfolge der Funktionen enthüllt werden.

c. Zeitlich betrachtet ist alle seelische Entwicklung rhythmisiert. Die Psychogenesis ist nicht ein im gleichmäßigem Tempo dahinfließender Fortschrittsprozeß, sondern verläuft in Wellenform. Dies gut ebenso für die Entwicklung eines Individuums als eines Ganzen, wie für die Entwicklung einer einzelnen Funktion.

2. Hinsichtlich der Ursachen der Psychogenesis führte St. aus, daß Inhalt und Eigenart der seelischen Entwicklung durch innere und äußere Verursachung zu erklären sei.

Äußere Faktoren seien : Nahrung, Klima, Erziehung, Unterricht, un- absichtliche Einflüsse des Milieus u. s. f.

Innere Faktoren seien : Vererbung, Geschlechtsmerkmale, individuelle Besonderheiten, die nicht aus Geschlecht und Vererbung abzuleiten sind. (Nativismus, Empirismus). Das Ineinandergreifen des innern und äußern

181

Faktors ist gar nicht innig genug zu denken. Am leichtesten sind noch in den 1. Lebensjahren des Kindes die Umwelteinflüsse einigermaßen zu kontrollieren.

3. Die Frage nach dem psychogenetischen Parallelismus oder der Frage, ob zwischen der gattungsmäßigen oder individuellen Entwick- lung Parallelen bestehen, tritt schon bei Lessing und insbesondere in der Kulturstufentheorie der Herbartianer auf. Eine wissenschaftl. Be- antwortung kann die Frage erst auf grund der modernen Kinderpsy- chologie finden. Zur Zeit stehen sich hier noch ziemlich schroff zwei Standpunkte gegenüber. Die einen behaupten die Gültigkeit des Paral- lelismus zwischen Ontogenesis und Phylogenesis in weitestem Umfang auch für die seelische Entwicklung ; die anderen weisen auf die vielen Abweichungen hin. Auch hier müssen wir eine Vermittlung suchen. Die doppelte Ursächlichkeit aller seelischen Entwickelung ermöglicht beiden Momenten gerecht zu werden.

Dr. med. W. Fürstenheim (Berlin) sprach über Reaktions- zeit im Kindesalter. Er berichtet über das Ergebnis von über 30 000 Reaktionszeitmessungen an 7 10 jährigen Volksschulkindern. Es handle sich um die ersten derartigen Messungen an normalen Kindern, welche die Übung , die Richtung der Aufmerksamkeit während der Re- aktion u. s. w. systematisch berücksichtigen.

Die durchschnittl. Werte der akust. neutral. Reaktionszeit betragen mit großer Übereinstimmung bei den Knaben 0,14 bis 0,16 Sek., bei den Mädchen 0.16 bis 0,18 Sek.; charakteristische individ. Verschiedenheiten der Kinder erhält man durch eine Anordnung der Werte in zeitl. Reihen- folge: neben ruhigen, stetigen Kindern mit gleichmäßigem Übungsfort- schritt finden sich unstete, bei denen der Übungsfortschritt durch perio- dische Rückschritte verzögert oder ganz verhindert wird. Sehr interessant ist nun, daß die hier aufgedeckten Verschiedenheiten der Kinder sich nicht auf die Reaktionsleistung beschränken, sondern durch- greifende sind; bei jeder psychischen Betätigung, (Intellekt wie Cha- rakter) lassen sie sich teils durch freie Beobachtung, teils durch das Verhalten der Kinder bei der pädag.-psychol. Untersuchung mit sog. ,.Test.-Methoden" nachweisen. Durch diese Methode können organisato- rische Verschiedenheiten der Kinder, die unabhängig von Milieu, Er- ziehung und Unterricht in der ersten Anlage des Kindes begründet sind, aufgedeckt, gemessen und die Grenzen ihrer Veränderlichkeit durch Übung und äußere Beeinflussung dargestellt werden.

Ferner referierte Prof. Dr. med. K. Schäfer (Berlin) über Farbe n- beobachtungenbeiKindern.

Ausgehend von der Erfahrung, daß keine Anhaltspunkte für eine

Meumann. Exper. Pädagogik. V. Band. 13

182

bestimmte Reihenfolge in der Entwicklung der einzelnen Farbenempfin- dungen existieren, teilte der Vortragende die Ergebnisse der an seinem 2\ 2 jährigen Sohn gemachten Beobachtungen mit. Dieselben ergaben, daß das Kind bereits vollkommen die Hauptfarben unterscheidet, ehe es die richtige Verwendung des Farbennamens auch nur annähernd beherrscht. Redner kommt schließlichi zu dem Resultat, daß das Farbenwahrneh- mungs- und Unterscheidungsvermögen überhaupt nicht eigentlich ent- wickelbar, sondern angeboren sei in dem Sinne, daß es in die Erschei- nung trete, sobald das Auge, die Hirnrinde nnd die beide verbindende nervöse Sehleitung gebrauchsfähig entwickelt seien.

In Sektion ß berichtete Fräulein Hanna Mecke (Kassel) über Fröbelsche Pädagogik und Kinderforschung.

Rednerin sucht nachzuweisen, daß Fröbel intuitiv erkannte, was auf langsamem Wege der Beobachtung und Erforschung die Wissenschaft logisch begründete. Fröbel entdeckte den Spieltrieb als die elementare schaffende Kraft im Menschen, aus der sich die Arbeit entwickelt hat. Fröbels Mission scheiterte an äußeren Verhältnissen. In Deutschland, gingen Fröbels Ideen fast verloren, bis von Amerika wieder neue An- triebe kamen.

Im 2, Teil ging Fräul. Mecke näher darauf ein, inwiefern die Fröbelsche Pädagogik die wissenschaftl. Forderungen der Kinderseelen- kunde praktisch erfülle. Der echte Kindergarten werde ein Vorbild für die Schule der Zukunft werden.

Dr. phil. A. Engelsperger (München) brachte Beiträge zur Kenntnis der physischen und psychischen Natur der 6jährigen, in die Schule eintretenden Münchner Kinder.

Die gemeinsam mit Herrn Dr. phil. 0. Ziegler an circa 500 sechs- jährigen Münchner Kindern vorgenommenen Untersuchungen gliedern sich in einen anthropol. und psychol. Teil. Aus dem ersteren wurden nur kurz die (unter anderen) erhaltenen Längen- und Grewichtsmaße an- gegeben und darauf hingewiesen, daß die durchgeführte Scheidung nach den sozialen Lebensverhältnissen für die Kinder schlechter situierter Stände kleinere Maße ergab. Ferner zeigte es sich, daß die noch nicht 6 Jahre alten Kinder beträcktlich geringere Werte als ihre älteren Kameraden aufwiesen. Somit fanden die aus der Praxis des Schullebens heraus mit Rücksicht auf den physischen und psychischen Entwicklungs- stand häufig geltend gemachten Bedenken gegen eine Aufnahme noch nicht 6 Jahre alter Kinder hinsichtlich Körperlänge und Gewicht zahlen- mäßige Belege. Weitere Untersuchungen über die G-ewichts Verhältnisse nach achtwöchentlichem Schulbesuch veranlaßte der Wunsch zu erfahren, ob der eine so große Änderung in der bisherigen Lebens-

183

weise des Kindes vemrsachende erste Schulimterriclit einen merklichen Ausdruck im Gewicht fände. Etwa 85% sowohl der Knaben als der Mädchen wiesen Gewichtszunahmen bis 1,5 kg. auf. Der nicht unbe- deutende Rest zeigte Gewichts abnähme bis zu 1 kg. Diese auch ander- weitig gefundene Tatsache verdient alle Beachtung.

Auf die Ursachen dieser Erscheinung übergehend, wurde darauf hingewiesen, wie die Eltern in nicht unbeträchtlicher Weise zur Er- höhung der physischen- u. psychischen Leistungsfähigkeit ihres Kindes, zur Förderung der Schulreife desselben beitragen könnten. Weiter wurde ausgeführt, inwiefern Staat und Gemeinde die Schädlichkeiten von den Schulanfängern nach Möglichkeit fern zu halten vermögen. Besonders aber müsse es eine Hauptsorge der Schulverwaltungen sein , im Schul- betrieb selbst der körperlich und geistig geringen Widerstandskraft der Kindesnatur Rechnung zu tragen. Endlich vermöge ein nervenstarker, heiter gestimmter Lehrer durch verständnisvolles Eingehen auf das kindliche Seelenleben auch manche Schädigung physischer Natur zu ver- meiden oder doch zu verringern.

Im psychologischen TeU der Ausführung wurde hervorgehoben, daß es für Kinderpsychologie wie Pädagogik eine ebenso dringende, als schwierige Aufgabe sei, unsere Kenntnisse von den psych. Anlagen und Fähigkeiten des Schulanfängers zu vermehren. Eine hierher gehörige Gruppe von Arbeiten habe sich mit der Feststellung des Vorstellungs- kreises des Kindes beim Eintritt in die Schule beschäftigt. Die kritische Betrachtung dieser Arbeiten zeige aber , daß diesen Untersuchungen Mängel in stofflicher und methodologischer Hinsicht anhaften. Deshalb konnten sich auch die an diese Analysen geknüpften zu großen Hoff- nungen praktisch pädagogischer Art nur teilweise erfüllen. Des wei- teren wurde kurz angedeutet, wie solche Arbeiten fruchtbringender zu gestalten seien.

Direktor Deutsch (Plauen) sprach über die individuellen Hemmungen der Aufmerksamkeit im Schulalter.

Die Unaufmerksamkeit halte man schlechthin für einen moralischen Defekt, mit Unrecht. Es sei eine Tat pädagog. Gerechtigkeit und Für- sorge, die individuellen Aufmerksamkeitshemmungen zu studieren. Hier soll nur von den psycho-pathol. Zuständen die Rede sein, die als Folge körperlicher Krankheiten aufgefaßt werden müssen:

Wir haben es zunächst 1. mit somatischen Hemmungen der Auf- merksamkeit zu tun. Hierher zählen die mehr oder minder klar be- wußten Krankheitsempfindungen, die dem Schüler als Schmerz, Druck, Fieberwärme etc. lästig fallen oder als Gemeinempfindungen seine Stim- mung gefangen nehmen und herabdrücken. Wenn eine Krankheit unser

13*

184

Kind an das Bett fesselt, so wird niemand Aufmerksamkeit verlangen, wohl aber vom kränkelnden Kind im Unterricht. Und wie wenig Schüler sind völlig gesund I Zu den häufigsten unter Kindern anzutreiffenden Aufmerksamkeitshemmungen dieser Art zählen : Kopfweh, Zahnschmerzen, Ubelsein, Magen- und Darmbeschwerden u. s. w.

Neben den somatischen kommen 2. sensorielle Aufmerksamkeits- hemmungen in betracht. Hierher zählen Akkomodationsstörungen, Kurz- und Weitsichtigkeit, Farbenblindheit und dergl., ferner die große Zahl von Ohrenerkrankungen, Störungen des Muskelsinnes u. s. f.

Der Vortragende berührte 3. die rein cerebralen, die assoziativen Aufmerksamkeitshemmungen im Schulleben. Es gebe keine Krankheit, keine Schwäche der Großhirnrinde, welche die assoziative Aufmerksam- keit ungestört ließe. Oft sei die Unaufmerksamkeit ein Krankheits- syrnptom, ein Warnungssignal, das leider vielfach unverstanden bleibe. Dem Lehrer sei in erster Linie die Möglichkeit gegeben , den indivi- duellen Aufmerksamkeitshemmungen nachzugehen, sie unter Mithilfe der Eltern und des Schularztes diagnostisch zu erfassen und pädagogisch zu berücksichtigen.

Redakteur und Lehrer F. Weigl (München) sprach über Bil- dungsanstalten des Staates, der Provinzen bezw. Kreise und der Kommunen für Schwachsinnige im deutschen Reiche. Er führte ungefähr folgendes aus:

Deutschland hat gegenwärtig an Bildungsanstalten für Schwach- sinnige 81 geschlossene Anstalten (darunter 8 staatliche, 5 provinzielle und 2 städtische Anstalten), 162 Hilfsschulen mit 14073 Kindern und 22 Städte mit Sonderklassen nach dem Mannheimer System. Der größte Teil der Arbeit verbleibt somit privater Wohltätigkeit.

Trotzdem z. B. Bayern allein 17 Anstalten für schwachsinnige Kinder besitzt, mußten doch in einem einzigen der 8 Kreise Bayerns 1902 über 200 solcher Unglücklicher unversorgt bleiben. Ahnlich wie bei Taubstummen und Blinden müssen daher auch hier Staat und Pro- vinzen, bezw. Kreise eintreten. Die Städte sind zum weiterem Ausbau des Hilfsschulwesens verpflichtet. 600 deutsche Städte könnten an die Einrichtung von Hilfsschulen gehen, erst 162 haben solche. Kleine Städte, selbst größere Landgemeinden sollten als Ersatz der Hilfs- schulen und Sonderklassen Nachhilfestunden durch geeignete Lehrkräfte einrichten lassen.

Dr. H. Gutzmann (Berlin) berichtete über soziale Fürsorge für sprachgestörte Kinder. Die Gesamtzahl der stotternden Schulkinder im deutschen Reich wird auf nahezu 100 000 d. i. 1 ^/o aller Schulkinder berechnet, ein Resultat, das sich auch in anderen Ländern

185 -

durch statistische Erhebungen ergeben hat. In Deutschland wurden zuerst besondere Einrichtungen, Schulkurse geschaffen; in anderen Staaten ist aber eine einheitlichere Organisation der Fürsorge für sprachgestörte Kinder getroffen, besonders in Dänemark und Ungarn. Der Vortra- gende hält die einheitliche Leitung der gesamten Fürsorgeeinrichtungen für sprachgestörte Kinder auch fiir Deutschland oder wenigstens für die einzelnen Bundesstaaten für erstrebenswert. Femer soll eine syste- matische Bekämpfung besonders des Stotterns, aber auch der Aussprache- fehler bereits in den Kindergärten eintreten, damit das Kind mit einer normalen Sprache zur Schule komme. Alle zukünftigen Volksschul- lehrer sollten auf dem Seminar bereits Vorträge über Sprachstörungen, ihre Entstehung, Verhütung und schulgemäße Bekämpfung hören müssen. Die Seminarlehrer sollten für ihre Vorträge in einem längeren Kursus vorbereitet werden; ebenso sollten auch die Lehrer der höheren Schulen auf der Universität diesen Teil der pädagogischen Pathologie kenne lernen. Auch dem Arzt müsse während und nach seiner Studienzeit Gelegenheit geboten werden, sich hierin ausführlich zu unterrichten, ganz besonders aber dem zukünftigen Schularzt.

Die sprachgestörten Kinder sollten ferner in Rücksicht auf die meist neuropathische Basis ihres Übels, besonders bei der Auswahl zu den Ferienkolonien berücksichtigt werden. Äußerst wichtig wäre endlich die Durchführung einer allgemeinen Statistik der Sprachstörungen, wenigstens für Schulkinder: erst dadurch werde auch eine allgemeine Fürsorge ermöglicht.

Taubstummen - Lehrer G. Riemann (Berlin) sprach über Taub- stumm-Blinde.

Zunächst wurde erwähnt, daß durch die Schrift von Helen Keller das gebildete Publikum mit der Möglichkeit der Ausbildung Dreisinniger bekannt geworden sei. Nach der vorletzten Zählung waren in Preußen 215 Taub -Blinde vorhanden. 3 Kategorien dieser Unglücklichen seien zu unterscheiden:

1. Taub-Blinde von Geburt.

2. Taub-Blinde, die bei Eintritt der Katastrophe schon Sprache hatten, diese aber wieder verloren und auf künstlichem Wege neu ge- winnen mußten.

3. Taub-Blinde, denen die Sprache erhalten blieb.

Die bei solchen Kindern anzuwendende Methode wurde an den vor- geführten Schülerinnen kurz erläutert. Die jüngste Schülerin, die im Alter von 4 Jahren nach Genickstarre ertaubte und erblindete und ca. 1 Jahr Unterricht hat, konnte schon kleine Sätzchen am Finger- Alphabet sprachen, auch in der Lautsprache Laute, Silben und AVörter usf. Nach

186

einem kurzen Überblick über die pädagog. Behandlung wurde die Not- wendigkeit von Spezialanstalten für derartige Kinder betont und ange- führt, daß im laufenden Jahr in Nowawes eine solche bereits errichtet worden sei.

G. K. Greh. Admiralit. - Rat Dr. Felisch (Berlin) eröffnete am 2. Tag die Vorträge mit seinem Thema über die Fürsorge für die schulentlassene Jugend.

Hierbei komme die erwerbstätige Jugend vom 14. (13.) bis 18. Le- bensjahr in Betracht. Es handle sich in obiger Frage um verschiedene Probleme :

Die Umbildung der Stände nach Auflösung des Dreistände - Staates ist noch nicht derartig vollzogen, daß die neuen Verhältnisse vollständig gefestigt wären. Hand in Hand mit der politischen und wirtschaftlichen Umgestaltung ging die Auflösung der alten patriarchalischen Ordnung.

In zu jungen Jahren ist die Jugend schon oft sich selbst überlassen, Versuchungen ausgesetzt in Grroßstädten und auf dem platten Lande. Die alten Erziehungsfaktoren, darunter auch die religiöse Überzeugung haben den Einfluß verloren und neue Kräfte müssen an Stelle der schwindenden gesetzt werden.

Festzuhalten ist, daß die Erziehung nicht mit der Schule endigt, sondern durch die bürgerliche Gesellschaft selbst weitergeführt werden muß.

Für die Jugendfürsorge fordern wir die Grundsätze der Interkon- fessionalität und die Ausschaltung aller Partei- und Berufsunterschiede.

Die Fürsorgetätigkeit umfaßt das geistige , sittliche , leibliche und wirtschaftliche Moment ; darin ist eingeschlossen die rechtliche Fürsorge.

Die Jugendfürsorge ist den Einzelbedürfnis sen anzupassen, je nach- dem sie sich auf Waisen, Verführte, körperlich oder geistig Geschwächte u. dgl. erstrecken soll.

Das Patronagesystem ist nicht die geeignete Art der Fürsorge- tätigkeit, denn es ist ein Almosensystem; das alte deutsche Pfleger- system hat sich am besten bewährt. Dasselbe muß nur den Bedürf- nissen entsprechend ausgestaltet werden.

In der Debatte wurde auf den Deutschen Zentral-Verein für Jugend- fürsorge, ferner auf die Tätigkeit des Guttemplerordens hingewiesen. Frl Mecke erinnerte an die vorschulpflichtige Jugend, die sich selbst am wenigsten helfen könne und von welcher Tausende alljährlich kör- perlich und geistig verkommen.

Geh. Mediz.-Rat Prof. Dr. Heubner (Berlin) sprach über das Vorkommen der Idiotie in der Praxis des Kinder- arztes.

187

Die Frage nach den geistigen Schwächezuständen i^ Kindesalter sei von außerordentlicher Bedeutung. Unter mehr als 9200 Kindern fanden sich 307 Idioten und 92 Epilektiker. Ein ansehnlicher Teil der ersteren Fälle war nicht durch Gehimleiden, sondern durch Drüsener- krankungen bedingt. An ungefähr 138 Fällen wurde schwere Idiotie festgestellt.

Diese Fälle sind nicht immer so trostlos , wie es oft in den ersten Lebensjahren den Anschein hat.

Unter 113 Fällen von Idiotie leichteren Grrades waren etwa 71 schwachsinnige Kinder. Die einen derselben waren in der allgemeinen Entwicklung, besonders in der Sprache zurückgeblieben; aber es war immer eine leichte Progression zu bemerken.

Diese Fälle sind prognostisch leichter oder günstiger als jene, bei denen nach einer anfänglichen regelmäßigen Entwicklung ein plötzlicher Stillstand eintritt; oft dürfen hereditäre Erkrankungen angenommen werden.

Im Gegensatz zu den Schwachsinnigen stehen die Schwachmütigen. Hier treten weniger Intelligenzdefekte als vielmehr Mangel an Willens- impulsen auf. Hierzu zählt auch die Gruppe der mit moral insanity Behafteten. Heubner berichtet auch über verschiedene Fälle schwerer Zerstreutheit , die einen eigenen Unterricht erforderten und keine schlechte Aussicht auf Besserung böten.

Ernster seien die neurasthenischen Kinder zu nehmen.

Zum Schluß richtete Hb. einen Appell an die Praxis. Die HäKte aller Fälle biete Aussicht auf Heilung; freilich sei dieselbe bedingt durch Spezialerziehung , die von einem pädagog. geschulten Arzte oder einem Heilpädagogen geleitet werden müßte.

Dr. med. Sonnenb erger (Worms) gibt einen Überblick über die geschichtliche Entwicklung und den gegenwärtigen Stand der Ferienkolonien und verwandter Bestrebungen.

Schon Mitte des 18. Jahrhunderts wurde auf die Notwendigkeit von Heilstätten für Kinder hingewiesen.

Das Geburtsjahr der modernen Ferienkolonien sei 1876. Pfarrer Bion V. Zürich brachte zuerst Kinder zur Erholung in die Appenzeller- Berge. Was ehedem als Utopie bezeichnet wurde, ist heute eine unent- behrliche Einrichtung geworden, die von Jahr zu Jahr an Umfang ge- winnt. Die günstige physische Beeinflussung ist in den meisten Fällen eine dauernde; nicht zu übersehen ist auch die sittliche Kräftigung.

Bis jetzt wurde hauptsächlich an Kinder ärmerer Eltern gedacht, aber auch für Kinder des Mittelstandes ist ein dringendes Bedürfnis

188

vorhanden. In den Ferienkolonien ist ein Schutzmittel gegen Tuberku- lose gegeben; denn diese steigt während der Schulzeit. Staat und Ge- meinde haben die Pflicht, solche Anstalten unter Beihilfe von Versiche- rungs- Gesellschaften zu bauen, der Betrieb soll Vereinen überlassen werden.

S. B. Dr. Friedr. Schmidt (Würzburg) sprach über Haus- und Prüfungsaufsatz.

Die Anschauungen praktischer Schulmänner über die quantitative und namentlich qualitative Seite des Aufsatzes als Haus-, Klassen- und Prüfungsarbeit gehen heute noch weit auseinander. Die freie "Wahl der häuslichen Arbeitszeit und das gemütliche häusliche Arbeitstempo wirkten besser als die vorgeschriebene Prüfungszeit mit ihrer beschleu- nigten Arbeitsweise. Der Prüfungszustand mache seinen negativen Ein- fluß in einer Reihe von Begleiterscheinungen geltend.

Es ergaben sich typische Arbeitsweisen für Mädchen und Knaben. Jene waren bestrebt , umfangreichere und formell hübschere Prüfungs- arbeiten zu liefern, auf Kosten stilistischer Güte. Diese kleideten in kürzere und nicht durch den Glanz der Form bestechende Aufsätze einen vorzüglicheren Stil; die Mädchen überschritten kaum das Gebiet von Wahrnehmungen, während die Knaben mittels assoziativer Ver- schmelzungen mehr einen Persönlichkeitsstil prägten. Referent zeigte, wie die zu weit gefaßten Aufsatzthemata die produktiven Kräfte des Schulkindes an ihrer Entfaltung hindern, wie die Auff'assungstypen sich in den schriftlichen Leistungen äußern, welchen Schaden die Vernach- lässigung des lauten Vortrages für den Stil hervorbringe u. s. w.

Durch vorliegende Arbeit sei zum ersten Mal bewiesen worden, daß eine Klasse mit Volksschulreife zu Hause einen besseren Stil geschrieben habe, als bei der Abgangsprüfung. Diese Tatsache mahne zur Vorsicht bei Qualifikationen.

In der sich anschließenden Erörterung empfahl Seminardirektor Dr. Andreae das Studium solcher Arbeiten Seminaristen und jungen Lehrern an Stelle des üblichen Auswendiglernens gedruckter Schulpsychologien.

S. C. Lehrer Friedr. Lorenz (Weißensee) berichtete über die Beziehungen der Sozialhygiene zu den Problemen sozialer Erziehung.

Die frühere Schulerziehung mit ihren zumeist nur auf Ausbildung des Geistes gerichteten Bestrebungen vernachlässigte darüber das leib- liche Wohlergehen der Kinder. Auch die heute mehr betonte Schul- hygiene beachte hauptsächlich das normale Individuum. Die Sozial- hygiene ziehe die Berücksichtigung der auf den Schüler einwirkenden gesellschaftlichen Gebilde in den Bereich ihrer Untersuchungen.

189

Die soziale Erziehung finde in ihr eine segensreiche Mithelferin. Die Sozialhj^giene soll „auf freiem Willen beruhend eine Hygiene aus dem Volk heraus werden". (Breitung). Die Schulhygiene liefert hierzu den breiten Grundstein. Wenn wir in der Erziehung den Zögling dahin führen, die gegebenen fremden Xormen der Sozialhygiene zur Grund- lage seines Handelns zu machen, legen wir den besten Grund für seine Sittlichkeit.

Angesichts der Tatsache des Verfalls der Familie fordere die Sozial- pädagogik die Gründung von Familienverbänden, in denen die Arbeiter und Arbeiterinnen zur verständigen körperlichen und geistigen Erzie- hung der Kinder angeleitet werden.

Die S. H. sei bestimmt, die Frauen von der gesundheitsschädigenden Arbeit in den Fabriken auszuschließen und sie ihrem Haushalt und ihrer Familie wieder zuzuführen. Eine wichtige soziale Hauptaufgabe sei bei der Berufswahl der Schüler zu erfüllen. Weiter gehören in die Fort- bildungsschule sexual - pädagogische Belehrungen von Seite des Schul- arztes. Betreff der Geistigschwachen erweise sich die Mannheimer Schulreform als eine bedeutsame sozial-hygienische Institution. Die von der sozialen Pädagogik geforderte Nationalschule sei am vorteilhaftesten zur Bildung einer Gemeinschaft und zur Bewahrung der Gesundheit jugendlicher Individuen geeignet.

Zum Schluß wurde hervorgehoben, daß durch Sozialpädagogik in Gemeinschaft mit der S. H. der Geist der Solidarität in die Glieder der Menschheit hinein gepflanzt werde.

Dr. Bernhard, Schularzt (Berlin) sprach über den Schlaf der Berliner Gemeindeschüler.

Zunächst wurde die Wichtigkeit ausreichenden Schlafes für das kindliche Alter erörtert.

Unzureichender Schlaf schädige ganz besonders das Gedeihen des Kindes. Die große Zahl von blassen und nervösen Kindern, welche der Vortragende in seiner schulärztlichen Tätigkeit beobachtete, veranlaßte ihn zur Untersuchung der Schlafverhältnisse von circa 6500 Berliner Kindern.

Es ergab sich, daß die Schlafzeit für alle Altersklassen der Kinder ganz erheblich hinter der als nötig erkannten zurückbleibt. Die Unter- schiede betragen für den einzelnen Tag bis zu 1 Stunde 40 Minuten d. h. ein Teil der Kinder schläft 603 Stunden im Jahr zu wenig.

Die Ursachen der zu geringen Schlafdauer lägen weniger in Über- bürdung mit Schularbeiten oder krankhafter Schlaflosigkeit der Kinder, als. in dem Unverstand vieler Eltern einerseits (Unterhaltungen p. p.) Un^

190

anderseits in den mißlichen sozialen Verhältnissen (Heimarbeit, Straßen- handel u. dgl.).

Was die Schlafräume und Lagerstätten der Kinder beträfe, so schlafen bis zu 9 Personen in einem Zimmer und bis zu 4 in einem Bett. Zur Besserung der Verhältnisse bedürfe es der aufklärenden Tätigkeit der Presse und der Regelung der Wohnungsfrage durch Staat und Ge- meinde.

Für die Unterstufe der Volksschule verlangt der Vortragende Fest- setzung des Schulbeginns im Sommer nicht vor 8 Uhr und im Winter nicht vor 9 Uhr.

S. B. Institutslehrer Landmann (Jena) referierte über die Möglichkeit der Beeinflussung abnormer Ideenassozia- tion durch Erziehung und Unterricht.

Der Vortrag brachte Beiträge über folgende Fragen:

1. Welche abnormen Ideenassoziationsrichtungen kommen bei minder- wertigen Kindern häufig vor?

2. Durch welche Mittel erscheint die Beeinflussung einer charakte- ristischen Assoziationsanomalie geboten und möglich?

3. Wo liegt die Grenze der Beeinflussung in jedem Falle? Hinsichtlich des sachlichen Untergrundes der Ideenassoziationen hat

das normale Geistesleben zwei wesentliche Merkmale:

1. Die verbundenen Wortvorstellungen haben sachlichen Inhalt.

2. Der Sachinhalt wirkt bestimmend ein auf die Auswahl und Reihenverbindung der Vorstellungen.

Der Vortragende zeigte nun an einer Reihe von Beispielen, wi§ der abnorme Geist dagegen verstoße, und zwar besprach er zunächst verbal gerichtete Ideenassoziationen, dann die Ideenflucht, weiter Fälle, in denen Zeit und Zahlvorstellungen die Ideenassoziationen beherrschen, ferner Beispiele von wertbegriffsermangelnden Ideenassoziationen oder solche, in denen eine überwertige gefühlsbetonte Vorstellung die Um- setzung der Assoziationen in die Handlung hindere oder auch das ganze geistige Leben von 2 Gefühlstönen beeinflußt werde.

Seminardirektor Dr. Pabst (Leipzig) sprach über die psy- chologische und pädagogische B edeutung des praktischen Unterrichtes.

Aus der modernen Psychologie läßt sich die Notwendigkeit des praktischen Unterrichts als eines Erziehungsmittels begründen. Die sensiblen und ebenso die motorischen Zentren des Gehirns entwickeln sich durch Übung und bleiben unentwickelt , wenn diese Übung fehlt. Deswegen sind körperliche Bewegungen, Spiel, Turnen und Handarbeit

191 -

nötig zur Entwicklung des Gehirns, sie sind ein Mittel znr G-ewinnung der motorischen Begriffe, die den Menschen zum Handeln führen und das "Wesen seines Charakters begründen.

Die Handgeschicklichkeit hat ihren Sitz nicht eigentlich in der Hand, sondern im Kopf und Gehirn. Außer dem Gehirn kommt für die motorischen Bewegungen noch das Rückenmark in Frage, von dem aus die unbewußten Reflexbewegungen dirigiert werden. Die erziehliche Einwirkung auf beide Organe aber kann nur im jugendlichen Alter statt- finden, und deshalb ist die Einführung geeigneter Handbetätigung in das System der Jugenderziehung zu fordern. Die Notwendigkeit der- selben läßt sich auch auf pädagogischem Wege nachweisen. Die Er- fahrung lehrt, und alle großen Erzieher haben es erkannt, daß die kör- perliche Erziehung mit der geistigen Hand in Hand gehen müsse und daß die körperliche Betätigung eine Vorbedingung für die geistige Ent- wicklung sei.

Der praktische Unterricht erscheint in seinen verschiedenen Formen geeignet, die Mängel unseres gegenwärtigen Er ziehungs Systems auszu- gleichen.

G. K. Prof. Dr. E. Martinak (Graz) berichtete über Wesen und Aufgabe einer Schülerkunde.

Die Schülerkunde habe die Aufgabe, das gesamte körperliche und geistige Leben des Schülers zu erforschen mit besonderer Betonung aller Erscheinungen, die mit dem Schulleben als solchem in irgend welchem kausalen Zusammenhang stehen.

Die zeitliche Abgrenzung sei durch Beginn der Schulpflicht gegeben und soll sich bis zur Beendigung der höheren Schulpflicht erstrecken.

Der Lehrer könne nie genug den Schüler kennen; diese eingehende Beachtung des Schülers wird auch eine segensvolle Einwirkung auf den Erzieher haben. Auch dem Psychologen leiste die Schülerkunde wesent- liche Dienste. Nach einigen historischen Bemerkungen ging M. auf seinen Arbeitsplan näher ein, der besonders für höhere Schulen gelte.

Li erster Linie seien die Lehrer dazu berufen, besonders wenn sie psychologisch geschult seien. Dann aber auch die Eltern, wenn sie ge- nügend unbefangen seien, endlich auch die Kinder selbst, indem sie direkt oder indirekt Beobachtungsmaterial liefern u. s. w.

Ferner soll eine systematische Statistik der Lebensschicksale der Schüler angestrebt werden, auch müssen Individualitätslisten gefordert werden.

Dann berichtet Redner ausführlich über sein System einer Schüler- kunde, die sich zu erstrecken habe auf: 1. Schüler und tägliches Leben,

192

2. Schüler im Verhältnis zur Familie.

3. Schüler und Schule.

4. Schüler im Verhältnis zur Natur.

5. Schüler im Verhältnis zur Kunst.

6. Schüler im Verhältnis zur Religion und zu religiösen Fragen.

7. Schüler im Verhältnis zu den Nebenmenschen.

8. Schüler im Verhältnis zum andern Geschlecht.

9. Schüler im Verhältnis zu sich selbst.

Damit sei die Beobachtungsreihe noch lange nicht abgeschlossen. Vieles bleibe noch zu tun übrig, damit wir mit mehr Klarheit und Sicherheit über einschlägige Fragen urteilen lernen.

Landgerichtsrat Kulemann (Bremen) sprach über forensische Behandlung der Jugendlichen.

An der Hand von 9 Leitsätzen entwickelte der Referent seine Stel- lung zu obigem Thema:

I. Die Abgrenzung der Klasse der Jugendlichen in der heutigen Strafgesetzgebung sei zunächst insoferne verfehlt, als ihr das rein in- tellektuelle Moment der Einsichtsfähigkeit in die Strafbarkeit der be- gangenen Handlung zu Grrunde liege und der Willensfaktor unberück- sichtigt geblieben sei. An Stelle dieser Einsichtsfähigkeit müsse die allgemeine geistige Entwicklung gesetzt werden.

U. Aber noch richtiger wäre es, diesen Ausgangspunkt überhaupt zu verlassen und die bisherige anthropologische durch die pädagogische Grundlage zu ersetzen.

III. Als staatliche Reaktionen kommen in Betracht: Erziehung, Bestrafung und Unschädlichmachung. Die letztere sei lediglich bestimmt für geistig Anormale, welche aus der vorliegenden Erörterung fallen.

IV. Kinder unterlägen ausschließlich der Erziehung, Erwachsene ausschließlich der Bestrafung; jugendliche Personen bilden eine Mittel- klasse , bei der durch den Richter im Einzelfall entschieden werden könne, ob und in welchem Umfang Erziehung oder Bestrafung am Platze sei.

V. Die Grenze zwischen Kindern und Jugendlichen soll auf das 14. Jahr festgesetzt werden, die zwischen Jugendlichen und Erwachsenen auf das 21. Jahr.

VI. Gegen Jugendliche sollen im Falle einer Verletzung der Straf- gesetze folgende Maßregeln zulässig sein:

a. Erzieherische: 1. Überwachung und Beeinflussung der Erziehung bei den bisherigen Erziehern. 2. Unterbringung bei fremden Erziehern. 3. Aufnahme in eine Erziehungsanstalt.

193

b. Strafrechtliche: 1. Verweis. 2. aeldstrafe. 3. Haft. 4. Ge- fängnis (Einzelhaft).

VII. Die Verhängang dieser Maßregeln |sei besonderen Behörden zu übertragen : Vormnndschaftsrichter , unter den Beisitzern stets ein Arzt und Lehrer als gleichberechtigte Schöffen.

VIII. Das Verfahren sei nach dem Vorbild des schöff'engericht- lichen zu gestalten. Das Urteil könne bestimmen, daß die erkannte Strafe nicht vollzogen werden soll, wenn der Verurteilte innerhalb einer ge- Avissen Frist sich eines weiteren Verstoßes gegen das Strafgesetz nicht schuldig mache.

IX. Gegen die Entscheidung des Gerichtes und des Vorsitzenden fänden dieselben Rechtsmittel statt wie im schöff'engerichtlichen Verfahren.

In der Diskussion betonte Vormundschaftsrichter Köhne , daß die Verzögerung in der Reform des Strafrechtes nicht an den Richtern liege, sondern durch die verschiedene Stellungnahme zu Determinismus und Indeterminismus bedingt sei.

Von allen werde anerkannt, daß bei Kindern, wenn sie auch älter als 12 Jahre wären, von Vergeltung keine Rede sein könne.

In den weiteren Sektions Verhandlungen sprach zunächst Direktor Dr. Theod. Heller (Wien) über psychasthenische Kinder.

Der Vortragende beschreibt eine Reihe solcher Kinder, bei denen jede längere oder schwierigere Arbeitsleistung auf körperlichem oder geistigem Gebiet schwere Unlustgefühle auslöse, die nicht überwunden werden können und sich unter Umständen als psychische Hemmungen geltend machten. Hierher gehören jene Kinder , die mit keiner Arbeit fertig werden und bei denen sich eine eigenartige Erwartungsneurose (Prüfungsangst) einstellt. Das pathol. Unlustgefühl wächst oft dermaßen an, daß es bis zu „psychasthenischen" Krisen kommt, in denen die Kinder planlos umherirren, Eigentumsdelikte begehen, sogar Selbstmorde ver- üben. Die falsche Beurteilung der Psychasthenie als moral insanity führt zu schweren pädagogischen IVIißgriff'en. Ebenso ist die Psy- chasthenie von der Debilität, Hysterie und Hebephrenie zu unterscheiden. Psychastheniker , die nicht rechtzeitig einer heilpädagogischen Behand- lung unterworfen worden sind, stellen das Hauptkontingent zu den problematischen Naturen und schiff'brüchigen Existenzen. Der Vortra- gende spricht sich für eine planmäßige Beschäftigungstherapie bei voll- ständiger Änderung des IVIilieus aus, die in leiditen Fällen am besten in einem Landerziehungsheim, in schwereren in einer Heilerziehungsan- stalt stattzufinden hätte.

S. B. Dr. H. Schmidkunz (Haiensee) referierte über die oberen Stufen des Jugendalters.

194

Seine Ausführungen beziehen sich hauptsächlich auf die ersten Jahre des dritten Lebensjahrzehntes d. h. bis zum vollendeten Wachstum (unge- fähr 24. Jahr).

Es kommen hier hauptsächlich jene Teile der Psychologie in Be- tracht, welche die entwickelteren Inhalte des psychischen Lebens be- handeln.

Nach einer Beschreibung des Jugendalters weist der Vortragende auf die etwa auftretenden abnormen Erscheinungen insbesondere aber auf die Talentfrage hin. Mit einem kurzen historischen Überblick über die vorliegenden Arbeiten und einem Appell, den oberen Stufen des Ju- gendalters mehr Aufmerksamkeit zu schenken, schließt der Vortrag.

Lehrer W. Dix (Meißen) berichtete über hysterische Epi- demien in deutschen Schulen.

Der Vortragende berichtete zunächst über die Meißener Zitterepi- demie. Oktober 1905 erkrankte ein 13 jähriges Mädchen an hysterischem Zittern; sehr bald folgten andere nach. Trotz der Ferien mußten 21 Klassen geschlossen werden und die Zahl der Erkrankten stieg auf 237. Am 17. Mai erlosch die Epidemie. Die Anfälle stellten sich regelmäßig in der Schule ein, wenn sie zu Hause auch ausgesetzt hatten. Als Ur- sachen sind zu nennen: Anblick einer zitternden Mitschülerin, Angst, Anstrengung im Turnen u. s.f. Das Zittern befiel Kinder aus allen Le- benskreisen, starke und schwächliche vom 7. 14. Lebensjahr, vorwiegend Mädchen. Referent berichtete dann über die gleichen und ähnlichen Epidemien, wie sie in Basel, Braunschweig, Biberach, ja selbst in Dorf- schulen auftraten. Alle Erkrankungen seien hysterischer Natur.

Nachdem eingehend die verschiedenen Ursachen besprochen worden waren, ging der Vortragende auf die Behandlung obiger Erscheinungen über. Dabei kommen für die Pädagogen in Betracht :

1. Isolierung der erkrankten Kinder.

2. Große Schonung im Turnen, Schreiben, in den Handarbeiten u. dgl.

3. Leichte Freiübungen zu Anfang der Stunde.

4. Psychische Einwirkung auf die Kinder.

5. Meidung übertriebener Teilnahme.

6. Strafen verschlimmern den Zustand.

7. Stärkung des Körpers, Bewegung in frischer Luft.

Nötig ist, daß der Erzieher die nervösen Störungen rasch und sicher erkenne, die Kinder beruhige und vor Affekten bewahre; Erziehung zur Selbstbeherrschung.

S. C. Dr. vonRhoden, Gefängnisgeistlicher (Düsseldorf -Der en- dorf) sprach über jugendliche Verbrecher.

Über die großen Schädlichkeiten des strafrechtlichen Verfahrens

195

gegen Jugendliebe seien alle Sachverständigen einig. Kinder sollten anch bei ibren Übeltaten nicbt als Erwachsene bebandelt, sondern bevormundet und erzogen werden. (Nicbt ricbterlicbe Strafe, sondern Erziehung, nicht der Straf-, sondern der Vormimdschaftsrichter). Die Geschichte des obigen Problems in den letzten Jahrzehnten sei die Greschicbte des Ringens dieser beiden Maximen der Bestrafung und Erziehung miteinander. Redner sucht nun die Widersprüche des R. Str. Ges. B. nachzuweisen, die auch nicht durch das neue Fürsorge-Erziehungsgesetz beseitigt worden seien. Auch hier finde sich noch die Verquickung von Erziehung und Strafe. Der Haupteinschnitt sei beim 16. Lebensjahr zu machen. Für die Strafanmündigen bis zum 16. Lebensjahr Behandlung durch den Vormundschaftsrichter in Verbindung mit dem etwa auf Grund der Fürsorgeorganisation auszugestaltenden Erziehungsamt und Erziehung der Straffälligen und Gefährdeten in Familien oder familiär geleiteten offenen privaten Erziehungsanstalten. Für die Strafunmündigen vom 16. 20. Lebensjahr nach Ermessen des Starfrichters nicht zu kurze Freiheitsstrafen oder Unterbringung in geschlossenen staatlichen Zwangs- anstalten.

In der psychiatrischen Abteilung der C h a r i t e sprach Prof. Dr. Th. Ziehen (Berlin) über die normale und pathologische Ideenass ozation des Kindes.

Die rasche Entwicklung der Kinderpsychologie sei mit Gefahren verbunden; man habe häufig vergessen, zuerst die einfachen Vorgänge zu studieren und dann erst auf die komplizierteren überzugehen. Zu den letzteren zähle das Problem der Ideenassoziation des Kindes. Auch hier hätten sich Lehrer und Lehrerinnen zu früh unmittelbare Ergeb- nisse für die Praxis erhofft. Der Vortragende ging nun von den ein- fachsten Erscheinungen des Seelenlebens, von den Empfindungen aus. Schon hier müsse man sich vom Wort unabhängig zu machen suchen; denn das Wort spiele beim Kind eine andere Rolle wie beim Erwach- senen. Ferner dürfe man sich nicht auf die Untersuchung einer einzigen Seite des Seelenlebens beschränken, sondern müsse alle Vorgänge, welche von Einfluß seien, mit berücksichtigen. Weiter sei eine Untersuchung des kindlichen Vor Stellungsmaterials nötig , das anders als bei Erwach- senen beschaffen sei. Bei Kindern seien femer die Erinnerungen in höherem Maße gefühlsbetont als bei uns und dementsprechend sei auch die auswählende T ätigkeit des Gedächtnisses zwischen Erwachsenen und Kindern verschieden. Eine ganze Reihe solcher Verschiedenheiten wäre noch aufzufinden. Bei Untersuchung der kindlichen Ideenassoziation sei eine künstliche Vereinfachung nötig, z. B. Schallreiz, Reaktion darauf. Dies lasse sich schon bei 3 4 jährigen Kindern gut vornehmen. Dann

- 196 -

könne man zu komplizierteren Vorgängen übergehen z. ß. Wahlreak- tionen, die erst von einem bestimmten Alter an gelingen.

Von besonderem Interesse seien die rückläufigen Assoziationen, die bei schwachsinnigen Kindern sehr verspätet auftreten.

Der Vortragende ging nun auf verschiedene Formen der Verbalasso- ziationen ein, bei denen sich merkwürdige Unterschiede zwischen Er- wachsenen und Kindern zeigen.

Im Vorstehenden ist die größere Zahl der Vorträge inhaltlich kurz angeführt ; die übrigen Referate seien wenigstens dem Namen nach erwähnt.

G. K. Pastor Dr. Hennig: Freiwilliger Liebesdienst und staat- liche Ordnung in der Arbeit der gefährdeten Jugend; ein Rückblick und Ausblick.

S. A. Dr. Elsenhäns (Heidelberg): Die Anlagen des Kindes.

Direktor Dr. F. Kemsies (Weißensee): Zur Frage der Kinder- lügen. (Siehe Zeitschrift für pädagogische Psychologie, Pathologie und Hygiene : Beiträge zur Psychologie und Pädagogik der Kinderlügen und Kinderaussagen).

S. B. Direktor Archenhold (Sternwarte Treptow): Die Be- deutung des Unterrichts im Freien, in Mathematik und Naturwissen- schaft.

S. C. Erziehungsdirektor Plaß (Zehlendorf): Über Arbeitserziehung.

Schriftsteller A. Damaschke (Berlin): Wohnungsnot und Kinder- ■elend.

Am Ende der Tagung fand eine Schlußsitzung in der Aula der Universität statt, in der Prof. Dr. W. Münch in zusammenfassender Weise auf die Tätigkeit des Kongresses einging und die Bildung von Kommissionen vorschlug, die die Geschäfte abzuschließen, bezw. auf Grund der gewonnenen Erfahrungen den nächsten Kongreß vorzube- reiten hätten. Mit letzterer Aufgabe wurden Prof. Rein, Direktor Trüper (Jena) und Prof. Meumann (Königsberg) betraut. Nach herzlichen Dankesworten an den verdienten Leiter des Kongresses, Prof. Münch, ging die Versammlung auseinander.

Wie allgemein üblich, hatte auch dieser Kongreß den Teilnehmern ■eine Reihe von Besichtigungen ermöglicht, so von Schulhäusem, Er- ziehungsanstalten, Krankenhäusern, der psychiatrischen Klinik von Prof. Dr. Ziehen, des psychologischen Laboratoriums von Prof. Stumpf, u. s. w., Gelegenheiten, die viel des Sehenswerten für Jedermann boten, be- sonders aber für Fachleute. Nicht zu vergessen ist, daß auch der Frauenklub „Lyceum" die Kongreßteilnehmer zu einem Besuche einlud.

Meine Berichterstattung wäre unvollständig, gedächte ich nicht der

197

mit dem Kongreß verbundenen Ausstellung (Bau, Leben und Hygiene des gesunden und kranken Kindes, Kind und Kunst, Kinderzeiehnungen, gesammelt besonders von Dr. Stern, wissenschaftliche Lesebibliothek, Lehr- und Lernmittel, Schulbau und Schuleinrichtungen), die E. Fischer mit vieler Mühe zusammengestellt hat.

Da und dort hat man schon reichhaltigere Sammlungen sehen können. Die Bedeutung der vorstehenden aber lag hauptsächlich darin, daß sie den Grundstock des so lange schon erstrebten „Deutschen Museums für das gesamte Unterrichts- und Erziehungswesen" darstellte. Lisofeme wird wohl jeder das Gebotene begrüßt und eine glückliche Entwicklung für die Zukunft gewünscht haben.

Am Schluß der Verhandlungen kam bei einem gemeinsamen Mahle auch die Geselligkeit zu ihrem Rechte. In Orten wie Berlin wird es immer nur in gewissem Grade möglich werden, die Kongreßteilnehmer auch persönlich! einander näher zu bringen, und doch liegt gerade in der Knüpfung persönlicher Beziehungen und dem Austausch von Er- fahrungen eine nicht unwichtige Aufgabe der Kongresse überhaupt.

Damit sei es mir noch erlaubt auf einige Punkte hinzuweisen, die für die Kongreßleitung keinen Vorwurf bedeuten sollen, als Erfahrunga- material aber für die Zukunft vielleicht zu erwägen wären.

Der Kongreß litt, wie wohl alle fühlten und auch teilweise zum Ausdruck brachten, an dem ^Zuviel". So vielfach die Beziehungen zwischen Kinderforschung und Jugendfürsorge auch sind und deshalb eine Trennung manche Nachteile mit sich bringen würde, so dürfte sich eine solche doch aus Zweckmäßigkeitsgründen empfehlen. Vielleicht wären dann weniger Teilnehmer zu erwarten, sicher aber eine frucht- bringendere Arbeit. Dann könnte auch mehr, und das erachte ich als besonders nötig, die Diskussion gepflegt werden. Ferner wäre es auch möglich, die meisten Arbeiten in Gesamtsitzungen zu erledigen und die Zersplitterung in Sektions Verhandlungen zu vermeiden.

Wenn wir uns zum Schlüsse fragen, ob der 1. Kongreß für Kinder- forschung und Jugendfürsorge die Erwartungen befriedigt habe, so kann man gewiß bejahen.

Der Kongreß wird bei geeigneter Organisation und sorgfältiger Auswahl der Vorträge zu einer dauernden, Einrichtung werden, zu einem Sammelpunkt für alle an der Erforschung des Kindes und an seinem Wohle Arbeitenden und wird sich zu den vielen Freunden eine große Zahl neuer hinzuerwerben. Vielleicht werden wir auch auf dem nächsten Kongreß der Frau, deren Mitarbeit auf obigem Gebiet wir weder entbehren können noch wollen, häufiger als einer schaffenden Kraft besreonQen.

'«3^0'

Meumann, Exper. Pädagogik. V. Band. 14

198

Die Entwicklung des Interesses des Kindes.

Von Ladislaus Nagy (Budapest).

Die Hauptresultate der Forschungen über das Interesse des Kindes.

Man kann in zweierlei Richtungen Forschungen über die Ent- wicklung des Interesses anstellen. Man kann beobachten, wie sich das Interesse beim Kinde in den verschiedenen Entwicklungs-Stadien den Gegenständen gegenüber äußert. Aus diesen Forschungen kann man die reale Entwicklung des Interesses bestimmen. Man kann femer beobachten, mit welchen Gefühls- und intellektuellen Äußerungen sich das Interesse des Kindes in den verschiedenen Lebensstufen verbindet. Die Zusammen- fassung dieser Forschungen ergiebt die formale Entwicklung des In- teresses. Obwohl die Forschungen der realen und der formalen Entwicklung des Interesses zwei verschiedene Ausgangspunkte bezeichnen, so stehen doch diese beiden Richtungen, wie es die bisherigen Forschungen beweisen, in engster Verbindung. Mit der Veränderung des Gegenstandes des Interesses verändert sich auch dessen Form. IJnd wir können auch be- merken: wenn das Interesse durch geistig höhere Funktionen erweckt wird, so ändert sich auch dessen Gegenstand. Die in der Literatur bis jetzt veröffentlichen Forschungen behandeln im allgemeinen die Gegen- stände des kindlichen Interesses. Hingegen meine Forschungen sind ge- eignet die formalen Stufen des Interesses zu beleuchten. Nach diesen Bemerkungen betrachten wir die in der Literatur erschienenen wichtigten Resultate der Forschungen über das Interesse des Kindes.

Daten über das Interesse im ersten Lebensalter finden wir schon in Preyers Werk'). Preyer unterscheidet nicht die Lustgefühle des Kindes von dem Interesse, aber er bezeichnet jene Lustgefühle besonders, welche als nichts anderes als organische Gefühle betrachtet werden können, und solche Lustgefühle, die schon durch Aufmerksamkeit be- gleitet werden. Mit dem Erwachen des Interesses beim Kinde in den ersten drei Jahren befaßt sich eingehend Shinn. Ihre Betrachtungen werden wir noch später eingehend besprechen.

Mit dem Interesse der mehr erwachsenen Kinder befaßten sich größtenteils die amerikanischen Kinderforscher.

Mit der zusammenfassenden Beschreibung der hierauf bezüglichen Forschungen werden wir in Viktor Löwin skys Artikelcyclus bekannt.

1) W. Preyer: Die Seele des Kindes. Leipzig. Th. Griebens Verlag. 1890. UI. Auf läge S. 110. Lustgefühle.

199

welcher im YI. Jahrgang der Zeitschrift für Pädagogische Psychologie erschien: „Neuere amerikanische Arbeiten auf dem Gebiete der Kinder- psychologie^ betitelt (Siehe Seite 1—33 und 222—254). Unter den ver- öffentlichten Studien sind die Forschungen von E. Burk^) die wichtigsten. Er hat nach der Fragebogen - Methode den Sammelinstinkt von 607 Knaben und den von ebenso vielen Mädchen beobachtet, die 6 17 Jahre alt waren. Eurk unterscheidet in der Entwicklung des Sammel- sinnes drei Stufen.

In den Sammlungen der 3 8 jährigen Kinder leuchtet reiner Sammel- sinn vor. Die Hauptsache ist hier das Gütererwerben, also vorzugsweise die Freude der Tätigkeit.

Bei Kindern im Alter von 8 12 Jahren erstreckt sich die Sammler- freude meistens auf Spielzeuge und Naturgegenstände. Am Ende dieser Stufe geht der reine Tätigkeitsinstinkt in Erwerbstrieb über.

Im Alter von 12 18 Jahren schwindet das Interesse des Kindes für die Natur; aber es wächst sein Interesse für soziale Verhältnisse. Freundschaft und andere Beziehungen entscheiden die Gegenstände des Sammeins. Das Interesse für Literatur und Kunst sind oft Quellen des Sammeins, gering ist in diesem Zeitalter noch das Interesse für "Wissen- schaft.

Wertvolle Angaben über die Entwicklung des kindlichen Interesses bieten jene Forschungen, welche T. R. Croswellin Worcester anstellte: Die Vergnügungen der Schulkinder in Worcester ^). Er beobachtete die Vergnügungen von 4000 Kindern. Seine Beobachtungen erstreckten sich von der Volksschule bis zur Hochschule auf Kinder verschiedenen Alters. Die Resultate dieser Forschungen stimmen oft mit denjenigen von Burk überein. Da er aber die Frage weitläufiger untersucht, so erleuchten die Resultate die Frage von mehr Standpunkten, als die Forschungen Burks.

Im Alter von 6 9 Jahren stehen bestimmte Gegenstände im Mittel- punkte des kindlichen Interesses.

Im Alter von 9 13 Jahren befassen sich Kinder mit solchen Spielen gerne, die den ganzen Körper in kräftige Bewegung setzen.

Vom Alter von 14 Jahren an erhebt sich der schöpferische Trieb über das körperliche Leben und es konmien immer häufiger gemeinsame Handlungen vor, zum Erreichen gemeinsamer Ziele.

Er hat deu formalen Wert der Spiele untersucht und fand, daß die Kinderspiele im Alter von 6—10 Jahren nur einen symbolistischen Wert

1) E. Burk. Der Sammelsinn des Kindes im Vn. Jahrgang der Pedagogical Seminary, S. 179.

2) T. R. Croswell: Die Vergnügungen der Kinder. Worcester. The Pedagogical Seminary VII. 314.

14*

200

haben, aber in den späteren Zeitabschnitten wird immer mehr das be- woßte Nachahmen wirklicher Verhältnisse der Mittelpunkt des Spieles. Im Alter von 11 16 Jahren haben die beliebten Spiele meistens den Cha- rakter des Wettbewerbes.

Daß soziale Verhältnisse den Mittelpunkt des kindlichen Interesses erst in der Zeit der Pubertät, oder der Zeit unmittelbar vorher bilden, hat außer Croswell u. Burk auch noch Barnes beobachtet. Er hat zum Feststellen der kindlichen Ideale 2100 Londoner Kinder beobachtet, die schriftlich auf folgende Fragen antworteten: "Wem möchtest du ähnlich sein und warum ^)? Er fand, daß Kinder im Alter bis zum achten Jahre ihre Ideale aus ihrer unmittelbaren Umgebung, aus ihrem Heim, aus der Schule oder aus der Nachbarschaft nehmen. Mit der Zeit wählen sie ihre Ideale aus der großen Gesellschaft, aus der Ge- schichte, oder Gestalten aus dem politischen Leben.

Die Behauptung Croswells, daß das kindliche Interesse im jüngeren Alter von den körperlichen Funktionen dirigiert wird, und erst im Jünglingsalter diese von den geistigen Kräften überwältigt werden, haben auch die Resultate deutscher Forscher bekräftigt. M. Lobsien hat die Ideale der Kinder beobachtet an 500 Volksschülem einer Großstadt, nach der Methode des amerikanischen Fragebogensystems. Kinder wurden außer den biblischen Idealen, Lieblingspielen, Leetüren etc. noch über ihren Lieblingsgegenstand in der Schule befragt. Es stellte sich heraus, daß bei Knaben der Lieblingsgegenstand in allen vier Klassen Turnen und in den drei unteren Klassen Zeichnen, bei den Mädchen aber in allen vier Klassen Handarbeit war^).

Über das kindliche Ideal in Bezug auf die Lehrgegenstände hat auch William Stern, Privat-Dozent an der Univ. zu Breslau, ein- gehende Forschungen angestellt ; er erstreckte seine Beobachtungen nicht nur auf Elementar-Schüler, sondern auch auf die Zöglinge einer Höheren Töchterschule und einer Lehrerinnenbildungsanstalt, das heißt auf er- wachsene Schüler; die Elementar-Schüler waren aus großstädtischen-, kleinstädtischen- und Dorf-Schulen. Die Frage, welche die Kinder zu be- antworten hatten, war eine doppelte. Sie lautete: „Welches Fach hast du am liebsten?" (Positiver Wert.) Die zweite lautete: „Welches Fach ist dir am wenigsten lieb ?" (Negativer Wert). Die Resultate von Sterns Beobachtungen stimmen mit denjenigen von Lobsien überein.

Der Lieblings-Gegenstand der Knaben-Volksschule war : das Turnen

1) K. barnes: „Die Ideale des Kindes". The Pedagogical Seminary. VII. Jahrgang 1. Heft.

2) M. Lobsien : Kinderideale. „Zeitschrift für Pädagogische Psychologie", V.Jahrgang. 323, Berlin, H. Walther.

201

(28 "/o der Kinder), das Zeichnen (23°; o), weit geringer, aber unter den theoretischen Gegenständen war der erste die Geschichte (14.5 7o)« Der erste lichrgegenstand unter den nicht geliebten war die deutsche Sprache (Lesen und Gramatik 26°/o) und die Chemie (25 °/o).

Der Lieblingsgegenstand der Mädchen-Schule war die Handarbeit (32%), mit dieser konnte kein anderer Gegenstand konkurrieren, und nach ihr kam in weiter Ferne das Zeichnen (10 "/o) und das Schreiben (7.257o) ; der wenigst beliebte Gegenstand war die deutsche Sprachlehre (31%), dann kam mit weit günstigerem Resultat die Geometrie (12.25%). Der Lieblingsgegenstand der Höheren Töchter - Schulen war die deutsche Literatur (26 "/o), weit zurück stand das Turnen (14.5 "/o), der am we- nigsten beliebte Gegenstand war die Physik (27°/o).

Die bevorzugten Gegenstände der Schülerinnen aus der Lehrerinnen- bildungsanstalt waren: Erziehungslehre (30 "o) neben der deutschen Literatur (28.5 "/a); hingegen minder beliebte Gegenstände waren: Geometrie (10.5 %), Handarbeit (9 %) und Zeichnen (9 %) ; letzteres liebte keine einzige Schülerin.

Diese Daten beweisen zweifellos, daß in jüngerem Alter körperliche Beschäftigungen das Interesse des Kindes fesseln, aber in späterem Alter verringert sich deren Wert bedeutend, und die Beweggründe geistiger Funktionen erwecken die Aufmerksamkeit des Kindes.

Zusammenfassung. Infolge der angeführten Beobachtungen hat das sachliche Interesse des Kindes folgende Stufen:

1. Das Intesse für Spielsachen.

2. Naturgegenstände.

3. Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens.

In der formalen Entwicklung des Interesses können wir auf Grund der erwähnten Forschungen zwei Hauptstufen unterscheiden und zwar:

1. Die erste Stufe, wo der Mittelpunkt des Literesses körper- liche Tätigkeiten und deren Gegenstände sind.

2. Die zweite Stufe: hier beeinflussen das Interesse geistige Tätigkeiten und die sich an diese knüpfenden Gegenstände.

Diese Resultate bestätigen auch meine Untersuchungen, die in folgenden Kapiteln mitgeteüt werden.

Die Stufen der Entwicklung des Interesses.

Obwohl die in dem vorigen Capitel besprochenen Entwicklungsphasen: körperliche Tätigkeit, geistige Tätigkeit, schon die beiden Haupt- abschnitte der Entwicklung des Interesses bestinmaen, so geben diese Stufen doch keine eingehende Erklärung über die Stufen der Ent- wicklung und besonders über deren Faktoren. Diese Resultate können

202

nur die Grundlage zu weiteren Forschungen bilden, aber sie machen diese nicht überflüssig: sie bedürfen mehr der Ergänzung und Ver- besserung.

Ich versuche in folgendem die Entwicklung des Interesses und be- sonders dessen formelle Stufen zusammen zu stellen. Die Grundlage dieser Zusammenfassung bilden meine eigenen Forschungen, ausgenommen die erste Stufe (das sinnliche Interesse), für welche ich die Tatsachen aus Shinns "Werke ^) zusammenstellte.

Die Grundlage dießer Zusammenstellung bildeten jene Beobachtungen, die ich an einem Knaben (meinem Neffen) von dessen 6^/2 Jahre bis zu seinem 10^2 Jahre anstellte und dessen Schwester, die ich von ihrem 3V2 Jahre bis zu ihren 8^/2 Jahre in Gödöllö (ein Marktflecken in Ungarn) vom Jahre 1902 1906 beobachtete. Diese beiden Kinder beobachtete ich in jeder Richtung. Zur Beobachtung, wie sich sein Interesse ent- wickelte, nahm ich den Knaben von seinem 5^/2 Lebensjahre, jährlich in eine Schmiede mit, wo wir 3-mal waren, (wegen Familienunglück und meiner Abreise sind diese Besuche in zwei Jahren ausgeblieben), ferner gingen wir auf dieselbe Tenne 4-mal, zur Nußernte jedes Jahr, zur Getreide-Ernte 2-mal. Es sei bemerkt, daß die Kinder diese Sehens- würdigkeiten nur in meiner Gesellschaft besichtigten. Das Mädchen nahm ich nur in den drei letzten Jahren mit. Manchesmal, nämlich im ersten und in den letzten zwei Jahren gesellten sich noch ein oder zwei Spielgenossen bei, die beiläufig in demselben Alter waren.

Die Haltung der Kinder habe ich besonders in zwei Richtungen beobachtet :

Das Erwachen ihrer Aufmerksamkeit (ihr passives Interesse), ihre körperliche Tätigkeit (ihr aktives Interesse).

Meine Beobachtungen habe ich jedesmal pünktlich notiert.

Meine hierauf bezüglichen Wahrnehmungen habe ich noch mit der fortwährenden Beobachtung dieser zwei Kinder, und mit der Beobachtung von drei andern Kindern und mit vielen anderen zufälligen Beobachtungen verglichen und habe über die Entwicklung des Interesses die folgenden Stufen zusammengestellt :

1. Das sinnliche Interesse,

2. Das subjektive Interesse,

3. Das objektive Interesse,

4. Das beständige Interesse,

5. Das logische Interesse.

1) Shinn-Glabbach-Weber : Köperliche und geistige Entwicklung eines Kindes, Langensalza, 1905. T. G. L. Greßler.

203

Das sinnliche Interesse^).

Schon in den ersten Monaten des Lebens erwacht das Gefühl des Interesses beim Kinde. In den ersten zwei Jahren fesseln seine Auf- merksamkeit hauptsächlich sinnliche Eindrücke, solche, welche seine Sinne in lebhafter, und angenehmer Weise beschäftigen. Mit der Zeit tritt auch das Interesse für die Gregenstände auf, aber unter diesen ge- fallen nur solche, welche vermöge einer ihrer Eigenschaften seine Sinne in gesteigertem Maße irritieren.

Beim Säugling charakterisiert die Entwicklung des Interesses hauptsächlich das Gesicht. Die Aufmerksamkeit zeigte sich schon am 25. Tage. Die Aufmerksamkeit begleitet in den ersten drei Monaten : Lächeln, Lallen, rasches Athemholen und Bewegung der Hände. Im 5. Monat sieht das Kind umher, dreht sein Köpfchen, beim Eintritt heftigerer Emotionen, oder beim Ausdruck des Erstaunens. Im 6. Monat greift es nach den Gegenständen, im 7. trachtet es die Gegenstände zu erfassen. Im zweiten Jahre tritt die Neugierde auf, das Kind untersucht die Gegenstände, und fängt an, sich mit diesen selbständig zu befassen.

Was den Gegenstand des Interesses anbelangt, so erwecken das- selbe ursprünglich das Licht, das Sonnenlicht, der Glanz der Gegen- stände und lebhafte Farben. Erst im 5. Monate interessiert sich das Kind für Gegenstände und besonders für solche, die sich bewegen. Im zweiten Halbjahre erwuchs das Interesse für Tiere, später dasjenige für Naturerscheinungen, für das bewegte Laub der Bäume, die be- leuchteten Wipfel der Bäume, die Wogen des Meeres.

Das Gehör. Das Interesse für Töne tritt weit später auf, als dasjenige für Lichteindrücke. Das Kind achtete erst im 7. Monat auf plötzliches Geräusch. Unzweifelhaft zeigte sich erst im 6. Monat das Interesse für Töne, wenn das Kind zum Lallen anfängt. Da interes- sierte es seine eigene Stimme und alle jene Töne, welche es hervor- brachte z. B. Läuten, Tellerklirren, Trompeten. Erst im zweiten Jahre interessierte sich das Kind für die Laute anderer, für Husten, Niesen; im dritten Jahre für gereimte Wörter und Melodien.

EormeU äußert sich das Interesse im 4. Monat als Aufmerk- samkeit, im 5. als Staunen. Im zweiten Halbjahre beruhigte

1) Das schon öfter erwähnte Werk Schinns befaßt sich unter den folgenden Kapiteln mit dem Interesse des Kindes. Das Interesse am Sehen: Seite 119 und 152. Das Interesse für Bilder: Seite 150. Das Interesse am Hören: S. 191. Das Interesse des Gefühls: Seite 211. Das Interesse des Schmerzes : Seite 225. Das Interesse für den Geschmack: Seite 251. Das Interesse des Geruchs: Seite 266.

204

sich das Kind auf Trommeln, auf das Ticken und auf die Schläge der Uhr.

Das Grefühl (richtiger: die Tasteindrücke). Das Interesse für das Gefühl erwacht erst spät im Kinde. Im 5. Monat betastet es neugierig seinen eigenen Kopf, Ohren, Nase; im 8. Monat entdeckt es seine Haare, aber besonders interessierte es sich für die Haare und Bart seines Vaters und seines Onkels. Im 10. Monat fand es viel Vergnügen daran seine Stiefeln am Teppich zu wischen. Der Schmerz hat seine Aufmerksamkeit nur auf Minuten in Anspruch genommen. Doch jeden Schmerz heilte ein Kuß.

Der Greschmack. Das Kind interessierte sich erst mit 20. Monat für Eßwaren, besonders für Süssigkeiten.

Das Interesse für Geruch entwickelte sich unter allen Eindrücken am spätesten. Erst im dritten Jahre wurde bemerkt, daß das Kind mit Genuß an Blumen roch.

Shinn zog aus ihren Beobachtungen den Schluß, daß beim Kinde vom Anfange an die höheren Sinne (Gefühl und Gehör) die Hauptrolle spielen. Das Gefühl des Hungers ausgenommen, hatte kein niedriges Gefühl einen solch' ständigen Eindruck erweckt, als bei Erwachsenen.

Die Stufe des subjektiven Interesses.

Beim Kinde vermindert sich das Gefühl für rein sinnlich e Eindrücke im Alter von über zwei Jahren und das Kind interessiert sich später mehr für die Gegenstände selbst. Aber es charakterisiert sein Interesse für Gegenstände bis zu einem gewissen Alter, daß sich das Kind für die Dinge nicht wegen ihrer objektiven Merkmale, sondern wegen ihrer Verhältnisse zu seinem eigenen Bewußtsein interessiert. Wir können schon bei einem neunmonatigen Kinde bemerken, daß ihm seine Peitsche nicht darum gefällt, weil es mit ihr schlagen kann, sondern darum, weil es sie im Mund nehmen und saugen kann. Später wenn schon die geistigen Motive des Kindes funktionieren, interessiert es das Stück Holz nicht darum, weil man damit heizen kann, sondern darum, weil es damit, wie mit einer Puppe oder einem Schweine spielt; es hat kein Interesse für die Naturbestimmung der Fäden des Mais, sondern es spielt damit und macht seiner Puppe Haare daraus. Diese subjektive Richtung dauert beiläufig bis zum Alter von 7 Jahren.

In Folge dieser Subjektivität haben Gegenstände in den ersten Jahren des Kindes nur in dem Verhältnis Wert, inwiefern dieselben seinem Selbstätigkeitstriebe genügen.

Als ich mit meinem 6V2 jährigen kleinen Neffen zuerst in der Schmiede war, interessierte ihn nichts als ein Hammer, mit (Jem er die

- 205

heramliegenden Eisenabfälle schlug und so Proben seiner Körperkraft lieferte; in der Werkstätte wurde jedocli der Reif eines Rades hergestellt, was doch weit interessanter war, als seine Beschäftigung. Auf der Tenne, wo drei Pferde das Getreide droschen, war ihm ein Strohhaufen viel wichtiger, wo er Purzelbäume schlug. Bei der Besichtigung der Erntearbeiten interessierte ihm im ganzen eine Fasanenfeder, welche den Hut eines Schnitters schmückte, dessen Grund war, daß er im Walde leidenschaftlich Federn sammelte.

Auf dem Bahnhofe in einer kleinen Stadt, wo aus Anlaß einer patriotischen Feier eine große Volksmenge den ankommenden Zug er- wartete, interessierten einen kleinen Ejiaben mit ungefähr 2 7* Jahren nur die Eisenbahnschienen, weil er sich auf denselben im Springen übte. Auch bemerken wir bei Kindern, daß sie der Fußschemel und die Stiege nur darum interessiert, weil sie von demselben herunter springen können; die TJmzäumung und der Baum aber darum, weil sie auf dem- selben klettern können.

In der Zeit, wo beim Kinde die Fantasie mächtig zu wirken beginnt schätzt es die Gegenstände je nachdem dieselbe seine Fantasie be- schäftigen. Die Fantasie als innere Tätigkeit hat einen höheren Wert, aber sie ist ein eben so mächtiger Faktor des Interesses, als die äußeren Handlungen. Die Spiele des Kindes zeigen uns viele Beweise. Die Sessel sind dem Kinde nicht darum wert, weil man sich darauf setzen kann, sondern weil man daraus Eisenbahnzüge zusammenstellen kann. Der auf dem Hofe liegende Sandhaufen dient zu Bauzwecken, doch darum kümmert das Kind sich wenig; ihm dient der Sand zum Spielen. Die von der Fantasie ausgeführten Tätigkeiten sind dem Kinde ebenso wertvoll, wie seine wirklichen Handlungen. Das Kind kann sich während des Essens dadurch unterhalten, daß es mit den Fingern am Tischtuch zupft, seine Finger an den Mund legt, als ob es essen würde, wie das meine 5 V2 jährige Nichte tat. Dasselbe kleine Mädchen spielte, als es 7^2 Jahre alt war, so daß es sein Tüchelchen in den Sand legte, so als ob sie es in das Wasser tauchte und rieb damit die Gartenbänke ab, wie wenn sie scheuern würde. Unterdessen sprach sie zu sich selbst : „Stubenmädchen, das Zimmer soll schön werden!" Diese Illusion be- reitete ihr großes Vergnügen. Die durch innere Impulse hervor- gerufenen äußeren Handlungen erwecken im Kinde so lebhafte Gefühle, daß diese Handlungen ohne praktische Resultate die Aufmerksamkeit ganz fesseln.

In dieser Zeit hat das Interesse des Kindes auch für die Objekte und Erscheinungen der Natur ganz subjektive Beziehungen. Es beruht ganz auf organischen Instinkten das intensive Interesse des Kindes

206

für Speisen oder die Abneigung gegen dieselben. Dieses Interesse fängt im 2. Ijebensjahr an und dauert das ganze Kindesalter hindurch. Unzähligemale erwacht im Kinde die Frage bei einem Gegenstande, ob er wohlschmeckt, oder nicht.

Bei solchen Natur-Gregenständen, wo diese Frage nicht in Betracht kommen kann, zeigt das Kind nur dann Interesse, wenn es diese seiner Gefühlswelt anpassen kann. Je mehr Beziehungen das Kind zwischen der äußerlichen Situation und seiner Gefühlswelt entdecken kann, umso lebhafter ist sein Interesse und ist dann ein vollkommenes, wenn die Projektion seiner Gefühle auf die äußeren Erscheinungen zu Stande kommt. Doch dann ist die Fantasie auch schon notwendig. Meine kleine 4^/2 jährige Nichte sah abends 6 Uhr die im Garten arbeitenden Ameisen, sie bückte sich zu ihren herab und verfolgte jede ihrer Bewegungen mit großer Aufmerksamkeit, unterdessen sprach sie : „Es ist Abend, sie bleiben nicht draussen. Die Armen fliehen nachhause. Der Wolf könnte sie fressen ! Diese ist noch klein, sie kann nicht die Stiege hinunter gehn" ! Dann wollte sie mit ihrem Fingerchen das Ameisen-Haufen-Loch vergrößern, verstopfte aber dessen Öffnung ganz ; von einer sich unter eine Scholle verkriechenden Ameise glaubte sie diese wolle mit ihr Verstecken spielen. Sie wollte sie um jeden Preis hervorstöbern, dabei sprach sie: „Spitzbube, Spitzbube". Das kleine Kind hatte seine subjektiven Vorstellungen und Gefühle auf die Ameisen übertragen, dadurch entstand eine lebhafte Sympathie und Interesse. Dasselbe kleine Mädchen hatte gerade ein Jahr später am selben Orte die Ameisen erblickt, aber sie hatte für dieselben nicht mehr die früheren Sympathien. Sie fing sie an zu zertreten und rief: „Ich töte sie, ich töte sie"! „Warum?" „Weil sie zwicken". Ihr Interesse verfolgte schon neuere Richtungen, zu welchen sich schon objektive Erfahrungen gesellten.

Die Ursachen verschiedener Erscheinungen faßt das Kind auch ganz subjektiv auf. Die Begründungen der Erscheinungen beruhen bei einem 3 4 jährigem Kinde auf keiner realen Basis; sie bezeichnen meist die subjektiven Gefühle des Kindes. Ein Vater konnte seinem 5 jährigen Söhnchen absolut nicht beibringen, warum der Bär auf vier Füßen geht? Als der Vater, nachdem er vier annehmbare Gründe hierfür an- geführt hatte, jede weitere Erklärung versagte, löste das Kind das Problem in folgender Weise selbst : „Weil er böse war, wurde er be- straft". Es ist eine bekannte Sache, daß Kinder auch die Ursachen personifizieren. Einem dreijährigen Kinde konnte seine Mutter nicht genug plausibel erklären: „Warum ist in der Donau Wasser?" Das Kind erklärte es folgend: „Jemand hat sie angefüllt." Ein 4 jähriges,

207

kleines Mädchen fragte seine Mama: „Nicht wahr, das lebende Zünd- hölzchen stirbt wenn es ins Wasser fällt." Die bekannte Neugierde der kleinen Kinder ist bei weitem kein Wissensdrang, wie das Viele meinen, sondern die Offenbarnng der causalen Instinkte.

Es war davon die Rede, daß den Säugling blos sinnliche Ein- drücke interessieren. Das Interesse an rein sinnlichen Eindrücken kommt oft auch noch später (2 6 Jahre) vor, aber auf ganz subjektiver Grundlage. Die Eindiücke interessieren das Kind infolge solcher Zu- sammensetzungen, deren Elemente den Begriff des Schönen bilden. Besonders interessiert sich das Kind für die rythmischen Abwechslungen der sinnlichen Eindrücke, für den Rythmus der Töne, der Muskel- bewegungen und der Tastgefühle, später für proportionierte Gestalten, für regelmäßige Abwechslung der Höhe der Töne, für ihr Steigen und Fallen, für die Zusammensetzungen der Melodien und der Farben. Hieraus sehen wir, daß nicht der sachliche Inhalt, sondern der aus den Gefühls-Beziehungen entstandene intellektuelle Eindruck das Interesse erweckt. Gegenstände gefallen ihm, weü sie schön sind.

Das Interesse des Kindes äußert sich in diesem Alter mit heftigen Gefühlen verbunden, welche sehr mannigfaltig sein können und zwar: Freude, Genuß, Sympathie, als Gefühle des positiven Interesses, oder deren Gegenteil: Schmerz, Angst, Abneigung, Ekel, als Gefühle des negativen Interesses. Das Interesse begleitet lebhafte Tätigkeit, aus- drucksvolle Bewegungen sowie: Gesten, Weinen, Laufen, Springen. Es ist noch eine Eigentümlichkeit in diesem Alter des Kindes: die Ab- wechslung. Mit dem Wechsel der inneren Anregung wechselten auch die Richtungen des Interesses. Die Aufmerksamkeit einer spielenden Kinder-Gruppe wird plötzlich dnrch einen dahinhüpfenden Frosch auf ganz andere Bahnen gelenkt, und die ganze Schar Kinder wird sich mit dem Frosch befassen, ihn verfolgen. Auch wenn der äußere Gegen- stand imverändert bleibt, kann oft ohne Übergang eine Veränderung in der Phantasie vorgehen. Z. B. ein Briefbeschwerer, welcher die Form der Eisenbahn-Schienen darstellte, befaßte die Phantasie eines 6jährigen Kindes in manigfaltiger Weise, es sah in demselben eine Puppenkanone, bald einen Tunnel, und zuletzt den Sockel eines Monumentes.

Die Stufe des objektiven Interesses.

Die Zeit des objektiven Interesses fällt auf das 7. bis zum 10. Jahre.

In der Zeit des subjektiven Interesses üben die äußeren Eindrücke jenachdem und in solchem Maße Interesse, in welchem sie fähig waren im Kinde äußere und innere Tätigkeit hervorzurufen: der Gegenstand des Interesses ist also nicht der Zweck der Tätigkeit, sondern die

208

Handlung an und für sich bildet denselben. Vom 6. bis zum 7. Jahre bestimmt den "Wert der Tätigkeit mehr der sachliche Inhalt.

Das Interesse wird also nicht von subjektiven Eindrücken hervor- gerufen, sondern von ihrem sachlichen Wert. Der Idealismus des Kindes schwindet und es beginnt die Zeit der realenTätigkeit. Die Glegen- stände verlieren ihren symbolis chen Wert und wirken durch ihren realen Wert auf das Kind. Das Kind begnügt sich nicht mit dem Nachahmen der Tätigkeiten und symbolischer Darstellung, sondern es knüpft prak- tische Zwecke an dieselben. Es begnügt sich nicht mit dem Spiele, sondern es will wirklich handeln. Es findet mehr Ereude an dem wirk- lichen Fahren und Kutschieren, als an dem Spielfahren. Es klettert nicht darum auf den ßaum um seine Kraft zu erproben, oder die Er- wachsenen nachzuahmen, sondern, daß es Erdbeeren esse, Nüsse herunter- schlage, oder Nester ausnehme. Es begnügt sich nicht mit einem Spiel- gewehre, sondern es wünscht einen Pfeil, eine Schleuder, oder gar ein Flobertgewehr, mit welchem es Hunde, Katzen, Hühner oder Vögel schießen kann. In der Zeit schätzt das Kind die Gegenstände nach ihrem praktischen Wert.

In dieser Zeit fangen schon die sozialen Beziehungen seiner Hand- lungen an. Das Kind sucht und findet auch in dieser Zeit schon oft selbst bei einer gemeinsamen Handlung den Gregenstand, wo es in der Gemeinsamkeit, nach den Prinzipien der Arbeitseinteilung mitwirken kann. Ich erzählte, daß mein kleiner Neffe, als wir das erste Mal die Schmiede besuchten, (als er 6 ^/2 Jahre war) sich um die dort verrichtete Arbeit gamicht kümmerte und weiter spielte ; ebenso verhielt er sich gegen die Schnitter bei der Ernte. Als er 9 Jahre war, kam er schon selbst darauf, dem Schmiede den Blasbalg zu treten und so zu helfen. Auf dem Felde drehte er die Hand-Reiter, und half bei der Ernte das Ge- treide binden und legen ; er interessierte sich für die Werkzeuge, mit denen er an der gemeinsamen Arbeit teilgenommen hat.

Wir können also die Hauptmerkmale des objektiven Interesses so bestimmen: den Mittelpunkt des kindlichen Interesses bilden jene Gegen- stände, welche im Dienste seiner persönlichen, gesellschaft- lichen, praktischen Tätigkeiten stehen.

Mit der praktischen Tätigkeit entwickelt sich beim Kinde die Ab- sicht, die wirkliche Welt kennen zu lernen. Ein Charakterzng des kindlichen Realismus ist die Begierde objektive Erfahrungen zu sammeln. Der Beginn des Kampfes mit der Wirklichkeit, zwingt es dazu. Der mächtige Trieb dieses Kampfes bewegt den Wissens- trieb. Das Kind wiU alles Neue kennen lernen, alles was seinen Augen begegnet.

209

Der "Wissensdrang des Kindes ist in dieser Zeit ein nur empiri- scher. Wenigstens bemerkte ich nie, daß ein Kind in dieser Zeit, ja auch später bis zum Jünglingsalter den inneren Zusammenhang der äußeren Erscheinungen gesucht hätte. Die beobachteten Kinder haben jedes Jahr, bei jedem einzelnen Besuche in der Schmiede,, auf dem Felde und anderwärts immer nur das beobachtet, was die Maschinen arbeiten und wie die Menschen oder die Tiere gewisse Arbeiten verrichten, z. B. wie die Hufe gemacht und aufgeschlagen werden, wie die Garben ge- bunden werden, wie die Ochsen das Getreide ziehen; sie beobachteten die Konstruktion der Maschinen insofern, als diese mit ihrer Funktion im Zusammenhange stand.

Die Entwicklung der Betrachtung zeigte zwei Eichtungen. Die eine Bestrebung war, die Beobachtungen zu differenzieren (Analysis), die zweite Richtung der intellektualen Entwicklung war, daß die Kinder stufenweise einen weiten Kreis der Beobachtungen zusammenfaßten (Synthesisj. Besonders in dieser synthetischen Tätigkeit war die successive Entwicklung bemerkbar. Als ich meinen kleinen Neffen zum ersten Male mit 6 ^/a Jahren in die Schmiede führte, beachtete er nur das Hämmern und ahmte dasselbe nach; drei Jahre später beobachtete er ausdauernd, aus eigenem Antrieb, das Bohren und Aufnageln eines Eadreifes. im vierten Jahre beobachtete er außer dem schon erwähnten die Herstellung und Befestigung des ganzen Reifes, im letzten (im 5.) Jahre hatte er außerdem noch ununterbrochen die Herstellung und das Auf- schlagen eines Hufeisens betrachtet.

Im Gegensatz zur Synthese entwickelt sich die Analyse der Wahr- nehmungen nicht so entschieden. Die analytischen Beobachtungen des Kindes können ziemlich eingehend sein, wenn sich seine Anschauungen nur auf kleine Kreise beziehen. Bei der Beobachtung von weiteren Kreisen erstreckt sich die praecise Detaillierung nicht gleichmäßig auf das Ganze, sondern nur auf einzelne Teile desselben. Daß das Kind schon frühzeitig der kleinsten Beobachtungen fähig ist, hat seinen Grund in dem Streben, mit den gesehenen Gegenständen etwas zu machen, oder Handlungen nachahmen zu wollen, was das Kind nötigt, eingehende, detaillierte Beobachtungen zu machen. Was aber den Inhalt der An- schauungen betrifft, so können wir hier schon einige Veränderungen wahrnehmen. Nach meiner Erfahrung richtet sich die Aufmerksamkeit des Kjndes zuerst auf den Zweck und Ursprung, erst in zweiter Reihe auf das Material des Gegenstandes.

Man sieht auch eine fortschreitende Entwicklung in der Form des Anschauungs - Vermögens , da die impulsive Anschauungswahl der Dinge stufenweise in bewußte Betrachtung übergeht. Diese Ent-

- 210

Wicklung ist in enger Verbindung mit der Umwandlung des Gedächt- nisses und mit der Entwicklung der Aufmerksamkeit.

Was die Entwicklung des Gedächtnisses betrifft, so tritt eine eigen- tümliche instinktmäßige Form dieser Geistesfunktion am Ende des subjektiven Interesses auf, daß heißt im Alter von 5 7 Jahren. Das besteht darin, daß das Kind spielt mit seinem Gedächtnisse, besonders übt es oft ganz zwecklos das Wortgedächtnis. Das 5 6 jährige Kind lernt leidenschaftlich gerne Verse, oft lernt es auch ganz sinnlose Assoziationen. Ich kannte einen 6 jährigen Knaben, der den ganzen Kalender auswendig lernte. Meinem 7 jährigen Neffen bereitete es Spaß den Eisenbahn- Cur ier auswendig zu lernen. Diese eigentümliche Übung des Erinnerungsvermögens schwindet mit der Zeit und macht der prak- tischen Erinnerung Platz. Diese Veränderung tritt dann ein, wenn die Lebensfunktionen des Kindes eine reale Richtung einschlagen, also in der Zeit des objektiven Interesses. Die Erinnerung ist aber anfangs ganz impulsiv, d.h. sinnlicher Natur. Das Kind kann längere Er- fahrungen nur dann reproduzieren, wenn es dieselben wieder zu seinen Sinnen bekommt. Meinen kleinen Neffen fragte ich vor unserem dritten Besuch in der Schmiede, an was er sich von den zwei ersten Besuchen erinnere? Die Antwort war : „An nichts." Als wir aber in die Schmiede eintraten, war er ganz orientiert und war ganz zu Hause. Vor dem vierten Ausflug begann er Verschiedenes zu erzählen, so erwähnte er: das Glühendmachen und Abkühlen des Eisens. Das Kind war da schon fähig, ohne sinnliche Eindrücke einige Bilder in seiner Erinnerung wieder wachzurufen. Ahnliches bemerkte ich bei allen jenen Ausflügen, die sich jährlich wiederholten. Denn wenn das Kind seine sinnlichen Eindrücke schon abstrakt wieder erwecken kann, entwickelt sich in demselben die Stufe der verständigen Erinnerung. Diese ver- ständige Erinnerung befähigte das Kind, daß es seine Aufmerksamkeit schon in vorhinein auf gewisse Dinge richtet und seine Betrachtungen zielbewußt vollstreckt.

Was die Aufmerksamkeit betrifft, so hat diese anfangs beim Kinde keinen passiven Charakter. Das Interesse der Kinder äußert sich besonders auf der Stufe des subjektiven Interesses in äußeren Handlungen. Aber am Ende dieser Stufe tritt eine eigentümliche Er- scheinung ein, oft stufenweise, oft spontan ohne Übergang, wie das bei meinem Neffen mit 5 Va Jahren geschah. Der Knabe fing an sich un- gemein für Naturgegenstände und Naturerscheinungen zu interessieren. Wenn er eine neue Blume, Obst, Schwamm, Moos, Käfer oder ein Vogel- nest erblickte, rief er voll Entzücken: „Oh, wie interessant!" Das Interesse dauerte aber nur solange, als er den Gegenstand beschaute

211

oder in der Tasche hatte, wenn letzteres der Fall war, so suchte sein Interesse einen neuen Gegenstand. Das ist das herumschweifende Interesse, die erste instinktmäßige Äußerung des objektiven Interesses. Dieses Symptom dauert nur eine gewisse Zeit, und die passive Auf- merksamkeit entwickelte sich nicht aus diesem Interesse, sondern aus der praktischen Handhabung der Gegenstände. Das Kind wird durch die praktische Tätigkeit mit den Gegenständen gezwungen, dieselben genau kennen zu lernen, nur so kann es sich mit denselben beschäftigen. Daraus entspringt beim Kinde das Streben, daß es sich mit den Gegen- ständen auch passiv beschäftige. Dieses passive Interesse ist aber in engster Verbindung mit der Aktivität des Kindes. Es geht der Tat voran und bereitet dieselbe vor. Mein kleiner Neffe hat, als er 9 Jahre alt war, erst den Heuschober beobachtet, bevor er darauf spielte; er besah sich die Handreuter von allen Seiten, er betrachtete den Schleif- stein bevor er damit spielte. Das war die Zeit der impulsiven Aufmerksamkeit.

Später folgte die Stufe des passiven Interesses, als das Kind un- abhängig von äußeren Tätigkeiten föhig war seine objektive Aufmerksamkeit auf die Gegenstände zu lenken. Dies beobachtete ich bei dem letzten Ausflug in die Schmiede, als der Knabe die dort vor- gehenden Arbeiten 2 Stunden lang mit großem Interesse verfolgte, ohne daß er, ausgenommen vom Treiben des Blasbalges, äußere Tätigkeit, Arbeit oder Spiel verrichtet hätte; auch die Spiele seiner Kameraden und seiner Schwester konnten seine Aufmerksamkeit nicht von der Besichtigung ablenken. Diese Äußerung des objektiven Interesses ist schon eine höhere Stufe der Entwicklung, welche, da sie durch die Willenskraft unterstützt wird, als selbstbewußte Aufmerksam- keit bezeichnet werden kann.

Die Ausbildung des Gedächtnisses und die der Aufmerksamkeit zeigt aber ähnliche Züge. Nach den nur instinktmäßig hervorgebrachten Tätig- keiten entwickelt sich eine Form der Tätigkeit des Gedächtnisses und der Aufmerksamkeit, welche durch äußere Eindrücke hervorgerufen wird und aus diesen entwickelt sich jenes Gedächtnis und jene Aufmerksamkeit, welche schon durch innere, geistige Motive genährt werden. So kommt das Kind auf die Stufe des bewußten Be- trachtens.

Die Stufen des ständigen Interesses.

Das Kind kann sich ständig für einen Gegenstand oder Tätigkeits- kreis interessieren. Obwohl das Wesentliche des ständigen Interesses das objektive Interesse selbst ist und das Zeitalter des ständigen

212

Interesses mit dem des objektiven Interesses beinahe zusammen fällt; so müssen wir doch dieses Interesse, welches inhaltlich und formell eine mehr entwickelte Stufe bezeichnet, von dem rein objektiven Interesse unterscheiden, um so mehr, weil das ständige Interesse mit der Aus- bildung des individuellen Charakters in engem Zusammenhange steht.

Das ständige Interesse zeigt sich mehr oder weniger bei jedem Kinde im Alter von 10 15 Jahren. Von jenen fünf zu verschiedenen Familien gehörenden Kindern, welche ich Gelegenheit hatte längere Zeit zu beobachten, sah ich bei einem 10 jährigen Knaben großes Inte- resse für die Jagd, bei zwei 10 jährigen Knaben für Marken sammeln, bei einem 12 jährigen für Glashandel, bei einem 11jährigen zeigte sich ständiges Interesse für Zeichnen und Malen (im kleineren Maße), bei einem 8 jährigen Mädchen konnte ich ein solch ständiges Interesse nicht bemerken.

Das ständige Interesse äußert sich meistens in der ständigen Tätigkeit des Kindes. Für was sich das Kind ständig interessiert, damit befaßt es sich auch. Je mehr und je vielseitiger das Kind sich mit einem Gegenstand befaßt, desto intensiver ist sein ständiges Interesse. Unter dieser ständigen Beschäftigung sind äußere Handlungen zu ver- stehen, welche aber lebhafte, innere Handlungen und Aufmeiksamkeit hegleiten. Diese Aufmerksamkeit bezieht sich teils auf die eingehende Erkenntnis der äußeren Gegenstände, sie wirkt also nach außen, teils aber bezweckt sie, daß das Kind durch die in der Vergangenheit ge- sammelten Erfahrungen seine Handlungen regelt. Das ist die nach Innen wirkende Tätigkeit des Interesses, die das Kind dazu treibt, daß es über den Wert seiner eigenen Handlungen urteilt, es wählt zwischen den Bewegungen und Mitteln, und vollbringt nur jene Hand- lungen, die es zum Ziele führen. Mit einem Worte : die aus dem ständigen Interesse sprießenden Handlungen führen das Kind zum Selbstbewußtsein und zur Stufe der Selbstzucht.

Mein kleiner Neffe betrieb schon mit 8 Jahren mit großer Vorliebe und Erfolg den Krebsenfang. Er selbst wählte den Ort, wo er seine Krebsnetze legte und vollbrachte mit disziplinierter Präzisität seine bald vorsichtig langsamen, bald blitzschnellen Bewegungen. Mit 10 Jahren iatte er schon große Übung in der Jagd. Er nahm an der Treibjagd teil, pürschte im Garten und Wald und näherte sich mit großer Vorsicht dem Wilde, er konnte seine sämtlichen Muskeln und seine ganze Seelen- kraft auf ein Ziel konzentrieren und seine Handlungen zu rechter Zeit vollbringen. Der sonst sehr lebhafte Knabe war im Stande sich bei dergleichen Sport so zu mäßigen, daß er nie die Jagdregeln übertrat.

213

Die Richtung und formale Entwicklung der geistigen Funktionen bleiben beim Kinde dieselben wie auf der Stufe des objektiven Interesses. Die geistigen Funktionen behalten auf weiteres ihren empirischen Charakter. Aber der Empirismus kann innerhalb der Tätigkeiten des ständigen Interesses eine hohe Stufe erreichen. Der Geist des Kindes zeigt besonders in seinem synthetischen Wirken eine bedeutende Ent- wicklung. Einerseits bewegen das Kind seine Erfolge, anderseits seine Mißerfolge, daß es immer mehr und mehr Tätigkeiten unter einem konkreten Ziele zusammenfaßt. Das Kind lernt nicht nur, daß es im Dienste eines einzigen Zweckes seinen Gang, seine Handbewegungen, seine Haltung, den Gebrauch seiner Sinne und seine Ideen-Assoziation einheitlich koordiniere, sondern es werden inmier neue Tätigkeiten mit der Haupthandlung verbunden. So entstanden bei meinem kleinen Neffen in Verbindung mit seiner Vorliebe für die Jagd folgende neue Be- tätigungen: das Herstellen der Patronen, das Auseinandernehmen und Zusammenstellen des Ge-^ehres, das Zeichnen von Jagdszenen, auch be- schrieb er solche, führte ein Jagd-Tagebuch und las Jagd-Beschreibungen, biologische und überhaupt naturwissenschaftliche Bücher. Mit einem Worte: es entstehen aus der Synthese der äußeren und inneren Hand- lungen weitere und umfangreichere zentralisierende Tätigkeiten. Aber der Kreis der Handlungen erweitert sich nicht nur extensiv, sondern auch intensiv. Durch das bewußte Weglassen oder Üben einzelner Be- wegungen werden die Handlungen selbst immer vollkommener. Die Beobachtungen und Distinktionen erstrecken sich immer auf feinere Details; das Erinnerungsvermögen wird klarer und das Kind bekommt einen, vom konkreten Standpunkte betrachtet, gut ausgearbeiteten, zu funktionieren immer bereiten Kenntniskreis. Infolge der Konzentration der analytischen und s^Tithetischen Tätigkeiten erhebt sich das empirische Wissen und Können des Kindes in den konkreten Kreisen gewisser Tätig- keiten bis zu einer Höhe der Fachbildung. Die beiden 10jährigen Kinder, deren Leidenschaft für Markensammeln ich beobachtete, kennen sämtliche Staaten, deren geographische Lage, sie kannten die verschie- denen Geldwerte und sie wußten die Kennzeichen der verschiedenen Briefmarken.

Das ständige Interesse kann beim Kinde auch mehrere Mittelpunkte haben, die von einander ganz unabhängig wirken. Mein kleiner Neffe hatte vorigen Sommer folgende ständige Beschäftigungen: jagen, Krebse fangen, Schmetterlinge sammeln, Marken sammeln und Schwimmen. Das ständige Interesse der Kinder bindet den Willen nicht in so entschie- dener Weise, wie die Leidenschaften der Erwachsenen.

Meumann, Exper. Pädagogik. V. Band. 15

214

Die Stufen des logischen Interesses.

Es entwickelt sich im Jünglingsalter und besteht darin, daß sich der Betreffende für den geistigen Inhalt der Personen, Sachen oder Er- scheinungen interessiert ; seine Aufmerksamkeit erregt der innere Zusam- menhang der Erfahrungen. Diese Art des Interesses ist, weil es sich auf den Ideen-Inhalt der Dinge bezieht, als ein höher stehendes zu be- trachten, da es sich in Patriotismus, ästhetischem, religiösem Gefühl und in Vorliebe für Wissenschaft äußert.

Die primitiven Stadien zeigen sich in Form von Instinkten schon in früheren Zeiten. Das Kind beurteilt nämlich die äußeren Ur- sachen dieser höheren Gefühle ganz objektiv, nur vom Standpunkte aus, ob diese äußeren Eindrücke es angenehm, oder unangenehm berühren und diese individuelle "Wirkung der Gefühle auf das Interesse beruht ganz auf der Stärke dieser angenehmen oder unangenehmen Gefühle. Aber auch im Jünglingsalter treten diese höheren objektiven Gefühle nicht sogleich auf. Das Fassungsvermögen wird zwar infolge der Ent- wicklung des abstrakten Denkens fähig zur Auffassung der Gedanken; aber der infolge der Pubertät mit großer Vehemenz auftretende Ge- schlechtstrieb, und der Einfluß der großen Gesellschaft bewirkt ein in heftigen Extremen schwankendes, tiefes Gefühlsleben. Dieses lebhafte Gefühlsleben bewirkt zum Gegensatze der Objektivität des schwindenden Kindesalters ein neues subjektives Leben, welches gewaltig auf die Phantasie wirkt.

Hieraus folgt jene Eigenschaft der Seele der Jugend, daß den Grad des Interesses für äußere Gegenstände jene Wirkungen bestimmen, welche diese Gegenstände auf ihr Gefühlsleben ausüben ; welche also ihr Gemüt in Emotion zu bringen vermögen. Der Jüngling ist also schon fähig den geistigen Wert der gesellschaftlichen Erscheinungen aufzunehmen und sich für dieselben zu interessieren, aber er ergänzt diese Ideen mit den Gebilden seiner Phantasie, gibt ihnen einen subjektiven Charakter und personifiziert sie. Das Interesse des Jünglings wendet sich an ein- zelne hervorragende, ideale, geschichtliche Personen, oder auch lebende Menschen in Form von schwärmender Begeisterung.

Später führt den Jüngling die selbstbewußte Stimmung, in der Ge- sellschaft selbständig zu leben, immer mehr zum praktischen Leben, sein ideales Interesse ändert sich in diesem Sinne. Es bestimmen seine Ideale die praktischen Umstände des Lebens. Statt des abstrakten Idealismus wird der Mittelpunkt seines Interesses das Praktische und Nützliche. Ks entfaltet sich eine gewisse Objektivität in der Beurteilung der Dinge, welche ihn zu den Ideen der Wahrheit führt, welche fortan sein Interesse lenkt.

215

Formell erreichen wir die höchste Stufe des logischen Interesses, wenn wir unter dem Einfluß einer gesellschaftlichen Klasse, oder unter der "Wiederholung einer Idee, oder durch die innere Kraft unseres eigenes Ichs, zum Mittelpunkte unseres ganzen zeitigen Lebens, eine gewisse Idee erheben, welche unsere sämtlichen körperlichen und geistigen Kräfte beberrscht und unseren Schaffensdrang zu Schöpfungen anspornt. Das ist die stabile Stufe des logischen Interesses.

Pädagogische Beziehungen.

Mein Thema hat solche Natur, welche zu pädagogischen Folgerungen spornt. Bevor ich aber aus meinen Erörterungen pädagogische Bezie- hungen hervorhebe , will ich noch meine Ansicht erwähnen , daß ich alle neuen Resultate der Forschungen nur dann für pädagogisch an- wendbar halte, wenn diese Resultate auch von anderen Forschungen be- stätigt werden. Nachdem aber meine Forschungen mit den in der Ein- leitung mitgeteilten Resultaten übereinstimmen, so fühle ich mich doch berechtigt, einige pädagogiscbe Schlüsse vorzutragen, denen ich aber nur persönlichen Wert zuspreche.

Ich gehe von dem Grunde aus, daß die Erziehung nur dazu dient um mit künstlichen Mitteln das Kind gewissen gesellschaftlichen Ideen zuzuführen. Wenn wir jetzt das Ziel, welches ausser den Bereich meiner Forschungen fällt, außer Betracht lassen, so folgt aus dem obigen Satze zweierlei :

1. Wir müssen die Stadien der Entwicklung des Kindes beobachten, und nach diesen Stadien bestimmen wir die Maßregeln der einzelnen pädagogischen Tätigkeiten.

2. Wir müssen die natürlichen Einflüsse, welche die Entwicklung des Kindes bestimmen, beobachten und nur innerhalb dieser können wir erst unser pädagogisches Einwirken zur Geltung bringen.

Wir sehen, daß das Kind auf jeder Entwicklungsstufe etwas Cha- rakteristisches hat, jede Stufe stützt sich auf die ihr vorangehende und jede folgende Stufe wirkt umso kräftiger, je intensiver die Entwicklung auf der früheren Stufe war. Im Interesse der Entwicklung hat jede Stufe ihre Berechtigung, und wenn wir eine der andern aufopfern oder vorziehen wollten, wäre das unvernünftig und ungerecht. Daraus folgt, daß jede Stufe besondere pädagogische Maßregeln fordert. Die Erschei- nungen einer jeden Stufe brauchen andere pädagogische Förderungsmittel, wir müssen die günstigen Wirkungen fördern und die hemmenden Ein- drücke fernhalten. Das ist die natürliche Aufgabe der Erziehung. Wenn wir unseren Gegenstand bei dieser Beleuchtung betrachten, wird die vernünftige Erziehung des Interesses darin bestehen, daß wir die

15*

216

natürlichen Stufen der Entwicklung mit zur rechten Zeit angewendeten künstlichen Einwirkungen fördern.

Die Stufe des sinnlichen Interesses. Nachdem die Bedeutung der ersten Stufe der Entwicklung darin besteht, daß die Sinne in Grebrauch gestellt werden, und mit der äußeren "Welt in Beziehung gebracht werden, dürfen deshalb wir das Kind den Eindrücken der äußeren Welt nicht entziehen, wir müssen sozusagen die Berührung mit der äußeren Welt fördern und müssen dem Interesse des Kindes, insofern es seiner Gresundheit nicht schadet, freien Spielraum gewähren. Bringen wir das Kind mit den Gegenständen, für die es sich interessiert, in Berührung.

Die Stufe des subjektiven Interesses.

Die großen Emotionen und deren unstätes Hin-und-her-flackern auf dieser Stufe ist nichts anderes, als die mehr oder weniger unbewußte Äuße- rung der ursprünglichen Neigungen. Bei jedem Moment des Abwechseins des Interesses kommt ein neuer Trieb in Bewegung, z. B. : der Trieb des Anpassens, des Angriffes, der Verteidigung und anderer Lebenstätig- keiten. Die aufgeweckten Triebe halten wiederum die Kräfte der inneren und äußern Organe in fortwährender Bewegung nach dieser oder anderer Richtung. Der Wert der Entwicklung des subjektiven Inter- esses besteht darin, daß das Kind seine Triebe nacheinander, oder neben- einander fürs Leben entwickelt; schwache Triebe werden gekräftigt, schlummernde erwachen. Mit einem Wort: das subjektive Interesse be- wirkt es, daß alle originellen Veranlagungen zur Geltung kommen. Des- halb ist die Aufgabe der Erziehung auf der Stufe des subjektiven Inter- esses, die Aufmerksamkeit des Kindes in solche Richtung zu lenken, daß alle seine Triebe zur Geltung kommen.

In dieser Zeit darf man das Kind nicht in seinen Spielen verhin- dern; wir müssen im Gegenteil trachten, daß wir das Kind beim Spiele vielseitig beschäftigen. Geben wir dem Kinde Gelegenheit, die verschiedensten Spiele mit dem mannigfaltigsten Spielzeug zu genießen.

Die Stufe des objektiven Interesses, Der siegreiche Kampf der Menschen gegen die Natur gewinnt zuerst auf der Stufe des objektiven Interesses seine entsprechende, ernste Ge- staltung. Das Kind strebt schon zielbewußt nach den entsprechenden konkreten Zwecken. Diese Stufe bedeutet nicht im Vergleiche mit der vorigen ein verlorenes Paradies, sondern sie ist der Eintritt in eine höhere Lebenssphäre. Die Aufgabe der Erziehung auf dieser Stufe ist: die

217

Annäherung des Kindes zur Natur und den Eintritt in dieselbe zu fördern. Das ist die Zeit der biologischen Erziehung. Da die realistischen Triebe und Handlungen im geistigen Leben des Kindes zu empiristischen Wahrnehmungen führen: so ist hier die Hauptaufgabe des Erziehens der Unterricht. Doch wird der Unter- richt erst dann natürlich und erfolgreich sein, wenn er auf der passiven und aktiven Berührung mit der äußeren Natur beruht, deutlicher gesagt, wenn er auf unmittelbarer Anschauung und manueller Tätigkeit beruht. Der Unterricht wird nur dann richtig sein, wenn er wenigstens im Anfange dieser Stufe nicht intensiv, sondern extensiv ist und wenn er mehr durch passende Gelegenheit, als durch logische, systematische Einteilung und Ordnung bestimmt wird.

Das ständige objektive Interesse.

Wenn das Interesse des Kindes sich ständig mit einem Handlungs- oder Sachkreis befaßt, so werden die verschiedenen Interessen und Er- fahrungen neuerdings gruppiert und es entsteht eine Centralisation um einen gewissen Mittelpunkt. Das Gleichgewicht der Interessen und Er- fahrungskreise kann aber ohne die persönlichen Veranlagungen und ohne das Einwirken der eigenen Umgebung nicht zu Stande kommen. Das Wählen in den Taten erzeugt das individuelle Selbstbewußt- sein. Mit einem Worte, es ruft das ständige Interesse die Entwicklung der individuellen Persönlichkeit des Kindes hervor, die aber später in der Zeit des bewegten Gemütslebens des Jünglingsalters unter dem Ein- wirken der Gesellschaft wesentliche Veränderungen erleidet. Daraus folgt, daß wir die im Kindesalter sich zeigenden persönlichen Veranlagungen nicht übergehen, oder gar unterdrücken dürfen, auch dann nicht, wenn sie uns von unserm Standpunkt aus wertlos dünken. Wir müssen also trachten, daß die individuellen Kräfte zur Geltung kommen.

Auch beim Unterrichte müssen wir das ständige Interesse des Kindes berücksichtigen, wir können dasselbe trefflich zum Aneignen intensiver Kenntnisse gebrauchen ; der Unterricht wird alsdann die Kenntnisse organisch ergänzen und vervollständigen. Nur in dieser Zeit tritt die Konzentration auf, als ein Grundsatz der Unterrichtsmethode.

Da sich das Kind in der Zeit des ständigen Interesses noch nicht für den geistigen Inhalt der Handlungen, sondern für deren konkrete Ausführung und deren Zweck interessiert, so muß der Konkre- tismus den Grundzug unseres Unterrichtes bilden. Wir sollen unseren Unterricht nach den konkreten Tätigkeiten des persönlichen und Sozial- lebens einrichten, z.B. wir sollen die Ordnung des Volksschulunterrichts auf der Basis der landwirtschaftlichen Beschäftigungen, den Mittelschul-

218

Unterricht auf dem Grunde der Gewerbe- und Handelstätigkeiten auf- bauen. Die Hauptsache ist , daß wir die Kinder nicht mit abstrakten Kenntnissen und wissenschaftlichen Systemen überanstrengen. Abstrak- tionen sind auf dieser Stufe noch nicht zulässig.

Die Stufe des logischen Interesses.

Der Wert dieses Interesses liegt darin, daß es den Menschen zu einem Gliede der Gesellschaft bildet. Wir müssen also das gesellschaftliche Interesse des Jünglings dazu benützen, daß wir ihn zum selbstbewußten, gesellschaftlichen Leben befähigen. Da aber dieses Leben ein Resultat von eingehendem Studium und un- mittelbaren Erfahrungen ist, so ist unsere Aufgabe, den Jüngling jenem Studium zuzuführen, welches im gesellschaftlichen Leben not- wendig ist; wir müssen den Jüngling auch zur gesellschaftlichen Selbstbildung aneifern. Obwohl unser gesellschaftlicher Unterricht einen allgemeinen Charakter hat, so müssen wir doch die Ausbildung des individuellen gesellschaftlichen Selbstbewußtseins dem Jünglinge selbst überlassen.

Neulandstrecken für das pädagogische Experiment.

Von Paul Lang, Würzburg.

In der experimentellen Pädagogik wiederholt sich eine Erscheinung, der man auch sonst begegnen kann : erst so gut wie unbekannt, tritt sie eines Tages ins Leben und erweist sich bald als eine Neuerung, deren Wirksamkeit innerhalb erstaunlich weiter Grenzen der frucht- barsten Einflüsse auf ein bedeutsames Kulturgebiet fähig ist, als eine Betätigung von solcher Selbstverständlichkeit und Notwendigkeit, daß man nur das eine nicht ohne weiteres begreifen kann, wie eine so nahe liegende Methode zur sicheren Fundamentierung unterrichtlicher und er- ziehlicher Maßnahmen Jahrhunderten lebhafter Kultivierung des Erzie- hungsgebietes völlig unbekannt bleiben konnte.

Zwar: experimentiert hat man immer und jederzeit. Es mag kaum einen Pädagogen gegeben haben, der nicht Versuche in dieser oder jener Richtung unternahm, um sich Klarheit über gewisse zweifelhafte Er- scheinungen oder Gewissensruhe hinsichtlich seiner didaktischen und sonstigen beruflichen Gepflogenheiten zu verschaffen. Derartigen Ver- suchen hafteten aber regelmäßig so schwer wiegende Mängel an, daß sie zu verlässigen Resultaten nicht führen und darum auch nicht von Be- deutung für die allgemeine Pädagogik werden konnten. Sie waren nicht

219

Glieder planmäßiger Uutersuchnngsreihen, sondern Kinder des Zufalls, der augenblicklichen Eingebung, des momentanen Bedürfnisses. Sie ge- schahen nicht nach wohldurchdachten Methoden, deren Fähigkeit, eindeu- tige Ergebnisse zu Kefern , geprüft und erprobt war ; die Methoden trugen , wie die Versuche selbst , wohl regelmäßig den Charakter des Zufälligen, Rohen, Unwissenschaftlichen. Die Versuche geschahen auch nie in genügender Zahl und nie mit jener Peinlichkeit in Beachtung gleicher Bedingungen, durch die allein allgemein gültige Schlüsse ge- rechtfertigt erscheinen können.

Wenn sich das behaupten läßt, so ist auch die Ursache der geschil- derten Verhältnisse offenliegend genug, um eine ungerechte Einschätzxmg der vergangenen erziehungsgeschichtlichen Epochen zu verhindern. Man mußte sich früher ausschließlich auf die groben Erfahrungstatsachen bei der Postulierung von Erziehungs- und Unterrichtsgrundsätzen stützen, weil bessere Methoden mangels einer exakt arbeitenden Psychologie unmöglich waren. Wenn unsere Zeit die Entwicklung einer experimen- tellen Pädagogik möglich machte, so gelang es ihr nur auf dem Boden, den die experimentelle Psychologie bereitete und noch unentwegt weiter bearbeitet. Da die experimentelle Psychologie noch ziemlich in den An- fängen steht, kann es nicht wundernehmen, daß auch die experimentelle Pädagogik über die ersten Schritte noch nicht hinaus ist. Das aber läßt sich jetzt schon sagen : Das Feld, das sie abzuschreiten hat, ist ein ge- räumiges, stark bevölkertes und reich bebautes, auf dem es ihr an Ar- beit durch Menschenalter nicht fehlen wird. Was ihr hier zu tun ob- liegt, ist vor allem eine wissenschaftliche Untersuchung der Fragen, ob der Boden, auf den sich die Pädagogik angewiesen sieht, wirklich von der Beschaffenheit ist, wie er sich der Erfahrung gewöhnlich darstellt; ob die Art, wie ihn die Pädagogik bisher zu bearbeiten pflegte, eine naturgemäße und zweckentsprechende ist; ob das Saatgut in jeder Be- ziehung den Qualitäten des Bodens entspricht; ob die Erfolge im rich- tigen Verhältnis zur aufgewandten Mühe und zur Leistungsfähigkeit des Bodens stehen oder ob vielleicht durch die gebräuchlichen Maßnahmen der mögliche volle Ertrag vereitelt wird u. s. w.

Nachdem die bisherige Methodik allenthalben mehr oder weniger auf vielleicht zahlreiche aber doch in der Hauptsache zufällige Beobach- tungen und Erfahrungen aufgebaut hat , bleibt der experimentellen Pädagogik nicht viel weniger zu unternehmen übrig, als der exakte Nach- weis der Zulänglichkeit oder Unzulänglichkeit für alle in Übung stehenden pädagogischen Gepflogenheiten. Vielen der dabei auftauchenden Fragen mag mit den bis jetzt ausgebildeten Untersuchungsmethoden vielleicht noch nicht beizukommen sein; sie werden ihre Sprödigkeit erst gegen-

220

über feineren Methoden verlieren. Die bisherigen Leistungen der expe- rimentellen Pädagogik berechtigen aber zu der Hoffnung, daß die expe- rimentelle Pädagogik mit der Zeit auch in die jetzt noch unzugänglich scheinenden Abteilungen des weitläufigen Gebäudes der Pädagogik wird Licht tragen können.

Vielen pädagogischen Fragen kann die experimentelle Pädagogik jetzt schon beikommen, wie die Ergebnisse beweisen, die sie bereits zu verzeichnen hat. Auf einige weitere Strecken aufmerksam zu machen, deren Bearbeitung sehr wünschenswert ist, bezwecken diese Zeilen.

Gelegentlich einer Untersuchung über die Tendenz in der dichteri- schen Jugendschrift bin ich zu der Überzeugung gekommen, daß der Einfluß der privaten Schülerlektüre in ganz falscher Schätzung steht. Die gelegentliche Äußerung Herders, daß schon mancher Mensch durch ein Buch auf seine ganze Lebenszeit gebildet oder verdorben wurde, wird seit Jahrzehnten mit der Skrupellosigkeit naiven Kinderglaubens von der gesamten Pädagogik nachgebetet und zur Grundlage pädagogi- scher Bestimmungen genommen, die häufig tief genug in das kindliche Leben einschneiden, so daß eine wissenschaftliche Untersuchung ihrer Zulässigkeit als notwendig erscheint. Eine ganze Literatur die spe- zifische Jugendliteratur ist durch die Meinung veranlaßt worden, man könne moralische, religiöse, patriotische u. a. Grundsätze eintrichtern wie Mixtur. Tausende von eigens präparierten Jugendbüchern sind nach einem Schema gefertigt, das auf der Ansicht fußt, die Geschichtenfiguren seien von starkem Einfluß auf den jugendlichen Leser, indem sie sich als Beispiele an seinen Nachahmungstrieb wendeten, und es sei darum ganz in die Hand des Erziehers hier des Jugendschriftstellers gegeben die gewünschten Wirkungen durch die entsprechende Zurichtung der Geschichten und einen in der Richtung der beabsichtigten Wirkungen gelegenen Aufputz der in den Geschichten vorkommenden Personen zu erzielen. Daß solche Pseudodichtungen , die nicht aus dichterischem Drang, sondern aus pädagogischen und anderen Spekulationen entstehen, Wirkungen besagter Art fähig seien, ist in der Pädagogik allgemeiner Glaube. Die Festigkeit und Allgemeinheit dieses Glaubens scheint für die Unerschütterlichkeit seiner Grundlagen zu zeugen ; diese aber werden schon von der einfachen Überlegung gestürzt, daß das Beispiel der Ge- schichtenmenschen die ihm zugeschriebene gewaltige, absolute Wirkung unmöglich haben kann, indem eine solche Wirkung ja nicht einmal von den konkreten Beispielen der Wirklichkeit geübt wird. Welche Fülle von guten und schlechten Beispielen begegnet tagtäglich unserer Jugend ohne den geringsten nachweisbaren Einfluß zu hinterlassen!

Diese Pseudodichtungen erfahren denn auch heftige Befehdung, be-

221

sonders deshalb, weil sie sich zur Erreichung ihrer unkünstlerischen Zwecke künstlerischer Mittel bedienen, also in der Form dichterischer Kunstwerke erscheinen und dadurch den literarischen Geschmack der Jugend irreleiten und verderben. Daß sie letzteres tun, ist zwar außer- ordentlich wahrscheinlich, ja bis zu einem gewissen Grrade unbestreitbar; wenn es aber behauptet wird, so geschieht es wieder nicht auf grnnd der Ergebnisse exakter Forschung, sondern hauptsächlich auf konstruk- tivem Wege unter Benützung zufälliger Erfahrungen. Wenn hier die experimentelle Pädagogik etwas Licht verbreiten könnte, wenn es ihr fest- zustellen gelänge, die Stärke des Einflusses privater Lektüre im allge- meinen, der guten und schlechten im besondern, so würde sie eine Umwälzung in der Jugendliteratur, in der Schullektüre und im Bibliothekwesen un- serer Schulen hervorrufen, die an reinigender Gewalt geschichtlichen Kevolutionen nicht nachstehen würde.

Die künstlerische Bewegung, die seit einem Jahrzehnt die pädago- gischen Kreise in Atem hält, hat neben anderen erfreulichen Wirkungen auch die Lesebuchfrage wieder lebhaft in Fluß gebracht. Nicht so sehr zum Lehrbuch wünscht die neuere pädagogische Richtung das Lesebuch gestaltet als vielmehr zum Musterbuch literarischer Schätze, aus dem die ästhetische Anlage des Kindes Nahrung saugen kann. Als die schwächste Seite unserer Lesebücher muß man die Auswahl der poetischen Stücke bezeichnen. Fast alle Lesebücher enthalten pädagogischen Rücksichten zuliebe mehr oder minder wertlose Reimereien und wo doch zu wirk- lichen Dichtern gegriffen ist, sind oft Stücke entschieden zweiter Güte gewählt.

Fehlt es hier an der richtigen Zwecksetzung für das Lesebuch oder an dem feinen ästhetischen Empfinden der Lesebuchverfasser, so sind auch Mißgriffe möglich, wo beide Mängel nicht vorliegen. „Die Auswahl des Besten ist nicht immer die beste Auswahl" hat Heinrich Hart auf dem zweiten Kunsterziehungstage in Weimar gesagt und mit diesem Paradoxon treffend auf eine Arbeitsmöglichkeit für die experimentelle Pädagogik hingewiesen. Die Art, wie Kinder anschauen und denken, die Stoffe, von denen sie besonders lebhaft ergriffen werden, die Darstellungsformen, die das kindliche Literesse in besonderem Grade fesseln, sind, wie schon eine aufmerksame Beobachtung lehrt, durchaus nicht in voller Überein- stimmung mit den entsprechenden Verhältnissen bei Erwachsenen. Darum wird eine Auswahl, die nach rein literarischen Gesichtspunkten erfolgt, nicht von vornherein als die den Kindern zusagendste bezeichnet werden können. Hier muß das Experiment eingreifen, wenn für die Lesebücher ein Kanon von Dichtungen festgestellt werden soll, der wirklich auch das Beste für die Jugend bedeutet. Ich dächte mir die Sache so: Zu-

222

erst wird nach rein künstlerischen Prinzipien und dabei auch schon unter Berücksichtigung des Umstandes, daß die Auswahl für Kinder bestimmt ist, von den Experimentatoren ein Schatz deutscher Dichtungen zusam- mengestellt, die dann von den Eandern selbst durch eine geeignete Me- thode nach dem Grade der Gefälligkeit geordnet werden. Jene Gedichte, welche von einer genügenden Mehrheit in erster Linie mit Gefälligkeits- urteilen belegt werden, dürften vielleicht nach einer weiteren Über- prüfung — als poetischer Grundstock der Lesebücher bezeichnet werden können. Ich habe vor einiger Zeit mit einer sechsten Knabenklasse (11 12 jährige Jungen) während des Schuljahres eine Anzahl Gedichte, die in angegebener Weise von mir ausgewählt worden waren, behandelt und mit der ganzen Klasse memoriert. Am Ende des Schuljahres be- nützten wir eine Stunde dazu, die sämtlichen Gedichte noch einmal zum Vortrag zu bringen. Ich gab hierauf jedem Schüler ein Blatt Papier, ließ die Titel der Gedichte in der Reihenfolge , wie die Stücke zur Durchnahme gekommen waren, aufschreiben und forderte dann meine Schüler auf, sich darauf zu besinnen, welches von den Gedichten jedem das liebste sei, und das mit Nr. 1 zu bezeichnen. Hierauf mußte sich jeder Schüler darauf besinnen, welches von den übrigen Gedichten ihm das liebste sei, und das mit Nr. 2 versehen u. s. w. Die Zusammen- stellung, die ich daraufhin machte, brachte mir manche Überraschung. Ein Gedicht, das mir persönlich sehr gut gefällt, war von keinem Schüler in erster Linie genannt worden. Dagegen hatte ein Gedicht, das mich nicht in übermäßiger Weise anspricht, einem Drittel aller Schüler am besten gefallen.

Der Grund dieser Erscheinung ist in den schon angedeuteten Ver- schiedenheiten der Lebensalter zu suchen. Man hat gelegentlich die Be- sonderheiten von Dichtungen, wodurch das kindliche Interesse be- sonders angeregt wird, „das Kindertümliche" genannt. Worin dieses besteht, ist auf spekulativem Wege schon festzustellen versucht worden. Das aber kann als genügend nicht angesehen werden. Nur das Experi- ment wird hier befriedigende Erklärungen schaffen können. Je früher das geschieht, desto besser für die Pädagogik. Aber nicht nur der poe- tische Teil der Lesebücher muß auf diese Weise durch die experimentelle Pädagogik auf einen idealen Stand geführt werden: auch der prosaische Inhalt wird künftig mehr unter Berücksichtigung des Kindestümlichen ausgewählt werden müssen. Dazu ist die Mitwirkung des Kindes, die Dienstbarmachung des Experiments unentbehrlich. Je mehr Pädagogen hier zugreifen, desto rascher und sicherer können die notwendigen Auf- klärungen gewonnen werden. Möge darum Hand anlegen, wem die Mög- lichkeit geboten ist!

223

Weitere Untersuchungen über die Beziehungen zwischen Schädelumfang und Intelligenz im schulpflichtigen Alter ^).

Von Dr. med. Bayerthal, Nervenarzt in Worms.

Die Erforschung der Beziehungen zwischen Schädelumfang und In- telligenz haben wir im verflossenen Schuljahre (06/07) fortgesetzt. "Wir sind auch bei diesen Untersuchungen wieder zu Resultaten gelangt, die für die schulärztliche Tätigkeit von großer Bedeutung zu werden ver- sprechen. Daß zunächst die Körperlänge nur von unwesentlichem Ein- fluß auf die Kopfgröße ist, wie man das auf Grrund der bei Erwachsenen erhaltenen Resultate auch bei Schulkindern anzunehmen berechtigt war -), wird durch die Tabellen A und B bestätigt. Kleine und große Köpfe finden sich bei jeder Körpergröße, soweit letztere nicht durch eine allzu kleine Anzahl von Kindern vertreten ist. Dagegen besteht auch für sämtliche im Alter von 9^/2 lO^/z Jahren befindlichen Schulkinder, welche das Ziel der Klassen V nach 4 jährigem Schulbesuch erreichten, die Gesetzmäßigkeit zwischen Schädelumfang und Intelligenz, wie wir sie für die vorausgehenden Altersstufen und Klassen bei früheren Untersuchungen erhoben hatten. Man kann sogar sagen, daß dieser Zusanmienhang noch deutlicher geworden ist, insofern sich an der Hand der für das IV. Schuljahr bestimmten Lehrgegenstände dem Lehrer mehr Gelegenheit bietet, die Intelligenz seiner Schüler zu prüfen. Denn der Lehrstoff* der Klasse V stellt höhere Anforderungen an das Denk- vermögen (Fähigkeit des Vergleichs, der Kritik) gegenüber dem Unter- richtsmaterial der vorhergegangenen Schuljahre, zu dessen Bewältigung im wesentlichen Gedächtnis und mechanische Fertigkeit genügten und daher für die Beurteilung der kindlichen Intelligenz in der Regel von ausschlaggebender Bedeutung waren. So ist es wohl zu erklären, daß in der gemischten Klasse V zum ersten Mal die Geschlechtsunterschiede in der geistigen Begabung ^), auf die wir seit Beginn dieser Unter-

1) Vergl. diese Zeitschrift B. n p. 247. B. HI p. 238.

2) S. diese Zeitschrift B. III p. 242.

3) Dieselben können durchaus nicht zu Ungunsten der modernen Frauenbewegung, deren berechtigte Ziele im Gegenteil durch psycho-physiologische Tatsachen nur ge- fördert werden können, gedeutet werden. Denn ein hervorragend gut beanlagtes "Weib wird einem Mann mit Durchschnittsbegabung, und ein Weib von durchschnittlicher Be- gabung einem intellektuell unter dem Durchschnitt stehenden Mann auf geistigem Gebiete überlegen sein, soweit nicht körperliche Einflüsse anderer Art im einzelnen Falle die Leistungsfähigkeit des Weibes zeitweise oder dauernd einschränken. Aber man darf nicht außer acht lassen, daß die durchschnittliche geistige Beanlagung des Mannes seinem durchschnittlich größeren Kopfumfang entsprechend über der des Weibes steht; nur ist es kein Kennzeichen einer höheren Intelligenz, wenn man aus dieser Tat-

224

suchungen unser Augenmerk richteten, zu Tage traten. Nach den über- einstimmenden Aussagen der beiden Lehrer, die in diesen Klassen Unter- richt erteilen, übertreffen durchschnittlich die Mädchen die Knaben in den Fächern, die hauptsächlich Anforderungen an das Gredächtnis stellen, stehen jedoch hinter den Knaben in Bezug auf Leistungen zurück, bei denen im wesentlichen das Urteilsvermögen, wie bei manchen Rechen- aufgaben, in Betracht kommt ^).

Von besonderem Interesse waren ferner 2 Mädchen, die trotz mittelgroßen bezw. sehr kleinen Kopfes (50 cm und 46 cm) in den Klassen VI vor Ostern 1906 ihrer intellektuellen Veranlagung nach als „sehr gute" bezw. „gute* Schülerinnen von ihren Lehrerinnen bezeichnet worden waren. Während die „sehr gute" Schülerin in Bezug auf ihre intellek- tuelle Veranlagung von ihrem Lehrer in Klasse V nur die Note 4 er- hielt, zeichnete sich das andere Mädchen in Klasse V (gegenwärtiger Schädelumfang 46^2 cm, Körperlänge 120 cm) nicht mehr durch gute Leistungen aus, wenn auch eine definitive Beurteilung seines Denk- vermögens vorläufig noch nicht möglich ist. Wohlverstanden handelt es sich in beiden Fällen nicht um Kinder, deren intellektuelle Leistungs- fähigkeit durch körperliche Erkrankung oder andere äußere Ursachen beeinträchtigt worden war.

Da das Schädelwachstum, wie unsere diesjährigen Messungen in den Klassen V lehrten, ein weniger intensives war, die Vergrößerung des Schädelumfanges im Laufe des verflossenen Schuljahres schwankte zwischen einer kaum nachweisbaren Zunahme und einem ^k cm so haben wir in den Tabellen A und B nur 3 Altersstufen berücksichtigt. Die Tabellen C und D geben Aufschluß über die Beziehungen zwischen

Sache eine geistige Minderwertigkeit des Weibes ableitet, wie wenn der Wert eines Menschen bloß in seinen intellektuellen Leistungen bestände.

1) Das Rechnen darf allerdings nur mit einer gewissen Vorsicht als Maßstab für die Beurteilung des Denkvermögens benutzt werden. Die Kinder sind nicht selten, bei denen die Fähigkeit zu rechnen nicht den übrigen intellektuellen Leistungen entspricht. In der Klasse V des Herrn Vonalt fanden sich z. B. 2 Schüler mit der intellektuellen Beanlagung „im ganzen gut", von denen der eine im Rechnen die Zensur „ungenügend", der andere die Zensur „teilweise genügend" hatte. Dagegen hatte ein anderer Schüler in der gleichen Klasse, dessen intellektuelle Veranlagung gerade noch zur Erreichung des Klassenzieles genügte, im Rechnen die Note 1. Man wird diese Verhältnisse auch schon im ersten Schuljahr berücksichtigen müssen, wenn man in Bezug auf die Be- urteilung der intellektuellen Veranlagung in den späteren Klassen keine Enttäuschung erleben will. Vom erwachsenen Menschen ist ja bekannt, daß z. ß. die sogenannten Rechenkünstler nicht immer intelligent zu sein brauchen. Und auf pathologischem Ge- biete kann durch Krankheit bedingte intellektuelle Schwäche mit auffallend guten Leistungen im Rechnen verbunden sein.

225

Schädelmnfang und intellektueller Veranlagung der im Alter von 9^2 bis 107-2 Jahren befindlichen Knaben und Mädchen, welche im Schuljahre 1906/07 die Klassen V zum ersten Male besuchten.

Als neue Erfahrungstatsache hat sich bei unseren Untersuchungen herausgestellt, daß in dem genannten Alter bei Knaben mindestens ein Schädelumfang von 52 cm, bei Mädchen (mit einer Ausnahme) ein solcher von 51 cm erforderlich war. um hervorragend gute Schul- leistungen aufzuweisen. Dagegen kann sich, wie dies bereits in früheren Jahresberichten dargelegt wurde und auch aus obigen Tabellen hervorgeht, bei Schulkindern, die den Anforderungen der Normalklasse nicht genügen, sich also der Leistungsfähigkeit der Hilfsschulinsassen mehr oder weniger nähern^), jeder Schädelumfang von der maximalen Kopfgröße geistig sehr gut beanlagter Schüler bis zum kleinsten im betreffenden Alter überhaupt vorkommenden Maße vorfinden. Wie groß der Schädel eines 10jährigen Schulkindes mindestens sein muß, um den Anforderungen der Klasse V zu genügen, das vermag ich zur Zeit noch nicht mit Sicherheit zu sagen. Sicher scheint mir zu sein auf Grund von ca. 2000 Schädelmessungen, die von mir an 6 bis 10jährigen Schul- kindern in den letzten 3 Jahren vorgenommen worden sind , daß ein Schädelumfang von 46^2 cm bei einer 10jährigen den Anforderungen der Xormalklasse V genügenden Schülerin, von der oben pag. 224 die Eede war, eine enorm seltene Ausnahme bildet; bei normal veranlagten Knaben scheint diese minimale Kopfgröße im schulpflichtigen Alter (viel- leicht vom ersten Schuljahr abgesehen) '^) überhaupt nicht vorzukommen. Die Tabelle pag. 226 gibt über Alter, Klasse und intellektuelle Leistungs- fähigkeit derjenigen Mädchen Auskunft, die nach den bisherigen Unter- suchungen einen Schädelumfang von 46^2 cm und weniger aufzuweisen hatten. Es handelt sich im Granzen um 10 Schülerinnen, von denen nur 2 das Ziel der Normalklasse nach einmaligem Besuche erreichten. Es ist daher gestattet, anzunehmen, daß 6 bis 7 jährige Mädchen mit einem Schädelumfang von 46 cm und weniger in der großen Mehrzahl der Fälle den Anforderungen der untersten Stufe nicht genügen, in keinem Falle sehr gute Leistungen aufweisen werden. Auch nach anderer Rich- tung hin ergaben unsere nach Beginn des Schuljahres 1906/07 an sämt-

1) Die verschiedenen Formen verminderter Intelligenz von der schwachen Begabung in physiologischer Breite angefangen bis zur ausgesprochenen Idiotie fließen allmählich ineinander.

2) Nur bei 1 Knaben im Älter von G»', Jahren (Klasse VlII) und der Zensur 2 fand ich einen Umfang von 46 cm bei hohem Schädel. Über die Bedeutxmg des letz- teren vgl. diese Zeitschrift B. II pag. 249.

226

liehen Schulrekruten vorgenommene Schädelmessungen interessante An- haltspunkte zur Beurteilung der geistigen Fähigkeiten. (Vergl. nach- stehende Tabelle.)

^

6J0 «

'S .^ -

i s 'S

u ,, <s

a

's» " ^

1

Bemerkungen

§

1 -- 1!

CO

CS

=3 üdH c 11 ^

<

w

cc

^ HH

6V,

VIII

46

III

6V.

VIII

461/2

III

7

VIII

46

III

7

VIII

46

III

Repetentin

/

VIII

46

I

Repetentin (am Ende des zweiten Schuljahres mit der Note 2 censiert)

7V4

VIII

46^',

II

7V2

VIII

46^2

III

Repetentin

8

VII

46

III

8^4

VII

46Vo

III

8

VII

45

I

1 die gleiche Schülerin gemessen am

9

VI

46

I

1 Ende des 2ten, 3ten und 4ten

10

V

46^',

II

) Schuljahres

Intellektuelle Veranlagung 5\ 2 6 jäh- riger Knaben mit einem Schädelum- fang von 50 cm und weniger.

Intellektuelle Veranlagung 5\,— 6 jäh- riger Mädchen mit einem Schädelum- fang von 49\'2 cm und weniger.

pqW

"'TS

s 3 S

CS

1

a

d 0

>■

P

43 0

s

a 0

>

0 3

■^" «3"

'S

s

a 0

>

li

s

<I>

-U

s

a 0

=S

T-T

(U

0 '^

S

a 0

>■

«0

-*"

CO © 0

S

§

>

31

1=30/0

7 = 220/0

24 = 770/0

33

3 = 90/0

8 = 240/0

25 = 760/o

Ich hoffe sogar, daß es in absehbarer Zeit möglich sein wird, sich schon zu Beginn des Schulbesuches an der Hand des Schädelumfanges und einer kurzen Beobachtung über die voraussichtliche intellektuelle

227

Leistungsfähigkeit eines Kindes in vielen Fällen mit einem gewissen Grad von Wahrscheinlichkeit auszusprechen. Schon jetzt glaube ich die Tatsache als gesichert betrachten zu dürfen, daß öjährigeSchul- kinder, welche einen Schädelumfang unter 50cm (Knaben) und unter 49cm (Mädchen) aufzuweisen haben, nur selten „sehr gute" Leistungen im Laufe des Schuljahres zeigen werden. Die Hauptschwierigkeiten ^) in der Vorhersage zu Begirin des Schuljahres bereiten zur Zeit noch die Schulrekruten mit großem Kopfe. Hier kann eine pathologische Vermehrung des Hirnvolumens vorliegen, die wie nochmals wiederholt sein mag sich häufig mit den verschiedenen Graden der angeborenen Geistesschwäche zu verge- sellschaften pflegt. Aber auch in diesen Fällen darf man von den schulärztlichen Untersuchungen der Zukunft für den Lehrer den Vorteü

1) Trotz der Vorsicht, mit der ich bei den Schlußfolgerungen aus den Schädel- messungen zu Werke gehe, begegne ich immer noch Urteilen, (nicht aus Lehrerkreisen !), welche durch Sachkenntnis nicht getrübt sind. Berichterstatter weiß nicht, ob er sich bei der Kritik fremder Leistungen immer von diesem Fehler frei gehalten hat. Jeden- falls war er stets dankbar, wenn man ihm das Material zur Gewinnung eines objektiven Urteils zur Verfügung stellte. Von diesem Gesichtspunkte aus sei der Leser, der sich eingehend über die in Betracht kommenden Fragen zu unterrichten wünscht, auf ein im vergangenen Jahre erschienenes "NVerk Buschans „Gehirn und Kultur" aufmerksam gemacht. Die vorstehenden Zeilen waren bereits niedergeschrieben, als mich Herr Schulinspektor Schmeel , dem ich dafür bestens danke, auf einen in der AUgemeinen Deutschen Lehrerzeitung 1907 Nr. 13 und 14 erschienenen Aufsatz von Franke über „Kopfkunde und Erziehungslehre" aufmerksam machte, der erfreulicherweise zeigt, wie allmählich auch in Lehrerkreisen das Interesse für die pädagogische Bedeutung der Schädelmessungen erwacht. Der Verfasser des betreffenden Aufsatzes, dem die an den Wormser Volksschulen seit 2 Jahren üblichen Schädelmessungen noch unbekannt sind, schreibt u. a. ; „Wenn man erst die Kopfmessungen in den Schulen eingeführt haben wird, wenn man sich auf sie als unzweifelhaft vorliegende Tatsachen stützen wird, wenn man die Schulärzte zu solchen kopfkundlichen Messungen heranziehen und ihnen so ein geeignetes Feld ihrer Betätigung zuweisen oder einzelne Lehrer für diese unbedingt not- wendigen Einzeluntersuchungen ausbilden wird, dann wird man nicht mehr so im Dunkeln tappen, auch die Eltern leichter von der Abstufung ihrer Kinder überzeugen und im allgemeinen ärgerliche Zwischenfälle vermeiden können. Wird jetzt nicht manches Kind für Trägheit gestraft, obwohl Kieinköpfigkeit vorliegt ! Wird nicht mancher Lehrer scheel angesehen wegen anscheinend mangelhafter Leistungen, obwohl seine Klasse vielleicht stark an Kieinköpfigkeit krankt!" Man kann diesen Betrachtungen Frankes mit Aus- nahme der 2 letzten Sätze vollständig beistimmen. Die Schlußsätze zeigen nämlich, wie übrigens der ganze Aufsatz , daß der Verfasser gleich seinem ärztlichen Gewährsmann Rose sowohl die Schwierigkeiten der Abgrenzung vom pathologischen Gebiete, als auch die weiten Grenzen, innerhalb deren die Schädelmaße bei allen nicht „sehr guten" Leistungen schwanken, nicht kennt und daher die Bedeutung der „Kopfkunde" für die Erziehungslehre überschätzt.

228

erhoifen, daß er in Berücksichtigung der Kopfgröße frühzeitig diejenigen Kinder zu erkennen vermag, deren von vorn herein auffallende intel- lektuelle Minderwertigkeit trotz größten pädagogischen Eifers eine dauernde bleiben wird. Was das heißt, wird allerdings nur der Schul- arzt im vollen Umfang erfassen, den es mit Mitleid erfüllt, wenn er sieht, wie Lehrer und Lehrerinnen sich abmühen, derartige Schulkinder dem Ziele der Normalklasse entsprechend vorwärts zu bringen. Und schließlich darf man sich mit zunehmender Erfahrung von der Bestim- mung der Kopfgröße noch einen weiteren Vorteil versprechen, wenn man als Schularzt in Übereinstimmung mit dem von manchen Pädagogen vertretenen Grundsatz, alle Kinder vor dem vollendeten 6. Lebensjahre, „die nicht geradezu in vorzüglicher Weise über ihr Alter hinaus ent- wickelt" sind, bei der Aufnahme zurückweisen will ^). Eine rein päda- gogische Untersuchung genügt zu dieser Auslese nicht. Denn von 244 Kindern (118 Knaben 126 Mädchen), die vor dem vollendeten sechsten Lebensjahre Ostern 1906 in die Wormser Volksschulen neu aufgenommen wurden, erreichten 19 Knaben und 14 Mädchen das Ziel der Klasse VIII nicht. Aus der Tabelle pag. 226 ergeben sich weitere Anhaltspunkte zur Erkennung derjenigen Kinder , welche in dem in Rede stehenden Alter wahrscheinlich in der Regel geistig nicht hervorragend beanlagt sind. Bei Benutzung dieser Tabelle, über deren Zuverlässigkeit weitere Untersuchungen entscheiden müssen, würden von den genannten 33 Kindern 5 Knaben und 7 Mädchen wegen unzureichenden Schädelum- fangs keine Aufnahme gefunden haben. Ausdrücklich sei aber bemerkt, daß vor allem deshalb noch große Vorsicht in der Prognose der geistigen Leistungsfähigkeit auf Grrund der zu Beginn des ersten Schuljahres festgestellten Schädelmaße am Platze ist, weil man noch nicht weiß, in welchem Prozentsatz der Fälle mit relativ kleinem Kopf ein starkes Hirnwachstum im Laufe der ersten Schuljahre zu einer auffallenden Vergrößerung des Schädelumfanges führt und weit bessere intel- lektuelle Leistungen ermöglicht, als man anfangs zu erwarten be- rechtigt war.

1) Vgl. „Über den Beginn der Schulpflicht" von Stadtschulinspektor H. Schmeel- Worms. Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung 1907 Nr. 8.

fanzen gc Jahre

ile

e Ve

[. 07

54 c 54 c

229

" Ol " 6 " s " Ol " 9 " Ol

siq uoi^ 9 ajqijf 6 siq 'uopf OT aJ^^iBf 6 siq uok Z 3-iqBf Ol :i9)IV :J8;iV •••la^lV

jqau pnn md x9

no.v So'Bjninpp^qos i raania :jira nautnjapiqog

o

11

O

li

II

1

o O

o il

o

II

II

1

O O

II

O II

c O

o

II

1

jap z;«s:^nazoj(j pan ^q'BZ

<— 1

=

-<*

t— 1

L-S

o

(M

^qoaiqas =- ni

^lawira = n ':>nS = I SunSBiuBjaA anan;jian9^ai

l-H

I— 1

1— ' t— 1

1

>—l

)-H

1—4

1

l-H

>—l

l-H

1

uauauainqog uapaaqonsaq leyi

50

C1

<N

1

o

1—1

!

iS

(N

"*

1

! aa;si9 ranz ^\^ ass-Bj^^ aip jap xq^z

1

jqara pan in» iq

_o

c

K

e

o

c

C

K

o

R

K

c

noA SaBjrarqapBqos

O 00

o

O

o

CO

O

o

©

00

O

o

; raaaia ;ira uanuijaxnqog

II

II

II

11

11

II

II

II

11

II

11

II

jap z^iBs;uazoj<j pnn pi«2

'^

1—1

1— (

o

t>

o

"«it

«5

CS 1—1

00

CO

i i 1 JA. s -n ;nS = z '^^ -iq^s = i

9*

^

-*

CD

^

-^

-*

O

^

5^

rf

o

SnnSiBia'BJaA anan:^i[aiiajai

Ol

CO

0

3

s

CO

S

o

nauoijainqog uapaaqonsaq aj^j^

la

CO

o

ec

!>•

T}<

c

cc

o

00

C

"*

ua^sja ranz ^ ass'Bix 9ip Jap iqißZ

Ol

C<l

(M

<M

r-t

cc

jqam pnn ma ^q

aoA gu'Bjran

o

O

c

o

o o © ©

o

CS

00

1—1

-pp'BqDg raania ;ira jainqog

II

II

II

II

11

1!

11

11

II

II

11

II

jap z^Bs^uazojj pun iqiez

i>

I— 1

Oi

TjH

.— 1

-5j*

CO

1^

•*

«

<N

; -Av -s -n :jnS = g ';nS jqas = i

;^

s=

'^

O

^

S-

-5i4

o

;r^

.-=

Ttl

O

\ äauS'^invidx atpn^Jiana^nx

i

CO

s

CO

s

1H

s

CO

3 O

; jajnqog uapaaqonsaq ai'Bpi ua^sja ' ranz \ ass'Bi^ aip jap jq^z

i 1

t>.

>— 1

CO

CO

X

CS

C

r-«

1-1

00

00

1—1 1-^

" Ol " 6 " S " Ol " 2 " Ol

siq uoK 9 ajq^f 6 siq uok oi ajq^f 6 siq -uok g ^i^V£ Ol :ja:HV :J9»IV ^JQ^lV

Meumann, Exper. Pädagogik. V. Band.

16

230

Mäd chen

Knaben

Ol-! to CS >-' o

(i o

f^ ?S g^

BS t^* Ca ^^ >-< ^^

»3 »3

5h 3-

O

n> o

Jtc SS g=^

3 ti> 3 g o 2

S- o S- o g o

»3 »3 S. 3

O

3 ET.

3- ;r 5: "3

3 <1 ^ 2

•1 cra

2. o

W 3- M

CO C: a

!^ S

jyn CO 3

3- 3 C 3

3

ort?

3 B* ►—

OQ oa OQ

2 ra (i 3

CB - "^ «J

CD O ^

CO Ö" ■-< ET <-► n. C6 5;

B- -

^ 2 CO "" CO 5

Zahl der in Betracht kommenden Köpfe Durchschnittliche Kopfgröße

Größter Schädelumfang

Kleinster Schädelumfang

«- t-» to

V "cd

Zahl der in Betracht kommend. Köpfe

w

0

00

Ü5

CT

cn

cn

4^

CO

00

IC

Durchschnittliche Kopfgröße

Größter Schädelumfang

Kleinster Schädelumfang

Zahl der in Betracht kommend. Köpfe

Durchschnittliche Kopfgröße

Größter Schädelumfang

Kleinster Schädelumfang

—. 10

Zahl der in Betracht kommend. Köpfe

Durchschnittliche Kopfgröße

Größter Schädelumfang

Kleinster Schädelumfang

5' a

Sl

1— '

rf>-

05

CT

CT

CT

0

I-»

>-'

OS

ts

0

CT

CT

CT

03

CO

to

tr~

M~

Zahl der in Betracht kommend. Köpfe

Durchschnittliche Kopfgröße

Größter Schädelumfang

Kleinster Schädelumfang

•(>-

05

03

CT

CT

CT

«.^

I-»

0

CT

0

1— '

CT

CT

CT

U)

IC

0

S~

Zahl der in Betracht kommend. Köpfe

Durchschnittliche Kopfgröße

s-3 3r^5c«

o S.2 ^^ ^

CR

Größter Schädelumfang

SP«

—■ s ^ _. -

rt> ^ •^' ■-•

2 W

c m

z*2.5 I

<6 S

Kleinster Schädelumfang

X. p- 3

C5 <; pj CS ,* ^"^^ CS ' Äj

uaq'Bug

u 8 q 0 p B i\[

231

Literatur berichte.

Ein neues pädagogisches Volksbuch. (Unsre Lieblinge in Haus und Schule.) Besprochen von Ernst Meumann^)-

Die pädagogische Literatur besitzt nur wenige echte Volksbücher , d. h. Bücher, die sieh an die weitesten Kreise wenden, um ihr Interesse und ihr Verständnis für Er- ziehungsfragen zu beleben und die unerläßliche Gemeinschaft zwischen den Erziehern in der Schule und dem Eiterhause zu fördern. Pestalozzis Lienhard und Gertrud war ein solches, echtes, kerniges Volksbuch , aber Pestalozzis Gedanken bewegen sich in seinem pädagogischen Volksroman auf sozalp ädagogischem Gebiete, sie behandeln nicht die Detailfragen der Anleitung zum Erziehen und der Hebung des Verständnisses der Kindes- seele. Grade diese Aufgabe, die äußere Arbeit der täglichen Erziehungsfragen im Hause im engsten Anschluß an die Schultätigkeit des Kindes zu fördern, den Eltern Rat zu erteilen, wie sie die kleinen Leiden ihrer die Schule besuchenden Kinder verstehen lernen können, wo und wie sie helfend eingreifen können, aber auch ihnen zu zeigen, welche Art ihrer Mitarbeit an der Schulerziehung nicht erwünscht ist das ist ein besonders schwie- riges Problem für den Pädagogen , und wir besitzen sozusagen nichts von brauchbarer, völUg den Bedürfnissen der Gegenwart angepaßter Literatur auf diesem Gebiete. Rousseaus Emil wollte ein Erziehungsbuch für Eltern sein , aber es verfehlte diesen Zweck von vornherein, indem es den Zögling aus der Familie herausnimmt und mit dem „Haus- lehrer" aufs Land schickt. Salzmanns Konrad Kiefer, sein Krebs- und Ameisenbüchlein passen nicht mehr auf die Verhältnisse unsrer Zeit, Jean Pauls Levana enthält eine Fülle feiner Beobachtungen über die sich entwickelnde und arbeitende Kindesseele , aber der Verfasser kennt nicht die Nöte und Leiden der Schularbeit. So könnte man alle Schriften unsrer großen und kleinen Pädagogen durchgehen : wir vermissen ein Buch für Eltern, das sie in allgemeinverständlicher Weise grade mit der Schularbeit des Kindes bekannt macht. Ganz besonders mit der Schularbeit der vermeintlich Schwach- begabten, der Sorgenkinder. Mit Recht betont der Verfasser des Buches „Unsere Lieb- linge", daß in den neueren Schriften, die ähnliche Fragen behandeln (z. B. Ad. Matthias, Wie erziehen wir unsern Sohn Benjamin ? ; Laura Frost , Aus unseren vier Wänden ; Oppel, Das Buch der Eltern), einerseits zu sehr das Durchschnittskind behandelt worden ist, anderseits das Verhältnis von Haus und Schule nur gestreift wird. Sie sind nach der Ansicht des Verf. ferner zu teuer, „um Gemeingut des Volkes zu werden". Grade diese Lücken will Kankeleit ausfüllen und es ist ihm in vortrefflicher Weise gelungen. Möge es dieser Besprechung gelingen, zu seiner Verbreitung in den Kreisen der Päda- gogen beizutragen, möchten die Pädagogen es in die weitesten Kreise des Volkes hinein- tragen !

1) Vgl. A. Kankeleit, Unsere Lieblinge in Haus und Schule. Ein Handbuch für Eltern, die ihren Kindern bei der Schularbeit helfen wollen. 1. bis 3. Tausend. Gum- binnen, Verlag von C. Sterzeis Buchhandlung (Gebrüder Reimer) 1907. Preis Mk. 1. 172 Seiten.

16*

232

Das Vorwort „Was dieses Buch will" beginnt mit einem Erlebnis des Verfassers, das uns in lebendiger Form mit dem Anlaß und Zweck des Buches bekannt macht. „Es ist schon eine Reihe von Jahren her und immer noch steht mir das Bild lebhaft vor Augen. Mein Weg führte mich durch ein entlegenes Walddörfchen. In dem Flur einer Instmannswohnung half eine arme Frau ihrem kleinen Töchterchen, das eben den Schul- besuch begonnen hatte, bei den Schularbeiten. Welch anziehendes Bild! Ich blieb un- bemerkt stehen und wurde so Zeuge der rührenden Fürsorge eines treuen Mutterherzens. Aber als die Kleine zur Fibel griff, da war die Mutter mit ihrer Hilfe am Ende. Das Mädchen nannte die Laute, die Mutter die Buchstabennamen. „So haben wir es doch aber in der Schule nicht gelernt" , wandte die Kleine ein ; die Mutter kannte es aber nicht anders, und beide weinten schließlich in ihrer Hilflosigkeit.

Mit freundlichem Gruß trat ich nun hinzu, erkundigte mich nach der Ursache der Tränen, entschied den kleinen Streit zu Gunsten des Kindes, zeigte der Mutter, worauf es bei der Hilfe der Eltern ankäme , und wahrlich , eine größere Dankbarkeit habe ich wohl nie erfahren, eine glücklichere Mutter kaum je gesehen". Dieses Erlebnis prägte sich dem Verf. tief ein. „Wie oft mußte ich an jene Frau denken, wenn die Kleinen zur Schule kamen und ich die Arbeit des vorigen Tages von den eifrigen Müttern zer- stört fand. Was hätte ich darum gegeben, jeder Mutter sagen zu dürfen: „so mußt Du es machen, wenn Du Deinem Kinde helfen willst".

Aber ist denn die Mitarbeit des Elternhauses an der Schularbeit der Kinder über- haupt wünschenswert? Der Verf. beantwortet diese Frage unbedingt mit Ja! „So- lange wir noch die überfüllten Klass en haben, können wir die Mit- arbeit des Elternhauses nicht entbehren.

Und noch ein anderer Umstand fällt dabei schwer ins Gewicht: Solange wir in diesen überfüllten Klassen auch noch Kinder haben, die uns besondere Mühe und Arbeit bereiten, werden wir immer genötigt sein, das Elternhaus dringend um seine Mitarbeit zu ersuchen.

Wer sind nun aber diese Kinder, und wie bezeichnet man sie?

Oft nennt man sie die „Schwachbegabten"; doch trifft diese Bezeich- nung bei vielen gar nicht zu. Wer sich viel mit solchen Kindern beschäftigt hat, der wird auch zu der Erkenntnis gekommen sein, daß bei sehr vielen, die man unter dieser Rubrik führt, von einer schwachen Begabung nicht die Rede sein kann. Verhältnisse, auf die ich hier noch näher eingehen werde, haben das Kind scheinbar dazu gestempelt.

An anderer Stelle nannte ich selbst diese Kinder „Die Schwachen". Dort mußte ich es tun, weil ich von den wirklich Schwachen im deutschen Unterricht geredet habe. Wie oft werden aber gerade diese später recht stark, wenn man sie nur richtig laufen lehrt.

Sehr oft begegnet man dem Ausdruck „Sorgenkinder". Es ist ja richtig, daß uns diese Kinder viel Sorge und Mühe machen; aber richtig ist es auch, daß wir gerade an diesen Kindern oft die größte Freude erleben, hier unser dankbarstes Feld finden".

Das will auch der Ausdruck des Titels „Unsere Lieblinge" sagen. Die Lieblinge der rechten Mutter sind gerade ihre „Sorgenkinder", die ihr am meisten Mühe und Arbeit machen, die von anderen zurückgesetzt werden, die sich unglücklich fühlen. Und das will des Verf. Buch: „Es will die Ursachen der Kinder- und Muttertränen ergründen und Mittel zur Abhilfe angeben", und in erster Linie will es den Schwachen, den Ver- kannten, den Vernachlässigten unter den Kindern helfen. Dabei hält sich der Verfasser völlig fern von allem falschen Verallgemeinern. „Jedes Kind verlangt eine andere Be- handlung; aber er versteht es den BUck der Erzieher für die kindlichen Individualitäten

233

zu schärfen und er greift die typischen unter den schwierigen Fällen heraus, die immer wiederkehrende Züge zeigen.

Es mag mir gestattet sein, nunmehr einen Üherblick über den Inhalt des Buches zu geben ; indem ich diesen etwas ausführlich halte , möchte ich bitten , die Lektüre des Originals nicht zu versäumen, denn gerade in dem Detail der Ausführung, in der Art, wie der Verfasser sachlich und sprachlich seine Aufgabe durchführt, liegt die starke Seite des Buches, und kein Referat kann das wiedergeben.

Der erste Abschnitt ist betitelt: „Ein trauriges Kapitel aus dem Seelenleben der Kinder" ; es gibt einen wie mir scheint etwas zu kurz gehaltenen Blick in die Leiden der Kinder, die aus irgend einer Ursache in der Schule nicht fortkommen und tadelt das falsche, verständnislose Verhalten der Eltern gegen solche Schüler, insbeson- dere das unsinnige Strafen, anstatt daß den Kindern geholfen wird. Wie am Schlüsse jedes Abschnittes, so wird auch hier die wichtigste Literatur angegeben. Sollte hier nicht Straus' Freund Hein auch am Platze gewesen sein?

Der zweite Abschnitt behandelt die ernste Frage „Wann dürfen wir ein Kind auf- geben?" In der Erzählung eines eigenen Erlebnisses schildert der Verf. das taktlose Verhalten eines Vaters, der, vor zahlreichen Zeugen, in Gegenwart seines Sohnes dem Lehrer über diesen sagt: „wir haben ihn aufgegeben". Ein solcher Vater verdiente nach meiner Ansicht eine harte Strafe leider kennen wir keine „Elternstrafen". Der Verf. beantwortet dann seine Frage selbst mit einem entschienenen „Niemals" ! „Wir Lehrer geben keinen auf*. „Vom erzieherischen Standpunkt aufgefaßt, ist kein Kind, auch das von Grund aus verdorbene, gänzlich und für immer verloren, solange nur überhaupt noch ein kleiner Grad von geistiger Gesundheit d. i. Büdungsfähigkeit übrig geblieben ist".

Der dritte Abschnitt : „Eltern, so könnt ihr ein schwaches Kind stützen", behandelt eine Kernfrage aller Erziehung: Vertrauen und Mißtrauen, Aufmunterung und Entmuti- gung. „Unser ganzes, großes Erziehungsgeheimnis liegt in einem Wort, das heißt: Auf- munterung!" „Und unsere Erziehungsmittel sind: „Liebe und Geduld". Es folgt eine Anleitung für Eltern, die Kinder in der rechten Weise aufzumuntern und hierauf wird die Frage behandelt, wie festgestellt werden kann, „worin der Grund der Abneigung gegen die Schularbeiten zu suchen sei". Bei jedem schwachen Kinde sollte man zunächst die wenigen Punkte, in denen es etwas leistet, hervorsuchen und an sie anknüpfen. „Schafft Eurem Kinde Stützpunkte, die wie Inseln in dem weiten öden Meere seiner Unwissenheit hervorragen. Hier wird es sich anklammem, hier wird es ausruhen und neue Kraft gewinnen". „Haben wir zu dem goldenen Herzen des Kindes erst ein wenig Zutritt gefunden . . . dann geschieht das Wunderbare: Es kommt uns entgegen, macht nicht nur einen Schritt, nein, gleich mehrere". Und besonders zu be- achten ist die wichtige pädagogische Wahrheit: „Gerade unsere Schwachen haben ein unbewußtes Bedürfnis nach gründlicher Aneignung, sofern nur das, was man ihnen gibt» mit ihrem Entwicklungsstadium übereinstimmt".

An vierter Stelle wird „die Mutter als Hilfe der Schule" behandelt*). Die Mutter ist die beste Hilfskraft der Schule im Hause. Aber K. warnt vor vorschneller Hilfe- leistung der Mutter. Viel wichtiger als ein voreiliges Eingreifen in die Schularbeiten selbst ist es, daß die Mutter zunächst einmal dem Kinde die denkbar günstigste Arbeits- gelegenheit verschafft und sich so verhält, daß das Kind sie jederzeit fragen kann, wenn es selbst wül. Und was das Kind mit sichtbarer Mühe erarbeitet hat, darf nie von

1) Hierbei gibt K. die Ansichten einer Mutter, Frau L. Frost wieder.

234

der Mutter getadelt werden, „sie sah doch, wie das Kind sich mühte". „Ein Kind, das sich hemüht, kommt schon zum Ziel, ihre" (der Mutter) „Aufgabe ist in diesem Falle nur „ihm die Lust zu diesem Bemühen zu erhalten". Eine be- stimmte Stunde für die Arbeitszeit anzusetzen, empfiehlt K. unbedingt; ebenso auch durchschnittlich eine bestimmte Dauer der Arbeitszeit.

Es folgt fünftens „der Anteil des Vaters an den Schularbeiten der Kinder". Wäh- rend der Mutter die regelmäßige Beaufsichtigung der Schularbeiten zufällt, kann dem Vater in den meisten Ständen schon wegen seiner Beschäftigung diese Rolle nicht zuge- wiesen werden. K. denkt sich die Tätigkeit des Vaters als die einer „obersten Instanz", er soll die allgemeine, von Zeit zu Zeit kontrollierende Aufsicht übernehmen. Auch dem Vater wird ans Herz gelegt, sich vor falschem Tadel zu hüten, „man sollte gar nicht glauben, wie schwer es vielen Menschen wird, selbst bei ganz Kleinen etwas anzu- erkennen".

„Die Stellvertreterinnen der Mutter" (sechster Abschnitt). Hier gibt der Verf. vielbeschäftigten Eltern den Rat: „Laßt Eure Töchter, wenn sie die Schule verlassen haben . . helfend eintreten" bei der Erziehung der jüngeren Kinder. Im Anschluß daran werden die modernen Bestrebungen zur Anleitung der zukünftigen Mutter zur Erziehung und der Nachhilfeunterricht des Vereins „Frauenwohl" erwähnt.

„Im siebenten Abschnitt wird der frühzeitige Schulanfang „eine Ursache vieler Kinderleiden" erörtert. Es ist Tatsache, daß für zahlreiche schwache Individuen das sechste Lebensjahr einen zu frühen Schulanfang bedeutet. In diesen Ausführungen wie in den folgenden Abschnitten noch oft begegnen sich des Verfassers Erfahrungen mit den Ergebnissen der anthropometrischen und experimentellen Untersuchung der Kinder. Sehr gut ist es, daß K. die Eltern mit dem § 44 des Allgemeinen Landrechts bekannt macht, und mit anderen Verfügungen der Behörden, die einen späteren Schul- eintritt für schwächliche Kinder vorgesehen haben. Sodann wird der Entwicklungsgang eines zu früh eintretenden Kindes verfolgt. Hier wäre vielleicht ein Hinweis auf die zahlreichen Fälle von dementia praecox (jugendlichem Irresein) angebracht gewesen, die wahrscheinlich zum größten Teil auf vorzeitige Erschöpfung der Nervenkraft in der Schulzeit zurückgeführt werden können.

Es folgen Ausführungen nach Laura Frost, Kehr (Vorbereitung auf die Schule) und wertvolle Winke für die Mutter , das noch nicht schulpflichtige Kind sehen , beob- achten und sprechen zu lehren (unter Benutzung von Mason, Erziehung im Hause, Verlag von G. Braun, Karlsruhe).

„Mit dem neunten Abschnitt: „Ein Blick in die heutige Schule" wendet sich der Verfasser didaktischen Fragen zu. Zunächst wird die Überfüllung der Schulklassen besprochen. „Keine Schulklasse mehr als dreißig Schüler", so forderte kürzlich ein gegenwärtiger Pädagoge. (Zum Vergleich mag erwähnt sein, daß noch Basedow für die Volksschule einen seminaristisch gebildeten Lehrer pro Schule für ausreichend hielt!). Die Eltern, so betont K., haben in vielen Gegenden Einfluß auf die Besetzung der Schul- klassen; ein lehrreiches Beispiel dafür wird mitgeteilt. Hierauf wird der Unterricht in verschieden großen Klassen besprochen, und sodann die Frage erörtert: „Wie wir es versuchen, unsere Schüler selbständig zu machen". „Kein schöneres Kapital können wir unseren Kindern mitgeben, als wenn wir sie anleiten, selbst zu beobachten, selbst zu forschen, selbst zu denken, selbst zu arbeiten, selbst zu finden". Diese Forderung ist nicht neu, wir finden sie seit Rousseau bei allen großen Pädagogen der Neuzeit. Aber wie sie durchführen? Der Verfasser hat das große Verdienst, sie an didaktischen Beispielen ausgeführt zu haben. Sie wird erläutert durch „eine Rechenstunde", ferner

235 -

am deutschen Unterricht, am Diktat, an der Geographie, an den Sammlungen der Kinder. Beim deutschen Unterricht wird das dem Lesen vorgehende Besprechen und das Zeichnen der behandelten Geschichten empfohlen, und mit Recht betont, daß dieses Zeichnen keinen zeichnerischen Wert haben soll, sondern „das Denken bilden, die Phantasie anregen" will. Dann erst folge das Lesen. ^Erst im vierten Schuljahr etwa geben wir in der Schule versuchsweise auch ein unbekanntes Stück zum Durchlesen auf". Beim Diktat (als Orthographieübung) wird vor allem auf Selbstkontrolle der Kinder Wert gelegt und Anleitung zu ihrer Durchführung gegeben. In der Geographie wird bemerkt: „es gehört wirklich zu den Unmöglichkeiten, unsern Kindern die Kenntnisse dieses Faches unverlierbar mitzugeben", wir sehen bei den Erwachsenen, wie wenig von diesen Kenntnissen hängen bleibt. Also muß aller Nachdruck darauf liegen, daß sie die Karte verstehen und anwenden lernen, denn dann wissen sie sich im späteren Leben (mit der Karte) selbst zu helfen. Deshalb „lehren wir sie heute vor allen Dingen lesen und zwar 1) lesen im großen Heimatsbuche und 2) auf der Karte". Ist den Kindern der Gebrauch „einer Karte erst geläufig gemacht, dann werden sie sich später schon zu helfen wissen". Auch die Sammlungen des Schulschrankes sollen die Kinder selbst mit anlegen und er- weitern helfen.

An zehnter Stelle werden die Fragen aufgeworfen : W i e soUen die Schüler ar- beiten? Wie sollen die Eltern helfen? Diese Fragen werden zuerst an den schrift- lichen Arbeiten der Kinder erläutert. Die zahlreichen kleinen technischen Vor- schläge, die der Verfasser hierbei gibt, dürften auch noch für manchen erfahrenen Lehrer von Nutzen sein. Hierbei ist mir die staatliche und unentgeltliche Lieferung der Lehr- mittel ganz besonders wünschenswert erschienen : wie leicht wären die Forderungen , die K. für Heft , Feder und Halter aufstellt , auf diese Weise durchzuführen I Beim Ab- schreiben wird empfohlen, das Kind anzuhalten, daß es nicht zu oft ins Heft sieht, es muß sich möglichst das ganze Wort (und später mehrere Wörter) einprägen. Hier be- gegnen sich wieder des Verfassers Vorschläge mit experimentellen Erfahrungen: wir wissen, daß intelligente Kinder von selbst darauf verfallen, seltener hinzusehen, um- gekehrt verhalten sich die unintelligenten. 2. Wie kann eine Mutter ihrem Kinde beim Lesen helfen? Sehr nachdrücklich warnt hier K. vor falscher Vorarbeit der Eltern ehe das Kind in die Schule kommt: „Wer es nicht glauben und einsehen will, dem möchte ich raten zur Probe sich selbst etwas falsches und unrichtiges beibringen zu lassen und dann zu versuchen , in richtiger Weise zu lernen". Für das richtige Lesenlernen wird nun eine Anzahl wichtiger technischer und pädagogischer Vorschriften aufgestellt wobei der Verfasser die synthetische Lesemethode voraussetzt. Wir erwähnen davon: „Jedes Mitlesen eines andern ist schädlich und durchaus zu verwerfen". Der Schüler hört dabei auf den Mitleser, anstatt zu sehen und wird unselbständig. „Ein Helfen durch Vor- und Nachsagen der Wörter ... ist ganz und gar verwerflich". Ein genaues Zeigen der Buchstaben wird empfohlen (mit dem Lesestift, nicht mit dem Finger). Psychologisch ist das sehr interessant, es zeigt uns aus den Erfahrungen eines beob- achtenden Praktikers , wie wichtig beim Lesen das Zusammenarbeiten der beiden Funktionen ist: Selbst sprechen und analysierendes Sehen! Um die Kinder bei den ersten Lesestücken vor der verwirrenden FüUe der Eindrücke zu schützen , hat K. ein ebenso einfaches wie sinnreiches technisches Mittel eingeführt: „In einem kleinen Karton ist ein Ausschnitt , durch den nur eine Zeile gelesen werden kann , dieser wird beim Lesen verschoben. Hier hat die Praxis gefunden, was die Psychologie des Lesens fordern muß! Wir wissen, daß sich beim Lesen das indirekte (seitliche) Sehen beteiligt und zwar hat es gerade die Aufgabe , das Auge über die Zeile zu führen. Andererseits

236

•wissen wir aus der psychologischen Optik, daß alle im Gesichtsfelde auftauchenden Reize als Fixationsreize für das Auge wirken. Daher müssen die Augen des Kindes, das zum ersten mal an ein ganzes Lesestück herantritt, beständig abgelenkt werden durch die große Zahl der unter und über der Lesezeile liegenden Eindrücke. So wird durch den Lesekarton von Kankeleit zweierlei erreicht, nämlich 1) wird das indirekte Sehen in der Führung des Auges über die Zeile geübt, 2) werden die überflüssigen und schädlichen Fixationsreize abgeschnitten. Zugleich kann das Kind durch Weiterziehen des Kartons durch den Lehrer, im Voraussehen geübt werden. Was K. sodann über das ortho- graphische Schreiben sagt, ist mehr wert, als manche neuere Experimente über Orthographie. Mit Recht dringt er darauf, jeder einzelnen Art der Übung ihre rechte Stelle anzuweisen. Es ist z. B. ein didaktisch falscher Schluß, wenn man aus den Experimenten folgert, daß das Diktat zu verwerfen sei! Man soll es nur an rechter Stelle verwenden: als Kontrollübung für das durch Lesen und Abschreiben vorher angezeigte Wortbild ; als solche aber ist es unentbehrlich. Wichtig sind die Forderungen : nicht mehr als 10 Wörter täglich üben; individuelle Übungen, indem die Wörter fest- gestellt werden, die dem einzelnen Kinde besondere Schwierigkeiten machen. Psycholo- gisch wichtig ist auch die weitgehende Benutzung des Gedächtnisbildes beim Diktat, doch müßte hierbei mehr auf individuelle Unterschiede des Sinnengedächtnisses Rücksicht genommen werden, 4. „Wie Fritz als Rechenmeister in die Schule eintrat und als schlechter Rechner die Schule verließ" , behandelt wieder das Kapitel von der vor- eiligen und falschen elterlichen Hülfe; dann werden Vorschriften für die brauch- bare Vorarbeit und ergänzendes Eingreifen der Eltern im Rechnen gegeben. Bei den Rechentabellen, namentlich der (Seite 107) von Cabjolsky würde ich eine andere Gruppie- rung für wünschenswert halten. Es folgt eine wichtige Ausführung „vom Auswendig- lernen", in der der Verfasser vor allen Dingen dem unsinnigen Anhäufen der Memorier- stoffe in der Volksschule entgegentritt, und die Erfahrungen der experimentellen Päda- gogik für die Schulpraxis verwertet. Hierbei hat es mich besonders interessiert, daß der Verfasser großen Nachdruck auf das erstmalige langsame Lesen legt. Dies entspricht gerade meinen experimentellen Resultaten, nach denen ich es für einen großen Fehler halten muß, wenn man (mit G. E. Müller) bei den Gedächtnisexperimenten sogleich mit der größten Lesegeschwindigkeit einzusetzen pflegt.

Von größter Bedeutung für die Weckung und Pflege des Willens der Kinder ist sodann der elfte Abschnitt : „Hemmungen". Hier hat der Verfasser ein ganz neues Beobachtungsgebiet der Pädagogik angebahnt, auf dem Beobachtung der Praxis und wissenschaftliche Erforschung des Willens- und Gemütslebens der Kinder sich die~ Hände reichen sollten zu einer unermeßlich wichtigen Arbeit! Es folgen Ausführungen über „körperliche Leiden als Ursachen der Hemmungen" und über die Behandlung der Sprachfehler der Kinder.

An vierzehnter Stelle wird die erziehliche Praxis gegenüber den verkrüppelten Kindern besprochen, und Lehrern und Müttern eine Anzahl praktischer Winke (auch für die Unterbringung der lünder) erteilt. Sodann wird über die Nachhilfestunden ein beherzigenswertes Wort gesprochen (XV). Mit Ausführungen über das Heim der Kinder, über Pflege der Liebe zu Menschen und Tieren als des Fundamentes für das Glücklichwerden der Kinder schließt das Buch. Wir wünschen mit dem Verfasser daß es sich in weiten Kreisen der Eltern verbreiten möge. Wenn für die folgenden Auflagen ein weiterer Wunsch am Platze ist, sei es der, daß der Verf. in ihnen Manches noch mehr ausführe. So namentlich die Kapitel I bis IV, die Betrachtung über die Hemmungen und ihre körperlichen Ursachen (behinderte Nasenatmung, allgemeines Zurück-

237

bleiben der körperlichen Entwicklung u. a. m.). Dabei könnten die anthropometrischen und pathologischen Untersuchungen über die kindliche Entwicklung in populärer "Weise verwendet werden. Der Verfasser wird ^^elleicht einwenden, daß die kernige Hervor- hebung der Hauptgedanken des Buches darunter leiden könnte. Ich glaube das nicht. Das Volk liebt bei seiner Lektüre eine gewisse Breite und allseitige Beleuchtung einer Frage, es will lange und gründlich bei den Hauptgedanken festgehalten werden. Es seien an dieser Stelle noch die früheren Schriften desselben Verfassers erwähnt.

1) Orthographieblätter für die Hand der Schüler (geh. 15 Pfg.), in 325000 Exemplaren gedruckt.

2) Grammatikblätter für die Hand der Schüler (seit 1902 in 120000 Exem- plaren vervielfältigt. (Geh. 15 Pfg.)

3) Lehrerheft zum Gebrauch der Orthographie- und Grammatikblätter. 4. Aufl- (Kartonniert 50 Pfg.)

4) Billige Badereisen für alt und jung; ein Wegweiser für Kranke und Volksfreunde. M. 1.

5) Fürs Leben. (Inhalt: Berufswahl. Suche dir Kenntnisse zu erwerben. Vom Briefschreiben. Gesundheitslehre. Änstandslehre. Was jeder aus der Staatskunde wissen muß. Gesetzeskunde. Volkswirtschaftslehre. Für Herz und Gemüt. Preis 50 Pfg.

Sämtliche Bücher sind bei Gebr. Reimer in Gumbinnen erschienen.

Elementares Zeichnen.

C. Führer, Das Zeichnen nach Gegenständen und der Xatur. St. Gallen 1907. Fehr'sche Buchhandlung.

Ein Lehrer der städtischen Mädchenoberschule St. Gallen legt in diesem Lehrgang durch die methodisch geordneten Zeichnungen seiner Schüler seine psjchologischen Er- fahrungen dar. Es möge deshalb der Versuch gestattet sein, die psychologische Ent- wickelung dieses Lehrganges zu besprechen.

Derselbe stellt den ersten systematischen Zeichenunterricht im 4. 6. Schuljahre dar, wie er, die Vorschläge der „Reform" prüfend und teilweise verwertend, vom Her- ausgeber seit mehr als 10 Jahren in der Schule durchgearbeitet wurde. Die 60 Blätter sollen zeigen, wie von den Schülern gezeichnet worden ist. Die Schülerzeichnungen sind nämlich mit ihren Unsicherheiten auf den Stein übertragen. Allerdings wurden dazu die bessern Blätter ausgewählt. Doch mußte der Lehrgang von allen Schülern durchge- arbeitet werden.

Als Vorbilder dienen KartonmodeUe, Gegenstände und von den Schülern ge- sammelte Pflanzenblätter.

Jede Grundform wurde in folgenden methodischen Stufen vorgewiesen und mit den Schülern durchgearbeitet.

1. Beim Vorweisen des Gegenstandes wird dessen Grundform benannt.

2. An der Grundform weist man die Hauptlinien an und beurteilt deren Lagen- verhältnisse, Größenbeziehungen und Krümmungen.

3. Besprechen des Zeichenvorganges.

4. Vorzeichnen der Grundform durch den Lehrer, dann durch einen Schüler unter beständiger Prüfung durch die Klasse.

5. Nachdem die Vorzeichnung ausgelöscht worden, zeichnet jeder Schüler die Grund- form nach dem Gedächtnis auf sein Zeichenblatt (ca. 30; 40 cm). An der Wandtafel

- 238

hängt, allen Schülern gut sichtbar das Kartonmodell oder der Gegenstand, Kleinere Ge- genstände des tä^^lichen Gebrauches schaffen die Schüler selbst herbei.

6. Vorweisen des Schülerentwurfes beim Lehrer. Dieser bezeichnet die fehlerhaften Stellen mit Bleistiftstrichen und hält den Schüler zur Selb stprüfung seines Entwurfes an. (Warum ist die angestrichene Stelle unrichtig? Wie muß der Fehler verbessert werden?)

7. Verbesserung seiner Zeichnung durch den Schüler. Das Falsche richtig zeichnen, bevor man die unrichtigen Striche auslöscht.

8. Wiederholtes Vorweisen der Schülerzeichnung und Berichtigung je nach der Fassungskraft des Schülers.

9. Auslöschen des Entwurfes bis auf eine Spur der Grundform, überwacht vom Lehrer.

10. Ausziehen der Zeichnung mit Blei- oder larbstift in deutlichen Linien, doch mit schmiegsamer Handführung, überwacht vom Lehrer und mit Vorweisung von Musterblättern.

11. Anlegen der Farben mit Pinsel oder Farbstift. Die Schüler wählen die Farben selbst unter Leitung des Lehrers und nach Anweisung von Muster blättern.

12. Einüben der Grundformen durch reihen- und gruppenweise Wiederholung ; Anwendung beim Skizzieren ähnlicher Gegenstände in Heften oder auf den Zeichenblät- tern. Zur Einübung können bekannte Grundformen ohne Vorzeichnung sofort mit über- legten Pinselstrichen flächenhaft angedeutet werden, wodurch die Handführung an Frische und Leichtigkeit gewinnt.

Die Grundformen des Zeichnens baut der Lehrgang in folgenden Übung sstufen auf:

1. Gerade. Farbige Schnüre oder Stäbe hält der Lehrer in beliebig schiefer Richtung vor die Klasse und läßt die Schüler mit dem Zeigefinger eines gestreckten Armes diese Richtung in der Luft beschreiben, indem sie zuerst dem Gegenstande nach- fahren, hernach die Bewegung frei ausführen. Auch vor Übertragung der Linie auf das Zeichenblatt soll deren Richtung in freiem Luftzuge angedeutet werden, damit die Be- wegungsempfindungen triebartige Erinnerungen vorbereiten, welche die Blickbewegung leiten und damit auch die Tastbewegung der Hand sichern.

Die Linien werden gezogen: 1) ohne vorherige Festlegung des Anfangs- und End- punktes ; 2) von gegebenem Anfangspunkt aus in vorgewiesener Richtung ; 3. vom An- fangspunkt nach unten, oben, rechts, links.

Zur Prüfung, ob die Linie gerade sei, hat der Schüler das Blatt in Augenhöhe zu halten und mit einem Auge die Richtung der Linie zu verfolgen.

2. Parallele Gerade. Nach Stäben und Eisenhahnschienen. Die Richtung ist durch Anfangs- und Endpunkt einer Geraden vorgezeichnet. Die gleichlaufende wird nach dem Augenmaß in willkürlicher Entfernung von der gegebenen Geraden gezogen. Die gleiche Entfernung der beiderseitigen Endpunkte ist mit dem Augenmaß zu prüfen. Einschalten von Zwischenlinien.

3. Senkrechte Gerade. Vom festgesetzten Anfangspunkt wird die senkrechte Lage durch Versuche und Vergleiche mit der Richtung des hängenden Stiftes ermittelt, um die Fehler der angeborenen Blick- und Handführung zu berichtigen.

4. Wagrechte Gerade. Es wird empfohlen eine fingerlange Versuchsstrecke zu ziehen und diese bei senkrechtem Zeichenblatte auf ihre wagrechte Lage zu prüfen. Dabei fehlt aber die Vergleichung mit einer wirklichen wagrechten Kante. Diese ver- mittelt der Stift, den man mit einer Tischkante und der Versuchsstrecke zur scheinbaren Deckung bringt.

239

5. Leiter in wagrechter und senkrechter Stellung. Die Abstände der Sprossen sind gleich dem Abstände der parallelen Holme. Die Holzdicke wird nach dem Augen- maß angenommen.

6. Rechte Winkel veranschaulicht man an rechteckigen Flächenumrissen von Gegenständen, in schiefen Stellungen an Kartonblättem. Zur Prüfung dienen recht- winklig beschnittene Papierblätter oder Hefte, welche man vergleichsweise mit den ver- schiedenen Stellungen der Versuche zur scheinbaren Deckung bringt. Die Flächenauf- fassung wird durch Anlegen mit Pinsel oder Farbstift angebahnt.

7. Rechteckige Flach formen, deren Längen- und Breitenverhältnisse die Schüler nach dem Augenmaß zu bestimmen versuchen. Flächenausdehnung durch Farben- töne hervorgehoben.

8. Quadrat. Mit Benützung der rechten Winkel an den Grenzpunkten der oberen wagrechten oder schiefen Seite. Die Prüfung der anderen Schenkel der Rechtwinkel auf ihre Gleichheit mit der gegebenen Seite kann tastend mit dem Stifte, nach dem Augen- maße durch Drehen des Zeichenblattes geschehen^ weil dann die Seitenlängen unter an- derem Winkel geschätzt werden.

Geht man von der rechtwinkligen Kreuzung zweier gleicher Mittellinien oder Dia- gonalen in ihrem gemeinsamen Mittelpunkte aus, so prüft man die Gleichheit der 4 Ab- stände vom Mittelpunkte mit dem Stifte und zieht durch die Grenzpunkte der Mittel- linien Parallelen zu diesen oder verbindet die Grenzpunkte der Diagonalen. Letzteres Verfahren empfielt sich besonders bei schiefer Lage der Quadratseiten.

9. Quadratische Flachformen werden nach dem Augenmaß in Felder geteilt, entweder nach Vergleichung mit dem Vorbild oder nach Angabe bestimmter Teil- zahlen. Beim Quadratnetz mit 16,64 Feldern dienen die Diagonalen zur Prüfung der gleichmäßigen Teilung der Seitenpare.

10. R e i h u n g von Quadraten zu Bändern in gleichen oder wechselnden Stellungen dient zur Einprägung dieser grundlegenden Zeichenform und zur taktmäßigen Einübung der Zeichenverfahren. Die Schüler werden auf das Vorkommen solcher Reihungen an Gegenständen zu deren Schmucke hingewiesen, aufgefordert 3 5 Quadrate aus farbigem Papier auszuschneiden und zu einer Reihe zusammenzustellen. Ist eine solche Reihung vom Lehrer gebilligt, so soll sie aufgezeichnet werden. Auf die wagrechte Mittellinie des Zeichenblattes wird das erste Quadrat entweder am linkseitigen Ende oder in deren Mitte eingezeichnet, nach der Anzahl der Quadrate, deren Seiten- oder Diagonalenlänge die Entfernungen zwischen den Grenzpunkten benachbarter Formen ermittelt und dar- nach die folgenden Quadrate einseitig oder sj-mmetrisch angereiht. Zusammenstimmen von Gelb, Rot, Blau.

11. Gruppierung von Quadraten nach 2 Richtungen. Die Kreuzform wird zu- erst durch Reibung von 5 Quadraten, dann mittelst Einteilung einer Grundform herge- stellt. Linienteilung in 3, 6, 9 und 12 Strecken.

12. Zentrische Anordnung von Quadraten auf dem Zeichenblatte. Die Mitte desselben wird durch die Kreuzung seiner beiden Mittelliuien bezeichnet und durch zwei- maliges Falten geprüft. Auf diesen Mittellinien bezeichnet man die Seitenmitten von 3 ineinander beschriebenen Quadraten.

13. Flächengliederung auf Grund des Quadratnetzes. Die Seiten eines Grund- quadrates werden zunächst in 4 gleiche TeUe zerlegt und daraus ein Quadratnetz abgeleitet. Durch verschieden geregelte Verbindungen der Kreuzungspunkte entstehen Quadrat- und Sternformen, welche durch verschiedene Farbentöne sich voneinander ab- heben und dadurch die Flächenausdehnung verzierend beleben. Man regt die Einbil-

240

dungstätigkeit der Schüler an auf Netzpapier selbst solche Verbindungen zu entwerfen und hernach auf dem Zeichenblatt vergrößert auszuführen. Durch solche selbständig ge- regelte Flächengliederung werden Maßverhältnisse der Flächenauffassung erkannt und durch Reihung der einzelnen Motive dem Gedächtnis angeeignet.

14. Rechtecke nach gegebenen Maßverhältnissen. Die Maßverhältnisse sollen von den Schülern am Modell oder Gegenstand durch eigenes Schätzen erkannt werden.

15. Anwendung des Schätzens von Maßverhältnissen zur Aufnahme der Flächen- gliederung an Gegenständen. Die Zeichnung soll in die Mitte des Blattes gestellt werden.

II. Schuljahr des systematischen Zeichnens.

16. Quadratfüllungen mit Verwendung von Rechteckformen. Im Netz ent- worfen und auf dem Zeichenblatt vergrößert ausgeführt.

17. Flächenmuster. Eintragen von Motiven der rechteckigen Flächengliederung in ein mit Meßwerkzeugen vorgezeichnetes Quadratnetz in regelmäßig geordneten Gruppen.

18. Achteck, rechtwinkliges, gleichschenkliches, gleichseitiges Dreieck mit wag- rechter und schiefer Stellung der Grundlinie, Sechseck. Alle mit Anwendungen und Aufnahmen von Gegenständen.

19. Ein Kreisumriß kann nach dem Augenmaß mit freiem Schwünge der Hand gezeichnet werden, wenn die Triebe der Handführung übereinstimmend mit den Schätzungen des Auges geregelt sind. Das gelingt nach unmittelbaren Versuchen bei kleinem Durch- messer, solange bei der Führung des Fahrstiftes zugleich der Überblick über die be- grenzte Kreisfläche gewahrt bleibt. Nach der vorliegenden Schülerzeichnung ist ein Kreisumriß von 8 cm Durchmesser noch ohne Hülfslinien zu zeichnen. Bei größerem Durchmesser können anfänglich 8 Strahlen, vom Mittelpunkt aus in gleicher Länge be- grenzt, die Führung des Blickes und des Stiftes bestimmen. Nach vermehrter Übung im Schwingen der Viertel- und Halbkreise genügt auch die Feststellung von 2 rechtwinkligen Durchmessern. Endlich gelingt es mehrere konzentrische Kreise ineinander zu zeichnen.

Die Halb- und Viertelkreise übt man bei verschiedenen Stellungen der gegebenen Durch- und Halbmesser nebst den Anwendungen auf Zier- und Sachformen ein.

III. Schuljahr.

20. Das Zwei- undEineck leiten zum Zeichnen von P flan zenblättern über, welche gleichfalls in reihenweiser und zentrischer Anordnung eingeübt werden.

21. Die vierteilige Repsblüte verwendet man in mannigfaltigen Gruppierungen zu Flächenmustern, wobei einfache Bogen oder Windungen als lineare Verbindungen der Blütenumrisse dienen.

22. Durch Schild-, Wappen- und Glockenformen mit ihren Anwendungen als Zierrat und als Sachform gelangt man zur:

23. Ellipse und Eifer m. Auch diese Flächenumrisse sollten mit freiem Schwünge der Hand unter Leitung der Blickbewegung bei wagrechter, senkrechter und schiefer Stellung der Hauptrichtung gezeichnet werden können. Dazu kann man anfäng- lich nur die Grenzpunkte der beiden zu einander rechtwinkligen Hauptaxen festsetzen und die Bogen wiederholt in zwangloser Bewegung durch diese Punkte zu ziehen ver- suchen. Dabei werden sich an den Enden der großen Axe Spitzen bilden, während an den Enden der kleinen Axe der Bogen sich umsomehr verflacht, je kleiner dieselbe im Verhältnis zur großen Axe ist. Dann geht der Bogen an den Enden der kleinen Axe in die zu deren Richtung rechtwinklige Tangente über. Je besser man bei den wei-

241

tem VersQchen seine Aufmerksamkeit auf den Wechsel der Zugrichtung, der Tangente, richten und die Taktgefühle der Handführung dem stetigen Wechsel der Zugrichtung, den Drehungen der Tangente anpassen lernt, desto sicherer stellt sich unter den ver- schiedenen Zwischenbogen der ersten Versuche derjenige ein, den die Blickbewegung, die Handführung und das Augenmaß für die Symmetrie übereinstimmend als den zwei- fellos richtigen Bogen zwischen den Endpunkten der gegebenen Hauptaxen erkennen und ausführen.

Die Prüfung kann mit den Tastwerkzeugen und den Tastbewegungen des messenden Zeichnens dadurch geschehen, daß man die halbe Diagonale (MJ eines Quadrates über einer der Hauptaxen vom Mittelpunkt aus auf diese nach beiden Seiten überträgt (12) und durch die so bezeichneten Grenzpunkte Parallele (23) zu den Sehnen zwischen den Endpunkten (a, b) der beiden Hauptaxen zieht. Man erhält dann diejenige Zwischentan- gente, welche der 45** Tangente eines Kreises entspricht, der über der betreffenden Haupt- axe beschrieben ist und als dessen Projektion die gesuchte Ellipse gelten kann. Die Diagonale des Quadrates über der Hauptaxe kann nach den vorausgegangenen Zeichen- Übungen auch mit dem Augenmaß ermittelt und auf die Hauptaxe übertragen werden. Ebenso kann man sich jene Parallelen zu den Sehnen nach dem Augenmaß gezogen vor- stellen. Die Prüfung mittelst Tastwerkzeugen beschränkt sich dann auf Sicherung der Diagonalrichtung, der Übertragung auf die Hauptaxe und der Parallelen. Sind die Zwischentangenten ermittelt, so läßt sich der EUipsenbogen leicht genau ziehen und bis zu mathematischer Sicherheit einüben.

Dieses Beispiel zeigt die Beziehungen zwischen prüfenden Tastbewegungen des messenden und den durch Einübung geregelten Verrichtungen der Handfuhrung und des Augenmaßes beim freien Zeichnen. Wenn wir nämlich die Übereinstimmung erleben ^) zwischen den Erzeugnissen der Handführung, den Schätzungen des Augenmaßes und den Prüfungen mittelst der Tastwerkzeuge, so gewinnen wir die Bestätigung für die Wahr- heit unserer Erkenntnis der Zeichenformen und für die sichere Verwirklichung unserer räumlichen Vorstellungen, Diese Bestätigung liegt aber beim Zeichnen, wie bei allen Erzeugnissen der Technik, nicht vor in der Form eines wörtlich gefaßten Urteils, son- dern als tatsächlich vorhandenes Werk, das die Prüfung durch Versuche bestanden hat. Die Prüfung also bestätigt die Wahrheit der Erkenntnis und die Verwirklichung der Vorstellungen.

24. Aufnehmen von Sachformen, zu welchen die Schüler die Gegen- stände nach eigener Wahl beibringen oder im Freien antreffen. Die Andeutungen des Lehrers beschränken sich dann auf die Art der Darstellung, die Maßverhältnisse und die Verwendung der Farben.

Psychologische Entwickelnng des freien Zeichnens.

Wir überblicken im Vorstehenden eine Reihe von Vorgängen des Unter- richtens und eine solche von Übungsstufen.

Die erste Reihe erzählt, daß der Lehrer Gegenstände vorweist, deren räumliche Grundform benennt und vorzeichnet, die Zeichenversuche der Schüler prüft, durch diese berichtigen, reinzeichnen und einüben läßt.

Welches diese Grundformen sind und in welcher Folge sie eingeübt werden, zeigt uns die zweite Reibe.

1) Lipps, Leitf. d. Psychig. Leipzig 1906 W. Engelmann S. 224.

242 -

Um eine Gesamtvorstellung von der psj'chologischen Entwicke- 1 u n g des vorliegenden Lehrganges und des freien Zeichnens zu gewinnen, wollen wir an Hand des oben berührten „Leitfadens" von L i p p s jene Unterrichtsvorgänge und diese Übungsstufen zusammen psychologisch ordnen.

Aus der Anschauung von Gegenständen werden deren räumliche Grundformen hervorgehoben durch nachahmende Tast- und Blickbewegung, Benennen, Vorzeichnen an der Wandtafel und Aufzeichnen auf dem Zeichenblatt nach der Erinnerung.

Die erste Grundform ist die G e r a d e , veranschaulicht an Stäben, Schnüren und Kanten. Stäbe können in schiefer Richtung gehalten werden, Schnüre hängen in senkrechter Richtung, Tischkanten zeigen die wagrechte Richtung an. Die Gerade be- zeichnet jedesmal die Richtung und dieses Zeichen wird durch Vergleichung mit einer wirklichen Sache (Stab, Schnur, Kante) in Hinsicht seiner Lage geprüft. Ergibt solche Vergleichung die Übereinstimmung zwischen der Sache und dem Zeichen, so bestätigt die Prüfung die richtige Lage der Geraden.

Die Holme einer Leiter haben gleiche Richtung und die Sprossen bilden mit diesen rechte Winkel. Die Sprossen sind also gleichfalls unter sich parallel und ihr Abstand voneinander kann gleich dem Abstände der Holme angenommen und ge- zeichnet werden. Dadurch wird der Zwischenraum zwischen den Holmen in eine Reihe von Quadraten gegliedert.

Die Flächenausdehnung zwischen den Schenkeln eines rechten Winkels, den Seiten eines Rechteckes oder Quadrates wird durch farbige Kartonblätter veran- schaulicht. Jede dieser Grundformen zeichnet man bei wagrechter, senkrechter und schiefer Stellung eines angenommenen Schenkels, einer angenommenen Seite. Die rechten Winkel prüft man durch Vergleichung mit dem darüber gehaltenen Kartonblatt, die Länge der Seiten mittelst des tastenden Stiftes oder durch Drehen des Zeichenblattes. Die Prüfung mit Sachformen (Kartonblatt, Stift) muß nach und nach ersetzt werden durch Prüfung mit dem Augenmaß, indem man zuerst das Augenmaß, hernach das Tastmaß entscheiden läßt. Das Augenmaß soll mit den Tastempfindungen der Zeichen- bewegung verbunden werden, damit allmählich die Sehwahrnehmungen und die Be- wegungstriebe der Handführung einander wechselseitig prüfen und berichtigen.

Die anordnende und die prüfende (befragende) Aneignung (Appercep- tion)i) der Quadratform betätigen sich nun weiter durch verknüpfende Reihung und Netzteilung der Quadratfläche, durch verwebendes Nebeneinander-Gruppieren und konzentrisches Ineinanderfügen von Quadraten, durch Flächengliederung und Flächen- musterung.

Durch Ineinanderfügen von Quadraten entsteht das regelmäßige Achteck, von gleichseitigen Dreiecken das Sechseck.

Bei allen diesen Übungen kann und soll das messende Zeichnen teils prüfend, teils grundlegend mitwirken. Denn ihr Endzweck ist nicht blos Verzierung einer vorge- zeichneten Fläche, sondern vielmehr sichere Aneignung der Größenbeziehungen bei Reihungen und Teilungen, der M a ß v e r h ä 1 1 n i s s e ■^) von Gruppen und Fügungen. Vermöge der Größenbeziehungen verknüpfen sich die Grundformen beim technischen Ge- stalten miteinander, nach Maßverhältnissen erscheinen sie mit den technischen Werken verwoben. Solche Verbindung des messenden mit dem freien Zeichnen fordert nicht nur die heutige Technik, sondern die Übereinstimmung des Denkens mit der Wirklichkeit

1) Lipps, a. a;0. S. 117 und 152.

2) Lipps, a. a. 0. S. 125/7.

243

überhaupt, ohne welche die "Wertungen des Gefühles sich in momentane Empfindungen auflösen, die keine Anerkennung bei Anderen finden. Indessen fördern das sichere Augenmaß und der geregelte Takt der freien Handführung den technischen Zeichenver- kehr nicht weniger als das kunstsinnige Schafl'en. Und wie die fließende Rede bei Ver- handlungen jeder Art durch gründliche Sachkenntnisse ihre volle Bedeutung erlangt, so können auch erst genaue, technisch begründete Maßverhältnisse den vollen Wert von Gestalten der Bildkunst sichern.

Das freie und das messende Zeichnen ergänzen einander auch zur Auffassung und Darstellung von Bogen. Mit dem Zirkel erzeugt man den Kreisumriß durch Tastbe- wegung, indem man die Spitze des einen Fußes in einem Punkt der Zeichenebene einsetzt und den Fuß mit dem Fahrstift um den festen Fuß herumdreht. Von zwei Kreisbogen aus gleichem Mittelpunkt ist bei gleicher Drehung des Halbmessers der Weg des Fahr- stiftes mit dem größeren Abstand länger als der Weg des Stiftes mit kurzem Halbmesser. Die Bewegungsrichtungen ändern sich auf jenem weiteren Bogen langsamer als auf diesem engeren. Der Letztere ist stärker gekrümmt als der Erstere. Der Kreisumriß veranschaulicht Bogen von gleicher Krümmung bei allen Richtungen des Halbmessers.

Der Bau des Armes und die Tätigkeit der Muskeln bedingen aber für die freie, von keiner vorgemessenen Ausdehnung abhängige Führung der Hand besser eine Bewe- gung auf ovaler Bahn, welche verschiedene Krümmungen zeigt. Auch in den Bahnen der Doppelschleife 0)) und der S-Form kann sich die Hand zwanglos und stetig be- wegen. Man glaubte deshalb durch Einüben solcher Bogen zunächst die Hand an freie Führung des Stiftes gewöhnen zu sollen. Zweifellos können solche Übungen, zeitweise zwischen die strenger geregelten Zeichenversuche eingeschaltet, dem Spiele der Hand Frische und Schwung verleihen. Doch fordern schon Naturformen die Führung von Blick und Hand an Bogen von gleicher Krümmung zu gewöhnen.

Überdies besteht das Ziel der Zeichenübungen darin : räumliche Ausdehnungen genau zu erkennen und räumliche Maßverhältnisse sicher darzustellen. Die Grundform der Ausdehnungen und das Grundelement des Messens bleibt doch die Richtung, ihr Sinnbild ist die Gerade. Darum führt das messende Zeichnen den stetigen Bogen auf eine stetige Folge von Geraden zurück, welche den Bogen je in einem Punkte berühren, in ihrem Zusammenhang denselben einhüllen, die Tangenten.

Es ist oben an der Ellipse gezeigt worden, wie das Einschalten der Zwischentan- gente zwischen den rechtwinkligen Tangenten an den Grenzpunkten der Hauptaxen das Einzeichnen des Ellipsenbogens erleichtert, weil diese Zwischentangente die Ausdehnung des Zeichenfeldes genauer beschränkt als Zwischenpunkte und zugleich die äußerste Zug- richtung sicher andeutet. Das Einzeichnen eines Bogens zwischen eine Scheitel- und zwei Grenztangenten erleichtert namentlich das Auffassen des Beweguugstaktes einer Wellenlinie, welche der Herausgeber der vorliegenden Sammlung zu stief- mütterlich behandelt. Sind nämlich auf der Mittellinie des Bandes die 3 5 Bogensehnen durch ihre Grenzpunkte, die obere und untere Ausladung durch die zur Mittellinie pa- rallelen Scheiteltangenten, endlich die Neigungen der Wendetangenten in den Grenz- punkten vorgezeichnet, so veranschaulichen diese Tangenten den Takt der Wellenbewe- gung, an welchen der Linienzug sich anschmiegen kann. Die wiederholte Einübung sol- cher Taktbewegungen unter wechselnden Annahmen erleichtert die Einfühlung in den Takt der Hand- und Blickführung umso mehr, je stetiger die Linie in einem Zuge beschrieben wird.

Wenn man nämlich eine Wellenlinie wiederholt mit der Hand und dem Blicke durchläuft, so gewöhnen sich Hand- und Blickführung an die zeitliche Folge der

244

Kichtungswechsel, an den Takt der Wellenbewegung. Daraus erwächst einerseits eine taktmäßig (rhythmisch) gegliederte Vorstellung von der Form der sichtbaren Linie, wäh- rend anderseits die Bewegung „Tätigkeitsgefühle" ') begleiten, welche je nach dem Takt der Bewegung spannend oder lösend gestimmt sind.

Nun ist der Takt der Hand- und Blickführung zunächst durch die maßgebenden Scheitel- und Wendetangenten der Wellenlinie bedingt. Diese maßgebenden Tangenten hängen ihrerseits wieder von vorgeschriebenen Kaumverhältnissen ab, z. B. von Länge und Breite des Bandes, mittelbar von Länge und Höhe der zu schmückenden Wand u. s. w. So ist jede Zierlinie, die einem technischen Zwecke dienen soll, auch von technischen Maßverhältnissen abhängig. Diese seilt das messende Zeichnen sichtbar fest. Auch solche Maßverhältnisse und Größenbeziehungen eignet man der Vorstellung und dem Taktgefühl an, welche die Verrichtungen auf dem Zeichenplan und an den Werkstücken regeln. Die Maßformen des planimetrischen und projektiven, die Werkformen des tech- nischen Zeichnens haben ihre volle Bedeutung, wenn das technische Denken und Ge- stalten beim Lesen und Entwerfen der Pläne mit sicherem Takt über dieselben verfügt. Je sicherer man alle räumlichen : Vorstellungen und Taktgefühle beherrscht, umso besser ist man vermöge der Einsicht in die tatsächlichen Bedingungen und der Einfühlung in den Takt der zweckmäßigen Bewegungen zum freien Zeichnen und Gestalten befähigt.

Zürich, Juli 1907. F. Graberg.

M. W. Shinn. Körperliche und; geistige Entwicklung eines Kindes in bio- graphischer Darstellung. Deutsch von Prof. W. Glabbach und G. Weber, Langensalza. F. G. L. Greßler 1905.

Das Buch von Miss 'Shinn ist zahlreichen deutschen Lesern schon aus der englischen Ausgabe bekannt. Dennoch ist es ein dankenswertes Unternehmen der Übersetzer, das Buch einem weiten deutschen Leserkreise zugänglich gemacht zu haben. (Den Über- setzern scheint nach der Vorrede zu schließen nicht bekannt zu sein, daß es keineswegs bloß in Nordamerika und Frankreich, sondern auch in Deutschland Monats- und Zeit- schriften für Kinderstudien gibt). Die Verfasserin behandelt in ihrem , Buche die körperliche und geistige Entwicklung ihrer Nichte während der ersten 3 Lebensjahre. Sie führte über deren Entwicklung ein Tagebuch, wobei sie sich von der Mutter des Kindes aushelfen ließ. Sie ist bekannt mit der wichtigsten Litteratur über die ersten Lebensjahre des Kindes und es macht ihre Aufzeichnungen besonders wertvoll, daß sie die Beobachtungen anderer Autoren beständig zum Vergleich heranzieht und Unterschiede oder Übereinstimmung ihrer eigenen Beobachtung mit denen jener feststellt. Die Auf- yeichnungen der Verfasserin lesen sich weniger trocken als die von Preyer, die oft allzu «inseitig statistischen Charakter tragen, sie geht mehr der Erklärung der einzelnen Er- scheinungen nach. Vor allem besitzt sie korrektere psychologische Begriffe und zeigt «ine größere kritische Vorsicht in der Deutung und Verwertung ihrer Beobachtungen als Preyer. Die Beobachtungen von Fräulein Shinn waren ferner viel umfassender und nicht so einseitig psychologisch wie die von manchen ihrer Vorläufer. Fräulein Shinn vertritt die einzig berechtigte Auffassung der Entwickelung des Kindes, nämlich die, daß wir versuchen müssen, das Kind als eine körperliche und geistige Einheit verstehen zu lernen und die Beziehungen zwischen der körperlichen und geistigen Seite seiner Ent- wicklung nachzuweisen. Daher verbindet sie mit den psychologischen Beobachtungen

1) Lipps a. a. 0. S. 25.

245

auch ausgiebige Körpermessungen und die Untersuchung physiologischer Funktionen des Kindes z. B. der Entwickehmg seiner Muskeltätigkeit, seiner Bewegungsgeschicklichkeit u. a. m.

Für die englische Ausgabe des "Werkes hat Josef Le Conte eine Vorrede geschrieben, die in der deutschen Übersetzung wiedergegeben wird. Die Herausgeber und Übersetzer haben die deutsche Ausgabe noch durch Anmerkungen bereichert, in welchen sie wichtigere paralelle Stellen aus anderen kinderpsychologischen Werken hinzufügen.

E. M.

Paul Ranschburg. Vergleichende Untersuchungen an normalen und schwach- befähigten Kindern. (Zeitschr. für Kinderforschung Okt. 1905).

R. teilt die Ergebnisse einer interessanten Untersuchung aus dem psychologischen Laboratorium an den ungarischen heüpädagogischen Instituten zu Budapest mit. Der Zweck der Abhandlung ist in erster Linie der, einige charakteristische Begabungs- unterschiede von normalen und schwachbefähigten Schulkindern vermittels einer genauen Kontrolle ihrer Leistungen im schriftlichen Rechnen zu gewinnen. Zu diesem Zwecke mußte der Verfasser eine zahlenmäßige Bestimmung der Fähigkeit der Kinder im Rechnen zu geben versuchen. Das erreichte er auf die Weise, daß er die Zeit maß, welche die Kinder zu den einfachsten Rechenoperationen gehrauchen. Die Zeitmessung wurde mit einer verbesserten ^ 5 Sekunden Uhr von Jaquet ausgeführt. Zunächst wurden 50 ele- mentare Additionen zusammengestellt, deren Resultat nicht über 11 hinausgeht. Dann wurde die Additionszeit gemessen bei 15 Schülern der ersten Hilfsschulklasse am Ende des Schuljahres und zum Vergleich bei 15 guten und mittelmäßigen Schülern der Volks- schule in 7. bis 8. Monat des ersten Schuljahres. Berechnet wurde bei den Schülern der Umfang der Rechenfähigkeit, der gewonnen wird durch die Zahl der richtig aus- geführten Rechenoperationen ohne Rücksicht darauf, ob die Lösung der Aufgabe sofort oder erst nach einer Korrektur richtig war ; sodann wurde die Dauer der Rechen- leistung aus dem wahrscheinlichen Mittel der einzelnen Zeitwerte berechnet. Endlich die objektive Sicherheit der geistigen Leistung, die aus der Zahl der Korrekturen be- urteilt wird.

Die Resultate der Versuche sind die folgenden : Zunächst sieht man, daß der Umfang der Rechenleistungen bei den geprüften Schülern der Volksschule der gleiche ist, die Kinder rechnen lOO*" 0 der gestellten Aufgaben richtig. Vergleicht man aber die Zeiten, welche die einzelnen Kinder zur Lösung der gleichen Aufgabe gebrauchen, so sind diese außerordentlich verschieden, daraus schließt R, : „Der Umfang einer geistigen Leistung, d. h. die Zahl der richtig durchgeführten Operationen ist an und für sich kein genügendes Maß für die Güte der Leistung; auch unter normal befähigten Schulkindern die der Lehrer als ungefähr gleich begabt bezeichnet und bei denen der Umfang der Leistung ganz gleichwertig ist, zeigen sich bedeutende individuelle Schwankungen der Fertigkeit, wenn man die Dauer der geistigen Funktionen in Betracht zieht.

Vergleicht man die Zahlenwerte der normalen mit denen der schwachbefähigten Schüler, so sieht man, daß die Leistungen der letzteren sowohl hinsichtlich des Umfangs wie auch der Zeit des Rechnens beträchtlich geringer sind als die der normalen. Sehr wichtig ist der Versuch des Verfassers nach diesen Gesichtspunkten Gruppen der Schüler von verschiedener Fähigkeit im Rechnen aufzustellen. Ordnet man die Normal- und die Schwachbefähigten in diese Gruppen ein, so ergibt sich, daß man die Leistungen und die Fortschritte der Schulkinder danach noch ganz gut taxieren kann. Interessant ist ferner, daß der Umfang und die Dauer der Leistung in keinem konstanten Ver- Meumann, Exper. Pädagogik. V. Band. 17

246

hältnis zu einander stehen. Wir sehen hieraus wieder das für die Intelligenzprüfungen wichtige Faktum, daß die psychologische Zeitmessung allein, (das sogenannte psychische Tempo) gar kein Maßstab für die Intelligenz der Kinder gibt.

Die schwachsinnigen Kinder zeigen noch die Eigentümlichkeit, daß bei vielen, auch wenn sie plötzlich relativ leichte Aufgaben zu lösen haben, Stockungen und Schwankungen der Aufmerksamkeit eintreten, sodaß die Lösung nicht gefunden wird. Sodann macht R. auf einige interessante Gesetzmäßigkeiten aufmerksam, die in den Versuchen hervortreten. Berechnet man die mittlere Zeitdauer welche die Klasse zur Lösung einer Aufgabe nötig hat, so findet man eine erstaunliche Regelmäßigkeit in der Zunahme der Zeit des Rechnens, wenn die Arbeit nur im geringsten schwieriger wird. So wird z. B. gerechnet 4 + 1 in der mittleren Zeitdauer von 1,4 Sekunden. 4 -}- 2 in der Zeit von 1,77 Sekunden. 4 -}- 3 in der Zeitdauer von 2,16 Sekunden. 4 + 5 in der Zeitdauer von 3,63 Sekunden u. s. w., d. h. also : selbst innerhalb dieses kleinen Zahlenkreises ver- längert die Zunahme um bloß eine einzige Einheit die Dauer der geistigen Arbeit in nachweisbarer Weise „wobei die absolute Größe des ersten Addenden ganz oder nahezu ohne Belang zu sein scheint und nur das Anwachsen des zweiten Addenden von Bedeutung zu sein scheint. So unterscheiden sich 4 und 1, 5 + 1> u. s. w. bis 8 + 1 in der Dauer nur unwesentlich von einander dagegen wird 4: -{- 5 in anderer Zeit addiert als 5 -f 4 u. s. f. Merkwürdig ist noch, daß die Addition immer besonders kurz dauert, wenn beide Summanden einander gleich sind, dies macht den Eindruck, als ob die Kinder das Rechnen nicht als Addition sondern als Multiplikation ausführten. Ebenso merkwürdig ist, daß die Addition der Zahlen leichter von statten geht, wenn die kleinere Zahl zur größeren hinzugefügt wird, als umgekehrt. Der Verfasser schließt, daß das Kind bei der Addition einstelliger Zahlen entsprechende assoziative Reihen durchlaufen muß, wenn dieselbe auch nicht bewußt reproduziert werden". Man sieht ferner aus den Tabellen, daß die Multiplikationen die gleichmäßigsten, raschesten und sichersten Resultate liefern, darauf folgen die Divisionen und endlich die Subtraktionen.

Auch bei Schwachbefähigten stehen die Multiplikationen an erster und die Sub- traktionen an letzter Stelle. Als Charakteristik der Schwachbefähigten führt R. an: Bei bedeutend geringerer Zahl der gelungenen Leistungen bedeutend verlängerte Dauer und geringere Sicherheit in der sofortigen Richtigkeit der Reaktion. E. M.

E. Egger. Beobachtungen und Betrachtungen über die Entwickelung der Intelli- genz und der Sprache bei Kindern. Nach der fünften Auflage des Originals übersetzt von Hildegard Gaßner. Mit einer Einleitung von Dr. W. Ament, Leipzig, Verlag von E. Wunderlich, Mk, 1,20, 73 Seiten.

Auf Veranlassung von Ament hat Fräulein Gaßner das vorliegende Werk ins Deutsche übersetzt. Es enthält die Beobachtungen und Reflexionen eines hervorragenden französischen Philologen, der wohl ursprünglich von sprachwissenschaftlichem Interesse aus die Entwicklung der kindlichen Spache und ihrer Beziehungen zu der allgemeinen Intelligenz des Kindes zu beobachten unternahm. Das Werk erschien zum ersten Male schon 1879 in Paris. Seine Methode ist^ die biographische, indem der Verfasser „sich nicht bloß mit der seelischen Entwickelung eines einzigen Kindes beschäftigt, sondern durch Vergleich mit der seelischen Entwickelung vieler Kinder die durchschnittliche Ent- wickelung des Kindes im Allgemeinen zu bestimmen sucht". Der eigenartige Wert des Buches besteht gerade darin, daß es von einem Sprachforscher verfaßt ist, dadurch werden viele Eigentümlichkeiten der Kindersprache hervorgehoben, die dem Psychologen und Pädagogen leicht entgehen können, so namentlichfdie Lautveränderungen, welche die

247

Kinder mit der Sprache des erwachsenen Menschen vornehmen. Insbesondere ist der Sprachforscher allein imstande das Material zu sichten und er hat die kritische Übersicht, um Parallellen zwischen der sprachlichen Entwickelung des Kindes und der der Völker ziehen zu können. Besonders beachtenswert sind auch Eggers Beobachtungen über die Intelligenz der Kinder (Vergl. den 2. und 4. Teil des Werkes). Wenn man auch der Deutung der Beobachtungen des Verfassers nicht immer beistimmen kann, so sind doch die Beobachtungen an sich recht wertvoll ; sie zeigen unter anderem, in welch hohem Maße das Kind bei einer schematischen Verwendung innerer Beobachtungen stehen bleibt, ohne die inneren Beziehungen und die Kausalverhältnisse der Erscheinungen zu erfassen. Als Beispiel dafür möge mitgeteilt werden, welche Erklärung ein Kind von dem Begriffe Andacht gab : „Man geht in die KapeUe, verhält sich ganz ruhig und denkt an nichts". Das Kind hat hierbei nur das äußere Verhalten des Menschen richtig beobachtet, es fehlt ihm dagegen die Deutung desselben auf das Innenleben der andächtigen Menschen. Die Übersetzung der Verfasserin vereinigt einfache und klare Sprache mit treuer Wieder- gabe der Gedanken des Originals. Sie hatte dabei nicht geringe Schwierigkeiten zu überwinden, weil die Terminologie des Verfassers unserer deutschen wissenschaftlichen Ausdrucksweise nicht immer entspricht. E. M.

Handbücher der Psychologie, die auf dem Boden der physiologischen und experimentell - psychologischen Forschung stehen , sind in englischer Sprache in größerer Zahl erschienen als in Deutschland. Wir übersetzen so viel minderwertige aus- ländische Literatur, daß darüber die eigene oft zum Schaden kommt, hier aber könnte unsere psychologische Literatur sich durch wertvolle Schöpfungen bereichem, die auch schon darum ins Deutsche übersetzt zu werden verdienen, weil die Psychologen der Ver- einigten Staaten die psychologischen Probleme oft unter wesentlich anderen Gesichts- punkten behandeln , als es in Deutschland üblich ist. So hätten William James , Prin- ciples of psychology und sein kleinerer Grundriß der Psychologie längst ins Deutsche übersetzt werden müssen. Heute wollen wir die Aufmerksamkeit unsrer Leser auf einige neue Erscheinungen lenken, von denen allerdings die an erster Stelle genannten schon vor einiger Zeit erschienen, aber viel zu wenig beachtet worden sind.

1. Edw. Bradford Titchener, An Outline of Psychology. New York, MacmUlan 1896. 3. Auflage.

2. Derselbe Verf. : A Primer of Psychology. 3. Auflage.

3. Derselbe Verf. : Experimental Psychology , a manual of laboratory practice. Der erste Band dieses Handbuchs enthält eine Behandlung „qualitativer Experimente"; dessen erster Teil ist ein Handbuch für die Studierenden (Students manual), der zweite Teil ein Handbuch für den Dozenten (Instructors manual). Der zweite Band bringt die „quantitativen Experimente" und ist wieder in zwei Teile zerlegt, ein Hand- buch für den Studierenden und für den Lehrer.

Inhaltlich ergänzen sich die Werke gegenseitig. Das erste, der „Umriß der Psy- chologie" ist eine kurze Gesamtdarstellung unsrer heutigen psychologischen Forschung, nach Methoden und Resultaten, wie sie hervorgegangen ist aus den Vorlesungen des Verf. an der Comell Universität zu Ithaca (New York). Das zweite Buch gibt eine erste Ein- führung in die Psychologie in allgemeinverständlicher Darstellung. Das vierteilige Haupt- werk ist eine spezielle Einführung in die experimentelle Forschung selbst, es will dem Dozenten Anleitung zu Vorträgen und Kursen in der experimentellen Psychologie geben, und dem Studierenden gibt es Gelegenheit auf historischer Basis, in Anknüpfung an die grundlegenden Versuche und Versuchsmethoden von Weber , Fechner u. a. sich mit der

248

psychophysischen Methodik und ihrer mathematischen Begründung mit den Reaktions- methoden u. a. m. bekannt zu machen.

Soeben erschien wiederum eine sehr handliche Gesamtdarstellung der Physiologischen Psychologie von dem Leiter des Psychologischen Laboratoriums der Yale üniversity, New Haven (Conn.):

4. Charles Hubbard Judd, Psychology, general introduction ; mit dem Unter- titel: Bestimmt zur Einführung des Studierenden in die Methoden und Prinzipien der wissenschaftlichen Psychologie. New York, Charles Scribner's Sons. 1907. 389 Seiten.

Dieses mit Illustrationen vortrefflich ausgestattete Handbuch behandelt zunächst in der Einleitung allgemeine Fragen zur Grundlegung der Psychologie, gibt dann eine Be- handlung der anatomisch-physiologischen Grundlagen des Bewußtseins : „die Entwicklung des Nervensystems" und „das menschliche Nervensystem". Es folgt eine „allgemeine Analyse des Bewußtseins", in der insbesondere die Klassifikation der Bewußtseinsphäno- mene behandelt wird. Darauf folgt die Lehre von den Empfindungen , von den funk- tionellen Beziehungen der Empfindungen (Raum, Verschmelzungsphänomene und Zeit), dann die Untersuchung des Ausdrucks (des motorischen), der Bewußtseinsvorgänge, Instinkt und Gewöhnung, Gedächtnis und Vorstellungen, Sprache, Phantasie und Begriffs- bildung, Ichbegriff, Wille und Wahlhandlung, Dissoziationsphänomene und Anwendung der Psychologie.

Die Einrichtung des Buches ist eine sehr praktische. Randnoten geben den Inhalt der einzelnen Abschnitte an und erleichtern das Nachschlagen. Die 56 Abbildungen ver- anschaulichen namentlich die anatomischen Verhältnisse des Nervensystems und nehmen Rücksicht auf die neusten Forschungsresultate. Abbildungen von den optischen Täu- schungen, die Augenbewegungen, Diagramme und Kurven dienen weiter zur Erläuterung des Textes. Ein ausführliches Register ist beigegeben. Wir begnügen uns vorläufig mit dieser kurzen Anzeige und lassen eine ausführliche Besprechung des Inhalts folgen.

Ernst Moritz Arndts Fragmente über Menschenbildung ; nach der Original- ausgabe neu herausgegeben von Dr. Wilh. Münch und Dr. Heinr. Meißner. Langensalza, Herm. Beyer u. Söhne 1904. (Bibliothek pädag. Klassiker Bd. 42.)

Es ist ein sehr verdienstvolles Unternehmen der Herausgeber und der Verlagsbuch- handlung, daß sie E. M. Arndts „Fragmente" der Vergessenheit entrissen haben. Das W^erk ist „seit seinem ersten Erscheinen nicht wieder aufgelegt, die einzige Ausgabe längst vergriffen und nur in spärlichen Exemplaren noch anzutreffen". „Darüber ist das Buch auch so ziemlich vergessen worden, wie es ihm denn von Anfang an ungünstig ge- wesen ist, daß es in einer Periode europäischer Unruhe . . . erschien, wo des Verfassers Name nur wenig bekannt war. Und doch ist es ein Werk von mächtiger Eigenart, von origineller Beredsamkeit mit tiefen Einblicken, fortreißenden Ausführungen, bald von edelstem Aufschwung, bald von härtestem Trotz, bald wuchtig angreifend, bald grimmig verurteilend, bald auch milde beleuchtend, innig beschauend" so kennzeichnet Münch in der Einleitung die Schrift. Arndt war bei der Herausgabe dieser „Fragmente" (abge- sehen von dem 13 Jahre später erschienenen dritten Teil) noch nicht in seine patriotische Periode eingetreten. Er hatte Rousseaus Emile gelesen, ebenso die Schriften Salzmann's kennen gelernt. Von beiden empfing er zahlreiche Anweisungen, manche Ideen Rosseau's vertritt er mit Leidenschaft, aber die Grundanschauungen, aus denen heraus der fran- zösisch-schweizerische und der deutsche Pädagoge die gleichen Ziele erstrebten, waren durchaus verschieden. Die „Einleitung" führt uns in die Entstehung und die Haupt- gedanken der Fragmente ein. Der Inhalt verteilt sich auf 25 Abschnitte, in denen die

249

Menschenbildung im Allgemeinen und die Erziehung des Knaben und Jünglings behandelt wird. Im 25. Abschnitt spricht Arndt über „Liebe, Natur des Weibes; weibliche Bildung". Den Schluß des Werkes machen die „Briefe an Psychidion, oder^über weibliche Erzie- hung". Die Schrift sei allen, die sich für Arndt und für eine originelle, ideenreiche Erziehungslehre aus den Tagen unsrer Väter interessieren, auf das Beste empfohlen.

Schilling, Johannes: Künstlerische Sehstudien. 1906. R. Voigtländers Verlag in Leipzig. 3 Mk.

In diesem Buche hat ein Meister der Kunst ein Bekenntnis niedergelegt über seine Art „die Welt zu sehen". Es ist kein streng wissenschaftliches Werk und soll es auch nicht sein; es teilt die Ergebnisse aufmerksamer Beobachtung und liebeii ollen Nachden- kens über das Wesen und die Bedeutung des rechten Sehens in mehr zwangloser Weise mit und wird seinen Eindruck auf künstlerisch gerichtete Leser ganz gewiß nicht ver- fehlen.

Der Verfasser sagt aber auch dem Pädagogen viel Cberlegenswertes, wenn er sich auch nicht direkt an Erzieher wendet und seinem Werk auch nicht die Fassung eines pädagogischen Kompendiums über das Sehen gab. Die enorme Wichtigkeit des richtigen Sehens für unsere Vorstellungswelt, für die Zuverlässigkeit unserer Erfahrungen, für die richtige Deutung der Erscheinungen in der Welt, für die Möglichkeit, die Werke der Natur und Kunst ästhetisch zu genießen, deutet Schilling nur gelegentlich an; aber der aufmerksame pädagogische Leser wird sich dem Zwang nicht entziehen können, die pädagogischen Ausstrahlungen der Schillingschen Gedanken weiter zu spinnen und auf die breitere Basis ausgesprochener pädagogischer Theorie zu rücken. Damit aber ge- winnt das Buch für den Lehrer stark an Bedeutung. Es enthält einen vernehmbaren Appell an die pädagogischen Kreise, sich darauf zu besinnen, ob sie in ihren beruflichen Maßnahmen dem richtigen Sehen die ihm gebührende Aufmerksamkeit schenken. Ich glaube, daß die Offenbarungen Schillings über das richtige Sehen den Schlüssel zu man- chen pädagogischen Mißerfolgen zu geben geeignet sind und wünsche darum dem inter- essanten Werke zahlreiche Leser.

Würzburg. Paul Lang.

Romeo Lovera, Italienischer Sprachführer („In Italia"), mit deutscher Über- setzung, einem grammatischen Anhang und einem phonetischen Wörterverzeichnis. Leipzig 1904, E. Haberland. Preis M. 2.

Der vorliegende Sprachführer geht hauptsächlich darauf aus, „in neuer anregender Form die Kenntnis der modernen italienischen Umgangssprache" zu vermitteln. In erster Linie hat der Verfasser wohl den Italien-Reisenden im Auge, der sich durch Selbstunter- richt für eine Reise nach Italien vorbereiten will. Die Wahl der Worte und Redewen- dungen entspricht in bester Weise diesem Zweck. Das Werk enthält drei Teile. 1. Auf der Reise ; dieser Teil enthält in brieflich-dialogischer Form die Beschreibung einer Reise von München nach Rom. Wir unterhalten uns über die Reise, passieren die Zollstation, kommen in Venedig an, wandern durch Venedig u. s- w. Der zweite Teil, „meine rö- mischen Tagebücher" gibt in Form von Tagebuchnotizen die Aufzeichnungen über einen längeren Aufenthalt in Rom. Der dritte Teil „kleine Konversationsbilder" ergänzt die beiden ersten durch Gespräche über zahlreiche Bedürfnisse und Besonderheiten des All- tagslebens. Die Einrichtung dieser Teile ist so getroffen, daß links das Italienische, rechts die deutsche Übersetzung steht. Der Text verbreitet sich auch über charakteristische Seiten des italienischen Volkes, seines Kultur- und Geisteslebens und bietet auf diese

250

Weise weit mehr als eine blos sprachliche Orientierung. Ein grammatischer Anhang ermöglicht dem Lernenden, das durch die Sprechmethode erlernte grammatisch zu ver- tiefen, und ein phonetisches Wörterbuch gibt die Betonung und Aussprache derjenigen Wörter an, die Abweichungen von der Hanptregel enthalten. Wenn wir für zukünftige Auflagen einen Wunsch äußern können, so wäre es der, ein kleines Wörterbuch (vielleicht in kleinerem Druck) hinzuzufügen. Der Anfänger kann sich damit biswellen die vom Deutschen stärker abweichenden Redewendungen des Italienischen leichter aus ihren Ele- menten verständlich mcchen. Im Übrigen sei das vortreffliche kleine Buch auf das beste empfohlen ! Zahlreiche deutsche Italienreisende haben keine Vorstellung davon , wie viel sie versäumen und wie viel Unannehmlichkeiten sie sich ersparen könnten, wenn sie bei ihren Italienfahrten der Landessprache einigermaßen mächtig wären.

Die amerikanischen Hochschulen und privaten Unterrichts-, Erziehungs- und Heil- institute veröffentlichen Jahresberichte über ihre Einrichtungen , Lehrmittel , Lehrkurse u. a. m., die oft sehr instruktiv sind und an denen sich die Entwicklung des Schul- und Hochschulwesens insbesondere in den Vereinigten Staaten verfolgen läßt. Wir werden von Zeit zu Zeit Übersichten über diese Jahresberichte bringen. Jetzt sei erwähnt der Bericht des Henry Philipps Institute for the study, treatment and prevention ol tuber- culosis. 2. Jahresbericht. Febr. 1904 bis Febr. 1905. Der 452 Seiten starke Bericht enthält viele hygienisch und pathologisch wichtige Mitteilungen.

Einzelbesprechung.

M. von Haken. 1. Methode Haken, Wie man den Unterricht in der Mutter- sprache dem Schüler lieb und interessant macht und zur Entwickelung seines Denk- vermögens verwertet. Leipzig 1906, Rengersche Buchhandlung, Gebhardt und Welisch, 189 S.

2. Übungsstoff zur Methode Haken. Derselbe Verlag 86 S.

Verfasserin bemüht sich um eine Reform des Unterrichtes im Deutschen, speziell in der Grammatik. Das an erster Stelle genannte Werk enthält 2 Gruppen zum Teil vollständig ausgeführter Lehrbeispiele, die zeigen sollen, wie der Sprachlehrunterricht für 8jährige Mädchen und wie für Erwachsene (hierzu werden auch 13 jährige Mädchen schon gerechnet) nach der neuen Methode zu gestalten wäre. Ein besonderes Lehrbuch wird den Schülerinnen nicht in die Hand gegeben, an seine Stelle tritt der oben er- wähnte „Übungsstoff", der eine reiche Auswahl von Musterbeispielen und Aufgaben bietet.

Das Neue der Methode besteht nach der Vorrede darin, daß sie den Schüler zu- nächst nicht die einzelnen Bestandteile der Muttersprache kennen lehrt, sondern ihm zeigt, „wie im Laut sich der Gedanke selbst sein Haus baut." Dadurch soll der Schüler die Überzeugung erhalten, daß die sprachlichen Formen nicht durch Willkür geschaffen wurden; seine lebhafte Teilnahme will geweckt und zugleich der grammatische Boden für den fremdsprachlichen Unterricht vorbereitet werden.

Der Unterricht geht aus von der Erörterung psychologischer und logischer Grund- lagen des Denkens und der Sprache. Belehrungen über Denkvermögen und Denkstoff, über die Bedeutung der Sinnesorgane und der inneren Wahrnehmung für Denken und Sprache, über Bewußtsein, Aufmerksamkeit, Wirklichkeits- und Erinnerungsvorstellung, über Gedächtnis, Ideenässoziation und Begriffsbildung gehen dem eigentlichen Grammatik- unterrichte voran. Die 4 „Gesamtbegriffe" Ding, Eigenschaft, Vorgang und Beziehung

251

leiten über in das Gebiet der Sprachlehre und zwar zu den Haupt-, Eigenschafts- und Zeitwörtern, sowie zur Formveränderung derselben. Die Umwandlung der „zusammen- gesetzten Vorstellung" (z. B. das schlafende Kind) in ein Urteil (das Kind schläft) bildet den Übergang zur Satzlehre und zwar zur Einteilung der Sätze, zu den Satzgliedern und dem Verhältnis derselben zu einander. Dem weiteren Ausbau der Satzlehre sind be- sondere Kapitel gewidmet. Die Lehre von den Grundbegriffen und vom einfachen Satz erfährt eine doppelte Darstellung: Für Kinder und für Erwachsene. Im V. Kapitel (Satzverein und Satzkomplex) fiiUt diese doppelte Darstellung weg; die Anpassung an die einzelnen Altersstufen glaubt Verfasserin nach den vorausgegangenen Anleitungen dem Lehrer selbst überlassen zu können.

Die „Methode Haken" soll ganz besonderen Verhältnissen dienen; sie ist zum Ge- brauch im Privatunterricht an „höhere Töchter" bestimmt. Dieses Umstandes muß be- sonders da gedacht werden, wo erhöhte Anforderungen an das Sprachverständnis und die Formengewandtheit des Schülers auftreten, welche die Grenzen des unter normalen Umständen im Schulunterricht Zulässigen weit überschreiten. Sicherlich sind die hier inbetracht kommenden Kinder in der Mehrzahl der Fälle in ihrer geistigen Entwickelung denen weit voraus, die in weniger glücklichen oder in ungünstigen äußeren Verhältnissen aufwachsen. Jedoch sind auch sie nur Kinder und teilen mit ihren Altersgenossen den Zug zum Sinnenfälligen. Daher erscheint es mir nicht einwandfrei, wenn Verf. in ihrem Sprachunterrichte schon von den 8jährigen Mädchen ein so großes Interesse für psycho- loeische imd logische Belehrungen erwartet; denn abstrakt sind und bleiben eben psy- chologische und logische Unterweisungen selbst dann, wenn sie wie es ja in vor- liegendem Werke geschieht oft durch außerordentlich glücklich gewählte Vergleiche Unterstützung finden. (Nur beüäufig sei hier bemerkt, daß Vergleiche im Unterricht an Kinder nur mit großer Vorsicht sollten angewendet werden; denn sie sind manchmal ein zweischneidiges Schwert). Wer weiß, wie schwer es hält, gereifteren Leuten auch solchen aus „besseren Kreisen" ein Interesse für Psychologie und Logik abzu- ringen, wird mir Recht geben, wenn ich bezweifle, daß 8jährige Kinder diesen Dingen eine solche Teilnahme entgegenbringen, die nötig ist, um mit ihrer Hilfe das Fundament einer Wissenschaft aufzurichten; denn der grammatische Unterricht, nach den Aus- führungen der Verf. erteilt, trägt ein wissenschaftliches Gepräge. Das beweist zur Ge- nüge die oft bis ins Einzelne vordringende Systematik, die Erwähnung von grammatischen Feinheiten, die manchem Gebildeten zeit seines Lebens fremd bleiben, ohne daß deswegen seine sprachliche Bildung mit dem Vorwurf der Halbheit könnte belastet werden. Mir fiel bei der Lektüre des Werkes unwillkürlich ein, daß Hildebrand einmal entsetzt aus- ruft : „Aber um Himmels willen nur keine philosophische Grammatik." Nur der Hinweis darauf, daß der grammatische Unterricht dem fremdsprachlichen den Boden bereiten möge (siehe Vorrede I) läßt es einigermaßen begreiflich finden, wenn Verf. auf die genaue Kenntnis der sprachlichen Formen und der entsprechenden lateinischen Kanstausdrücke ein so hohes Gewicht legt. Ich sage ausdrücklich „einigermaßen" ; denn der moderne Betrieb des fremdsprachlichen Unterrichtes kann ein gut Teil des grammatischen Ballastes entraten, den Verf. den Kindern aufbürdet.

Auch von dem formalbildenden Wert eines solchen Unterrichtes kann ich mir nicht viel versprechen. Es gibt weit wertvollere und wichtigere Stoffe im Unterricht, welche in den Dienst der formalen Bildung treten, so daß es nicht nötig ist deswegen zur Sprachlehre, dem unwichtigsten und trockensten aller Gebiete trocken namentlich dann, wenn das Gespenst System dahintersteckt zu greifen.

Die heutige Pädagogik hat die Fordenmg der alten Schule nach intensiver Pflege

252

der Grammatik auf das rechte Maß zurückgeführt. Man weiß längst, daß es kein besseres Mittel gibt, den Kindern unsere Sprache unlieb und uninteressant zu machen als gerade den Grammatikunterricht, der sich nicht genug tun kann inbezug auf Kenntnis aller nur möglichen Formen und Kunstausdrücke. Namentlich sind mir die letzteren in tiefster Seele verhaßt. Gerade im Deutschunterrichte, der dem Kinde doch die Vollkommenheit und Schönheit seiner Muttersprache zeigen und Liebe zu ihr wecken und pflegen soll, muß man es als recht eigentümlich empfinden, wenn deutsche Formen ständig wie dies Verf. tut mit fremden Namen bezeichnet werden. Muß sich dabei im Kinde nicht das Gefühl ausbilden, als sei die Muttersprache zu arm, um sich selbst helfen und ihre Formen aus ihrem eigenen Sprachschatze heraus benennen zu können?

Nun weiß ich freilich, daß man auch im heutigen Unterrichte der Sprachlehre nicht ganz entraten kann; aber sie darf nicht herrschen, die Form darf den Inhalt nicht überwuchern. Von den sprachlichen Schöpfungen des Kindes etwa im freien Aufsatz von seinen stilistischen ünbeholfenheiten und sprachlichen Verstößen wollen wir aus- gehen und es so an lebensvollem Inhalt allmählich emporführen zur einwandfreien Form. Also nicht einen schematischen Grammatikunterricht, der seine eigenen Wege geht, er- streben wir, sondern einen solchen, der in steter Fühlung bleibt mit dem übrigen Deutschunterricht, namentlich mit den Stilübungen und der den letzteren gegenüber eine untergeordnete Stellung einnimmt.

Gewiß darf nicht vergessen werden , daß auch die Schönheit der gegebenen Form einen hohen erzieherischen Wert besitzt. Diese Schönheit kann aber nach meiner Auffassung im Grammatikunterricht am allerwenigsten gepflegt werden. Wir kennen ein viel wirksameres Mittel: die Lektüre literarischer Kunstwerke, die der Entwickelungs- stufe des Kindes entsprechen. Dabei stehe ich jedoch nicht auf dem Standpunkte, daß durch trockenes grammatisches Zerpflücken dem Inhalt seine Weihe und der schönen Form ihr Duft müsse geraubt werden. Für mich knüpfen sich die eigentlichen sprach- lichen Übungen an den Aufsatz an und in die Lektüre werden nur ganz gelegent- lich Hinweise auf sprachliche Formen und Schönheiten eingestreut. Wirkliche Schön- heiten der Sprache bedürfen oft nur eines wirkungsvollen Vortrages durch den Lehrer, um auch von dem Schüler als solche empfunden und behalten zu werden. So, glaube ich, erfüllen wir unsere Mission, die jungen Deutschen für ihre Muttersprache zu be- geistern und sie zur Gewandtheit im sprachlichen Ausdruck zu erziehen mit viel mehr Erfolg, als wenn wir sie in die für den Sprachforscher wohl interessanten , für die Kinder aber steifen und trockenen Einzelheiten des grammatischen Baues einführen.

Nun sucht freilich auch die Verf. den sprachlichen Formen einen lebensvollen In- halt zu geben. Die Mustersätze, zusammengestellt im „Übungsstoff", sind den Kindern inhaltlich zumeist nicht fremd. Aber was soll eine solche Sammlung in der Hand des Kindes? Gegen sie gilt alles, was man überhaupt gegen solche und ähnliche Muster- sammlungen ins Feld führen kann:

Unser Streben im Unterricht geht dahin, Einheit in den kindl. Gedankenkreis zu bringen. Eben deswegen wird sich der einsichtsvolle , psychologisch und methodisch ge- schulte Pädagoge kaum entschließen können, seine Beispiele, welche als Grundlage zu sprachlichen Übungen dienen sollen, inhaltlich so von einander verschiedenen Gebieten zu entnehmen , wie dies in der Sammlung geschieht. Dazu kommt noch, daß diese Mustersätze sich nicht selten durch einen für das kindliche Interesse recht belanglosen Inhalt auszeichnen und oft weil den kindlichen Erlebnissen nicht entsprungen innerlich unwahr sind. Einem Gedankengange sollen die grundlegenden Beispiele ent-

253

nommen sein und zwar einem solchen, der von yomherein das kindliche Interesse für sich hat, damit, dem Schüler onhemerkt, die lebhafte Teilnahme am Inhalte auch hin- überstrahle auf die Form. Wie schon bemerkt, denke ich mir den Aufsatz als einen Mittelpunkt. Gerade durch die Anknüpfung der sprachlichen Übungen an die stilistischen Leistungen bezw. an seine Fehler erhält der Schüler auch die nicht zu unterschätzende Überzeugung von der Notwendigkeit gewisser grammatischer Belehrungen.

Auf einen Punkt muß ich noch einmal zurückgreifen: Ein wichtiges Ziel des Deutschunterrichtes bleibt es doch, im Schüler ein lebendiges Gefühl für die Schönheit des sprachlichen Ausdruckes entstehen zu lassen. Yerf. glaubt, daß hier der Grammatik- unterricht Wesentliches leisten könne. Dem muß ich leider widersprechen. Der syste- matische Sprachlehrunterricht so wie ihn Verf. wünscht bringt nicht selten dem Einde Formen nahe, die inbezug auf Wohlklang nichts weniger als Mustergültiges bieten. So enthält der „Übungsstoff" Beispiele, die der Form nach weder kindlich sind, noch be- sonderen Anspruch auf ästhetische Wirkung erheben können. Man vergleiche darauf hin die folgenden 3 Sätze, die im Unterricht an 8jährige Mädchen Verwendung finden soUen: 1. „Die das schreiende Kind auf dem Arm haltende Mutter setzte es auf den Wunsch des Vaters auf einen Stuhl." (S. 19). 2. „Der von der Reise heimgekehrte Vater brachte seinen zu Hause gebliebenen Bändern hübsche Geschenke mit." (S. 19). 3. „Es graute die von der Wärterin mit törichten Gespenstergeschichten gefütterten Kinder in dem dunklen Zimmer." (S. 32). Diese Beispiele ließen sich leicht um viele vermehren. Hier zeigt sich doch deutlich, wie der bloßen Form zuliebe der Wohllaut der Sprache beeinträchtigt wurde.

Ich komme zum Schlüsse:

Die „Methode Haken" ist fiär den Unterricht an Kinder unbrauchbar, weil un- psychologisch. Sie verliert sich schon bei der Grundlegung in höchst unkindliche theo- retische Erörterungen über psychologische und logische Begriffe, statt in den lebensvollen Inhalt der Kindersprache hineinzugreifen. Gegen die Kindesnatur sowohl als auch gegen das Ziel des Deutschtmterrichtes verstößt ferner das Streben nach möglichster syste- matischer Vollständigkeit, mit dem die moderne Pädagogik erfreulicherweise schon seit geraumer Zeit endgültig gebrochen hat. Wie wenig überhaupt die Erziehung zur Sprach- gewandtheit mit der genauen Kenntnis der grammatischen Einzelheiten zu tun hat, dafür liefert Verf. in dem Brief der „dummen Freundin" (Übungsstoff S. 80) einen schlagenden Beweis. Zeigt er doch, daß man eines ganz einwandfreien Stiles mächtig sein kann, wenn auch „der Unterschied von Satzgefüge und Satzverbindung einerseits und Satz- gefüge und Periode anderseits" dem Autor nicht geläufig ist.

Für Gereiftere, deren Interessen wesentlich durch den Zweck ihrer Studien be- stimmt zu werden pflegen, mag immerhin in vielen Fällen die Beschäftigung mit der systematischen Grammatik nötig erscheinen. Ihnen können vielleicht auch die psycholo- gischen und logischen Erörterungen ein recht willkommenes und interessantes Kapitel sein. Für weit wichtiger und wertvoller aber halte ich in solchen Fällen die ausgiebigere Hereinbeziehung der AVortbildungslehre. Dr. Aug. Mayer, Würzburg.

Menmann, Exper. Pädagogik. V. Band. 18

1^