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Zeitschrift

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Psyehologie nnd Physiologie der Sinnesorgane

herausgegeben yon Herrn. Ebbinghaus und W. A. Nagel.

I. Abteilung.

Zeitschrift für Psychologie.

In Gemeinschaft mit

S. Exner, J. y. Eries, Th. Lipps, A. Meinong,

G.K Müller, C. Pelman, F.Schumann, A.v.Strttmpell

C. Stumpf, A. Tschermak, Th. Ziehen

herausgegeben von

Herrn. Ebbinghans. 46. Band.

Leipzig, 1908.

Verlag von Johann Ambrosius Barth.

DörrieiiBtraße 16.

HARVARD iii..ven«iTY

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Inhaltsverzeichnis.

AbhandlnngeiL

Seite R. V. Stbbnbck. Die ReferenzflAclientheorie der scheinbaren GrOfse

der Gestirne 1

L. TÖBÖK. Über das Wesen der Juckempfindung 23

£. Bbcheb. Das Gesetz von der Erhaltung der Energie und die An- nahme einer Wechselwirkung zwischen Leib und Seele ... 81 R. HsBBKBTZ. Überblick über die Geschichte und den gegenw&rtigen

Stand des psycho-physiologischen Problems der Augenbewegung 123

M. Pafpsnhxim. Merkfahigkeit und Assoziationsversuch . * 161

B. Basbwald. Die Methode der vereinigten Selbstwahrnehmung . . 174 R. MüLLBB - Freibnfels. Zur Theorie der Gefühlstöne der Farben- empfindungen 241

R. HsBBEBTZ. Die angeblich falsche Wissenstheorie der Psychologie.

Ein Protest 275

G. Hbticans u. E. Wiebbma. Beiträge zur spezieUen Psychologie auf

Grund einer Massenuntersuchung IV 821

M. Fbisohxisen-Köhlbb. Über die psychologischen und die logischen

Grundlagen des Bewegungsbegriffes 384

K. Mabbb. W. WuirDTS Stellung zu meiner Theorie der stroboskopischen

Erscheinungen und zur systematischen Selbstwahrnehmung . . 846

R. Sazikoeb. Gefühlssuggestion und Phantasiegefühl 401

W. WiRiB. Erwiderung gegen K. Mabbe 429

Llteratnrbericht nnd Besprechungen.

I. Allgemeines.

G.-H. LüQüET. Id^es g^n^rales de psychoIogie 142

0. Ewald. Philosophische Grundlegung der modernen Psychologie . 52 F. E. O. Schültzb. Einige Hauptgesichtspunkte der Beschreibung in der Elementarpsychologie. I. Teil : Erscheinungen und Gedanken.

n. Teil: Wirkungsakzente 62

Th. Zishsk. Leitfaden der physiologischen Psychologie in 15 Vor- lesungen. 7. teilw. umgearb. Aufi 288

ly Inhaltsverzeichnis.

Seite C. GüTBSBLBT. Psychophysik. Historisch-kritische Studien über experi- mentelle Psychologie 56

S. Alrütz. „Psyke", eine skandinavische Zeitschrift für Psychologie 144 F. Habbwitz. Adrefsbuch der deutschen Präzisionsmechanik und Optik und verwandter Berufszweige (Glasinstrumentenindustrie,

Elektromechanik). 3. vollst, neu bearb. Aufl 145

C. Stumpf. Erscheinungen und psychische Funktionen 36

Zur Einteilung der Wissenschaften 36

W. V. Bbchterbw. La psychologie objective 363

0. Sabatisr. Le duplicisme bunlain . , . , 364

W. B. PiLLSBURY. The Ego and Empirical Psychology 288

C. Spbabhak. Demonstration of Formulae for True Measurement of

Correlation 199

E. DoDOE. An Improved Exposure Apparatus 288

A. SaHNKDBB. Die Psychologie Albbbtb de» Qrofsen. Nach den

Quellen dargestellt. 2 Teile 439

n. Anatomie der nervösen Zentralorgane.

M. Rbichabdt. Über die Untersuchung des gesunden und kranken

Gehirnes mittels der Wage 57

J. Dräsbke. Gehirngewicht und Intelligenz 199

D. V. Hanskmann. Über die Gehirne von Th. Mohmsbn, Historiker,

B. W. BüivsBN, Chemiker und Ad. v. Menzbl, Maler 289

m. Physiologie der nervösen Zentralorgane.

J. P. Karplüs. Zur Kenntnis der Variabilität und Vererbung am

Zentralnervensystem des Menschen und einiger Säugetiere . . 365

O. Kalischer. Zur Funktion des Schläfenlappens des Grofsbirns. Eine neue Hörprüf ungsmethode bei Hunden ; zugleich ein Beitrag zur Dressur als physiologischer Untersuchungsmethode 292

S. AüBKBAGH. Beitrag zur Lokalisation des musikalischen Talentes im

Gehirn und am Schädel 293

F. Schuster. Untersuchungen über die Sensibilitätsleitung im Rflcken-

mark des Hundes , . 201

M. BoTHMAKN. Über die Ausfallserscheinungen nach Läsionen des

Zentralnervensystems 449

M. Bosbnfeld. Über einige Ausiallesymptome bei Verletzungen der

linken Grofshirnhemisphäre 450

IT. Ümpflndongen.

1. Gesichtsempfindungen.

G. Habbslandt. Sinnesorgane im Pflanzenreich zur Perzeption mecha-

nischer Beize. verm. Aufl 295

V. A. Oft. HüNicovr. The OTime of Pereeption ae a Measure of Differences

in Sensations 297

Inhaltwerzeichnia.

2. Gesichtsempf indungen. .

S6lt6

R. Rashjlmann. Zur Anatomie und Physiologie des Bigmentepithels

der Netzhaut 365

Ey Wlotzka. Ändert sich die Refraktion des Auges beim Aufenthalt

im Dunkeln? 365

£L Kbabuf. Physischophthalmologische Grenzprobleme. Ein Beitrag

zur Farbenlehre 300

Stbiobs. Studien über die erblichen Verhältnisse der Hornhaut-

krflmmung 450

W. A. Nagel. Zwei Apparate für die augenärztliche Funktionsprüfung 450 O. H. JuDD. Photographic Records of Convergence and Divergence . 301 R. DiTTLBB. Über die Zapfenkontraktion an der isolierten Froschnetz- haut 451

V. A. Ch. Henmon. The Detection of Color-Blindness 301

H. B. Thompson and K. Gobdon. A Study of After-Images on the Peri-

pheral Retina . . 302

H. KÖLLNEB. Untersuchungen über die Farbenstörung bei Netzhaut- ablösung 366

S. Sbligmann. Ein Apparat zur Prüfung der Sehschärfe 366

R. Stioleb. Beiträge zur Kenntnis des Druckphosphens 366

A. Meisliko. Over synet og dens fysisk-chemiske grundlag .... 452

E. Rabhlmann. Die neue Theorie der Licht- und Farbenempfindung

auf anatomisch-physikalischer Grundlage 452

8. O. Mast. Light Reactions in Lower Organisms. II. Volvox Globator 302

3. Gehörsempfindungen.

J. R. Ewald u. G. A. Jädebholm. Auch alle Geräusche geben, wenn

sie intermittiert werden, Intermittenztöne 146

A. Wtczolkowska. A Study of Certain Phenomena concerning the

Limit of Beats 146

F. H. Quix. Die Schwingungsart der Stimmgabel 202

L. P. BoGos. Studios in Absolute Pitch 203

W. V. D. BmoHAM. The Role of the Tympanic Mechanism in Audition 303 M. Mbyeb. The Significance of Wave-Form for our Comprehension of

Audition 304

F. Kbügeb. Die Theorie der Konsonanz. Eine psychologische Aus- einandersetzung Yornehmlich mit O. Stumpf und Th. Lepps . . 367

E. H. Cambron. Tonal Reactions 372

H. Laitbeb. Anatomische Untersuchungen über Heterochromie bei

tauben, unvollkommen albinotischen Katzen 453

4. Kopfbewegnngsempfindungen.

W. Bock. Untersuchungen über die Funktion des Bogengangsapparates

bei Normalen und Taubstummen 204

A. VAN Rossem. Gewaarwordingen en reflexen, opgewekt van uit de

halfcirkelvormige kanalen 205

VI Inhaltsverzeu^nis.

Seite W. F. Ewald. Die Fortnuhme des häutigen Labyrinths und ihre

Folgen beim Flufsaal. (Anguilla vulgaris) 454

6. Organempfindungen. SchmerE. £. Mbumann. Zur Frage der Sensibilität der inneren Organe . . . 372 S. Metbr. Der Schmerz. Eine Untersuchung der psychologischen

und physiologischen Bedingungen des Schmerzvorganges . . . d05 S. Alrütz. En Apparat för ündersökning af Smärtsinnet. (Ein Apparat

zur Untersuchung des Schmerzsinnes) 147

6. Allgemeine Eigenschaften der Empfindungen.

P. HoBFBR. Beitrag zur Lehre vom AugenmaTs bei zweiäugigem und

bei einäugigem Sehen 147

C. Adam. Über normale und anomale Netzhautlokalisation bei

Schielenden 454

B. BoüBDON. Influence de la force centrifuge sur la perception de la

verticale * 152

E. Alvobd and H. Searle. A Study in the Gomparison of Time Intervals 206 A. Basleb. Über das Sehen von Bewegungen. I. Mitt.: Die Wahr- nehmungen kleinster Bewegungen 455

F. M. Urban. On Systematic Errors in Time Estimation 206

V. Qriindgesetae des seelischen Gesohehena.

F. Abnold. The Given Situation in Attention 374

G. L. Jackson. The Telephone and Attention Waves 374

J. QüANDT. Bewufstseinsumfang für regelmäfsig gegliederte Gesamt- vorstellungen 374

F. Abnold. The Psychology of Association 207

E. Meumann. Über Assoziationsexperimente mit Beeinflussung der

Reproduktionszeit 376

Th. P. Bailet. Snap Shot of an Association Series 877

F. Abnold. The Initial Tendency in Ideal Revival 206

J. Bebostböm. Effect of Changes in the Time Variables in Memorizing,

together with some Discussion of the Technique of Memory

Ezperimentation 209

F. EuHLMANN. On the Analysis of the Memory-Consciousness . . . 211 Elisabeth Severance and Mabo. Floy Washbübn. The Loss of Asso-

ciative Power in Words after Long Fixation 212

M. IssEBLiN. Die diagnostische Bedeutung der Assoziations versuche . 213

W. H. WiNCH. Immediate Memory in School Ohildren No. II. Auditory 305

E. J. SwiPT. Memory of Skillful Movements 306

F. Kbameb u. W. Stebn. Selbstverrat durch Assoziation 306

Maiobe et Pi^ON. Le möcanisme du renforcement sensoriel dans

Tattention. Est-il pöriphörique ou central? 307

W. MaoDougall. Physiological Factors of the Attention - Process. IV 307 H. J. Watt. Über den Einflufs der Geschwindigkeit der Aufeinander- folge von Reizen auf Wortreaktionen 309

IfUidltsverzeichnis. VII

VL VorBtellungen.

Seite

F, H. Bradlxt. On Floating Ideas and the Imaginary 466

A. Wtczolkowska. Illasions of Reversible Perspective 68

Fb. Angkll. On Jndgments of „Like'' in Discrimination Experiments 213

H. Gabb. A Visnal Illusion of Motion during Eye Closure .... 214

The Pendnlar Whiplash Illusion of Motion 310

C. H. Jüin> and D. J. Gowlivo. Studies in Perceptual Development . 378

H. N. LooMis. Reactions to Equal Weights of Unequal Size .... 378

IL VON ' Stbbneck. Der Sehraum auf Grund der Erfahrung 379

Th. P. Bailbt. Snap Shot of a Hunt for a Lost Name 311

F. Kum.]f ANN. Problems in the Analysis of the Memory Consciousness 386 Ks M. Gibsblbb. Das Lautspurentasten bei der Erinnerung an Eigen- namen 386

J. CoHN u. W. Gbnt. Aussage und Aufmerksamkeit 467

A. Gottschalk. Zur Zeugenpsychologie 468

G. H. Sabinb. The Concreteness of Thought 162

6. Panconcblli-Oalzia. Bibliographia phonetica 311

Tasst. De quelques propriöt^s du fait mental ^ 312

K. Obstbbbbich. Die ' Entfremdung der Wahmehmungswelt und die

Depersonnalisation in der Psychasthenie. Ein Beitrag zur Ge- fühlspsychologie 216

H. FosTON. The Constitution of Thought 469

Eji. B. B. Aabs. Til Erkjendelsens Psykologi. (Zur Psychologie des

Erkennens) 163

G.-H. LvQüBT. Logique rationelle et psycfi^ologisme 164

£. ScHBADEB. Elemente der Psychologie des Urteils. I. Bd. Analyse

des Urteils 218

H. Fbischeisbn-Köhlbb. Über den Begriff und den Satz des Bewnüst-

seins. Eine erkenntnistheoretische Untersuchung 387

B* M. Mbyeb. Ursprung des Kansalitfttsbegriffes 390

A. E. Tannbb. An Illustration of the Psychology of Belief .... 218 W. V. Bechtbbbw. Über persönliches und Gemeinbewulstsein . . . 219

Fl A. NoBBis. Seif as a Developed Feeling Complex 386

G. Wbbnick. Der Wirklichkeitsgedanke 386

M. Fbischeisbn-Köhlbb. Die Lehre von der Subjektivität der Sinnes- qualitäten und ihre Gegner 388

VH. GefQhle.

B. Lagbbbobg. Das GefOhlsproblem 219

G. Mabtiüb. Über die Lehre von der Beeinflussung des Pulses und

der Atmung durch psychische Beize 226

O. MiNNBMANN. Atmuug Und Puls bei aktuellen Affekten 228

Kblchnbb. Untersuchungen über das Wesen des Gefühls mittels der Ausdrucksmethode. II. Die Abhängigkeit der Atem- und

Pulsveränderung vom Reiz und vom Gefühl 391

VIII liüialtavereeicknis.

Sslto H. Bebgeb. Die körperlichen Äufserungen psychischer Zustände.

Experimentelle Beiträge £ur Lehre von der Blutzirkulation in

der Schädelhöhle des Menschen. II Teile 460

L. P. BooGs. The Relation of Feeling and Interest 396

F. Aknold. The Psychology of Interest 312

L. DüGAS. La fonction psychologique du rire 229

W. B. PiTKiN. Reasons for the 81ight Esthetic Value of the Lower

Senses 323

J. VoLKSLT. Persönliches und Sachliches aus meinen ästhetischen

Arheitserfahrungen 59

Th. Lipps. Ästhetik. Psychologie des Schönen und der Kunst. II. Tl. :

Die ästhetische Betrachtung und die bildende Kunst . . « . 42

F. RosEK. Darstellende Kunst im Kindesalter der Völker 466

Dumas. Les conditions biologiques du remords 467

P. NlcKE. Zur Psychologie der plötzlichen Bekehrungen ..... 467

L. Stein. Wissenschaftliche Wahrheit und religiöse Gewifsheit . . 230

S. Fbettd. Zwangshandlung und Religionsübung 230

J. Bresleb. Religionshygiene 231

VIEL Bewe^nuig und Wille.

£. Webbb. Das Verhältnis von Bewegungsvorstellungen zu Bewegung bei ihren körperlichen Allgemein Wirkungen. Plethysmographische

Untersuchungen 313

F. N. Frbeman. Preliminary Experiments on Writing Reactions . . 396

L. Tb&ves. Le travail, la fatigue et l'effort 60

B. G. £web. Determinism and Indeterminism in Motiyes 231

H. HöFFDivG. Begrebet Vilie. (Der Willensbegriff) Xfö

R. Lagebbobg. Viljan och dess Skötsel. (Zum Begriff und zur Pflege

des Willenslebens) 166

H. CüBSCHMAKN. Beiträge zur Psychologie und Pathologie der kontra- lateralen Mitbewegungen BIS

IZ. Besondere Zustände des Seelenlebens.

P. Kbonthal. Über den Schlaf 997

S. Albutz u. B. Hammeb. Sanndroemmen i Jerfsö. (Die Wahr- träumerin in J.) 166

A. Moll. Der Hypnotismns. Mit Einschlufs der Hauptpunkte der

Psychotherapie und des Okkultismus. 4. yerm. Aufl 398

S. Albütz. Halfspontana Företeelser under Hypnos. (Halbspontane

Vorgänge beim Znstand der Hypnose) 157

B. Smis. Are there Hypnotic Hallucinations ? 60

S. Albutz. Oabl von LinnA och Slagrutans Problem. (Das Problem

der Wünschelrute) 157

H. Oppenheim. Nervenkrankheiten und Lektfire, Nervenleiden und Er-

Ziehung, die ersten Zeichen der Nervosität des Kindesalters. 2. Anfl. 157

Seite H. Voet o. W. WsvciAn»T. SSeitsoiinft l<br die firfonobung und Be- hftndinig des jngeiidliohin ficfawadMiiimB auf wisBeiucbafUiefaer

Gruiuttsge 1 (1) 282

TBL Gaüpp. Wage und ZMe psychiBtriwlMr Foradmng 158

H. Ilbxro. Geisteeknuikhdten 314

W. Spboht. Psychologie und Psychiatrie S99

W. Hellpach. Über die Anwendting psycbopatbologiscber Erkennt- nisse auf gesellschaftliche und gescbicbtlicbe Erscheinungen . 814

S. DE Saivctis. Types et degrds dlnsnffisanoe mentale 168

J. Hampe. Über den Schwachsinn nebst seinen Beziehungen sur

Psychologie der Aussage 2S2

G. LoMBB. Liebe und Psychose 288

Sadoeb. Die Bedeutung der psychoanalytischen Methode nach Freud 833

A. Gbsooe. Beiträge zur Kenntnis der Gedftchtnisetörungen bei der

KofiSAKOFFBchen Psychose 834

B. KuTEEB. Die transkortikale Tastlfthmung 234

Fr. Habthaen. Beiträge zur Apraxielehre 236

G. Dbetvus. Die Inanition im Verlaufe von Geistetdcrankheiten und

deren Ursachen 236

P. J. MÖBIU8. Über Scheffels Krankheit. Mit einem Anhang : Kritische

Bemerkungen über Pathographie 315

ÜABiE et Viollet. L'Envoütment moderne, ses rapports avec l'ali^-

nation mentale 237

Cl. Chabpentier. Quelques temps de röaction chez les aliönös . . . 237

B. d'Allohees. Le sentiment du myst^re chez les ali^nte 237

Jj, W. Webeb. Zur prognostischen Bedeutung des Aboyll-Bobbbtsok-

sehen Phänomens 238

Ch. Blondel. Les auto-mutilateurs, ätude psycho - pathologique et

m^ico-l^gale 315

fi. Klien. Über die psychisch bedingten Einengungen des Gesichtsfeldes 315 J. W. Baibd. The Contraction of Color Zones in Hysteria and Keu-

rasthenia 400

G. Dketfus. Ein Beitrag zur Kenntnis des hysterischen Irreseins . 317 Ol. Gudden. Über eine gewisse Form von Erinnerungslücken und

deren Ersatz bei epileptischen Dämmerzuständen 316

TL tndivldaam Und Gesellsöhaft.

B. SoMMEB. Familienforschung und Vererbungslehre 158

A. Gbotbnfblt. De modema Rasteoriema i psyohologiek Baiyining.

(Die modernen RassatMorieti in ptfyolMaogiMdibr fielMMMusg) 150 H. HzELscHsa. I>*fl |wycliologiB<sftie Verhiftnis awiseheD der «UgeBeiiien

BildantvMb «niw VoUna ond den in ikim rieh gesialtemt^n

W«IMnOhMmttgen 467

W. WuEDT. Die Anfänge der Cresellschaft. Eine v<$lkflBp8ytiM>togi8fdie

MMÜe 4«7

Fr. Mitchell. MstUnnftlMl P^oAgies .... 238

X Inhaltscerzeidinis,

Seite A. K. Gbrhardi. Das Wesen des Genies, mit einem Anhang: Das

Genie und seine Beziehungen sum Altsprachlichen Unterricht . 317 G. AscHAFFENBUBO. Das Verbrechen und seine Bekämpfung. Ein- leitung in die Kriminalpsychologie fflr Mediziner usw. . . . 468 £. Kbabpelin. Das Verbrechen als soziale Krankheit 471

A. J. ScHBBüDBB. Warum und wozu betreibt man Kinderstudium? 62 W. Akbnt. Die S^ele des Kindes. Eine vergleichende Lebens- geschichte 62

A. BiNBT, Th. Simon et V. Vanbt. Recherches de p^dagogie scientiflque 63

D. R. Majob. First Steps in Mental Growth. A Series of Studies in

the Psychology of Infancy 64

G. Fbibdbich. Psychologische Beobachtungen an zwei Knaben ... 66

H. TöoBL. 16 Monate Kindersprache 66

G. LiNDNBB. Neuere Forschungen und Anschauungen über die Sprache

des Kindes 67

W. Navsbstbb. Die grammatische Form der Kindersprache .... 67 (X Schubebt. Einige Aufgaben der Kinderforschung auf dem Gebiete

der künstlerischen Erziehung 68

C. Ricci. Kinderkunst. Deutsch von E. Roncali 69

L. Nagt. Fejezetek a gyermekrajzok lölektanAböl. (Zur Psychologie

der Kinderzeichnungen) 69

M. Lobsien. Kinderzeichnung und Kunstkanon 69

W. A. Lay. Die plastische Kunst des Kindes 70

DöBiNG. Ein Versuch zur Erforschung elementarer ästhetischer

Gefühle bei 7— 9jAhrigen Kindern 70

E. Mbüxann. Ästhetische Versuche mit Schulkindern 71

M. LoBBiEN. Kind und Kunst. Einige ezperim. Untersuchungen zu

einigen Grundfragen der Kunsterziehung 71

R. Schulze. Die Mimik der Kinder beim künstlerischen Geniefsen . 72

Die freie Geste 72

M. LoBBiEN. Übung und Gedächtnis 73

R. TscHUDi. Der Stundenplan 73

M. DüBB-BoBST. Die Erziehung der Aussage und Anschauung des

Schulkindes 74

H. PiPXB. Die pathologische Lüge 76

W. ViBMANN. Beispiele für Kinderlügen bei grofsen Männern ... 75 O. LiPMANN. Einige interessante Kinderlügen (nach Motet u. P. Lom-

bboba) 75

Die Wirkung der Suggestivfragen 75

Praktische Ergebnisse der Aussageforschung 75

W. PoppELBBütEB. Zur Psychologie des Wahrheitsbewufstseins ... 75 M. V. MANAOftiNB. Die geistige Überbürdung in der modernen Kultur.

Übersetzung, Bearbeitung und Anhang: Die Überbürdung in

der Schule von L. Wagneb 76

A. BiNET. Recherches sur la fatigue intellectuelle scolaire et la mesure

qni peut en 6tre faite au moyen de Testh^iom^tre' ..... 76

Fnhaltwerzeichnis. XI

Seite

W. Stebn. Über Beliebtheit and Unbeliebtheit der Schnlfftcher . . 77 M. C. ScuuTTJ». Experimentelles zum Studiom der gebräuchlichsten

Methoden im fremdsprachlichen Unterricht 78

V. Vanbt. Nonyelles möthodes de mesure applicables au degr^ d'in-

struction des ^l^ves 78

A. Bdixt. A propos de la mesure de Tintelligence 79

A. Aall. Om Bamesjaelen. (Die Psychologie des Kindes) .... 160

M. V. O'Shea. Tendencies in Childand Educational Psychology . . 400

A. BiKXT et Th. Simon. La mis^re physiologique et la mis^re sociale 79 6. STOBRiNa. Ethische Grundfragen. I. Teil: Darstellung und kritische Würdigung der moralphilosophischen Systeme der Gegenwart. Eigenes Moralprinzip. 11. Teil: Rechtfertigung der Forderung sittlichen Lebens 319

XL Tierpsychologie,

G. BoNNiEB. Les abeilles n*ex^cutent-elles que des mouvements röflezes ? 240 £. NicouK. Ett Fall af Sömng&ngarskap hos Hund. (Ein Fall von

Somnambulismus beim Hunde) 820

Ankündigung 80

Namenregister 473

Die Referenzflächentheorie der scheinbaren Gröfse

der Gestirne.

Von Professor Dr. Robert v. Stbrneck in Czemowitz.

Den äufseren Anlafs, auf meine Untersuchungen über die scheinbare Form des Himmels und die scheinbare Gröfse der Oestime, wiewohl ich sie bereits an zwei anderen Orten ^ ver- öffentlicht habe, auch in dieser Zeitschrift zurückzukommen, gibt mir eine vor kurzem erschienene Besprechung meiner Referenz- flächentheorie von Alois Müller.* Diese Besprechung zeigt nämlich, schon in ihrem blofs referierenden, noch mehr aber in ihrem kritischen Teile so zahlreiche Mifsverständnisse und un- richtige Auffassungen meiner Theorie, dafs ich Wert darauf legen mufs, dafs die Leser dieser Zeitschrift die Kenntnis der- selben nicht aus dieser Quelle allein schöpfen. Ich beginne mit einer kurzen Darstellung der Hauptpunkte meiner Theorie tmd will daran die Widerlegung der MöLLERschen Einwände schHefsen.

1. Begriff der BeferenzflSche.

Wenn wir uns ganz allgemein fragen, wie grofs uns etwa der Durchmesser der Sonne erscheint, wenn diese in einer be- stimmten, mäfsigeij Höhe steht, so sind wir geneigt, etwa den Betrag von 16 cm zu nennen. Diese Schätzung entspricht einer Entfernung von 16,1 m; in dieser müfsten wir nämlich eine Scheibe von 15 cm Durchmesser anbringen, wenn sie die Sonne gerade verdecken sollte. Da wir nun weder den Eindruck haben.

* Sitzufigsberichte d. k. Akad. d. Wies, in Wien 115, Abt. IIa. 1906. Der Sehraum auf Grund der Erfahrung. Leipzig, J. A. Barth. 1907.

Diese Zeitschnft, I. Abt., 44, S. 186.

ZeitBChrift fdr Psychologie 46. 1

2 Robert v, Stemeck.

dafs die Sonne nur 16,1 m von uns entfernt sei, noch auch, dafs ihr Durchmesser in Wirklichkeit nur 15 cm betrage, so sehen wir, dafs wir eigentUch den Durchmesser einer Scheibe geschätzt haben, die der durch den Sonnenrand und unser Augo bestimmte Kegel aus einer idealen Fläche ausschneidet, die in ganz mäfsiger Entfernung verläuft. Um diese Fläche, die jeden- falls eine Rotationsfläche mit vertikaler Achse ist imd die wir „Referenzfläche" nennen wollen, auszumessen, ist es blofs nötig, den Sonnendurchmesser bei mögUchst zahlreichen, verschiedenen Ständen der Sonne zu schätzen und aus jedem Schätzungsresultat den zugehörigen Leitstrahl der Referenzfläche zu berechnen. Ganz analog beziehen wir auch die Distanzen benachbarter Sterne, den Monddurchmesser, schliefsUch auch die Gröfse von Wolken auf bestimmte Referenzflächen.

Bei der Ausgleichung derartiger Beobachtungsresultate zeigte es sich immer, dafs die gesuchte Referenzfläche sich als die eine Mantelfläche eines zweischaUgen Rotationshyperboloides darstellen Uefs, dessen Leitstrahl q mit dem Höhenwinkel (p durch die

Gleichung o = -. -. z- zusammenhängt, wo b und m Kon-

^ ^ m sin y + 1 ^ '

stauten sind; das Verhältnis der Vertikalerhebung der Fläche im Zenith zum Radius des Schnittkreises derselben mit der Horizontalebene beträgt dann 1 : (m + 1) ; wir nennen eine solche Fläche der Kürze halber ein Hyperboloid 1 : (m -|- 1).

Die Referenzfläche ist, wie eine Umfrage zeigte, individuell verschieden; doch ergab sich, dafs, soweit dies ohne Vornahme gröfserer Versuchsreihen konstatiert werden konnte, sich diese individuellen Verschiedenheiten nur auf die absolute Gröfse, nicht aber auf die Form der Referenzflächen beziehen. So gibt es Personen, deren Referenzflächen in allen Dimensionen etwa sechsmal kleiner sind als meine eigenen. Es entsteht die Auf- gabe, die einzelnen Referenzflächen empirisch zu bestimmen und ihre Entstehung zu erklären.

2. Die Beferenzfläche des Sternenhimmels.

Zu ihrer Ermittlung wurde folgende Methode verwendet : es wurden immer je zwei Sterne von ungefähr gleicher Höhe ge- nommen und zunächst die scheinbare Entfernung derselben ge- schätzt, indem auf einem auf dem Tische liegenden Mafsstabe ein der scheinbaren Entfernung der beiden Sterne gleiches Stück

Die Referenzflächentheorie der scheinbaren Gröfae der Gestirne. 3

abgesteckt und die entsprechende Anzahl Zentimeter abgelesen wurde. Dann wurde mit einem Mikrometer die Entfernung der beiden Sterne im Winkelmals bestimmt und an einem Höhenmefsapparat die Höhenwinkel abgelesen, bei denen, wenn sie nicht ganz gleich waren, das Mittel genommen wurde. Die Beobachtungen erstreckten sich auf 43 Sternpaare.

Als Referenzfläche des Sternenhimmels ergab sich ein Hyper- boloid 1 : 2 mit der Vertikalerhebung von 12,2 m im Zenith. Aus der Kenntnis der Referenzfläche können wir zwar nicht auf die Gröfse, wohl aber auf die Form des scheinbaren Himmels- gewölbes schhefsen ; denn die Referenzfläche ist dem scheinbaren Himmelsgewölbe ähnlich. Wenn wir nämlich irgend zwei Stern- paare betrachten, die etwa von der Art sind, dafs die gegen- seitige Entfernimg der Sterne des ersten Paares, auf der ßeferenzfläche gemessen, doppelt so grofs ist, als die der Sterne des zweiten Paares, so machen uns die zwei Stempaare zweifel- los den Eindruck, dafs auch in Wirküchkeit die Sterne des ersten Paares doppelt so weit voneinander abstehen, als die Sterne des zweiten; daraus geht aber die behauptete Ähnlichkeit unmittel- bar hervor.

3. ErUärnngsversnch der Form des Sternenhimmels.

Man kann den Versuch machen, die Form des Sternen- himmels in folgender Art zu erklären: je tiefer ein Stern einer bestimmten Gröfsenklasse steht, ein um so gröfserer Teil des von ihm ausgehenden Lichtes wird beim Durchgange durch die Atmosphäre ausgelöscht; das hierdurch verursachte schwächere Leuchten der tiefer stehenden Sterne könnte nun den psycho- logischen Effekt haben, dafs wir die Lichtquellen in verschiedenen Entfernungen vom Beobachter beflndlich vorstellen. Mit dieser Annahme könnte, wie die numerische Rechnung zeigt, die Form des Sternenhimmels von 10® aufwärts ziemUch erklärt werden; bei Höhen unter 10® stimmt diese Erklärung allerdings gar nicht; hier müfsten die Erinnerungsbilder an den Tages- himmel mit zur Erklärung herangezogen werden.

4. Die Referenzfläche der Sonne.

Die Beobachtungen zeigten, dafs bei Höhen von 10® auf- wärts jedem Werte des Höhenwinkels ein ganz bestimmter Sonnendurchmesser entspricht, während bei Höhen unter 10®

1*

4 Bobert v. Stemedc.

für einen und denselben Höhenwinkel ganz verschiedene schein- bare Sonnendurchmesser auftreten.

Als Referenzfläche der Sonne bei Höhen von 10® aufwärts ergab sich (aus 60 Beobachtungen) ein Hyperboloid 1 : 2,5 mit «iner Vertikalerhebung von 10,1 m im Zenith.

Die Beobachtungen bei Höhenwinkeln unter 10® erstrecken sich auf 12 Unter- bzw. Aufgänge, bei denen im ganzen 47 Schätzungen vorgenommen wurden. Es zeigte sich ein deutlicher Zusammenhang mit der Bewölkung. Wenn bei einem Höhen- winkel unter 10® ein normaler Sonnendurchmesser ein solcher genannt wird, wie er erscheinen würde, wenn sich die Referenz- fläche der Höhen über 10® nach unten normal fortsetzte, so kann mit ziemlicher Bestimmtheit gesagt werden, dafs bei voll- kommen heiterem Himmel und reiner Atmosphäre der normale Sonnendurchmesser zum Vorschein kommt. Bei bewölktem Himmel, namentlich wenn dicke, schwere Wolken fast den ganzen Himmel bedecken, erscheint der normale Durchmesser niemals. Schon bei mäfsiger Bewölkung ist er etwas vergröfsert.

5. Die Keferenzfläche des Wolkenhimmels.

Auch Wolken können auf Referenzflächen bezogen werden. Durch Schätzungen kleinerer Wolken oder von Teilen gröfserer Wolken und Bestimmungen des zugehörigen Winkelwertes erhielt ich (aus 46 Beobachtungen) als Referenzfläche des Wolkenhimmels, der am 25., 26. und 27. März 1906 über Czernowitz sichtbar war, ein Hyperboloid 1 : 9 mit einer Vertikalerhebung von 12,2 m und einer Horizontalausdehnung von 109,4 m.

6. Tiber den Wettstreit der Beferenzflächen.

Der Leitstrahl der eben besprochenen Referenzfläche des Wolkenhimmels hat sich für alle Höhenwinkel gröfser ergeben, als der Leitstrahl der Referenzfläche der Sonne (im Zenith 12,2 gegen 10,1 m, im Horizont 109,4 gegen 25,3 m). Das gleich- zeitige Auftreten dieser beiden Referenzflächen, das wir dann beobachten, wenn bei grofsenteils bewölktem Himmel die Sonne doch sichtbar ißt, mufs nun eine Art Wettstreit der Referenz- flächen zur Folge haben. Denn die beiden Referenzflächen sind nichts anderes als verkleinerte Abbilder der Fläche, auf der sich die Sonne zu bewegen scheint, bzw. ein verkleinertes Abbild des Wolkenhimmels. Dafs nun die scheinbare Sonnenbahn immer

Die Beferenzflächentheorie der scheinbaren Gröfae der Gestirne, 5

innerhalb des Wolkenhimmels verlaufen sollte, wäre eine An- nahme, die unserer Erfahrung vollkommen widerspricht; sehen wir doch immer die Wolken vor der Sonne vorüberziehen. Dieser Widerspruch mit der Erfahrung zwingt uns dazu, in der- jenigen Richtung, in der gerade die Sonne steht, in Gedanken an den Referenzflächen irgend welche Deformationen vorzu- nehmen, bis die Leitstrahlen der beiden Referenzflächen wenig- stens an dieser einen Stelle gleich lang ausfallen. Da nun bei Höhen über 20® der Sonnendurchmesser auch bei bewölktem Himmel immer normal ist, so erkennen wir, dafs bei Höhen über 20® immer die Referenzfläche des Wolkenhimmels zu der der Sonne herabgezogen wird. Es genügt da immer eine Ver- kleinerung des Leitstrahls der Referenzfläche des Wolkenhimmels um höchstens 40®/o, um die beiden Flächen zur Berührung zu bringen. Zum Zwecke der Erklärung der abnormal grofsen Sonnendurchmesser in der Nähe des Horizontes nehmen wir an, dafs andererseits 40% des Leitstrahles die äuTserste Grenze der Deformierbarkeit der Referenzfläche des Wolkenhimmels dar- stellen. Li der Nähe des Horizontes reicht nämhch eine Ver- kleinerung von 40 ®/o nicht mehr aus, um die Referenzfläche des Wolkenhimmels an die Referenzfläche der Sonne heranzuziehen. Da es aber doch unbedingt nötig ist, die beiden Flächen zur Berührung zu bringen, da wir ja sonst in widersinniger Weise die Sonne vor den Wolken vorstellen müfsten, so lösen wir nun den Widerspruch auf die andere der beiden möglichen Weisen, indem wir den Leitstrahl der Referenzfläche der Sonne solange vergröfsem, bis er 60 7o des Leitstrahls der Referenzfläche der Wolken beträgt. Diese Vergröfserungen des Leitstrahls der Referenzfläche haben dann entsprechende Vergröfserungen des scheinbaren Sonnendurchmessers zm- Folge.

7. Die Beferenzfläche des Mondes.

Aus 79 zu den verschiedensten Tages- und Nachtstunden vorgenommenen Schätzungen des Monddurchmessers konnte ich folgende Resultate ableiten.

1. Schätzungen des Monddurchmessers bei Tage werden so- bald 9> ^ 12® ist, auf dieselbe Referenzfläche bezogen wie die Schätzungen des Sonnendurchmessers.

2. Bei Tage erscheint auch der tiefstehende Mond (d. h. tiefer als 12®) in normaler Gröfse (d. h. er wird auf die normale

6 Robert v. Stemeck.

Referenzfläche der Sonne bezogen) aufser wenn eine die Referenz fläche deformierende Wolkenmasse vorhanden ist.

3. Während der Dämmerung zeigt der Mond niemals seinen normalen Durchmesser, sondern erscheint stets vergröfsert und nähert sich mit zunehmender Dunkelheit wieder seiner normalen Gröfse.

4. Schätzungen des Monddurchmessers bei Nacht werden bei Höhenwinkel über 12® auf die Referenzfläche des Sternen- himmels bezogen.

5. Der Mond erscheint bei Nacht bei Höhen unter 12*^ um so mehr vergröfsert, je mehr er den ihn umgebenden Teil des Firmamentes erleuchtet.

Die während der Dämmerung gewonnenen Schätzungs- resultate des Monddurchmessers machten die Einführung einer neuen Referenzfläche, jener des Dämmerungshimmels, nötig. Dieselbe dürfte ziemlich variabel sein und sich im äufsersten Falle etwa doppelt so weit in horizontaler Richtung erstrecken als die Referenzfläche der Sonne.

Bisher war alles blofse Beschreibung von Tatsachen. Nur die Annahme von 40 7o d^ß Leitstrahls als Grenze der De- formierbarkeit der Referenzfläche des Wolkenhimmels ist als Hypothese anzusehen.

8. Die Entstehung der BeferenzflSchen.

Wir haben im ganzen vier verschiedene Referenzflächen an- genommen und ihre Wechselwirkung untersucht:

1. Die Referenzfläche der Sonne,

2. die Referenzfläche des Wolkenhimmels,

3. die etwas variable Referenzfläche des Dämmerungs- himmels,

4. die Referenzfläche des Nachthimmels.

Die Referenzflächen haben so ziemlich alle die gleiche Vertikalerhebung von etwa 12 m. Woher diese gemeinsame Höhe der Referenzflächen stammt, ist nicht leicht zu sagen; vielleicht ist es die Entfernung, die den meisten Menschen gerade angenehm ist, um beim bequemen Hinaufsehen einen Gegenstand der Gröfse nach abzuschätzen. Halten wir diese gemeinsame Höhe als gegeben fest, so haben wir blofs noch die verschiedene Horizontalerstreckung der einzelnen Referenzflächen zu erklären.

IHe Beferemflächentkeorie der scheinbaren Grö/se der Gestirne. 7

Wir beginnen mit 2. Da diese der scheinbaren Form des Wolkenhimmels ähnlich ist, so genügt es, letztere zu erklären. Die Berufung auf die Kalottenform der Wolken selbst ist ganz und gar unzutreffend, da diese so flach wäre, dafs das Verhältnis der Vertikalerhebung zum Radius des Schnittkreises mit dem Horizonte etwa 1 : 71 sein müfste, während wir es 1 : 9 gefunden haben. Wenn wir hier von einer Täuschung gegenüber der Wirklichkeit sprechen wollen, so besteht sie in der auffallend starken Krümmung nicht in der Flachheit des Himmelsgewölbes ; sie findet ihre Erklärung darin, dafs wir die gröfseren Ent- fernungen der gegen den Horizont hin sichtbaren Wolken in viel höherem Mafse unterschätzen, als die kleineren gegen den Zenith. Bei terrestrischen Objekten ergab sich empirisch das

cd Unterschätzungsgesetz d' = _. , , wo d' die scheinbare Ent-

femung, d die wahre Entfernung, c eine von der Art des Stand- ortes abhängige Konstante bezeichnet. Aus Versuchen, die ich an anderer Stelle veröffentlichte, haben wir Grund anzunehmen, dafs c ungefähr 10,6 km beträgt. Dann erhalten wir, wenn h die Höhe der Wolkenschicht bedeutet, als Verhältnis der schein- baren Vertikalerhebung zum scheinbaren Radius des Schnitt-

h 1

kreises mit dem Horizonte r-^\ soll dieses Verhältnis = -^

c + Ä* 9

sein, so mufs A = = 1325 m angenommen werden, was für

die Wolken der betreffenden Beobachtungstage ganz plausibel ist. Da auf Grund des eben erwähnten Unterschätzungsgesetzes eine Gerade als der eine Ast einer bestimmten Hyperbel gesehen wird und die Wolkendecke in Wirklichkeit nahezu einen hori- zontalen Plafond darstellt (wegen der grofsen Dimensionen der Erde), so geht die Gesamtheit der durch den Zenith gehenden Geraden scheinbar in ein Hyperboloid über. Die scheinbare Form des Wolkenhimmels ist damit genügend erklärt; sie hängt, wie man sieht, wesentlich von der Konstanten c, d. h. der schein- baren Entfernung der fernsten gegen den Horizont noch sicht- baren Gegenstände, speziell der Wolken ab. Je kleiner c wird, desto näher rückt der scheinbare Horizont an uns heran, desto steiler wird das Himmelsgewölbe.

Zwei Umstände verkleinem das c; erstens eine allzu grelle Beleuchtung, zweitens eine allzu geringe Beleuchtung. Sehen

g Robert v, Stemeck,

wir gegen die Sonne, so imterschätzen wir erfahrungsgemälB auch die Distanzen terrestrischer Objekte, weil wir keine Details in dieser Richtung wahrnehmen können. Dies scheint mir der Grund der Entstehung einer eigenen Referenzfläche der Sonne zu sein, die sich in horizontaler Richtung viel weniger weit er- streckt; ebenso ist die Dunkelheit der Nacht ein äufserstes Hindernis der Distanzschätzung gegen den Horizont, daher auch in finsterer Nacht die Referenzfläche eine bedeutend steilere Form annimmt als die des Wolkenhimmels bei Tage.

Geht die Sonne unter, so ist das Hindernis in der Distcmz- Schätzung gegen den Horizont hin beseitigt; die Referenzfläche erweitert sich ; daher die relativ grofse Ausdehnung der Referenz- fläche in der Dämmerung. Diese ist unmittelbar nach Sonnen- untergang am gröfsten und nimmt dann mehr und mehr ab; die Referenzfläche schrumpft wieder ein, da die Ungunst der Beleuchtungsverhältnisse wieder zunimmt; die Grenze dieser Zu- sammenziehung ist vielleicht durch das Phänomen der Extinktion des Stemenlichtes in der Atmosphäre beziehungsweise das mattere Leuchten der tieferstehenden Sterne bedingt.

Diese wenigen Bemerkungen sollen zur Erklärung der ver- schiedenen Formen der Referenzflächen genügen. Die gröfseren oder geringeren Schwierigkeiten in der Distanzschätzung gegen den Horizont hin haben eben dieses eigentümliche Heran- oder Hinausrücken des scheinbaren Horizontes zur Folge, das unter Annahme einer konstanten Vertikalerhebung die verschiedenen Formen des Himmelsgewölbes und damit die verschiedenen Formen der Referenzflächen bedingt.

Ich sah mich veranlafst, die vorstehende kurze Skizze meiner Theorie hier mitzuteilen, um klarzustellen, in welchen Punkten der erste Teil der MüLLEKschen Abhandlung, in dem er „meine Theorie mit meinen Worten und in meinem Sinne" wiederzugeben beabsichtigt, einer Richtigstellung bedarf.

Da möchte ich nun vor allem feststellen, dafs ich niemals von der „Täuschung" an den Gestirnen spreche, wie Herr MüiiLEE, nach dessen einleitenden Worten (S. 178, Z. 14) man diese Ausdrucksweise auch mir zumuten könnte. Ich halte sie für unzutreffend; sie hätte nur bei der landläuflgen Auffassung einen Sinn, wo man meinte, der Gesichtswinkel erscheine am

Die Referenzflächenthearie der scheinbaren Gröfse der Gestirne. 9

Horizont und im Zenith wesentlich verschieden grofs. Dies ist aber gerade das Wesentlichste meiner Auffassung, dafs ich, von der Konstanz des Gesichtswinkels ausgehend, durch die Ein- führung der Referenzflächen, dem Phänomen den Charakter einer Täuschung zu benehmen suche. Höchstens beim Wolken- himmel könnte man die Unterschätzung der gröfseren Ent- fernungen von Wolken als Täuschung bezeichnen.

Die Methode der Ausmessung der Referenzfläche des Sternen- himmels besprechend, erzählt Herr Mülleb, ich habe „die Ent- fernung zweier Sterne immer zuerst geschätzt, dann mit Hilfe eines Mafsstabes aus freier Hand gemessen" (S. 188, Z. 27). Wie er sich das wohl vorstellen mag? Die beiden hier genannten Vorgänge waren doch ein und derselbe; die Schätzung bestand eben darin, dafs auf einem auf dem Tische liegenden MaTsstabe von einem Ende an ein der betreffenden scheinbaren Distanz gleiches Stück abgesteckt und die Anzahl Zentimeter abgelesen wurde ; wenn man nämlich ohne Mafsstab schätzt, so kommt ein neuer Fehler hinzu, der darin besteht, dafs man den Mafsstab nicht genau im Gedächtnis hat und die betreffende Strecke in eine unrichtige Zahl von Zentimetern umsetzt; das sollte durch den Gebrauch des Mafsstabes vermieden werden.

Ganz unrichtig ist es, wenn Herr Mülleb eines meiner Resultate folgendermafsen ausdrückt (S. 190, Z. 23): „Bei Tage erscheint der Mond unter 12^ in normaler Gröfse, auch wenn eine die Referenzfläche deformierende Wolkenmasse vorhanden ist". Bei mir heifst es: „aufs er wenn eine die Referenzfläche deformierende Wolkenmasse vorhanden ist". Man wäre geneigt, diese den Sinn vollkommen entstellende Abweichung als Wirkung eines Druckfehlers aufzufassen, wenn sich die Sache nicht in noch bedenkhcherer Weise wiederholte, nämhch S. 192, Z. 1, wo mir folgende Annahme zugemutet wird : „Die Referenzfläche des Dämmerungshimmels entsteht durch die allzugeringe Beleuchtimg der Gegenstände auf den Horizont zu, wodurch die Entfernungs- schätzungen in der Richtung gegen den Horizont behindert werden". Man vergleiche dagegen meine vorstehenden Aus- führungen; ich nehme gerade das Gegenteil an, nämlich, dafs die Beleuchtungsverhältnisse in der Dämmerung die all er- günstigsten seien und die Entfemungsschätzungen in der DämmeruDg am wenigsten behindert werden. Für diese Ab- weichung kann der Setzer gewifs nichts, es geht aus ihr nur

10 Robert v, Stemeck,

hervor, dafs Herr Müller meine Theorie zwar kritisiert, es aber nicht fertig gebracht hat, dieselbe vorher auch wirküch genau zu lesen.

Nach diesen tatsächlichen Berichtigungen, die blofs den ersten Teil der Arbeit Müllers betreffen, gehen wir nun zum zweiten, kritischen Teil des Referates über.

Herrn Müller erscheint die Methode der Beobachtungen zu roh, um über die spezielle Form der Referenzflächen etwas Sicheres erkennen zu lassen. Er hält die Schätzungen am Himmelsgewölbe für besonders unsicher und beweist dies mit dem Hinweis auf die Unterschiede in den Schätzungen ver- schiedener Personen. Nun habe ich mich in meiner Arbeit über diese individuellen Unterschiede sehr vorsichtig und zurück- haltend ausgesprochen und gebe gerne zu, dafs sie sehr be- deutende sein mögen. Aber was hat das mit der Genauigkeit der Schätzungen einer bestimmten Person zu tun? Wie weit die Beobachtungen desselben Beobachters an verschiedenen Tagen miteinander übereinstimmen, das kann man ja aus den Be- obachtungsserien selbst ersehen, da ist man doch nicht auf vage Vermutungen angewiesen. Dann sagt der Referent weiter : „Man vergleiche aufserdem die Gröfsen der geschätzten Strecken, die bis 270 m wahrer Distanz auf der Erde und bis 210 cm ge- schätzter Distanz am Himmel gehen; dafs Schätzungen solcher Strecken zu unsicher sind, um die Grundlage für die Ableitung einer so speziellen Form wie des Hyperboloids zu geben, ist meines Erachtens klar". Nun frage ich: Was hat die Gröfse einer geschätzten Strecke mit der Genauigkeit der Schätzung zu tun? Man kann doch eine grofse Strecke ebenso gut genau und ungenau schätzen, wie eine kleine. Ja ich glaube sogar sagen zu können, dafs die Wahl gar zu kleiner Distanzen am Himmel nicht zu empfehlen ist, da es ja auf das Verhältnis des Schätzungsfehlers zu der zu schätzenden Strecke ankommt und dieses bei Verkleinerung der Strecke eher zu- als abnehmen dürfte. Unklar ist mir überdies auch, was der Herr Referent mit den 270 m auf der Erde meint. Er will hier doch die Me- thode besprechen, die zur Ableitung der Form der Referenzfläche verwendet wurde und damit haben die Schätzungen auf der Erdoberfläche absolut nichts zu tun. Für die Genauigkeit von Beobachtungsresultaten gibt es ja doch ganz objektive auf der Wahrscheinlichkeitsrechnung f ufsende Kriterien ; diese mufste

Die Beferenzflächentheorie der scheinbaren Qröfae der Gestirne, H

man anwenden, um über die Genauigkeit der Methode irgend welche berechtigte Aussagen machen zu können. Das Resultat wird da, wie schon die geringen Abweichungen der einzelnen Beobachtungsresultate von den ausgeglichenen Werten zeigen, ein ganz befriedigendes sein.

Von einer ganz mifsverständlichen Auffassung zeugt die Kritik, die Herr Müllee an den Begriff der Referenzfläche übt. So behauptet er, es gehe aus meinen Darlegungen hervor, dafs die Referenzfläche mit der augenblicklichen Form des Himmels- gewölbes nicht übereinzustimmen brauche; dies gehe angeblich „aus den Darlegungen über den Wettstreit der Referenzflächen hervor, wonach die Referenzfläche des Wolkenhimmels kein Hyperboloid mehr ist, sondern eine Glockenform besitzt, wovon die Beobachtungen der scheinbaren Form des Wolkenhimmels keine Spur zeigen". Demgegenüber stelle ich richtig, dafs nach meiner Auffassung die Referenzfläche, wie ich bereits betont habe, immer der scheinbaren Form des Himmelsgewölbes ähn- lich ist. Eine Glockenform kann wohl auch beim Wettstreit der Referenzflächen niemals auftreten; ich weifs gar nicht, durch welche Bemerkung in meiner Abhandlung diese abenteuerliche Anschauung zustande kommen konnte. Der Wettstreit der Referenzflächen hat vielmehr eine ganz lokale Deformation der Referenzfläche des Wolkenhimmels zur Folge. Diese Deformation erstreckt sich etwa so weit, dafs ein stetiger Übergang zu den nicht deformierten Partien mögUch ist, ohne dafs eine Kon- vexität gegen den Beschauer eintritt. Wir können dies an jedem bewölkten Tage beobachten, denn die Stelle in der Umgebung der Sonne erscheint dem Beschauer viel näher als gleich hohe Gegenden des Himmels in anderen Weltrichtungen, wodurch eine gewisse Unsymmetrie in die scheinbare Form des Wolken^ himmels kommt. Dafs die Beobachtungen davon nichts zeigen, rührt daher, dafs die geschätzten Wolken sich nicht in unmittel- barer Nähe der Sonne befanden; nur in diesem Falle könnte und müfste man natürlich die Deformation aus den Beobachtungen konstatieren. Denn nehmen wir etwa an, dafs unmittelbar unter der Sonne eine scharf begrenzte kleine Wolke zu sehen wäre, die zufällig genau imter demselben Gesichtswinkel erschiene, wie die Sonne selbst, so ist doch klar, dafs wir ihr auch dieselbe lineare Ausdehnung auf der Referenzfläche zuschreiben würden ; d. h. die Referenzfläche des Wolkenhimmels hätte an der be-

12 Robert v, Sterneck.

treffenden Stelle den Leitstrahl der Referenzfläche der Sonne- Natürlich ist es in der Praxis recht mifslich, Wolken in unmittel- barer Nähe der Sonne zu schätzen; ein einziges Mal habe ich den Versuch in der Nähe der untergehenden Sonne gemacht und tatsächlich einen wesentlich verkleinerten Leitstrahl ge- funden; doch habe ich diesen Versuch in der Publikation nicht ausdrücklich erwähnt, da es ja wohl nicht anders sein konnte. Herr Mülleb fragt mich weiter, was eigentlich die Referenz- fläche psychologisch für eine Bedeutung habe; er spricht diesem Begriff seinen psychologischen Charakter vollständig ab und nennt ihn einen ausschliefslich mathematischen Begriff. Zu- gegeben, dafs die Referenzfläche zunächst blofs ein mathe- matischer Hilfsbegriff sei, um die einzelnen Schätzungsresultate, deren psychologischen Charakter auch Herr Müller zugestehen dürfte, systematisch darzustellen, ist er damit nicht von selbst auch ein psychologischer Begriff geworden? Wie ist es denn in anderen Wissenschaften? Ist der Begriff der mittleren Lebens- dauer einer bestimmten Art von Organismen, der aus dem Be- griffe der Lebensdauer des einzelnen Individuums dieser Art rein mathematisch abgeleitet ist, nicht ebensogut ein biologischer Begriff wie die Lebensdauer des einzelnen Individuums? Das wäre wohl ein müfsiger Streit um Worte, wenn wir uns darüber auseinandersetzen wollten, wie weit wir abgeleitete Begriffe noch demselben Wissensgebiete zuzuzählen haben, denen die ursprüng- lichen Begriffe, aus denen sie abgeleitet wurden, angehört haben. Wenn Herr Müller sagt, ich mache den Fehler, den Begriff der Referenzfläche auch als psychologischen Begriff zu ge- brauchen, so kann ich dieser etwas dunklen Redeweise nur den Sinn entnehmen, dafs Herr Müller es nicht ganz aufgeklärt findet, wie zwei Referenzflächen miteinander einen Wettstreit eingehen können. Dies ist aber einfach zu sagen; denn nicht die Referenzflächen selbst gehen eigenthch einen Wettstreit ein, sondern die Gewohnheiten, auf ihnen zu schätzen; es hat sich z. B. die Gewohnheit ausgebildet, die Sonne bei dieser und dieser Höhe in der Entfernung x abzuschätzen, ebenso hat sich die Gewohnheit herausgebildet, die Wolken bei derselben Höhe in der Entfernung y, die gröfser als x ist, abzuschätzen. Da ich aber die Wolken vor der Sonne sehe, und daher y nicht gröfser als x wählen kann, bin ich aufserstande, diesen beiden Gewohnheiten nachzugehen und mufs ein Kompromifs zwischen ihnen schUefsen.

Die Referenzflächentheorie der scheinbaren Chröfse der Gestirne. 13

Mehr soll auch der Wettstreit der Referenzflächen nicht bedeuten- Ich halte es durchaus nicht für nötig, dafs etwa die gesamten Referenzflächen gleichzeitig vorgestellt werden.

Wie mich Herr Mülleb fragen kann, warum es nicht eben- sogut eine Referenzfläche des Mondes gebe wie eine Referenz- fläche der Sonne, verstehe ich wohl von allen seinen Bedenken am wenigsten. Habe ich doch in meiner Arbeit 12 Seiten aus- schliefslich der Referenzfläche des Mondes gewidmet. Vielleicht soll damit gemeint sein, wanim etwa die Referenzfläche des Mondes nicht einheithch sei, sondern bei Tage eine andere als bei Nacht, und wieder eine andere während der Dämmerung, Aber eben aus psychologischen Gründen wäre es doch äufserst auffallend, wenn drei ganz verschiedene Phänomene: der weifse Mond auf blauem Untergrunde, der hellleuchtende Mond auf schwarzem Untergrunde und der schwachleuchtende Mond auf mäfsig hellem Untergrunde genau zu derselben Art der Schätzung Anlafs geben würden. Umgekehrt : hätten meine Beobachtungen zu einer einheitlichen Referenzfläche des Mondes geführt, so könnte man mit mehr Recht einwenden, dafs es psychologisch unwahrscheinlich sei, dafs bei so verschiedenen Phänomenen, hinsichtlich der Schätzung dennoch Einheitlichkeit bestünde.

Die Beschreibung der auf den Mond bezüglichen Phänomene, die ich gebe, findet der Referent unvollständig. Namentlich be- hauptet er, dafs ich die atmosphärischen Umstände, unter denen die Schätzungen erfolgen, nicht berücksichtigt habe. In Wahr- heit habe ich sie aber mit aller nur wünschenswerten Ausführ- lichkeit berücksichtigt, allerdings nur bei Höhen unter 12®, da sich eben bei gröfseren Höhen die vollständige Unabhängigkeit herausstellte; ja ich habe sie bei geringen Höhen sogar als den wichtigsten Umstand erkannt, indem bei Tage die Wolken, bei Nacht die Beleuchtung der Umgebung des Mondes, die oflEenbar von den in der Atmosphäre angehäuften Dunstmassen abhängt, sich als die wesentlich vergröfsernden Momente herausstellten. Sogar das von Herrn Müller namentlich vermifste Moment der Farbe des Mondes habe ich gelegentlich besprochen, indem ich an die Bemerkung von Robeet Smith erinnerte, dafs der hoch- stehende Mond, der bei einer Mondesfinsternis gleichfalls matter leuchtet und anders gefärbt ist als imter normalen Verhältnissen, dennoch in keiner Weise vergröfsert erscheint. Ich hätte es wohl in sachlicher Hinsicht nicht der Mühe wert gefunden, auf

14 Bobert v. Steriieck.

diesen Einwand zu antworten, wenn ich nicht fürchten müfste, dafs der Leser, dem die Originalabhandlung nicht vorliegt, durch eine derartige Berichterstattung irregeführt wird.

Ich werde weiter gefragt, wie ich mich zu der für viele Be- obachter feststehenden Tatsache stelle, dafs ihnen Sonne und Mond am Horizont nicht entfernter, sondern näher erscheinen. In der Tat hat Clapari^de dies namenthch bezüglich des Mondes be- hauptet. Darauf antworte ich folgendes : Angenommen, der Mond erscheine sowohl am Horizont als auch in der Nähe des Zenits am scheinbaren Himmelsgewölbe angeheftet, dann ist es bei der anerkannten Flachheit desselben wohl ausgeschlossen, dafs er am Horizonte näher erscheine. Die erwähnte Erscheinung kann also nur bei Beobachtern stattfinden, die den Mond am Horizonte weit vor dem scheinbaren Himmelsgewölbe frei schwebend sehen ; da wäre es ja nun ganz gut möghch, dafs die Schätzung trotz- dem auf der Referenzfläche des Dämmerungshimmels erfolgte und wir daher den Mond dennoch sehr vergröfsert sehen. Gerade in diesem Falle halte ich daher die Referenzflächentheorie für aufklärend, da sie gewisse Widersprüche gegen das Seh- winkelgesetz, die im Falle des Näher- und Gröfsersehens des Mondes am Horizonte beinahe unvermeidlich schienen, dennoch zu beseitigen imstande ist. Nicht die wahre Gröfse des Mondes scheint demjenigen, der ihn am Horizonte näher sieht, am Horizonte beträchthcher, sondern die Referenzfläche, auf der die Schätzung der Gröfse erfolgt, ist am Horizont weiter entfernt als im Zenit. Überdies halte ich persönlich nicht besonders viel von der ReaUtät des Phänomens des Nähersehens am Horizonte; mir scheint vielmehr, dafs sich da gewisse Vorstellungen der leichteren Erreichbarkeit, die uns durch die weithin sichtbare Erdoberfläche vermittelt werden, mit hineinmischen und so bei imgenügender psychologischer Analyse von einem Nähererscheinen des Mondes gesprochen wird.

An meiner Theorie der scheinbaren Form des Wolken- himmels wird bemängelt, dafs ich von der Annahme ausgehe, der Wolkenhimmel sei in Wahrheit nahezu ein horizontaler in bestimmter Höhe befindUcher Plafond, während er doch die Horizontebene schneidet; diese Voraussetzimg soll daher psycho- logisch unbrauchbar sein. In Wahrheit ist die Sache aber ganz

cd anders. Wenn man das Gesetz d' = , , als Zusammenhang

I>ie Referenzfiächentheorie der scheinbaren Gröfse der Gestirne, 15

zwischen der wahren und scheinbaren Entfernung zugibt, so hat es einen ganz bestimmten Sinn, aus der wahren Form des Wolkenhimmels seine scheinbare zu berechnen. Dieses Rechnungsresultat ist dann ein ganz unwesentlich anderes, wenn ich von einer ebenen Wolkendecke, als wenn ich von einer ganz schwach gekrümmten Kalotte als der wahren Form ausgehe; wer dies nicht glaubt, den bitte ich einfach nachzurechnen. Also blofs zur Vereinfachung der Rechnung wurde jene Voraus- setzung eingeführt, die psychologischen Tatsachen haben, sobald das erwähnte Unterschätzungsgesetz einmal angenommen ist, doch überhaupt nicht mehr mitzureden. Bei genauer Durch- führung der Rechnung unter der Voraussetzung der flachen Kugelkalotte des Wolkenhimmels (gegen welche dann Herr Müller offenbar nichts mehr einzuwenden hätte) würde eine Fläche als scheinbare Form des Wolkenhimmels zum Vorschein konunen, die von dem abgeleiteten Hyperboloid nur absolut un- merklich abweicht. Es ist also auch hier ein arges Mifs- verständnis unterlaufen, indem Herr Mülljek nicht erkannt hat, daCs das Näherungsverfahren ausschliefslich die Rechnung, keineswegs aber die psychologischen Voraussetzungen derselben tangiert.

Die Heranziehung der Extinktion des Sternenlichtes in der Atmosphäre zur Erklärung der scheinbaren Form des Nacht- himmels gibt Herrn Müller Anlafs zu weitgehenden Folge- rungen, indem er behauptet, ich müsse entweder dasselbe Phänomen des Schwächerwerdens des Lichtes auch bei Sonne und Mond heranziehen, oder meine Annahme auch beim Sternen- himmel fallen lassen. Diese Konsequenz unterschreibe ich ganz und gar nicht. Was den Eindruck des Fernerseins der tiefer- ßtehenden Sterne eventuell erzeugen könnte, ist ja der Gesamt- anbUck des Firmamentes mit seinen zwar unregelmäfsig, aber doch über den ganzen Himmel verteilten Sternen erster Gröfse. Nur durch diesen Gesamtanblick kann überhaupt der Eindruck des Matterwerdens der Sterne gegen den Horizont hin erzeugt werden. Dieser wesenthchste Umstand fällt bei Sonne und Mond weg; das Matterleuchten an sich hat mit Entfemungsvorstellungen absolut nichts zu tun. Die scheinbare Entfernung der Sonne z. B. ändert sich nach meinen Erfahrungen, falls ihre Höhe 10® übersteigt, durch das Vorüberziehen der Wolken, wodurch sie sofort weniger hell leuchtet, oder durch Nebel, durch den sie

16 Bobert v. Stemeck.

ihre Farbe verändert, absolut gar nicht. Nebenbei bemerkt, würde ich selbst den auf die Extinktion gegründeten Versuch einer Erklärung der Form des Nachthimmels für den un- sichersten Teil meiner Untersuchung ansehen. Nur in ganz finsterer Nacht, wo uns wirklich der Blick gegen den Horizont hin gar nichts mehr an Entfernungsyorstellungen bietet, könnte sie vollauf zur Wirkung kommen; nun ist es aber beinahe niemals ganz finster; vielleicht kann es in einer sternenhellen Nacht überhaupt nicht genug finster sein, um bei der Vorstellung über die Form des Himmels ausschliefslich auf das Phänomen der Extinktion angewiesen zu sein.

Dafs ich bei Berechnung des psychischen Effektes der Ex- tinktion das WEBEKsche Gesetz nicht berücksichtigt habe, hat mehr als einen Grund; es handelt sich doch nicht um reine Empfindungen. Eher hätte man vielleicht zwischen der der Quadratwurzel aus der Leuchtkraft proportionalen berechneten Entfernung der Lichtquellen und der zugehörigen scheinbaren Entfernung unterscheiden können; doch habe ich diese weitere Komplikation in diesem ohnehin skizzenhaften Versuche, den ich selbst durchaus nicht als erschöpfend betrachten möchte, vermeiden wollen.

Nun kommen wir zum heiteren Tageshimmel. Ref. wirft mir vor, dafs ich in der ersten Publikation* von einer schein- baren Form des heiteren Tageshimmels spreche, und in der zweiten gelegentlich sage, dafs der blaue Himmel bei Tage nicht Anlafs zur Entstehung einer Referenzfläche zu geben scheine; darin sieht er einen Widerspruch und meint, dafs der Eindruck, den der blaue Himmel hinsichtlich seiner Form auf mich machte, «ich während einiger Monate ganz wesentlich geändert habe! Nun, ich kann dies nur dahin aufklären, dafs ich mir allerdings, 60 ungeheuerlich es auch Herr Müllee finden mag, erlaube, dem heiteren Tageshimmel zwar eine scheinbare Form, aber keine Referenzfläche zuzuschreiben. Eine scheinbare Form hat der blaue Himmel jedenfalls, ob er auch eine Referenzfläche hat, hängt ja durchaus nicht von mir ab, sondern müfste sich irgend- wie in den Beobachtungen zeigen ; es müfste z. B. der Mond bei Tage, wo wir ihn zweifellos am blauen Firmamente befindlich

* Sifziingaberichte d, kaiserl Akad. d. Wiss. lU, Abt. IIa „Versuch einer Theorie der scheinbaren Entfernungen".

Die Beferenzflächenthearie der scheinbaren Größe der Gestirne. 17

vorstellen, in einer Gröfse geschätzt werden, die uns über die Dimensionen der Referenzfläche des blauen Himmels Aufschlufs ^bt. In Wirklichkeit wird aber der Mond bei heiterem Tages- himmel auf dieselbe Referenzfläche bezogen wie die Sonne, und nur beim Auftreten von Wolken vergröfsert er sich, was durch ■den Wettstreit der Referenzflächen eine einfache Erklärung findet. Ich konstatierte also einfach die Tatsache, dafs der blaue Himmel zwar eine scheinbare Form, aber keine Referenzfläche habe. Denn dafs die Referenzfläche der Sonne nicht zugleich -die des blauen Himmels sein kann, ist klar; ist sie doch ihrer Form nach von der scheinbaren Form des heiteren Himmels Techt wesentlich verschieden.

Dals ich schüefshch die Form der einzelnen Referenzflächen von den günstigen oder ungünstigen Bedingungen für die Distanzschätzungen gegen den Horizont hin abhängig mache, findet Herr Müller eine Erklärung, die alt und längst widerlegt ist. Dagegen ist nur das eine zu bemerken, dafs man bisher überhaupt nicht von Referenzflächen zu sprechen pflegte, dafs also auch die Erklärung für die Entstehung der Referenzflächen nicht gar zu alt sein kann. Ich habe allerdings nur wenige Bemerkimgen über diese Erklärung gemacht, da ich der Meinung bin, dafs man sich in der Psychologie mehr oder weniger mit -einer Beschreibung, die die Zusammenhänge ungefähr aufdeckt, begnügen mufs. Man nenne mir etwa sonstige psychische Tat- -Sachen und Phänomene, die eine vollständige Erklärung im Sinne exakter naturwissenschaftlicher Forschung gefunden haben.

SchliefsUch überlasse ich es dem Leser, zu entscheiden, in- wiefern meine Theorie einheitlich ist oder nicht. In einen Satz läfst sie sich natürlich nicht zusammenfassen; ich wollte ja auch nur zum Ausdruck bringen, dafs meine Theorie durch die EinheitUchkeit, mit der ich alle einschlägigen Phänomene auf Referenzflächen zurückführe, in bewufsten Gegensatz zu den bisherigen Versuchen tritt, die es im günstigsten Fall bis zur Aufdeckung einzelner Komponenten der Erscheinungen gebracht haben. Vor allem war man bemüht, physiologische Komponenten namhaft zu machen und glaubte in der Verschiedenheit der BHckrichtung eine zwar nicht näher physiologisch zu erklärende, aber durch die Beobachtungen als wirksam erwiesene Teilursache aufzudecken. Ich will diese Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, ohne meinen ernsten Zweifeln an den aus den Versuchen

Zeitschiift für Psychologie 46. 2

18 Eobert v, Sterneck.

gezogenen psychologischen und physiologischen Konsequenzen Ausdruck zu geben. Vor allem ist es sofort evident, dafs die Verschiedenheit der Blickrichtung im besten Falle eine und zwar eine ziemlich untergeordnete Teilursache der Erscheinung bilden könnte; denn die Versuche, die Herr Mülleb selbst angestellt hat, geben bei einer Blickerhebung von 0^ auf 26® eine scheinbare Verkleinerung von 6,5%. Nun beträgt aber nach meinen Beobachtungen die scheinbare Verkleinerung bei diesem Höhenwinkel beim Sternenhimmel 30,7%» l>öi der normalen Referenzfläche der Sonne 39,5%, bei dem speziellen von mir ausgemessenen Wolkenhimmel sogar 77,5%, wie man den Ta- bellen für die Leitstrahlen der betreffenden Referenzflächen un- schwer entnimmt. Da kommen doch die 6,5% wirklich nur sehr untergeordnet in Betracht.

Ich getraue mich aber die Behauptung aufzustellen, dafs sie gar nicht in Betracht kommen. Wir haben hier nämlich zwei Phänomene; die sehr bedeutende Verkleinerung beim Anblick des Himmelsgewölbes und die geringe Verkleinerung von 6,5% bei den Versuchen im Laboratorimn. Wer bürgt dafür, dafs gerade der Versuch im Laboratorium die primäre, die Form des Himmels die sekundäre Erscheinung darstellt? Vielleicht ist es gerade umgekehrt : stets gewöhnt, die Objekte am Himmel gegen den Zenit hin verkleinert zu sehen, können wir uns im finsteren Laboratorium von dieser Gewohnheit eben trotz aller Bemühungen nicht ganz frei machen; es bleibt ein Rest davon zurück, das sind die 6,5%. In Müllebs Abhandlung findet sich sogar die Bemerkung, die Funkenpaare machten in dem betreffenden Laboratorium fast den Eindruck von Stempaaren. Warum soll denn da eine Assoziation ausgeschlossen sein, die von dem ur- sprünglichen Phänomene des Anblicks des Sternenhimmels aus das Phänomen bei dieser Versuchsanordnung modifizierte? Finden wir doch ein vollständiges Analogen bei der Über- schätzung der Höhenwinkel, über die ich an anderer Stelle ^ ausführlich gesprochen habe; die Höhenwinkel werden nämlich so geschätzt, als ob die einzelnen Grade einer Teilung jener Kurve in 90 gleiche Teile entsprächen, die ein durch den Zenit geführter Vertikalschnitt der Referenzfläche des Sternenhimmels liefert. Wir sind also auch bei der Schätzung der Höhenwinkel

^ Der Sehraum auf Grund der Erfahrung. 3. Abschnitt.

Die Referenzflächenthearie der scf^nbaren Gh-öfse der Gestirne. 19

nicht imstande, uns einen Viertelkreis, längs dessen wir eigent- lich schätzen sollen und wollen, richtig vorzustellen, sondern werden immer wieder durch die Referenzfläche des Sternen- himmels davon abgelenkt.

Die Anhänger der Blickrichtungstheorie überschätzen dieselbe also meiner Meinung nach dadurch, dafs sie sie für eine rein physiologische halten ; auch sie beruht ja nur auf psychologischen Experimenten und verdient keineswegs vor anderen psycho- logischen Theorien den Vorzug. Anders wäre es, wenn man etwa in der anatomischen Konstitution des Sehorganes die Be- gründung für eine solche Theorie entdeckte, wodurch dann die betreffenden Phänomene als primäre charakterisiert würden.

Angeregt durch eine Bemerkung, dafs ich die Untersuchungen von Deichmüller ^, die, wie der Referent sagt, meiner Referenz- flächentheorie nahe standen, unberücksichtigt gelassen habe, will ich zum Schlüsse noch einiges über diese Versuche sagen und jene eigentümliche Beeinflussung der Referenzflächen durch irdische Gegenstände mit einigen Worten skizzieren, die mir für das Verständnis jener DEicHMÜLLERschen Versuchsergebnisse wesentlich erscheint.

Deichmüllebs Versuche bestanden in folgendem: er be- trachtete irgend eine auffallende Vertikallinie seiner Umgebung, eine Hauskante, Flaggenstange oder dgl. und fixierte den Punkt am Nachthimmel, der ihm von der Verlängerung dieser Vertikalen getroffen zu werden schien. Dadurch, dafs er sich selbst von ihrem Fufspunkte entfernte, bzw. sich ihm näherte, konnte er erreichen, dafs ein bestimmter Stern genau von dieser Vertikal- linie getroffen zu werden schien. Aus dem bekannten Abstand des Beobachters vom Fufspunkte der Vertikalen imd aus dem Höhenwinkel des betreffenden Sternes konnte Deichmülleb die „scheinbare Distanz" des betreffenden Sternes als Hypothenuse eines gegebenen rechtwinkhgen Dreieckes berechnen. Da zeigten sich nun einige sehr auffallende Erscheinungen; vor allem war die betreffende scheinbare Entfernung durchaus abhängig von der Höhe des die vertikale Richtung charakterisierenden Gegen- standes, der von Deichmülleb als „Vergleichsobjekt" bezeichnet

^ Bericht üb. d. 70. . Versammlung deutsch. Naturf. u. Ärzte. Düssel- dorf 1898. Abt. f. Math. u. Aetron. S. 9 ff.

2*

20 Robert v. Stemeck,

wird. So fand sich z. B. bei einem 7,15 m hohen Vergleich»- Objekt bei den Höhenwinkehi von

32, 42, 51, 77 <>

©ine scheinbare Entfernung des betreffenden Sternes von

48,1, 43,8, 35,0, 12,2 m.

Bei 17 bis 18 m hohem Vergleichsobjekt ergab sich dagegen zu den Höhenwinkehi von

12, 15, 29, 47, 54« eine scheinbare Entfernung von

148, 130, 110, 84, 62 m;

und endhch bei Beobachtungen des Mondes über dem mehrere hundert Meter hohen Siebengebirge bei einer Höhe von

8,5 9,7 12«

eine scheinbare Entfernung von

2862, 2790, 2249 m.

Aus dieser auffallenden Abhängigkeit der Resultate von der Höhe des Vergleichsobjektes geht hervor, dafs wir es hier gewifs nicht mit der „scheinbaren Entfernung" der Sterne bzw. des Mondes zu tun haben. Dies zeigt sich auch in der ganz ungewöhnlichen Form, die der Nachthimmel selbst bei einem und demselben Vergleichsobjekt auf Grund dieser Beobachtungs- resultate haben müfste; er wäre nämUch (nach der ersten Serie) in der Nähe des Zenits nur etwa 10 bis 12 m vom Beobachter entfernt, während dann die Entfernung mit abnehmendem Höhenwinkel so rasch zunimmt, dafs im Zenit eine auffallende Konvexität des Firmamentes gegen unten entstehen müfste, was doch ganz und gar dem Eindrucke, den das Himmelsgewölbe auf den Beobachter macht, widerspricht.

Wir haben es hier vielmehr mit einer eigentümlichen Ver- quickung von Schätzungen auf Referenzflächen und tatsächlichen Schätzungen zu tun ; bzw. mit einer Beeinflussung der Form der Referenzfläche durch gewisse Vorstellungen, die sich auf das Verhältnis der Sternörter zu irdischen Gegenständen beziehen. Wenn wir da in der Fragestellung recht exakt vorgehen, wird es allerdings zu dieser Verquickung der beiden Arten von

Die Beferenzflächentheorie der scheinbaren Oröfse der Qestime. 21

Schätzungen nicht leicht kommen können, aber bei nur un- gefährer Präzisierung des Problems ereignet sie sich, wie die DEiCHMÜLLEBschen Versuche zeigen, ausnahmslos. Für uns sind diese Versuche deshalb von grofsem Interesse, weil sie zeigen, dafs wir, wenn wir durch nichts daran behindert werden, die Sterne mitunter tatsächlich nicht am scheinbaren Himmels- gewölbe, sondern an der Referenzfläche angeheftet vorstellen, womit dann nebenbei auch gezeigt ist, dafs die Referenzfläche in der Tat auch ein Element unseres Vorstellungslebens bilden kann. So ist, was Deichmüller scheinbare Entfernung nennt, offenbar die Entfernung der Referenzfläche; man vergleiche die Entfernung in der Nähe des Zenits (bei niedrigem Vergleichs- objekt) die mit der von mir bestimmten Entfernung der Referenz- fläche des Sternenhimmels im Zenit fast genau übereiQstimmt. Dafs es sich also eigentlich nicht um die scheinbare Entfernung der Sterne von uns als vielmehr um die Entfernung der „Bilder** der Sterne auf der Referenzfläche handelt, kommt uns aber im allgemeinen bei Vornahme der DEiCHMÜLLEHschen Versuche nicht klar genug zmn Bewufstsein. Daher kommt es, dafs wir aus dem Umstände, dafs wir bei einem noch- so weit horizontal entfernten Vergleichsobjekt immer noch Sterne am Himmel sehen, die eine scheiabare noch gröfsere Entfernung von uns haben, gewissermafsen einen unrichtigen Schlufs auf die diesen Sternen auf der Referenzfläche entsprechenden Bilder ziehen, indem wir auch diese Bilder in eine immer gröfser werdende Horizontal- entfemung verlegen, d. h. die Referenzfläche immer noch künst- lich über das Vergleichsobjekt hinüberziehen; so kommt ein eigentümliches Gebilde zustande, das weder die scheinbaren Dimensionen des Firmamentes selbst noch die Dimensionen der Referenzfläche desselben hat; ein Gebilde, das als ein Kom- promifs zwischen Schätzungen auf der eigentlichen Referenzfläche imd den Schätzungen der scheinbaren Entfernungen selbst aufzu- fassen ist.

Hiermit ist, glaube ich, die Beziehung der DEiCHMÜLLEEschen Versuche zur Referenzflächentheorie genügend erläutert; sie konnten kein brauchbares Resultat geben, solange man die zwei heterogenen Arten von Schätzungen, die in denselben miteinander in Verbindung treten, nicht als selbständige psychische Phänomene erkannte und nach irgend einer Methode im Resultate wieder zu sondern verstand. Deshalb finde ich die Bemerkung des Herrn

22 Bobert v. Stemeck.

Müller, die DEiCHMÜLLEBschen Untersuchungen seien meiner Referenzflächentheorie bereits sehr nahe gestanden, nicht ganz zutreffend, denn die DEiCHMÜLLERschen Versuche führten zu vollends unverständlichen , aller Erfahrung widersprechenden Resultaten über die scheinbare Form des Himmels; es war eben damals nicht möglich, ohne erst auf anderem Wege die Existenz der Referenzflächen festgestellt zu haben, zu einer Erklärung dieser scheinbaren Widersprüche zu gelangen. Ich glaube daher nicht, dafs die DEiCHMÜLLEBschen Untersuchungen ihrerseits zur Referenzflächentheorie geführt hätten.

(Eingegangen am 17, Mai 1907.)

23

Über das Wesen der Juckempfindung/

Von

Dr. Ludwig Töeök, Budapest.

Eine Erklärung des Wesens der Juckempfindung* ist mehr- fach versucht worden, ohne dafs diese Versuche zu einem be- friedigenden Ergebnis geführt hätten. Ein Teil der Autoren sucht für die Juckempfindung eine pathogenetische Erklärung zu geben (z. B. Schwimmee und Unna). Diese Erklärungen könnten aber, selbst wenn sie richtig wären, blofs über die Verhältnisse aufklären, unter welchen die Juckempfindung auftritt, über ihr Wesen Uefsen sie uns vollkommen im Dunkeln. Eine be- friedigende Erklärung der Juckempfindung mufs mit der Existenz verschiedener Sinnesfunktionen der Haut rechnen, sowie mit der Existenz von diesen dienenden Nervenapparaten, sie mufs darüber aufklaren, welchen von diesen eine Rolle bei der Entstehung der Juckempfindung zukommt, des weiteren darüber, in welchem Verhältnisse der sich an diesen Nervenapparaten während des Juckens abspielende Vorgang zu jenen Vorgängen steht, welche bisher als Funktionen dieser Apparate durch die Beobachtung festgestellt worden sind. In dieser Richtung bewegen sich die Erklärungsversuche von F. Hebea, Goldscheidee, Beonson und Feey. Beonson nimmt aufser dem Tastsinn (sense of touch) noch einen besonderen Sinn für die Berührung (sense of contact) an und glaubt, dafs die Juckempfindung das Resultat einer Störung dieses „Kontaktsinnes^ sei. Nun ist aber weder eine von dem Tastsinne differente Funktion der Haut, welche einem besonderen „Kontaktreiz" entspräche, noch besondere Nerven- apparate für die Berührung beobachtet worden. Die BEONSONsche

^ Nach einem am 5. März 1906 in der neurologischen Sektion der Ge- sellschaft der Ärzte in Budapest gehaltenen Vortrage.

24 Ludwig Török.

Erklärung kann demnach nicht angenommen werden. Hebba, GoLDSCHEiDER Und Fbey identifizieren in ihren Erklärungen die Juckempfindung mit der Kitzelempfindung und beziehen beide auf die Tastnerven. Hebba behauptet, dafs sanfte, oft sich wiederholende, kurze Berührungen das Jucken erregen und zwar gilt dies von „Jucken infolge von Kitzeln". Goldscheider identi- fiziert, wie ich aus einer Stelle bei Keeidl entnehme, beide Empfindungen ebenfalls. Dies geht aus seiner an der betreffenden Stelle dargelegten Erklärung der Rolle des Kratzens beim Jucken hervor, nach welcher durch das Kratzen ein stärkerer Erregungs- zustand der Drucknerven hervorgerufen wird, welcher den schwächeren, die Kitzelempfindung verursachenden, unterdrückt. Nach Fr^y sind die Empfindungen des Kitzels und Juckens sekundäre Empfindungen. Der juckende Punkt oder dessen Nachbarschaft erscheint nämlich nach seinen Darlegungen, gewöhnlich gerötet. Das Jucken und Kitzeln wären deshalb als Empfindungen aufzufassen, welche durch Reflexe von den Tast- nerven auf die Gefäfse übergreifen.^ Wir sehen demnach, dafs die mit der Kitzelempfindung identifizierte Juckempfindung von Hebra, Goldscheider und Frey mittelbar oder unmittelbar auf die Tastnerven bezogen wurde.

Eine solche Identifizierung der Juck- und Kitzelempfindung ist aber nach meinem Dafürhalten nicht zuzugeben. Die quali- tativ verschiedenen Parästhesien der Haut müssen so weit als mögUch voneinander unterschieden werden und für jede muTs eine besondere Erklärung gesucht werden.

Da nun die genannten Parästhesien sehr häufig nicht ganz rein zur Beobachtung gelangen, ich aber in den folgenden Unter- suchungen das Gefühl des Kitzels von dem des Juckens unter- scheide, so ist es geboten Beispiele für beide Empfindungen an- zuführen. Blofs durch Beispiele kann es klar gemacht werden, welche Empfindung unter Kitzel und welche unter Jucken zu verstehen ist.

Durch leises Berühren der Haut, insbesondere des Gesichtes, der Sohlen, der Beugeseite des Handgelenkes oder der Handteller entsteht schon ein leises Gefühl des Katzeis. Die Kitzelemp- findung soll ja nach Goldscheider die eigentliche spezifische

' Diese Erklärung des Juckens ist schon deshalb unannehmbar, weil das Jucken ganz ohne Reaktion der Hautgefäfse entstehen und bestehen kann.

über das Wesen der Juckempfindung, 25

Empfindung der Tastnerven sein, hervorgerufen durch den schwächsten mechanischen Reiz. Erreicht die Eri'egung der Tast- fasern eine gewisse Stärke, so wird die Kitzelempfindung durch die Tastempfindung unterdrückt. Die Kitzelempfindung kann in stärkerem Mafse hervorgerufen werden, wenn mehrere benachbarte Hautstellen nacheinander leise berührt werden, also durch leises Hinwegstreichen über die Haut. Eine ähnüche Empfindung ent- steht, wenn ein Insekt über die Haut läuft, oder wenn eia Zwirn- faden, der aus der Naht des Hemdes heraushängt, sich auf der Haut hin und her bewegt. Leises Hinwegstreichen über die Spitzen der Haare erzeugt ebenfalls Kitzelgefühl.

Hiervon verschieden ist die Juckempfindung, wie sie nach Insektenstichen entsteht, oder vermittels der Fruchtfäden der m die Gruppe der Leguminosa gehörigen Cucuma pruriens, welche unter dem Namen Juckpulver in den Handel gebracht werden, auch künstlich erzeugt werden kann. Verschiedene Hautent- zündungen, so insbesondere die durch die Einwirkung chemisch wirksamer Substanzen entstehenden artefiziellen Ekzeme, gehen mit dieser Empfindung einher, falls sie nämlich nicht allzu intensiv sind, in welchem Falle sie Schmerzen verursachen.

Die Verschiedenheit der Juck- und Kitzelempfindung läfst sich ziemlich gut beobachten, w^enn beide nebeneinander in der- selben Hautregion und unabhängig voneinander entstanden sind oder hervorgerufen werden.

So z. B. kann neben einer infolge von Ekzem leicht gereizten, juckenden Stelle der Fufssohle durch leise mechanische Reizung auch noch das Kitzelgefühl hervorgerufen werden. Oder man kann an einer Stelle der Beugeseite des Handwurzelgelenkes durch Juckpulver Jucken erzeugen und mit HUf e eines leichten Holz- stäbchens, welches auf einer benachbarten Stelle des Handtellers bewegt wird, leises Kitzelgefühl hervorrufen. Ein Auseinander- halten beider Empfindungen iu ein und demselben Momente an ein und derselben Stelle ist mir bei diesem an mir selbst an- gestellten Versuche nicht gelimgen. Die eine Empfindung verdeckt iromer die andere. Anfangs ist die Juckempfindung so heftig, dafs beim Hin- und Herbewegen des Holzstäbchens nichts gefühlt wird. Später, wenn die Juckempfindung eiaigermafsen ab- geklungen ist, läfst sich während des Hin- und Herbewegens des Holzstäbchens die leise Juckempfindung nicht genau von dem Kitzelgefühle unterscheiden.

26 Ludwig Török.

Versuche, welche mit ekzematösen Individuen angestellt werden, deren Intelligenz in das Wesen der uns beschäftigenden Frage einzudringen nicht genügend ist und deren Ekzem an einer für Kitzel weniger empfindlichen Stelle lokalisiert ist, also z. B. auf dem Rücken, sind für die Entscheidung der Frage von dem Unterschiede zwischen Kitzel- und Juckempfindung kaum verwendbar. Entweder man bekommt wirre, unklare iintworten oder übertriebene, auch lügenhafte, oder man läuft Gefahr, die Antwort zu suggerieren. Immerhin habe ich von einem intelli- genten Arbeiter, einem Schriftsetzer, der an einem juckenden Ekzem der Vorderarme erkrankt war, brauchbare Antworten erhalten. Derselbe sagte mir, als ich die juckende Stelle in der oben angegebenen Weise mit einem hin- und herbewegten Holz- stäbchen leise berührte, dafs er neben dem Jucken an derselben Stelle noch eine Empfindimg verspüre ähnlich der, als würde ein kleines Insekt auf seiner Hand hin und herlaufen. Auch die Frage, ob letzteres Gefühl dem Kitzel ähnlich sei, welchen ich durch dasselbe Experiment auf seiner Handfläche hervorrief, beantwortete er bejahend, während er gleichzeitig angab, dafö die ursprüngliche, vom Ekzem bedingte Juckempfindung einen ganz anderen Charakter besitze, ähnlich dem „als wäre er von einem Insekte gestochen worden". Ebenso bestimmt gab ein zweiter, mit einem juckenden Ekzema chronicum perinei be- hafteter Kranker (Tischler), auf dessen perineum, während der Kranke auf demselben Jucken verspürte, ein Holzstäbchen leicht hin- und herbewegt wurde, an, dafs er nun ein von der Empfindung des Juckens verschiedenes Kitzelgefühl an derselben Stelle ver- spüre. Die Empfindung des Kitzels und Juckens sind demnach voneinander verschieden.

Es kann keinem Zweifel unterliegen, dafs die Empfindung des Kitzels durch ganz leichte mechanische Reizung der Tastnerven- endapparate hervorgerufen wird. Sieht man dagegen genauer zu, unter welchen Bedingungen die Juckempfindimg entsteht, so kommt man zu dem Schlüsse, dafs diese in einer gewissen Beziehung zur Schmerzempfindung in oberflächlichen Hautschichten steht. Es ist z. B. ein ganz gewöhnliches Geschehnis, dafs intensive, schmerzhafte, durch äufsere Einwirkung chemischer Substanzen erzeugte Haut- entzündungen, wenn sie zurückgehen, mit Abnahme der objektiven Keizphänomene statt des Schmerzes Jucken verursachen. Und umgekehrt läfst sich in manchen Fällen beobachten, dafs ober

über das Wesen der Juckempfindung. 27

flächlich gelagerte Hautveränderungen, welche in früheren Stadien der Entwicklung, oder bei geringerer Intensität blofs Jucken erzeugen, später, oder bei stärkerer Entwicklung Schmerzen ver- ursachen. So z. B. verursachen oberflächUche , kleine Akne- knötchen häufig Jucken. Wachsen dieselben und tritt aus- gebreitetere Eiterung in ihnen auf, dann werden sie schmerzhaft. Mein Freund Dr. Mohb, der eine Zeitlang an FoUikulitiden und Furunkulose litt und den ich auf das Verhältnis zwischen Jucken und Schmerz aufmerksam gemacht hatte, beobachtete an sich selber, dafs kleinere, abortiv vergehende, nicht eiternde FoUi- kulitiden bei ihm immer Jucken verursachten, die in Eiterung tibergehenden aber Schmerzen. So, dafs er von jedem einzelnen Knoten im Vorhinein wufste, ob derselbe im Begriffe sei in Eiterung überzugehen, oder nicht. Eine an entzündeten Hämorrhoiden leidende Patientin gab spontan, ohne gefragt zu werden an, dafs nach Rückgang der heftigen Reizerscheinungen die Schmerzen von Jucken abgelöst würden. Ich habe an mir selber beobachtet, dafs eine nach einem Schnupfen aufgetretene schmerzhafte Rhagade am vorderen Ende des Naseneinganges später, während des Zuheilens juckte. Hiermit im Einklänge steht die Erfahnmg, nach welcher, wie der Volksmund sagt, die heilenden Wunden jucken. D. h. auch hier geht der anfängliche Schmerz mit Abnahme der objektiven, pathologischen Verände- rungen in Jucken über.

Weitere in demselben Sinne verwertbare klinische Er- fahrungen sind die folgenden: Bettman hat zuerst auf die Tat- sache aufmerksam gemacht, dafs dem Ausbruche der schmerz- haften Gürtelrose eine Zeitlang Jucken vorangehen kann. Diese Erfahrung hat einer mir gemachten mündlichen Mitteilung zu- folge seither auch Dr. M. Schein gemacht.^ Ich habe in einem Falle von äufserst schmerzhaften Zoster ophthalmicus, welcher das rechte Auge, die rechte Hälfte der Stime und der Parietal- gegend betraf, die Beobachtimg gemacht, dafs nach Ablauf des äufserst schmerzhaften Prozesses Anfälle von Jucken an der be- fallenen Hautregion auftraten. Dabei war auch fleckenweise Analgesie vorhanden.

^ Auch ich habe vor kurzem einen Fall von Gürtelrose beobachtet, bei welchem laut Angabe des Kranken dem Ausbruche des schmerz- haften Ausschlages etwa eine Woche lang Jucken an der später erkrankten Haatstelle vorangegangen war.

28 Ludwig Tbrok.

Bekanntlich wird die Schmerzempfindung an der Haut sowohl durch mechanische, als auch durch thermische und chemische Einwirkungen ausgelöst, während die Tastempfindung blofs durch mechanische Reize hervorgerufen wird. Eine weitere Stütze der oben dargelegten Ansicht über das Verhältnis der Juckempfindung zur Schmerzempfindung würde demnach dadurch geliefert werden, wenn das Jucken durch mäfsige Einwirkungen mechanischer, thermischer und chemischer Natur erzeugt werden könnte. Dies ist tatsächlich der Fall. In bezug auf die chemischen Ein- wirkungen haben wir schon im Laufe unserer bisherigen Aus- führungen Beispiele angeführt (die artefiziellen Hautentzündungen). Weitere Beispiele sind der toxische Nesselausschlag und das auf dem Blutwege entstehende Hautjucken. Bei beiden wird das Jucken durch chemische Agentien verursacht, welche in den Blutkreislauf gelangt sind und durch Vermittlung des letzteren die Hautnerven erreichen und reizen. Beispiele für Jucken in- folge von mechanischen Reizen sind: das Hautjucken infolge des Druckes von Kleidungsstücken (z. B. von Strumpfbändern), oder infolge der Reibung rauher Unterkleider aus Flanell und Wolle. Ein weiteres Beispiel hierfür ist das Jucken bei dem Dermographismus. Auch thermische Einflüsse können Jucken verursachen, doch ist hierzu schon eine besondere Empfindlichkeit der Hautnerven nötig. Manche Individuen bekommen nämlich im Winter, andere im Sommer Hautjucken. Dafür aber, dafe dieses durch Temperatureinwirkungen und nicht etwa durch andere Reize verursacht wird, liefert die Tatsache den Beweis, welche ich an mir selbst beobachten konnte, dafs nämlich schon eine einmalige Einwirkung des thermischen Reizes, z. B. sehr kalten Wassers, das Jucken hervorruft.

Aus diesen und anderen ähnlichen klinischen Erfahrungen läfst sich folgern, dafs die Juckempfindung imd der Schmerz mit- einander in irgend einem näheren Verhältnisse stehen, namentlich aber, dafs diejenigen Nerven, welche bei intensiverer Schädigung von oberflächUchen Schichten der Haut durch gewisse Ent- zündung erregende Reize die Schmerzempfindung auslösen, im Falle geringerer Schädigung der Haut bei der Erzeugung der Juckempfindung mitwirken, dafs daher ein Element des Wesens der Juckempfindung darin besteht, dafs ein geringerer Reizzustand jener in oberflächlichen Schichten der Haut ge-

über das Wesen der Juckempfindung. 29

lagerten Nerven vorhanden ist, bei deren stärkerer Reizung, oder Schädigung die Schmerzempfindung entsteht.

Aber diese Folgerungen lassen sich nicht mit voller Bestimmt- heit ziehen. Denn eine andere, wenn auch weniger wahrschein- liche Erklärung der oben mitgeteilten Tatsachen ist noch möglich, nämlich die, dafs die Juck- und Schmerzempfindung auch in den Fällen, wo sie einander ablösen, nicht an denselben Nerven entstehen, dafs vielmehr, die schwächere Juckempfindung von der an anderen Nerven ausgelösten stärkeren Empfindung des Schmerzes einfach verdeckt wird und so wie der Schmerz schwindet, wieder zum Vorschein kommt, d. h. die Juckempfindung könnte ebenso wie die des Eatzels an den Tastnervenendapparaten entstehen, durch die Schmerzempfindung verdeckt werden und nach Schwinden der letzteren wieder zum Vorschein kommen.

Es mufste daher nach weiteren Beweisen gesucht werden für die Annahme, dafs die Empfindung des Juckens und des Schmerzes an denselben Nerven, aber nicht an den Tastnerven ausgelöst wird. Der eine Weg, der sich zu diesem Zwecke an- zubieten schien, konnte nach einiger Überlegung gar nicht benutzt werden. Es stellte sich nämlich schon a priori als aus- sichtslos dar, durch Einwirkenlassen von abgeschwächten Schmerz erzeugenden Reizen auf die Haut Jucken zu erzeugen. Denn keineswegs konnte angenommen werden, dafs die einfache Ein- wirkung abgeschwächter Schmerzreize das Jucken erzeuge. Der Schwellenwert der Schmerzreize in oberflächlichen Hautschichten mtifste dann immer die Juckempfindung hervorrufen, ein all- mählich anwachsender Schmerz in oberflächlicheren Hautschichten immer als Juckempfindung beginnen, und endlich beim Nach- lassen in Jucken ausklingen. Dem widersprach aber die all- tägliche Beobachtung. Aufser dem geringeren Reizzustand der Schmerz empfindenden Nerven der oberflächlichen Hautschichten, welche unserer Annahme gemäfs, ein Element des Wesens der Juckempfindung ausmachen, mufsten noch andere fürs nächste unbekannte Momente bei dem Entstehen der Juck- empfindung mit im Spiele sein. Bei dieser Sachlage war aber ein Experiment in der eben angedeuteten Richtung aussichtslos.^

^ Doch behauptet Albütz (zit. bei Thünbebg in Nagels Handbuch der Physiologie des Menschen III, S. 704), dafs eine feine Stecknadel (z. B. ßpitzenfläche 0,001 qm) mit einer abgepafsten Belastung (z. B. 1 g) gegen die Haut gedrückt eine Empfindung erzeuge, welche typisch juckend ist.

30 Ludfoig Török.

Ich hatte es aber in der Hand, mit dem sogenannten Juek- pulver auf jeder Haut Jucken zu erzeugen. Da aber hierbei sämtliche Nervenapparate der Haut gereizt werden konnten, war es nicht möglich aus diesen Versuchen Folgerungen zu ziehen. Es hätte einer isolierten Reizung des verschiedenen Zwecken dienenden Nervenapparats der Haut vermittels des Juckpulvers bedurft, um zu verwertbaren Schlüssen zu gelangen. Auf die Möglichkeit solcher Versuche machte mich dann mein Freund Dr. MoRiz Schein aufmerksam. Er und Dozent ärtüh v. Sabbö waren mir auch bei der Ausführung dieser Versuche behilflich. Diese Untersuchungen wurden in Fällen ausgeführt, in welchen eine Dissoziation der Hautempfindungen stattgefunden hatte und zwar in der Richtung, dafs die Tast- und Temperaturemp- findung vorhanden, die Schmerzempfindung hingegen verloren gegangen war. Es wurden untersucht ein Fall von Syringo- myelie und zwei Fälle von Lepra. Einen dritten Fall von Lepra untersuchte L. Philippson (Palermo), dem ich unsere Ergebnisse mitgeteilt hatte, und kam zu identischen Resultaten. Endlich wurde zweimal die durch ScHLEiCHsche Infiltrations- anästhesie schmerzempfindungslos gemachte Haut, auf welcher bekanntlich die Tastempfindung persistiert, in gleicher Weise untersucht.

Die Versuche wurden in der Weise ausgeführt, dafs die Hautstellen, an welchen die Schmerzempfindung total geschwunden war, Einstiche z. B. nicht schmerzhaft empfunden wurden, trotz- dem nach ihnen das Blut hervorsickerte, an welcher aber die Tast- und Temperaturempfindung noch unverändert, oder nur wenig gestört war, mit Juckpulver bestrichen wurden. Während . sich nun an anderen, schmerzempfindenden Hautstellen derselben Individuen die Juckempfindung nach ähnHcher Behandlung mit Juckpulver immer intensiv einstellte, fehlte sie auf den anal- getischen Stellen vollkommen. Die betreffenden Individuen ver- spürten an den mit Juckpulver behandelten analgetischen Stellen gar nichts.

Diese Versuche liefern den experimentellen Beweis für die Richtigkeit der Annahme, dafs dieselben Nerven der oberfläch- hchen Hautschichten, welche den Schmerz vermitteln, auch zur Auslösung der Empfindung des Juckens notwendig sind.

Welche Nerven dienen aber diesem Zwecke? Nach Fbet sind es die freien interepithelialen Nervenendigungen der Epi-

über das Wesen der Juckempfindung. 31

dermis, welche dem „Schmerzsinne" dienen, dessen Nerven- endorgane sie darstellen. Eine Diskussion der Frage, ob wir berechtigt sind, einen Schmerzsinn und Endorgane desselben anzunehmen und ob die Schmerzempfindung die alleinige Funktion der freien interepithelialen Nervenfasern ist, ist hier nicht am Platze. Für unseren Zweck genügt es, dafs wir durch Frey den Beweis für erbracht halten, dafs die freien interepithelialen Nerven- endigungen die Schmerzempfindung vermitteln. Diesen inter- epithelialen Nervenfasern müssen wir auch die Vermittlung der Juckempfindung zuschreiben.^ Als Stütze für diese Annahme dient erstens die Erfahrung, dafs tiefer, im subkutanen Gewebe, oder in der Tiefe der Lederhaut gelagerte Hautveränderungen kein Jucken verursachen. Blofs in den oberflächlichen Schichten der Haut verlaufende Prozesse jucken. Eine weitere Stütze für unsere Annahme bildet folgender Versuch: Bringt man etwas Jückpulver auf eine von der Epidermis entblöfste Hautstelle, z. B. auf eine granulierende Wunde, so entsteht kein Jucken. Das Jucken wird demnach in höheren Lagen der Haut ausgelöst. In demselben Sinne kann noch folgende Erfahrung verwertet werden. In einem Falle von Liehen planus corneus, welche mit äufserst quälendem Jucken einherging und der seit Jahren den verschie- densten therapeutischen Mafsnahmen hartnäckig widerstand, kratzte ich die einzelnen Herde mit dem scharfen Löffel aus; einzelne Herde wurden überdies noch mit dem Galvanokauter gebrannt. Das Jucken hörte hierauf auf, kehrte aber wieder, als sich die operierten Stellen wieder mit Epithel bedeckt hatten. In diesem Falle konnte daher der Schlufs gezogen werden, dafs die juckenden Nerven in der Epidermis gelegen sind. In dem- selben Sinne läfst sich noch ein weiteres Argument verwerten. Es sind nämlich interepitheliale freie Nervenendigungen mit Ausnahme der Cornea bisher blofs an folgenden Stellen nach- gewiesen worden: Epidermis, Gaumensegel, Lippe, Conjunctiva bulbi, Glans penis et clitoridis, Schleimhaut des Mundes, des

» Wie Sack angibt (in Mracbks Handb. d. Hautkr. Bd. IV, S. 241), verlegen auch Webeb, Brembb und Bronson den Sitz des Juckens in die Nervenfasern der Epithelschichte und Bremer führt als Beweis hierfür das sogenannte „Heiljucken" an, welches sich bei der Überhäutung granulieren- der Wunden einstellt und welches „schon zu einer Zeit auftritt, wo die Tastkörper überhaupt nicht vorhanden sind, während eine zarte Epithel- Bchichte sich schon gebildet hat."

32 Ludwig Török.

Pharynx, des Oesophagus, der Vagina.^ An diesen Stellen- wird aber mit Ausnahme der Cornea und des Oesophagus Jucken verspürt. Es liegt daher nahe anzunehmen, dafs die Juck- empfindung an den interepitheHalen freien Nervenendigungen ausgelöst wird.

Die Tatsache, dafs wir in manchen Fällen, z. B. bei dem Nesselausschlage, Jucken unter Verhältnissen beobachten, unter welchen es wohl zu manifesten pathologischen Verändemngen der Papillarschichte der Lederhaut, aber nicht zu ebensolchen der Epidermis kommt, läfst sich gegen die Folgerung, dafs die Juckempfindung an den freien interepithelialen Nervenendigungen ausgelöst wird, nicht verwerten. Denn ob nun der Nesselausschlag auf dem Blutwege, oder durch direkte Einwirkung einer äufseren Schädlichkeit auf die Hautoberfläche zustande kommt, ^ so ist es bei den engen topographischen Beziehungen, welche zwischen dem Papillarkörper und der Epidermis bestehen, sicher, dafs der das Jucken verursachende Reiz entweder gleichzeitig die Epidermis und den Papillarkörper, d. h. die interepitheHalen freien Nerven- fasern und die Papülargefäfse triflft, oder dafs der den Reiz aus- übende Stoff mit dem aus den Papillargefäfsen ausströmenden Exsudate in die Epidermis gelangt. Ersteres ist bei direkter, Äufserer Schädigung der Haut, letzteres bei hämatogener Ent- stehung des Nesselausschlages der Fall. Dafür, dafs eine Schädi- gung der Epidermis und eine Einwirkung des Jucken erzeugenden Reizes auf die Nervenfasern der Epidermis im ersteren Falle tatsächlich stattfindet, bedarf es keiner besonderer Beweisführung. Ob chemische oder physikalische Reize im Spiele sind, diese können ihre Wirkung auf die Papillargefäfse blofs durch die Epidermis hindurch, eventuell erst nach traumatischer Schädigung der letzteren (z. B. bei Insektenstichen) ausüben. Für die An- nahme aber, dafs bei hämatogener Schädigung der Papillargefäfse in Fällen von Nesselsucht das Exsudat in die Epidermis gelangt, stehen uns histologische Befunde zur Verfügung, welche eine ödematöse Durchtränkung der Epidermis beweisen. Des weiteren ist in einigen Fällen der Nachweis des krankmachenden Agens in

* KöLLiCKER, Handbuch der Gewebelehre, 1889, Bd. I, S. 172.

' Philipfson und ich haben in mehreren Arbeiten nachgewiesen, dafs die Urticaria (Nesselausschlag) blofs durch direkte Schädigung der Gefftfs- -wände, d. h. entweder auf hämatogenem Wege, oder durch direkte äufsere Einwirkungen entsteht.

über das Wesen der Juckempfindung, 33

der Epidermis gelungen. Di|8 geschah bei juckenden Blasen- auöschlägen, welche durch Antipyrin hervorgerufen waren. Auch mir ist der Nachweis des Antipyrins in dem Blaseninhalte in einem Falle von Antipyrinexanthem gelungen. Eine Schädigung, eine Beizung der interepithelialen Nervenfasern kann demnach trotz scheinbaren Unverändertseins der Epidermis doch statt- gefunden haben und es besteht daher auch in diesen Fällen nicht die Notwendigkeit, die JuckempjSndung auf tiefer gelagerte Nerven der Haut zu beziehen.

Im Zusammenhange hiermit wollen wir auf eine weitere Frage eingehen, welche von verschiedener Seite aufgeworfen wurde, nämUch wieso es kommt, dafs anatomisch ähnlich geartete Veränderungen der oberflächlichen Hautschichten das eine Mal mit Jucken, das andere Mal ohne Jucken verlaufen. Hierauf ist zu bemerken, dafs es bei der Entstehung der Juckempfindung gar nicht auf die pathologisch-anatomische Veränderung ankommt, Bondem auf die Fähigkeit der Krankheitsursache, die inter- epitheUalen Nervenendigungen in Reizzustand zu versetzen. Nicht nnr pathologisch-anatomisch ähnhche, sondern identische Prozesse können daher einmal jucken, das andere Mal nicht. So z. B. kann man manchmal Fälle von Nesselausschlag zu Gesicht be- kommen, welche nicht jucken, oder Blasenausschläge ganz iden- tischer anatomischer Struktur, welche in einem Falle mit Jucken einhergehen, in dem anderen Falle ohne Jucken.

Für die Unabhängigkeit der Juckempflndung von der patho- logischen Gewebsveränderung läfst sich in manchen Fällen von Dermographismus ein experimenteller Beweis erbringen. Bei diesem entsteht auf mechanische Beize eine seröse Exsudation, welche mit Jucken einhergeht. Das Jucken und der exsudative Prozefs gehen aber, wie ich mich in mehreren Fällen überzeugen konnte, nicht Hand in Hand. Des öfteren habe ich beobachten können, dafs die Juckempflndung schon zu einer Zeit verspürt wird, zu welcher im Papillarkörper blofs kongestive Hyperämie vorhanden ist, während sie trotz allmählicher Steigerung des lokalen Prozesses und trotz Auftretens der Quaddel allmählich abnehmen imd bei höchster Entwicklung der letzteren sistieren kann. Nicht det exsudative Prozefs, sondern die direkte mecha- nische Beizung der Nerven ist demnach in diesem Falle die Ursache des Juckens. V > Ein weiteres Argument für die Bichtigkeit der Annahme,

Zeltscbrift für Psychologie 46. 3

34 Ludwig Török^

dafa das pathogene Agens selbst und nicht die pathologisch- anatomische Veränderong die Jackempfindung verursacht, liefert die Tatsache, dafs dieselben Ursachen einmal exsudative Haut« Veränderungen und Jucken ein anderes Mal Jucken ohne Gefäb- verftnderungen hervorrufen können. Dies gilt namentlich für das auf dem Blutwege entstandene Jucken. So z. B. können bestimmte Nahrungs - und Genu&mittel : Gewürze , Eftse, Alkohol usw. oder Medikamente, wie Opium, Morphium, Arsen usw^ oder Stoffe, welche innerhalb des Organismus erzeugt worden sind und in den Blutkreislauf gelangen (bei Diabetes, bei der Gicht, bei der Oxalurie, bei der Gelbsucht, beim Magen-, Dann* und Leberkrebs, bei vielen Verdauungsanomalien, bei Darm* Würmern) in gewissen Fällen blofses Jucken, in anderen dabei auch noch Veränderungen an den Blutgefäfsen der Papillär- schichte verursachen.

Auf Grund der bisher dargelegten Untersuchungen scheint es mir zulässig zu folgern: 1. dafs bei der Entstehung der Juck^ empfindxmg eine geringere Reizung von Nervenendigungen der Haut eine Rolle spielt, deren stärkere Reizung Schmerzempfindung auslöst, 2. dafs diese Nerven weder mit den Tast- noch mit den Temperatur -Nervenendapparaten der Haut identisch sind und dafs bei der Entstehung der Juckempfindung die interepithe* lialen freien Nervenendigungen beteiligt sind.

Unzweifelhaft spielen bei der Entstehung der Juckempfindung auch noch andere, derzeit unbekannte Faktoren eine Rolle. Die Gründe für diese Annahme habe ich schon weiter oben angegeben. So z. B. vermute ich, dafs eine Oszillation der Intensität des Reizes von Bedeutung sei. Ob bei der Entstehung der Juck-» empfindung auch die Mitwirkung anderer Nervenendapparate« als die der freien interepithelialen Nervenendigungen notwendig sei, d. h. ob hierbei aufser den Schmerz empfindenden Nerven- endigungen auch noch die dem Tastsinne dienenden Nervenende apparate eine Rolle spielen, läfst sich derzeit nicht mit voU^ kommener Sicherheit entscheiden. Ich vermute, dafs die Mit^ Wirkung anderer Nerven nicht nötig sei. Um aber diese Folgerasf mit vollkommener Sicherheit ziehen zu können, bedarf es noeb einer ergänzenden Untersuchung, welche auszuführen, ich,.trots Jahre langen darauf gerichteten Strebens, keine Gelegenheit halle* Wir haben nämlich mit dem Juckpulver blofs Fälle untersoehti bei welchen die Schmerzempfindung untergegangen und die

über das Wesen der Juckempfindung, 35

Tastempfindung erhalten war. In diesen Fällen konnte die Juckempfindung nicht erzeugt werden. Gegen die Verwertung des Versuchsergebnisses in der Richtung, dafs bei der Entstehung der Juckempfindung ausschhefslich die der Schmerzempfindung dienenden Nervenendigungen eine Rolle spielen, läXst sich der Einwand erheben, dafs das Jucken eine gemischte Empfindung sei, zu deren Zustandekommen die Funktionsfähigkeit sowohl der Schmerz empfindenden, i als auch der Tastnerven vonnöten sei, und dafs die Juckempfindung nicht mehr eintrete, so wie welche immer von beiden zugrunde gegangen ist. Zur Entkräftung dieses Einwandes wäre es demnach geboten, Fälle zu untersuchen, in welchen die Tastempfindung verschwunden, die Schmerz- empfindung aber noch erhalten ist. Käme in solchen Fällen die Jückempfindüng zustande und ich glaube, dafs sie zustande kommt dann wäre meine Ansicht diesem Einwand gegenüber vollkommen gesichert. Solche Fälle sind sehr selten, aber sie gelangen doch zur Beobachtung. Da ich blofs über dermato- logisches Material verfüge, habe ich wenig Hoffnung den Versuch auszuführen. Hierzu bietet sich Nervenärzten eher (Gelegenheit. Daher möchte ich auch Nervenärzte, welche diese Abhandlung lesen, ersuchen, den Versuch, falls sie einen geeigneten Fall zu Gesichte bekommen, auszuführen.

{Eingegangen um 7, Juni 1907.)

3*

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Besprechungen.

0. Stumpf. Krscbeinaiigeii and psychische Funktionell. Abh. d. Kgl. Preols.

Akad. d. Wies. 1906. 39 S. Berlin 1907. C. Stumpf. Zar Elnteilaiig der Wissenschaften. Abh. d. Kgl. Preufs. Akad.

d. Wiss. 1906. 93 S. Berlin 1907. Diese beiden Abhandlungen hängen enge zusammen, die erste ist die Voraussetzung der zweiten. Sie müssen darum auch zusammen berichtet werden.

Der Gegenstand der Untersuchung über die „Erscheinungen und psychischen Funktionen'' führt mitten in den Kampf der Meinungen. Unter Erscheinungen versteht St. die Inhalte der Sinnesempfin- dungen, räumliche Ausdehnung und Verteilung der Gesichts- und Be- rührungseindrücke, dann zeitliche Dauer und Folge, femer als Erscheinungen zweiter Ordnung die gleichnamigen Gedächtnisbilder. Zwischen den Er- scheinungen bestehen Verhältnisse; diese sind weder von uns in sie hineingelegt noch blofse Funktionen, sondern werden an ihnen einfach wahrgenommen. Das Bemerken der Erscheinungen und ihrer Verhältnisse dagegen ist eine psychische Funktion (Akt, Zustand, Erlebnis). Eine solche ist auch das Zusammenfassen, die Begriffsbildung, Auffassen und Urteilen, die Gemütsbewegungen, Begehren und Wollen. Wie wir von diesen Funktionen Kenntnis bekommen, das ist nun die Streitfrage.

Als die zwei extremsten Standpunkte stehen sich gegenüber diejenige Auffassung, welche nur Erscheinungen für unmittelbar gegeben, d. h. als Tatsachen einleuchtend erklärt und unser ganzes Wissen um Funktionen auf Sinnesinhalte zurückführt (Erscheinungspsychologie), und diejenige Auffassung, nach der neben den Erscheinungen und ihren Verhältnissen ebenso unmittelbar gegeben sind die Funktionen (Funktionspsychologie). Für letztere tritt St. ein neben Sigwart, Lotze, Brentano, Dilthet, Volkelt, Erdmann, Lipps, Husserl u. a.

Die erste Frage ist nun, ob die psychischen Funktionen durch irgend ein Prädikat des Erscheinungskreises bestimmt werden können. 8t. leugnet das. Abgesehen von der Zeit hätten sie ganz eigenartige, unüber- tragbare Merkmale, so die Sinneswahrnehmung die Deutlichkeit, das UrteU die Evidenz, der Begriff die Allgemeinheitsstufen. Auch die Intensität der emotionellen Funktionen sei mit derjenigen der Sinneseindrücke analog, nicht identisch. Ebenso eigenartig seien die Verhältnisse, wie die Ver- flechtung der intellektuellen und emotionellen Funktionen, das Verhältnis

Bespreckimgen. 37

yon urteil und Begriff, Begriff and Anschauung, Wille und Motiv. Man kann eich aber doch fragen, ob die Eigenart dieser Merkmale leidet, wenn neben der Zeit 8t. meint damit wohl die Dauer auch die Intensität als gemeinsames Prädikat festgehalten wird. Und finden sich femer nicht beiderseits die Verhältnisse „früher", „später", „gleichzeitig", „ähnlich", „verschieden", „gleich"?

Neben dem qualitativen unterschied nimmt St. für beide Seiten auch eine gewisse wechselseitige Unabhängigkeit in Anspruch, eine logische Trennbarkeit. Ihm erscheint eine Erscheinung ohne darauf bezügliche Funktion ebenso widerspruchslos denkbar wie eine Funktion ohne zu- gehörige Erscheinung. So gehöre zum Ton mit begrifflicher Notwendigkeit nur Höhe, Stärke usw., aber nicht das Wahrgenommen wer den, das kein Merkmal sei, um ihn von anderen Tönen zu unterscheiden. Anderen Tönen gegenüber sicherlich nicht, insofern sie gehörte Töne sind; aber doch gegenüber sog. physikalischen Tönen als physischen Vorgängen, denen nur, falls gehörbegabte Wesen zugegen sind, Tonempfindungen ent- sprechen. Einleuchtender ist besonders für den, der Lipps Abhandlung über das UnbewuTste in der Psychologie (Kongrels f. Psych. 1896) kennt, der Gegengedanke, dafs psychische Funktionen ablaufen können ohne zu- gehörige Erscheinungen (BewuTstseinsinhalte).

Aus ihrer logischen Trennbarkeit folgert St. die Möglichkeit einer gegenseitig unabhängigen Veränderlichkeit, die übrigens auch gegeben wäre, wenn jene nicht bestünde; man denke an die Möglichkeit die Tonstärke zu ändern, ohne die Tonhöhe zu variieren. Als Beweis für die Möglichkeit, dafs psychische Funktionen sich verändern, ohne Veränderung in den Erscheinungen, führt St. zunächst an, dafs die Erscheinung, wenn durch Wahrnehmen (Bemerken) ein Teil oder ein Verhältnis aus dem ungeschiedenen, nur perzipierten (empfundenen) Chaos der Erscheinungen herausgehoben werde, keine Veränderung er- leide, wohl aber die Funktion eine andere sei, so z. B. am Akkord als Er- scheinung nichts vor sich zugehen brauche, wenn ein Ton darin bemerkt werde. Aber es scheint immerhin naheliegend, dafs durch die Heraus- hebung, welche der Einzelton erfährt, sein Verhältnis zu den übrigen und damit die Erscheinung als Ganzes geändert wird. Ähnlich dürfte doch auch mit dem Einzelton eine Veränderung vor sich gegangen sein, wenn wir durch Einzelhören höherer Töne nachher auch die Obertöne heraushören. Auf Grund der Anschauung, dafs Unterschiede und Teile in den Erscheinungen (Inhalten) auch dann vorhanden sein können, wenn wir solche augenblicklich nicht bemerken, anerkennt St« die Möglichkeit ganz unbemerkbarer Teile der Erscheinungen (vgl. die petites perceptions bei Leibniz, das unbewufste Lokalzeichen bei Helx- BOLTz, das dumpfe und das helle Element der Tonempfindungen bei Mach ; ähnliche hypothetische Bestandteile bei Spenceb, Taine, Bbentano). Und so wenig bei den Erscheinungen der Übergang von der Perzeption zur Wahr- nehmung eine Veränderung der Erscheinungen selbst herbeizuführen braucht, so wenig ist es nötig bei den Verhältnissen; entstehen doch die Verhältnisse nicht erst durch den Denkakt des Bemerkens, sondern sind

38 Besprechungen.

schon den Erscheinungen immanent. Ebenso weni^ ist es nötig, wenn die Erscheinungen Stoff für das Zusammenfassen, Unterlage eines Allgemein- begrifies, Inhalt eines Urteils, Gegenstand emotioneller Funktionen (Freude, Trauer) oder Ziel eines Wollens werden. Derselbe Gegenstand kann heute von mir geliebt, begehrt, morgen verachtet, gemieden sein, infolge einer Veränderung der seelischen Gesamtlage. Bei dieser Gelegenheit weist St. darauf hin, dafs neben Erscheinung und Funktion als drittes tritt das spezifische Ergebnis der Funktion, das psychische Gebilde. Beim einfachen Zusammenfassen ist das der Inbegriff, von dem ein Spezialfall ist die Form (Gestaltqualität), beim begrifflichen Denken der Begriff, beim Urteilen der Urteilsinhalt (Sachverhalt), bei den emotionellen Funktionen der Wert oder das Gut Gedankengänge, die St. mit Hüsbkel (L»og. Unter- suchungen) zusammenfahren.

Ein weiterer Beweis für die gegenseitige Unabhängigkeit von Er- scheinung und Funktion ist die Möglichkeit von Veränderungen an den Erscheinungen ohne Veränderungen der Funktionen. Bei höchster und einer Erscheinung direkt zugewandter Aufmerksamkeit kann es unbemerkte, ja unmerkliche Erscheinungs Veränderungen geben. Auch ebenmerkliche Unterschiede brauchen nicht gleich zu sein, sondern können bei gleichmälsig maximaler Aufmerksamkeit eine verschiedene £r- scheinungsgröfse nicht Reizgröfsel haben (Brentano, Külpe). Selbst innerhalb der Erscheinungen ist es denkbar, dafs nicht alle Eigenschaften, Unterschiede, Verhältnisse in jedem Augenblick merklich sind, und doch vorhanden sind. Diese unabhängige Variabilität der Erscheinungen -findet St. übrigens auch bei der mechanischen Assoziation und Reproduktion und glaubt sie auch annehmen zu dürfen in einzelnen Vorkommnissen des Gemüts- und Willenslebens. Leider verzichtet St. darauf, die Beweiskraft seiner Ausführungen durch Beispiele zu erhöhen. Vielleicht aber wollte St. mehr einen zusammenfassenden Überblick geben und die Richtungen und Wege zeigen, die zur Lösung dieser schwierigen Prinzipienfragen führen können.

Die Ergebnisse dieser Abhandlung sind nun als Steine verwendet beim Aufbau des Systems der Wissenschaften, das uns die zweite Abhand- lung vorführt. Solche Klassifikationen sind bekanntlich seit Aristoteles schon mehrfach gemacht worden; sie bemühten sich zumeist mit einem einzigen Einteilungsgrund auszukommen. St. will sich diese Mühe nicht mehr geben, weil er sie für vergeblich hält. Er hält mehrere Einteilungs- gründe für unentbehrlich.

Abgelehnt wird zwar die Scheidung in Wissenschaften des un- mittelbar Gegebenen und des mittelbar Gegebenen, weil das unmittelbar Gegebene, das als Tatsache streng unmittelbar Einleuchtende, die dem denkenden Individuum momentan bewufsten Erscheinungen, Funktionen und Verhältnisse, genau genommen niemals Objekt einer Wissenschaft sein kann, sondern nur Ausgangspunkt der Forschung und Material der Begriffsbildung, für die Physik wie für die Psychologie, wie überhaupt für jede empirische Wissenschaft.

Immerhin ist auszugehen von den Gegenständen. Diese betrachtet St., mit Husserl übereinstimmend, als begriffliche Gebilde. Sie entstehen

. Beipreehungen. 39

•ihm ans den blofsen Inhalten oder Erscheinungen, nicht dnrch einfaches fierausheben einer Erscheinung (^s Inhalt) aus dem Chaos der Erscheinungen, -wie LiFFS wUl, sondern dadurch, dafs „wir eine Erscheinung oder einen Erscheinungskomplex oder auch ein Verhältnis oder eine Funktion oder einen Komplex solcher Elemente unter allgemeinen Begriffen erfassen". Die Sprache gibt durch einen allgemeinen Namen diese Umwandlung kund. Die Wissenschaft findet Gegenstande aller Art schon vor; sie hat sie nur strenger und konsequenter umzubilden. Danach ist in erster Linie die Klassifikation durchzuführen. Da läTst sich zunächst scheiden zwischen physischen und psychischen Gegenständen auf Grund des in der ersten Abhandlung erörterten UntAschiedes zwischen Erscheinungen und psychischen Funktionen. Mit jenem beschäftigen sich die Naturwissen- schaften. Doch sind die physischen Gegenstände keineswegs, wie Mach and die übrigen Vertreter der phänomenalistischen Physik annehmen, gegen die fügen wir ein Lipps in seinem Vortrag auf der Stuttgarter Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte 1906 mit ähnlichen Er- wägungen Stellung nahm, die Erscheinungen oder die Erscheinungs- kompleze, sondern die Materie, die Körper als „die aus den Erscheinungen erschlosseneUji in räumlich-zeitlichen Verhältnissen angeordneten Träger gesetzlicher Veränderungen". Für die Geisteswissenschaften liefern die psychischen Funktionen gleicherweise nicht die Gegenstände, sondern nur das Material zu diesen. Die Wissenschaft der elementaren psychischen Funktionen ist die Psychologie; von den komplexen psychischen Funktionen» solchen, die das Zusammenwirken vieler Individuen und in jedem einzelnen wieder das Zusammenwirken aller Seiten des seelischen Lebens voraussetzen, handelt die Staats- und Gesellschaftswissenschaft, Sprach-, Religions-, Kunstwissenschaft usf. ' Somit handeln die Geistes- wissenschaften auch von den Trägem psychischer Funktionen. Denn hier wie bei den Gegenständen der Naturwissenschaften gibt es keine Eigenschaft, keine Veränderung, Kraft, Tätigkeit für sich allein; stets ist jede Teil eines Ganzen, das Ding genannt und als Subjekt oder Träger aufgefafst wird.

Während nun Natur- wie Geisteswissenschaften über die Erscheinungen hinausgehen auf jenseitige Vorgänge bzw. psychische Funktionen, sind die Erscheinungen als solche Gegenstand einer eigenen Wissenschaft, der Phänomenologie. Obwohl sich die Physiologen, die Psychologen und auch die Physiker in sie teilen, ist sie doch eine selbständige Wissenschaft. Sie beschäftigt sich mit den Sinnesempfindungen, den Ton- und Farben- reihen, den Verhältnissen der Ähnlichkeit, Steigerung, Verschmelzung, den Vorstellungen von Raum und Zeit u. dgl., und zeigt die uns als etwas Objektives gegenüberstehenden Eigenschaften und Gesetze der Er- scheinungen selbst.

Eine neue Gruppe von Gegenständen der Forschung sind die psychischen Gebilde, die sachlichen Korrelate der psychischen Funk- tionen, die Begriffe, die Inbegriffe, speziell die Formen (vgl. die voraus- gehende Abhandlung), die Sachverhalte der Urteile und ihre Beziehungen, die Werte und ihr System (Gütertafel). Ihre Wissenschaft, die Eidologie, kann wie die Phänomenologie ihre Aufgabe nur lösen in Zusammenarbeit

40 Besprechungen^

mit der Psychologie, der Nationalökonomie, Jurisprudenz, Sozialwissen- schaft usf. als den Quellen ihrer Erkenntnis, deren Beweis sie aber auf ihre Art erbringt, so etwa wie ja auch die Mathematik durch die Er- fahrung des täglichen Lebens oder besondere Beobachtung zur Entdeckung von Sätzen geführt wird, deren Beweis sie auf eine ganz andere, ihr eigene Art liefert.

Auch die Verhältnisse wie Ähnlichkeit, Abhängigkeit u. dgl. bilden den Gegenstand einer eigenen Wissenschaft, der allgemeinen Verhältnis- lehre. Sind sie doch etwas Eigenes neben den Erscheinungen, den Funk- tionen und den Gebilden. Zusammen mit der Phänomenologie und der Eidologie bildet die allgemeine Verhäunislehre eine Vorwissenschaft, eine Art Organon für die Geistes- und Naturwissenschaften, das sich so ziemlich deckt mit dem, was man z. Z. Erkenntnistheorie nennt. In diesem Ge- danken einer Vorwissenschaft berührt sich St. mit Msinonos Gegenstands- theorie, ohne aber im einzelnen mit ihr übereinzustimmen.

Das Gegenstück zu dieser Vorwissenschaft ist die Nachwissenschaft der Metaphysik, welche „nach den gemeinschaftlichen Gesetzen und dem einheitlichen Zusammenhang aller der vorher unterschiedenen Gegenstände fragt". Nicht blofs Wissenstheorie, sondern Welttheorie, ist sie „nicht ein aus MiTsverständnis des Erkenntnis- begriffes und der Erkenntnisbedingungen hervorgegangenes Phantom, sondern prinzipiell genau so möglich und berechtigt wie jede sonstige Er- kenntnis*' freilich nicht als eine Metaphysik im alten Stil, sondern als eine „Erfahrungsmetaphysik, wie sie jede Zeit als relativen Abschlufs ihres Wissens braucht**.

Bei dieser Klassifikation war der Begriff Gegenstand im weitesten Sinne genommen und von dem Merkmal der Realität ganz abgesehen. Nimmt man aber den Begriff des realen Gegenstandes zum Ein- teilungsgrund, dann ergibt sich eine Dreiteilung, Naturwissenschaft als Wissenschaft vom physisch Realen, Geisteswissenschaft als Wissenschaft vom psychisch Realen, Metaphysik als Wissenschaft der für beide Arten bzw. beide Seiten des Realen gemeinsamen Begriffe und Gesetze. Phäno- menologie und Eidologie kommen dann zur Psychologie, die allgemeine Verhältnislehre zur Metaphysik. Eine weitere Vereinfachung durch Aus- schaltung des Realitätsbegriffes, wie sie der universale PsychologismuB Vebworns und Klbikpetebs will, weist St. zurück.

Ein neuer Einteilungsgrund läTst sich gewinnen aus dem als gegeben hinzunehmenden Unterschied zwischen individuellen und allge- meinen Gegenständen. Die Wissenschaft von den allgemeinen Gegen- ständen strebt vornehmlich nach der Formulierung von Gesetzen, die von den individuellen Gegenständen, wozu auch die Eollektiva zu rechnen sind, wesentlich nach der Formulierung blofser Tatsachen. Der Begrifi des Naturgesetzes oder des Physisch-Notwendigen ergibt sich nur aus der Analogie mit der logischen Gesetzmäfsigkeit, einer immanenten Eigenschaft des Urteils in Hinsicht seines Inhaltes oder des Sachverhaltes, nicht hin- sichtlich seiner Entstehung als eines real bedingten psychischen Aktes. Nur auf diesem Umweg erschliefsen wir die physischen Notwendigkeiten

Besprechungen. 41

als Hypothesen, ohne welche die beobachteten Begelmafsigkeiten der Er- scheinungen mehr oder minder unwahrscheinlich wären. Dagegen ist bleibe Tatsache alles, was weder logisches noch physisches Gesetz ist. Da niemals eine Tatsache blofse Folge von Naturgesetzen ist, sondern jedesmal noch eine vorausgehende Tatsache dazu gehört, so sind weder jene auf diese, noch umgekehrt diese auf jene reduzierbar, wie Mach und die übrigen den Unterschied zwischen Gesetz und Tatsache negierenden positivistischen Erkenntnistheoretiker wollen. Je nachdem nun das Interesse der Forschung vorwiegend den blofsen Tatsachen oder den Ge* setzen zugewendet ist, ergaben sich Wissenschaftsgruppen. Individuelles, Tatsächliches festzusteUen ist vornehmlich das Streben der geschichtlichen Wissenschaften. GesetzmäTsigkeiten suchen die Naturwissenschaften, jedoch nur vornehmlich, nicht ausschlielslich, so dafs sich der Gegensatz Natur- und Geisteswissenschaft nicht deckt mit dem Gegensatz Tatsachen- und Gesetzeswissenschaft. Wurde doch schon früher erkannt, dafs Gegenstände der Naturwissenschaft nicht blofs die Gesetze sind, sondern auch die Träger dieser raumzeitlichen Gesetzmäfsigkeit^ die Körper. Beiderseits lassen sich noch Unterabteilungen gewinnen durch Einteilung nach den Gesichtspunkten des Baumes (Koexistenz) und der Zeit (Sukzession). Auf der Seite der Gesetzeswissenschaften unterscheidet demnach St. Wissen- Bchaften der Strukturgesetze und der Kausalgesetze. Strukturgesetze drücken aus die gesetzlichen Beziehungen zwischen den Teilen eines Ganzen, abgesehen von den Kausalbeziehungen. In dieser Richtung be- wegen sich besonders die beschreibenden Naturwissenschaften, ferner die beschreibende Politik, die beschreibende Psychologie, die Brbxtano für sich stellt als Psychognosie, Dilthst als psychischen Strukturzusammen- hang, Lipps als deskriptive Psychologie. Die oben unterschiedene Wissen- schaft der Phänomenologie beschäftigt sich ausschlielslich mit Struktur- gesetzen.

Eine eigene Betrachtung erfordert die schwierige Frage über die Stellung der Mathematik im System der Wissenschaften. Zunächst ist ein eigenartiges Merkmal ihre apriorische Methode gegenüber der aposteriori- schen der übrigen Disziplinen. Sie folgt aus der Eigenart ihres Gegen- standes. Dieser ist für die Geometrie weder der objektiv-reale Raum, d. h. jenes hypothetische X, das wir behufs Bildung des Begriffes physischer Gegenstände und Aufstellung physikalischer Gesetze als unabhängig vom Be- WQÜBtsein existierend voraussetzen, noch der phänomenale Raum, der Er- scheinungsraum der Tast- und des Gesichtssinnes, sondern der geometrische Baum, der keine Anschauung ist, weder im Sinne eines empirischen An- schauungsinhaltes noch einer apriorischen Anschauungsform, sondern ein aus dem empirischen Anschauungsinhalte (Erscheinungsraum) durch Ab- straktionen und Definitionen gewonnenes, begrifflich gedachtes Raumgebilde. Wesentlich sind ihm besonders die Postulate der absoluten Homogeneität aller Teile und der Stetigkeit. Auf die übrigen mathematischen Disziplinen einzugehen, darauf verzichtet St., doch nicht, ohne auf die Homogeneität als ein Grundmerkmal aller ihrer Gegenstände hinzuweisen.

Endlich durchzieht das weite Gebiet der Gegenstände der Gegensatz des Seienden und des Seinsollenden. Seiendes bezeichnet nicht

42 Besprechungen.

blofs Reales, sondern jeden Gegenstand eines wahren Urteils, Seinsoliend« dagegen Werte, insofern sie noch nicht verwirklicht, sondern der Verwirk- lichung fähig sind. Dafs sie ihrer auch würdig sind, folgt schon aas dem Begriff des Wertes. Die Verwirklichung dieser Werte lehren die prak- tischen Disziplinen. Der tiefgreifende Unterschied zwischen theoretischen und praktischen Wissenschaften, den schon Abistotblbs betonte, bedingt eine grofse Verschiedenheit der Behandlung, Auswahl und Anordnung dee Stoffes. Immerhin ist die Praxis stets auf die Theorie als ihre Grundlage angewiesen.

Nun aber fehlt immer noch eine Stelle für die Philosophie. Um ihr, die allen Wissenschaften ihre Plätze zugewiesen hat, auch einen PlatE zu sichern, entschlielJBt sich St. zu einer letzten Zweiteilung in allge- meinste und nicht allgemeinste Gegenstände. Die Wissenschalt der allgemeinsten Gegenstände, der allgemeinsten Gesetze des Psychischen und des Wirklichen überhaupt ist die Philosophie. Sie umspannt somit die Metaphysik, sämtliche Vor Wissenschaften, Ethik, Logik, Ästhetik, Pftdi- gogik und auch die Psychologie, die als gemeinsames Band sich durch alle diese hindurchzieht.

Damit schliefst dieser Überblick über die Gesamtheit der menschlichen Wissenschaften. Es fehlt ihm, wie St. selbst zugibt, der streng einheitliche •Charakter, der die Wissenschaftsstammbäume eines AmfAbb, Wukdt, MüNSTBBBEBG auszeichuet, dafür aber auch ihre Künstlichkeit. St. zieht die Natürlichkeit, die Ungezwungenheit der Anordnung vor. Unwillkürlich denkt man heute, wo allerorts das Andenken des grolsen Diktators der Naturwissenschaften gefeiert wird, an den Kampf zwischen LcniAs Sexual- system und den natürlichen Systemen eines Jüssueü und Gandollk. Die kunstvolle Architektonik des ersteren hat sich gegenüber der stärkeren Anpassungsfähigkeit und gröfseren Überzeugungskraft der letzteren nicht in halten vermocht. Vielleicht erlaubt der Vergleich mit dem Schicksal dieser botanischen Systeme einen SchluTs auf den vermutlichen Ausgang des Kampfes der Wissenschaftssysteme. Und wenn die Natürlichkeit der Zn- sammenhänge als Grundprinzip der Klassifikation siegen wird, dann wird man St. keinen geringen Anteil an dem Siege zuschreiben dürfen.

OvFKEB (München).

Theodor Lipfs. istbetlk. Psychologie des SebSnen and der Knnst. Zweiter

Teil: Die ästhetische Betrachtung nnd die bildende Knnst. Hamburg und

Leipzig. L. Voss. 1906. 645 S. 12 Mk.

Wenn man das Inhaltsverzeichnis dieses zweiten Bandes von Lipfs'

Ästhetik ansieht, so glaubt man, es wesentlich mit Anwendung und näherer

Durchführung der im ersten Bande entwickelten Grundgedanken zu tun zu

haben. Indessen wird dieses Verhältnis der beiden Teile durch 2 Umstände

verändert einmal wandelt Lipfs in seinem unablässig fortarbeitenden

Geiste seine Theorien im einzelnen immer ein wenig um mögen die

Grundzüge auch noch so sehr gleich bleiben, ferner fügt dieser zweite Band

in der Bestimmung der Kunst und ihrer Aufgaben etwas wesentlich Neues

hinzu.

Der erste Abschnitt, „die ästhetische Betrachtung und das Kunst-

Besprechungen. 43

werk", beginnt mit einem Kapitel: „In Sachen der Einfühlung". Lipw rverbessert seine frühere Redeweise er will nicht mehr vom Einfühlen von Urteilen reden, um ästhetisches und intellektuelles Gebiet besser zu scheiden, und nimmt die Resultate in sein Werk hinein, die sich ihm in der Diskussion mit Mjsinong ergeben haben. ^ Jedes Gefühl hat zu seiner Basis eine Tätigkeit, aber bei den sinnlichen Gefühlen ist diese „Basis'' nicht zugleich „Gegenstand" des Gefühls. Dafs auch hier die Tätigkeit Basis ist, ist nach L. (8. 15) „die einleuchtendste Sache von der Welt. Habe ich Lust an einer Farbe, so habe ich doch nicht Lust, weil die Farbe irgendwo in der Welt vorkommt, vielleicht ohne dafs ich davon weifs, sondern ich habe Lust an ihr, wenn ich sie sehe. Und dies „Sehen'' be- sagt hier : Ich mufs die Farbe auffassen, mir geistig zu eigen machen, muls sie betrachten oder apperzipieren, wenn das Gefühl der Lust in mir ent- stehen soll." Ist dieser Beweis wirklich so einleuchtend? Dafs ich an der Farbe nur dann Lust haben kann^ wenn ich sie sehe, ist freilich selbst- verständlich — aber folgt daraus auch, dafs meine Lust Lust an der Tätigkeit des Sehens ist? und gar, dafs diese Tätigkeit als Apperzeption gefafst werden mufs? Man könnte fragen, ob die sinnliche Lust überhaupt eine „Apperzeption" voraussetzt ob nicht ein frischer Luftzug, ein leichter Blamenduft als lustvoll gefühlt werden kann, ohne irgendwie in seiner Eigenart wahrgenommen zu werden. Wenn Lifps etwa erwidern sollte, dais er solche Fälle dann mit unbewufsten Tätigkeiten erklären könne, so würde es ganz deutlich werden, dafs es sich bei dieser Erklärung der sinnlichen Gefühle um eine Theorie, sicher um eine interessante, vielleicht um eine richtige Theorie, aber ganz gewifs um keine Tatsache, auch nicht um die einleuchtendste Sache von der Welt handelt.

Alle nicht sinnlichen Gefühle sind Gefühle an meiner Tätigkeit, hier ist die Tätigkeit nicht nur Basis sondern auch Gegenstand. Dabei aber kann die Tätigkeit objektiviert, d. h. in einen anderen Gegenstand hinein- versetzt sein. So entsteht die Einfühlung, die nun je nach dem Einklang oder Widerstreit mit meiner eigenen Lebensbetätigung positive oder negative Einfühlung ist. Bei rein ästhetischer Betrachtung erscheint der Gegenstand der positiven Einfühlung schön, der der negativen häfslich. Ästhetisch ist eine Betrachtung, die nicht nach der Wirklichkeit des Eingefühlten fragt Das ästhetische Gefühl ist durchaus Ernstgefühl, aber in einer besonderen Sphäre. Diese ganze Erklärung der ästhetischen Idealität deckt sich mit früheren Ausführungen von L. und stimmt mit der Überzeugung des Referenten völlig überein. Im Kunstwerk nun ist die rein ästhetische Be- trachtung vorgeschrieben. Aus diesen Grundsätzen folgt, dafs das Kunstwerk nicht durch die Vergleichung mit der Wirklichkeit Genufs bereitet. Die Kachahmungs- und Illusionstheorie wird (Kap. 3) widerlegt. Wirklichkeits- gemäfsheit wird von jedem Kunstwerk nur in dem Mafse gefordert, in dem es sie beansprucht. Diesen Anspruch aber erheben die Kunstwerke in sehr verschiedenem Grade.

So lebt das Kunstwerk in eijier ideellen Welt für sich. Nicht alles Wollen überhaupt, wohl aber das auf Wirkliches gerichtete Wollen schweigt

> Vgl. das Referat diese ZeUschrift 44, S. 226.

44 Besprechungen.

beim rein ästhetischen Betrachten des Kunstwerks. Es kommen ferner nur die im Kunstwerke selbst gegebenen Beziehungen, Gedanken usw. in Betracht, nicht irgendwelche äufserliche Symbolistik. Mit dieser Isolation des Kunstwerkes hängt eng zusammen, dafs auch „ich", der Betrachter, losgelöst bin „von dem, was ich sonst auDserhalb dieser Betrachtung bin". „Das Ich, das in dieser ästhetischen Betrachtung weilt, ist ein über- individuelles ; in demselben Sinne wie das wissenschaftlich erkennende nnd sittlich wertende Ich überindividuell ist. Es lebt in der betrachteten Sache. Die betrachtete Sache aber ist für alle dieselbe" (S. 87).

Da nicht der aufserkünstlerische „Vorwurf, sondern eben nur das wirklich Dargestellte und Ausgedrückte Inhalt des Kunstwerkes ist, so fallen Inhalt und Form ganz zusammen (95 f.). Äufserlich ist dem Kunstwerk auch die Beziehung zum Künstler ; das vergessen alle, die die „Handschrift^ des Künstlers für das im ästhetischen Genüsse Wesentliche halten (101).

Am Beginn des zweiten Abschnittes teilt Lipps die bildenden, d. h. räumlich formenden Künste, die nun für den Rest des Bandes sein Thems ausmachen, in Bildkünste und abstrakte Raumkünste ein. Die Bildkünste, mit denen er sich zuerst beschäftigt, stellen (S. 105) „konkretes Wirklich- keitsleben durch Wiedergabe, Umbildung und neue Kombination der ent- sprechenden sinnlichen Erscheinungen'' dar. Da sie nur einen Moment herausgreifen können, mufs dieser der Wiedergabe und Darstellung würdig sein. Indessen bedeutet dieser „fruchtbare Moment'^ nicht, dafs das Dar gestellte Dauer haben, auch nicht, dafs es vorangehende und folgende Momente in sich enthalten mufs, vielmehr, dafs nicht bloDses brutales Ge- schehen, sondern Tätigkeit, Kraft dargestellt wird (107). Jede Tätigkeit ist Einheit von Wille und Ziel; -also liegt in ihr in der Tat das Frühere und Spätere zugleich aber nicht gedanklich erschlossen, sondern in un- mittelbarer Gegenwart.

Das Bildkunstwerk mufs im Gegensatz zum dekorativen Kunstwerk von seiner Umgebung isoliert sein. Diesem Zwecke dient neben Rahmen und Sockel auch die „Haut"' die zusammenhaltende Oberflächenbeschaffen- heit (z. B. Patina der Bronze). In derselben Richtung der Isolation und Entwirklichung liegt die Bedeutung des Auswählens und damit Weglassens 'von Zügen, Seiten, Momenten der Wirklichkeit, für welches L. den Namen „ästhetische Negation" einführt (118). Der Bronzebildner z. B. stellt nicht etwa bronzefarbene Menschen dar, sondern verzichtet auf die Darstellung der Farbe und schaltet demnach jede Frage nach der Farbe aus der Be- trachtung des Kunstwerkes aus. Gleichzeitig wird durch die Negation die Aufmerksamkeit auf das ästhetisch Dargestellte konzentriert.

Vermöge der verschiedenen Negationen determinieren sich nun die einzelnen Künste. Ästhetik der einzelnen Künste ist (121) die Aussage darüber, wie unter Voraussetzung eines bestimmten Materials und einer bestimmten Technik der allgemeine Kunstzweck sich näher gestalten müsse. Allgemeiner Kunstzweck aber ist, Leben in ein sinnlich Gegebenes derart zu bannen, dafs wir es darin unmittelbar fühlen und genielaen können.

Die Bildkünste teilt Lipps in Rundplastik, Reliefkunst und Malerei, begreift also unter letzterem Namen auch das ein. was Klikgbb GriSelkunst

Besprechungen, 45

nennt. Malerei stellt den Raam dar, Bundplastik nur einzelne Körper. Hier zeigt sich der enge Zusammenhang von Darstellungsart und Gegen- stand einer Kunst: was für sich, herausgenommen aus dem umgebenden Baume, dargestellt werden soll, muTs auch für sich genommen höchste Eigenbedeutung haben. Darum ist der erste Gegenstand der plastischen Kunst der Mensch in seiner vollen sinnlichen Erscheinung (126). Dieser Zusammenhang von Material und Gegenstand der Darstellung wird nun ins einzelne verfolgt. Der feinkörnige, an der Oberfläche durchscheinende Marmor z. B. mildert harte Linien, IftTst besonders die Silhouette weich wie durch einen Schleier erscheinen, eignet sich zugleich wegen seiner Härte zur korrekten Darstellung gröfserer Formen. Damit ist Marmor kein geeignetes Material für Schärfe des Ausdrucks, auch nicht für Be- wegung, die konzentrierte Kraft der Silhouette fordert, sondern für jugend- lich schöne Körper, bei denen es auf Beinheit und zugleich Weichheit der groisen Formen ankommt (128).

Aus der allgemeinen Aufgabe folgen nun die besonderen Gesetze der Bnndplastik. Werden sie nicht befolgt, so entstehen Stilwidrigkeiten. Der Sockel einer Statue grenzt die ideelle Welt des Kunstwerkes ab, gehört aber, als materieller Träger des realen Materials dieser ideellen Welt, selbst zur realen Welt. Diese Scheidung wird durchbrochen, wenn z. B. eine Frau die Stufen des Sockels hinaufsteigt, um dem oben dargestellten Helden einen Lorbeerkranz zu reichen. Dergleichen verletzt „das Prinzip der ein- heitlichen Abgrenzung der einheitlichen ideellen Welt des Kunstwerkes ** (S. 151). Das ganze Kunstwerk muTs gleichen Grad und gleiche Art der Negation (gleiche Spielregel) haben daraus folgert L. die Materialeinheit des plastischen Kunstwerks. Da die Plastik nur den ausgefüllten Baum, nicht den die Gegenstände umgebenden, darstellt, gibt sie Einheit nur durch Massenkontinuität. Bei einer Gruppe aus mehreren Personen mufs diese Einheit derart sein, dafs ein gemeinsamer Lebensstrom hindurchzugehen scheint.

Ähnlich verfährt Lipps bei der Ableitung der Stilregeln für die Malerei und ihre einzelnen Arten. Da der Maler einen Ausschnitt des Baumes, darstellt, dieser Ausschnitt aber bei aller Schärfe der seitlichen Begrenzung &ls „Ausschnitt*' wirken soll, durchschneidet der Band des Bildes oft einen Gegenstand. L. unterscheidet einen zeichnerischen und einen malerischen Stil in der Malerei (172). In dem malerischen ist das Wechselspiel der Gegenstände, das im Licht liegt, das Leben in Licht und Baum dargestellt. Hier wird die Negation nicht nur durch technische sondern zugleich durch gegenständliche Motive (Zurücktreten im Halbdunkel usw.) bewirkt. Die seelische Innerlichkeit der Malerei ist Seele der dargestellten Individuen nnd des Baumes. Beide verstärken und helfen einander. Im einzelnen entwickelt dann L. die Gesetze des skizzenhaften Landschaftsaquarells, wie es etwa die Schotten pflegen, und des Pastells, wie es Lenbach ausübt, als Kunst farbiger Strichlagen. Mit guten Gründen bekämpft er Klingbbs Be- hauptung, daIJs die GrifEelkunst Gedankenkunst sei (213 f.).

Das JteUef ist ein Kompromifs zwischen Malerei und Plastik. Hier verliert der leere Bauip seine dritte Dimension und damit seine Körper-

46 Besprechungen.

haftigkeit, der von Körpern erfüllte behalt sie. Der leere Raum wird dabei entweder im Sinne der Plastik als realer Raum behandelt (plastiscbee Rehef) öder im Sinne der Malerei als dargestellter (malerisches Relief). In beiden F&Uen erhalt das KompromiTs sein Recht dadurch, dafs das Relief dekoratir wirkt, das malerische als dekorative Bildkunst, das plastische als dekorative Ornamentik. Alle Dekoration aber stellt das Bildkunstwerk in ein ab- straktes Raumkunstwerk hinein.

Ehe sich Lippb den Prinzipien der Raumkünste zuwendet, fügt er im 3. Abschnitt „ein Stück Raumästhetik'' ein, damit durch Detailbetrachtung^ vor allem die Fruchtbarkeit der Theorie jedem deutlich werde. Es handelt sich um die genaue Durchführung eines Kapitels der von ihm geforderten Ästhetischen Mechanik und zwar um die Profilformen aufrecht stehender Körper, insbesondere um Wulst und Einziehung. Die verschiedenen Mög- lichkeiten werden dabei genau behandelt, alle Formen als erzeugt von vertikalen und horizontalen Kräften erfafst. Im ganzen gibt es 16^ Formen, die sich auf 540 Grundformen reduzieren. „Dafs die herkömmliche Knnst- und insbesondere Architekturwiflsenschaft angesichts dieser vielen Möglich- keiten mit den bekannten wenigen und teilweise so wenig charakteristischen Namen sich durchschlägt, ist für den gegenwärtigen Stand dieser Wissen^ Schaft charakteristisch, ändert aber nichts an der bezeichneten Tat' Sache" (397).

Die Raumkünste, deren prinzipieller Betrachtung sich nun der vierte Abschnitt zuwendet, können entweder den abstrakten Raum gestalten freie Ornamentik, oder den mit einer Masse erfüllten Raum technische Kunst (399/40(^. Jede Auffassung einer Form geschieht durch eine er- zeugende Tätigkeit, in der ich die Form mit meinem Leben durchdringe. Zu dieser allgemeinen apperzeptiven Einfühlung kommt die Natureinfühlung z. B. das auf Erfahrung beruhende Herabsinken, Tragen, Schweben. Da alle diese Tendenzen, obwohl an den Formen haftend, unsere Tendenzen sind, versteht man den Grundsatz: „ästhetisch wertvoll müssen uns Formen sein, in welchen wir uns freitfttig fühlen, ästhetisch unwert solche, in welchen wir uns als in der Freiheit unserer Betätigung gehemmt und gestört fühlen. Ästhetisch wertvoll also sind solche Formen, in welchen für uns Bewegungen liegen oder bewegende Kräfte sich verwirklichen, derart, dafs diese Bewegungen den uns vertranten Gesetzen der Bewegung entsprechen; ästhetisch unwert solche, bei denen das Gegenteil der Fall ist^ (407).

Das ästhetisch-mechanische Gefühl ist (analog dem Schicklichkeits- oder dem Sprachgefühl) ein Niederschlag erfahrungsmäfsigen Wissens. Diesen gefühlsmäTsigen Eindruck legt die Ästhetik in eine Geschichte des Ent- stehens der Formen auseinander (409). Zur exakten Durchbildung der ästhetischen Mechanik würde Mathematik gehören in Ermangelung aber einer solchen mathematischen Behandlung kann sich der Ästhetiker anf sein Gefühl verlassen, wenn er dies von Natur besitzt und durch geeignete Übung sichergemacht hat. Bisher sind der ästhetischen Behandlung allein die „antiken'* Formen zagänglich, die ihr Dasein Kräften verdanken, die bereite am Ausgangspunkte der Formen wirken. Ihnen steht die „qA'

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endliehe Melodie'' der „modernen Linie" gegenüber, in die immer nene Kräfte eingreifen (411). Sehr eingehend bekämpft Lipps die Theorie, die> die Einfühlung auf Organempfindungen asurückführen will (17. Kap.), und analysiert darauf (18. Kap.) die einfachsten Linien nach den Prinzipien der asthetisehen Mechanik. Die Besoltate von speziellen äfithetisch-mechanisehen. Forschungen fafst Lepps dahin zusammen, dafs sich stets zweierlei ergibt. „Einmal das Verständnis des ästhetischen Eindrucks der Linien. Denn, dieser Eindruck ist die Zusammenfassung und Verdichtung des Gefühls dieser Kräfte, Tätigkeiten usw. Und es ergibt sich daraus andererseits,, anter welchen Bedingungen diese odMr jene Linie anwendbar ist Sie ist dies dann, wenn an der Stelle, wo sie angebracht worden soll, der Gedanke an solche Kräfte, Tätigkeiten usw. dem Zusammenhang des Ganzen gemäü» Sinn hat. Formen, bei welchen diese Voraussetzung fehlt, sind leer und damit an ihrer Stelle häfslich, m^en sie an sich oder an anderer Stelle noch so sinnvoll und schön sein'' (S. 464).

Hier würde nun die im 3. Abschnitte vorausgenommene Theorie der Wülste und Einziehungen ihren systematischen Ort finden. Daran BchUelst sich eine Theorie der Bogen und Gewölbeformen, die als Ein- ziehungen des Türsturzes bzw. der Decke betrachtet werden horizontaler Gebilde, die sich gewissermafsen nach oben in sich zurückziehen. Diese Interpretation scheint mir schon deshalb verfehlt, weil einem horizontalen Gebilde, das nur an den Rändern gestützt ist und das sich in sich zurück- sieht (krümmt, wirft) eine Einziehung nach unten, nicht eine der Schwere Q&tgegengerichtete natürlich wäre. Einzelnes, wie die Erklärung des verti- kalen Ansatzes eines Rundbogens aus einer horizontal nach innen und einer horizontal nach aufsen wirkenden Kraft (S. 470) blieb mir trotz aller Mühe unverständlich. ^ Indessen bleibt für das Folgende diese Ableitung des Bogens aus der Einziehnng deshalb ungefährlich, weil L. die andere Er- klärung, nach der die vertikale Kraft im Bogen das Aufstreben der Stütze fortsetzt, daneben anerkennt (471). Der Spitzbogen ist Fortsetzung der kon- zentriert aufstrebenden Bewegung der Pfeilenbündeldienste (4811.

Auf der Raumästhetik beruht nun die Betrachtung des technischen Kunstwerkes, der der 5. Abschnitt gewidmet ist. Nicht, dafs es einem praktischen Zwecke dient, ist für das technische Kunstwerk wesentlich, denn ein Zierbmnnen, eine Prachtvase dient unmittelbar gar keinem solchen Zweck. Eher könnte man hervorheben, dals dem Wesen des technischen Kunstwerkes nicht wie dem des reinen ein praktisches Dienen widerspricht» Aber damit hätte man nur eine Folgerung ausgesagt, die Hauptsache und sogleich der Grund dieser Folgerung liegt darin, dafs die ästhetische Be* ^3rzchtung hier auf die von der Masse vollbrachten, im Bildkunstwerke ^86gen auf die dureh Wiedergabe dargestellten Funktionen zielt (487). Um eingeffihltes Leben handelt es sich beide Male, aber in einem Falle. um I'^btti, das in die materielle Maisse (z. B. der Säule), im anderen (z. B. bei te Statue) um Leben, das in das Dargestellte (den Menschen nicht den littmor) eingefühlt wird Die alte Unterscheidung zwischen Werkform QBd Kunstform ist nmaubüden : jede Werkform ist zugleich Knnstferm, aber nicht «agekehrt, jede Kunstform Werkform. In der ästhetischen Betrachtung ^^nigstens wirkt auch die Werkform nur, sofern sie Kunstform ist aber

48 Begprechvngen,

Vorbedingung für das Zustandekommen der ästhetischen Betrachtung ist, daüs die Existenzfähigkeit des Werkes nirgend gefährdet erscheint. Jedoch kann eine solche Gefährdung für den ästhetischen Betrachter nur durch wirklich anschaulich entstehende Ansprüche hervorgerufen werden, sofern sie unerfüllt bleiben. Daher ist Sbmpebs Tadel gegen die Gotik, dals man im Innern des Domes die Strebepfeiler nicht sehe, also der Seitenschab nicht aufgehoben sei, unberechtigt. Denn die Dienste und die sie fort- setzenden Gewölberippen streben für die Anschauung nur nack oben und innen, drücken also nicht nach auTsen und unten.

Mit Hilfe der Reihe: Baumstamm (Naturform) geglätteter, vertikal gestellter Stamm als Stütze (Werkformj Säule mit Wulst usw. Säule mit Blätterkapitell Karyatide (Stufen der Kunstform) wird nun ge- zeigt, wie der technische Künstler das Leben des Materials in immer höherem Sinne lebendig macht. Lifps nennt dann die ästhetisch ge- dachten Werkformen „Grundformen". In ihnen geben sich Kräfte kund, die für die ästhetische Betrachtung ein in sich existenzfähiges lebendiges Ganze ergeben (S. 508). Sie entsprechen dem Wesen des Materials, während die Schmuckformen ihm fremd sind, es idealisieren. Schon der Wulst an einer Säulenbasis ist Schmuckform denn dem Stein als Material ent- spricht an sich ruhiges Tragen, nicht die im Wulste liegende iimere Be- wegung. Die Schmuckformen sind den Metaphern der Bede verwandt, daher mufs auch bei ihnen, wie bei der Metapher, das Unpassende des Bildes zurückgedrängt werden. So wenig die Flamme der Begeisterung ein Schaden- feuer anrichtet, ebenso wenig dürfen Karyatiden eines Friedensdenkmals Palmzweige in Händen tragen (22. Kap.).

Die schwierige Frage des Materialstiles und seiner Wahrhaftigkeit entscheidet Lipps aus dem Prinzip heraus, dafs das Material in den tech« nischen Künsten nicht nur wie in den Bildkünsten ästhetisch negiert, sondern positive Bedeutung hat. Die nötige Weite zur Erklärung der historischen Mannigfaltigkeit gewinnt er durch Betonung des Umstandes, dafs das Material verschiedene Tugenden hat, von denen jede einem eigenen Stil den Ursprung geben kann so ist der Stein nicht nur allseitig tragend (Antike), sondern auch meifselbar (Gotik), das Glas nicht nur formbar im zähflüssigen Zustand (Venetianische Gläser), sondern auch schleif bar im erstarrten (Kristallglas) (23. Kap.). Auch die ästhetische Wirkung der Echtheit beruht nur auf dem anschaulich Erkennbaren. Könnte eine Nach- ahmung vollkommen dem echten Material gleichen, so wäre sie auch ästhetisch gleichwertig. Die Symbolik des technischen Kunstwerkes wird eingeteilt in stoffliche, die das Leben des Materials zur Geltung bringt, in immanente Funktionssymbolik (z. B. Wulst), die das Eigenleben der Formen ausdrückt, und in zweckliche Symbolik. Auch in dieser letzten handelt es sich ästhetisch nicht um die Nützlichkeit als solche, sondern um den Ein- druck des lebendigen Sich-Darbietens zu einem Zwecke oder, was dasselbe bedeutet, um die sichtbare Aufforderung, uns des Gegenstandes in bestimmter Weise zu bedienen. So kann uns ein Stuhl zum bequemen Ruhen oder auch zum aufrecht- würdevollen Sitzen auffordern (24. Kap.). In der Funktions- symbolik sind Haupt- und Verbindungsformen zu unterscheiden, die Lip^ geistreich den Begriffswörtern und Partikeln der Sprache vergleicht. So

Besprechungen. 49

ist der Astragal, der die Triglyphen nach oben ans Gesims anknüpft, ein „and'^ Andere Formen entsprechen trennenden Interpunktionen z. B. die Plftttchen der attischen Basis. Im Verhältnis der einzelnen funktionierenden Glieder zur Masse, des Ganzen zu den Teilen liegen die charakteristischen Unterschiede der verschiedenen Arcbitekturstile, wie Lifps im einzelnen ausfahrt (26. Kap.).

Schon beim Relief, am Ende des 2. Abschnittes, war die dekorative Kunst als Kompromifs zwischen Raum- und Bildkunst bezeichnet worden. Nunmehr, nachdem die Bild- und Raumkünste für sich untersucht sind, kann sich der 6. und letzte Abschnitt mit dem Zusammenwirken beider im Ornament und in der dekorativen Bildkunst beschäftigen. Lipps geht hier von der relativen Bedeutung des Wortes „Schmuckform'' aus. Der Wulst ist Schmuckform im Verhältnis zu dem ihm aufgemalten Flecht- bande. Lediglich Schmuckform aber ist das Flechtband und überhaupt alle abbildende Oberflächenornamentik mag das Abgebildete ein Naturgegen- stand, oder, wie in unserem Beispiel, ein Erzeugnis der Technik sein. Auf einer Fläche kann durch Ornamentik entweder die verschiedene Funktion ihrer Teile (Rand, Mitte usw.) oder die innere Gleichheit der Teile als zur Fläche zugehörig betont werden. Im ersten Falle ergibt sich ein Struktur-, im zweiten ein Musteromament. Von beiden ist das freie dekorative Ornament b. B. eines japanischen Wandschirms zu unterscheiden, bei dem die Fläche als fertiges Ganzes vorausgesetzt wird (26. Kap.).

Allen diesen rein omamentalen Gebilden steht das dekorative Büdwerk gegenüber, das gleichzeitig als Bild darstellt und als Teil eines technischen Kunstwerkes schmückt. Möglich wird dies durch Kompromisse, die ihr Becht darans ableiten, dafs doch auch die Welt des technischen Kunstwerkes als Kunst ideell ist. Das dekorative Bildwerk ist „von einem Grundzug des technischen bzw. architektonischen Lebens durchdrungen'^ (605). Dies führt Lipps nun an der dekorativen Plastik näher aus und schildert die Über- gänge, die von der freien Plastik zur dekorativen und von ihr zur blois schmückenden, nicht mehr darstellenden (Karyatide) führen (27. Kap.). Am Beispiel der Glasmalerei wird gezeigt, dafs die dekorative Bildkunst einer doppelten „Spielregel" unterworfen ist einer architektonischen (Gotik 1) nnd einer, die dem Material (Glas I lichtdurchlässig 1) entspringt. Denn hier kommt das Material nicht nur für die ästhetische Negation wie im reinen Bildwerk, sondern zugleich, wie im technischen Kunstwerk positiv in Be- tracht. Die Idealisierung, Entfernung von der dargestellten Wirklichkeit ist also hier zugleich Materialisierung, d. h. Hineinstellung in die technisch- künstlerische Wirklichkeit des Materials, während davon bei weitestgehender rein bildkünstlerischer Idealisierung (z. B. einer andeutenden Bleistiftskizze) gar nicht die Rede sein kann (28. Kap.). Rahmen und Sockel haben im dekorativen Bildwerk neben der trennenden auch eine vermittelnde Funktion. Sin Rahmen z. B. vermittelt, wenn er selbst architektonisch durchgebildet ist, wenn er sich nach auüsen abflacht und der Wand anschmiegt. Das dekorative Bild ist in den Rahmen hineinkomponiert, das rein darstellende durch den Rahmen aus der Wirklichkeit herausgeschnitten (29.; Kap.).

Die ganze Behandlungsweise der Ästhetik stimmt auch in diaaem Zeitschrift fttr Psychologie 46. 4

50 Beapredmngen.

zweiten B^ode mit dem überein, was ich ,,kriti8Che^ Ästhetik nenae, h. es wird überall von anximrkenBenden Weitm ausgegangen. Ästhe- tische Betrachtung^ Kunst, Idealität das sind bei Lipfs Begriffe, die gans dftutliißh von Wertpcinzipien her gebildet sind. CharakteristiBch daffir ist, dafs er überall vollkommene ttsthetisohe Versenkung- in sich yoUandste Kunstwerke voraussetzt. Daraus erklärt sich die streng ästhetische nod. konstruktive Haltung des ^^erkes. Lipfs gibt das ausdrücklich zu, indem er das ästhetische Bewuistsein als überindividuell bezeichnet. Mit dem, was man sonst psychologische Ästhetik nennt, hat Liepb nur noch den Namen gemein. Ich freue mich, es aussprechen zu dürfen,, dafs in allen. prinzipiellen Fragen der Ästhetik volle Übereinstimmung zwischen ihm. und mir herrscht bei der grolsen Verschiedenheit der Entwicklung und Ausdrucks weise vielleicht ein Beweis für die Richtigkeit unserer Über- zeugungen. Wenn es Lifps noch heute gut scheint, dies Verfahren Psycho- logie zu nennen, so habe ich als Ästhetiker gar keinen Grund« mehr, mit ihm über eine solche rein terminologische Angelegenheit zu streiten. Aher als Psychologe mufs ich doch Einwendungen erheben, denn bei der Be- handlung spezifisch psychologischer Fragen zeigt es sich, dals Lipps' Termi> Dologie ihre Bedenken hat.

Ich möchte diese Bedenken an einem Beispiele darlegen und wfthia dazu eine Stelle aus Lipfs* Bekämpfung der Theorie, dals die Organ- empfin düngen einen Beitrag zum ästhetischen Genufs liefern. Er ericlftrt dabei, dafs man die Organempfindungen bei der Bewegung der eigenen Glieder von dem Tätigkeitsgefühl streng unterscheiden müsse. Jene seien Empfindungs Inhalte von eigentümlicher Qualität und seien lokalisiert in dem Stücke der Aufsenwelt, das ich meinen Körper nenne. Dagegen sei das Tätigkeitsgefühl eine Ichbestimmtheit (422). Mein Körper sei aller- dings deshalb „mein", weil die in ihm wahrgenommenen Vorgänge als unmittelbar hervorgehend aus der dem Ich angehöiigen Tätigkeit erlebt werden (423). Also nicht das „Tätigkeitsgeführ' stammt aus den Organ- empfindungen — sondern umgekehrt: die Organempfindungen werden nur deshalb zu meinem „Ich" in. Beziehung gesetzt, weil sie eng mit dem Tätigkeitsgefühl verbunden auftreten. (424). Nun werden die meisten Psychologen zunächst leugnen, dafs „Organempfindungen'* notwendig lokali- siert sind. Die Lokalisation kann ihnen anhaften, mufs das aber nichts Femer wird darauf hinzuweisen sein, dafs Empfindungen sehr oft nur nach ihrer Bedeutung für uns, nicht nach ihrem Inhalt, wahrgenommen werden. Die Bedeutung der Organempfindungen besteht aber in ihrer engen Ver- bindung mit Gefühlen, mit unseren ganzen Lebens Vorgängen. Im naiven. Erleben ist „mein Körper'' sicher nicht von meinem „Ich" in dem von LiFFS behaupteten Sinne getrennt. Lipfs selbst würde das zugeben, wenn er nicht an die psychologische Analyse mit dem Verlangen heranträte, den Eigenwert des Ästhetischen (und analog des Logischen und Ethischen) in ihren Besultaten wiederzufinden. Aber dieser Anspruch ist unbe- rechtigt — und ebenso im Interesse vorurteilsloser Analyse des psychischen Geschehens zurückzuweisen, wie die Behauptung, dafs Gleichheit der Elemente den Wertunterschied aufhebe, im Interesse der Beinheit der Werte zurückzuweisen ist. Im zweiten für die Ästhetik weitaus

Besprechungen. 51-

wichtigeren Punkte fflhle ich mich mit Lipps einig, im ersten weiche ich von ihm ab. Aach die unstreitig sehr engen Beziehungen, in denen psychologische Analyse und spezielle ästhetische CJntersuchungen stehen, werden sich viel klarer verfolgen lassen, wenn allererst die Selb- ständigkeit beider Verfahrungsarten anerkannt ist.

Lipps bemüht sich in diesem Bande Überall, die speziellen Fragen bis ins einzelnste hinein zu verfolgen und durch Deduktionen aus seinen Prinzipien zu lösen. Die Kraft des konstruktiven Geistes, die Beherrschung der Tatsachen durch den systematischen Gedanken flöfst dabei um so gröfseren Bespekt ein, je seltener diese Fähigkeiten geworden sind. Freilich an einzelnen Stellen scheint mir die Ableitung von Forderungen zu weit zu gehen. Wenn z. B. Marmor als ungeeignet zu scharfer Charakteristik be- zeichnet wird, ffiUen einem hellenistische oder römische Portrait«, Büsten' der Frührenaiesance (DxsmsBio da SSTTieNANol) ein. Wenn del* ruhende jugendliche Körper als eigentlicher Gegenstand^ der Harmorplastik be- zeichnet wird, denkt man an Michslanoblo und zweifelt an der Allgemein- gültigkeit von Lipps' Behauptungen. Im' Grunde ^ibt Lipps allerdings die Mittel zur Auflösung solcher Schwierigkeiten selbst an die Hand, wenn dt* von den verschiedeüen „Tugenden" desselben Materials spricht und wenn er dartut^ wie- verschiedene Anforderungen zu äinem reinen Kompromifll ffihren können. Die Darlegungen über reine Bildkunst und dekorati^^e K'Qiist geboren in dieser Beziehung zu den allerbedeutendsten l^eilen des Werkes. Jonas Cobw (Freiburg i; Br.)

4*

52

Literaturbericht.

O. Ewald. Philosophitche Gnudlesuf 4er modenea Piychologie. Vortrag. Wissenschaftliche Beilage zum neunzehnten Jahresbericht (1906) der philosophischen Gesellschaft an der Uniyersitftt zu Wien. 8. 71—89. Leipzig, Barth. 1906. Verf. untersucht die Grundlagen des Materialismus, des psycho- physischen Materialismus und des psychophysischen Parallelismus. Der Materialismus sei ziemlich überwunden und abgelöst worden von dem psychophysischen Materialismus. Gegen den reinen Materialismus bedeute er insofern einen Fortschritt, als er seelische PhAnomene und Inhalte aner- kenne. Da er aber den Grund für die GesetzmüTsigkeit, die das Psychische beherrsche, in der Physiologie des nervösen Zentralsystems suche, also keine psychischen Gesetze annehme, so müsse er die Aktivität der Seele dadurch zu erklären versuchen, dals er den Nervenelementen Kraftäulse- rungen und Fähigkeiten zuschreibe, die nur gezwungen und mit aulser- ordentlichen Schwierigkeiten auf die mechanische Naturerklärung zurück- geführt werden könnten. Der psychophysische Parallelismus vermeide solche gekünstelte Erklärung dadurch, dafs er physische und psychische Gesetze anerkenne. In seiner einen Form, als Assoziationspsychologie, könne man von psychischen Gesetzen nicht sprechen, weil in ihr der Zu- sammenhang der Vorstellungen ein loses Nebeneinander ohne innere Be- ziehung und Verkettung sei. Solche erfordere die Annahme einer schöpfe- rischen Kraft, die die GesetzmäTsigkeit bewirke. Die Apperzeptions- psychologie komme dieser Forderung nach, nicht aber als Bewufstseins- psychologie, denn die psychische Kraft sei im BewuTstsein nicht auffindbar, sondern als Psychologie des Unbewulsten. Dieses sei Träger und Subjekt der Aktivität. Sanob (Schildau).

F. £. Otto Schtjltze. Einige Haaptgesichtspimkte der Begchreibnng in der ElementarpsycholOgie. Archiv /. d. gesamte Psychol 8 (3/4), S. 241—^384. 1906.

I. Teil: Erscheinungen und Gedanken.

Bei den erkenntniskritischen Erörterungen der begrifflichen Grund- lagen der physiologischen Psychologie pflegt hervorgehoben zu werden, dafs diese Wissenschaft Hilfe in den Nöten zu bringen vermag, in die die rein introspektiv verfahrende Psychologie notwendig geraten müsse. Die Intro- spektion kann unmöglich als alleinige Lieferantin des Materials psycho- logischer Beschreibungen in Betracht kommen, da sie methodologisch an

Literaturbericht 53

einem Mangel leidet, der allem wissenschaftlichen Betriebe verhängnisvoll werden mnTs : Subjekt und Objekt der Beobachtung fallen in ihr zusammen.

Auf diese methodologischen Schwierigkeiten weist auch der Verf. zu Anfang seiner Arbeit hin und erwartet hier nur Hilfe von den Daten der ftufseren Erfahrung, die wir uns durch planmAfsig geleitete Beobachtungen zugänglich machen müssen. Diese Beobachtungen mufs man mit den Er- gebnissen der Introspektion zu vereinigen suchen. Allerdings darf das Material nicht ausschlieXslich durch Laboratoriumsezperimente gewonnen werden. Das sind Treibhauskulturen I Es muls eine geschickte Beobachtung des Alltagslebens hinzugezogen werden. Das wissenschaftlich Wertvolle ans diesen Erlebnissen kann allerdings nur durch überaus vorsichtig zu Werke gehende Protokollierung gewonnen werden. Alle Suggestivfragen sind zu vermeiden und es sind überhaupt ängstlich die vielen Gefahren zu beachten, die der Objektivität der Protokollgebung durch subjektives Hineinkonstruieren entstehen kOnnen.

Die BewuTstseinserlebnisse nun, zu deren Beschreibung wir auf diese Weise gelangen, scheidet der Verf. in die beiden Hauptgruppen der Er- scheinungen und Gedanken. Es ist nicht leicht wiederzugeben, was Verf. unter diesen beiden Begriffen versteht. Seine Erscheinungen decken sich nicht mit dem, was man anderwärts etwa mit Impressionen, sinnlichen Anschauungen, Sinneswahrnehmungen usw. bezeichnet hat Seine „Ge- danken*' (oder wie er auch sagt: Bewufstheiten) fallen nicht mit dem zu- sammen, was andere Forscher als Ideen, Begriffe, Selbstwahrnehmungen usw. bezeichnet haben. Der Gegensatz: Erscheinung/Gedanke deckt sich mit keiner der uns psychologisch geläufigen Unterscheidungen ganz, hat aber von allen diesen etwas. Die Bewufstseinswirklichkeit spiegelt sich eben gedanklich in soviel verschiedenartigen Bildern wider, als Forscheraugen da sind, sie zu betrachten. Soviel Köpfe, soviel Sinne I Wir müssen daher auch dem Verf. das Recht zugestehen, das Bild in seiner Weise zu ent- werfen. Auch der sprachliche Ausdruck für individuell-eigenartige Begriffs- konzeptionen wird naturgemäls individuell-eigenartig sein. So beschreibt denn auch der Verf. zunächst die „Erscheinungen" in einer wenigstens dem Referenten gröfstenteils ungeläufigen Terminologie. Hat man sich aber einmal in diese gefunden und in die etwas fremdartigen Begriffe hineingedacht, dann wird man jene Beschreibungen mit vielem Genufs lesen. Denn sie beweisen einen scharfen und tiefen Blick für psycho- logische Dinge, wie er nur dem durch Natur zu solchen Beobachtungen auch Gelegenheitsbeobachtungen I veranlagten und durch Übung dazu geschulten Auge zueigen ist.

Verf. geht mit kritischer Vorsicht zu Werke. Er warnt vor den mannigfachen Idolen, denen die psychologische Beschreibung zu erliegen geneigt ist. Überall sind wir in psychologischen Dingen bereit, Vergleiche, Bilder, Symbole usw. für die Sache selbst, blofse Möglichkeiten für Wirk- lichkeiten zu halten und Kausalzusammenhänge, die wir erst, subjektiv, in die Erscheinungen hineinkonstruieren, für in den Dingen selbst gegeben anzusehen. Fehlerhafte Beschreibungen der Erscheinungen durch Ge- dächtnisfälschungen der Erscheinungsresiduen kommen nur zu leicht vor, und im strengsten Sinne „voraussetzungslose Wissenschaft" gibt es selbst

54 XAteraturberiöht.

tbei dem „unmittelbar Vocgefundenen" der Faychologie nicht 1 Bei den .„BewuTsteeinsquerschnitten", die wir in unseren psychologischen EinjMil- beschreibungen hervorheben und etwa auch protokollarisch niederlegen, lassen sich folgende Elemente unterscheiden

Gedanken (unanschaulich) Erscheinungen (anschaulich)

des phänomenalen Baumes des Ichkomplezee

des Innenichs des Aufsenichs.

Erschwert wird die Beschreibung dadurch, dafs diese Elemente für gewöhn* lieh keineswegs isoliert, sondern in mannigfaltigster Verknüpfung vorzn- kommen pflegen. Bald lagern sich die Erscheinungen den Gedanken nber und nehmen ihnen ihre Schärfe. Wir sehen den Wald vor lauter Bäumen nicht. Bald lagern sich umgekehrt die Gedanken den Erscheinungen über und nehmen ihnen ihre Anschaulichkeit. Wir sehen wenn es gestattet ist, die Bedensart umzukehren die Bäume vor lauter Wald nicht

Auch ist es schwer, den wirklichen Inhalt des abstrakten Voj:- Stellungsbildes von seinem statischen oder dynamischen BewuDstseins- hintergrund genügend abzuheben, ihn wie der Verf. es ausdrückt -*- „von dem bei der Explikation angeregten Mechanismus zu trennen*'.

Verf. gibt alsdann eine Einteilung der Gredanken in ihre verschiedenen Arten. Er unterscheidet einfache und zusammengesetzte Gedanken. Den Typ des einfachen Gedankens bildet der „GegenstandsbegrifC". Im Kopfe des Naiven steift sich dieser Begriff so dar, dafs er sich mit : j^erscheinendeni Gegenstand'' deckt. Durch Abstraktion aus den Erscheinungen gewinnt er den Begriff des Gegenstandes im Sinne von „Scheinsubstanz". Erst die Erkenntniskritik lehrt zwischen dieser Scheinsubstanz und dem Dinge an sich unterscheiden. Zusammengesetzte Gedanken treten uns in den sog. Merkmalbegriffen entgegen, die wir durch Abstraktion der Eigen- schaften der uns erscheinenden Dinge gewinnen.

Alles in allem ist der Begriff das Grundelement des Denkens.

IL Teil: Wirkungsakzente.

Das Wort „Wirkungsakzent" entnimmt Verf. Hiloebbahdb „Problem der Form". Von dem Begriffe, den er mit diesem Worte verbindet, läfst sich ähnliches sagen, wie von seiner Einteilung: Erscheinungen/Gedanken des vorigen Abschnittes. Es handelt sich um etwas durchaus Eigenartiges! Der Wirkungsakzent ist kein Gefühlston, keine unterbewufste Vorstellung und keine „Bekanntheitsqualität". Ähnlicher ist ihm schon die „Bewulst- seinslage" Mabbes oder das „Gesamtmerkmal" Liffs*, oder auch die f,Ge- staitsqualität" EnaEirFBLs'. Gleich ist ihm keiner dieser Begriffe.

Eine einfache gebogene Linie z. B., die, isoliert betrachtet, für uns nichts mehr bedeutet, als das, was eben in ihrem Wahmehmungsbestande unmittelbar gegeben ist, kann durch Einfügung in eine Zeichnung etwa als lächelnder Mund „wirken". Diese Wirkung ist ein unmittelbar vor gefundener, nicht weiter erklärbarer und auf nichts anderes reduzierbarer Bestand unseres Bewufstseins. Sie ist jedoch eine durchaus unselb- ständige Gegebenheit. Sie ist niemals isoliert für sich vorstellbar, sondern immer nur an und in dem Wahrnehmungsbestande, in dem sie

LiterahtH)erieht 55

sioh oflenbart. Der WirkangcMJczent ist ferner aaMcblie&lich anschan- lieber Mator. Br ist mir etwas WahrgenommeQes, nicfate Gedachtes, ja nicht einmal etwas Erinnertes, wenngleich er reproduktiv wirken kann. Einer der bedeutsamsten Wirkungsakzente ist die Tiefendimension als Wahrnebmungsinhalt.

Die wichtigste Bolle jedoch spielt der Wirkungsakzent bei der Beant- wortung der Frage: „An welcher Erscheinung merken wir, daüs unser Ich erscheinungsmäfsig gegeben ist?" Der erscheinungsmftTsig gegebene ,,Ich- komplex'* ist in der Hauptsache ein lückenhafter Organempfindungs- komplex, der einem Ich als dem Träger zugeordnet wird. Wie .geschieht diese Zuordnung? Entweder rein gedanklich beim sog. Wiedererkennen oder a'ber durch Vermittlung des ,Jchakzentes". Dieser Ichakzent ist das eigentümliche, nicht weiter beschreibbare, aber jedem unmittelbar bekannte Bewulstsein yon der ZugebOrigkeit eines psychischen Erlebnisses zu unserem Ich. Der Ichakzent läfst sich lokalisieren. Er sitzt „fast stets im Kopf oder auch noch in der Brust". Er lälst uns femer ein Innenich von einem AuTsenich trennen. An demjenigen Teile des phänomenalen Aufsenraumes, den wir „unseren Körperraum" nennen, machen wir gewisse Beobachtungen ohne Ichakzent, gewisse andere mit Ichakzent.

Wenn ich z. B. den Arm willkürlich bewege, so kann ich entweder scharf auf die entstehenden Organempfindungen achten. Dann fehlt der Ichakzent. Es herrscht sog. „Aufsenkonzentration". Oder aber ich kann mich ganz dem Erlebnis des von mir ausgelösten Innervation simpulses hingeben. Dann ist der Ichakzent da. Es herrscht „Innenkonzentration'^ Auf diese Weise gelangen wir zu der schon im ersten Teile erwähnten Scheidung der Erscheinungen des Ichkomplexes in solche des Innenichs und solche des Aufsenichs.

Auch für diesen zweiten Teil gilt, dafs die in ihm enthaltene Wieder- gabe feiner und scharfer psychologischer Beobachtungen dem Leser vielen GenuXs verschaffen kann, wenn er sich erst in die Terminologie gefunden und in die eigenartigen Begrifisbildungen hineingedacht hat.

Bei einem derartigen Sachverhalt drängt sich von selbst die Zweck- mäfsigkeitsfrage auf. Ist Begriff und Ausdruck vom Verf. so zweckmäfsig gewählt, dafs man darin eine Verbesserung, einen Fortschritt über den bisherigen Bestand hinaus sehen kann? Das Haupterfordernis einer guten Beschreibung elementarpsychologischer Erscheinungen ist nach Ansicht des Bef. gröfstmögliche Klarheit und Einfachheit Leistet aber nicht die be- stehende Apperzeptionstheorie nach dieser Sichtung hin mit geringerem Aufwand von Mitteln das gleiche, wenn sie z. B. die verschiedenartigen „Wirkungen", die ein seinem Bestände nach gleichbleibender Wahrnehmungs- reiz in verschiedenem Beizzusammenhange auslöst, auf die Erregung ver- schiedener Residualbestände zurückführt? Sagt es uns mehr, wenn wir hier von verschiedenen Wirkungsakzenten sprechen, anstatt von dem Wirksamwerden verschiedener apperzeptiver Bedingungen?

Ist es schlieüslich zweckmäfsig, den Wirkungsakzent als neue, ur- sprüngliche und unmittelbare Bewufstseinsgegebenheit einzuführen? Der Verf. tut dies. Er führt sogar das Gefühl auf den Wirkungsakzent zurück. Er nennt es den Wirkungsakzent des Innenichs. Wissen wir nicht

56 LUeratwrbericht

besser und unmittelbarer was ein Gefühl ist, als irgend etwas anderes? Warum also hier in die Feme schweifen, wo doch das Gute so nahe liegt?

Hbebssts (Bonn).

GüTBEBLET. Psyehopbjiik. Historltcb-krlttsche Stidiei iber ezperimeitelle Psychologie. Mainz. Eirchheim <& Co. 1905. IX u. 664 S.

Verf. will, wie er selbst im Vorwort bemerkt, „nicht ein systematisches Lehrbuch der experimentellen Psychologie bieten**, sondern ,,er will über die Aufgaben, Methoden und Ergebnisse dieser jungen Wissenschaft referieren, bzw. dieselben durch seine Studien darüber einem weiteren Leserkreise zugänglich machen**. Es ist in der Tat erstaunlich, wie wohl unterrichtet Gütbbrlbt, der selbst kein ausübender experimenteller Psycho- loge, sondern katholischer Priester ist, auf den verschiedensten psycho- logischen Arbeitsgebieten sich erweist. Er berichtet über die wichtigsten Untersuchungen, die seit Fechnbbs Psychophysik zur Erforschung der Ab- hängigkeitsverhältnisse zwischen Beiz und Empfindung angestellt worden sind, behandelt dann ziemlich eingehend die Methode der psychologischen Zeitmessungen bei Eeaktions-, £omplikations-, Apperzeptions- und Asso- ziationsversuchen, weniger gründlich die Lehre von der Aufmerksamkeit und dem Gedächtnis, vollständiger wieder die Zeitsinnuntersuchungen und mit geschickter Hervorhebung der wichtigsten Fragen die Sinnespsychologie, wobei freilich das Kapitel über den „Gefühlssinn** und die Behandlung des statischen Sinnes in dem Abschnitt über das Gehör manches zu wünschen übrig lassen. Sehr stiefmütterlich behandelt wird die Lehre von Schlaf und Traum sowie die Gefühlspsychologie. Ein besonderer Abschnitt ist der Psychologie des Lesens und Schreibens gewidmet. Becht unzulänglich sind die Ausführungen über „differentielle Psychologie**, die das vorletzte Kapitel ausmachen, während im letzten ein knapper Bericht über den ersten Kongrefs für experimentelle Psychologie gegeben wird.

Der Verzicht auf Systematik, der in dieser Aufzählung deutlich genug zu erkennen ist, bringt nun freilich einen doppelten Nachteil mit sich. Erstens leidet darunter die Vollständigkeit der Übersicht über die psycho- logischen Arbeitsgebiete. Man gewinnt den Eindruck, als ob die experi- mentelle Psychologie wirklich nur über die periphersten Tatsachen des Seelenlebens einiges Licht zu verbreiten imstande sei, als ob die Ver bindung der psychischen Elementarerscheinungen zu dem, was eigentlich die Geisteswelt des Menschen ausmacht, durch den Fortschritt der psycho- logischen Wissenschaft einer besseren Erkenntnis keineswegs zugänglich geworden sei. Die Versuche über Abstraktion, über determinierte Asso- ziationsverläufe, über Intelligenzäufserungen, psychische Korrelationen usw. werden entweder überhaupt nicht oder so nebenbei im Zusammenhang mit ganz andersartigen Forschungen erwähnt, dafs ihre Bedeutung dem in psychologischen Dingen nicht schon bewanderten Leser verborgen bleiben muls.

Der zweite Nachteil, der durch Gütberlbts Verzicht auf Systematik bedingt ist, besteht darin, dafs die „Psychophysik durchaus die Klarheit und Wärme einer selbständigen wissenschaftlichen Überzeugung vermissen läfst. Dadurch, dafs man eine Menge von Beferaten über Spezialarbeiten

Literatwrberieht 57

nebeneinander setzt, kann man jede Wissenschaft als ein Chaos wider- streitender Auffassungen erscheinen lassen, besonders wenn man noch mit einer gewissen Absichtlichkeit die schärfsten Äufserungen, die im Elampfe der Meinungen gelegentlich fallen, zusammenstellt. Dadurch wird aber derjenige, der die betreffende Wissenschaft als Lernender sich aneignen will, notwendig abgestofsen oder gelangweilt. Interesse dürfte daher auch das GuTBERLBTSche Buch finden einerseits bei denen, die schon im Besitz psychologischer Kenntnisse sind und historische Neigungen haben, anderer- seits bei denen, die sich freuen, konstatieren zu können, dafs alles mensch- liche Wissen Stückwerk ist.

Eine energisch hervortretende eigene Überzeugung, die so ganz und gar nicht in dem einzelwissenschaftlichen Teil der „Psychophysik'' GuTBEBLBTs gefunden werden kann, beherrscht allerdings die einleitende Diskussion psychologischer Prinzipienfragen. Aber hier ist wieder die Orientiertheit zu vermissen, die wir unserem Autor in Sachen der psycho- logischen Spezialforschung zuerkennen durften. Wer die metaphysischen Anschauungen Fbohnebs als Materialismus bezeichnet und mit den längst Gemeingut aller ernsthaften Erkenntnistheoretiker gewordenen anti- materialistischen Argumenten bekämpft, der muCs Kant nie gelesen oder nie verstanden haben. Sonderbare' erkenntnistheoretische Anschauungen verrät aber vor allem auch eine Stelle des dritten, vom „Müüsbrauch der Psychophysik" handelnden Kapitels, wo es helTst, es sei „falsch, dafs die Wissenschaft nichts zu tun hat mit den sozialen, religiösen, moralischen Konsequenzen ihrer Schlüsse''. „Wenn die Wissenschaft Sätze über den Ursprung und das Wesen des Menschen und sein Verhältnis zur Gottheit aufstellt, aus denen Irreligiosität, ünsittlichkeit folgt, dann sind diese Sätze wegen ihres solidarischen Zusammenhangs mit diesen Konsequenzen ohne weiteres als falsch zu verwerfen*'. „Allerdings kann eine solche Konsequenz die wissenschaftlich festgestellten Schlüsse nicht entkräften : denn Wahrheit mnüB immer Wahrheit bleiben.'' Wer derartige Sätze nebeneinander stellen kann, der darf kaum beanspruchen, dafs man die von ihm ver- tretene Weltanschauung für ein Ergebnis vdrurteilsfreier wissenschaftlicher Denkarbeit halte. Damit verliert aber auch die Elritik, die Gütberlbt vom Standpunkt der „in der christlichen Philosophie" „bewiesenen" dualistischen Weltanschauung aus an den prinzipiellen Auffassungen anderer Denker über das Verhältnis von Physischem und Psychischem übt, das Interesse, das man einer scharfsinnigeren Auseinandersetzung zwischen Dualismus und Monismus wohl entgegenbringen würde. Dübb (Bern).

M. Rbichabst. Ober die Untemchnng des geannden und kranken Gehlnies Büttels der Wage. Arbeiten aus der Würzburger psychiatrischen Klinik, Heft 1. Jena, Gustav Fischer, 1906. 101 S. 2,50 Mk. Dieser Abhandlung liegt der Gedanke zugrunde: Man muTs scharf trennen zwischen dem Himgewicht, wie man es bei der Sektion antrifft, und dem Hirngewicht, wie es vermutlich in gesunden Tagen des Indi- viduums beschaffen war. Das Himgewicht aus gesunden Tagen kann man anch das „Normalgewicht des Hirnes" nennen. Ein Gehirn ist normal

^ Liiemtwrberioht

•grofs, wenn sein Gewicht (in g) etwa 12 bis 14% niedriger ist, als die zugehörige Schftdelkapazitftt in cbcm.

Das bei der Sektion gefundene Himgewicht ksinn nun dem Normsl- gewicht aus gesunden Tagen entsprechen; es kann aber auch das dorA mmt akute oder chronische Himkrankheit ver&nd«Tte (yerkleixierte oder iRfiorgröfserte) Hirngewicht sein. Es ergibt sich also die notwendige Schlufsf olgerung : Bei jeder Himeektioo auch die zugehörige Schfldel- kapazitftt zu bestimmen. Dies ist durch eine vom Verf. angegebene Methode 4eicht jederzeit durohsufahren. Kennt man, bei der HimwAgung, die zugehörige Schftdelkapazitat nicht, so fehlt jeder Malsstab dafOr, ob, htm. wie weit das bei der Sektion gefundene Hirngewicht durch eine Him- krankheit vergröfsert oder verkleinert wurde. Dementsprechend sind andi alle Arbeiten über Hirngewichte soweit die Pathologie in Frage kommt wertlos, wenn nicht gleichzeitig die Schftdelkapazitftt berflck- «ftchtigt wurde.

Zu dem erwachsenen normalen Menschen gehört ein HimgewicH welches eich zwischen 11 ÜO und 1600 g zu bewegen pflegt, ebenso wie «. B. das fiundehirn stets ca. 60 bis 100 g wiegt, trotzdem, ihrem Körper- gewicht nach, die Hunde auXserordentlich ver8<diieden sind, indem ein Hend i>is sechsmal so schwer sein kann, als ein anderer.

Inneiitalb dieser Himgewichtssahlen fflr den Menschen iat aber eia ^SohluTs vom Himgewicht auf die Intelligenz nicht erlaubt Sehr begabte Menschen können ein durchaus unauffälliges Himgewicht aufweisen, sehr idnmme Menschen ein sehr schweres Hirn. Wenn immer noch in dar Literatur die Ansicht vertreten wird, als ob hohes Hirngewicht und grofee Intelligenz in innerem Zusammenhang stünden, so ist eia Beweis hierttr bis jetzt auch deshalb nicht erbracht, weil die bei der Sektion bestimmten Himgewichte berühmter Männer niemals daraufhin untersucht wurden, eb es nicht die durch irgendeine Himkrankheit veränderten Himgewic^te waren.

Weshalb die einen Menschen ein Himgewicht mehr um 1600 g, die anderen mehr um 1200 g haben, weiTs man nicht. Man kann nur sageo, •daCs grofse Menschen im allgemeinen ein schwereres, kleine Menschen im allgemeinen ein leichteres Himgewicht haben. Aber aacb hierbei gibt es genug Ausnahmen. Selbstberieht

Akna Wtozolkowska. Illntiont of Revenible Perspective. PaychoL Beoiac

13 (4), S. 276-290. 1906. Verf. berichtet über eine Reihe von Beobachtungen betreffend die Umkehr der scheinbaren Tiefenverhftltnisse bei der Wahrnehmung ffi^ metrischer Figuren. Diese Figuren können entweder anfache Zeichnungen sein oder dreidimensionale Figuren, z. B. Drahtmodelle. Im ersten Fall ist die Umkehrung ein Übergang von einer Illusion zu einer andereiif im zweiten Fall ein Übergang von einer realen Wahrnehmung zu w^ Illusion. Die Bedingungen und Gesetze der Umkehr für dieee beiden f^ sind nicht dieselben. Bei ebenen Figuren ist die Umkehrzahl durtdisehni^' lieh gleich der Pulszahl, aber im einzelnen so abweichend, dafs ein kaneeltr

lAteraiuf^>eriekt. q9

Znsanunenhang kaum bestehen kann. Jedesmal wenn bei einer ebenen Figur eine Umkehr der Tiefenwahrnehmung erfolgt, kann vermittels des Ophthalmometers eine Änderung der Refraktion des Auges wahrgenommen werden. In beiden Fällen, bei ebenen Zeichnungen sowohl wie bei drei- dimensionalen Figuren, ist die Umkehr begleitet von Änderungen d«r scheinbaren Beleuchtung, Farbe und Form des Gegenstandes, und von scheinbarer Botationsbewegung des Gegenstandes um eine vertikale oder horisontale Achse. Verf. schliefst aus diesen Beobachtungen, dafs die Ursache (die einzige Ursache? Bef.) der Umkehr darin 2U suchen ist, dafis dis Bild des Gegenstandes sich nicht in normaler Weise über die Betina verschiebt. Z. B. ein dreidimensionaler Gegenstand wird umgekehrt ge- sehen, sobald man ein Auge schliefst und das andere Auge stillhält, denn nach Verf. kann die korrekte Wahrnehmung nur d«in bestehen bleiben, wenn wie dies normalerweise infolge der beständigen, unwillkürlichen Augenbewegungen geschieht eine Reihe ähnlicher, aber auf der Retina sich verschiebender Bilder sukzessiv gesehen «werden. Das heÜBt, das Auge ist ein lebendes Stroboskop. Bei einer flachen Zeichnung tritt Um- kehr der Illusion ein, sobald man ein Auge schlie/st und die Akkommo- dation des sehenden Auges ändert oder das sehende Auge bewegt, da in diesen Fällen eine Verschiebung des retinalen Bildes eintritt, die der Ver- Schiebung beim Wahrnehmen eines wirklichen dreidimensionalen Objekts nicht entspricht. Max Meysb (Columbia,, Missouri).

Johannes Volkblt. PersSulicbes mid Sachliches aus meinen ftathetUchen Arbeltserfahrnngen. Zeitackr, f. Ägth. ^. allg. Kunstwiss, i, S. 161— 18Q.

1. Verf. unterscheidet zwei Arteii der Äfithetik: Die von der Psycho- logie ausgehende Analyse der einfachsten ästhetischen Funktionen^ als deren Aauptvertreter er Th. Lipfs nennt, luid eine zur psychologijBchen Analyse hinführende Betrachtung der Kunst, welcher er angeehört. Für ihn ist alao das Ziel der Ästhetik ausschlief slich Analyse von Seelen Vorgängen.

2. Verf. teilt mit, dafs er in seiner Jugend von ,^inheitsbegeistaruag erfafst wurde" und erst langsam dazu gelangte, das Übertriebene solches Glaubens einzusehen. Für die Metaphysik läfst er zwikt dieses Einheits- JBtreben noch heute gelten; jedoch besteht schon in der Erkenntnistheorie der Dualismus von Subjektivem und Transsubjektivem, in der Psychologie zeigt sich eine Vielheit von Hauptfunktionen^ in der Ästhetik eine Vierzahl von Grundnormen. Schliefalich verwahrt sich Verf. gegen den Vorwurf, dafis »eine Ästhetik einerseits zu w^nig einheitlich, .andererseits eklektisch seL

3. Was sieh an den wirklichen Vorgängen des ästhetischen Verhaltens ifBeüstes, Rctinstes, VoUenitwickeltes findet, das sucht die Ästhetik zusammen- sonehmen und zu einem Gesamtvorgang zu vereinigen''. In Wirklichkeit ist dos ästhetische Verhalten niemals rein, sondern wird oberflä<dilich, unter Mrenden Umständen, auch zu aufeerästhetischen Zwecken vollzogen. Be- •oiKlers das Interesse am dargestellten Gegenstand ist vielfach ein störendes Moment. Schließlich stumpft sich das äathetische Verhalten demselben Objekt gegenüber auch ab. Im Gegensatz dazu fafst das „System der

30 lAteraturhericht.

Ästhetik'' nur ein von Störungen vollkommen freies Verhalten ins Auge. (Wohl durch Abstraktion? Das tut aber jede Ästhetik.)

4. Die „immanent ästhetische Betrachtungsweise^ kommt mit der kulturgeschichtlich-ftsthetischen leicht in einen gewissen Konflikt Künst- lerische Strömungen gefährden oft Kulturgüter, auch wenn sie vom imma- nent ästhetischen Standpunkt einwandfrei sind.

5. Ursprünglich erschien dem Verf. die neue Richtung der Kunst roh und krankhaft. Später vermochte er besser das Künstlerische heraus- zufinden, wohl auch meint er weil sich die Kunst inzwischen ver geistigt hatte. Verf. meint nun, dafs eine treffliche Ästhetik auch ohne Berücksichtigung der neuesten Kunst geschrieben werden kann. Doch glaubt er, „dafs ich durch das Hereinziehen der modernen Kunst die ästhetische Einsicht in vielen Stücken bereichere, ausweite und verfeineret

Ambsbder (Graz).

L. TRftvBs. Le travall, la flitigae et Teffort. ÄnnSepsychol 12, S. 34-69. 1906. Die Abhandlung ist im wesentlichen ein kondensierter Sammelbericht über eine grofse Zahl ergographischer Untersuchungen, die Verf., Professor an der Universität in Turin, in italienischen Zeitschriften veröffentlicht hat. Bei der knappen, andeutenden und fortwährend auf die Originalien verweisenden Darstellung, die mit zahlreichen Tabellen und Figuren durch- setzt ist, ist es mögUch, eine nochmalige Kondensation in Form einer Inhaltsangabe zu liefern. Wir müssen uns mit dem Hinweis begnügen, dafs Verf. mit z. T. sehr subtilen Versuchsanordnungen festzustellen suchte, welche physiologischen Elemente an der rhythmischen Muskelarbeit be- teiligt sind, wie sich die willkürliche Muskelleistung zu der durch fara- dischen Strom erzeugten verhält, mit welchem Vorbehalt man die Kurve der Muskelarbeit als Ermüdungsindex betrachten dürfe u. a. m. Inter- essenten an ergographischen Untersuchungen werden die Originalarbeiten des Verf. zu Rate ziehen müssen. W. Stebn (Breslau).

Boris Sidis. Are there Hypnotlc Hallncinations? Psychol. Bemew 13 (4), S. 239—257. 1906. Verf. stellt die Gründe zusammen, aus denen man schliefsen müsse, dafs hypnotische und posthypnotische Halluzinationen nicht wirkliche Halluzinationen seien, sondern einfach Wahnideen. Verf. unterscheidet primäre und sekundäre Empfindungselemente. Beide zusammengenommen machen eine Wahrnehmung aus. Die primären Empfindungselemente sind diejenigen, die direkt vom Sinnesorgan infolge äufserer Reizung zur ge- gebenen Zeit kommen. Die sekundären sind Elemente, die nicht direkt aus der Reizung des betreffenden Sinnesorgans herrühren, z. B. wenn jemand das Gewicht einer Vase „sieht'^ Verf. definiert nun Halluzinationen als „sekundäre Empfindungselemente, die infolge von Dissoziation aliein in den Blickpunkt des Bewufstseins geraten sind''. Blolse Vorstellungen gehören nach S. zu einer ganz anderen, dritten Klasse von BewuTstseina" zuständen. Die sog. Halluzinationen der Hypnose rechnet Verf. zu dieser dritten Klasse und betrachtet sie daher als nicht eigentliche Halluzinationen.

Literaturberieht 61

sondern als Vorstellungen, die unter dem EinfluXs der Suggestion zu Wahn- vorstellungen geworden sind. Als Beweis dafür betrachtet er unter anderem die Tatsache, dafs Hypnotisierte vor wilden Tieren, die sie „sehen'^ nicht davon laufen und keine Spur des Schreckens zeigen, während man dies erwarten sollte, wenn sie wirkliche Halluzinationen hätten. Natürlich können die Hypnotisierten in solchem Falle auch wirkliche Zeichen des Schreckens geben, wenn sie nämlich glauben, dafs der Hypnotisierende dies von ihnen erwarte. Als besonders wichtige Beweise seiner Ansicht betrachtet Verf. die Antworten, die er von den Hypnotisierten vermittels automatischen Schreibens erhält. Z. B. eine hypnotisierte Person erhält die Suggestion, sie werde nach dem Erwachen drei Taschenuhren sehen. Als ihr nun nach dem Erwachen eine Taschenuhr gezeigt wurde, behauptete sie drei Uhren zu sehen, schrieb jedoch automatisch die folgenden Worte nieder: „Eine silberne ühr, wirklich, die anderen von Gold, unwirklich, nichts da". Bef. hat sich nicht ganz überzeugen können, dafs man die erwähnten Tatsachen nicht eben so leicht oder selbst leichter erklären könne, ohne des Verf.s Klassifikation der Bewufstseinszustände adoptieren zu müssen. Max Mbysr (Columbia, Missouri).

Eindespsyohologie. Pädagogik«

Yierter Sammelberieht

von

W. Stbbn.

(S. Bd. 35 S. 297, Bd. 40 S. 122, Bd. 42 8. 367.)

Allgemeines.

1. A. J. SoHRBüDEB. Wamm und woiu betreibt man Understadiiim? Die

Einderfehler 11. Auch separat als: Beiträge zur Einderforschung und Heilerziehung, herausg. von Koch, Tbüpbr und üpbb. Heft 16. Langen- salza, Beyer. 1906. 40 S.

2. W. Ahekt. Die Seele des Kindes. Eine vergleichende Lebensgeschichte.

Stuttgart, Kosmos, o. J. 96 S.

3. BiKBT, Simon et Vanet. Recherches de pidagogie scientlflque. AnnSe

psychol 12. S. 233—274. 1906. Das Xinderstudium scheint jetzt an einem gewissen Wendepunkt seiner Entwicklung zu stehen. Wurde seine Pflege bisher mehr gelegent- lich von vereinzelten Forschern verschiedenen Berufs, namentlich Pädagogen, geflbt» so findet jetzt einerseits eine straffere Organisation der Arbeit unter gemeinschaftlicher Beteiligung von Pädagogen, Psychologen, Ärzten, anderer- seits eine Propagation der Interessen auf weitere Kreise des Laienpublikums statt Das Jahr 1906 brachte den Berliner Kongrefs für Kinderforschung, ^er beiden Zwecken in hohem Mafse diente, die Begründung des Instituts

Q2 LUeratwrbericht

für angewandte Psychologie in Berlin, das wissenschaftliche Arbeitsgemein- schaft erstrebt, die Begründung eines pädo-psychologischen Schullabon- toriums in Parisr und einige Schriften, die wesentlich popnlftr aufklftrenden 6härakter haben. Die Schrift von Schbxöi>kr ist mehr für Lehrer, die toü JÜMBVS für Laien (insbesondere Eltern) bestimmt«

}. SCBBSUDBB ist Direktor eines medisinisch-pfldagogischea InstitotS' in: Amhüm. Seine kleine Broschüre ist wohl geeignet, den Ferneistehe&dea über Wesen^ 2iele und gegenwärtigen Stand der Kinderpsychologie' auf- saklttren, zumal sie sich ebenso üem h&lt von der kritiklosen Verherrlichung^ die manche Pädagogen diesem Gebiet entgegenbringen, wie von der übe^ triebeneu' Skepsis, die gar nichts Gutes an dem modernen Kinderstodiuni' gelten lassen will. Sghb. behandelt der Reihe nach das Interesse!; das- der Dichter, der Gelehrte und der Pädagoge an dem Kinderstudiun^ nimmt» erwähnt überall die Hauptprobleme, wendet sich dann den ^9ie0schied«ie& Methoden zu wobei die statistischen Fragebogen^Materialsammlungen der HALLschen Schule gebührend zurückgewiesen werdisn und schliefst mit einem kunsen Abriis der Geschichte dieser jungen Disaiplin.

2. AMBNte Arbeit erscheint in einer Sammlung, die auf weiteste Ver- breitung in Laienkreisen angelegt ist. Es ist nicht leicht, für einen solchen Zweck den richtigen Ton und die richtige Auswahl zu treffen, zumal ja die KLnderseelenforschung so aufserordentlich viel der offenen Fragen und der unsicheren Ergebnisse enthält, die dem engeren Kreise der Interessenten vorbehalten werden müssen. Ambnt hat seine Aufgabe zu lösen gesucht durch eine möglichste Annäherung der Darstellung an die naiv volksmäfsige Auffassung der Kindesseele. Man kann* ihm darin Recht geben, daTs in der unbewufsten Volksweisheit mit ihren oft so treffenden Bezeichnungen und Charakteristiken manche ungehobenen Schätze stecken, ohne doch damit einverstanden sein zu müssen, dafs die Ergebnisse der neueren Forschung so kurz und etwas mifsachtend behandelt werden. Gerade bei einem so vorzüglichen Kenner der Literatur ist es verwunderlich, dafs er namentlich für das Schulalter die Einsichten, die Experiment und Statistik vermittelt haben, nur ganz selten verwertet hat.

Das Buch beginnt mit einigen Ausführungen über die Psychologie des ungeborenen Kindes, wobei Ament geneigt ist, dem Embryo bevüglich gewisser primitiver BewuTstseinsphänomene , insbesondere der Sinnes- empfindungen, mehr zuzuschreiben als Pbeyer und andere bisher getane Wenn freilich A. sagt: „Es wäre doch merkwürdig, wenn alle Organe des ungeborenen Kindes ihre Funktionen schon begonnen haben sollten, nar gerade das Grofshirn „der Sitz der Seele" nicht," so ist hierbei übersehen, daCs gemäfs den neueren Befunden der Gehirnanatomie die markhaltigen Verbindungen zwischen dem Grofshirn und den subkortikalen bzw. peri- pheren Organen erst gröfstenteils nach der Geburt zur Reife kommen. A. ventiliert sogar die Möglichkeit, dafs durch die Wandung des Bauches und der Gebärmutter Lichtstrahlen bis zu dem Auge des Embryos gelangen und vielleicht Gesichtsempfindungen wecken können.

Die dann folgende Darstellung des Neugeborenen und des Säuglings gibt in knapper, aber gut orientierender Übersicht die wesentlichsten seit SuBHATTL, Pbbtbb u. a. bekannten Tatbestände bezüglich der Sinneswahr*

LUeraturberichL 63

TWihmnngpMn, der impulsiven, reflektorisdien» instinktiTeii Bewegnngen tmd (im Anschiiiüs an Pidbbit und Dabwin) der AusdruckBbewegnngen. Dem. leisten Punkt sind eine Reihe von Photographien lachender, weinender, veriegener ntm, Kinder verechiedenen Alters beigegeben. Wie bei dieseuL Thema, so greift auch die Betrachtung dev anderen Fünktiomen fortwftfaretndf anf' höhere- Altersstolen über, wobei eine etwas sohttrfere Gliederung des Stolfee (auch ftuiaerlich durch mehr AbsAtse) su wünschen wftre. Gedächtnis^. Assoziation, Erinnerung, Verstand, Einbildungskraft, Spiel, Aufmerksamkeit werden gestreift hierbei wird u. a. die Definition des Verstandes als Fähigkeit „verwickelte Sinneseindrücke zu unterscheiden" (S. 47) nicht überall Zustimmung erfahren.

Mit den genannten Erörterungen ist schon Über die Hälfte des Buches erfüllt, so dafs d<Br Rest des Stoffes eine sehr Viel gedrängtere Behandlung findet. So wird die so eminent wichtige Funktion des Sprechens zugleich Ajcsnts spezielles Forschungsgebiet auf 3 Seiten abgetan. Aus der Altersstufe des „grofsen** oder „gescheiten*' Kindes behandelt A. das Spiel, das er mehr in seinen äufseren Formen, als in seinen psychologischen Grundlagen berücksichtigt und mit einer Reihe von bekannten Bildern Ludwig Richtehs und Plbtscbs begleitet ; femer das Zeichnen, ebenfalls mit einigen eriäutemden Kinderzeichnungen.

Weitere 8 Seiten gelten der „Jugendzeit'' vom Eintritt in die Schule bis zu den Flegel- und Lümmeljahren, wobei A. alles auf die diffe- renzielle Entwicklung der Geschlechter zuspitzt, in einer meines Er- schtens zu einseitigen Betonung, aber in einer immerhin verständlichen Reaktion gegen moderne Versuche, die angeborene ps^rchische Verschieden- heit zwischen Knaben und Mädchen zu leugnen oder zu vernachlässigen, läne kurze Charakteristik des „Entwicklungsalters" schliefst das Buch.

3. Dem unermüdlichen Eifer BiKETs ist es gelungen, an einer Pariser Volksschule die Errichtung eines psychologisch - hygienischen Schul- lafooratoriums durchzusetzen, das vor allem die Einführung von Indi- vidualitätslisten (die von französischen Hygienikern gefordert werden) vor- bereiten, aber auch anderen pädagogischen Problemen dienen soll. TAKKf ist der Direktor der betreffenden Schule; SiMON ist als ärztlicher Beirat tätig; BnvBT erstattet den Bericht über die bisher unternommenen Unter- Buchungen, die sich vornehmlich auf Seh- und Hörschärfe beziehen.

Die Sehschärfe wurde mit Druckbuchstaben von 7 mm Höhe gemessen, welche die Kinder in einer Entfernung von 5 m zu lesen hatten; Kinder, die von 7 Buchstaben weniger als 3 richtig erkannten, galten als unter- normal. Es konnte auf diese Weise festgestellt werden, dafs die Lehrer oft sehr wenig darüber orientiert sind, welche ihrer Schüler, als die seh- schwachsten, auf die vordersten Bänke plaziert werden müssen, um die Schrift an der TafiBl lesen zu können; Binst empfiehlt daher, dafs solche einfachen Prüfungen zu diesem Zweck überall anzustellen seien und gibt dks Verfahren in genauen Details an.

Die Hörprüfang fand auf zwei Weisen statt, vermittels der Taschenuhr, AT dtoen Hörbarkeit die Maximalentfernung gesucht wurde, und vermittels gerochener Worte; die in konstanter Entfernung und mit möglichst kon- stanter Lautstärke d^n Kindern dargeboten und von diesen aufgeschrieben

64 Literaturbericht

werden maTsten. Methodologisch war hierbei bemerkenswert, dafs beide Methoden keine irgendwie paraUelen Ergebnisse zeigten: anter den fflr ührticken feinhörigen Kindern fanden sich viele für Sprache schwerhörige and amgekehrt. Binbt schliefst daraas mit Becht, dafs für praktische Fragen die Uhrmethode unbraachbar sei.

Der Best der Arbeit gibt mehr oder minder kurze Andeatangen über Methoden, die künftig zu Intelligenz-, ästhetischen und anderen Prüfangen angewandt werden sollen.

Erste Lebensjahre.

1. D. B. MiJOB. Fint Steps in Mental Growth. A Series of Studios in the

Psychology of Infancy. New York, Macmiilan Comp. 360 S. 1906.

2. G. Fbibdrich. PsychologUche Beobaehtnngen an iwei Knaben. Beitrftge zur

Kinderforschung und Heilerziehung, herausg. von Koch, Tbüpbb und Ufsb. Heft 17. Beyer u. Söhne, Langensalza. 74 S. 1906.

3. H. TöoEL. 16 Monate Klndenprache. Ebda. Heft 13. 36 S. 1905.

4. G. Lindneb. lenere Forschnngen nnd Anschaanngen fiber die Sprache 4ii

Kindes. Ztachr. /". päd, Psychol, Fathol u, Hyg. 7, S. 337—392. 1906.

5. W. Naüsesteb. Die grammatische Form der Kindersprache. Ebda. 8, S. 214

bis 233. 1906.

Wir beginnen mit jenen Arbeiten, welche auf Grund von mehr oder minder umfassend geführten Tagebüchern neue Materialien über die Ent- wicklung der ersten Lebensjahre bringen. Zwei Arbeiten theoretischer Art bilden den Abschlufs.

1. Majobs Werk gehört zu den bisher nur sehr spärlichen Büchern, in welchen die Gesamtentwicklung eines Kindes chronologisch gewissenhaft registriert wird. Der Verf., Professor der Pädagogik an der Ohio State University, folgt hierin also, ähnlich wie MiTs Shinn, den Spuren P£etsb8, leider freilich auch darin, dafs er mit dem SchluTs des 3. Lebensjahres seine Beobachtungen abbricht. Hierdurch wird manche Untersuchung (z. B. die des Zeichnens) da abgeschnitten, wo sie interessant zu werden beginnt Weit über Mifs Skosts, zum Teil sogar über Prbteb steht er in der be- sonnenen psychologischen Durchdringung des an seinem Sohn gesammelten Stoffes und in der Auswahl der Gesichtspunkte, unter denen er ihn be- handelt.

Sein Hauptmaterial verdankt M. der einfachen Beobachtung. An einigen Stellen z. B. in bezug auf Zeichnen, Farben- und Formwahmehmung, Erkennen von Bildern hat er auch kleine Experimente zuhilf e genommen. Literatur wird zu Vergleichszwecken nur so weit herangezogen, als sie in englischer Sprache erschienen oder in diese übersetzt ist.

Die ersten Kapitel beziehen sich auf die Bewegungen des Kindes and sind mit mehreren Photographien kindlicher Handlungen und Ausdrucks- bewegungen ausgestattet. Nach einer Einteilung der Bewegungen in spontane, reflektorische und automatische wird die Entwicklung des Greifens und zahlreicher komplizierterer Handlungen (Ballwerfen, Türöffnen, Schnhe anziehen usw.) geschildert. Die ersten Anfänge des Zeichnens werden vom sinnlosen Kritzeln an durch eine Reihe von Stufen verfolgt, die Ausdrucks-

Literaturbericht g5

bewegangen und die ihnen zugrunde liegenden Gemütszustände geprüft. Besonders ausführlich beschäftigt sich der Verf. mit dem Furchtaffekt. Er vertritt die auch vom Referenten geteilte Überzeugung, dafs es eine eigen t. lieh angeborene Furcht vor bestimmten Objekten nicht gibt. Dagegen glaubt der Verf., wie das folgende der Nachahmung gewidmete Kapitel zeigt, an eine angeborene reflektorische Nachahmungsfähigkeit und auch bierin stimme ich ihm bei: „Es ist, als ob das ELind in die Welt einen Organismus mitbringt, der zum Teil darauf abgestimmt ist, auf gewisse Umgebungsreize in einer mit ihnen übereinstimmenden Weise zu ant- worten". Beweise bilden gewisse vor Abschlufs des ersten Halbjahrs be- obachtete Imitationen. Erst später treten Nachahmungen auf, bei denen ein Bewnfstsein von der Ähnlichkeit der eigenen Handlung mit der wahr- genommenen vorhanden ist Nachahmung aus dem Gedächtnis und ab- sichtliche Nachahmung bilden den Abschlufs der Stufenleiter.

Drei weitere Kapitel behandeln die Anschauung und die Anschauungs- formen: Farbe, Zahl und Gestalt. Im dritten Lebensjahre des Kindes machte M. systematische Lernversuche mit farbigen Papieren, deren Namen das Kind schnell erwarb; in einem früheren Alter des Kindes hatte er schon nach Baldwins Methode ästhetische Versuche gemacht, indem er prüfte, ob das Kind durch Greifen bestimmte Farben bevorzugte. Der Erfolg war negativ. Anfänge des Zählens zeigten sich mit 2V4 Jahren, indem das Kind nacheinander gleichartige Objekte berührte und sie benannte: spoon, nuna (another) spoon usw. Im gleichen Alter des Kindes wurde mit geometrischen Lektionen begonnen, indem aus Karton ausgeschnittene 'Quadrate, Dreiecke und Kreise vorgelegt wurden. Nach 9 10 Lektionen benannte das Kind die drei Formen stets richtig.

Die zweite Hälfte des Buches gilt den Vorstellungs- und höhel'en geistigen Funktionen. Schon in den allerersten Tagen waren primitivste physiologische Assoziationen feststellbar, indem eine bestimmte Lage im Arm der Mutter schon eine Bewegung zur Brustwarze hin zur Folge hatte. Eigentlich psychologische Assoziationen stellten sich aber erst zu Beginn -des zweiten Halbjahres ein. Die Entwicklung des Gedächtnisses wird wieder durch eine Reihe von Stufen verfolgt, deren erste nur rudimentäre Formen darstellen : „Gewohnheitsgedächtnis** (indem das Kind in gewohnter Umgebung behagliche Stimmung, in ungewohnter Unbehagen zeigte), primäre Gedächtnisbilder (das Vij^i^ge Kind zeigte kurze Zeit Unwillen, wenn ihm ein Spielzeug fortgenommen wurde) und imitatives Gedächtnis. Die groJCsen quantitativen und qualitativen Unterschiede zwischen dem Gedächtnis des Kindes und des Erwachsenen werden dann näher besprochen. Mit Recht hebt M. hervor, dafs die scharfe Scheidung zwischen Gedächtnis und Phantasie beim Kinde noch gar nicht möglich ist; einige Arten der Phantasie- betätigung finden dann Erörterung. Sehr kurz wird leider das Spiel be- handelt, indem für jeden Monat die hauptsächlichen spielenden Beschäf- tigungen des Kindes einfach aufgezählt werden. Recht lehrreich ist dagegen •das nächste Kapitel über Bilder. M. machte hier zwei Serien von Versuchen. Erstens prüfte er, wie sich das IVs jährige Kind zu der Lage der Bilder im iUume stellte, indem er ihm die Bilder teilweise umgekehrt (auf dem Kopf Zeitschrift für Psycholoffie 46. 5

66 Literatwrbericht,

stehend) vorlegte. Die bei anderen Kindern konstatierte Gleichgültigkeit hiergegen zeigte sein Kind nicht. Es drehte die verkehrten Bilder stets um. Sodann zeigte er unvollständige Bilder von menschlichen Gesichtern, um festzustellen, welche Partien für das Erkennen des Kindes wesentlich sind. Auch das Verhalten des Kindes zn seinem Spiegelbild wird ge- schildert.

Das sehr ausführliche Schlufskapitel beschäftigt sich mit der Ent- wicklung der Sprache. Wieder wird hier die Stufenleiter verfolgt: das Schreien und seine allmähliche Differenzierung, Aasdrücke des Behagens, Unterscheidung liebkosender und barscher Anrufe, Lallen, VerständniB für den Namen der Objekte und für Aufforderungen, Anfänge lautlicher Nach- ahmung (von M. erst bei dem 10 Monat alten Knaben beobachtet), eigenes Sprechen, dessen Fortschritte vom 13. 36. Monat kurz registriert werden. Besondere Abschnitte sind der Entwicklung des Satzes (mit vielen Bei- spielen) und dem Bedeutungswandel gewidmet.

Das Buch wird jedem Forscher der ersten Lebensjahre des Kindes zu Vergleichszwecken wertvoll sein.

Auch Fbibdbichs Abhandlung gibt einen Querschnitt durch die verschiedenen Funktionen der Kindheit, aber in sehr viel anspruchsloserer Form. F. hatte über seine beiden Enkel zunächst lediglich zum Zweck privater Familienerinnerungen Aufzeichnungen gemacht, und kam erst nachträglich auf die Idee, darüber einiges zu veröffentlichen. So ist das Heft im wesentlichen eine Sammlung anekdotischer, aphoristischer Notizen, von knappen psychologischen Bemerkungen begleitet, über Wahrnehmungen, Auffassung, Gedächtnis, Sprechen und Denken, Gefühl, Willen usw. Als Rohmaterialien für anderweitige Bearbeitung psychogenetischer Probleme können freilich auch diese sehr mannigfaltigen Beobachtungen brauchbar werden.

3. Systematisch ist dagegen die in gleicher Sammlung erschienene Untersuchung von Töoel angelegt, die sich aber auf monographische Be- liandlung einer einzigen Funktion, nämlich der Sprache beschränkt. Tögxl hat die Sprachentwicklung seines Sohnes vom ersten Worte an (mit 14 Monaten) 16 Monate hindurch verfolgt, d. h. bis zu einer Zeit, wo das Kind in den Hauptpunkten einigermafsen das Niveau der Vollsprache erreicht hatte. Der Stoff ist nach den üblichen sprachwissenschaftlichen Kategorien eingeteilt: 1. Lautbildung (die freilich notwendig die Hinzuziehung der vorsprachlichen Lalltätigkeit verlangt hätte). Hier tritt unter anderem die häufig zu beobachtende Verspätung der Gaumenlaute besonders deutlich auf. 2. Wortbildung. Die ersten Worte haben affektive oder demonstrative. Bedeutung. Eigene Wortschöpfungen werden nicht beobachtet, dagegen einige spontane Nachahmungen von Naturgeräuschen. Die Wortschätze werden in den ersten Sprachmonaten vollständig, später in den haupt- sächlichen Neuerwerbungen notiert. 3. Wortarten. In den ersten fünf Sprechmonaten sind Interjektionen, Hauptwörter, Verben und Adverbien vorhanden. Adjektiva traten in der Mitte des achten Sprechmonats auf. In analoger Weise werden dann auch 4. Abwandlung, 5. der einfache Satz, 6. die Satzverbindung, und 7. das Satzgefüge besprochen. Die ersten Neben-

LiteraturberichL 67

Sätze wurden im elften Sprechmonat beobachtet. Eine übersichtliche Tabelle veranschaulicht schliefslich die Sprachentwicklung des Knaben.

4. LiKDNEB war einer der ersten deutschen Forscher gewesen, welche die Kindersprache genauer studiert hatten. Seine ersten Veröffentlichungen fallen ungefähr mit denen Pbbtxbs zusammen. Nach achtjährigem Schweigen sein ,,Naturgarten der Kindersprache** war 1898 erschienen greift er nunmehr noch einmal in den um die Kindersprache wogenden Streit ein. In Form eines Vortrags befafst er sich mit den Untersuchungen von Ambnt, Meümann und Idblbeboeb und wendet sich gegen den Vorwurf jener Forscher, dals er (ebenso wie Prbtbb) die Frflhstadien der kindlichen Sprachentwick- lung zu logisch aufgefafst habe. Er behauptet sein Recht, auch beim kleinen Kinde schon vom Vorhandensein von „Begriffen" zu sprechen (was im Grunde mehr ein Wortstreit als ein Sachstreit ist) und bekämpft den Ver- such Mbxtmanns und seines Schülers, die ganzen ersten Wortbedeutungen rein affektiv-volitional auffassen zu wollen. Sicherlich hat L. in diesem Kampf nicht vollständig Unrecht; der Versuch, aus den ersten Worten der Kinder alles Gegenständliche und alle Bezeichnungsabsicht zugunsten blofser Affekte und Begehrungsäufserungen weg zu deuten, ist nur mit grofser Künstelei durchführbar. Dennoch ist das Verdienst genannter Forscher unleugbar. Denn auf die Vorherrschaft, die das Affektiv-volitionale bei jenen Wortbedeutungen jedenfalls hat, haben sie zuerst aufmerksam ge- macht; und die Intellektualisierung, welche die frühere Bichtung, und in ihr auch L., mit den ersten Kinderworten vorgenommen hatte, war nach der anderen Bichtung viel zu weit gegangen. Ein Beispiel: Lindnbb sagt in einer übrigens sehr wertvollen Untersuchung über die kindliche Frage ^ : „Zum Beweis dessen, wie frühe das Kind solche abstrakten Begriffe besitzt, dient die erste von meinem 20 Monate alten Kinde getanene Frage : isn das ? (für: was ist denn das), „worin nicht weniger als 4 abstrakte Be- griffe enthalten sind". In Wirklichkeit ist isn das der Ausdruck für eine einzige Vorstellung. Ein mittlerer Standpunkt zwischen den intel- lektualistischen und den voluntaristischen Deutungen wird wohl der Wahr- heit am nächsten kommen.

5. Naüsbsteb gibt In Vortragsform eine gekürzte Darstellung seiner Auffassung, dafs die Flexion in der Sprache nur Schmuckwerk sei, keine wesentliche Bedeutungsrolle spiele, und dafs die Kindersprache hierfür einen Beweis bilde. Diese Theorie Nausbstbrs ist im zweiten Sammelbericht (Bd. 40, S. 134) des näheren besprochen worden.

Künstlerisches Schaffen und GenieTsen.

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Mit einem Vorwort von KablLampbbcht. Leipzig, Voigtländer. 1906. 61 S.

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68 Literatur berickt.

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Bahnen 17. 34 S. 190ß. (Auch separat: Voigtländer, Leipzig, 1906.) - Die flreie Geate. Neue Bahnen 18, S. 28—35. 1906.

Über das Thema der Kinderkunst liegen dieses Mal nicht Werke von dem Umfang und der Bedeutung vor, wie sie im letzten Bericht durch Kerschensteineb und Levinstein repräsentiert waren ; dagegen ist Ober eine Reihe von kleineren Beiträgen zum Teil experimenteller Natur zu berichten.

1. Der Vortrag Schuberts durcheilt im Fluge das ganze Gebiet der künstlerischen Erziehung, sowohl in bezug auf das ästhetische Schaffen, wie auf das ästhetische Geniefsen. Sympathisch berührt es, daEs eich der Verf. von den Übertreibungen der „Kunsterzieher" fern hält und ausdrück- lich betont, dafs es nicht angehe, nun Erziehung und Unterricht ganz und gar zu ästhetisieren. Ebenfalls zustimmen kann man ihm, wenn er die „physiologische Ästhetik" eines Karl Lange (Kopenhagen) und anderer, welche das ästhetische Geniefsen auf Organ- und Bewegungsempfindungen reduzieren wollen, verwirft. Bedauerlich aber ist es, wenn er mit dieser Zurückweisung der physiologischen Psychologie aus dem Bereich des Ästhetischen auch glaubt, die experimentelle Psychologie treffen zu können. Die experimentelle Methode hat dem Problem der ästhetischen Erziehung schon grofse Dienste geleistet (vgl. Kerschensteineb und andere) und wird dies auch in Zukunft tun; viele von den Problemen, die Schübebt selbst nennt, sind nur mittels experimenteller Verfahrungsweisen zu lösen. Als eine Hauptaufgabe der Kinderforschung auf dem Gebiet der künstlerischen Produktion bezeichnet Schubert das Studium der Übergänge von den noch vorästhetischen Stufen des Spielens zu den eigentlich ästhetischen Formen des Schaffens, wobei als Charakteristikum für das Ästhetische vor allem die Selbstzwecklichkeit des Tuns und die Freude am Schönen be- zeichnet wird (vorwiegend im Anschlufs an Conrab Lange, Tübingen). Des- gleichen interessiert für das künstlerische Geniefsen der Übergang von jenem Zustand, in dem das Kind neue Eindrücke nur aus Neugier nnd Wissensdrang, aus Interesse am Stofflichen aufnimmt, zu jenem, da es sich an der bewufsten Selbsttäuschung als solcher freut. Eine genauere Kennt- nis der hier vorliegenden Entwicklungen könnte vor einer Verfrühung der ästhetischen Erziehung schützen, die jetzt von manchen Seiten droht. Um diese und manche andere Probleme zu lösen, solle man das Kind in den

Literatwrbericht. 69

verschiedensten Altersstufen, in seinem Verhalten zur Natur, in seinen Spielsachen, in Märchen, Liedern, Bildern, Gedichten beobachten.

2. Von den verschiedensten Arten ästhetischen Schaffens ist das Zeichnen noch immer das vom Forscher bevorzugte; die Plastik tritt da- neben weit zurück. Da ist es denn bemerkenswert, dafs in der ersten Schrift, die eigens dem Thema der Kinderkunst gewidmet war, in Biccis: Arte dei bambini schon beide Betätigungsarten behandelt wurden. Der gegenwärtige Aufschwung des Kinderkunststudiume in Deutschland ver- anlafste Ejlrl Lampbbcht, die Übersetzung der kleinen Schrift anzuregen, in welcher der italienische Kunsthistoriker die bis dahin als Kindereien belachten Kritzeleien und Tonknetereien der Kinder gleichsam ent- deckte. Die 'mit grofser Liebe zu den Kindern und in angenehm les- barem Styl geschriebene Studie bietet uns nichts eigentlich Neues mehr. Sie zählt an einer Beihe von Abbildungen die bekannten Charakteristiken der kindlichen Zeichnungen und die entsprechenden Eigenschaften der plastischen Gebilde auf. Bemerkenswert ist die Behauptung, dafs der Parallelismus zu frühen Stadien der allgemeinen Kunst in der kindlichen Plastik sehr viel mehr ausgebildet sei als in der Zeichnung.

3* Wie international jetzt das Interesse an der Kinderzeichnung ist, wird des weiteren durch das in ungarischer Sprache erschienene Buch des Budapester Seminardirektors Nagt bekundet, das mit zahlreichen inter- essanten Abbildungen ausgestattet ist. Der Grundgedanke des Buches ist (nach freundlichen Angaben des Verfassers) der folgende: Die Kinder- zeichnungen sind natürliche Offenbarungen des Inneren der Kinder, wie das Spiel und die Sprache. Die Entwicklung der Kinderzeichnungen hat besonders viel Ähnlichkeit mit der Entwicklung der Sprache. Das Buch enthält Kapitel über: Die Hauptergebnisse der auswärtigen Forschung; Über Begriffe, Ursprung und kindespsychologischen Wert der instinkt- mäTsigen Kinderzeichnungen, über Entwicklungsstufen der Kinderzeich- nangen, über Zeichnen aus dem Gedächtnis und nach der Natur, über das Dekorieren.

4* Im Anschlufs an eine Methode Schttytens liefs LoßSIEN von Knaben und Mädchen, normalen und imbecillen verschiedenen Alters, menschliche Figuren zeichnen, um festzustellen, wie sich die Proportionen und Körper- teile zu den „kanonischen" Mafsen (Kopf : Gestaltlänge = 1:6 usw.) ver- halten. Das Ergebnis war, dafs die Kinder durchgängig den Kopf im Verhältnis zur Gestalt viel zu grofs, Arm und Fufs dagegen zu klein zeichneten. Als Gründe für die Vergröfserung des Kopfes gibt L. an: 1. der Kopf bereitet mit seinen vielen Details die meiste Arbeit und zugleich das gröfste Vergnügen, 2. rein physiologisch erscheint diejenige Fläche am grODsten, welche die meisten Teildarstellungen enthält. Der Hauptgrund ist aber übersehen. Er besteht darin, dafs dem Kinde wie jedem Primitiven die relative Gröfse das Symbol für die relative Wichtig- keit ist. Wie in figurenreichen Darstellungen primitiver Kunst die Haupt- figuren meist gröfser sind als die anderen, oft sogar als die Häuser, so wird auch innerhalb einer Figur der wichtigste Teil, das ist der Kopf, entsprechend vergröfsert. Die differenziellen Bedingungen: Alter, Ge-

70 Literaturbericht

schlecht und Begabung zeigen merkwtlrdigerweise keine eindeutigen Be- ziehungen zur Richtigkeit der gezeichneten Proportionen. Die Zeichnungen der normalen Kinder standen im ganzen dem Kanon nicht viel näher ala die der Imbezillen usw.

5* LiT hat bei etwa 60 Kindern, Knaben und M&dchen des ersten Schuljahres, vergleichende Beobachtungen Ober Modellieren und freies Zeichnen gemacht, indem er ihnen eines Tages Plastilina gab mit der An- weisung, damit zu machen, was sie wollten, und sie drei Tage später auf- forderte, auf ihrer Schiefertafel zu zeichnen, was sie wollten. Bemerkenswert ist, dafs das Ergebnis wesentlich zugunsten der plastischen Tätigkeit ausfiel. IVs Stunden lang beschäftigten sich die EUeinen, ohne müde zn werden, in mannigfacher Weise mit der Masse und formten daraus sehr drollige und originelle Gebilde, von denen zum Teil Abbildungen gegeben werden. Die Plastiken sind meist Wiedergabe wirklicher Gegenstände, die das Kind mit Interesse wahrgenommen hatte, während die Zeichnungen konventionelle Nachbildungen gesehener Bilder sind. Natürlich wiederholen sich viele Sujets; und es war deutlich erkennbar, da£i9 bestimmte Kinder, oft durchaus nicht die „begabtesten", die Führer, andere die Nachahmer waren. Der Unterschied der Geschlechter tritt deutlich zutage. Einer- seits ist die Auswahl der dargestellten Objekte sehr verschieden (nur 11 unter 94 sind identisch); bei den Knaben überwiegen: Männer, Tiere, Schiffe, Lokomotiven, bei den Mädchen: Körbchen, Schaukel, Kieuz usur.; andererseits arbeiteten, worauf L. nicht aufmerksam macht, die Knaben differenzierter. Unter 98 Produkten bei den Knaben waren 46 (47 %) ver- schiedene Sujets vertreten, unter 138 Mädchenarbeiten 48 (S6 %) ver^ schiedene Sujets. Zum Schlufs leitet L. aus dem Versuch eine Reihe didaktischer Forderungen, insbesondere die Einführung von Modellier^ Unterricht in die Volksschule, ab.

Mit Freude ist es zu begrüTsen, dafs neuerdings neben dem künstle- rischen Produzieren auch das rezeptive Verhalten des Kindes zu ästhe- tischen Gebilden systematisch untersucht wird. Gerade hier ist es ja gegenüber den oft mafslosen Forderungen der Kunstpädagogen, das Kind dem KunstgenuTs zugänglich zu machen, notwendig, in exakter Weise fest- zustellen, wie die kindliche Fähigkeit, ästhetisch zu urteilen und zu ge- niefsen, ausgebildet ist. Freilich dürfen die bisher angewandten Methoden nur zum Teil als wissenschaftlich zulängliche gelten. Andere sind nur zn sehr geeignet, die Anwendung des Experiments für kunstpädagogische Probleme zu diskreditieren.

Die Reaktion des Kindes auf ästhetische Gegenstände kann man prüfen entweder an seiner Beurteilung oder an seinen Ausdrucksbewegungen. Jenes tun Dörino, Meumann und Lobsien, dieses Schultzs.

6. DÖRING benutzte in seinem Versuch sehr einfaches, dem Kinde wohl bekanntes, aber bisher noch nie ästhetisch betrachtetes Formenmaterial, nämlich die beim Schreiben kleiner deutscher Buchstaben angewandten Grundstriche. Er isolierte einen solchen Grundstrich wie er beim m vorkommt (von oben bis unten gleich dick) und wie er beim t vorkommt

Literat%Mrbericht 71

(oben dünn und spitz und nach unten sich verdickend), stellte beide in gleicher Gröfse nebeneinander und plauderte nun mit den Kindern über deren 'Aussehen, deren Unterschiede usw., wobei er glaubt, Suggestionen möglichst vermieden zu haben. Sehr bald kamen bei den Schülern ftsthetische Ausdrücke (die fast stets zugunsten des zweiten Striches sprachen) und endlich Vergleiche diese freilich erst auf Anregung, dann aber in grofser Mannigfaltigkeit: Knüppel und Gerte, Eiche und Birke, Bullenbeifser und Windhund, Arbeiter und Herr usw. ein Zeichen, wie das ftsthetische Werten beim Kind ganz vorwiegend auf einfühlender Personifikation beruht. Ergebnis: „Die 8~9jfthrigen Knaben waren fähig, die in Frage stehenden Schriftformen in ihrer ästhetischen Eigenart zu erfassen und mit den adäquaten Gefühlen zu begleiten; besonders lebendig war das Gefühl für das Kontrastierende der beiden Formen.** Bei den 7 jährigen gelang der Versuch noch nicht. Auch Döring bemerkte (ähnlich wie oben Lay), dais die führenden Kinder bei diesen Versuchen nicht durchweg identisch waren mit jenen, die in den theoretischen Fächern obenan zu stehen pflegten.

7. Meumann knüpft an den DÖBiHoschen Versuch eine Betrachtung an, inwiefern die bisher in der experimentellen Ästhetik ausgebildeten Methoden für die Kinderuntersuchungen nutzbar gemacht werden können. Er exempli- fizierte hierbei vor allem auf Farbenversuche, für die er Probleme und Verfahren genauer beschreibt. Er fordert, dafs neben dem Vorzugsurteil des Kindes über Farben und Farbenkombinationen, soweit angängig, auch eine Begründung des Urteils erzielt werden solle, damit man darüber Klar- heit erhalte, ob aufserästhetische oder ästhetische Momente, und welche, für das Urteil bestimmend gewesen seien.

8. Die ziemlich umfangreichen Untersuchungen LofiSiBNs müssen leider schon in der Anlage als verfehlt bezeichnet werden. L. beruft sich zur Rechtfertigung seines bedenklich an den Amerikanismus erinnernden Ver- fahrens auf meine Äufserung: dafs das Experiment der „angewandten Psychologie'^ wegen der notwendigen Lebensnähe nicht das Exaktheits- maximum des auf Elementarfunktionen gehenden Laboratoriumsexperiments haben könne. Um so entschiedener aber muTs ich betonen, dafs sein dies- maliges Verfahren des Exaktheitsminimum, welches für jedes wissen- schaftliche Problem unbedingt gefordert werden mufs, weit unterschreitet. Seine Methode bestand nämlich darin, dafs über tausend 9 14 jährigen Kindern 22 Fragen zur schriftlichen Erledigung vorgelegt wurden, die sämtlich auf Vorzugsurteile gingen: Fragen nach dem liebsten Bild, Tier, Spiel, Gedicht, Buch, der liebsten Farbe, Blume, Form, biblischen Ge- schichte usw. Nur ganz selten wurden die zu beurteilenden Reize der Wahrnehmung dargeboten (Rhythmen, geometrische Formen, je 2 Gedichte und 2 Bilder, dagegen nicht einmal Farben I). Meist mufste das Kind aus seinem zufälligen Erinnerungsschatz heraus die Wahl treffen. Nun ist es ja sicherlich richtig, dafs in bezug auf gewisse Gebiete (z. B. die Schul- fächer) die Kinder ausgesprochene und feste Bevorzugungen und Ab- neigungen besitzen. Für die meisten der von Lobsibn gefragten Dinge aber hatten sie sich vorher nie über Wert oder Unwert den Kopf zerbrochen;

72 Literaturherickt

und -wird nun eine solche Beurteilung gleich massenweise von ihnen ver- langt, so kommen sie in ein wildes Baten hinein, das gar keinen Einblick in ihr wirkliches Interessenspiel gestattet. Da auDserdem die Ang^b^ wie es scheint, nicht anonym gemacht wurden, ist es zweifellos, daüs bei manchen Fragen Rücksicht auf den Lehrer den Ausschlag gab (z. B. bei der Frage nach dem beliebtesten Gedicht, wo fast ausnahmslos Schulgedichle genannt wurden). Auch die Verarbeitung der Ergebnisse ist in rhrer Methode sehr willkürlich; dals sie auch zu hastig gemacht zu sein scheint» erhellt unter anderem daraus, dafs unter den beliebtesten Farben (8. 71, 72) grün überhaupt fehlt, dagegen das so mifsfällige Grau häufig genannt wird. Da dieser sonderbare Umstand im Text gar nicht erklärt wird, kann ich mir nur denken, dafs die Abkürzung „gr." der Protokolle nachher &lschlich statt zu grün zu grau ergänzt wurde.

Unter diesen Umständen hat ein ausführlicheres Eingehen auf die Ergebnisse wenig Zweck, zumal L. selbst sagt, daüs sie nicht viel gelehrt haben, was man nicht auch ohne sie gewufst oder geglaubt hätte. Von Rhythmen bevorzugten die Mädchen den Jambus, die Knaben den Daktylus. Von 3 vorgelesenen Gedichten gefielen die literarisch wertvollen besser als ein wertloses. Unter den aus der Erinnerung genannten beliebtesten Ge- dichten und Büchern überwogen erfreulicherweise die ästhetisch wertvollen; Überraschend war, dafs das Schullesebuch fast nie genannt wurde. Von biblischen Geschichten wurden die des neuen Testaments bevorzugt. Bunde geometrische Formen gefielen besser als gradlinige. Lieblingsfarben waren rot und blau (bei den Mädchen mehr rot, bei den Knaben mehr blau) usw. Das Wertvollste an der Arbeit sind die gelegentlich eingestreuten rein pädagogisch-psychologischen Bemerkungen des Verfassers.

9. und 10. Lebhaftes Interesse verdienen dagegen die ScHCLTZGschen Untersuchungen. Verf. hatte die gute Idee, die ästhetische Empfänglichkeit der Kinder an viel unmittelbareren Symptomen, als es die gesprochenen Urteile sind, zu prüfen, nämlich an ihren unwillkürlichen Ausdrucks- bewegungen, den mimischen des Gesichts ebenso wie den pantomimischen des ganzen Körpers. Er untersuchte 9 11 jährige Volksschülerinnen, zu- nächst (Nr. 9) bezüglich ihrer Reaktion aut Bilder (VoiOTLÄNDBBsche Künstler- steinzeichnungen), sodann (Nr. 10) beim Aufsagen des Gedichtes „der Postillon" von Lbnau, wobei ihnen ausdrücklich das Gestikulieren frei gegeben war. Hierbei wurden nun die Kinder mehrfach in Gruppen photographiert, und diese Abbildungen stellen ein höchst lehrreiches Material dar. Mienenspiel, Körper-, Kopf-, Händehaltung sind bei den verschiedenen Bildern, bzw. bei den verschiedenen Stellen des Gedichtes von sprechender Lebendigkeit und von grofser Anpassungsfähigkeit an die Nuancen der Stimmung. Sch. machte eine Probe auf das Exempel, indem er die Photographien der Kinder verschiedenen Urteilem übergab, und daraus die jeweiligen Stimmungen ableiten liefs, was ziemlich gut gelang; ein Reagent vermochte sogar sämtliche 12 Künstlerzeichnungen lediglich auf Grund der mimischen Symptome richtig den 12 Photographien der Kinder zuzuordnen. Auch die Einzelheiten der mimischen Analyse, die Sch. versucht, bieten viel Interessantes. Seine Schlüsse scheinen he-

Literaturbericht 73

rechtigt: Bezüglich der Bilder beweisen die mimischen Photographien, dafs die Sünder sehr wohl imstande sind, den ästhetischen Stimmungs- und Affektgehalt guter Bilder (auch bei Landschaften) innerlich mit zu erleben. BesfigUoh der Gedichte ist das Freigeben der Geste zu verlangen; denn bei dem heut üblichen, in militärischer Unbeweglichkeit erfolgenden Auf- sagen werden die wertvollsten Hilfsmittel des ästhetischen Erlebens unter- drückt.

Gedächtnis. Aussage.

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VI— XII. ZeiUckr. f. pädag. Faychol, Pathol u. Hyg, 8, S. 1— 16, 81— 124, 1906.

1. An 10 Schülern im Alter von 9 10 Jahren machte LOBSIBN Ge- dächtnisversuche mit Zahlenreihen, die akustisch dargeboten wurden, mit sinnlosen Wortreihen, die akustisch, und mit ebensolchen, die optisch dar- geboten wurden. Zunächst prüfte er die Abhängigkeit der Leistungen von der Wiederholungszahl der Darbietungen und fand, dafs mit grölserer Wiederbolungszahl das Quantum des Behaltenen nur wenig, die Qualität mehr stieg. Dann übte er 12 Tage lang lediglich die optische Gedächtnis- fthigkeit für sinnlose Silben. Nach Abschlufs der Übungszeit machte er wieder mit allen drei Methoden Vergleichsversuche und kam zu dem sonderbaren Ergebnis, dafs bei keiner Gedächtnisart ein eindeutiger Zuwachs zu konstatieren war. Dies Ergebnis steht nicht nur mit der Erwartung, sondern auch mit den dem Verf. unbekannt gebliebenen Ergebiiissen der MxuMANK-EBBBTBchen Untersuchung im Widerspruch.

T8€HU]>i benutzte Gedächtnisuntersuchungen zur Prüfung der Frage, ob die, bei wöchentlich zweimal vorkommenden Fächern übliche, symme- trische Verteilung der Lehrstunden (Mittwoch und Sonnabend oder Montag und Donnerstag) die ökonomischste sei. Die Versuche wurden an 14 jährigen Volksschülerinnen angestellt. Als Gedächtnismaterial dienten einmal Reihen von Wörtern, das andere Mal sinnvolle Zusammenhänge von 10 Sätzen. Die dargebotenen Stoffe mufsten von den Kindern dreimal aus dem Ge dächtnis niedergeschrieben werden: in einer Versuchsreihe sofort, am ersten Tage danach und am siebenten Tage, in einer zweiten Reihe sofort, am zweiten Tage danach und am siebenten Tage, in einer dritten Reihe sofort, am dritten Tage und am siebenten Tage. Das übereinstimmende Ergebnis war, dafs am siebenten Tage diejenigen Reihen am besten repro- duziert wurden, bei der die Zwischen Wiederholung am ersten Tage nach der Darbietung stattgefunden hatte. Die möglichst schnelle Wiederholung nach erfolgter Darbietung hatte also den gröfsten Einprägungswert, und als geschickteste Verteilung des Stundenplanes erscheint daher nicht die Anordnung nach dem symmetrischen Typ: Montag, Donnerstag, Montag, sondern nach den unsymmetrischen: Montag, Dienstag, Montag. Den Ein-

74 Literaturbericht

wand, dafs die grofse sechstägige Pause doch eine schlechte Wirkung haben müsse, weist Verf. damit zurück, dafs eine sechstägige Pause nach experi- mentellen Befunden keinen merklich gröüseren Gedftchtnisverlust bedinge, als eine drei- oder viertägige Pause, wie sie bei symmetrischer Anordnung üblich sei.

3, Nachdem Frau Df bb-Bobst vor einigen Jahren an Erwachsenen die Übungsfähigkeit im Aussagen freilich unter dem etwas miTs verständlichen Namen der Erziehbarkeit der Aussage untersucht hatte, wendet sie sich nun dem eigentlichen Erziehungsproblem und zwar an 6— 7 jährigen Schul- kindern zu. Als Aussageobjekte dienten Bilder, über welche Berichte und VerhOrsangaben erzielt wurden. Jedes Kind wurde mindestens zwei Ver^ suchen, einem Vorversuch und einem Prüfungsversuch, unterworfen, zwischen denen eine „Erziehungsperiode*' lag. Hierin unterscheiden sich die D. B.8chen Untersuchungen von denen Oppbkhbius, bei welchen ein erziehUcher £in- flufs nur unmittelbar nach dem ersten Versuch durch die Aufforderung zur Selbstkorrektur ausgeübt wurde. D. B. wandte drei Erziehungsmethoden an. Bei der „Methode der allgemeinen Anleitung*' wurden die Kinder darin geübt, schon bei der Auffassung die logischen Zusammenhänge der einzelnen Bildelemente zu beachten und von einem Punkt des Bildes ausgehend jeden einzelnen Inhalt mit allen ihm zukommenden Eigenschaften der Beihe nach zu betrachten. Die „Methode der Hebung der Apperzeptionsmassen** bestand darin, daüs die Kinder in der Zwischenzeit mit dem in Betracht kommenden sinnlichen Material, den Farben, Formen, Gröfsenverhältnissen und deren Benennung in mannigfacher Weise bekannt gemacht wurden. Bei der „Methode der WillensbeeinfLussung** endlich wurde während der Erziehungsperiode darauf hingearbeitet, bei den Kindern das Interesse an der Aussage, den Wunsch sie zu bessern und das Verantwortlichkeitsgeffihl zu heben.'

Die in zahlreichen Tabellen dargelegten Ergebnisse lehren, da£s die Methode II deutliche, die Methode III ganz beträchtliche Besserungen der Aussage zur Folge hatte, während die Methode I merkwürdigerweise aus- gesprochen negativen Erfolg hatte. Kontrollversuche, die dann noch mit einigen Modifikationen der Methode I angestellt wurden, ergaben, daCs bei Ausschaltung gewisser störender Nebeneinflüsse zum mindesten die Verschlechterung zurückging. Im ganzen kommt auch die Verfasserin zu einer Bestätigung des von Fräulein OppEimsm gefundenen Resultats, dafs die Aussage erziehbar ist, und dals dem Appell an Willen und Selbstkritik des Kindes hierbei die stärkste pädagogische Bedeutung zukommt.

Zu bedauern ist die allzu grofse Knappheit der Darstellung. Es fehlt vieles, was nicht nur zur völligen Orientierung des Lesers, sondern auch zur Beurteilung und Bewertung der aufgeführten Ergebnisse nicht wohl entbehrt werden kann. Von den sechs angewandten Bildern ist nur eins beigegeben, ein weiteres kurz beschrieben ; von den anderen wird uns nichts mitgeteilt. Man vermifst sie um so mehr, als die methodologische Haupt- forderung bei solchen Versuchen darin besteht, die in den Bildern selbst liegenden Schwierigkeitsunterschiede durch wechselnde Reihenfolge aus- zugleichen, damit die im ersten und zweiten Aussageversuch zutage

Li tei'a turbef'ich t. 76

tretenden Leistungsunterschiede allein auf die inzwischen applizierten pädagogischen Einwirkungen zurückgeführt werden dürfen. Ob nach dieser Bichtung irgend welche Kautelen getroffen wurden, wird uns nicht gesagt. Es ist deshalb gar nicht ausgeschlossen, dafs das paradoxe Ergebnis, welches die Verfasserin mit der Methode I hatte, darauf beruhte, dafs das an zweiter Stelle verwandte Bild eben viel schwerer war als das des Vorversnchs, und deswegen schlechtere Resultate lieferte. Ebenso fehlen völlig die Verhörslisten, deren Beigabe sich als guter Brauch bei Aus- sageversuchen eingebürgert hatte. Endlich vermissen wir Angaben über die Erziehungsdauer, also die zwischen Vorversuch und Prüfungsversuch liegende Zeit und, namentlich bei Methode III, über die Art, wie die Wiliensbeeinflussung vorgenommen wurde.

4* Wie schon im vorigen Sammelbericht bemerkt, veranstaltet der Berliner Verein für Kinderpsychologie eine Beihe von Vorträgen und Mit- teilungen, die sich sämtlich auf das Thema der Kinderifigen nnd Kinder- aussagen beziehen. Den dort erwähnten 5 Beiträgen schliefsen sich nun- mehr 7 weitere an, die meistens Beferate über die sehr zerstreute Literatur darstellen. Wir können uns daher an dieser Stelle auf kurze Erwähnungen beschränken. Als Nr. VI behandelt Pipbb „die pathologische Lüge", mit ausführlicher DarsteUung von Einzelfällen, die Dblbrück und anderen ent- nommen sind. VII. W. Vebmann bringt als „Beispiele für Kinderlügen bei grofsen Männern" die oft zitierte Probe aus Kbllbbs Grünem Heinrich und eine Stelle aus Bovssbaus Confessions. VIII. 0. Lipmakn. Einige interessante Kinderlügen (nach Motbt und Paola Lombbosa). IX. O. Lip- MAMK. „Die Wirkung der Suggestivfragen." Eine vorläufige Mitteilung über eine sehr ausgedehnte Experimentaluntersuchung, deren ausführliche Publi- kation soeben in der Zeitschrift für angewandte Psychologie und psycho- logische Sammelforschung erscheint. X. 0. Lipmank. „Praktische Ergebnisse der Aassageforschung." Kurze Beleuchtung der Thesen^ die einerseits von LiPMANN selbst, andererseits vom Beferenten über die praktische Bedeutung der Aussagepsychologie aufgestellt worden sind. XI. W. Poppblbbuteb. „Zur Psychologie des Wahrheitsbewufstseins." Kritische Untersuchung des im Aussagenden vorhandenen Bewufstseins von der Bichtigkeit und Lücken- losigkeit seiner Aussage unter Bezugnahme auf die von Kbmsies aufgestellte Tabelle der Aussagearten und die OpPENHEiHschen Ergebnisse über Aussage- erziehnng. XII. W. Poppblbbuteb. „Aus den Verhandlungen des 27. deutschen Juristentages über den fahrlässigen Falscheid". Der Juristentag hatte sich bekanntlich gegen die Strafbarkeit der fahrlässig falschen Aussage gewandt.

Ermüdung. Überbürdung.

1. M. V. ManacAine. Die geistige Oberbürdnng in der modenieii Kultur. Über-

setzung, Bearbeitung und Anhang: Die Überbtrdmig in der Schule von Dr. Ludwig Waqnbb. Natur- u. kulturphilos. Bibliothek II. Leipzig, Barth, 1905. 200 S.

2. A. BiNBT. Reeherches snr la fatlgne intellectnelle seelaire et la mesnre qni

pent en fttre faite an moyen de resthisiemitre. Annie psychol 11, S. 1—37. 1905.

76 Literaturbericht

U Das Bach besteht aus zwei quantitativ und qualitativ sehr ver- schiedenen Teilen; die ersten Dreiviertel von Manac^ihe haben geringen Wert. Das letzte Viertel von IYaonbb gibt einen knappen, aber trefflichen Abrifs der Hauptgesichtspunkte, die das Überbürdungsproblem der höheren Schulen betreffen.

Die Ausführungen der verstorbenen russischen Ärztin über die geistige Überbürdung als Allgemeinerscheinung unserer Kultur mag für russische Kreise Interesse haben; eine Übersetzung ins Deutsche war völlig über- flüssig, da die Betrachtung der Wirkungen, Ursachen und Heilmittel längst bekannte und von zahlreichen Autoren viel besser gesagte und gründlicher erforschte Dinge enthält. Schade, dals Waonbb das Buch der Übersetzung für wert hielt und nicht lieber seinen Anhang selbständig publiziert hat Da sich in ihm die seltene Personalunion von Arzt und Oberlehrer ver- wirklicht findet, vermochte er die geistige Überbürdung, die in den höheren Schulen erzeugt wird, mit seltener Objektivität und Fachkenntnis zu schildern. Zuerst stellt er kurz das Wesen, die Diagnose und die Symptome geistiger Überbürdung dar, wobei auch die experimentellen Ermüdungs- messungen Erwähnung finden. Sodann analysiert er die Ursachen, und zwar sowohl die aufserhalb der Schule z. B. den leidigen Musikunterricht, zu frühe gesellschaftliche Vergnügungen, Alkohol und Elrankheiten, wie auch die durch die Schule hervorgerufenen. Sehr dankenswert ist es, dals er hierbei auf einen, meines Wissens sonst noch nicht hervorgehobenen Gesichtspunkt aufmerksam macht: dafs nämlich die neue Lehrmethode HsBBABTScher Provenienz, die an Stelle des Vortrags das intensive Fragen setzt, um den Schüler zur Mittätigkeit anzuspornen, pädagogisch zwar wert- voll, hygienisch aber ganz beträchtlich anstrengender ist, da das Sicherheits- ventil, die Unaufmerksamkeit des Schülers, hier nicht recht funktionieren kann. Da andererseits die Hausaufgaben keinesfalls, wie manche Schwärmer meinen, entbehrlich sind, so kommt er zu dem Ergebnis (8. 164); „Die ganze Belastung (durch Schule und Hausarbeit) mag zeitlich gemessen jetzt ^twas leichter erscheinen, ist aber nach der Intensität gemessen höchst- wahrscheinlich schwerer". Des weiteren wendet sich Wagneb gegen die Überladung der Lehrpläne und gegen die einseitige Betonung des Wissens und Gedächtnisses. Als hygienische Mafsnahmen fordert er : Höchstmafs der Lektionen von 45 Minuten, Pausen von 15 Minuten, Wegfall des Nach- mittagunterrichts (dessen Unwert mit sehr lehrreichen Belegen dargetan wird), Verlängerung der Ferien; schliefslich spricht er pro domo, indem er mit Recht darauf hinw^eist, dafs nicht nur durch Überbürdung des Schülers, sondern durch die des Lehrers das erfolgreiche Wirken der Schale gefährdet wird.

Die deutsche Methode der ästhesiometrischen Ermüdungsmessungen an Schulkindern war bisher in Frankreich noch nicht angewandt worden, wurde dort auch zum Teil mit grofsem Skeptizismus betrachtet. BiKET veranlafste nun eine Reihe von Lehrern, nach genau vorher vereinbarten Methoden derartige Untersuchungen anzustellen; in kleinerem Umfange machte er auch selbst Kontrollversuche. Als Apparate dienten Kartonstücke, in welche Stecknadeln gesteckt waren. Für die 6 angewandten Distanzen

Literaturbericht. 77

(0,5— 3 cm) wurden 6 solcher primitiven Apparate verfertigt; ein siebenter mit nur einer Nadel diente als Nulldistanz. Die Feinheit der Tastschärfe wurde dadurch gemessen, dafs festgestellt wurde, wie oft bei kleinen Distanzen (Vj— IV« cm) auf dem Handrücken richtig die Doppeltheit der Spitze bemerkt worden war. Bei den gröfseren Abständen wurde umgekehrt der Grad der Zerstreutheit gemessen durch die Zahl der Fälle, in denen die Zweiheit nicht bemerkt worden war. Derartige Versuche wurden nun an Schulkindern beiderlei Geschlechts vor und nach einer bzw. zwei an- strengenden Unterrichtsstunden gemacht, und das Ergebnis war, dafs die Durchschnittswerte für die kleinen Distanzen eine deutliche Herabsetzung der HautempfindUchkeit ergaben, während bei den gröfseren Distanzen ein EinfluTs der Ermüdung nicht konstatierbar war. Eine Individualisierung der Zahlen ergab freilich, dafs die Ermüdung nur bei der knappen Hälfte der Kinder die Hautempfindlichkeit herabgesetzt hatte. Schliefslich machte Beetet mit teil weisem Erfolg den Versuch, auch das Algesimeter, welches durch ständig zunehmenden Druck die Schmerzschwelle registriert, zu Ermüdungsmessungen zu benutzen. Überraschenderweise wurde durch den Schulunterricht die Schmerzschwello erhöht.

Verschiedenes zur experimentellen Pädagogik.

1. W. Stsbn. Ober Beliebtheit und Unbeliebtheit der Schnlf&ober. Zeitschr. f.

pädag. Faychol, Pathologie m. Hygiene 7, S. 267—296. 1905.

2. M. C. ScHUYTEN. Experimentelles nm Stndinm der gebr&nchllcbsten

Methoden im firemdspracblicben Unterricht. Die experimentelle Pädor gogik 3, S. 199—211. 1906.

3. V. Vanby. Honvelles mitbodes de mesnre applicables an degri d'instrnction

des elives. L'annie psychol. 11, S. 146—162. 1905.

4. A. BiNBT. \ propos de la mesnre de Fintelligence. Vannee psychologique

11, S. 69-82. 1906.

!• (Selbstanzeige.) Referent berichtet über eine Statistik, die aus Seminarübungen hervorgegangen war und mit Unterstützung mehrerer HOrer und Hörerinnen durchgeführt wurde. Sie hat nur als Vorversuch für künftige Feststellungen auf breiterer Grundlage zu gelten. 2500 Schülern und Schülerinnen verschiedenen Alters und verschiedener Schulgattung wurden die Fragen vorgelegt, welches Fach sie am liebsten und welches sie am wenigsten gern hätten. Sie mufsten ihr Urteil auf anonyme Zettel schreiben, um jede Befangenheit fem zu halten. Die Ergebnisse sind nach folgenden Richtungen von pädagogischem und psychologischem Interesse. Obwohl die Beliebtheit der Fächer von sehr vielen Faktoren, insbesondere der Persönlichkeit des Lehrers abhängt, so sind doch bei genügend grofsen Anzahlen von Schülern gewisse Gesetzmäfsigkeiten in der Interessenbetont- heit der Fächer festzustellen. Es gibt Fächer, bei denen fast durchgehends die Beliebtheitsstimmen überwiegen („positive*' Fächer), solche, die ganz überwiegend unbeliebt sind („negative"), solche, die nach keiner Richtung viele Stimmen erhalten („indifferente"), und endlich solche, die eine grofse Anzahl von positiven und negativen Stimmen erhalten („bipolare" Fächer). In den Volksschulen stehen an Beliebtheit die technisch motorischen Fächer

78 Literaturbericht

oben an: Turnen, Singen und Zeichnen; bei den Mädbhen erhalten Hand- arbeiten den dritten Teil aller Stimmen überhaupt. Rechnen ist bei beiden Geschlechtem und in den verschiedenen Schulgattungen stets bipolar ein Zeichen, dafs hier die diflerenzielle Begabung den Hauptausschlag fOr die Beliebtheit gibt In höheren Altersstufen der höheren Mädchenschiilen tritt an die Stelle der motorischen Fächer allmählich Deutsch als beliebtestes. Von höheren Knabenschulen fehlt leider Vergleichsmaterial. Gegen Belig^on sind die Kinder ziemlich indifferent. Überraschend ist in den Volksschnlen die geringe Beliebtheit der naturwissenschaftlichen Fächer und der Raam- lehre, vor allem aber die fast einstimmige Verurteilung der deutschen Grammatik durch die Kinder der Volksschule. Geschlechtsunterschiede zeigen sich unter anderem darin, dafs bei den Mädchen Religion eine stärkere, bei den Knaben eine schwächere Rolle spielt als Geschichte. Tabellen und Diagramme veranschaulichen die genannten Resultate.

ScilUlTEN prüfte sowohl im Einzelversuch an seiner Tochter, wie auch im Massenversuch an den Schülern und Schülerinnen einer Klasse, wie sich für eine Reihe von französischen Vokabeln die Übersetzung aus der Muttersprache (dem Holländischen) zur Übersetzung in die Mutter- sprache verhalte, und fand, dafs die Richtung Französisch-Holländisch sehr viel mehr Treffer lieferte als die umgekehrte. Sein Ergebnis „daijs die Assoziation Muttersprache-Fremdsprache weniger fest im Geiste steht als die Assoziation Fremdsprache -Muttersprache^ ist übrigens nicht so neu, wie Verf. meint; es war durch Messungen der Reaktionszeiten für Über- setzungen beider Richtungen schon früher nachgewiesen worden. Die sprachliche Ausarbeitung des Aufsatzes, für die man bei einem Ausländer keine vollendete Korrektheit erwarten kann, hat leider durch die Redaktion nicht die nötige Feile erfahren.

Tauet bemängelt mit Recht, dafs bei der gewöhnlichen Bewertung kindlicher Schulleistungen nicht das Alter des Kindes in Berechnung ge- zogen wird, sondern nur das Verhältnis der Leistungen zu denen der Klassengenossen. So kann es kommen, daXs ein Elfjähriger von grofser geistiger Trägheit als „guter Schüler'^ gilt, weil er unter seinen neunjährigen Mitschülern eine gute Figur macht. V. sucht deshalb Methoden zu finden, bei denen die Leistungen des Kindes zu der Dauer seines Schulbesuches ins Verhältnis gesetzt werden. Er benutzt hierzu Rechenaufgaben. Für 7 Stufen einer Volksschule wurden 7 Serien von Rechenaufgaben zusammen- gestellt, die dem Durchschnittsniveau der einzelnen Klassen entsprachen. Es wurde nun für jeden Schüler geprüft, welche Serie er richtig zu rechnen vermag, d. h. in welche Stufe der Rechenlei stung er gehört; diese Stufe wurde verglichen mit der Zahl der Schuljahre des Kindes. Es ergab sich, dafs von den 300 Schülern 60 um einen Jahrgang, 33 um zwei Jahr- gänge und 6 um noch mehr Jahrgänge hinter den Normalleistungen ihrer Altersstufen zurückstanden. Kinder, die bereits innerhalb der ersten drei Schuljahre um 2 Jahrgänge im Rückstand sind, ebenso solche, die im mittleren Schuljahre um 3 Jahrgänge zurückbleiben, hält V. für geistig minderwertig.

Zu bemängeln ist an der Methode vor allem die Beschränkung auf

Literaturbericht 79

das Kechnen, denn die Kecheniähigkeit ist viel zu sehr von Spezial- begabnngen abhängig, um Schlüsse auf den allgemeinen Status des geistigen Entwicklungsniyeaus zu erlauben.

Auch die Bearbeitung des Intelligenzproblems hat bisher meist unter dem gleichen Mangel gelitten: Man verglich die Kinder gleicher Klasse, aber nicht die gleichen Alters. Innerhalb der Klasse hatte man meist die vom Lehrer aufgestellte Bangordnung als MaTsstab genommen, und nun festzustellen gesucht, ob bestimmte psychische Funktionen eine parallele Abstufung zeigen. Bütet schlägt dem gegenüber vor, als MaTsstab der Intelligenz lieber die von gleichaltrigen Kindern erreichten Schulstufen zu wählen. So liefs er in verschiedenen Mädchenschulen Ge- dichte lernen, und nach 10 Minuten aufschreiben, was behalten worden war. Es zeigte sich, dafs für eine bestimmte Altersstufe die den höheren Klassen angehörigen viel mehr leisteten als die gleichaltrigen aus niederen KJassen. So hatten z7 B. von den 11 jährigen Schülerinnen diejenigen, die in der 3. Klasse safsen, durchschnittlich 7, diejenigen, die in der 1. Klasse safsen, durchschnittlich 19 Verse behalten. Ganz Entsprechendes zeigte sich auch bei kraniometrischen Messungen : Schüler niederer Klassen haben im Durchschnitt geringere Schädelmasse als ihre Altersgenossen, die in höheren Klassen sitzen.

A. B117ET et Th. Simon. La mis^re pbysiologiqae et la misire sociale. Armie psychol 12, S. 1-24. 1906.

In französischen Ärztekreisen wird gegenwärtig der Plan erörtert, für die Schulkinder Individualitätenlisten medizinisch-anthropologischen Inhalts einzuführen. Als Beitrag zu diesem Plan stellten B. und S. an nicht ganz 600 Volksschulkindern beiderlei Geschlechts gewisse anthropometrische Messungen an, die sich auf Körpergröfse, Gewicht, Schulterbreite iind Kopfumfang bezogen. Für jede Altersstufe wurden die Durchschnittswerte gebildet, in denen die Mädchen oft mit Ausnahme der Kopfmafse über den gleichaltrigen Knaben standen. Sodann wurden diejenigen Kinder gezählt» die in besonders hohem Mafse von dem Durchschnitt ihres Jahr- ganges nach oben oder unten abwichen; hierbei zeigte es sich, dafs etwa 10 % der Kinder im Wachstum um zwei Jahrgänge oder mehr hinter dem Durchschnitt ihrer Altersstufe zurückgeblieben waren. Indem nun diese Liste mit einer vom Direktor aufgestellten Liste des sozialen Niveaus ver- glichen wurde, ergab sich aufs deutlichste, dafs sich die körperlich zurück- gebliebenen zu einem weit gröfseren Prozentsatz aus den Armen und Ärmsten rekrutierten als aus den besser situiel'ten Schichten ein Beweis, daÜB sich die soziale Misere an den Wachstumsverhältnissen bekundet.

W. Stehn (Breslau).

Gesellschaft für experimentelle Psychologie.

Der nächste Kongrefs für experimentelle Psychologie findet am 22. bis 25. April 1908 zu Frankfurt a. M. statt.

Folgende Referate werden erstattet werden: E. Claparäde: Die Methoden der tierpsychologischen Beob- achtungen und Versuche. L. Edingeb: Die Beziehungen der vergleichenden Anatomie des Nervensystems zur Psychologie. Wege und Aufgaben einer vergleichenden Psychologie. K. Bühleb: Über das Sprachverst&ndnis vom Standpunkte der

' Normalpsychologie aus. A. Pick: Über das Sprachverständnis vom Standpunkte der

Pathologie aus. W. WiBTH : Über die experimentelle Untersuchung der Aufmerk- samkeit. W. Specht: Über das pathologische Verhalten der Aufmerksam- keit. Mit dem Kongresse wird eine Ausstellung von Apparaten verbunden.

Für die Mitglieder der Gesellschaft ist die Teilnahme un- entgeltlich; die von den übrigen Teilnehmern zu entrichtende Gebühr ist auf 10 Mk. festgesetzt. Persönliche Einladungen an solche, die nicht MitgUeder unserer Gesellschaft sind, werden nicht erlassen.

Es wird gebeten, Anmeldungen betreffend Teilnahme, Vor- träge u. dgl. an den Vorsitzenden des Lokalkomitees, Herrn Prof. Dr. K. Mabbe zu Frankfurt a. M. (Jordanstrafse 17—21), zu richten.

I. A.: Prof. Dr. G. E. Müllbb.

81

Das Gesetz

von der Erhaltung der Energie und die Annahme

einer Wechselwirkung zwischen Leib und Seele.

Von Ebich Becheb.

Einleitung.

Über die Frage nach den Konsequenzen des Energieerhaltungs- satzes für die Lehre vom Zusammenhang von Leib und Seele liegt eine reiche Literatur vor. ^ Indessen scheint es mir nicht, als ob in den zahlreichen Erörterungen über jenes Problem alle die Materialien berücksichtigt worden wären, die Berücksichtigung verdienen. Und auf der anderen Seite wird immer noch über Fragen gestritten, die sich auf dem Boden der Einzelwissen* Schäften erledigen lassen und auf diesem Boden schon erledigt sind.

In dem vorUegenden kleinen Beitrage zur Parallelismusfrage möchte ich daher vor allem die Aufmerksamkeit auf einige zu- verlässige Ergebnisse physiologischer und physikaUscher Forschung lenken, die mir der Beachtung wert erscheinen. Ich glaube zwar durchaus nicht, durch das Heranziehen dieser einzelwissenschaft-

^ Hier mögen nur einige ' zusammenfassende und orientierende Werke zur gesamten ParalleliBmusfrage angeführt werden: L. Bussb, Geist und Körper, Seele und Leib (Leipzig 1903) mit sehr reichen Literaturangaben. B. EiBLBB will in Leib und Seele (Leipzig 1906) „diesem Standard work der dnalistischen Wechselwirkungstheorie eine Darstellung und Elritik des Materials vom Standpunkte des parallelistischen Monismus^ gegenüber- stellen (Vorwort); auf die Zusammenstellung der Literatur in alphabetischer Ordnung sei besonders hingewiesen. Schliefslich nenne ich noch die kurze aber ansprechende Übersicht über den Parallelismusstreit von A. Klein. Die modernen Theorien über das allgemeine Verhältnis von Leib und Seele (Breslau 1906).

Zoitsekrifk für Psychologie 46. 6

82 -EwÄ Becher.

liehen Resultate den Kampf zwischen Parallelismns- und Wechsel- wirkungshypothese entscheiden, noch über die einzelnen Formen und Nuancen jener Annahmen richten zu können. Zur £nt- Scheidung jener Streitfragen ist die Berücksichtigung meta- physischer, erkenntnistheoretischer, psychologischer, naturwissen- schaftlicher, vielleicht auch ethischer Gesichtspunkte und Ergeb- nisse erforderlich; ich glaube, dafs selbst bei der Benutzung alles in Betracht kommenden Materials eine unbedingt über- zeugende Beweisführung für eine der Annahmen unerreichbar ist. Auf der Basis der zur Zeit gesicherten wissenschaftlichen Erfahrung bleiben verschiedene Auffassungen möglich.

Doch wird bei diesem Stande der Dinge die Berücksichtigung aller in Betracht kommenden einzelwissenschaftlichen Ergebnisse nicht überflüssig. Wenn es auch nicht gelingt, eine der Hypo- thesen als die allein berechtigte zu erweisen, so scheint es nciir doch möglich, einzelne Formen jener Hypothesen zurückzu- drängen. Noch immer werden Ansichten über das Verhältnis von Leib und Seele mit Nachdruck vertreten, denen gesicherte einzelwissenschaftliche Erfahrungen widersprechen. Solche durch den Fortschritt der Erfahrung unmöglich ge- wordenen Hypothesen oder Nuancierungen von Hypothesen zu bekämpfen, ist meiner Ansicht nach zurzeit die wichtigste Aufgabe philosophischer Arbeit in der Parallelismusfrage. Erscheint dies Ziel unbedeutend gegenüber den Problemen, die hinter ihm liegen, so hat es doch den Vorzug der Erreichbarkeit. Auf naturwissen- schaftlichen Gebieten begnügt sich der Forscher oft mit der Aus- merzung widerlegbarer Hypothesen, um mehrere mögliche Theorien nebeneinander besteben zu lassen. Leider pflegt die Philosophie nur zu oft anders zu verfahren. Die philosophischen Systeme wollen, brauchen eine Entscheidung um jeden Preis. So wird zwischen mehreren in gleicher Weise möglichen Hypo- thesen gewählt, auch wenn nach der Lage der Dinge, der Natur der Erfahrungen und Argumente, eine Wahl unterbleiben sollte. Würde man die möglichen Hypothesen nebeneinander bestehen lassen und als solche anerkennen, wollte der philosophische Forscher sich dabei bescheiden, die widerlegbaren Annahmen zu beseitigen, so würde die Philosophie an ihr entgegengebrachtem Vertrauen gewinnen, was sie an der Bestimmtheit ihrer Aussagen verlöre.

Das Gesetz von der Erhaltung der Energie etc. 33

Die Stellungnahmen zum Erhaltungssätze,

Der Vertxeter der Wechselwirkungshypothese kann sich in verschiedener Weise mit dem Energieerhaltungsgesetze abfinden. Dieses Glesetz ist zunächst ein Ergebnis naturwissenschaftlicher Erfahrung und hat daher vor der Hand auch nur Gültigkeit auf rein naturwissenschaftlichem Gebiete. Es wäre sehr wohl mög- lich, dafs das Energieerhaltungsgesetz seine Gültigkeit verlöre, sowie nicht-physische Realitäten in den physischen Wirkungs* Zusammenhang eingriffen ; solche Fälle haben wir aber nach der Wechselwirkungshypothese m den beseelten Organismen vor uns. Demnach hätten wu* als eine erste Stellungnahme von Wechsel wirkungstheoretikem zum Erhaltungsgesetz die Ab* lehnung des letzteren für beseelte Organismen ins Auge zu fassen.

Auf der anderen Seite haben es die Mehrzahl der Vertreter der Wechselwirkungsannahme vorgezogen, den Konflikt mit einem BO anerkannten Ergebnis der Einzel Wissenschaften zu vermeiden. Sie haben sich zu zeigen bemüht, dafs ihre Auffassung des Ver- hältnisses von Leib und Seele sehr wohl mit dem Energie- erhaltimgsgesetz verträglich sei. Dazu hat man zwei verschiedene Wege eingeschlagen. Entweder hat man ein Einwirken seelischer ReaUtäten auf das physische Geschehen im Organismus als denk- bar hingestellt, bei welchem keine Energievermehrung oder -Ver- minderung stattzufinden brauche. Nach diesen Hypothesen behält demnach das Erhaltungsgesetz für die phy- sischen Vorgänge im Organismus, im besonderen im Zentralnervensystem seine volle Gültigkeit. Auch im Gehirn verschwindet in keinem Momente physische Energie, ohne dafs ein gleiches Quantum physischer Energie im gleichen Momente an anderem Orte oder in anderer Form dafür aufträte. Oder man greift demgegenüber zu der Annahme einer geistigen Energie oder auch mehrerer Formen geistiger Energie (Energie im Sinne einer Fähigkeit, mecha- nische Arbeit zu leisten, eine Kraft auf einer Strecke auszuüben, die nicht senkrecht zur Kraftrichtung steht). Was an phy- sischer Energie im Zentralnervensystem verloren geht oder gewonnen wird, tritt als Gewinn oder Ver- lust psychischer Energie in der Seele wieder auf. Das Energieerhaltungsgesetz gilt demnach nicht

6*

84 Erich Sedier.

für die physischen Vorgänge für sich betrachtet Diese repräsentieren nicht notwendig in jedem Augenblick den gleichen Energievorrat. Aber das Gesetz behält volle Gültigkeit für die Summe physischer und psychischer Energien.

Die letzte der erwähnten Stellungnahmen läfst sich insofern zwischen den beiden zuerst skizzierten einordnen, als sie zwar das Erhaltungsgesetz anerkennt, nicht aber die Gültigkeit dieses Gesetzes für die physischen Vorgänge innerhalb des beseelten Organismus. Hier soll von dieser Anordnung Gebrauch gemacht werden. Wir wollen zunächst die Ansicht ins Auge fassen, die das Erhaltungsgesetz für beseelte Organismen nicht anerkennen will. Dann soll die Hypothese einer geistigen Form oder geistiger Formen der Energie betrachtet werden ; diese Hypothese erkennt das Energiegesetz für die Gesamtheit aller Energien im Organis- mus an, nicht aber für die physischen Energien für sich. Znm Schluls untersuchen wir jene Wechselwirkungsannahmen, die am Erhaltungsgesetz für die physischen Vorgänge im Organismus festhalten.

Die Gültigkeit des Erhaltnngsgesetzes für beseelte Organismen.

Sind wir gezwungen, das Gesetz von der Erhaltung der Energie für beseelte Organismen anzuerkennen? H. Schwarz* und L. Busse ^ bestreiten mit Entschiedenheit eine solche Not- wendigkeit. Sie führen beide aus, dafs das Gesetz nur für Energien gelte, die ihre Existenz der Wirkung rein physischer Ursachen verdanken. Ob aber aus der Einwirkung einer Seele auf ein physisches System nicht Energie produziert werden könne, ohne dafs ein gleiches Quantum verloren gehe, darüber sage das richtig verstandene Energiegesetz nichts aus. Busse fufst auf einer strengen Scheidung des Äquivalenz- und des Eonstanz- prinzipes (in der er sich an Wundt anschliefst). Das erstere besagt, „dafs bei allen Umwandlungen der körperlichen Dinge ineinander ein Faktor, die Energie, d. h. wieder die Fähigkeit, unter Umständen mechanische Arbeit zu verrichten, sich gleich

^ H. ScHWABz: Über das Verhältnis von Leib und Seele. Monatshefte der Comenius-Gesellschaft. Bd. VI (1897). ' L. Bubsb: Geist und Körper usw.

Das Gesetz von der Erhaltung der Energie etc.

bleibt, d. h., daTs für jede Energie, die irgendwo zur Erzeugung eines Zustandes aufgewandt, verbraucht wird, anderswo ein gleich grofses Quantum der gleichen oder einer anderen Energieform auftritt.

Das Eon Stanzprinzip, das „Prinzip der Eonstanz aller un- verwandelten Energie eines in sich geschlossenen Systems" (Wundt) besagt dagegen, „dafs die Gesamtenergie, über welche das phy- sische Weltall verfügt, sich stets gleich bleibt, also keiner Ver- mehrung und keiner Verminderung fähig ist .... es findet nur Umsetzimg desselben Energievorrats, aber keine Zunahme oder Abnahme desselben statt." ^

Busse sucht nun durch eine Prüfung beider Prinzipien (auf der Grundlage der Auffassungen einer grofsen Reihe von Natur- forschem und Philosophen) darzutun, dafs das Eonstanzprinzip nicht einwandfrei sei. In der Tat setze dieses Prinzip geschlossene Naturkausalität voraus.^ Es ergibt sich aus dem Äquivalenz- prinzip, wenn man die Welt als ein geschlossenes körperliches iSystem betrachten darf. Die Wechselwirkungshypothese bestreitet aber gerade die Voraussetzung; sie behauptet, dafs der Zusammen- hang des physischen Geschehens kein in sich geschlossener sei; sie nimmt ein Eingreifen psychischer Realitäten in das körper- liche Geschehen in beseelten Organismen an. Das Eonstanz- prinzip würde demnach eine Voraussetzung enthalten, die Busse von vornherein ablehnt. Was aber das Äquivalenzprinzip an- geht, so sieht in diesem Busse eine induktiv gerechtfertigte An- nahme, sofern es besagt, „dafs, wenn die Eörper aufeinander wirken, für jede aufgewandte physische Energie ein gleich groiser Betrag physischer Energie wieder erstattet wird."* Das Äqui- valenzprinzip bezieht sich aber nur auf Fälle, in denen Eörper aufeinander wirken; es findet keine An- wendung, wenn andere, psychische Ursachen oder Wirkungen mit ins Spiel kommen. Es bleibt demnach möglich, dafs bei der Wirkung des Eörpers auf die Seele Energie verschwindet, dafs umgekehrt bei der Wirkung der Seele auf den Leib Energie produziert wird.

Wir können die Frage nach der Berechtigung des Eonstanz-

^ L. BussB a. a. 0. S. 406, 407.

* Allerdings ist die Voranssetzung nicht unbedingt notwendig.

L. Busse a. a. 0. S. 407.

86 ^Erich Becher.

Prinzips und die sehr ausführlichen hierher gehörigen Aus- führungen Busses dahin gestellt sein lassen. Für die Wechsel- wirkungsfrage ist es allein bedeutsam, ob das Erhaltungsgesetz für beseelte Organismen ebenso gilt, wie für andere endliche materielle Systeme. Es handelt sich darum, ob in beseelten Organismen Energie produziert oder vernichtet werden kann. ScHWABz und Busse sind dieser Meinung; Busse führt eine ganze Anzahl von Autoren an, die der Anwendung des Energiegesetzes auf lebende Wesen skeptisch oder ablehnend gegenüber stehen. Trotzdem glauben wir, entschieden widersprechen zu müssen. Die Gültigkeit des Energiegesetzes für lebende und beseelte Wesen, Säugetiere, ist als empirisch be- wiesen zu betrachten; sie ist bewiesen worden durch physiologische, kalorimetrische Messungen.

Ich finde die physiologischen Untersuchungen, die die Gültig- keit des Energieerhaltungssatzes für beseelte Organismen darton, in der mir bekannten Literatur zur Parallelismusfrage niemals erwähnt. Und doch sind sie zweifellos von grofser Bedeutung. Daher ist es wohl angebracht, auf einige Arbeiten hier einzu- gehen, die den Beweis des Energiegesetzes mit allen technischen Mitteln und mit der gröfsten erreichbaren Genauigkeit geführt haben. Die erste dieser Arbeiten ist veröffentlicht unter dem Titel : Die Quellen der tierischen Wärme von M. Rubnbb. ^

Fragen wir zunächst, wie sich uns der Energieumtausch eines Tieres manifestiert. Die Energieeinnahmen bestehen in der Hauptsache in der chemischen Energie der Nahrung, Nahrung natürlich in hinreichend weitem Sinne genommen, so dafs neben den durch den Darmkanal im engeren Sinne resorbierten Stoffen, Eiweifskörpem, Leimsubstanzen, Fetten, Kohlehydraten usw. vor allen Dingen auch der verbrauchte Sauerstoff der Atmungsluft hierher zu zählen ist. Ferner kann Energie durch Wärmeleitung von der Umgebung aufgenommen bzw. an diese abgegeben werden. Schhefslich wird je nach den Umständen Strahlungs- energie absorbiert oder emittiert.^ Als Hauptsummanden bei der Energieabgabe kommen aber produzierte Wärme, chemische

^ M. RuBNEB. ZeitschHft für Biologie 12 (90), 1894, S. 73—142.

' Und zwar bei einigen Tieren, Fischen, Käfern nnd Bakterien auch in Form yan Licht. Femer geben die elektrischen Fische elektrische Energie ab.

Das Gesetz von der Erhaltung der Energie etc, 87

Energie der Abscheidungsprodukte und mechanische Energie der Körperbewegung in Frage.

Bei der Untersuchung des Energieumsatzes beim Tiere können indessen einige der Summanden der Energie ausgeschaltet werden. Es läTst sich einerseits erreichen, daTs die aufgenommene Strahlungsenergie verschwindet. Ein im Kalorimeter befindliches Tier wird keine merkUche Strahlungsenergie unter den üblichen Beobachtungsumständen aufnehmen, und die abgegebene Strah- lungswärme wird im Kalorimeter abgefangen. Führt das Ver- suchstier im Kalorimeter Bewegungen aus, so mufs sich deren Energie zum grofsen Teil in Wärme innerhalb des Kalorimeters lamsetzen. Nur wenn das ganze Kalorimeter durch Bewegungen des Versuchstieres Erschütterungen erleidet, findet eine unkon- trollierbare Energieabgabe nach auTsen statt. Rubneb berichtet über diesen Punkt f olgendermafsen :

„Ich füge nochmals hinzu, dafs an äufserer Arbeit von selten desTieres absolut nichts geleistet wurde; es lag jeden Tag ruhig ausgestreckt auf dem Boden, gelegentlich setzte es sich aufrecht. Starke Erschütterungen desApparates haben wir niewahr- genommen."^

Wenn man solche Beobachtungsumstände ins Auge fafst, so ergibt sich, dafs als Energiequelle des Tieres allein die chemischen Prozesse des Stoffwechsels in Frage kommen ; die Energieabgabe aber wird durch die produzierte Wärme repräsentiert. Die experimentelle Erfahrung hat zu entscheiden, ob hierbei Energie- aufnahme und -abgäbe sich als gleich ergeben.

Kein geringerer als Lavoisieb war der erste, der versuchte, die langsame Oxydation innerhalb des Organismus als die Quelle der tierischen Wärme zu erweisen.' Er brachte ein Meer- schweinchen für 10 Stunden in ein Eiskalorimeter und bestimmte

^ RuBNBB a. a. 0. S. 115, 116.

* Layoisisb und Laplacs: M^moires de racademie royale des sciences (1780), S. 3d5 oder Layoisiiebs physik. ehem. Schriften. Deutsch y. Weigkl, GiBiiBwald (1785), Bd. III, S. 292 f.

* Genauere Angaben Qber die Entwicklung der kalorimetrischen Ver- koche am Tiere bei Rübvxb a. a. 0. S. 7S— 86 und bei Bungb : Lehrbuch der Physiologie des Menschen, II. Bd., S. 34—37 (Leipzig 1901), auf deren Aus- ftihrangen wir uns stützen.

88 JSrich Becher.

^ie produzierte Wiirmemenge durch das sich ergebende Schmel» wasser. Femer legte er die Menge der durchschnittlich vom Meerschweinchen in 10 Stunden produzierten Kohlensäure durch Absorption in Kalilauge fest. Die erhaltene Kohlensäure, als Verbrennungsprodukt ungebundener Kohle aufgefafst, repräsen- tierte eine Wärmeproduktion, die mit der kalorimetrisch gemessenen nur um 4% differierte.

Indessen stecken in dieser Untersuchung eine Reihe von be- deutenden Fehlem, so dafs das relativ gute Resultat dem Zufall zugeschrieben werden mufs. Lavoisieb selbst bemerkte, dafs nur ein TeU des eingeatmeten Sauerstoffs als Kohlensäure wieder erscheint und vermutete, dafs der Rest zu Wasser oxydiert würde. Femer kühlt sich das Tier im Eiskalorimeter ab, so dals ein Teil der gemessenen Wärme nicht von der Oxydation herrührt. Auch kommt im Organismus nicht ungebundene Kohle zur Verbrennung, sondern organische Verbindungen, so dafs die Verbrennungs- Wärme eine andere ist.

Die beiden ersten der genannten drei Fehlerquellen wurden einigermalsen vermieden in zwei Preisarbeiten für die Pariser Akademie von Dbspebtz * und Dülong *, die dritte aber nicht. Desfretz und Dulong benutzten Wasserkalorimeter und be- stimmten die Mengen des verbrauchten SauerstofEs und der produzierten Kohlensäure. Aus dem nicht zur Kohlensäurebildung verbrauchten Sauerstoff berechneten sie das produzierte Wasser« Aus den von Lavoisieb und Laplace bestimmten Verbrennungs^ wärmen für Wasserstoff und Kohlenstoff die im übrigen zu niedrig waren berechneten sie die bei der Kohlensäure- und Wasserbildung entstehende Wärme. Das Resultat war, trotz der vermiedenen Fehler oder vielmehr durch diese Vermeidung einiger Fehler eine weit schlechtere Übereinstimmung der ans der Verbrennung berechneten und der gefundenen Wärmemenge, als sie sich bei Lavoisieb ergeben hatte. Die kalorimetrisch be- stimmte Wärmemenge war sowohl bei Despbetz als bei Dülono ganz erhebUch gröfser als die berechnete. Eine spätere, richtigere

^ Becherches exp^rim. sur les causes de la chaleur animale, Paris (1824); oder Ann. de chim. et de phye., Bd. XXVII, 8. 337 f. (1824).

' Dülong: Memoire sur la chaleur animale. Ann. de chim. et de phys^ S^rie in, Bd. I, S. 440 (1841). Vgl. Recherches sur la chaleur, ebendort S^rie III, Bd. Vni, 8. 180 (1843).

Das Gesetz von der Erhaltung der Energie etc. 89

Auswertnng der Versuchsergebnisse Dbspeetz' und Dulongs er- gab eine weit bessere Übereinstimmung.^

Übergehen wir die Bestimmungen der Wärmeproduktion des Tierkörpers durch Helmholtz, Rosenthal u. a., und gehen wir nunmehr zu der Arbeit Rübnebs über. Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, die technischen Mittel wiederzugeben, deren sich RuBNEB bediente. In bezug auf diese mufs auf die Originalarbeit verwiesen werden ; nur dürfen wir deren aufserordentliche Über- legenheit über die von Lavoisieb, Desfbetz und Dülong ver- wandten betonen. Im übrigen beschränken wir uns darauf, den von RuBNEB gewählten Weg zu skizzieren.

Der nächsthegende Weg ist eigentlich folgender. Man ver- füttert an ein Tier eine gewisse Nahrung und bestimmt kalorime- trisch die während des Verbrauchs dieser Nahrung produzierte tierische Wärme. Das durch die Nahrungsverbrennung produ- zierte Energiequantum erhält man, wenn man von der Gesamt- verbrennungswärme der Nahrung die Verbrennungswärme der Ausscheidungen, Harn und Kot, abzieht.' Bei einem über 12 Tage erstreckten Versuche erschienen 96% d^r durch die Umwandlung der Nahrung freigewordenen Energie als Wärme im Kalorimeter wieder.

Indessen ist eine solche Versuchsanordnung mit Fehler- quellen behaftet. Die Stoffzersetzung im Organismus ist nicht allein von der Nahrungsaufnahme bedingt. Zwar befand sich das Versuchstier anscheinend mit der Kost im Gleichgewicht. Um die Methode einwandfrei zu gestalten, wären lange Versuchs- reihen, bei mögUchstem Gleichbleiben des Körpergewichtes des Versuchstieres, erforderUch. „Genau genommen müTste ein auf der Basis der Nahrungszufuhr begründeter Bilanzversuch so lange durchgeführt werden, bis der Ansatz des Tieres im Verhältnis zum Futter verschwindend klein geworden ist."

„In den meisten Fällen, wenn die Kost nicht ausreichend genau ausgewählt ist, würden die allergröfsten Differenzen zwischen Stoffzersetzung und Nahrungsaufnahme vorhanden sein können, xmd deshalb ist jede Versuchsanordnung, welche zur Lösung der uns beschäftigenden Frage auf einen Vergleich der Nahrungs-

^ Gatabbet: De la chaleur produite par les fitres vivants (1865). ' BuBNKB kommt auf zweifachem Wege zur Bilanzberechnmig. Hier» über and über die Details siehe S. 138, 139 der angeführten Arbeit.

90 Erich Becker.

zufuhr und Wärmeproduktion sich stellen will, prinzipiell mangel- haft.« ^

Ein anderer Weg führt zu weit genaueren Resultaten. Die Menge der im Tier verbrauchten Stoffe kann sehr genau aus den Stoffwechselprodukten, den Ausscheidungen und der Expirations- luft bestimmt werden.

Solche Bestimmungen sind möglich geworden durch die Kenntnis des Stoffwechsels. Aus der Art der Nahrung, aus der Stickstoff- und Kohlenstoffausscheidung kann man erkennen, wie- viel EiweüjB, Fett und Kohlehydrate zerstört worden sind. * Voit und Pettenkopee haben dies durch ihre Untersuchungen ermög- licht Die Ausatmungsprodukte können genau festgestellt werden mit Hilfe der Respirationsapparate von Regnault-Rbiset und von Pettenkofeb. ' Femer sind die Verbrennungswärmen der organischen Substanzen, der Nahrungs- und Abfallstoffe genau festgestellt.

„Die mit verschiedenen Methoden von ver- schiedenen Beobachtern erhaltenen Werte sind nahezu gleich und geben dieGewifsheit, dafs unsere Vorstellungen betreffs der Energievorräte der Nahrungsmittel richtige sind."*

Die Messung der vom Tiere produzierten Wärme wurde von RuBNEE im Luftkalorimeter ausgeführt. Auf die Konstruktion dieses Apparates ist aufserordentUche Sorgfalt verwandt worden. Hier soll auf die Einrichtung nicht eingegangen werden. Ich mufs in bezug hierauf und auf die (xenauigkeitsbestimmungen auf das Original verweisen.*

Die Stoffwechselprodukte wurden sorgfältig gesammelt. Die Genauigkeit der Kohlensäure- und Wasserproduktion wurde durch Kontrollversuche geprüft.* «Wir sind also in der Lage, mit gröfster Genauigkeit anzugeben, welche Stoffe in dem Körper unserer Versuchstiere zersetzt wurden."'

* Rubrer a. a, O. S. 139, 140.

" Bubneb a. a. 0. S. 86—87. Vgl. die betreffenden Kapitel physio- logischer Lehrbücher.

* Bunge a. a. 0. Bd. II, 8. 372—375.

* BuBNSB a. a. 0. S. 88.

* A. a, O. S. 91—111. Dort findet man auch die Literaturhinweise auf eine genaue Beschreibung des Apparates.

* A. a. 0. 8. 112. ' A. a. 0. 8. 112.

Das Gesetz von der Erhaltung der Energie etc. 91

Die Versuchstiere erhielten entsprechend erwärmte Kost, um Wärmeabgabe an die Nahrungsmittel tunlichst zu vermeiden. Ferner wurde der Einflufs des Temperaturunterschiedes der Nahrung experimentell untersucht. Durch Einschiebung einer entsprechenden Pause vor Beginn der benutzten kalorimetrischen Messungen konnte die Wirkung der Nahrungstemperatur ganz eliminiert werden. *

Dafs kein Energieyerlust nach aufsen, etwa durch Er- Bchätterungen des ganzen Apparates, beobachtet werden konnten, wurde schon erwähnt. SchhefsUch könnte man an einen Fehler denken, der sich aus etwaigen Temperaturdifferenzen des Tieres zu Beginn imd zum SchluTs der Versuche ergeben würde. „Be- sonders bei kinrzdauemden Versuchen mufs man mit dieser Fehlerquelle unbedingt rechnen ; einfache Messungen geben keine volle Garantie für die Intaktheit des Wärmevorrates des Körpers. Die Unsicherheiten, welche sich daraus aber ableiten, lassen sieh fast vollkommen eliminieren, wenn man volle Tagesversuche an- stellt und wenn man die Vorsicht gebraucht, zu bestimmten Tageszeiten die Versuche zu beginnen und zu enden. *

Übrigens wurden bei den Tieren TemperatiKmessungen vor- genommen, auffallende Schwankungen aber nicht beobachtet.

RuBNER darf nach alledem wohl sagen:

„Das Schwergewicht aller von mir ausgeführten Untersuchungen ist darin zu suchen, dafs zur näm- lichen Zeit alle biologischen Faktoren erhoben wurden: die Stoffzersetzung und die Wärmebildung und Wasserverdampfung; und nicht zum geringsten in dem Umstände, dafs nicht Teilstücke des tieri- schen Stoffumsatzes, sondern alle für die Erkennt- nis der Stoffzersetzung notwendigen Werte fest- gestellt wurden."*

Die Versuchstiere waren Hunde.*

Die Ergebnisse der Versuche sind in folgender Tabelle zu- sammengestellt : ^

» A. Ä. 0. S. 116.

* A. a. O. S. 116. » A. a. 0. S. 117.

* A. a. O. S. 118. » A. a. 0. S. 135.

92 £rich Becher,

Übersicht des Gesamtresultats.

Zufuhr

Zahl

der

Tage

Summe der

berechneten

Wärme

Summe

der dir. best.

Wärme

Prozent- differenz

Prozent- differenz im Mittel

Hunger l

Fett

Fleisch u. Fett . . . /

Fleisch /

5

2

6

8 12

6

7

1296,3 1091,2

1610,1

2492,4 3986,4

2249,8 4780,8

1305,2 1056,6

1495,3

2488,0 3968,4

2276,9 4769,3

+ 0,69 -3,16

-0,97

0,17

0,68

+ 1,20

0,24

-0,97 }-0,42

} + 0,43

„Im Gesamtdurchßchnitt aller Versuche von 45 Tagen sind nach der kalorimetrischen Methode nur 0,47®/o weniger an Wärme gefunden als nach der Berechnung der Verbrennungswärme der zersetzten Körper- und Nahrungsstoffe,"^

Die vorhandenen Differenzen liegen innerhalb der in An- betracht der Komplikation der Versuche als recht eng zu be- zeichnenden Fehlergrenzen. Dafs die Fehler bei den Hunger- versuchen etwas gröfser sind, ist auf verschiedene Gründe zurück- führbar.' Wir verweisen auf das Original, wollen aber be- merken, dafs schon die geringere Gröfse der absoluten Werte zum Teil einen gröfseren prozentualen Fehler erklärt.

Jedenfalls darf man sagen, dafs sich bei manchen an- organischen Systemen, Maschinen, die Gültigkeit des Energie- erhaltungssatzes nicht genauer dartun läfst als es hier für lebende, beseelte Organismen geschehen ist.

„Was der Nahrungsstofl an Energievorrat zur Zersetzung in den Körper hineinbringt, das schickt der Körper in genau ge- messenen Quantitäten nach aufsen; es gibt in diesem Haushalt kein Manko imd keinen Überschufs."*

Zum Beweis des Energieerhaltungssatzes können wir noch eine dritte Reihe von Versuchen Max Rubnebs ins Feld führen. Gilt das Gesetz auch für den tierischen Organismus, so kann in

1 A. a. 0. S. 136.

« Vgl. a. a. 0. 8. 120 f.

» A. a. 0. S. 136.

Das Gesetz von der Erkaltung der Etiergie etc. 93

diesem die Verbrennung von Nahrungsstoffen zum Zwecke der kalorimetrischen Feststellung ihrer Verbrennungswärme durch- geführt werden. Wird umgekehrt die Verbrennung einmal im Tierkörper und daneben aufserhalb des Körpers vollzogen und ergeben sich die so bestimmten Verbrennungswärmen als gleich, so liegt darin ein Beweis der Gültigkeit des Erhaltungssatzes für den Tierkörper. Rübneb hat die Verbrennungswärme von im Tierkörper umgewandelten Stoffen nun bestimmt ^ „und diese Ergebnisse stehen erfreulicherweise mit dem, was die physikalische Messung früher ergab und wohin uns die Überlegung führte, in einer so vollendeten Übereinstimmung, wie sie in der Analyse biologischer Prozesse wohl zu den Seltenheiten gehört.*

Auf Grund solcher Resultate ist Rubkeb wohl berechtigt zu sagen: „. . . die Lehre von der Erhaltung der E^raft, welche MianrEB und v. Helmholtz begründet haben, kann auch den in meinen Versuchen erbrachten Beweis des Durchgangs der Energie- vorräte durch den Tierkörper in unveränderter Quantität den vielen anderen Beobachtungen auf rein physikalischem Gebiete anreihen." *

Wir haben nicht gezögert, die für unsere Probleme wichtigen Seiten der Ergebnisse Rxjbneks hier zu reproduzieren, weil diese Ergebnisse bei den dabei in Frage kommenden Vertretern der Wechselwirkungsannahme so vernachlässigt worden sind. Zu- gleich haben wir uns bemüht, vom Zuverlässigkeits- und Ge- nauigkeitsgrade der Resultate ein richtiges Bild zu geben, um uns vor künftigen Einwänden zu schützen. Vielleicht ist es nicht überflüssig, unsere Auffassung durch einige schwerwiegende Stimmen aus dem physiologischen Lager zu erhärten. M. Verwohn* urteilt:

„Die Differenzen zwischen der Wärmemenge, die durch Ver- brennung der Nahrung bis zu chemisch energiefreien Stoffen geliefert wird, und der Wärmemenge, welche das Tier bei gleicher Nahrung in der Ruhe produziert, sind bei den aufserordentlich feinen Versuchen Rubnees so gering, dafs sie vollkommen inner- halb der unumgänglichen, technischen Fehlergrenzen gelegen

» A. a. O. S. 140 f. Die Resultate S. 142.

« A. a. 0. 8. 142.

» A. a. 0. 8. 137.

* Vbbwohh: Allgemeine Physiologie, 4. Aufl., 8. 598, Jena (1903).

94 S^h Becker.

sind, und wUre es überhaupt noch nötig, in miBerer Zeit die Gültigkeit des Gesetzes von der Erhaltung der Kraft auch ffir die lebendige Natur zu beweisen, so würde der beste BeweiE dafür in den neuen kalorimetrischen Versuchen Rvmnsas ge- legen sein.^

Vielleicht wird man Vebwobn, den entschiedenen Bekämpf er des Vitalismus ^ für nicht ganz vorurteilsfrei in dieser Angelegen- heit erklären wollen. Frei von jedem Verdacht in dieser Rich- tung wird aber G. v. Bünoe gelten müssen. Nun wohl, Buxgs, der doch die Wechsel Wirkungshypothese anzunehmen scheint*, sagt über Rubners Untersuchungen:

„In neuester Zeit ist der Nachweis der Äquivalenz der in den Tierkörper eingeführten chemischen Spannkraft und der vom Tier entwickelten lebendigen KxslÜ mit Aufbietung aller H11£b- mittel der modernen Technik von M. Rübneb geführt worden« Die aus der im Körper zerstörten Nahrung berechnete Wärme- menge und die tatsächlich im Kalorimeter gefundene differierten in RüBNEBS Versuchen an Hunden nur um Vi— 1 V9 %•

„Wir sehen also, dafs das Gesetz von der Erhaltung der Kraft auch auf dem Gebiete des animalischen Lebens volle Geltang hat."* Dementsprechend bildet Bunge auch seine Wechsel- wirkungsannahme, so weit er sie deutlich ausspricht, nach Axt einer Auslösungstheorie *, wie Rehmke und Wbntschbb, oder auch als „Doppelursachen- und Doppeleffekthypothese".

Seit der Zeit der RuBNEBschen Untersuchungen (1894) hat die experimentelle Prüfung des Energieumtausches im Organis- mus keineswegs geruht; sie hat sogar unzweifelhaft Fortschritte gemacht. Nachdem Laulanie' ebenfalls mit Tieren operiert hatte und zu Resultaten gelangt war, die die RuBNEBschen be- stätigen, ging Atwateb zu Untersuchungen amMenschen über. ^ Leider kann ich auf diese mit einem enormen Aufwände

* Allgem. Physiologie S. 45 f.

Vergleiche Lehrbuch der Physiologie Bd. II, S. 37 f. und auch 8. 1 14. » Z. B. a. a. O. S. 39.

* Bunge a. a. 0. S. 36—37. » Ebendort S. 37—41.

Siehe weiter unten.

' Arch. Fhysiol, Paris 1898, S. 748 f.

' Man vergleiche zum folgenden vor allem die vom Verf. benutzte zu- sammenfassende Arbeit von W. O, Atwateb, in deutscher Bearbeitung von F. Fribdländeb u. L. Ashbr. Ergebnisse der Physiologie 1904, 1, 8. 497—622.

Das Gesetz von der Erhaltung der Energie etc. 95

von experimenteller Arbeit angestellten „neuen Versuche über Stoff- und Eraftwechsel im menschlichen Körper^ nicht einmal in der flüchtigen Weise eingehen, in der ich über Rubnbes Arbeit berichtet habe. Die benutzten Mittel und Methoden sind zu kompliziert, um eine Wiedergabe auf wenigen Seiten zu erlauben. Indessen sind die Versuche so exakt, die SchluTsfolgerungen so vorsichtig und die Resultate so wichtig, dafs ich an der Arbeit nicht vorübergehen kann, ohne ihr einige Worte zu widmen. Die Untersuchungen erstreckten sich über einen Zeitraum von 12 Jahren und wurden unter Atwatbes Leitung, unter Mitwirkung einer Anzahl von Forschem, ausgeführt, von denen die Professoren E. B. Rosa und F. G. Benedict unter anderen genannt werden.* Über das Ziel der Experimente mögen die folgenden Zitate orientieren :

„Die Untersuchungen von Rübneb und Laulakie hatten Resultate gezeitigt, die im vollen Einklang mit dem Gesetze der Erhaltung der Energie standen; sie waren aber mit kleinen Tieren und in verhältnismäfsig geringer Zahl vorgenommen worden ; die Versuchsperioden waren ziemlich kurz, die Analysen von Speise, Trank und Exkrementen wurden nicht bis in die kleinsten Einzelheiten ausgeführt und in keinem der Versuche wurde äufsere Muskelarbeit verrichtet. Man wufste, dafs die Demonstration vollst&ndiger und befriedigender ausfallen müsse, wenn die Objekte der Versuche Menschen wären, und vorzugs- weise Menschen, die mit den Prinzipien wissenschaftlicher Forschung vertraut wären, wenn die Versuchsperioden einige Tage umfassen könnten, anstatt eines Tages oder nur einiger Stunden, wenn femer vollständige Analysen von Speise, Trank und Exkrementen vorgenommen und somit auch in jedem Falle die Verbrennungs- wärme des nicht oxydierten Materials genau bestimmt werden könnte, wenn es möglich wäre, die Versuche unter verschiedenen Bedingungen in bezug auf Essen und Fasten, Ruhe und Arbeit auszuführen, äufsere Muskelarbeit verrichten zu lassen und genau zu messen . . . ."^ In diesem Sinne wurden die Experimente durchgeführt. Es wurde verglichen:

„1. die Menge der potentiellen Energie in den tatsächlich im Körper oxydierten Stoffen mit

» A. a. 0. S. 497. « A. a. O. S. 612.

96 ^^rich Becher,

2. der Menge der von diesem abgegebenen kinetischen Energie, entweder nur als Wärme in den Ruheexperimenten, oder als Wärme plus äuTserer Muskelarbeit, welch letztere ebenfalls als Wärme gemessen und berechnet wird, in den Arbeitsexperi- menten." ^ „In den Ruheexperimenten fand kein beträcht- liches Quantum äuTserer Muskelarbeit statt. Das Wenige, was verrichtet wurde, verwandelte sich naturgemäls in Wärme, wie z. B. die Berührung des Fufsbodens durch den FuTs beim Auf- treten ...."*; diese Wärme wurde mit der direkt produzierten zusammen bestimmt, analog den Versuchen Rubnebs. „In den Arbeiisexperimenten wird eine bestimmte Menge der Kraft als äuTsere Muskelarbeit verausgabt: addiert man diese zu der von dem Körper abgegebenen Wärme, so erhält man die Nettosunune der Ausgabe."* Die Zahlenresultate und deren Diskussion findet man Seite 614 f. „Im Durchschnitt aller Experimente (32 mit 107 Tagen) mit gewöhnlicher Kost beträgt das tägliche Einkommen 3748 und die tägUche Ausgabe 3745 Kalorien oder eine Differenz von 0,1 "/o des Ganzen.

In den Ruheexperimenten mit besonderer Diät übertraf der Durchschnitt täglicher Ausgaben denjenigen der Einnahmen um 15 Kalorien, in den Arbeitsexperimenten blieb er um 17 Kalorien zurück. Addiert man die Gesamtsummen aller Tage der drei- zehn Ruhe- und Arbeitsexperimente und dividiert sie durch die Anzahl der Tage: 36, so übertrifft der Durchschnitt der Aus- gaben den der Einnahmen um 8 Kalorien, gleich 0,3%.

Nimmt man alle Experimente der Tabelle 41* (45 mit 143 Tagen) zusammen, so findet sich ein Unterschied von 55 Kalorien bei einer Gesamtsumme von ca. 500000 gleich 1 : 10000. In den Versuchen mit . . ., welche, wie oben erwähnt, die letzten waren, und infolgedessen am freiesten von experimenteUen Irr- tümern sein dürften, steUt sich die Differenz auf 1 : 20000.

Es hegt auf der Hand, dafs bei zunehmender Erfahrung und vergröfsertem ICreis von Experimenten die Durchschnitte für Einnahmen und Ausgaben sich immer mehr nähern werden, und dafs die grofsen Endsummen als identisch angesehen werden können.

* A. a. O. S. 612. « A. a. O. S. 613.

* Ebendort.

* Siehe S. 614 a. a. 0.

Das Gesetz voti der Erhaltung der Energie etc. 97

Natürlich liegen derartige unterschiede durchaus innerhalb der Grenze experimenteller Irrtümer und physiologischer Un- gewifsheit . . ."^

Zum Schlüsse der Arbeit wird die Genauigkeit der Versuche, Apparate und Methoden ins Auge gefafst und im AnschluTs daran die Bedeutung der Resultate untersucht. Auch auf die mögliche energetische Bedeuttmg der geistigen Tätigkeit kommt Atwateb ganz kurz zu sprechen.* Überall werden die Ergeb- nisse und Folgerungen mit der gröfsten Vorsicht, ja Skepsis ge- prüft, so dafs man oft geneigt ist, zu fragen, wie es wohl mit dem Beweise des Erhaltungssatzes auf manchen physikaUsch- chemischen Gebieten stehen würde, wenn man solche An- forderungen überall stellen wollte.

Bei strengster Selbstkritik kommt Atwateb in seinem Schlufs- satze zu dem Resultate: ^Wenn das Gesetz von der Erhaltung der Energie in diesen Experimenten nicht vollkommen erwiesen wurde, so müssen die Abweichungen viel zu klein gewesen sein, um irgend welchen Vergleich mit der Summe der umgesetzten Energie vertragen zu können, und wenn man den Irrtümern usw. genügend Rechnung trägt, so darf man wohl sagen, dafs die Versuche für die Personen, mit denen sie imternommen wurden, das Gesetz von der Erhaltung der Energie bewiesen haben.«»

Wir dürfen also sagen: Das Energieerhaltungsgesetz ist für beseelte Organismen so bewiesen, wie überhaupt eine naturwissen- schaftliche Tatsache bewiesen werden kann: es ist bewiesen, so- weit es die technischen Mittel erlauben. Die Abweichungen liegen innerhalb der technisch unvermeidlichen Fehlersphäre.

Die Naturforscher haben ihre Konsequenzen aus diesen Er- gebnissen gezogen. Der Vitalismus, der zum Erhaltungsgesetz in ganz entsprechender Beziehung steht wie die Wechselwirkungs- hypothese, hat dieses Gesetz auch für den lebenden Organismus anerkannt. Er hat sich an die Tatsachen angepafst und ist trotz Helmholtz* entgegengesetzter Ansicht (wie mir scheint mit Recht)

^ A. a. O. S. 617, 618. » S. 621.

A. a. 0. S. 622. Zeitsclurift für Psychologie 46.

98 -ErtcÄ Becher.

der Meinung, dafs das Energiegesetz den Vitalismus nicht not- wendig ausschliefst.^

Ich glaube, auch die Wechsel wirkungshypothese wird gut daran tun, das Energieerhaltungsgesetz voll und ganz anzu- erkennen. Busses (und aller von ihm zitierten Forscher) Argu- mente gegen eine prinzipielle Notwendigkeit, das Gesetz auf Organismen und beseelte Wesen auszudehnen, mögen zu Recht bestehen ; die Übertragung des Erhaltungssatzes auf Organismen, im besonderen auf beseelte, ohne experimentelle Rechtfertigung dieser Ausdehnung des Gesetzes, setzt in der Tat bestimmte An- schauungen voraus. Wem, wie uns, das Energiegesetz eine empirische Erkenntnis ist^, für den ist die Übertragung dieser

^ Vgl. hierzu H. Dbibsch : Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre (Leipzig 1905) S. 1311 und S. 236. Über die enge Beziehung des Vitalis^ mus zur Wechselwirkungslehre siehe die Schrift des gleichen Autors: Die „Seele^ als elementarer Naturfaktor (Leipzig 1903) und des Verf. „Krit der Widerlegung des Parallelismus . . . durch Hans Dbibsch" in der Zeit9ckr^ f. Psychologie I, Bd. (1907), ßchlufs.

* DaTs das Energiegesetz eine lediglich empirische Wahrheit sei, ist freilich durchaus nicht allgemein anerkannt. B. Eislbb z. B. vertritt in Leib und Seele S. 152 f. die Auffassung, dafs das Energiegesetz auf apriorischer Grundlage ruhe. Das naturwissenschaftlich-exakte Denken fordere a priori, als Bedingung einheitlich-stetiger, objektiver Erkenntnis, die durchgängige Bestimmtheit auch der Gröfse der Glieder eines Eausalnexus. Aber diese Forderung kann unserer Ansicht nach doch nicht einzig und allein durch das Energiegesetz erfüllt werden. Der Streit um die richtige Schätzung einer Kraft Wirkung, bei dem die einen für das Produkt aus Kraft und Zeit, die anderen für das aus Kraft und Weg plädierten, sollte hier lehr- reich sein. Nur die Erfahrung konnte die Erhaltung gerade der Arbeit dartun. Das Naturgeschehen wäre ebensogut quantitativ festgelegt, wenn bei allen Energieumwandlungen genau die Hälfte der Arbeitsfähigkeit ver- loren ginge, oder wenn etwa bei bestimmten Umwandlungen immer wieder bestimmte Verluste auftreten würden. Wieviel Arbeit ein Wärme- quantum liefert ist ebenso eine einfache Tatsachenfrage, ala die, wieviel Wärme ein Arbeitsquantum liefert. Daher ist es auch lediglich eine Tatsachenfrage, eine Sache der Er- fahrung, ob ein Wärmequantum beim Verschwinden wieder soviel mechanische Arbeit leistet, als zu seiner Produktion erforderlich war. Es wäre durchaus denkbar, dafs bei der Umwand- lung durch Wärme hindurch sich ein Arbeitsquantum immer auf die Hälfte verkleinerte.

Auch der beliebte Weg, die apriorische Natur einer Erkenntnis zu retten, indem man sie zu einem Postulat stempelt, scheint mir kaum gang- bar. Dbibsch sucht z. B. auf diese Weise den Erhaltungssatz der Erfahrung»

Das Gesetz van der Erhaltung der Energie etc. 99

Erkenntnis auf ein anderes Gebiet nicht ohne weiteres selbstver- ständlich. Freilich waren schon zur Zeit der Auffindung des Erhaltungssatzes eine Beihe von physiologischen Erfahrungen bekannt, die auf die Gültigkeit dieses Gesetzes auch auf organischem Gebiete hindeuteten. Physiologische Tatsachen haben bei der Entdeckung eine Rolle gespielt. Trotzdem ist zuzugeben, dafs Yor jener exakten experimentellen Bestätigung die Anerkennung des Erhaltungssatzes für Organismen sich nicht von selbst ver- stand, wenn sie auch durch gewisse Tatsachen nahegelegt war; durch Tatsachen wie die der Erschöpfung durch Arbeitsleistung, Hunger, Fieber, der Wiedergewinnung der Leistungsfähigkeit durch die Ernährung, den geringen Stoffverbrauch in der Ruhe und im warmen Klima, den lebhafteren bei der Arbeit und in der Kälte, die stärkere Durchblutung arbeitender Organe, end- lich durch den verschiedenen Wert, den verschiedene Nahrungs- mittel für die Leistung besitzen und durch speziellere Erfahrungen über den Stoffwechsel.

Seit der experimentellen Bestätigung der Gültigkeit des Er- haltungsgesetzes haben indessen jene prinzipiellen Bedenken gegen die Berechtigung der Übertragung auf beseelte Lebewesen sehr an Bedeutung verloren. Man wird daher auch aner- kennen müssen, dafs bei der Wechselwirkung zwi-

der Möglichkeit eines Beweises oder einer Widerlegung durch Tatsachen, zn entziehen (vgl. z. B. der Vitalismus, S. 233 f.). Man könne immer durch fingierte potentielle Energien den Erhaltungssatz retten. Freilich würde man so das Gesetz mit Gewalt durchdrücken können, wo es sich nicht durch Erfahrung uns aufdrängte. Aber ich glaube durchaus nicht, dafs unter aUen Umständen die Naturwissenschaft sich dazu verstehen würde. Vielmehr hegt eine Erfahrungstatsache vor: verschwindet jener Zustand, dem wir nach dem Erhaltungssatze verborgene Energie zuschreiben mufsten, so tritt das zu seinem Zustandekommen erforderliche Energiequantum nach- her (direkt oder indirekt) wieder auf. Da liegt der entscheidende Punkt; und über diesen kann die Erfahrung richten. Gewifs arbeitet die Natur- wissenschaft mit dem Energiegesetz als mit einem Postulate in vielen Fällen. Aber dies Postulat ruht auf der Erfahrung und könnte auf be- sonderen Gebieten durch Erfahrung unmöglich gemacht werden. Man denke daran^ wie ernstlich der Erhaltungssatz als durch die Strahlung radioaktiver Substanzen gefährdet vor kurzer Zeit angesehen wurde. Erst weitere Er- fahrungen waren nötig, um die innere Energie des radioaktiven Atoms als QueUe der Strahlungsenergie annehmbar zu machen. Diese wurde nicht einlach als notwendig postuliert, sondern erst nach einer Reihe von Er- fahrungen über die Umwandlung radioaktiver Elemente u. a. m. anerkannt.

7*

300 JS^rich Becher.

sehen Leib und Seele, wenn eine solche überhaupt besteht, weder Energie produziert noch vernichtet werden kann.

Freilich wäre die Ausflucht denkbar, die Energieproduktion bzw. Vernichtung bei jenen Wechselwirkungsvorgängen sei zu gering, um feststellbar zu sein. Die experimentelle Erfahrung vermag ja niemals absolut genaue Resultate, sondern immer nur Annäherungen zu geben. Der Durchbruch des Energiegesetzes bleibe verborgen, verdeckt durch die unvermeidüchen Fehler der Versuchsanordnung. Überdies werde auch das geistige Leben des im Apparate Rübnebs eingesperrten Tieres kein sehr reges sein.

Aber die genaueste Bestätigung des Erhaltungssatzes wurde bei Atwaters Versuchen an Menschen erhalten.

So sich mit den experimentellen Ergebnissen abzufinden wäre gewifs berechtigt, wenn es keinen anderen Ausweg aus der Schwierigkeit gäbe. Aber er gibt andere Wege: den Parallelis- mus und gewisse Formen der Wechselwirkungshypothese, die das Energiegesetz anerkennen. Dafs solche Formen möglich sind, werden wir Busses Kritik gegenüber weiter unten darzutun ver- suchen. Hier aber müssen wir dabei bleiben, dafs diese Flucht hinter die Fehlergrenzen doch sehr gezwungen erscheinen müTste. Selbst die Hunde bei Rübnebs Experimenten gehören immerhin zu den geistig regsamsten unter den üblichen Versuchstieren des Physiologen. Es mufs überdies angenommen werden, dafs die abnormen Erlebnisse während der Versuche die geistige Tätigkeit stark anregen werden. Dafs während einer gesteigerten geistigen Tätigkeit Blutzufuhr und Stoffwechsel im Zentralnervensystem gehoben und lebhaft sind, dürfte ebenfalls feststehen. Man denke an die Versuche und Beobachtungen Mossos über die Zirkulation im Gehirn und an die grofsen Umwandlungen, die die mikroskopische Struktur der Ganglienzellen nach der An- strengung zeigt. Gingen aber so lebhafte Prozesse im Zentral- nervensystem mit Energieproduktion oder -Vernichtung einher, so dürfte man wohl erwarten, dafs diese bemerkbar wären.

Wir betonen nochmals, dafs das Erhaltungsgesetz auf an- organischem Boden im Prinzip nicht anders bewiesen worden ist, wie für beseelte Wesen. Auf allen Erfahrungsgebieten bleiben Fehler. Aber beim Tierversuch wie bei anorganischen Systemen sind diese Fehler als Ausflufs der Mängel der Versuchsanord-

Das Gesetz von der Erhaltung der Energie etc. 101

nung voll und ganz erklärbar. Die Annahme wirklicher Ab- weichungen vom Erhaltungsgesetz beim Tierversuch ist auf keine Erfahrungstatsache stützbar. Sie ist beim Tierversuch ebenso überflüssig als beim rein physikalischen Experiment. So charakteri- siert sie sich als eine willkürliche Ausflucht.

Freilich könnte man die Unmerklichkeit der Verletzungen des Energieerhaltungssatzes in lebenden, beseelten Wesen durch weitere Hilfsannahmen verständlich machen. Es wäre denkbar, dafs die Energieproduktion und -Vernichtung sich das Gleich- gewicht hielten, ja dafs in jedem Moment an einer Stelle des Hirns immer genau so viel Energie hervorgebracht, wie an einer anderen zerstört würde. ^ Doch müfste eine solche Äquivalenz als ganz unverständlich, zufällig gelten. Ein Grund für eine solche wäre nicht einzusehen. Vielmehr müTste bei dem bunten Wechsel psychischer Vorgänge es von vornherein viel wahr- scheinlicher erscheinen, dafs einmal die Produktion, dann die Vernichtung von Energie vorherrschen würde, etwa, je nachdem sich das beseelte Wesen mehr aktiv oder rezeptiv verhalten würde. Bei den Versuchshunden Rübnees sollte man doch ein Vorherrschen der rezeptiven Prozesse vermuten. Käme aber der Ausgleich zwischen Produktion und Vernichtung nur inner- halb längerer Zeiten zustande, so würde er beim Abschlufs kalorimetrischer Versuche wohl nicht immer gerade erreicht sein.*

Der Versuch, trotz der geschilderten experimentellen Unter- suchungen die Annahme von Energieschöpfung und -Vernichtung bei einer etwaigen Wechselwirkung zwischen Leib und Seele dar- zutun, führt auf Abwege. Man ist zu Hilfshypothesen wenig zusagender Art gezwungen. Die Tatsachen werden nicht einfach anerkannt, sondern in femliegender Weise gedeutet. Falls kein anderer Weg vorläge, als der einer solchen gezwungenen Inter- pretation, so würde man ihn vielleicht nicht verschmähen. Aber es gibt andere, näherliegende Wege.

^ Ohne dafs die produzierte Energie lediglich als Umwandlungsprodukt der zerstörten betrachtet werden dürfte; Produktion und Vernichtung könnten an Stellen auftreten, die im betreffenden Augenblick nicht in Wechselwirkung ständen.

* Übrigens sind solche Ausflüchte auch Bussb nicht sympathisch. Vgl. Geist und Körper usw. S. 423. Doch erkennt man, dafs die dort kriti> sierte Betrachtung Kulfbs nicht ohne Grund angestellt wurde.

102 JSrich Becher,

Die Hypothese der psychischen Energie.

Da scheint es mir denn angebracht, die Annahme ein^ Durchbruchs des Erhaltungsgesetzes beiseite zu stellen. Man braucht nicht den physiologischen Erfahrungen sich durch Aus- flüchte und Deutungen zu entziehen; man ist in der Lage, sie ungezwungen hinzunehmen.

Wir hatten ausgeführt, dafs die bedingungslose Anerkennung des Gesetzes der Energieerhaltung von Seiten der Wechselwirkungs- hypothese auf zwei verschiedene Weisen möglich ist. Entweder wird eine besondere psychische Form der Arbeitsfähigkeit (oder auch deren mehrere) angenommen. In diese verwandelt sich dann unter Umständen die physische Energie des Zentrahierven- systems, bzw., die psychische Energie verwandelt sich in physische zurück. Das Erhaltungsgesetz gilt nach dieser An- nahme für die Summe der körperlichen und geistigen Energie. Oder aber man erkennt keine psychische Energie an, hält aber an der Annahme der Erhaltung der physischen Energie fest; dann ist zu zeigen, wie Wechselwirkung ohne Zu- wachs oder Verlust physischer Energie möglich ist.

Ich will zunächst kurz die erstere Annahme, die Hypothese einer besonderen geistigen Energie ins Auge fassen.

Diese Hypothese wird mit grofser Entschiedenheit von V. Gbot * durchgeführt, ferner von Ostwald ; bei Ostwald bleibt allerdings das Verhältnis von psychischer Energie und Nerven- energie etwas dunkel, wie Busse mit Recht bemerkt.* Auch KüLPE* vertritt diese Auffassung, die Stumpf*^ und Ebhabdt* für möglich halten neben anderen Hypothesen, aber verschieden einschätzen. Busse nennt neben den Angeführten auch Ladd. ^

Der Energiebegriff ist zunächst auf materiellem Gebiete ge- schaffen worden. Wir sprechen bei einem Zustande vom Vo^ handensein von Energie, wenn dieser Zustand unter Leistung

* Die Begriffe der Seele und der psychischen Energie in der Psycho- logie. Archiv f, syst Phüos., 4 (1898), S. 257—336.

» Vorlesungen über Naturphilosophie 8. 372 f., 377 f. (Leipzig 1902). » A. a. 0. ß. 418.

* Einleitung in die Philosophie, 2. Aufl. 1898, S. 144 f.

* III. Psychol. Kongrefs (München), Eröffnungsrede S. 11/12 (1897).

* Die Wechselwirkung zwischen Leib und Seele, Leipzig 1897, 8. 891 ' A. a. 0. 8. 419. Ladd, Philos. of. Mind, S. 244.

Das Gesetz von der Erhaltung der Energie etc. 103

mechanischer Arbeit verschwinden kann oder umgekehrt beim Verschwinden mechanischer Arbeit entsteht. So wäre es gewife denkbar, dafs beim Verschwinden bzw. Entstehen gewisser psychischer Zustände Arbeit aufträte bzw. verschwände. Zur Übertragung des EnergiebegrifEes wäre nun folgendes notwendig vorauszusetzen. Erstens müTsten die psychischen Zustände als prinzipiell mefsbar erscheinen; wir würden nicht wagen, positiv zu behaupten, dafs sie das nicht wären. Zweitens müfste beim Verschwinden eines psychischen Zustandes entweder ein anderer auftreten, oder genau soviel physische Energie, als zur Produktion jenes psychischen Zustandes erforderUch wäre. Drittens: wenn ein psychischer Zustand sich in einen zweiten, dritten usw. um- wandelte, so müfste der Energiewert aller folgenden gleich dem des ersten sein, d. h. sie müfsten unter Produktion der gleichen Menge physischer Energie verschwinden können. Man erkennt, daJs wir gar nicht imstande sind, diese Voraussetzungen zu prüfen, v. Gbot sucht in ausführhchen Darlegungen * zu zeigen, wie die Bedingungen der Übertragbarkeit des Energiebegriffes auf das Psychische erfüllt seien. Aber es kommt doch nur zu vagen, unbefriedigenden, wenig überzeugenden Analogien.

Das geistige Geschehen ist für uns viel zu wenig fafsbar, um in dieser Frage eine sichere Entscheidung zuzulassen. Prinzipiell möglich und denkbar bleibt aber nach dem bisher Ausgeführten eine so weite Anwendung des Energiebegriffes. Freilich könnten sich für manchen erkenntnistheoretischen Stand- punkt Bedenken ergeben gegen einen solchen Versuch, Physisches und Psychisches durch Unterordnung unter den Energiebegriff zu koordinieren. Wir können hier auf solche Bedenken nicht eingehen.

Es ist nicht erstaunlich, dals solche Denker die Unterord- nung des Psychischen unter den Energiebegriff vollzogen oder gebilligt haben, die wie Ostwald und Erhabdt die mechanische Naturauffassung scharf ablehnen. Wem (wie Helmholtz) das Energiegesetz als Eonsequenz der mechanischen Naturauffassung erscheint, dem kann die Übertragung des Erhaltungssatzes auf das Geistige nur vom materialistischen Standpunkte aus ver- ständhch erscheinen. (Allenfalls liefse sich die Gültigkeit auf geistigem Gebiete wohl auch durch den Parallelismus erklären.

» A. a. 0. S. 266f.

104 ^rieh Becher.

als Parallelerßcheinung zur Gültigkeit für die nervösen Prozesse.) Wenn aber für den Anhänger der Wechselwirkungslehre das Geistige eine Realität darstellt, die ganz anderen als den mecha- nischen Gesetzen unterliegt, und doch das Energiegesetz eine Konsequenz der mechanischen Gesetze ist, so mufs es als ganz zufällig und unverständlich erscheinen, dafs dieses Energiegesetz auch im Lande des ganz anders gearteten psychischen Geschehens gelten sollte. Freilich kann man Busse ^ zugeben, dafs auch auf dem Standpunkte der mechanischen Naturauffassung die Cber- tragbarkeit des Energiebegriffes auf geistige Realitäten unter Umständen möglich wäre : es müfsten eben die oben angeführten Voraussetzungen erfüllt sein.

Aber dem Anhänger der mechanischen Naturauffassung müssen jene Voraussetzungen notwendig femer liegen, als dem Energetiker. In der mechanischen Ansicht ist kein rechter Raum für Gründe, aus denen jene Voraussetzungen sich ergeben und verständlich werden könnten. Nun bin ich der Meinimg, dafs die mechanische Naturauffassung durchaus keine überlebte Sache ist, wie es einige Naturforscher und, auf diese sich berufend, viele Philosophen glauben. Vielmehr scheint mir in dieser Lehre ein echter Kern zu stecken, in dem ich die relativ beste der möglichen koordinierbaren Hypothesen sehe. Hier ist indessen nicht der Ort, eine solche Überzeugung zu begründen; dazu reichen wenige Seiten nicht.* Jedenfalls ist allen Anhängern der mechanischen Naturauffassung die Annahme einer psychischen Energie eine sonderUche Hypothese, zu der sie nur im Notfalle greifen würden.

Es liegt indessen kein Notfall vor. Wir hoffen zeigen zu können, dafs neben dem Parallelisten auch der Wechselwirkungs^ theoretiker ohne die Annahme psychischer Energie auskommen kann. Ja es scheint uns, als ob die Annahme psychischer Energie recht wenig Zweck hätte.

Zunächst wollen wir Busses Bedenken gegen die Hypothese streifen. „Die Konsequenz dieser Ansicht führt ebenso wie die des psycho-physischen Parallehsmus zu einer Auffassung des geistigen Lebens, die mir mit den Tatsachen der unmittelbaren

1 A. a, 0. S. 420.

' Ich mufs daher auf meine Schrift „Philosophische VorauBsetzüngen der exakten Naturwissenschaften", Leipzig 1907, verweisen.

Das Gesetz von der Erhaltung der Energie etc. 105

Erfahrnng im Widerspruch zu stehen scheint. Die Seele würde, wenn sie unter den Begriff der Energie subsumiert wird, nach Stumpfs treffendem Ausdruck eine einen bestimmten, im Prinzip zahlenmfiXsig feststellbaren Arbeitswert repräsentierende „An- häufung von Energien" ^ sein. „Die Leistungsfähigkeit dieses Agens würde in jedem Augenblick durch die durch es repräsen- tierte Energiemenge und den etwa durch Abgabe physischer Energie noch hinzukommenden Zuschufs vollständig und ein- deutig bestimmt sein, eine Erhöhung derselben über die durch diese Faktoren gesetzten Schranken hinaus, wie wir sie als Folge begeisterten Strebens in Momenten, wo man dem Weltgeist näher ist als sonst, kennen, würde völlig ausgeschlossen sein ; ein Wachs- tum geistiger Energie, ein sich selbst Potenzieren der Seele würde völlig unmögUch sein. Nun gibt es aber diese Dinge, und sie stellen sich der Einrangierung des Geistigen in den Energie- begriff als ein schwer zu beseitigendes Hindernis entgegen." * Ich glaube nicht, dafs die gewifs zunächst recht eindrucksvolle Betrachtung vor einer nüchternen Kritik bestehen kann. Sicher- lich würden auf diesem Standpunkt der Leistungsfähigkeit der Seele irgendwelche Schranken zu setzen sein; aber solche Schranken bestehen in der Tat, trotz der Möglichkeit begeisterter Erhebung. Und femer ist gegen diese Ausführungen Busses einzuwenden, dafs sie auf einer unnötigen und willkürlichen Identifizierung des geistigen Energiewertes Energie im Sinne der Fähigkeit zu mechanischer Arbeitsleistung mit dem logischen, ästhetischen, ethischen, religiösen Werte beruhen. Es wäre gut denkbar, dafs ein geistiges Erlebnis nur einen geringen Betrag mechanischer Arbeitsfähigkeit repräsentierte und doch für den Standpunkt geistiger Wertung sehr hoch eingeschätzt werden müfste. Eine „physische" Begierde mag vielleicht einen hohen Energiewert, dabei aber einen sehr geringen ethischen Wert haben usw. So wäre eine schrankenlose Steigerung geistiger Werte sehr wohl mit der Annahme einer engen Begrenztheit der psychischen Energiemengen verträglich.

Ebensowenig überzeugend erscheint mir ein weiteres Argument Busses gegen die psychische Energie. Er führt aus, es sei nicht einzusehen, warum die psychische Energie sich nicht einmal

1 Stumpf a. a. O. S. 12. * Busse a. a. O. S. 424.

106 Erich Becher,

ganz verausgaben könne ^, so daTs dann der Körper ohne Seele durch die Welt liefe. Die psychische Energie könne sich unter Umständen einmal ganz in körperliche verwandeln, etwa wie aus einem materiellen System einmal eine bestimmte Energieform, sagen wir die elektrische Energie, ganz zugunsten anderer Formen verschwinden kann. Allerdings ist eine solche Möglichkeit mit dem Erhaltungssatze verträglich; aber das besagt im Grunde gar nichts. Mit dem Erhaltungssatze wäre es auch verträglich, dafs unser Körper einmal alle Wärmeenergie zugunsten anderer Energien verlöre ; trotzdem denken wir nicht daran, die Existenz von Wärmeenergie zu bestreiten. Verhört der lebende Körper zu viel Wärmeenergie, so stirbt er. Genau so könnte es bei zu grofser Abgabe psychischer Energie zugehen. Ob eine Energieart des lebenden Menschen sich ganz verausgaben kann, ist eine Tatsachenfrage. Der Vertreter der Annahme psychischer Energie braucht ebensowenig zu fürchten, demnächst lebenden Menschen ohne Seele zu begegnen, wie er erwartet, Individuen von einer Temperatur von 273** anzutreffen. Vielleicht könnte man die Frage diskutieren, ob nicht im Schlafe, in schweren Narkosen Zustände zu erblicken seien, bei denen zeitweilig alle oder fast alle psychischen Energien verausgabt wären.

Wenn wir die Hypothese psychischer Energien nicht sehr hoch bewerten, so geschieht dies aus anderen Gründen, als den soeben betrachteten. Die psychische Energie und die durch sie ermöglichte Durchführung des Erhaltungsgesetzes kann uns den empirischen Tatsachen gegenüber nicht viel helfen. Was wird denn durch die kalorimetrischen Untersuchungen bewiesen? Nicht die Konstanz einer etwaigen Summe physischer und psychischer Energien, sondern die Erhaltung der physischen Energie I Eine etwaige psychische Energie würde dem physiologischen Experi- mentator vollständig entgehen; sie läfst sich nicht mit in Rech- nung ziehen. Rubnebs imd Atwaters Untersuchungen zeigen, dafs die aufgenommene und die abgegebene physische Energie im Gleichgewichte stehen. Dies wäre mit der Annahme einer geistigen Energieform nur verträglich, wenn gleichviel geistige Energie von der Seele aufgenommen und abgegeben würde. Dann hätten wir wieder den schon gestreiften Gedanken KOlpes : „Man braucht blofs anzunehmen, dafs eine Äquivalenz zwischen

» A. a. 0. S. 424—425.

Das Gesetz von der Erhaltung der Energie etc, 107

den geistigen und den materiellen Prozessen besteht. Es würde dann das Energiequantum, das auf jener Seite verloren gehen müfste, damit ein entsprechendes Quantum geistiger Energie ent- stehen könnte, durch den abermaligen Umsatz der letzteren in eine neue materielle Energieform wieder eingebracht werden können. Es bliebe sich demnach ganz gleich, ob ein Quantum geistiger Energie sich in den Ablauf der materiellen Prozesse einschöbe oder nicht: das Gresetz der Erhaltung der Energie in seiner bisherigen Auffassung würde nicht verletzt werden."^ Das Anerkennenswerte an diesem Versuche finde ich in dem Bemühen, sich mit der tatsächlichen Erhaltung der physischen Energie im Organismus abzufinden. Wenn die Schwankungen in der Energiebilanz zwischen Leib und Seele kurz und gering wären, so könnten sie sich gewifs unter Umständen der physio- logischen Beobachtung entziehen. Wir müssen aber doch an diesem Orte alle jene Bedenken erneuern, die wir bei der Be- trachtung der Annahme eines Durchbruchs des Erhaltungssatzes anführten. Wie schon erwähnt, verhält sich auch Busse ab- lehnend gegen solche Annahmen und Külpe hat sie in späteren Ausführungen zurücktreten lassen. Es handelt sich in der Tat mn Ausflüchte, um willkürliche Hilfshypothesen. Es ist gar nicht einzusehen, warum eine solche Gleichheit von Energieeinnahmen xmd -ausgaben bestehen sollte. Für das ganze Leben, für lange Zeitstrecken liefse sich eine solche Bilanz noch allenfalls plau- sibel machen. Aber damit ist nichts erreicht; denn die kalori- metrischen Versuche erstrecken sich über begrenzte Zeiten. Und dafs dabei am SchluTs gerade immer sich Ausgaben und Eingaben decken sollten, mufs um so mehr als unwahrscheinlicher Zufall gelten, als, wie oben schon gestreift, das geistige Leben des Tieres im Apparat doch einen einseitigen Verlauf nehmen dürfte.

Wir brauchen die Details der oben angeführten Bedenken nicht zu wiederholen. Die Betrachtungen lassen sich ohne weiteres übertragen. DieAnnahme psychischerEnergien rettet nur dieKonstanz der Summe physischer und psychi- scher Energien. Die Erfahrung zeigt aber eine Gleichheit der Aufnahmen und Abgaben an physi-

^ Einleitang in die Philosophie, 1. Aufl., S. 150 (1895). Es will mir snrzeit nicht gelingen, der 1. Auflage des Buches habhaft zu werden. Ich zitiere also nach Busse a. a. 0. S. 423 und vertraue auf die Zuverlftssigkeit und Genauigkeit der Angaben dieses Autors.

108 ^rich Becher.

scher Energie. Die Erhaltung der physischen Energie wird in den soeben betrachteten Auffassungen nicht einfach an- erkannt ; sie kann nur mit Hilfe unwahrscheinlicher Hypothesen allenfalls in Einklang mit jenen Annahmen über psychische Energien gebracht werden.

Wir können hier nur das oben Gresagte wiederholen; gäbe es keinen anderen Weg, so würde man einen so wenig einladenden vielleicht zu gehen versuchen. Wir wollen jetzt aber uns zu zeigen bemühen, dafs nicht nur auf dem Boden des Parallelis- mus, sondern auch im Gebiete der Wechselwirkungslehre ein gangbarerer Weg zu finden ist.

Wechselwlrknng ohne Änderung der Menge der physischen

Energie.

Zunächst mufs betont werden, dafs durch das Energie- erhaltungsgesetz der Verlauf des physischen Ge- schehens durchaus noch nicht eindeutig bestimmt ist. Bei gegebener materieller Konstellation sind mehrere üm- wandlungsprozesse denkbar, die alle mit dem Erhaltungssatze verträglich sind. An einem besonderen Falle läfst sich diese wichtige Tatsache leicht dartim. Fassen wir ein beliebiges materielles System ins Auge, das sich selbst überlassen einen Umwandlungsprozefs vollzieht, zu Beginn der Umwandlung aber keine kinetische Energie enthält. Die Veränderung wird so ver- laufen, dafs der Erhaltungssatz nicht verletzt wird. Aber dieser Satz würde ebensowenig verletzt werden, wenn die Umwandlung unterbliebe. Denn dann würden alle vor- handenen Energien und damit deren Summe unverändert bleiben. Vielleicht wird dies an einem konkreten Beispiel deutUcher. Zwei Massen mögen sich in einer gewissen Entfernung von- einander in Buhe befinden; sie werden infolge der Gravitation beginnen, sich einander zu nähern. Dabei wandelt sich die Energie der Lage in solche der Bewegung um ; die Summe beider Energieformen bleibt konstant. Aber die Energie bhebe auch erhalten, wenn keine Bewegung sich vollzöge.

Man wird erkennen, dafs sich das Dargelegte mit von Wentschee ausgesprochenen Gedanken berührt, der auch mit Entschiedenheit darauf baut, dafs durch das Ehrhaltungsgesetz

Das Gesetz von fkr Erhaltung der Energie etc, 109

der zeitliche Verlauf eines Umwandlungsprozesses durchaus noch nicht bestimmt ist. ^

Hier ist aber nun zu fragen, ob in unserem Gehirn derartige Konstellationen vorkommen werden, bei denen durch plötzlichen Abbruch jeder Veränderung keine kinetische Energie vernichtet werden würde. Dem Anhänger der mechanischen Naturauf- fassung müssen hier schwere Bedenken sich ergeben. Er sieht im Hirn wie in der ganzen materiellen Welt ein enorm kompli- ziertes Gewirr von Bewegungen der Molekel, Atome oder Elektronen. Da dürften sich wohl kaum Situationen ergeben, bei deren plötz- licher Fixierung nicht kinetische Energie vernichtet werden müTste. Aber möglich bleibt die Annahme, dafs etwa ein schwingendes Atom in dem Augenblicke festgehalten würde durch eine Einwirkung der Seele, in dem es seine Bewegungs- richtung umkehrt, also nur Lageenergie enthält. Doch bleibt die Schwierigkeit der Voraussetzung, dafs geradlinige Schwingungen in einem so komplizierten System vorkommen.

Für den Gegner der mechanischen Hypothesen geht es viel ruhiger im Hirn zu. Dadurch wird die Annahme einer Ein- wirkung ohne Energieänderung weit einfacher. Die kinetische ^Energie hat die fatale Besonderheit, dafs bei ihr Einstellen jeder Veränderung Vernichtung der Energie bedeutet. Bei den anderen Energieformen ist dies nicht der Fall, sobald man die mecha- nisch-kinetische Deutung derselben ablehnt. Nehmen wir irgend- eine ohne Bewegung sich vollziehende chemische Umwandlung als Beispiel.* Wir können den Prozefs in einem beliebigen

* Über physische und psychische Kausalität und das Prinzip des psycho-physischen Parallelismus (Leipzig: 1896), S. 34 f. und S. 47.

' Strenge genommen wird es eine ohne Bewegung sich vollziehende chemische Umwandlung aUerdings wohl kaum geben. Man könnte an die Vereinigung oder Zersetzung von Gasen denken, bei denen keine Volum- ftnderung stattfindet. Aber es werden sich doch in allen Fällen leichte Be- wegungen, Strömungen usw. vollziehen, weil niemals alle Teile der sich umwandelnden Massen unter genau gleichen Bedingungen stehen. Es wird daher während der Umwandlung auch stets ein gewisses Mafs kinetischer Energie vorhanden sein. Denkt man sich nun, wie im Text angedeutet wird, den Prozefs einfach zeitlich ausgedehnt oder verkürzt, komprimiert gleichsam, so wird das allerdings auf die nicht-mechanisch-kinetischen Energien keinen Einflufs haben; aber die Energie der Bewegung ändert sich, weil die Geschwindigkeit der Strömungen bei der Ausdehnung des Prozesses ab-, bei der Verkürzung zunimmt. Daher könne9 wir uns mit

110 Erich Becher.

Momente unterbrechen, wir können ihn zeiüich abgekürzt oder verlängert denken, ohne das Energieerhaltungsgesetz zu verletzen. Erst durch die Hinzunahme der einzelnen, besonderen Natur- gesetze wird der Prozefs eindeutig festgelegt und auch der zeit- liche Verlauf genau bestimmt. Nun sind die zentralen nervösen Prozesse wesentlich chemische Umwandlungen. Man braucht also nur der Seele die Fähigkeit zuzuschreiben, beschleunigend, verzögernd oder gar völligen Stillstand bringend in diese chemi- schen Prozesse einzugreifen. Der Erhaltungssatz wird nicht ver- letzt, sofern nur die etwa vorhandenen Bewegungen im Hirn unverändert bestehen bleiben.

Busse hat solchen Anpassungen an das Energiegesetz gegen- über gemeint, dafs damit recht wenig gewonnen sei. ^ Wenn doch alle anderen dabei in Betracht kommenden Naturgesetze durchbrochen würden, so sei nicht einzusehen, weshalb denn gerade dieses eine Gesetz bestehen bleiben solle. Man kann dem- gegenüber sagen, dafs man durch die Erfahrung gezwungen sei, am Energiegesetze festzuhalten; dagegen hegen über Gültigkeit oder Ungültigkeit der anderen physikaUsch-chemischen Gesetze bei den Vorgängen im Zentralnervensystem keine Erfahrungen vor. Man könnte allerdings darauf hinweisen, dafs sich der Stoffwechsel doch im grofsen und ganzen in den Zellen der Grofshirnrinde ebenso zu vollziehen scheint, wie in den anderen Nervenzellen, und schhefsUch ähnhch, wie in vielen anderen Zellen ; man könnte darin einen Hinweis auf die Lückenlosigkeit des physikahsch-chemischen Kausalzusammenhanges, auf die ge- schlossene Naturkausalität erblicken wollen. Aber es ist unbe- streitbar, dafs die Gültigkeit der beiden grofsen Erhaltungssätze, der Energie- und der Massenerhaltung, für den beseelten Organis- mus weit fester begründet ist als die irgendwelcher anderer

dem Erhaltungssätze harmonierende Einwirkungen der Seele auf den Ab- lauf der chemischen Reaktion etwa nicht einfach als ein zeitliches Aus- dehnen oder Komprimieren vorstellen. Vielmehr müssen wir annehmeni dafs die Seele auch ein Äquivalent der dabei zustande kommenden Ver- minderung oder Vermehrung kinetischer Energie durch ihre Einwirkung hervorbringt, sagen wir etwa in Form von Wärme. Man erkennt, wie überall die hier in Frage stehenden Hypothesen bei genauerer Betrachtung komplizierter werden. Doch durften wir im Text vieUeicht von dieser Komplikation absehen. 1 A. a. O. S. 450.

Das Gesetz von der Erhaltung der Energie etc, m

speziellerer Gesetze. Dagegen liefse sich vom Standpunkte der mechanischen Natoranffassung aus einwenden, dafs das Energie- gesetz eben die Konsequenz besonderer mechanischer Gesetze sei und daher die Gültigkeit dieses Gesetzes sehr unverständlich und zufällig erscheinen müsse, sobald jene Grundgesetze durch- brochen würden.

In der Tat würde im allgemeinen in einem mechanischen System auch die Gültigkeit des Energiegesetzes aufhören, sobald besondere mechanische Gesetze durchbrochen würden. Aber es gibt doch gewisse besondere Möglichkeiten, das Geschehen in einem solchen System sich nicht ge- mäfs jenen Grundgesetzen verlaufend zu denken, ohne dafs der Erhaltungssatz durchbrochen würde. Freilich kann man wieder sagen, es müsse doch merkwürdig zu- gehen, dafs sich die Seele gerade jene besonderen Arten der Ein- wirkung, der Modifikation der mechanischen Gesetze gestatte, bei denen das Erhaltungsgesetz bestehen bleibt. Der möglichen anderen Einwirkungen gibt es unzählig viele; warum bevorzugt die Seele gerade die relativ unendlich kleine Zahl jener be- sonderen Einwirkungen. Man würde damit zugunsten des Parallelis- mus argumentieren.

Doch wollen wir uns zunächst an einem einfachen, oder sagen wir an dem einfachsten möglichen Beispiele klar machen, wie auch beim Vorhandensein kinetischer Energie eine Ein- wirkung stattfinden kann, ohne dafs der Erhaltungssatz durch- brochen wird. Als Beispiel diene ein in reibungslosem Medium mit konstanter Geschwindigkeit sich bewegendes Teilchen. Es ist zu imtersuchen, ob eine Richtungsänderung der Bewegung ohne Energieänderung, ohne Arbeitsleistung mögUch ist. Damit bin ich bei einer vielumstrittenen Frage angelangt.^ Und doch scheint mir eine einwandfreie Antwort sehr leicht möglich.

HÖFLEB hat auf die in Frage stehende Möglichkeit hin- gewiesen. Busse und Ebbii^ghaus ^ betonen dem gegenüber, dafs eine Kichtungsändenmg sich mechanisch als Einführung einer Seitenkraft betrachten lasse. Dagegen ist nichts einzuwenden; aber nach meiner Meinung irrt man, wenn man glaubtj diese

^ Busse a. a. O. S. 444 f. und Klein a. a. O. S. 89 f. Bei diesen Autoren findet man die Literatur über die Diskussion angegeben. * Klein schliefst sich ihnen an. A. a. O. S. 89—90.

112 Erich Becher,

Kraft müsse bei der Bewirkung der Richtungsänderung notwendig Arbeit leisten. Es ist wahr, dafs meist bei einer solchen Rich- tungsänderung Arbeit geleistet wird; aber es gibt Grenzfälle, in denen keine Arbeit erforderlich ist.

Ich werde sofort die Gründe anführen, die mich veranlassen, den auf exakt naturwissenschaftUchem Gebiete wohl bewanderten Forschern an diesem Orte zu widersprechen. Damit eine Arbeit geleistet werde, mufs eine Kraft auf einem Wege wirken, der nicht senkrecht zur Kraft steht. Damit, dafs eine Kraft eine Zeitlang wirkt, einer anderen etwa das Gleichgewicht hält, leistet sie noch keine Arbeit im physikaUschen Sinne. Das behält Busse bei seiner Polemik gegen König nicht immer im Auge. ^ Doch wollen wir diese Polemik beiseite lassen und unser Beispiel be- trachten. Die Seele möge auf das mit konstanter Geschwindig-

keit bewegte Teilchen von einem gewissen Momente ab eine richtungändernde Kraft ausüben, die folgenden Bedingungen ge- nügen soll. Die Kraftrichtung möge stets durch denselben Punkt führen, d. h. es möge eine Zentralkraft die Einwirkung der Seele repräsentieren. Kraft und Bewegung mögen femer in der gleichen Ebene liegen. Drittens möge die Einwirkung einsetzen, wenn das bewegte Teilchen zum Punkte A gelangt ist, wo Bewegungs- und Kraftrichtung einen rechten Winkel bilden. Die Zentral-

TW 'V^

kraft möge eine konstante Gröfse = haben, wo m die Masse

des Teilchens, v seine Geschwindigkeit und r den Abstand ZA bedeutet. Dann resultiert nach einem Satze der Mechanik eine Kreisbewegung, bei der die Bahngeschwindigkeit auf der Peripherie konstant (= v) bleibt. Ist das Teilchen etwa bei B angelangt, so möge die Einwirkung der Seele aufhören, die diese repräsen- tierende Zentralkraft verschwinden. Von B ab würde das Teilchen

* Busse a. a. 0. S. 447.

Das Gesetz von der Erhaltung der Energie etc. 113

wieder auf geradliniger Bahn mit der konstanten Geschwindigkeit V sich fortbewegen. Der Energiegehalt des Teilchens wäre der

alte, nämlich q~i ^"^ di© Bewegungsrichtung ist eine andere

geworden. Aber man kann auch nicht an die Aufnahme oder Abgabe einer verborgenen Energie der Molekularbewegung, an Wärme etwa denken.^ Denn es ist gar keine Arbeit von der Kraft geleistet worden. Die Bewegung erfolgte ja während der Zeit der Einwirkung stets senkrecht zur Eraftrich- tung. Nie fiel eine Komponente des Weges in die Kraftrichtung. Wir haben also in der Tat eine Richtungsänderung, die ohne Energieaufwand zustande gekommen ist.

Es scheint mir nun, daTs dieser Fall mit Hilfe von in der Mechanik übUchen Betrachtungsweisen einer Verallgemeinerung fähig ist. Ich darf aber wohl auf eine Ausführung dieser Ver- allgemeinerung verzichten, weil es sich nur um das Prinzipielle bei der Sache handelt.

Eins aber soll noch einmal betont werden. Die Art der Ein- wirkung, die Bichtungsänderung ohne Energieänderung zur Folge hat, kann zwar auf unendlich verschiedene Arten erfolgen, da bei gegebenem m und v wir r in unserem Beispiel behebig wählen durften und nur nachher eine entsprechende konstante Zentralkraft annehmen mufsten. Ersetzen wir die Ebene der Zeichnung durch den Raum, so sehen wir, dafs sich so noch unendlich viele neue Möghchkeiten darbieten in der Wahl von Z, Z mufs nur in einer gewissen Ebene liegen. Wir können sagen, die Zahl der mögUchen nur die Richtung ändernden Ein- wirkungen ist eine unendliche Gröfse zweiter Ordnung. Dem- gegenüber aber ist die Zahl der überhaupt mögUchen Ein- wirkungen imendUch grofs von noch viel höherer Ordnung. Auf jede möghche Richtungsänderung ohne Energieänderung kommen schon unendhch viele verschiedene Einwirkungen mit Energie- änderung. Es ist kein Grund einzusehen, aus dem die Seele gerade jene relativ so verschwindend seltenen Einwirkungen ohne Energieänderung bevorzugen soll. Hier steht die Wechsel Wirkungshypothese vor einem Rätsel, das sie unbeantwortet läfst. Dieser Schwierigkeit begegnet der Parallelismus nicht. Ich würde ihn also mit grofser Entschieden-

' Worauf sich Bussb König gegenüber beruft. A. a. 0. S. 447. Zeitschrin fax Psychologie 46. 8

114 Erich Becher^

heit vorziehen, wenn er nicht auch bedenkliche Seiten aufwiese. Da mir dies der Fall zu sein scheint, vermeide ich eine un- bedingte Bevorzugung einer der Hypothesen. Rätsel bleiben eben auf beiden Seiten.

Nebenbei mag bemerkt werden, dafs der Vitalismus dem sogenannten Mechanismus gegenüber die gleiche Schwierigkeit aufweist, zu demselben Bedenken Anlafs gibt. Denn der Vitalis- mus hat sich mit dem Energiegesetz in ganz entsprechender Weise auseinanderzusetzen, wie die Wechselwirkungshypoiheee. Wir haben Einwirkungen der Seele auf den Körper ins Auge gefafst, bei denen der sich ergebende physische Vorgang in seiner Eigenart als Resultat des Zn- sammenwirkens physischer und geistiger Ursachen betrachtet werden kann und im Grunde auch betrachtet werden muTs. Es handelt sich also um eine Annahme, die Busse ^ als Doppelursachentheorie verwirft. Die Energie der physi- schen Wirkung stammt allein aus der Energie der physischen Ursache; aber die Besonderheit der physischen Wirkung, etwa die Bewegungsrichtung, ist mitbedingt durch psychische Ursachen. Dadurch unterscheidet sich die Doppelursachenhypothese deut- lich vom Parallelismus was zuweilen bestritten worden ist. Der Parallelist kann auch im Hirn jede physische Wirkung allein als Resultat physischer Ursachen betrachten. Die physischen Vorgänge verlaufen im Hirn genau wie überall in der Anisen- weit. Anders liegt die Sache nach der Doppelursachenhypothese. Die Naturkausalität wird durchbrochen oder umgebogen durch das Mitwirken psychischer Realitäten. Daher verlaufen im Ge- hirn die physischen Vorgänge nicht überall nach denselben Ge- setzen, die sonst die physische Natur beherrschen. Es handelt sich hier also nicht um einen schief ausgedrückten Parallelismus, wie Klein * Stumpf * gegenüber meint. Freilich kommt diese Form der Wechselwirkungshypothese dem Parallelismus recht nahe; aber darin liegt ihre Stärke, wie wir noch andeuten werden.

Mit der Doppelursachenhypothese verbindet sich ungezwungen die DoppeleflEekthypothese. Alle physischen Eausalbeziehungen

^ Busse a. a. 0. S. 428 f. (Es liegt der dritte der Büsssschen Fälle vor.) Auch Klein lehnt solche Hypothesen ab. A. a. O. S. 84. A. a. 0. S. 84. » A. a. 0. S. 11/12.

Das Gesetz v(m der ErhcUtimg der Energie etc. 115

scheinen sich als Wechselwirkungen auffassen zu lassen. Auch geistige Realitäten ändern sich, indem sie wirken. Es ist daher naheliegend, anzunehmen, dafs eine wirkende psychische ReaUtät bei der Wirkung sich ebenfalls ändert, wenn diese sich auf physische Realitäten richtet; d. h. die psychische Realität er- fährt zugleich eine Einwirkung von der physischen Seite her. Wo physische und psychische Realitäten in ihren Wirkungs- sphären zusammentreffen, da vollziehen sich die physischen Vor- gänge anders als überall sonst in der Natur, freilich immer noch gemäfs dem Energieerhaltungsgesetz. Aber auch die psychischen Prozesse erhalten durch die Mitwirkung der physischen erst ihre besondere Richtung in einem beide Reahtäten zusammenfassenden Lebewesen. Der physische Vorgang kommt im Gehirn durch physische und psychische Ursachen zustande. Eine physische Ursache hat aber neben der physischen Wirkung auch eine psychische Wirkung schon dadurch, dafs sie mit einer psychi- schen ReaHtät zusammenwirkend einen physischen Vorgang be- stimmt. So hat die physische Ursache eine physische Wirkung, die dem Energieerhaltungssatze gemäfs ist, daneben aber eine psychische Wirkung; diese zweite Wirkung macht sich auf physischem Gebiete dadurch be- merkbar, dafs die physische Wirkung anders verläuft, als sonst in der Natur, wenn sie gleich dem Erhaltungssatze genügt. Aber auch die psychische Ursache kann zwei Wirkungen haben; eine psychische und eine physische, die in der Modifikation gewisser Naturgesetze besteht, ohne dafs das Energiegesetz durchbrochen zu werden braucht.

So kommen wir zu einer kombinierten Doppelursachen- und Doppeleffekthypothese. Diese hat Stumpf im Auge, wenn er ausführt: „Die psychischen Zustände könnten in der Weise Wirkungen und Ursachen physischer Vorgänge sein, dafs keinerlei auch nur vorübergehende Verminderung und Vermehrung physi- scher Energie mit dieser Wechselwirkung verknüpft wäre. Wir würden sagen: ein bestimmter Nervenprozefs in bestimmter Gregend der Gehirnrinde ist die regelmäfsige Vorbedingung für das Zustandekommen einer bestimmten Empfindimg; diese geht als notwendige Folge neben den physischen Wirkungen aus ihm hervor (soviel zum Unterschied von der Parallelitätstheorie). Aber dieser Teil der Folgen absorbiert keine physische Energie

und kann in seinem Verhältnis zu den Bedingungen nicht durch

8*

116 Ei-ich Becher,

mathematische Begriffe und Gesetze ausgedrückt werden. Des- gleichen kommt ein bestimmter Prozefs in den motorischen Zentren der Rinde zustande nicht durch blofs physiologische Be- dingungen, sondern stets nur unter Mitwirkung eines bestimmten psychischen Zustandes (Affektes, Willens), ohne dafs doch das Quantum physischer Energie durch diesen beeinflufst wird."^

Man hat Stumpf vorgeworfen, er falle hier in den ParaUelis- mus zurück, oder entgehe ihm nur, indem er den Sinn des £[aa- salitätsbegriffes verändere. Stumpf hätte vielleicht mehr betonen sollen, dafs trotz der Energieerhaltung die physische Kausalität durchbrochen werde; die genannten Einwürfe wären dann wohl unausgesprochen geblieben. Ein Nervenprozefs mag eine Emp- findung hervorrufen und zugleich einen weiteren Nervenprozels und zwar im Einklang mit dem Erhaltungssatze. Man wurde von Parallelismus reden dürfen, falls die physische Wirkung sich ganz gemäfs den Naturgesetzen vollzöge. Nach der Doppeleffekt- lehre ist das nicht der Fall; indem der physische Prozefs neben der physischen Wirkung eine psychische auf- weist, fällt der physische Effekt anders aus als unter rein physischen Verhältnissen. Da liegt ein unverkennbarer Unterschied gegen den Parallelis- mus. Und der gleiche Unterschied wiederholt sich bei der doppelten Verursachung, einer Willenshandlung etwa. Ein physi- scher Hirnrindenvorgang würde einen zweiten nervösen Prozefe den Naturgesetzen gemäfs bewirken; der psychische Vorgang kommt hinzu. Nach dem Parallelismus bleibt der physische Effekt der gleiche, durch die Naturgesetze bestimmte. Nach der Doppelursachenhypothese wird der bewirkte physische Vorgang durch die Mitwirkung des Psychischen ein anderer, wobei dann immer noch das Erhaltungsgesetz bestehen bleiben kann.

Hier liegt zweifellos ein Unterschied gegen den Parallelisr mus, eine Form der Wechselwirkungshypothese vor. Mir scheint überdies, die glücklichste Form dieser Hypothese. Sie steht nicht im Widerspruch mit der Energieerhaltung, erkennt deren empirischen Beweis bedingungslos an. Freilich bleibt ein Rätsel, warum die Seele jene merkwürdige Auswahl unter den möglichen Einwirkungen trifft. Aber die Doppelureachen- und Effekthypothese kann ferner so aufgefafst werden, dafs sie mit

* Stumpf: Kongrefsbericht S. 12/13

Das Gesetz von der Erhaltung der Energie etc. 117

dem Parallelismus den Vorteil gern einsam hat, dem engen Verflechtungszusammenhange physischen und psy- chischen Geschehens in seinem ganzen Umfange gerecht zu werden. Andere Formen der Wechselwirkungs- hypothese tim das weniger. Betrachten wir z. B. die Annahme besonderer geistiger Energien. Hat sich eine physische Energie etwa bei der Wahrnehmung in geistige verwandelt, so ist nicht einzusehen, warum nun der Umwandlungsprozefs sich nicht ganz im Gebiete geistiger Energien abspielen sollte, zum Teil wenig- stens der Einwirkung physischen Geschehens entzogen. Die Er- fahrung lehrt eine andere Beziehung. Man denke an die Ein- wirkung der Nervengifte, gewisser Erkrankungen des Zentral- organes usw. Da zeigt sich, dafs alle Arten psychischer Inhalte und Prozßsse von körperlichen Veränderungen getroffen werden, und zwar offenbar direkt, nicht erst indirekt durch Störung „niederer" psychischer Funktionen. Im Gegenteil zeigt sich, dafs gerade die „höheren" Funktionen, die gewisse Formen der Wechsel- wirkungslehre der direkten Einwirkung des Physischen entziehen möchten, dem materiellen Einflufs am stärksten und scheinbar am ersten und direktesten unterliegen. Man braucht nur an die Alkoholwirkungen zu denken: am schärfsten werden zunächst nicht die Sinneswahmehmungen und die äufserlichen Assoziationen betroffen, sondern die Assoziationen nach dem Sinn, feinere Hemmungen, die Aufmerksamkeit, und damit die logischen, ethischen Funktionen usw.

Gewifs würden sich an solche Tatsachen auch andere Formen der Wechselwirkungslehre mehr oder weniger anpassen können; aber die Doppelursachen- und Doppeleffekthypothese wird ihnen am leichtesten gerecht, indem sie jeden psychischen Vorgang neben psychischen auch auf physische Ursachen, und zwar direkt zurückführt. Damit ist sofort die innige Verbindung von Leib und Seele gegeben. So ist es erklärlich, dafs man auch im parallelistischen Lager dieser Form der Wechselwirkungshypothese sympathisch gegenübersteht.

Zum Schlufs soll wenigstens ganz kurz zu der Hypothese Stellung genommen werden, die die Einwirkungen der Seele auf den Körper als Auslösungsprozesse be- trachtet und dabei die Erhaltung der physischen Energie an- erkennt (Rehmke, Wentschbr).

Da ist zugunsten einer solchen Auffassung zu betonen, dafs

118 Erich Becher.

bei allen nervösen Prozessen Auslösungsvorgänge offenbar eine bedeutsame Rolle spielen. Die Einwirkung eines Sinnesreizes auf eine Sinneszelle, die Wirkung eines nervösen Prozesses beim Übergang von einer Nervenzelle auf eine andere, der Übergang einer zentrifugalen nervösen Erregung auf den Muskel, die Drüse, alle diese Vorgänge scheinen ganz oder zum Teil in Auslösungen zu bestehen. Es liegt demnach recht nahe, auch die Einwirkung der Seele auf nervöse Gebilde als Auslösung anzusehen.

Nur scheint mir eine solche Auffassung nicht mit der Erhaltung der physischen Energie verträg- lich, solange man an Auslösungs Vorgänge im strengen Sinne denkt. Was versteht man unter einer Auslösung, zunächst auf rein physischem Gebiete? Folgende Umstände müssen meiner Ansicht nach vorliegen. Zunächst mufs es sich um ein System von einem gewissen (relativ hohen) Gehalte an potentieller Energie handeln, das im stabilen Gleichgewichte sich befindet. Der Grad der Stabilität, wenn man so sagen darf, mufs aber ein relativ niedriger sein, d. h. bei relativ geringer Energieaufnahme in geeigneter Form mufs das Gleichgewicht verloren gehen, die potentielle Energie des Systems in kinetische übergehen. Nach der Auslösung wird also das System aufser der ursprünglich in ihm aufgespeicherten Energie noch jene auslösende Energie auf- genommen haben, so dafs eine Zunahme der Energie während der Auslösung unvermeidlich ist, aus ihrem Begriffe sich ergibt.

Wie ändert sich die Sachlage, wenn das Aus- lösende nicht physische Energie, sondern die Seele ist? Offenbar ist keine wesentliche Änderung zu finden. Damit das stabile Gleichgewicht verloren geht, mufs vorher die Energie des materiellen Systems wachsen. Denn das folgt aus dem Be- griff des stabilen Gleichgewichtes, dafs es nur unter Energieauf- nahme verloren gehen kann. Die Seele mufs also notwendig Energie leisten, um das stabile Gleichgewicht des Systems zu beseitigen, die Auslösung damit zu bewirken. Das System wird also nach der Auslösung mehr Energie ent- halten, als vorher.

Man könnte einwenden, diese Energie möge vielleicht in dem Momente wieder von der Seele absorbiert werden, in welchem die Auslösung gerade vollbracht sei. Aber darin wäre doch ledig- lich eine Ausflucht zu sehen, entsprechend den oben charakteri-

Das Gesetz von der Erhaltung der Energie etc, 119

sierten, die sich auf eine nur zeitweilige, im ganzen aber doch sich ausgleichende Abweichung vom Erhaltungssatze beriefen.

Femer würde man vielleicht meinen, der AuslösungsbegrifF setze nicht notwendig stabiles Gleichgewicht voraus, sondern auch bei labüem Gleichgewicht könne man von Auslösungen sprechen. Nun gibt es aber in der Natur kein labiles Gleich- gewicht, solange man unter Gleichgewicht einen (wenn auch nur für ein kleines Zeitteilchen) dauernden Zustand versteht. Das labile Gleichgewicht in diesem Sinne ist eine mathematisch- mechanische Fiktion. Eben weil ein System im labilen Gleich- gewicht keine Energie erfordern würde zur Auslösung, zur Ein- leitimg der Umwandlung der potentiellen Energie, existiert in der Natur das labile Gleichgewicht nicht als Zustand, sondern nur als Übergangsmoment ohne zeitliche Ausdehnung beim Ver- lorengehen eines stabilen Gleichgewichtes.

Will man aber in diesem zeitlosen Momente die Einwirkung der Seele einsetzen, so darf man diese nicht in einer Auslösung, sondern allein in einem Aufhalten der Umwandlung erblicken wollen. Denn jener Moment geht im rein physischen Geschehen immer schon der weiteren Umwandlung vorauf, so dafs zu dieser keine Einwirkung der Seele erforderlich ist. Wohl aber könnte man sich im Einklang mit dem Erhaltungssatze die Umwand- lung in jenem Momente des labilen Gleichgewichtes (wenn man so sagen darf) durch eine Einwirkung der Seele aufgehalten denken, wenn nicht durch ein solches Aufhalten zugleich Be- wegung vernichtet, kinetische Energie zerstört wird. Man kommt so zu Fällen zurück, wie dem der extremen momentanen Ruhe- lage eines geradlinig oszillierenden Punktes. Diese Fälle aber haben wir schon besprochen. Erwähnt wurde auch, dafs wir uns hier mit gewissen Auffassungen Wentsohebs berühren. Aber es ist gezwungen und nicht übüch, hier auch nur vom Zurück- halten von Auslösungsvorgängen zu sprechen.

Sowohl diese Zeilen zur Auseinandersetzung mit der Aus- lösungshypothese, als die ganzen bisherigen Ausfühnmgen über die Vereinbarkeit der Wechselwirkungshypothese mit der Erhal- tung der physischen Energie setzten voraus, dafs auch im Gehirn die physischen Vorgänge stetig in Raum und Zeit sich vollziehen. WoUte man sich von dieser Voraussetzung lossagen, so wäre es viel leichter, Erhaltungssatz und Wechselwirkung zusammen- zureimen. Nimmt man an, die Seele sei imstande,

120 ^Erich Becher.

ruckweise, ohne stetigen, vermittelnden Übergang physische Zustände in andere überzuführen, so ver- steht sich die Möglichkeit, dafs dies in Harmonie mit dem Erhaltungssatze geschehen könnte, ganz von selbst. Denn es gibt unendlich viele verschiedene Zu- stände komplizierter Systeme, die denselben Energiegehalt auf- weisen. Insbesondere ist es von einem solchen Standpunkte ans auch sehr einfach, sich Auslösungsvorgänge vorzustellen, bei denen die Energie der betreffenden Systeme nicht vermehrt wird. Man kann ja von dem Zustande des zwar stabilen, aber doch relativ leicht störbaren Gleichgewichtes mit einem Sprung zn einem Zustand abnehmender potentieller, steigender kinetischer Energie übergehen; man kann jene Zwischenstufen auslassen, auf denen die Zufuhr auslösender Energie unerläfslich ist.

Zugunsten einer solchen Ansicht könnte man daran erinnern, dafs nach dem WEBEEschen Gesetze die Beziehung zwischen Beizstärke und Empfindungsintensität eine unstetige ist. Um- gekehrt, könnte man sagen, rufe kontinuierlich ablaufendes psychisches Geschehen unstetige Sprünge im physischen Ge- schehen hervor. Demgegenüber ist einzuwenden, dafs einer solchen Argumentation eine Auffassung des WEBEsschen Gesetzes zugrunde liegt, die heute als sehr zweifelhaft erscheinen mnfs. Es scheint, dafs das WEBEBsche Gesetz nicht ein Ausdruck ist für die Beziehung zwischen Hirnrindenprozefs (physischem Korrelat) und Empfindung, sondern rein physiologisch zu deuten ist. Be- trachtet man aber das physische wie das psychische Geschehen für sich, so zeigt sich auf beiden Gebieten kein Anlafs zu der Annahme einer derartigen Unstetigkeit. Die in dieser Beziehung allerdings recht geringen physiologischen Erkenntnisse über die Prozesse in der Hirnrinde, etwa über deren Stoffwechsel, deuten auch in keiner Richtung auf eine so kühne Annahme hin. Diese mufs daher als kaum ernstlich diskutierbar gelten ; wir erwähnten sie nm-, um sie zurückzuweisen.

Schlufs.

Fassen wir das Resultat unserer Ausführungen zusammen 1 Der Erhaltungssatz ist empirisch so weit auch für beseelte Wesen bewiesen, als die experimentelle Technik es zuläfst. Mit dieser Tatsache kann sich die Wechsel Wirkungshypothese in verschiedener

Das Gesetz van der Erhältung der Energie etc. 121

Weise abfinden. Am richtigsten dünkt mir von ihrem Stand- pmikte aus der Weg, die Energieerhaltung für alles physische Geschehen rückhaltslos anzuerkennen. So kommen wir zu einer Doppelursachen- und Doppeleffekthypothese. Diese steht von allen Formen der Wechselwirkungsannahme dem Parallelismus am nächsten, ohne in diesen überzugehen. Aber auch sie hat den Nachteil, zu einer nicht weiter zu begründenden Hilfsan- nahme greifen zu müssen, welche für den Parallelismus fortfällt Diese Hilfshypothese müfste selbst die kühnste Form der Wechsel- wirkungsannahme machen: selbst wenn die Seele ruckweise, un- stetig, physische Systeme verändern könnte, müfste sie dabei die relativ unendlich seltenen Arten der Einwirkung wählen, bei denen die Erhaltung der physischen Energie unangetastet bliebe« Das Energieerhaltungsgesetz spricht im ganzen für den Parallelismus. Besonders wenn man dieses Gesetz mit Helm- HOLTZ als Konsequenz einfacher mechanischer Grundgesetze und der mechanischen Naturauffassung betrachtet, mufs die Gültigkeit bei beseelten Wesen zugunsten der Gültigkeit jener Naturgesetze auch im Gehirn dieser Wesen sehr ins Gewicht fallen. „Die Vorteile des Parallelismus liegen auf der empirischen Seite des Problems . . ." Dieser „steht mit dem Energiegesetz in un- gezwungenem Einklang". Die Wechselwirkungshypothese „läfst sich aber mit dem Energiegesetz nicht so leicht vereinen wie der ParalleHsmus". Diese Ansicht Kleins^ können wir nur an- erkennen; berührt uns doch auch seine Methode überaus an- genehm, sein vorsichtiges Abwägen, sein Verfahren, offen zu lassen, was nicht zu entscheiden ist, und nicht einem im voraus festUegenden System zu Liebe zu wählen. Freilich sind wir bei der Beurteilung der einzelnen Formen der Wechselwirkungs- hypothese oft zu wesentlich anderen Antworten gelangt.

Während des Druckes werde ich darauf aufmerksam, dafs Ebbinghaus soeben auf die oben besprochenen Resultate Rubnebs und Atwatebs hingewiesen hat. (Siehe den Abschnitt Psycho- logie in: Systematische Philosophie, S. 192(1907), aus dem Sammelwerke: Kultur der Gegenwart.) Auf Atwatebs Arbeiten wurde ich bei der Niederschrift dieser Zeilen von befreundeter Seite aufmerksam gemacht, während mir die RuBNEBschen ünter-

" A. a, 0. S. 96.

122 Erich Becher.

Buchungen länger bekannt waren ich verwies auf sie schon in einem früheren Aufsatze. Mein verehrter Lehrer B. Eedhank teilt mir mit, dafs er in einem in nächster Zeit erscheinenden Werke über die wissenschaftlichen Hypothesen über das Ver- hältnis von Leib und Seele auf die Experimente Rubnebs und Atwatebs (dessen Einrichtungen er zu sehen Gelegenheit hatte) ebenfalls hinweisen wird. So darf man hoffen, dafs auch von philosophischer Seite diese Ergebnisse der Physiologie bald die Beobachtung finden werden, die sie verdienen.

Eingegangen am 19. Juni 1907.

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Überblick über die Geschichte und den gegenwärtigen Stand des psycho-physiologischen Problems der Augenbewegung.

Von Dr. B. Hebbebtz.

Die Frage nach den Bewegungen des menschlichen Auges ist an sich eine psycho-physiologische Frage, denn sie beschäftigt sich mit einem Bewegungsvorgang des menschlichen Organismus, zu dem ein psychischer Vorgang, nämlich die Gesichtswahr- nehmung, in gesetzmäfsiger Abhängigkeitsbeziehung steht.

Man ist jedoch an diese Frage sowohl in verschiedenem Zu- sammenhange, als auch von verschiedenen Voraussetzimgen aus herangegangen und demzufolge ist denn auch das Problem in wesentlich verschiedener Weise beantwortet worden. Ein be- stimmter Kreis von Forschem hat nämlich das Problem mehr im Zusammenhange rein physiologischer Untersuchimgen be- handelt, während ein anderer Kreis auf das psychologische Moment grOfseres Gewicht gelegt hat.

Was femer die Verschiedenheit der Voraussetzungen an- betrifft, so ergab sich diese fast von selbst. Die Gesichtswahr- nehmung nämlich, deren Zwecken die Augenbewegung dient, ist eines der Mittel, durch die wir dazu gelangen, in unserem Be- woTstsein ein vorstellungsmäfsiges Abbild der realen Aufsenwelt uns zu verschaffen. Je nachdem, welche Voraussetzungen man nun hinsichtUch des Zustandekommens dieses Abbildes in uns macht, je nach dem erkenntnis-theoretischen Standpunkte also, auf dem man steht, wird man mit anderen und anderen, von vorneherein als gültig vorausgesetzten Vorstellungen an das Problem der Augenbewegung herantreten..

Dieser Umstand aber, dafs unsere Frage ein über den Rahmen

124 -ß- Herbertz.

der physiologischen Psychologie hinausgehendes erkenntnia- theoretisches und damit zuletzt auch allgemein philosophisches Interesse hat, läfst einen Überblick über die Entwicklung unseres Problemes vielleicht auch als im philosophiegeschichtlichen Interesse wünschenswert erscheinen.

Überbhcken wir nun zunächst einmal die Forschungen, die im Zusammenhange mit der Anatomie und Physiologie die Frage der Augenbewegimg , angeschnitten haben, so finden wir deren Ergebnisse hauptsächhch in ophthalmologischen Schriften nieder- gelegt. Dies ist auch ganz natürlich, da ja der Ophthalmologe an dieser Frage vom anatomisch -physiologischen Standpunkte aus das gröfste Interesse hat. Dabei ist diesen Forschern gleich- sam durch die Natur selbst der Gang ihrer Untersuchungen vor- geschrieben. Denn der menschliche Augapfel ist so in die Augen- höhle eingelagert, dafs er keine anderen, als nur Drehbewegungen ausführen kann. Somit richtete sich denn die erste Fragestellung auf das, was bei einer Drehbewegung zu kennen am notwendigsten und wichtigsten ist, d. h. auf den Mittelpunkt dieser Drehungen, den sogenannten Drehpunkt. Über die Lage dieses Drehpunktes wurden die verschiedenartigsten Theorien aufgestellt und es fehlte nicht an Experimenten zu seiner praktischen Bestimmung. Nach- dem dann durch Dondebs und Dojer diese Frage in einer, wie mir scheint, theoretisch wie praktisch einwandfreien Weise ent- schieden worden war, richtete sich die weitere Untersuchung nunmehr auf die Drehung selbst, die das Auge um jenen Dreh* punkt ausführt. Hier ergab nun die Forschung das interessante und wichtige Resultat, dafs die Art der Befestigung des Aug- apfels in der Augenhöhle, sowie die Einrichtung der vorhandenen sechs Hauptaugenbewegungs-Muskeln eine derartige ist, dab Augendrehungen geringer Amplitude um jede beliebige Achse möglich wären.

Aber so fragte man sich weiter führt das Auge alle diese Bewegungen, die ihm zufolge der Art seiner Einlagerung in die Augenhöhle möglich waren, auch wirklich aus? Es zeigt sich, dafs das nicht der FaU ist. Durch eine gewisse Zu- ordnung, durch ein gewisses Aneinandergeknüpftsein der Augen- bewegungen um die verschiedenen Achsen wird nämlich aus der unbegrenzten Anzahl von Bewegungsarten, die nach den ge^ nannten Bedingungen möghch wären, eine begrenzte Anzahl aus- gesondert, die allein wirklich stattfinden kann.

Überblick über die Geschichte und den gegenwärtigen Stand etc. 125

Um erklären zu können, um welche Augenbewegungen es sich hierbei handelt, ist es unvermeidlich, hier einige Benennungen und Definitionen aus der Physiologie und Ophthalmologie kurz einzuschalten. Man möge die physiologische Optik von Helm- HOLTZ (2. Aufl. S. 616 ff.) zum Vergleich heranziehen. Die vertikale, mittlere, den menschlichen Kopf in 2 symmetrische Hälften teilende Ebene heifse Medianebene, ihr parallel laufende Ebenen, die ich mir durch den Kopf gelegt denke, Sagittalschnitte. „Natürliche Stellung" des Kopfes heifse diejenige, welche bei aufrechter Körperhaltung und nach dem Horizont gerichtetem 3hck eingenommen wird.

Horizontale, durch den in natürlicher Stellung befindlichen Kopf gelegte Ebenen heifsen Horizontalschnitte, senkrecht zur Medianebene gelegte Vertikalebenen dagegen Frontalschnitte. Linien, die bei natürlicher Kopf Stellung von rechts nach links durch das Auge laufen, heifsen Transversallinien, solche, die von oben nach unten laufen, Vertikallinien und solche, die von vorn nach hinten laufen, Sagittallinien resp. -Achsen. Eine gerade Linie, die von dem jeweiUgen BUckpunkt (Fixationspunkt) des Auges nach dessen Drehpunkt gezogen ist, heifse Blicklinie. Eine durch die Blicklinien der beiden Augen gelegte Ebene heifst Blickebene; sie hat die Verbindungslinie der Drehpunkte der beiden Augen zur Grundlinie. Die Medianebene des Kopfes schneidet die Blickebene in deren sogenannter Medianlinie. Die Winkel, welche die Blicklinie durch Erhebung über (oder Senkung unter) die Blickebene der natürlichen Stellung mit dieser Ebene bildet, heifsen Erhebungswinkel (bei Senkung negativ zu rechnen). Winkel, die die Blicklinie mit der Medianlinie der Blickebene macht, heifsen Seitenwendungswinkel. Drehungen endhch, die der Augapfel um seine Sagitalachse macht, heifsen Raddrehungen.

Nunmehr kann ich das Gesetz, welches aus der unendlichen Anzahl der nach den Lagerungsverhältnissen des Augapfels mög- lichen (das soll hier heifsen: denkbaren) Bewegungen eine be- grenzte Anzahl aussondert, die allein wirkhch stattfinden kann, folgendermafsen aussprechen: „Wenn die Lage der Blicklinie in Beziehung zum Kopf, also ihr Erhebungs- und Seitenwendungs- winkel gegeben ist, so gehört dazu stets ein bestimmter unver- Änderlicher Wert der Raddrehung".

Dieses Gesetz ist von Donders aufgestellt, von Listing an-

126 Ä- Herhertz.

genommen und durch die Einführung des Begriffes der Primär- stellung erweitert worden. Die Primärstellung des Auges ist da- durch charakterisiert, dafs die von ihr ausgehenden reinen Er- hebungen oder reinen Seitenwendungen keine Raddrehung hei^ vorbringen. Listing behauptete nun, dafs es solche PrimäJ^ Stellungen des Auges gäbe, begründete diese Behauptong theoretisch und verifizierte sie durch das Experiment. Das LiSTiNG-DoNDEBBsche Gcsctz ist nun für die ganze spätere Physio- logie der Augenbewegungen grundlegend gewesen, insofern sich die Hauptentwicklungslinie der modernen physiologisch-ophthal- mologischen Lehre von den Augenbewegungen an es anschliefst. Volkmann konstatierte z. B. , dafs das Gesetz nur streng fär Parallelstellungen der Blicklinien gilt, andere Physiologen rekti- fizierten es ebenfalls oder gestalteten es weiter aus.

Dabei ist es für die ganze weitere Forschung charakteristisch, dafs sich ihr das Problem zuspitzt in die Frage nach einem Prinzip, aus dem der Vorgang der Augenbewegung abgeleitet und verständlich gemacht werden könnte. Diese Fragestellung steht aber auch im Mittelpunkte des Interesses einer Nebenlinie der physiologischen Entwicklungsreihe unseres Problems, einer Nebenlinie, die man etwa als die physiologisch-mechanische be- zeichnen könnte. Diese Nebenlioie geht unabhängig von Listdjo imd DoNDEES vor. Sie betrachtet die Augenbewegung nicht so- wohl unter dem Gesichtspunkte, dafs es sich in ihr um einen physiologischen Prozefs handelt, als vielmehr imter dem Gesichts- punkte, dafs es sich in ihr eben um einen Bewegung s Vorgang handelt. Als Hauptvertreter dieser Nebenlinie sind Fick und WüNDT zu nennen. Sie suchen ihre Theorie der Augenbewegungen auf einem Bewegungsprinzip aufzubauen.

Aus der Physik ist uns der Begriff solcher Bewegungs- prinzipien geläufig. Die Physik beschäftigt sich mit Bewegungen von Massen, die, insoweit sie festen naturgesetzlichen Bedingungen unterliegen, eindeutig bestimmt sind. Es sind also aus- gezeichnete Bewegungen. Nun sind aus der Fülle begrifOich möglicher Bewegungen diejenigen begrifflich ausgezeichnet, die sich unter irgend einem Gesichtspunkt als Maximal- oder Minimal- fälle erweisen. Zufolge der Eindeutigkeit des Naturgeschehens sind aber auch die Bewegungen der Physik solche, die unter einer unendlichen Fülle begrifflich möglicher Fälle von Be- wegungen ausgezeichnet sind. Es ist daher verständlich, dafe

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die physikalischen Bewegungen sich von gewissen Gesichtspunkten aus als Minimalfälle darstellen. Diese Tatsache kommt in Prinzipien, wie dem des kleinsten Zwanges oder Widerstandes, des kleinsten Kraftmafses, der kleinsten Wirkung usw. zum Aus- druck. Um ähnliche Minimalprobleme handelt es sich aber auch bei den physiologischen Bewegungen, hier allerdings aus einem anderen Grunde. Die physiologischen Bewegungen sind deshalb ausgezeichnete Bewegungen, weil sie im Verlaufe der Entwick- lung der Organismen durch Anpassung, Vererbung und Selektion eine gewisse ZweckmäXsigkeit erlangt haben. Die z weckmäfsigen Bewegungen lassen sich aber ebenfalls als Minimalfälle be- trachten, insofern sie nämlich mit einem minimalen Aufwand ihr Ziel erreichen. Es liegt daher nahe, auf Grund solcher Analogiebetrachtungen auch für die physiologischen Bewegungen Prinzipien als mafsgebend anzusehen, wie sie in den physikalischen Minimalproblemen eine Rolle spielen.

Es scheint mir wahrscheinlich zu sein, dafs Wündt von solchen Gedankengängen beeinflufst gewesen ist, wenn er in seiner Schrift: „Über die Bewegungen der Augen" („Archiv für Ophthalmol. VIII. 1862") für die Augenbewegungen das sogenannte Prinzip der kleinsten Muskelanstrengung aufstellte. Er ging dabei von einer Betrachtung der anatomischen Verhältnisse der Augenmuskulatur aus und entwickelte seine Theorie auf Grund folgender Annahmen: Um die Muskelkräfte zu bestimmen, die das Auge in einer gegebenen Ruhestellung erhalten, denen also bei einer Augenbewegung entgegengewirkt werden mufs, hat man die physikalischen Kräfte ausfindig zu machen, die jenen Muskelkräften das Gleichgewicht halten können. Dabei geht man von der Tatsache aus, dafs jeder Muskel jeder Kraft, die ihn zu verlängern oder zu verkürzen trachtet, einen Widerstand in Gestalt einer Reaktionskraft entgegensetzt, die eine Funktion seines Elastizitätsmoduls, seiner Länge und seines Querschnittes ist. Die gleiche äufsere Kraft ruft im gleichen Muskel unter den gleichen Umständen auch immer dieselbe Ausdehnung oder Verkürzung und damit auch dieselben Reaktionskräfte hervor. Die Gesamtsumme dieser in Wirksamkeit tretenden Reaktions- kräfte ist aber im Gleichgewichtsfalle, also dann, wenn das Auge sich in Ruhe befindet, identisch mit der Gesamtsumme der Kräfte, die im Sinne der Ruheerhaltung wirken. Diese ruhe- erhaltenden Kräfte aber gilt es in der Augenbewegung zu über-

128 -B- Berbertz,

winden und psychischerseite äufsert sich diese Überwindung in einem Gefühle der Muskelanstrengung. In den bestimmbaren äufseren Kräften also, die den in der Buhelage im Sinne der Buheerhaltung wirkenden Kräften das Gleichgewicht halten, hat man ein äufseres MaJB für die Intensität der zu einer bestimmten Augenbewegung erforderlichen Muskelanstrengung gefunden. Das Experiment aber ergibt, dafs die Gröfse jener Muskelkräfte gerade die zur Aufrechterhaltung der Buhelage notwendige und hinreichende ist. Das Auge nimmt also nach einer beliebigen Zusammenpressung oder Ausdehnung der Augenmuskeln jeweils gerade diejenige Stellung ein, bei der der Widerstand der Augen- muskeln gegen die pressenden oder dehnenden Kräfte ein Minimum ist. Es wird also zu den Augenmuskeln gerade nur soviel An- strengung hingeschickt, als zur Aufrechterhaltung der Buhe- stellung des Auges notwendig und hinreichend ist Dies ist das Prinzip der geringsten Muskelanstrengung.

Es ist meines Wissens von Wündt allerdings nur als ein sogenanntes statisches Prinzip aufgestellt worden, d. h. als ein solches, das für die Augen Stellung in jeder Drehlage maß- gebend ist. Es scheint jedoch, dafs es unter gleichen Vor- aussetzungen sich mutatis mutandis auch für die Augen be- wegungen im weiteren Sinne, also denen mit Veränderungen der Blickhnie als gültige erweisen wird. Denn hier liegen die Verhältnisse grundsätzlich ja nicht anders.

Ganz allgemein läfst sich also für die Augenbewegungen von den WuNDTschen Voraussetzungen aus annehmen, dafs sie sich nach dem Prinzip der kleiasten Muskelanstrengung voll- ziehen. Dieses Prinzip kann wie gesagt, ein mechanisches ge- nannt werden, denn es sucht die Augenbewegung vor allen Dingen aus der Tatsache heraus zu erklären, dafs es sich in ihr eben um einen Bewegungsvorgang handelt, der als solcher den mechanischen Gesetzmäfsigkeiten unterliegt.

Nun ist aber die Augenbewegung nicht eine Bewegung schlechthin, auch nicht nur eine physiologische Bewegung schlecht- hin, sondern eine physiologische Bewegung zu einem ganz be- stimmten psychologischen Zwecke, nämlich dem der optischen Wahrnehmung. Helmholtz hat daher auch mit Becht betont, dafs, selbst wenn sich das Prinzip der kleinsten Muskelanstrengung oder ein ähnliches mechanisches Prinzip für die Augenbewegungen als vollständig zutreffend erweisen sollte, dennoch das eigentUcfae

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Entscheidende in dieser Frage in einem optischen Prinzip gesucht werden müsse. Auch Aübeet z. B. hebt hervor, dafs gegenüber den Interessen des Sehens, die doch bei den Augen- bewegungen hauptsächlich in Frage kommen, der gröfsere oder geringere Aufwand von Muskelkraft nicht wesentlich sein könne, zumal im Hinblick auf die ohnehin so geringen Kräfte, die zur Bewegung des Augapfels erforderlich sind und auf den gerade bei den Augenmuskeln so geringen Grad von Kontraktion. Mit solchen Überlegungen aber verläfst man offenbar den Zusammen- hang rein physiologischer Untersuchungen und auch physiologisch- mechanischer Untersuchungen zu unserem Problem, und man wendet sich der Fragestellung zu, die den Schwerpunkt der Sache in einem psychologischen Momente sieht.

Eine deutliche Umlegung des Standpunktes der Betrachtung in diesem Sinne ist nun überall da vorhanden, wo man von dem gesuchten Augenbewegungsprinzipe fordert, dafs es die Be- wegungen des Auges in Beziehung setze zu dessen Wahr- nehmungen. Rein physiologische und physiologisch mechanische Untersuchungen fallen zwar für diesen neuen Standpunkt nicht einfach fort, aber es wird ihnen keinesfalls grundsätzlich eine entscheidende Bedeutung eingeräumt. Ausgangspunkt für diese psychologisch fundierte Entwicklungsreihe ist fast überall das von Mbissneb aufgestellte sogenannte Prinzip der Orientierung. Nach LisTD^G-DoNDEBS ist die Baddrehung des Auges in fester Weise abhängig von dem jeweils bestehenden Grad der Erhebung und Seitenwendung der Blicklinie. Hieraus folgt, dafs bei gleicher Richtung dieser Blicklinie sich gleichgelegene Objektteile auch stets auf den gleichen Netzhautmeridianen abbilden. Spreche ich dieses Gesetz aber nicht sowohl als ein rein physiologisches Prinzip aus, als vielmehr als ein solches der optischen Wahr- nehmung, so läTst es sich etwa f olgendermafsen formulieren : Das ganze Auge behält in jeder Stellung stets ein und dieselbe Orientierung zu seinem Gesichtsfelde bei. Dieser Satz aber ist nichts anderes, als das MsissNEBsche Prinzip der Orientierung. Er bahnt jene psychologische Auffassung an, deren Kennzeichen es ist, dafs sie eine Beziehung zwischen der Bewegung und der Wahrnehmung des Auges ausspricht.

Völlig deutlich tritt uns diese psychologische Auffassung jedoch erst bei Helmholtz entgegen. Dieser Forscher hat das MEissKEBsche Prinzip angenommen und in charakteristischer

Zeitschrift ffir Psychologie 46. 9

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Weise erweitert. Meissner hatte hervorgehoben, dafs aus dem LiSTiNGschen Gesetze sich eine stete gleichbleibende Orientierang des Auges zum Gesichtsfeld ergäbe. Helmholtz aber lehrt, dafs diese Art der Orientierung zugleich die leichteste sei, durch die das Auge überhaupt Kenntnis von den Gegenständen er- halten könne. Die Funktionen unseres Organismus erlangen durch Anpassung und Einübung eine gewisse Zweckmäfsigkeit, sie lernen gleichsam, ihr Ziel auf die leichteste Weise zu er- reichen. Daher vollziehen sich die Augenbewegungen nach den genannten Gesetzen, gerade weil auf diese Weise eine Orien- tierung am leichtesten erreicht wird.

AuBEBT glaubt, dafs kaum ein Prinzip ausgesprochen werden könne, das den Interessen des Sehens mehr Rechnung trüge, als das Gesetz der leichtesten Orientierung. Wenn sich dem Auge in einer Ruhestellung gleichzeitig der ganze Inbegriff von Objektbildern darbieten würde, den es in Wirklichkeit erst im Verlauf der Augenbewegungen wahrnimmt, so würde es dadurch trotzdem keine gröfsere Wahrnehmungsfähigkeit er- langen! Das bewegte Auge ist also geradezu als ein ruhendes mit erweitertem Gesichtskreise zu betrachten.

Das Prinzip der leichtesten Orientierung bietet uns nun anch Gelegenheit zur Erläuterung der Eingangs gemachten Bemerkung, dafs nicht nur die Art der Fragestellung, sondern auch die Art der Voraussetzungen der einzelnen Denker sich in charakteristischer und entscheidender Weise in ihrer Behandlung des Augen- bewegungsproblems geltend macht. Und zwar kommen hier vor allem erkenntnistheoretische Voraussetzungen in Betracht. Die Gesichtswahrnehmung liefert uns ein vorstellungsmäfsiges Abbild der realen Aufsenwelt und nach Helmholtz' Theorie über das Zustandekommen der Sinneswahmehmung kann in diesem Ab* bilde und in den seinen Zwecken dienenden Augenbewegungen nichts vorkommen, was nicht durch Erfahrung und zweckmSXsige Einübung gewonnen worden ist. Was hier gewonnen worden ist, das bringt eben das Prinzip der leichtesten Orientierung zum Ausdruck. Es ist also klar, dafs Helmholtz dieses Prinzip von den empiristischen und evolutionistischen Überzeugungen seines erkenntnistheoretischen Standpunktes eingegeben wurde. Dieser Standpunkt, der naturgemäfs sein ganzes Denken beherrscht, macht sich eben hier auf psychologischem Gebiete geltend. Er führt hier zu folgenden Annahmen : Die Augenbewegungen voll-

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ziehen sich nicht, wie der sogenannte Nativismus will, auf Grund eines angeborenen und in anatomischen Einrichtungen beruhenden Zwanges, sondern auf Grund einer durch Anpassung erzeugten und die Bedürfnisse der Wahrnehmung am besten befriedigenden Zweckmäfsigkeit.

Stellen wir aber nun weiter die Frage, worin denn jene Zweckmäfsigkeit und worin jene Bedürfnisse der Wahrnehmung bestehen, so erhalten wir von Hejlmholtz eine Antwort, die wiederum für seine Voraussetzungen überaus charakteristisch ist, und zwar sind es zunächst physiologische und erst weiter- hin auch erkenntnistheoretische Voraussetzungen, die in dieser Antwort zutage treten. Die Augenbewegungen, so sagt er zu- nächst, sind dann am zweckmäfsigsten und sie beMedigen dann die Bedürfnisse des Wahrnehmens am besten, wenn sie ein mög- lichst deutUches Sehen bewerkstelligen. Möglichst deutUches Sehen aber findet dann statt, wenn wir während der Augen- bewegungen den Punkt deutUchsten Sehens in der Zentralgrube des gelben Fleckes, bezüglich das punktförmige Gebiet, das ihm im Sehfelde entspricht (also den Blickpunkt), kontinuierlich über das zu sehende Objekt hin wandern lassen. Es ist also die physiologische Voraussetzung von einem punktförmigen Gebiete deutUchsten Sehens, die hier für Helmholtz* Antwort entscheidend wird, eine Voraussetzung, mit der wir uns später noch weiter auseinander zu setzen haben.

Wenn aber der Blickpunkt beim Sehen tatsächlich in der angenommenen Weise über die Objekte dahin wandern soll, dann ist zunächst ein diese Wanderbewegung auslösender Be- wegungsantrieb erforderlich. Die Augenbewegungen sind daher aus ihren Antrieben, aus ihren Motiven heraus zu erklären und diese Motive beruhen auf einem Streben, auf die angegebene Weise zu einer möglichst deutüchen Wahrnehmung der Objekte zu gelangen. Motive und Willensintentionen spielen also bei Helmholtz für das Zustandekommen der Wahrnehmung und für die Augenbewegung als deren Mittel eine entscheidende Rolle. Auf Willensintentionen beruft er sich im besonderen bei der Beantwortung der Frage : Wie kann während der Bewegung des Auges, wo in jedem Punkte der Netzhaut die Lichteiadrücke fortwährend wechseln, die Anerkenntnis erhalten bleiben, dafs trotz dieses Wechsels aller Lichteindrücke nicht eine Verschiebung

und Veränderung der Objekte, sondern nur eine Bewegung

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132 Ä- Herbertz.

des Auges stattgefunden hat? Physiologisch scheint doch für die Erhaltung jener Anerkenntnis kein Grund vorhanden zu sein. Denn ein Wechsel der Lichteindrücke an einem bestimmten Netzhautpunkte findet doch genau ebensogut statt, wenn das Objekt, wie wenn das Auge sich bewegt.

Um die grundsätzliche Bedeutung, die diese Frage bei Helmholtz hat,* recht würdigen zu können, und um zu zeigen, von welchen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen ich ihn in deren Beantwortung beeinflufst glaube, mufs ich kurz seine Theorie des Zustandekommens der Objekte der Sinneswahrnehmung skizzieren.

Helmholtz betrachtet die Empfindungsqualitäten als bloCse Zeichen einer dahintersteckenden ursächUchen Wirklichkeit. Diese Empfindungsqualitäten setzen sich zu räumlich wahrgenommenen Gegenständen zusammen, deren gemeinsames Kennzeichen es ist, dafs Bewegungen unseres Körpers ihren Eindruck auf uns verändern. Da solche Bewegungen jedoch nur auf Grund motorischer Willensimpulse entstehen, so ist die Baumwahr- nehmung an solche Impulse notwendig geknüpft. Dadurch, dafs die Empfindungsqualitäten sich dem bewegten Sinnesorgan, ins- besondere auch dem bewegten Auge, in einer bestimmten Reihen- folge darbieten, ordnen sie sich räumlich an. Nehmen wir nun ein bestimmtes Individuum in einem bestimmten Zeitmomente, so ist bei diesem für die gleiche Gruppe von Willensimpulsen und damit auch für die gleichen Gruppen von Bewegungen des Sinnesorganes auch die Reihenfolge der nacheinander zum Be- wufstsein gelangenden Empfindungsqualitäten dieselbe. Die Präsentabilien wie Helmholtz es kurz und treffend ausdrückt sind dieselben.

Nun lehrt uns aber die alltägUche Erfahrung, dafs zu anderen Zeiten der Kreis dieser Präsentabilien für uns ein anderer ist

Hierdurch gelangen wir dazu, Empfindungsänderungen, die Folgen unserer Willensimpulse sind, zu scheiden von solchen, die dies nicht sind. Es entsteht das Objekt, das sich dem Subjekt gegenüber geltend macht, oder wie Fichte es ausdrückte das Nichtich erzwingt sich dem Ich gegenüber Anerkennung.

Nunmehr wird es uns klar, dafs die vorhin erwähnte Frage Helmholtz' nach einem Unterscheidungsmerkmal zwischen Augen- bewegung und Objektbewegungen nichts ist, als eine Umbiegung

Überblick über die Geschichte und dm gegenwärtigen Stand etc. 133

ins Physiologische des soeben auseinandergesetzten erkenntnis- theoretischen Baisonnements.

Während der Augenbewegung nämlich haben wir das Be- wuTstsein, daTs die entstehenden Empfindungsänderungen Folgen unserer Willensimpulse sind und dieses Bewufstsein ist eben der Grund dafür, dafs wir anerkennen, unser Auge und nicht das äuTsere Objekt habe sich bewegt Es ist daher im Zusammen- hang von Helmholtz' erkenntnistheoretischen Anschauungen be- greiflich, dafs er das Prinzip der Augenbewegungen von jenen Willensimpulsen diktiert sein läJbt und von einem „Streben^ die Objekte deutlich zu sehen, spricht.

In dieser Auffassung hat sich nun ein grofser Teil der Physiologen wie u. a. Hebing, Dondebs und Aubebt an Helm- HOLTZ angeschlossen.

Es ist jedoch zu bemerken, dafs diese Auffassung psycho- logisch nicht unbedenklich ist. Die Selbstbeobachtung sagt uns nämlich in weitaus den meisten Fällen nichts vom Vorhanden- sem eines solchen Strebens. Nur ausnahmsweise werden unsere Augenbewegungen durch eigentliche Willensimpulse ausgelöst. In weitaus den meisten Fällen tragen sie vielmehr den Charakter reflektorischer Bewegungen, die ausgelöst werden durch Wahr- nehmungsreize im Gebiete des indirekten Sehens.

Um nun dennoch die Theorie von einem Streben nach deutUchster Wahrnehmung als Motiv der Augenbewegung auf- recht erhalten zu können, half man sich mit der Hypothese eines unbewufsten Strebens. Das Unbewufste mufste also auch hier einmal wieder aushelfen, wie in so manchen anderen Fällen, in denen sich psychologische Theoriebildungen als unzu- länglich herausstellten! Es ist jedoch klar, dafs dies mehr eine Ausflucht als eigentlicher Ausweg ist, da ein Streben, das nicht bewufst ist, nichts anderes bedeutet, als ein hölzernes Eisen, als eine contradictio in adjecto. Ein Unbewufstes als Bedingung von Bewufstseinsvorgängen, als Postulat zu jeder mögUchen, mit dem Kausalgesetz vereinbaren Hypothese über bestimmte Be- wufstseinsvorgänge (in welcher Form es m. E. allein psycho- logisch und erkenntnistheoretisch zulässig ist), kommt ja beim »unbewufsten Streben" nicht in Frage.

Eine besondere Form der modernen Apperzeptionstheorie lehrt eine Art Verallgemeinerung der auseinandergesetzten Vor- aussetzungen über die Bedeutung der Willensimpulse, Voraus-

134 -ß. Herberte.

Setzungen, die Helmholtz meines Wissens nur hinsichtlich des Zustandekommens der Raumanschauung durch Augenbewegungen usw. gemacht hat. Jene Apperzeptionstheorie dagegen räumt ganz allgemein dem als AktivitätsbewuTsten gefafsten Willen für das Zustandekommen schon der einfachen aufmerksamen Sinneswahmehmung eine entscheidende Rolle ein. Mir schemt, dafs diese Theorie im allgemeinen den gleichen Bedenken unter- Hegt, wie die Theorie der Willensintention bei der Augenbewegung im besonderen. Ich glaube nicht, dafs sie mit den Aussagen der Selbstbeobachtung in Einklang zu bringen ist.

Im Zusammenhang mit dieser in ihrer Grundlage erkenntnis- theoretischen, in ihrer Ausgestaltimg psychologischen Voraus- setzung über die Bedeutimg der Motive und Willensimpulse für die Augenbewegung steht nun jene oben bereits erwähnte physiologische Annahme von einem punktförmigen Gebiete deutlichsten Sehens.

Helmholtz und mit ihm viele Physiologen und Psychophysio- logen nahmen nämlich an, dafs es ein solches punktförmiges Gebiet deutlichsten Sehens in der Zentralgrube des gelben Fleckes gäbe, und dafs wir, bei dem Streben, deutlich zu sehen, ein Bild des zu beobachtenden Gegenstandes auf diesem Punkte deutlichsten Sehens entwürfen. Bei Gegenständen von einiger Ausdehnung müfsten wir dann deren Teile sukzessive diesen Punkt des gelben Fleckes passieren lassen, so dafs also das eigentliche Sehen stets bei bewegtem, und zwar bei kontinuier- lich bewegtem Auge erfolgen würde.

Diese physiologische Hypothese nun, und die Annahme eines Strebens nach deutlichstem Sehen scheinen sich gegenseitig zu stützen. Wenn nämlich wirklich ein solches Streben jede einzelne Blickbewegung auslöst, so pafst sich dieser Tatsache besser die Vorstellung von einem kontinuierlich wandernden Blickpunkte an, als die einer etwa ruckweisen Bewegung mit ausgedehnteren Blickfeldern. Denn unsere Willensbewegungen pflegen sich vorwiegend mit einer gewissen Kontinuität zu voll- ziehen, während ruckweise Bewegungen sich meist als Reflexe erweisen. Und wenn andererseits die Augenbewegung sich wirk- lich in der Form einer kontinuierUchen, alle kleinsten Teile des Objektes überstreichenden Wanderung des Blickpunktes vollzieht, so liegt es näher, sie sich durch Willensintention ausgelöst zu denken, als durch Reflex. So machen anscheinend die beiden

Überblick über die Geschichte und den gegenwärtigen Stand etc. 135

besprochenen Annahmen einander wechselseitig innerUch wahr- scheinlich. Es ist daher begreiflich, dafs so vielen Forschern die psychologische wie physiologische Unzulänglichkeit einer Theorie entging, die beide Annahmen in sich zu vereinigen sucht.

Auf das Unzulängliche dieser Theorie in psychologischer Hinsicht habe ich bereits oben hingewiesen, indem ich zeigte, dafs sie vor den Aussagen der Selbstbeobachtung nicht stand- hält. Neuere Forschungen haben nun aber auch bewiesen, dafs auch die physiologischen Voraussetzungen dieser Theorie schwerlich zu Recht bestehen. Denn das Gebiet deutlichsten Sehens kann nicht schlechthin als ein im strengen Sinne punkt- förmiges bezeichnet werden; die Augenbewegungen sind daher auch nicht so zu deuten, dafs sie darauf hinzielten, einen „Punkf* deutlichsten Sehens über die Objekte des Gesichtsfeldes hin- wandem zu lassen. Sie vollziehen sich überhaupt nicht in jener vorausgesetzten Form einer kontinuierlichen Wanderung des Blickpunktes. Über alle diese physiologischen Tatsachen kann nach den neueren Untersuchungen kein Zweifel mehr sein.

Alle früheren Untersuchungen gingen darauf aus, ein Gesetz oder ein Prinzip der Augenbewegungen zu finden. Wir sprachen von einem LiSTiNO-DoNDEBSschen Gesetz, von einem Prinzip der kleinsten Muskelanstrengung, der leichtesten Orien- tierung usw. In der Aufstellung dieses Zieles der Forschung war die vorwiegend physiologisch und die vorwiegend psycho- logisch interessierte Forschung einig. Die Verschiedenartigkeit der erzielten Resultate legt nun die Frage nahe, ob nicht für einen Standpunkt, der die physiologische und psychologische Betrachtungsweise miteinander zu verschmelzen sucht also für einen psycho-physiologischen Standpunkt dieses ganze Bestreben, ein Prinzip der Augenbewegung zu finden, sich als ein grund- BätzUch verfehltes oder doch zum mindesten unzweckmäfsiges herausstellt. Dies scheint mir nun in der Tat der Fall zu sein. Ich glaube, dafs die psycho-physiologische Erforschung unseres Problems sich leichter von Irrtümern freihält, die aus der Quelle erkenntnistheoretischer oder physiologischer Voraussetzungen in sie einfiiefsen können, wenn sie nicht sowohl nach einem Gesetze oder allgemeinen Prinzip der Augenbewegung fragt, als vielmehr nach deren Bedeutung für das Zustandekommen der optischen •Wahrnehmungen.

136 -B- Herhertz.

Mir scheint, dafs man von vornherein dem Problem mehr die ihm zukommende psycho-physiologische Fassung gibt und daher grundsätzlich richtiger und zweckm&fsiger verfährt, wenn man, statt nach einem Gesetz oder Prinzip der Augenbewegung, etwa folgendermafsen fragt:

Welche Funktion und Bedeutung haben die Augenbewegungen in dem psycho-physiologischen Prozesse des optischen Wahr- nehmens und Erkennens?''

Auf diese allgemeine Frage nun ist eine bestimmte und klare Antwort möglich geworden, seitdem eine eingehende wissen- schaftliche Untersuchung sich mit einer SpeziaUsierung derselben beschäftigt hat, nämlich mit der Frage der besonderen psycho- physiologischen Funktion der Augenbewegung beim Lesen.

In den Kreis dieser Untersuchungen gehören auch die, welche Erdmann und Dodge in ihrer Schrift: „Psychologische Untersuchungen über das Lesen auf experimenteller Grundlage, Halle 1898" veröffentlicht haben. Es werden hier vor allem zwei für unseren Zusammenhang bedeutsame Tatsachen unzwei- deutig festgestellt:

1. Während wir in unverrückter Kopfhaltung irgend einen bequem verständlichen Text lesen, findet nicht, wie die bisherigen Theorien meist voraussetzten, ein kontinuierliches Wandern des BUckpunktes über die Zeile statt, sondern ein regelmäCsiger Wechsel zwischen Augenbewegung und Buhepause. Deren An- zahl ist in jedem Falle wesentlich geringer als die Anzahl der Buchstaben pro Zeile. Das Lesen erfolgt also insbesondere nicht buchstabierend.

2. Das optische Erkennen, soweit es das Lesen erfordert, findet ausschliefslich während jener Ruhepausen statt, die also im eigentlichen Sinne des Wortes Lese pausen sind, während die Augenbewegungen nur den Zweck und die Funktion haben, den Blick von Fixationspunkt zu Fixationspunkt überzuführen, also treffend als Interf ixationsbewegungen bezeichnet werden können.

Dieses zweite Resultat läfst die ganze Frage der Augen* bewegungen im wesentlich anderem Lichte erscheinen als die bisherigen Theorien. Es stellt eine psycho-physiologische Lösung des Problems dar und enthält somit eine Antwort auf die oben gestellte Frage nach der Funktion und Bedeutung der Augenbewegung für den optischen Wahrnehmungsprozefs, inso-

Überblick über die Geschichte und den gegenwärtigen Stand etc. 137

fem man diese Frage auf das optische Erkennen beim Lesen beschränkt. Man konnte zu diesem Resultate nur dadurch ge- langen, daTs es möglich wurde, die zu einer einzebien Augen- bewegung notwendige Zeit festzustellen. Seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts beschäftigt man sich nun bereits ein- gehender mit dieser Frage nach der Zeit oder der Winkel- geschwindigkeit der einzelnen Augenbewegung, indem man dabei entweder ganz allgemein jede normale Augenbewegung oder insbesondere die Interfixationsbewegung beim Lesen berück- sichtigte.

Bereits Volkmann untersucht in seinem Artikel über das Sehen (aus Wagners Handwörterbuch der Physiologie) die Winkel- geschwindigkeiten der BUckbewegungen von Exkursionen von 1 70 Grad und findet hier Zeiten von etwa 19 69 Tertien (1 Sekunde gleich 60 Tertien). Volkmann verfuhr so , dafs er seine Versuchsperson abwechselnd 2 Stecknadelköpfe fixieren liefs, die in verschiedenen Richtungen und Entfernungen vom Auge aufgesteckt waren. Er prüfte, wie oft die Versuchsperson unter Anwendung möglichst grofser Schnelligkeit den Blick inner- halb Vs Minute zwischen diesen beiden Stecknadelköpfen hin- und herwandem lassen konnte. Durch die gefundene Anzahl mögHcher Hin- und Herbewegungen dividierte er dann die Ge- samtbewegungszeit (Va Minute) und glaubte damit die Zeit für die einzelne Augenbewegung gefunden zu haben.

Das Unzulängliche der VoLKMANNschen Methode, die das Auge durch die Forderung einer, Vs Minute lang fortgesetzten, möglichst schnellen Bewegung in völlig unnormaler Weise in Anspruch nimmt und die überdies in die Augenbewegungszeit die Erkenntniszeit und Reaktionszeit mit hineinzieht, leuchtet ohne weiteres ein.

Brauchbarer schon sind die Zeiten, die der Amerikaner Huet für die Augenbewegung beim Lesen angibt (Psychology und Physiology of Reading. American Journal of Psychology 1900). HuEY brachte eine Schreibvorrichtung am Augapfel selbst an (den DELABARBEschen Augenbecher, verbunden mit einem leichten Aluminiumschreibstift). Diese zeichnete auf eine berufste, um ihre Horizontalachse mit gleichmftfsiger Geschwindigkeit rotierende Kymographentrommel eine Kurve auf. Durch Vergleich mit einer gleichzeitig aufgezeichneten Stimmgabelkurve konnte er dann die Dauer der einzelnen Interfixationsbewegung bestimmen.

138 JB. Herhertz.

HuET glaubt, dafs die Anäethetisierung, die notwendig wurde, um den Augapfel von Druck- und Schmerzempfindungen durch den Augenbecher zu befreien, keinen so grofsen EinfluTs auf die Augenmuskulatur imd die Akkomodationsfähigkeit des Auges habe, dafs dieses nicht nach emiger Gewöhnung an die Versuchs- bedingungen die Interfixationsbewegungen in normaler Weise und in den normalen Zeiten vollziehe. Ich kann mich dieser Ansicht nicht anschliefsen. Insbesondere glaube ich, dafs das Auge eine Belastung, wie sie selbst der leichteste Augenbecher stets notwendig mit sich bringt, nicht verträgt, ohne in dem Gleichgewichtszustande seiner Muskeltension gestört zu werden. Daher erscheinen mir die Versuche nach der sogenannten „Nach- bildermethode" zulänglicher zu sein. Sie sind m. W. zuerst von Lamansky, auf Anregung von Helmholtz und in Helmhoi^tz Laboratorium angestellt worden (vgl. Lamansky : „Über die Winkel- geschwindigkeit der Augenbewegungen" Pflügers Archiv 2, 1869). Das Prinzip dieser Methode läfst sich folgendermafsen forma- Heren: „Wenn das Auge während eiuer Bewegung der Reizung durch intermittierendes Licht ausgesetzt ist, so wird die Zahl der hierbei gesehenen Nachbilder von der Zeit abhängen, in der die einzelnen Lichtreize nacheinander folgen, sowie von der Ge- schwindigkeit, mit welcher das Auge seinen Weg zurücklegt.**

Eine gleichmäfsig rotierende Pappscheibe mit schmal^i, gleich breiten und gleich weit voneinander entfernten Einschnitten, hinter der sich eine intensive Lichtquelle befand, ermögUchte es nun, eine bestimmte Anzahl Lichtblitze pro Zeiteinheit, also ein bestimmtes Intervall der Aufeinanderfolge der Lichtreizeindrücke herzustellen, die das Auge treffen, während es sich (unterdessen sich die Scheibe dreht) vom Scheibenmittelpunkt zu einem rechts davon gelegenen zweiten Fixationspunkt hinbewegt Durch Selbst- beobachtung kann die Versuchsperson die Anzahl der hierdurch hervorgerufenen Nachbilder feststellen. Damit ist aber nach dem obenangefübrten Prinzip das Mittel gegeben, um die 2ieitdauer der Augenbewegung zu messen. Lamansky fand nach dieser Methode wesentlich geringere Zeiten als Hüey. Später benutzte dann Dodoe die gleiche Methode mit Erfolg, unter Anwendung einer technisch vervollkommneten Apparateinrichtung. Alle ge- nannten Methoden aber scheinen mir an Einfachheit, Objektivität und Genauigkeit der Resultate zurückzustehen hinter der neuer- dings immer mehr in Anwendung gelangenden sogenannten photo-

Überblick über die Geschichte und den gegenwärtigen Stand etc. 139

graphischen Registriermethode. Das Prinzip dieser Methode ist folgendes : Ein auf die Cornea des Auges projizierter Lichtstrahl wird auf eine genau gleichmäfsig fallende, stark lichtempfind- liche photographische Platte reflektiert. Hierdurch entstehen auf der Platte Kurven, die durch Vergleich mit einer gleichzeitig aufgezeichneten Stimmgabelkurve die Dauer der Augenbewegungen erkennen lassen.

Nachdem schon im Jahre 1901 Dodgb und Clike dieses Ver- fahren angewandt hatten, ist es in jüngster Zeit wieder von dem Amerikaner Deakborn benutzt und in bemerkenswerter Weise vervollkommnet wurden (vgl. die Schrift: „The Psychology of Reading^ Columbia University Contributions to Philosophy and Psychology, Vol. XIV, Nr. 1, die in Bd. 45, Heft 1/2, S. 145ff. dieser Zeitschrift besprochen worden ist). Die von Deabboen auf- genommenen Photographien der Interfixations- Augenbewegungen beim Lesen geben ein überaus klares Gesamtbild des ganzen Vorgangs und lassen insbesondere die Zeiten bis auf hunderstel Sekunden ziemUch genau erkennen.

AUes in allem kann gesagt werden, dafs die Versuche zur Feststellung der Zeit der einzelnen Augenbewegung, soweit sie einigermafsen theoretisch imd technisch einwandfrei sind, in dem Resultate übereinstimmen, dafs die Dauer der einzelnen Augen- bewegung durchschnittlich mit ca 0,02 Sekunden oder etwas darunter angenommen werden kann.

Dieses Resultat ist nun auch bei den ERDMANN-DonaEschen Untersuchungen zugrunde gelegt worden. Seine Gewinnung war die conditio sine qua non für die Möglichkeit, dem Problem der Augenbewegung jene ihm gebührende psychologische Vertiefung geben zu können, die in der Frage zum Ausdruck kommt:

„Erkennen wir nur während der Ruhepausen oder auch während der Augenbewegungen beim Lesen die Schriftzeichen soweit deutlich, als dies das Lesen erfordert?'^

Eine Beantwortung dieser Frage erreicht man nun auf Grund folgender Untersuchung: Welches sind bei der so kurzen Dauer der einzelnen Augenbewegung von nur 0,02 Sekunden und bei dem dadurch bedingten schnellen Wechsel der optischen Reiz- lagen, die Bewufstseinswirkungen dieser Augenbewegung?

Der Wechsel der Reizlagen ist beim Lesen gegeben durch das Vorbeiziehen am Auge der schwarzen Buchstabenstriche, die durch weifse Literstitien unterbrochen werden.

140 -B- Serhertz.

Bekannte Versuche Platbaus mit rotierenden schwarz- weiTeen Ej*eiBScheiben hatte ergeben, dafs schon bei einem GOmaligen Wechsel schwarzer und weifser Scheibensektoren in der Sekunde für die Wahrnehmung eine Unterscheidung der einzebien Sektoren nicht mehr möghch ist, sondern ein gleichförmiges Grau eintritt

Die Geschwindigkeit der Augenbewegungen beim Lesen ist aber eine solche, dafs ihr ein noch etwa 20 mal so häufiger Schwarzweifswechsel in der Sekunde entsprechen würde. Es ist also völlig ausgeschlossen, dafs während der Augenbewegung ein Erkennen des einzelnen Buchstabenstriches oder weilsen Inter- stitiums erfolgt.

Dieses Ergebnis wurde übrigens experimentell nachgepröft und bestätigt, dadurch, dafs man die Bewegung vom Auge auf den Text übertrug. Wenn man bei ruhender Fixationslage eine auf einer Kymographentrommel aufgeklebte Textzeile mit d^ Geschwindigkeit der Augenbewegung am ruhenden Auge vorbei- passieren läfst, so zeigt sich, dafs das Lesen völlig ausgeschlossen ist. Auch dieser Versuch mit objektiv transformierter Bedingung beweist also, dafs die Geschwindigkeit der Augenbewegung es ausschüefst, dafs während ihres Verlaufes ein Erkennen der Schriftzeichen stattfindet soweit es das Lesen erfordert.

Diese Bewegungen haben also beim Lesen keine eigentlich psychische Funktion, sondern nur den Zweck, das Auge von Fixationspunkt zu Fixationspunkt überzuführen. Es ist also da- mit bewiesen, dafs sie nichts anderes als „Interfixationsbewegungen** sind, während die Ruhepausen im strengen Sinne des Wortes „Lesepausen'' sind, da sich nur während ihrer Dauer das eigent- liche Lesen vollzieht.

Es ist nun aber die Frage nach der Funktion der Augen- bewegungen beim Lesen nichts als eine Spezialisierung der all- gemeineren Frage nach der Funktion der Augenbewegung beim optischen Erkennen überhaupt. Die gewonnenen Resultate lassen sich also verallgemeinem. Theoretisch ist kein Grund vor- handen, die sogenannten normalen Augenbewegungen beim ge- wöhnlichen Sehen nach Art, Funktion und psycho-physiologischer Bedeutung von den Literfixationsbewegungen beim Lesen zu unterscheiden. Praktische Nachprüfungen haben überdies be- stätigt, dafs hier ein wesentlicher Unterschied nicht besteht.

Hiermit glaube ich den Punkt hervorgehoben zu haben, in den die Geschichte des Augenbewegungsproblems ausgelaufen

Überblick über die Geschichte und den gegenwärtigen Stand etc. 141

ist und der somit den gegenwärtigen Stand dieses Problems kennzeichnet, insofern man es vom psycho-physiologischen Stand- punkte aus betrachtet.

Noch Hebing hatte die früher fast allgemein angenommene Ansicht über die psycho-physiologische Funktion der Augen- bewegungen in die Worte zusammengefafst: „Das Sehen mit unbewegtem Auge ist im Grunde ein unnatürlicher Zustand, den wir unseren Augen nur zum Zwecke wissenschaftlicher Unter- suchungen abnötigen. So oft wir wirklich sehen, bewegen wir auch fast immer die Augen. ^

Nach dem heutigen Stande der Forschung über diese Frage könnte man den Sinn jener Worte geradezu umkehren und sagen: ^Das Sehen mit bewegtem Auge kommt für das optische Er- kennen kaum in Betracht; so oft wir wirklich sehend erkennen, pflegt das Auge immer stillzustehen.^

(Eingegangen am 29, Juni 1907,)

142

Literaturbericht.

G.-H. LüQüET. Mief gteirales de pgyehologle. Paris, Alcan. 1906. 288 8.

Verf. behandelt im vorliegenden Werke nicht die einzelnen seeliacfaen Funktionen nacheinander, wie dies in den meisten Lehrbflchern der Psycho- logie geschieht, sondern er Überblickt das ganze Seelenleben nach groDs- zügigen Gesichtspunkten, indem bei der Behandlung jedes neuen Ge- sichtspunktes — wenigstens in den letzten vier Kapiteln jede einzehie seelische Funktion ihren Charakter bekennend eine entsprechende Beisteaer liefern mufs. Auf diese Weise führt er uns tiefer in das Wesen des seeli- schen Mechanismus ein. Noch einen anderen Vorteil hat diese Methode, dafs nftmlich unter der Direktive solcher Gesichtspunkte manche seelische Tatsache aufgespürt wird, welche den Psychologen noch nicht zum Be- wufstsein gekommen war und sonst noch längere Zeit dem Zufall der Ent- deckung harrend verborgen geblieben wäre.

Verf. identifiziert psychisches Phänomen mit Bewufstseinszustand. Und er sucht nun das unbestimmte Gefühl, welches mit dem Bewafstsein verknüpft ist, durch eine Reihe sukzessiver Approximationen allmählich zu klaren. In diesem Sinne werden folgende Themata nacheinander be- handelt :

Das Ich und die Dauer. Be wufstsein ist die Erkenntnis des Ich durch den aktuellen Zustand. Das Ich besteht in der Verschmelzung gegenwärtiger und zukünftiger Zustände. Das ganze vergangene Leben eines Menschen und auch ein Teil seines zukünftigen ist präsent in jedem präsenten Bewufstseinszustand. Die Dauer des Seelenlebens besteht in der ununterbrochenen Verschmelzung von Identität und Wechsel.

Bezüglich der Klassifikation der seelischen Phänomene sucht Verf. Verbesserungen beizubringen. Er unterscheidet zwei Klassen: erstens die einfachen Feststellungen des Gegebenen, zweitens Tendenzen, welche darauf ausgehen, den gegenwärtigen Zustand zu verlängern oder ihm ein Ende zu bereiten. Die Feststellungen sind teils nach aufsen ge- richtet als repräsentative Phänomene (Intelligenz), teils nach innen auf das Subjekt gerichtet als affektive Phänomene (Sensibilität). Z. B. : Die Kennt- nisnahme einer Freude unterrichtet mich nur über meinen eigenen Zu- stand, nicht über die äufsere Ursache der Freude. Eine Untereinteilnng liefse sich je nach dem Be wufstsein sgrade aufstellen: faits ^lömentaires^ faits spontanes, faits ^labor^s. Ihr entsprechend hätten wir innerhalb der Sensibilität Vergnügen und Schmerz, die Emotionen, die Gefühle und Leidenschaften ; innerhalb der Aktivität die Reflexe, die Instinkte, Inklina>

Literaturbericht 143

tionen und Gewohnheiten, die Wollungen. Für das Intellektuelle dürfte diese Einteilung nicht genügen. Verf. schlägt daher eine andere vor. Er unterscheidet: erstens die sensitiven Zustände Empfindung und Wahr- nehmung als primäre, Gedächtnis und Phantasie als sekundäre, zweitens die Aufmerksamkeit, drittens Abstraktion, Verallgemeinerung, urteil und Überlegung, viertens die Vernunft als aufserempirische Operation.

Reflexion und Introspektion vervollständigen das spontane Be- wuistsein, welches sich nicht weiter über seine Erfahrungen verbreitet. Das reflektorische Bewufstsein hat als Ziel die wissenschaftliche Erkenntnis der Seele, es bildet die Reflexion über das spontane Bewufstsein. Die Introspektion verhält sich zur Reflexion wie die Kunst zum Wissen. Sie yerl&fst den objektiven Standpunkt der Betrachtung und subjektiviert die seelischen Erscheinungen, fast wie das Traumbewufstsein dies tut. Die Reflexion geht analytisch zu Werke, sie zerlegt das Seelische und teilt es ein. Die Introspektion dagegen arbeitet synthetisch, sie sucht Beziehungen zwischen den genannten Einzelheiten. Beide ergänzen einander.

Die Wertung der Dauer. Identifizierung gibt es nur in der Logik, aber nicht in der Psychologie. Denn unser Bewufstsein bewahrt von einer psychischen Realität vornehmlich nur gröbere Elemente. Wohl aber herrscht innerhalb unseres Bewufstseins völlige Kontinuität : Jedes von auDsen heran- dringende Element, sei es auch ein Blitz aus heiterem Himmel, modifiziert nur den seelischen Gesamtzustand. Ähnlich verhält es sich mit den Be- wufstseinszuständen, welche uns das Bewufstsein selbst vergegenwärtigen. Denn im inneren Leben vermischen sich nach W. James fortgesetzt Rela- tionsgefühle und Tendenzgefühle. Bei zwei aufeinander folgenden Bewufst- seinszuständen bleibt entweder das hervorspringende Element dasselbe, während die übrigen sich verändern, oder das erstere ist verschieden, während die letzteren beinahe identisch sind.

Die Solidarität im Seelenleben. Jeder Zustand des Bewufst- seins bildet zugleich eine Einheit und eine Vielheit. Verf. nennt dies Solidarität. Er weifs ihr Bestehen zunächst für die drei grofsen Klassen seelischer Phänomene nach, für Aktivität, Sensibilität und Intelligenz, so- dann für Teilphänomene aus diesen Gruppen. Er zeigt, wie das eine in dem anderen gegenwärtig ist.

Die Kontinuität der seelischen Operationen. Das Bestehen der Solidarität ist an das Bestehen der Kontinuität gebunden, nämlich an die Tatsache, dafs zwischen den Phänomenen der Aktivität und Sensibilität und den einzelnen Phänomenen der InteUigenz ein Unterschied nur dem Grade, nicht der Natur nach besteht.

Als ein besonders wichtiger Abschnitt erscheint Ref. der über die Selektion des Bewufstseins. Denn in ihr liegt der fundamentale Charakter des Seelischen begründet, auf welchen Solidarität und Kontinuität zurück- zuführen sind. Beim Tiere richtet der Instinkt die Aufmerksamkeit des- selben von vornherein auf bestimmte Objekte mit Ausschlufs der übrigen. Anders beim Menschen. Dies zeigt zunächst eine Betrachtung seines ästhetischen, moralischen und wissenschaftlichen Verhaltens. Von zwei Künstlern, welche dieselbe Landschaft darstellen, fafst sie der eine von

144 LiUraturbericht

diesem, der andere von jenem Gesichtspankte auf. Aach der Wille ist zum grofsen Teile Selektion. Eine Entscheidung treffen, eine Aktion wollen helTst Dank des ideo- motorischen Charakters der Vorstellungen nichts anderes, als seine Aufmerksamkeit fest auf die entsprechenden Vorstellungen richten. Für gewöhnliche Umstände vollzieht sich diese Wahl mehr auto- matisch. In ungewöhnlichen oder besonders wichtigen Fftllen dagegen tritt das W&hlen zwischen zwei entgegengesetzten Arten des Verhaltens fühlbar hervor. Auch der Forscher wählt. Und zwar wählt er unter den sich ihm jeweilig darbietenden Tatsachen nur diejenigen aus, welche sich unter ein Gesetz bringen lassen. Bei der Deduktion aber kommt es darauf an, die Mittelglieder zu finden. Und auch hierzu ist eine Wahl nötig. Denn das Mittelglied mufs in jedem Falle so beschaffen sein, dafs mit Hilfe des- selben eine Annäherung der allgemeinen Idee an die partielle stattfinden kann. Bei der Phantasie besteht die Rolle, welche der Selektion zufiLllt, nicht allein in der Wahl der dem Wesen des Wählenden entsprechenden sensiblen und intellektuellen Bilder, sondern auch in der Wahl der die- selben zu einheitlichen Ganzen gestaltenden Ideen. Auch bei der Erinne- rung besteht eine gewisse Wahl, welche sich beim Vergessen besonders offenbart, je nachdem nämlich eine Vorstellung sogleich der Vergessenheit anheimfällt oder erst nach einer bestimmten Zeit. Im allgemeinen kann eine Erinnerung nur dank der Hemmung anderer Erinnerungen stattfinden. Zwei verschiedene Individuen entsinnen sich derselben Sache auf ver- schiedene Weise. Die Art des Vergessens entspricht dem individuellen Charakter eines Jeden. Gedächtnis und Phantasie sind auch vom Tempera- ment des Einzelnen abhängig. Da innerhalb des Psychischen von einem Punkte nach allen Bichtungen Assoziationsfäden gehen, so sind die zu- stande kommenden Assoziationen ebenfalls auf die getroffene Wahl ange- wiesen. Ganz besonders selektorisch wirken in dieser Beziehung die affektiven Zustände. Diese Selektion erstreckt sich sogar bis auf die feineren ästhetischen und intellektuellen Gefühle. Bei jedem Perzipieren äufserer Situationen und Ereignisse ist ebenfalls Selektion im Spiel, ja schon beim Perzipieren der Sinneseindrttcke, sofern die Sinne aus der un- endlichen Zahl der in der Aufsenwelt bestehenden Vibrationen, welche auf sie einstürmen, nur bestimmte aufnehmen. Der selektorische Charakter der Aufmerksamkeit erhellt ohne weiteres. Unser ganzes Seelenleben ist beständige Selektion.

Das letzte Kapitel, betitelt „Das praktische Interesse**, betrachtet das Seelenleben vom Gesichtspunkte der Finalität. Es schildert das Hinein- ragen der einzelnen psychischen Funktionen in die Praxis des Lebens. Eine Fülle anregender Gedanken gelangt auch hier zur Darlegung.

LüQüET zeigt sich in dem vorliegenden Werke um den Gresamtein- druck kurz zusammenzufassen als grofser Künstler auf dem Gebiete der synthetischen Psychologie. Giesslbb (Erfurt).

Eine Bkandlnaviscbe Zeitschrift fllr Psychologie, betitelt „PMyke" ist im Herbst 1906 begründet worden, und wird in zwanglos erscheinenden Heftoi, berechnet auf ca. 6 jährlich publiziert. Herausgeber ist der auch in Deutsch- land als Physiolog und Psycholog bekannte Sidnbt Albutz in Upsala.

Literaturbericht 146

Als Mitarbeiter in den nordischen Ländern werden genannt, für Dänemark Ha&ald Höfvdiko, für Norwegen Moüblt Vold, für Finnland Abvid Gbotev- FELT. Die Völker, denen jede der 3 skandinavischen Sprachen : schwedisch, norwegisch und dänisch geläufig ist zusammen ein Sprachgebiet, das ca. 12 Mill. Menschen umfafst , hatten bisher kein eignes psychologisches Organ. „Fsyke'' will einem unzweifelhaft bestehenden Bedürfnis hierfür entgegenkommen und stellt in Aussicht alle Untersuchungen aufzunehmen, die Gegenstände behandeln, welche in das Gebiet der Psychologie gehören. In erster Linie kommt dabei allgemeine und eigentliche Psychologie (Sinnes- Psychologie, die Psychologie des Gedanken-, Gefühls- und Willenslebens) in Betracht. Besonders sollen berücksichtigt werden : die Erscheinungen der Individualpsychologie , der pathologischen Psychologie, das Studium des „unterbewufsten" oder halbbewufsten Seelenlebens, der hypnotischen Vor- gänge u. dgl. Aber auch die Psychologie in spezieller Anwendung auf andere Forschungsgebiete wird in der Zeitschrift behandelt werden : Religions-, Kriminal-, Sprach-, Kunst- und Literaturpsychologie. Untersuchungen über Kinder- und Tierpsychologie sollen gleichfalls Aufnahme finden.

Die Zeitschrift verfolgt wissenschaftliche Zwecke. Nur erscheint es geboten, angesichts der relativ geringen Anzahl psychologisch vorgebildeter .Leser im Norden, dafs die Darstellung sich nicht von dem „Allgemein- verständlichen'' allzusehr entfernt. Auch die in Aussicht gestellte und schon z. T. stattgefundene Erörterung gewisser hypnotischer und unter- bewttfster Zustände führt zu gelegentlicher Abschweifung in ein Gebiet des Seelenlebens, an das mit dem streng kritischen Mafsstab zum Teil nicht leicht heranzukommen ist. Jedoch herrscht auch bei Behandlung der- artiger Stoffe der Gesichtspunkt des rein wissenschaftlichen Interesses vor. Wenn etwas für die psychologische Forschung Beachtenswertes in der „Psyke^ dargeboten wird, soll in der Zeitschrift für Psychologie darüber kurz referiert werden. Aall (Halle).

F. Habrwitz. Adrefobnch der deutschen Präsislonmieclianik und Optik und

verwandter Berufszweige (Glasinstrumentenindustrie, Elektromechanik).

3. vollständig neu bearbeitete Auflage. Berlin, F. u. M. Harrwitz, 1906

376 S. Preis 8 Mk.

Dieses Adrefsbuch dürfte für viele wissenschaftliche Institute ein sehr nützlicher Besitz sein. Es ist zweckmäfsig in folgender Weise ein- geteilt: Zuerst sind in alphabetischer Folge die einzelnen Firmen mit ge- nauer Adresse und unter Angabe der von den Firmen selbst namhaft ge- machten Spezialitäten aufgeführt. Dann folgt ein ebenfalls alphabetisches Begister der einzelnen Orte mit Angabe der dort wohnenden Optiker, Mechaniker usw. und zum Schlüsse eine besonders nützliche Zusammen- stellung vieler in das Gebiet fallender Apparate, Instrumente, Apparatteile und Substanzen mit Angabe der Bezugsquellen. Obgleich hier schon viel geboten wird, dürfte bei einer folgenden Auflage durch weitere Durch- arbeitung gerade dieses dritten Teiles den Interessen der Forscher und der Institute besonders gedient werden. W. A. Naqel (Berlin).

Zeitschrift fOr Psychologie 46. 10

146 Literaturbericht.

J. RiCH. Ewald nnd G. A. JIdkbholii. Aich ille GerllUClie gebei, V«il ll6 litenimert weraei, IitermittoutSie. Ff lügers Areh. f. d. ges. FkywioL 115, 566—663. 1906. Während man bisher nur Intermittenztöne kannte, die durch regel- mftfsig periodische Unterbrechun^n von TOnen zustande kamen, führen Ewald und Jädsbholm den Nachweis, daXs auch entsprechende Intermissionen von Geräuschen ünterbrechungstOne ergeben. Die Greräusche wurden in einem gesonderten Zimmer erzeugt und zwar so, daTs sie von deutlich heraushörbaren Tönen frei, also von möglichst rein geräuschartigem Ghar rakter waren. Sie wurden direkt auf der Platte eines Aufnahmetelephona hervorgebracht und auf ein zweites Telephon übertragen. Die beide Tele- phone verbindende Leitung liefs sich unter Anwendung einer elektrisch erregten Stimmgabel 100- resp. 128 mal in der Sekunde unterbrechen, in welchem Falle stets ein Unterbrechungston von 100 bzw. 128 Schwingungen gehört wurde. Es wurde besonders darauf geachtet, daCs diese Töne nur durch die Intermissionen und nicht etwa durch die Gabel hervorgerufen wurden. Die Untersuchung ist wertvoll wegen ihres tatsächlichen Ergeb- nisses, obwohl dasselbe einen mit dem Wesen der Geräusche einerseits und mit den ünterbrechungstönen andererseits Vertrauten kaum überraschen dürfte. Wenn aber die Autoren ihre Versuche als Beweismaterial gegen die HsLMHOLTZsche Besonanzhypothese und für die EwALDSche Schallbilder- theorie betrachten, so ist diese Konsequenz verfehlt, zum mindesten stark verfrüht. Denn es ist der unerläfslichen Forderung nicht genügt worden, zunächst die Natur der Geräuschunterbrechungstöne aufzuklären. In dieser Hinsicht liegen drei Möglichkeiten a priori vor: 1. Die Ewald -Jädekholm- Bchen ünterbrechungstöne entstehen lediglich physikalisch in der Telephon- membran. 2. Sie kommen rein en totisch zustande. 3. Sie sind, wie ge- wisse Kombinationstöne, zugleich objektiv - physikalischen und subjektiv- physiologischen Ursprungs. Im ersten Falle würden sie natürlich der HzLXHOLTzschen Hypothese keine Schwierigkeiten bieten, wohl aber ein Argument gegen die Schallbildertheorie bilden, da dieser zufolge Unterbrechungstöne in der Basilarmembran entstehen müfsten. Fall 2 und 3 würden gegen Helmholtz und für Ewald sprechen. Da nun Ewald und Jäderholm ihre Untersuchung sozusagen da abgebrochen haben, wo ihre Wichtigkeit beginnt, so läTst sie sich vorläufig für die Theorie des Hörens überhaupt nach keiner Bichtung verwerten. DaTs übrigens eine Fortsetzung derselben die rein physikalische Entstehung der fraglichen Töne im Telephon zugunsten der Resonanzhypothese ergeben würde, scheint dem Ref. nach seinen vielfachen Erfahrungen über Membranklftnge mehr als wahrscheinlich. Schabfbr (Berlin).

Anka Wtczolkowska. k study of GertaiB Phenomeut eoncerilftg the Ltaiüt «f Beats. Psychol Remeto IZ (6), 378-387. 1906. Verf. will die Abweichungen in den Angaben verschiedener Beob- achter über die obere Grenze von Schwebungen dadurch erklären, dafs manche Beobachter nur zählbare Schwebungen in Betracht gezogen haben, manche auch unzählbare deutliche Intermittenzen, andere blofse Rauhigkeit,

Literaturbericht 147

ohne Bflcksicht darauf, was eigentlich als rauh zu betrachten sei, noch andere anch Schwankungen wie Glockenlftuten, die manchmal zu hören sind. Max Mbybb (Columbia, Missouri).

8. AiAUTz. In Apparat fVr UndenSkniBg af Smlrtsiiuiet (Ein Apparat zur Untersuchung des Schmerzsinnes.) Psyke 2 (2), 95—98. 1907.

Bei diesem von A. konstruierten, beim Prazisionsmechaniker Robb in Upsala verkAuflichen Algesimeter ist das obere Ende der Nadel an einer feinen Spiralfeder befestigt» die ausgezogen wird, wenn die Nadel auf die Haut appliziert wird.

Die Ansetzung der Nadel in den verschiedensten Richtungen wird in dieser Weise bedeutend gleichmäTsiger regulierbar als es bei den bis- herigen Apparaten möglich ist; die jeweiligen Reizstärken können bei den Untersuchungen konstant erhalten werden. Weiteres wird erreicht durch variable Spannung der Spirale. Eine Beschreibung der Regeln für die Anwendung des Apparates ist beigegeben. Aall (Halle).

Faul Hobfbb. Beitrag zur Lehre yom Aogenmafa bei iweiäigigem and bei einingigera Sehen. Archiv für die gesamte Physiologie 115. S. 483—513. 1906. (Aus dem physiologischen Institut der Universität Halle a. S.) Eine Reihe von Untersuchungen über den optischen Raumsinn sind in neuester Zeit von A. von Tschbrmas: und seinen Mitarbeitern ausgeführt worden. Scheinbar handelt es sich dabei um isolierte Einzelfragen, aber näher besehen beziehen sich diese Forschungön alle auf etwas Prinzipielles, vor allem auf die Frage, ob der Raumsinn objektivistisch bzw. empirisch aufzufassen, oder subjektivistisch-nativistisch begründet ist. Dement- sprechend sind diesen speziellen Abhandlungen meist sorgfältige historische und theoretische Ausführungen beigegeben. Dieselben knüpfen durchwegs an Hsamos Gesetz der identischen Sehrichtungen korrespondierender Netz- hantstellen an, welches besagt, dafs den beiden Netzhäuten folgende Eigen- schaft angeboren ist: Ihre Elemente bringen paarweise die empfangenen Eindrücke in derselben Richtung, dem Kopfe gegenüber zur Anschauung. (Hbbino: Zur Lehre vom Ortssinne der Netzhaut S. 28 fi.) In Fortführung einer prinzipiellen Betrachtung von JoHAimss Müllbr wird dabei der prinzipielle Standpunkt vertreten: Es handelt sich bei der Raum Wahr- nehmung um eine Sinnesfunktion, die eine analoge physiologische Grund- lage hat wie die anderen Sinnesqualitäten, beispielsweise der Farbensinn. Die subjektiven Eindrücke müssen nicht erst in den objektiven Raum hineinkonstruiert werden. (Hbbing a. a. 0. S. 132 f.) Die Untersuchungen von TscHSBMAK bestätigen diese prinzipiellen Grundansichten von Joh. Müllsb und E. HaBiKG. In seinen Abhandlungen über die Lokalisation bei Schielenden führt Tsohbbmak aus, wie, gerade im Widerspruch zu der Theorie der Projektionssphären, die fundamentale Verschiedenheit der sub- jektiven Raumordnung und des objektiven Raumbefundes durch die Schielenden bewiesen wird. In weiteren Arbeiten, jüngst in der ausführ- lichen Monographie „Über die Grundlagen der optischen Lokali- sation nach Höhe und Breite** (Separatabdruck aus „Ergebnisse der

10*

148 Literaturbericht.

Physiologie" IV. Jahrgang. S. 517—564) weist Tsghebmak an der Hand ein- gehender Spezialuntersuchungen des optischen Baumsinns nach, dsSa die subjektive Lokalisation wohl im allgemeinen den objektiven Lagewerten der Beizquellen (oder ihrer Korrelate in den Bildpunkten auf der Netzhaut) parallel läuft, sich aber keineswegs damit deckt, wie die Fülle von Diskre^ panzerscheinungen dartut. Ein besonders schwieriger Teil des Baum- problems ist die Frage von der Grundlage der optischen Tiefenwahr- nehmung. Hbring fafst das Vermögen des Tiefensehens als angeboren and zwar als eine Funktion des Doppelauges auf. (Hebino a. a. O. S. 288 f.) Mehrere Beiträge von Tschebmak dienen dieser Theorie zur Unterstützung. A. TscHBBKAK, Beitrag zur Lehre vom Längshoropter (Über die Tiefenlokalisation bei Dauer- und Momentreizen). Nach Beobachtungen von Dr. K. KmiBUcm, Pflügers Archiv 81. 1900. 8. 328—348. A. Tbchehkak und P. HoBFBB, Über binokulare Tiefenwahrnehmung auf Grund von Doppelbildern. P flu g er b Archiv lU. 1904. S. 316— 319. M. Fäahk. Beobachtungen betreffs der Übereinstimmung der HxsiBrch HiLLSBBAio) sehen Horopterabweichung und des KuNDTschen Teilungsversuches. Pflügers Archiv 109. 1905, S. 63—72.

Die vorliegende Abhandlung bildet ein weiteres Glied dieser Reihe von Untersuchungen. (Vgl. die vorläufige Mitteilung Tschbbmaes auf dem 1. Kongrefs für experimentelle Psychologie in Giefsen, 1904. Bericht R S. 281 Neue Untersuchungen über Tiefen Wahrnehmung mit besonderer Bücksicht auf deren angeborene Grundlage.)

Folgendes Experiment zeigt sofort die funktionelle Besonderheit des auf ein gemeinsames Objekt eingestellten Doppelauges, verglichen mit der Baumwahrnehmung des rein unokularen Sehens: Zwei Finger werden in einer Entfernung von ca. 20 cm voneinander in der Weise hintereinander gehalten, dafs für das eine Auge angenommen für das linke der hintere Finger vollständig durch den vorderen verdeckt, also für dieses Auge unsichtbar ist. Dennoch ergibt sich folgender Lokalisationsefifekt: Der hintere, nur dem rechten Auge sichtbare Finger, wird zwingend in einer gewissen Entfernung hinter dem vorderen lokalisiert; es kommt ein ganz analoger Tiefeneindruck zustande, wie wenn beide Finger beiden Augen sichtbar sind und dabei der vordere Finger fixiert wird: Der Ein- druck eines in bestimmte Entfernung verlegten Objektes (im letzteren Fall eventuell in Doppelbilder zerlegt^). Diese Tiefenlokalisation von

^ Bei früheren Versuchen mit Stricknadeln haben Tschebmak und Hoefeb gefunden, dafs die Tiefenlokalisation auf Grund von Doppelbildern wesentlich gleiche Werte des Ausmafses ergab wie die Tiefenlokalisation beim binokularen Einfachsehen (Stereoskopie im engeren Sinne). Bei fest- gehaltener Fixation ordnete die Versuchsperson, ihrer Aufgabe gemäfs, die in gekreuzten Doppelbildern erschienenen Stricknadeln in der Weise zu- einander, dafs die in Doppelbildern erschienenen Gegenstände objektiv „richtig'' zueinander standen, d. h. in einem der Vergleichsdistanz objektiv gleichem Abstand. Damit scheinen allerdings die von B. A. Pfeifeb, Über Tiefenlokalisation von Doppelbildern {Wundts Psyehohgiseke

Literatur bericht 149

Konturen, die in der angegebenen Weise für das eine Auge gedeckt sind, wird vom Verf. als WHBATflTONK-PANUxscher Grenz£all bezeichnet.

Wenn man beide Finger einfach sieht und dabei den näherstehenden fixiert, dann erfolgt, wie Heshio nachgewiesen hat, die Lokalisation (der stereoskopische Eindruck) weder in derjenigen Sehrichtung, die durch die gereizte SteUe im rechten, noch in derjenigen Sehrichtung, die durch die gereizte Stelle im linken Auge bei einäugiger Betrachtung gegeben ist, sondern in einer subjektiv gebildeten mittleren Sehrichtung.

Wie stellt sich der Fall beim WHBATSTONE-PANiniBchen Grenzfall? Eine Abbildung auf einem Paare von querdisparaten Elementen, auf verschieden- artigen Längsschnitten der beiden Augen, findet ja hier nicht statt. Der hintere Finger oder Kontur zeigt sich ja immer nur dem einen Auge. Ob er ein Gegenstand der Betrachtung nur für eben dieses Auge ist, oder ob beide Augen auf das Objekt gerichtet sind; ob das eine Auge oder das Doppelauge bei der Sehfunktion tätig ist, das schien zunächst für die Seh- richtung, für den scheinbaren Seitenabstand auf das gleiche herauskommen zu müssen, da ja in jedem Falle die von dem entfernteren Objekt aus- gehenden Lichtwellen in dem einen Auge eine und dieselbe exzentrische Netzhautstelle reizen. Dennoch liegt die Sache tatsächlich anders. Bei Betätigung beider Augen scheinen die beiden Finger einander seitlich nSlier zu stehen, bei monokularem Sehen weiter voneinander abzustehen.

Es ist klar, dafs diese von Tschermak entdeckte Tatsache ein starkes Argument gegen die Lehre enthält, welche die Tiefenlokalisation mit Hilfe geometrisch rekonstruierbarer Bichtungslinien erklären will (die objektivisti- sche Projektionstheorie).

Bei einer experimentellen Prüfung der Frage müssen sorgsam alle empirischen Motive der Tiefenlokalisation ausgeschlossen werden. Zur Ermittlung der gesuchten Resultate empfiehlt sich die Anwendung von dünnen Gesichtsobjekten, Stäben oder Fäden mit angehängten Loten. Den hier zu besprechenden Experimenten lag folgende Versuchsanordnung zu- grunde.

Es war zunächst für eine stabile Kopfhaltung gesorgt, nämlich durch die Anwendung eines metallenen Gebifshalters. Die Augen blickten in symmetrischer Konvergenz durch eine Röhre. An dem vom Kopfe ab- gewendeten Ende war die Röhre mit einem Diaphragma versehen, das eine wesentliche Variation des Ausschnittes nach Höhe und Breite zuliefs. Dem Auge wurden drei schwarze Chinesenhaare mit angehängten Loten dar- geboten; durch Vermittlung kleiner Schlitten hingen sie an horizontal be- festigten Messingstäbchen herab. Diese Stäbchen waren auf einem quer- verlaufenden metallenen Balken angebracht, der auf zwei Säulchen ruhte. Durch die am Balken befindlichen Schlitten war es möglich, mittels

Studien 2 (3/4), 1906) erhaltenen Ergebnisse teilweise in Widerspruch zu stehen. Aber die Versuchsbedingungen waren auf beiden Seiten nicht un- wesentlich verschieden. Pfeifbb hat nicht lineare Objekte, sondern Punkt- reize benutzt und sich nicht der simultanen, sondern der sukzessiven Ver- gleichung von Raumdistanzen bedient.

150 Literaturbericht

Schrauben die Lote seitlich zu verschieben; ähnlich konnte das herab- hängende Lot durch eine besondere Schraubendrehung der Tiefe nach Yei> schoben werden. Am Balken befand sich eine Skala, welche die Ablesung Ton Zehntelmillimetem gestattete.

Das erste Lot, das „Fizierlot'', war in der Medianebene des Beobachten aufgehängt, in einer Entfernung von 23 60 cm von beiden äulseren Augen- winkeln. Dieses Lot wurde ununterbrochen fixiert. Eine dunkle Perle in der Mitte der sichtbaren Strecke des Lotes gab dem Blick einen festen Anhaltspunkt. Ein zweites Lot, das „gedeckte Lof oder das „Femlot'', war in einer Entfernung von 10 cm hinten und etwas rechts vom ersten Lot angebracht, und zwar so, dafs es durch das erste Lot für das linke Auge vollständig verdeckt, und nur für das rechte Auge sichtbar war. Das dritte Lot, das Vergleichslot oder „Mefslot** sollte so eingestellt werden, dafs es unter beiden t3rpischen Versuchsbedingungen, das eine Mal bei binokularer, das andere Mal bei rechtsängiger Betrachtung, von Lot 2 ebenso weit seitlich abzustehen schien, wie Lot 2 von Lot 1. Dadurch wurden zahlenmäfsige Angaben erreicht über den scheinbaren Seiten- abstand des nur einäugig sichtbaren zweiten Lotes. Zwecks Vergleichnng der auBzumessenden Entfernungen war es nötig, dafs Lot 3 in die durch Lot 1 bezeichnete subjektive „Eernebene", also in den Längshoropter ein- gestellt wurde. Lot 3 wurde, durch Vermittlung der rechten Hand des Beobachters, seitlich variiert.

Die Versuche bezogen sich nicht nur auf das Urteil gleich (d. h. gleich seitlich abstehend), sondern auch auf die Umschlagsgrenzen (eben zu nahe und eben zu fem). Die Versuchsergebnisse lieferten eine deutliche Be- stätigung der oben schon charakterisierten Tatsache. Wenn beide Augen verwendet werden, so scheint ein Lot, das vom Fixierlot für das eine Auge verdeckt ist, nicht so weit seitlich von diesem abzustehen, wie wenn man die Objekte nur mit einem Auge betrachtet, mit dem Auge nämlich, dem allein das zweite Lot sichtbar ist. Das Wesentliche hierbei ist die sub- jektive Abstandsänderung. Verf. hebt mit Tschkrmak besonders hervor, dafs diese subjektive Abstandsänderung die objektive Änderung in der An- ordnung der Lote an relativer GrOfse erheblich übertrifft. Letztere beträgt nur Vs bis Vi,.

Dieselben Besultate ergaben sich auch bei asymmetrischer Konvergenz.

Eine zweite Beobachtungstatsache deutet gleichfalls auf eine wesent- liche Eigenart der doppeläugigen Betrachtung hin: Das Fixierlot Li und das Mefslot L^ wurden immer unbehindert zweiäugig gesehen. Dabei er- schien auch das Femlot L2 vertikal und den anderen Loten parallel, ob- wohl es nur einäugig gesehen wurde; der Vertikaleindrnck für Lt erhält sich auch, wenn man das Mefslot L^ entfernt. Nun stehen die Netzhant- meridiane, die die Empfindung „vertikal" vermitteln, in den beiden Augen nicht parallel; der physiologische Vertikalmeridian weicht vom geometri- schen Lotmeridiau ab. Bei einäugigem Sehen wäre zu erwarten, dals dts einäugig gesehene Lot schräg, mit dem oberen Ende von der Seite des betrachtenden Auges weggeneigt erscheinen sollte, und tatsächlich zeigte sich in besonderen Fällen für H. diese Divergenz der beiden „Längsmittel-

Literaiurbericht 151

Bchnitte''. Wenn nämlich das zanftchst doppelftagig gesehene Fixierlot (Loti) dnrch einen dazwischengeschohenen weiXsen Karton für das eine Auge abgedeckt wnrde, so erschien das betreffende Lot, das nunmehr nur ein- ängig sichtbar war, in dem erwähnten Sinne schief, und gleichzeitig nahm für den Blick das Fernlot L^j das dauernd blofs einäugig sichtbar war, eine schiefe Lage ein. Wenn das deckende Lot £| unbehindert binokular ge- sehen wurde, ergab sich hingegen für das gedeckte Lot Zt, obwohl es ja nur unokular gesehen wurde, eine derartige Vertikallokalisation, als ob die physiologische Abweichung vom Lotmeridian neutralisiert wäre. Diese Vertikallokalisation ist also bedingt durch einen Prozeüs in demjenigen Aoge, das zwar vom gedeckten Lot 2 keinen Beiz erhält, aber dennoch irgendwie auch für den Gesichtseindruck von Lot 2 mitwirkt.

Analoges ergab sich, wenn nicht das Fixierlot Li, sondern das Mels- lot Lt für das eine oder andere Auge abgedeckt wurde. Das gedeckte Lot erschien jedesmal in entgegengesetztem Sinne schief verglichen mit L^. Hierbei sind räumlich-optische Kontrastwirkungen beteiligt.

Die vorgenommenen Untersuchungen geben zu folgenden Schluls- betrachtungen Anlafs:

Der Eindruck des fixierten Lotes {Li) in jenem Auge, das durch DazwiBchenstehen von Li am Sehen des zweiten Lotes X, verhindert wird, hat entscheidende Bedeutung für den scheinbaren Abstand der beiden Lote, ferner dafür, wie das nur dem anderen Auge sichtbare Lot, sich zur Vertikalen verhält. Der linksäugige Eindruck des fixierten Lotes beeinflufst den damit korrespondierenden rechtsäugigen Eindruck desselben Lotes; zusammen bestimmen sie die Kemebene, in die auch das Mefslot L^ als binokular verschmolzener Eindruck eingeschoben erscheint. Durch die dauernde Verschmelzung der rechts- und linksäugigen Eindrücke von Li und Xs kommt der Eindruck zustande, dafs sie beide Vertikale sind. Ein- ftugig betrachtet scheinen sie ja schräg zu stehen.

Aber gleichzeitig hat bei binokularer Betrachtung der linksäugige Eindruck vom fixierten Lot (Li) Bedeutung für den querdisparaten Eindruck, den das rechte Auge von dem für das linke Auge gedeckten Lot 2 (Zs) erhält. L^ erscheint zwangsmäfsig hinter der Kernebene und erhält ein für binokulare Tiefen Wahrnehmung charakteristisches Merkmal, dafs nämlich sein scheinbarer Seitenabstand vermindert wird gegenüber dem Seitenabstand der isoliert einäugigen (hier rechtsäugigen) Eindruck von Li und Xf«.

Dies bezeichnet einen ausgezeichneten Fall von Dopi>elfunktion eines Sinnesorganelementes. Der Eindruck im Lotmeridian des linken Auges arbeitet gleichzeitig mit zwei Eindrücken des rechten Auges zusammen, nämlich mit dem korrespondierenden fovealen Eindruck und mit dem querdisparaten exzentrischen Eindruck. So vermitteln die beiden Augen zusammen einerseits die Feststellung der subjektiven Frontal- oder Kern- ebene (TscHRBMAK bringt hierfür die Bezeichnung Planiskopie in Vorschlag). Andererseits vermitteln die beiden zusammenarbeitenden Augen zugleich einen zwangsmäfsig bestimmten Tiefeneindruck. (Tbchsbmak schlägt dafür die Bezeichnung Stereofunktion vor.) Der gereizte Lotmeridian des linken

152 Literaturbericht

AngeB erweist sich als gleichzeitig an einer Planifunktion und an einer Stereofanktion beteiligt.

Zar Erklärung dieser Tatsachen zieht Verf. die HEanrosche Theorie von der angeborenen Korrespondenz und von der Tiefenwahmehmung auf Grund von Querdisparation heran . . . eine Theorie, die also auch auf den WHBATBTONE-PANUMschen Greuzfall Anwendung findet. Aall (Halle a. S.).

B. BoüBDON. InflaBiioe de la force ceAtriHige tar la perceptloa de la Terttcalii

Ännee psychologique 12, S. 84—94. 1906. B. hat die bekannte Verschiebung der scheinbaren Vertikalen bei Rotation an sich selbst geprüft^ und zwar einerseits, indem er mit ge- schlossenen Augen einen Zeiger scheinbar vertikal stellte, andererseits indem er einen sichtbaren Strich drehte, bis er senkrecht erschien. Die Botationsgesch windigkeit wurde mefsbar variiert, der Kopf war bei der Drehung bald frei, bald aufrecht fixiert, bald in einer Neigung von 10* fixiert. Das Ergebnis war, dafs die scheinbare Vertikale mit geringen (durch Augendrehung herbeigeführten) Abweichungen die gleiche Richtung hatte wie die Resultante aus Schwerkraft und Zentrifugalkraft. (Der Neigungs- winkel dieser Resultante wurde gemessen durch ein auf dem Drehappant vor einer Skala aufgehängtes Gewicht, das sich um so schräger stellte, je schneller gedreht wurde.) B. bezweifelt die Zuverlässigkeit des Kbexsl- schen Befundes, dafs die genannte Vertikalentäuschung bei Taubstummen nicht existieren solle. W. Stern (Breslau).

G. H. Sabine. Tbe Ooncreteness Of Thoaght. The Phüosophical Beview 16 (2), S. 154—169. 1907.

„Vernünftiges Denken ist nicht ein Vorgang des Abstrahierens von der konkreten Erfahrung, sondern ein Vorgang des Interpretierens, bei dem die Erfahrung immer vernünftiger gestaltet wird, und durch den das Unbe- stimmte und Unvollständige bestimmt und zusammenhängend wird" also ein Vorgang des Konkretermachens (a process of concretion).

Es gibt kein „Individuum" im wahren Sinne des Wortes; „Indi- vidualität heifst immer nur eine bestimmte Art von Beziehung zu einem einheitlichen Ganzen". Eine konkrete Erfahrung machen heifst also, „das vollkommen Individuelle mit dem vollkommen Einheitlichen verschmelzen, aus beiden ein organisches Ganze bilden, in dem völlige Differentiation und völlige Integration verbunden sind". Eben dies finden wir schon an jeder Erfahrung, die also immer in einer gewissen Weise konkret ist : was an einer Erfahrung wahr ist, ist eben dies, dafs sie teilweise in ein organisches Ganze eingeordnet wird. Es ist also ganz falsch, Erfahrung und begriff- iches Denken einander gegenüberzustellen. Denn auch das Denken „ist so beschaffen, dafs es unsere Erfahrung in dem eben definierten Sinne immer konkreter macht".

„Denken ist also nicht nur ein Prozefs des Abstrahierens vom Kon- kreten, sondern die Funktion, mit deren Hilfe die vernünftige Vereinheit- lichung gefördert wird Die Abstraktion, deren das Denken ja zweifellos

bedarf, ist immer nur ein Mittel, niemals das Endziel des Denkens." „Die

Literaturbericht, 153

konkrete Einzeltatsache ist Ausgangs- und Zielpunkt des Denkens; aber am Endpunkt finden wir sie interpretiert, d. h. vermittels ihres Weges durch das Denken bereichert und individualisiert." „So ist einerseits ein wissenschaftliches Gesetz nur wahr, weil es eine Verallgemeinerung be- stimmter Einzeltatsachen enthält, andererseits aber auch die Einzeltatsache nur wahr vermöge ihrer Beziehungen zu einem Ganzen." Aus dem Vorhergesagten folgt

1. Der Begriff der „reinen Erfahrung" trägt einen Widerspruch in sich selbst.

2. Die Unterscheidung zwischen reflektierendem und konstatierendem („pre-reflectional") Denken mufs aufgegeben werden.

3. Zur Erkenntnis konkreter Individualität bedarf es keines aufser- logischen Faktors, etwa eines Gefühls.

4. Eine gegebene Erfahrung, die nicht vernünftig organisiert ist, besitzt auch keine Bealität. Lipmann (Berlin).

Kb. B. R. Aabs. tu KrkJeAdelseiis Pgykologi. (Zar Psychologie des ErkOAnou.)

Psyke 2 (2), S. 99—113. 1907. Verf. nimmt als Ausgangspunkt den häufig als absolut hingenommenen Gegensatz zwischen der psychologischen und der erkenntnistheoretischen Betrachtung des Daseins und weist darauf hin, dafs ebenso natürlich von einer Psychologie des Erkennens wie von einer Psychologie der Moral und einer Psychologie der Ästhetik die Rede sein kann. Die aprioristischen Erkenntnistheoretiker (an der Spitze Kant) sind uns noch Aufschlufs darüber schuldig, was sie, beim Reden über die Bedingung jeder Erfahrung, unter dem Begriff Erfahrung verstehen. Gegenwärtiger Autor hebt als bedeutsam den Unterschied zwischen ob jektiver Wirklichkeit und subjektiver Erfahrung hervor ; einen Unterschied den der Kritizismus nie berücksichtigt hat. Denken helTst glauben. Erst durch Glauben ist der Begriff unver- änderliche Existenz (absolut oder in unendlicher Annäherung) gegeben. Von diesem psychologischen Faktor hängt in unserem Bewufstsein Ver- gangenheit und Zukunft ab, subjektiv durch Erwartung und Gedächt* nis vertreten. Verf. fafst die beiden Reihen von Hauptfunktionen unseres Wirklichkeitsbewufstseins , nämlich die Inhalte der Erwartung und des Gredächtnisses, in ein System von Projektionsbegriffen zusammen. Im be- sonderen ist unser Begriff der Kausalität ein Gebilde des projizierenden, allgemeingültige Hypothesen bildenden Bewufstseins. Auch die logische Tätigkeit des Schliefsens gibt keinen Unterschlupf für die Theorie eines flber>psychologischen Erkenntnis Vorganges. Verf. unterscheidet hauptsäch- lich zwei Gruppen der Schlüsse. Schlüsse, die keinen logischen Ursprung haben: dynamische, und solche die auf dem Prinzip des Widerspruches beruhen, vom Verf. als nominalistische bezeichnet. Der Logik fällt bei der hier in Betracht kommenden Bewufstseinsoperation nur die Rolle zu, die relative Konstanz des Begriffszeichens, des symbolisierenden Nomens zu sichern. Setzt man nun statt Logik die Bezeichnung nominalistische Arbeit, so erscheint die alte Frage ziemlich gegenstandslos: Was kommt in der Entwicklungsgeschichte der Wesen zuerst, die Logik oder die dynamische Gedankenarbeit? Die dynamische geht auf die Realidentität. Hier setzt

154 LitertUwbericht

die Erfahrang ein mit ihrem System von regelmftfsigen Vorgängen. Der Ursachsglaube wird entsprechender Weise zur Gewifsheit. In psycho- logischer Hinsicht besteht zwischen Glanben und Wissen kein Unterschied. Der logische Beweis ist darum auch kein die Erkenntnis bereichernder Akt, er ist eher ein Wiederholen als ein Beweis. Bei psychologischer Untersuchung der Sache ergibt sich die Erkenntnis, dals all unser Wissen auf Erraten, auf den grofsen Systemen dynamischer Schiasse beruht.

Aall (Halle).

6.H. LüQüBT. Logiq«o ratloielle et psyebologiime. Eev. phüos. 62 (12), 600-610. 1907.

Verf. nimmt Stellung zu einem Artikel von M. Ooutcrat: La logique et la Philosophie contemporaine. G. hatte darin heftige Angriffe auf Rxbots Logique des sentiments gerichtet. Er hatte behauptet, dieses Buch sei durch den Psychologismus inspiriert Da Gefühle auf das vernünftige Denken ungünstig einwirken, so müsse man eher von einem illogisme des sentiments sprechen. Lüqust ist anderer Ansicht: Das affektive BSsonne- ment existiert wirklich. Nach 0. erscheint der Psychologismus, sobald man der Logik der Gefühle den Vorzug gibt vor der intellektuellen Logik, in- dem man erstere der Realität des Lebens näher stellt. Ribot tut aber gerade das Gegenteil, indem er das mehr innerliche Räsonnement der Ge- fühlslogik als trügerisch bezeichnet. Nach C. gibt es nicht zwei Logiken, sondern nur eine, die rationelle. Nach Ribot bewahrt der Mechanismus in beiden seinen Charakter, das Vollziehen einer Schlufsfolgerung. Jedoch erstreckt sich die rationelle auf das Erkennen, die affektive dagegen aaf solche Falle des Lebens, welche sich nicht erkennen lassen. Also letztere bildet eine notwendige Ergänzung zu ersterer, zugunsten jener flüchtigen, unbestimmten Geister, bei welchen Gefühl und Einbildungskraft vor- herrschen und die Logik zurücktritt. Für solche genügt die Logik des Affektiven. Namentlich bildet letztere einen wichtigen Bestandteil der Rhetorik, sofern sie zum Herzen spricht.

C.S Diskussion gründet sich auf einen Irrtum bezüglich der psycho- logischen und logischen Gresetze. L. führt richtig an, dafs jene natürliche Gesetze sind, letztere dagegen Regeln und Normen, welche das Individuum braucht, um konsequent zu bleiben. Die Psychologie beschäftigt sich gar nicht mit dem Unterschiede von Wahr und Falsch.

Nach C. ist der Gedanke deshalb korrekt, weil er der Wahrheit ent- spricht. Er glaubt also an den absoluten Realismus, aber nicht an den absoluten Idealismus. Die Schöpfung des Geistes, welche für letzteren die absolute Wahrheit bildet, stellt nur eine relative Wahrheit dar. Die Wahr- heit an sich, die fundamentale Hypothese des absoluten Realismus existiert nach L. sehr wohl, aber als unerkennbar. Nach L. jgibt es zwischen den beiden antithetischen Disziplinen, dem absoluten Realismus und absolutem Idealismus Zwischenstufen. Es gibt wahrscheinlich mehrere Wahrheiten, darunter eine spezifisch menschliche. Von letzterer aber kann man sich verschiedene Begriffe machen. Man kann sie als etwas Unveränderliches betrachten, wodurch man zum transzendenten Idealismus Kakts gelangen würde. Oder man kann auch von einer Entwicklung der Wahrheit unter

Literaturbericht 155

dem Einflnsse menschlicher oder auTsermenschlicher, individneller oder kollektiver Faktoren sprechen. Dann gäbe es auch bestimmte Epochen in der Entwicklung der Wahrheit. Psychologismns (Humanismus), Soziologis- mos und Pragmatismus lassen verschiedene Definitionen von Wahrheit zu und erteilen ihr einen verschiedenen Wert, der Psychologismus, sofern er in der Entwicklung des menschlichen Geistes die Erklärung für die Ent- wicklung der Wahrheit sucht, der Soziologismus, sofern er die Entwick- lung der individuellen Geister auf soziale Einflüsse zurückzuführen sucht, der Pragmatismus, sofern er in den Notwendigkeiten des Handelns das Prinzip und die Triebfeder dieser Entwicklung sucht. Alle diese Wissen- schaften aber sind gleichberechtigt. Keine darf der anderen vorwerfen, da£s sie die Wahrheit verschleiere. Die verschiedenen Theorien des Er- kennens, der Psychologismus sowohl wie die anderen, haben mit der I^gik nichts zu tun. Es sind ihr benachbarte Domänen. Diese Tatsache tlbersieht C. ebenfalls in seiner Kritik. Gibssler (Erfurt).

H. HöFFDiNO. Beiretet Tille. (Der Willensbegriff.) Psyke 1 (1). S. 5—22. 1906. Der Willensakt ist nicht Gegenstand einer direkten Beobachtung, aber dadurch wird, nach H., die Berechtigung nicht aufgehoben, dem Wollen in dem Bewufstseinsleben einen selbständigen Inhalt beizulegen. Bei der Bewertung der Elementarinhalte des Bewulüstseinslebens werden gewöhnlich die Momente Bichtung und Bewegungsintensität (Geschwindigkeit im Ablauf des psychischen Inhaltes) vernachlässigt. Beides kann erst durch zusammenfassende Beachtung einer Mehrheit tätiger Faktoren ver- gegenständlicht werden. Hier setzt der Wille psychologisch ein. H. findet, daXs mehrere Forscher zu der Erkenntnis gelangt sind, dafs durch das Willensleben eine eigenartige neue psychische Synthese der Bewulstseins- Vorgänge, ja ein für dieselben Inhalts- und richtungsgebendes Moment erst geschaffen wird, und greift es als eine Inkonsequenz an, dafs zum Teil dieselben Denker so z. B. Ebbinohaüs gleichzeitig dem Willen den Charakter absprechen, psychologisch etwas -Letztes und Ursprüngliches zu sein. Verf. geht danach zu einer näheren Entwicklung der Gesichtspunkte über, die ihn veranlassen, in dem Willen als der für das Bewufstseinsleben entscheidenden Synthese, das eigentliche innerste Wesen der Seelentätigkeit anzuerkennen. Gestützt auf frühere Untersuchungen stellt H. den Erregungs- prozefs der Bewertung dar, vom Stadium des Anschauens und des Triebes bis zum willkürlichen, triebartigen oder zielbewufsten Wollen, und betont hierbei die Rolle, die der mannigfachen, in uns aufgespeicherten Energie zukommt. In beachtenswerter Weise wird hervorgehoben, da£a die Be- ziehung des Lust-Unlustgefühls zum Wollen in einer vollständigeren Weise bestimmt werden mufs, als bisher geschehen. Lust-Unlust wirkt bestimmend für die Richtung des Willens. Aber wesentlicher noch ist die umgekehrte Tatsache: Wir fühlen Lust und Unlust bei unseren Erfahrungen, nach der MaJGsgabe ihres Vermögens, die fundamentale Richtung unseres Lebens zu fördern oder zu hemmen. Hierdurch wird auf eine tiefliegende biologische Funktion der Gefühle Aussicht eröffnet. Nach dieser Auffassung des

156 Literaturberickt.

Willens erscheint er ans als ein elementares Vermögen, dasjenige wirksam vorzuziehen, was der inneren Natur des Individuums angepaist erscheint. Je mehr Reizungen zur Entfaltung der eigenen Natur, um so mehr reiner Wille. Aall (Halle).

B. Laobbboro. Yiljan och deu 8k5tsel. (Zum Begriff ud nr Pflege dei Willenslebeiis.) Psyke 2 (2), S. 73-94. 1907. Der Verf., ein finnischer Psychologe, hat mehrere Arbeiten über das Gefdhlsproblem veröffentlicht; aus seiner Analyse des Gefühls ergibt sich ihm auch die Lösung der Willeusfrage. Gegenüber Höffdino verweist L. darauf, dafs das beim Willensakt vorhandene Bichtungsmoment schon in denjenigen Erregungen zur Handlung restlos enthalten ist, deren nervöse Äquivalente verschiedene Tendenzen zur Entladung der Muskel sind. Die physiologischen Bedingungen der Willensakte werden sorgfältig reproduziert, wogegen der Typus solcher Wollungen, die ohne Bewegungsresultanten verlaufen, nicht beschrieben wird. Im Augenblick eines WoUens findet nach L. nur zweierlei statt: Empfindungen in unseren Organen (zumal Muskelspannungen) und vorwegnehmende Vorstellungen einer Handlang, aufser diesen beiden Momenten wird nichts Neues empfunden. Je nach den Beziehungen zur Spannungsempfindung und zu den Vorstellungen ge- stalten sich die verschiedenen Formen des Willenslebens. L. analysiert Überlegung, Entschlufs, Vorsatz, Beue, Nucken, Neigungen, Begierden, Wünsche. Der sog. Wille ist immer nur ein Nebenprodukt im Verlauf einer in Entwicklung begriffenen Handlung. Die Bedeutung, die bei dieser Fassung der Sache den vegetativen Prozessen und dem jeweiligen Zustand des Muskelapparates zukommt, läfst es als wesentlich erscheinen, dafs eine Pflege zur Förderung der vegetativen Vorgänge und der freien Muskelin nervation beim Menschen stattfindet. Ein besonderer Fall, wobei Verf. nach diesem praktischen Gesichtspunkt verfuhr, wird berichtet.

Aall (Halle).

S. Alrütz und B. Hammer. SinildroemmeA i JerfM. (Die Wahrträumerin in J.) Psyke 2 (1), S. 1—48. 1907. Es wird von einem Fall berichtet, wo ein Mädchen aus dem Volke einen visionären Traum hatte, dessen Inhalt eine Mordszene, mit mehreren Einzelheiten in bezug auf Ort, Handlung und Person, war. Dieser Traum, der sofort das Mädchen in einen Zustand höchster Erregung versetzte, wurde von ihr, wie mehrfach glaubwürdig bestätigt wurde, noch am selben Morgen mit ekstatischer Lebhaftigkeit mehreren Personen mitgeteilt. Die Einzelheiten, die sie angab, erwiesen sich nachher beim Vergleich mit Auszügen aus Bechtsprotokollen m. m. in bezug auf Zeit, Ort und Handlung, eine auffallende Übereinstimmung mit einer wirklichen Mordtat zu besitzen, die in der Traumnacht an einem anderen, etwa 60 Kilometer abliegenden Ort verübt wurde, und die beweislich erst zu einer späteren Zeit als die der Mitteilung seitens der Wahrträumerin, für sie wie für ihre Zuhörer bekannt wurde. A. ist geneigt, nach eingehender Prüfung aUer Momente, als wohl wahrscheinlich hier einen Fall von Telepathie irgend einer noch psychologisch unaufgeklärter Art zu konjizieren. Aall (Halle).

Literaturhericht 157

6. Albutz. HdfspoiUaa FSreteelser under Hypnos. (Halbspontane Vorgänge beim Zustand der Hypnose.) Psyke 1 (2), 8. 28—60. 1906. Vom Verf. ausgeführte Experimente beweisen, dafs bei der Hypnose Fanktionsftnderungen entstehen kOnnen, die keineswegs als suggeriert an- gesehen werden können. Als Begleiterscheinungen gewisser suggestiv bewirkter Funktionsänderungen können derartige Phänomene passend als halbspontane bezeichnet werden. Analoges zu dem von A. hier Mitgeteilten begegnet, wie A. selbst hervorhebt, bei Schaffbr und Döllkbn, zum Teil auch bei Charcot, Binbt, Fäbä und Vogt. Die Fälle, die A. beschreibt, sind solche, in denen eine Suggestion, die auf eine bestimmte Sinnes- empfindung beschränkt war, in ihrer Wirkung auch weitere Sinnesgebiete in intensive Mitleidenschaft zog. Die Versuche liefen zum Teil auf rein primäre Assoziationen zwischen verschiedenen sensorischen Zentren oder zwischen motorischen und sensorischen Zentren aus. Aber wie sollte die Hysterie solche primäre Assoziationen neu erzeugen können? Die Hysterie ist doch in ihrer Wirkung darauf beschränkt, schon vorhandene Assoziationen zu fördern (durch Verringerung der Hemmungswirksamkeit höherer Rindenzentren). Die wahrscheinliche Erklärung der eigenartigen hysterischen Ercheinungen findet A. darin, dafs der Verlust nervöser Energie, den er bei seinen Versuchen auf die eine Körperhälfte isoliert zu Wege brachte, nicht nur diejenigen Funktionen schwächt, die bisher allein untersucht wurden, sondern auch weitere Funktionen, viscerale Funktionen, Sekretionsprozesse usw. Unter diesem Gesichtspunkt stellen sich zwanglos mehrere hysterische Symptome, deren Erklärung bisher schwierig war, als physiologische Begleiterscheinungen dar. Aall (Halle).

B. Albutz. Carl von LlAni ocb Slagintans Problem. (Das Problem der WfiMCbelrilte.) Psyke 2 (3), S. 127-149. 1907. Diese Abhandlung über die Wünschelrute referiert das urteil Linnäs und anderer Gelehrten über die altbekannte, eigentümliche Erscheinung und präzisiert die Methode, die einer wissenschaftlichen Erforschung des Gegenstandes zugrunde gelegt werden müfste. In den beschriebenen Fällen wird wiederholt von erfolgter Muskelkontraktion ziemlich mystischer Art berichtet. Diese müssen namentlich sorgfältig erforscht werden.

Aall (Halle).

H. Oppenhbim. lerrenkraiüLbeiteii und Lektüre, Fervenleiden and Kniebnngi die ersten Zeleben der Hervosltät des Kindesalters. Berlin, S. Karger. 1907. 2. Aufl. 119 S. Drei Vorträge des bekannten Nervenarztes, die einen praktisch wich- tigen, bisher freilich wenig erörterten Stoff in einer höchst anregenden Form behandeln und daher die weiteste Verbreitung verdienen. Im ersten Vortrag erörtert Verf. die psychische Diät der Nervenkranken, in der so oft gefehlt wird; das ist um so bedauerlicher, als an geeigneter und den Nervenkranken zusagender Lektüre kein Mangel herrscht. Eine gute körperliche und geistige Erziehung, die Wert legt auf Beherrschung der Affekte, kann, wie der zweite Vortrag ausführt, vieles von dem ausgleichen, was durch die Anlage verfehlt wurde, wie andererseits Mifsgriffe in der

158 Literaturbericht

Erziehung dem Nervensystem schaden. Gerade diese Arbeit verdient von allen Kinderfreanden gelesen und beachtet zu werden. Der letzte Vortrag bildet hierzu eine Ergänzung, indem er ein Obersichtliches Bild Aber die mannigfachen Störungen gibt, unter denen die Nervosität im Kindesalter verl&uft. ScHULTZB (Greifswald).

RoBEBT Gaüpp. Wege lud Ziele pejchlatrischer Fenclnig. Tübingen, H. Lanppi 1907. 28 8. eO Pfg. Eine elegant geschriebene, programmatische Bede, mit der Gaüpp sein Lehramt in Tübingen antrat. Er schildert anschaulich den Entwicklungs- gang, den die Psychiatrie genommen hat, begründet ihre Sonderstellnng und skizziert die Aufgaben und Ziele der anatomischen und chemischen Forschung. Die Hauptaufgabe besteht heute in einer sehr genauen Be- obachtung der körperlichen und geistigen Symptome Geisteskranker, die unter Zuhilfenahme des Studiums anatomischer Gehirn Veränderungen eine wissenschaftliche Systematik der Creisteskrankheiten anbahnen soll. Dieser Sammlung und Gruppierung von Tatsachen soll ihre Deutung im Bahmen der allgemeinen wissenschaftlichen Erkenntnis und ihre Erkl&rung folgen, unter Verwertung der vielen Wissensgebiete (Völkerpsychologie, Geschichte, Kriminalpsychologie), zu denen die Psychiatrie in Beziehung steht.

ScHULTZB (Greifswald).

S. DE Sanctis. Types et degris d'luBifllsaiiee mentale. AnnSe peychoh l%

8. 70—83. 1906.

Wahrend man bisher die geistige Minderwertigkeit nur quantitativ nach Gradabstufnngen einteilte, h&lt es S. für wichtig, neben den Graden auch qualitativ unterschiedene Typen aufzustellen. Er nennt deren fünf: men- talit^ idiotique, imböcile, v^sanique, ^pileptoYde, enfantine die kurz charakterisiert werden. Zur Messung des Grades der geistigen Bück- ständigkeit schlagt er eine neue einfache tests-Methode vor, die an Hilfs- schulen und Anstalten für Schwachsinnige anwendbar sein soll. Sie besteht aus 6 Proben aufsteigender Schwierigkeit (Heraussuchen eben gesehener Farben und Formen aus einer Beihe von Objekten oder Abbildungen, Zahlen, Gröfsenvergleichung von Objekten usw.); die Angabe, bis zu welcher Probenummer die Prüfung noch positiven Erfolg hatte, soll ein Index für den Grad der geistigen Leistungsfähigkeit des Prüflings sein.

W. Stbrn (Breslau).

B. Sommer. FtmUienforfchiiig n. Tererbnngslebre. Mit 16 Abbildungen und 2 Tabellen. Leipzig, Barth 1907. 282 S. 10 Mk.

Ein neues Buch von Sommbb bedeutet stets eine neue Anregung, und dies ist besonders dann der Fall, wenn er sich, wie hier, auf ein Grebiet begibt, das bisher zu den weniger begangenen gehörte.

In dem vorliegenden Werke hat er sich n&mlich die Aufgabe gestellt» die Vererbungs- und Variationserscheinungen in den menschlichen Familien methodisch zu untersuchen, um auf diese Weise einen richtigen Einbhck in ihre Beziehungen zur Kulturgeschichte zu gewinnen. Zu diesem Be> hufe hat er versucht, die beobachtende Psychologie mit der naturwissen*

Literaturbericht 159

echaftlichen Entwicklungslehre in engste Berührung zu bringen, und indem er bestimmte Personen einer experimentellen Untersuchung unterzieht, hofft er auf dem Wege der erblichen Anlage zu einer besseren Erkenntnis der Degeneration, und damit auch zu einer Begründung der Regeneration zu kommen, in welcher er das Ziel der Sozialpsychologie erblickt, Indiyi- daalpsychologie und Familienforschung sind wissenschaftlich untrennbar miteinander verbunden, und sie ergingen sich in der Weise, dafs der Cha- rakter der Persönlichkeit seine Erklärung oft nur in der Familiengeschichte findet. Nur im Zusammenhange der Ahnenrelhe ist die besondere Anlage des einzelnen yerständlich, und nur auf diesem Wege kann es zur Ent- wicklung einer Diagnostik der natürlichen Anlage kommen, die es uns er- möglicht, diese natürlichen Anlagen in die Bahnen eines richtigen Berufes zu lenken und damit für die Entstehung bedeutender Leistungen die besten Vorbedingungen zu schaffen.

Den Einzelcharakter im Zusammenhange seiner Familienanlage zu be- trachten, und zu diesem Behufe eine vergleichende Symptomatologie der normalen und pathologischen Zustände aufzustellen, das ist, was Somhbb in jahrelanger systematisch durchgeführter Untersuchungsmethode zu er- mitteln unternommen hat und deren Ergebnisse er uns in seinem Buche vorführt

An der Hand dieser Ergebnisse sucht er die Tatsachen zur Begel, die Regel zum Gesetz zu ermitteln, und die Beziehungen zwischen Anlage und Zeitverhltftnissen festzustellen, da er in der Erforschung dieser Zusammen- hänge zwischen vererbter Anlage und Familienschicksal, sowie zwischen Anlage und Milieu im Hinblick auf die Entwicklung der Menschheit das letzte Ziel einer medizinisch philosophischen Familienerforschung erblickt.

Das Beobachtungsmaterial kann nur durch sorgfältige Einzelbeob- achtungen an Familien gewonnen werden, und da mindestens sechs Genera- tionen hierfür nötig sind, wird es sich dem Beobachter nicht gerade allzu häufig aufdrängen. Sommer hat in der bürgerlichen Familie Soldan ein solches Beobachtungsmaterial gefunden. Er geht den verschiedenen Genera- tionen bis in das 14. Jahrhundert nach, und er war imstande, an ihren einzelnen Familiengliedern nicht nur familiengeschichtliche, sondern auch vergleichende psychologische und psychologisch-soziale Betrachtungen an- zustellen.

Alles dieses und noch weit mehr wird man in dem Buche finden, das für alle, die sich für Familienforschung interessieren, ebenso unentbehrlich ist, wie es etwa Lorbnzs bahnbrechendes Lehrbuch der Genealogie war, als dessen Ergänzung und Erweiterung es in gewissem Sinne gelten kann.

Pblmak (Bonn).

A. Gbotbitfelt. De modenia Ruteoriernt i pgycliologlsk Belysning. P9yke 1 (2), S. 87—116. 1906. Sind deutliche psychologische Unterschiede zwischen den Rassen wahr- nehmbar? Verf. findet solche ziemlich illusorisch; um anschaulich zu machen, wie wenig ein Gesichtspunkt verschlägt, der den isolierten Rassen- pnnkt als differenzierendes Merkmal der Völkerpsyche betrachtet, dafür kann Verf. auf einen naheliegenden Fall hinweisen. In Finnland nehmen

160 Literaturbericht

die Staatsgenossen, gleichgültig ob arischer oder finnisch-mongolischer Ab- .stammung, an demselben Kulturleben teil, ohne dafs es möglich wäre, zwischen arischer und mongolischer Individualit&t irgendwie bedeutsame Grenzen zu ziehen. Im allgemeinen reichen die jeweilig vorhandenen Bassenmerkmale lange nicht aus auch nur annähernd Artbegriffe zu be- gründen. Statt des Rassengesichtspunktes will G. die verschiedenen Kultor- bedingungen und die durch den Gang der Geschichte bewirkten Änderangen des Volkscharakters für die Charakteristik der jeweiligen Volkspsyche betont haben. Aall (Halle).

A. Aall. Om Bamesjaelen. (Die Psychologie des Kindes.) Psyke 2 (1), S. 50

—12. 1907.

Die Grundzüge unseres Wissens von der Psyche des Kindes von der Geburt bis zur Sprechfähigkeit des Kindes werden kurz repro- duziert. An mehreren Stellen kritisiert Verf. die bisherigen Angaben und ergänzt sie durch Beobachtungen über ein eigenes Kind, über das er Tagebuch geführt hat. Die Reichhaltigkeit des Gehörssinnes und die frühe Verarbeitung der Eindrücke auf diesem Sinnesgebiet wird hervor- gehoben. Die gewöhnlichen Ansichten über die Inkapazität des jungen Individuums in bezug auf sog. höhere geistige Akte bedürfen einer Be- richtigting. Solche Operationen, wie Vergleichen, Wiedererkennen, femer das Vermögen des Gedächtnisses und des Urteils entwickeln sich rasch im Anschlufs an die Ernährungs- und Bewegungsfunktionen des individnellen Lebens. Im besonderen wird ein Fall angeführt, der schon beim acht- tägigen Kinde ein gewisses Schliefsvermögen beweist. Die tiefgreifende Bedeutung wird hervorgehoben, die es der Umstand bedingt, daCs das Kind eine wachsende Herrschaft über seine Glieder gewinnt. Aus dem frühen Stadium des individuellen Daseins sind mehrere Winke zur Begreifung des Willenslebens entnehmbar. Die dem Willensakt vorwegnehmende Vor- stellung mufs gut isoliert sein (vgl. Enge des Bewufstseins). Das Lustgefühl am erstrebten Endziel mufs nicht dasjenige Lustgefühl vollständig über- schatten, das für die notwendigen Mittel zur Erreichung des Zieles vor- handen ist, sonst erlahmt die Aktion, die die Bedingung des Erfolges ist Ein Kind, das gehen lernen sollte, brachte es leichter fertig, sich einem leeren Stuhl entgegenzubewegen, als einem Stuhl, in dem die Mutter ihm als ersehntes Ziel zuwinkte. Alle anderen Krisen werden an Bedeutung übertroffen von der Wendung die das Sprechen lernen im Leben des Kindes bezeichnet. Die vermeintlichen sprachlichen Neubildungen des Kindes sind nur als Produkte seiner Artikulationsfreude zu betrachten. Sie sind Ausdrücke eines übermächtig werdenden Triebes : durch Lautbildungen Selbsttätigkeit zu entfalten. Stets aber wenn sich das Kind etwas beim Sprechen denkt, ist es auf Nachahmung des Gehörten angewiesen.

Aall (Halle).

161

(Aus der deutschen psychiatrischen Klinik [Prof. A. Pick] in Prag.)

Merkfähigkeit und Assoziationsversuch,

Von Dr. M. Pappenheim, klinischem Assistenten.

Experimentelle Untersuchimgen an einem Kranken, der an einer eigentümlichen Sprachstörung und einer Herabsetzung der Merkfähigkeit litt der Fall wird an anderer Stelle ausführhch publiziert brachten mich auf ein Verfahren im Assoziations- yersuche, das mir nicht ohne Interesse zu sein scheint. Ich brachte ursprünglich bei dem Patienten das JuNGsche Repro- duktionsyerfahren ^ zur Anwendimg, welches darin besteht, ^dafs nach vollendeter Aufnahme der Assoziationen nochmals geprüft wird, ob sich die Versuchsperson erinnert, wie sie auf die ein- zelnen Reizworte reagiert habe", erhielt aber damit keinen be- sonderen Aufschlufs, da der Kränke auch bei kurzen Reihen niemals imstande war, richtig zu reproduzieren, meist auch die wiederholten Reizwörter gar nicht erkannte.

In der Folge stellte ich nun die Versuche so an, dafs ich gleich nach der ersten Aufnahme dem Patienten die- selben Reizwörter ein zweites Mal zurief und ihn in der gleichen VS^eise darauf reagieren Hefs. Die eigentümlichen Er- gebnisse, die ich dabei erhielt, bewogen mich, dieses Verfahren, das ich als „Methode der unmittelbaren Wiederholung" bezeichnen möchte, auch an Gesunden, Hysterischen und Kranken mit Merk- fähigkeitsstörung zu erproben. Die hierbei, namentUch im Zu- sammenhalte mit dem Reproduktionsversuche , der bei jedem einzelnen Worte unmittelbar an die zweite Reaktion angeschlossen wurde, sich ergebenden Resultate möche ich im folgenden kurz anführen.

^ Juno : Experimentelle Beobachtungen über das Erinnerungsyermögen. Zentralbl f. NervenheiHcunde u. Psychiatrie 1905, S. 653.

Zeitschrift für Psychologe 46. 11

162 ^- Papp^nheim.

Mein Verfahren hat grofse Ähnlichkeit mit der von Kbaepeldk^ angewandten Wiederholungsmethode, bei welcher an aufeinander- folgenden Tagen die gleichen Reizwörter benutzt werden, unter- scheidet sich jedoch von dieser wesentlich durch zwei Umstände, den gröfseren Einflufs der Merkfähigkeit und die gröfsere Gleich- heit der Disposition, die an aufeinanderfolgenden Tagen sehr verschieden sein kann. Der Einflufs der Ermüdung bei einer zweiten Aufnahme gleicher Wörter scheint mir nicht bedeutend zn sein, könnte aber eventuell durch eine behebige Verkleinerung der Reihe verringert werden.

Kbaepelin fand mit seiner Methode, dafs die Assoziations- richtung sehr stereotyp ist, indem sich während der ganzen Zeit der Versuche eine verhältnismäfsig geringe Zahl neuer Assoziationen zeigte ; und zwar hatten die konstanten Assoziationen nicht nur bei den Wiederholungen, sondern schon am ersten Tage, zumeist kürzere Reaktionszeiten als die neuen, „weil eben die Assoziationen offenbar schon vor dem Versuche präformiert waren". Es war vorauszusehen, dafs bei unmittelbarer Wieder- holung diese Eigenschaften in noch verstärktem MaTse auftreten würden. Ich möchte das an der Hand einiger ganz kurz wieder- gegebener Beispiele erläutern.

Ich beginne mit einem, an mir selbst angestellten Versuche*, weil einerseits das Ergebnis das eindeutigste war und mir anderer- seits die Resultate der Selbstbeobachtung nicht uninteressant er- scheinen. Bei der ersten Aufnahme fanden sich bei einer mittleren Reaktionszeit von 1,2 gemessen mit der Fünftel- sekundenuhr — 8®/o Reaktionen mit einer Zeit von 1,6 ^3,0. (In der Regel wurden zu den Versuchen Reihen von 100 Wörtern verwendet.) Bei der zweiten Aufnahme betrug die mittlere Reaktionszeit 1,0, bei zwei Reaktionen 1,4 und nur bei einer 1,6. Im ganzen waren 15 7o der Assoziationen verschieden*

^ Kbaepelin: Über den Einflufs der Übung auf die Dauer von Abbo- ziationen. Petersb. med. Wochenschr. 1889, S. 9.

' Cand. med. F. Jahnel, der wiederholt bei meinen Versuchen zugegen war, war so freundlich, das Experiment zu leiten.

' Es ist natürlich nicht ganz gleichgültig, ob die Verschiedenheit bloft formal ist oder den Sinn betrifft. Da aber meine vergleichenden Berech- nungen keine wesentlichen Unterschiede ergeben haben, habe ich der Be- quemlichkeit halber auch die blofs formal verschiedenen als abweichende Reaktionen gerechnet.

Merkfähigkeit und ÄasoziaHanaverauch. Xg3'

yon denen des ersten Versnches. Unter diesen waren sechs unter den früher erwähnten acht mit verlängerter Beaktionszeit Bei %wei von diesen hatte ich bei dem ersten Versuche deutlich das Gefühl einer Hemmung. Bei dem einen wurde auf das Reizwort Kaffee in 2,0 spielen assoziiert, offenbar durch die KlangähnUchkeit mit Klavier bedingt ich hatte das Beizwort aber verstanden , bei dem anderen antwortete ich in 1,6 auf Schwamm nafs, hatte aber das Gefühl, als hätte ich etwas anderes sagen wollen. Beim zweiten Versuche verlief die Reaktion auf Kaffee ungestört (trinken 1,0), die Reaktion auf Schwamm war die oben erwähnte mit der Zeit 1,6 und lautete austrocknen; wieder hatte ich das Gefühl, nicht das gewollte Wort gesagt zu haben. Erst bei der Reproduktion fiel mir das gesuchte Wort ein: ausdrücken.

Schon aus diesem Versuche geht hervor, dafs eine verhältnis- m&fsig grofse Zahl von Reaktionen mit verlängerter Zeit bei der zweiten Aufnahme anders als bei der ersten erfolgt in diesem Falle 75%, gegenüber 10% der normalen Assoziationen und dafs bei einigen derselben der Versuchs- person eine Erschwerung der Assoziationstätigkeit, eine Beein- trächtigung durch ungewollte Vorstellungen bewufst wird. Dieser Kampf der durch ein Reizwort erweckten Vorstellungen scheint mir die Ursache der* Verschiedenheit der Reaktionen bei den beiden Aufnahmen zu sein. Müller und Pilzegkeb ^ haben durch Versuche mit dem Erlernen sinnloser Silben gezeigt, dafs zwei Silben, die mit einer dritten assoziiert sind, aufeinander eine „effektuelle Hemmung" ausüben, und dafs diejenige reproduziert wird, welche der kürzeren Reproduktionszeit entspricht, das ist also jene, welche mit der Reizsilbe am festesten verbunden ist. Dasselbe gilt natürlich auch für den Assoziationsversuch. ^

Durch Zurufen eines Reizwortes wird bei der Versuchsperson eine Reihe von Vorstellungen wachgerufen. Ist eine von diesen durch Übung und Gewohnheit Aschaffenbubg ' konnte zeigen, dafs Personen aus dem gleichen Berufkreise eine grofse Zahl

* MÜLLEB and Pilzbckeb: Experimentelle Beiträge zur Lehre vom Ge- dächtnis. Zeitschr, f. Pnychol Erg. Bd. I, 1900.

* Vgl. Watt: Experimentelle Beiträge zu einer Theorie des Denkens. Archiv f, d. ges. Ftychol 4, S. 289.

* A8CHAPFSNBUR0: Experimentelle Studien über Assoziationen. Psychol. Arbeiten, Bd. 1, S. 288.

11*

1

164 -W. Pappenheim.

gemeinsamer Reaktionen aufwiesen -— oder durch die „augen- blickliche Disposition des Bewufstseins, welche zunächst in der vorwaltenden Gefühlsrichtung ihren Ausdruck findet" (Traut- schold)^ besonders bevorzugt, so wird sie ohne Mühe emporgehoben und zwar wegen der Stärke der Verbindung mit sehr kurzer Reaktionszeit. Da sich wegen der kurzen Dauer des ganzen Versuches die Bewulstseinsdisposition inner- halb desselben nicht wesentlich ändern dürfte, wird bei der zweiten Aufnahme die gleiche Reaktion erfolgen, meist noch etwas schneller, da durch die erste Reaktion die Produktions- tendenz' noch verstärkt wurde.

Besitzen aber zwei oder mehrere von den angeregten Vor- stellungen annähernd die gleiche Produktionsstärke, dann wird es viel leichter möglich sein, dafs bei der zweiten Aufnahme schon eine geringe Schwankung der Bewufstseinsdisposition eine andere Vorstellung über die Produktionsschwelle hebt als bei der ersten. War die Produktionsstärke ziemUch beträchtlich, so wird auch jetzt die Reaktionszeit gering sein. Der EinfluISa der Merkfähigkeit wird sich dabei wohl insofern geltend machen, als doch eine verhältnismäTsig grofse Zahl dieser Assoziationen gleich bleiben wird. Ich konnte nämlich bei den Versuchen an mir beobachten dasselbe teilten mir auch andere Versuchs- personen mit dafs zwar meistens die Erinnerung an die erste Reaktion erst nach dem Aussprechen der zweiten, oft immittelbar danach, bewufst wird selbstverständlich mufs die Versuchs- person angewiesen sein, nicht an den vorhergehenden Versuch zu denken, sondern möglichst schnell wieder zu reagieren dafe aber doch manchmal die Erinnerung an die erste Reaktion noch vor dem Aussprechen der zweiten zum Bewufstsein kommt, in welchem Falle es sich um eine Reproduktion, nicht um eine zweite Reaktion handelt. Allerdings ist es wahrscheinlich, daGs dieser Vorgang vornehmlich gerade bei der ersten Gruppe, den besonders bevorzugten Vorstellungen stattfindet, da gerade diese eine besonders hohe Reproduktionstendenz besitzen.

Was nun die Reaktionen mit verlängerter Reaktionszeit be-

^ Tbaütschold: Experimentelle Untersuchungen über die Assoziation der Vorstellungen. Wundts Philosoph, Stud, 1, S. 213.

' Ich gebrauche diesen Ausdruck im Gegensatze zum Vorgange bei der Reproduktion, bei welchem die bewufste Erinnerung mitspielt.

Merkßhigkeit und Ässoziationwersuch. Ig5

trifft, so sind es, wie Jung^ nachwies, zwei Umstände, die in diesem Sinne wirken doch spielen wohl für einen Teil der Reaktionen auch andere, unbekannte Momente eine Rolle bei einer yerhältnismäüsig geringen Zahl die Schwierigkeit und Selten- heit der Reizwörter, bei der gröfseren der intensive Gefühlston derselben. Durch die erste Gruppe von Reizwörtern, die sich wegen ihrer Seltenheit keine festen Vorstellungsverbindungen geschaffen haben, werden nur Assoziationen mit geringer Pro- duktionstendenz angeregt, weshalb es natürUch länger dauert, bi» eine von ihnen den Schwellenwert erreicht, bei der zweiten kommt es offenbar durch einen hemmenden Einflufs des Gefühls- tones zu einer Herabsetzung der Produktionsstärke der angeregten Vorstellungen-, wodurch die Dauer bis zum Überwertigwerden verlängert wird. In beiden Fällen also sind die Reaktionen Vorstellungen mit ursprünglich schwacher Pro- duktionstendenz, weshalb sie auch oft den Charakter des OberflächHchen, Unnatürlichen, Gesuchten tragen. Daraus aber wird es begreiflich, dafs bei einer Wiederholung desselben Ver- suches die Wahrscheinlichkeit verhältnismäfsig grofs ist, dafs diesmal eine andere der nur schwachen Vorstellungen früher überwertig wird als die Reaktion des ersten Versuches, welche allerdings durch die erste Aufnahme eine Verstärkung ihrer Produktionstendenz erfährt. Dabei kann, wie das Beispiel zeigt, die zweite, verschiedene Reaktion für die gleichen ist das selbstverständlich auch oft viel schneller erfolgen als die erste, indem, wie schon Kraepelin durch seine erwähnten Unter- suchungen nachweisen konnte, auch nichtbewufstwerdende Assoziationen einen zeitverkürzenden Einflufs erfahren.

Über die Beziehung der Neuassoziationen zum Erinnerungs- vermögen konnten die an mir angestellten Versuche nur geringen Aufschlufs geben, da die Reproduktion in allen Fällen gelang. Es läfst sich also nur sagen, dafs die Zahl der Neuassozia- tionen die der Reproduktionsfehler übertraf und dafs bei guter Merkfähigkeit auch Reaktionen mit verlängerter Reaktionszeit richtig reproduziert werden können. Weitere Zu-

* Jung: Diagnostische Assoziationsstudien. Journal f. Psych, u. NeuroL 6, 8. 1.

* Daßs gefühlsbetonte Eindrücke hemmend wirken, geht aus den Aus- drücken des gewöhnlichen Lebens: starr werden, verblüffen usw., hervor.

166 M. Pappenheim.

sammenhänge will ich an der Hand des folgenden Versudies besprechen, welcher mit einem 25 jährigen, etwas nervösen Doktor der Medizin angestellt wurde.

Das wahrscheinliche Mittel der Reaktionszeit betrug bei der ersten Aufnahme 1,4, bei der zweiten 1,2. Bei der ersten Auf- nahme fanden sich 14 Reaktionen mit einer Reaktionszeit von 2,4 11,4. (Die Reaktionszeiten von 1,6 und 1,8, welche eine grofse Zahl von Reaktionen erreichten, habe ich nicht zu dem abnorm langen gerechnet.) Bei der zweiten Aufnahme fanden sich 32 verschiedene Reaktionen. Acht von ihnen hatten beim ersten Versuche verlängerte Reaktionszeit, die anderen 24 nor- male. Es waren also von den verlangsamten Reaktionen 57%, von den normalen 28^0 bei der zweiten Aufnahme verschieden. Diese letzteren hatten alle wieder annähernd normale Reaktions- zeit, ebenso die sechs verlangsamten, unveränderten Reaktionen. Von den acht verlangsamten, verschiedenen hatten drei abermalß verlängerte Reaktionszeit, die anderen fünf normale. Der Repro- duktionsversuch ergab sechs falsche Wörter, bei 14 Wörtern er- klärte die Versuchsperson, dals sie sich an die Reaktion nicht erinnere. Alle sechs falschen Reproduktionen waren solche, bei denen die bei der zweiten Aufnahme erfolgte, verschiedene Reaktion auch als Reproduktion genannt wurde. Von den 14 versagenden Reproduktionen entsprachen 13 verschiedenen Reak- tionen, blofs eine einer bei der ersten und zweiten Aufnahme gleichen Reaktion, und zwar mit normaler Reaktionszeit. Die übrigen 13 verschiedenen Reaktionen wurden richtig reproduziert, sieben von ihnen jedoch nach längerem Nachdenken oder mit dem Gefühle der Unsicherheit.

Vor allem geht aus diesen Untersuchungen hervor, dafe ge- rade diejenigen Reaktionen, welche bei der zweiten Aufnahme in anderer Weise erfolgen, die Tendenz in sich haben, vergessen zu werden. 19 versclüedene Reaktionen, also 60^0 aller vorhandenen, wurden überhaupt vergessen, bei sieben weiteren, also bei 22%, erfolgte die Reaktion unsicher oder weniger prompt. Auch dieser letztere Umstand erscheint mir von Bedeutung, weshalb ich empfehlen möchte, beim Repro- duktionsversuche immer die Reproduktionszeit zu messen. Denn späte oder unsichere Reproduktion zeigt, sozusagen, einen ge- ringeren Grad des Vergessens der Reaktion an und hat, auch im Sinne der JuNGschen Auffassung dieses Phänomens, mit der

Merkßhigkeit und Ässoziationsvers^ich. 167

ich mich noch auseinanderzusetzen habe, eine gewisse Be- deutung.

Im Einklänge mit dem ersten Beispiel zeigt sich auch hier, dafs die Zahl der verschiedenen Reaktionen noch gröfser ist als die der Reproduktionsfehler. Die Reaktionen, die bei der ersten Aufnahme verlängerte Reaktions- zeit hatten, verhielten sich im Reproduktionsversuche folgender- malsen: Die sechs, bei beiden Aufnahmen gleichen, wurden alle auch richtig reproduziert. Es hatte offenbar die erste Aufnahme genügt, um der Reaktion die zur zweiten Reaktion und zur Reproduktion nötige Reproduktionsstärke zu verleihen. Von den acht verlängerten und verschiedenen wurden vier richtig reprodu- ziert, vier falsch und zwar waren zweite Reaktion und Repro- duktion identisch. Es wurden also im ganzen von den 14 Reak- tionen mit verlängerter Reaktionszeit vier, das siad 29 ^/o nicht reproduziert, von den 86 in normaler Zeit erfolgenden 15, das sind 17 %. Es ist dies eine Bestätigung der von Jung gefundenen Tatsache, dafs verlangsamte Assoziationen eher ver- gessen werden als normale, einer Tatsache, die auch mit den vorhin besprochenen Ergebnissen vollständig übereinstimmt, denen zufolge die verlangsamten Reaktionen verhältnis- mäfsig öfter bei der zweiten Aufnahme eine verschiedene Reaktion ergeben als die normalen, und dafs die ver- schiedenen Reaktionen leichter vergessen werden, als die gleichen. Der Grund für diese Tatsache ist nach der obigen Erklärung klar. Eine Vorstellung löst eine mit ihr asso- ziierte um so sicherer und gleichzeitig auch um so schneller daher die Bedeutung der Reproduktionszeitmessung aus, je inniger sie mit ihr verknüpft ist. Die gleichen Assoziationen, die nach der obigen Darstellung die festesten, konstantesten sind, werden daher am ehesten gemerkt und am schnellsten reprodu- ziert, die verschiedenen Reaktionen mit normaler Reaktionszeit werden schon öfter vergessen oder unsicherer und langsamer reproduziert, die verlangsamten Reaktionen endlich, die schon das erstemal ihre minder feste Verknüpfung erweisen bei den übrigen geschieht das erst durch die zweite Aufnahme werden um so leichter vergessen. Allerdings wirkt bei diesen manchmal der Umstand entgegen, dafs gerade die lange Reaktionszeit die Aufmerksamkeit der Versuchsperson auf diese Reaktion lenkt die Versuchspersonen beobachten das oft selbst , so dafs es

168 M, Pappenheim.

dann doch manchmal vorkommt, daTs auch bei diesen die zweite Reaktion in gleicher Weise, nnd dann fast immer auch die Reproduktion richtig erfolgt.

Aus einer Vergleichung des Vorkonmiens der verschiedenen Reaktionen und der Reproduktionsfehler ergibt sich demnach, daTs die verschiedenen Reaktionen gleichsam eine Vor- stufe, ein geringerer Grad des Vergessens der ersten Reaktion sind. Beide Vorgänge sind durch dieselbe Ursache bedingt, nämUch die, daTs bei der ersten Aufnahme mit einem Worte reagiert wird, das mit dem Reizworte nur schwach ver- knüpft ist, sei es, weil dieses wegen seiner Seltenheit überhaupt nur schwache Vorstellungen anregt, sei es weil ein starker Ge- fühlston die Reproduktionsstärke der angeregten Vorstellong hemmt. Auch Jung nimmt eine Stönmg der ersten Reaktion an, wenn er meint, dafs „in der Oberflächlichkeit dieser Asso- ziationen häufig auch mit* ein Grund für das rasche Ver- gessen liegt". Meiner Ansicht nach aber liegt darin der einzige nachweisbare Grund. Dafs die Verdrängung des Unlust- affektes im FaEunschen Sinne die Ursache des Vergessens der Reaktion ist natürhch wende ich mich damit nicht gegen die FEEUDsche Anschauung überhaupt scheint nur durch nichte erwiesen zu sein. Dagegen spricht der Umstand, dafs, wie ich im vorigen gezeigt habe, auch Reaktionen mit normaler Reak- tionszeit * also anscheinend ohne stärkeren G^fühlston ver- gessen werden. Aber auch schon von vornherein scheint es mir nicht sehr entsprechend, eine Verdrängung eines ünlust- affektes dort anzunehmen, wo es sich gar nicht um das Ver- gessen einer Vorstellung oder eines Affektes, sondern blofs um das eines Wortes handelt. Wenn z. B., um ein Beispiel Jungs anzuführen, die Versuchsperson auf das Reizwort Kuh mit schlachten reagiert und statt dessen bei der Reproduktion töten sagt, so beweist da« doch, dafs dieselbe Vorstellung wie beim Versuche auch jetzt wiederkehrt. Es wurde also nicht die Vorstellung verdrängt, die sich in der Reaktion äufserte, sondern, wenn überhaupt etwas verdrängt wurde, die durch das

^ Im Originale nicht gesperrt gedruckt.

' Ich mufs dazu bemerken, dafs von den normalen Reaktionen, ^^ Reproduktions fehler ergaben, sich blofs eine einzige an eine verlangsamte Reaktion anschlofs, für die man im Sinne Jungs einen perseverierenden Gefühlston annehmen könnte.

Merkßhigkeit wid Assoziationsversuch. Ig9

Reizwort angeregte Vorstellung, die dann eben in der Reaktion nicht zutage trat. Jung scheint das auch zu meinen, wenn er die Reaktion als „Deckerinnerung" bezeichnet. Ist dem aber so, dann wird die Reaktion doch nicht wegen eines Unlustaffektes vergessen, da sie als „Ausrede" gar nicht verdrängt zu werden braucht, sondern sie wird leichter vergessen, weil sie mit dem Reizworte weniger fest verbunden ist, ob das nun durch eine Verdrängung der erweckten Vorstellung durch eine ferner liegende ^ was sich nicht beweisen läfst, oder einfach durch eine, von vornherein oder infolge einer, durch einen Unlustton be- dingten, Hemmung, geringe Produktionsstärke bedingt ist.

Die Verschiedenheit der Reaktionen bei der zweiten Auf- nahme, sowie das Versagen der Reproduktion sind also ein Zeichen einer wenig innigen Verknüpfung* zwischen Reizwort und erster Reaktion, wie sie häufig als Folge eines starken Ge- fühlstones auftritt. Auf die Bedeutung dieses letzteren im Asso- ziationsexperimente hingewiesen zu haben, ist sicher ein grofses Verdienst Jungs. In die Assoziationsversuche aber noch mehr hineindeuten zu wollen, scheint mir nach den vorliegenden Unter- suchungen nicht tunlich.

^ Diese Annahme macht Alfbbd Gross in einer jüngst erschienenen Arbeit (Kriminalpsychologische Tatbestandsforschung. Jurist-psych, Grenz- fragen 5, H. 7) zur Erklärung der von Juno beobachteten Erscheinung. „. . . . eine Dissimulationstendenz der ^schuldigen' Versuchsperson ein- schiebt, welche neben einer Verlangsamung der Reaktionszeit bewirkt, dafs Versuchspersonen nicht die durch das Beizwort primär erregte Vorstellung in der Reaktion zum Ausdrucke bringt, dafs sie dieselbe vielmehr, um sich nicht zu verraten, ablehnt und nach einer anderen unauffälligen Reaktion sucht" Gross, der ebenfalls gegen die JüNOsche Annahme vom Einflüsse des ünlusttones polemisiert, hat nicht beachtet, dafs Juno selbst in der zitierten Arbeit die von ihm (Gross) herangezogene Ursache erwähnt. „Die Reaktionsworte, die so leicht vergessen werden, muten an wie Ausreden,

sie spielen etwa eine ähnliche Rolle, wie die ,Deckerinnerungen' Frbüds

Derartige Reaktionen haben etwas von (natürlich unbewufstei) Simulation an sich usw.'' Jung hat dies blofs nicht so klar ausgesprochen und ist sich vor allem des oben dargelegten Widerspruchs mit der hauptsächlich von ihm vertretenen Ansicht nicht inne geworden.

Bei guter Merkfähigkeit wird, wie die beiden Beispiele zeigen, auch diese schwache Verknüpfung oft genügen, um die Reproduktion zu ermög- lichen. So fanden sich unter den richtigen Reproduktionen des zweiten Beispieles zwei, deren erste Reaktionszeit 9,4 und 11,2 betragen hatte und für deren Verzögerung mir die Versuchsperson einen Gefühlston als Grund angegeben hatte.

170 ^' Fappenheini.

Das Vergessen des Reizwortes kann aber noch weiter geh^i als bis zum Versagen der Reproduktion, nämlich bis zum Ver- sagen des Wiedererkennens.

So gab eine 37 jährige Hysterica, deren Krankheitsbild haapt- sächUch' durch lebhafte Tagträumereien charakterisiert war, nach einem Assoziationsversuch mit 100 Wörtern an, dafs 37 Wörter überhaupt nicht dagewesen seien; überdies wurden zwei Reaktionen falsch und zehn überhaupt nicht reproduziert. Im ganzen fanden sich also 49 Reproduktionsfehler. Bei der zweiten Aufnahme waren 35 Reaktionen anders als bei der ersten, überdies wurde bei der ersten Aufnahme auf neun Wörter, bei der zweiten auf . zwei andere überhaupt nicht reagiert, so dafs im ganzen 46 Wörter nicht dieselbe Reaktion aufwiesen. Aufser diesen wurden also noch drei gleiche Reaktionen nicht reproduziert. Es bildet dieses Ergebnis einen Übergang zu den Versuchsresultaten bei organischer Merkfähigkeitsstörung. Bei dieser ist, wie ich zeigen werde, die Zahl der Reproduktionsfehler weitaus gröfser als die der verschiedenen Reaktionen, während beim Normalen gerade umgekehrt die Zahl der Neuassoziationen überwiegt. Aber auch die Zahl der verschiedenen Reaktionen in diesem Falle war eine abnorm grofse. Der Grund hierfür liegt darin, dals die Kranke sich während des ganzen Versuches in einer gewissen Aufregung befand, welche die normale Assoziationstätigkeit störte und die sonst gewohnte Verknüpfung der Reizwörter mit ihrem Vorstellungsinhalte verhinderte. Auch die hohe Reaktionsdauer wahrscheinliches Mittel der ersten Aufnahme 2,3, der zweiten 2,2 und die zahlreichen verlangsamten Reaktionen aufser den überhaupt nicht erfolgenden 19 verlangsamte sprechen dafür. Übrigens gaben gerade verhältnismäfsig viele dieser ver- langsamten Reaktionen bei der zweiten Aufnahme identische Reaktionen, nämlich elf, und auch richtige Reproduktionen, näm- Heb zehn, während von den übrigen nicht mit „Komplexmerk- malen" behafteten Assoziationen recht viele vergessen wurden, was wohl auch im Sinne der eben gegebenen Erklärung spricht.

Zeigen also diese Beispiele, dafs das Erinnerungsvermögen für gestiftete Assoziationen von der Innigkeit ihrer Verknüpfung abhängt, so ist es umgekehrt auch von Interesse, den Einflufs einer Störung der Merkfähigkeit auf die Assoziationsbildung zu prüfen. Ich will dafür zwei Beispiele anführen.

Der eine Versuch wurde mit einem 35 jährigen Manne an-

Merkfähigkeit und Ässoziationsverauch. 171

gestellt, bei dem eich vor drei Jahren eine gewisse Reizbarkeit und später allmählich zunehmende Vergefslichkeit und psychische Schwäche einstellten und der gegenwärtig aufser einer gewissen Urteilsschwäche und hochgradiger Merkfähigkeitsstörxmg nichts Abnormes bietet.

Ein Versuch mit einer Reihe von 50 Wörtern ergab folgendes Resultat. Die Reaktionszeit der ersten Aufnahme betrug 2,9 (das arithmetische Mittel 3,2), die der zweiten Aufnahme 3,0 (das arithmetische Mittel 4,1). An den Reaktionen fiel aufser der langen Reaktionszeit die häufige Wiederholung des Reizwortes und die Satzform der sehr einförmigen Assoziationen auf, unter denen z. B, das Wort Mensch (hassen: hassen . . , der Mensch hafst) sehr oft wiederkehrte lauter Eigenschaften, wie sie die Assoziationen Imbeziller^ und Dementer* charakterisieren. Bei der zweiten Aufnahme fanden sich blofs20% neuer Asso- ziationen, unter ihnen alle acht, das sind 16®/o d^r Gesamt- zahl, mit auffallend verlängerter Reaktionszeit, die aUe auch bei der zweiten Aufnahme abnorm verspätet auftraten. Alle Reiz- wörter wurden beim Reproduktionsversuche als unbekannt be- zeichnet.

Der Versuch zeigt also, dafs, im Gegensatze zum Normalen, eine Beeinflussung der Reaktionsdauer der zweiten Aufnahme durch die erste nicht erfolgte, dafs dagegen, ebenso wie beim Gesunden, gerade zu den verlängerten Reaktionszeiten verhältnis- mäfsig viele verschiedene Assoziationen gehörten und dafs, un- geachtet der Merkfähigkeitsstörung, zahlreiche Reaktionen bei der ersten und zweiten Aufnahme gleich blieben. Diese letztere Tatsache wurde allerdings, glaube ich, zum Teile auch dadurch begünstigt, dafs der Kranke, wie Wbeschneb* für die Assoziationen eines Falles von Idiotie ausführt, aus „Armut an entsprechenden Vorstellungen" immer in gleicher Weise reagierte.

Im Gegensatze dazu ergab der Versuch mit dem zweiten Kranken ein ganz normales Verhalten der Assoziationstätigkeit. Es handelte sich um einen 66 jährigen Mann, der neben, in letzter Zeit merkbaren, moralischen Defekten eine ziemlich starke Merkfähigkeitsstörung aufwies.

^ Wehklin. Journal f, Psychol. L * Juno. Journal f. Psychol. 5.

' Wbbschneb : Eine experimentelle Studie über Assoziationen in einem Falle von Idiotie. Allg, Zeitschr. f. Psychiatrie 57, S. 241.

172 ^' Fappenheim,

Der Versuch eine Reihe von 60 Wörtern ergab bei der ersten Aufnahme eine wahrscheinliche mittlere Reaktionszeit von 1,9, eine ebensolche bei der zweiten. Im ganzen fanden sich vier (7%) Reaktionen mit verlängerter Reaktionszeit im ersten und fünf (8^/o) im zweiten Versuche. In diesem lauteten 34 ®/o anders als bei der ersten Aufnahme, unter ihnen befanden sich alle mit verlängerter Reaktionszeit. Erkannt wurden 92% der Reizwörter, richtige Reproduktionen erfolgten in 10®/o niemals bei verschiedenen Reaktionen in allen übrigen Fällen sagte die Versuchsperson entweder, dafs sie nicht wisse, wie sie reagiert habe, oder und dies geschah auch oft, wenn die beiden Reaktionen gleich waren dafs sie früher anders reagiert habe. Falsche Reproduktionen erfolgten nicht.

Dieser Versuch zeigt aufser den wiederholt hervorgehobenen, den Normalen zukommenden Gesetzmäfsigkeiten, eine, im Ver- hältnisse zur geringen Zahl der verlangsamten Reaktionen, grofse Zahl von Neuassoziationen. Dem entsprach auch, dals ich an einem anderen Tage bei 15 ^/o verlangsamten Reaktionen 44 % Neuassoziationen fand. Bei normaler Merkfähigkeit konnte ich eine so grofse Zahl nur bei sehr gestörter Assoziationstätig- keit finden. Ich glaube demnach, dafs die Merkfähigkeit die zweite Reaktion, wenn auch nur in mäfsigem Grade, beeinflufst, indem durch sie einige Reaktionen, die sonst verschieden aus- fielen, auch im zweiten Versuche die nötige Produktionsstirke erhalten. Bemerkenswert ist immerhin, dafs auch unabhängig von der Merkfähigkeit eine so grofse Zahl von Assoziationen in ganz gleicher Weise gebildet wird. Es wäre verlockend, das durch die Annahme einer Erinnerung im Unterbewufstsein er- klären zu wollen, da ich bei Versuchen, bei denen die beiden Aufnahmen in einem Intervall von einer Stunde erfolgten, schon eine bedeutend gröfsere Zahl verschiedener Assoziationen fand. Die Änderung der Bewufstseinsdisposition allein scheint mir znr Erklärung nicht zu genügen. Es wäre nicht uninteressant, dieser Frage an einer gröfseren Zahl von Kranken mit herabgesetzter Merkfähigkeit nachzugehen. Ich verfügte leider nicht über mehr geeignete Versuchspersonen als diese beiden.

Im Anschlüsse daran möchte ich noch kurz den Fall er- wähnen^, der den Anlafs zu diesen Untersuchungen gab. Es

Pappenheih. Journal f. Psych, u. Neurol. 0.

Merkßhigkeit und Ässoziaiionsversuch, 173

handelte sich um einen 56 jährigen Mann, der nach einem ganz leichten apoplektischen Insult neben einer allgemeinen Gedächtnis- tind Merkfähigkeitsstörung eine eigentümliche Sprachstörung darbot.

Das Assoziationsexperiment ergab auf der Höhe der Krank- heit bei der zweiten Aufnahme der Reizwörter bis zu 85 % neu- gebildeter Assoziationen und ein gänzhches Versagen des Er- innerungsvermögens. Ich konnte in diesem Falle den Nachweis führen, dafs die grofse Zahl der Neuassoziationen auf eine, organisch bedingte, Erschwerung und Lockerung der Assoziations- tätigkeit zurückzuführen war, durch welche sich auch die Sprach- störung erklärte. TatsächUch ging auch die Sprachstörung ziem- lich parallel mit der Abnahme der Zahl der verschiedenen Reaktionen zurück, ein Umstand, der meine Ansicht von der Lockerung der Assoziationen als Ursache der verschiedener Reaktionen und der Reproduktionsfehler wesentUch zu stützen vermag.

(Eingegangen am 19. JwK 1907.)

1

174

Die Methode der vereinigten Selbstwahraehmung.

Von

Dr. RiCHAED Baebwald.

In der Zeitschrift für Ästhetik u. cAlgemeine Kunsttcissenschafl (2, 2, 1907) veröffentlichte ich einen Aufsatz „Zur Psychologie des Komischen'', enthaltend die Ergebnisse einer Enquete der Berliner Psychologischen Gesellschaft, mit deren Hilfe ich Lipps' Beobachtung des „Hin- und Hergehens der komischen Vor- stellungsbewegung" sowie seine Theorie der psychischen Stauung einer Prüfung zu unterziehen versuchte. Es schwebte mir aber bei der Veranstaltung jener Umfrage von vornherein noch ein zweites Ziel vor : Ich wollte erproben, ob es nicht mögUch wäre, zur Erforschung derjenigen komplexeren Erscheinungen des Seelenlebens, die bisher fast ausschUefslich der individuellen Selbstbeobachtung vorbehalten gewesen sind, in der Enquete ein exakteres Hilfsmittel zu gewinnen und dieses Verfahren soweit zu entwickeln, dafs es einer so grofsen Aufgabe gewachsen sei. Es galt, mit anderen Worten, zu prüfen, ob nicht die Umfrage auf dem Gebiete der „höheren" Psychologie eine ähnliche RoUe spielen könnte, wie sie sich für das Bereich der elementaren seelischen Erscheinungen das Experiment erworben hat. Ob nun der Versuch in der Praxis Erfolg gehabt hat, mögen die kritischen Leser des genannten Artikels beurteilen; sofern er aber mir selbst neue methodische Gesichtspunkte und Erfahrungen geboten hat, möchte ich sie im folgenden vorlegen.

Unter allen psychologietreibenden Ländern hat sich Deutsch- land der psychologischen Enquete gegenüber nicht nur praktisch am sprödesten verhalten, es hat sogar den Protest dagegen zu einem Punkte seines methodischen Programms erhoben. W. Stkrn, der Wortführer dieser Richtung, sieht in der Enquete ein rein statistisches, zu Zahlenverhältnissen führendes Hilfsmittel, glaubt,

Die Methode der vereinigten Selbstwahrnehmung. 175

im allgemeinen gewifs mit Recht, dafs zu diesem Zwecke die vereinigte Autopsie mehrerer Psychologen die zumeist doch wohl auf ein Massenexperiment hinauslaufen würde dienlicher sei als die Methode der vereinigten Selbstwahmehmung , und verwirft infolgedessen die letztere wenigstens in seiner „Psycho- logie der individuellen Differenzen" ganz und gar. Als die Psychologische Gesellschaft ihre Umfrage unternahm, wurden von fachpsychologischer Seite ähnliche Bedenken laut mit der besonderen Motivierung, dafs bei einer so komplizierten, schwer zu beobachtenden Erscheinung, wie sie den Gegenstand unserer Umfrage bildete, das Verfahren der Enquete erst recht versagen niüfste.

Der Dilettantismus mancher amerikanischen Umfragen hat dazu gedient, die Gefahren zu markieren, die diese Methode mit sich bringt. Aber was daran gerügt wird, betrifft zum Teil Fehlerquellen, die sich vermeiden Ifiissen, wenn man sie kennt, und keineswegs bedenklicher sind als diejenigen, die das experi- mentelle Verfahren aufweist. Ein Einwurf aber wird erhoben, der allerdings, wenn er berechtigt wäre, die Methode der ver- einigten Selbstwahmehmung fast ganz erschüttern würde. Es wird nämUch behauptet, nur die „fachwissenschaftlich geschulte Beobachtungsgabe'* genüge, um zuverlässige Aussagen zu liefern. Das Befragen psychologischer Laien sei also unstatthaft.^

Worauf beruht denn diese Fähigkeit der Selbstwahrnehmung? Wie bei der Beobachtungsgabe überhaupt, läfst sich hier ein formaler, allgemeiner und ein materialer, spezieller Faktor unter- scheiden.* Der formale, der für jede beliebige Beobachtung ohne Unterschied des Gebietes in Frage kommt, besteht namentlich, wie die Ergebnisse BiNETscher Schilderungs - und STEBNscher Aussageversuche zeigen, aus zwei geistigen Eigenschaften oder Grewohnheiten. Erstlich beruht er auf der Gabe der verlängerten Aufmerksamkeit auf das Beobachtungsobjekt. Bei vielen Personen ist diese Fähigkeit durch übergrofse Spontaneität der geistigen Arbeit verkümmert, schon der erste vage Eindruck des Objekts ruft eine solche Flut von Einfällen, kritischen Versuchen, Deutungs- und Erklärungsgedanken hervor, dafs von da ab fast

* W. Stebn: „über Psychologie der individuellen Differenzen^ 8. 30.

Ausführlicher, wenn auch einseitiger, hahe ich diese Frage behandelt in meinem Artikel „Beobachtungsgabe" in Bsn^s Encyklopädischem Hand- buch der Pädagogik. 2. Auflage oder Ergänzungsband der 1. Auflage.

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176 Richard Baerwald.

nichts mehr genau und vorurteilslos gesehen wird. Der allzu einseitige type observateur liefert daher manchmal wahrhaft monströse Schilderungen gesehener Objekte, und ein solches Fehlen der Pietät gegenüber dem Gegebenen mufs sich gerade bei der nebulosen inneren Wahrnehmung besonders fühlbar machen. Als zweites, bei Aussage- und Auffassungsversuchen hervortretendes formales Moment kommt in Betracht die ürteil&- vorsicht, die Selbstkritik, die Intensität jenes Unsicherheits- und Zweifelgefühls, das uns warnt, wenn wir auf Grund unzu- reichenden Beobachtungsmaterials ein vorschnelles, entscheidendes Urteil fällen wollen.

Als halbformaler Faktor, der zwar von dem Beobachtungs- gebiet, nicht aber von dem beobachteten Einzelobjekt abhängig ist, spielt femer eine Rolle die Kenntnis der besonderen Methoden und der Besitz der speziellen Fertigkeiten, deren sich die experi- mentelle Psychologie bedient. Dieses Moment hat es wohl be- wirkt, dafs man an eine nur dem Psychologen eigene formale Beobachtungsgabe für seelische Vorgänge geglaubt hat. Aber es kommt nur für die experimentelle Arbeit in Betracht, nicht für die reine Selbstwahmehmung, mit der die Enquete operiert

Den formalen Faktoren der Fähigkeit innerer Beobachtung steht nun der mindestens gleich wichtige materiale gegenüber. Man sieht in einem Objekt weit mehr, wenn man auf Grund früherer Erfahrungen oder mitgeteilter begrifflicher „Beob- achtungskategorien'' weiTs, was man sehen soll und kann, was es in ihm zu beachten und zu unterscheiden gilt. Wie die Zahl der wiedererkannten Farbennuancen für denjenigen wächst, der als Maler Farbenerfahrungen oder durch das Merken von Farben- namen verschiedener Sprachen Beobachtungskategorien angehäuft hat, so kann man auch eine gröfsere Zahl verschiedener Gefühle unterscheiden, wenn man sie als Novellist in sich studiert oder als Psychologe von ihnen gelesen hat. Allein solche Erfahrungen imd Begriffe haben ein ganz beschränktes Gebiet, auf dem sie die Beobachtung fördern. Die Kenntnis unseres Gefühlsinventars nützt ims nichts, wenn es Empfindungen oder Vorstellungeu zu beobachten gilt.

Die oben erwähnten formalen Faktoren, d. i. die verlängerte, ungestörte Aufmerksamkeit auf das Objekt und die Urteils- vorsieht, sind kein Vorrecht des Fachpsychologen, schon deshalb, weil sie vom Beobachtungsgebiete ganz unabhängig sind. Ihre

Die Methode der vereinigten Selbstwahmehmung. 177

Erziehung wird durch jede beliebige wissenschaftliche Arbeit gefördert. Denn jede Wissenschaft verlangt Exaktheit und vor- sichtige Zurückhaltung des Urteils wenn auch die experi- mentelle Arbeit durch die Nackenschläge, die sie dem vorschnell urteilenden austeilt, hierin ein gewisses Übergewicht hat und die naturwissenschaftlichen Disziplinen entwickeln beim Wahr- nehmen, die historisch - philologischen beim Lesen die Gabe pietätvollen und unverfälschten Rezipierens, die reinliche Scheidung zwischen Feststellung des objektiven Tatbestandes einerseits und der Hypothesenbildung und Kritik andererseits. Soweit also nur die formalen Faktoren der Selbstwahmehmung in Betracht kommen, ist jeder wissenschaftlich gebildete, ja jeder besonnene und an aufmerksame Beobachtung gewöhnte Mensch ebenso urteilsfähig wie der Psychologe. Der Glaube, dafs letzterer eine ganz allgemeine „fachwissenschaftlich geschulte Beobachtungs- gabe" besitzt, die sich überall geltend machen müsse, auch da, wo die Wissenschaft noch gar kein spezielles Vorwissen entwickelt hat, ist eine fable convenue, ein interessantes Pendant zu dem „königlichen Weg" der spekulativen Philosophen. Bei den ver- wickeltsten psychischen Erscheinungen, denen gegenüber wir erst wenige Beobachtungskategorien besitzen, schlagen Dichter wie die George Eliot, Flaubeet und Dostojewskij die Fach- psychologen durch die Feinheit ihrer Analyse. Gewissen Tachi- stoskopversuchen wurde nachgerühmt, dafs sie die Fähigkeit der Selbstbeobachtung aufs feinste entwickelten, und dafs Personen, die an derartigen Versuchen teilgenommen hätten, später auf ganz heterogenen Gebieten Wahrnehmungen verifiziert hätten, zu den«n sie vorher unfähig gewesen wären. Ich habe von der angeblichen Wirkung jener Versuche bei mir selbst nichts be- merkt, und jene Meisterstücke der geschulten Selbstwahmehmung erwiesen sich als Beobachtungen so schwankender und frag- würdiger Natur, dafs man eher geneigt sein konnte, an eine gesteigerte SuggestibiUtät zu glauben, die den Schüler allmählich alles sehen liefs, was der Meister von ihm verlangte. Zu der Umfrage der Psychologischen Gesellschaft üeferten die Psycho- logen und Ästhetiker zum Teil die detailliertesten Berichte, weil sie eben über die meisten Vorbegriffe verfügten; aber die zu- verlässigsten und objektivsten, weil am wenigsten von Theorien und vorgefafsten Ansichten befangenen Bekundungen verdanken wir den psychologisch interessierten Ärzten, vielleicht den ge-

ZoiUchrift tfSa Psychologie 46. 12

178 Richard Baenoald.

eignetsten Personen, die man zu einer derartigen Enquete heran- ziehen kann. Wir sind also für Umfragen keineswegs auf die Selbstwahrnehmung der Fachpsychologen angewiesen, aber es geht doch aus den obigen Darlegungen hervor, dafs es ein schwerer Fehler wäre, solche Personen zu befragen, die weder wissenschaftliche Bildung besitzen noch dem Veranstalter der Umfrage als besonnene Urteiler und aufmerksame Beobachter bekannt sind, also keine Veranlassung bieten, die erwähnten formalen Bedingungen der Beobachtung bei ihnen vorauszusetzen. Enqueten, die durch Ankündigungen in den Zeitungen Material suchen und jedem, der eine Rolle spielen möchte, das Wort geben, können nicht als wissenschaftliche Unternehmungen an- gesehen werden. Über die Notwendigkeit dieser Einschränkung hat schon Ribot^ keinen Zweifel gelassen.

Die durchschnittliche Überlegenheit der psychologisch ge- schulten Selbstwahrnehmung, soweit sie vorhanden ist, beruht auf dem materialen Faktor, dem Besitz von Vorkenntnissen, bezüg- lichen Erfahrungen, Gesichtspunkten der Beobachtung. Aber weil hier nicht die Beherrschung der psychologischen Wissenschaft als Ganzes wirkt, weil als Vorwissen für eine einzelne Frage immer nur ein kleiner Ausschnitt der psychologischen Erkenntnisse und Begriffe in Betracht kommt, so läfst sich dieses Vorwissen auch dem Laien in kurzer Zeit mitteilen,^ die ungeschulte Selbst-

^ Kibot: „Sur la valeur des questionnaires en psychologie". Journal de Psychologie normale et pathologique 1, 1904, 8. 1 10.

* Dieser Satz erleidet freilich eine Ausnahme. Man kann in kurzer Zeit Begriffe vermitteln, die ihr Erfahrungsmaterial schon im Geiste des Hörers vorfinden; aber viel schwieriger ist es, ihn erst zu Erfahrungen zu veranlassen, die er noch nicht gemacht, ihn etwas sehen zu lassen, was er noch nicht gesehen hat. Dieser Satz gilt schon für die äufsere Beobachtang. Ein verschwindend klein am Horizonte erscheinendes Schiff, ein Reh am fernen Waldrand, den Unterschied zweier ähnlicher Pflanzen muTs man erst ein- oder zweimal entdeckt haben, ehe man diese Eindrücke beliebig wieder* finden kann, ehe man sich dafür die geschulte Beobachtung des Seemanns^ Jägers, Botanikers gewonnen hat. Nicht anders steht es nun mit der Selbstwahrnehmung. Das motorische Element unserer Wortvorstellungen z. B., das sich der Selbstbeobachtung sogar bei motorisch veranlagten Personen leicht entzieht, wird man nicht sofort auf den ersten Hinweis feststellen können. Doch sind derartige Fälle in der inneren Wahrnehmung nicht häufig, weil hier der Fachmann dem Laien nur in bezug auf ca> sammenfassende Gesetze und Begriffe, nicht aber auf rohe Erfahrung wesentlich überlegen ist.

Die Methode der vereinigten Selbe ttoahrnekmung, 179

wahrnehmuDg läfst sich für ein bestimmteB Problem, das den Gegenstand einer Enquete bildet, durch einen Vortrag, eine ein- führende gedruckte Erörterung in eine geschulte verwandeln. Inhalt dieser Vorbereitung wäre die Angabe der Tatsachen, die auf dem betreffenden Gebiete schon gefunden sind, der Unter- scheidungen, die vorzunehmen sind, der Verwechslungen, die man zu meiden hat, vielleicht auch der Punkt soll uns gleich näher beschäftigen der Hypothesen, die durch die Enquete bestätigt oder widerlegt werden sollen, und der Zwecke, denen die einzelnen Fragen dienen. Am vollständigsten und wirk- samsten wird sich diese Beobachtungsschulung ad hoc da er- weisen, wo die Umfrage aus einer Reihe von Vorlesungen heraus- wächst, wo ein Professor oder Dozent Fragen an die Zuhörer richtet, die sich an sein Kolleg anschliefsen, wie es G. Heymans bei seiner Enquete über Depersonalisation und fausse recon- naissance getan hat.^ Denn hier ist die Mitteilung der Beob- achtungskategorien Selbstzweck und kann mit gröfster Ausführ- lichkeit geschehen. Der Fehler aber, an dem die meisten Umfragen gescheitert sind, bestand darin, der zur Beantwortung heran- gezogenen Person schwierige, durchaus nicht voraussetzungslose Fragen ohne weiteres an den Kopf zu werfen, ohne ihnen eine Art von conförence vorauszuschicken. Gelingen konnte dieses primitive Verfahren nur, wo die Fragen so einfacher Natur waren, dafs sie mit den Beobachtungskategorien der gewöhnlichen Sprache, des alltäglichen VolksbewuTstseins auskamen. So günstig lagen die Verhältnisse bei den GALTONschen Enqueten, daher ihr Erfolg. Aus dem Mifslingen der Umfragen über kompli- ziertere Probleme zu schliefsen, dafs das ganze Verfahren sich für derartige Gegenstände nicht eigne, liegt noch gar kein Grund vor, da die richtige Methode erst in wenigen Fällen angewendet worden ist, und da, wie mir scheint, mit entschiedenem Erfolge. Die Vorbereitung der Fragen durch Vortrag oder gedruckte Erörterung läfst aber noch andere Fehler der Umfragen ver- meiden, aus denen man das endgültige Scheitern der ganzen Methode folgern wollte. Stern® hebt hervor, dafs der Laie die psychologische Terminologie nicht beherrscht, von Empfindung redet, wenn er Gefühl meint, und so durch die Zweideutigkeit

^ ZeitBchrift für Psychologie 36, 1904. * A. a. 0. S. 30.

12*

180 Richard Baertcald,

des Ausdrucks zu Verwechslungen Anlafs gibt. Allein wo dem Antwortenden die Beobachtungskategorien vermittelt werden, deren er für die in Betracht kommende Frage bedarf, da erhält er auch die zugehörigen präzisen, wissenschaftlichen Ausdrücke. Die mangelnde Differenzierung der Sprache, an die Stern denkt, ist eben das Kennzeichen jener schlechten Methode, die dem Befragten nur eine kurze Frage von zwei Zeilen entgegenhält und es ihm selbst überläfst, wie er mit ihr fertig werde. Dabei stellt sich dann noch der zweite, mehrfach gerügte MiTsstand ein, dafs die Frage selbst mehrdeutig oder vage wird und der zur Beantwortung Herangezogene nicht weifs, wie er sie auf- fassen soll. Die Frage der Caeoline Miles: „Wie besinnen Sie sich auf einen vergessenen Namen ?^' könnte als abschreckendes Beispiel dienen. Doch auch diese Gefahr ist nicht der Umfrage überhaupt, sondern nur der unvorbereiteten Umfrage eigen. Hätte C. Miles dem Befragten vorher eine Übersicht der schon vorhandenen Tatsachen und Ansichten, eine „Psychologie des Besinnens" an die Hand gegeben, so hätte er gewufst, wie die Frage gemeint war, und auf welche Punkte seine Antwort los- zusteuern hatte. Femer werden viele Personen, die an dem Gegenstande der Enquete kein Interesse haben, auf einige kurze Fragen, um ihre Liebenswürdigkeit zu beweisen, irgend eine beliebige, vielleicht wenig überlegte und irreführende Antwort geben. Wird dagegen den Befragten zugemutet, sich erst durch eine kleine Abhandlung durchzulesen, so werden diejenigen, die weder Zeit noch Lust haben, sich der Sache ernstlicher zu widmen, abgeschreckt, die Übrigen aber, die ihr bereitwiUiger entgegenkommen, gewinnen gerade durch jene Einführung ein stärkeres Interesse an dem Problem. Die Antworten werden zwar spärlicher, aber viel zuverlässiger und ausführhcher.

Doch hier tritt uns ein wichtiger Einwand entgegen. Die Vorbereitung wird um so wirksamer, gestaltet die Fragen um so verständlicher, eindeutiger, richtunggebender, sichert ihnen zugleich um so mehr Interesse, je eingehender sie sich darüber ausspricht, was die Fragen wollen, welche vorhandenen Hypothesen sie stützen, welche schon vorliegenden Darstellungen des behandelten Phänomens sie bestätigen, widerlegen oder er^ ganzen sollen. In seiner Enquete über Depersonalisation und Erinnerungstäuschung stellt Heymans u. a, die Frage: „Pflegen Sie sich im allgemeinen die Sachen mehr oder weniger als

Die Methode der vereinigten Selbstwahmehmung. IgX

andere zu Herzen zu nehmen?" Es kommt für unsere metho* dische Untersuchung nicht darauf an, ob diese Formulierung im Holländischen ebenso zweideutig gelautet hat wie in der deutschen Übersetzung. Jedenfalls müTste nach der letzteren der Gefragte des Glaubens sein, er solle angeben, ob er zur Verzagtheit, zu Depressionen und melanchoUschen Stimmungen, zum yySchwemehmen'' der Erlebnisse neige. Hetmaks aber wollte durch seine Frage die gesamte Emotionalität prüfen. Sollte sie wirkhch in dem angegebenen Sinne mifsverstanden worden sein, so müfsten die Ergebnisse der ganzen Enquete anders gewertet und ausgelegt werden, als Heymans es getan hat. Diese Schwierigkeiten der „mise en forme", die sich ja bei komplizierten psychologischen Fragen gar nicht überall voraus- sehen lassen,^ würden aber mit Sicherheit zu vermeiden gewesen sein, wenn er den Befragten mitgeteilt hätte: „Es liegt die Ver- mutung vor, dafs Depersonalisation und fausse reconnaissance mit dem Pubertätsalter bzw. mit der geistigen Verfassung, die diesem Alter eigen ist, zusammenhängt. Zu den charakteristischen Symptomen der Pubertätszeit gehört aber die gesteigerte Gefühls- reaktion auf Erlebnisse aller Art." So über den Zweck der Frage belehrt, hätten sich die Teilnehmer an der Enquete auch durch eine unklare Formuherung nicht mehr vom rechten Wege ab- lenken lassen. Ein solches Spiel mit offenen Karten hat jedoch Hetmaks, wie er ausdrücklich erklärt, vermieden, und vielleicht hätte es jeder vorsichtige Psychologe an seiner Stelle auch getan. Denn steigert die Angabe des Zwecks, dem die Fragen dienen, ihre Verständlichkeit und ihre Bedeutung für das Interesse, so vermehrt sie zugleich ihre Suggestivität und legt dem Befragten unter Umständen eine bestimmte Antwort direkt in den Mund. Der Glaube des Veranstalters der Umfrage an irgend eine Theorie, sein Wunsch, für ein unaufgeklärtes Problem eine Lösung zu finden und nicht umsonst gearbeitet zu haben, könnte sich auf die gefragte Person übertragen und sie von negativen, die Hypothese zerstörenden Antworten zurückhalten.

Wir ständen hier vor einer üblen Alternative, wenn es nicht möglich wäre, ein Hilfsmittel zu finden, das jene Suggestivität wieder ausschaltete. Und da bietet sich eine Methode an, deren sich schon Schleiermacher bedient hat, um seine Zuhörer zum

EiBOT a. a. 0.

182 Richard Baencald.

Selbstdenken zu erziehen und vom Banne seiner eigenen Auto- rität zu befreien. Er gab ihnen zu jedem Problem mehrere Lösungen, betrachtete es von verschiedenen Standpunkten aus tmd tiberliefs es den Zuhörern, auf welchen sie sich stellen wollten. Die Selbstbeobachtung schon zeigt uns, wie ganz anders unser am Urteilen beteiUgtes Gefühl sich einstellt, wenn uns statt einer Hypothese mehrere konkurrierende angeboten werden. Im letzteren Falle fühlen wir uns nicht mehr als Lernende, Empfangende, sondern als abwägende Richter, ein gewisses Machtgefühl erhebt uns über die sich anbietenden Gedanken, und wir haben den Eindruck, dafs wir uns in einer so disku- tablen Sache nicht zu genieren brauchen, unsere Entscheidung ganz nach eigenem Ermessen zu fällen. Li der Enquete der „Psychologischen Gesellschaft" hatten die Befragten ihr Urteil über die schon vorhandene, von einer psychologischen Autorität gegebene Darstellung eines geistigen Phänomens zu fällen. Die Gefahr, dafs sie diese Erscheinung in sich „hineinsahen", ohne dafs sie wirklich vorhanden gewesen wäre, war hier besonders grofs. Ich verwendete die Methode Schleiermachebs und stellte der Lippsschen Schilderung eine zweite gegenüber. Es wurden Zweifel laut, ob hierdurch die Suggestion tatsächUch ausgeschaltet sei, aber der Erfolg hat mir wenigstens in diesem Falle recht gegeben. Von allen Personen, die das Lippssche Phänomen be- obachtet haben wollten, wäre es nur bei einem Herrn, dessen Aussage unbestimmt lautete, und der durch seine Abreise weiteres Befragen unmöglich machte, denkbar, dafs er sich den Inhalt seiner Aussage eingebildet hätte. Bei allen übrigen ist es nach- zuweisen, dafs sie etwas Reelles beobachtet haben, und welcher Art es war.

Hiemach liefse sich etwa folgendes anraten : Handelt es sich um sehr primitive Fragen, die ja überhaupt eine Einführung und Vorbereitung entbehren können, oder um sehr spezielle Fragen, bei denen jede Vagheit der Auffassung und jedes Mifsverstehen ausgeschlossen ist, so sehe man davon ab, den Zweck der Frage, die Hypothese, die sie stützen oder widerlegen soll, anzugeben. In allen anderen Fällen sage man genau, was die Frage will, stelle aber dann unbedingt der einen Theorie oder Darstellung, auf die sie hinausläuft, eine oder mehrere konkurrierende ent- gegen. Ich möchte glauben, dafs sich die Innehaltung dieser Methode vielfach ganz ungesucht einstellen wird. Denn die

Die Methode der vereinigteti Seibstwah-nehnung. 183

Enquete wird wohl in den meisten Fällen ein Schlichtungsmittel werden, wo, infolge zu geringen Tatsachenmaterials, die Er- klärungsversuche, oder infolge individueller Differenzen, die Schilderungen der Fachpsychologen auseinandergehen.

Damit sind wir bereits zu der Frage vorgedrungen : Welches ist die Mission der vereinigten Selbstwahrnehmung, welche Rolle wird sie innerhalb der psychologischen Forschung zu spielen haben? Wir sahen bereits, dafs man ihr diese Rolle in zwie- facher Weise zu beschränken sucht : sie soll, wenn überhaupt, nur fiir elementare Fragen tauglich sein, und sie soll nur statistischen Zwecken dienen.

Beide Forderungen kämen einem Todesurteil nahe. Dafs die Umfrage auf dem Gebiete der elementaren Fragen etwas leisten kann, haben die berühmten Enqueten Fechners und Galtons bewiesen. Aber sie kann hier doch nie etwas anderes werden als ein Lückenbüfser der experimentellen Methode, die sich dieses Gebiet endgültig erobert hat und auf ihm das Voll- kommenste leistet.

Aber auch als rein statistisches Hilfsmittel wäre unsere Methode fast wertlos. Zunächst hat ja das blofse Feststellen von Häufigkeitszahlen, wie Ribot bemerkt, für den Psychologen ge- meinhin sehr geringes Interesse. Sodann aber können diese Zahlen nur da annähernd richtig werden, wo es sich um elemen- tare Fragen handelt, und da leistet das Massenexperiment besseres als die Enquete. Bei komplizierten, schwerer zu beobachtenden, dem Mifsverständnis ausgesetzten Problemen dagegen ist auf die Zahlen, die die relative Häufigkeit einer Erscheinung angeben, wenig Wert zu legen, denn hier müssen wir damit rechnen, dafs ein grofser Teil der Aussagen unzuverlässig ist. Das schadet auch nichts, solange man es zum Prinzip erhebt, nur solche Be- kundungen als typisch und beweisend gelten zu lassen, die von mehreren Personen, unabhängig voneinander, gemacht werden oder sich gegenseitig stützen und bestätigen. Wo mit einer solchen, der historischen Kritik ähnlichen Kontrolle gearbeitet wird, ist Ribots Vorwurf, die Veranstalter einer Enquete mifs- trauten stets theoretisch den Aussagen, nähmen sie aber in praxi doch auf, unberechtigt, vielmehr können da, wo die einander bestätigenden Mitteilungen sich häufen, auch bei einer Umfrage über kompliziertere Probleme Ergebnisse von gröfster Wahr-

184 Riehard BaenoM,

Bcbeinlichkeit gewonnen werden. Das ist aber nicht möglich, sobald man statistisch vorgeht, denn dann mufs jede noch so leichtfertige Aussage' für voll genommen und mitgezählt werden, ja man mufs sogar jedem, der eine Erscheinung nicht hat be- obachten können, glauben, dafs sie bei ihm nicht vorhanden sei. Natürlich können die so gewonnenen Zahlen gar keinen Wert haben. Seiner geringen Eignung für statistische Zwecke halber sollte man vielleicht den Ausdruck „Enquete'', der immer an volkswirtschafüiche Zählungen gemahnt, für unser Verfahren nicht in den Vordergrund rücken.* Die Bezeichnung „Methode der vereinigten Selbstwahmehmung " ist weit weniger mife- verständlich, denn tatsächlich hat die Umfrage dieselben Auf- gaben wie die Selbstbeobachtung, nur will sie deren Resultate durch Zusammenarbeiten mehrerer Personen bereichem und sichern.

Das Gebiet der reinen Selbstwahrnehmung aber ist die „höhere" Psychologie, das Bereich der komplexen seelischen Er- scheinungen, das bisher dem Experiment gröfstenteils unzugäng- lich gewesen ist und es vielleicht dauernd bleiben wird. Gerade hier, wo man sie ausschliefsen wollte, würde also auch die ver- einigte Selbstwahmehmung ihre Domäne haben. Die Psychologie soll ein Bindeglied zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissen- schaft sein, und sie hat durch diese vermittelnde Stellung ein JanusanÜitz erhalten, derart, dafs die Psychologie der elementaren Funktionen nach der naturwissenschaftlichen, die der höheren Funktionen nach der geisteswissenschaftlichen Seite hinüberblickt Kein Wunder, dafs die höhere Psychologie auch mit der natur- wissenschaftUcben Methode nicht auskommt, sondern eine solche braucht, die wie die vereinigte Selbstwahmehmung sich an die Methode der modernen kritischen Geschichtsforschung anlehnt

^ In manchen Umfragen, z. B. auch in der oben erwähnten HsnuirS' sehen, wird der kausale Zusammenhang zweier Erscheinungen A und B dadurch bewiesen, dafs diejenigen Personen, an denen A festgestellt wurde, befragt werden, ob sie an sich auch B beobachtet hätten. Bejaht dann eine gröfsere Zahl von Personen die Frage, als sie dem Durchschnitt ent- spricht, so deutet dies auf eine Solidarität von A und B, Ein solches Ver- fahren ist sicherlich berechtigt, kann aber auch nicht statistisch genannt werden, denn die Zahl ist hier nicht Endzweck, nur Mittel, und auf die Feststellung genauer Zahlen kommt wenig an, sondern die blofse, deutlich hervortretende Tendenz der Zahl, sich über den Durchschnitt zu erheben, genügt zum Beweise.

Die Methode der vereinigten Selbatioahmehmung, 185

Wir werden im folgenden mehrfach Gelegenheit haben, diesen Zusammenhang eingehender zu studieren.

Aber warum hat man denn die Enquete gerade von der höheren Psychologie ausschliefsen wollen, warum mifetraute man ihr, sofern sie sich an komphzierteren psychologischen Fragen versuchte? Ich denke, aus demselben Grunde, wegen dessen manche Experimentelle die Psychologie der reinen Selbstwahr- nehmung überhaupt nicht mehr als Wissenschaft gelten lassen, sondern ihr den Unehrentitel „Halbwissenschaft" aufgeprägt haben. Sie halten das psychologische Experiment für den Standard der Exaktheit, und weil die Selbstwahmehmung weder in ihrer alten Form noch in ihrer neuen, als „vereinigte Selbst- wahmehmung" dieses Minimalmafs erreicht, so wird sie aus der Wissenschaft hinausgewiesen.

Aber gibt es denn ein solches, für alle Wissenschaft über- haupt gültiges Mafs der Exaktheit? Das ist keine Frage der Methodik mehr, sondern eine, die in das neue Problemgebiet der Wissenschaftsethik gehört. Ein Überblick über die Gesamtheit der Wissenschaften zeigt uns, dafs jede von ihnen ihre besondere Durchschnittsexaktheit besitzt, die Physik eine höhere als die Physiologie, diese eine höhere als die Psychologie, diese wieder eine höhere als Ethik und Ästhetik. Man hat sich auch mit dieser Tatsache abgefunden und betrachtet nur solche Gedanken als unwissenschaftlich, die hinter dem Exaktheitsdurchschnitt, den die betreffende Wissenschaft in der gegebenen Zeit erreicht hat, zurückbleiben. Versuche, den „exakten" Naturwissenschaften eine Sonderstellung anzuweisen, sie als eine höhere Wissenschafts- gattung aufzufassen, sind wenig erfolgreich geblieben und werden es auch in Zukunft nicht sein, denn der Wert einer Wissenschaft ist stets ein Produkt aus zwei Faktoren, der Bedeutsamkeit, dem Weltanschauungswerte einerseits und der Exaktheit andererseits, und eine Art ausgleichender Gerechtigkeit hat dafür gesorgt, dafs fast regelmäfsig der eine Faktor sinkt, wenn der ändere steigt, so dafs die Produkte ziemlich auf derselben Höhe bleiben oder auch, wenn man will, ganz unvergleichbar werden. Oder wollte man schlechtweg sagen, Mathematik sei für die Menschheit wichtiger als Ethik, weil jene die exakteste, diese die mindest exakte Wissenschaft ist? Natürlich steht es Personen mit stark entwickeltem Umitierenden Urteilstriebe, mit ausgeprägter Urteils- vorsicht frei zu sagen : Mir gefällt die Ethik nicht, ich arbeite

186 Richard Baencald.

nicht gern auf einem so vagen, so nebulosen Gebiete. Nur müssen sie sich gegenwärtig halten, dafs sie dabei individuelle Neigungen kundgeben, nicht allgemeingültige Postulate des Wissenschaftsbetriebes.

Im allgemeinen, sage ich, trägt man diesem Umstände Rechnung und ist sich darüber klar, dals das geforderte Exakt- heitsmafs mit der Natur des Gegenstandes und den historischen Voraussetzungen schwankt. Man pflegt nur solchen Unter- suchungen die Anerkennung als Wissenschaft vorzuenthalten, in denen, wie in der früheren Metaphysik oder der gegenwärtigen Pädagogik, von irgend einer Übereinstimmung der Ansichten, irgend einer Allgemeinheit und Notwendigkeit der Resultate, irgend einer bestimmbaren Wahrscheinlichkeit nicht die Rede ist. Einzig in der Psychologie scheint man an einer Normal- exaktheit festzuhalten, jenseits deren die Halbwissenschaft be- ginnen soll. Und warum gerade hier? Offenbar deshalb, weil, während andere Wissenschaften einen gleichmäfsigen Wahrschein- lichkeitsgrad besitzen, in der Psychologie die Kluft zwischen zwei Regionen höherer und geringerer Exaktheit quer durch die Wissenschaft selbst geht, weil die philosophische, die geistes- wissenschaftliche, die Selbstwahmehmungspsychologie in dieser Hinsicht anders gestellt ist als die physiologische und experi- mentelle, und weil es dieselben Personen sind, die das eine Mal auf einen rigoroseren, das andere Mal auf einen weitherzigeren Standpunkt sich zu stellen haben. Die Hoffnung, das ganze Gebiet der Psychologie dereinst dem Experiment unterwerfen zu können, mag dazu beigetragen haben, dafs man es für unnötig hielt, das Wechseln zwischen beiden Standpunkten zu erlernen.

Da aber die Erfüllung dieser Hoffnung immer unwahrschein- licher wird, und da weder das ursprüngliche psychologische Interesse der Menschheit noch die auf der Psychologie fufsenden philosophischen und pädagogischen Disziplinen es dulden können, dafs jene komplizierteren Probleme, die allein ihnen wertvoll sind, bei Seite geschoben werden, so wird man sich wohl dazu verstehen müssen, der Selbstwahrnehmungspsychologie ihr Recht auf ein besonderes Exaktheitsmafs zuzugestehen, ohne sie deshalb als minderwertig anzusehen. Tut man das, so wird auch die Frage hinfällig, ob die Methode der Umfrage, der vereinigten Selbstwahmehmung, mit dem Experiment konkurrieren imd seine Exaktheitsnorm erreichen könne. Denn beide arbeiten vor-

Die Methode der vereinigten Selhstwahrnehmung. 187

nehmlich auf verschiedenen Gebieten, sind also ganz unvergleich- bar. Nur die Frage darf noch gestellt werden: Leistet die ver- einigte Selbstwahrnehmung in der höheren Psychologie mehr als die individuelle Selhstwahrnehmung, bedeutet sie ihr gegen- über einen Fortschritt zu gröfserer Exaktheit? Kann man diese Frage bejahen, so hat man die Enquete gerechtfertigt.

Und sie läfst sich bejahen. In vierfacher Hinsicht erzielt die vereinigte Selhstwahrnehmung einen Fortschritt, durch den sie vermutlich die höhere Psychologie zu einer weit gröfseren Harmonie der Überzeugungen führen wird. Zunächst gibt sie uns zu jeder Frage eine reichere Fülle von Tatsachen an die Hand, wodurch die Zahl der möglichen Theorien und Hypothesen beschränkt wird. Nicht nur gibt es in mehreren Personen mehr und vielgestaltigeres zu beobachten als in einer, sondern auch bei denjenigen Erscheinungen, die allen gemeinsam sind, sehen viele Augen mehr als zwei. Wer die Antworten einer Umfrage durchliest, pflegt dadurch in sich selbst auf mancherlei Punkte aufmerksam zu werden, die bis dahin seiner eigenen Selbst- beobachtung entgangen waren, und diese Vervollständigung der individuellen Introspektion durch die vereinigte würde ihm auch dann zugute kommen, wenn er das Material der Enquete gar nicht weiter zu verarbeiten gedächte.

Zweitens ergeben sich bei der Methode der vereinigten Selhstwahrnehmung die individuellen Differenzen verschiedener Personen, die der Psychologe, solange er für sich allein arbeitet, nicht zu erkennen vermag. Wahrscheinlich sind deswegen unsere Lehrbücher, sofern sie sich mit der höheren Psychologie befassen, voll von subjektiven Erfahrungen, die von ihren Entdeckern für grofse, allgemeine Gesetze des Seelenlebens gehalten werden. Wie hier die Umfrage beschränkend und klärend eingreifen kann, dafür gibt die Enquete der „Psychologischen Gesellschaft" einen Beleg. Sie bewies, dafs das von Lipps für allgemeingültig gehaltene „Hin- und Hergehen der komischen Vorstellungs- bewegung" tatsächlich nur die Eigentümhchkeit eines ganz be- stimmten Typus bildet. Eine derartige Unterscheidung indi\i- dueUer und allgemeiner Erscheinungen des Seelenlebens kann unser Verfahren durchführen, ohne statistisch zu werden, denn die Entdeckung verschiedener Tjrpen ist auch da möglich, wo man keinen Wert darauf legt, deren Vertreter zu zählen.

Ein dritter Punkt: Es war zu jeder Zeit ein Krebsschaden

188 Eichard Baerwald

der individuellen Selbstbeobachtung, dafs sie ganz unverantwort- lich war, dafs kein Zweiter in die Seele des Psychologen, der seine Erfahrungen beschrieb, hineinblicken und seine Aussagen kontrollieren konnte. Das forderte denn geradezu zur Leicht- fertigkeit heraus; an Gegenstücken zu jenen Entdeckungsreisenden, die nie gesehene Länder beschrieben, hat es in der Psychologie sicher nicht gefehlt,^ und man braucht in derartigen Fällen nicht einmal an bewufsten Schwindel zu glauben, sondern die Un- möglichkeit jeder fremden Kritik wirkt notgedrungen lähmend auf die eigene. In engem Zusammenhang mit dieser Gewohn- heit, das Geschäft der Selbstwahmehmung leicht zu nehmen, steht das namentlich bei Herbabt und Benekb übliche Verfahren, es ganz und gar zu vernachlässigen, sofort zur Konstruktion, zum Hypothesenbau zu eilen und es dem Leser zu tiberljtösen, sich das dazu gehörige Erfahrungsmaterial selber zusammenzusuchen eine ganz vortreffliche Methode, wenn es gilt, Luftschlösser von Deduktion auf Maulwurfshaufen von Tatsachen zu erbauen imd doch über die Unsolidität des Fundaments hinwegzutäuschen. Solche Sünden an der Selbstwahmehmung hält man nun nach- träglich für ihre eigenen Sünden, bringt sie in Verruf, erklärt, sie habe keine einzige, feststehende Tatsache gefunden, weil man an Bücher denkt, in denen gar keine Tatsachen der Selbstwahr- nehmung, sondern nur Deduktionen stehen. Und doch besteht das Verdienst der experimentellen Methode, durch das sie eine Wendung zum Besseren hervorrief, vielfach nur darin, dafs sie die Feststellung des innerlich Beobachtbaren zu einer wichtigen, gewissenhaft zu erledigenden Aufgabe erhob und zugleich eine Arbeitsform wählt, der die Kritik auf die Finger sehen konnte.

Die gleichen Vorteile nun bietet die Umfrage. Auch hier vollzieht sich die Sammlung des Erfahrungsmaterials mit gröfserem Apparat und kann nicht mehr übers Knie gebrochen werden. Und auch hier kontrollieren sich die verschiedenen Aussagen untereinander, der Antwortende überlegt sich: „Wenn ich zu fabulieren beginne, bleibt meine Darstellung isoliert imd wird nicht berücksichtigt," und der Bearbeiter der Enquete selbst wird an mancher vorgefafsten Idee, die er von keiner Seite be- stätigt sieht, irre und unterzieht sie einer heilsamen Revision.

Die gröfsere Verantwortlichkeit und Kritisierbarkeit, die die

* Vgl. Brentano; „Psychologie" S. 37/8.

Die Methode der vereinigttn Selbstwahrnehmung. 189

vereinigte Selbstwahrnehmung vor der individuellen voraus hat, hängt endlich mit einem vierten Vorzuge der ersteren zusammen : sie besitzt eine mefsbare Wahrscheinlichkeit. Die Methode der individuellen inneren Beobachtung hat sicherlich sehr viele Wahrheiten gefunden, und meistens hat das Experiment nicht ganz neue Tatsachen entdeckt, sondern nur solche bestätigt, die schon der Selbstwahrnehmungspsychologie geläufig waren. Hat demnach das Experiment vergeblich gearbeitet? Gewifs nicht I Jene Wahrheiten standen in den alten Lehrbüchern der Psycho- logie zusammen mit ganz unkontrollierbaren, oft geradezu leicht- fertigen Behauptungen, imd es war für den Leser eine Sache des kritischen oder dogmatischen Temperaments, wieweit er dem Autor folgen oder sich in der Skepsis gegen ihn gefallen wollte. Das Experiment nun hat aus jenem Gemenge von Ansichten eine Reihe von Tatsachen herausgehoben, ihnen eine, oft bis zur Sicherheit reichende, mefsbare Wahrscheinlichkeit gegeben und, sofern es selbst die grofse Zahl drohender Fehlerquellen vermied, der Billigung oder Ablehnung nach Gutdünken ein Ende gemacht. Eine ganz gleiche Bedeutung aber kann auf dem Gebiete der höheren Psychologie die vereinigte Selbstwahr- nehmimg gewinnen. Wird die Beobachtung eines Einzelnen auf Befragen von Mehreren bestätigt, oder findet sich gar dieselbe Bekundung, ohne dafs auf sie hingewiesen wäre, spontan bei 'mehreren Aussagenden, so gewinnt die betreffende Behauptung eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, die sich mit der Zahl der über- einstimmenden Berichte steigert. Natürlich kann das Mafs der Wahrscheinlichkeit durch den Verdacht suggestiver Beeinflussung oder vorgekommener Mifsverständnisse wieder herabgedrückt •werden, aber solche sie reduzierende Fehlerquellen besitzt auch das Experiment in nicht geringer Zahl.

Um dieser Vorteile willen ist die Umfrage das gegebene Hilfsmittel für die Erforschung vieler komplexer Erscheinungen, ■die in das Bereich der Selbstwahmehmung fallen. Sie wird sich Äuch jenen kompliziertesten Objekten der Geisteswissenschaften gegenüber bewähren, die bereits das Gebiet der Psychologie überschreiten, die Methode wird, wenn sie sich innerhalb der Psychologie ausgebildet hat, auf Ethik, Pädagogik und Geschichte übergreifen. Oder vielmehr, dieser Vorgang vollzieht sich schon heute vor unseren Augen ; schade nur, dafs die Fachpsychologen, gewohnt, die möglichste Isolation und Elementarisierung der

190 Richard Bamoald,

Erscbeinnngen zn fordern, hierin nichts weiter erblicken als eine Sünde gegen den Geist ihrer Wissenschaft. So wird Staklex Hall von psychologischer Seite getadelt, während üfeb mit Recht bemerkt, dafs man seine Enqueten nur als pädagogische, nicht als psychologische aufzufassen braucht, um ihren Wert zu erkennen. Und hier liegt tatsächlich der Anfang einer groüsen Entwicklung vor. Die Pädagogik ist heute noch keine Wissen- schaft, weil der Schulmann von den Vorgängen in der Seele der Schüler zu wenig wahrnimmt, sie ist ein Chaos von Meinungen und Parteistandpunkten. Die Methode der vereinigten Selbst- Wahrnehmung, angewendet etwa bei den Studierenden unserer Hochschulen, die ihre Schulerinnerungen noch gegenwärtig haben, schon urteilsfähig geworden sind und nicht mehr, wie die Schüler selbst, ein Interesse an gefärbten Angaben haben diese Me- thode würde die Pädagogik als Wissenschaft erst begründen und eine ganze Reihe fundamentaler Fragen zur endgültigen Ent- scheidung bringen, über die von selten der Pädagogen seit Jahr- zehnten zwecklos disputiert worden ist. Als Beleg für die Ausartungen, die bei unserer Methode möghch sind, führt Ribot eine japanische Enquete an, die u. a. die Fragen enthält: „Welches ist die weiblichste Tugend? Welches ist der gröfste Fehler der Frau? Was wird aus uns nach dem Tode?" Gewifs, das ist keine psychologische Umfrage, wohl aber eine solche, die, systematisch ausgebaut und fortgesetzt, den Stand der ethisch- religiösen Überzeugungen in verschiedenen sozialen Schichten, Völkern und Zeiten feststellen und so der Ethik und Religions- geschichte neue Antriebe geben könnte. H. Bb. Thompson unter- sucht in ihrer heftig befehdeten „Vergleichenden Psychologie der Geschlechter" auf dem Wege der Umfrage die Unterschiede, die sich bei Männern und Frauen imstande ihrer Kenntnisse auf verschiedenen Wissenschafts- und Kulturgebieten herausstellen, und die Bevorzugung oder Hintansetzung, der die verschiedenen Arten der Unterhaltung: Lektüre, Geselligkeit, Sport, Theater bei jedem der beiden Geschlechter begegnet. Das ist freilich wiederum keine Psychologie, wohl aber der Beginn einer „statistischen" Kulturgeschichte, die den höchsten Beruf der Geschichte, bisher unterirdisch verlaufene Vorgänge und Wand- lungen dem Selbstbewufstsein der Menschheit zugänglich zu machen, auf neue, intimste Lebensgebiete verpflanzt. Es war der psychologischen Spezialforschung bisher nicht gegeben, grofse

Die Methode der vereinigten Selhstwahmehmung. 191

kulturelle Femwirkungen zu erzielen. Will sie diejenigen, die sich ihr von selbst darbieten, mit Fleifs verhindern?

Die wichtigsten methodischen Regeln, die sich aus den bis- herigen Versuchen einer kritisch gehandhabten vereinigten Selbst- wahrnehmung zu ergeben scheinen, haben wir schon kennen gelernt. Doch sind noch einige nachzuholen.

Es ist eine grofse Gefahr aller Enqueten, die den Befragten zu etwas spontanerer Mitarbeit heranziehen, dafs er vielfach nicht seine positiven Erfahrungen darbietet und es dem Bearbeiter der Umfrage überläfst, daraus seine Schlüsse zu ziehen, sondern dafs er mit fertigen Generalisationen aufwartet, die bei dem be- schränkten Umfange der individuellen Erfahrung und der mangelnden psychologischen Vorbildung oft falsch und immer fragwürdig sind. Diesem Schaden ist durchaus Einhalt zu tun, Vorbringen des empirischen Urmaterials, Mitteilung von Schilde- rungen einzelner Fälle und nicht blofs von Gemeinplätzen ist ausdrücklich zu fordern bei jeder Enquete, deren Fragen nicht blofs mit ja und nein, oder mit einer Zahlen- oder Namensangabe beantwortet sein wollen. Dafs ich bei der Umfrage der „Psycho- logischen Gesellschaft" diese Vorsicht aufser acht liefs, hat sich anfangs schwer gerächt. Statt der Erfahnmgen, die ich brauchte, bekam ich förmliche ästhetische Theorien, als ob über solche eine Abstimmung und ein Majoritätsbeschlufs möglich wäre. Die gleiche Rücksicht aber, die der Bearbeiter einer Umfrage vom Antwortenden verlangt, nehme er selbst auf den Leser und teile ihm nicht nur mit, was er aus dem eingelaufenen Material folgert, sondern vermittele ihm dessen wichtigere Urkimden direkt. Denn nicht selten schliefst der Leser aus den vorUegenden Antworten etwas ganz anderes als der Bearbeiter imd ist wenig geneigt, sich den Deutungs- und Abstraktionsversuchen des letzteren schlechtweg auszuliefern. Wie wichtig diese Vorsicht werden kann, die uns wieder einmal in der Nähe der stets auf die Quellen zurückgreifenden kritischen Geschichtsforschung bringt, dafür gibt z. B. Ribots Enquete über das Gefühls- gedächtnis ^ überhaupt einer der methodisch interessantesten Tind wertvollsten Versuche dieser Art ein gutes Beispiel. Als eine besonders bedrohUche Khppe, an der eine Umfrage

Ribot: „Psychologie des sentiments" S. 140 ff.

192 Richard Buerwald.

scheitern kann, ist von jeher der Umstand erkannt worden, dafs auf Fragen über „grands sujets" häufig Gefühle der Eitelkeit, Scham usw. reagieren und die Objektivität der Antwort beein- trächtigen.^ Fragen wie diese: Ob man fröhlichen, traurigen oder indifferenten Gemüts, ruhig oder heftig, starken oder schwachen Willens, geistig unabhängig oder unselbständig, egoistisch oder opferwillig, leichtgläubig oder mifstrauisch sei, sollten nach Möglichkeit vermieden werden. Was in dieser Hin- sicht gesündigt werden kann, beweist eine amerikanische Enquete, die, zur Aufklärung von Problemen der differentiellen Gefühls- lehre, an eine gröfsere Zahl junger Männer und Mädchen die Frage richtete, ob sie vorwiegend mit Personen des eigenen oder des anderen Geschlechts verkehrten. Man kann sich denken, wie die Antworten ausfielen. Am meisten leidet, wie man sieht, unter dieser methodischen Schwierigkeit die Lehre von den Ge- mütsbewegungen, die sich daher leider wohl nur zum kleinsten Teil und mit grofser Vorsicht durch vereinigte Selbstwahmehmung wird erforschen lassen.

Es wird also nötig sein, dafs man sich die Fragen einer Enquete darauf ansieht, ob sie eine nüchterne Beantwortung zulassen, und solche, die dieser Bedingung nicht genügen, aus- scheidet. Nun kann es vorkommen, dafs man auf eine derartige Frage kaum verzichten kann, weil sie sich als unentbehrliches Glied in eine gröfsere Untersuchung einfügt. Der beste Rat, der sich in dieser Situation geben läfst, ist wohl der folgende: Man stelle die Frage, behandele aber die Antwort so, wie der Histo- riker eine als unzuverlässig bekannte Quelle verwertet, d. h. man glaube ihr nur da, wo sie von anderer Seite Bestätigung erhält. Gerade dann, wenn man solche gefährlichen Fragen nicht ohne Not und isoliert, sondern im Rahmen eines gröfseren Zusammen- hanges xmd in Verbindung mit anderen Fragen vorgebracht hat, wird eine solche Bestätigimg häufig erfolgen. Der „Zirkel der Hypothesen", die sich gegenseitig stützen müssen, z. B. die Be- urteilung einer Handschrift auf Grund von Kenntnissen über Sprache, geschichtliche Tatsachen usw., die selbst wieder der Bestätigung, vielleicht gerade diurch die vorliegende Handschrift bedürfen, gehört zu den Notwendigkeiten der historischen Methode und hat sich bei ihr, trotz seiner scheinbaren logischen Anfecht-

Stern a. a. 0. Ribot: Sur la valeur des questionnaires.

Die Methode der vereinigten Selbstwahmehmung, 193

barkeit, wolil bewährt^ Versuchten wir es einmal, den Er- scheinuBgen der höheren Psychologie, statt mit der naturwissen- schaftlichen, mit der kritisch historischen Methode nahe zu kommen, so wäre uns die Möglichkeit geboten, manche unent- behrliche Quelle, die nach der bisher gehandhabten Methode als imbrauchbar galt, dennoch nutzbringend zu verwerten.

Schon bei experimenteller Arbeit zeigen sich nicht selten erst im Verlaufe der Untersuchung die Fehlerquellen, die zu vermeiden, die Möglichkeiten, die aufzusuchen waren. In noch höherem Mafse ist dies, angesichts des verwickeiteren und un- berechenbareren Gegenstandes, bei Umfragen aus dem Gebiet der höheren Psychologie der Fall. Sehr häufig ersieht man erst aus den Antworten, wie man hätte fragen sollen, und es ergeben sich aus den Analogien mancher Aussagen, wenn auch vielleicht erst in dämmernden Umrissen, allerlei hypothetische Gesetze. Einer der Hauptvorzüge der vereinigten Selbstwahmehmung Hegt nun darin, dafs solche Fehler leicht wieder auszugleichen, solche Spuren leicht weiter zu verfolgen sind. Die Besprechungen und Korrespondenzen, durch die sich der Bearbeiter der Enquete mit befragten Personen, die sich als wichtige und charakteristische Fälle erwiesen haben, nochmals in Verbindung setzt, werden vielfach das bedeutsamste Stück seiner ganzen Arbeit sein und erst wirkliche Gewifsheit bringen, wo vorher der willkürlichen Vermutung weitester Spielraum gelassen war. Bei den älteren, durch die Zeitungen angekündigten Massenumfragen war der Psychologe auf ein passives Einsammeln und Zusammenstellen von Antworten angewiesen. Dieses primitive Verfahren verhält sich zu dem hier geforderten wie das einstige Kompilieren von Chroniken zur heutigen kritischen Geschichtsforschung. Wo, wie durchweg in den Geisteswissenschaften, mit fehlerhaftem und nebulosem Material gearbeitet werden mufs, ist höchste Spon- taneität des Forschers, ist Vergleichen, „Kombinieren" im EsBiNGHAUSschen Sinne, Aufsuchen und Verfolgen nötig. Nur ist darin die mit vereinigter Selbstwahmehmung arbeitende psychologische Untersuchung weit besser gestellt als die histo- rische, dafs sie nicht aus einem gegebenen imd oft sehr be- schränkten Quantum unwiederherstellbar lückenhafter Dar- stellungen, sondern aus der immer fliefsenden Quelle gleich-

^ Siowabt: „Logik« Bd. n, S. 609/10. Zeltechrin Ar Psychologie 46. 13

J94 Richard Baerwald.

bleibender Menschennatur schöpfen darf. Sie ist viel sicherer, zu finden, sobald sie erst zu suchen gelernt hat.

RiBOT verlangt in seinem erwähnten Aufsatze, daüs die Enquete nur noch mit persönlicher Befragung operiere und aof das Versenden von Fragebogen verzichte. Er war wohl der Erste, der die Methode der vereinigten Selbstwahrnehmung auf die kompliziertesten Probleme der Psychologie erfolgreich an- wendete und durch die Tat bewies, dafs dergleichen möglich sei; man wird ihn also mit Aufmerksamkeit hören, wenn er uns in die Geheimnisse seiner Kunst einweiht. Allein es kann dem Leser jenes Aufsatzes „Sur la valeur des questionnaires en Psychologie" nicht entgehen, dafs Ribot für seine Ansicht kaum positive Gründe vorbringt, sondern sich nur auf Erfahrung und Erfolg beruft. Der einzige scheinbare Grund, den einer der zitierten Gewährsmänner hervorhebt, verwandelt sich bei näherem Zusehen in einen Einwand. Es soll nämlich ein Vorteil der mündlichen Methode sein, dafs der Befragte plötzlich und darum unreflektiert antworten mufs, ohne die erste Gesamtvorstellung, die sich ihm nach dem Hören der Frage anbietet, durch Suchen von Einzelheiten zu entstellen. Aber, möchte ich entgegnen, haben wir wirklich mit Bezug auf unsere innere Welt, die so verwickelt ist und der wir so wenig Aufmerksamkeit widmen, auf jede mögliche Frage derartige abgeklärte Durchschnittsurteile parat? Wird nicht demjenigen, dem keine längere Zeit zum Besinnen gelassen ist, leicht irgend eine sich gerade anbietende Zufallserfahrung für die Antwort ausschlaggebend sein, während erst ein allmähliches Heranholen des ganzen Erfahrungsvorrates eine zuverlässige Aussage ermöglicht hätte? Andere Einwände gegen das ausschliefslich mündliche Verfahren erkennt Riböi selbst. Die Zahl der mitwirkenden Personen wird klein, solche, auf die es ankommt, entziehen sich durch Umzug und Abreise der weiteren Befragung. Am störendsten aber ist der verstärkte suggestive Einflufs, den der anwesende Psychologe auf die be- fragte Person ausübt, die vergröfserte Gefahr des „Hineinfragens". Ribot meint, sie liefse sich vermeiden, wenn der Psychologe sich sehr zurückhalte und sich blofs als passives Instrument enregis- trateur betrachte. Dafs eine solche Passivität, die immer nur Antworten sammelt, ohne die durch sie gebotenen Richtungs- linien weiter zu verfolgen, ein methodischer Fehler sein würde, haben wir soeben gesehen. Sie ist aber auch psychologisch un-

Die Methode der ver^igten Selbstwahmehmung, 195

möglich, die Vorschrift rechnet nicht mit der Tatsache, daEs der Veranstalter einer Enquete stets mit einer fertigen Theorie an sie herantritt und den dringenden Wunsch hat, diese bestätigt zu sehen. Wie sich aber unter solchen Umständen eine Unter- suchung ausnimmt, bei der der Fachmann mit seinen Fragen auf einen Laien eindringt und mit der ganzen Wucht seiner Persönlichkeit auf ihm lastet, davon habe ich bei medizinischen, ganz nach RiBOXschem Bezept veranstalteten Umfragen die ab- schreckendsten Belege erhalten; wie würde sich der Erfolg erst auf dem noch heikleren psychologischen Gebiete gestalten? Und dabei unterliegen vielleicht die durch Suggestion beeinflufsten Antworten beim mündlichen Verfahren einer nochmahgen Ver- fälschung in der Seele des Psychologen; er kann sie in der Erinnerung biegen, an ihnen deuteln, sich nur das merken, was ihm in den Kram pafst, und selbst wenn sie stenographiert werden, so bietet die Zweideutigkeit des im Moment, ohne Über- legung, gewählten Ausdrucks der unwillkürlichen Verdrehung Raum. Für den Psychologen steht mündliches und schriftliches Befragen in ähnlichem Verhältnis wie für den Historiker münd- liche Tradition und Dokument.

Trotzdem ist es nicht zweifelhaft, dafs Ribot bei der An- wendung des mündlichen Verfahrens wirkliche Vorteile gesehen hat, und dafs er es ihnen verdankt, wenn seine Umfragen einen wissenschaftlicheren Charakter hatten und bessere Erfolge auf* wiesen als die seiner Vorgänger. Es müssen nämlich, wenn man die persönliche Befragung durchführt, einige der oben gekenn- zeichneten methodischen Regeln ganz ungesucht und ungewollt zur Anwendung gelangen. Wer der gefragten Person gegenüber- sitzt und sich mit ihr unterhält, wird ihr nicht nur, wie bei dem filteren Fr agebogen System, eine kurze Frage entgegenhalten, sondern ausführlicher auseinandersetzen, warum es sich handelt und was die Frage will. Dafs Ribot bei seinen mündlichen Umfragen derartige Erläuterungen gegeben hat, ist sehr wahr- scheinlich, denn diejenigen Antworten, die er wörtlich wiedergibt, enthalten zum Teil dieselben psychologischen Fachausdrücke, die w selbst bei der theoretischen Bearbeitung der Resultate ver- wendet. Das mündliche Verfahren drängt also zu einer „Ein- tühning", zur Mitteilung der erforderlichen Beobachtungs- kategorien. Und femer: das mündliche Verfahren ist elastischer als das schriftliche und kann jede sich bietende Gelegenheit so-

13*

196 Richard Batrwald,

fort ausnutzen. Wenn die Antwort auf eine der stereotypen Fragen, die sich der Psychologe vorher zurechtgelegt hatte, eine neue Möglichkeit zeigt, zu einer neuen Hypothese auffordert, so kann er sogleich durch einige weitere Fragen die Spur verfolgen, kann, wenn die erste Frage schief beantwortet wurde, alsbald seinen Wortlaut präzisieren. Also auch die oben geforderte nachträgUche Sicherung und Erweiterung der Resultate ergibt sich bei Ribots Methode von selbst und verschmilzt mit der ursprüngUchen Befragung. Nun ist es einleuchtend, dab die Durchführung dieser beiden methodischen Prinzipien nicht an das mündliche Verfahren gebunden ist, sondern sich ebensogut beim Fragebogensystem ermöglichen läfst, sofern man sie nur kennt und mit Bewufstsein anwendet. Ribot hatte ihren Wert rein empirisch festgestellt und suchte dessen Erklärung an falscher Stelle, nämUch bei der Mündlichkeit und nicht bei ihren Neben- erfolgen.

Die Fragebogenmeihode, wie sie sich auf Grund unserer Überlegungen gestaltet, hat 3 Stufen oder Etappen. Die erste, die Einführung, kann ebensogut mündUch wie schriftlich geboten werden, kann in einem Vortrag oder einer hektographierten Erklärung bestehen. Die zweite Stufe, die eigentliche Frage- stellung, sollte, wenn es die Umstände irgend erlauben, schriftlich erledigt werden. In der Enquete der „Psychologischen Gesell- schaft" mufste ich mit einer Person die Frage erst mündlich erörtern, bat sie aber, ihre Antwort nochmals schriftlich zu fixieren, und sie fiel nunmehr weit prägnanter, unzweideutiger und detaillierter aus als zuvor. Die dritte Stufe, die nachträg- liche Bllärung von Zweifeln und Verfolgung von Analogien und Andeutungen innerhalb der Antworten, läfst das schriftliche Ver- fahren zu, doch ist hier das mündliche entschieden vorzuziehen. Viele Personen sind nämlich, wenn man sie nicht durch un- mittelbare Besprechung dazu nötigt, nicht zu einer strikten Be- antwortung der gestellten Fragen zu treiben, betrachten vielmehr die Korrespondenz nur als ein freies Plaudern über wissenschaft- liche Probleme. Und auch wo der Beantworter das Ziel scharf ins Auge f afst, bleiben beim schwerfälligen schriftlichen Verkehr leicht noch Unklarheiten übrig, die die mündliche Besprechung sofort beseitigt. Suggestive Beeinflussung durch den anwesenden Psychologen ist da nicht zu befürchten, wo die gefragte Person schon vorher, beim ruhigen Überlegen des im Fragebogen mit-

Die Methode der vereinigten Selbstwahmehmung, 197

geteilten Problems, ihren grundsätzlichen Standpunkt gewählt hatte, und Mifsverständnisse sind unwahrscheinlich, wo die Grundlagen der Unterredung bereits beiderseits bekannt sind und nur Detailpunkte nachgeholt werden sollen. Jede ernste und verantwortungsvolle Besprechung geschäftlicher oder wissent schaftlicher Natur pflegt zweckvoller und entscheidender zu sein, wenn sie sich auf eine vorangegangene Korrespondenz stützen kann.

Wir resümieren die methodischen Regeln, zu denen wir gelangt sind.

1. Prinzip der Personenauswahl. Nur an wissenschaftliche Arbeit gewöhnte Personen oder solche, die dem Veranstalter als aufmerksame Beobachter und zurückhaltende Urteiler bekannt sind, dürfen zu einer psychologischen Enquete herangezogen werden.

2. Prinzip der Einführung. Fragen, zu deren Beantwortung irgendwelche, nicht ganz populäre Beobachtungskategorien nötig sein können, müssen aus einem Vortrage oder einer Erörterung über das betreffende Problem herauswachsen.

3. Prinzip der Zweckalternativen. Fragen, bei denen Mifs- verständnisse oder vage Auffassung ihrer Bedeutung möglich sind, erfordern die Angabe der Hypothese, die die Antwort be- stätigen oder widerlegen soll, doch müssen ihr konkurrierende Hypothesen oder Schilderungen zur Seite gestellt werden.

4. Prinzip der gegenseitigen Bestätigung. Wo die Erschei- nung, der die Frage gilt, nicht leicht und sicher zu beobachten ist, dürfen nur solche Bekundungen als bewiesen gelten, die von mehreren Personen, unabhängig voneinander, gemacht werden oder mit anderen Aussagen im Verhältnis logischer Bedingung stehen.

5. Prinzip der AffekÜosigkeit. Fragen, bei deren Beant- wortung Eitelkeit, Schamgefühl oder sonstige Affekte eine Rolle spielen, siud zu vermeiden. Ist das unmöglich, so darf man der Antwort nur dann Beachtung schenken, wenn sie sich auf aus- reichende gegenseitige Bestätigung stützt.

6. Prinzip der konkreten Antworten. Die Fragestellung mufe Schilderung von Einzelerfahrungen verlangen und vor Generali- Bationen warnen.

198 Richard Baerwald,

7. Prinzip der nachträglichen Besprechung. PersOnlidie Unterredungen und Korrespondenzen zu dem Zwecke, lun die in den Antworten enthaltenen Mifsverständnisse und Unklarheiten zu beseitigen und hervorgetretene Analogien und Möglichkeiten auf ihre Zuverlässigkeit und Allgemeingültigkeit zu prüfen, bUden einen der wichtigsten Teile der Arbeit, die man einer Enquete widmet.

(Eingegangen am 21, August 1907.)

m

Literaturbericht.

G. Sfearman. Demonstration of Formalae for True Measiireiiieiit of OorrelatfoB.

Ämer. Joum. of Psychol. 18 (2), 161—169. 1907. Der englische Forscher hat dem Problem der Korrelation zwischen den Terschiedenen seelischen Vorgangen, Qualitäten oder Vermögen ein sorgfaltiges Studium gewidmet. Erforscht werden dadurch die typisch zu- sammenfallenden Variationen des Seelenlebens, wobei der Autor die Be- rechnungsmethoden von £ravais, Galton und Pearson weiter ausführt. Im Bd. 15 des Amer. Joum. hat Sp. selbst zwei hierauf bezügliche Formeln veröffentlicht, bei denen es im besonderen darauf abgesehen war, die Wirkung irrelevanter Faktoren einerseits und ungenauer Beobachtung andererseits auszuschalten. Diese Formeln zu begründen und ihre Richtig- keit zu beweisen ist der Zweck der vorliegenden Abhandlung.

Aall (Halle).

Johannes Dräbeke. Gehlrngewicbt und IntoUigenx. Ärch. f, BasseiV' u. Oeaeüsch.-Biologie usw. 3 (4), S. 499-522. 1907. Seit HuscHKB (1834) ist die Frage nach den Beziehungen zwischen Hirngewicht und Intelligenz immer von neuem in der Forschung aufgetaucht und bald in bejahendem, bald in verneinendem Sinne beantwortet worden. Die Aussicht auf ein abschliefsendss Urteil schien naturgemäfs mit der Menge des untersuchten Materiales zu wachsen/ wenigstens für den, der vom Werte der grofsen Zahlen überzeugt und zugleich die Gewinnung solcher in diesem Falle für verbal tnismäfsig einfach zu halten geneigt ist. Für den Forscher erhebt sich aber eine ganze Reihe von Vorfragen, deren Erledigung von ausschlaggebender Bedeutung für die Sonderung und Be- wertung bereits vorhandener und noch zu schaffender statistischer Unter- lagen ist. Der Verf. der vorliegenden Abhandlung führt eine Anzahl der- artiger Vorbedingungen auf und weist auf die Schwierigkeit ihrer Erfüllung hin. Kein technisch zunächst ist zu verlangen, dafs das Hirn stets an der gleichen Stelle vom Rückenmark abgetrennt und ohne Substanzverlust entfernt, dafs ferner die Wägung stets mit den gleichen Hirnhäuten nnd in gleichem Zeitabs tan de nach der Herausnahme vor sich geht. Ein festes übereinkommen besteht in dieser Beziehung auch neuerdings noch nicht. Prinzipiell auszuschliefsen sind die Hirne Geisteskranker (und mit deutlichen pathologischen Veränderungen) ; zu berücksichtigen sind Lebensalter, Körper-

200 Literaturbericht

gTöfse, Schädelform, allgemeiner Ernährungszustand, Todesart, endlich auch die Rassenangehörigkeit. Man ersieht hieraus, dafs grofse und beweisende Zahlenreihen nur schwer zu beschaffen sind. Aber erst auf Grund so gewonnener Mittelzahlen für den normalen Durchschnitt kann an die spezielle Frage herangetreten werden, wie weit mit gesteigerter Intelligenz höheres Hirngewicht vereinigt ist. Gleich nach der Geburt zeigt nach den bisherigen, verhältnismäfsig wenigen Wägungen das männliche Hirn sich durchschnittlich um 10 g schwerer als das weibliche (340 : 330 Mdb, 371:361 Mabchand). Dieser Unterschied erhält sich bis zu einer Körper- länge von 70 cm, dann aber wächst das männliche Hirn dauernd rascher als das weibliche (Mabchand). Das erste Drittel seines Gesamtgewichts erreicht das Hirn schon am Ende des 8. Monats, das zweite in der ersten Hälfte des 3. Lebensjahres; von da steigt das Gewicht nur noch allmählich an (Pfistsr). Nach Taguchi wächst bei Japanern das Hirn während der Kindheit und frühen Jugend langsamer als bei Europäern. Der Abschlals des Hirnwachstums fällt beim Manne zwischen 19. und 20., beim Weibe zwischen 16. und 18. Jahr; doch kommen schon vom 4. und 5. Jahre ab Himgewichte vor, die denen Erwachsener fast gleich sind (Mabchand). Zur Berechnung von Mittelwerten sind Wägungen erst vom 3. Jahrzehnt ab bis in das 5. brauchbar. Vom 6. Jahrzehnt ab geht das Himge wicht langsam zurück, besonders deutlich zwischen 7. und 8. Jahrzehnt (Mabchakd); bei geistig hochstehenden Menschen soll aber die Gewichtsabnahme nm ein Jahrzehnt später auftreten (Donaldbon, Spitzka). Das Mittelgewicht des normalen männlichen Hirns beträgt 1400 g, das des weiblichen 1275 g (Mabchand für Hessen). Dabei ist jedoch das Hirngewicht, bezogen anf das Körpergewicht, beim Weibe gröfser als beim Manne. Aufserdem läfst Mabchand auch die Möglichkeit zu, dafs der absolute Gewichtsunterschied durch gröfsere oder geringere Dicke der Nervenfasern bedingt sei. In einer vom Verf. zusammengestellten Reihe von 108 Wägungen der Hirne bedeutender Persönlichkeiten halten sich 74 über 1400 g, 32 darunter. Im einzelnen ergeben sich folgende Zahlen: über 2000: 2, 1900 2000: 2, 1800-1900: 4, 1700--1800: 3, 1600—1700: 7, 1500-1600: 22, 1400— löOO: 3^ 1300—1400: 19, 1200—1300: 12, unter 1200: 1. Hieraus wird man nicht mit Bestimmtheit folgern können, dafs der höheren Intelligenz konstant ein höheres Hirn gewicht entspreche. Doch braucht man deshalb den Versuch Spitzkas, Beziehungen zwischen Hirngewicht und Beruf aufzudecken, noch nicht für ganz verfehlt zu halten. Danach ständen die Vertreter der exakten Wissenschaften, Astronomen, Mathematiker usw. mit dem höchsten Hirngewicht voran; es folgten die Männer der Aktion, Staatsmänner, Politiker, Künstler, und an dritter Stelle die Naturwissenschaftler. Die Frage nach dem Einflüsse von Rasse und Nationalität auf das Hirn gewicht erscheint der Erwägung wert bei Berücksichtigung der Tatsache, dafs die germanischen und slavischen Völkerschaften ein gröÜseree Himgemcht besitzen als die romanischen. Und wenn Tigges bei Hannoveranern, West- falen und Badensern im Mittel 1433 g für den Mann, 1284 g für die Frso, bei Bayern 1362:1219, bei Sachsen 1354:1240, Mabchand bei Hessen 1400 : 1275 berechnet, so sind das schon im deutschen Sprachgebiet beachtens- werte Unterschiede. Das bisher vorhandene anthropologische Material ist

Literaturbericht. 201

jedocli für die Gewinnung eines einigermafsen aussich tsvollen Standpunktes noch Yollkonunen unzulftnglich. Wenn der Verf. am Ende meint, man könne sich dem Eindrucke nicht verschliefsen, dafs zwischen höherem fiimgewicht und höherer Intelligenz unverkennbare Beziehungen vorhanden seien, so weist er doch zugleich einschränkend auf die Wichtigkeit der Erforschung des feineren Ausbaues* des Hirnes hin. Im Verlaufe der Ab- handlung werden Rbtzitts und Kaes erwähnt, von denen jener sein Augen- merk hauptsachlich auf die Konfiguration der Grofshimoberfläche, dieser auf das Studium der Markfasersysteme richtet. Wir können noch O. Vogt fainzufagen, der noch weiter ins einzelne geht und die Hirnrindengebiete auf ihre feinen Sonderstrukturen durchforscht. Uns will scheinen, dafs gegenüber den auf diesen Wegen zu erwartenden Resultaten die Bedeutung des Hirn ge wich ts stark in den Hintergrund treten wird.

Ei8L£B (Halle).

P. ScHüSTBB. Untersiicliiiiigeii Aber die Sensibilitätsleitnng im RAckenmark des Hundes. MonaUachr. f. Psych, u. Neural 20 (2), 97—139. 1906. An sieben Hunden wurden Operationen mit mehr oder weniger weitgehenden Zerstörungen vorgenommen; die Protokolle der Unter- suchungen sind ausführlich wiedergegeben. Die Zerstörungen erstreckten sich auf die Hinterstränge, die angrenzenden Teile der grauen Substanz und Teile der Seitenstränge. Als XJntersuchungsmethode für das Be- rflhrungsgefühl bewährte sich Verf. am besten das Anblasen der ge- wünschten Hautstelle vermittels eines Gummischlauches durch einen lau- warmen Luftstrom. Die Prüfung der anderen Sensibilitätsarten geschah nach den üblichen Methoden. Die Ergebnisse fafst Verf. in folgenden Sätzen zusammen, wobei sich zeigt, dafs auch er ebenso wie einige andere der letzthin auf diesem Gebiete arbeitenden Forscher die Hinterstränge ihrer Bolle als alleinige oder hauptsächliche Leiter der Sensibilität ent- kleiden hilft. Er betont dabei, dafs die Schlufsfolgerungen in erster Reihe für das Tier in Betracht kommen:

1. Eine ausgesprochene Störung des Berührungsgefühls tritt erst auf, wenn im unteren Brustmark der Hinterstrang zusammen wahrscheinlich mit der gleichseitigen hinteren Grenzschicht des Seitenstranges (weniger wahrscheinlich zusammen mit dem Gebiete des gleichzeitigen Hinterhorns inkl. LiBSAUEBScher Zone) zerstört worden ist.

2. Die sog. Lagegefühlsstörungen geht der Tastgefühlsstörung im all- meinen parallel.

3. Die Herabsetzung des Schmerzgefühls wird höchstwahrscheinlich durch die Zerstörung der mittleren Teile des der grauen Substanz anliegen- den Seitenstrangbezirkes bedingt.

4. Die Störung des Temperaturgefühls geht eher derjenigen des Schmerzgefühls als derjenigen der Berührungsempfindungen parallel.

5. Die faradokutane Sensibilität die als spezifische Gefühlsqualität angesehen werden mufs, weder als einfach taktiler Reiz noch als abortiver Schmerz aufgefafst werden kann ist das Ultimum moriens bei Zer- störungen der hinteren und seitlichen Rückenmarkspartien; für das Er-

202 Literaiurberieht

haltenbleiben dieser QaalitAt kommt wahrscheinlich die graue Sabsttni des Rückenmarks in Betracht.

6. Die Störungen des Berührungs-, des Tastgefühls und der Schmers empfindung kommen in erster Linie auf der Seite der Operation zustande. (Da in der Arbeit die Worte Berührungsgefühl und Tastgefühl abwechselnd für dieselbe Qualität gebraucht werden, auch beim Hunde eine Unter- scheidung wie beim Menschen zwischen Lähmung der Berührnngsempfin- düng und Tastlähmung wohl unmöglich sein dürfte, ist es nicht recht ver- ständlich, weshalb Verf. in diesem seinem letzten Schlulssatze beide ge- sondert aufführt; dafs er sjrmptomatologisch einen ,,Berührungsreflex^ und einen „Tastreflex'' unterscheidet, gibt wohl noch nicht die Berechtigung, daraus zwei verschiedene Gefühlsqualitäten abzuleiten. Bef.)

H. Haenbl (Dresden).

F. H. Qüix. Die Schwingniigsart der Stimmgabel. Zeitschrift f. Ohrenheük. 52 (4), 294—320. 1906.

Um die Schwingungsformen und komplizierten Erscheinungen der Stimmgabel kennen zu lernen und zu sehen, in welcher Weise die Stiel- töne von den Abmessungen der Stimmgabel abhängen, welches ihre Ton- höhe ist und wo die Knotenlinien liegen, ist Verf. dem Vorbilde Chladjpis folgend davon ausgegangen, zunächst einen gabelförmig gebogenen Stab zu untersuchen. Hieraus konstruierte er eine geometrisch einfache Stimm- gabel, indem er in der Mitte der Biegung einen Stiel von der Länge der Projektion der Zinken auf die Gabelachse und der Dicke und Breite der Zinken befestigte, wodurch er die Komplikationen erforschte, welche der Stiel verursacht.

Damit sich an dem gebogenen Stabe alle nur möglichen Töne bilden können, wurde derselbe in der Mitte der Biegung auf einem Gummirohr Io0e aufgehängt und dann mittels eines Hammers angeschlagen. Das Too- gemisch wurde dann dadurch analysiert, dafs der Stab mit einem Auskalts- tionsrohr abgelauscht wurde, wobei dann deutlich das Auftreten und Ver- schwinden eines Tones zu konstatieren war. Wo das letztere der Fall ist, mufs für den Ton ein Knotenpunkt liegen, weil hier in der Luft immer eine positive Welle der einen Seite mit einer gleich starken negativen der anderen Seite zusammenfällt. Zum Unterschied von der KissLiNOschen Inter- ferenzfläche, welche infolge der Interferenz der Wellen entgegengesetzter Phasen an der Innen- und Aufsenfläche der Zinken entsteht, bezeichnet Verf. die Ebene dieser Interferenz als Interferenzfläche zweiter Ordnung. Aus der Lage der so bestimmten Knotenpunkte lassen sich dann die Schwingungsformen des gebogenen Stabes geometrisch konstruieren. Hier- bei ergibt sich, dafs bei der Schwingungsart desselben mit einer gradeo Zahl von Knoten sich die KiESLiNOschen Interferenzflächen bilden, bei denjenigen mit einer ungraden Zahl von Knoten dagegen eigentümliche Interferenzflächen, welche eben sind und mitten im Zwischenschenkelraom senkrecht zur Schwingungsrichtung liegen, die Verf. als mediane lnte^ ferenzebene bezeichnet.

Literaturbericht 203

Durch Anbringung des Stieles in der Mitte des Stabes wird dessen Schwingungs weise geändert, wobei folgendes resultiert.

„Die Schwingungsformen» bei denen in der Mitte, des Stabes ein Knoten ist, sind nunmehr unmöglich, so dafs die Tonreihe des gebogenen Stabes c, gis^ fiit^, d\ gi8\ c* (Chladni) in die der Stimmgabel C, gis* (as^), d\ ifi usw. (Helmholtz) übergeht. Es tritt dann eine neue Schwingungs- form auf, bei welcher der Stiel mit der einen Zinke als ein einfacher Stab betrachtet werden kann, der mit der anderen Zinke belastet ist.

Die Zinkenschwingungen mit symmetrischen Abschnitten in derselben Bichtung geben Anlafs zur Bildung einer medianen Interferenzebene. Bei der theoretischen Bestimmung der Tonreihe der Töne einer Stimmgabel kann die Zinke als ein an einem Ende fester Stab betrachtet werden. Bei der klingenden Stimmgabel treten im Stiel erzwungene transversale und longitudinale Schwingungen auf. Die Intensität der erzwungenen Trans- versalschwingung ist am stärksten, wenn die Periode des Gabeltones (der Gabeltöne) mit dem Eigenton des Stieles übereinkommt, und nimmt mit deren Divergenz sehr rasch ab.

Die Intensität der Mitechwingungen und die Lage der Knoten ändern sich mit dem Zustande des Stieles. Die Intensität nimmt weiter im allge- meinen mit dem Grade der Asymmetrie der Stielbefestigung zu, aber auch bei symmetrischer Befestigung verschwinden die Transversalschwingungen nicht völlig. Die longitudinalen Stielbewegungen sind als massale zu be- trachten. Der Stiel kompliziert durch seine Rückwirkung auf die Schwin- gungen der Zinken die Gabel derart, dafs eine im physikalischen Sinne exakte Gehörschärfenbestimmung mittels dieses Instrumentes in der üb- lichen Form und Weise unerreichbar ist." H. Bbyeb (Berlin).

L. P. Booos. Stadies in Absolate Pitch. Ämer. Joum, of Fsychol. 18 (2), 194-205. 1907. Verfasserin untersucht in dieser Abhandlung mehrere Fragen, die an das Phänomen des absoluten Tongedächtnisses knüpfen. Sie fand bei Unter- suchung mehrerer mit dieser Fähigkeit ausgestatteter und von ihr studierter Personen Stumpfs Urteil bestätigt, dafs zwischen einem sicheren Ton- gedächtnis und ausgesprochener Lebhaftigkeit der Gefühle ein sehr inniges Verhältnis besteht. Bei den Individuen, die ein absolutes Tongedächtnis besafsen, fand sie ererbte musikalische Beanlagung, femer, dafs sie von jungen Jahren ab in ausgesprochen musikalischen Umgebungen gelebt und viel Übung in Musik gehabt hatten ; in keinem Falle aber hatte eine spezielle Übung im Memorieren der Töne stattgefunden. So oft ein treffendes Ton- nrteil gefällt wurde, war immer unmittelbares Erkennen und subjektive Sicherheit beim Fällen des Urteils da. Bei allen fand sich ein besonderes Gehör für Obertöne. In der Unterscheidung der Intervalle wmrde keine besondere Feinheit des Ohres konstatiert. Notwendig war für alle eine grofse Konzentration der Aufmerksamkeit. Geräusche oder Störungen irgend welcher Art beeinträchtigten die Genauigkeit des Urteils. Jeder Ton mufste deutlich für sich gehört werden. Auf welcher Tonregion das Tongedächtnis appliziert wird, dieser Umstand bedeutet für einige in bezug auf das genaue Urteil etwas, für andere wiederum nichts. Unter den

204 LiUraturbericht

günstigsten Bedingungen begingen zwei Versuchspersonen keinen Fehlei, bei den übrigen schwankten die richtigen Fälle zwischen 92% und 68V Unter den Merkmalen, die die Personen mit absolutem Tongedftchtnis yon denen unterscheiden, die nur ein relatives besitzen, ist Verf. geneigt als besonders wesentlich hervorzuheben : das Vermögen, die ObertOne klar und deutlich herauszuhören und die Fähigkeit, jeden Ton, wenn er klingt, gegen- über den anderen Tönen scharf zu isolieren. Aall (Halle).

W. Bock. Untersvchiiagem tber die FuiktioB dos Bogeigingsapparttei M lormileH mid Tanbstommeil. Archiv für Ohrenheiüeunde 70 (3/4), 222—262; 71 (1/2), 66-84. 1907.

Nach einem kurzen Überblick über die ältere und neuere Literatur der Physiologie des Bogengangsapparates berichtet Verf. über seine eigenen Erfahrungen, die er bei der Prüfung einer Reihe von Normalhörenden sowie einer gröfseren Zahl von Taubstummen gewonnen hat. Die Untersuchungen wurden nach der Vorschrift von Wankbr ausgeführt und erstreckten sich besonders auf die Feststellung der Augenbewegnngen nach aktiven nnd passiven Drehungen, sowie nach dem Ausspritzen der Ohren mit Wasser von 28 <> und darunter nach dem Beispiel von Babant. Die Resultate werden in Tabellen wiedergegeben und zwar die Angaben Über den auftretenden Nystagmus bei verschiedener Blickrichtung in absoluten und in Prosentp zahlen.

Da der Nystagmus nach Drehungen d. h. die einzelnen AusschllgO desselben stets viel stärker und gröfser sind, wie diejenigen beim so- genannten kalorischen Nystagmus, so ist ein Vergleich zwischen beiden Arten nicht recht angebracht, besonders da auch der kalorische Nystagmos von bedeutend längerer Dauer ist, wie der Drehnystagmus. Seine Er- gebnisse fafst Verf. folgendermafsen zusammen.

Der Ausfall der Prüfung auf Nystagmus nach Rotation und nach Einspritzung verschieden temperierter Flüssigkeit in die Gehörgänge iit bei den beiderseitig total Tauben meistens negativ. Für die einseitig Tauben läfst sich eine bestimmte Regel nicht aufstellen und die Gruppe der Besthörenden verhält sich hinsichtlich der Reaktion auf Rotation und Ausspritzung der Ohren in der überwiegenden MehrzaU wie die Normalhörigen. Da ferner die Resultate des Drehversucbs im ganzen mit den Ergebnissen der Prüfung des kalorischen Nystagmus über- einstimmen, 80 dürfte zur Untersuchung des Gleichgewichtsinnes die von Barant angegebene Methode der Ausspritzung der Ohren mit kaltem oder warmem Wasser und die Untersuchung des hierbei auftretenden Nystagmus genügen, besonders da es hierbei möglich ist jedes Ohr gesondert zu prüfen. Bei der letzten Reizungsart beim Ausspritzen der Ohren mit Wasser über und unter Körpertemperatur tritt der Nystagmus in entgegengesetiter Richtung auf und diese Erscheinung macht es in hohem Mafse wah^ Bcheinlich, dafs sowohl die Bewegung der Endolymphe vom glatten Ende zur Ampulle als auch die umgekehrte Bewegungsrichtung ein reizauslösendee Moment darstellt. H. Beyer (Berlin).

Literaturbericht 205

A. YAK BosssM. fiewaarwordlngen en reflexen, opgewekt van alt de half- €irkel?oriiüfe kanalen. Inaug.-Dissert. Utrecht 1907.

Das physiologische Laboratorium der ütrechter Universität besitzt eine permanente Einrichtung zum Anstellen aller Arten Kotationsversuche. Stabil konstruiert, elektrisch getrieben/ in einem mattschwarzen, mit Kunst- licht versehenen Zimmer kann eine Drehscheibe mit allen darauf befind- lichen Nebenapparaten von der auf ihr sitzenden Versuchsperson bequem und mit feiner Regulierung mit sehr verschiedenen Geschwindigkeiten und Geschwindigkeitsänderungen bewegt werden. Stillstand, Bewegungsart, Ge- schwindigkeit und Zeit werden automatisch auf einem sich in der Bota- tionsachse befindenden berufsten Zylinder registriert, auf welchen ebenfalls andere Wahrnehmungen von der Versuchsperson indirekt aufgeschrieben werden können.

Verf. beabsichtigt das Minimum perceptibile der Winkelbeschleuni- gung kennen zu lernen und führt den Leser durch passende Literaturaus- züge und eine Anzahl orientierender Ausschaltungs- und Rotationsversuche an Fröschen, Schildkröten, Marmotten und Tauben in die Materie ein. Diese Versuche ergaben keineswegs ein gleiches Verhalten der genannten Tiere gleichen Versuchsbedingungen gegenüber. Die Unterschiede wären jedoch nach Verf. aus evolutionistischen Gründen erklärbar.

Die Bestimmung der gesuchten Minima erreichte Verf. nach zwei Methoden.

Die erste besteht in Bestimmung des eben noch eine Rotations- empfindnng hervorrufenden Minimums der Winkelbeschleunigung. Bei dem zweiten Verfahren werden die Daten geliefert durch eben noch als Rotation empfundene Änderung der Kopfstellung während einförmiger Winkelgeschwindigkeit.

Aus beiden Versuchsreihen stellte sich heraus, dafs eine Geschwindig- keitsänderung von 1<^ 36' innerhalb 0,02 Sekunden als Minimum percepti- bile anzusehen ist, dafs weiter als Reaktionszeit durchschnittlich 0,8 Se- kunden gelten.

Aus dem Minimum perceptibile berechnete v. R. das Minimum Energie mit Hilfe der Formel E = Vs ^v* (wo die Masse m der auf die Oupula terminalis Canalis horizontalis wirkende Endolymphe nach eigenen Messungen berechnet wurde aus: Länge X Breite der Cupula X Zirkum- ferenz des Kreises, der durch den Bogengang geht X P- S- ^^^ Endolymphe ; und V berechnet wurde aus obengenanntem Minimum Geschwindigkeits- änderung, umgerechnet in LängenmaTs). Dieses Minimum wurde in dieser Weise auf 12,6 X 1^>-® Ergs festgestellt.

Messung der vertikalen Bogengänge ergab hier für m einen gröfseren Wert, und hiermit stimmten die Ergebnisse einer Versuchsreihe mit Stellung der vertikalen Bogengänge in der Rotationsebene überein, wo das Minimum perceptibile sich geringer erwies als das entsprechende Minimum für den horizontalen Gang.

Schliefslich untersuchte v. R. den Einflufs der Distanz zwischen Ro- tationsachse und Bogengangsachse auf die Empfindung. Durch persönliche Versuche einerseits und durch von Sachverständigen mathematisch aus-

206 Literaturbericht,

gearbeitete Versuche an mechanischen Mastern andererseits^ wurde der Nachweis geliefert dafs, konform mit Brsübr and im Gegensatz zu Sabai, die Stellung des Experimentators auf der Drehscheibe ohne EinfloTs ist auf die Empfindung. Dr. J. yan dbb Hobvbk Lbonhard.

E. Alyobd and H. Seablb. A Study in the ComparisoA of Time Interrals.

Minor Studies from the Psychol. Lab. of Vassar College. Ämer. Jaum,

of Psychol. 18 (2), 177—182. 1907. Die Aufgabe bei dieser Untersuchung bestand darin, ein Zeitintenrall in der Weise abzuschätzen, dafs man angab, wie oft es in einem zweiten längeren Zeiiinteryall wohl enthalten sein könnte. Das Ausgangsintervall variierte von 3 bis 12 Sekunden, eine Dauer, die ja weit die für die Zeit- sinnexperimente anwendbare übertrifft. Das Hauptgewicht wurde dabei auf die Aussagen gelegt, die die zur Selbstbeobachtung aufgeforderten Versuchspersonen machten. Die Versuchsperson nahm Sitz in einem möglichst geräuschlosen Zimmer. Der Versuchsleiter grenzte die Zeitinter- valle ab durch Anschlagen eines elektrischen Signalapparates zum Anfang und zum Schlufs des ersten Intervalls, des AusgangsintervalLs, sodann zum Schlufs des zweiten Intervalls. Letzteres wurde 10— 12 mal so lang gemacht als das erste und folgte unmittelbar darauf, so dafs ein und dasselbe Signal den Schlufs des ersten und den Beginn des zweiten Intervalls markierte. Die einzige Instruktion die der Versuchsperson gegeben wurde, ging darauf aus, dafs sie die Zeiten nicht mit Zahlen ausfüllen dürfte, sonst wurde es ihrer freien Wahl überlassen, sich die Methode zurechtzulegen, nach der sie ihr Urteil aufbauen könnte. Die Lange des Ausgangsintervalls wurde so gewählt, dafs ein kürzeres und ein längeres sich abwechselnd folgte.

Es zeigte sich, dafs die fünf verschiedenen Versuchspersonen gegen- seitig sehr abweichende Methoden anwendeten, um das Ausgangsintervall zu reproduzieren. Die hauptsächlichsten Methoden waren Muskelemp- findungen der Spannung und Lösung, vorgestellte Bewegungen, vorgenommen mit den Augen, der Hand, dem Kopf oder dem Fufse, weiter vorgestellte rhythmisch verlaufende Gehörsempfindungen und spontan hervorgerufene Vorstellungen von Schallbildern des Schlufssignals. Wo die Methode der Spannungs- und Lösungsempfindung vorherrschte, trat die Neigung hervor, die längeren Ausgangsintervalle etwas zu kurz anzusetzen.

Aall (HaUe.)

F. M. Urban. Oa Systematic Errors in Time EsÜmation. Ämer. Joum, of Psych. 18 (2), 187-193. 1907.

Verf. hat an anderer Stelle eine statistische Studie veröffentlicht über die bei einer grofsen Anzahl Personen stattgefundene Schätzung von Zeit^ Intervallen von verschiedener Länge und jedes in verschiedener Weise aus- gefüllt. Hierbei zeigte sich, dafs die einzelnen Ziffern (0, 1 ... 9) nicht

* van Rossbm erfreute sich hierbei der Mitarbeit der Physiker Wkrkdlt und Cahnegieter. Letzterer hat der Inauguraldissertation eine kurze Ab- handlung über „Beweging van een vloeistof in een ringvormig kanaal, bevestigd op een dr aalende schyf** beigegeben.

lAteraturhericht 207

mit derselben Häufigkeit an letzter Stelle erschienen. Die Ziffern 0 nnd 5 kamen am häufigsten vor und die benachbarten Ziffern (1 und 9, 4 und 6) erschienen am seltensten. Das psychologische Problem, das in dieser Be- vorzugung bzw. Vernachlässigung gewisser Gröfsen liegt, wird vom Verf. diskutiert, indem er sich dabei wesentlich noch auf einer grofsen Reihe iron Zeitschätzungen stützt, die Meissner in den astronomischen Nachrichten August 1906, Bd. 172, Nr. 4113 veröffentlicht hat, und worin dieser viele Tausende von Schätzungsresultaten in Zehntel von Sekunden mitteilt, ü. iiebt hervor, dafs die Versuchspersonen bei Meissner die gröfste Genauigkeit aufweisen, wo es sich um ein Zeitintervall von 0«,6 und 0»,7 handelt, und erinnert daran, dafs dies mit einer schon erkannten psychologischen All- gemeinerfahrung übereinstimmt: Kleine Zeitintervalle werden in der Regel aberschätzt, gi'ofse Zeitintervalle unterschätzt. Dazwischen liegt ein für richtige Schätzung günstiges mittleres Intervall, gerade von zwischen 0«,ö 0«,7. Die Häufigkeit mit der in den astronomischen Beobachtungs- tabellen 0 erscheint, will U. auf spezielle Bedingungen bei den Beob- achtungen zurückführen. Experimente mit der Komplikationsuhr stellen durch analoge Verhältnisse die Tatsache in das richtige Licht. Damit ist auch das seltene Vorkommen der Ziffern 1 und 9 erklärt; die Überschätzung einer bestimmten Gröfse (hier also der Null) geschieht auf Kosten der l>enachbarten Gröfsen, die die Intervalle bezeichnen sollen. Diese Nachbar- ^'erte werden dann unterschätzt. Für 0 wie für 5 kommt aufserdem das Moment in Betracht, dafs wir überhaupt geneigt sind, die runden Zahlen vorzuziehen. Bei beiden Ziffern hat man aber ein Gefühl, etwas ungenau zu verfahren, wenn man sich immer wieder gerade für sie bestimmt. Diese Ungenauigkeit dadurch wieder wett zu machen, dafs man die ihnen nächst- liegenden Gröfsen anführt, darauf verfällt man nicht leicht. In dieser Weise erklärt sich das seltene Vorkommen der Nachbarziffern.

Aall (Halle).

F. Arnold. The Psychology of ÄUOdation. Arch. of Philos.j Psychol and Scientif, Meihods ^o. 3. Columbia Univ. Contrib. to Phil, and Psychol. 18 (4). 1906. 80 S. Jedes gegenwärtige Bewufstseinsobjekt ist teilweise eine Folge des eben vergangenen und enthält implicite in sich das nächstfolgende; den Zusammenhang zwischen den einzelnen Bewufstseinsobjekten nennen wir Assoziation. Daher kann die Assoziation nichts neben den einzelnen Bewufstseinsobjekten gesondert Vorhandenes sein, sondern man kann nur die Objekte und ihre Zusammenhänge getrennt behandeln. Bei der Behandlung müssen zwei Standpunkte scharf geschieden werden: die statische Betrachtungsweise, von der aus man zu einer Klassifikation der Assoziationen gelangt, und die genetische und dynamische, welche die Assoziationsformen untersucht und dadurch Assoziationsgesetze auffinden zu können hofft. In einer Übersicht über die Geschichte der Assoziations- lehre in England und Schottland zeigt Verf. die Übelstände, die aus einer Vermischung dieser beiden Standpunkte entstehen. Es folgt dann eine sehr übersichtliche und brauchbare Zusammenstellung der verschiedenen

208 Literaturbericht.

bisher gemachten Klassifikationsversuche. Im letzten Kapitel versucht Verf. zu zeigen, dafs alle Versuche, die Ähnlichkeits- auf die Berfihrangs- assoziation oder diese auf jene zurückzuführen, prinzipiell falsch sind. Die Zurückführung insbesondere der Ähnlichkeits- auf die BerQhrungsassoziatioii sei keine psychologische, sondern eine logische; auch wenn der der Ähnlichkeitsassoziation entsprechende physiologische Prozeüs durch Be- rührung erklärt werden kann, so sei damit doch das psychologische Phänomen der Ähnlichkeitsassoziation nicht auf das der BerQhrungB- assoziation zurückgeführt. Das einzige Assoziationsgesetz, daDs sich kon- statieren läfst, ist das Gesetz der Wiederherstellung (law of redintegration): „Ein psychisches Element hat die Tendenz, die Gesamtheit desjenigen Zn Standes wieder herzustellen, als dessen Teil es einmal erlebt wurde; dieser Zustand hat die Tendenz sich in der Richtung einer der früher geformten Spuren zu verbreiten (diffuse) und selbst von sich als einem Ganzen eine Spur zu hinterlassen, die ein zukünftiges Wiederaufleben und eine zukünftige Entwicklung vorbereitet/' (Es scheint dem Ref., dafs dieses Gesetz der Wiederherstellung von dem der Berührungsassoziation, wie die einen, oder der Erfahrungsassoziation, wie die anderen Autoren es nennen, nicht gar so verschieden ist, wie Verf. annimmt.) „Als Ursache betrachtet, ist die Assoziation die funktionelle Entwicklung einer psychophysischen Disposition. Als Erfolg betrachtet, ist sie die Umsetzung des in einem bestimmten psychischen Moment enthaltenen Zusammenhanges in eine Reihe.**

Als besonderer Vorzug der Arbeit sind die ausführlichen systematisch geordneten Literaturnachweise zu erwähnen, die allerdings nicht immer bis auf die neueste Zeit fortgeführt sind. So ist in der Literatur zu dem Kapitel „Laws and nature of assoziation" ein Hinweis auf £bb£NGHacs* Grundzüge der Psychologie zu vermissen, in denen die Lehre von der Er- fahrungsassoziation als des durchgehenden Assoziationsprinzips besonders präzis durchgeführt ist. Liphakn (Berlin).

F. Abnold. Tbe Initial Tendency in Ideal RoTival. Ämer. Joum, of FsyM. 18 (2), 239-252. 1907. Verf. untersucht die sogenannte initiale Reproduktionstendenz and bespricht zu Anfang unter dem angedeuteten Gesichtspunkt Habtlits Assoziationslehre und Hebbabts Vorstellungsmechanik. Darauf wendet er sich einer Kritik der Methoden zu, die von Mülleb und Schümann, sodann von Mülleb und Pilzecksb für ihre Gedächtnisuntersuchungen angewendet wurden. Wir hören nicht für gewöhnlich ^^sinnlose Silben, mit dem Ton auf jeder zweiten oder dritten Silbe"; falsch ist es auch anzunehmen, di& wir in den ausgedachten Silben völlig unbekannte Lautverbindungen be- sitzen, vor allem aber beruht die ganze Anlage einer solchen Gedftchtnie- prüfung auf einer etwas atomistischen Auffassung der Zustände unseres BewuTstseins. Im folgenden werden Experimente mitgeteilt^ die der Verf. zur Klärung des Problems vornahm, ob eine initiale Tendenz vorliegt oder nicht. Die Versuche wurden an Schulknaben, zusammen ungefähr 40, im Alter von 10 bis 15 Jahren ausgeführt. Als Versuchsmaterial wurde ein Gedicht gewählt, das die Knaben schon für ihre Schulzwecke gelernt hatten und fliefsend hersagen konnten. Sie wurden folgendermaTsen

Literatwrbericht 209

instruiert. Wenn der Versnchsleiter irgend ein Wort (das er also aus dem betreffenden Gedicht entnahm) hersagte, so hatten die Knaben auf dieses ^Stichwort hin die ersten Worte niederzuschreiben, die ihnen ins Gedächtnis traten und die zu dem betreffenden Abschnitt aus dem Gedicht geborten. Einige Knaben reproduzierten die direkt auf das Stichwort nachfolgenden Worte, andere griffen zurück auf das erste Wort des betreffenden Ab- «ebnittes und reproduzierten dann weiter vorwärts bis zum Stichwort. Diese letzten stellen den gesuchten Fall der initialen Reproduktion dar. Verf. analysiert die Ergebnisse und findet als allgemeines Resultat die Erkenntnis, daTs bei dergleichen Reproduktionen die ganze Rede von mittelbarer Reproduktion unbegründet ist. Durch das Stichwort wird im Bewufstsein des Beobachters der ganze Abschnitt gegenwärtig und Unterschiede zeigen sich nun bei der Frage, wie viel im einzelnen Falle reaktiviert wird. Das Zurückgreifen auf das Anfangs wort, also eine initiale Beprodnktionstendenz fand A. besonders bei aufgeweckten Kindern und er nnterläfst es nicht, gewisse pädagogisch-didaktische Schlüsse daraus zu sieben. Aall (Halle).

J. Bbbostböm. Effect of Ohanges in the Time Yariables in Hemorixing, together wlth lome DiBcnsiion of the Techniqae of Memory Sxperimentation. Amer. Joum. of Psychol 18 (2), 206-238. 1907. Diese Untersuchungen über die Bedeutung einer Variation der zeit- lichen Bedingungen bei Gedächtnisexperimenten knüpften zunächst an Versuche mit Reiben von Buchstaben, von sinnlosen Silben und von Worten •die zum Teil natürlich zum Teil nur schwierig miteinander verbunden werden konnten, an. Die hier mitgeteilten Resultate beziehen sich auf swei Gruppen von Experimenten, denen beiden eine verschiedene Versuchs- Anordnung zugrunde lag. In der ersten Gruppe handelte es sich um mündlich dargebotene Reize, wobei die dafür zur Anwendung kommenden Zeitwerte durch ein Metronom kontrolliert wurden; 30 in psychologischer Arbeit geübte Studierende dienten als Versuchspersonen. Es wurden zwei Arten von Reizmaterial angewendet, nämlich Reihen bestehend aus 10 leicht «Bsoziierbaren Worten, und Reihen von 10 Buchstaben, in willkürlicher Ordnung. Solche Reihen wurden vorgelesen und zwar so, dafs zwischen IvVort und Wort bzw. einem Buchstaben und einem anderen Buchstaben regelmäfsig ein Intervall lag von 0,5, 1, oder 2 Sek. Nachdem die Versuchs- person einmal das Ganze vorgelesen bekommen hatte, war sie instruiert, :8ofort niederzuschreiben soviel sie sich davon erinnerte. Die Fehler wurden studiert. Unter die Fehler wurden nicht nur inhaltlich falsche Repro- duktionen, sondern auch nachträgliche Einschiebsel und Umstellungen gerechnet, was allerdings nicht gleichwertige Gröfsen bei der Berechnung der Gesamtsumme der Fehler gibt. Der bedeutsamste Zug, wenn man die Ergebnisse studiert, ist die Abnahme der Fehler bei Verlängerung des zwischen der Vorführung der einzelnen Reize gelassenen Intervalls bei Wortreizen. Die Fehlerzahl sinkt bis unter die Hälfte, wenn die Intervalle von 0,5 bis 2 Sek. steigen. In bezug auf die Versuchsbedingungen kann man entweder miteinander bequem assoziierbare oder wiederum miteinander schwer assoziierbare Worte wählen. Bei Versuchen mit Worten von dem Zoitschrift fbr Psycholofpe 46. 14

210 Literaturberieht

«rsteren Typus gelangte M. zar folgenden allgemeinen Erkenntnis: Di^ Auffassung und das Behalten einer Reihe solcher Worte variiert annähernd mit dem Logarithmus desjenigen Intervalls, in welchem die Worte gesprochea werden, dabei ist das kürzeste Intervall das, welches eben klare Ausspracht der Worte erlaubt; die schwer miteinander assoziierbaren Worte nehmen, in der Beziehung eine Mittelstellung zwischen den leicht assoziierten Worten und den Buchstaben ein; bei den letzteren gibt eine Verlängerung dee- Intervalls keine konstaute Besserung der Resultate.

Eine zweite Serie von Experimenten wurde mit optischen Reizen ans- geführt. Als solche dienten, der Einfachheit halber, lediglich sinnlose Silben. Zwecks Ausfahrung derartiger Versuche wurde ein eigens dazu von B. konstruierter Apparat, eine Expositionstrommel angefertigt, an der im Unterschied zu dem RANSCHBUBO-WiBTiischen Apparat, eine Vorrichtung getroffen ist, die es ermöglicht, die Dauer der Exposition des optischen Bildes und die Dauer der Pause zwischen jeder Lesung unabhängig von* einander zu variieren. Es kamen für die Untersuchungen 3 Zeitvariabl» in Betracht: 1. Die Dauer der Exposition der Silbe, 2. die Intervalle zwischen den Silben (d. h. die Zeit vom Erscheinen einer Silbe bis zum Erscheinen der nächsten), 3. die Ruhepause oder das Intervall vom Ende einer voU> ständig durchgelesenen Silbenreihe bis zum Beginn der Lesung einer zweiten solchen. Mit 3 Versuchspersonen wurden demgemäfs 3 Serien von Experi- menten gemacht, eine Serie für jede der 3 Zeitvariablen. 48 Reihen, jede 12 Silben enthaltend, wurden in dieser Weise durchgearbeitet. Jede Reihe wurde 4 mal gelesen.

Zuerst wurde die Bedeutung der Variation in der Expositionszeit, oder in der Dauer der Sichtbarkeit des Bildes studiert, wenn das Gesamt in tervall von Silbe zu Silbe konstant gehalten wurde. Die kürzest anwendbar» Expositionszeit war 41 a. Hiernach wurde die Expositionsdauer verlängert,, und zwar so, dafs die Zeitwerte eine geometrische Reihe bildeten. Das konstante Gesamtintervall von Silbe zu Silbe war 768 a. Subtrahiert man davon die jeweilige Expositionszeit, so hat man die Länge des jeweiligen leeren Intervalls von dem Ende einer Exposition bis zu der nächsten. Efr zeigte sich, dafs die Variationen in der Expositionsdauer nur wenig die Resultate beeinflussen. Jedoch drückten die Versuchspersonen eine deut- liche Bevorzugung einer Epositionsdauer von 82 a als einer angenehm und bequem erscheinenden aus. Wesentlich ist der Umstand, dafs der Anf- fasBungsprozefs nicht mit dem Aufhören der Sichtbarkeit des Bildes schliefst Es zeigte sich, dafs die Länge des leeren Intervalls vor dem Herankommen des nächsten Experimentes das Resultat in hohem Mafse beeinflufst. Dies trat bei der zweiten Serie von Versuchen deutlich zutage. Bei ihr warde- die Expositionszeit konstant auf einer Dauer von 82 a gehalten, aber das Intervall vom Erscheinen einer Silbe bis zum Erscheinen der nächsten wurde variiert. Die Beobachter wurden gebeten, die Silben nicht mehr als einmal für sich zu bezeichnen; sie machten das lautlos bei der jeweiligen Exposition. Das Resultat zeigte, dafs die Verlängerung der Intervalle die An- zahl Fehler bedeutend verringert. Bei der Untersuchung der dritten oben bezeichneten Frage, der Frage von der Bedeutung der Ruhepause zwischen dem Schlufs der Vorführung der einen Gesamtserie und dem Anfang der

Liieraturbericht 211

Vorfahrung der nächsten wurde gleichfalls eine Expositionszeit von 82 a und als Gresamtlntervall vom Anfang der einen Silhe bis zum Anfang der nftchsten eine solche von 556 a benutzt. Als Buhepausen wurden folgende Zeiten verwendet: 1. weniger als eine Sek., 2. 30 Sek., 3. 60 Sek. Es zeigte sich dabei, dafs die längeren Intervalle den Beobachter dazu befähigen, sich eine gröfsere Anzahl Silben einzuprägen, dafs aber dabei die Ordnung und Verbindung der Silben unsicherer wird. Für das wesentlichste Ergebnis seiner Versuche hält B. den Kachweis von der hervorragenden Wichtigkeit der Apperzeption beim Memorieren und von dem Werte, den es hat, dafs der Apperzeption zu ihrer Entwicklung genügend Zeit gelassen wird.

Aall (Halle).

F. Ktthlxank. Ob tbe Analysü; of tbe Hemory-Gonflcioiisiiess. Psychol. Review 13 (5), 316—348. 1906.

Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich ausschliefslich mit den Gesetzen der Reproduktion, nicht mit dem Wiedererkennen. Infolgedessen wurde der Versuchsperson ein jeder Reiz nur ein einziges Mal vorgelegt. Die benutzten Reize waren sinnlose Zeichnungen. Jede Zeichnung wurde 10 Minuten lang vorgelegt; dann wurden eine halbe Stunde lang Repro- duktionsversuche gemacht, welche in längeren Zwischenräumen von 2 bis 93 Tagen wiederholt wurden.

Während des Lernens fanden die Versuchspersonen bald die schwierigen Punkte heraus und wandten ihnen besondere Aufmerksamkeit zu. Falls die Gesamtform Schwierigkeit bot, suchten die Versuchspersonen nach Assoziationen. Wo die Schwierigkeiten in den Einzelheiten zu finden waren, wurde Wortbeschreibung zur Hilfe herbeigezogen. Wortbeschreibung diente auch zur Korrektur teilweise ungenauer Assoziationen.

Direkte visuelle Reproduktion zeigte sich bald mehr, bald weniger spontan. Je geringer die Spontaneität, um so wichtiger waren natürlich assoziative und deskriptive Hilfen. In sehr leichten Fällen konnte die Versuchsperson die gesehene Figur zeichnen, ohne selbst eine vorangehende Gesichts Vorstellung zu haben. Nur in seltenen Fällen erschienen Be- wegungsvorstellungen der Augen oder der Hand als Hilfen für die zeich- nerische Reproduktion.

Fälle, in denen die dargebotene Form einer gewohnten geometrischen Form ähnlich sah, waren leicht, und das visuelle Gedächtnisbild trat schnell auf, frei von Schwankungen. Für die Abweichungen von der gewohnten geometrischen Form wurden Wortbeschreibungen benutzt. Sehr schwer dagegen waren unregelmäfsige Kurven zu behalten. Die Versuchspersonen suchten dann nach Assoziationen, fanden aber keine brauchbaren. Vielerlei Wortbeschreibungen zeigten sich nötig zum Behalten der Einzelheiten der Kurven. Bei der Reproduktion zeichneten die Versuchspersonen versuchs- weise verschiedene Kurven, um dann die eine oder die andere als mehr oder weniger bekannt wiederzuerkennen. Von mittlerer Schwierigkeit waren solche Figuren, bei denen die einzelnen Teile leicht zu behalten waren, aber die Art der Zusammensetzung Schwierigkeiten bot Um die Lageverhältnisse der einzelnen Teile zu behalten, waren Assoziationen not- wendig und auch gewöhnlich auffindbar.

14*

212 Literaturbericht

Mit Rücksiebt auf den zeitlichen Verlauf der Gedächtnififanktion "wurde folgendes beobachtet. In der halben Stunde folgend auf die Lern- Periode wurden Wortbeschreibungen nur ausnahmsweise zur Reproduktion benutzt. Das visuelle Gedächtnisbild erschien spontan oder mit Hilfe toq Assoziationen. In einem zweiten Stadium, nach einem Zeitin tervall, zeigte sich eine vermehrte Spontaneität des direkten Gedächtnisbildes. In einem dritten Stadium, nach Ablauf vieler Tage, war die Spontaneität des direkten Gredächtnisbildes gering. Assoziationen bekommen wichtig fOr die Repro- duktion. Wortbeschreibungen sind fast ganz vergessen. Häufig werden falsche Wortbeschreibungen von den Versuchspersonen benutzt und führen zu Irrtümern.

Die folgenden Fehlerursachen machten sich bemerkbar. Zweideutige Wortbeschreibung. Die Tendenz, die Reproduktion der assoziierten Vor Stellung gleich zu machen. Die Tendenz, solche Figuren, welche gewohnten geometrischen Figuren ähnlich waren, diesen Figuren gleich zu machen. Die Tendenz, Linien, welche beinahe horizontal oder vertikal, beinahe rechtwinklig oder parallel waren, genau horizontal, vertikal, rechtwinklig oder parallel zu machen. Die Tendenz, fast gleich lange Linien wirkKch gleich lang zu machen; und die Tendenz, Symmetrie einzuführen.

Max Mstbr (Columbia, Missouri).

Elisabeth Sbvebancb and Mabg. Floy Washbubn. The LO88 of AssociatiTO Power in Words alter Long Fixation. Amer, Joum. of Paychol 18 (2), 182—186. 1907. Eine allgemein bekannte, aber noch nicht näher analysierte Tatsache wird hier einer experimentellen Prüfung unterzogen. Wird ein gedrucktes Wort für einige Zeit ununterbrochen mit dem Auge fixiert, so wird ee schliefslich recht wunderlich und fremdartig aussehen. Das an sich be- kannte Wort mutet einem an wie ein Wort aus einer fremden Sprache, es löst sich gewissermafsen in eine Sammlung Buchstaben auf, und bisweilen geht die Wirkung so weit, dafs die Buchstaben selbst sich nur wie sinn- lose auf das Papier hingeworfene Zeichen ausnehmen. Bei den hier mitgeteilten Experimenten wurden Worte, bestehend aus 6 Buchstaben anf weifsera Papier 3 Minuten lang betrachtet. Sechs Versuchspersonen, alles Frauen, die nicht ohne Übung in Selbstbeobachtung waren, nahmen an den Experimenten teil, sie wurden dazu angehalten, alle Änderungen an- zugeben, die sich für sie an dem Worte bei der unabgewendeten Be- trachtung desselben vollzogen. Die Eindrücke, die beim Sehen eines gedruckten Wortes im Bewufstsein hervorgerufen werden, beziehen sich auf optische Elemente, akustisch motorische Elemente und den Sinn des betreffenden Wortes. Von diesen Eindrücken verschwanden die letzten, die sinnvollen und akustisch-motorischen, gewöhnlich schon ein paar Sekunden nach erfolgter Fixierung des Wortbildes; jedoch konnte das Klangbild nachher gleichsam blitzartig von Zeit zu Zeit wieder auftauchen. Das visuelle Bild als etwas Ganzes hielt sich länger, dann zerfiel auch dies in eine „Sammlung von Buchstaben", bis schliefslich bisweilen auch diese wie sinnlose Zeichen erschienen. Bei der psychologischen Analyse der Erscheinung wird die intime Verbindung zwischen lüangbild und den

LiteraturberichU 213

Motiven sinnvoller ABSoziationen hervorgehoben. Es wird angedeutet, daXis der ganze Prozefs wohl von dem Gesetz der Wanderung der Aufmerksam- keit abhängig ist.

Analoge Tatsachen können auch konstatiert werden, wenn ein geeprochenes Wort eine Anzahl Male wiederholt wird, so dafs die Auf- merksamkeit in abnorm hohem MaTse auf das Klangbild desselben gerichtet wird. Experimentelle Untersuchungen hierüber werden in Aussicht gestellt.

Aall (Halle).

M. IssBBUN. Die diagnostische BedeatiiBg der Assoiittionsversache. Münch. mediz. Wochenschr. 1907 (27), 13 S.

Verf. referiert zunächst über die Geschichte des Assoziationsexperi- mentes Oberhaupt und gibt dann eine sehr brauchbare Zusammenstellung der speziell zu psychopathologischen Zwecken unternommenen Assoziations- versuche, wobei die in dieser Zeitschrift bereits besprochenen von Jung und seinen Schülern publizierten naturgemäfs einen grofsen Raum einnehmen. Verf. bestätigt die Meinung Jünos, dafs bei gefühlsbetonten Vorstellungen die Reaktionszeit verlängert wird, bestreitet aber, dafs ein solcher gefühlsbetonter Vorstellungskomplex bei Hysterischen immer ein sexueller Komplex ist. Es wird resümiert, dafs die Assoziationsversuche in der Tat zur Kenntnis des Wesens der Idiotie, Imbezillität, des manisch- depressiven Irreseins (Ideen flucht), der Hysterie und Epilepsie wertvolle Beiträge geliefert haben, dafs aber noch viel zu tun ist, und dafs man aach nicht glauben soll, mit Assoziationsversuchen sei auf diesem Gebiete alles getan.

Zum Schlufs weist Verf. auch auf die Verwendung des Assoziations- experimentes zu tatbestandsdiagnostischen Zwecken hin.

LiPMANN (Berlin).

Fr. Ahosll. Ol Jadgments of „Ukt" ii Discrlmination Experiments. Amer. Joum. of Psychol 18 (2), 263-260. 1907. Die Untersuchung bezweckt, auf den Charakter des psychologisch mehrdeutigen Urteils „gleich*' Licht zu werfen. Eine sehr einfache Ver- Buchsanordnung wurde für die Experimente gewählt. Es wurden eine Anzahl Urteile, so viele, dafs sie als Grundlage einer Verallgemeinerung im Urteil dienen konnten, nach der Methode der konstanten Unterschiede mit kleinen Unterschieden zwischen Norm und Variablen, abgegeben. Auf diese Serie folgte eine zweite, die gewisse von den in der ersten Serie yor- kommenden Unterschieden zwischen Norm und Variable und dazu noch andere und gröfsere Unterschiede enthielt. Die zweite Serie wurde darauf mit der ersten in Hinsicht darauf verglichen, wie es sich mit den Gleich- urteilen verhielt bei Beizpaaren, die beiden Serien gemein waren. Wenn mehr „Gleich'^urteile in der ersten als in der zweiten Serie vorkommen sollten, so müfste man als wahrscheinlich annehmen, dafs dies durch den Einflufs der gröfseren Unterschiede bewirkt war; sollten auTserdem die Gleichurteile von einer stärkeren subjektiven Gewifsheit des Gleichseins begleitet werden, so würde sich eine sehr grofse Wahrscheinlichkeit ergeben»

214 LUeraturbericht

dafs die Wirkung auf die Anwesenheit der gröfseren Unterschiede zurück- zuführen sei.

Als Apparat wurde eine Schallpendel benutzt. Die VersnchspersoneD, die sämtlich von dem Zwecke der Experimente keine Ahnung hatten, safsen, den Rücken gegen den Apparat gekehrt, in einer Entfernung von 10 Fufs davon. Sie wurden aufgefordert, sich bei den Versuchen sorgfältig selbst zu beobachten und ihre Urteile nach den Kategorien: deutlich stärker, stärker, gleich, schwächer, deutlich schwächer und zweifelhaft ab- zugeben. Bezeichnet man die Gruppe von Experimenten mit kleinen Unterschieden zwischen Norm und Variablen durch A; die Gruppe von Experimenten mit sowohl kleinen als grofsen Unterschieden durch B, 80 fielen bei den 4 angewendeten Versuchspersonen im Durchschnitt 216 Urteile in die Gruppe A, 245 in die Gruppe B. 5 Variablen waren den beiden Gruppen gemein. Es stellte sich heraus, dafs in Gruppe A 24,5%, in der Gruppe B 28,2 \ der Gesamturteile Gleichurteile waren. Die unterschiedenen deutlichen Gleichurteile waren in der Gruppe A nur 33,8 ®/o von der Gesamt- zahl der Gleichurteile, in der Gruppe B hingegen 40,6 ®o- l>ies bedeutet: In der Gruppe, die die gröfseren Differenzen enthält, gaben die Beobachter verhältnismäfsig mehr Gleichurteile ab und sie drückten dies Urteil dabei mit gröfserer Sicherheit aus. Bei den einzelnen Versuchspersonen ist ein erheblicher individueller Unterschied im Vertrauen an eigenem Urteil bemerkbar. Übung nicht weniger als natürliches Temperament spielt dabei eine grofse Rolle. Ein dritter die Resultate beeinflussender Faktor ist die Zeit. Die Anzahl und Richtigkeit der Gleichurteile nimmt ab mit dem Wachsen des Zeitintervalls zwischen Norm und Vergleichsreiz. A hebt in bezug auf den Charakter der Gleichurteile im allgemeinen hervor, dafs Bie zumal bei den ersten Stadien der experimentellen Arbeit reine SchlQaae, eine Art Verlegenheitsurteile sind. Und auch wo das Urteil „gleich" mit Sicherheit und als ein selbständiges Urteil gefällt wird, handelt es sich dabei eher um einen Fall des Erkenn ens oder wenn es hoch kommt der Wiedererkennung eines gewissen zu einem Typus gewordenen Inhaltes, als um ein Wiedererkennen eines spezifischen Eindrucks. Aall (Halle).

H. Oabb. A Yisaal Illosion of Motion daring Eye Closnre. P^ch, Bev, Mm, Sup. 7 (3), Whole No. 31. 127 S. 1906. Bekannt sind die scheinbaren Bewegungen wahrgenommener Gegen- stände, hervorgerufen durch Fingerdruck auf das Auge. Ähnliche Be- wegungen werden hervorgerufen durch Schliefsen des Auges. Diese bat Verf. genauer untersucht. Ein kleines, aber helles elektrisches Licht vor einem quadrierten Schirm diente als Beobachtungsgegenstand. Verf. fand, dafs manche Versuchspersonen Nullpunkte der Augenstellung besitzen, in denen Schliefsen des Auges keine Bewegung hervorruft. Je gröfser die Entfernung von diesen Nullpunkten, um so gröfser die scheinbare Be- wegung, die immer zentrifugal ist. Bei Versuchspersonen, die keine Nnll- punkte besitzen, sind die scheinbaren Bewegungen nicht so einfach zu be- schreiben. Bei gleichzeitigem Schliefsen beider Augen findet die scheinbare Bewegung in jedem Auge unabhängig statt. Ähnliche Erscheinungen werden veranlafst durch Fingerdruck in der Richtung der Nase und auch

Literaturbericht 215

durch Ansangen des Auges vermittels einer auf das Gesicht gesetzten Xapsel und Luftverdünnung in der Kapsel. Zur selben Erlasse gehören «ach scheinbare Bewegungen bei ungewöhnlich grofsen Augendrehungen. Die scheinbaren Bewegungen . besitzen manchmal eine geringe Kurvatur. Der gesehene Gegenstand wird bei der Bewegung undeutlich. Auch Be- wegungen in der dritten Dimension treten manchmal auf.

Zur Erklärung dieser Beobachtungen zieht Verf. normale, abnorme Augendrehungen und Befraktionsstörungen heran. Dafs das Schliefsen eines Auges normale Augendrehungen veranlassen könne, hält er für zweifelhaft. Refraktionsstörungen sind nachweisbar und veranlassen die Undeutlichkeit des Gregenstandes, aber nicht seine scheinbare Bewegung. Verf. beweist sodann das Auftreten während des Augenschlusses von Augendrehungen um ein abnormes Drehungszentrum vermittels Beobachtung des blinden Flecks, ophthalmoskopischer Beobachtung, Beobachtung von ^Nachbildern, von entoptischen Erscheinungen etc.

Um den Zusammenhang zwischen diesen Augenbewegungen und den «oheinbaren Bewegungen der Gegenstände theoretisch verständlich zu machen, glaubt Verf. die Raumbedeutung der Netzhautpunkte im Ver- hältnis zur Kopflage (zum Cyklopenauge) als eine Funktion der physiologi- schen Innervation der Augenmuskeln betrachten zu müssen. Er führt aus, dafs der Haupteinwurf, der einer solchen Theorie gemacht werden kann, von der Voraussetzung ausgeht, dafs Innervation nur als Inne^vations- empfindung die Raum Wahrnehmung beeinflussen könne, und dafs es Innervationsempfindungen zugestandenermafsen nicht gebe. Dieser Einwand ist jedoch nicht stichhaltig, da die Ergebnisse der Psychologie der letzten Jahre es hoch wahrscheinlich gemacht haben, dafs Muskelinnervation als ein rein physiologischer Prozefs die Wahmefamungsprozesse beeinflussen kann. Muskelinnervation an sich kann freilich keine Wahrnehmung her- Torrufen, wohl aber durch Zusammenwirken mit sensorischen Nerven- prozessen auf das Zustandekommen der entsprechenden Bewufstseinsvor- gänge einen Einflufs ausüben. Die physiologische Innervation würde dann als ein nativistischer Faktor der Raumwahrnehmung zu betrachten sein. Verf. diskutiert die verschiedenen Bewegungsillusionen mit Rücksicht auf seine Theorie unter zwei Abteilungen: Illusionen infolge von Innervation ohne entsprechende Augenbewegung (z. B. bei Paralyse oder einem vor ein Auge gehaltenen Prisma) und Illusionen infolge von Augenbewegung ohne entsprechende Innervation (z. B. bei Augenschliefsen, Fingerdruck, An- saugen, Kopferschütterung}. Max Mbtbb (Columbia, Missouri).

K. Obstbrsbich. Die EiitftamdaBg der Wahraehmoägswelt und die Deper- sDäAilisttion In der Psyehasthenie. Ein Beitrag inr Creffthlspsychologie.

Joum. f. FBychol u. Neurol 7 (6), 8. 263—276; 8 (1/2), 8. 61-97; (3/4),

S. 141-174; (5), S. 220-237; 9 (1/2), 8. 15-53. 1906/7.

Verf. stellt sich die Aufgabe, die Erscheinungen der Depersonnalisation

und der Entfremdung zu analysiersn, wobei gleichzeitig auch die Frage der

Mehrdiroensionalit&t der Gefühle bejahend werde entschieden werden

können. Verf. legt seinen Untersuchungen vier sehr ausführlich wieder-

216 Literaturbericht

gegebene Krankengeschichten sowie eine sehr umfassende Beracksichtigrm^ früherer Literatur zugrunde.

Die Entfremdung der Wahrnehmungswelt besteht darin, dafs di» Patienten alle ihre Wahrnehmungen als anomal empfinden. Verf. wendet sich zunächst gegen die sensualistische Deutung dieses Phänomens, derzu- folge es auf einer Abnahme der Sinnesschärfe oder einer Qualitätsänderung der Empfindungen beruhe; gegen diese Theorie spricht die Tatsache, dafo die Untersuchungen der Patienten keine Anomalie der Empfindungen festzustellen vermochten, ebenso die Selbstbeobachtungsangaben der Patienten. Auch die Meinung lehnt Verf. ab, wonach die Entfremdung darauf beruhe, „dafs durch irgend welche vorläufig nicht bestimmbaren Ursachen sich fälschlich das Gefühl der Fremdheit einstellt", bzw. auch nur das Bekanntheitsgefühl ausbleibt; die Welt ist dem Patienten ja nicht wirklich unbekannt, sondern sie erweckt nur den Eindruck der Unbekannt- heit; tatsächlich wissen die Patienten, dafs sie es mit bekannten Dingen zu tun haben. Auch auf einer Gedächtnisstörung kann das Phänomen nicht beruhen, weil eine so nahe Beziehung zwischen der Entfremdung und der fausse reconnaissance , wie sie dann bestehen müfiste, aus den bekannten Krankengeschichten nicht nachweisbar ist; ferner läTst sich auch hier der Einwand geltend machen, dafs die Patienten ja eben sehr genau mit den ihnen nur unbekannt vorkommenden Erlebnissen Bescheid wissen und sich der Krankhaftigkeit jener Unbekanntheitsqualität sehr wohl bewufst sind. Andere Autoren führen die Entfremdung darauf zurück» daTs die eine Komponente, die zum Zustandekommen einer Wahrnehmung gehört, die der Muskel- oder Organempfindungen hier ausfällt oder vom Patienten nicht genügend beachtet wird; dieser Deutung widerspricht es» daXis die Patienten sehr gründUche Selbstbeobachter sind (die andauernde Selbstbeobachtung ist geradezu ein Symptom der Krankheit), so dais nicht anzunehmen ist, dafs sie einen so wichtigen Empfindungskomplez oder eine Störung in einem solchen übersehen würden. Als Möglichkeit einer Erklärung der Entfremdung erwähnt Verf. schliefslich noch die» dafs die zum Zustandekommen einer Wahrnehmung notwendigen Vorstellnngen in ihrer Reproduktion gehemmt würden ; in den Krankengeschichten finden sich zwar darauf deutende Angaben, doch scheint hieraus das Krankheitsbild nicht axisreichend erklärt werden zu können : die meisten Angaben „weisen einstimmig auf eine ganz bestimmte Ursache dieses Zustandes hin, nämlich auf die Hemmung von Gefühlsprozessen". „Die entscheidende Ursache der Entfremdung der Wahrnehmungswelt in der Psychasthenie liegt darin, dafs die emotionellen Bestandteile der Wahmehmungsprozesse eine erheb- liche Alteration im Sinne der Hemmung (und zwar der Erschöpfung«' hemmung) erfahren haben." Es sei hierzu nochmals erwähnt^ dafs VerL der WxTifDT-VooTschen Theorie zufolge unter Gefühlen nicht nur Lust und Unlust versteht; von einem Beweise für diese Theorie war bis hierher nicht die Bede.

Die Depersonnalisation , die Aufhebung des Selbstbewufstseins , die Entfremdung auch der Wahrnehmungen vom eigenen Körper, ist keine Wahnvorstellung; denn die Patienten besitzen volle Krankheitseinsicht»

Literaturbei'icht 217

und es ist auch, objektiv betrachtet, keine „Wahn"idee insofern, „als die Kranken durchaus Recht haben zu sagen, ihr Ich existiere nicht mehr, sie hätten keine Persönlichkeit usw.'' Andere Autoren geben zwar die Selbetbewufstseinsstörungen zu, führen diese aber fälschlich auf Störungen der Empfindungen, speziell der Körperempfindungen, oder wenigstens auf den Wegfall der Assoziationen zwischen diesen und jenen Empfindungs- Sphären zurück; gegen diese Meinung spricht der Umstand, dafs Emp* findungsstörungen bei den Patienten nicht nachweisbar sind, und Anomalien der Empfindungen auch der Selbstbeobachtung der Kranken nicht ent- gangen wären. Solche Angaben der Patienten über Störungen ihrer Wahr- nehmungen beruhen vielmehr darauf, dafs deren n i c h t sinnliche Bestand- teile als anomal erscheinen, wie sich bei ganauerer Analyse der Selbst- beobachtungsangaben und Krankengeschichten ergibt. So können demnach auch im normalen Seelenleben die Empfindungen nicht die Grundlage für das Ichbewufstsein bilden. Der Grund für das Phänomen der Deper- sonnalisation liegt auch nicht in Störungen des Vors tellungs verlauf es ; denn es gibt Fälle, in denen eine Störung der Merkfähigkeit, des Gedächtnisses, der Intelligenz usw. durchaus nicht nachweisbar ist. Die Fälle dagegen» in denen der Patient über Schwäche der Vorstellungen u. dgl. klagt, be« ruhen nur darauf, dafs die Gefühlsbetonung der Vorstellungen gehemmt ist» und diese Hemmung allerdings sekundär auch Gedächtnisstörungen usw. zur Folge haben kann. Als Hauptcharakteristikum und als letzte Ursache der Depersonnalisation ergibt sich aus den Selbstbeobachtungsausgaben der Patienten eine Hemmung der Gefühle. Daher kommt es auch entweder überhaupt zu keinen Affekten, oder die Erregung wird jedenfalls kein „normaler" Affekt; „der Affekt bleibt unvollständig". Da nun aber anderer- seits die Körperempfindungen, wie bereits gezeigt, intakt seien, ferner auch die objektiven ÄuTserungen der Affekte ungestört verliefen, so sei damit die JAMBS-LANOssche Affektlehre widerlegt, „wenn man nicht alles das, was wir als Gefühle bezeichnen, als eine besondere spe- zifische Gruppe von Gemeinempfindungen betrachtet, die dann eben in der Psychasthenie gehemmt wären"; diese Auffassung sei aber den VooTschen Hypnose versuchen zufolge unmöglich. Damit wäre denn auch ein Beweis dafür erbracht, dals die Gefühle für die Konstituierung unseres Selbstbewufstseins, unseres Ich, die wesentlichen Elemente bilden.

Den versprochenen Beweis für die WuNDTsche Gefühlslehre ist Verf» uns schuldig geblieben: zugegeben, dafs die Gefühle die erwähnte Rolle in unserem Seelenleben spielen, die Berechtigung, von Aktivitäts- gefülen zu sprechen, sollte doch eben erst bewiesen werden I Die blofse Berufung auf die keineswegs allgemein als beweiskräftig anerkannten Voot- schen Experimente ist doch kein Beweis 1

Im Übrigen erscheint mir die Arbeit wegen der Reichhaltigkeit des verarbeiteten Materials und der aufserordentlich gründlichen Verarbeitung desselben als sehr lesenswert und interessant nicht nur, wie es nach der vorigen Bemerkung scheinen könnte, für den Psychopathologen, sondern ebenso auch für den Psychologen. Lipmakn (Berlin).

218 Literaturhericht.

Ernst Schbadbb. Elemente der Psycholegle 4es Urteils. Erster Band: Auljie des Urteils. Leipzig, Barth. 1905. 222 S. 7 Mk.

Verf. führt in diesem Buche ausfahrlich aus, was er bereits in seiner „Grundlegung des Urteils" 1903 (referiert diese Zeitschrift 9S) auseinander- gesetzt hatte.

Verf. will die Bestandteile des Urteils und ihre VerknOpfung aus- einandersetzen. Er geht dabei wieder, wie in dem früheren Buche Ton folgendem Beispiele aus. Er sah aus einiger Entfernung eine Person, die er für eine Dame hielt. Als er aber näher kam, sah er, dafs diese Person einen Karren vor sich herschob, er erkannte also, dals er sich geirrt hatte, dafs diese Person ein Arbeitsmann sei. Das Charakteristische dieses Vor- ganges sieht Verf. in der negativen Beziehung zwischen Vorstellungen. Die ursprüngliche Vorstellung: Dame wird fallen gelassen und an ihre Stelle tritt eine andere; die des Arbeitsmannes. Die negative Beziehung zwischen Vorstellungen wird nun eingeordnet unter den Begriff der kritischen Berichtigung überhaupt, deren einfachste Form sie ist

Ein Urteil entsteht also erst dadurch, dafs gewisse Vorstellangs- verbin düngen für falsch gehalten werden. Gäbe es nur richtige Vorstellangs- verknüpfungen , so läge gar keine Veranlassung vor, die Urteilsprozeese von den rein assoziativen loszulösen. Und rein assoziativ lassen sich die Urteile doch nicht erklären. Was noch hinzukommen mufs, ist eben die negative Beziehung. Ursprüngliche Bestandteile des Gedankenlebene sind für den Verf. aufser den Empfindungen und entsprechenden Wahrnehmungen nur noch die reproduzierten Vorstellungen und die negative Beziehung zwischen Vorstellungen (S. 115). „Von dieser bildet sich infolge häufigen Auftretens im Bewufstsein eine Vorstellung." Nachdem sich diese Vo^ Stellung einmal gebildet hat, unterliegt sie den Gesetzen der Assoziation und geht in den Reproduktionsverlauf der Vorstellungen, aus denen das Urteil besteht, mit ein. „Das ist der erste Anfang des Urteils.''

Weitere Bestandteile des Urteils erkennt der Verf. nicht an. 8o lehnt er auch die psychische Aktivität ab. Als Grund gibt er an, dafs die psychische Aktivität kein Gegenstand der Selbstbeobachtuug ist. Er selbst konnte sie an seinen psychischen Erlebnissen nicht beobachten, und anch die Übereinstimmung anderer Beobachter, die ihm unerläfslich erscheint, um etwas über psychische Dinge aussagen zu können, ist doch nur zun geringen Grade vorhanden. Die Anhänger des Aktivitätsbegriffes nehmen als Elemente des seelischen Geschehens eine besondere seelische Tätigkeit und Vorstellungen als deren Material an, die Gegner hingegen Vorstellungen und Vorgänge an Vorstellungen. In der Zahl besteht also eine Über- einstimmung, nicht aber in den Merkmalen der Elemente. „Der Begriff der Tätigkeit ist reicher als der des Vorganges. Er enthält alle Be- stimmungen dieses letzteren und aufserdem noch andere. Darin liegt ein Verstofs gegen die lex parsimoniae." Daher ist dieser Begriff abzulehnen.

MosKiBwicz (Berlin).

Amt E. Tannsh. An lUastratioii of the Psychology of Belief. PsychoL Buü, 4 (2), 8. 33-36. 1907. Tanmeb teilt einen Bericht über eine eigentümliche religiöse Erfahrung

Literaturbericht 219

mit. Die betreffende Persönlichkeit, die ihren anfänglichen Gottesglauben verloren hatte, aber, um schwerer innerer ünbefriedigung zu entgehen, das frühere Gefühl der Gegenwart Gottes zurückzuerlangen suchte und sich zu diesem Zwecke des allerdings mit skeptischer Haltung gesprochenen Gebets bediente, gewann plötzlich dieses Gefühl und mit ihm auch dessen praktische Folgen, seelische Ruhe und Kraft, wieder, während sie jedoch darin liegt das merkwürdige im Zustande des theoretischen Schwankens bezüglich der objektiven Kealität Gottes blieb. M. Scheibe (Leipzig).

W. y. BscHTBBBw. Ober persönliches und Gemeinbewafstsein. Joum, f. Psychol tt. NeuroL 9 (1/2), S. 54—80. 1907. Nach einer Zusammenstellung der Meinung verschiedener besonders russischer Autoren über das Wesen des unbewufsten Seelenlebens geht Verf. speziell auf die Ansichten derjenigen Autoren näher ein, denen diese Erscheinungen zum Beweise der Existenz eines doppelten Bewufstseins oder eines DoppeMch, einer Spaltung der Persönlichkeit, dienen. Er sucht dann zu zeigen, dafs diese Annahme irrig ist: allerdings umfaCst das persönliche Bewufstsein nur einen Teil der psychischen Vorgänge, nämlich diejenigen „Perzeptionsvorgänge, die mit aktiver Aufmerksamkeit verlaufen" (Apperzeptionsvorgänge); diejenigen Perzeptionsvorgänge dagegen, „die ohne aktive Aufmerksamkeit, d. h. in der Zerstreutheit verlaufen", ^«können wir unpersönliches oder Gemeinbewufstsein nennen". Aber ein oder mehrere neue Iche neben dem des persönlichen Bewufstseins bilden die Vorgänge des Gemeinbewulstseind nicht. Die Fälle aus der Literatur, in denen dies doch der Fall zu sein scheint, erklären sich durch Suggestion (z. T. hypnotische Suggestion) oder auch durch (pathologische) Auto- suggestion. — Das Gemeinbewufstsein greift sehr vielfach, ja eigentlich immer, in die Betätigung des persönlichen Bewufstseins ein; durch solche Eingriffe erklären sich die Illusionen (z. B. Kristall Visionen , Muschel- bören u. dgl., die vielfach spiritistische Auslegungen erfahren haben), ferner die Halluzinationen, die „nichts anderes sind, als Produkte des unpersön- lichen Gemeinbewufstseins , die spontan in das persönliche Bewufstsein hineintreten und letzteres allmählich unterwerfen", ferner auch die bekannte Tatsache der Problemlösungen im Schlafe. Lipmann (Berlin).

R Lagebbobo. Das Gefttblsproblem. Leipzig, J. A. Babth. 1905. 141 S.

Laoebbobo will den Versuch machen, eine ^ peripherische Hypothese ifom Mechanismus des GefQhls im Anschlüsse an James' und Langes Theorie durchzuführen". Von der Bedeutung der physiologischen Vorgänge, an welche unsere seelischen Erscheinungen gebunden sind, geht er zu einer kurzen Darstellung der mechanistischen Lehre vom Verlaufe der Nerven- prozesse mit dem Reflex als typischer Nervenwirkung über. Als Typus der Bewufstseinserscheinungen tritt die Empfindung auf, deren physiologisches Gegenstück nicht nur die zentralen Veränderungen sein sollen sondern auch die afferente Reizung wie die efferente Reaktion und ihr Zurückwirken aufs Sensorium. Auch durch die Erörterung der nervösen Grundlagen der Vorstellung, der Assoziation zieht sich die Überzeugung, dafs der Reflex

220 Literaturbericht

der Typus des Nervenlebens ist; denn „vom einfachsten Rfickenmarkreflex bis zu den Prozessen, welche die Assoziationen des spekulativen Denkens tragen, findet man keine Lücke der Kontiguität, nur eine allmähliche Gradation". Die Empfindungen und Vorstellungen werden als Totalprodukte partieller Reizungen aufgefafst und das Beispiel von der „Empfindung eines Pilzes'^ zeigt, daüs unter Empfindung nicht das psychisch Elementare, du Abstraktionsprodukt verstanden wird, wie es sonst geschieht Jedes Be- wufstseinsphänomen äufsert sich in peripherischen Erscheinungen Dnd diese körperlichen Reaktionen üben wieder eine bedeutungsvolle Reaktion aufs Sensorium. Aus dieser Überzeugung heraus wird eine „wahrschein- liche" Lösung des Gefühlsproblems versucht.

Um dem Gefühl und seinem Verhältnis zu peripherischen Prozessen naher zu kommen, wendet sich L. dem analogen, bereits mehr erforschten Mechanismus der Aufmerksamkeit zu, deren physiologische Grundlage die Tätigkeit der Bewufstseinszentren fördernde Reflexe bilden. Aufmerksam- keit soll psychisch stets eine Totalempfindung peripherischer, insbesondere motorischer Refiexe sein, darunter in erster Reihe bald strafferer bald loserer Kontraktionen der Gesichtsmuskeln. Sie entsteht mit diesen partiellen Reizungen und verändert sich mit ihnen. In dem Streite über den peripheren oder zentralen Ursprung der Aufmerksamkeit entscheidet sich L. für die erste Auffassung, weil die experimentellen und klinischen Beobachtungen der letzten Jahre definitiv erwiesen zu haben scheinen, dafs die „Anf< merksamkeitsempfindungen" vom auslaufenden (efferenten) Nervenstrome peripherisch und sekundär bewirkt sind. Die Gefühle der Anstrengang, Müdigkeit, Frische, Kraft sind derselben Art wie die Aufmerksamkeit und entstehen offenbar „wie diese aus der Afferenz peripherischer Reize and scheinen von der Aufmerksamkeit sich nur darin zu unterscheiden, dals gewisse viszerale Reflexe und darauf wahrscheinlich beruhende Empfin- dungen — darunter diejenigen von Unlust und Lust sich im Gefühle stärker geltend machen". Der Unterschied zwischen Aufmerksamkeit und Gefühl scheint nur in der gegenseitigen Proportion der konstituierenden Elemente, nicht aber in der Grundbeschaffenheit zu bestehen. Daraus folgt für das Gefühl die Wahrscheinlichkeit peripherischen Ursprungs, wie er für die Aufmerksamkeit behauptet wird.

Bei der Gruppierung der Gefühle in Körper- oder Gemeingefflhlfr (Lust und Unlust sind vielleicht nur eine besondere Art der Gemeingefühle) und in individuelle Gefühle (Affekte und Stimmungen) werden diese anf jene zurückgeführt, nur wird bezüglich der einleitenden Prozesse den individuellen Gefühlen ein eigener Mechanismus eingeräumt. Aus der Auf- fassung, dafs die Gefühle undifferenziert und nicht oder schlecht lokalisiert sind, ergibt sich der Satz: „Sobald ein Gefühl gesteigert und lokalisiert wird, wird es Empfindung genannt."

Diesen im I. Abschnitte niedergelegten Behauptungen gegenüber muH» darauf hingewiesen werden, dafs Laqebbobos Bekämpfung der Argumente für den zentralen Ursprung der Aufmerksamkeit jene nicht erschüttert^ weil er sich ausschliefslich auf Vermutungen beschränkt und kontrollier- bare Beweise für die periphere Natur der Aufmerksamkeit nicht beibringt Wollte man zugeben, dafs „einige Empfindungskomplexe, die zur lOitegorie

Literaturbericht 221

der Gtef Ahle gerechnet werden" (Anstrengung, Müdigkeit usw.), derselben Art sind wie der Aufmerksamkeitseindruck, so würde auch nichts für den peripherischen Ursprung der Gefühle erwiesen sein. Aber wem fällt es ein, Aufmerksamkeit und Gefühl für wesensgleich zu nehmen, ihren Unter- schied nur „in der gegenseitigen Proportion der konstituierenden Elemente, nicht aber in der Grundbeschaffenheit" zu suchen? L. übersieht bei seiner Aufmerksamkeitstheorie die Notwendigkeit, vor Aufstellung einer Theorie oder einer Erklärung psychischer Zustände und Vorgänge erst sich über die Gesamtheit der Erscheinungen völlige Klarheit zu verschaffen und darauf eine Theorie zu bauen, welche allen diesen Phänomenen gerecht wird. Der Erklärung des Verhältnisses zwischen Aufmerksamkeit und Un- aufmerksamkeit und noch mehr zwischen Konzentration und Distribution der Aufmerksamkeit wird mit dem Zusammenwerfen von Aufmerksamkeit nnd Gefühl nicht gedient, noch weniger wird es jemandem einfallen, das Wesen der Aufmerksamkeit in Kontraktionen der Gesichtsmuskeln zu sehen. Die Auffassung des Gefühls als Empfindungskomplex läfst die wissen- schaftlich notwendige Abgrenzung von Empfindung und Gefühl vOllig ver- missen. Auch Gefühl und Affekt werden nicht auseinander gehalten, wie überhaupt die Terminologie des I. Abschnitts der Genauigkeit und Klarheit entbehrt. L. folgt mit seiner Auffassung des Gefühls als etwas Unklarem und Dunklem dem volkstümlichen Sprachgebrauch und doch geht die Psychologie als Wissenschaft notgedrungen längst eigene Wege. Trotzdem betont L. S. 36 den Wert einer exakten Terminologie 1

Der II. Abschnitt bringt einen sehr skizzenhaften Überblick über die Physio-Psychologie des Gefühls, gibt die bekannte Theorie von Jambs und Laitgb, führt Anhänger dieser Theorie mit ihren Modifikationen an, be- schäftigt sich kurz mit den dagegen von Worcbstbr, Irons, Wündt und HÖFFDiNO erhobenen Einwänden und wendet sich dann Lehmann zu, der seine Theorie von der zentralen Natur d«s Gefühls vornehmlich durch das verschiedenzeitige Auftreten der Gefühle und organischen Reaktionen stützt. Nach Laoerbobgs Ansicht gründen sich Lehmanns Befunde „auf falsche Auffassung der Ergebnisse sorgfältiger Experimente*^ und er ruft M. Kblchnbb und Mbümann-Zonbff als Eideshelfer an. Allein die von Laoebbobg versuchte Deutung der LsHMANNSchen Besultate erhebt sich nicht über Vermutungen und Möglichkeiten. Ohne weiteres mufs ihm bei- gepflichtet werden, wenn er die Schwierigkeit und Unzuverlässigkeit der Ausdrucksmethode betont. Dem schon von Worcbsteb gegen die peripherische Natur der Gefühle gebrachten Einwand, „dafs die Empfindungen der Reaktionen das Gefühl nicht ausmachen können, weil auch entgegengesetzte Gefühle, wenn sie stark genug sind, ähnlichen Reaktionen entsprechen^, will er mit dem Hinweise begegnen, dafs „Gefühle verschiedener Art auch psychisch bei zunehmender Stärke sich einander nähern, und es macht ihm den Eindruck, als bildete die Erregung das entscheidende Moment, während die algedonischen Qualitäten (Lust und Unlust) von untergeordneter Bedeutung wären. Diese letzte Auffassung ist wohlbegründet, beweist aber, dafs die mittels der Ausdrucksmethode gefundenen Erscheinungen lediglich oder doch überwiegend von der motorischen Erregbarkeit bedingt Bind, so dafs die neuerliche Unterscheidung von aktiven und passiven Ge-

222 LiteraturberiM,

fohlen Anspruch aaf Beachtung hat. Der LsHüAHNschen Auffassang, der verspätete Eintritt der Puls Veränderung dem Gefahle gegenüber spräche für die zentrale Natur des Gefühls, tritt Laqerborg unter Berufung aaf Lange und Alrütz mit dem Hinweis entgegen, daTs die Pulskurven nicht angeben, worauf die Pulsreaktion beruht; auch sei nicht ausgeschlossen, dafs eine begrenzte vasomotorische Reaktion anderswo vor sich gehe als in den Gefäfsen. Es handelt sich hier jedoch immer nur um Vermutung«! und auch der Schlufs auf die sekundäre, periphere und afferente Ent- stehung der Gefühle ist nicht mehr.

Im III. Abschnitt sucht L. die Entscheidung der Frage nach den tragenden Prozessen der Lust und Unlust durch näheres Eingehen auf den allgemeinen Mechanismus der Gefühlsphänomene, auf die Entstehung nnd den Verlauf der peripherischen Reaktionen sowie ihr Verhältnis zu zentralen Prozessen vorzubereiten. Dafs die viszeralen Reflexe, welche den Haapt- teil der peripherischen Gefühlsreaktionen bilden sollen, subkortikal aus- gelöst sind, ist durch Tierexperiment und Vivisektion bewiesen. Ihr Zentrum ist das Kopfmark. L. kommt zu der Annahme, ein zentraler Prozefs, eine Vorstellung, verbinde sich im Bewufstsein mit Gefühl, wenn er durch bulbäre Vermittlung eine Reaktion auslöse und diese afferent das Zentrum reize. Viszerale Reaktionen erfolgen durch exzessive und solche Reize, für welche die Organe nicht adaptiert sind. Dafs vasomotorische Reflexe vornehmlich den Gefühlsausdruck gestalten und auch den übrigen bei den Gefühlen auftretenden Reflexen zugrunde liegen, wie Lange, Mos» und auch Lehmann meinen, läfst sich nach L.s Auffassung der Dinge nicht beweisen. Wahrscheinlich ist, dafs sie alle direkt vom Zentrum aus inner viert werden können, und dafs zwischen den Zentren der wichtigsten viszeralen Reaktionen ein organischer Zusammenhang vorhanden ist. Nach- weisen läfst er sich zwischen Herz und Blutgefäüsen und zwischen der Atmung und diesen beiden. Sicher ist auch die Wechselwirkung zwischen motorischen und viszeralen Reflexen. Die durch das Zusammenwirken dieser hervorgerufene allgemein erhöhte oder herabgesetzte Tätigkeit et- streckt sich auch aufs Sensorium, wie umgekehrt die Tätigkeit der Vor- stellungszentren peripherische Reflexe je nach Reiz und Reaktionsgewohn- heit auslöst. Bei den verschiedenen Gefühlszuständen ist wahrscheinlich die Ordnungsfolge und Wechselwirkung der organischen Veränderungen verschieden. Lange hatten seinerzeit die vasomotorischen Veränderungen als Grundlage der algedonischen Empfindungen vorgeschwebt. Diese An- sicht läfst sich nach Lagbbborg nicht halten, erschliefst aber die Möglich- keit, dafs zwar nicht die Veränderungen im Blutumlaufe, aber „die diese begleitenden Nahrungsprozesse . . . die Ursache algedonischer Empfindungen sind**. Nach dieser Richtung hat bereits Metnebt eine Hjrpothese gebaut und L. will auf dieser Linie weitergehen mit dem Bewufstsein, doch nichts mehr als ein Fragment leisten zu können.

In der Prüfung der Nutritionstheorie (Abschn. IV) sucht L. durch Beispiele zu erweisen, dafs Unlust entsteht, wenn der Stoffwechsel in den Kapillargefäfsen Störung erfährt, Lust dagegen, wenn in unserem Organis- mus der Kapillaraustausch gehoben wird. Als Stütze für diese Anschauonf werden analoge Erscheinungen herangezogen, vor allem die Müdigkeit»

Literaiurberieht 225

^welche ans ähnlichen Prozessen entsteht, wie sie für Lust und Unlust be- lianptet werden. Dem daraus folgenden Schlufs, dafs Müdigkeit immer mit Unlust auftreten müfste (— und wohlige Müdigkeit! ), begegnet L. durch die Annahme, dafs die Qualität und Quantität der bei exzessiver Reizung abgesonderten Toxika die Art der durch sie ausgeübten nutritiven Wirkung' bestimmt rl). „Vielleicht bedeutet die fehlerhafte Nutrition der Müdigkeit blofs einen unzureichenden Umsatz, diejenige der Unlust hingegen einen verkehrten." Zur Klärung wird auch der physische Schmerz untersucht L. hält es für wahrscheinlich, dafs dem Schmerze und den analogen Er- scheinungen eine durch abnorme Reizungen sekundär entstandene Toxin- bildung und Desintegration der Gewebe zugrunde liegt. Den Unterschied zwischen Schmerz und Unlust wie auch zwischen Wollust und Lust sieht er nur im Lokalisationsgrad und in der Intensität bei gleichartigen Reiz- prozessen. Aus diesen Voraussetzungen folgt ihm die Bedingtheit von Lust und Unlust durch nutritive Veränderungen, welche ihrerseits wieder von exzessiven und abnormen Reizen abhängen. Im Gegensatz zu L. lialten Mbynbbt, Dumas, Lehmann, Külpb u. a. bei Zurückführnng der Ge- fühle auf Nutrations Verhältnisse an ihrem zentralen Ursprünge fest, wo- gegen L. auf die Unempfindlichkeit des Zentralorgans für direkte Reize und auf die bedeutsame Rolle der peripherischen Prozesse verweist.

Zur Stütze seiner Anschauung nimmt L. (V. Abschn.) eine Unter- suchung der Gefühlsreize vor mit dem Ergebnis, dafs die Gefühlswirkung der Reize von einer Hemmung der Aktivitätsrichtung der gereizten Organe bedingt ist. Die für die Entstehung des Gefühls in Betracht kommenden Reaktionen werden von irradiierenden Reizen erregt. Solche sind exzessive, abnorme oder sonst ungeeignete Reizungen, die in mehreren viszeralen und motorischen Bahnen Entladung suchen. Diese Eigenschaften der Gefühl erzengenden Reizungen sind jedoch nicht absolut, sondern nur im Ver- hältnis zur Tätigkeit und zu den Dispositionen der gereizten Organe aufzu- fassen. So sind z. B. Temperament und Charakter Bahnungen oder Dis- positionen, auf bestimmte Reizungen in bestimmter Weise zu reagieren. Mafsgebend ist also das Verhältnis der Reize zu den im Organismus walten- den Reaktionsneigungen. Eine irradiierende Reizung stört die Nahrungs- wirksamkeit und löst so Unlust aus. Hebt sie eine schon bestehende Hemmung auf und setzt so die üblichen und notwendigen nutritiven Funktionen wieder in Tätigkeit, so wirkt sie als Lust aufs Sensorium zurück. „Das Gefühl repräsentiert also immer ein Stör ungs Verhältnis", eine Ansicht, die sich bei Nahlowsky, Sokbatbs, bei Gilmann u. a. amerikanischen Psychologen findet.

Wie aber ist die Ausstrahlung, der Irradiationsvorgang selbst, aufzu- fassen ? In Verfolgung einer mechanischen Erklärung desselben kommt L. zur Überzeugung, dafs dieser die Verbreiterung einer gehemmten Reizung ist, die sich nach allen Richtungen entlädt, wo sie die kleinsten Wider- stände findet. Dieser Vorgang deckt sich mit dem Vorgang der Adaption. Das Gefühl ist nur eine Episode auf dem Wege, den überspannende Reizungen bis zur völligen Entladung durch eine Handlung zurücklegen. Es hängt also von einem Übergangszustand, einer Desadaption des nervösen Mechanismus ab. Es geht in die Tiefe und Breite, wo die Handlung hin-

224 Literahi/rbtrkht

«uBgeschoben wird, wandelt sich in dauernde Leidenschaft, wo die Hand- lung unmöglich gemacht i8t(!).

Im SchluIlBkapitel werden die analogen Vorgänge des Willens und der peripherische Mechanismus des Bewufstseins Oberhaupt beleuchtet Aller Wahrscheinlichkeit nach besteht das Psychische der sog. WillensanstTengnng wesentlich in Empfindungen peripherischer Muskelspannungen. „Dia primum movens (einer Handlung) ist weder QefOhl noch Wille, sondern der sie veranlassende Reiz, dem die schliefsliche Entladung durch eine Handlung gemftfs den Bahnungen unseres Mechanismus reflektorisch folgt^ Nach L.S Überzeugung werden die Gefühls- und Willenserscheinungen richtiger als Nebenwirkung der schon beginnenden Handlung, als „Vor und Nachklang dazu", aufgefafst denn als deren Grund und Ursache. Die Annahme eines kausalen Verhältnisses des Willens zur Handlung ist da- nach irrig. Die Willenserscheinungen sind vielmehr peripherischen Ur- sprungs. Dasselbe wird von Empfindung und Vorstellung behauptet Nicht das Bewufstsein liegt den zentrifugalen Entladungen zagrunde, sondern die Entladungen bilden die Grundlage des Bewufstseins. Dieses ist so nichts «Is eine Spiegelung peripherischer Vorgänge. Mit diesen Anschauungen steht L. im ganzen auf Münsterbbbgb Schultern, der seine hierher gehörende Hypothese Aktionstheorie nennt, während sie L. lieber Reaktionstheorie benannt wissen möchte.

Soweit Laobsbobo. Überschaut man seine Ausführungen, die in An- nahme der peripherischen Natur unseres ganzen geistigen Lebens gipfeln, 60 wird man ohne weiteres dieses Unterfangen als milsglttckt bezeichnen dürfen; denn an Stelle von stichhaltigen Beweisen erhalten wir Behaup- tungen und Vermutungen. Ob die Rolle, die L. dem Kapillaraustausch zu- weist, bezüglich der Entstehung von Gefühlen nicht lediglich auf Zentralorgan einzuschränken ist, hat L. nicht widerlegt und die Wahr- scheinlichkeit bleibt bestehen. Müdigkeit und Schmerz als wesensgleich, wenn auch durch Lokalisationsgrad und Intensität verschieden, mit der Unlust aufzufassen, bedeutet ein Zurückkehren zu den Ansichten früherer Jahrzehnte und Negierung der Tatsache, daüs spezifische Schmerzempfin- dungen allgemein anerkannt werden. Wie die sog. höheren Gefühle, die ästhetischen und moralischen, auf irradiierende exzessive und abnorme Reizungen zurückgeführt werden sollen, ist mir so ziemlich unerfindlich, ebenso wie sie peripherischen Ursprungs sein sollen. Auch das Bedingt- «ein der Gefühlswirkung der Reize durch Hemmung der Aktivitätsrichtong der gereizten Organe ist nicht einleuchtend. Ebensowenig ist einzusehen, wie jedes Gefühl ein S t ö r u n g s Verhältnis repräsentieren soll. Entsteht •die Lust infolge Aufhörens einer Hemmung und war nach vorigem dadurch «ine Störung eingetreten, so wäre die Hemmung, an und für sich die Ab- weichung von der Regel, ja als Norm aufgefafst und die Herstellnng des gewöhnlichen Zustandes als Störung. Die von L. vertretene Willens- theorie ist MüNSTERBKBG gegenüber schon mehrfach bekämpft worden. Sieht man jedoch von den sonst schon gegen den peripherischen Ursprung des Bewutstseins vorgebrachten Gründen ab, so scheint mir besonders die Fort- pflanzungsgeschwindigkeit der nervösen Erregung in den nervösen Leitungen gegen diese Auffassung zu sprechen. Man denke : erst Reiz an der Körper-

Literaiurhericht 226

Peripherie, zentripetale Leitung, dann zentrifugale, dann peripherische Reaktion und endlich Zurttckwirkung (auf welchen Bahnen?) dieser aufe Zentrum und BewuDstseinserscheinung! Dieser komplizierte Weg und dabei 30 m Leitungsgeschwindigkeit pro Sekunde in den nervösen Bahnen und der simultane Eintritt von Reiz und Empfindung nach unserer Erfahrung! Besonders der Vorgang des Denkens beleuchtet das Gezwungene dieser peripherischen Ansicht. L. hat nachdrücklich diese Auffassung betont; es ist ihm jedoch nicht gelungen, sie glaubhaft zu machen. Manche wertvolle Anregung ist seinen Ausführungen zu entnehmen, aber als Ganzes bleiben sie ein verunglückter Versuch. J. Orth.

Götz Mabtiub. Ober die Lehre von der Beelnflassnng des Palses nnd der ▲tmiing durch psychische Reize. Beiträge zur Psychologie u. Philosophie von G. äUbtiüs. I (4), 407—513. 1905. Die Untersuchungen über den Einflufs psychischer Vorgänge auf Puls und Atmung haben zum Teil sich widersprechende Ergebnisse gezeitigt. Durch seine mehrere Jahre lang fortgesetzten Versuche will Mabtius zu diesen Befunden Stellung nehmen. Im I. Abschnitte seiner Arbeit werden als Ursachen für das Wirrwarr der Ergebnisse wirkliche Experimentier- fehler und falsche Deutungen des experimentell gewonnenen Materials gewürdigt, im II. eigene Versuche mitgeteilt und zu erklären versucht, wie die Ergebnisse anderer Forscher verstanden werden müssen. In der ganzen Angelegenheit handelt es sich um reine Tatsachenfragen, die durch die herrschende Unklarheit über das Wesen des Gefühls schwieriger werden. Unbeeinfiufst von theoretischer Voreingenommenheit, tritt Mabtius an die Erscheinungen selbst heran, braucht die von Lehmann verwendeten Apparate (Kurven des Pneumographen bezeichnen thorakale Atmung), gegen die an «ich nichts zu sagen ist, und erörtert die in der Kurvenausdeutung aller- orts gemachten Fehler. Solche sieht er zunächst in dem Nichtbeachten der Atemschwankungen des Pulses, also der Veränderungen der Puls- langen und -höhen, welche der Atembewegung entsprechen. Mit der Ex- spiration sind längere und höhere Pulse verbunden als mit der Inspiration. Weil diese Erscheinung bei rascher Atmung zurücktritt, müssen bei Puls- messungen die Atemperioden berücksichtigt werden. Auf die Nicht- l)eachtung der Atemperioden ist Bbahns Befund zurückzuführen {Pkilos. Studien 18, 1903, S. 127 fi.), dafs auch unmerkliche Reize im Puls zum Aus- •druck kommen, und auch seine „Spannungs- und Lösungserscheinungen" dürften im wesentlichen auf die Atemschwankungen bezogen werden. So- •dann wird das willkürliche Fraktionieren der Pulskurven, wie 'wir es bei Lehmann und Mbumann finden (Fhilos. Studien 18, S. 1 ff.), in Jiacksicht auf das Vorhandensein dieser Schwankungen zum Fehler. Auch. XiEBMANN begeht ihn, wenn er die normalen Atemschwankungen des Pulses far die Wirkung der Aufmerksamkeit nimmt.

Ein zweiter Fehler in der Auswertung der Kurven bezieht sich auf die Höhenveränderungen der geschriebenen Pulse, zum Teil jiach wieder auf Veränderungen der Länge. Der Druck, welcher in der Höhenkurve des Plethysmographen zum Ausdruck kommt, ist von zwei fverschiedenen Ursachen abhängig, nämlich a) von der Volum ander ung des Zeitschrift für Psychologie 46. 15

226 Literaturberichz.

ganzen eingeschlossenen Gliedes (Wasserverdrängung) und b) von der dnrcb die arterielle Pulsbewegung erzeugten eigentlichen Pulswelle. Diese pflanzt sich innerhalb der durch a) bedingten langsamen Wasserstandsschwankung rasch fort und setzt sich als Volumpulskurve auf die in ihrem NiTean durch die Volum vergröfserung des ganzen Gliedes gestiegene plethysmo- graphische Kurve auf. Eine Verminderung bzw. Vergröfserung der Puls- höhen tritt nach den Beobachtungen von M. auch auf rein mechanischem Wege, durch eine leichte Rückwärts-, bzw. Vorwärtsbewegung des em- geschlossenen Armes auf, so dafs also Niveauänderungen nicht ohne weiteres eindeutig auf Druckänderungen zurückgeführt werden können. Was also Lehmann der Unlust zuschreibt (Volumsenkung), das darf anf Rechnung mechanischer Bedingungen gesetzt werden und auch Wchst kann, diese Tatsache vorausgesetzt, seine sechs Grundformen des Gefühls durch die von ihm selbst ausgewählten Beispiele aus der experimentellen Untersuchung der Ausdrucksformen dieser Gefühle nicht begründen.

Bezüglich der eigentlichen plethysmographischen Erscheinungen und ihrer wirklichen Ursachen ist M. der Überzeugung, dafs schon über die volumetrischen Veränderungen der untersuchten Glieder bisher nichts Ge- naues hat festgestellt werden können, viel weniger über die Bedeutang psychischer Veränderungen für plethysmographische Erscheinungen. Die Frage, ob die mit jeder Atmung verbundene Armbewegung durch die Ver- suchsanordnung für die plethysmographische Kurve auszuschliefsen sei, verneint M. im Gegensatz zu anderen Autoren. Er zeigt, dafs schon der Versuch zu einer Bewegung das Niveau der Kurve beeinflussen kann. Die von Lehmann aufgezeigten Erscheinungen lassen sich mit dem Einflüsse der willkürlichen oder beabsichtigten Armbewegung restlos erklären; denn die Unlust führt zu einer Rückzugs-, die Lust zu einer Angriffsbewegung. Alle Versuche von Mabtiüs, den untersuchten Arm wirklich festzulegen (Verwendung einer Blechmanschette, von Eisenschienen, Eingipsen des Armes), konnten die Bewegung nicht völlig ausschalten und er kommt zn dem Ergebnis: 1. Mit abnehmender Bewegungsmöglichkeit nehmen die plethysmographischen Erscheinungen ab und 2. es bleibt von ihnen schliefslich nur noch die regelmäfsige plethysmographische Welle (Atem- welle). Daraus dürfte sich ergeben, dafs die mit der plethysmographischen Methode gemessenen Volumschwankungen nicht reine Volumschwankungen sind, sondern „zum Teil als Folgen von Bewegungen aufgefafst werden müssen". Für die Psychologie ergibt sich aus dieser Tatsache die Über- zeugung, dafs es zurzeit unmöglich ist, mit Hilfe der plethysmographischen Kurven sicheren Einblick in die allenfalls durch psychische Vorgänge bewirkten Veränderungen im Blutumlaufe zu erlangen.

Dem kritischen I. Abschnitt folgt der IL mit einer Darstellung der eigenen Versuche von Martius. Er veröffentlicht die gewonnenen Kurven selbst nicht, dagegen eine Bearbeitung dieser mit Angabe der At^ml&nge, -höhe und -pause und der Pulslänge, -höhe und -Schwankung in cm biv. Sek. für die Normal- und Vergleichskurven. „Untersucht wurde 1. der Einflufs künstlicher Atembeeinflussung (Verlangsamung, Vertiefung, Be- schleunigung) auf den Puls, 2. der Einflufs der mechanischen körperlichen Tätigkeit, 3. der der geistigen Tätigkeit, 4. der eines körperlichen Schmerzes,

Literaturbericht. 227

ö. der von Geruch und Geschmack, 6. derjenige von künstlich erzeugten Stimmungen auf Atem und Puls." Für die mechanische körperliche Arbeit war der linke Arm in Mossos Ergographen. Gehoben wurden teils in will- kürlicher Folge teils im Rhythmus von Metronomschlägen Gewichte von 2004 g und 5983 g. Als geistige Arbeit wurden Multiplikationen zweier zweistelligen oder einer zwei- und einer dreistelligen Zahl oder fortlaufende Addition einer Zahl zu sich selbst vollzogen oder einfache Beobachtungs- aufgaben (Zählen von Strichen x) gelöst. Der körperliche Schmerz wurde verursacht durch Stechen zwischen Daumen und Zeigefinger mit scharfem, nagelartigem Instrument und durch Kneifen des Daumens mit einer Zange. In beiden Fällen entstand starker Schmerz. Als Geschmacksreize fanden Chinin, Zuckerlösung, Saccharin Verwendung und als Geruchsreize dienten Asa foetida, PhenyUsonitril, Schwefelwasserstoff und Merkaptan für die Unlustseite, Parfüm ideal, Violetta vera, Menthol und Rosenduft für die Lustseite, aufserdem zum Vergleiche Alkohol. Stimmungen wurden erzeugt durch „Vorstellung und innerliche Reproduktion eines Gedichtes, eines persönlichen Erlebnisses oder stark erregenden Ereignisses" sowie durch Erzählungen und Scherzfragen.

Die Atembeschleunigung bewirkt fast immer Pulsbeschleunigung, meist wächst zugleich die Pulshöhe, während die Atemschwankungen ab- nehmen. Pulsbeschleunigung zeigt sich auch bei Atem vertief ung, doch verhalten sich hierbei Pulshöhe und Atemschwankungen wechselnd. Das eine Beispiel künstlicher Atem verlangsamung ohne Vertiefung läfst Puls- verlängerung erkennen.

Körperliche Tätigkeit hat Verminderung der Atemlänge (Be- schleunigung) und der Pulslängen (also Pulsbeschleunigung) zur Folge. Zeigt sich so Übereinstimmung in den Ausdrucksformen künstlicher Atem- änderungen und körperlicher Arbeit, so läfst sich diese auch auf die geistige Arbeit ausdehnen; denn sie beschleunigt Atem und Puls im Vergleich zum Ruhezustand, die Atemschwankungen und Pulshöhen nehmen ab.

Ein in seinen Symptomen übereinstimmendes Bild, nämlich Atem- und Pulsbeschleunigung mit Abnahme und Stehenbleiben der Pulshöhen and Atemschwankungen bei zuweilen vertieftem, zuweilen verflachtem Atem, also den Typus erhöhter Tätigkeit, bietet nur der starke Schmerz, während bei schwächeren Schmerzreizen Verlängerung und Verkürzung von Puls und Atem unregelmäfsig wechseln. Diesen Befunden gegenüber findet es M. nicht angängig, an der mehrfach behaupteten Pulsbeschleuni- gung bei Lust und Pulsverlangsamung bei Unlust festzuhalten. Auch für die durch Geschmacks- und Geruchsreize ausgelösten Gefühle ergibt sich kein irgendwie fester Typus; kein einziges in Betracht gezogenes Symptom erweist sich als wirklich konstant. Bei Durchmusterung der Ergebnisse über die Äufserungen der Stimmungen stofsen wir auf ein reihenweises Auftreten des Pluszeichens in der Rubrik der Pulslänge (also Pulsverlangsamung), in welcher wir bisher überall das negative Vorzeichen hatten, und zwar sowohl bei ruhigen Lust- als auch Unluststimmungen oder -Affekten. Daraus folgt, „dafs es einen Affekttypus gibt, welcher im

15*

228 Literaturbericht.

Verhältnis zur ßuhe der Norm sich durch eine gröfsere Langsamkeit der Puls- und Atemtätigkeit kennzeichnen läfst, einen Typus, der zu den Tätigkeitsformen den geraden Gegensatz zu bilden scheint".

Nachdem M. die Frage gestreift, inwieweit die Versuche anderer mit seinen Ergebnissen übereinstimmen, fafst er sein Studium der Puls- and Atemsymptome unter verschiedenen psychischen Einflüssen dahin zu- sammen: es gibt eine Reihe von Typen allgemeiner affektiver Zustände. Scharf ist der Tätigkeitstypus von dem der Ruhe unterschieden. Deutlich tritt auch ein Typus körperlicher und geistiger Remission, ein asthenischer Zustand hervor. Lust und Unlust scheinen in keiner Weise bestimmte Symptoraenkomplexe zu besitzen, welche ihre Unterscheidung ermöglichen. Zur Charakterisierung spezieller Affekte, etwa der Furcht, des Mitleids, reicht die Methode heute noch nicht aus.

Diese Tatsache ausdrücklich betont zu haben, ist so manchen Arbeiten der jüngsten Zeit gegenüber ein Verdienst von M., mahnt seine sorgfältige Untersuchung doch zur Vorsicht in der Deutung von Puls- und Atemkurren und zeigt, dafs gar manche peripherische Änderung unabhängig von psychischen Einflüssen auf mechanische Bedingungen zurückgeführt werden muls. Endlich scheinen seine Befunde gegen Wündts Dreidimensionalitit der Gefühle und ihre experimentelle Stützung durch Brahn zu sprechen, dagegen Külpe recht zu geben, der schon vor Jahren passive und aktive Gefühle unterschied. J. Ohth.

G. Minnemann. Atmung and Puls bei aktnellen Affekten. Beiträge zur Psycho- logie und Philosophie von G. Martius. I (4), 514— 5öl. 1906. Minnemanns Arbeit, im unmittelbaren Anschlüsse an die Versuche von Mabtius und mit Verwendung derselben Hilfsmittel entstanden, will fest- stellen, ob die Atmungs- und Puls Verhältnisse bei natürlichen AlTekten die gleichen sind wie bei den reproduzierten Stimmungen und ob für beide dieselben Folgerungen gelten. Der Affekt der Lustigkeit wurde haupt- sächlich durch Erzählen von Witzen, Freude und Hoffnung durch an- genehme Mitteilungen und persönliche Aussichten erzielt. Enttäuschung trat ein, sobald sich die Aussicht als unbegründet erwies ; kurz vorher ge- steigerte Erwartung, wenn die Entscheidung darüber fallen sollte. Schrecken, Aufregung und Mitleid wurden durch einen inszenierten Vorfall bewirkt, Ärger durch Schikanierung der Versuchspersonen und unangenehme Vorhaltungen. Die Versuchspersonen wufsten vom Zwecke der Untersuchungen nichts und die Kurven, welche als Anhang der Arheit beigegeben sind, wurden in der gleichen Weise ausgerechnet wie bei Martius. Die Ergebnisse decken sich im ganzen auch mit den von diesem erhaltenen, doch gewähren die bei natürlichen Affekten erzielten Kurven einen besseren Einblick in die Kompliziertheit der Affekte als ihn repro- duzierte Stimmungen zu bieten vermögen. Am klarsten sind die Affekt- äufserungen in der Atmung und darin zeigten sich die von Mabtiüs fest- gestellten Typen der Tätigkeit und Ruhe (Aktivität und Passivität) unab- hängig vom Lust- oder Unlustcharakter der einzelnen Affekte. Schwieriger sind die Verhältnisse beim Puls, weil dieser ja zum Teil von der Atmnng bedingt und dieser Einflufs nicht scharf und restlos aus den Pate-

Literatu/rbericht 229

erscheinungen auszuschliefsen ist, doch weisen auch die Pulsveränderungen nach der vorhin erwähnten Seite.

MiNNEUAiTM kommt zu der Überzeugung, „daTs es konstante Affektbilder in den Atmungs- und PulserscheinuDgen nicht gibt und auch wohl kaum geben kann"; denn dem Affektbilde wird nicht durch den Lust- oder Un- lustcharakter des Affekts sein Gepräge verliehen, sondern „vielmehr durch das individuelle Verhalten der Versuchspersonen gegenüber den Affekt- reizen". Mit einiger Sicherheit können aus den Kurven einzig die all- gemeinsten Eigenschaften affektiver Zustände, die Erregung oder Hemmung, abgelesen werden. „Neben dem normalen Ruhezustande hebt sich ein Typus gesteigerter Tätigkeit ab von einer auch unter die Norm sinkenden Relaxation des Atems und Pulses." Dafs es sich beim normativen Ruhe- znstand lediglich um eine relative Erscheinung handelt, ist ohne weiteres zuzugeben, doch kann ich in ihm nicht selber einen „affektiven Zustand" erkennen; denn dieser würde dann zur Norm im Leben und die Unter- scheidung von affektiven und affektfreien Zuständen verlöre ihren Sinn; jedenfalls aber müfste der Begriff „Affekt" revidiert werden, wollte man jene Unterscheidung aufrecht erhalten.

Als Hauptergebnis seiner Arbeit stellt Minnemann fest, dafs man über die alte Unterscheidung sthenischer und asthenischer Zustände kaum hin- ausgelangt, wenn man bei der Affektanalyse von den physiologischen Be- gleiterscheinungen in Atmung und Puls ausgeht. J. Obth.

L. DuGAs. La fonctioi psycbologiqne dn rlre. Bev. philo», 62 (12), 576—599. 1906.

Eine feine Studie, welche ein volles, sattes und schön gezeichnetes Bild entwirft!

Das Lachen ist im allgemeinen mit einem Zustande des Sichselbst- aufgebens und des Mangels an Nachdenken verbunden, es ist unverträg- lich oder wenig verträglich mit den höheren Funktionen des Urteils und der Überlegung.

Der Lachende hat eine einfache kindliche Seele, welche frei ist von philosophischer Spekulation und sentimentalen Komplikationen. Insofern kennzeichnet das Lachen ein elementares Phänomen. Der Lachende wird wieder zu einem spontanen, frischen Instinkt wesen.

Das Lachen hat in seiner Begleitschaft eine Atmungskrise von explo- siver Form. In derselben kann man zwei Phasen unterscheiden: 1. Still- stand der respiratorischen Funktion, 2. heftige Wiederaufnahme derselben.

Als intellektuelles Phänomen betrachtet bedeutet das Lachen eine Ablenkung nach einem Zustande der Aufmerksamkeit oder Spannung, eine Veränderung des Vorstellungsverlaufes, einen Übergang vom Monoideismus zum Polyideismus, vom systematischen Gedankenspinnen zum flottierenden. Aber das Lachen stellt mehr ein affektives Phänomen als ein intellektuelles dar und bedeutet als solches eine Senkung, ein Sichbefreien des Menschen von jeder Emotion, eine Rückkehr zur Einfachheit und Sorglosigkeit. Jede Bestimmtheit läuft dem Lachenden zuwider.

Der Weise, der reine Vernunftmensch lacht nicht mehr, und das ver- nunftlose Tier lacht überhaupt nicht. Demnach mufs der durch das Lachen

230 Literatwbericht.

zerstörte Zustand des Ernstes ein Mittelding sein zwischen der tierischen Stupidität und der Vernunft. Das Lachen hat immer etwas Dummes an sieb.

Von den objektiven und subjektiven Bedingungen des Lachens sind die ersteren die wichtigeren, da sie das Unvorhergesehene am meisten zu- lassen. Der Lachende wird plötzlich gleichsam seiner eigenen Ideen be- raubt und in den Besitz fremder gesetzt. Der seinem Temperament nach zum Lachen Neigende liebt solche „geistige Umkehrungen'', das Unlogische, Irrationelle, Ungewohnte, Bizarre.

Wenn zwei Personen lachen, so lachen sie jedoch nicht aus demselben Motiv, auch nicht auf dieselbe Art. Das Lachen ist also im Grunde ge- nommen subjektiv und individuell. Und zwar gehört zum Lachen ein leichter Geist, welcher die intellektuelle Gymnastik, welcher Gedanken- sprt&nge liebt, ja es gehört dazu eine gewisse Unbeständigkeit des Charakters. Das Lachen wird herbeigeführt durch ein Zerstören des vom Lachen Ge- glaubten, es ist daher mit Staunen verbunden.

Man kann verschiedene Arten des Lachens unterscheiden: vor allem das dogmatische Lachen, welches über die Dummheit anderer Leute triumphiert, sodann das skeptische Lachen bei Leuten, welche niemandem Glauben schenken. Beide Arten haben das gemeinsam, dafs ihnen die Einfachheit, Einfalt und Aufrichtigkeit fehlt. Ferner unterscheidet man ein gedehntes, oberflächliches, freches, reines, teuflisches, engelhaftes, geistreiches usw. Lachen.

Das Lachen ist stets impulsiv. Insofern dient es als moralisches Diagnostikon. Es enthüllt die Verschiedenheit der Temperamente, den Charakter und die Fehler der Menschen. Giesbleb (Erfurt).

Ludwig Stein. Wissenschaftliche Wahrheit und religiöse Gewifsheit Nord

und Süd 121 (361), S. 47—57. 1907. Stein bespricht die verschiedenen Arten der Gewifsheit unserer Er- kenntnisse und bezeichnet als das religionsphilosophische Problem unserer Tage die Frage, ob der Gottesglaube zum Bange überpersönlicher und über zeitlicher Wahrheit erhoben werden, den Charakter unausweichlicher Denk- notwendigkoit gewinnen könne. Allerdings handle es sich dabei nickt um die Religion, sofern sie sich auf eine wunderbare geschichtliche Offen- barung berufe und an sie sich binde, sondern um die nach dem Vorgange IIüMES psychologisch verstandene Religion, um die dem Kulturmenschen eigene Überzeugung von einem vernünftigen einheitlichen Weltprinzip.

M. Scheibe (Leipzig).

Sigmund Freud. Zwangshandlung und Religionsflbnng. Zeitschrift für Beligums- Psychologie 1 (1), S. 4—12. 1907.

Die von einem Mediziner (Bbeslbb) und einem Theologen (Vorbbodt) gemeinsam* herausgegebene, bei C. Marhold in Halle a. S. seit 1907 er- scheinende und den Untertitel „Grenzfragen der Theologie und Medizin" tragende Zeitschrift für Religionspsychologie will die Religiosität in ihren mannigfachen individual- und sozialpsychologischen Ausprägungen, wie sie

VoBBRODT ist inzwischen aus der Redaktion ausgeschieden.

Literaturbe^-icht 231

durch die Verschiedenheit des Geschlechts, des Lebensalters, der Bevölke- rungsschicht, durch die Abhängigkeit von körperlichen Zuständen und gesellschaftlichen Lagen bedingt sind, sowie ihre anormalen Erscheinungen untersuchen und die Gesetze einer gesunden Beligionspfiege ermitteln.

In dem ersten Aufsatze, den sie bringt, stellt Freud weitgehende Analogien zwischen den Zwangshandlungen und den kultischen Übungen des Frommen fest, so dafs die Zwangsneurose als pathologisches Gegen- stück zur Religionsbildung aufgefafst werden könne. Er sucht nachzu- weisen, wie nicht nur die verschiedenen charakteristischen Kennzeichen der Zwangsneurose (SchuldbewufstBein, Erwartungsangst, Verschiebung des Wertes, Ausgleichung gegenüber der verbotenen Lust) auch bei der Beli- gionsübung sich wiederfinden, sondern vor allem auch die grundlegende Tatsache in beiden Fällen das gleiche Gepräge trage, nämlich das einer Zurückdrängung bestimmter Triebregungen, dort solcher sexueller, hier solcher sozialschädlicher Art. M. Scheibe (Leipzig).

JoHAKKES Bkesleb. Religioiishygleiie. Halle a. S., Marhold. 1907. 65 S. Mk. 1,—. Die zugleich über die Beurteilung des Wertes der Religion seitens einiger Nervenärzte, über Religionstheorien aus neuerer Zeit und über eine Reihe religionspsychologischer Schriften der Gegenwart berichtende Schrift von B. fordert ein den Druck der Dogmenlehre beseitigendes Studium der Religion mit Hilfe der Psychologie, bes. auch der Psychiatrie, und bestimmt als nächste Ziele zur Herbeiführung einer Gesundung des religiösen Lebens die Anerkennung gesicherter naturwissenschaftlicher Tatsachen durch die Religion und die Beseitigung der Religion spfuscherei, d. h. der die Annahme eines unmittelbar heilenden Einflusses des Glaubens auf Krankheiten beliebiger Art voraussetzenden Praktiken. Seine eigene Ansicht vom Wesen der Religion geht dahin, dafs in ihr das auch bestimmten Erscheinungen bei Geisteskranken zugrundeliegende Gesetz der Überbrückung unge- Bchlossener Vorstellungen (und zwar hier in wohltätiger Weise) wirksam sei.

M. Scheibe (Leipzig).

B. C. Ewer. DetermiAism and IndetermiRism In ■otives. Fhilos. Revieto 16 (3), 8. 298—311. 1907. Der Determinismus besagt, dafs von mehreren gleichzeitig vorhandenen Wünschen immer der stärkere den Sieg davon trägt. Dies hat zur Vor- aussetzung, dafs bei einem Konflikt mehrerer Wünsche die einzelnen Wünsche hinsichtlich ihrer Stärke miteinander vergleichbar sind. Diese Voraussetzung aber ist falsch; denn die Wünsche unterscheiden sich nicht in quantitativer, sondern in qualitativer Beziehung voneinander, sind also überhaupt nicht miteinander vergleichbar, wie die Selbstbeobachtung zeigt. Erst daraus, dafs wir eine bestimmte Handlung vollbringen, schliefsen wir, dafs der betr. Wunsch der „stärkere" ist. „Ich wähle nicht das, was

ich vorgezogen habe, sondern was ich vorziehe". Der Grund, warum

nun aber doch eine Entscheidung getroffen wird, ist der, dafs einfach eine getroffen werden mufs; und welche getroffen wird, das hängt zum Teil

232 Literaturberickt

von Gewohnheiten usw. ab. Allerdings mufs aach einmal wieder „ein erstes Glied für eine neue Gewohnheit angeschmiedet werden", und dtffir sind zwar alle möglichen Gründe mitbestimmend, indem sie die Möglidi- keiten der Entscheidung einengen, aber sie sind nicht ausschlaggebend.

Wenn die Deterministen sich auf die AllgemeingOltigkeit des Eansal» gesetzes berufen, so befinden sie sich im Irrtum über dessen Bedentang: Erstens ist die absolute Anwendbarkeit des Kausalprinzips auf das Denken zu bestreiten. (,,Causalit7 as a constitutive function of thought is certainly not absolute.'^ Dies beweist schon der häufige Gebrauch des Wortes „Zu- fall" („it happens^^). Zweitens besagt das Kausalgesetz nur, dafs eine be- stimmte Konstellation immer eine andere bestimmte Konstellation zur Folge hat. Diese Bedingung aber ist im psychischen Leben nie erffiUt Allerdings soweit dieselben Vorgänge wieder auftreten, soweit ist auch die Folge wieder dieselbe; soweit sie aber in zwei Fällen nicht Qbereinstimmen, insofern sind auch die Folgen nicht absolut bestimmt, insofern ist also der Wille frei.

Es dürfte schon aus den hier wiedergegebenen Grundgedanken der Arbeit ersichtlich sein, dafs sie unter denselben oder jedenfalls nicht geringeren Unklarheiten leidet, wie die anderen Verteidigungeschriften des Indeterminismus. Liphank (Berlin).

H. Vogt u. W. Wetgandt. Zeitichrift für üe Erforschmg «nd Bebtidliig des JagendlicbsA Schwachsinu auf wliseiuchaftlicher GruAdlaf e 1(1). 96 s.

Jena, Fischer. 1906. Immer gröfser wird das Interesse, das die Gegenwart dem jugend- lichen Schwachsinn entgegenbringt. Zahlreiche Kreise widmen sich der Erforschung und Behandlung desselben, und dementsprechend schwillt die Literatur über ihn immer mehr an. Es ist daher lebhaft zu be- grüfsen, dafs Vogt und WBYGAin>T es unternehmen in der neuen Zeitschrift, deren erstes Heft hier vorliegt, ein Zentralorgan zu schaffen „für die ge* samte wissenschaftliche Forschung, Anatomie, Klinik und Pathologie des jugendlichen Schwachsinns und seine Grenzgebiete, für die Fragen der Fürsorge und Behandlung der Schwachsinnigen, für die Fürsorgeerziehung, für die Organisation der Hilfsschulen und Anstalten, für die einschlägigen Gebiete der Kriminalistik und forensischen Psychiatrie und der P8ychologie^ Das erste Heft bringt unter anderem eine Arbeit von Gützmann: Über die Sprache schwachsinniger Kinder; von Kulkmann: Über die forensische Behandlung der Jugendlichen; und einen Beitrag von Hoppb zur Kenntnis des Mineralstoö wechseis der Idioten. Die Liste derer, welche der nenen Zeitschrift ihre Hilfe zugesagt haben, spricht dafür, dafs es sich am ein Unternehmen auf streng wissenschaftlicher Basis handelt.

Umpfbnbach (Bonn).

J. Hamfe. Ober den Sehwachsinn lebst aeir.ei Beilehnngen inr Psyclultgit der Äiseage. Braunschweig, Vieweg u. Sohn. 1907. 79 S. Mk. 2,00. Die kleine Schrift befafst sich namentlich mit den leichteren Schwach- Sinnsformen und ihren Erinnerungstäuschungen. Sie betont die Wichtig-

LiteraturberichL 233

keit eines Verständnisses derselben namentlich bei Gericht, wenn es sich darum handelt, die Aassagen solcher Schwachsinniger zn verwerten. Auch Eltern und Lehrer werden viel Anregung und Belehrung aus ihr schöpfen können. Uhpfekbach (Bonn).

G. LovBR. Liebe nnd PiychOte. Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. Heft 41. 1907. Eine weit ausgeführte Parallele zwischen den beiden im Titel ge- nannten Seelenzuständen, die Verf. schliefslich dahin führt, in der Liebe eine im individuellen Sinne pathologische, d. h. von der Norm des durch- schnittlichen seelischen Verhaltens abweichende E rsch einung zu sehen ; die Liebe ist ihm das Auftreten psychotischer Symptome im Interesse einer höheren Gesamtheit, eine „physiologische Paranoia''. Es ist nicht ohne Reiz, den populären Satz „die Liebe macht närrisch'' einmal von einem Psychiater auf seine wissenschaftliche Wahrheit untersucht zu sehen, und wenn auch keine neuen Tatsachen beigebracht werden was in diesem Zusammenhange auch kaum zu erwarten war , so gewährt die Betrachtung der Liebe unter diesem Gesichtswinkel doch eine solche Menge des Interessanten, dafs die kleine Studie manchen eine Stunde fesseln wird. H. Haenbl (Dresden).

Sadoke. Die BedevtnBg der psychoanalytiBchen lethode nach Freud. ZentraWl. f. Nervenheilk. u. Psychiat 18 (229), 41—80. 1907. Verf. tritt als Schüler Freuds warm für die Anwendung von dessen psychoanalytischer Methode zur Heilung von Neurosen und Hysterie ein. Er vertritt in aller Schärfe den Satz: hinter jedem Symptome der Hysterie und Zwangsneurose stecken eine Menge von unterdrückten sexuellen Wünschen. Das Geheimnis der Unheilbarkeit so vieler oder fast aller Hysterien besteht darin, dafs der oder die Kranke lieber entgegen aller besseren Erkenntnis krank bleibt, als dafs diese Wünsche aufgegeben werden. Aufser den heterosexuellen findet man mindestens ebensoviele homosexuelle Wurzeln und Wünsche, die wie die ersteren, zum gröfsten Teile bis auf die früheste Kindheit zurückgehen.

Als Kegel stellt Verf. auf: Die Psychoanalyse beherrscht nur der, der imstande ist,, jegliches Symptom bis in die ersten vier Lebensjahre, nicht selten sogar bis direkt ins erste zurückzuverfolgen. (I) Ausdrück- lich wendet sich Verf. gegen den Vorwurf, der Fbbud und seiner Methode wiederholt gemacht worden ist : er examiniere diese Beziehungen, besonders die sexuellen, erst in die Kranken hinein, und treibe damit ein oft gefähr- liches Spiel. Verf. bestreitet, dafs die Patienten bei richtig ausgeführter psychoanalytischer Technik überhaupt derartige Suggestionen annähmen; der Arzt spiele bei der ganzen Behandlung vielmehr eine passive als eine aktive Rolle, weise höchstens die Richtung für die scheinbar zufälligen und regellosen Gedankenverknüpfungen, die der Kranke selbst produziert. Die Enthüllungen seien meist so überraschend und jedesmal in ihren Einzelheiten so eigenartig, dafs schon daraus hervorgehe, dals sie nicht vom Arzte suggeriert sein könnten. Entschieden verwahrt sich Verf. da- gegen, dafs ärztliche Kritiker sich absprechend über die ganze Methode

234 Literatwberic^t

äufserten, ehe sie nicht selbst nach den genauen Vorschriften ihres Ent- deckers damit gearbeitet hätten. H. Habnel (Dresden).

A. Gbbgob. Beitr&ge ivr Kenntnis der Gedächtnisstörungen bei der Korsikef- sehen Psychose. Monatsschr. f. Psychiatrie u. Neural. 21 (3), 191— 2(H. 1907. Zwei Patienten untersucht. Methode: Wortreihen verschiedener Länge (einsilbige sinnvolle, sinnlose Worte und Gedichtsstrophen) wurden mit dem KAMSCHBUBGschen optischen Gedftchtnisapparate so oft vorgeführt, bis sie erlernt waren; nach einem bestimmten Zeiträume wurde geprüft, ob eine Wiedererlernung mit einer geringeren Wiederholungszahl erfolgte als beim ersten Male. Bei der Zusammenstellung der sinnvollen Worte wurden möglichst schwer assoziierbare gewählt. Die Pausen zwischen den Wieder- holungen des Experiments betrugen 24 Stunden bis 150 Tage. Aus den vielseitig interessanten Ergebnissen seien folgende hervorgehoben: Eine Nachwirkung einmal geschaffener Dispositionen zur Reproduktion bestand bei beiden Patienten. Am stärksten war die Nachwirkung bei zusammen- hängenden Woi treiben (Gedichtstrophen und Prosa) bis zu 10 X 24 Stunden, schwächer bei Reihen sinnvoller Worte bis 4 X 24 Stunden -, am schwächsten bei Reihen sinnvoller Worte bis 2 X ^^ Stunden . Nach der 7., im zweiten Falle 9. Erlernung einer Reihe konnte eine Nach- wirkung noch über 150 Tage festgestellt werden. Der Abfall der Assozia- tionen in der Zeit stellt sich bei dem Korsakoff - Kranken als eine Kurve dar, die der des Normalen anfangs entspricht, aber wesentlich früher als bei diesem die Abszisse erreicht. Einseitige Übungen des Gedächtnisses bewirkte bei beiden Patienten eine gesteigerte Leistungsfähigkeit auch nicht geübter „Spezialgedächtnisse". Eine ausgedehntere Verteilung von Wiederholungen erwies sich beim Lernen sinnloser Silben weniger günstig als deren Häufung im Gegensatz zu dem Verhalten des Normalen; der Grund ist in dem raschen Abfalle der Assoziationen bei den Patienten zn suchen. Dagegen erwies sich das Lernen in Teilen durchgängig vorteil- hafter als das Lernen im ganzen. In der Art der Fehler Auslassungen oder Nennung falscher Worte näherte sich der eine Pat. mehr dem Normalen, indem die Auslassungen überwogen, der andere, der häufiger Worte falsch nannte, dem Typus der KoRSAKOFF-Kranken. Bemerkenswert war bei beiden die Neigung zur Bildung fester Assoziationen, sowie die starke Perseveration von Fehlern. Das Wiedererkennen gelesener Reihen- glieder ist abhängig von der seit der Exposition verflossenen Zeit und der Häufigkeit der Erlernung der Reihe; zwischen der Störung des Wieder- erkennens und der der Repioduktionsfähigkeit besteht kein Parallelismus, der eine der beiden Kranken war bei dieser, der andere bei jener Aufgabe der Überlegene. H. Haensl (Dresden).

R. KuTNEB. Die transkortikale Tastlähmung. Monatsschr. f. Psych. «. Newrol. 21 (3), 191—204. 1907. Die kortikale Tastlähmung im Sinne WEBmcKss, mag sie rein assozia- tiver Natur oder durch die stets nachweisbaren Sensibilitätsstörungen kausal bestimmt sein, ist lokalisatorisch verwertbar: sie zeigt eine Läßion im Bereich des mittleren Drittels der Zentralwindungen und der angrenzen-

Literaturbericht 235

den Partie des unteren Scheitellappens an. Theoretisch ist aber auch eine Form der Tastlähmung denkbar, bei der die Form des getasteten Gegen- standes beschrieben event. gezeichnet werden kann, ohne dafs der Pat. den Namen oder die Verwendung angeben könnte natürlich bei Fehlen allgemein agnostischer oder aphasischer Erscheinungen.

Verf. war in der Lage, einen hierher gehörigen Fall beobachten zu können. Es handelte sich um einen 30 jährigen Epileptiker, bei dem 2 mal im Laufe von 2 Jahren eine Trepanation im Bereiche der Scheitelbeine, erst rechts, dann links vorgenommen worden war. Unter später wieder vermehrten epileptischen Anfällen entstand eine doppelseitige Parese des unteren Facialis und der Zunge und dementsprechende Dysarthrie, ferner auf der linken Hand eine gewöhnliche Tastlähraung mit entsprechenden Störungen der Tiefensensibilität und Lokalisation. An der rechten Hand fehlen auch bei genauer Prüfung alle Sensibilitätsstörungen; er tastet die in ihm die Hand gelegten Gegenstände geschickt und sorgfältig ab, be- schreibt die Form, die einzelnen Eigenschaften, oft auch das Material, strengt sich aber vergeblich an, Verwendung, Zweck und Namen des Gegenstandes zu finden; z. B. Bleistift: „längeres Stückchen Holz, rund, auf der einen Seite spitzig." Wollknäuel: „rund, weich, lau." Haarnadel: „spitzig, gebogen, Draht" (zeichnet richtig die Form hin), etc. Ein getasteter, aber nicht erkannter Gegenstand wird unter mehreren anderen wieder- erkannt mit geschlossenen Augen. Stereometrische Pappfigureu, wie Kugel, Würfel, Kegel etc. werden rechts stets erkannt, links nicht. Für eine An- zahl Gegenstände, wie Fingerhut, Schlüssel, Streichholzschachtel war dabei fast stets die Erkennungsfähigkeit vorhanden, für andere wechselte sie bei den verschiedenen Untersuchungen. Die Störung der rechten Hand ist also eine rein assoziative, womit die Inteneitätsschwankungen und weiter das häufig feststellbare Symptom des Haftenbleibens übereinstimmen. Ihr Wesen kann dahin bezeichnet werden, dafs die sekundäre Identifikation gestört ist bei erhaltener primärer Identifikation. Deshalb ist auch nach dem WERNicKEschen Vorgange bei den Sprachstörungen der Name „trans- kortikale Tastlähmung'* gerechtfertigt. Lokalisatorische Überlegungen führen Verf. dahin, dafs er eine besondere Rindenzone für die beschriebene Störung nicht anerkennen kann, sondern sie nur als den Ausdruck leichterer Rindenveränderungen in der Tastzone der Hand auffafst. Bei Ermüdung näherte sich der klinische Befund auch wiederholt demjenigen an der linken Hand des Pat. ; durch das seltene Zusammentreffen beider Lähmungs- formen an je einer Hand bot er ein ungewöhnlich günstiges Unter- suchungsobjekt dar. H. Habnel (Dresden).

Fb. Habtmann. Beiträge zur Apraxielehre. Monatsschr. f. Psychol. «. Neurol 21 (2), 97—118; (3), 248-270. 1907. Drei sehr interessante Krankengeschichten mit anatomischem, z. T. auf Serienschnitten durch das Gehirn erhobenem Befunde; im ersten war das linke und ein kleiner Teil des rechten Stirnhirns durch einen Tumor zerstört, im zweiten der Balken in seiner ganzen Länge ebenfalls durch eine Neubildung, im dritten bestand eine Blutung in das rechte Stirnhirn, die in vivo die Lokaldiagnose ermöglicht hatte. Die überraschend viel-

236 Literaturbericht

seitigen Folgerungen, die aus den exakt beobachteten klinischen Bildern gezogen werden, können hier nicht ausgeführt werden; sie machen du Studium der Originalarbeit nötig und höchst lohnend. In allen Fallen vir die Sprachfunktion in ihrem sensorischen und motorischen Teile erhalten und die Symptome bestanden allein in Störungen des Handelns. Die drei Fälle zusammengehalten lassen die Schlufsfolgerung zu, dafs gewisse Teile des Stirnhirns in die Mechanik der motorischen Grofshirntätigkeit einge- schaltet sind und sich in ihrer Funktion zu den Extremitätenzonen der Zentralwindungen anscheinend analog verhalten wie die BBOCAsche Region zu den Hirnnervenzonen der Zeutralwindungen. Man erkennt, dafs die Anregungen zu Bewegungsabläufen von den verschiedenen Sinnesgebieten des Grofshirns zur Übertragung der Impulse auf die fokalen Felder der Zentralwindungen der Mitwirkung des Stirnhirns bedürfen. Fällt dessen Funktion aus, so erfolgt motorische Seelenlähmung (totale Apraxie) der gekreuzten Seite. Dabei verhalten sich aber beide Hemisphären verschieden, indem das rechte Stirnhirn der Mitwirkung des linken und der Verbindung; mit den andersseitigen Sinnessphären zur Leitung des Ablaufs zweck- mäfsiger Bewegungen bedarf. Das linke Stirnhirn garantiert das gedächtnic- mäfsig erworbene Kontinuum auch der linksseitigen Bewegungsabläufe, was sich auch darin zeigt, dafs bei Zerstörung eines gröfseren Teiles des Balkens Leitungsapraxie der linken Extremitäten bei erhaltenem Be- wegungsgedächtnis eintritt. Die abgetrennte linke Hemisphäre bedarf zum richtigen motorischen Arbeiten nur einer verstärkten perzeptiveu Kontrolle der Bewegungen durch die Sinnessysteme; die rechte für sich allein er- scheint dagegen nur zu apraktischen Leistungen befähigt. Komplizierte gleichzeitige zweihändige oder statisch-lokomotorische Bewegungsabläufe sind an die Intaktheit der interhemisphärischen Assoziationssysteme ge- bunden. Defekte des rechten Stirnhirns erzeugen Symptome partieller Leitungsapraxie der linken Körperseite bei erhaltenem Be wegungsgedächt- nis. — Die Arbeit bedeutet eine wesentliche Förderung im Ausbau der neuerdings so bedeutungsvoll gewordenen Lehre von den Störungen dee Handelns. H. Haenbl (Dresden).

G. Drbyfüs. Die iMnItloi Im Yerlaafe tob (reisteskraiikheiteA und derei Ur- sachen. Arch. f. Fsychiatrie 41 (2)', 619-566. 1906. Das Verhalten des Körpergewichts im Verlaufe der verschiedensten Psychosen weist auf eine direkte Abhängigkeit der gesamten Ernährungs- vorgänge vom Zentralnervensystem hin. Für das Vorhandensein einee regulatorischen Zentralapparates spricht die Tatsache, dafs Wärmebildang und Wärmeabgabe, die in engen Beziehungen zu dem gesamten Stoff- und Kiaftwechsel stehen, sich in gewöhnlichen Zeiten genau das Gleichgewicht halten, so dafs die Körpertemperatur keinen grofsen Schwankungen unter- -worfen ist. Auch die Wärmebildung ist der Regulation vom Nervensystem aus unterworfen. Im Hungerzustande stellt sich der Organismus reflek- torisch auf den Mindestverbrauch von Kalorien ein. Die Stoffwechsel- Störungen im Verlaufe der Paralyse müssen als Ausdruck der Störungen im regulatorischen Zentralorgan angesehen werden, speziell auch die im Verlaufe der paralytischen Erkrankung auftretende Inanition.

Umpfenbach (Bonn).

Literaturberickt 237

Marie et Viollet. LlnTofttment moderne, sei rapports ivec Taliinatioii mentale. Journal de psychol norm, et palhol 3 (3), 211—225. 1906. Unter envoütment versteht man das Nachbilden einer bestimmten Person, der man schaden will, in Wachs oder dergleichen, und das Be- arbeiten dieser Nachbildung mit scharfen, zerstörenden Gegenständen oder anderen Prozeduren, um das Bild ganz oder teilweise zu vernichten. Dieser gleiche rasche oder langsame Vernichtungsprozefs soll dann an der be- treffenden Person, der man schaden, die man behexen will, vor sich gehen. Auch glaubt man durch derartige Manipulationen gewisse Personen, an die man selbst nicht heran kann oder will, in anderer Beziehung beeinflussen zu können, z. B. in erotischer Hinsicht. Verff. geben zunächst einen histori- schen Überblick über diese Art Aberglauben, um dann unter Beibringung von vier eigenen Beobachtungen zu zeigen, dafs diese Volksverblendung auch heute noch vorkommt, nicht blofs auf dem Lande, sondern auch in der Stadt Paris. Umpfenbach (Bonn).

Gl. Charpentieb. Claelqnes temps de riactlon chex les aliinis. Journal de psychol. norm, et pathol 3 (3), 226—240. 1906.

Bei Normalen schwanken die Reaktionsziffern für Gehörseindrücke zwischen 12—16 Hundertstel der Sekunde. Ch. hat daraufhin, vorzugs- weise mit dem Chronometer von Arsonal, die verschiedenen Geisteskranken untersucht und überall eine Verlangsamung der Beaktion entdeckt. Wo im Beginn des Versuchs eine Beschleunigung sich fand, schwand diese dann sehr rasch, offenbar weil die Kranken ohne Ausnahme sehr rasch ermüdeten, viel rascher als die Normalen. Die Resultate schwanken zwischen 16,90 (Mystique) und 61,83 (Melanch. confuse). Auch bei den exaltiert Manischen fand Ch. entgegen Wündt eine grofse Verlangsamung (40,30). 16 Kurven zeigen seine Resultate.

Es wird nicht gehen, für jede Psychose eine bestimmte Kurve aufzu- stellen. Poch glaubt Ch. aus seiner Arbeit, vorausgesetzt dafs andere zu demselben Resultate kommen, eine Handhabe zu erhalten zur Nachweisung einer Simulation oder Dissimulation. Auffallend ist, dafs die hier vor- liegenden Reaktionskurven für psychische Reize den mit dem Dynamo- meter und Ergographen von Mosso erzielten Reaktionskurven für die Muskeln gleichen. Daraus jetzt bereits Schlüsse zu ziehen, wäre gewagt; wie Gh. selbst sagt, müfsten seine Versuche erst im gröfseren wiederholt Werden. Umpfbnbach (Bonn).

D'Allonkes. Le Sentiment da Hyatire chez les alienis. Journal de psychol norm, et pathol 3 (3), 193—210. 1906. Eine ganze Reihe Geisteskranker befindet sich immerwährend wie im Traum. Illusionen und Halluzinationen lassen sie nie zur Ruhe kommen, Wahrheit und Dichtung mischen sich in allem, was sie hören, sehen, er- leben etc. Dabei beziehen sie alles, was sie erfahren, auf sich. Alles ge- schieht ihretwegen oder sie sind doch dabei beteiligt, selbst in der hohen Politik. Dabei haben sie eine gewisse Einsicht in das Krankhafte ihres Zostandes^ auch ihres geistigen Lebens. Sie kommen sich selbst wie ein Mysterium vor. Verf. sacht hier drei derartige Fälle psychologisch zu er- klären. UMPFBNBACH (Bonu).

238 Literaturbericht

L. W. Webeb. Zar prognoitUchen Bedeatvig des Ärgyll-RobertsoBsehet Pb|p nomeni. Monatsschrift /". Physiol. u. Ncurol. 21 (3), 271—273. 1907. W. weist darauf hin, dafs bei Arteriesklerose sich mitunter Lichtstarre der Pupillen, oft auch Differenz findet, etwa bei einer psychischen Er- regung. Mit Nachlassen der letzteren schwindet auch die Lichtstarre, um bei einer neuen Attacke wiederzukehren. Umpfbnbach (Bonn).

Fb. Mitchell. Hatbematical Prodlgles. Amer. Joum. of Psychol 18 {\\ S. 61-143. 1907.

Die Abhandlung enthält eine Darstellung' der sogenannten Beeben- genies oder Rechenkünstler, aufserdem eine Beschreibung eines speziellen Falles: der Autor ist ein solcher Rechenkünstler und gibt über sich selbst verschiedene Aufschlüsse. Sodann werden über das Wesen des aofser- gewöhnlichen Rechenvermögens theoretische Betrachtungen angestellt

In dem geschichtlichen Teil findet sich eine ausführliche Behandlnng der verschiedenen Rechengenies, namentlich wird der Fall Zebah Colbubj sorgfältiger behandelt als bei den früheren Darstellern dieser Materie: BiNET und ScBiPTUBE. Verf. ignoriert jedoch einen ausgezeichneten F»ll, nämlich den Mathematiker Dr. G. Rückle aus Kassel, der dem 1. Kongreis für experimentelle Psychologie in Giefsen 1904, von G. E. Müller yor- gestellt wurde (vgl. den Kongrefsbericht S. 46 f.). Im allgemeinen ist es richtig, wenn Verf. Inaüdi, dem Gedächtnlstypus nach, als akustisch-motorisch charakterisiert; jedoch ist die auditive Natur des iNAUDischen Gedächtnisses nicht so exklusiv, wie es nach Binets Darstellung (im wesentlichen von M. reproduziert) den Anschein hat. Versuche, die seinerzeit an diesem Italiener im Berliner psychologischen Institut gemacht wurden, haben dar- getan, dafs er zum Teil auch noch Gesichtsvorstellungen reproduziert, also nicht ganz des visuellen Gedächtnisses entbehrt (siehe Keusibs, ZeOschr. f. päd. Psychol u. Path. 3 (3), S. 172).

Als neu bespricht der Autor nachher seinen eignen Fall. Dieser anter- scheidet sich besonders in zweifacher Hinsicht von den sonst beschriebenen.

Sein aufsergewöhnliches Vermögen beschränkt sich meist auf Ope- rationen mit den zwei Endzifi^ern einer Zahl. Die beiden Endziffern in denjenigen Zahlen, welche die mathematische Aufgabe enthalten, bestimmen aber meist auch die beiden letzten Ziffern in der Antwort auf die Aufgabe, und in der Feststellung dieser Endziffern, zumal bei Lösung von Poteni- und Wurzelaufgaben, liegt seine Ilauptfertigkeit. Zweitens besitzt M. eine ausgesprochene Vorliebe für Operationen mit gleichen Zahlen. Mit er- finderischem Blick für die Eigenschaften verschiedener Zahlen und Zahlen- komplexe hat er sich eine Methode zurecht gelegt, durch die er ungleiche Zahlen, in gleiche überführt, um sodann nach vollzogener Rechnung die gleiche Zahl nach einfachen Regeln in die gesuchte ungleiche Zahl umxQ- kehren. Aufgaben, die ungleiche Zahlen enthalten, werden fast immer von ihm dahin gelöst, dafs er die ungleiche Zahl durch Addition oder Snb- straktion von 25, in vielfache von 4 ändert, und darauf, wenn es nötig ist, nach vollzogener Rechnung, die resultierende Zahl, nach derselben Methode rückwärts, in eine ungleiche Zahl ändert. Schliefslich bietet diese

Literatlirbericht 239

rechnerische Technik nicht allzu Merkwürdiges; was der Verf. entwickelt, fäUt in die Kategorie der mnemotechnischen Kunstgriffe, die Kothe in seiner „Gedächtniskunst" 9. Aufl. Webers Illustr. Katechismen Bd. 17 darstellt.

In der Diskussion Über die psychologische Grundlage des untersuchten Gegenstandes bietet Verf. einige neue Beobachtungen. Der Abhandlung ist eine Tabelle beigefügt, in der die Eechenkünstler nach folgenden Gesichtspunkten charakterisiert sind: Vererbung, Entwicklung, Erziehung, Art der mathematischen Leistungen, Gedächtnis, weitere spezielle Eigen- schaften. — Als allgemein charakterisierenden Zug an ihnen hebt M. mit Recht ihre durchgehende Frühreife hervor, d. h. die Frühreife in bezug auf diesen speziellen Punkt, des Rechenvermögens. Zur Erklärung der Tatsache verweist er darauf, dafs die Arithmetik unter allen Wissenschaften die am besten isolierte und nur auf die eignen Mittel angewiesen ist. Mit ein paar Definitionen und Kenntnis des Zählens ist das Kind sofort in den Stand gesetzt, an der arithmetischen Weiterentwicklung selbständig zu arbeiten. Addition ist nur eine verkürzte Form des Zählens und analog damit die Rechnungsart der Multiplikation. Hat man einmal den Geschmack für arithmetische Operationen, so findet man auch relativ viel mehr Zeit zur Ausübung solcher Tätigkeit als bei Aufgaben, die eigene Apparate, Ruhe und allerlei Vorbereitungen erfordern. Bei dieser Betrachtung des Zusammenhanges ist es begreiflich, dafs M. nicht die allgemeine Be- wunderung der frühreifen Rechenmeister teilen kann. Übung spielt eine grofse Rolle. M. führt Fälle an, wo bei mangelnder Übung die aufser- gewöhnliche Fähigkeit wieder verloren ging. Im übrigen finden wir bei den in Betracht kommenden Personen grofsen Unterschied in bezug auf allgemeine Geistesgaben und Bildung. Es gibt unter ihnen sehr beschränkte Köpfe, die nicht einmal in Mathematik besondere Begabung verraten, sowie man über ihre spezielle Fähigkeit, rasch zu zählen oder gewisse Be- rechnungen auszuführen, hinausgeht. Bei solchen Männern, wie Amp^bb, Gauss, Bidder, Safford liegt die Sache anders. Hier trifft aufsergewöhnliche Fähigkeit im Kopfrechnen mit aufsergewöhnlicher Beanlagung für Mathe- matik, umfassender Bildung und grofsen allgemeinen Geistesgaben zu- sammen.

Eine Analyse der von den Rechengenies gemachten Leistungen zeigt, dafs Kopfrechnen das Zählen zur Grundlage hat; daraus scheint zu folgen, dafs Addition die Lieblingsoperation der Rechen genies sein mufs, aber dem ist nicht so, sondern die Multiplikation nimmt für sie unter den Rechnungs- arten die bevorzugte Stelle ein, was dem Umstand zuzuschreiben ist, dafs die Multiplikation den Schlüssel zu all den Eigenschaften der Zahlen gibt, die das Interesse des Rechnenden so lebhaft erregen können. Die grund- legenden Berechnungen der Multiplikation will M. als ursprünglich sehr einfache Prozesse aufgefafst haben. Kein Zeugnis besteht, dafs ein Rechen- künstler bei der grundlegenden Ausbildung eigner Gewohnheiten und Methoden über die Höchstgrenze von 10X^0 hinausgegangen ist.

Bei der Würdigung der Psychologie der Rechenkünstler wird gewöhnlich ein besonders stark entwickeltes Gedächtnis angenommen, und sicher über-

240 lAteraiwrberitkt.

trifft ihr ZahlengedAchtnis das des gewöhnlichen Mannes, aber nicht darin, sondern in einer besonderen Geschicklichkeit im Rechnen wird der flanpt- vorzng zu suchen sein. Von den beiden Ged&chtnistypen, dem akastieeh (bzw. akustisch-motorischen) und dem visuellen will M. eigentlich nur den akustischen gelten lassen und ist geneigt, den Anteil, den bei einigen Rechenkünstlern die optischen Bilder spielen sollen, als rersch windend gering anzusetzen. M.s Hauptargument ist, daCs diese gewöhnlich bo frdh* reife Rechenkfinstler ihre aufsergewöhnlichen Fähigkeiten meist ent- wickelten, noch ehe sie lesen und schreiben konnten. Zuzugeben ist, dafs hier noch eingehende Studien gemacht werden müssen, ehe die Sache ganz aufgeklärt sein wird. Jedoch stehen der Behauptung M.s schon zu viel ausdrückliche Zeugnisse gegenüber, als dafs sein negatives Urteil gerecht- fertigt erscheinen kann. Visuell, zum Teil sehr ausgeprägt optisch be- schaffen ist das Vorstellungsleben eines Diamandi, Zakeboni, BrnDsa jan. und Rück LS. Aall (Halle).

G. BoNirisR. Leg tbeiUes i'exicnteEt-elles «ne Au moiiYeiDenti rttex«! Annee psychol. 12, S. 25—33. 1906.

In dem bekannten Streit, ob die hohen Leistungen gewisser Insekten- arten reflexmäfsiger Natur seien oder durch Intelligenz erklärt werden müfsten, stellt sich B. entschieden auf den zweiten Standpunkt und pole- misiert gegen einige Deutungen, die A. Netter für gewisse, bei Bienen beobachtete Phänomene versucht hatte.

£ine solche Erscheinung ist z. B. die „künstliche Sonne" („soleU d'artifice), ein an schönen Tagen oft zu beobachtendes Kreisen junger Bienen um den Korb, wobei der Kopf dem Korbeingang zugekehrt ist. Netter erklärt dies durch einen „instinktiven" Drang, zum Korb zorfick- zukehren ; B. erklärt es als topographische Übung; die jungen Tiere lernen unter Führung einer älteren Arbeiterin den Korb, seinen Eingang nnd die nähere Umgebung kennen, um später, wenn sie ans Honigsammeln gehen, wieder heimzufinden.

Von den weiteren Beispielen seien hier nur die „Reinmache"-Bienen (nettoyeuses) erwähnt, die morgens den Korb von Unrat, abgestorbenen Larven, toten Genossinnen usw. säubern. Nettee hatte dies so erklärt, dift die ersten früh ausschwärmenden Bienen gegen die Hindernisse stofsen, wütend werden und nun ihre Wut durch Fortstofsen an den störenden Objekten auslassen. B. erwähnt dem gegenüber, dafs die nettoyenses durchaus nicht die ersten ausfliegenden Bienen sind, dafs sie keine Spar von Wut, sondern ruhige Emsigkeit zeigen, und dafs sie die Hindemisse nicht wegstofsen, sondern oft weit aus dem Bereich des Korbes weg- tragen usw.

Diese und viele andere Leistungen sind nur durch Intelligenz « erklären wobei es sich freilich nicht sowohl um eine individuelle Intelligenz jeder Einzelbiene handelt, sondern um eine soziale IntelligeUr durch welche die Gemeinschaft des Schwarmes die Arbeit reguliert und disponiert W. Stern (Breslau).

241

Zur Theorie der Gefühlstöne der Farbenempfindungen.

Von Dr. RiCH. Müller-Fbeienfels, Berlin.

Die Psychologie der an Farbenempfindungen geknüpften Gefühle hat mit bedeutend gröfseren Schwierigkeiten zu kämpfen, als die aller anderen Empfindungsgefühle, z. B. der durch Töne ausgelösten. Denn in keinem anderen Gebiete der Psychologie wohl ist das Experiment so schwer zu verwenden wie hier, darum weil das, was das Wesen allen Experimentierens ausmacht, die Isolation, hier so gut wie gar nicht zu erzielen ist. Viel mehr als irgendwelche anderen Empfindungen, sind gerade die opti- schen und speziell die Farbenempfindungen mit Vorstellungen aller Art assoziiert und so spielt auch stets der Gefühlston dieser VorsteEungen mit hinein in den Gefühlston der Empfindung, durchkreuzend und modifizierend nach den verschiedensten Richtungen hin. Die Welt der Töne ist etwas für sich allein stehendes, die von der Musik verwandten Elemente kommen in der Natur kaum vor, die an sie geknüpften Assoziationen können daher unmöglich so zahlreich sein wie diejenigen, die sich an die Farben anschhefsen. Und Farben sehen wir, wo und wann wir die Augen aufmachen ! Streng genommen darf man ja über- haupt beim erwachsenen Menschen nicht von Empfindungen, (Sensations) sprechen, nur von Wahrnehmungen (Perceptions), denn Empfindungen, ohne damit verknüpfte Vorstellungen, hat eigentlich nur der Säugling und der nicht lange. Ganz besonders aber gilt das vom Gesichtssinne, wo die Assoziationen sich in solcher Menge anschliefsen. Ich sehe z. B. ein tiefes, gesättigtes Rot und ganz unvermeidlich stellt sich mir die auch bereits von Gefühlen begleitete Vorstellung „Blut" ein und womöglich noch eine ganze Reihe weiterer. Und dazu kommt noch die Ein- wirkung der Sprache, die dieses Rot als Blutrot bezeichnet und

Zeitschrift für Psyoholofipe 46. 16

242 ÄtcÄ. MüUer-Freienfels.

damit eine Fülle von Assoziationen und assoziierten Gefühlen heraufbeschwört. Und so ist es ja mit fast allen feineren Nuancen, dafs überall irgend ein Objekt heran mufs, um die Nuance zu bezeichnen, und damit zugleich eine Vorstellung und natürlich auch der ihr anhaftende Gefühlston sich einstellt. Die französische Sprache setzt sogar ohne weiteres jedes beliebige Wort, das einen farbigen Gegenstand benennt, als farben- bezeichnendes Adjektiv ein, wodurch natürlich die Assoziationen noch viel fester an die ursprüngliche Empfindung angeknüpft werden. Fast scheint es, dafs es unmöglich wäre, wenn man all das erwägt, diese vielfach verschlungenen Knoten, wie deren jedes Farbengefühl einen darstellt, zu entwirren.

Trotzdem sind verschiedene Versuche gemacht worden, die experimentelle Methode auch auf die Untersuchung des Gefühls- tones der Farben anzuwenden. So hat Cohn ^ an zehn Versuchs- personen Experimente angestellt, hat aber seine Resultate, die er von seinen zehn Leuten auf „den Durchschnitt gebildeter Europäer" übertrug, viel zu sehr verallgemeinert. Schon darum, weil seinen Versuchspersonen das Hineinspielen von Assoziationen nicht bewufst war, glaubte er, es kämen gar keine irradiierten Gefühlstöne in Betracht. Und doch zeigt auch eine nur ober- flächliche Betrachtung der Geschichte des Farbensinnes, wie sie sich in den Werken omamentaler und malerischer Kunst mani- festiert, dafs man so unendlich schwankenden Elementen nicht auf so einfache Weise, wie es die Experimente Gohns ver- suchen, beikommt. Nicht nur, dafs ganze Epochen ganz, ver- schiedene Farben und Farbenzusammenstellungen lieben und bevorzugen, auch im Leben der einzelnen Künstler selbst läfst sich ein solches Schwanken bemerken und z. B. der dreifsig- jährige Tizian ist auch, was seine Farbenvorliebe betrifft, ein ganz anderer als der Tizian der letzten Jahrzehnte. Auch die wechselnde Mode jedes Jahres, jede Ausstellung für Kunst und Kunstgewerbe zeigt das beständige Schwanken der Farbengefühle. So konnte es nicht ausbleiben, dafs andere Experimente, so z. B. die Majoes,* in vielen das Gegenteil von den Befunden CoHNS erbringen mufsten, und dieser selbst mufste in einem

' CoHN, Experimentelle Untersachungen über die Gefühlsbetonung der Farben, Helligkeiten und ihrer Kombinationen. Fhilgs. Studien 10, 8. Ö62--608.

' Major, On the Affektive Tones of Simple Sense-Impressions. Ämeriei» Journal of Fsychology 7, S. bl—11.

Zur Theorie der Gefühlstöne der Farbenempfindungen. 243

zweiten Aufsatz den assoziativen Einflüssen weit gröfsere Be- deutung einräumen.^

Obgleich wir also die von Cohn für seine Untersuchungen behauptete Allgemeingültigkeit nicht zugestehen können, so sind darum seine Resultate doch nicht wertlos. Denn durch ihre scharfe Formulierung sind sie immerhin brauchbar und daher auch im folgenden wiederholt herangezogen worden.

Aber nicht nur infolge der viel stärkeren Verknüpfungen mit Vorstellungsgefühlen aller Art, sind die an die Farben- empfindungen geknüpften Gefühle soviel schwerer zu fassen als die an Töne, Rhythmen usw. sich anschliefsenden Gefühlstöne, für welch letztere man die experimentelle Methode mit bedeutend gröfserem Erfolge angewandt hat. Auch die objektiven, physi- kalischen Verhältnisse sind für das Gehör viel einfacher. Man hat hier die objektiv ganz klare Tatsache, dafs das Maximum von Wohlgefälligkeit sich an gewisse einfache Verhältnisse der Schwingungszahlen anschhefst, wenn auch im Laufe der Zeit eine gewisse Verschiebung des Lustmaximums nach etwas kom- plizierteren Verhältnissen hin zu konstatieren ist. Für die Farbengefühle hat man derartige objektive Tatsachen nicht zu ermitteln vermocht und ein Versuch derart, auch für das Auge die Lustgefühle auf Schwingungsverhältnisse der Strahlen zu basieren, den Ungeb und Zimmermann unternommen hatten, braucht nicht mehr erwähnt zu werden, seit er von Helmholtz und anderen so gründlich zurückgewiesen ist. Auch sonst haben die Analogien, die man überall zwischen den durch Töne und den durch Farben hervorgerufenen Gefühlen gesucht hat, nur verwirrend gewirkt, denn tatsächlich liegen die Verhältnisse ganz verschieden. So mufs man auch den Ausdruck „Farbenharmonie" durchaus zurückweisen, denn es handelt sich hier um einen der Harmonie der Töne diametral entgegengesetzten Fall. Während dort die möglichste Vereinheitlichung des Eindrucks, sei's durch Verschmelzung (Stumpf), sei's durch Zusammenfallen der nicht wahrnehmbaren Rhythmen (Lipps), das Ausschlaggebende ist, tritt bei den Farben ein direkt entgegengesetztes Prinzip in Geltung, der Kontrast. Für die meisten wohlgefällig wirkenden Farben- kombinationen ist daher die Bezeichnung Harmonie ganz abzu-

' GoHN, Gefflhlston und Sättigung der Farben. Philos. Studien 15, S. 279—286.

16*

244 ^*c^- Müller-FreienfeUt.

weisen. Höchstens könnte man für die unten zu besprechendeo „kleinen Intervalle" den Ausdruck Harmonie gebrauchen und es kann hierbei einen Sinn haben, wenn neuere Künstler wie j. N. Whistler und viele Maler der französischen und belgischen Impressionisten- oder Pointülistenschulen ihre Bilder als „Har- monie in Weifs", oder „Symphonie in Rosa und Gold" be- zeichnen, obwohl sich auch hier natürlich solche objektiven Zn- sammenhänge wie bei den Tonharmonien nirgends finden lassen und es nur eine entfernte, wenn auch berechtigte Analogie ist. wenn man hier von Harmonie spricht. Was man hier an Prin- zipien aufgestellt hat (so James Sülly^ die folgenden vier: pro- portion, gradation, Subordination und assimilation), hat praktisch kaum irgendwelchen Wert, sind Klassifikationen, aber keine eine wirkliche Erklärung vermittelnden Erkenntnisse.

Auf das Nähere wird weiter unten noch zurückzukommen sein. Es sollte hier nur auf die aufserordentliche Kompliziertheit dieser sogenannten „Elementarerscheinung" der Farbengefühle hingewiesen werden. Es ist auch wohl kaum vorauszuseheo, dafs sich durch weitere Versuche an Einzelpersonen jemals ein festes Resultat wird erzielen lassen.

Dennoch aber soll hier versucht werden, eine Erklärung der an die Farbenempfindungen sich anknüpfenden Gefühle zu geben. Es liegt für die tatsächliche Wertschätzung der Farben und ihrer Verbindungen ja in allem, was uns Kunstgewerbe, Ornamentik, Malerei und auch die Literatur aller Völker imd Zeiten geliefert haben, eine solche Fülle von Material vor, dafs die Schwierigkeit eher im Zuviel als im Zuwenig zu suchen ist. Dabei wird, je primitiver die Kulturstufe ist, auf welcher daa betreffende Dokument entstand, dieses uns um so mehr über die Grefühls- betonung der eigentlichen Empfindungen aussagen, da natur- gemäfs mit höherer psychischer Entwicklung die Fülle der asso- ziierten Gefühle noch wächst. Aus demselben Grunde wird auch die Kinderpsychologie sehr wertvolles Material zu liefern ver- mögen und rein als Einzeldokumente kommen dann noch ferner die experimentellen Untersuchungen wie die von Cohn, Major o. a, in Betracht. Überall aber gilt es in erster Linie durch Analyse alle assoziierten und irradiierten Vorstellungsgefühle abzusondern und nur die an die eigentlichen Empfindungen geknüpften Lust- und

» Jambs Sülly, Harmony Colours. Mind 1879. 8. 187 ff.

Zur Theoiie der GefüMsiöne der Farhenemp findungen. 245

Unlußtgefühle darzustellen. Da bei allen anderen Organen an eine adäquate Tätigkeit ein Lustgefühl sich anschliefst,, so ist es auch für das Sehorgan anzunehmen und es soll nun hier nach der unten genauer zu entwickelnden „dynamischen" Gefühlstheorie eine Deutung der betreffenden Lust- und Unlustgefühle versucht werden. Diese an die einfachen Empfindungen geknüpften Gefühle treten als ein wichtiger Faktor in alle jene komplizierten Prozesse, wie sie die Farbenwahrnehmungen sind, ein und fehlen niemals, wie auch immer im übrigen die Zusammensetzung jener sein mag. Stärker noch als in ihrer positiven Wirkung treten sie in der Unlust heraus, die eine überstarke Inanspruchnahme des Auges mit sich bringt und die sich als Ermüdung, Ab- stumpfung usw. äufsert Diese Lust- und ünlustwirkung der Farbenreize nachzuweisen, ist Zweck dieser Abhandlung.

2. Ich gebe nun zimächst eine Zusammenstellung der all- gemeinsten Tatsachen, wie sie uns von Psychologie, Ethnographie, Kunstgeschichte usw. geliefert werden. Und zwar nur der ganz allgemeinen Tatsachen, weil in ihnen am meisten individuelle Assoziationen zurückgedrängt sind und jener Faktor, den wir suchen, der Gefühlston der Empfindungen, der immer da sein mufs, am deutlichsten sich herausheben wird. Und zwar be- trachte ich der Reihe nach die Gefühlstöne, die sich an Intensität, Stellung im Spektrum, Sättigung und die verschiedenen Kom- binationen der Farben anknüpfen.

Was zunächst die Bewertung einzelner Farbentöne, ohne Rücksicht auf ihre Umgebung oder Kombination mit anderen Farben, betrifft, so gilt hier dasselbe, was man für die anderen Sinne, am besten für den Geschmackssinn festgestellt hat, dafs nämUch die intensiveren Eindrücke mit gröfserem Lustgefühl verbunden sind als die weniger intensiven.^ Für die Farben können wir das auch so aussprechen, dafs diejenigen Tinten, welche die gröfste Leuchtkraft haben, besonders bei primi-' tiverem Seelenleben, bei Tieren, Kindern, Wilden, die gröfsere Anziehungskraft beweisen. Daher rührt ganz speziell auch die besondere Bewertung, die schimmernde, funkelnde und glänzende Gegenstände von jeher gefunden haben. Wie das Licht als

' Vgl. A. Lehmann, Hauptgesetze des menschlichen Gefühlslebens» L. 1892. S. 166 ff.; auch Grant Allen, Physiological Aesthetics. London. S. 21.

246 R^c^' MülUr-Freienfels.

solches auf die Tiere, die niederen sowohl als die höheren Gattungen, so überaus anziehend wirkt, so wirken auch gl&nzende Objekte auf Tiere, z. B. die Elstern und Dohlen. Gold, Silber, Zinn, Bronze sind von Urzeiten her immer die Wertobjekte schlechthin gewesen. Ebenso ist es bekannt, dafs Kinder beim Anblick glänzender Gegenstände in lauten Jubel auszubrechen pflegen. Die exakten Beobachtungen Pbeyebs stellten bereits in der allerfrühesten Zeit das Lustgefühl fest, das im Säugling durch das Licht erweckt wurde. „Wendete ich das Kind ab, so wurde es verdriefslich und schrie, wendete ich es wieder dem Lichte zu, dann nahm das Antlitz wieder den zufriedenen Aus- druck an."^ Hellglänzende Gegenstände bewirkten, sobald sie im Gesichtsfeld erschienen, vom zweiten Monat an lauten Jubel Sobald dann die einzelnen Farbtöne unterschieden werden, zeigt sich ein deutliches Bevorzugen greller Farben und zusammen- fassend bemerkt Preyeb dann noch, dafs alle Kinder die weils- üchen Farben ohne Rücksicht auf die Qualität bevorzugen, * Wir können also als ziemlich sicher annehmen, dafs, je heller und leuchtender ein Gesichtseindruck ist, um so stärker das Lustgefühl sein wird, das er im primitiven Seelenleben auslöst Bedeutend weniger sicher sind die Resultate, die über die Bevorzugung einzelner Teile des Spektrums vor anderen bis jetzt sich ergeben haben. Die Studien über Kinderpsychologie haben hierbei fast zu direkt sich wider- sprechenden Beobachtungen geführt* und gar bei Erwachsenen sind die Unterschiede gar nicht zu übersehen. Auch experi- mentell ist hier gar nichts Sicheres zu ermitteln. Fand Cohh* bei seinen Versuchen, dafs Gelb fast durchweg Unlust erweckte, so konstatiert Major * demgegenüber das Gegenteil. Wenn manche Irrenärzte durch das Unterbringen Melancholischer üi von rotem Licht erfüllten Räumen, Maniakalischer in blauem Lichte eine dämpfende Wirkung auf die extremen Gemütszustände der Kranken beobachtet haben wollen, so ist damit noch lange

' Pbbyee, Seele des Kindes. 2. Aufl. S. 5

« Ebda. 8. 15.

' Vgl. Baldwin, Science 1893. S. 231 ; dazu Baldwik, Die Entwicklong des Geistes beim Kinde und bei der Rasse. Berlin 1898. S. 11 f. Prshb, a. a. O. S. 7f.

* CoHN, Fhüos. Studien. S. 599.

* Majob, AmeHcan Journal of Psych oloyy. 1895. S. 77.

Zur TJieoi'ie der Gefühlstöne der Farbenempfindungen, 247

nicht gesagt, dafs es sich hier um wirkliche Gefühlstöne der Empfindungen und nicht um rein assoziative Gefühle handelt. Dennoch scheint die Majorität der Beobachtungen dahin zu gehen, dafs die roten und gelbroten Farben im allgemeinen gröfsere Lust erregen, als die blauen und violetten. Goethe^ teilte das Spektrum in eine Plusseite und eine Minusseite ein und fand, dafs die roten und gelben Töne, welche die Plusseite bildeten, erregend, die anderen aber deprimierend wirkten. Auch die Ethnologie scheint eine Bevorzugung des Rot für die Be- malung zu ergeben, doch ist dabei wieder zu erwägen, dafs eben im roten Ocker ein überaus brauchbares und nicht schwer zu bereitendes Pigment sich fand, was sowohl in Neuseeland, auf den Andamanen, am Kongo und überall sonst nicht schwer zu beschaffen war. Trotzdem mag immerhin einstweilen eine gewisse Bevorzugung der roten und gelbroten Farben für die Mehrzahl der Individuen annehmen.

Auch WuNDT * hat sich ausführlich mit dem Gefühlston der einzelnen Farben beschäftigt und er behauptet, dafs die beiden Pole der Stimmungsordnung Gelb und Blau, das heifst der Gegen- satz von Lebhaftigkeit und Ruhe wären. Zwischen diesen aber gäbe es zwei Übergänge: einen durch das Grün, den anderen durch die rötlichen Farbentöne (das eigentliche Rot, Purpur und 'Violett), welchen beiden Übergängen eine sehr verschiedene Be- deutung für das Gefühl zukommen soll. In dem Rot und den verwandten Farben sei die Bewegung des Gelb und die Ruhe des Blau zu einem hin- und herwogenden Zustand der Unruhe geworden, das Grün dagegen drücke ein stabiles Gleichgewicht aus. Gegenüber dem tief beruhigenden Blau und dem lebhaft erregenden Gelb verbreite es eine gedämpfte Erregung. Wtjndt ordnet diese Gefühle in einer geschlossenen Kurve an, wobei er Grün und Violett, Rot und Indigoblau, Gelb und Blau sich gegen- überstellt. — Zu diesen Stimmungen aber, welche die Farben und ihre Sättigungsgrade hervorbringen, kommen noch die an die Intensitätsgrade des Lichtes sich knüpfenden Gefühle. Zwischen den Gegensätzen des Hellen und des Dunkeln aber gibt es nur den einen Übergang durch eine mittlere Helligkeit, welcher der

» GoBTHB, Farbenlehre, didaktischer Teil §§ 764, 777. Auch Fbchnbr (Vorschule II, S. 219 f.) spricht von aktiven und rezeptiven Farben. * WuNDT, Physiol Psychol 2, S. 330 f. (5. Aufl.)

248 ^ich. Miülei'-Freienfels.

indifferenten Stimmung entspricht. So konstatiert Wündt also drei Übergänge der Stimmung zu einer Farbe von ent^gen- gesetztem Gefühlston : den harmonischen durch das ruhige Grün, den kontrastierenden durch das zwiespältige Violett und den indifferenten durch das gleichgültige Weifs.

Die besondere Stellung des Gelb, die Wündt in Überein- stimmung mit vielen behauptet, dafs es fast immer imlust- erregend sei, kann nicht zugegeben werden. Es scheint nach neueren Untersuchungen sogar, als hätte man im Altertum das Gelb als die schönste und vornehmste Farbe angesehen, wie es noch heute die Ostasiaten tun.^ Es mögen mancherlei Assozia- tionen sein, die viele heute Gelb als häfslich beurteilen lassen, vielleicht weil es die Farbe der menschüchen Exkremente, des Urins usw. ist. Es mögen auch allerlei historische Einwirkungen mitspielen, da das Mittelalter Gelb zur Teufelsfarbe machte, was sich noch in volkstümlichen Redensarten „Gelb ist der Neid" usw. erhalten hat. Keinesfalls aber darf man annehmen, dafs die Empfindung Gelb als solche unlustbetont wäre.

Auch ob der Sättigungsgrad entscheidend für die Be- vorzugung einer Nuance ist, scheint nicht ohne weiteres anzu- nehmen zu sein. In seinen ersten Untersuchungen hatte zwar CoHN- schlechthin angenommen, dafs von zwei Nuancen der- selben Farbe die gesättigtere besser gefällt und dafs auch unter einer Reihe verschiedener Farben im allgemeinen die gesättigteren bevorzugt werden. Und auch nach Majobs^ Widerspruch hält er an dieser Ansicht fest.* Ich glaube, dafs man ihm beistimmen mufs, besonders soweit es sich um das primitive Seelenleben handelt, um die Gefühlstöne wirklicher Empfindungen. Bei dem Kulturmenschen sind die Assoziationen hier gerade sehr stark und durchkreuzen zu sehr die ursprüngliche Wirkung der rein koloristischen Eindrücke. Dagegen scheint die Ethnologie und die Kinderpsychologie Cohn durchaus recht zu geben. Naive Menschen bevorzugen überall möglichst grelle Farben, man braucht sich darauf hin nur die Kleider des Landvolkes oder gar unzivilisierterer Völkerstämme anzuschauen. Was in der

* Vgl. A. Ewald: Die Farbenbewegung. Kalturhis torische unter suchungen. Dazu: Lichtwark: Erziehung des Farbensinnes. S. 14. Berlin 1900. Ferner: Th. Volbehb: Die Neidfarbe Gelb. Zeitschr. f. ÄstJictik 1, S. 355.

« OoHN a. a. 0. Bd. X. S. 699. > Major a. a. O. S. 77.

* Cohn a. a. 0. Bd. XV. S. 286.

Zur Theorie der Gefükhtöne der Farhenempfindungen. 249

Omamentalkunst der früheren Stufen zur Verwendung kommt, sind möglichst gesättigte Farben. Die uns aus Urväterzeit über- kommene Wertschätzung gerade solcher Mineralien wie Rubin, Smaragd usw., die besonders gesättigte Farben aufweisen, gehört auch hierhin. Doch ist es schwer, gerade die Lustwirkung gesättigter Töne isoliert von den umgebenden Farben nachzu- weisen, wie die Erklärung der physiopsychologischen Bedingungen dieses Lustgefühls nachher erweisen wird. Im allgemeinen nehmen wir jedoch auch hier vorläufig an, dafs wenigstens für die primitivere Psyche die gesättigtere Nuance gröfseres Lustgefühl erweckt als die weniger gesättigten.

Bei den Versuchen über Kombination von Fai'ben sind es hauptsächlich zwei allgemeine Tatsachen, die sich als einiger- mafsen gesichert ergeben haben. ^

Die eine kann als ziemlich unbestritten hingestellt werden, wenigstens hat sie meines Wissens keinen besonderen Wider- spruch hervorgerufen. Sie besagt, dafs kleine aber über- merkliche Farbendifferenzen dem Auge wohl- gefällig sind, .dafs jede Farbe neben sich eine andere duldet, die in Rücksicht auf ihre Stellung im Farbenkreise nur eine geringe Abweichung aufweist. Nur wenn sie in Rücksicht auf Helligkeit oder Sättigung derart ist, dafs sie im gegebenen Falle unpassend würde, darf eine solche Kom- bination nicht in der Farbenkunst verwandt werden. Bbücke^ hat für diese Verbindungen die Bezeichnung „kleine Inter- valle" geprägt und ihnen die der grofsen Intervalle gegenüber- gestellt, die weiter unten zu behandeln sind. Buückb will diese kleinen Intervalle, die in der Kirnst sehr häufig vorkommen, auf die Naturbeobachtung zurückführen. Denn die Natur bietet kaum je ganz gleichmäfsig getönte Flächen, sondern immer wechseln Belichtung und Beschattung und niemals wirken die so entsprechenden Tinten unharmonisch. Es würde sich also bei diesen Verbindungen der kleinen Intervalle nur um Diffe- renzen der Helligkeit handeln. Als Beispiele führt Brücke an, dafs ein von direktem Sonnenlicht beleuchtetes blaues Gewand in seinen Lichtem mehr Cyanblau, in der Tiefe der Falten mehr

' Meine Darstellung folgt in diesem Punkte hauptsächlich der von

WUNDT.

* Brücke, Die Physiologie der Farben für die Zwecke der Kunst- gewerbe. L. 1866. ß. 175.

250 Ätc/i. MüüerFreienfels.

Ultramariu erscheint. Auch zwischen verschieden hellem Gelb findet Brücke sehr brauchbare Verbindungen, dagegen scheint ihm bei Grün und Rot auch eine Änderung des Farbentoneß, d. h. der Mischungsverhältnisse, nicht nur der Helligkeit an- gebracht. Es braucht uns hier nicht zu beschäftigen, wieweit bei diesen kleinen Intervallen nur Helligkeitsdifierenzen vor- kommen, vorläufig genügt es festzustellen, daTs Farben, die uns nur wenig voneinander abzuweichen scheinen, durchaus sich gut miteinander vertragen.

Nicht so einfach steht es mit der zweiten Tatsache, dafs es ein Gefälligkeitsmaximum bei gewissen in weitem Abstand voneinander liegenden Farben gibt, womit dann zugleich der mifsf älUge Eindruck bestimmter zwischen diesen Nah- und Fernpunkten des Wohlgefallens liegender Qualitäten zu- sammenhängt. Hier aber gehen nun die einzelnen Ansichten deutlich auseinander, und wir haben scharf getrennte Parteien. Die eine von diesen behauptet, dafs das Lustmaximum mit der Komplementärfarbe zusammenfalle, dafs es also für jede Farbe nur eine andere gäbe, bei der das Wohlgefallen das höchste sei So hat CoHN^ bei seinen experimentellen Untersuchungen über die Gefühlsbetonung der Farben gefunden, dafs eine Kombination von 2 Farben um so wohlgefälliger sei, je weiter die Kom- ponenten voneinander verschieden sind, wobei natürlich gleiche Wohlgefälligkeit der Komponenten vorausgesetzt werden mufß. CoHN hat dieses Verhältnis in Form einer Kurve dargestellt, deren Abszissenachse der am Orte der Grundfarbe durchschnittene Farbenkreis bildet. An ihren beiden Enden nun steigt die Kurve steiler auf als in der Gegend des Maximums. Zu ähnlichen Resultaten war schon Goethe* gelangt. Er findet drei einfache Gegensätze, Gelb und Rotblau, Blau und Rotgelb, Purpur (womit Goethe übrigens nicht das bezeichnet, was wir heute so nennen, sondern ein gesättigtes Rot) und Grün. Femer ist noch Chevbbül * dieser Gruppe zuzuzählen.

Denen nun, welche das Lustmaximum mit der Komplementär- farbe zusammenfallen lassen, steht eine andere etwas zahbeichere Gruppe gegenüber, die nicht ein, sondern zwei Maxima für

* CoHN a. a. O. S. 599 f.

* Goethe, Farbenlehre, didaktischer Teil § 809 ff.

' Chevreul, De la loi du contraste simultane. S. 106.

2^ir Theorie der Gefiihlstöne der Farbenempfindungen. 251

das Lustgefühl annehmen. Man führt gegen jene, die höchstes Lustgefühl und Komplementärwirkung indentifizieren, den Umstand an, daTs bei Komplementärfarben sukzessive Kontrastwirkungen und Randkontrast ungünstig sich geltend machten. Man will daher das Maximum des Gefallens auf solche Farben legen, die weit genug von der Normalfarbe entfernt sind, um sich als selb- ständige Farben behaupten zu können, andererseits aber doch weit genug von der eigentüchen Komplementärfarbe abliegen, 80 dafs jene oben genannte, beeinträchtigenden Wirkungen aus- geschaltet blieben. Wündt^ hat in den Grundzügen der physio- logischen Psychologie für Rot die folgende Kurve der binären Farbenharmonie entworfen. Von einem Nullwerte der Indifferenz (Rot mit Rot) ausgehend, führt sie zunächst in ganz geringem Abstand von der Normalfarbe zu schwachen Lustwerten (reines Rot und Hellrot), die sich dann rasch auf die Unlustseite kehren und in Orange ein erstes negatives Maximum erreicht. Von da aus wieder auf die positive Seite übertretend erreicht sie einen ersten Höchstwert der Lust, im Grün sinkt sie dann bei Grün- blau wieder beträchtlich und erhebt sich zu einem zweiten Gipfel im Dunkelblau, der die Lustwirkung des Grün noch übertrifft und das absolute Maximum bildet. Von hier aus steil abfallend, tritt die Kurve bei Violett wieder auf die negative Seite über und erst bei grofser Annäherung an die Ausgangsfarbe im Dunkelrot erreicht sie nochmals einen kleinen Lustwert.

J?unkM2aäi

MdLrot

Orange

Violett

WuNDT hat dann eine Zusammenstellung ausgearbeitet, bei der er in der Hauptsache auf den Angaben Brückes und eigenen

WiTNDT a. a. O. lU, 142.

252 ^w^A. MiUler'Frnenfds,

Beobachtungen fufst. In der ersten Kolumne steht dabei die Normalfarbe, in den drei folgenden die Vergleichsf arben :

Gefallend Zweifelhaft Mifsfallend

Rot Dunkelblau, Grün Gelb Violett, Purpur

Orange Himmelblau, Grün, Rot Gelb, Blau grün

Violett

Gelb Purpur, Blau Rot, Violett Blangrün, Grün, Orange

Grün Rot, Violett Purpur, Gelb Blau. Orange

Violett Grün, Orange Gelb Rot, Purpur, Blau.

Auch Bezold,^ der weniger von der psychologischen Beob- achtung als dem Studium der Künste herkommt, findet, dais den Komplementärverbindungen, obgleich diese niemals direkt geschmacklos wirken, doch andere in den grofsen Kunstwerken vorgezogen werden. Als die weitaus beste Kombination erscheint ihm Rot und Blau, sowie Gelb und Violett, während ihm BIäo imd Gelb als unfein erscheint. Er stellt folgende Tabelle zu- sammen :

Purpurrot Grün Orange Ultramarin

Karminrot Blaugrfln Gelb Blauviolett

Zinnoberrot Cyanblau Gelbgrün Parpurviolett

Noch einige andere Autoren, wie A. Lehmann in seiner „Farvernes elementaere Aesthetik",* die mir leider nicht zu- gänglich geworden ist, stehen im wesentlichen auf diesem Stand- punkt, dafs nicht in der Verbindung mit der komplementären Farbe das Lustmaximum zu suchen sei; und auch die Praids der meisten Völker und Zeiten, wie wir sie in unseren Kunst hallen und Kunstgewerbemuseen überblicken können, scheint in der Hauptsache dieser Gruppe recht zu geben.

3. Es soll nun hier unternommen werden, diese bis jetzt zu- sammengestellten Tatsachen vermittels jener Theorie über den Gefühlston der Empfindungen zu erklären, die man wohl am besten als die dynamische bezeichnet. Diese Lehre ist durch- aus nicht ganz neu, sie ist vielmehr schon bei den verschiedensten älteren Schriftstellern psychologischer wie philosophischer Ob- servanz mehr oder minder deutlich ausgedrückt zu finden, ist aber neuerdings durch die experimentellen Untersuchungen

* V. Bezold, Die Farbenlehre im Hinblick auf Kunst und Kunstgewerbe. 1874. S. 226 f.

Lehmann, Farvernes elementaere Aesthetik. K0benhavn 1884.

Zur Theorie der Gefühlstöne der Farbenempfindungen, 253

AiiPBED Lehmanns und anderer sehr gestützt worden. Ich gebe ihre FormuUerung mit Lehmanns Worten^ wieder: „Wenn ein psychologischer Prozefs keinen gröfseren Verbrauch der Energie jedes einzehien arbeitenden Neurons erfordert, als dafs der Stoffwechsel fortwährend den Verbrauch zu ersetzen vermag, so wird die psychische Wirkung hiervon ein Lustgefühl sein, während die physiologische Wirkung die Bahnung von Be- wegungen in anderen Zentren wird. Das Maximum des Lust- gefühls wird erreicht, wenn der Stoffwechsel den stattfindenden Verbrauch gerade zu decken vermag. Bei Überschreitung dieser Grenze nimmt sowohl das Lustgefühl als die Bahnung schnell ab, indem der Verbrauch im Arbeitszentrum nun einen Energie- strom aus den Umgebungen bewirkt, wodurch gleichzeitig Pro- zesse in letzteren gehemmt werden. Der psychische Zustand ist unter diesen Verhältnissen zunächst neutral, je nach den Um- ständen bald zur Lust, bald zur Unlust tendierend. Wird endlich der Verbrauch in den arbeitenden Neuronen so grofs, dafs er nicht durch den Stoffwechsel im Verein mit dem interzellulären Energiestrom gedeckt werden kann, so wird die psychische Wirkung ein Unlustgefühl werden. Eine Hemmung anderer gleichzeitiger Prozesse wird deshalb stets das Unlustgefühl be- gleiten, ausgenommen wenn dieses nur von rein instantaner Dauer ist, so dafs kein Energiestrom zustande kommt. Alsdann wirkt die Bewegung im Arbeitszentrum bahnend." Auch die Anschauungen von Henry Rutgers Marshall, der diese auch für die Ästhetik nutzbar zu machen bestrebt war, decken sich mit Lehmanns Aufstellungen in der Hauptsache. Er spricht sich in dieser Form aus : „Lust und Schmerz werden bestimmt durch die Energie, welche von den den Inhalt des Augenblicks be- stimmenden Organen in jedem Moment ausgegeben und ein- genommen wird." - Im Verlaufe seiner Darstellung stützt sich

^ Alfbed Lehmann, Über den kürperlichen Ausdruck seelischer Zu- stande. II, 301 f. Vgl. auch von demselben Autor: Hauptgesetze des menschlichen Geftihlslebens S. 89, 95 und passim.

Henry Rutgebs Mabshall, Pain, Pleasure and Aesthetiks S. 222 ff Derselbe Autor: Pleasure-Pain and Sensation. Ffiü. Rev. 1 (6), S. 626—648. Aestheük Principles etc. Vgl. ferner: Ribot, Psychologie des sentiments 8. 84 ff. Ziehen, Physiologische Psychologie der Gefühle und Affekte (in VerhandloDgen der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte zu Kassel 1903). 8. 56.

254 R*ch, Mmer-Freienfds.

MARSHATiL, um die verschiedenen Formen von »Pleasuie-Painc zu erklären, auf drei Grundsätze, indem er erstens feststellt, dab unser Organismus in jedem einzelnen Augenblicke nur eine be- grenzte Menge von Energie freizumachen vermag, zweitens aber, dafs sich unverbrauchte Nervenenergie sehr wohl aufspeichern kann und drittens, dafs sich die Energie von einem zum anderen Organe übertragen läfst. Psychologen verschiedenster Richtung sind unabhängig voneinander zu verwandten Resultaten gelangt und ich sehe z. 6. auch keinen imüberbrückbaren Unterschied zwischen diesen Anschauungen, im besonderen A. Lehmanns Lehre von der „Bahnung", und der Theorie, die Th. Zibhkk neuerdings entwickelt hat imd welche dahin lautet, dafs alle Lust- gefühle auf die „Entladungsbereitschaft'' der kortikalen Zellen zurückzuführen seien. „Einem bestimmten Empfindungs- und Vorstellungs Inhalt entspricht ein bestim mter Verändenmgs- prozefs (z. B. eine chemische Umsetzung) in den Rindenzellen. Bei einem bestimmten derartigen Vorstellungsprozefs kami die Entladungsbereitschaft noch sehr verschieden sein, d. h. die Tendenz und Fähigkeit zur Fortpflanzung der Erregung (z. B. der chemischen Umsetzung) in die aus der Zelle entspringenden Assoziationsfasern, bzw. Projektionsfasem kaim gröfser oder kleiner sein. Einer grofsen Entladungsbereitschaft entsprechen die positiven, einer geringen die negativen Gefühlstöne."

Ohne uns hier des weiteren in eine Diskussion der ver schiedenen Theorien und Formulierungen einzulassen, stellen wir nur noch einmal fest, dafs wir dem Gefühlston der Farbenempfindungen, (soweit wir dabei assoziative Ein- wirkungen auszuschalten vermögen), wie alle anderen Ge- fühlstöne auf das Verhältnis von assimilatorischer und dissimilatorischen Prozessen (den Biotonus um Verworns Ausdruck zu gebrauchen) in der Netzhaut und den koordinierten zentralen Partien basieren wollen.^ Ich möchte hierbei gleich noch eine Theorie erwähnen, die Vernon Lee und Armstrüther Thomson entwickelt haben. ^ Wie diese bei den anderen optischen Ein-

* Lehmann selbst deutet die Verwendung seiner Theorie gerade für die GefQhlstöne der Gesichtseindrücke an, ohne sie selbst im einxelnen auszuführen. A. a. O. II, S. 306.

* Vkrnon Lke und Abmstbüthbr Thomson, Beauty and ügliness, in: Tke Contemparary Eemeto 72, S. 669 f.

Zur Theorie der OefühlstÖne der Farbetiemp findungen. 255

drücken von Linien und Raumformen überall die körperliche Resonanz, die motorischen Begleiterscheinungen der Emp- findungen aufs genaueste studiert haben, so findet sich auch über derartige motorische Wirkungen der Farbenempfindungen bei ihnen folgende Bemerkung: Nicht durch die Reizung des ^Vuges allein läfst sich die Wirkung der Farben erklären. Diese beruht vielmehr auf einer merkwürdigen Beeinflussung der Atmung durch die Farben, auf der Tatsache, dafs wir die Farben gleichsam einzuatmen scheinen. Denn indem die Farben das Auge reizen, finden wir, dafs sie zu gleicher Zeit auf die Nasenlöcher und den Kehlkopf eine Reizung ausüben. Denn eine Farbenerregung des Auges ist unwillkürlich von einer energischen Einatmungsbewegung begleitet, indem sie auf diese Weise einen Strom von kalter Luft durch die Nase über die Zunge und den Kehlkopf bewirkt und dieser Zuflufs kalter Luft hat einen eigentümlich reizenden Effekt. Mitunter be- wirkt eine ganz lebhafte Farbe eine solche Reizung auf den Kehlkopf, dafs sie bis zu dem Antrieb sich steigert, Töne zu äufsem, während andererseits farblose Objekte im Gegenteil nicht den geringsten Antrieb zum tiefen, langen Atmen ausüben. Die beiden Autoren, die das beobachtet haben, und welche in ihren theoretischen Ansichten über das Wesen des Gefühls ganz der Theorie von William James folgen, schliefsen dann weiter, dafs das Lustgefühl eben die Folge dieser Atembewegungen sei, wie es jene bekannte Lehre behauptet, nach der wir traurig sind,. weü wir weinen, und nicht weinen, weil wir traurig sind.

So interessant die Beobachtungen Vernon Lebs und Thomsons auch sind, unbedingte Allgemeinheit dürfte ihnen wohl nicht zu- kommen, zum mindesten wohl lange nicht in dem Mafse, wie die beiden Autoren behaupten, sonst wäre wohl schon öfter der- artiges bemerkt worden und auch die Versuche in psycho- logischen Laboratorien haben so entschiedene Resultate nicht erzielt.^ Dafs eine Beeinflussung des Atems stattfindet, mag ja immerhin bei starken Eindrücken zugegeben werden, doch ist das dann nicht die Ursache des Lustgefühls, sondern eine Folge.

^ Vgl. z. B. Kblchnsr, Die Abhängigkeit der Atem-PulBänderung vom Reiz und vom Gefühl. Archiv für d. ges. Psychologie 5, S. 39. Die Ver- fasserin fand eine, aber nur sehr geringe Verlangsam ung der Atem^ bewencungen bei lustvollen Farbenreizen ebenso wie bei Tönen, während z. B. bei Qeschmackreizen eine Beschleunigung stattfand.

256 Rieh. Müller-Freienfels.

Der kortikale Prozefs, der die durch die Reize verbrauchten Zell- stoffe wegschaffen und ersetzen will, bedarf eben einer stärkeren Blutzufuhr und wirkt so auf die Atmung ein, ist jedoch selbst bereits von einem positiven Gefühlston, wenn der Reiz nicht allzu stark war, begleitet. Dafs sich an die so herbeigeführte Atmungs- steigerung auch ihrerseits wieder Lustgefühle anschliefsen und die Gesamtsumme der Lust vermehren, ist dann allerdings sehr wahrscheinlich. Wir werden also im folgenden die Atmungs- erscheinungen doch durchaus als akzessorisch ansehen und den eigentlichen Grund des Lustgefühls vor allem in dem Reizvorgang der Sehorgane selber suchen, ohne Rücksicht darauf, ob solche motorischen Erscheinungen dabei zu beobachten sind oder nicht, indem wir diese als individuell verschieden ansehen.

4. Indem ich nunmehr dazu übergehe, die oben zusammen- gestellten allgemeinsten Resultate über das Lustgefühl bei Farben- empfindungen nach der dynamischen Gefühlstheorie auszudeuten, bemerke ich gleich, dafs es vorläufig wenig darauf ankommt, ob man die auftretenden Gefühle mehr als Begleiterscheinungen der betreffenden Prozesse im Sehorgan selbst oder mehr als solche der damit verknüpften kortikalen Vorgänge ansieht. Um hier ein ganz entscheidendes Wort sprechen zu können, dafür sind unsere Kenntnisse der betreffenden Vorgänge noch zu h}T)o- thetisch. Auch ist das für ims eine Frage zweiter Ordnung.

In der Theorie der physiologischen Vorgänge beim Farben- sehen schliefsen wir uns natürlich der HsRiNGschen ^ Anschauung an, so wie sie heute mit den verschiedenen Modifikationen, die Ebbinghaus, G. E. Mülleb und andere daran vorgenommen haben, als die weitaus brauchbarste erscheint.

Indem wir also mit Hering eine besondere Schwarz-Weife- substanz annehmen, die über die ganze Netzhaut verbreitet ist und die von allen einfallenden Strahlen, je nach dem Mafr stab ihres HeUigkeits wertes mehr oder weniger zersetzt wird, finden wir gleich unschwer eine Erklärung des Umstandes, dafe helle, hchtstarke, glänzende Objekte so besonders lustvoll be- wertet werden, wie ja die erste imserer obigen Aufetellungen

^ HxRiKO, Lehre vom Lichtsinn 1878; ferner: Sitzungsbericht der Wieoer Akad. Mathem.-Naturw. Klasse Bd. LXVl, LXVIU, LXIX. F flügers Ardm 40 12. Ebbinghaus, Theorie des Farbensehens. Diese Zeitschrift 5, S. 146it O. E. Mülleb, Zar Psychophysik der Geaichtsempfindnngen. Diese Zat- Schrift 10, S. Iff.

Ztir Theorie der OefüJUstöne der Farbenempfindungen. 257

ergab. Da diese SubstÄnz die weitaus am stärksten vertretene ißt, 80 mufs einmal der im Auge vorgehende Prozefs der intensivste sein imd auch die stärkste Reizung zum Gehirn ent- senden, mufs also auch, solange er nicht die zur Verfügung stehenden Kraftmengen in den Organen überanstrengt, von dem proportional stärksten Lustgefühl nach der oben entwickelten Theorie begleitet sein.

Schon Grant Allen hat in dieser Weise, als Resultat der ungehinderten Tätigkeit eines wohlernährten Organes, das Lust- gefühl an lichtstarken Gegenständen erklärt,^ natürlich ohne Zuhilfenahme der HEBiNoschen Theorie. Er konstruiert von der Lustwirkung heller Farben ausgehend eine ganze Ent- wicklungslinie für den Farbensinn. Sie beginnt mit der Auswahl hellgefärbter Blüten durch Insekten.^ „In den frühesten Wäldern unserer Erde bildete die grüne Kryptogamen Vegetation die gesamte Flora. Im Laufe der Zeit brachten die Vorteile der Kreuzbefruchtung, . . . die ersten Blütenpflanzen hervor . . . Bei diesen Blumen suchten nur wenige unentwickelte und undiffe- renzierte Insekten ihre Nahrung. Einige der Blüten gelangten auf diese Weise leichter zur Befruchtung als zuvor; und die- jenigen unter ihnen, die auf die Insekten eine stärkere Anziehungs- kraft ausübten, waren in der Lage, einerseits bedeutend an Pollen zu sparen und andererseits mit weit gröfserer Sicherheit als ihre Gefährten befruchtet zu werden." So bringen Insekten Blumen hervor und die Blumen den Farbensinn bei Insekten."

Immerhin ist jedoch das Lustgefühl am Hellen, Glänzenden, Leuchtenden beim Menschen durchaus nicht allein als Gefühlston der reinen Empfindung zu erklären. Denn nirgends tritt uns die Helligkeit so sehr entgegen als beim Sonnenlicht, wo sie immer zugleich mit Wärme verbunden ist, was ganz besonders für die Bewohner kälterer Zonen von höchster Lustwirkung sein mufste. So sind für uns diese Assoziationen von Wärme usw. wohl kaum mehr von der HelUgkeit abzutrennen, ja hell und heiter sind für unsere Sprache in vielen Fällen fast gleich- bedeutend. Ein Gesicht erhellt sich, sagen wir, wenn wir meinen,

^ Grant Allen, Der Farbensinn. Leipzig 1880. 6. 213 ff.

* Ebda. S. 74 f.

* Eine hiervon abweichende, nicht auf Insektenselektion gegründete Theorie über die Entwicklung der Farben gibt Mott: Organic Colors, tn Science. 1893. S. 323f.

ZeltBchrlft für Psycho1of*ie 4«. 17

258 Äic'*. MÜUer'Freienfels.

es erheitert sich, der Himmel ist heiter, wenn wir sagen wollen, er ist hell, und derartiger Beispiele lassen sich hunderte an- führen. Diese Assoziation zwischen Hell und Freudig ist eine der am allertiefsten im Volksbewufstsein eingewurzelten und gaiu ist wohl niemals davon bei Erwachsenen zu abstrahieren. Den- noch dürfen wir wohl nach den Beobachtungen an Tieren und Säuglingen, wo diese Assoziationen nicht oder doch nur ganz minimal vorhanden sein mögen, annehmen, dafs auch der Licht- reiz als solcher dem Auge wohltuend ist und wir dürften wohl nicht fehlgehen, wenn wir dieses Lustgefühl an die Zersetzung der Schwarz-Weifssubstanz und die koordinierten Vorgänge in den Rindenzellen geknüpft denken.

ft. Was nun die Bevorzugung einzelner Teile des Spektrums vor anderen betrifft, so fanden wir, dafs gerade hier die individuellen Unterschiede ganz bedeutend her- vortraten. Und zwar müssen wir annehmen, dafs es nicht blofs Assoziationen, sondern auch verschiedenartiger Bau des Auges ist, der diese individuellen Differenzen bedingt, denn die so stark voneinander abweichenden Beobachtungen der Kinder- Psychologie lassen wohl kaum eine rein assoziative Erklärung zu. Gbant Allen nimmt als Resultat seiner Nachforschungen eine Bevorzugung von Rot und Gelb an * und bringt diese Vorliebe gegenüber den blauen und grünen Tönen mit der gröfseren Leuchtkraft in Verbindung, die den roten und gelben Farben gegenüber den anderen eigen ist. Sie könnten darum dem direkten Totallicht als an Glanz am nächsten kommend angesehen werden und die Erklärung ihrer gröfseren Wohl- gefälligkeit fiele dann mit dem zusammen, was wir über die stärkeren und intensiveren Helligkeiten an sich bereits ausgeführt haben. Allen zieht aber noch einen anderen Umstand zur Er- klärung hinzu. Er weist darauf hin, dafs Grün und Blau bei weitem die verbreitetsten Farben in der Natur sind, da sie die der grasbedeckten Felder, der bewaldeten Strecken, des weiten Ozeans, der Seen und des offenen Himmels über uns sind. „Da* gegen sind Rot und Orange bei weitem die ungebräuchlichsten Farben, da sie, praktisch gesprochen, in der gewöhnlichen un- organischen Umgebung fehlen und nur zum geringen und be- schränkten Teil bei Tier- und Pflanzenorganismen vorkommen.

Gbant Allen, Farbensinn. S. 218.

Zur Theorie der Qefühlstlme der Farbenempfindungen. 259

Daher sind die Teile unseres Auges, die das Rot empfinden, weit weniger geübt, als diejenigen, welche Grün und Blau empfinden. Daraus folgt, dafs es sich im ganzen in jenem labilen und völlig ernährten Zustande befinden, indem sie einer angenehmen Reizung fähig sind. Die Organteile zur Empfindung des Grün und Blau dagegen, die sich gewöhnlich bis zu einem gewissen Grade in Erregung befinden, verschaflfen unter gewöhnlichen Umständen keine positiv angenehmen Gefühle." Kaum annehmbar freilich erscheint dann die weitere Aufstellung Allens, dafs er die Vor- liebe für Rot, Orange und Gelb als vererbt von unseren frucht- fressenden Vorfahren ansieht, da gerade die Farben es seien, durch die sich die Früchte von den umgebenden Massen grünen LÄub Werks unterschieden. Diesen Teil seiner Theorie, den der othodoxe Darwinianer Grant Allen noch um 1880 aufstellen konnte, darf man heute im Zeitalter Weismakns kaum mehr ernsthaft diskutieren.

Wie man sich nun auch zu diesen biologischen Theorien stellen mag, das scheint sicher, dafs man eine stärkere Lust- betonung des Rot annehmen mufs. Nun nimmt auch Ebbiko- HAUS* für die Rotgrünsubstanz im Auge eine besonders starke Zersetzlichkeit an. Wir können also an diese stärkere Zersetzung beim Rotprozefs, gemäfs der dynamischen Gefühlstheorie, auch ein stärkeres Lustgefühl angeknüpft denken. Dafs an solchen Dissimilationsprozessen der Gefühlston haftet, scheint mir auch durch folgende Erfahrung, die ich an mir selbst gemacht habe, bestätigt zu werden. Ich erinnere mich aus meiner Knabenzeit, wo ich mich viel mit Malen beschäftigte, dafs ich eine aus- gesprochene Vorliebe für Blau und Gelb besafs und mich zu- weilen mit meinen Kameraden stritt, die Rot für die schönste Farbe erklärten. Nun stellte sich später bei genauerem Beob- achten bei mir eine gewisse Unsicherheit im Erkennen von Rot und Grün heraus. Das heifst, ich bezeichnete Violett sehr häufig als Blau und Gelbgrün gern als Gelb. Dabei bemerkte ich, dafs ich bei sonst normalem Sehvermögen doch rote Objekte lange nicht auf so grofse Entfernungen zu erkennen vermochte als andere Leute, ungeschickt im Erdbeerfinden usw. war, kurz

* Ebbinghaus a. a. O. S. 236. Speziell für die Rotempfindung legt Lehmann (a. a. 0. II, S. 306) die Verwendung seiner dynamischen Theorie nahe, weil Bot den gröfsten zentralen Energieumsatz hervorrufe.

17*

260 ^^<^- Müller-Freietifels.

Überall da, wo es sich um Rot haadelte. Alles dies wurde von mir erst genau erkamat, als ich in München Kunstgeschidite studierte. Ich führe nun jene Schwäche im Kotsehen auf eine ungenügende Ausbildung der Rotgrünsubstanz in der Netzhant meiner Augen zurück. Das stärkere Lustgefühl, das ich beim Sehen von Blau und Gelb verspürte, wird also wohl auf die hier viel kräftigeren Vorgänge der Dissimilation zurückzuführen sein, während diese bei dem Rot- und Grünsehen etwas verkümmert sein mögen. Ich bemerke hierzu aber noch ausdrückUch, dafs mir diese Tatsachen, das Bevorzugen von Blau und Gelb, ganz bestimmt aus einer Zeit in Erinnerung sind, wo ich von einer genaueren Feststellung meiner Farbentüchtigkeit noch sehr weit entfernt war und noch viel weiter von der hier entwickelten Theorie.

Wenn ich also eine verschieden starke Gefühlsbetonung der einzelnen Farben als im Bau des Auges begründet zugeben kann, so mufs ich doch alle anderen spezielleren Gefühle, die sich mit einzelnen Farben verknüpfen, als assoziiert oder irradiiert er- klären. Schon die grofsen Widersprüche der einzelnen Auf- stellungen müssen darauf führen, dafs hier der physiologische Reiz als solcher nicht von diesen Gefühlen begleitet sein kann. Wenn man nun darauf hingewiesen hat (Höffding), dafs einige dieser Gefühle doch ziemlich allgemein seien, dafs sie also nicht assoziiert sein könnten, so halte ich das nicht für richtig. & gibt eben eine Anzahl von Assoziationen, die durchaus nicht zufälüg sich anschliefsen , sondern in fast regelmäfsiger Ver- bindung mit der Empfindung auftreten. Manches derart kann man mit Kael Groos fast als „Verwachsung" bezeichnen, nicht als blosse Assoziation.

Als Beispiel gebe ich folgendes : Wir sind gewohnt die rot liehen und gelblichen Töne als die „warmen" im Gegensatz zu den „kalten", den blauen und grünUchen, zu stellen. Das ist natürlich nicht zufällig, sondern geht auf die ganz allgemeine Tatsache zurück, dafs jene gelben und roten Töne überall in der Natur erscheinen, sowie die Sonne am Himmel steht. Vcr schwindet die Sonne, so nehmen alle Farben mehr eine blasse, bläuUchere Nuance an. Da nun aber das Auftreten jener gelben und roten Töne stets mit dem Scheinen der Sonne und damit also mit Wärmeempfindungen verknüpft war, so mufste sich gan« allgemein jene Berührungsassoziation bilden, die heute ein fe«ter

Z\ir Theorie der Gefühlstöne der Farhmempfindungou 261

Besitz unserer Sprache geworden ist, ohne dafs wir uns immer der Ursache bewufst zu sein brauchen und es vielleicht uns nur wie eine vage Analogie zwischen optischen und Temperatur- empfindungen anmutet. Die Sprache hat ja überhaupt, wie schon oben angedeutet wurde, eine grofse Rolle speziell für die Verallgemeinerung solcher Assoziationen gespielt. In dieser und ähnlicher Weise werden sich wohl alle jene spezielleren Farben- geföhle, wie sie Goethe, Wundt usw. aufgestellt haben, einer genaueren Analyse als rein assoziativ ergeben, was natürlich, da ganz Individuelles überall mitspielt, hier nicht im einzelnen unternommen werden kann.

6. Verhältnismäfsig leicht erledigen sich die Kombinationen in sogenannten kleinen Intervallen. Strenggenommen handelt es sich hier überhaupt nicht um Kombinationen, sondern das Auge fafst diese kleinen Intervalle gar nicht als verschiedene Farben, sondern durchaus als Einheit auf. Die verschiedenen Nuancen sind nur Modifikationen derselben Farbe, was auch die Ansicht von Bezold ist. ^ Dabei mag es gleichgültig sein, ob das kleine Intervall blofs durch Differenzen der Helligkeit oder durch eine kleine Verschiebung im Spektrum erzeugt ist. Fast immer werden solche kleinen Intervalle aber angewandt, um einen reliefartigen Eindruck zu erzielen, sie treten als Licht und Schatteneffekte auf und gehören, sowie sie auf solche Wirkungen ausgehen, schon nicht mehr den Farbenwirkungen allein, sondern vor allem denjenigen Elementen an, durch die eine räumliche Vorstellung im Beschauer erzielt wird. Das aber wäre dann ein ganz anderes Kapitel. Als Farbenwirkungen allein also an- gesehen, wirken sie nicht als Kombination, sondern nur als ein- heitlicher, wenn auch etwas nuancierter Eindruck.

Bezold^ hat nun des weiteren für diese kleinen Intervalle noch die Regel aufgestellt, dafs bei solchen Kombinationen nächst- benachbarter Töne der wärmere zugleich der hellere sein soll. „Denn während z. B. auf zinnober- oder scharlachrotem Grunde ein Muster von einem dunkleren Rot, das zugleich dem Karmin näher steht, eine vortreffliche Wirkung macht, so wäre eine Zeichnung von dunklem Zinnober oder von einem dem Zinnober entsprechenden Rotbraun auf einem karminroten oder gar auf einem rosenroten Grunde abscheulich. So ist ein Gelbbraun

» V. Bezold a. a. O. 8. 219 f. « Ebda. S. 219 f.

262 Ä«<'Ä. MüUtrFreienfds.

neben Orange sehr häfslich, während ein dunkleres Orange neben hellerem Goldgelb sich gut ausnimmt." Meiner Ansicht nach findet dieser Fall darin seine Erklärung, dafs in den angeführten ungünstigen Fällen durch die Helligkeitswirkung der Eindruck einer einheitlichen, blofs reliefartig belebten Fläche zerstört wird, während das Intervall doch viel zu klein ist, um als kontrast- bildend wohlgefällig zu wirken.

7. Derjenige Teil der Untersuchung, der die meisten Schwierigkeiten bietet, ist ohne Zweifel die Erklärung aller jener Lust- und Unlustgefühle, die aus der Kombination mehrerer Farben entstehen. Nicht nur, dafs wir schon bei unserer Zu- sammenstellung auch der aller allgemeinsten Resultate eine direkte Trennung der Urteile fanden; geht man erst ins einzelne, be- achtet man, wie im Laufe der Zeiten die Gefühle geschwankt haben und wie sie noch in jeder Modesaison sich ändern man frage nur bei edlen Plauen an so scheint die Wirrnis erst völlig unübersehbar. Zwar können wir gleich die gröfste Zalil dieser kleineren Schwankungen als assoziative Beeinflussungen ausschalten aus unserem Untersuchungsgebiet; die Gewöhnung, die Suggestion und Erziehung durchkreuzen hier überall den natürlichen Gefühlsverlauf, dennoch soll versucht werden ihn, wenn auch nur in gröbsten Umrissen darzustellen.

Schon WüNDT hat eine sehr brauchbare Erklärung für jenen Widerspruch gegeben, dafs die einen Beobachter (Goethk, Chevreuil, Cohn) die komplementären Verbindungen, andere aber weniger entfernte Kombinationen für die wohlgefälligsten erklären. Er meint, dafs die betreffenden Autoren zwischen zwei Einflüssen schwankten. Der eine davon sei der Farben- kontrast, der in seiner eigentlichen, simultanen Form am reinsten und zugleich am wenigsten störend für die Einzelwirkungen der Farben bei möglichst fixierendem Blick wirksam wird. „Man wird aber auch nicht fehlgehen, wenn man ihn als einen solchen ansieht, bei dem nicht sowohl ein harmonisches Verhältnis der beiden Empfindungen und ihrer Gefühlstöne, als vielmehr die hierbei bestehende stärkste Hebung jeder einzelnen Farbe und demzufolge auch ihres Gefühlstones wirksam wurde. In der Tat deutet dies Chevreüii. selbst an, wenn er neben dem Gefühlston der Einzelfarbe eine der Kombination als solcher I zukommende ästhetische Bedeutung direkt leugnet. Wo dagegen

; das Maximum der Wohlgefälligkeit auf einen oder, wie es

Zur Theorie dtt' Gefühlstöne der Farhenempfii^ungen. 263

dann in der Regel der Fall ist, auf zwei vom Kontrastverhältnis abweichende Punkte fällt, da wird man annehmen dürfen, dafs die Kombination als solche, relativ unabhängig von den neben- bei vorhandenen Gefühlstönen der Einzelfarben, das ästhetische Elementargefühl bestimmt habe, welches demnach hier erst im eigentlichen Sinne als ein »Harmoniegefühl« in Anspruch zu nehmen wäre. Hieraus ergibt sich aber zugleich als der wahr- scheinlichste Grund dieses Verhältnisses, dafs das Gefühl der Farbenharmonie eben auch hier ein Totalgefühl ist, in das die einzelnen Farben gefühle als Partialgefühle eingehen, ohne dafs darum jenes als eine blofse Addition dieser betrachtet werden darf. Vielmehr wird man es wiederum als eine Resultante betrachten müssen, bei der die eigentümliche Verbindung der partiellen Farbengefühle die Hauptrolle spielt. Je nach der Richtung dieser Verbindung sind daher auch zu einer und der- selben Normalfarbe verschiedene Kombinationen von gleich wohl- gefälliger, aber im Gesamtcharakter doch abweichender Gefühls- beschaffenheit möglich.*' *

Jedenfalls ist es sehr walirscheinlich, dafs diese entgegen- gesetzten Resultate durch eine verschiedene Art und Weise der Betrachtung entstanden sind. Es ist fraglos ein Unterschied, ob ich mir mehr die Wirkung der einzelnen Faktoren oder nur die Gesamtwirkung zum Bewufslsein zu bringen suche. Jenes Fixieren der einzelnen Farben wird dann mehr ein sukzessives Aufnehmen sein, wenn natürlich auch diese Eindrücke zu einem Ganzen verschmelzen und man kann es etwa dem Aufnehmen einer Melodie vergleichen, wo auch die Töne einzeln empfunden werden imd doch als Ganzes zum Bewufstsein kommen, während die zweite Art des Sehens, die Wündt beschreibt, das unana- lytische Aufnehmen eines Ganzen, dem Akkordhören zu ver- gleichen wäre. Und wie wir in sukzessiver Konsonanz manche A^'erbindungen ertragen, die in Akkordwirkung unausstehlich wären, so konnte man vermuten, dafs auch das Auge, wenn es die Farbeneindrücke mehr gesondert aufnimmt, anders reagiert als wenn es nur die Totalität zu erfassen strebt. Noch ein anderes Moment könnte wichtig sein. Es wäre möglich, dafs es einen Unterschied für die Gefühlsbewertung machte, ob man eine Farbenzusammenstellung länger oder kürzer fixierte. Es kann

1 WuNDT a. a. O. III, S. 149.

264 -ßi<^Ä- MüUei'-Freienfeh,

eine solche einem bei raschem Bünblicken ein ganz anderes Gefühl auslösen, als wenn man sie lange und andauernd be- trachtet, manches was einem bei raschem Hinblick recht gut zu stimmen scheint, wirkt bei längerem Fixieren hart und gewaltsam, und gerade das hat man den Komplementärverbindungen oft vorgeworfen. Ich habe nun versucht, durch eine Anzahl von Experimenten das zu erhärten, doch mufste ich leider abstehen, da ich mich überzeugte, dafs die Versuchspersonen sich unmöglich von assoziativen Beeinflussungen freihielten und bei längerem Fixieren leicht Urteilstrübungen durch den ersten Eindruck mit- wirkten. Auch bietet gerade das Vergleichen beim längeren Fixieren, da hier das Gedächtnis zu stark herangezogen werden mufs, sehr bedeutende Schwierigkeiten. Vielleicht ist ein anderer glücklicher als ich. Jedenfalls darf man das wohl als sehr wahr- scheinlich hinstellen, dafs die Verschiedenheit der Urteile, die deutUche Sonderung der Gruppen, auf eine verschiedene Art des Anschauens zurückzuführen ist.

Es wäre auch sehr leicht möglich, dafs, da in der Praxis die Zweifarbenkombination durchaus nicht unbedingt überwiegt, eine Beeinflussung unseres Gefühls durch Triaden anzunehmen wäre. Denn es ist wieder sehr wahrscheinlich, dafs wir uns an Kom- binationen, die wir mit einer dritten Farbe zusammen als lustvoll zu bewerten gewohnt sind, so gewöhnen, dafs wir sie auch einzehi bevorzugen. Doch es kommt nun zunächst darauf an, eine Er- klärung für diese Kombinationswirkungen zu suchen.

WuNDT hat nun, in Übereinstimmung mit Th. Lipps,* eine Theorie aufgestellt, welche die Qualität des Totalgefühls, das durch eine Kombination ausgelöst wird, im Verhältnis der darin enthaltenen Einzelgefühle sehen will. Dieser Kontrast der Partial- gefühle soll erklären, warum das Wohlgefälligkeitsmaximum stets bei gröfseren Qualitätsunterschieden auftritt.*

Ich glaube nicht dafs diese Theorie zu halten ist. Denn erstens ist es um diese „Partialgefühle" eine überaus vage Sache. Der von Wündt ' angegebene schematische Verlauf ist durchaus nicht allgemein erwiesen, imd dann und vor allem sind diese Gefühle (so dafs Gelb Lebhaftigkeit, Blau die Ruhe, Rot die Unruhe vertreten soll), gar nicht Gefühle der Empfindungen,

* L1PP8, Grundtatsachen des Seelenlebens. 1883. S. 290. « Wündt a. a. O. 8. 146. « Ebda. IL S. 330f.

Zur Theorie der Gefühlslöne der Färbt nempßndungen. 265

sondern alle assoziiert und durchaus subjektiv. Dann aber ist diese Aufstellung der eine Kombination eingehenden Gefühle überhaupt hypothetisch und einer Analyse durchaus nicht zu- gänglich, wenigstens habe ich mit bestem Willen an mir der- artige Beobachtungen nicht machen können und die totale Ver- schiedenheit der Ansichten hierüber bestätigt die Unsicherheit darin zur Genüge. Der Grund für diese Lustgefühle mufs viel- mehr ganz wo anders gesucht werden.

Wie den Wirkungen Hchtstarker Farben, so führen wir auch hier alles auf die Dissimilationserscheinungen im Auge, resp. bei den damit verknüpften zentralen Prozessen zurück. Es mufs nun aber gleich vorausgeschickt werden, dafs kein Gedanke daran besteht, die unzählichen in- dividuellen und periodischen Differenzen nur annähernd restlos erklären zu können. Es soll nur nachgewiesen werden, dafs für daß Zustandekommen des Gefühlstones der Farben als ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Faktor, jener Gefühlston, der auf den photochemischen Prozefs im Sehorgane gebunden ist, angesehen werden mufs. Dieser aber wird stets dermafsen von Assoziationen, Suggestionen, Gewöhnungen aller Art be- einflufst, dafs es wohl niemals gelingen wird, in irgend einem Einzelfall ganz diese Knoten zu entwirren. Wir müssen zufrieden sein, wenn wir nur die Hauptelemente, welche diese komplizierten Kombinationen, wie sie die Farbengefühle immer sind, auf- decken und als eines derselben und zwar eines, was immer dabei ist, gilt uns der die physiologischen Vorgänge beim Sehen begleitende Gefühlston.

Da nun aufserdem hinzukommt, dafs auch die genaue Er- forschimg dieser Netzhautprozesse noch aussteht, so wird man es verständlich finden, dafs auch hier nur soweit eine Erklärung einzelner Tatsachen versucht wii'd, als man mit ziemlicher Sicher- heit sich auf die Theorie dieser Netzhautprozesse stützen kann.

Stellen wir zunächst die allerwichtigste Tatsache fest, so ist es die, dafs zu lange Exposition der Netzhaut unter einer Farbe zur Ermüdung und völliger Ab- stumpfung führt, dafs also der betreffende Sehstoff verbraucht wird und diese Erschöpf ung von einem Unlustgefühle begleitet ist. Die Sache ist sehr einleuchtend und bedarf wohl kaum einer weiteren Verteidigung. Sie erklärt auch jenes

266 R^f'h. MiiUer-Freienfels.

Resultat, das Kr. Aabs ' bei seinen Versuchen mit Kindern fand, dafs nämlich beim Vorlegen verschiedener Buntpapiere niemals ein einzelnes besonders bewertet, dagegen stets die Neuheit lustvoll empfunden wurde.

Von demselben Standpunkte aus aber erklärt es sich die Lustwirkung kontrastierender Reize und der Umstaad, dafs ähnliche Netzhautprozesse viel rascher zur Ermüdung führen als ganz entgegengesetzte, da bei ähnlichen Prozessen auch eine stärkere Inanspruchname desselben Stoffes stattfindet. Nimmt man nun noch hinzu, dafs das Auge wie jedes andere Organ ein gewisses Bestreben nach gleichmäfsig verteilter Betätigung hat, so wird man einsehen, das entgegengesetzte Prozesse das Auge in eine bedeutend harmonischere Tätigkeit versetzen müssen als einseitige.

Nun könnte man einwenden, dafs solche Ermüdungserschei- nungen nur dann auftreten, wenn man lange und intensiv eine Farbenzusaramenstellung fixiert, während doch die Erfahrung lehre, dafs wir auch bei flüchtigerem Hinschauen schon ein starkes Unlustgefühl haben können bei schlechten Korabinationen, Dem wäre zu entgegnen, dafs es nicht ausgemacht ist, dafs bei einem so unendlich fein reagierenden Organe wie der Netzhaut, sich auch die geringsten Gleichgewichtsverschiebungen , wenn auch nur schwach bemerkbar machen. Andererseits aber kommen hier für die kürzeren Eindrücke assoziative Einwirkungen in Betracht, die von den längeren Expositionen her datieren. Hat z. B. die Kombination Blau—Grünblau einmal mein entschiedenes Mifsf allen erregt, so ist diese Unlust mit der Vorstellung dieser Kombination verbunden. Nehme ich nun, wenn auch nur für ganz kurze Zeit, diese Verbindung abermals wahr, so erweckt diese Wahrnehmung auch jenes Vorstellungsgefühl, was nim das durch die inadäquate Reizung jetzt liervorgerufene Unlustgefühl entschieden verstärkt. In dieser und ähnücher Weise sind wohl die meisten Unlustgefühle zu erklären.

Immerhin jedoch könnte man diese Theorie noch für allzu negativ halten. Man kann jedoch noch die andere Lehre hinzu- nehmen, dafs durch entgegengesetzte Reize in der Netzhaut antagonistische Prozesse hervorgerufen werden, das heifst,

^ Aars, Der ästhetische Farbensinn bei Kindern. Zeitschr. f. Fsychol, S. 183 ff.

Zur Theorie der Qefühlstöne der Farbenemp findungen. 267

dafß die von dem einen Prozefs zersetzten chemischen Stoffe zu- gleich Material für den entgegengesetzten Prozefs werden. So würden die durch die guten Farbenkombinationen ausgelösten Netzhautprozesse sich gegenseitig ergänzen. Ich imterlasse es jedoch, diese Theorie bis ins einzelne durchzuführen. Noch ist dafür die Lehre vom Antagonismus der Netzhautprozesse allzu hypothetisch und die Meinungen nicht einheitlich genug. Sobald einmal auch durch die genaue anatomische Forschung die Re- sultat« ganz sicher gestellt sind, wird man noch weiter ins ein- zelne die hier vorgetragene Lehre über den Gefühlston befestigen können. Was sich jedoch schon heute als unabweis- bar zu ergeben scheint, ist die Tatsache, dafs die- jenigen Verbindungen, welche wir als die schlechten ansehen, darum unlustvoll wirken, weil sie eine ungleichmäfsige, einseitige Inanspruchnahme der Netzhautprozesse bedeuten, während die „grofsen Intervalle" sowohl die Rotgrünsub-stanz als die Blaugelbsubstanz, wenigstens annähernd gleich- mäfsig erregen oder durch Förderung der anta- gonistischen Prozesse Lust erwecken. Wündts Theorie ven der Kontrastwirkung seiner recht hypothetischen Partial- gefühle wird damit entbehrlich. Nicht durch den Kontrast von Gefühlen, sondern den Kontrast oder vielmehr die Er- gänzung der Empfindungen wird ein Lustgefühl hervor- gerufen. Dafs dabei, besonders auf einer gewissen höchsten Entwicklungsstufe des Farbensinnes nicht unbedingt die komplementären Kombinationen die gröfste Lust hervorrufen, mag man verschieden erklären. Man kann mit Wundt den Randkontrast als störendes Moment heranführen, man kann auch in Anlehnung an die hier vertretenen Anschauungen die Ver- mutung aussprechen, dafs jene komplementären Verbindungen durchaus nicht notwendig die gleichmäfsigste und adäquateste Netzhautreizung zu sein brauchen, da z. B. eine Einwirkimg von Rot und Grün, die Blaugelbsubstanz gar nicht berührten, also auch einseitig wären. Auch können wieder assoziative Ein- wirkungen durchkreuzend dazwischentreten, so dafs aus irgend- welchem äufseren Grunde sich mit einer solchen Verbindung Unlustgefühle verknüpfen. In welcher Weise solche Assoziationen vor sich gehen können, dafür wird noch ein Beispiel erbracht werden, dort, wo die Frage der Sättigung zu erörtern sein wird.

268 -R«*<^Ä. Müller-Freienfels.

Aufserdem kommt ja die oben ausführlich behandelte, an Wusdt angelehnte, Deutung dieser Erscheinung noch hinzu, die einen Unterschied in der Betrachtungsweise feststellte, um so die ver- schiedene Gefühlsbewertung der Komplementärverbindungen zn erklären.

8. Auch für die Zusammenstellungen von drei Farben, die Triaden, läfst sich von unserer Theorie sehr wohl eine Er- klärung linden. Als Prinzip für die Zusammenstellung solcher Triaden hat man die Forderung aufgestellt, dafs die Verwandtschaft von A und B nicht gröfser sein sollte als die zwischen B und C und zwischen A und C, weil sonst unbedingt eine* der Farben zu stark hervortreten würde und die beiden anderen als Paar an- gesehen werden müfsten. Bezold ^ gibt für solche Kombinationen den Rat, aus dem alten zwölfteiligen Farbenkreise die Töne so auszuwählen, dafs zwischen zwei derselben je drei Zwischen- farben eingeschaltet wären. Ganz so schematisch ist nun zwar die grofse Kunst nie verfahren ; das aber ist sicher, dafs gerade solche Dreierverbindungen besonders grofsartige Wirkung erzielt haben. So findet sich von Paolo Veronese mit Vorliebe ver- wandt die Trias Purpur, Gelb, Cyanblau und eine andere Karmin- rot, Gelbgrün, Ultramarin ist bei den Künstlern des Cinquecento besonders in Gunst gewesen. Helmholtz hat besonders auf die Trias: Rot, Grün, Violett hingewiesen. Zu diesen Triaden können natürlich noch andere Farben hinzukommen, wenn auch stets nur in beschränkterem Mafsstabe und am besten solche wie Schwarz, Weifs, Silber, Gold, die an sich nicht allzu starken koloristischen Wert haben, sondern ziemlich neutral wirken, weil sonst die Buntheit allzu grell würde und eine barbarische Un- ruhe hervorgerufen würde.

Von imserem Standpunkt aus nun würden wir sagen, da» es darauf ankommt, die verschiedenen Substanzen der Netzhaut mit den ihnen koordinierten zentralen Prozessen so in Tätigkeit zu versetzen, dafs ein Gleichgewicht besteht, dafs also vielleicht in einer Substanz die antagonistischen Prozesse und in der anderen, etwas weniger stark, ein einzelner Prozefs ausgdöet würde. Denn auch hier soll ein „Bedürfnis nach Totalität"* angenommen werden, freilich nicht in erster Linie der asso- ziierten Gefühle, wie das Goethe ^ sich vorstellte, sondernder Netzhautreizungen, der Empfindungen.

» Bezold a. a. O. S. 235. * Goethe a. a. 0. § 112.

Zur Tfi^mne der GefühUtöive der Farbenempfindungen. 269

9. Eine besondere Schwierigkeit für die Erklärung bietet die Bewertung der gesättigten Nuancen. Wir haben oben her- vorgehoben, dafs wenigstens für die primitivere Psyche die ge- Bättigsten Farben am lustvollsten wirken. Ich glaube nun, dafs man den Grund hierfür nicht wie in den bisher behandelten Fällen in erster Linie in Netzhautprozessen zu suchen hat, sondern dafs hier intellektuelle Tatsachen eingreifen. Die gesättigte Nuance nimmt nicht wie die lichtstarke die Netzhaut besonders in Anspruch, aber sie wird in den meisten Fällen sich stark herausheben aus ihrer Umgebung, Kombinationen gesättigter Farben sind extremer, für den Intellekt leichter wahrnehmbar. Bei PfiEYER^ findet sich eine hierfür wichtige Stelle. Während er beobachtet, dafs hellglänzende Gegenstände beim Kinde lautes Jubeln hervorrufen, bemerkt er, dafs „andere starkgefärbte Ob- jekte" blofs die Aufmerksamkeit des Säuglings erregen. Bei jenen also unmittelbare Wirkung aufs Gefühl, die wir auf jene starke physiologische Betätigung der Netzhaut basierten, bei den nicht lichtstarken, aber extrem gefärbten Objekten nur „Auf- merksamkeit", das heifst eine intellektuelle Betätigung. Das Lustgefühl, das also von diesen Objekten ausgeht, ist kein un- mittelbares, es ist vielmehr, was sogleich zu erhärten sein wird, erst im Anschlufs an diese intellektuellen Prozesse entstanden.

Das Kind, der Wilde, jeder primitivere Mensch aber be- wertet das Auffallende als solches lustvoll. Sein Sinnenleben braucht eine sehr starke Reizung, er sucht vor allem die Mannig- faltigkeit der Eindrücke, je greller um so besser. Nun sind durch grelle Farben die stärksten Gegensätze, die ausgesprochenste Mannigfaltigkeit zu erzielen, die Farben heben sich am leichtesten voneinander ab, infolgedessen sind die Verbindungen solcher sehr gesättigter Farben den Zwecken des Primitiven bedeutend entsprechender. Er braucht, um ästhetisch erregt zu werden, sehr starke Reize, darum mufsten die zur Verwendung gelangenden Kontrastwirkungen möglichst grell sein. Wie die Musik der primitiven Völker nach dem Prinzip „je lauter um so schöner'' verfährt, so auch die Farbengebung „je greller um so schöner".

Man wird also nicht fehl gehen, wenn man die besondere Lastwirkung gesättigter Farben nicht den Farben an sich zu- schreibt, sondern annimmt, dafs erst darum, weil sie in Kom-

Prbtxb a. a. 0. S. 5.

270 R^ch. Müüer-Freienfeh.

binationen am entschiedensten wirkten, diese Tönungen besonders bevorzugt wurden. Und die einmal an dieselben geknüpften Lustempfindungen blieben ihnen auch, wenn man sie allein sah, was übrigens ja nicht oft vorkommt, da irgend ein Hintergrund immer vorhanden ist. Als besonderer negativer Faktor aber kommt bei vielen nicht gesättigten Nuancen die starke Bei- mischung von Grau, das heifst einer lichtschwächenden Beigabe, in Betracht, die das Lustgefühl beeinträchtigte, ja häufig die Assoziation des „Unklaren", „Unreinen*', „Schmutzigen" mit sich brachte.

Bei höherer Entwicklung des Farbensinnes tritt dann die Bevorzugung der grellen Tönungen zurück. Es scheint, dafe die Organe, die durch ästhetische Schulung besonders empfänglich für Reize geworden sind, die allzu starken Reize vermeiden and nur unlustvoll aufnehmen. Während der naive Mensch und Kinder die Blechmusik besonders bevorzugen, gilt als feinste, höchste Kunstart die gedämpfte Kammermusik, das Streich- quartett. So auch beim Auge, dafs bei feinerer Entwicklung durch allzu starke Grellheit beleidigt wird. Paul Verlaine hat in seinem für subtilstes Seelenleben ja so überaus kennzeichnenden Gedichte „Art poetique" dieses Gefühl ausgesprochen : „Car nous voulons la nuance encore pas la couleur, rien que la nuance." Assoziationen, wie die des „Vornehmen", das alles Auffallende vermeidet, mögen mitgewirkt haben. Heute ist uns ja „grell"' mit „bäurisch" fast identisch, wenn wir von Farbengebung reden. Diese beständige Berührungsassoziation, dafs wir das ganz Bunte zumeist bei Bauern und ungebildetem Volke finden, wirkt auf das Gefühlsleben zurück und verstärkt jene ursprüngliche, rein sensorische Abneigung gegen das allzu stark Reizende immer mehr.

Wenn J. Cohns Versuchspersonen mehr die gesättigte Nuance bevorzugten, so mögen auch hier allerlei Assoziationen den Aus- schlag gegeben haben. Das gesättigte Rot oder das gesättigte Blau mochten zugleich als das „vollkommenste" Rot und das „vollkommenste" Blau erscheinen. Solche intellektuellen Ein- flüsse spielen stets hinein, besonders wenn es sich um gebildete, ja philosophisch geschulte Menschen handelt, wie das bei Gohx meist der Fall war. Es kommt aber noch femer hinzu, dafs man überaus gebildet sein und dabei einen ganz unentwickelten

Zur Theorie der Gefühlstöne der Farbenempfindungen. 271

Farbensinn haben kann. Besonders bei der Mehrzahl der männ- lichen Personen, wenn sie nicht gerade Maler, Kunstgewerbler oder ähnUcher Profession sind, dürfte das heutzutage der Fall sein und ihr Farbengeschmack in keiner Weise als irgendwie entwickelt und verfeinert anzusehen sein. Meist sind sie über- haupt unempfänglich für Farbenschönheit. Anders bei Frauen. Diese sind, wie schon oben bemerkt, bei uns die eigentüchen Träger des Farbensinnes, hier wird durch die Mode, den Blumen- kultus usw. das Auge wirklich geschult, und es ist aufserordent- lich charakteristisch, dafs bei den zweiten Versuchen Cohns, wo Frauen herangezogen wurden, alle diejenigen Versuchspersonen, die die ungesättigten Nuancen bevorzugten, weiblichen Ge- schlechtes waren. Das Resultat, wenn man daraufhin die Tabellen ' durchsieht, die Cohn gibt, ist geradezu epatant, wenn auch der Experimentator selbst kaum das beachtet zu haben scheint, wie er überhaupt den so überaus wichtigen Neben- umständen bei Feststellung der Resultate in der ersten Arbeit gar nicht, in der zweiten auch noch viel zu wenig Rechnung trägt. Wir können also sehr wohl annehmen, dafs einem entwickelteren Farbensinn sehr wohl die gesättigteren Nuancen weniger zusagen, was ja auch die Geschichte der Künste durchaus, trotz grofser Schwankungen, bestätigt.

Unschwer zu erledigen ist vom Standpunkte unserer Theorie aus jene Tatsache, dafs Farben von allzu verschiedenem Helligkeitsgrade in Kombinationen sich nicht vertragen. Denn hier haben wir eine zu ungleichmäfsige Reizung der Netz- haut, da die Weifssubstanz ja die allerverbreitetste ist und daher ihre Zersetzung am stärksten empfunden wird. Nicht hierher aber gehört natürlich der Fall, wenn man das Augenmerk nicht so- wohl auf die Zusammenstellung der Farben richtet, sondern wenn ein Ornament tiefschwarz auf helleren Grund gezeichnet ist. Dann ist es überhaupt nicht die Farbenkombination, sondern das Formale, Räumliche, was auf uns wirkt und hierbei wird ein starkes Abheben und damit eine Erleichterung der Auffassung nur lustvoll empfunden.

Als ein solches, nicht sowohl koloristisch, als vielmehr auf die Raumvorstellung wirkendes Element ist auch der Kontour,

» Phüos. Studien 15, S. 285.

272 i?«>Ä. MüUer-Frei€7ifeh.

die Umränderung anzusehen, durch die ja bekanntlich die für die Gefälligkeit der Zusammenstellungen geltenden Regeln mancherlei Verschiebungen erfahren. Das ist wohl nicht allein <lem Umstände zuzuschreiben, dafs durch dieses Trennungsmittel das Auftreten einer Mischfarbe an der Berührungsstelle ver- mieden wird, sondern wohl vor allem darauf, dafs das Auge von der rein koloristischen Reizung abgezogen wird und mehr auf das lineare, formbildende Element des Bildes hin- gelenkt wird, was natürlich eine ganz andere Wirkung be- dingt. So stark macht sich oft die Kontour als trennendes, isolierendes Element geltend, dafs jede Farbe in dem Tone er- scheint, den sie allein auf neutralem Grunde zeigen würde, dafs alBO jede Beeinflussung der Farben untereinander wegfällt. Be- sonders gilt das, wenn die Kontouren Schwarz oder Weifs oder in Silber oder Gold gehalten sind, so dafs sie selbst gar nicht koloristisch sondern rein linear, formbildend wirken.

Die Bestrebungen, mehr das Koloristische oder das Räum- liche hervortreten zu lassen, haben vielfach geschwankt, nicht nur in der Ornamentik, sondern auch in der Malerei. Man spricht heute von dem rein koloristischen, die Modellierung ganz zurückdrängenden Verfahren gern als dem „dekorativen". Die Malerei der Griechen scheint mehr dieser Kunstform gehuldigt zu haben, ebenso die im Mittelalter und noch in der FtLh- renaissance, während mit dem Cinquecento erst die Heraus- arbeitung einer klaren Raumvorstellung in den Vordergrund gerückt wurde, obwohl in Venedig zum Beispiel wieder die Farbe das Mafsgebende war. Heutzutage will man besonders in den im- pressionistischen Bestrebungen wieder alles auf die Farbe stellen und womöglich die Umrisse ganz auflösen, nach dem man vor- her die Farbe ganz vernachlässigt hatte.

Von dem hier vertretenen Standpunkte aus, dafs die ver- schiedenen Netzhautsubstanzen nicht mit gleicher Leichtigkeit zersetzt werden, dafs aber das Auge im allgemeinen nach möglichst gleichmäfsiger Tätigkeit strebt, würde sich auch die Tatsache erhellen lassen, dafs in der Ornamentik wie in der Malerei die verschiedenen Farben durchaus nicht gleichwertig sind. So mufs man kleinere Flächen mit stärker wirkendeu Pigmenten versehen, während gröfsere blassere Farben vertragen, um eine gleichmäfsige Wirkung aufs Auge zu erzielen. Die Untersuchungen hierüber sind noch nicht vertieft genug, uin

Zur Theorie der Oefühlatöne der Farbenempfindungen. 273

eine Theorie genügend zu fundamentieren. Ein Weg jedenfalls ist von Pjebce^ gewiesen, der interessante Versuche über die Symmetriewirkung der Farben anstellte und unter anderem fand, dafs er, um eine symmetrisch wirkende Anordnung zu erzielen, dunklere Farben wie blau, braun, grün weiter von einer ge- gebenen Mittellinie entfernen mufste, als die Lichtstärkeren : rot, orange und weifs. Möglich, dafs, wenn man diese Versuche noch ausdehnte, man zu interessanten Resultaten kommen würde, besonders, wenn man auch die Gröfse der angewandten Farb- flecke in verschiedener Weise variierte.

Ich stelle nun noch einmal kurz ein paar der Hauptpunkte der vorliegenden Untersuchung zusammen : Alle Gefühlstöne, die sich an Farbeneindrücke anknüpfen, sind aufserordentlich kom- plizierte Erscheinungen. Der Gefühlston der Empfindung an sich ist beim erwachsenen Menschen überhaupt nicht isoliert zu finden, immer ist er verbunden und beeinflufst von Vorstellungsgefühlen der mannigfachsten Art. Dennoch ist er vorhanden und zwar wäre er der wichtigste, weil nie ganz fehlende Faktor in jenen kompli- zierten Phänomenen, die wir als Farbengefühle bezeichnen. Als Lust oder Unlust tritt er auf, je nachdem die Reizung der Netzhaut, resp. der koordinierten zentraleren Neuronen die zur Verfügung stehende Dissimilationsenergie in adäquater oder allzu starker Weise erregt. Im allgemeinen aber hat das Organ das Bedürfnis gereizt zu werden und es tritt dann ein Lustgefühl ein. Daher die starke Gefälligkeit aller lichtstarken und glänzenden Gegen- stände. Auch von den einzelnen Teilen des Spektrums gefallen die lichtstarken besser bei der Mehrzahl der Menschen, immer freilich unter der Voraussetzung, dafs assoziative Einflüsse in keiner Weise durchkreuzend eintreten. Die sogenannten „kleineren Intervalle" in Kombinationen sind überhaupt für das Bewufstsein kaum Kombinationen, sondern wirken als Einheit. Die Gefällig- keit dieser liegt zum Teil stets mit an einer reliefartigen, d. h. räumlichen Wirkung. Die Kombinationen der grofsen Intervalle dagegen sind danach lustbetont, je nachdem sie die verschiedenen Netzhautprozesse in gleichmäfsiger Weise in Tätigkeit setzen, ohne eine Art allzusehr in Anspruch zu nehmen, Auch dadurch, dafs sie innerhalb derselben Substanz den antagonistischen

* Edgab Pibrcb, Aesthetics of Simple Forme. I. Symmetry. Psycho!, Ärwew 1, 8. 483 f.

Zeitschrift für Psychologie 46. 18

274 ^^*^' Mmer-FreUnfds.

Prozefs fördern, können sie Instvoll wirken. Eine ailinfihlicbe Abstompfung verschiebt dabei im Laufe der Entwicklung das Wohlgefälligkeitsmaximum von den diametralen Gregensfttzen nach weniger starken, wobei freilich noch andere Einflüsse mit- Bpielen. Wündts Theorie vom Kontrast der Partialgefühle zur Erklärung der Lustwirkung der Farbenkombinationen ist abzu- lehnen. Die WohlgefäUigkeit der stärksten Sättigungsgrade ist nicht mehr reine Empflndungssache, sondern es kommen hier allerlei intellektuelle Einflüsse mit ins Spiel. Diese sind vod der verschiedensten Art, teils von der Stellung der Farbe in Kombination herrührend, teils anderen, individuellen Ursprungs. Die Entwicklung und Schulung des Farbensinns scheint jedoch im allgemeinen das Lustmaximum vom höchsten Sättigungsgrade etwas abzurücken, doch zeigt die Kunstgeschichte, dafs auch Reaktionen häufig eingetreten sind. DaTs bei Ornamenten die eingezeichneten Kontouren die Farbenwerte beeinflussen, liegt vielfach daran, dafs die Aufmerksamkeit des Beschauers dadurch mehr räumlichen Grefühlen zugewandt wird.

Überhaupt aber, das ist nicht oft genug zu wiederholen, gibt es einen Gefijblston der reinen Farbenempfindung nie und nirgends isoliert. Irgendwie spielen immer VorstellungsgefühJe hinein. Und schon darum wird es auf die Dauer sich als unmöglich erweisen, was heute besonders die modernst-französische Malerei und ihre literarischen Herolde als das höchste Ziel der Kunst erstreben, die Vorstellungen möglichst ganz zurückzu- drängen und die Bilder nur als wohlgefällige und geistvolle Farbenkombinationen zu geniefsen. Selbst wenn das möglich wäre, würde sich die Malerei auf die Dauer doch ihres stärksten Wirkungsmittels berauben, was doch immer die an Vor- stellungen geknüpften Gefühle sind. Denn jene EmpfiD- dungsgefühle, selbst wenn man sie wirkUch in Reinkultur darstellen könnte, wären isoliert doch viel zu schwach, um auf die Dauer allein, wenigstens für ein gröfseres Publikum, die ästhetischen Bedürfnisse zu bestreiten.

(Eingegangen am 30. August 1907.)

275

Die angeblich falsche Wissenstheorie der Psychologie^

Ein Protest!

Von RiCHAED Hebbeetz (Boim).

Es mufs in jedem Fall vom methodologischen Standpunkte aus als ein grundsätzlich verfehltes Verfahren bezeichnet werden, wenn man versucht, den Gesamt in halt oder gewisse Teilinhalte einer Wissenschaft dadurch anzugreifen, dafs man die materialen Voraussetzungen dieser Wissenschaft bekämpft. Bei einer Polemik gegen die materialen Voraussetzungen einer Wissen- schaft hat man vielmehr von dem Inhalte derselben zunächst völlig abzusehen. Ebenso hat man eine inhaltliche Kritik von Untersuchimgen über die materialen Voraussetzungen also von erkenntnistheoretischen Untersuchungen frei zu halten.

Gegen diese methodologische Forderimg wird jedoch leider immer und immer wieder verstofsen. Kritiken, in denen Angriffe gegen Inhalt und Voraussetzungen einer Einzelwissenschaft promiscue auftreten, sind noch immer an der Tagesordnung. Namentlich die Psychologie mit ihren noch so Adelumstrittenen materialen Voraussetzungen hat unter derartigen Angriffen viel zu leiden. In der Zeitschrift „Mind" stofsen wir im diesjährigen Januarheft auf einen Artikel, der uns typisch für jene Kampfes- weise zu sein scheint. Es ist daher wohl nicht unangebracht, wenn wir einmal, an der Hand einer Widerlegung dieses Artikels im einzelnen, im Namen der Psychologie Protest gegen die ganze Kategorie solcher Angriffe einlegen.

Der Titel jenes typischen Artikels lautet „Kritik der Be- handlung des Wissens (knowledge) durch die Psychologen" und sein Verfasser H. A. Peichaed wirft diesen Psychologen nicht

mehr und nicht weniger vor, als dafs sie alle miteinander:

18*

276 Richard Herbertz.

1. eine falsche Theorie des Wissens hätten, 2. den eigenartigen Charakter der Subjekt -Objekt -Beziehung, die in jedem Wissen enthalten ist, verkennten und 3. einem falschen Streben huldigten, die psychischen Erscheinungen „erklären" zu wollen.

Man wird nach solch schweren und in solcher Allgemeinheit erhobenen Vorwürfen nun erwarten, dafs wenigstens die haupt- sächlichsten und repräsentativen Arten erkenntnistheoretischer Grundlegungen der Psychologie einer eingehenden Prüfung unterzogen würden. In dieser Erwartung aber sieht man sich getäuscht. Der Verfasser glaubt vielmehr genügende Unterlage zu einem derartigen Vorwurf gegen alle Vertreter der heute „kun*enten" Psychologie zu besitzen, wenn er sich an den Inhalt von drei psychologischen Schriften zweier Verfasser hält. (Elin Artikel des Dr. Ward aus der Encyclopädia Britannica, femer des Dr. Stout Analytic Psychology sowie Manual of Psychology).

Denn diese Schriften sollen „ziemlich gut den Standpunkt der kurrenten Psychologie repräsentieren".

Wir haben die angezogenen Schriften nicht gelesen. Wir halten es aber, bei dem heifsen Streit, der noch heute um die Voraussetzungen sowohl wie um die Inhalte der Psychologie tobt, und bei den grundsätzlich so verschiedenen Standpunkten, die in diesem Streite noch eingenommen werden, a priori für unmöglich, dafs drei Schriften alle diese Standpunkte zu re- präsentieren vermögen. Es scheint uns also hier gleich von vornherein eine durchaus unzuläfsliche Verallgemeinerung vor- zuliegen. Hier müssen wir somit zum ersten Mal Protest einlegen !

Aber unterdrücken wir einmal diesen unseren Widerspruch, um zu sehen, ob die genannten Vorwürfe wenigstens gegen die von Wabd und Stodt vertretene Psychologie soweit wir sie durch Prichabd kennen lernen berechtigt sind. Wir wollen diese Psychologie im folgenden, im Anschlufs an Prichards Aus- druck, kurz die »kurrente Psychologie" nennen.

Gehen wir also die drei Vorwürfe der Reihe nach durch. Da wird erstens behauptet, die kurrente Psychologie stehe auf dem Boden einer falschen Theorie des Wissens. Diese Behaup- tung wird im wesentlichen durch folgenden Gedankengang be- gründet: Nach der eigenen Erklärung jener Psychologie hat sich diese Wissenschaft mit den „Objekten" zu beschäftigen, insofern und insoweit sie Vorstellungen eines individuellen geistigen Sub- jektes sind. Die übrigen Einzel Wissenschaften aber haben sich

Die angeblich falsche WisaenstJieorie der Psychologie, 277

unter den verschiedensten Gesichtspunkten mit eben diesen „Objekten" zu beschäftigen, jedoch unter Abstraktion von der Tatsache, dafs diese Objekte Vorstellungen eines individuellen geistigen Subjektes sind. Nun sind aber vorgestellte Objekte = gewufste Objekte (known objects). Es ergibt sich also, dafs nur die Psychologie es mit den Objekten zu tun hat, soweit sie gewufst sind, die übrigen Einzelwissenschaften dagegen unter Abstraktion von diesem Gewufstwerden. Nun liegt es aber schon in der Bedeutung des Wortes knowledge selbst, dafs sein Objekt das gewufste Objekt sein mufs. Schlufsfolgerung : Die ganze Unterscheidung der Psycho- logie zwischen dem Objekt qua gewufstes Objekt und dem Objekt unter Abstraktion von seinem Gewufstwerden ist hin- fälüg. Die Psychologie und die übrigen Einzelwissenschaften geben in gleicher Weise auf die gleichen realen Objekte. Es ist daher eine willkürliche Konstruktion der kurrenten Psycho- logie, wenn sie die vorgestellten Objekte (the objects as presented) gleichsam wie eine Wand zwischen den Geist und die aufser- bewufste Realität schiebt. Das Objekt des Bewufstseins, mit dem es die Psychologie zu tun hat, und die Objekte des Wissens, mit denen es die übrigen Wissenschaften zu tun haben, fallen untereinander und mit den realen aufserbewufsten und aufser- gewufsten Objekten zusammen.

Soweit Päichabd.

Gegen seine Argumentation geben wir folgendes zu bedenken : 1. Sie enthält eine Quaternio terminorum, denn sie braucht daö Wort „known" in zwei verschiedenen Bedeutungen. In dem Satze: „die vorgestellten Objekte sind „known objects"" bedeutet nämlich letzterer Ausdruck soviel als: Objekte des Bewufstseins, oder (wie wir zur Vermeidung von Mifsverständnissen lieber sagen möchten), Inhalte des Bewufstseins, Bewufstseinsinhalte.

In dem Satze: „das Wort Knowledge selbst involviert, dals die Objekte der knowledge known objects sind", bedeutet „known objects" soviel als: Objekte des Wissens, Wissensinhalte.

2. Die Behauptung, dafs die Bewufstseinsinhalte als solche und die Wissensinhalte als solche, sowohl miteinander als auch mit den realen Objekten zusammenfallen, mit der die ganze Argumentation steht und fällt, ist von Phichard nicht sowohl bewiesen als stillschweigend vorausgesetzt. Wir möchten daher der PKiCHAEDschen Argumentation unsere Ansicht gegenüber-

278 Richard Herbei tz.

stellen hinsichtlich: 1. des Verhältnisses zwischen Bewnrstseiii&- inhalten und Wissensinhalten, 2. des Verhältnisses zwischen diesen beiden Inhalten einerseits und den realen Objekten andererseits.

ad 1. Alle Einzelwissenschaften die Psychologie ein- geschlossen — suchen die Gegenstände menschlichen Denkens in ihren Beschaffenheiten und gegenseitigen Beziehungen zu er- mitteln mit dem Ziele, allgemeingültige Urteile hierüber zu g^ winnen. Ein Gegenstand des Denkens, der auf diese Weise in den Kreis wissenschaftlicher Untersuchungen hineingezogen ist, und über den Bestimmungen mit dem Anspruch auf Allgemein- gültigkeit getroffen worden sind, ist damit Gegenstand de? Wissens geworden. Nun können wir aber auf Grund von Selbst- beobachtung auch die Bewufstseinsinhalte, die wir unmittelbar in uns als wirklich erleben, miteinander vergleichen und von- einander unterscheiden, d. h. wir können sie zu Gegenständen des Denkens machen. Treffen wir alsdann über sie allgemein- gültige Bestimmungen, so sind sie damit des Weiteren auch Wissensinhalte geworden. Die Bewufstseinsinhalte und die Wissensinhalte fallen also nicht schlechthin zusammen. Die Be- wufstseinsinhalte sind viehnehr Gegenstände möglichen Wissens, neben anderen. Die Einzelwissenschaften aber haben die Ge- samtsumme der Gegenstände möglichen Wissens in bestimmter Weise unter sich verteilt. Die Psychologie ordnet sich daher an einer ganz bestimmten Stelle in den Kreis der Einzelwissen- schaften ein. Es ist daher keine Willkür, sondern eine in der Natur der Sache selbst gelegene Notwendigkeit, wenn man den Gegenstand der Psychologie von den Gegenständen der übrigen Einzelwissenschaften scheidet.

ad 2. Unser Wissen (knowledge) ist der Inbegriff allgemein- gültiger Bestimmungen, die wir über den Bestand und die gegen seitigen Beziehungen der Gegenstände des Denkens ermittelt haben. Aber weder das von uns durch psychologische noch durch sonstige einzelwissenschaftliche Forschung erworbene Wissen setzt schon seinem Begriffe nach eine IdentitÄt der ge wufsten Gegenstände mit den realen Gegenständen voraus. Der Begriff des Wissens als solcher läfst es vielmehr vollständig un- entschieden, ob hier Identität vorliegt oder nicht. Die Gegen- stände des Wissens sind Gegenstände des Denkens. Die über solche Gegenstände des Denkens in wissenschaftlichen Urteilen

Die angeblich falsche Wissenstheorie der Psychologie. 279

ausgesprochenen Behauptungen die Wissensinhalte also sind in ihrem Gültigkeitsanspruch vollständig unabhängig von ihrer Beziehung auf ein aufsergewufstes Wirkliches. Man kann über diese Beziehung bestimmte materiale Voraussetzungen machen. Letztere haben dann aber mit den einzelwissenschaft- lichen Wissensinhalten und deren Gültigkeitsanspruch nichts zu tun. Sie dürfen in den Kreis einzelwissenschaftlicher Unter- suchungen nicht hineingezogen werden (eine solche einzelwissen- schaftliche Untersuchung ist zum Beispiel auch die Psychologie des Wissens !), sondern müssen der Erkenntnistheorie vorbehalten bleiben. Es ist daher auch keineswegs eine Konstruktion der kurrenten Psychologie, wenn diese ihre Urteile nicht unmittelbar auf die realen Gegenstände bezieht, sondern auf einen ganz be- stimmten Kjeis von Gegenständen des Denkens.

Es ist vielmehr umgekehrt eine Konstruktion Pkichabds, wenn er die Gegenstände der Psychologie und übrigen Einzel- wissenschaften als solche mit den realen aufserbewufsten und aufsergewufsten Gegenständen zusammenfallen lassen will; und zwar eine Konstruktion, die dadurch entsteht, dafs Pbiohabd Konsequenzen aus einem ganz bestimmten erkenntnistheoretischen Standpunkt unzulässigerweise in den Inhalt psychologischer Betrachtungen hineinträgt.

Somit mufs es als eine ungerechtfertigte Beschuldigung an- gesehen werden, wenn Peichabd der kurrenten Psychologie vor- wirft, sie stelle sich durch Trennung ihrer Objekte von den übrigen einzelwissenschaftlichen sowohl wie von den realen Ob- jekten — auf den Boden einer falschen Theorie des Wissens. Dieser ungerechtfertigten Beschuldigung gilt also unser zweiter Protest.

Im Zusammenhang hiermit steht die unseres Erachtens un- zutreffende Auffassung, welche Prichakd von der geschicht- lichen Entwicklung hat, der die von ihm bekämpfte Wissenstheorie ihr Entstehen verdanken soll. Das nganov xpevdog liegt hier nach Prichabds Ansicht in dem LocKEschen Ausspruch: „Eine Idee ist alles, was irgendwie Objekt des Verstandes (understanding) werden kann, wenn der Mensch denkt". Dieser Ausspruch soll nämlich alle Knowledge von vornherein zur Unmöglichkeit machen. Denn indem er das Denken oder Wissen einfach als eine nicht weiter zu kritisierende Tatsache hinstelle und keinen Versuch mache, die Korrektheit dieses Wissens zu untersuchen, lasse er die

280 Eichard Herhertz.

Möglichkeit offen, dars alles Wissen gänzlich und von Natur aus inkorrekt sei. Das Kriterium der Wahrheit scheint demnach für Pbichabd nicht in der Denknotwendigkeit und Gewifsheit zu be- stehen, sondern, ganz im Sinne des alten Rationalismus, in der Übereinstimmung einer Vorstellung mit dem auTserbewuIsteii Gegenstand, auf welchen sie sich bezieht. Die LocKEscben Ideen, als Grundelemente, aus denen sich alles Wissen zusammen- setzt, tragen daher für Pbichabd nicht die Bürgschaft ihrer Korrektheit in sich, sie verbürgen kein wahres Wissen. Denn dieses müfste ein Wissen von den realen Dingen selbst, nicht ein Wissen von den Ideen sein. In der LocKEschen Ansicht nach der alles Wissen zuletzt auf die einfachen Ideen der Sen- sation und Reflexion zurückgeführt werden kann, liegt also für Pbichabd die philosophiegeschichtliche Grundlage zu jener „idealistischen" Auffassung, welche gleichsam eine Wand zwischen die ReaUtät und den denkenden G^ist schiebt und letzterem da- durch von vornherein die Realität unzugänglich macht. Wir werden dadurch in unserem Wissen auf unsere Ideen, d. h. auf Modifikationen unseres denkenden Geistes selbst beschränkt, und dieser denkende Geist ist gleichviel was er ist! jedenfalls nicht die Realität, welche wir in unserem Wissen zu erfassen wünschen.

Die innere Unhaltbarkeit des LocKKschen Standpunktes führte dann angeblich Bebkeley zu seiner Frage : Was brauchen wir die aufserbewufste materielle Realität, wenn sie unserem Erkennen doch verschlossen bleibt? Fort mit ihr! Unser Wissen vX einzig und allein ein Wissen von unseren Perzeptionen und deren Aufeinandei-folge. Realität ist diesen Perzeptionen nicht durch die Beziehung auf ein materielles aufserbewufstes Wirk- liches gesichert, sondern sie besteht in eben ihrer vorsteUungs- mäfsigen Wirklichkeit. Das Esse der Perzeptionen ist ihr Percipi.

Ausgehend von dem verhängnisvollen Irrtum Lockes, der nur die Ideen, nicht die realen Gegenstände als Objekte des Verstandes anerkennen will, läuft jene ganze Entwicklung schliefslich in den sog. „subjektiven Idealismus" hinaus, der da lehrt, dafs unser Wissen kein Wissen von den realen Objekten, sondern nur von den Modifikationen unseres Geistes ist. Ind dieser subjektive IdeaUsmus ist der grundsätzliche Standpunkt der heutigen kurrenten Psychologie. Er ist es, der diese Psycho-

Die angeblich falsche Wissenstheorie der Psychologie, 281

logie zu ihrer falschen Lehre vom Wissen verleitet. Locke also ist auch hier zuletzt an allem Unheil schuld. So wenigstens behauptet Pbichabd.

Beginnen wir die Kritik dieser Behauptung mit einem Ein- wand, den Prichabd sich selbst macht. Wenn ich mit Locke einen vorgestellten Stein eine Idee nenne, dann will ich damit keineswegs die aufserbewurste Realität des Steines leugnen. Ich will damit vielmehr nur zum Ausdruck bringen, dafs es eine BewuTstseinsrealität gibt, die die Vorstellung „Stein" zum Inhalt hat. Wie sich diese Bewulstseinsrealität zur aufserbewufsten Realität verhält, weifs ich nicht. Denn diese aufserbewufste Re- alität und damit auch ihre Beziehung zum Bewufstsein und seinen Inhalten, ist I know not what. Der angegriffene „kurrente" Psychologe würde u. E. einen solchen Einwand durchaus mit Recht machen. Prichabd fertigt ihn mit der Behauptung ab, es sei ein Postulat unseres Denkens, dafs alles Gewufste eine vom Wissen selbst unabhängige Existenz habe. Das liege schon im blofsen Begriffe des Wissens.

Richtig verstanden enthält diese Behauptung einen wahren Kern. Die Gegenstände des Denkens erweisen sich insoweit wir sie, für die Zwecke der Wissenschaften, durch Abstraktion aus den Daten der Sinneswahrnehmung gewinnen in ihrem Bestände und in ihren gegenseitigen Beziehungen als unabhängig von uns, als denkenden Subjekten. Wir können und müssen somit in den Wissenschaften über die Gegenstände des Denkens allgemeingültige Urteile fällen, die völlig unbeeinfiufst und völlig unabhängig von allen Zutaten des denkenden Subjektes sind. Hierin besteht die geforderte und gerühmte „Objektivität" der Wissenschaft. Sie besteht also nicht etwa darin, dals ihre Gegenstände die realen Objekte selbst und nicht Gegenstände des Denkens wären, oder darin, dafs ihre Gegenstände zwar Gegenstände des Denkens aber als solche zugleich mit den realen Objekten identisch wären. Wir vermögen nicht einzu- sehen, dafs diese Identität ein Postulat unseres Denkens sein soll. Sie scheint uns vielmehr lediglich die Folgerung aus einem ganz bestimmten nämlich dem PßiCHABnschen erkenntnistheo- retischen Standpunkt zu sein. Es ist also eine Petitio principii, wenn man jene Folgerung einfach als Postulat unseres Denkens dekretiert und dann der kurrenten Psychologie dadurch einen

282 Richard Herbertz.

Strick zu drehen versucht, dafs man sie als im Widerspruch zu jenem vermeintlichen Postulate stehend bezeichnet.

Die ganze Argumentation erinnert auffallend an die Art und Weise, in der einst der Common Sense Philosoph Thomas Reid gegen seine empiristischen Vorgänger polemisierte. Auch Reid bezeichnete Lockes, Berkeleys und vor allem Humes Lehre als Idealismus. Er macht ihr zum Vorwurf, dafs ihre AVeit der Ideen, losgelöst von den realen Objekten sowohl wie vom realen Subjekt, gleichsam frei schwebe und so ein schemenhaftes Dasein führe, das unter den Stürmen des skeptischen Zweifels notwendig in nichts zerfliefsen müsse. Reid behauptet demgegenüber, dafs alle Bewufstseinsinhalte die Beziehung auf ein reales Subjekt und Objekt als immanenten Bestandteil in sich schliefsen. Und zwar ist das Bewufstsein von dieser Beziehung mit einem eigentümlichen Gültigkeitsgefühl (Belief) verknüpft und beruht auf einer natürlichen Anlage unseres Geistes selbst. Die Be- ziehung der Bewufstseinsinhalte auf ein reales Objekt und Subjekt ist somit eine Wahrheit des natürlichen gesunden Menschen- verstandes und als solche höher als alle philosophierende Vernunft.

Wir haben in der Tat auch bei der Lektüre des Pricblakih sehen Aufsatzes erwartet, die Berufung auf den gesunden Menschenverstand irgendwo auftauchen zu sehen zur Begründung der Behauptung, das die Gegenstände des Wissens identisch seien mit den realen Objekten. Es wäre das ein kurzes und einfaches Verfahren gewesen I

Prichard hätte dann wie einst Reid „auf dem Faul- bette des gesunden Menschenverstandes*' sich aller ernstlichen Arbeit an den erkenntnistheoretischen Problemen entziehen können. Es findet sich aber bei Prichard diese Berufung auf den gesunden Menschenverstand nicht vor, wenigstens nicht unmittelbar. Wohl etwas Ähnliches I Er sagt nämlich, es wider- streite der Natur des Wissens selbst, anzunehmen, dafs das gewufste Objekt nicht mit dem realen Objekte zusammen- falle; es sei der dieser Annahme w^idersprechende „Druck der realen Tatsachen selbst** zu grofs, usw.

Allen diesen Behauptungen gegenüber gilt es zunächst den philosophiegeschichtlichen Zusammenhang richtig zu stellen. Ist durch Lockes Definition: „Eine Idee ist alles, was Objekt des menschlichen Verstandes ist, wenn ein Mensch denkt''

Die angeblich falsche Wissenstheorie der Psychologie. 283

das erkenntnistheoretische Problem wirklich in die Bahnen eines subjektiven Idealismus gelenkt und damit von vornherein in einen hoffnungslosen Zustand gebracht worden? Steckt wirklich in irgend einer Form von Idealismus das philosophie- geschichtlich bedeutsame Moment in der Lehre der grofsen englischen Empiristen? Wir glauben kaum! Denn was heifst Idealismus? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, denn wir haben es hier mit einem philosophischen Terminus zu tun, der zur Bezeichnung einer bestimmten Richtung innerhalb der ver- schiedenartigsten Problemzusammenhänge benutzt wird. Für unseren Zusammenhang, in dem es sieh um die erkenntnis- theoretischen Voraussetzungen der kurrenten Psychologie handelt, kann der Terminus nur in seiner erkenntnistheoretischen Be- deutung ins Treffen geführt werden. Wir werden also unter Idealismus etwa zu verstehen haben: „denjenigen erkenntnis- theoretischen Standpunkt, der einiges oder alles an der Erkennt- nis für subjektiven Ursprunges, für abhängig von der Kon- stitution des Geistes, für blofse Vorstellung (Idee) hält" (Falkek- BERo). Gegensatz ist dann offenbar ein Realismus, der unsere Erkenntnisse ihrem Ursprung nach für mehr oder weniger unab- hängig von subjektiven Momenten erklärt.

Wollen nun so haben wir demnach zu fragen Locke, Berkeley uud Hume behaupten, dafs unsere Erkenntnisse ihrem Ursprünge nach wesentlich abhängig von subjektiven Momenten seien, wenn sie erklären, dafs alle diese unsere Erkenntnisse sich zuletzt auf das einfache Material unserer „Ideen*' der Sensation (und Reflexion) zui-ückführen lassen? Wir glauben nicht, dafs <lie genannten Empiristen diese Behauptung aufstellen wollen. Wir finden \äelmehr überall Erklärungen, die im entgegen- gesetzten Sinne aufzufassen sind. Locke lehrt, dafs die Tatsache der Existenz unserer Sensationsideen die Existenz aufserbewufster Dinge verbürge. Wenn die aufserbewufsten Dinge auf den Geist einwirken, so rufen sie in ihm die Sensationsideen hervor und diese sind in ihrem Ursprung völlig von jenen abhängig. Berkeley weist es ebenfalls energisch zurück, dafs man seinen Perzeptionen lediglich subjektiven Ursprung zuschreibt. Er erklärt ausdrücklich, dafs wir unsere Perzeptionen nicht selbst hervorbringen können, dafs diese vielmehr eine äufsere Ursache haben müssen. Wenn er dann weiter diese äufsere Ursache nicht in materiellen Substanzen sondern in Geistern sucht, so

284 Richard Herhertz,

ist das nicht (erkenntnistheoretischer) Idealismus sondern (meta- physischer) Immaterialismus.

Auch HuME hat sich in ähnhcher Weise ausgesprochen. Es ist auch für ihn völlig ausgeschlossen, dafs unsere Perzeptionen rein subjektiven Ursprunges sein und aus der Energie des Geistes selbst entstammen können. Es gilt ihm vielmehr als sicher, dafs die Impressionen im Geiste auf Grund irgendwelcher (wenn auch unbekannter) Ursachen entstehen und dafs der Verlauf unserer Impressionen durch aufserbewufste (wenn auch geheime) Kräfte geregelt ist.

Die Empiristen lehren also nicht, dafs es keine aufser- bewufsten Gegenstände der Ideen gäbe. Sie lehren ebenfalls nicht, dafs unsere Ideen ohne Beziehung zu solchen aufser- bewufsten Gegenständen seien.

Eine solche Beziehung lassen sie vielmehr ausdrücklich be- stehen durch die Anerkenntnis, dafs die Ideen ihrem Ursprung nach von etwas Aufserbewufstem abhängig sind.

Dagegen behaupten sie, dafs sowohl die aufserbewufsteu Gegenstände selbst, als auch die Natur der Beziehung zwischen diesen und unseren Ideen unserer Erkenntnis stets und not- wendig verschlossen bleibe.

Die Bedeutung des englischen Empirismus liegt darin, dafs er dem alten Rationalismus folgende Thesen entgegensetzt: 1. All unsere Erkenntnis stammt einzig und allein aus der Erfahrung. 2. Sie geht in keinem Falle über den Kreis mög- licher Erfahrung hinaus.

Das Aufserbewufste liegt aber auch aufserhalb des Kreises des Erfahrbaren. Daher kann weder das Aufserbewufste selbst erkannt werden, noch auch die Beziehung, in welcher unsere Ideen zu ihm stehen. Das heilst aber keineswegs, dafs überhaupt keine solche Beziehung vorhanden sei und die Ideen nur sub- jektive Bedeutung und ihren Ursprung in der Konstitution unseres Geistes selbst haben.

Die Frage, w^elche Pkichard beschäftigt, die Frage also nacli der Beziehung unserer Ideen oder Wissensinhalte auf eine aufser- bewufste Wirklichkeit, lehnen die Empiristen ab, weil sie den Kreis möglicher Erfahrung überschreite und daher unbeantwortbar sei. Sie setzen sich damit in Gegensatz zu dem überlieferten Rationalismus, welcher die Frage nach der Beziehung unserer Wissensinhalte auf das Wirkliche dahin beantwortete, dafs er

Die angeblich falsche Wissenstheorie der Psychologie. 285

behauptete, unser denkendes Erkennen unsere Ratio vermöge das Wesen dieses Wirklichen adäquat zu erfassen.

Sie setzen sich damit aber nicht als Idealisten in Gegen- satz zu irgend einer Form des Realismus. Denn sie geben auf die Frage nach der Beziehung der Ideen auf das aufserbewufste Wirkliche, mit der es der Idealismus-Realismus-Streit zu tun hat, überhaupt keine Antwort, erklären sie für unbeantwortbar.

Es ist also an der Zeit, dafs man die Probleme Idealismus- Realismus und Empirismus-Rationalismus endlich einmal gründ- lich aus der Verschlingung löst, in die sie durch Reid gebracht worden sind und in der sie bei Pbichabd verharren. Wer hier nicht zu trennen vermag, was zu trennen ist, dem mufs für die geniale erkenntnistheoretische Grofstat des KANTschen Kritizismus das Verständnis völlig verschlossen bleiben.

Dem philosophiegeschichtlichen Mifsverständnis aber , das die angeblich falsche Wissenstheorie der kurrenten Psychologie auf einen idealistischen Irrtum Lockes und seiner empiristischen Nachfolger zurückführen will, gilt unser dritter Protest.

Nach alle dem können wir die übrigen Vorwürfe, welchePRiCHARD gegen die kurrente Psychologie erhebt, kurz abtun. Sie sind eigent- lich schon durch die vorhergehenden Ausführungen mit erledigt.

Die Psychologie verkennt so lautet der zweite Vorwurf den eigentümlichen Charakter der Subjekt-Objekt-Beziehung, wie sie im Wissen vorliegt. Sie will unterscheiden zwischen dem Stuhl als solchem und der Vorstellung von einem Stuhle, also dem Akte eines psychischen Individuums, in welchem sich dieses bewufst wird, dafs der Stuhl so und so beschaffen ist. Aber diese Unterscheidung verhilft der Psychologie nicht zu der von ihr gewünschten Trennung ihrer Gegenstände von denen der übrigen Einzelwissenschaften. Denn eine Vorstellung ist weit davon entfernt ein Akt zu sein, wie oben beschrieben. Es gibt keine Aktionen unseres Geistes durch die wir Gegenstände schaffen, welche wir alsdann zu Inhalten unseres psycho- logischen Wissens machen. Diese psychologischen Wissensinhalte setzen sich nicht aus besonderen, gleichsam erst zwischen Geist und Realität zwischengeschobenen, vorgestellten Gegenständen oder Ideen zusammen, sondern sie gehen genau wie die übrigen Einzel- wissenschaften, unmittelbar auf die realen Gegenstände selbst. Ganz allgemein also geht unser Wissen unmittelbar auf diese realen Gegenstände selbst.

286 RicJtard Herhertz.

Die Psychologie studiert also nicht wie die kurrente An- sicht behauptet die Welt als vorgestellte Welt. Die Hinzu- fügung von: „als vorgestellte" kann die Bedeutung des Wortes „Welt" nicht ändern. „Die Psychologie studiert die vorgestellte Welt", würde im Grunde nichts anderes heifsen, als „die Psycho- logie studiert die Welt". Damit wäre aber die Psychologie gegen die übrigen Einzelwissenschaften nicht abgegrenzt.

Soweit wieder Prichaui). Es ist hiergegen alles das vorzu- bringen, was auch gegen den ersten Vorwurf vorzubringen war. Wir wiederholen, dafs es kein Postulat unseres Denkens, sondern nur die Konsequenz einer bestimmten erkenntnistbeoretischen Lehrmeinung ist, wenn man die Identität der Gegenstände unseres Wissens mit den aufsergewufsten Gegenständen für ge- sichert hält. Die kurrente Psychologie hat, ebensowenig wie die übrigen Einzelwissenschaften, etwas mit dieser Frage der Identität oder Nichtidentität zu schaffen. Die Beziehung der Gegenstände des Denkens auf das Wirkliche geht diese Disziplinen nichts an, sondern sie bleibt einzig und allein der Erkenntnistheorie zur Untersuchung vorbehalten. Von der Entscheidung, welche die Erkenntnistheorie über diese Frage trifft, müssen die Einzel- wissenschaften sowohl ihrem Inhalte als auch der wechselseitigen Abgrenzung ihrer Gegenstände nach völlig unangefochten bleiben.

Dehnen wir nunmehr unsere Betrachtung über die bisher als kurrente Psychologie bezeichnete Psychologie des Dr. Ward und Stuut hinaus, so glauben wir, gleich von vornherein die Psycho- logie so definieren zu können, dafs die PRicHABDschen Angiiffe sie schon ex definitione nicht treffen können. Z. B. : Die Psycho- logie ist die Lehre von den geistigen Vorgängen als solchen, sowie von dem Zusammenhange dieser geistigen Vorgänge mit gewissen organischen Bewegungsvorgängen. Diese Definition will keineswegs den Anspruch für sich erheben, mustergültig zu sein, oder von allen Psychologen anerkannt werden zu müssen. Sie soll nur eine von den vielen möglichen Definitionen der Psycho- logie sein, die zeigen, dafs das Gebiet der Psychologie völlig eindeutig gegen die Gebiete der übrigen Einzelwissenschaften abgegrenzt werden kann und dafs die Lehren der Psychologie als solche unmöglich in irgendwelchen Widerspruch treten können zu Annahmen, die man hinsichtlich der im Wissen vorliegenden Subjekt-Objekt-Beziehung macht.

Der Behauptung also, dafs die heutige Psychologie notwendig

Die angeblich falsche WiBsenstheorie der Psychologie. 287

das Wesen der eigentümlichen Subjekt-Objekt-Beziehung verkenne, die im Wissen vorliegt, gilt unser vierter Protest.

Der dritte und letzte Vorwurf Prichaeds gegen die kurrente Psychologie behauptet, dafs diese von einem unzulänglichen Streben beseelt sei, „Erklärungen" geben zu wollen. Sie sucht die höheren und entwicklnngsgeschichtlich späteren geistigm Prozesse aus den niederen und entwicklnngsgeschichtlich früheren abzuleiten. Worin aber so wird sich Prichard fragen kann dieses Streben anders seinen Ursprung haben, als eben in jener bekämpften falschen Wissenstheorie der Psychologie? Diese Wissentheorie stützt sich auf die LocKEsche Ideeulehre und meint, einen geistigen Vorgang erklärt zu haben, wenn sie ihn auf ein- fache Ideen zurückgeführt hat. Für Prichard aber liegt in einer solchen Zurückführung durchaus nichts Erklärendes. Es läfst sich hier überhaupt nichts erklären. Jeder geistige Prozefs ist etwas so eigenartiges, dafs er aus einem anderen ebensowenig abgeleitet und verständlich gemacht werden kann, wie etwa der Geist selbst aus der Materie.

Wenn Prichard mit den Behauptungen, die er der Wissens- theorie der kurrenten Psychologie entgegensetzte, sich dem alten Rationalismus bedenklich näherte, so segelt er bei seiner Be- kämpfung der psychologischen „Erklärungen" bereits völlig in rationalistischem Fahrwasser. Er fordert demgemäfs, dafs solche Erklärungsversuche der alten Vermögenspsychologie wieder Platz machen sollen und erklärt die Psychologie Platos und Aristo- teles' für die beste I

Wir aber wollen, bei aller Anerkennung der Verdienste dieser rationalistischen Psychologie im einzelnen, dennoch in der Um- wandlung der Psychologie in eine reine Erfahrungswissenschaft in jener Umwandlung also, die erst mit den englischen Empiristen in entscheidender Weise einsetzte einen bedeutenden grundsätzlichen Fortschritt sehen.

Wir wollen es uns nicht nehmen lassen, solche psychologische „Erklärungen*' stets mit Freude zu begrüfsen, die erfolgreich darauf ausgehen, komplizierte und uns ihrem Bestände nach problematische geistige Vorgänge auf einfachere und uns relativ bekanntere zurückzuführen.

(Eingegayufen am 26, September 1907.)

288

Literaturbericht.

Th. Ziehbn. Leitfaden der physiolOKlschen Psychologie in 15 Torlesnngei.

Siebente teilweise umgearbeitete Auflage. Jena, Gustav Fischer. 1906.

IV u. 280 S. Die Vorzüge dieses beliebten Lehrbuchs der Psychologie sind bekannt und bedürfen für den Leser dieser Zeitschrift wohl kaum besonderer Her- vorhebung. Die Veränderungen der neuen Auflage sind nicht tiefgreifend. Dafs das Buch prinzipiell auf Vollständigkeit der Literaturabersicht ver- zichtet, dafs es auch die neuesten Untersuchungen nur teilweise berück- sichtigt, kommt der Knappheit und Geschlossenheit der Darstellung zweifellos zugute und beeinträchtigt den Wert einer auf 15 Vorlesungen beschränkten, im übrigen reichliche Anregung zum Weiterstudium gebenden Einführung für Anfänger kaum wesentlich. Dürr (Bern).

W. B. PiLLSBUBY. The Ego and Empirical Psycbology. Phüosophical Bevieu: 16

(4), S. 387—407. 1907. Die Psychologen, die neben den einzelnen psychischen Ereignissen ein selbständiges Ich annehmen zu müssen glauben, gehen dabei von folgenden drei Voraussetzungen aus: 1. Zum Erkennen ist etwas, das erkennt, erforderlich; 2. die psychischen Zustände können nur durch eine einheitliche Substanz Einheit erhalten; 3. in einer blofsen Reihe diskreter psychischer Zustände kann weder Zusammenhang noch Identität herrschen. Aber diese drei Voraussetzungen sind falsch: Die Einheit und Identität des psychischen Lebens kommt dadurch zustande, dafs jeder gegenwärtige Zustand in hohem Grade mitbedingt ist durch frühere vielleicht dnrch sämtliche früheren Zustände, und „Erkennen ist nur ein ProzeDs des Kombinierens alter psychischer Zustände mit neuen. Wenn etwas, das erkennt, vorhanden ist, so ist es die Erfahrung als Ganzes''.

LiFHANN (Berlin).

Bayhond Dodge. An Improved Exposnre Apparatns. Psychol BiUletin, vol 4 (1), 10-13. 1907. Das Prinzip dieses Expositionsapparates besteht darin, das zu expo- nierende Objekt während der Expositionszeit zu beleuchten; und zwar be- findet sich das Objekt nicht direkt in der Blicklinie des Beobachters, sondern seitwärts davon, so dafs die Lichtstrahlen durch einen unbelegten Glasspiegel ins Auge geworfen werden. Die letztere Einrichtung ennög-

Literaturbericht. 289

licht es, das Fizationsfeld vor und nach der Exposition in beliebiger Weise auszufüllen, indem in der Blicklinie des Beobachters ein zweites (beliebig zu wechselndes und zu beleuchtendes) Objekt liegt, dessen Lichtstrahlen den unbelegten Glasspiegel ungehindert passieren können. Die Anwendung des Apparates geschieht in der Weise, dafs zuerst das in der Blicklinie liegende Objekt beleuchtet wird, sodann durch eine besondere Vorrichtung gleichzeitig dieses Objekt verdunkelt und das andere beleuchtet, endlich durch dieselbe Vorrichtung das zweite verdunkelt und das erste be- leuchtet wird. Die Vorteile des Apparates bestehen in der grofsen Varia- bilität der Expositionszeit sowie des Fixationsfeldes vor und nach der Exposition, der Simultaneität und Geräuschlosigkeit der Exposition u. a., <ler Hauptnachteil in der grofsen Lichtvergeudung durch den Glasspiegel, welche eine sehr starke Lichtquelle erforderlich macht. Der Apparat kann auch zur Farbenmischung benutzt werden.

Walter Baade (Berlin).

D. V. Hanseuann. Ober die Gehlnie you Th. Harn ms an, Historiker, R. W. Bmiseii, Gbemlker und Ad. v. Menzel, Haler. Bibliotheca med., Abt. A, H. 5. Stuttgart, Schweizerbart. 1907. 18 S. und 6 Tafeln. Der Verf., der bereits 1899 über das Hirn von Hblmholtz berichtet hat, konnte jetzt die Hirne von Mohusbn, Büksbn und A. v. Menzel unter- suchen. MoMMSBN, als hervorragender Jurist, Philologe und Historiker be- kannt, zeichnete sich durch ein aufserordentliches Gedächtnis, scharfsinnige Kombinationsgabe und ganz ungewöhnliche Organisationsfähigkeit aus; er besafs auch eine bedeutende dichterische Beanlagung, war dagegen wenig musikalisch und manuell eher ungeschickt zu nennen. Er starb im Alter von 86 Jahren. Bünsbns Hauptverdienste auf dem Gebiete der anorganischen Chemie bestanden darin, dafs er neue Methoden ersann, um ein Ziel zu erreichen, und bereits bestehende Methoden vereinfachte. Eine aufser- gewöhnliche manuelle Geschicklichkeit befähigte ihn, die von ihm er- dachten Apparate zum grofsen Teile selbst anzufertigen. Er war also im wahren Sinne des Wortes ein Erfinder und verfügte aufserdem über ein ungemein zuverläfsiges Gedächtnis. Bunben wurde 88 Jahre alt. Menzel war in jeder Beziehung ein origineller Mensch. Von aufserordentlicher Beobachtungsgabe und Phantasie, dabei von ungeheurem Fleifs, hat er auf üUen Gebieten der darstellenden Flächenkunst eine geniale Leistungsfähig- keit gezeigt, unterstützt durch seine allgemein bekannte manuelle Geschick- lichkeit. Er besafs daneben ein fein ausgebildetes musikalisches Gehör und Verständnis. Er starb mit 89 Jahren. I. Mommsen. Bei einem Schädelumfang von 54,5 cm und ziemlich dickem Schädeldach zeigte das Gehirn ein Gesamtgewicht von 1425 g, etwa gleich dem mittlen Him- gewicht eines erwachsenen Mannes. Eine starke Altersatrophie hatte sicher einen Verlust gegen das ursprüngliche Gewicht herbeigeführt, der aber durch das terminal aufgetretene Ödem in nicht genau zu berechnender Weise kompensiert wurde. Das rechte Kleinhirn und viele Oberflächen- partien der rechten Grofshirnhälfte befanden sich im Zustande der Er- iveichung, während links nur wenige Erweichungsherde vorhanden waren. Zeitschrift für Psyehologi« 46. 19

290 Literaturbericht

Beide Hemisphären Btimmten in ihrem Charakter im wesentlichen toU- ständig überein. Sie zeigten eine relative Einfachheit der Projektions- (Bewegungs- und Sinne8-)8phären der Zentral- und Schläfewindnngen dagegen eine ausgiebige Gliederung der Assoziation ssphären, besonden am Stirn- und Hinterhaaptslappen, wahrend die grofse parietale Assoziations- sphäre zwar reichlich, aber doch nicht übermäTsig gegliedert erschien. Auf beiden Seiten^ hauptsächlich aber links, war der Präcunens besonders stark ausgebildet.' Auch die der Insel zugehörigen Windungen waren beiderBeits zwar nicht ungewöhnlich stark gegliedert, aber im Gegensatz zu der übrigen Atrophie breit und dick. II. Bünsbn. Das Hirn wog mit der Pia nur 1296 g, zumeist wohl infolge der nicht unerheblichen Altersatrophie. Sonstige pathologische Erscheinungen waren nicht vorhanden. Die linke Hemisphäre übertraf die rechte an Reichhaltigkeit der Gliederung wesent^ lieh ; bei beiden aber war die grofse hintere Assoziationssphäre im Verhält- nis zu Durchschnittshirnen stärker ausgebildet als die vordere, besonder? ging rechts die Entwicklung des Stirnhirns nicht über das gewöhnliche Mafs hinaus. Die Zentralwindungen waren stark geschlängelt und ober- flächlich eingekerbt. III. Mbnzbl. Das Hirn wog ohne Pia und ohne Flüssigkeit 1298 g. Altersschwund fehlte gänzlich. Sämtliche Ventrikel waren leicht erweitert und zeigten Verwachsung des Plexus mit dem Ependym. Auf das Vorhandensein eines leichten Hydrocephalus deuteten bereits im Leben hie und da beobachtete leichte mit Ohnmachtserschei- nungen verbundene Anfälle hin. Schon bei oberflächlicher Betrachtung flel die ganz ungewöhnlich starke Gliederung des Hirns und die erhebliche Asymmetrie auf; diese bekundete sich auch im Gewicht der Hemisphären, indem die rechte 9 g schwerer war als die linke. Beide Hemisphären er- schienen so abweichend modelliert, als gehörten sie zwei verschiedenen Menschen an. Auf der linken Seite waren mit Ausnahme der beiden Zentralwindungen sämtliche Projektions- und Assoziationsgebiete aufser- ordentlich reich gegliedert, besonders aber besafsen letztere eine so grofse Oberfläche, wie sie nur ganz ausnahmsweise vorkommen dürfte. Aoph rechts bestand die ungewöhnlich starke Gliederung der AssoziationssphÄren, daneben aber auch eine ungemein komplizierte Gestaltung der Projektion:*- Sphären. Unter anderem erschien die vordere Zentralwindung im oberen Abschnitt verdoppelt, nach unten verbreitert; zwischen beide ZentTal- Windungen schob sich am Rande der Fossa Sylvii ein dreieckiger Gym^ ein. Hierbei ist daran zu erinnern, dafs Menzel ambidexter, also wohl ge- borener Linkshänder war. Nur die Insel besafs beiderseits die gewöhnliche Gestaltung.

Hat sich aus den bisher angestellten Untersuchungen ergeben, dafs Grofse, Form und Kapazität des Schädels ebensowenig wie das Hirngewicht Schlüsse auf die Intelligenz zulassen, so ist durch reichere Gliederung der Hirnoberfläche entsprechend der damit verbundenen Vermehrung der Rindensubstauz scheinbar die Voraussetzung für eine gesteigerte Hirnt&tig- keit gegeben, da jetzt allgemein die Funktionen des Hirns und yot alleni auch die Kombinationen der Funktionen in die äulserste Rindensubstanz verlegt werden. Doch auch hier stöfst man auf bemerkenswerte Ausnahmen. H. führt als Beispiel das Hirn eines Ciseleurs Hbnsen an, der stets ein

Literaturhericht 291

Bchlechter Arbeiter gewesen war und nie Zeichen einer besonderen Intelli- genz gegeben hatte ; dabei fanden sich aber sowohl die Projektions- als die Assoziationssphären ungewöhnlich stark gegliedert. Hierin allein liegt also auch kein Merkmal für eine besondere Intelligenz. Andererseits Iftfst sich aus Flkchsigs Untersuchung theoretisch ableiten, dafs zu einer hervor- ragenden Intelligenz vornehmlich eine besonders starke Ausbildung der Assoziationssph&ren notwendig ist. Die Befunde an den Hirnen von Mikro- cephalen bestätigen dies insofern, als das Projektionssystem in der Mehr- zahl der Falle völlig ausreichend entwickelt ist, die Assoziationssphären aber bis auf ein Minimum reduziert sein können. Es fragt sich also, ob ans der anatomischen Betrachtung der Hirne geistig hervorragender Menschen sich besondere Umstände ermitteln lassen, die die verstärkte Funktion dieses vorhandenen anatomischen Materials erklären können. Perls und Edikoeb haben hervorgehoben, dafs bei geistig hervorragenden Menschen unverhältnismäfsig häufig ein leichter Grad von Hydrocephalu» vorhanden ist. H. hat das gleiche bei Helmholtz und jetzt wieder bei Menzel gefunden. Es scheint diese Kombination also nicht rein zufällig zu sein. Den ursächlichen Zusammenhang stellt H. sich aber nicht so vor, wie Pbrls. Nach diesem soll der in der Jugend entstandene Hydrocephalus eine Ausdehnung des Schädels veranlassen, in der später das Hirn eine besondere Entwicklung annehmen kann. H. meint vielmehr, dafs dieser geringe Grad von Hydrocephalus in einer erblich entstandenen, besonders reichen Gliederung des Hirns einen leichten Reizzustand setzt, der die zahlreich vorhandenen Assoziationsbahnen zu besonderer Tätigkeit anregt. Daran hält H. auch gegenüber den Einwänden von S. Auerbach fest, der mehr der Ansicht von Peels zuneigt. Gegen letztere spricht die Tatsache, dafs geheilte Hydrocephali an und für sich niemals eine ungewöhnliche Entwicklung der Hirnwindungen erkennen lassen. Da nun aber die Hirne von BuNSEN und Momhsen eine derartige Reizursache nicht aufweisen, kann man folgern, dafs es mehrere, vielleicht viele Arten von Reizen gibt, die eine ungewöhnliche Funktion der Assoziationsbahnen bedingen. Für die Anschauungen über die Hirnfunktion ist femer von grofser Bedeutung die senile Atrophie bei Mommsen und Bünsen, die beide noch bis in die letzte Zeit ihres Lebens noch mit gröfster Geistesschärfe handelten und dachten. Es geht daraus hervor, dafs Altersschwund und senile Demenz zwei ganz verschiedene Dinge sind, und dafs für das Eintreten der Demenz noch be- sondere pathologische Veränderungen hinzukommen müssen. Die Angaben Metschnikoffs, nach denen bei seniler Atrophie die Ganglienzellen der Peripherie durch sog. Phagocyten angefressen und wahrscheinlich ver- nichtet werden, kann H. nicht bestätigen. „Wenn wir sehen, dafs be- sonders intelligente und hoch begabte Menschen eine Gehirnform besitzen, die nicht wesentlich über das hinausgeht, was wir auch bei anderen minder begabten Menschen finden, so stimmt das vollständig überein mit der Angabe von Flechsig, der ausdrücklich angibt, dafs über die Zahl der bekannten Sinne hinaus distinkte Primordialgebiete vorhanden sind, so dafs selbst für unbekannte Sinne noch vorgesorgt sein könnte. Es würde also nicht erstaunlich sein, wenn Menschen mit ganz gewöhnlicher Gehirn-

19*

292 LiUralurbericht,

konfiguratioii während des Lebens eine ungewöhnliche Intelligenz erkennen liefsen." Zuletzt berührt H. noch die Frage, was im einzelnen Falle als Genie zu bezeichnen sei. Seiner Ansicht nach äufsert sich das Genie der landläufigen Auffassung in zweifacher und zwar ganz verschiedener Weise: erstens in der Fähigkeit angestellte Beobachtungen in richtiger Weise zu kombinieren und daraus Schlüsse zu ziehen, die von gewöhnlich beanlagten Menschen deshalb nicht gezogen werden, weil ihnen die Zusammengehörig- keit der Beobachtungen nicht auffällt, - zweitens in der Fähigkeit zwar auf der Basis des Bestehenden, aber doch weit darüber hinaus etwas ganz Neues zu schaffen, dem eine unmittelbare Beobachtungsgrandlage fehlt Ganz scharf sind natürlich diese beiden Erscheinungen nicht zu trennen. In die erste Kategorie wären etwa Männer wie Virchow und Mommsis zn rechnen. Bei der zweiten Kategorie kommt aber eine erfinderische Tfttig keit hinzu, die, wie H. meint, „auf einer Stufe steht mit einem plötzlich in die Erscheinung tretenden Instinkt, und die nicht blofs eine gesteigerte Tätigkeit der vorhandenen Apparate bei ausreichender Formentwicklong bedeutet, sondern eine morphologische Abweichung des Hirns notwendiger- weise voraussetzt^ Instinkt und Verstand heben sich gewifs nicht, wie P. Schulz annimmt, gegenseitig auf, wenn auch möglicherweise gelegentlich einmal der Verstand die Entwicklung der Instinkte hemmen kann. Der Umstand, dafs unbegabte Menschen in der Kegel auch instinktiv weniger zweckmäfsig handeln als mit Verstand ausgerüstete, führt zu der Vor- stellung, dafs nur ein mäTsiger Verstand eine unbedingte Hemmung der Instinkte abgebe, dafs aber ein hoher Verstand es dem Menschen ermög- liche, an Stellen, wo es ihm nützlich erscheint, seine Instinkte in Kraft treten zu lassen. „Instinkte sind ganz unzweifelhaft vererbbare Eigen- schaften. Sie entstehen durch gesteigerte Entwicklung bereits vorhandener' Eigenschaften oder gewissermafson durch Mutation bei einzelnen Indivi duen."* Bei den auf instinktiven Fähigkeiten beruhenden Genies mnf^ man erwarten eine Hirnkonfiguration zu finden, die von der gewöhnlichen wesentlich abweicht. Durch die beiden Beispiele von Helmholtz und ULtszEL erscheint diese Anschauung gestützt. Zur definitiven Lösung der Frage empfiehlt H. (wie Auerbach) die Untersuchung von Hirnen im allgemeines mittelmäfsig begabter, aber nach einer bestimmten Richtung hin besonder« ausgezeichneter Menschen. Eislbr (Halle).

o. Kalischeb. Zar Fanktion des Schläfenlappeng des Grofshinis. Eine neue

Hörprüfungsmethode bei Hunden ; zugleich ein Beitrag zur Dressur als

physiologischer Untersuchungsmethode. Sitzungsber. d. Königl. Preofs.

Akad. d. Wiss.; physik.-math. Kl. X 1907. 13 S.

Da die gewöhnlich geübte Methode der Hörprüfung bei Hunden, die

darin besteht, dafs man die Aufmerksamkeit der Tiere nach anderer

Richtung abzulenken versucht und beobachtet, ob sie auf bestimmte Töne

oder Geräusche durch entsprechende Bewegungen reagieren, vielfach ta

irrigen Auffassungen von der Hörperzeption der Tiere Anlafs geben kann.

hat Verf. eine neue Methode geübt.

Er dressierte Hunde so, dafs sie nur bei einem ganz bestimmten

Literaiurbericht 293

Ton, den er auf der Orgel oder dem Harmonium angab, nach vor ihnen liegenden Fleischstückchen schnappen durften, bei anderen Tönen aber die Fleischstacke liegen lassen muTsten. Die Hunde konnton auf diese Weise auf verschiedene, hohe oder tiefe Töne dressiert und auch soweit gebracht werden, dafs sie den „Frefstou" selbst von den benachbarten halben Tönen mit Sicherheit unterschieden. Da die Hunde auch auf den Frefston reagierten, wenn derselbe zugleich mit beliebigen anderen Tönen angeschlagen wurde, so meint Verf., dafs ihnen ein überaus feines Ton- unterscheidungsvermögen, ja ein absolutes Tongehör zukomme. Zeitweilig blindgemachte Tiere reagierten genau so wie normale, während bei solchen, denen beide Schnecken entfernt waren, von der gewohnten Dressur nichts mehr vorhanden war.

2sach der Exstirpation eines Schläfenlappens zeigte sich kein Unterschied in dem Verhalten der Tiere bei den Dressurversuchen, aber auch nach doppel* seitiger Schlaf enlappenexstirpation hatten sie nichts von der Dressur ein- gebüfst. Gleichwohl waren bei ihnen deutliche Hörstörungen zu konstatieren, da sie auf den Kommandoruf nicht mehr in gleicher Weise wie früher re- agierten, indem augenscheinlich ein stärkerer Reiz zur Auslösung der Reak- tionen notwendig war. Trotzdem also die Hörreaktion auf die einzelnen Töne erhalten war, war doch die wichtigste Hörreaktion, nämlich das prompte Reagieren auf das Kommando nach Ausschaltung der Schläfenrinde, dauernd weggefallen, da die Verwertung der Gehörseindrücko verloren gegangen war. Daher resultierten auch Orientierungsstörungeu bei den Tieren, die wohl die Gehörseindrücke empfanden, aber nicht wufsten, aus welcher Richtung dieselben herkamen, von wem sie ausgingen oder was sie be- deuteten. „Aus der Gesamtheit der Versuche geht jedenfalls hervor, dafs nicht nur von der GroDshirn rinde aus, sondern unter bestimmten Um- standen auch von infrakortikalen Zentren her Hörreaktionen erfolgen können, und zwar auch solche, die man, wie die Tonunterschiedsempfindlichkeit bei der Dressur, bisher unbedingt als eine Funktion der Grofshirnrinde angesehen hatte. Ob und wie weit bei den unterhalb der Grofshirnrinde zustande kommenden Hörreaktionen das Bewufstsoin eine Rolle spielt, mufs dahingestellt bleiben."

In einem Anhang betont Verf. noch, dafs die von ihm beschriebene Dressurmethode einer allgemeinen Anwendung für physiologische und psychologische Untersuchungszwecke fähig sei z. B. zur Prüfung über Lage- und Bewegungsempfindungen beim Tier. H. Beyer (Berlin).

SuQMüND AuBBBACB. Bettng lüT Lokalisttloii des nrasIkaliseheB Ttlentes im

fiehirn und im Scll&del. Arch. f. Anat. u. Enttoicklungsgeseh. 1906. S. 197

bis 230. 6 Tafeln.

G. Retzius hat nicht nur durch sein vorzügliches Werk über das

Menschenhirn eine Unterlage für das Studium des Oberflächenbaues ge-

schafFen, sondern auch deren Verwendbarkeit bei der Untersuchung der

Hirne des Astronomen Gyldän, der Mathematiker! n Kowalbwski, des

Physikers und Pädagogen Sh^eström, eines bedeutenden Staatsmannes und

des Histologen und Physiologen Ix)vän gezeigt. Gtldän und Lovän waren

neben ihrer sonstigen Begabung sehr musikalisch. Ihr Gehirn liefs eine

294 Literaturbericht

besonders starke Ausbildung der mittleren und hinteren Abschnitte der ersten Schlftfewindung erkennen, einer Stelle, die auch an dem Him des hervorragend musikalischen Hblmholtz ungewöhnlich entwickelt war (Hansemann). Bei den Violinvirtuosen und Musikprofessor Run. Leisz fand GuBZMAN beidseits abnorme Gestaltung des unteren ScheitellappenB und seiner Umgebung; besonders aber fiel rechts der direkte Übergang der Fissura cerebri lateralis (Sylvii) in den Sulcus retrocentralis aut wodnrrli der Gyrus supramarginalis vollkommen fehlte. Auerbach hält es jedoch für unstatthaft oder mindestens für willkürlich nach dem Verlaufe nicht konstanter Furchen oder von deren Ästen die gebräuchliche Bezeichnung der Windungen abzuändern; aufserdem bemerkt er, dafs nach den Ab- bildungen auf der linken Seite die obere Schläfewindung im mittlen und hinteren Drittel deutlich furchenreicher und breiter erscheint als rechts. A. hatte nun selbst Gelegenheit, das Hirn eines sehr einseitig musikalisch beanlagten Mannes, des Konzertmeisters Prof. Narbt Konino in Frankfurt a. M. genauer zu untersuchen. Konino besafs ein phänomenales Gehör, ein ausgezeichnetes musikalisches Verständnis und eine anerkannte Urteils- fähigkeit in musikalischen Dingen, war aber weder Virtuose, noch Kom- ponist, noch Sänger. Er starb infolge einer Apoplexie. An der linken Grofshirnhemisphäre trat die aufserordentliche Breite und der ganz aafser- gewöhnliche Bau der beiden oberen Schläfe Windungen hervor, besonder« aber der ersten. Auch rechts war das mittle und vornehmlich das hintere Drittel der ersten Schläfewindung ziemlich breit. Beidseits ging die erste Schläfewindung in einen aufsergewöhnlich stark ausgebildeteo Gyrus supramarginalis über, noch auffallender als an dem Gehirne GtldI^s. an dem Retzius die Schwierigkeit der Abgrenzung beider Windungen gegeneinander hervorhebt. Auf Grund dieser Übereinstimmungen unter- suchte A. auch noch das im Besitze von Edinoer befindliche Him von Hans y. Bülow. Die obere Schläfe Windung ist hier auf beiden Hemisphirer. ebenfalls von der Mitte ab rückwärts aufsergewöhnlich breit und geht riem lieh unvermittelt in den besonders links sehr mächtigen GyruB supra- marginalis über. Bei Koning und Bülow, Gyldän und Lovän, Helmholh und Lenz zeigen sich also die gleichen Abweichungen vom normalen Durchschnitt, bedeutende Breitenentwicklung und besondere Geetaltune des mittleren und hinteren Drittels der ersten Schläfewindung, ferner er- hebliche Breite und Höhe des Gyrus supramarginalis und dessen inniger Zusammenhang mit der ersten Schläfewindung. Es liegt deshalb nahe, in diesen Sonderbildungen allgemein gültige Charakteristika musikalischer Hirne zu sehen. Dafür spricht nicht nur, dafs Bxrzius sie nur bei den hervorragend musikalisch begabten GyldAn und Lovto fand, sondern auch, dafs nach Flechsig das primäre Hörzentrum im mittlen und im Anfang des hinteren Drittels der ersten Schläfewinduug gelegen ist. Unterscheidet man mit Möbicb eine passive und aktive Seite den Musiksinnes d. h. musikalisches Gehör mit musikalischer Urteilskraft auf der einen, die Fähigkeit gehörte Musik wiederzugeben nebst musikaliflchero Erfindungsvermögen auf der anderen Seite, so drängt sich die Vermutung auf, dafs in der oberen Schläfewinduug (neben dem WERNiCKESchen seneori- sehen Sprachzentrum) das Zentnim für den passiven, in dem Gyros supn-

Litevaturbericht 295

niarginalis das für den aktiven Musiksinn gelegen ist, zumal letztere Region an das grofse parietale (psychische) Assoziationszentrum Flechsios grenzt, OK wohl auch teilweise in sich schliefst (Rbtzius). Oh heim Musiksinn, wenigstens hei Rechtshändern, die linke Hemisphäre die rechte ebenso an Bedeutung übertrifft wie bei der Sprache, läfst sich noch nicht mit Sicher- heit entscheiden. Aus den bisherigen klinischen und pathologischen Erfahrungen in Fällen von Amusie geht soviel hervor, dafs mit einiger Sicherheit das Musik Verständnis in die oberen Schläfe Windungen, wahr- scheinlich mehr die der linken Seite zu lokalisieren ist, und dafs zuweilen Fälle von motorischer und sensorischer Aphasie ohne entsprechende Amusie beobachtet werden. Jedenfalls sprechen die klinischen Beob- achtungen nicht gegen die hier angeführten morphologischen Befunde bei hervorragenden Musikern. Zum Schlüsse erörtert Verf. noch, wie weit die stärkere Entwicklung der oberen Schläfewindungen, besonders links, und ihrer kaudalen Nachbargebiete auch am Schädel zum Ausdruck kommt. An den Bildern von Konino, Bülow, Lovän, GYLDäN und Hklmholtz tritt gerade die Schläfegegend und der angrenzende Teil der Parietalgegend besonders hervor. Der Schädel ist an diesen Stellen in der Norm so dünn, dafs die innen anliegenden beiden Schläfe Windungen den Knochen mehr oder weniger stark nach aufsen vorwölben (G. Schwalbe), was um so mehr <ler Fall sein wird, je stärker sie ausgebildet sind. Für künftige Unter- isuchungen ähnlicher Fälle, besonders der Hirne sehr einseitig beanlagter Menschen, empfiehlt Verf. auch die mikroskopische (cytoarchitek tonische) Durcharbeitung der auffallenden Partien und der in Betracht kommenden Bahnen. Eislee (Halle a. S.).

Habeklandt, G. Sinnesorgaiie im Pflauenreich nur Peneptlon meehiiiBcher Reixe. 2. vermehrte Aufl. Leipzig, Engelmann. 1906. 207 S. 9 Doppel- tafeln. Bekanntlich ist es in erster Linie Habeblandt, der für die höheren Pflanzen den Nachweis zu erbringen sucht, dafs an sehr vielen der schon seit Langem bekannten lokalen Aufnahmestellen für äufsere Reizanlässe ähnlich wie bei den Tieren besondere der Funktion entsprechende Struktur- differenzierungen sich nachweisen lassen, die als die eigentlichen Per- zeptions(„Sinnes"-)organe anzusprechen seien. Dafs seine Studien, im be- sonderen die über die Sinnesorgane zur Perzeption mechanischer Reize, den Beifall weiterer biologischer Kreise gefunden haben, ist aus dem Hchnellen Erscheinen einer 2. Auflage seines Buches ersichtlich. Die Ziele und die Ergebnisse desselben, über die schon bei der Besprechung der 1. Auflage genügend eingehend in dieser Zeitschrift (29, 1902, S. 62/63) be- richtet worden ist, haben sich bei der Neubearbeitung nicht wesentlich geändert, wenn auch das Tatsachenmaterial bedeutend vermehrt wurde. Ref. kann sich deshalb darauf beschränken, auf die Methoden des Verf. ganz kurz hinzuweisen, um damit die Beurteilung der Ergebnisse zu er- leichtern.

Die Methoden, die Haberlamdts Studie zugrunde liegen, sind im wesentlichen die der biologischen (physiologischen) Histologie, eines Zweiges

296 Literaiurbericht.

der Botanik, der sich die Erschliefsung der funktionellen Bedeutung hlMi^ logischer Differenzierungen zum Ziele gesetzt hat. Der „physiologische Histolog'' sucht festzustellen, erstens, oh und wie der Bau im einzeln^^n den Funktionen eines Organes entspricht, und zweitens, welche funktionelle Bedeutung die Elemente eines Organes in der Besonderheit ihrer bi^jta- iogischen Ausbildung im Räderwerk des Organgesamtgetriebes besitzeu. Er glaubt aber nicht nur mit Hilfe der durch physiologische Forschung ermittelten Funktionen den histologischen Bau der Organe versteheii, sondern auch umgekehrt aus den histologischen Eigenschaften der Elemente eines Organes, allein durch mikroskopische Untersuchung ohne Experi- mente, die Funktionen dieser Elemente erschlielsen zu können. Schlüsse der letzteren Art besitzen indes, wie leicht einzusehen, deshalb in sehr vielen Fällen keine zwingende Kraft, weil die Mehnleutigkeit vieler StruktureigentOmlichkeiten hinsichtlich der Funktionen eine genügende Einengung der Fragestellung ohne Experimente nicht zuläfst.

Habeblamdt spricht histologischen Einrichtungen, welche eine plötz- liche Deformation gewisser Gröfse begünstigen und die bei sehr zahlreichen Pflanzen mit lokaler Perzeptionsbefähigung für mechanische Reize an den reizaufnehmenden Stellen hauptsächlich von ihm nachgewiesen wurden, als die eigentlichen „Sinnesorgane" zur Wahrnehmung der mechanischen Reize an. Da nun aber solche Einrichtungen (ein oder mehrere Tüpfel in den äuüseren Membranen der Epidermis, papillöse Ausstülpungen der Oberhaut- zellen, Haare und Borsten) erfahrungsgemäls bei jenen und anderen Pflanzen auch an Organen vorkommen, für die sich eine Empfindlichkeit gegen mechanische Reize nicht feststellen läfst, da aufserdem nachweislich eine Perzeption mechanischer Reize auch bei höheren Pflanzen vorkoniuit, die solche Einrichtungen an den empfindlichen Teilen nicht besitzen (z. B. manche Banken) und weiter, ebenfalls bei Ranken, bei gleicher Reizgröfee die Erregungsgröfse der Rankenoberseite und der -Unterseite annähernd gleich ist, obwohl in den Epidermiszellen der Unterseite die „Fühl ''tap fei viel zahlreicher sind, so wird der Physiologe nur dann geneigt sein, die gefundenen histologischen Strukturen in Beziehung zu der Perzeption mechanischer Reize zu setzen, wenn sich durchs Experiment diese Ansicht als richtig erweisen läfst. Im besonderen wäre natürlich zu zeigen, dafs in allen jenen Fällen, wo Verf. besondere „Sinnesorgane*' in Form von Papillen, Haaren, Borsten annimmt» nicht auch diejenigen Epidermiszellen der Perzeptionszone, die solcher Einrichtungen entbehren, ebenso leicht wie die „Sinneszellen'' durch mechanische Reize erregt werden können. Einen solchen Beweis hat aber Verf. bisher nicht erbracht. So schwierig er auch zu führen wäre, so mufs er doch von physiologischer Seite um so mehr gefordert werden, weil Linsbaueb kürzlich für einen Fall (die Staub- fäden von Centaurea) in überzeugender Weise gezeigt hat, dafs die Haare, mit denen die Perzeptionszone für den mechanischen Reiz bedeckt sind, nicht als die Sinnesorgane zur Perzeption des mechanischen Reizes ange- sprochen werden können, wie Verf. meint.

Mag der Reizphysiologe also auch den Ausführungen des Verf. nicht überall folgen, solange die Beweisführung die erwähnten Lücken aufweist, so wird er doch rückhaltlos anerkennen, dafs durch diese ausgezeichneten

Literaturberickt 297

hietologischen Untersuchungen manche Anregungen für erfolgreiche experi- mentelle Weiterarbeit gegeben wurden. H. Fittiko (Tübingen).

V. A. Ch. Hbnmon. The Time of Perceptlon ts a Heasnre of Differences in Sensa- tionB. Archives of Pküosophy^ Psychologie and Scientific Methods. No. 8. July 1906. 75 S. Der Verf. sucht der Frage nach der Unterscheidung von Empfindungen dadurch näher zu treten, dafs er die Zeit mifst, welche zur Wahrnehmung einer Reizdiflerenz notwendig ist. Sein Verfahren besteht ganz im allge- meinen darin, dafs Reizpaare exponiert werden und dafs die Versuchsperson durch Reaktion mit einem von zwei konventionellen Zeichen ein auf die (stets übermerkliche) Differenz der beiden Reize basiertes Urteil abzu- geben hat.

I. Kurze Beschreibung der Versuchsreihen.

1. Versuche mit Farben. Versuchsreihe 1. Es wurden farbige Papiere hergestellt mit folgenden Farben: Gelb (586 fi/u)^ Orange (614 ////), Orange (620 ^^), Orange (627 ///<), Orange (633 ///«), Rot (639 /u^). Von diesen Papieren wurden quadratische Stücke (3 X ^ <^^) paarweise so auf Karton aufgezogen, dafs jedes Paar das Rot von 639 .«/< und eine der anderen Farben enthielt. Die so gewonnenen Karten wurden mittels eines Fall- schirms (mit elektrischer Kontaktvorrichtung) exponiert. Die Versuchs- person hatte zwei Taster vor sich und mufste den rechten loslassen, wenn die Farbe, auf die sie zu reagieren hatte, sich rechts befand, den linken, wenn die betreffende Farbe links erschien; sie bekam also z. B. den Auf- trag, auf Gelb zu reagieren, und nun wurde die Karte, welche Rot und Gelb zeigte, 20 mal hintereinander exponiert, wobei in unregelmäfsigem Wechsel das Gelb bald rechts, bald links erschien; dann bekam sie den Auftrag, auf Rot zu reagieren bei demselben Expositionsmodus derselben Karte;' dies wiederholte sich für jede der fünf Karten, so dafs in einer Sitzung 200 Reaktionen ausgeführt wurden. Zwei Versuchspersonen (unter ihnen der Verf.); pro Versuchsperson 11 Sitzungen, also 2200 Reaktionen. Zeitmessung mit dem Hippschen Chronoskop. Versuchsreihe 2. Karten derselben GrOfse wie in Reihe 1 enthalten auf der einen Seite Schwarz, auf der anderen eine der Farben : Rot (644 fj/u\ Rot (639 f/u). Orange (614 ///«), Chromgelb (585///*), Smaragdgrün (521 ///«), Ultramarinblau (452 fi^), Weifs. Die Versuchsperson hat jederzeit auf den nichtschwarzen Reiz zu reagieren, im übrigen ist das Verfahren wie in Reihe 1; pro Karte 20 Reaktionen, mithin pro Sitzung 140; zwei Versuchspersonen (darunter Verf.), pro Ver- suchsperson acht resp. fünf Sitzungen. Versuchsreihe 3. Folgende Paare von Farben werden exponiert: Schwarz und Weifs, Rot und Grün, Blau und Gelb, Rot und Blau, Grün und Gelb. Expositions- und Reaktions- verfahren wie in Reihe 1 ; pro Reiz 20 Reaktionen, pro Karte (Reizpaar) 40, pro Sitzung 200, pro Versuchsperson 2000 resp. 600; Versuchspersonen wie in Reihe 2. Versuchsreihe 4. Von Grün, Rot, Gelb, Blau werden je drei Abstufungen hergestellt, und zwar jede dieser zwölf Farben in elf Exem- plaren ; die 3 Quadratzentimeter grofsen farbigen Papiere werden auf Karten von handlicher Gröfse aufgezogen. Die roten und grünen Karten werden in einem Päckchen untereinander gemischt, die blauen und gelben in einem

298 Literatwbericht

anderen. Die sechs in einem Päckchen enthaltenen Farben werden vor der Versachsperson in einer Reihe auf den Tisch gelegt und sie hat nim die in dem Päckchen befindlichen Karten dementsprechend zu sortieren. Die Zeit des Sortierens wird mit der Stoppuhr gemessen; pro VerBacfae- person zehn Versuche; fünf farbenblinde (Rot-Grflnblinde) und drei nor- male Versuchspersonen.

2. Versuche mit horizontalen Linien. Versuchsreihe 1 : gleiche abso- lute Differenzen. Sechs Karten enthalten je zwei schwarze, 2 mm stirke Linien, in einem Abstand von 1 cm nebeneinander, deren eine stets 10 mm, deren andere bzw. 10 V?, 11, 13 mm lang ist. Ezpositions- und Beaktions^ Modus wie bei Reihe 1 der Farbenversuche; 240 Reaktionen pro Sitzang. 10 Sitzungen pro Versuchsperson ; Versuchspersonen wie in Reihe 2 der Farbenversuche. Versuchsreihe 2: gleiche relative Differenzen. Vier Karten enthalten je zwei Linien nebeneinander (Stärke 2 mm. Abstand 10 mm), deren Längen bzw. sind: ö und 6 mm, 10 und 12 mm, 15 und 18mm, 20 und 24 mm. Expositions- und Reaktionsmodus und Versuchspersoneo wie in Reihe 1 ; 160 Reaktionen pro Sitzung, 8 Sitzungen pro VersnchB- person.

3. Versuche mit Tonhöhen. Als Hauptreiz dient eine Stimmgabel von 500 Schwingungen, die Vergleichsreize weichen nach oben und unten um bzw. 4, 8, 12, 16 Schwingungen ab. Eine Hammervorrichtung erm6g licht ein gleichmäfsiges Anschlagen der Stimmgabeln und die Einschaltang des Chronoskop-Zeigerwerks. Der Hauptreiz kommt stets an erster Stelle und dauert 2 2 Vit Sek.; nach einer Pause von 2 Sek. wird der Vergleichp- reiz gegeben und gleichzeitig das Zeigerwerk des Chronoskops in Tätigkeit gesetzt. Versuchsperson reagiert rechts auf einen Ton von mehr al< 500 Schwingungen, links auf einen von weniger als 500 Schwingungen. Pro Reizdifferenz 40 Reaktionen in einer Sitzung (20 für die positive und 20 für die negative Differenz); pro Versuchsperson 8 Sitzungen, also 1180Re aktionen; dieselben Versuchspersonen wie in Reihe 1 der Farbenversuche.

IL Besprechung der wichtigsten Resultat«.

1. Reihe 1 der Farben versuche, Reihe 1 der Linien versuche und die Ton- versuche will ich gemeinschaftlich behandeln. Es handelt sich hier stet^ um einen in jedem Reizpaar wiederkehrenden Hauptreiz und eine Reihe von Vergleichsreizen, die sowohl nach ihrer Ähnlichkeit mit dem Haupt reiz als nach den physikalischen sie charakterisierenden Mafszahlen eine eindeutig geordnete Reihe bilden. Als erstes Resultat findet sich durch- weg, dafs die Reaktionszeiten um so länger ausfallen, je geringer die Differenz zwischen dem Haupt- und dem Vergleichsreiz ist. Die weiteren Bemühungen des Verf.s gehen darauf aus, in der Kurve, welche die Zeit als Funktion der Reizdifferenz darstellt, eine einfache GesetzmäTsigkeit zu finden. Bei den Farben versuchen ist ihm dies dadurch erschirert. dafs die Vergleichsreize nicht objektiv gleiche Abstände untereinander haben. Er gewinnt aber durch Interpolation einige Werte, welche i. B. besagen, dafs einer Abnahme der Reaktionszeit um 5,72 a eine Zunahme der Reizdifferenz entspricht, welche zwischen 625 und 628 pfi etwa 8,8 ft^, zwischen 620 und 625 /u/ii etwa 4,6 /ufi beträgt. Bei den Ton versuchen gibt es einige andere Schwierigkeiten, und Verf. kann nur fe«ft

Literaturbericht, 299

stellen, dafs die Zeiten bei den kleineren Differenzen unverhältnismäfsig stark anwachsen ; er hält eine neue Untersuchung mit kleineren Abständen der Vergleichsreize untereinander für notwendig. Die Linienexperimente erweisen sich als die günstigsten für die Beurteilung der Kurve der Zeiten, und Verf. gelangt zu dem mit Annäherung geltenden Gesetze, dafs die Differenzen der Reaktionszeiten in geometrischer Progression wachsen, wenn die Differenzen zwischen Haupt* und Vergleichsreiz in arithmetrischer Progression abnehmen.

2. Beihe 2 der Linienversuche beschäftigt sich mit der Frage, ob für gleiche relative Differenzen (5 und 6, 10 und 12 usw.) die Reaktionszeiten gleich lang sind. Die Resultate zeigen annähernde Konstanz der Ziffern, doch entsprechen den absolut genommen kleineren Differenzen die längeren Zeiten.

3. Reihe 2 und B der Farbenexperimente liefern folgende Reihenfolgen von Reizpaaren nach der Kürze der Reaktionszeit: Schwarz Txdrd von Weifs am schnellsten unterschieden, nächst dem Weifs kommt Gelb, dann Grün und Orange (für Grün und Orange widersprechen sich die Resultate der beiden Versuchspersonen), dann die beiden Rot-Schattierungen (vgl. vorige Klammer), dann Blau (Reihe 2); Schwarz und Weifs werden schneller voneinander unterschieden als Rot und Grün, nach Rot und Grün kommen Blau und Gelb, dann Rot und Blau, dann Grün und Gelb (Reihe 3).

4. Reihe 4 der Farbenexperimente ist von vorwiegend praktischem In- teresse. Bildete man die Differenz der Sortierungszeiten für das rot-grüne und das gelb-blaue Päckchen, so zeigte sich durchweg ein deutlicher Unter- scliied zwischen Farbenblinden und Normalen. Es scheint danach, als ob die Zeitmessung wichtige Dienste bei der Diagnose der Farbenblindheit leisten könnte.

III. Die Wahrnehmungszeit als Mafs des Empfindungsunterschiedes.

Verf. macht in der Einleitung den Vorschlag, die Wahrnehmungszeit als Mafseinh eit an Stelle des ebenmerklichen Unterschiedes zu benutzen i.S. ö), oder wie es S. 8 heifst: Empfindungsunterschiede nicht durch eben- merkliche Unterschiede zu messen sondern durch die Zeit, welche not- wendig ist, um sie wahrzunehmen. Die Sätze, welche diesem neuen Mafsprinzip zugrunde liegen sollen, stellt er auf S. 9 zusammen: (1) Emp- iindungsunterschiede sollten gleich grofs sein, wenn es gleich lange Zeit erfordert, sie wahrzunehmen. (2) Wenn die Unterschiede ungleich sind, so Hellte die Wahrnehmungszeit um so kürzer sein, je gröfser der Unterschied ist, und umgekehrt. (3) Die Wahrnehmungszeiten für mittlere („inter- mediate") Unterschiede sollten diesen Unterschieden umgekehrt proportional sein. Entsprechend seinen Anschauungen über die Bedeutung der ge- gemessenen Zeiten verfährt Verf. bei der Deutung seiner Resultate: bei den Farbenversuchen (Reihe 1) glaubt er aus der Kurve der Reaktions- zeiten auf das Verhalten der Unterschiedsempfindlichkeit im langwelligen Ende des Spektrums schliefsen zu können (S. 30) ; bei den Linien versuchen (Reihe 2) glaubt er die Gültigkeit des WEBEBSchen Gesetzes kontrollieren zu können (S. 62); bei den Tonversuchen bestreitet er, gestützt auf seine Zeitmessungen, dafs die absolute Unterschiedsempfindlichkeit annähernd konstant sei (S. 69). Walter Baadb (Berlin).

300 Literaturberickt

ilERDis Krahup. Physiscb-ophthilmologUclie Greuprobleme. Ein Beitrag zur Farbenlehre. Leipzig, G. Thieme. 1906. 118 S.

In dem sehr lesenswerten Buche werden mehrere der interessantesten und schwierigsten Fragen diskutiert, die in der physiologischen Optik neuerdings Bedeutung gewonnen haben, so die Absorption in den Augen medien und der Macula lutea, die Schwellenwerte, PuRKiNjBsches Phänomen und die Lehre von den Komplementärfarben. Dazwischen hinein schiebt sich ein Kapitel: „Die Theorie der sekundären Schichten." Der gröfste Teil des Buches bringt eigentlich Neues nicht, sondern stellt eine Para- phrasierung der Arbeiten der Forscher dar, die auf dem Gebiet der physio- logischen Optik jetzt die führenden sind. Es ist die Absiebt der Veit gegen die Rückständigkeit der Ophthalmologen in theoretischen Fragen, die schon Parinaud hervorgehoben hatte, anzukämpfen, indem sie eine an- regende und zur Einführung in die modernen Streitfragen geeignete Schrift liefert. Diesen Zweck zu erfüllen, dürfte das, leider in recht mangelhaftem Deutsch geschriebene, Buch sehr wohl erfüllen.

Gelegentlich finden sich einige sachliche Irrtümer, so auf S. S5 die Angabe, die Eulen hätten nur Stäbchen, keinen Zapfen.

Minder glücklich als in den rein referierenden Teilen scheint mir Verf. in den eigenen Hypothesen und Theorien zu sein. Für nicht glücklich raufs ich beispielsweise den Versuch halten, der Pupillenerweiterung im Dunkeln einen gewissen Anteil am Zustandekommen des PuRKiNJBScheu Phänomens zuzuschieben. Da bei weiter Pupille auch Strahlen unter viel ^öfserem Einfallswinkel auf die Hornhaut als bei enger Pupille die Netz- haut treffen, sollen bei der (angeblich) stärkeren Dispersion der Randteile die blauen Strahlen begünstigt sein.

Auch die „Theorie der sekundären Schichten" nach der die Perzeption der verschiedenen Farben in verschiedenen Schichten der Netzhaut erfolgt, ist wohl kaum zu halten. Schon die Grundlage, auf der sie aufgebaut ist, die G. E. MüLLRRSchen Beobachtungen über Farbensehen bei GalvaniBierung des Auges, ist nicht sehr glücklich gewählt, und mehr noch die Art, wie die Verf. jene verwertet. Die innersten der sekundären Schichten, die innere plexiforme Schicht, soll der Entwicklungsort für Gelbempfindung sein, da nach Müller starker absteigender Strom Gelbsehen bewirkt. Weiter nach aufseu in der inneren plexiformen Schicht soll die Grünempfindun^ ihren Sitz haben usf.

Wegen der weiteren Entwicklung der seltsamen Theorie möge da? Original verglichen werden. Da Verf. sonst streng auf dem Standpunkt der Duplizitätslehre und der Auffassung der Zapfen als farbenperzipierendes Organ steht, ist nicht recht einzusehen, wie sie eine Theorie vertreten kann, die, soweit Bef. einsehen kann, zur notwendigen Konsequenz hätte, daXs man für jede Farbe spezifisch empfängliche Zapfen annehmen muffte- Den Hauptmangel der Theorie sieht Verf. darin, dafs sie nicht die Ent- stehung der WeiTsempfindung aus den Komplementärpaaren erklärt. De6haU> beschäftigt sich Verf. im letzten Kapitel eingehend mit den Komplementär- farben und berichtet hauptsächlich über die Versuche von v. Kanss und V. Frey, von Glan und von Angier und Trendblenburq.

W. A. Nagel (Berlin).

Literat urhd-uiht. 301

v. H. JuDD. PhotograpliiG Records of OonvergeiiGe a&d Divergence. Psychol.

Review Monogr. Suppl 8 Nr. 3 (Whole Nr. 34, Yalc Faychul. Studies 1),

S. 370-423. 1907. Verf. hat vermittels kinetoskopischer Photogramme die Augenbewegung bei der Konvergenz und Divergenz untersucht. Da begleitende Kopf- bewegungen bei Augenbewegung schwer ganz auszuschliefsen sind und kompensatorische Augenbewegungen zur Folge haben, die das Verständnis der Ergebnisse erschweren, so waren die fixierten Punkte mit dem Kopf fest verbunden, vermittels eines zwischen den Zähnen gehaltenen Bambus- stabes. Die fixierten Punkte mufsten so jede Kopfbewegung, die etwa auf- trat, mitmachen. Es zeigte sich, dafs die Anpassung an einen näheren oder ferneren Punkt selten einfach in einer Konvergenz- oder Divergenzbewegung besteht. Die Augen haben eine zu starke Tendenz, sich gleichzeitig nach rechts oder nach links zu bewegen. Eine solche gleichgerichtete Bewegung cfeht daher der eigentlichen Konvergenzbewegpng voraus. Konvergenz zeigte sich häufig begleitet von einer Abwärtsbewegung nicht nur der Augen, sondern auch der Augenlider. Wie Verf. schon früher gefunden hatte, so zeigte sich auch hier wieder ein bemerkenswertes Fehlen von Harmonie der Bewegung der Augen. Die von beiden Augen gleichzeitig beschriebenen Kurven waren oft ziemlich verschieden. Konvergenz- und Divergenzbewegungen waren viel langsamer als gleichgerichtete Bewegungen. Sie nahmen etwa ein Drittel Sekunde in Anspruch. Konvergenz- und Divergenzbewegungen waren oft von geringen Rotationsbewegungen (2® bis 3®) begleitet. Wenn beide Fixationspunkte in der verlängerten Achse des einen Auges liegen und das andere Auge bedeckt wird, so finden doch bei Änderung der Akkommodation Bewegungen des offenen Auges statt, in Harmonie mit den entsprechenden Bewegungen des geschlossenen. Doch sind diese Bewegungen ziemlich unregelmäfsiger Art. Früher ist vielfach angenommen worden, dafs das offene Auge in einem solchen Fall unbewegt bleibe. Verf. weist hin auf die theoretische Bedeutung der Tatsache, dafs die harmonischen, den Konvergenz- und Divergenzbewegungen voraus- gehenden Augenbewegungen gänzlich unbewufst sind. Daraus folge, dafs Bewegungsempfindungen der Augen nicht die Holle in der Raumwahr- nehmung spielen können, die ihnen manchmal zugeschrieben worden ist.

Max Meyer (Columbia, Missouri).

ViviAK A. C. Hbnhon. The Detection of Color-Blindness. Journ. of Philosophy, Fsychology and Scientific Methods 3 (13), S. 341—344. 1906.

Verf. schlägt vor, die Farbenblindheit und die verschiedenen Grade von Farbenschwäche dadurch zu ermitteln, dafs der zu untersuchenden Person farbige Flächen dargeboten werden, die sie zu benennen haben, während mit Hilfe einer Stelluhr (stop-watch) die zur Farbenerkennung benötigte Zeit festgestellt wird. Als Vorzug der Methode rühmt Verf., dafs man auf diese Weise auch die verschiedenen Grade von Farbensinns- störung mitbestimme. Ref. glaubt, dafs man auch Temperamentsunter- schiede mit in das Resultat hineinbekommt und zur einwandsfreien Ver- wendung der Methode die Urteilsschnelligkeit und die Übung als 2 Faktoren zur Korrektion einführen müfste, was wohl niemand versuchen wird.

W. A. Nagel (Berlin).

302 LUeraturbericht

H. B. Thompson und K. Gobdon. ä Stady Of After-Imtges On tlie Periptell Retina. PsychoL Review 14 (2), S. 122—167. 1907.

Die vorliegende Abhandlung enhält eine Fortsetzung der Versuche von G. Fbrnald über die Abhängigkeit des gesehenen Farbentons von der Helligkeit des Hintergrundes. Dieselbe Versuchsanordnnng ist gebraucht. Das Auge sieht durch ein Loch im Kampimeter in einen Spiegel, der die Lage des Auges bestimmt. Statt des Spiegels wird dann ein farbige? Papier exponiert. Dieses wird wiederum mit einem grauen Papier von derselben Helligkeit wie die Eampimeterfläche bedeckt. Und dann wird das Nachbild beobachtet. Die absolute Gröfse des retinalen Bildes war von 1,08 mm Durchmesser. Zwanzig Punkte auf der Retina wurden zur Beol> achtung benutzt, unter Winkeln von bis 93^, auf dem nasalen Meridian des rechten Auges. Auf den blinden Fleck wurde die nötige Rücksicht genommen. Zwei Methoden wurden angewandt. In der ersten war die Expositionszeit Sek. (oder mehr, auf den peripheren Netzhautteilen, bis völliges Verschwinden der gesehenen Farbe eintrat). Das Nachbild wurde beobachtet, bis es völlig verschwunden war. Bei der zweiten Methode war die Expositionszeit nur 3 Sek.

Die wichtigsten Ergebnisse sind die folgenden. Ebenso wie die direkten Farbenwahmehmungen zeigen die Nachbilder die zu erwartende Tendenz, um so mehr rein blau oder rein gelb zu sein je weiter peripher sie gesehen werden. Die Helligkeit des Grundes scheint keinen Einflufs durch Simultaukontrast auf das Nachbild auszuüben. Z. B. Rot erscheint auf dunklem Grunde nicht rot, sondern orangerot. Aber das Nachbild ist nicht ein grünliches Blau, sondern ein bläuliches Grün der Wirkung des dunklen Grundes wegen. Die entgegengesetzten Wirkungen der Umgebüna auf die direkt gesehene Farbe und auf das Nachbild scheinen sich zn neutralisieren. Der Hintergrund wirkt aber auf das Nachbild ein durch Mischung. Infolgedessen finden sich auf dunklem Hintergrund die dunklen Farbenkomponenten begünstigt, auf hellem Hintergrund die hellen Farben- komponenten. Z. B. das Nachbild von Grün erscheint gelblich-rot anf hellem Hintergrunde, bläulich-rot auf dunklem Hintergrunde.

Es kam vor, dafs ein Nachbild von der regelmäfsigen Farbe sichtbar war, wenn der Reiz selbst nicht wahrgenommen worden war. Andererseits war hftufig der Reiz sichtbar, aber kein Nachbild erschien ; namentlich v:ct letzteres auf dunklem Hintergrunde der Fall. Ein dunkler Hintergrund scheint die Primärfarbe zu begünstigen und das Nachbild zu unterdrücken. Die besten Nachbilder waren in der parazentrischen Region der Retin» zu beobachten. Auf den peripheren Teilen der Retina waren die Nacli- bilder schwach, und noch schwächer auf dem gelbem Fleck. Verff. glauben, dafs ihre Ergebnisse mit der Theorie von LaddFhanklin besser überein- stimmen als mit den Theorien von Hering und Müller.

Max Meyer (Columbia, Missouri).

Mast, S. O. Light Reactions in Lower Organisins. H. Yolvox globttor. Tk

Journal of comparative neurology and psychology. 17, 99—180. 1907. Gegenstand dieser Abhandlung sind die phototaktischen Schwimm- bewegungen von Volvox, eines Flagellaten, der Zellkolonien von Kugel-

Literaturbericht. 303

gestalt bildet. Die Kolonie ist i^is sehr vielen Einzelzellen zusammen- gesetzt. Die letzteren sind an der Peripherie der Kugel in einer Schicht angeordnet, kommunizieren durch feine Plasmafäden und tragen je zwei Oilien^ mittels deren die Kolonie unter Rotation um eine fixe Längsachse «ich im Wasser fortbewegt. Läfst man Licht mittlerer Intensität einseitig in das Kulturgefäfs einfallen, so stellen sich die Längsachsen durch eine Schwenkung der Kolonien annähernd in Richtung des Lichteinfalles ein und die Kolonien sammeln sich, positiv phototaktisch, im hellsten Teile des Wassers. Steigert man die Lichtintensität, so werden die Kolonien Bchliefslich negativ photo taktisch. Die Bewegung bringt also den Flagel- laten stets in ein Lichtoptimum, das übrigens je nach äufseren und inneren Bedingungen, so auch in Abhängigkeit von der Dauer und der Intensität zuvoriger Belichtung verschieden sein kann. Verf. beschreibt an der Hand eigener Versuche diese Erscheinungen in ihren Einzelheiten sehr genau und nimmt dann auch zu der viel umstrittenen und sehr schwierigen Frage Stellung, ob für die Orientierungsbewegungen niederer Organismen gegen- über einseitig einfallendem Lichte die Richtung der Lichtstrahlen (z. B. Sachs, Loeb) oder die Intensitätsunterschiede des Lichtes (z. B. Oltmamns) mafsgebend sind. Er schliefst sich für Volvox der letzteren Auffassung an: Als er nämlich Kolonien mit untereinander parallelen Lichtstrahlen so beleuchtete, dafs während der photo taktischen Schwimmbewegung die eine Seite der Kolonie stärker als die andere beleuchtet wurde, erfolgte eine Ablenkung nach der stärker beleuchteten Seite. Dem Ref. erscheint aber die Deutung dieser Versuche ebenso schwierig w^ie die der Versuche jener früheren Forscher. Schliefslich weist der Verf. nach, dafs für die photo- taktische Empfindlichkeit von Volvox das WESER-FECHNKRsche Gesetz an- näherungsweise Gültigkeit besitzt, wie ja dieses Gesetz auch schon für die phototropischen Krümmungsbewegungen eines einzelligen Pilzes (Phyco- myces) durch Massaet als gültig erwiesen worden war.

H. FiTTiNG (Tübingen).

W. V.* D. Btnoham. Tbe Role of the Tympanic Hechanism in Andition. Psycho!. Eeview U (4), S. 229-243. 1907.

Verf. beschreibt einen interessanten Fall von Hören bei zerstörtem Trommelfell. Mifs Evans litt im Alter von fünf Jahren, vor 36 Jahren, an Scharlachfieber. Beide Trommelfelle wurden durchbrochen. Vor 9 Jahren wurde im rechten Ohr der Rest des Trommelfells und Hammer und Ambos auf operativem Wege entfernt. Auf dem linken Ohr ist niemals eine Operation vorgenommen worden. Doch ist der Ambos verloren gegangen, und das Trommelfell ist fast gänzlich zerstört. Immer seit der ersten Er- krankung hat ein entzündlicher Ausflufs bestanden. Wenn dieser zu stark wird, leidet das Hören. Wenn er jedoch zeitweilig ganz aufhört, so leidet das Hören auch ; in letzterem Fall offenbar, weil die Membranen der beiden Fenster dann austrocknen und ihre Biegsamkeit verlieren. Der RiNNEsche Versuch gibt ein stark negatives Ergebnis: Eine Stimmgabel, die nicht mehr bei Luftleitung hörbar ist, wird bei Knochenleitung wieder hörbar. Mifs Evans* Hörfähigkeit wurde mit Seashobes Audiometer gemessen und

304 Literaturbericht.

auf dem linken Ohr als 26 (später 25), auf dem rechten Ohr als 28 (später 27) gefunden, während die Hörfähigkeit von 8 normalen Personen sich zwischen 15 und 25 bewegte. Flüsterworte in 15 Fufs Entfernung wurden von Mifs Evans in 70% Fällen richtig verstanden, von sechs anderen Beob- achtern in 88®/o bis 99,5%. Das Gehör der Patientin ist also nicht normal, aber sie kann kaum als „harthörig" bezeichnet werden. Sie geht trotz ihres Defekts ihrem Beruf als Lehrerin ohne merkbare Schwierigkeit nach. Es ist natürlich anzunehmen, dafs ihre Aufmerksamkeitsföhigkeit fflr schwache Töne durch jahrelange Übung aufserordentlich gesteigert worden ist. Keine entsprechende Steigerung war auf anderen Sinnesgebieten n beobachten. Die obere Tongrenze schien nur wenig niedriger zu sein als die normaler Personen. Die untere Grenze war etwa 32 auf dem linken, 64 Schwingungen auf dem rechten Ohr. Innerhalb des Hörbereichs fanden sich keinerlei Unregelmäfsigkeiten, keine Toninseln. Mifs Evaks ist durch- aus „unmusikalisch'', kann aber Tonunterschiede von einer Schwingung in der Höhe von 256 erkennen. Von besonderer Bedeutung ist die Tatsache, dafs Mifs Evans Differenztöne in derselben Weise hört wie normale Personen. Auch ihre Lokalisationsfähigkeit für Klänge scheint nicht von der anderer Personen abzuweichen.

Verf. schliefst, dafs demnach das Trommelfell keine ton verstärkende Funktion haben könne, wie seit Helmholtz fast allgemein angenommen worden ist, sondern dafs das Trommelfell nur dazu diene, das innere Ohr zu beschützen und die Membranen der beiden Fenster feucht zu erhalten. Vielleicht hat Verf. darin recht, dafs letzteres die wichtigste Funktion des Trommelfells ist, da man ja auch ohne Trommelfell leidlich hören kann. Doch scheint es Ref., dafs der vorliegende Fall eine Verstärkung des physiologischen Effekts vermittels der mechanischen Wirkung des Tronunel- fells und der Gehörknöchelchenkette gerade wahrscheinlich macht, da j* die Patientin trotz aufserordentlich günstiger Bedingungen der Aufmerk- samkeitsübung, auch wenn die Feuchtigkeitsverhältnisse des Mittelohis die besten waren, hinter normalen, viel weniger speziell geübten Personen im Hören merklich zurückstand. Max Meyeb (Columbia, Missouri).

Max Meyer. The 8i|;niflcance of Wave-Form for onr Comprehensin of Aüdllion. Ämer. Joum. of Fsychol 18 (2), 170—176. 1907.

Wesentlich eine kritische Erörterung einer Abhandlung von Stuupp in Zeitschr. für Psych. B9j S. 241f.: Über zusammengesetzte Wellenformen. Verf. gibt an, selbst vor Jahren ähnliche Kurven wie die von Stumpf behandelteu zu ähnlichen Zwecken studiert zu haben, und führt gegen Stumpfs Auf- stellungen verschiedene Einwände an. Welchen Nutzen kann es haben, über die Wellenformen mathematische Spekulationen anzustellen ? Kur den, uns zu einer richtigen Vorstellung über die mechanischen ProzeBse zu führen, die in dem Gehörsorgan, in der Schnecke stattfinden. Dabei hat man zu erwägen, dafs es gar nicht a priori feststeht, dafs die Schwingungen, aus denen ja die Gehörsreize bestehen, gerade Sinns- schwingungen sein müssen. Sie können auch von anderer Form sein.

Wie wir eine Summe von verschiedenen Tönen im Klange hören, so gewährt eine zusammengesetzte Kurve als eine Summe mehrerer

Liieraturbericht 305

Schwingungen einen eigenen Anblick. Es ist Aufgabe der Forschung, den Übereinstimmungen zwischen beiden nachzuspüren. Sodann gilt es fest- zustellen, ob für unser Gehörsorgan die Möglichkeit besteht, mechanisch in einer derartigen Weise zu funktionieren, wie wir beim Betrachten der Kurven konjizieren. Die in Frage kommende Funktion zu entdecken hiefse das Problem praktisch lösen. In der Anwendung dieser prinzipiellen Gesichtspunkte weicht Verf. wesentlich von Stumpf ab. Zunächst kritisiert M. an Stumpfs Darstellung die Definition der Schwingung, besonders ver- wirft Verf., dafs dafür der Begriff Mittellinie angewendet wird. Im Gegen- satz dazu führt M. seine eigene im Band IL (S. 216) der Zeitschr. f. Psychol. gegebene Definition an. Sie lautet folgendermafsen : „Man suche die kleinste zwischen einem benachbarten Maximum und Minimum (oder umgekehrt; <lie Reihenfolge ist dabei gleichgültig) bestehende Ordinatendifferenz und schneide von der Spitze eines jeden Maximums und Minimums der Kurve die Hftlfte dieser Differenz ab. Jedes Paar Segmente, bestehend aus einem höheren und einem darauf folgenden tieferen Stück, gibt zusammen- genommen eine Schwingung. Die Höhe der Segmente ist als Mafs der Tonstärke zu betrachten. Dieselbe Regel ist auf die noch übrigbleibende Kurve anzuwenden und so fort, bis die Kurve auf eine gerade Linie zurück- geführt ist."

Diese Definition wird sodann näher begründet: M. untersucht weiter, wie sein Schema der Schwingung mit der mechanischen Funktionsweise •des inneren Ohres zu vereinbaren ist: wesentlich eine nähere Ausführung dessen, was in Zeitachr, f. Psych. Bd. 11 und später daselbst Bd. 16 von ihm schon angedeutet worden ist. Die mechanische Theorie, die der Definition der Schwingung entsprechen soll, dürfe man sich nicht rein anatomisch als eine direkte Nachbildung vom Mechanismus des inneren Ohres kon- -strnieren; alles was man verlangen kann, ist, dafs sie eine nahe Analogie dazu bietet. Aall (Halle).

:S. MsYEB. Der Schnien. Eine Untersucbang der psychologischen and physio- logischen Bedingungen des SchmersTorganges. Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. Wiesbaden, Bergmann. 1906. 79 S. In fesselnder und eingehender Weise bespricht Meteb das höchst iLomplizierte Problem des Schmerzes. Er fafst den Schmerz als Gefühl auf, in dem der Abwehrtrieb bewufst wird. Der Schmerz entsteht durch Reizung der Nervenfasern selbst. Er hat keine besonderen Sinnesorgane. Ein genaueres Eingehen auf die anregenden, physiologischen Betrachtungen ist hier leider nicht möglich. Die Schrift ist für Laien und Ärzte ge- schrieben. Der Leser wird sie nicht unbefriedigt aus der Hand legen.

Voss (Greifswald).

W. H. WiNCH. Immediate Memory In School Chlldren lo. II. Anditory. British

Journal of Fsychology 2 (1), S. 62—57. 1906. Fragestellung und Versuchsanordnung sind dieselbe wie im 1. Teile der Arbeit (vgl. diese Zeitschrift 89 (3), S. 232). Nur werden die Buchstaben -

Zeitschrift fOr Psychologie 46. 20

306 Literaturherieht.

reihen nicht, wie dort optisch, sondern akustisch exponiert: sie werden zweimal laut vorgelesen mit einer kleinen Pause nach dem 4. und nach dem 8. Buchstaben, so dafs dafür im Ganzen 25" gebraucht werden; zur Reproduktion bleibt eine Zeit von VBb". Sinnvolle Assoziationen tieten laut Selbstbeobachtungsangaben der Versuchspersonen nur sehr selten auf. Die Resultate stimmen mit denen des ersten Teiles aberein.

LiFMAKK (Berlin}.

£. J. Swift. Memory Of Skillfal Kofenieilts. Fsychological Bidläin % f6i,

S. 185—187. 1906. Verf. vergleicht die Übungskurven eines Schreibmaschinen-Schreibers beim erstmaligen Erlernen (50 Tage) und beim Wiedererlernen nach einer Pause von 2 Jahren und 35 Tagen. Die Leistung, gemessen an der Anzahl der in einer Stunde geschriebenen Worte, beträgt nach der Pause noch ebensoviel wie damals am 12. Tage (700 Worte). Nach 13 Tagen ist dieselbe Leistung erreicht wie damals nach 50 Tagen (1100 Worte).

LiFMAMN (Berlin).

F. Kbameb und W. Stebn. Selbstverr&t durch Assoxiation. Beitr. z. P^ychol. d. Aussage hrsg. von W. Stken 2 (4), S. 457—488. 1906.

Verff. haj^en versucht, durch Assoziationsversuche an 4 männlichen und 3 weiblichen Versuchspersonen nachzuweisen, welche dieser Personen Kenntnis hatten a) von einer Geschichte, b) von einem Bilde, c) von eiaem Vorgang. Der Versuch ist insofern als geglückt zu bezeichnen, als es KsAHER in der Tat gelang, allein aus den Versuchsprotokollen richtig an- zugeben, welche beiden Herren das Bild, welche die Erzählung und welche auTserdem den Vorgang kannten ; ebenso konnte Kramkb richtig zwei Damen die Kenntnis der Geschichte und des \^rganges, sowie der anderen die des Bildes zuschreiben; doch blieb es bei letzterer ungewifs, ob sie aoch die Geschichte kannte (sie kannte sie tatsächlich nicht).

Die Versuchsanordnung war derart, dafs in eine Assoziationsreihe von 100 Worten unter 49 irrelevante 21 auf die Erzählung, 16 auf das Bild und 14 auf den Vorgang bezügliche Worte eingestreut waren. Die Diagnose K.S gründet sich nun

1. auf inhaltlichen Verrat, indem auf „Komplexworte" wiederum mit einem Komplex worte reagiert wurde. Das kam jedoch nur selten und nnr bei Herren vor;

2. auf die Beaktionszeiten. Bei Versuchspersonen, die einen „Komplex" kennen, sind die zu Komplexworten gehörigen Reaktionszeiten durch- schnittlich verlängert. Verf. weisen dies nach, indem sie zeigen, daCs bei den Kennenden

a) die arithmetischen Mittel,

b) die Zentralwerte der Komplex-Reaktionszeiten länger sind als die der ganzen Reihe (um durchschnittlich etwa Vö")>

c) sich unter den 10 längsten Reaktionszeiten ein besonders hoher Prozentsatz von Komplexreaktionen findet.

Zu der auf den Reaktionszeiten beruhenden Diagnose mufs jedoch bemerkt werden, dafs auch bei den zu nicht gekannten Komplexen gehörigen

lAteraturberickt 307

Worten sich mehrmals eine Verlängerung der Zeiten fand ; jedoch gehören den gekannten Komplexen dann meist die grölsten Durchschnittszeiten an. (Ergänzend trage ich nach, dafs „der eine'S der die Beizworte zurief^ wie ich auf meine Anfrage erfuhr, stets K. war, der nicht wufste, welche Versuchspersonen den einen, und welche den anderen Komplex kannten.)

LiPMANN (Berlin).

Maigrb et PisBRON. La micanisme da renforcement sensoriel dans l'atteAtion.

Est-il pöriphirique oa central ? Joum, de paychol norm, et pathol. 4 (3),

S. 246-252. 1907. Im AnschluTs an Versuche von MacDouoall haben die Verff. den Mechanismus der sensoriellen Verstärkung der Aufmerksamkeitsspannung studiert. Sie lähmten durch Atropin die Akkommodation und bestimmten beim stereoskopischen Sehen die Dauer der einzelnen Empfindung (gelb und violett). Es erwies sich, dafs ohne Atropin die Dauer bei passivem Verhalten zwischen 2 und 9 Sek. betrug, starke aktive An- spannung der ASifmerksamkeit konnte sie bis auf 15 ja 30 Sek. steigern. Die Lähmung der Akkommodation beeinfiufste die Periodizität der Schwankungen in keiner bemerkenswerten Weise. So haben die Versuche der Verff. eine neue Bestätigung für die zentrale Entstehung der Auf- merksamkeitsschwankungen ergeben. Bevaut d'Alonnbs hat angenommen, die Verstärkung der Aufmerksamkeit käme durch eine Verminderung des Widerstandes in den rezeptorischen Apparaten derNetz- haut unter dem Einflufs zentrifugaler Optikusfasern zustande. Maiobe and PiEBRON halten die Existenz dieser Fasern nicht für erwiesen. Auch wäre diese Theorie nur für optische Eindrücke zu verwerten, da die übrigen Sinnesnerven keine zentrifugalen Fasern führen.

Voss (Greifswald).

W. Mc.DoüOALL. Pbyslological Factors of tbe Attention-Process (IV). Mind, N. S. 15 (59), S. 329-360. 1906. Eine geläufige psychophysiologische Theorie sieht das Wesen des Aufmerksamkeitsprozesses in einer Innervierung der Sinnesorgane-Musku- latur im Sinne der Einstellung. Dem widersprechen jedoch einfache Beob- achtungen. Bringt man z. B. vor das rechte Auge ein rotes und vor das linke ein blaues Glas, so kann man, auch wenn die innere rechte Augen- muskulatur paralysiert ist, durch willkürliche Aufmerksamkeitsspannung auf Rot, den Farben Wettstreit der Sehfelder zugunsten des rechten Auges entscheiden. Dieser Versuch, sowie eine Reihe ähnlicher Versuche, scheint folgendes allgemeine Resultat zu sichern: Für die Herrschaft, welche wir über Art und Richtung unserer sinnlichen Aufmerksamkeit auszuüben ver- mögen, ist weder die Einstellung der Sinnesorgan-Muskulatur noch der diese Einstellung bewirkende zentrale, nervöse Prozefs von wesentlicher Bedeutung. Was aber ist hier von wesentlicher Bedeutung? Eine Unter- suchung des Phänomens der „ambiguous figures" wird uns die Antwort erleichtern. Ambiguous figures sind solche Figuren, die verschiedenerlei bedeuten können, die in verschiedener Weise „apperzipiert" werden können, also z. B. die bekannte Treppen- oder Würfelfigur. Zwischen dem Phäno-

20*

308 Literaturbericht

mene der ambiguous fignres und dem des Farbenwettstreites der Sehfelder bestehen bedeutsame Analogien. Einmal nämlich macht sich bei beiden Er- scheinungen der Einfiufs höherer geistiger Vorgänge geltend, solcher n&mlich, die in höheren Rindengebieten ihre physiologischen Korrelatvorgänge haben. Spanne ich nämlich meine Aufmerksamkeit intensiv auf die Idee der roten Farbe oder auf die Idee einer bestimmten Gestaltung der ambignons ügure, dann wird auch in meiner Wahrnehmung der jener Idee ent- sprechende Inhalt im Wettstreite obsiegen. Es handelt sich hier um eine Art Suggestivwirknng. Wir haben uns diese folgendermafsen zu erklären: die jenen Ideen entsprechenden Zentren nennen wir sie VorstellongB- zentren entladen ihre freie nervöse Energie (ihr „Neurin) in die eu- gehörigen Empfindungszentren. Ein Neurinstrom fliefst von höheren zo niederen Rindenschichten. In dem Füefsen dieses Stromes aber haben vir das physiologische Korrelat der Aufmerksamkeit zu suchen.

Die zweite Analogie zwischen den Erscheinungen des Farbenwett- streites der Sehfelder und der ambiguous figures besteht darin, dafs bei beiden Erscheinungsarten sich die Ermüdung in bestimmtem Sinne geltend macht. Suchen wir durch Aufmerksamkeitsanspannung gerade das rot- gefärbte Wahrnehmungsbild oder gerade die eine Gestaltung der ambignons figure im Bewufstsein zu fesseln , so gelingt uns das stets nur ffir eine bestimmte, verhältnismäfsig kurze Zeit. Dann drängt sich uns mit spontaner Gewalt das konkurrierende Wahrnehmungsbild auf. Die freie nervöse Energie der konkurrierenden Zentren drängt zum Abflüsse.

Die genannten Analogien aber weisen unzweideutig auf folgende Er- klärung des Aufmerksamkeitsphänomens hin: Wenn wir unsere Anfmeit- samkeit irgend einem Wahrnehmungsgegenstand zuwenden, dann hatnneer Bewufstseinszustand in jedem Augenblicke sein physiologisches Korrelat in einem Fliefsen von Nervenenergie. Es handelt sich dabei um eis Hinüberfliefsen der freien, aktiven Energie von der sensorischen (an- leitenden) zur motorischen (fortleitonden) Seite des Zentralnervensystems. Und zwar geschieht dieses Hinüberfliefsen in einem System von Bahnen, das stets auch Bahnen höherer Rindenschichten in sich einscblielst. Mc. DouGALL glaubt, dafs seine Untersuchungen und die sich aus ihnen ergebenden Schlufsfolgerungen die vorstehende Erklärung des Aafmerk- samkeitsphänomens so sicheren, dafs diese Erklärung vor allen bisher psychophysiologisch geläufigen, namentlich vor der üblichen Apperzeptions- theorie, den Vorzug verdiene. Dieser Vorzug erscheint ihm als um eo unzweifelhafter, als jene Erklärung auch solchen psychischen Erscheinungen gerecht zu werden vermag, die durch die bisherigen Theorien nur un- genügend erklärt werden konnten. Hierher gehören Erscheinungen, wie die des Zusammenhanges zwischen Gefühlswert und Aufmerksamkeits- betonung der Vorstellungen und selbst mancherlei anormale psychische Phänomene, wie z. B. das des doppelten Bewufstseins.

Vor allem aber gehören hierher die Tatsache der gegenseitigen Hemmung der zentralen Nervenprozesse und die Tatsache der Existens eines sog. „Blickpunktes des Bewufstseins". Diejenigen Rinden-Bahnsysteme nämlich, durch die freie, aktive Nervenenergie abfliefst, stellen Gebiete geringsten Leitungswiderstandes dar. In den Gebieten stärkeren Wider-

Literaturbericht 309

Standes ist alBdann der EnergieabflaÜB gehemmt und es fliefst gleichsam der ganze Strom des Bewufstseins nur durch das widerstandsschwächste Bindengebiet hindurch. So wird auch die Ideenassoziation erst recht verständlich! Von der Vorstellung A fliefst der Energiestrom gerade zur Vorstellung B und nicht zu C oder D über, weil gerade zwischen A und B gleichsam das stärkste Potentialgefälle besteht.

Die Willensanstrengung aber kann diesen Prozefs des Hinüberfliefsens der Nervenenergie von allen oder einigen Hirngebieten zu einem be- stimmten Himgebiete und die Ladung dieses Gebietes mit Energie, noch wesentlich verstärken.

Diese Erfahrungstatsache eröffnet uns einen weiten und ungeahnten Ausblick in erkenntnistheoretisches Gebiet!

Denn : Besteht wirklich und nachweisbar, wenn auch nur im geringsten Grade, ein ursprüngliches Vermögen des blofsen Willens also einer rein psychischen Gegebenheit physiologische Energieumsetzungsprozesse zu leiten (to guide), dann hat der Verteidiger der Theorie der psychophysischen Wechselwirkung gewonnenes Spiel! Hebbebtz (Bonn).

Hbxbt J. Watt. Ober den Einflnrs der Geschwindigkeit der Aufeinanderfolge Yon Reixen auf Wortreaktionen. Arch. f. d. ges, Psyckol 9 (2 u. 3), S. 151 bis 179. 1907.

Watt verwendet die Methode der freien Wortreaktionen mit folgender Variation: die Darbietung der Reizwörter erfolgt kontinuierlich in gleich- mäTsigen Intervallen, so dafs der Versuchsperson für die Ausführung der Reaktion nur eine bestimmte Zeit gelassen wird.

Die Vorführung der Reizwörter geschah mit dem Kymographion, und die üblichen Einrichtungen für bequemes Lesen, Sichtbarkeit nur eines Wortes zu derselben Zeit, gleichmäfsige Behandlung aller Wörter u. a. m. waren getroffen.

Es wurden 3 Versuchsreihen ausgeführt: Versuchsreihe 1, in Würz- bnrg, 6 Versuchspersonen, jede Versuchsperson erledigt 36 Reihen zu je 20 Wörtern, für jede Versuchsperson wird die Geschwindigkeit, bei einer durchaus bequemen angefangen, bis zur Grenze der Leistungsfähigkeit ge- steigert, die für die Ausführung einer Reaktion gegebene Zeit (also vom Erscheinen eines Reizwortes bis zum Erscheinen des nächsten) variierte, soweit ich aus den Tabellen sehen kann, von 6770 a bis 360 o. Aus den Resultaten wurde berechnet: die Zahl der ausgeführten Reaktionen, die gröfste Anzahl der hintereinander ausgeführten Reaktionen, die gröfste Anzahl der hintereinander ausgelassenen Reaktionen („gröfste Lücke"). Versuchsreihe 2, in Berlin, 6 Versuchspersonen, jede Versuchsperson führte 25 Reihen zu je 12 Wörtern aus, zur Ausführung einer Reaktion wurden gewährt bzw. 2900, 2060, 1675, 1200 und 880 a. Versuchsreihe 3, in Leipzig, 8 Versuchspersonen, für 4 Versuchspersonen dieselben Reihen und Geschwindigkeiten wie bei Reihe 2, für die 4 anderen Versuchspersonen dieselben Reihen aber mit derselben Geschwindigkeit für alle (1000 a zur Ausführung einer Reaktion).

Von den Resultaten sei folgendes erwähnt: A. Betreffs des Einflusses der Geschwindigkeit. Es ergab sich, wie zu erwarten, dafs die Leistung mit

310 lAterah^rherieht

wachsender Geschwindigkeit objektiv vermindert wird und subjektiv er- schwert erscheint. Die Zahl der Lücken nimmt mit der Geschwindigkeit zu, doch nicht ihre Crrölse; Lticken treten schon auf, wenn die subjektive Wahrnehmung noch von keiner besonderen Schwierigkeit berichtet. Die Differenzen zwischen den Versuchspersonen sind beträchtlich. B. Betreffs der Wiederholung von Reaktionswörtem. Ein Wort, mit dem einmal rfr agiert worden ist, wird häufig auch zur Reaktion auf andere Reizwörter benutzt, und zwar wird jedes Wort auf diese Weise durchschnittlich 2— 3 mal wiederholt, bei einer Versuchsperson sogar 4— 5 mal. Es kommt häufig vor, dafs ein Reaktionswort in derselben Reihe wiederholt wird, noch häufiger, dafs es in der zeitlich darauf folgenden wiederholt wird; die Wahrscheinlichkeit, dafs es in einer der späteren Reihen wiederholt werde, ist wieder geringer und um so kleiner, je weiter die Reihen zeitlich von der ersten Nennung getrennt sind. C. Betreffs der Perseveration. Schon bei der ersten Versuchsreihe hatte Watt sich die Frage gestellt, ob die oft wiederholten Reizwörter „nicht Regelmäfsigkeiten zeigten, die mit denen der Perseverationstendenz der Vorstellung identifiziert werden können '^j und weiterhin „welchen Einfiufs die Zunahme der Geschwindig- keit auf die Wiederholungen hat." Aus den Resultaten der 1. Versnchs- reihe glaubte Verf. vermuten zu dürfen, dafs „um den kritischen Punkt herum'', d. h. bei denjenigen Geschwindigkeiten, welche objektiv und sub- jektiv den ersten Effekt einer Erschwerung der Leistung zeigen, die Ten- denz zur Wiederholung besonders grofs sein möge, oder mit etwas anderer Wendung, „dafs bei besonderer Anstrengung, einer Aufgabe möglichst nach- zukommen, diejenigen Wörter sich besonders aufdrängen, die mit einer grofsen Perseverationstendenz behaftet sind". Die zum Zweck der ge- naueren Untersuchung dieser Frage angestellte Versuchsreihe 2, bestärkte den Verf. insofern in seiner Auffassung als die Wiederholungszahlen bis zur vierten Geschwindigkeit bei der alle Versuchspersonen die Leistung als erschwert empfanden stiegen, bei der fünften aber sich unregel- mäfsig verhielten. Die dritte Versuchsreihe hingegen zerstörte die an das bisherige sich knüpfenden Hoffnungen auf Findung einer Gesetzmäfsigkeit Ref. kann dem Verf. durchaus darin beipflichten, dafs die Veröffent- lichung des mit grofser Sorgfalt gewonnenen und verrechneten Material!« nützlich ist, mögen auch die Resultate wenig der aufgewandten Mfihe ent- sprechen. Walter Baadb (Berlin).

H. Cabr. Tha PeBdolar Whlphsh Illusion of HotioB. Psyckol Rmac U (3).

S. 169—180. 1907. Die in Frage stehende Illusion ist vor einiger Zeit von Dodos bt schrieben worden. An den Armen eines Doppelpendels sind zwei Miniator- glühlampen befestigt. Wenn man im Dunkelzimmer die eine dieser Lampen verfolgt, bis sie zum Stillstand gekommen zu sein scheint, so macht die andere, peripher gesehene Lampe noch eine weitere Bewegung, ähnlich wie ein Peitschenende, nachdem der Peitschenstock selbst zur Rnhe gekommen ist. Dodob erklärt die Illusion folgendermafsen : Er hat phott^ graphisch festgestellt, dafs während des letzten Viertels der Angen-

LiteraiurberichL 311

bewegting die fixierte Lampe sich auf -der Hetina nicht im geringsten ver- schiebt. Da nun nach Dodges Theorie Augenbewegungen allein, ohne Ver- schiebung des retinalen Bildes keine Wahrnehmung von Bewegung veran- lassen kann, so mufs während des letztenViertels der Augenbewegung die fixierte Lampe als ruhend, die peripher gesehene aber natürlich als bewegt gesehen werden, worin nach Donos die Illusion besteht. Verf. zeigt nun experimentell, dafs die Illusion nicht vom letzten Viertel, sondern erst vom letzten Zehntel oder Zwanzigstel der Augenbewegung beginnt. DoDGBB Erklärung kann daher kaum richtig sein. Verf. zeigt, dafs das positive Nachbild der peripher gesehenen Lampe sich am Ende der Fendel- bewegung notwendigerweise stark zusammenzieht und so eine Bewegung vortäuscht, die in Wirklichkeit nicht besteht. Die Illusion kann auch mit stillstehendem Auge beobachtet werden, wenn das Auge die Stelle fixiert, wo die eine Lampe zum Stillstand kommt, und wenn der die andere Lampe tragende Pendelarm hinreichend verlängert wird. Dafs der Nachbildstreifen die Ursache der Illusion ist, kann am besten dadurch bewiesen werden, dafs die Illusion verschwindet, falls ein diffuses Licht dort angebracht wird, wo die Verkürzung des Nachbildes stattfindet, so dafs diese Verkürzung unsichtbar wird. Auch wird die Illusion abgeschwächt, wenn die Aufmerk- samkeit willkürlich auf die Lampe selbst gerichtet und der Nachbildstreifen vernachlässigt wird.

Verf. weist darauf hin, dafs hierdurch Dodges Theorie, wonach Augen- bewegung allein nie zu einer Bewegungswahrnehmung führen könne, einer wichtigen Stütze beraubt sei. Max Mbyeb (Columbia, Missouri).

Th. P. Batley. Snap Shot of a Hnnt for a Lost Name. The Journ, of Phüos., Psychol and Scientif. Meth. 4 (13), S. 337-342. 1907.

Versuch einer Analyse der Vorgänge beim erfolgreichen Besinnen auf einen entfallenen Namen. Lipmann (Berlin).

Dr. G. Panconcelli-Calzia. BibliOgrapbia phonetioa. Mediziniach-pädagogxsche WochenschHft f, d. gea. Sprachhfilkunde. Herausg. von A. u. H. Gutzmanw, Jahrgang 1906, 1907.

Ein sehr verdienstvolles Unternehmen ist es, was der Verf. im Heft 5/6, XVI. Jahrgang der genannten Monatsschrift beginnt. Die phonetische Literatur, Phonetik im weitesten Sinne genommen, wird in den einzelnen Heften der Zeitschrift portionenweise gebracht, im einzelnen Heft alpha- betisch geordnet. Die bibliographischen Angaben sind nach den Kegeln des Institut international de bibliographie, Brüssel, gegeben. Es folgt ein Passus I. = Inhaltsangabe, das Urteil (U.), die Anmerkungen A 1, A 2 usw. und die Belegstellen (Cf.). Verf. stellt in Aussicht, die Bibliographia phonetica 1906 in ungefähr zwei Jahren mit weiteren vervollständigten Urteilen und Anmerkungen im Anschlufs an eine von ihm schon be- gonnene Bibl. phon. 1900—1905 herauszugeben. Hierdurch wird der Wert des ganzen Unternehmens noch erhöht werden.

W. A. Nagel (Berlin).

312 Literatuf-bericht

Tasst. De quolQies propriiUs di falt mental. Jaum. de psychol. norm, et pathol. 4 (3), S. 193-215. 1907.

1. Die RealisationstendeiiE der Gedanken : jede ÄuTserang, auf sprach- lichem und anderem Gebiete, kommt durch eine AnhAufung von Energie zustande, die so lange stattfindet, bis die dadurch erzeugte Spannung sich in der Äufserung löst.

2. Der Gedanke als Kraftträger (dynamisme): als „Wille zam Leben" oder als „biologische Energetik" spiegelt sich die Bedeutung des Gedankens in der modernen Physiologie wieder. Das Substrat der Muskelkraft und die Grundlage der Gedankenbildung müssen nahe verwandt oder identisch sein. Jede Anspannung der einen fahrt zu einer unwillkOrlichen Steigerung der anderen.

3. Die normalen, motorischen Äulserungen rufen keine Empfindungen in uns hervor, wohl aber abnorme. Wir sprechen richtig ohne uns dessen bewufst zu werden ; kaum jedoch begehen wir Fehler oder bilden Neologismen, so tritt eine deutliche Empfindung dafflr auf. Diese Empfindung kann mit- unter die des I^ächerlichen sein. So scheint sich die Empfindung des Lächerlichen namentlich an Vorgänge zu knüpfen, welche den Eindruck des Zwecklosen hervorrufen. Voss (Greifswald).

Felix Ahnold. The Psycheleg J of lAterest Psychol Review 1% (^\ S. 221— ^S: (5), 291—315. 1906. Verf. gibt eine* kurze Übersicht über die Theorien des Interesse«, namentlich über die Theorie Herbabts, und eine systematische Darstellung der psychologischen Vorgänge, die man als Interesse bezeichnet. Er betont, dafs man zwischen Interesse und den bereits ausgebildeten Interessen unterscheiden müsse. Ein wahrgenommener Gegenstand ruft eine Tendenz hervor darauf zu reagieren, d. h. durch eine bestimmte Beihe von Be- wegungen zu gehen. Aulserdem existiert jedoch noch eine oft sehr umfang- reiche Tendenz zu künftigen Reaktionen, für welche die gegenwärtige Aktivität nur die Gelegenheit schafft. Diese letztere Tendenz wird nl» Streben, Begehren, Wille gefühlt, d. h. als Interesse. Der wahrgenommene Gegenstand kann einfach sein, oder auch ein ganzes System. Die ersten instinktiven Reaktionen des Kindes enthalten kein Interesse. Erst wenn die fragliche Manipulation eine bestimmte Bedeutung für das Subjekt erlangt hat, kann Interesse bestehen. Instinktive Aufmerksamkeit ist von Lnst und Unlust begleitet; aber von Interesse darf man dabei nicht sprechen. Andererseits kann wirkliches Interesse sehr sekundärer Natur sein, z. B. wenn ein Student sich für Psychologie „interessiert", weil er dieses Studium zu einem gewissen Examen braucht. Verf. macht dann verschiedene An- wendungen der Theorie auf die Praxis des Unterrichts. Die Herbartianer haben sich nur um bereis bestehende Interessen und deren Fortentwicklang bekümmert, die psychologischen Gesetze des Interesses aber vernachlässigt Dadurch ist die Theorie des Interesses so unfruchtbar für den Lehrer geblieben. Interesse ist kein blofser Empfindungskitzel zu dem Zweck dem Lehrer das Leben leichter zu machen, sondern vielmehr eine Art der Reaktion. Max Meteb (Columbia, Missouri).

Literatwrb^icht. 313

w. B. PiTKiN. ReaiOBS for the Slight Esthetic Talne of tbe Lower Senses.

Päychol RevietD IS (6), S. 363—377. 1906. Verf. hält die Ausführungen von Volkblt in dieser Zeitschrift 29, über den ästhetischen Wert der niederen Sinne für unbefriedigend: Das mit den niederen Empfindungen regelmäfsiger als mit den höheren verbundene Wirklichkeitsgefühl könne kein Hindernis der ästhetischen Bewertung sein. Die meisten Ästhetiker unterscheiden nicht hinreichend zwischen relativ geringem Grade und völliger Abwesenheit ästhetischer Bewertung. Die niederen Sinne haben nach Verf. nicht nur geringeren ästhetischen Wert, sondern lassen überhaupt keine ästhetische Bewertung zu. Dies versucht er nun dadurch zu erklären, dafs Nachbilder und Gedächtnisbilder im all- gemeinen nur bei Gesichts-, Gehörs- und Bewegungsempfindungen von beträchtlicher Dauer sind. In der geringen Stabilität anderer Nachemp- findungen und Vorstellungen sieht er einen hinreichenden Grund für die Unmöglichkeit der ästhetischen Bewertung der niederen Sinne, da ein Ästhetisches urteil nur möglich sei, wenn die Vorstellung und der zu- gehörige Gefühlston hinreichend lange gleichzeitig im Bewufstsein vor- handen sind. Bei den niederen Sinnen wird jedoch die Empfindungs- qnalität zu schnell gedämpft, während der Gefühlston allein im Bewufst- sein bleibt. Max Meyeb (Columbia, Missouri).

Ernst Websb. Das YerhUtnis von Bewegnngsvorstellniigeii in Bewegung bei thren körperlichen illgemeinwirknngen. Plethysmographische Untersnchangen.

Monatsschrift für Psychiatrie und Neurologie 20 (6), S. 528—555. 1906. W. setzt hier früher an Tieren angestellte Untersuchungen bei Menschen fort und kommt zu ähnlichen Resultaten. Bei willkürlicher Muskelbewegung tritt eine Vermehrung des Volumes des Armes ein, Folge einer allgemeinen Blutdrucksteigerung, welche wieder eine Folge der Kontraktion der Blut- gefäfse der Bauchorgane ist. Diese Volumyermehrung, Blntdrucksteigerung und Gefäfskontraktion in den Bauchorganen tritt auch ein, wenn durch hypnotische Suggestion eine lebhafte VorstelluDg dieser Bewegung hervor- gerufen wird, ohne dafs die Bewegung selbst ausgeführt wird. Die Volum- vermehrung tritt auch ein, wenn auch nicht so regelmäfsig und etwas später, wenn die Aufmerksamkeit willkürlich auf die BewegungsTorstellung konzentriert wird. Die Vermehrung des Volumes des Armes tritt dagegen nicht ein, wenn nach Ausschaltung des Willens und der Aufmerksamkeit im hypnotischen Zustand dieselben Bewegungen passiv ausgeführt werden, deren willkürliche Ausführung die Volumvermehrung herbeigeführt hatte.

XJmffenbach (Bonn).

H. CuBscHXAKN. Boltrige inr Psychologie and Pathologie der kontralateralen Hitbewegnngen. Hab.schr. Tübingen. 1906. 53 S.

Die interessante Arbeit enthält eine ausführliche Besprechung der bisher in der Psychologie und Pathologie noch wenig berücksichtigten Mit- bewegungen. GuBscHHAim erörtert zunächst ihr physiologisches Auf- treten.

Alle Bewegungen sind ursprünglich bilateralsymmetrisch, teilweise bleiben sie so fürs Leben (Mimik, Bauchmuskeln). Zur Prüfung auf Mit-

314 Litemturberickt

bewegungen stellte Cdrschmann vorzugsweiee an jagendlichen Individoen Versuche an. Er veranlafste diese VersuchsperBonen bestimmte Bewegangen auszuführen und beobachtete gleichzeitig das Verhalten der symmetrischen Teile. Bei fast allen traten streng isolierte, symmetrische Mitbewegangen ein, die bei fortschreitender Übung schwanden und bei Ermüdung vleder auftraten (Juveniler und Ermüdungstypus). Bei Erschwerung der Be wegungen traten die Mitbewegungen früher und stärker auf. Dagegen fehlen sie bei Individuen, welche ihre Koordinationsfähigkeit ausgebildet haben (Klavier- und Geigenspieler). Bei passiven Bewegungen fehlen die Mitbewegungen. Das physiologische Verschwinden der kontralateraleo, identischen Mitbewegungen bei zunehmendem Alter ist auf eine Ent- wicklung von Hemmungsimpulsen zurückzuführen.

Unter pathologischen Verhältnissen treten Mitbewegungen m häufigsten bei supranukleären Lähmungen auf. U nter 20 Fällen von Infantiler Zerebrallähmung konnte sie Oubschmakn 17 mal feststeilen. Als Erklärung für ihre Entstehung wird ein Fortfall der zerebralen Hemmtmgs- vorrichtungen angenommen (modifizierte We STPHALSche Theorie). Ba besonderes Interesse beansprucht noch die Erfahrung des Autors, dafe bei hysterischen Lähmungen die Mitbewegungen nicht aufzutreten pflegen. Ein Hinweis, der unter Umständen differentialdiagnostische Bedentung erlangen könnte. Voss (Greifswald).

Hknrt Ilberq. GeUteskranklieiten. Aus Natur und Geisteswelt löL 190i- 152 8. Verf. will mit dem kleinen Workchen dazu beitragen, da£s auch Nicht' ärzte, Lehrer, Juristen, Offiziere, Geistliche usw., sich mehr als bisher mit psychiatrischen Fragen beschäftigen und ihre Kenntnisse dann für ihren Beruf nutzbar machen. Dementsprechend ist die Darstellung eine gemein- verständliche und hatte I. nicht die Absicht, die Psychiatrie hier erschöpfend zu behandeln. Die Krankengeschichten sind so ausgewählt und gegeben, dafs auch Nichtmediziner sich ein Bild von den wichtigsten Formen psychischer Krankheit machen können. Uhpfenbach (Bonn).

W. Hellpach. Ober die Anwendmig psychopathologischer Rrkeintiissa u^ gesellschaftlicbe und geschichtliche Erscheinungen. Annalen der Natwr- Philosophie 5, S. 321—348. 1906.

Hellpach vertritt die Ansicht, das seelische Abnormität des Schöpfers an der objektiven Bedeutung der Leistung nichts mindert. Keine Seelen- äufserung ist an sich als krankhaft zu erkennen, sondern nur ans dem Verständnis der Persönlichkeit des Äufsemden heraus. Einen Weg zw Klärung dieser historisch psychologischen Fragen hat Möbius in seinen Pathographien gewiesen. Nur eine historisch bedeutende Persönlichkeit darf aber Gegenstand solcher Arbeiten sein. Eine zweite Methode ist die „gemeinschaftspathologische'' Forschung, welche sich an die sozialpoHtischen Bestrebungen anlehnen mufs. Um auf dem Gebiete der Geschichte erfolg^ reich zii sein, mufs die Psychopathologie sich jedes Eingehens auf äc historischen Streitfragen enthalten. Voss (Greifswald).

Literaturbericht 315

P. J. MöBiüs. Ober Scheffels Rrankbelt. Mit einem Anhang: Kritische BemerlLiiiigeii Aber Pathographie. Halle a. S., Marhold. 1907. 40 S.

MÖBius führt den Nachweis, dafs Scheffbl an Dementia praecox <2:elitten hat. £r erkrankte im 27. Lebensjahr an der Psychose. Dem ersten folgten noch einige Anfälle und im 35. Jahre kam die schwerste Phase mit Verfolgungswahn, sinnlosen Handlungen and Selbstvor würfen. Dann trat allmählich Besserung ein, doch war und blieb die dichterische Ge- staltungskraft Scheffels gebrochen.

Die kritischen Bemerkungen über Pathographie enthalten eine Er- widerung an Dr. Gbühle in Heidelberg» der Möbiub* Auffassung von Schümanns Krankheit entgegengetreten war. Dr. Gbühle zweifelt bei Schumann an dem Vorhandensein einer Dementia praecox und spricht sich für Manisch-depressives Irresein + Paralyse aus. Möbius versucht die recht triftig erscheinenden Einwände zu entkräften und betont^ dafs zwischen den beiden oben genannten Krankheiten keine prinzipiellen Gegen- sätze bestehen. Sowohl die Dementia praecox als das Manisch-depressive Irresein beruhen auf Entartung und sind demgemäfs nahe verwandt. Möbius nimmt sogar an. dafs es Übergänge zwischen diesen beiden Er- krankungsformen gibt(?). Voss (Greifswald).

€h. Blondel. Les anto-mntilateors, itude psycho-pathologiqne et midico-lägale.

Paris, Jules Rousset. 1906. 132 S. 2,40 Mk. Eine sehr interessante Zusammenstellung von Selbstverstümmelungen, woraus sich ergibt, dafs mit Vorliebe die Kastration („eunuchisme''), die Enukleation einer oder beider Augäpfel („oedipisme**) und die Verbrennung einzelner Körperteile („scaevotisme") gewählt werden. Bei Soldaten scheinen mehr Verletzungen der Gliedmafsen, namentlich der Finger vorzukommen. Die Selbstverstümmelungen geschehen mit Vorliebe im Zustande gemütlicher Depressionen, Melancholie, bald mit, bald ohne Beisein religiöser Wahn- ideen. Wo letztere zugegen sind, so sind sie mehr sekundärer Art, bedingen die Selbstverstümmelung nicht direkt. Halluzinationen, mit Vorliebe seitens des Gehörs, und nicht imperativen Charakters, scheinen eine gewisse Rolle dabei zu spielen. Mitunter geschieht die Selbstverstümmelung durch andere, d. h. die betreffenden lassen sich durch andere verstümmeln (autd- mntilation indirecte). Verf. kommt zum Schlufs, dafs die Selbstver- stümmelung Folge eines psychopathischen Zustandes ist, auch häufig bei den Soldaten, die sich durch Verstümmelung vom Militärdienst zu befreien oder eine Rente zu erlangen hoffen. Bl. verlangt daher in allen Fällen von Selbstverstümmelung, auch wenn anscheinend ein plausibler Grund vorliegt, eine sachgemäfse Beobachtung und Begutachtung des Solbstverstümmlers, bei der automutilation indirecte beider Leute. ümpfenbach (Bonn).

H. Klien. Oher die psychisch hedingten Einengungen des (lesichtsfeldes.

Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten 42 (2), S. 359—450. 1907.

Nach einem historischen Überblick über die Entwicklung der Lehre

von der Gesichtsfeldeinengung gibt K. eine Beschreibung der von ihm

angewandten Methode. Er untersucht zunächst bei gewöhnlicher Stellung

des Kopfes und bezeichnet das hierbei erhaltene Gesichtsfeld als primäres.

316 LitercUurberichi.

Darch maximale Einstellung des Anges nach der dem untersuchten Meridiui entgegengesetzten Kichtung wird die volle Ausnutzung der Netzhaut erreicht. Das resultierende Gesichtsfeld bezeichnet K. als komplementäres. Die CGFE ist in einer grofsen Zahl von Fallen auf eine Aufmerksamkeits- störung zurückzufahren. Diese Entstehung ist anzunehmen bei epilep- tischer Demenz, epileptischen Dämmerzuständen, alkoholischem Delirinm, Arteriosklerose des Gehirns, bei zerebralen Erweichungsherden, bei traumt- tischer Psychose und Demenz, bei Dementia praecox, bei progressiTer Paralyse, und vor allem bei Dementia senilis. Hier findet sich negativer Verschiebungstypus, annähernd gleiche Einengung auf beiden Augen, und geringe Komplementärer Weiterung. Diese Form der CGFE ist nach K. als Ausdruck einer Störung der allgemeinen Hirnfunktion zu betrachten. Um sich ein Bild von der Entstehung der hysterischen CGFE zu machen, untersuchte K. eine Reihe Unfallskranker, ferner Normale, die den Auftrag erhalten hatten eine GFE zu 'simulieren. Bei den Traumatikern fand sich, ebenso wie bei anderen Hysterischen, nur selten eine Einengung. Falsche Farbenfolge ist kein Beweis für und richtige kein Beweis gegen Simulation. Die Komplementärablenkung bei Simulanten gibt eine deutliche Erweiterung des GF. Ein röhrenförmiges Gesichtsfeld fand sich hei einem Teil der Fälle von Simulation. Bei der hysterischen Sehstöraog handelt es sich um eine exzentrische Projektion psychischer Vorgänge. Die Einengung des Gesichtsfeldes kommt bei diesen Kranken auf dem Umwege der subjektiven Vorstellung des Schlechtsehens zustande. So gelang es K. bei einem schwer hysterischen Mädchen durch hypnotische Suggestion auf dem einen Auge Amblyopie zu erzeugen, und dement- sprechend erwies sich das Gesichtsfeld als eingeengt.

Der Nachweis der Simulation eines nervösen Krankheitsbildes i!»t nur in seltenen Fällen möglich und kann nicht auf Grund eines Symptomes geschehen. Vielmehr schliefst sich K. dem Satz Stbümpblls an, dafs nar die psychiatrische Beurteilung des gesamten BewuTstseinszustandes hei der Diagnose der Simulation den Ausschlag geben könne.

Voss (Greifswald).

Qlembns Gudden. Ober eine gewisse Form von Erinneraigslflcken nnd dira Ersati bei epileptisoben DämmersiisUiiden. Archiv für Kriminal-Anüiropd. u. KHminaUtatiatik 27 (3/4), S. 346-361. 1907. Es ist bekannt, dafs Epileptiker an Amnesien leiden. Letztere können vollständig sein, wo die betreffenden für eine gewisse Zeit gar keine Er- innerung haben, oder es bestehen nur mehr oder weniger grofse Er- innerungslücken. Unter Umständen suchen nun die Kranken für die in solchen Lücken vollführten Handlungen, wenn sie später davon hören, eine Motivierung und zeigen sie dann dabei das ganz natürliche Bestreben, dts ihnen etwa sonst fremde Benehmen in Einklang zu bringen mit ihrem normalen Empfinden und Handeln, aber ohne Rücksicht auf die objektive Wahrhaftigkeit. Handelt es sich dabei um eine kriminelle Sache, so könnte unter Umständen diese versuchte Motivierung als Lüge und infolgedessen die ganze Amnesie fälschlicherweise als Simulation aufgefafst werden.

Umpfbnbach (Bonn).

Literaturbeiicht 317

Gbobobs Drbtfus. Ein Beitrag iir Kenntnis des hysterischen Irreseins. Zentral- blatt für NervenJieilkunde und Psychiatrie (223), S. 78ö— 805. 1906. Die sehr ausführliche und höchst interessante Krankengeschichte erstreckt sich über einen Zeitraum von 37 Jahre und beweist von neuem, -wie schwer es oft ist, zu einer bestimmten Diagnose zu kommen, und dafs «8 unter Umständen unmöglich ist, sich für Hysterie oder Epilepsie zu entscheiden. Da. hält es übrigens nicht für ausgeschlossen, dafs den schweren Hysterieformen pathologisch - anatomische Prozesse im Zentral- organ zugrunde liegen. Umpfbnbach (Bonn).

A. K. Gbrharoi. Das Wesen des Genies, mit einem Anhang: Das Genie und seine Beziehungen zum altsprachlichen Unterricht. Jauer und Leipzig^ Hellmann. 1907. 149 S. Mk. 2,40.

Gerhabdj definiert das Genie als „schöpferischen Geist" und führt es auf drei Faktoren zurück: Leidenschaft, Phantasie und Urteilskraft. Die Leidenschaft drängt das Genie, sich auf demjenigen Gebiete, für das es geboren ist, zu üben und zu betätigen, sie ist die Quelle des Fleifses und der Beharrlichkeit, ohne die auch der genial veranlagte Mensch nichts leistet, ergibt aber für sich allein, ohne die beiden anderen Faktoren, höchstens die Fähigkeit der Dilettanten und Enthusiasten, nicht des Neu- schaffenden. Die Phantasie, der schöpferische Faktor im engeren Sinne, beschränkt G. ihrem Wortsinne nach nicht, wie es dem bisherigen Sprach- gebrauche der Psychologie entspricht, auf das Gebiet der konkreten Vor- steUungen, sondern definiert sie als das „unerklärte und unerklärliche Hervortreten irgend einer Vorstellung, eines Gedankens aus dem Un- bewufsten ins Bewufstsein." Da die Selbst Wahrnehmung nur bis zur Grenze des Unbewufsten vordringt, lasse sich das Wesen der Phantasie nicht weiter ergründen ; doch könne die Eigenart der genialen Phantasie nur auf der Quantität der Einfälle und demgemäfs der Gehimmasse beruhen; die Qualität der Assoziation, etwa ihre Geschwindigkeit, sei für die Leistung des Genies unerheblich, denn was das rasche Tempo des Einfalls zustande bringe, das schlagfertige Auffassen und gewandte Konversieren, sei keine geniale Leistung.

Besser als diese Folgerung erscheint die andere, dafs, weil die Tätig- keit der Phantasie auf dem konkreten und abstrakten Gebiete sich gleich bleibe, auch zwischen der Anlage des künstlerischen und wissenschaftlichen Genies kein grundlegender Unterschied bestehen kann.

Aufgabe der Urteilskraft ist es, aus den Darbietungen der Phan- tasie das Richtige und Passende auszuwählen. Phantasie ist ^der Mutter- boden, aus dem geistige Erzeugnisse ans Licht spriefsen, aber wild ans Licht spriefsen, so dafs das kritische, das aussondernde Messer des Gärtners Urteilskraft nicht fehlen darf, die Auswüchse zu stutzen.*' Zwei Arten von Urteilskraft werden unterschieden: die verstandesmäfsige, die dem Wirklichkeitssinne gleichgesetzt zu werden scheint, und die ästhetische, der kritische Geschmack, den G. einfach auf die „Empfindungsfähigkeit", d. h. die Intensität und den Keichtum der Gefühle zurückführen will. Eine genauere Erklärung des Wesens der Urteilskraft hält G. gleichfalls

318 Literaturbericht

für unmöglich, obgleich er das, was er suchte, aus älteren i^ychologischen Arbeiten hätte entnehmen können. Nur soviel stellt er fest, daTs auch die Urteilskraft „spezifisch^, d. h. an bestimmte Denkgebiete gebunden sein kann, dafs sie gleichfalls von der Quantität des Gehirns abhängig ist. und dafs fOr sie, nach Arnold Ohlerts Theorie, nur die Art und Klarheit der Begriffe, nicht die rein mechanisch verlaufenden Urteile und Schlosse aus- schlaggebend sind. Wo, wie im Traum, im wirklichkeitsfremden Märchen, in den Produktionen des Wahnsinns, die Phantasie sich ohne Urteilskraft betätigt, erreicht sie die Höhe der Genialität nicht.

Im Walten oder Fehlen der Urteilskraft sieht G. dasjenige Moment, das eine feste Grenze zwischen Genie und Wahnsinn zieht. So bekämpft er überhaupt aufs Entschiedenste die Anschauung, die im Genie ein Ent- artungsprodukt erblickt. Die Störung des harmonischen Gleichgewichts, das Hervortreten einzelner geistiger Gebiete auf Kosten anderer im genialen Menschen sei keineswegs krankhaft, sondern eine notwendige Anpassung an die Arbeitsteilung der Kultur. Sein Zwiespalt zwischen edlen und an- edlen Trieben, sein feindseliges Verhältnis zur Umgebung und Gesellschaft sei nur ein Einzelfall der durchgehenden Dysteleologien, die die körper- liche und geistige Organisation des Menschen, ja seine gesamte Beziehung zu Natur und Welt charakterisieren und für G. den Ausgangspunkt zu einer mechanistischen, die Allgewalt des Zufalls behauptenden W^eltanschan- ung bilden.

An gelegentlichen guten Einfällen ist das Buch reich. Den schwächsten Punkt in seinem zusammenhängenden Gedankengange aber bildet offenbar die „Urteilskraft, die Zuweisung der kritischen Begabungen an eine neue, frei erfundene Funktion, deren Zurückführung auf die der Psychologie ge- läufigen, empirisch beobachtbaren kurzerhand abgelehnt wird. Eine solche Übersetzung des Schemas der psychischen Leistungen in ein Schema der psychischen Funktionen ist nichts weiter als ein Rückfall in die alte Ver- mögenslehre, in die primitive Erklärung der Produkte des Seelenlebens durch potentielle Kräfte ein Rückschritt, der sich gerade auf dem Ge- biete der Begabungspsychologie öfter findet, weil hier die Untersncbung allein von den Leistungen und ihrer Art und Gröfse ihren Ausgang nimmi.

Der genannte Fehler hängt zusammen mit der Tatsache, dafs Geshari'i^ Buch keine systematische psychologische Arbeit, sondern eine populär- wissenschaftliche Improvisation ist, die mit den Begriffen und Resultaten der Faclipsychologie sowie mit der älteren Literatur auf dem Gebiete der Begabungslehre nur wenig Fühlung sucht. Daher ist ein wesentlicher Teil der oben wiedergegebenen Grundgedanken auch keineswegs originell Übrigens deutet die Tatsache, dafs verschiedene Autoren unabhängig von- einander bei der Behandlung gewisser Begabungsfragen zu gleichen Ergeb- nissen gelangen, darauf hin, dafs dieses Wissenschaftsgebiet bei sj'stema- tischer und einheitlicherer Bearbeitung nicht der Tummelplatz der Subjektivität zu bleiben braucht, als der es heute erscheint.

R. Baerwald (Wilmersdorf).

Literatw^feridit 319

Dr. 6. Stöbsing. Ethlsehe Griiiidfirageft. I. Teil: Dantelliing und kritische Wtrdigug der moralphilosopliischeii Systeme der 6eg:e]iwart Eigenes Moral- priBzip. n.Teil: Rechtfertigang der Fordeniiig sittlichen Lebens. Leipzig, Engelmann. 1906. 324 S. 6 Mk.

Diese Schrift bildet die Fortsetzung der 1903 erschienenen und von mir im Jahrgang 1905 dieser Zeitschrift besprochenen Moralphilosophischen Streitfragen I. Teil: Die Entstehung des sittlichen Bewufstseins. Die vor- liegende Schrift behandelt unter der etwas veränderten Bezeichnung als „Ethische Grundfragen'* die beiden anderen schon damals in Aussicht genommenen Probleme, das „Moralprinzip", aus dem die sittlichen Werte als Stufenanordnung abzuleiten sind, also das System der sittlichen Forde- rungen, und „die Rechtfertigung der Forderung sittlichen Lebens'*, also die Frage der Triebfedern oder der Sanktion des Sittlichen.

Den ersten dieser beiden Abschnitte benutzt der Verf., um eine „Dar- stellung und kritische Würdigung der moralphilosophischen Systeme der Gegenwart'* ihrem ganzen Umfange nach und nicht ausschliefslich in bezug auf den hier vorliegenden Fragepunkt der Ableitung der sittlichen Forderung zu geben. Diese historisch-kritische Darstellung umfafst fast zwei Drittel der ganzen Schrift. Der Verf. unterscheidet zunächst Systeme mit meta- physischen Voraussetzungen („Vorstellungen über die Weltanschauung", wie er sagt, Schopenhauer und v. Habtmaitn] und Systeme, die auf solche verzichten. Letztere sind: 1. Die eudämonistische Ethik, repräsentiert durch BfiLL und Spencer, die er in fragwürdiger Weise als induktiv und deduktiv unterscheidet. 2. Die energistische Ethik (Paulsen). 3. Die Persönlichkeitsethik, d. h. eine Ethik, die als Ziel des Sittlichen die Vollendung des eigenen persönlichen Lebens annimmt. Hier soll Lipps der Beprttsentant sein, von dem allerdings einige in dieser Kichtung gehende Wendungen angeführt werden, dessen „Persönlichkeits werte" aber eher die altruistische Gesinnung im Gegensatz gegen die äufsere Handlung zu bezeichnen scheinen. Die wahre Persönlichkeitsethik ist wohl eher die antike, ihr Schöpfer Plato (vgl. meine Geschichte der griechischen Philo- sophie I, S. 543 ff.). 4. Die Ethik der objektiven geistigen Erzeugnisse (WtTNDT). Der Wert dieser historisch-kritischen Erörterungen steht wohl kaum im Verhältnis zu dem Raum, den sie einnehmen, zumal der Verf. bei der Darlegung der Systeme zu wenig frei über dem Gegenstande steht und auch die kritischen Würdigungen nicht besonders lichtvoll und frucht- bar sind. Vielleicht hätte der Verf. besser getan, sich hier auf die im gegebenen Zusammenhange nächstliegende Frage zu beschränken, die Frage nämlich, in welchem Mafse es den betreffenden Systemen gelingt, das Ganze einer sittlichen Lebensführung aus ihrem Prinzip abzuleiten.

Den zweiten Abschnitt des ersten Teils bildet sodann die Entwicklung des eigenen „Moralprinzips". Hier nun entwickelt der Verf. in überaus zusammengedrängter Anhäufung einer grofsen Mannigfaltigkeit von meist nur formelhaft gegebenen Distinktionen ein unendlich kompliziertes Begriffs- system, das offenbar bestimmt ist, in einer umfassenden Synthese die Gesamtheit der dem Verf. als wesentlich erscheinenden Züge des Sittlichen zusammenzufassen. Wegen dieses komplizierten Charakters aber und wegen

320 Literaturbericht

des abstrakten Fernstehens vom wirklichen handelnden Leben ist es unmöglich, den Standpunkt des Verls zu charakterisieren oder zu mbri- zieren. Betont sei nur, dafs eines der Grundmomente seines Sittlichkeito- ideals die Wahrung der ,,sittlichen Selbstachtung'* ist, ein Ausdruck^ der schon in der früheren Schrift, auch in der erweiterten Fassung als „Acbtong vor sich als einer die Befolgung der sittlichen Vorschriften wollenden Persönlichkeit", vorkam. In der gegenwärtigen Schrift kommt er sebr oft vor, ist aber sprachlich zu beanstanden und mifsverständlich, da er höchstens die sittlich geforderte, dem Sittengesetze entsprechende Selbstachtung bezeichnen könnte.

Auch in dem bedeutend kürzeren zweiten Teile (S. 274 324) gibt die Frage der Sanktion dem Verf. wieder Anlafs zu umfangreichen historiacb- kritischen Exkursen und zwar diesmal Aber die ,,ethischen Skeptiker^ im Altertum und in der Neuzeit (Mandbvillb, Stirnbr, dieser sehr eingebend behandelt, Nietzsche, nur kurz berührt). Die Rechtfertigung der Forderung des Sittlichen besteht dann schliefslich darin, dafs die Wertschätzung des Sittlichen deshalb Gültigkeit hat, weil sie sich auf Grund der allgemeinen intellektuellen und emotionellen Funktionen des Menschen notwendig ans- bildet. Der S. 150 zweimal .vorkommende Ausdruck „heterom" ist wohl nur ein Druckfehler. A. Döbing (Gr.-Lichterfelde-Berlin).

E. NicoLiN. Ett Fall af Sömng&ngarskap hos Hund. Psyke 1 (1), S. 86. 1906.

Ein Fall von Somnambulismus beim Hunde. Dafs die Tiere z. T. ein lebhaftes Traumleben haben können, war längst bekannt. Es wird hier ein Fall beschrieben, dals ein Hund, der am vorangehenden Tage an einer Jagd auf Füchse eifrig beteiligt gewesen war, in der Nacht einen somnambulischen Gewaltakt ausführte.

Aall (Halle).

321

Beiträge zur speziellen Psychologie auf Grund einer Massenuntersuchung.

Von

G. Heymans und E. Wiebsma. Vierter Artikel.^

6. Nachtrag znr Psychologie der Geschlechter.

Nach einem Vortrag über die Ergebnisse unserer Enquöte, der im vorigen Winter in einem hiesigen wissenschaftlichen Ver- eine gehalten wurde, machte eine der anwesenden Damen die Bemerkung, dafs diesen Ergebnissen, da sie fast sämtlich von männhchen Berichterstattern herrühren, für die Psychologie der Geschlechter nur eine sehr zweifelhafte Bedeutung beizulegen sei: lasse es sich doch vermuten, dafs viele Charaktereigenschaften bei Männern und Frauen in sehr verschiedener Weise zur Äufse- rung gelangen, und demzufolge auch von Männern und Frauen nach sehr verschiedenen Ejriterien, also nur für das eigene Ge- schlecht richtig, für das andere aber mögUcherweise falsch, dia- gnostiziert werden. Diese Bemerkung schien nicht unbegründet : von den 3000 Ärzten, denen wir Fragebögen hatten zugehen lassen, gehörten nur 14, von unseren sonstigen Berichterstattern 2 dem weibUchen Geschlecht an; von den bisher verwendeten 400 Familienberichten rühren also höchstens 16, wahrscheinlich aber viel weniger von weiblichen Referenten her (die Zahl läfst sich nicht bestimmt angeben, da die meisten Berichte anonym waren). Unter diesen Umständen hielten wir es für wünschens- wert, noch einen Kontrollversuch anzustellen ; wir ersuchten also

» Siehe diese Zeitschrift 42, S. 81—127, 258-301; 43, S. 321—373; 45, S. 1—42.

Zeitschrift für Psychologie 46. 21

322 ' ö- Hcymam und E, Wiersma.

jene Dame, uns Adressen von weiblichen Bekannten zu liefern, welche ihr befähigt erschienen, sich an der Enquete zu beteiligen, und sie hatte die Freundlichkeit, uns deren 60 zu unterbreiten. Diesen 60 Damen haben wir dann unsere Fragebögen mitsamt Rundschreiben zugeschickt, und bis jetzt von denselben 21 Familien- berichte (über 113 Personen) zurückerhalten. Diesen haben wir dann noch 5 Familienberichte (über 34 Personen) aus unserem früheren Material, deren Absender durch Namenangabe sich als Frauen bekannt gegeben hatten, hinzugefügt, so dafs wir im ganzen über Angaben inbezug auf 147 Personen, welche sicher von weib- licher Hand zusammengestellt worden sind, verfügen. Unseren freundlichen Mitarbeiterinnen sagen wir hiermit verbindlichen Dank.

Wir haben nun geglaubt, uns darauf beschränken zu dürfen, die betreffenden Charakterbeschreibungen nach dem Gesichts- punkte der Geschlechtsverschiedenheit zu ordnen, da eine weitere Einteilung (etwa nach den Generationen) hier allzu kleine An- zahlen für die statistische Bearbeitung ergeben würde, und da doch nur in bezug auf jenen einen Punkt eine systematiscbe Differenz zwischen den Auffassungen männlicher und weiblicher Berichterstatter zu vermuten war. Auch so sind die Anzahloi der Männer (68) und Frauen (79), über welche wir fiir die jetzige Untersuchung verfügen, noch klein genug; wir werden also auch im günstigsten Fall nur Übereinstimmung im grofsen und ganzen zwischen den früher (in unserem 2. Artikel) ermittelten und 4m jetzt zu ermittelnden Prozentsätzen erwarten dürfen.^ Damit man einigermafsen die Zuverlässigkeit der vorliegenden Ergeb- nisse beurteilen kann, bemerken wir, dafs die wahrschan- liehen Fehler der Prozentsätze zwischen folgenden Betragen schwanken : für das alte Material zwischen 0,2 (für 0 bzw. 100 %) und 1

(für 50%), für das neue Material zwischen 1 (für 0 bzw. 100%) und 4

(für 50%),

^ Dafs wir hier nur Prozentsätze, und nichts wie früher, auch Ge> Bchlechtskoeffizienten vergleichen, hat seinen Grund in der ErwAgung, dab für die Berechnung der Geschlechtskoeffizienten eine weitgehende Ein- teilung des Versuchsmaterials erfordert ist, welche, wie bereits im Texte bemerkt wurde, bei dem vorliegenden sehr beschränkten Materiale keine zuverlässigen Resultate ergeben würde.

Beiträge zur spetneüen Psychologie auf Onmd einer Massenuntersuchung. 328

also die wahrsoheinlichen Fehler der zwischen den Prozentsätzen für beide Gesdilechter ermittelten Differenzen dort zwischen 0,3 xind 1,4, hier zwischen 1,4 und 5,6. Sofern also jene Differenzen diese Beträge nicht merklich überschreiten, sind sie wenig be- weiskräftig; je mehr sie es tun, um so sicherer werden wir unseren Ergebnissen Allgemeingültigkeit zuschreiben dürfen.

Wir wollen jetzt diese Ergebnisse (sowohl die aus dem alten wie die aus dem neuen Material gewonnenen) für die verschie- denen Eigenschaften in der gewohnten Reihenfolge und Gruppie- rang durchgehen.

I. Bewegungen und Handeln. (Frage 1—8.)

Familienberichte

1—400 (fast aufl-

schliefslich männl.

Berichterstatter)

Familienberichte 80,140,294,313,423,

438-458 (aus- schliefslich weibl.

Berichterstatter

% der

% der

Männer

Frauen

Männer

Frauen

1. beweglich und geschäftig

40

42

29

53

gesetst und ruhig

56

52

68

39

2. stets eifrig

73

78

77

86

zeitweise eifrig

18

14

9

10

faal

7

5

9

0

3. meistens beschäftigt

55

70

52

75

es sich beqnem machend

36

23

38

15

4. verpfl. Arbeiten vernachlÄssigen

15

8

16

14

5. anfschieben

32

24

35

29

frisch angreifen und eriedigen

54

62

52 : 56

1

6. leicht verzagt

24

25

31 ] 23

beharrlich

43

43

37

51

Btarrsinnig

18

15

12

10

7. impulsiv

34

42

24

46

bedächtig

50

41

1 60

42

Prinzipienmensch

8

6

4

8

8. resolut

50

53

52

56

unentschlossen

29

28

: 30

1

24

Wie man sieht, stimmen die früheren und die jetzigen Resul täte fast überall (in 14 aus den 18 Fällen) der Richtung nach überein. Insbesondere zeigen sich nach den weiblichen Refe- renten die Frauen im Vergleiche mit den Männern noch viel mehr

21*

324

G. Heymans und E. Wienmia.

beweglich und geschäftig, weniger gesetzt und ruhig, häufiger eifrig und beschäftigt, seltener faul oder es sieh bequem machend als nach den Berichterstattern männliche Geschlechts; auch ihre stärkere Impulsivität und geringere Bedächtigkeit tritt merkhch deutlicher als früher hervor; und während die Geschlechtskoeffizienten aus dem früheren Material in bezug auf Frage 8 keinen sicheren Au&chlols gewährten, weisen die neuen in Übereinstimmung mit den alten Prozentsätzen entschieden auf eine gröfsere Frequenx der Resolutheit bei den Frauen, der Unentschlossen- heit bei den Männern hin. Die Differenzen beziehen sich auf die Fragen 2, 6 und 7: die Frauen scheinen jetzt etwas häufiger zeitweise eifrig zu sein als die Männer (doch föllt die Differenz durchwegs innerhalb des wahrscheinlichen Fehlers); sie erweisen sich als viel seltener leichtverzagt und häufiger beharrlich, während das alte Material in dieser Hin- sicht keine merklichen Differenzen ergab; und sie zeigen, im Gegensatze zu jenem alten Material, eine etwas gröfsere Fre- quenz der Prinzipienmenschen als das andere Geschlecht Nach alledem dürfen wir unseren früheren Schlufs, dafs die Frauen aktiver, weniger starrsinnig und mehr im- pulsiv sind als die Männer {diese Zeitschrift 45, S. 13) als durch die neu vorliegenden Resultate vollständig bestätigt betrachten.

IL Gefühle. (Frage 9—16.)

Familienberichte

1-400 (fast aus-

schliefslich männl.

Berichterstatter)

Familienberichte 80, 140, 294, 313. 423, 438-^58 (kum- schliefalich weibL

Berichterstatter]

% der

% der

Männer

Frauen

Männer Frmnen '

9. emotionell

45

60

49 71

nicht emotionell

40

27

40 20

10. heftig

42

41

40 51

kühl und sachlich

42

36

40 19

11. reizbar

40

41

44 37

gutmütig

49

49

50 61

gar nicht in Zorn zu versetzen

2

2

2 5

12. kritisch

40

38

35 ' 34

idealisierend

28

34

35 ! 37

Beiträge zur speziellen Psychologie auf Orund einer Massenuntersuchung. 325

'

Familienberichte

1—400 (fast aus-

schliefslich männl.

Berichterstatter)

1 Familienberichte 80, 140. 294, 313, 423, 438-458 faus- schliefslich weibl.

. Berichterstatter)

% der

% der

1

Männer

Frauen

Männer 1 Frauen

1

13. mirBtrauisch

20

23

' 15

19

gntgl&ubig

42

! 40

38

14. tolerant

80

79

i 78

77

intolerant

9

8

6

11

16. heiter und munter

35

41

25

35

Bchwermfitig und düster

4

ö

7

6

beides abwechselnd j

34

31

28

39

ruhig und gleichmäfsig 1

24

20

34

20

16. ängstlich und bedenklich

30

31

31

35

leichtmütig

38

32

32

33

Hier ist die Anzahl der Fälle, in welchen das alte und das neue Material verschieden gerichtete Resultate ergeben, etwas gröher (8 auf 19) als in der vorigen Gruppe ; doch sind die Be- träge dieser Abweichungen zum Teil zu gering um etwas zu be- weisen, und werden gerade für die wichtigsten Eigenschaften die früheren Ergebnisse in sehr entschiedener Weise bestätigt. So ist das Plus an Emotionalität und das Minus anNicht- emotionalität bei den Frauen jetzt viel deutlicher ausge- sprochen wie damals; aufserdem zeigen sich dieselben jetzt nicht nur als viel seltener kühl und sachlich, sondern auch als viel häufiger heftig im Gespräch, und kommt Intoleranz bei ihnen fast doppelt so oft als bei den Männern vor. Be- merkenswert erscheinen vor allem die Resultate in bezug auf Fr. 11: während hier die ältere Untersuchung fast keine Diffe- renzen zwischen den beiden Geschlechtem ergab, erweisen sich nach der neuen die Frauen als merklich seltener reizbar und als merklich häufiger gutmütig oder gar nicht in Zorn zu versetzen wie die Männer, was um so mehr auffällt, da gleich- zeitig im Gegensatze zu den früheren Ergebnissen häufiger Stimmungswechsel den Frauen bedeutend öfter als den Männern zugeschrieben wird. Für diese Inkongruenz haben wir keine Erklärung und müssen sie bis auf weiteres auf die Rech nung des Zufalls setzen; nach allem anderen vermag sie aber jedenfalls unseren früheren Schlufs auf eine viel gröfsere In-

826

O, Heymans und E. Wiersma,

tensität der Gefühle beim weiblichen als beim männlichen Creschlecht (diese Zeitschrift 45, S. 14) in keiner Weise ra ent- kräften.

III. Sekundärfunktion. (Frage 17—26.)

Familienberichte

1—400 (fast aus-

schliefelich männl.

Berichterstatter)

•/o der Manner Frauen

17. schnell getröstet

lange Zeit unter dem Eindruck

18. sogleich wieder versöhnt noch einige Zeit verstimmt schwer zu versöhnen

19. wechselnd in Sympathien beharrlich

20. alte Erinnerungen

neue Eindrücke und Freunde

21. einmal aufgefafste Meinungen neue Auffassungen

leicht zu bereden

22. veränderungssflchtig Gewohnheitsmensch

23. wiederholt einmal

24. grofse Pläne

25. ferne Zukunft sofortige Resultate

26. Übereinstimmung Widerspruch

42

18 42 30 16 17 68 53 24 26 51 11 31 43 9 13 17 39 30 65 14

31 41 32 15 21 66 55 21 28 40 15 37

Familienberichte 80, 140, SM, 313^ 423, 488--458 (ans- sdüiefslich weibL

Berichterstatter)

%der Manner Franen

27

12

35 25 32 47 16 12 74 35 29 29 56 7 25 56 4 7

15 27 27 66 12

25 30 38 28 10 14 73 41 41 23 6d 6 47 32

9 28 35 75

ö

Auch hier erfährt das früher gezeichnete Bild keine wesent- lichen Veränderungen. Wie damals, zeigen sich die Frauen auch jetzt als weniger leicht zu trösten und (viel deutlicher wie damals) als leichter zu versöhnen, als häufiger in ihren Sympathien wechselnd und in höherem Grade verände- rungssüchtig wie die Männer; aufserdem, im Gegensatze zu den früheren Ergebnissen, als mehr für neue Eindrücke und Freunde eingenommen und neuen Auffassungen mehr zugänglich wie diese. Dem steht gegenüber, dafejetot die Zahl der Frauen, welche in durchgängiger Überein-

Beiträge zur speziellen FsycJiologie auf Grund einer Masaenuntersuchung. 327

Stimmung mit ihren Prinzipien handeln, etwas gröfser, und die Zahl der Frauen, von denen das Umgekehrte gilt, etwas kleiner ist als die entsprechenden Zahlen für das männUche Ge- schlecht; wir werden demnach, wie früher, schliefsen müssen, dafs mit Rücksicht auf das Überwiegen der Primär- bzw. Sekundär- funktion sich keine durchgreifenden Unterschiede zwischen den beiden Geschlechtem feststellen lassen {diese Zeitschrift 45, S. 15).

IV. Intellekt und Verwandtes. (Frage 27—43.)

Familienberichte

1—400 (fast aus-

schliefslich männl.

Berichterstatter)

% der Männer Frauen

Familienberichte 80, 140, 2Ö4, 313, 423, 438—458 (ans- schliefslich weibl.

Berichterstatter)

% der Männer Frauen

27.

30. 31. 32. 33.

34. 35.

leicht auffassend

verständig

oberflächlich

dämm

Menschenkenner

nicht

praktisch und findig

unpraktisch

weitblickend

beschränkt

selbständig

geneigt nachzuschwatzen

entschieden

bedingungsweise

mathematisches Talent

Sprachtalent

musikalisches Talent

Zeichentalent

schriftstellerisches Talent

Talent für Schauspielkunst

Talent der Nachahmung

witzig

nicht

gesprächig

sich der Führung des Gesprächs

bemächtigen still und in sich gekehrt

54 16 3 51 24 69 15 65 16 65 18

16 13 17 10 9 5 10 43 29 64

9 18

52

45

20

5

38

28

66

17

52

25

58

24

49

20

3

14

18

6

7

6

8

36

33

70

6 16

46 60 15

4 35 35 59 21 66 15 81

7

59 21 19 12 15

9 15

2

3 38 28 57

27

56

46

14

4

51

14

81

8

65

20

57

24

51

23

4

14

23

13

5

4

3

29

39

72

9 18

328

G. Heymana und E. WlerBtna.

36. Anekdoten längere Geschichten selbsterfundene Geschichten

37. weitschweifig und umständlich bündig und sachlich

38. nämliche Geschichten wieder-

holen

39. öffentliche Reden

40. guter Beobachter nicht

41. sehr gutes musikalisches Gehör gutes

schlechtes ,,

42. geschickt ungeschickt

43. aufsergewöhnliches Gedächtnis gutes schlechtes ,,

1-400 (fast ans- , ?S, ^^ ^ ,!!.'

--D^.;.»i.4.».«4^.4.4-».\ 'I schliefslich weibL Bericnterstatter) | Berichterstatter)

% der %,der

Männer | Frauen Männer ' Frauen

14 8 17 55

17 32 55 17 16 44 27 56 20 14 75 6

14 12 15 21 45

10

6

54

17

16

50

20

71

9

9

76

8

16 13 10 15 54

10 22 41 18 13 52 29 52 21 10 71 12

9 18 19 19 44

10 6 54 11 14 51 23 70 11 13 61 13

Was die intellektuellen Eigenschaften betrifft, stimmen die Ergebnisse der neuen Enquete in 13 aus 43 Fällen der Richtung nach mit denjenigen der alten nicht überein. Die wichtigsten Differenzen bestehen darin, dafs leichte Auffassung, Men- schenkenntnis, praktischer Sinn und Beobachtungs- gabe den Frauen jetzt bedeutend häufiger als den Männern zu- geschrieben werden, aufserdem noch Zeichentalent und Talent für das Erzählen längerer Geschichten. Wie man sofort sieht, haben jene vier ersten Eigenschaften etwas miteinander gemein: sie bezeugen sämtlich eine starke Konzentration auf den gegenwärtig gegebenen Bewufstseinsinhalt, und unterscheiden sich eben dadurch von Eigenschaften wie Verstand, weiter Blick, selbständiges Urteil, Bündigkeit und Sach- lichkeit, in bezug auf welche die Männer auch nach den neueren Ergebnissen den Vorrang behaupten. Wir werden dem- nach, wenn sich diese Ergebnisse bestätigen, unsere früheren Folgerungen zwar nicht aufzugeben, aber doch dahin zu UGiodi- fizieren haben, dafs die Frauen in denjenigen intellektuellen

Beiträge zur speziellen Psychologie auf Chrund einer Massenuntersuchung. 329

Leistungen, welche das geordnete Zusammenwirken ausgedehnter Vorstellungskomplexe erfordern, bei den Männern zurückstehen, dagegen überall, wo es auf intuitives Erfassen einer gegebenen Sachlage ankommt, dieselben eher tibertreffen.

V. Neigungen. (Frage 44—81.)

Familienberichte

1-400 (fast aus-

schliefslich männl.

Berichterstatter]

i| % der

il Männer Fraaen

44.

45.

46.

auf Essen und Trinken haltend

nicht

Trunkenbold

regelmftfsig trinkend

dann und wann

nie

ausschweifend

enthaltsam

47. mit sich zufrieden nicht mit sich zufrieden

48. eitel und gefallsüchtig eigenes Äufsere wenig beachtend

49. ehrgeizig

gleichgültig für Anerkennung

sich im Hintergrunde haltend ^

geldsüchtig

uneigennützig

geizig

sparsam

flott in Geldangelegenheiten

verschwenderisch

oft in Schulden

herrschsüchtig

jedem seine Freiheit lassend

leicht zu lenken u. zu beherrschen

in Erziehung streng zärtlich und sorgsam

viel Freiheit lassend

gütig Untergebenen gegenüber

nicht

mitleidig und hilfsbereit

egoistisch 9

grausam

50.

51

52.

53.

54.

47 32

2 23 55 12

9 62 37 31 19 50 36 26 17 22 44

3 38 41

7

5 21 54 13 14 20 23 80

5 70 16

1

!l Familienberichte 80, 140, 294, 313, 423, 438-458 (aus- schliefslich weibl.

I Berichterstatter)

% der Männer Frauen

31 45

0

3 46 30

2 62 27 37 25 42 28 21 25 12 51

2 50 32

5

1 24 46 15 11 33 18 81

9 79 10

0

38

33

38

37

0

0

16

8

53

47

34

44

3

0

53

51

37

27

31

44

18

22

54

46

29

37

18

17

27

28

25

13

47

61

4

0

38

51

53

51

3

4

6

3

27

32

52

47

15

10

15

9

21

34

29

14

84

81

2

5

71

80

13

10

2

0

330

G. Heymans und E, Wiersma^

I, 1-400 (fast au8. Ii J^ ^^ ^ ,f^

Berichteretatter) .• tentl^tÄ

•/o der I % der

Männer Frauen ; Mftnner Fraaen

56. persönlich philanthropisch tätig Geld beisteuern

nicht öder kaum

57. in der Politik radikal in der Politik gemäfsigt

konservativ gleichgültig

58. persönlich politisch tätig

59. warmer Patriot nicht

60. durchaus natürlich gezwungen geziert

61. demonstrativ verschlossen Heuchler

62. ehrlich hervortretend diplomatisch intrigant

63. vollkommen glaubwürdig I etwas übertreibend

etwas ausschmückend lügnerisch

64. unbedingt zuverlässig [ ehrlich innerhalb der Grenzen ,

des Gesetzes |

unehrlich 'j

65. warm religiös l, konventionell religiös ! Spötter !, gleichgültig '

6Q. Kinderfreund 1

nicht j

67. Tierfreund || nicht ;'

68. Umgang mit Höhergestellten i

Niedrigergestellten "

69. verschieden gegen Höhere und i

Niedrigere \\

gleich gegen Höhere u. Niedrigere'

21 34 13 16 43 12 16

9 34 37 69 19

6 44 35

1

71 17

2 62 13 14

4 78

11 1

17 18 7 45 60 14 54 21 18 13

8 79

25 31

9

8 11

8 31

2 26 29 68 18

9 41 32

1

71 14

3 65 16

9

3 83

21 43 10 15 49

9 16 15 28 34 62 27

4 43 38

0 71 21

2 68 16 10

0 85

30 43

9 13 25

6 30 10 29 38 66 25

6 52 29

0 71 22

1

60 27 10

0 91

4

1 9

3

1

! 0

0

26

27

3S

26

10

17

2

7

1

33

49

33

71

66

65

10

15

9

50

25

29

22

37

32

22

16

22

9

13

8

8

9

10

80

79

81

J

Beiträge zur speziellen Psychologie auf Grund einer Massenuntersuchung, 331

1 Familienberichte

1—400 (fast aus-

schliefslich männl.

Berichterstatter)

, Familienberichte

1 80, 140, 294, 313,

, 423, 438-458 (aus-

schliefslich weibl.

Berichterstatter)

% der

%

der

Miknner

Frauen

Männer

Frauen

70. mutig

i ^^

40

50

54

farchtsam

28

33

34

22

feig

2

4

0

4

71. Vergnügnngssucher

29

29

24

29

hftnslich

56

58

66

68

einsiedlerisch

10

6

16

10

72« redend aber Sachen

56

30

54

32

Personen

9

30

12

39

sich selbst

6

7

13

10

73. Liebhaber von Zoten

22

7

24

6

denselben abgeneigt

41

58

52

72

74. viel lesen j

48

47

66

52

wenig lesen

38

37

27

35

genau und geordnet behalten

ÖO

38

59

39

ungenau und verwirrt behalten

13

19

9

20

76. Grübler

18

11

24

22

7C. Sammler

13

6

10

6

77. Neuerer

3

4

6

4

78. Sportliebhaber

55

29

47

46

79. Liebhaber von Verstandsspielen

46

22

41

25

80. Liebhaber von Glücksspielen

10

4

2

4

um grofse Summen

2

0

2

0

81. bewandert in Verwandtschafts-

und Vermögensverhältnissen

22

34

13

27

Die Differenzen zwischen den alten und den neuen Ergeb- nissen sind hier der Anzahl (20 auf 94 Fälle) und den Beträgen nach gering. Als Eigenschaften, in bezug auf welche eine die Grenzen der zufälligen Variation überschreitende Richtungsver- änderung in den Geschlechtsunterschieden vorliegt, sind haupt- sächUch zu nennen: Ehrgeiz, Demonstrativität, Tier- liebe und Mut, welche jetzt den Frauen merklich häufiger als den Männern zugeschrieben werden; durchgängige Glaub- würdigkeit und Neigung zu vielem Lesen, wobei es sich umgekehrt verhält; endlich Patriotismus und Antipatrio- tismus, für welche die früher gegebenen bedeutenden Diffe- renzen zwischen den Geschlechtem jetzt fast vollständig aus-

332

G. Heymana und E, Wiernma,

geglichen erscheinen. Einen inneren Zusammenhang zwischen diesen Eigenschaften vermögen wir nicht zu entdecken ; vielleicht haben wir es auch hier blofs mit zufälligen Abweichungen zu tun, welche zwar an sich wegen ihres hohen Betrages wenig wahrscheinlich sind, in der grofsen Masse der Fälle aber doch dann und wann vorkonunen müssen.

VI. Verschiedenes.

(Frage

82-90.)

Familienberichte : 1—400 (fast aus- schliefslich mftnnl. Berichterstatter)

Familienberichte

80, 140. 294, 313,

1 423, 438-458 (aos-

1 schlielslich weibL

Berichterstatter)

% der

"U

der

Männer

Frauen

Männer

Frauen

82. Komplimentenschneider

1

11

8

i 15

3

höflich

77

85

77

91

grob

I 7

3

7

1

83. zerstreut

24

19

1 35

29

stets wach

51

56

49

58

84. auf Reinlichkeit und Ordnung

1 1

haltend

< 64

76

65

56

unordentlich

! 24

16

1 25

24

85. pünktlich

69

62

82

70

nicht

17

17

1 10

18

86. würdevoll und gemessen

8

5

19

H

sachlich

30

18

' 29

18

gemütlich

27

38

, 32

3S

ironisch

5

3

' 9

4

drauf los schwatzend

10

17

! 7

15

87. gedehnt und schleppend

3

6

6

1

schreiend

7

6

9

11

gleichmafsig dahinfliefsend

51

57

21

34

kurz abbeifsend

9

6

1 4

10

88. viel lachen

i 33

43

28

43

wenig lachen

45

39

52

46

nie lachen

i 1

1

2

0

um eigene Witze

1 7

2

12

6

89. mutig

30

42

1 25

43

ängstlich

25

24

31

23

geduldig

! 36

47

41

52

ungeduldig

! 26

18

19

bald ärztliche Hilfe einrufen

31

32

22

37

nicht

20

23

32

28

90. psychische Störungen

, 16

.8

10

1

14

Beiträge zur speziellen Psychologie auf Gnmd einer Massenuntersuchung, 333

Auch hier stimmen die Ergebnisse der alten und der neuen Untersuchung fast überall (6 Ausnahmen auf 29 Fälle) der Rich- tung nach überein. Von jenen Ausnahmen erregt ganz besonders Verwunderung diejenige, welche sich auf Frage 84 bezieht, und nach welcher die Frauen weniger auf Reinlichkeit und Ordnung halten sollten als die Männer; vielleicht haben unsere Mit- arbeiterinnen gerade in diesem Punkte an das eigene Geschlecht höhere Forderungen gestellt als an das andere. Des weiteren ist nur noch zu erwähnen, dafs nach den neuen Angaben die Frauen seltener gedehnt und schleppend, häufiger schreiend oder kurz abbeifsend zu sprechen scheinen als die Männer, während die älteren ein umgekehrtes Resultat ergeben hatten.

Zusammenfassend läfst sich feststellen, dafs in der grofsen Mehrheit der Fälle (163 auf 222) unsere früheren Resultate in bezug auf die Richtung der Geschlechtsunterschiede durch die Ergebnisse der jetzigen Untersuchung vollständig bestätigt worden sind, während in den 59 Fällen, von denen das Umgekehrte gilt, die Abweichungen meistenteils die wahrscheinlichen Fehler nicht oder wenig überschreiten, und demnach eine Erklärung durch zufällige Umstände gestatten. Unter den deutlicher aus- gesprochenen DifEerenzen finden sich sowohl solche, welche zu- gunsten, als andere, welche zuungunsten des weibhchen Ge- schlechts sprechen, demzufolge von einer Tendenz, entweder das eigene oder das andere Geschlecht zu idealisieren, weder bei unseren früheren noch bei unseren jetzigen Berichterstattern etwas zu bemerken ist. Unser früheres Endergebnis, dafs die Frauen durchschnittlich aktiver, mehr emotionell be- anlagt imd weniger egoistisch sind als die Männer {diese Zeitschrift 45, S. 20), ist auch das Endergebnis der jetzigen Unter- suchung; und unsere damals ausgesprochene Vermutung, dafs die intellektuelle Insuffizienz der Frauen hauptsächUch auf ihrer Emotionalität und ihrer Neigung zum Konkreten und Anschaulichen beruhen dürfte, findet in den jetzt vorUegenden Resultaten (s. o. S. 328 329) eine sehr erfreuliche Bestätigung.

(Eingegangen am 15. Oktober 1907.)

334

Über die psychologischen und die logischen Grundlagen des Bewegungsbegriffes.

Von

Max Fbisgheisen-Köhleb.

In Bd. 46 dieser Zeitschrift, S. 231 ff., 341 ff., hat R. HAMAins eine Abhandlung über die psychologischen Grundlagen des Be- wegungsbegriffes veröffentlicht, welche in eingehender Weise die Zusammenhänge psychischer Erlebnisse, die zum Urteil Bewegung führen, aufdeckt und die daran beteiligten Empfindungen analy- siert. Aber nach der Absicht des Verfassers verfolgt seine Studie noch einen allgemeineren Zweck ; aus der Erkenntnis der Bildung des Bewegungsbegriffes möchte sie zugleich einen Au&chlu(s über die Art des psychologischen und naturwissenschaftlichen Verfahrens überhaupt gewinnen. Und zwar hegt ihr Ziel in dem Nachweis, da(s der Unterschied der Psychologie und der Naturwissenschaft nur in der Methode, in dem verschiedenen Verb alten gegebenen Inhalten gegenüber liegt, das in den spradi- liehen Ausdrücken seine besondere Ausprägung erfährt. Damit fügt sie sich in die Reihe von Versuchen ein, welche die ins- besondere von Mach in Deutschland begründete Auffassung von dem Verhältnis von Psychologie und Naturwissenschaft im ein- zelnen durchzuführen unternehmen.

Nun haben aber bereits die zahlreich erhobenen prinzipiellen Bedenken sowohl gegen die rein phänomenologische Interpretation der Physik wie gegen die Einschränkung der Psychologie auf das Studium der gegebenen Inhalte in gewissen Relationen diesen Erfahrungsmonismus erheblich erschüttert; und so wäre es ein zweifelloses Verdienst, wenn gleichwohl dessen Berechtigung wie Fruchtbarkeit in bezug auf einen für unsere Naturauffassung

über die psychologischen und die hgisdien Grundlagen usw. 335

SO wesentlichen BegrifE wie den der Bewegung über jeden Zweifel erhoben würde. Allein es scheint, dafs die Ausführungen von Hamann zu einem solchen Nachweis nicht ausreichen. Vielmehr können gerade sie dazu vorzüglich dienen, die Punkte zu er-' hellen, in denen nach der Ansicht der Gegner die Unhaltbarkeit der phänomenologischen Position hervortritt.

I.

Nach der allgemeinen Anschauung von Hamann besteht zwischen der Begriffsbildung und der Sprachbezeichnung für die Begriffe, welche die Praxis des täglichen Lebens wie die darauf basierende Naturbeschreibung verwertet, und der Begriffsbildung einer Wissenschaft, welche die Sinneserlebnisse rein nach ihrer Gegebenheit beschreiben will, eine bedeutsame Differenz. Jene enthält eine Tendenz zur Vereinfachung, insofern sie auch für das, was im psychologischen Erlebnis beständig durch ein Zusammenwirken verschiedener Sinnesqualitäten sich darstellt, einen einheitlichen Ausdruck bildet; sie beschreibt etwa Bilder des Gesichtssinnes mit Worten, die nicht der blofsen Vergleichung dieser Gesichtsbilder ihre Bedeutung verdanken, sondern eine Beziehung auf gewisse Organempfindungen einschliefsen. Für den gewöhnlichen Gebrauch der Sprache nach ihrer Verwendbarkeit hin bleibt in der Regel gleichgültig, ob wir das haptische Er- lebnis mit dem Wort bezeichnen, oder das optische oder eine Beziehung zwischen beiden, und ob das haptische Erlebnis grund- legend für die Begriffsbildung war und dessen Inhalt bestimmt oder das optische; für die Orientierung genügt, dafs wir durch diese Art der Begriffsbildung zu der Vorstellung eines einheit- liehen Gegenstandes gekommen sind, der nur durch unsere ver- schiedenen Organe verschieden wahrgenommen wird. Dagegen strebt die psychologische Begriffsbildung danach, die Vor- stellungen des natürlichen Weltbegriffes aufzugeben und den einheitlichen und bei verschiedenen Sinneserlebnissen gleichen Gegenstand zu eliminieren ; sie wird aufhören, die psychologischen Inhalte als individuell bedingte oder gar getrübte Eindrücke von einer Wirkhchkeit her aufzufassen; sie wird vielmehr die Be- ziehungen und Gesetzmäfsigkeiten innerhalb der psychologischen Erlebnisse aufweisen, die zur Vereinheitlichung der Begriffs* formen und der Auffassung einer Wirklichkeit geführt haben.

336 Max Frischdsen'Köhler.

In diesem Verfahren soll aber, nach der förmlichen Er- klärung Hamanns (S. 234), der Psychologismuß, der an die SteDe des naturwissenschaftlichen Gegenstandes die Empfindungen setzt und die psychologischen Erlebnisse als das einzig Wirkliche be- zeichnet, nicht enthalten sein; andererseits freilich habe die Naturwissenschaft, sofern sie nicht Metaphysik werden wolle, nicht das Recht, ihren Begriffen, die nur in ihrer Anwendbarkeit etwas sind, und dem einheitlichen Worte eine aufserhalb des psychologischen Erlebens gegebene und mit gleichen Inhalten wie dieses behaftete für sich existierende Welt -zuzuschreiben.

Indessen zeigt sich doch die methodische Überlegenheit d^ psychologischen gegenüber der naturwissenschaftlichen BegrifEs- bildung in solchen Fällen, wo die letztere bestimmten Problemen gegenüber versagt. Denn wenn rückwärts die Frage gestellt wird, welche Bedeutung ein Wort besitzt, so wird die von der Naturwissenschaft vollzogene Vereinfachung der Wortbedeutung geradezu zu einem Hindernis, die Verschiedenheit der inhalt- lichen Qualitäten zu erkennen und zu beschreiben. Besteht doch schon aus der Praxis des Lebens her die Gew^ohnheit, dasselbe Wort als Antwort auf eine Frage zu geben, die nach dem psychologischen Inhalt eines Tast- oder eines Seherlebnisses ge- stellt ist.

Ein vor allem für die Physik wichtiges Beispiel Uefert die Bestimmung und die Anwendung des Begriffes der Bewegung. Fragt man, was bei dem Anblick einer Bewegung das Bewegungs- urteil über einen Gegenstand auslöst, so zeigt es sich, dafs allein die Veränderung in dem Verhältnis eines Hintergrundes zu dem Gegenstande in ihm entscheidend ist; aber da das Verhältnis ein gegenseitiges ist, erhebt sich die weitere Frage: warum knüpft das Urteil „Bewegung" gerade an den einzelnen Körper au, warum nennen wir diesen, nicht den Hintergrund bewegt? Was ist das Plus, das bei dem Körper im Gegensatz zum Hinter- grund hinzukommt? Diese Frage enthält nach Hamann das Problem, das in der Physik zur Anschauung von der Relativität aller Bewegung geführt hat und wodurch sie sich der Erkenntnis des Bewegungsbegriffes verschlossen hat (S. 237).

Diesen Fehler zu korrigieren und neue (wenn auch vieUeicht nicht in allen Fällen zureichende) Normen für den naturwissen- schaftlichen Bewegungsbegriff abzuleiten, ist die psychologische Analyse berufen. Sie zeigt, dafs in dem Erlebnisse der Eigen-

über die psychologischen und die logischen Grrundlagen usio. 337

bewegung, in welchem bestimmte körperliche Gefühle mit ge- wissen optischen Eindrücken (Totalveränderung des Hinter- grundes als zusammenhängendes Feld innerhalb der Gesichts- feldgrenzen des bewegten Subjektes) zusammenwirken, der Ur- sprung des Bewegungsbegriffes gegeben ist. In ihm wird also nicht ein einfaches Empßndungsphänomen, sondern eine erst durch Erfahrung gewonnene Beziehung zwischen zwei verschie- denen ßinnesgebieten beschrieben; er ist ganz und gar vom Standpunkt des haptisch-motorischen Menschen geprägt. Wenn wir von anderen Körpern Bewegung aussagen, so ist dabei stets die Analogie des eigenen Erlebnisses leitend. So erklärt es sich, warum wir überall, wo wir eine gegenseitige Verschiebung eines isolierten Körpers und seines Hintergrundes bemerken, wir den isolierten Körper, jedoch nicht den Hintergrund bewegt nennen. Aber wir sehen zugleich, dafs ein solches Bewegungsurteü über eine blofse Tatsachenfeststellung hinausgeht. Denn es drückt neben dem optischen Bild immer auch einen körperlichen Zu- stand aus, und da bei dem fremden Körper dieser Zustand fehlt, so enthält es geradezu eine Interpretation des beobachteten Tat- bestandes und menschlicher Analogie; wir erinnern uns bei einem Eindruck an jenes ursprüngliche Erlebnis und benutzen den jeweiligen Eindruck nur als Anregung, um ihn mit Worten im Urteil auf dieses Urerlebnis zu deuten, zurückzuführen.

H.

Es mag nun ganz dahingestellt bleiben, wie weit diese Be- trachtungen hinreichend sind, die Entstehung des populären Be- wegungsbegriffes zu erhellen und die vielfachen Bewegungs- täuschungen im einzelnen zu erklären. Vielleicht genügen sie auch, das Verständnis für jenen Bewegungsbegriff zu fördern, der in der antiken, insbesondere in der aristotelischen Physik und ihrer mittelalterlichen Ausgestaltung allein verwendet wurde. Solange in dem bewegten Körper noch irgendwie eine geheimnis- volle, nicht näher zu bestimmende, aber jedenfalls „innere" Kraft vermutet wird, als deren blofs äufserer Erfolg die Ortsverände- rung angesehen wird, mögen anthropomorphe Übertragungen eine mehr oder minder entscheidende Rolle spielen. Aber im Hinblick auf die moderne von Galilei begründete Bewegungs- lehre mufs doch der Glaube des Verfassers, durch seine psycho-

Zeltechrift fttr PBj'chologle 46. 22

338 -Wo» Frischeisen-Köhler.

logische Analyse „einen vollständigen Einblick in die Entstehung des naturwissenschaftlichen Bewegungsbegriffes gewonnen zu haben", stark bezweifelt werden. Hamann hat sich um die psychologischen Grundlagen des Bewegungsbegriffes be- müht; hätte er auch die logischen Motive, die zu seiner Neu- bestimmung in der wissenschaftlichen Mechanik führten, in Er- wägung gezogen, dann hätte es sich sofort herausgestellt, dafs die Naturwissenschaft keineswegs gegenüber dem von ihai an- gezogenen ausgezeichneten Fall versagt und dafs seine psycho- logischen Ausführungen prinzipiell in keiner Weise geeignet sind, weder die Schwierigkeiten der Relativität der Bewegung zu beseitigen, noch überhaupt irgendwelche Normen für den natin^wissenschaftlichen Bewegungsbegriff abzuleiten.

Zunächst dürfte, wenn allgemein von dem „natorwissen- schaftlichen Bewegungsbegriff" die Rede ist, die in der Zeit nach Lagkange vollzogene Trennung phoronomischer und dynamischef Betrachtung der Bewegung berücksichtigt werden; ist es doch, wie die neueren Diskussionen über die Prinzipien der Mechanik lehren, durchaus nicht von vornherein selbstverständlich, dab für die beiden unter dem gemeinsamen Namen der Bewegung zusammengefafsten Begriffe dieselben „Normen" gelten. Definiert man Bewegung rein mathematisch als Änderung des Ortes mit der Zeit, wobei man ausdrücklich von einer Bezugnahme auf Begriffe von Masse (als ihrem Träger) und Kialt (als der sie bestimmenden Ursache) absieht, dann gilt das Reziprozitäts- prinzip uneingeschränkt. Es ist für das Wesen der Sache voll- ständig gleichgültig, welcher von zwei Punkten, deren Distanz sich ändert, als bewegt angesehen wird, oder wie man sonst den Vorgaug bezeichnet : die mathematische Beschreibung der Ände* rangen des Gesamtsystems ist im Prinzip von dergleichen Ent- scheidungen unabhängig. In keinem Sinne ist sie einer Inte^ pretation nach menschlicher Analogie weder bedürftig noch fähig; ihre Konstruktionselemente sind eindeutig bestimmte Gröfsen, deren Zusammensetzung nach klaren mathematischen Regeln erfolgt, und ihre ersten Sätze, wozu auch der Satz von der Rela- tivität der Bewegung gehört, von axiomatischer Gewifsheit. In den Gleichungen, welche die Bahn eines seinen Ort verändernden Punktes determinieren, ist der populäre Bewegungsbegriff ganz- lieh eliminiert. Hierin sind alle Forscher einig.

Ganz anders verhält es sich mit dem dynamischen Bewegungs*

über die psychologischen und die logischen Grundlagen usw, 339

begriff; er entsteht, wenn nicht nur die Bewegungen als solche und ihre Zusammensetzungen und Gesetze studiert, sondern anfser den phoronomischen Begriffen noch die beiden Begriffe der Kraft und der Masse eingeführt und nicht nur Ortsverände- rungen mathematischer Gebilde, vielmehr die faktischen Ge- schwindigkeiten und Beschleunigungen reeller Körper betrachtet werden. Ob nun für die in der Natur tatsächlich verlaufenden Bewegungen das Prinzip der Relativität ebenso uneingeschränkt angenommen werden mufs, unterliegt bekannthch der Diskussion. Während auf der einen Seite eine Anzahl der bedeutendsten Forscher unbedingt für dasselbe eintreten und etwa das geo- zentrische wie das hehozentrische System sachlich für gleich „richtig", wenn auch praktisch von einem sehr verschiedenen Grade der Zweckmäfsigkeit erachten, bemühen sich andere seit Nbwton aus den dynamischen Eigenschaften gewisser Bewegungen einen Aufschlufs über deren absoluten oder relativen Charakter abzuleiten. Wie man sich auch zu den von beiden Parteien vorgebrachten Argumenten und Vorschlägen verhalten mag: jedenfalls ist ersichtlich, dafs die Entscheidung mit psycho- logischen Erwägungen über die Entstehung des Bewegungs- begriffes gar nichts zu tun hat. Wenigstens bleibt gänzhch un- verständhch, was der fragende Physiker oder Astronom bei der Behandlung eines konkreten Problems aus der Einsicht gewinnen kann, dafs die populäre Bewegungsvorstellung eine Deutung durch ein Eigenerlebnis einschliefst. Wenn es sich darum handelt, wem von zwei sich zueinander verschiebenden Körpern Bewegung, wem Ruhe zugesprochen werden soll, ob etwa die Erde als ruhend oder im Verhältnis zur Sonne als bewegt an- zusehen sei, hilft keine psychologische Analyse des Verhältnisses von bewegtem Körper und Hintergrund im optischen Felde. Mag Hamanns Erklärung für die Vorstellung, die wir gemeinhin von Bewegung haben, richtig sein, mag er auch das Motiv er» mittelt haben, warum wir bei der sinnUchen Betrachtung eines isolierten Körpers immer nur diesem, nicht dem Hintergrund Bewegung zuschreiben, so gestattet all dies doch keine allgemein- gültige Entscheidung über Ruhe und Bewegung, falls zwei oder mehr Körper gegeben sind. Vielleicht spielen auch hier psycho- logische Momente tatsächlich bei der Stellungnahme der einzelnen Denker, von Descabtes ab, eine gröfsere Rolle, als auf den ersten Blick erkenntlich ist. Hamann hat diese Momente, wie sie aller-

22»

340 Max Frischeisen-Köhler.

dings nur ein vertieftes geschichtliches Studium insbesondere der Entwicklung unserer kosmischen Vorstellungen aufdecken könnte, gar nicht in den Bereich seiner Untersuchung gezogen. Aber hätte er es auch getan, so wäre der Gewinn für seinen Zweck kein allzu grofser gewesen. Denn wenn es überhaupt Kriterien für die deßnitive, wissenschaftUche Auflösung dies« Problems der absoluten Bewegung gibt, so liegen sie unter allen Umständen auf einem anderen und zwar rein logischen Gebiet.

Aber man kann von diesem komplizierteren Tatbestand ab- sehen und sich auf den einfacheren (oder wenigstens scheinbar einfacheren) Fall des isolierten Körpers, den Hamakn allein berücksichtigt, beschränken. Doch tritt auch hier sofort und vielleicht hier noch deutlicher die Beziehungslosigkeit psj^cho- logischer und naturwissenschaftlicher Denkweise hervor. Zunächst bedeutet oflfenbar die Betrachtung eines isolierten Körpers för den Psychologen etwas grundsätzlich anderes als für den Physiker. Während für ersteren dieser Fall in jedem beliebigen Augenblick unter experimentellen Bedingungen aber auch oft genug im Laufe des gewöhnlichen Lebens sich als Erlebnis realisieren mag, bleibt er für den letzteren stets eine theoretisdie Fiktion, die niemals innerhalb der Erfahrung gegeben ist. GAt der Physiker von den reell in der Natur vorkommenden Be- wegungen aus, so kann er wohl zu gewissen Zwecken von gewiss«! Umgebungsbestandteilen des ausgewählten Vorganges abstrahier^ aber die Beziehung auf andere Körper überhaupt, sei es schließ- lich auf den Fixsternhimmel oder Neümanns a-Körper, kann er nicht aufheben. Alle Versuche, dem sogenannten Beharrongs- gesetz eine in dieser Hinsicht absolute Formulierung zu geben, sind gescheitert. Läfst der Physiker jede Rücksicht auf die Wirklichkeit fallen, beschränkt er sich auf die rein phoronomiscbe Darstellung von Bewegungen überhaupt, so bedarf er auch hier für die Beschreibung der Bewegungen eines Punktes der Be- ziehung auf einen anderen oder eine Mehrheit von ihnen; oline die Bezugnahme auf irgend ein bestimmtes Koordinatensystem läfst sich von einem Punkte allein gar nichts aussagen. Ja nicht einmal die Frage, mit welcher Hamann beginnt, behält für den Physiker einen Sinn. Warum er stets, auch wenn er es (schein- bar) nur mit einem reellen oder idealen Körper zu tun hat, diesem, aber nicht dem Hintergrund Bewegung oder Buhe zu-

über die psychologischen und die logischen Gh'undlagen usw. 341

schreibt, kann ihm niemals zweifelhaft sein; für ihn gibt es gar nicht das, was der Psychologe als ^Hintergrund" bezeichnet. Er findet oder stellt sich Körper nur im Räume und zwar nicht im „dunklen", sondern im leeren Räume vor; so lange es aufser dem Körper kein festes Bezugssystem im Räume hat, vermag er von dem Körper überhaupt nichts auszusagen; hat er ein solches System, so ist die Annahme von dessen Ruhe die Voraus- setzung jedes weiteren Urteils; ein Schwanken oder eine Un- sicherheit über das Subjekt, von dem die Bewegung zu prädizieren sei, kann daher gar nicht stattfinden.

Wie wenig der Physiker von spezifisch optischen Anschauungen oder ganz allgemein von psychologischen Interpretationen ab- hängig ist, geht aus der Erwägung solcher (von Hamann nicht berücksichtigten) Fälle hervor, wo objektiv eine Bewegung gegeben ist, die aber optisch nicht als solche erkannt wird. Ein mit grofser Geschwindigkeit rotierendes Vollrad kann den gleichen optischen Eindruck wie ein in Ruhe befindliches erwecken (Lasswitz, Geschichte der Atomistik H, 6) ; durch den Augenschein allein läTst sich nicht imterseheiden, ob es feststeht oder sich bewegt ; denn es ist hier das, was die phoronomische Bewegung, nämlich die Änderung des Ortes, charakterisiert, aufgehoben. Gleichwohl wird der Physiker jederzeit in der Lage sein, ver- mittels der diesem Rade einwohnenden dynamischen Wirkungs- fähigkeit das objektive Vorhandensein jener Bewegung festzu- stellen. Ein gleiches gilt für den nur einen Moment dauernden Anblick eines bewegten Körpers ; der im kürzesten Zeitteil fixierte fliegende Pfeil der Eleaten weist eine Verschiebung zu einem „Hintergrund" oder einem Bezugssystem nicht auf, und solange man die Bewegung nur durch extensive Gröfsen charakterisiert, wird man auf Grund der visuellen Anschauung nicht imstande sein, zwischen Ruhe und Bewegung zu unterscheiden. Der Physiker aber weifs seit Galilei die objektiven Merkmale der Bewegung auch beim Verschwinden der Extension festzuhalten, indem er den intensiven Faktor als das eigentlich Reale der Be- wegung erkennt. Und zwar hat dieses, was die Bewegung mehr als Lageveränderung ist, schlechterdings nichts mit* dem zu tun, was Hamann, um es kurz zu sagen, als die auch von der Natur- wissenschaft beständig vollzogene Introjektion in das optische Phänomen darstellt. Vielmehr ist dieser intensive Faktor eine wohl zu messende Gröfse (als Energie der Bewegung gleich dem

342 -Miowc Frischeisen-Köhler,

halben Produkt aus Masse und dem Quadrat der Geschwindig- keit). Hierin ist die Antwort der Physik auf die Frage ent- halten, die Hamann (S. 236) stellt, was Bewegung und Ruhe noch mehr als eine relative „optische" Veränderung bedeuten. Ge- schichtlich knüpft die begriffliche Hervorhebung und Bestimmung dieser der Bewegung einwohnenden, von der Zeit unabhängigen Realität allerdings auch an eine sinnliche Erfahrungstatsache, an den am eigenen Körper erfahrenen Widerstand gegenüber der andringenden Bewegung (Galileis Impetus), an, und es möchten vielleicht auch Beziehungen zwischen der von Hamann angezogen Veränderung des Allgemeingefühls, wie wir sie bei Eigenbewegungen erleben , und der Widerstandsempfindungen bestehen. Doch während jenes erstere Verhalten nach Hamann auf den Fremdkörper analogisch übertragen werden soll, schliefst die Physik aus der sinnlichen Erfahrung auf eine der Bewegung zukommende Eigenschaft, die das Auftreten der Andrangs- empfindung erklärt. Und zwar wird diese Eigenschaft in keiner Weise, weder bewufst, noch verschwommen, nach Analogie der erlebten Empfindung vorgestellt, sie wird überhaupt nicht vor- gestellt; darin vielmehr besteht die Leistung der Wissenschaft, dafs sie diese Qualität begrifflich in eine Funktion von Gröfsen auflöst und somit mefsbar und gesetzlich fixierbar macht. Ihre Aufgabe liegt nicht in der Darstellung der psychologischen Er- lebnisse oder der in ihnen auftretenden Erscheinungen ; so wenig wie sie in ihrem phoronomischen Bewegungsbegriff sich auf die optische Anschauung von bewegtem Körper und Hintergrund beschränkt, so wenig genügt ihr zur Charakteristik des dynamiselien Bewegungsbegriffe» der unbestimmte Hinweis auf die das W^ider- standsgefühl zusammensetzenden Organempfindungen. In jeder dieser Richtungen geht sie über den phänomenalen Befund hinaus, sofern sie aus den gegebenen Sinnesdaten eine objektive d. h. von jeder individuellen Zufälligkeit unabhängige Be- stimmung der die Bewegung determinierenden Merkmale sucht. Und indem sie diese einerseits in der auf ein festes Koordinaten- system bezogenen Änderung des Ortes mit der Zeit, andererseits in der dem bewegten Körper innewohnenden genau mefsbaren Energie findet, widerlegt sie den Glauben, dafs sie eine Verein- heitlichung verschiedener Erlebnisse durch das nur auf ein Sinnesgebiet bezügliches Wort erstrebe. Allerdings entfernt sie sich von den Phänomenen; aber doch nicht so, dafs sie zum

übet* die psychologischen und die logischen Grundlagen tisio. 343

Zwecke vereinfachter sprachlicher Bezeichnung nur einige von ihnen hervorhebt, um diese zum Reproduktionsmotiv für den Rest zu verwenden, sondern die objektive Wissenschaft über- windet die sinnlichen Erscheinungen, indem sie diese alle ins- gesamt dem individuellen Erleben und der psychologischen Analyse überläfst, aber aus ihnen gedanklich einen Zusanunen- hang von Gröfsen erschliefst, der eine vom Standorte und der Betrachtungsart des einzelnen erlebenden Subjektes unabhängige Geltung besitzt. Bezeichnet man die Wissenschaft, die die Sinneserlebnisse rein nach ihrer Gegebenheit beschreiben will, als Psychologie (Hussebl, Stumpf u. a. schlagen für eine solche Disziplin zweckmäfsiger den Namen Phänomenologie vor, um sie von der Funktionspsychologie zu unterscheiden), so ist gewifs, und Hamanns Analyse kann es nur bestätigen, dafs die Natur- wissenschaft es mit diesen unmittelbaren Gegebenheiten nicht zu tun hat.

Und endlich mufs auch gegen Hamann die Berechtigimg des Anspruches auf objektive Existenz der von der Physik ge- schaffenen Begriffe festgehalten werden; sind diese doch keines- wegs blofse Vereinheitlichungen verschiedener Inhalte in sprach- lichen Ausdrücken, die nur in ihrer Anwendbarkeit etwas be- deuten; vielmehr bezeichnen sie stets einen Sachverhalt, der auch unabhängig von der Bezugnahme auf irgend ein sinnliches Erlebnis gedanklich erfafst und bestimmt werden kann. Jeden- falls ist die Position von Hamann, nach der einerseits den natur- wissenschaftlichen Begriffen keine für sich bestehende Welt zu- gesprochen aber auch andererseits die Gesamtheit der psycho- logischen Erlebnisse nicht als das einzig Wirkliche bezeichnet werden darf, unhaltbar; entweder sind die Sinnesdaten das allein Wirkliche (wie Mach es bewufst fordert) oder sie sind es nicht; beides zu verneinen ist logisch unmöglich. So steht denn auch Hamann praktisch auf dem Boden des (theoretisch freilich von ihm abgelehnten) Psychologismus ; dafs er methodisch der Natur- wissenschaft das Recht eigener Begriffsbildung nicht bestreitet, ist dabei belanglos. Aber auch ihm widerfährt das Geschick, wie es jedem Erfahrungsmonismus beschieden ist, dafs er tat- sächlich Voraussetzungen aufnehmen mufs, die den psychistischen Monismus prinzipiell überschreiten. Jede Psychologie, die von einer Mehrheit von Erfahrungssubjekten ausgeht, die sinnliche „Täuschungen" von objektiven Sachverhalten unterscheidet, die

344 ^^^ FrisdieiBen-Köhkr.

auf experimentale Anordnungen, physiologische Erklärungen usw. bezug nimmt, bedient sich naturwissenschaftlicher Begriffe in einem durchaus realistischen Sinn; die Annahme einer Tom jeweiligen Erlebniszustande unabhängigen Ordnung der Dinge ist nicht ein blofses Hilfsmittel der Deskription; vielmehr erscheint die ganze deskriptive Psychologie nur möglich in dem Rahmen des naturwissenschaftlichen Weltbildes.

(Eingegangen am 13. Oktober 1907.)

345

W. WUNDTS Stellung zu meiner Theorie der stroboskopischen Erscheinungen und zur systema- tischen Selbstwahrnehmung.

Von Karl Mabbe.

1. Gnindzfige meiner Theorie der stroboskopischen Erscheinungen.

Wenn wir irgend einen sichtbaren ruhenden Gegenstand jeweils eine Minute mit konstanter Lichtstärke hell beleuchten, um ihn dann jeweils eine Minute vollkommen zu verdunkeln, so bemerken wir den Beleuchtungswechsel deutlich. Wenn die ein- zelnen Phasen nicht eine Minute, sondern erhebhch weniger lang dauern, so bleibt der Beleuchtungswechsel unter Umständen un- bemerkt. Dies ist dann der Fall, wenn die Dauer zweier auf- einanderfolgender Phasen einen bestimmten kritischen Wert, die kritische Periodendauer erreicht hat oder wenn die Dauer zweier aufeinanderfolgender Phasen kürzer ist als die kritische Perioden- dauer.

Die kritische Periodendauer und die subjektive Helligkeit und Farbe, in welcher der Gegenstand im Fall der kritischen Periodendauer erscheint, wird durch die Tatsachen des Talbot- schen Gesetzes bestimmt. Nach meiner Theorie dieser Tatsachen ^ müssen dieselben nicht nur für den Gesichtssinn, sondern auch für die anderen Sinnesgebiete gelten. Dafs sie für den Gehörsinn tatsächlich zutreffen, habe ich experimentell bewiesen.^

Die erwähnte Tatsache der Verschmelzung von Reizen, wie ich sie früher " absichthch ungenau aber kurz bezeichnet habe,

* Pflüg er 8 Archiv 97, S. 335 ff. 1903. » Ff lüger 8 Archiv 100, S. 651 ff. 1903. » Philosophische Studioi 9, S. 384. 1894.

346 Karl Marbe,

spielt in der Wissenschaft und im Leben eine grofse Rolle. Sie gilt nicht nur für rotierende Scheiben ; auf ihr beruht z. B. auch die Tatsache, dafs uns ruhende Gegenstände, die durch elek- trisches Wechselstrombogenlicht beleuchtet werden als konstant beleuchtet erscheinen.

Bis jetzt war ausschliefslich von ruhenden Gegenständen die Rede. Wenn wir nun z. B. einen bewegten Gegenstand vorüber- gehend und periodisch für das Auge verschwinden lassen, so kann dies unter Umständen bemerkt werden, unter Umständen auch nicht. Wenn wir etwa (nach Düke ^) im Dunkeln ein Glüh- lämpchen vor dem Auge vorbei führen, das streckenweise hinter einem schwarzen Schirm vorbeiwandert, so kann diese Abbien- dung bei genügend grofser Bewegungsgeschwindigkeit des Lämp- chens und genügender Kleinheit des Schirms unbemerkt bleiben. Es können daher einzelne Phasen einer Bewegung ausfallen, ohne dafs wir es bemerken.

Auch diese zweite Tatsache ist von weittragender Bedeutung. Auf ihr beruht die Möglichkeit, dafs uns kontinuierlich bewegte Gegenstände auch dann als kontinuierlich bewegte erscheinen können, wenn wir sie mittels eines Lichtes beleuchten, das durch einen mit genügender Geschwindigkeit rotierenden Episkotister periodisch verdunkelt wird. In diesem Beispiel fallen eine Reihe von Bewegungßphasen für unser Auge aus, ohne dafs wir es be- merken. Mit der erörterten Tatsache hängt es auch zusammen, dafs der fortgesetzte Helligkeitswechsel, der durch elektrisches Wechselstrombogenlicht erzeugt wird, uns nicht hindert, konti- nuierliche Bewegungen als kontinuierliche wahrzunehmen.

Wie die Tatsachen des TALBOTschen Gesetzes durch eine ge- eignete Theorie verständlich gemacht werden müssen, so auch der Umstand, dafs ein Teil einer Bewegung ausfallen kann, ohne dafs wir es bemerken. Ich habe diese Tatsache früher auf zen- trale Faktoren zurückzuführen versucht.- Dübr suchte in der erwähnten gemeinsam mit mir ausgeführten Untersuchung zu zeigen, dafs sie sehr wohl auch durch periphere Ursachen be- dingt sein kann. Jedenfalls wird eine Theorie dieser Vorgänge (wie auch eine Theorie des TALBOxschen Gesetzes) die Auf- gabe haben, die physikalischen Prozesse einerseits und die subjek-

» Philosophische Studien 15, S. 501 ff. 1900. « Philosophische Sbidien 14, S. 398 ff. 1898.

W. WunAi9 Stellung zu meiiter TheoHe usio. 347

tiven Vorgänge andererseits genau zu beschreiben, um dann unter Zuziehung bekannter Tatsachen die Abhängigkeit der psy- chischen Prozesse von den physikalischen abzuleiten.

Die Tatsachen des TALBOTschen Gesetzes und der Umstand, dafs für unser Auge mehrere Bewegungsphasen ausfallen können, ohne dafs wir es bemerken, diese beiden Tatsachen ermög- lichen die Herstellung der stroboskopischen Vorrichtungen. Diese beiden Tatsachen sind, wie meine Theorie der stroboskopischen Erscheinungen^ im einzelnen gezeigt hat, ausreichend, um die stroboskopischen Erscheinungen zu erklären.

Wenn wir z. B. ein ruhendes Bild durch irgend eine Vor- richtung sukzessive und periodisch verdunkeln, so liegt eine stroboskopische Erscheinung vor, die lediglich in den Tatsachen des TALBOTschen Gesetzes ihre Erklärung findet. Für jeden Punkt des kontinuierlich erscheinenden Bildes ist nämlich die kritische Periodendauer und die resultierende Helligkeit und Farbe ausschliefsUch durch das TALBOTsche Gesetz bestimmt. Man kann nun, durch irgend einen Mechanismus nach jeder Verdunklung ein anderes Bild einschieben. Wählt man dabei z. B. verschie- dene mit kinematographischen Apparaten aufgenommene Photo- graphien, welche etwa Phasen der Bewegungen einer Tänzerin darstellen, so kann bei geeigneter Auswahl der Phasen und ge- nügend grofser Sukzessionsgeschwindigkeit der Eindruck des Tanzens entstehen, ohne dafs die objektiven Pausen bemerkt werden. Da auch in diesem Fall sukzessiv-periodische Reize auf die Retina wirken, die einzeln nicht bemerkt werden, so gilt auch hier das TALBOTsche Gesetz. Dieses allein ist jedoch im vor- liegenden Fall, wie allenthalben, wo wir bei stroboskopischen Er- scheinungen den Eindruck von bewegten Bildern haben, nicht genügend zur Erklärung. Würden wir unter allen Umständen unterbrochene Bewegungen als unterbrochene wahrnehmen, so würden uns auch in unserem Beispiel der Ausfall einzelner Phasen zum Bewufstsein kommen und störend wirken. Der Ein- druck der kontinuierlichen Bewegeng des Tanzens erklärt sich indessen zwanglos aus der von Düer näher untersuchten Tat- sache, dafs Teile von Bewegungen ausfallen können, ohne dafs war es bemerken.

Statt die einzelnen Phasen dem Auge ruhend zu bieten, kann

> Philosophische Studien 14, S. 376 ff. 1898.

348 Karl Marhe.

man sie auch, wie dies bei den geläufigen stroboskopiscben Hand* apparaten üblich ist, in kontinuierhcher Bewegung am Auge vorbeiziehen lassen. Man mufs jedoch bei diesen Instrumenten dafür Sorge tragen, dafs die Phasen jeweils nur sehr kurze Zeit auf das Auge wirken. Denn die resultierenden Bilder erscheinen aus begreiflichen, übrigens peripherischen Gründen verschwommen, wenn die Phasen selbst allzu grofse objektive Bewegungen aus- führen, die mit denjenigen Bewegungen nicht übereinstimimen, welche der Beobachter wahrnehmen soll. Je kürzere Zeit bei solchen Apparaten die bewegten Phasen vor dem Auge erscheinen, desto mehr nähert sich die Anordnung derjenigen, bei welcher die Phasen unbewegt sind und bei welcher daher die Bilder ab- solut scharf erscheinen müssen.^ Bei einer gewissen kurzen Expositionszeit der bewegten Phasen wird ihre Bewegung nicht mehr wahrgenommen; sie bleibt dann für den stroboskopiscben Effekt gänzlich belanglos und dieser ist dann derselbe, als wenn die Bilder gänzlich stillstünden.

In vielen Fällen ist übrigens eine objektive Bewegung der einzelnen Phasen durch keinerlei Mittel auszuschliefsen, nämlich dort, wo kontinuierlich bewegte Objekte mittels stroboskopischer Vorrichtungen untersucht werden, wie dies z. B. bei den Stimm- gabeln oder schwingenden Flammen der Fall ist.

Während in allen bisher erwähnten Beispielen die objektive Bewegung der Phasen durch kurze Expositionszeiten kompensiert werden mufs, gibt es auch Fälle, wo die Phasenbewegung den stroboskopiscben Effekt auch bei längeren Expositionszeiten nicht stört. Dies trifft dann zu, wenn die Phasenbewegung mit der- jenigen'Bewegung übereinstimmt, die dem Beobachter vorgeführt werden soll. Wenn man etwa (um von unzähligen möglichen Beispielen ein einziges anzuführen) auf einem weifsen Schirm eine langsam rotierende aus zwei weifsen und zwei schwarzen Sektoren bestehende Scheibe darstellen will, die gleichzeitig von einem Ort zum anderen rückt, so kann man der Reihe nach ver- schiedene Phasen der rotierenden Scheibe mittels eines kinemato- graphischen Projektionsapparates projizieren, gleichzeitig aber durch irgend einen Mechanismus den ganzen Projektionsapparat verschieben. Die einzelnen Phasen, die bei den kinematographischen

* Vgl. meine Theorie der stroboskopischen Erscheinungen. Philoi. Studien 14, S. 397.

TT. Wundts Stellung zu meiner Theorie imo. 349

Apparaten sonst ruhend geboten werden, sind dann bewegt, ohne dafs diese Bewegung im Sinne der vorhin erwähnten Fälle für den stroboskopischen Effekt hinderlich wäre.

Keinenfalls ist also die Ansieht zulässig, dafs die objektive Ruhe der einzelnen Phasen eine unbedingte Notwendigkeit für das Eintreten des stroboskopischen Effektes sei.

Wäre dies übrigens der Fall, so müfsten doch auch ganz allgemein nur in einzelnen Phasen auf das Auge wirkende, kon- tinuierliche Bewegungen, die uns als kontinuierliche erscheinen, aus ruhenden Phasen zusammengesetzt sein. Es wäre dann un- verständlich, wie der oben erwähnte DüBßsche Versuch, der einen Fundamentalversuch für die Theorie der stroboskopischen Er- scheinungen darstellt, möglich sein sollte. Müfsten die einzelnen Phasen, die wir zu kontinuierlichen Bewegungen ergänzen, ruhend sein, so wäre auch die Möglichkeit, dafs uns kontinuierliche Be- wegungen von intermittierend beleuchteten Gegenständen als kontinuierliche erscheinen können, gar nicht zu begreifen. Es würden dann auch kontinuierliche Bewegungen im Wechselstrom- bogenlicht nicht als kontinuierliche erscheinen können. Neben den stroboskopischen Erscheinungen zeigen also auch die all- gemeinen Tatsachen des Bewegungssehens, dafs die Ruhe der einzelnen Phasen, aus denen subjektiv ein kontinuierlicher Ein- druck entsteht, keine prinzipielle Forderung sein kann.

2. WUNDTS Lehre von den stroboskopischen Erscheinungen.

Die vorstehenden Darlegungen geben in grofsen Zügen meine Theorie der stroboskopischen Erscheinungen wieder. Die letzten Bemerkungen über die Bewegung der Phasen sind veranlafst durch einen auf dem Würzburger Psychologischen Kongrefs (1906) gehaltenen Vortrag, über den weiter unten gehandelt werden soll. Meine Theorie der stroboskopischen Erscheinungen, die hier im speziellen zu wiederholen keine Veranlassung vorliegt, zeigt im einzelnen, dafs sich die stroboskopischen Erscheinimgen aus den TALBOTschen Tatsachen und aus dem Umstand erklären lassen, dafs Teile von Bewegungen ausfallen können, ohne dafs wir es bemerken. Die Publikation meiner Theorie fällt ins Jahr 1898, die des DüBEschen Aufsatzes in das Jahr 1900.

WuNDT hat nun ^ im Jahre 1902 ohne im einzelnen auf meine

* Grundzüge der physiologischen Psychologie 6. Aufl., Bd. 2, S. 580 ff.

350 Karl Marbe.

Theorie einzugehen und ohne die wichtigen Versuche von Dum überhaupt zu erwähnen, im Anschlufs an eine seinerzeit wert- volle, aber vielfach veraltete Arbeit von Fischbb ^ aus dem Jahre 1886 über die stroboskopischen Erscheinungen geschrieben.

Während ich in meinen Untersuchungen über das Talbot- sehe Gesetz die physikalischen Reize unter mathematischen Ge- sichtspunkten betrachte, um sie möghchst eindeutig beschreiben zu können und während ich diese Betrachtung auch auf die strobo- skopischen Erscheinungen auszudehnen versuche, redet Wuhdi immer noch wie seinerzeit Fischeb in ganz allgemeiner Weise von Nachbildern, auf welchen die stroboskopischen Er- scheinungen beruhen sollen. Diese unexakte Betrachtangs- weise führt Wündt zu grofsen Irrtümern. Er stellt sich bei- spielsweise die Sache so vor, als schliefse sich beim strobo- skopischen Effekt an jede Phase ein positives Nachbild derselben an, das am besten nur bis zum Eintritt der nächsten Phase an- dauern soll. Er sagt (S. 581) wörtlich : „Die Bedingungen für die Entstehung einer stetigen Bewegungsvorstellung sind demnach dann am günstigsten, wenn das positive Nachbild der voran- gegangenen Phase in dem Moment verschwindet, wo das neue Bild auftritt." Wenn diese Ansicht richtig wäre, so wäre für den DtJBBschen Versuch bei einer bestimmten Gröfse des ab- blendenden Schirmchens nur eine einzige Bewegungsgeschwindig- keit des Lämpchens „günstig", wovon natürlich keine Rede ist Hat man die Ablaufsgeschwindigkeit einer kinematographischen Projektionseinrichtung so eingestellt, dafs man auf dem Projek- tionsschirm gute Bilder erhält, so wäre nach Wündts Ansicht jede Beschleunigung der Ablaufsgeschwindigkeit „ungünstig^. Dies ist jedoch bekanntlich keineswegs der Fall. Man kann viel- mehr die Sukzessionsgeschwindigkeit der Phasen beliebig be- schleunigen und man erhält erst dann undeutUche Bilder, wenn die vorgetäuschten Bewegungen mit der Geschwindigkeit erfolgen» bei der auch objektive Bewegungen imdeutlich wahrgenommen werden. Weil nach Wündt das positive Nachbild einer Phase in dem Moment verschwinden soll, wo eine neue Phase auftritt, müssen, so meint er, zwischen den einzelnen Phasen Zwischen- pausen hegen, damit die durch die Phasen erzeugten Eindrücke ungestört nachwirken können. TatsächUch sind diese Zwischen-

» Philosophische Studien 3, S. 128 ff.

W. Wundts Stellung zu meifier Theorie usw. 351

pausen theoretisch betrachtet, vollständig überflüssig. Sie sind nur aus technischen Gründen unvermeidlich, weil man nämlich nicht eine Phase auf die andere ohne Zwischenpause folgen lassen kann. Je kürzer wir diese Pausen machen, desto mehr nähern sich die stroboskopischen Erscheinungen den Bewegungserschei- nungen des Lebens. Die Pausen werden daher kaum prinzipiell notwendig sein.

Es scheint mir nicht erforderlich, bei diesen Irrtümern änger zu verweilen. Ich verzichte auch darauf, die veralteten Ansichten Wündts ^ über das TALBOTsche Gesetz zu berichtigen, die ihn sogar zu dem Diktum veranlassen, dies Gesetz gelte nur für Periodendauem, die dem Wert von 0,04 naheliegen. Wündt brauchte nur in seinem Institut die Geschwindigkeit einer aus 20 weifsen und 20 schwarzen Sektoren bestehenden Scheibe be- liebig steigern zu lassen und sie dabei mit einem anderen gleich hellen Reiz zu vergleichen, um sich von der Irrtümlichkeit dieser Anschauung zu überzeugen.

Abgesehen von den Tatsachen des TALBOTschen Gesetzes oder den „Nachbildern", wie Wundt summarisch und ohne auf die speziellen Einzelheiten der TALBOTschen Tatsachen einzugehen, lehrt, beruhen die stroboskopischen Erscheinungen seiner Meinung nach auf der „Assimilation der Vorstellungen" (S. 583). Während DüBB und ich lehren, dafs der Ausfall gewisser Phasen infolge zentraler oder peripherer Gründe nicht zum Bewufstsein kommt, postuliert Wündt einen eigentümhchen psychologischen Prozefs, durch welchen die Lücken zwischen den einzelnen objektiven Phasen subjektiv ausgefüllt werden sollen. An einer anderen Stelle (S. 682) meint Wündt, die objektive Verschiedenheit der Phasen werde durch „assoziative und reproduktive Elemente ge- läufiger Vorstellungen" ausgeglichen. Hiemach sollen die strobo- skopischen Erscheinungen einer grofsen Anzahl von Beispielen simultaner assimilativer Apperzeption entsprechen.

Wir betrachten in möglichst exakter und nicht in der Wündt- schen summarischen Weise die physikalischen Reizvorgänge und weisen andererseits auf die ihnen entsprechenden psychologischen Prozesse hin. Wündt verzichtet auf eine spezielle Klarlegung der Reizverhältnisse; er ignoriert die grundlegenden DüBBschen

* GrundzOge der physiologischen Psychologie 5. Aufl., Bd. 2, S. 191. 1902,

352 ^arl Marbe,

Versuche und schiebt gänzlich hypothetische Seelentätigkeiten ein. Was hiermit gewonnen werden soll, ist schlechterdings nicht einzusehen. Ich habe mir deshalb erlaubt ^, darauf hinzu- weisen, meine Theorie zeige die Entbehrlichkeit der WuNDTschen Begriffe der Assimilation usw. für die Erklärung der strobo- skopischen Erscheinungen.

Demgegenüber wirft mir Wibth^ in bekannter Überein- stimmung mit WuKDT vor, ich übergehe das eigentliche psycho- logische Problem, das Wündt im Auge habe. Das Identitfits- bewufstsßin bei herabgesetzter Kontinuität der äufeeren Wahr- nehmung werde bei Bewegungen überhaupt lediglich durch die von Wündt genannten Faktoren ermöglicht. Um eine Bewegung, insbesondere wenn sie unmerklich unterbrochen wird, ab ganzes wahrzunehmen, brauche ich nach dieser Auffassung zunächst ein Identitätsbewufstsein. Um dasselbe aber herbeizuführen, ist ein Haufen weiterer psychologischer Faktoren notwendig.

Solche Lehren sind, wie bekannt, für die WuNDTsche Psycho- logie charakteristisch. Es ist nun äuTserst interessant, dafs die Beobachtung so vieler psychischer Faktoren in der Regel nur durch Wündt und durch solche stattfindet, die in Wükdts Nähe tätig sind oder waren, während hingegen die anderen Ex- perimentalpsychologen meist nicht zur Beobachtung so vieler psychischer Prozesse fortschreiten.

Wer aufserhalb der Sache steht, wird vielleicht zur Annahme neigen, dafs die WuNDTsche Schule ganz besonders feine Methoden zur Selbstwahrnehmung und Selbstbeobachtung entwickelt habe, die eben nur Wündt und seine Assistenten und Schüler zu hand- haben wissen. Das Gegenteil ist aber der Fall. Wündt geht sogar so weit, jede methodische Selbstwahmehmung der höheren Bewufstseins Vorgänge abzulehnen.

3. WüNDTs Stellung zur systematischen Selbstwahmehmiis*

Im Jahre 1901 habe ich eine Schrift über das Urteil pubh- ziert.** Um zur Klarheit darüber zu gelangen, ob eine der vid«a sich gänzlich widersprechenden psychologischen Theorien defi

» Pflüg er 8 Archiv 97, S. 393, Anmerkung. 1903. * Archiv für die gesamte Psychologie 5, Literaturbericht S. 106. 1905. ' Experimentell-psychologische Untersuchungen über das Urteil. Eine Einleitung in die Logik. Leipzig 1901.

W, Wundts Stellung zu meinet' Theone usio, 353

Urteils zutrifft, habe ich psychologisch geübte Beobachter eine grofse Anzahl von Urteilen fällen lassen und sie ersucht, ihre Erlebnisse unmittelbar nach jedem Urteil zu Protokoll zu geben. Es zeigte sich, dafs keine der üblichen Theorien zutrifft und dafs auch die WuNDTsche mit meinen Versuchsergebnissen im Wider- spruch steht. Meine Resultate ergaben überhaupt, dafs es ein psychologisches Kriterium des Urteils, das notwendigerweise immer vorhanden ist, wenn geurteilt wird, nicht gibt, eine Tatsache, die übrigens mit meiner logischen in der Schrift mit- geteilten Theorie des Urteils durchaus übereinstimmt. Anderer- seits zeigen meine Untersuchungen, die sich auch auf den psycho- logischen Charakter des Verstehens und der sogenannten Be- griffsvorstellungen bezogen, dafs eine systematische Untersuchung höherer Bewufstseinsvorgänge wohl möglich und daher not- wendig sei.

Seitdem ist eine Reihe von Arbeiten^ erschienen, welche die Methode der systematischen Untersuchimg auf das Denken und andere höhere Bewufstseinsvorgänge übertragen. Diese Schriften, die übrigens, abgesehen von der Arbeit Tatlobs, un- abhängig von meiner Person entstanden sind^, stimmen meinen Ausführungen natürlich nicht in allen Punkten bei und auch ich bin weit davon entfernt, alles im einzelnen zu bilHgen, was sie enthalten. Aber ich könnte mich mit allen Autoren dieser Ar- beiten über ihre experimentellen Resultate verständigen. Sie teilen Untersuchungen mit, die ich jederzeit gemeinsam mit jenen Autoren nachprüfen könnte, und die uns schliefslich gemein- schaftlich zur Annahme oder Ablehnung jener Resultate führen müfsten. Wir brauchten nur mit einer grofsen Anzahl geeigneter Beobachter zu experimentieren. So verschieden die Protokolle

* BiNET, L'ötude exp^rimentale de rintelligence. Paris 1903. Ach, Über die Willen stÄtigkeit und das Denken. Göttingen 1905. Watt, Archiv für die gesamte Psychologie 4, S. 289 ff. 1905. Taylor, Diese Zeitschrift 40, S. 225 ff. 1906. Messbr, Archiv für die gesamte Psychologie 8, 8. Iff. 1906. O. ScHüLTZB, Archiv für die gesamte PsycJiohgie 8, S. 241 ff. 1906. Dübb, Oerichtssaal Bd. 69, S. 168 ff. 1906. Bühleb, Archiv für die gesamte Psycho- logie 9, S. 297 ff. 1907.

* Gleichzeitig mit meiner Schrift Ober das Urteil erschien die Arbeit meiner damaligen Schüler Maybr und Obth „Zur qualitativen Untersuchung der Assoziation'*, diese Zeitschrift 26, S. Iff., in welcher die Vorgänge während der Assoziation mittels der Methode der systematischen Selbst- wahrnehmung untersucht wurden.

Zeitschrift für Psychologie 46. 23

354 J^TaW Marbe.

der Erlebnisse im einzelnen auch ausfallen könnten, so ist es doch immöglich, dafs zwei sachkundige Versuchsleiter zu prin- zipiell verschiedenen Resultaten gelangen. Durch die Methode der systematischen Selbstwahmehmung ist eben eine Yerstfindi- gungsbasis geschaffen, die bisher gefehlt hat.

In seiner neuesten Publikation „Über Ausfrageexperimente und über Methoden zur Psychologie des Denkens*^ ^ lehnt nun WuNDT die ganze Methode der systematischen Selbstwahmehmnng prinzipiell ab. Wundt hat meine Versuche früher* ganz falsch dargestellt, was ich an anderer Stelle gezeigt habe.' Seine Dar- stellung der Methode der systematischen Selbstwahrnehmung ist auch jetzt noch in wichtigen Punkten unrichtig. Der wesent- liche Charakter der Methode soll nach Wundt darin bestehen, dafs sich die Versuche aus einer Frage und einer Antwort zu- sammensetzen, wobei der Versuchsleiter Fragen aus dem Leben oder der Wissenschaft usw. stellen und die Versuchsperson sie beantworten soll (S. 304). Seite 55 90 meiner nun schon zum zweiten Male von Wundt diskutierten Arbeit über das Urteil zeigt indessen, dafs ich Untersuchungen mit der Methode der systematischen Selbstwahmehmung mitteile, bei denen eine Frage an die Versuchsperson überhaupt nicht gerichtet wurde. Die Versuchsperson hatte bei diesen Versuchen, die sich auf das Verstehen von Urteilen bezogen, lediglich wahrzunehmen, wie andere urteilen und ihre Erlebnisse zu Protokoll zu geben. Aber auch bei den späteren Untersuchungen nach der Methode der systematischen Selbstwahrnehmung wurden der Versuchs- person keineswegs immer Fragen vorgelegt. Bei vielen Ver- suchen, die Taylor mitteilt, fehlt dieses Ausfragen gänzlich. Das Ausfragen ist daher keineswegs ein allgemeines Merkmal der Methode der unmittelbaren Selbstwahrnehmung. Es stellt daher auch nicht, wie Wundt meint, den wesentlichen Charakter dieser Methode dar. Wenn daher Wundt die fragUchen Ebcperi- mente Ausfrageexperimente nennt, so ist diese Bezeichnung durchaus irreführend.

Bei meinen Untersuchungen mittels der Methode der syste-

' PsycMogische Studien 3, S. 301 ff. 1907.

* Grundzüge der physiologischen Psychologie, ö. Aufl. (1903), Bd. 3^ 8. 679 ff.

' Vierteljahrsschrift f. icissensch. Philosophie u. Soziologie 30, 8. 465 £f. 190t

TT. Wundts Stellung zu meiner Theorie usto, 355

inatischen Selbstwahmehmung habe ich besonderen Wert darauf gelegt, dafs die Versuchsperson während der zu untersuchenden Erlebnisse ihre Aufmerksamkeit nicht auf dieselben lenke. Seite 2 meiner Schrift sage ich: „Dagegen ist die Richtung der Auf- merksamkeit auf die Gegenstände der inneren Wahrnehmung von Übel, weil diese unter dem Einflufs der Aufmerksamkeit sich verändern und unter Umständen ganz aufgehoben werden. Da wir (nach Wundt, Logik, 2. Aufl., II, 2, S. 174) die Richtung der Aufmerksamkeit auf eine Erscheinung als Beobachtung be- zeichnen, so dürfen wir auch sagen, die Beobachtungen äufserer Wahrnehmungen oder die äufseren Beobachtungen seien wissen- schaftUch zweckmäfsig, die Beobachtungen der inneren Wahr- nehmungen oder die inneren Beobachtungen seien wissenschaft- lich unzweckmäfsig. Das Studium unserer Erlebnisse hat sich daher auf die äufsere Beobachtung und die innere Wahrnehmung zu stützen.''

Wundt dagegen meint, indem er die Versuche mit syste- matischer Selbstwahmehmung mifsversteht , der Beobachter lenke bei diesen Experimenten die Aufmerksamkeit auf die- selben, was natürlich vollkommen verfehlt wäre. Um die „Aus- frageexperimente", bei denen jedoch das Ausfragen tatsäch- lich etwas ganz Unwesentliches ist, zu charakterisieren, sagt Wundt: „Das Äufserste des Unmöglichen, was wir einem Be- obachter zumuten können, ist daher dies, dafs wir von ihm ver- langen, er solle über irgend ein ihm vorgelegtes Problem mit angestrengter Aufmerksamkeit nachdenken . . . und wenn wir zu alledem von ihm verlangen, er solle auf seine eigene Ge- dankentätigkeit aufmerken ..." (S. 3311). In der Tat: Über ein Problem nachdenken und die Aufmerksamkeit auf die Er- lebnisse richten, die beim Nachdenken verlaufen, das sind Dinge, die gleichzeitig einer Versuchsperson vorzuschreiben sinnlos wäre. Ich wüfste aber keinen Vertreter der Methode der systematischen Selbstwahmehmung, der so sinnlose Versuche angestellt hätte, wie die von Wundt kritisierten. Dafs Wundt schhefslich die von ihm ganz mifsverstandene und vollkommen falsch kon- struierte Methode ablehnt, ist begreiflich. Auf seine weiteren übrigens keineswegs einwandsfreien kritischen Ausführungen hier einzugehen, liegt daher für mich keine Veranlassung vor.

Was setzt nun Wundt an Stelle der Methode der systemati- schen Selbstwahmehmung? Die ganz veraltete Methode der ge-

23*

356 ^«^' Marbe.

legentlichen Selbstbeobachtung. Er gebraucht dabei, so\iel ich sehe, Selbstbeobachtung auch im Sinne dessen, was ich Selbst- wahmehmung nenne.

Was z. B. in unserem Bewufstsein vorgeht, wenn wir denken, das läfst sich nach Wündt ohne Experimente feststellen. Die Selbstbeobachtung lehrt, wie er meint, z. B., dafs beim Aus- sprechen eines Satzes der Gedanke als Ganzes in unserem Be- wufstsein steht, ehe wir ihn in seine Teile gliedern (S. 343). Die Selbstbeobachtung bestätigt also Wukdts psychologische Theorie des Urteils, derzufolge ein Urteil in einer Zerlegung einer Ge- samtvorstellung in ihre Bestandteile besteht.

Welche Selbstbeobachtung lehrt nun dies? Die Sigwabt- sehe doch wohl kaum, da dieser Autor bekanntlich in einem Urteil nicht eine Zerlegung, sondern eine Zusammensetzung von Vorstellungen sah. Auch die BRENTANOsche Selbstbeobachtung und die der unzähligen anderen Autoren, die andere psycho- logische Ansichten über das Urteil vertreten haben als Wündt, hat doch sicher auch zu anderen Resultaten geführt als die WuNDTsche. Auch meine unsystematischen Selbstwahmehmungen (solche wird natürlich jeder Psychologe gelegentlich vollziehen) können Wundts Lehre nicht bestätigen.

Was kann nun Wündt hiergegen einwenden? Er kann nur und er wird vielleicht sagen: Alle diese Psychologen verstehen eben nicht zu beobachten, ich aber verstehe es. Mein Ergebnis ist das richtige.

Es wäre unbillig, wenn man über eine solche Behaup- tung mit Wündt rechten wollte. Aber jedenfalls müfste doch auch Wündt zugeben, dafs andere Autoren, wenn auch nicht mit gleichem Recht, doch tatsächlich, dasselbe Vertrauen auf ihre eigenen Beobachtungen setzen könnten, wie er. Wie wollte Wündt nun beweisen, dafs sie irren, wie wollten sie beweisen, dafs Wündt unrecht hat?

Beides ist unmöglich. Auf dem Boden der gelegentlichen Selbstwahrnehmung und Selbstbeobachtung ist eine Klärung widersprechender Ansichten nicht möglich. Bei der Methode der systematischen Selbstwahmehmung legen die einzelnen Versuchs- personen ihre Erlebnisse protokollarisch nieder. Dafs dies ohne jegliche theoretische Färbung geschehe, darauf habe ich bei meinen Experimenten den gröfsten Wert gelegt und ich bin fortwährend der Meinung, dafs dieser Weg der einzig richtige

W. WundU Stellung zu meiner Theorie usw. 357

sei. Der Versuchsleiter prüft dann die Protokolle und er kann tind mufs feststellen, zu welchen theoretischen Ergebnissen die Resultate führen. Er kann dann jederzeit die theoretischen Schlüsse mit den Protokollen vergleichen und konstatieren, ob die Theorien mit den Protokollen übereinstimmen oder nicht. Er kann auch die Protokolle jederzeit durch weitere Unter- suchungen bei neuen Versuchspersonen vervollständigen. Auf Grund solcher Protokolle kann man miteinander diskutieren. Nach dem WüNDTschen Verfahren wartet man im Laufe seines Lebens günstige Gelegenheiten zu „Beobachtungen" ab. Ohne die Tat- sachen des Erlebens zu protokollieren, gelangt man dann all- mählich zu gewissen Behauptungen, an denen man festhält. Auf diesem Boden zu diskutieren hat gar keinen Sinn.

Wie soll man für Behauptungen eintreten oder gegen Be- hauptungen kämpfen, wenn einem das Material, worauf sie beruhen, nicht bekannt ist, ja wenn ein systematisches Sammeln dieses Materials überhaupt als unnötig gilt. Auf dem Boden der Wuxdt- schen Methode kann man nur Behauptungen aussprechen, sie vielleicht Dutzende Male wiederholen und dadurch andere, etwa seine Schüler, die in diesem Fall jedoch besser als Jünger zu be- zeichnen wären, allmähUch veranlassen, daran zu glauben. Unter diesen Umständen ist es nicht wunderbar, dafs die Überein- stimmung mit WüNDTs Lehren von den höheren Bewufstseins- vorgängen nur so weit reicht, wie der Einflufs von Wundts Autorität. Wündt nennt die Experimente mittels der Methode der systematischen Selbstwahrnehmung Ausfrageexperimente. Mit gröfserem Recht kann man seine Methode als Behauptungs- methode bezeichnen. Man könnte sie auch die autoritative nennen.

Mittels der Behauptungsmethode hat Wukdt die apperzep- tiven Verbindungen, die assimilativen Faktoren luid alle jene unzähligen, kaum mehr übersehbaren psychologischen Prozesse entdeckt, zu deren Erkenntnis die von Wündt unabhängigen Experimentalpsychologen nicht fortzuschreiten pflegen. Mittels dieser Methode hat er auch die psychologischen Prozesse ent- deckt, die nach seiner und Wikths (bisher Wundt niemals wiedersprechender) Meinungf ürdie stroboskopischen Erscheinungen BD wichtig sind. Ich kann diese Vorgänge bei den Tatsachen der Stroboskopie nicht beobachten. Ich brauche sie auch nicht für deren Erklärung. Würde ich aber ohne sie die stroboskopischen Erscheinungen nicht erklären können, so würde ich trotzdem auf

358 Karl Marbe,

ihre Annahme verzichten, falls diese nicht durch Untersuchangen nach meiner oder einer besseren Methode der systematischen Selbstwahmehmung geboten wäre. Denn lieber als möglicher- weise eine falsche Erklärung zu geben, wollte ich auf jede Er- klärung verzichten. Welche beliebige Behauptungen über die Existenz psychischer Vorgänge sind denn übrigens schliefslich verboten, wenn man geistige Prozesse annehmen darf, deren Existenz im Bewufstsein nicht bewiesen zu werden braucht?

WüNDTS Ergänzung der Behauptungsmethode durch die übrigens gleichfalls sehr angreifbare völkerpsychologische kann hier aufser Betracht bleiben.

4. Die neueste Behandlung der stroboskopischen Erseheinungeii in WüiiBTS Schule.

Auf dem Würzburger Kongrefs (1906) der Gesellschaft für experimentelle Psychologie hielt ein Schüler Wündts einen Vor- trag über stroboskopische Versuche.^ Auch nach ihm beruhen die stroboskopischen Erscheinungen auf Identifikations- und Assimilationsvorgängen.

Der Vortragende teilte die Entdeckung mit, dafs der stroboskopische Effekt generell an die Buhe der einzelnen Phasen geknüpft sei, eine Behauptung, deren Unrichtigkeit aus meinen obigen Darlegungen (S. 347 ff.) leicht ersichtlich ist. Das Stroboskop vermittelt, so heifst es in dem Kongrefsbericht (S. 215) erstens die Umwandlung der tatsächlich stattfindenden Bewegungen in subjektive Ruhe, zweitens die Vereinigung aller der Bilder, die einzeln exponiert unbewegt erscheinen müfsten. Diese Vereinigung soll durch einen Identifikationsprozefs vollzogen werden. Ja, wenn im Stroboskop sukzessive und periodisch Bilder gegeben werden, die alle unter sich gleich sind, so dafs wir subjektiv ein ruhendes Bild sehen, so soll ausschliefslich dieser Identifikations- prozefs vorliegen.

Nehmen wir nun an, ein Bild werde so schnell sukzessive und periodisch verdunkelt, dafs es konstant erscheint, so ist seine subjektive Helligkeit und Farbe in irgend einem Punkt durch das TALBOTsche Gesetz bestimmt. Meine Theorie des Talbot- schen Gesetzes zeigt im einzelnen, dafs die physikalischen Reize im Fall der sukzessiv-periodischen Reizung sich um so mehr

^ Bericht über den II. Kongrefs für experimenteile Psychologie in Würzburg. Leipzig 1907. S. 214 £P.

W, WunätB Stellung zu meiner Theorie usw, 359

denjenigen im Fall der konstanten Reizung näheren, je schneller die Reize, in unserem Fall die Bilder und Verdunklungen auf- einander folgen. Da nun bekanntlich nicht nur gleiche, sondern auch genügend ähnliche Reizungen unserer Sinnesorgane gleich erscheinen, so ist es höchst begreiflich, dafs wir bei einer gewissen genügend grofsen Sukzessionsgeschwindigkeit und bei allen gröfseren ein konstantes Bild ohne Störungen sehen.

Die Leipziger Schule, die meine Theorie des TALBOTschen Gesetzes wohl „zu physikalisch", „zu physiologisch" oder „nicht psychologisch genug" findet und sie ignoriert, weist eine solche einfache Erklärung des in Frage kommenden Phänomens weit von sich. Sie arbeitet mit einem psychologischen Prozefs, der die einzelnen Phasen identifizieren soll. Offenbar wird dabei gänzlich übersehen, dafs die Phasen im Verschmelzungsfall psychologisch lediglich mit der Helligkeit in Betracht kommen, die ihnen auf Grund des TALBOxschen Gesetzes zukommt; und dfUs im Verschmelzungsfall von einzelnen durch Intervalle unter- brochenen Phasen nur in physikalischer, nicht aber in psycho- physischer Hinsicht die Rede sein kann. Bei der Verschmelzung erscheint das Bild in irgend einem Augenblick ebenso wie in irgend einem anderen, ganz unabhängig von den physikalischen Unterbrechungen. Abgesehen davon, dafs demnach bei der Ver- schmelzung gar nichts da ist, was im Sinne der WuNDTschen Theorie identifiziert werden könnte, wolle man doch bedenken, dafe die Sukzessionsgeschwindigkeit der Bilder imd Pausen bei unseren Beispielen beliebig gesteigert werden kann. Ja sie wäre am besten unendlich grofs; dann wäre nämlich, wie sich aus meiner Theorie des TALBOTschen Gesetzes ergibt, der Fall der konstanten Reizung gegeben. Nehmen wir nun an, dafs im Falle unseres Beispiels in der Sekunde etwa hundert oder tausend Perioden von Bild und Pause ablaufen. Hätte denn nun das allerdings mit unzähligen Funktionen ausgerüstete und fast all- mächtige Bewufstsein der Leipziger Schule überhaupt Zeit und Behendigkeit genug eine Phase mit der anderen zu identifizieren? Oder sind die Identifikationsprozesse etwa zeitlose psychische Vorgänge? Meine Theorie gestattet, vom Aufrollen so tief- gründiger Probleme abzusehen.

Eine andere üi dem fraglichen Vortrag mitgeteilte Ent- deckung besteht darin, dafs der stroboskopische Effekt unab- hängig von der Tatsache der Verschmelzung eintreten kann.

360 Karl Marbe.

Versteht man, wie der Verfasser des Vortrags hier unter strobo skopischem Effekt den subjektiven Eindruck der Bewegung, so ist diese Tatsache allbekannt. Wenn wir eine Lichtquelle durch einen Episkotister so langsam in Zwischenräumen periodisch ver- dunkeln, dafs eine Verschmelzung nicht eintritt und wenn sich Menschen in dieser Beleuchtung bewegen, so hat man auch bei der intermittierenden Beleuchtung den Eindruck der Bewegung. Dies ist auch dann der Fall, wenn die Momente der Beleuchtung einzeln so kurz sind, dafs innerhalb derselben Bewegung nicht wahrgenommen wird. Letzterer Fall ist im Prinzip gleich mit der bekannten Erscheinung, wo beim Stroboskop oder Kinemato- graph die Phasen und Pausen nicht vollständig verschmelzen, ohne dafs der Bewegungseindruck dadurch gestört wird. Wenn ich früher sagte, dafs für den stroboskopischen Effekt die Talbot- sche Verschmelzung notwendig sei, so meint« ich natürlich nicht den stroboskopischen Effekt im Sinne des Eindrucks von Be- wegungen überhaupt, sondern im Sinne des Eindracks von Be- wegungen, die durch Lichtwechsel ungestört sind.

Eine weitere in diesem Vortrag mitgeteilte Entdeckung be- steht in der bekannten* Tatsache, dafs schon zwei Phasen genügen, um den Bewegungseindruck hervorzurufen.

Während so die angeblich neuen Tatsachen dieses Vortrags, abgesehen von der falschen Lehre, dafs die einzelnen Phasen unter allen Umständen unbewegt sein müssen, lediglich bekannte Dinge darstellen, hat sein Autor meiner Lehre von den strobosko- pischen Erscheinungen dasselbe Verständnis entgegengebracht wie WuNDT. Er kämpft fortgesetzt gegen diejenigen, welche die stroboskopischen Tatsachen auf Verschmelzung zurückführen und spricht mit keiner Silbe davon, dafs die Erscheinungen, bei denen Bewegungen vorgetäuscht werden, auch auf den von Dürb näher untersuchten Tatsachen beruhen. Der ganze Vortrag zeigte überhaupt, dafs der Autor mit der Literatur über dfis TALBOTsche Gesetz und die stroboskopischen Erscheinungen auf sehr gespanntem Fufse stand.

Die beiden einzigen Zuhörer, die sich an der auf den Vor- trag folgenden Debatte beteiUgten, Herr Professor Schumank und ich wiesen daher auf die mangelnde Literaturkenntnis des Vor-

' Vgl. die Bemerkungen Schitmanns im erwähnten Kongrefsbericht S. 218.

TV. Wundts Stellung zu meiner Theot-ie usw. 361

tragenden hin. Ich selbst habe auch betont, dafs die Forderung der Ruhe der einzelnen Phasen keine wesentliche Bedingung des stroboskopischen Effektes als solchen sei.

DüBE^ hat nun in seinem Referat über den Kongrefs im Archiv für die gesamte Psychologie den fraglichen Kongrefs- vortrag und die Diskussion kurz erwähnt und dabei auch ange- deutet, dafs der Vortragende durch die Diskussion in eine schwierige Position geriet und übrigens wenig Interesse unter den Zuhörern fand.

Die 16 Zeilen, welche Düre über den Vortrag geschrieben hatte, veranlafsten den Autor des Vortrags, einen Herrn P. LiifKE zu einer Entgegnung gegen Düee,^ die sich indessen im wesentUchen gegen mich wendet. Der Vertreter der WuNDTschen Lehren meint hier einfach, weil ich die Lehre von der prinzipiell notwendigen Ruhe der Phasen bekämpfte, ver- wechsle ich die subjektiv gesehene Bewegung mit der objektiven Phasenbewegung, ja er schreibt mir den Gedankengang zu : weil die stroboskopischen Bilder eine Bewegung vortäuschen, mufs die objektive Bildbewegung ebenfalls bemerkt werden. Tat- sftchhch ist die Lehre von der prinzipiell notwendigen Ruhe der Phasen, wie man sie auch auffassen mag, falsch, wie wir oben sahen (S. 347 ff.). Dafs man bei den landläufigen Instituts- apparaten die objektive Bewegung durch kurze Expositionszeiten kompensieren mufs, diese Tatsache habe ich schon vor 9 Jahren diskutiert '^ und erklärt. Ich habe mich aber wohl gehütet, aus dieser Tatsache den falschen Schlufs zu ziehen, den der Ver- treter der WüNDTschen Lehren zog. Im Kongrefsbericht * sprach der Verfasser des Vortrags übrigens nur von einem „Mifs Verständ- nis Prof. Maebes." Nun, in seiner Entgegnung gegen Düeb redet imser Autor nicht mehr von einem Mifsverständnis meiner- seits. Er ist, Avie man sieht, dazu fortgeschritten, mir die un- sinnigsten Meinungen anzudichten. Ja der Vertreter der Wündt- schen Lehren ist, wie man aus der Entgegnung gegen Düee sehen kann, mittlerweile spontan zur Erkenntnis vorgerückt, ich kenne die bekannte Einschnappvorrichtung beim kinemato-

» Arch. /•. d, ges. Psychol. 8, S. 232. 1906. 2 Arch. f. d. ges. Psychol 9, S. 468 ff. » Fhilosophiache Studien 14, S. 397. 1898.

* Bericht über den II. Kongrefs für experimentelle Psychologie. Leipzig 1907. S. 215.

362 Karl Marbe.

graphischen Projektionsapparat nicht. Denn, hätte ich sie ge- kannt, hätte ich sie in meiner Schrift über die stroboskopischen Erscheinungen erwähnen müssen; hätte ich sie gekannt, hätte ich auch nicht gegen ihn polemisieren können.

Der Schüler Wündts will hiermit wohl auch andere Gebiete als die der höheren Bewufstseinsvorgänge der Behauptongs- methode erschUefsen. Ich habe meinerseits wenig Neigung gegen solche „Schlüsse^^ etwas einzuwenden, oder gar zu zeigen, d&ls ihre Ergebnisse unrichtig sind. Soeben ist übrigens in der Zeit- schrift der ^üNDTschen Schule ^ ein ca. 150 Seiten langer Auf- satz von P. Linke über die stroboskopischen Erscheinungen er- schienen. Die hier vertretenen Ansichten stehen ungefähr auf dem Niveau des Kongrefsvortrages.

5. Schlursbemerkuiig.

Ich schliefse hiermit. Meine Darlegimgen dürften gezeigt haben, dafs die WuNDTsche Schule in der Lehre von den höheren Bewufstseinsvorgängen auf einem ganz anderen Boden steht als ich. Ich lasse nur diejenigen Bewufstseinsvorgänge gelten, die sich im Bewufstsein nachweisen lassen. Wiindt steht auf dem viel fruchtbareren Boden der Behauptungsmethode. Seine Schüler gelangen aus den oben (S. 357) angedeuteten Gründen zu den gleichen Behauptungen wie er, wenn auch nicht immer mit so unglücklichem Beiwerk wie Linke. Eine weitere Diskussion ist daher nach meiner Meinung ohne jeden Nutzen. Vielleicht wird auch WüNDT nun diese Ansicht teilen. Was sollen die Schrift- steller, die aus dem unversiegbaren Born des MögUchen ihre üppigen Resultate schöpfen, sich herablassen, gegen eine Richtung zu kämpfen, die auf dem dürftigen Boden des Tat- sächlichen steht?

» Psychologische Studien 3, S. 393ff. 1907.

(Eif} gegangen am 15. Dezember' 1907.)

363

Literaturbericht.

W. Bbchterew. Li Psychologie ObJectl?e. Revue sdentifique, 6. Serie. 6 (12), S. 3ö3— 357; (13), S. 390-396. 1906.

Wenn ein Naturforscher und Arzt von der Bedeutung eines Bechtebbw seine Stimme erhebt, um prinzipielle Ansichten über Psychologie darzu- legen, so kann er des dankbaren Interesses der engeren Fachleute dieser Disziplin gewifs sein. Der vorliegende Aufsatz in der Bcvne scientifigue bringt nun zwar in Sachen der theoretischen Grundlegung jener Wissen- schaft keine neuen Gesichtspunkte, verdient jedoch als klare Formulierung der Ansicht der Hauptgruppe moderner Physiologen, welche den „Materia- lismus mit Scheuklappen*^ verschmähen, volle Aufmerksamkeit.

Der Verf. beginnt mit einer Charakteristik der Mängel der „subjek- tiven" Physiologie, welche iu der Selbstwahrnehmung (autoobservation) eine nnverläfsliche und unzureichende Quelle besitzt. Als Belege für die Schwächen der inneren Erfahrung führt er an, dafs sie zum Glauben an die Hemmbarkeit der Abwehrreflexe verleite, dafs das grofse Gebiet des unbewulist Psychischen nicht der Introspektion zugänglich sei, endlich dafs eine Psychologie der Kinder, Geisteskranken und Tiere auf subjektiver Basis insofern selbst der Notbehelf der Analogie versage nicht geschaffen werden können. Daran knüpft B. einen ausführlichen Exkurs darüber, dafs eine Psychologie ohne Berücksichtigung der physischen Begleiterscheinungen stets unzureichend bleiben müsse. Der Ref. darf hierzu wohl bemerken, dafs diese Ausführungen lauter Selbstverständlich- keiten bedeuten und dafs es Psychologen von der altvaterischen Art, wie sie der Verf. bekämpft, derzeit kaum mehr gibt.

Im zweiten Teile der Studie entwickelt der Verf. die Fundamental- punkte der objektiven Psychologie, „welche die Summe der Kenntnisse von den objektiven Erscheinungen der neuropsychischen Aktivität*' ist (394). Die objektive Psychologie anerkennt zwar das Bestehen einer psychischen Erscheinungsreihe parallel zur physischen, bedarf jedoch einer dieser Dualität Überwindenden Grundvorstellung, welche im „neuropsychischen Prozefs" zu finden ist" (357). Die Energie der Nervenzentren, welche sich in diesem Prozefs manifestiert, schafft beide Erscheinungsreihen, die physische und die psychische. Die erstere Beihe ist ein kausales Kontinuum und läfst keine Verwandlung der „objektiven Energie" in psychische Arbeit zu; das Psychische besteht gewissermafsen in einer reflexartigen Neben- leistung (die neueren Franzosen würden epiph^nom^ne sagen), welcher die

364 Literatlirbericht.

Bewufstheit wesentlich ist. Des Verls Beschreibung der Anhäufung and Entladung der Nervenenergie und die Erklärung des scheinbaren Mifs- verhältnisses zwischen der Stärke des Reizes und dem Ausmafse der motorischen Reaktion entspricht den bekannten Lehren R. r Catals, S. ExNEBS u. a. Zum Beschlüsse dieser Erörterung äufsert sich der Autor folgendermafsen : „Es ist evident, dafs die objektive Psyschologie die meta- physischen Begriffe wie Seele, Geist, Wille, Einbildungskraft und andere Qualitäten, denen Wolf einst eine Seele gab, unnötig hat; sie schliefist sie als nutzlos vollkommen aus" (395). Eine zustimmende Würdigung des Artikels von Sternbebg im 20. Bande dieser Zeitschrift über die Geschmäcke und eine Betrachtung über die Wichtigkeit der Sprachsymbole für den Wissenschaftsbetrieb beschliefst die vielseitig anregende Studie.

Krsibig (Wien}.

G. Sabatieb. Le daplicisme hamain. Preface de J. E. Abblous. Paris, Felix Alcan. 1907. 158 S. 2 Frcs. 10 Cts.

Der Grundgedanke des Verf.s ist, der Mensch sei ein Doppelwesen, zusammengesetzt aus zwei einander sehr ähnlichen „co-^tres''. Der morpho- logische Nachweis dieses Satzes ist verbal tnismäfsig einfach. Die meisten Organe des Menschen sind paarig einschliefslich des Gehirns mit seinen beiden Grofshirnhemisphären. Auch der pathologische Nachweis, der anf Erfahrungen an Gehirnkranken und Hypnotisierten beruht, leuchtet ein. Der embryologische Nachweis jedoch, der mit der Zweiteilung der be- fruchteten Eizelle und den aus der Zoologie bekannten prospektiven Potenzen der beiden ersten Blastomeren rechnet, steht auf recht schwachen Füfsen. Sicher falsch ist auch die Meinung des Verf.s, der Mensch sei sogar phylogenetisch aus zwei einfachen Wesen zusammengeschmolzen, und der Zustand des einfachen co-6tre werde in der Natur durch die Rädertiere und Platt Würmer repräsentiert, die nur ein einheitliches Zerebral- ganglion besitzen.

Trotzdem mufs man natürlich zugeben, dafs der Mensch in gewissem Sinne hinsichtlich seines Körperbaues eiA Doppelwesen ist, und es wird sich daher fragen, ob die Folgerungen aus dieser These, die der Verf. für die Psychologie zieht, zutreffen oder nicht. Ref. mufs sagen, dafs ihm die Ausführungen des Verf.s in keiner Hinsicht zwingend erscheinen. Der Verf. ist nämlich der Meinung, dem co-6tre kämen nur die mehr passiven psychischen Funktionen zu, während nur das „6tre complet" Spontaneit^ und Bewufstsein besäfse. Das Gefühl der Freiheit kommt im ^tre complet durch das ständige Entscheiden zwischen den Antrieben der beiden c»> 6tres zustande. Die Einheit des Ich realisiert sich eben darin, dafs das 6tre complet eine herrschende Stellung gegenüber den beiden co-etres einnimmt.

Der Verf. wendet diese „theorie dupliste" auch auf die Pädagi\2ik und auf die Soziologie an, jedoch nach des Ref. Meinung ohne wesentliche Ergebnisse. V. Fbanz (Helgoland).

Literaturberichi. 365

J. P. Karflus. Zur Kenntnlf der TariabiUtit nndVererbang; am Zentralnenen- System des Menschen und einiger Singetiere. Leipzig u. Wien, Denticke. 1907. 162 S. 10 Mk. Verf. bestätigt an der Hand zahlreicher Tabellen über die Furchung der Grofshirnhemisphären, sein schon früher mitgeteiltes Resultat, dafs es beim Menschen eine Vererbung gewisser Furchungs typen sowohl, wie einzelner Varietäten gibt. Dagegen fand sich bei vier Makakenfamilien nur ausnahmsweise eine Ähnlichkeit zwischen Mutter und Kind. Hund und Katze dagegen zeigten wieder unverkennbare Familienähnlichkeiten. Nur beim Menschen wird eine auffallende Differenz im Bau der einen und der anderen Hemisphäre beobachtet, die auch vererbbar ist. Aus Unter- suchungen des Hirnstammes zieht Verf. den Schlufs, dafs phylogenetisch ältere Teile im allgemeinen mehr Familienähnlichkeit aufweisen, als phylo- genetisch jüngere. Was das Rückenmark betrifft, so weist Verf. auf die Familienähnlichkeit in der Mächtigkeit des Stützgerüstes hin, und erwähnt einen Fall von Hydromyelie bei zwei Zwillingsschwestem.

Lewandowsky (Berlin).

K. Rabhlmann. Znr Anatomie nnd Physiologie des Pigmentepithels der Neti- hant. Zeilschrift für Augenheilkunde 17 (1), S. 1—25. 1907. Auf Grund einer Reihe von eingehenden anatomischen Untersuchungen über die Entwicklung des Netzhautpigments im embryonalen Zustand bei einer Anzahl von Tieren, welche an der Erdoberfläche leben und durch den Gesichtssinn in dem Ergreifen ihrer Nahrung geleitet werden, kommt der bekannte Forscher zu dem Ergebnis, dafs das Retinalpigment unter den Pigmenten der Augengewebe eine ganz besondere Stellung einnimmt, nicht allein weil es embryologisch dem inneren Keimblatt angehört die übrigen Pigmente entstammen dem mittleren Keimblatt sondern weil es vor allen nach Form (Stäbchenpigment) und Farbe von allen übrigen Pigmenten des Auges, namentlich vom Körnerpigment der Uvea und Iris, gänzlich verschieden ist, so dafs ihm eine eigene physiologische Be- deutung beim Sehakt zukommt. Von dem Zustande und der Funktion des Pigmentepithels hängt nach R. die Funktion der Stäbchen und Zapfen der Netzhaut ab und nur in Kontakt mit dem Pigmentepithel ist die normale Funktion der Stäbchen und Zapfen möglich, das Pigmentepithel ist mithin physiologisch mit zur Sehzelle zu rechnen.

R. CoLLiN (Berlin).

£. Wlotzka. indert sich die Refraktion des Änges beim Aufenthalt im Dunkeln? Pflügers Archiv 112, 194—198. 1906. Charpbntieb gab an, dafs am atropinisierten Auge im Dunkeln eine Refraktionszunahme bis zu drei Dioptrien eintrete, welche er auf eine Ab- nahme der Füllung der Chorioidalgefäfse bezog. In der hier vorliegenden Nachprüfung, bei der zur Feststellung der Refraktionsänderung der 8cHEiNEBSche Versuch benutzt wurde, konnten die angegebenen Befunde nicht bestätigt werden; obige Frage ist also zu verneinen.

W. Tbendblenbuho (Freiburg i. B).

366 Litemturbericht.

H. KöLLNBB. UBtemchnngeft Aber die FarbeutSrang bei letihraUblimf.

ZeitschHft für AugenheWcunde 17 (3), S. 234-258. 1907. E. hat 36 Fälle von Netzhautablösung auf Störungen Im Farben- unterscheidungsvermögen mit Hilfe 3 verschiedener Methoden (Perimeter Farbengleichungsapparat Anomaloskop) untersucht Hierbei hat sieh ergeben, dafs bei der Netzhautablösung die Farbenstörung im Sinne einer Tritanopie die Regel bildet, daTs diese Farbenstörung auch ohne Zusammen- hang mit dem durch die Ablösung bedingten Gesichtsfeldausfall auftritt und dafs sie sich in der Regel zentral befindet, ähnlich wie bei der Retinitis albuminurica. Die Einengung der peripheren Farbengrenzen entsprechend der sichtbaren Ablösung geht meist ohne Tritanopie in der Reihenfolge vor sich, die diese Grenzen im normalen Gesichtsfelde haben. Für die klinische Frühdiagnose einer Netzhautablösung kommt die tritanopische Farbenstörung wohl nur selten in Betracht.

R. CoLLiN (Berlin).

S. Seliomann. Ein Apparat ivr Prfifvng der Sehscharfe. Zeitschrift für Augen- heükunde 17 (2), S. 157—161. 1907. Ein Apparat, dessen Sehproben in einem flachen Kasten auf 6 dreh- baren, von hinten her elektrisch beleuchteten, Milchglasscheiben angeordnet sind und der so konstruiert ist, dafs es möglich ist, immer nur einen Buchstaben etc. zur Zeit dem zu Untersuchenden zu zeigen. Hierdurch soll erreicht werden, dafs dem Patienten eine in jeder Gröfse genügende Zahl von Zeichen in rascher Folge vorgeführt werden kann, die er unmöglich auswendig lernen kann, und ferner soll die Einrichtung ermöglichen, dafs der Arzt die Sehschärfe eines gut sehenden Patienten schneller als bei den gewöhnlichen Sehprobentafeln bestimmen kann, da der zu Unter- suchende nicht immer die ganzen Reihen der Zeichen, sondern immer nur ein Zeichen von jeder Gröfse zu lesen braucht. Ob sich mit Hilfe des beschriebenen Apparates in der Praxis die Bestimmung der Sehscharfe im gegebenen Fall schneller als mit den übrigen bekannten Verfahren ausführen lassen wird, erscheint Ref. zum mindesten fraglich.

R. CoLLiN (Berlin).

R. Stiglsb. Beiträge ivr Kenntnis des Drackpbospbens. Pflüg er s ArckiT 115, 248—272. 1906. Das bei Medianwendung des Auges am lateralen Augenwinkel hervor- gerufene Druckphosphen besteht aus einem hellen Zentrum und sich um dieses anschliefsenden konzentrischen abwechselnd hellen und dunklen Ringen. Weitere Erscheinungen werden auf den Fixationspunkt und den blinden Fleck bezogen. Im Hellen und Dunklen sind nur quantitative, nicht qualitative Unterschiede vorhanden. Bei plötzlichem Aufhören de« Druckes sieht man eine Umkehr der Helligkeits- und Farbenverhaltniase des Druck Phosphene. Das Phosphen wird auf die bei dem Druck ein- tretenden Formveränderungen der Bulbus wand zurückgeführt, bei welchen die Stellen mit verminderter Krümmung sich entgegengesetzt denen mit vermehrter Krümmung verhalten. W. Trendblekbubg (Freiburg i. B.).

Literaturbericht 367

Felix KbIjgbr. Die Theorie der Konsonanx* Eine psychologische Auseinander- setzung vornehmlich mit C. Stumpf und Th. Lipps. Wuniia Fsychol. Studien 1 (5 u. 6), S. 305-387; 2 (3 u. 4), S. 205—265. 1906.

Noch vor dem Abschlufs seiner grofsen konsonanztheoretischen Mono- graphie („Differenztöne und Konsonanz", Arch. f. d. ges. Psych. 1, S. 205 ff., 2, S. Iff.) repliziert K. auf die Kritik, die seine Lehre durch Stumpf („Differenztöne und Konsonanz", diese Zeitschr. 39, S. 269 ff.) und Lipps (^^Psychologische Studien", 2. Aufl. Leipzig 1905, S. 115 ff.) erfahren hat. Die speziellere Polemik bildet den dritten und den (noch ausstehenden) vierten Teil der Abhandlung, während die beiden ersten allgemeinere Fragen erörtern; doch enthalten auch diese Abschnitte schon so viel Polemisches, dafs Ref. sich auf eine Skizzierung des Gedankenganges beschränken zu mflssen glaubt: es wäre unziemlich, als outsider in eine noch unab- geschlossene Diskussion kritisch einzugreifen.^

I. 1. Beiner Empirismus ist, wie für die Naturwissenschaften, auch für die Psychologie zu fordern. Die Naturwissenschaften abstrahieren von dem konkreten Zusammenhang der Erscheinungen im erlebenden Bewufstsein; die Psychologie dagegen hat den ganzen, durch keine Abstraktionen redu- zierten, Inhalt möglicher seelischer Erfahrung vollständig zu analysieren. Das psychologisch Elementare ist aber in der Erfahrung nie isoliert gegeben, existiert vielmehr nur für das vergleichende und isolierende Denken in der Form von Begriffen. Es ist der „methodologische Erbfehler" der Psycho- logie, diese abstrakten Begriffe zu hypostasieren oder zu verding- lichen, d. h. sie als wirklich isolierbare und substantiell beharrende Ob- jekte zu denken („Objektivismus").

Solche hypostasierte Begriffe findet K. in Hbrbabts „Vorstellungen", in Lipps' „realem Ich" und seinen Tonempfindungen die mit den physi- kalischen Schwingungen „auf einem und demselben Boden sich treffen" , in Stumpfs „Verschmelzung", sofern diese nicht blofs als Empfindungs- xnerkmal, sondern auch als ein (nur graduell abgestuftes) „Verhältnis" zweier im Übrigen qualitativ konstanter Empfindungen gefafst wird.

Der Fehler der Verwechslung physikalischer und psychologischer Be- griffe ist in der Akustik noch weniger überwunden, als in der Optik. Wenn z. B. Differenztöne als „Nebengebilde", „Beimischungen" usw. bezeichnet werden, so geschieht dies meist in Hinblick nicht auf unmittelbar gegebene Eigenschaften der Wahrnehmung, sondern auf supponierte Verhältnisse der physikalischen Vorgänge. Unzulässig ist ferner der Gebrauch unvollständig analysierter, vorwissenschaftlicher Begriffe, wie des Konsonanzbegriffes der Musiker. Ein Intervall bleibt nach Stumpf hinsichtlich seiner Kon- sonanz dasselbe trotz jeder Variation der Tonlage (ausgenommen die extremste), Tonstärke, Klangfarbe, Dauer (ausgenommen die kürzesten) („Identitätsvorurteil"). Stumpf begründet diesen Satz erstens durch seine Verschmelzungsversuche, zweitens durch die Unabhängigkeit des Intervall-

* Qegen Kbügers Ausführungen wendet sich Stumpf in seiner Arbeit über „Erscheinungen und psychische Funktionen" allerdings nicht explizite; namentlich wird (S. 20 f.) der Vorwurf der Hypostasierung zurück- gewiesen.

368 Litei'aturbericJit

Urteils von den genannten Variabein. Aus den VerschmelzangsversacheD geht aber ]iur eine relative Konstanz des „Konsonanzgrades hervor; das Intervallurteil andererseits ist streng zu trennen vom Konsonanzurteil und beide Urteilsarten von der unmittelbaren Konsonanz Wahrnehmung.

Auf transempirische Analogien grtkndet Lipps sein Gesetz der Über- einstimmung unbewufster seelischer Erregungen und die Theorie der „Mikrorhythmen''. Bei Lipps liegt das Identitäts Vorurteil schon in der Fragestellung, wenn nach dem allen Konsonanzerlebnissen (auch nicht- akustischen) Gemeinsamem und dem einen gemeinsamen Grund dieses Gemeinsamen gefragt wird. Die Zurückführung „gleicher", d. h. ähnlicher komplexer Erscheinungen auf einen gemeinsamen Grund oder gar auf eine Tatsache ist aber nicht denknotwendig.

2. Für den Theoretiker sind die dinghaften vorwissenschaftlichen Be- griffe nicht nur insofern gefährlich, als sie sich unvermerkt in die gedank- liche Verarbeitung der empirischen Daten einschleichen ; doppelt geffthrlich sind sie dadurch, dafs sie unbemerkt die Beobachtung selbst modifizierKL Gegenwärtige Erlebnisse (des normalen, entwickelten Bewufstseins) werden stets durch die Nachwirkungen früherer Erlebnisse beeinflufst („Assi- milation"); die optischen Täuschungen, der „absolute Eindruck**, die Kontrasterscheinungen sind nur besonders auffallende Beispiele von Assi- milation. Aber auch gleichzeitige Bewufstseinselemente gleichen sich an. Der Zusammenschlufs (die „Verschmelzung") der Elemente mag in verschiedenen Fällen graduell oder der Art nach verschieden sein. Nicht der Vorgang der Angleichung, nur das Resultat: das Angeglichensein, ist uns bewufst. K. schlägt als gemeinsame Bezeichnung für alle Arten der Angleichung irgendwelcher Elemente den Ausdruck „resultative An- gleichung" vor.

Auf akustischem Gebiet ist die Oktaven täuschung wenigstens teil- weise — auf Assimilation zurückzuführen ; es scheint auch eine ablenkende Wirkung der Tonmitteliage zu bestehen. Beispiele von resultativer An- gleichung von Touempfiudungen an andere gleichzeitige, die dabei deutlich von jenen unterschieden werden, sind: die (scheinbare) gegenseitige Ab- lenkung zweier Töne, von denen der eine konstant, der andere periodisch unterbrochen erklingt (Stumpf) ; ferner die (scheinbare) Höhenakkommodatioa geräuschreicher Töne (Schlaginstrumente) an geräuscharme (Stumpf). Als Urteils täuschungen sind diese Erscheinungen nicht zu erklären ; sie sind unmittelbar sinnlich erlebt; falsche Urteile mögen sich anschliefsen, gehören aber nicht zu dem betreffenden Erlebnis selbst. Zu den Modifikationen bei gleichzeitiger Verschmelzung der Teilempfindungen gehört die Über- tragung der Eigenschaften von Kombinationstönen (Schwebungen, Geräusch- charakter; Intensität; Tonhöhe) auf andere gleichzeitige oder (und) auf das Klangganzc. Ebenso sind bei der Klangfarbe des Einzelklanges aoTser Verschmelzung auch Assimilation der Teiltöne und Nachwirkungen früherer (häufigster) Erfahrung anzunehmen. Assimilation im engeren Sinn (unter Mitwirkung der Erfahrung) ist auf akustischem Gebiet besonders häufig infolge der musikalischen Vorbildung. Die Gewöhnung an ein bestimmtes Intervallsystem, die Häufigkeit der erlebten konsonanten Zusammenklänge läfst den musikalischen (europäischen) Hörer ungewohnte Tonfolgen (in

Literaturbericht. 369

der exotischen Musik; bei Versuchen über Tondistanzen, schnelle Ton- folgen nsw.) oder ungewohnte Zusammenklänge (bei Versuchen Aber die Beinheit bestimmter Intervalle, bei der Analyse von Zweiklängen usw.) im Sinne der gewohnten auffassen: die gegenwärtigen Erlebnisse werden den früheren angeglichen. So ist auch die Konsonanzauffassung durch zahl- reiche assoziative Faktoren bestimmt.

Das von Stumpf bei Beobachtungen an bestimmten (konsonanten) Intervallen konstatierte „Reinheitsgefühl" ist nicht als Gefühl, sondern als die unmittelbar erlebte Komplexqualität der betreffenden Wahr- nehmung anzusprechen. Komplexe Erlebnisse haben (bestimmte, fein ab- gestufte) Eigenschaften über die Eigenschaften ihrer Teile hinaus. Durch den Gefühlsbegriff wird hier die komplexe Beschaffenheit des Erlebnisses verhüllt, sofern es als einfaches Gefühl interpretiert wird. Die Eigen- tümlichkeit aller komplexen Wahrnehmungen besteht in assimilativen Verbindungen von gegenwärtig Empfundenen mit nicht unterschiedenen Nachwirkungen früherer Erlebnisse (und in den Komplexqualitäten). Noch weitere und unbestimmtere Gefühlsbegriffe verwendet Lipps (Gefühl der Übereinstimmung, der Einheitlichkeit, der Konsonanz usw.). Kbüoeb ver- steht unter Gefühlen (nach dem Vorgange von Cobneliüs): Eigenschaften oder Qualitäten des (jeweiligen) Gesamt-Bewufstseinsinhaltes.

Der Fortschritt der psychologischen Konsonanztheorie wird grund- sätzlich gehemmt, wenn man die fundamentale Tatsache der Assimilation verkennt und die Verdinglichung psychologischer Begriffe methodologisch jmläfst.

II. Im dritten Teil der Abhandlung wendet sich K. spezieller gegen ■die Lippssche Kritik. Schon die Wiedergabe der Ergebnisse von K.s Unter- suchungen durch LiPFS ist summarisch und ungenau. Nicht allein die analytische Ermittlung der Teilempfindungen und die Beschreibung ihrer Qualitäten, vielmehr die Erkenntnis der psychologischen Zusammenhänge aller Empfindungsfaktoren mit dem konsonanten oder dissonanten, an- genehmen oder unangenehmen Gesamteindruck war das Hauptziel der Untersuchung.

Die gegensätzliche Auffassung von Konsonanz und Dissonanz sowie die zentrierende Bedeutung des herrschenden Intervallsystems für die Auf- fassung von Tonmehrheiten bleibt unverständlich, wenn man die assimilativ wirkenden Erfahrungszusammenhänge vernachlässigt. Konsonanz und Dissonanz sind qualitative „Färbungen" des Gesamteindrucks, nicht bedingt durch die Analyse des Empfindungsganzen, d. h. durch Unterscheidung der Teilempfindungen. Die Unterscheidung hebt auch die Komplexqualität (wie Dissonanz, Klangfarbe) nicht auf, sondern läfst sie blofs im Bewufst- sein zurücktreten. Die Klangfarben und die verschiedenen Arten von Konsonanz und Dissonanz sind nicht identische, aber psychologisch zu- sammengehörige Systeme von Komplexqualitäten. Der Unterschied des Yerechmelzungsgrades bei Einzelklängen und Mehrklängen ist nur ein relativer, kein absoluter, wie Lipps meint. Die von Lipps angezogenen optisch-räumlichen Analoga sind ihrerseits psychologisch nicht genügend analysiert, um die akustischen Tatbestände erläutern zu können. Lipps Zeitschrift für Psychologie 46. 24

370 Literaturbeticht

setzt stets voraus, dafs Konsonanz und Dissonanz aussclilierslich. anf (konstant gedachten) Eigenschaften der zusammenklingenden Töne beruhe» was nicht bewiesen ist, und was K. bestreitet Er übersieht dagegen, daCs die „unsaubern'' Teilkomplexe allen Dissonanzen regelm&£Big beigemischt sind, allen Konsonanzen regelmäfsig fehlen und dafs dieser oft erfahrene Zusammenhang assimilativ wirkt.

Als „experimentum crucis** fordert Liffs die synthetische Herstellung einer Dissonanz aus einem konsonanten Zweiklang und einem verstimmten Einklang oder „irgend einem sonstig unsauberen akustischen Nebengebilde*" : es morste hierbei der Konsonanzcharakter in den Dissonanzcharakter um- schlagen. Dagegen ist zu erwidern, dafs in diesem Fall der konsonante Teilkomplex überwiegt und den Gesamteindruck im Sinne der Konsonanz färbt ; tatsächlich wird dieser aber durch den hinzugefügten verstimmten Ein- klang gegen die Dissonanz hin verschoben. Der konsonante Teilkomplex wird überdies häufig isoliert erlebt, der Zusammenklang zweier „dissonanter* Primärtöne nie ohne die unsauberen Teilempfindungen. Angenommen es würde ein bestimmtes „konsonantes" Intervall regelmäfsig von Geräuschen begleitet, so würde sich für dieses Intervall auch kein unmittelbares (sinn- liches) Konsonanzbewufstsein ausbilden.

Lipps behauptet, die Komplexqualitäten „beruhten^ auf VerhältniaseH der Teile des Komplexes; die Verhältnisse seien an sich keine Qualitäten. Die unmittelbar erlebten Ähnlichkeiten oder Unähnlichkeiten der (unter- schiedenen) Teile eines Komplexes sind aber gewifs Qualitäten oder Seiten des Komplexes, wenn auch Qualitäten anderer Art als die Qualitäten der Einzelempfindungen. Es mag immerhin zweckmäTsig sein, den Namen „Qualität" den Eigenschaften der einzelnen, nicht weiter zerlegbaren Teil- empfindungen vorzubehalten. Mehr oder minder ähnliche keineswegi» gleiche Komplexqualitäten werden unter dem Namen „Konsonanz" bzw. „Dissonanz" zusammengefafst. Die Komplexqualitäten z. B. eines Tenen- zweiklanges in verschiedenen Lagen sind nicht gleich, sondern nur ähnlich, soweit die primären und sekundären Teiltöne und die Teilrelationen ähnlich bleiben.

Die Lippsschen „Beziehungen (Relationen)", auf denen die Komplex- qualitäten beruhen sollen, sind keine unmittelbar gegebenen Bewulstseint»- tatsachen. Im Falle der Konsonanz sind es die „Beziehungen der Übe^ einstimmun g oder Nichtübereinstimmung", die dem seelischen „Geschehen' in stets gleicher Weise zugrunde liegen sollen, so oft ein bestimmtes physi- kalisches Schwingungszahlenverhältnis der Primärtöne gegeben ist „Kon- sonanz (Dissonanz)" bedeutet bei Lipps dann sowohl die Komplexqnalitftt, als die Beziehung, auf der sie beruht.

Lipps bezweifelt, dafs die Empfindungsfaktoren, die nach K. da» Dissonanzbewufstsein bestimmen, stets, z. B. auch bei tiefer Tonlage, vor banden seien. Tatsächlich werden in tiefer Lage die „Konsonanzen'' mehr und mehr den „Dissonanzen" ähnlich; man könnte daher eher fragen, wie Konsonanz Wahrnehmung (in tiefer Lage) nach der Differenztontheorie zu erklären sei.

Lipps fragt, wie sich das Konsonanzbewufstsein bei blofs vorgestellten

Literaturbericht 371

Tönen erkläre, wenn man den verstimmten Einklang nicht mit vorstelle. Das ^ Mit vorstellen" des verstimmten Einklanges (wie aller Komplex- teile) kann man aber nur dann „unterlassen", wenn der Wahrnehmungs- komplex früher analysiert wurde. Ohne vorgängige Analyse des Wahr- uehmongserlebnisses kann nur die Komplexqualität vorgestellt werden. Bei greiser Übung in der Analyse von Zusammenklängen gelingt es, die Auf- merksamkeit einseitig auf die Primärtöne zu konzentrieren : dann erscheinen sie in der Tat sozusagen „neutral", die Komplexqualität» einschliefslich der Gefühlsfärbung, wird bis zum Verschwinden undeutlich.

Schliefslich bemerkt Lipps, die Kombinationsempfindungen, die ja nur bei Znsammenklängen auftreten, könnten die Konsonanz und Dissonanz von Ton folgen nicht erklären. Man kann aber von Konsonanz und DiBsonanz bei Tonfolgen nur in einem übertragenen Sinn reden. Ein un- mittelbares Konsonanzbewufstsein gibt es hier nicht: dies bestätigen die Selbstbeobachtung hochmusikalischer und zugleich psychologisch geschulter Versuchspersonen, ferner die Erfahrungen an der homophonen Musik der aulsereuropäischen Völker. Auch der relativen Annehmlichkeit nach sind Tonfolgen anders anzuordnen, als die entsprechenden Zusammenklänge. Eine chromatische Tonleiter macht weder den Eindruck einer Folge von Dissonanzen, noch klingt sie unangenehm. Dafs (von musikerfahrenen Europäern) Tonfolgen gelegentlich als zerlegte Zusammenklänge aufgefaTst und dann wohl auch als ^.dissonant" oder „konsonant" beurteilt werden, erklärt sich eben aus der Erfahrung an Zusammenklängen und den assi- milativen Nachwirkungen solcher Erfahrung. Wenn ein Zusammenklang stetig in eine (ausgesprochene) Klangfolge übergeführt wird, so mufs nicht, wie Lipps meint, ein plötzlicher Umschlag in einen gegensätzlichen Ein- druck erfolgen: ebensowenig, wie beim stetigen Übergang von WeLDs zu Schwarz, oder von Lust zu Unlust. Die Stetigkeit des Überganges erschwert blofs die Erkenntnis der qualitativen Verschiedenheit.

Wirkungszusammenhänge zwischen simultanen und sukzessiven Mehr- klftngen bestehen dagegen in der Tat; hierher gehört die Erscheinung der sog. Tonika (im Sinne Max Mbybbs: derjenige Ton einer Tonfolge, der als SchluTston am meisten befriedigt). Auch diese ist aber aus der vorgängigen Erfahrung an Zusammenklängen zu erklären und hat mit den Konsonanz- erlebnissen nur mittelbar zu tun. K. hebt hier auch einen Zusammenhang mit den Differenztönen zum erstenmal hervor. Abschliefsend erscheint bekanntlich der Quartschritt aufwärts, der Quintschritt abwärts. Die simultane Quinte enthält als Differenzton die tiefere Oktave des tieferen Primärtons, die simultane Quarte enthält die tiefere Oktave und Doppel- oktave des höheren Primärtons. Auch unmittelbar (ohne Differenzton- analyse) scheint beim Quintenzusammenklang der tiefere, beim Quarten- zusammenklang der höhere (Primär-)Ton zu überwiegen: der Komplex hat die Färbung des tieferen resp. höheren Tones. Das häufige Erleben dieses Tatbestandes bei simultanen und nicht streng sukzessiven (legato-)Tönen bestimmt die Auffassung derselben Intervalle bei strenger Sukzession,

HosNBOSTEL (Berlin).

24*

372 LUeraturhericht.

E. H. Cambron. TomI ReaetlOU. Psychol, Bev, Monogr. Suppl. 8 Nr. 3 [Whole Nr. 34, Yale Psychol Shidies 1), 8. 227—300. 1907. Verf. untersuchte den Einflufs von Ablenkung der Aufmerksamkeit auf die Konstanz eines gesungenen Tons. Die Versuehsperson sang in ein Telephon, dessen Membran mit einem Schreibhebel verbunden war, der die Schwingungen auf bernfstem Papier aufschrieb. Verf. fand zunächst, dab eine Erhöhung des gesungenen Tones fast stets am Anfang stattfand, und dafs auch fernerhin ein gesungener Ton nie ganz konstant blieb, sondern je nach der Übung der Versuchsperson mehr oder weniger auf und nieder schwankte. Wenn ein Ton in Nachahmung eines angegebenen Tones ge sungen wurde, so zeigte sich eine Tendenz, den gesungenen Ton höher nehmen wie den gegebenen Ton. Ein anderer Ton, der während dei Singens zur Ablenkung der Aufmerksamkeit gegeben wurde, hatte mmaeh- mal gar keine ablenkende Wirkung, häufig veranlafste er eine Varistioii des gesungenen Tones, manchmal in der Richtung des ablenkenden Tones, manchmal auch in der entgegengesetzten Richtung. Es besteht eine Tmdenz, den gesungenen Ton mit dem ablenkenden Ton harmonisch lu muchoa. Auf diese Weise kommen einige der Abweichungen von dem naclm- ahmenden Ton zustande. Wenn der zur Ablenkung gegebene Ton mit dem nachzuahmenden Ton nicht harmonisiert, so ist ein EinfluTs der Ablenkung mehr wahrscheinlich als wenn er harmonisch ist. Verf. bemerkt, dab diese Versuche zeigen, dafs das Singen eines Tones eine beständig erneute nervöse Anpassung erfordert. Max Mbtsr (Columbia, Missouri).

£. Mbumann. Zur Frage dar Sensibillt&t der innereii Organe. Archiv für du gesamte Psychologie 9 (1), 26—62. 1907.

Verf. geht von den Beobachtungen der chirurgischen Praxis aas, welche, bis auf einzelne abweichende Bemerkungen seitens einiger Autoren, im grofsen und ganzen entsprechend den Untersuchungen Lbknandebs er- geben haben, dafs das Peritoneum parietale (insbesondere an der vorderen Bauchwand) Schmerzempfindungen, aber vielleicht keine Druck- vnd Temperaturempfindungen, dafs auch das Zwerchfell Empfindungen ver- mittelt, dafs aber das Peritoneum viscerale sowie ziemlich alle Organe der Bauchhöhle in gesundem Zustande für Berfihrung, Temperatur und Sehnten unempfindlich sind. Die entzündeten inneren Organe können entweder selbst lebhafte Schmerzen vermitteln oder (Lennandkb) diese dadurch er regen, dafs sie die als empfindlich angenommenen Organe in Mitleiden- schaft ziehen. Den Schlufs Lbnitakders, dafs diese Organe auch keine ent- sprechenden Nerven besitzen, weist Verf. mit der Annahme zurück, da£i die inneren Organe des Körpers blofs auf äufsere Reize, wie sie bei einem operativen Eingriffe in die Bauchhöhle herbeigeführt werden, nicht ansprechen, was ja auch entwicklungsgeschichtlich und teleologisch begründet ist, wohl aber auf innere Reize, was ebenfalls teleologisch gut begründet ist. Soll der Organismus der Selbsterhaltnng fähig sein, so mufs er mit einem System schützender innerer Empfindungen ausgerüstet seini

Obwohl auch die Versuche der Physiologen bezüglich der Sensibilität

Literaiurbeiricht 373

der inneren Organe ein fast völlig negatives Resultat ergaben Gsubn- HAOEN nimmt an, daTs der Darm» jedoch nur bei sehr intensiven Reizen, Schmerz- und Gemeinempfindungen vermittle , so sprechen dennoch für die vertretene Auffassung zwei Gruppen von Beobachtungen : Die Selbst- beobachtungen auf Grund der täglichen Erfahrung und die Beobach- tungen der Pathologen. Aus der ersten Gruppe führt Verf. Beobachtungen von HsLMHOLTZ, Alfbbd Lehmann und interessante Beobachtungen am eigenen Körper an, welche eine Reihe charakteristischer Empfindungen aus dem Magendarm trakt, der Lunge und dem Herzen zum Gegenstande haben. Die zweite Gruppe bilden die Fälle von „viszeraler Anästhesie" von 80LLIKR und Revault d'Alonmes. Bei ihren Kranken ging zugleich mit den charakteristischen Empfindungen, welche die Verdauung und die Ent- leerungen begleiten, mit den Empfindungen von Hunger, Durst, Sätti- gung u. dgl. auch das Gefühl der Lust und Unlust, dos Ekels und Widerwillens, des „Appetits", ferner auch alle oder die meisten Affekte, sowie das Bewufstsein von dem Verflufs der Zeit verloren. Die Kranken leben in beständiger Gleichgültigkeit und kommen sich selbst vor wie Maschinen, Automaten, Gliederpuppen.

Aus diesen Erfahrungen der Pathologie läfst sich schliefsen, dafs die inneren Organe uns normalerweise beständig Empfindungen erregen and dafs diese Empfindungen den Hauptinhalt, oder vielleicht sogar den einzigen BewufstseinBinhalt der mit ihnen ausfallenden Bewufstseins- zustände bilden, nämlich der Gefühle der Lust und Unlust, sowie des Gefühlsbestandteils der Affekte einerseits und der Wahrnehmung des kon- tinuierlichen Zeitvorlaufes andererseits, eine Tatsache, die für die Richtig- keit eines der Hauptpunkte der James - LANGsschen Gefühlstheorie spricht, worauf Verf. in einem weiteren Artikel einzugehen beabsichtigt.

Diese Erfahrungen stimmen mit den Selbstbeobachtungen gut überein und ergänzen sie, indem wir aus ihnen die einzelnen Organe kennen lernen, die als „Sitz" dieser Empfindungen anzusehen sind, während die Selbstbeobachtungen meist nur unbestimmt lokalisierte Empfindungen ver- mitteln.

Die Ursache dieser Unbestimmtheit der Lokalisation liegt darin, dafis wir die betreffenden Organe nicht sehen. Ihre Folge ist hinwiederum die qualitative „Unbestimmtheit" vieler innerer Empfindungen. Unsere inneren Empfindungen sind demnach gar nicht so qualitativ unbestimmt, wie sie uns scheinen, es fehlen uns nur bei ihnen die gewöhn- lichen Mittel ihrer qualitativen Sonderung, insbesondere die Lokalisation und die Beteiligung des Gesichtssinns und der Gesichts- vorstellungen.

Schliefslich erörtert Verf. die Bedeutung der HBAoschen Theorie der Reflexschmerzen für die behandelte Frage. Die Lehre von den Beflex- schmerzen besagt, dafs in den inneren Organen Schmerzempfindungen aus- gelöst werden können, die wohl im kranken Organ häufig, aber nur dumpf, gefühlt werden, während der eigentliche Schmerz auf die Körperoberfläche, und zwar in „für jedes erkrankte Organ charakteristisch scharf begrenzten" Zonen, bezogen wird. Die Ursache dieser Erscheinung ist die geringe Empfindlichkeit der inneren Organe, der zufolge der Schmerz in die.

374 Literaturbericht.

empfindlichere Haut verlegt wird, deren Nerven mit den Organnerven im Bückenmarke in enger zentraler Verbindung stehen.

Aus diesen Aufstellungen läfst sich ableiten, dafs die inneren Empfin- dungen nur durch normale (oder abnorm gesteigerte) reflektorische Erregungen in den betreffenden Organen ausgelöst werden könnten, und dafs Organe, die bei abnorm starker innerer Reizung lebhafte Empfindungen auszulösen imstande sind, sensible Nerven haben, die auch bei nor- maler, reflektorischer Erregung dieser Organe Empfindungen auslösen können, wenn auch nur in schwächerem Grade oder auch von anderer Qualität. Dies stimmt zur obigen Ansicht, dafs in den inneren Organen die physiologischen inneren Reize schwache und unbestimmt lokalisierte Empfindungen auszulösen vermögen. Pappekheim (Prag).

Fblix Arnold. The 6i?eft Sitüätloft ift AttentiOft. The Journal of Fhüos^ Psych, and Sdent. Methode 3 (21), 567—573. 1906. Basis und Probierstein aller wirklichen Realität ist allein die „gegebene Situation" des unmittelbar erlebten BewufstBeinsaugenblicks. Das BewnXst- sein. bleibt jedoch nicht bei dieser „gegebenen Situation" stehen. Es ver- arbeitet und entfaltet sie. Zuerst spaltet es sie in das „Ich" und die „reale Aufsenwelt", eine Spaltung, welche wir aus Gewohnheit für eine ursprüngliche und grundlegende zu halten pflegen. Im Wechselverkehr miteinander entfalten sich dann diese beiden Spaltungsprodukte weiter. Es bilden sich Rückstände, die man hier beim Ich Gewohnheit, Ge- dächtnisdispositionen usw. zu nennen pflegt, dort aber bei der äuTseren Realität als materialen Fortschritt, Tradition, Ordnung usw. bezeichnet Der ganze Entfaltungsprozefs aber ist an die Aufmerksamkeit gebunden, die in sukzessiven Phasen ihrer Tätigkeit das BewuTstsein von der primi- tiven „gegebenen Situation" bis zu den differenziertesten Denkprozessen fortentwickelt. Es wird skizziert, welches die typischsten Phasen dieser Aufmerksamkeitstätigkeit sind. Hbrbbrtz (Bonn).

Geobgb l. Jackson. The Telephone and Attention Wa?es. The Journal of Philosophy, Psychology and Sdent. Methode 3 (22), 602—604. 1906. Durch ein Telephon wird einer Versuchsperson ein GehOrsreiz von nahezu schwellenwertiger, genau gleichmäfsig gehaltener Intensität an- dauernd zugeführt. Dann zeigt sich der Versuchsperson in dem periodisch wechselnden Hörbarwerden und Wiederverschwinden des Tones deutlich das Fluktuieren der Aufmerksamkeit. Die gleiche Einrichtung wurde zu einer Bestimmung des Verhältnisses zwischen Stromstärke und Schwingungs- amplitude der Schallplatte des Telephons benutzt. Hrbbbbtz (Bonn).

JoHANUBs QuANDT. Bewnfstsetnsiimf&ng für regelm&fsig gegliederte treiaat- VOntellnngen. Wundts Psychol. Studien 1 (2), 137—172. 1905. QüANDT hat zwei regelmäfsige Schlagreihen, wie man sie mit dem Schlaghammer erhalten und durch telephonische Übertragung von Neben- geräuschen befreien kann, von seinen Versuchspersonen ihrer Schlagzahl nach vergleichen und beurteilen lassen« Die beiden Reihen folgten ohne Pause aufeinander und waren nur durch ein Glockenzeichen, später durch

Literaturbericht. 375

Akzeutnierung des ersten Schlaggliedes voneinander getrennt. Die Schlag- intervalle waren in den zu vergleichenden Reihen einander gleich, variierten aber in verschiedenen Versuchen von 0,2"— 3,25"; die Anzahl der Schläge -wechselte von 3— 10 und mehr. Wieweit wird man die Vergleichung ohne zu zählen richtig vollführen können? Reihen bis zu 6 Schlägen werden fast ausnahmslos bis zu 20®/o richtig geschätzt, bei den gröfseren Reihen steigt die Zahl der falschen Urteile rasch an.

QuANDT zieht nun aus diesem Ergebnis ganz unvermittelt den Schlufs, „dafs im Maximum 6 einfache GehOrseindrücke simultan apperzipiert werden können'' (S. 157) und glaubt damit auch eine Bestimmung des Umfangs des „rhythmischen Bewufstseins'' unter günstigsten Bedingungen geliefert zu haben. Wie steht es mit der Stringenz dieser Folgerung? Lassen wir einmal die gewifs nicht unangreifbare These, dafs 20% falscher Urteile auf Rechnung von Aufmerksamkeitsschwankungen zu setzen seien, ganz auf sich beruhen und übergehen wir auch die Tatsache, dafs der Sprung zwischen den 6- und 7-gliedrigen Reihen keineswegs so markant ist, wie es das QüANDTSche Raisonnement eigentlich verlangt ^ so bleibt doch immer die Frage bestehen: was hat denn die Anzahl der falschen Urteile mit der simultanen Apperzeption der Schlagreihen zu tun? Qüandt denkt sich wohl stillschweigend, die richtigen Urteile kämen dadurch zu- stande, dals jede Reihe als ein Ganzes aufgefafst und beide Ganze mit- einander verglichen werden. Jedenfalls aber mufs er, um zu seiner Eon- sequenz zu kommen, den Zwischensatz vertreten: wenn eine simultane Apperzeption stattfindet, dann erfolgt kein falsches Urteil, oder wenigstens nicht häufiger als in 20% oXier Fälle. Ich meine, wer die grofse Mannig- faltigkeit der Erlebnisse auf anderen Gebieten kennt, auf Grund deren Vergleichsurteile abgegeben werden können (man braucht ja nur an die Beobachtungen G. E. Müllebs, Schümanns und vieler anderer zu denken), dem werden beide Sätze mehr als gewagt erscheinen. Die Möglichkeit, die Schlagreihen als eingeteilte Zeitstrecken aufzufassen und ihrem Zeitwert nach zu beurteilen, die zweifellos vorlag, soll nach Quandt nicht verwirk- licht gewesen sein ; er schliefst das daraus, dafs eine Änderung des Schlag- intervalls in einer der verglichenen Reihen keinen Einflufs auf das Resultat gehabt habe, doch ist ihm dieser Beweis nur halb geglückt, denn er gilt nur für den Übergang von einer langsameren Schlagfolge der voraus- gehenden zu einer rascheren der nachfolgenden Reihe nicht aber für die umgekehrte Anordnung. Die Mitwirkung des Zeiteindrucks ist aber nur einer von vielen anderen Faktoren, die man nach Analogie anderer Ver- suche für das Znstandekommen der Urteile in den QuANDTschen Versuchen

^ Man nehme nur z. B. die Versuchsreihe VII Ka, welche für 5-, 6-, 7-, 8-gliedrige Schlagreihen 10, 20, 30, 30% falsche Urteile lieferte oder Xi R mit 10,10,30,30% und bedenke, dafs die Prozentzahlen aus nur 10 Einzel- versuchen berechnet sind, da ist doch von keinem Sprung zu sprechen; vgL dazu auch die Resultate Naküs (Zur Psychologie der Zahlauffassung, Würzburg. Diss. 1904).

376 ZAteraturbericht.

vermutungsweise verantwortlich machen kann. £ine vorsichtige Befragung der Versuchsperson unmittelbar nach jedem Versuch hätte hier wohl weiter geführt.

Unabhängig von dem umstrittenen Begriff des Bewafstseinsniniaiigs behalten natürlich die QuAKDTschen Beobachtungen ihren guten Wert. Beachtenswert scheinen mir besonders auch die Ausführungen über den EinAufs der subjektiven Rhythmisierung auf die Gröfse der noch ver- gleichbaren Schlagfolgen. Karl Buhleb (Würzbnrg).

£. Mkumank. Ober As8§iiatioigexp«rimeiite mit Beeialnsfliiig der ReprodoktioDs- telt Archiv /". d. gesamte Psychol. 9 (2 u. 3), S. 117—150. 1907.

Bei Assoziationsversuchen mit Aufgabestellung ist es äuüscrst wichtig, die Versuchsperson genau zn instruieren, wie sie sich in bezug auf das zeitliche Moment der Reaktion im allgemeinen zu verhalten habe. Dieser Punkt, dessen weitgehende Bedeutung für den Verlauf des Reproduktions- prozesses Verf. nachzuweisen sucht, ist in einigen neueren Unter- sQchungen mit Aufgabeetellung nicht genügend berücksichtigt worden. So macht Watt {Archiv f. d, gesamte Psychol, 4) keine nähere Angabe darüber, wie seine Instruktion hinsichtlich des Zeitmomentes der Reaktion lautete. Mbsbbr {Archiv f. d, gesamte Psychol, 8) stellte der Versuchsperson die Auf- gabe : „ein gedrucktes Wort ... zu lesen, und wenn sie es gelegen und verstanden habe, so rasch als möglich dasjenige Wort auszusprechen, das ihr auf das Lesen und Verstehen des Reizwortes hin einfalle*'. Nun zeigen aber die Aussagen verschiedener Versuchspersonen, dafs es nicht möglich ist, beide Teile einer solchen Instruktion gleichzeitig zu befolgen. Nimmt sich die Versuchsperson vor „so rasch als möglich" zu reagieren, so kann sie der Aufgabe, sich die Bedeutung des Reizwortes genau zn vergegenwärtigen, im allgemeinen nicht gerecht werden. Wird dag^en mehr Gewicht auf eine korrekte Erfüllung der Aufgabe gelegt, so werden die Reproduktionszeiten verlängert. Je nachdem also die Versuchsperson mehr auf den 1. oder aber auf den 2. Teil der Instruktion eingestellt ist, ist ihr Verhalten sowohl in der Vorperiode, wie auch in der Hauptperiode ein durchaus verschiedenes. Daraus lassen sich die aufserordentlich groisen Schwankungen der Reproduktionszeiten bei Messeb leicht erklären. [Aach Ach ruber die Willenstätigkeit und das Denken) unterscheidet bei Ver- suchen mit Aufgabestellung verschiedene Arten der Einstellung und hebt im besonderen die „zeitliche Einstellung" hervor. Die hierauf bezüglichen Ausführungen von Ach stimmen im wesentlichen mit denen des Verf. überein, nur stützte sich Ach nicht auf Assoziationsversuche, sondern auf Reaktion s versuche (Wahlreaktionen). Dem Verf. sind, gemäfs seiner Angabe, die genannten Ausführungen erst nach Abdruck seiner Abhandlung bekannt geworden. Ref.]

Bei den in Königsberg 1906 angestellten Versuchen mit Aufgabestellong machte Verf. eine Reihe wertvoller Beobachtungen hinsichtlich der Be- deutung der Instruktion. Folgende Punkte werden besonders hervorgehoben!

1. „dafs es sehr wichtig ist, den Vorbereitungszustand der Versuch«* person nicht nur nachträglich allseitig zu analysieren, sondern auch durch die Instruktion vorher zu regulieren";

Literaturbericid, 377

2. „dals zwischen der Instruktion „so schnell als möglich" zu reagieren lind jeder irgend schwierigeren „Aufgabestellung" ein unheilvoller Anta« gonismus besteht, der je nach der intellektuellen £igenart und dem Temperament der Versuchsperson mehr oder weniger störend wirkt";

3. „daTs die Wirkung der Instruktion eine ganz verschieden- artige ist^ je nachdem ob die Versuchspersonen sich auf schnelle oder qualitativ genaue Erledigung ihrer Aufgabe einstellen";

4. „dafs diese so verschiedenen Grundfälle der Reproduktion auch im Experiment getrennt werden müssen";

5. „dals die Zahlen werte der Zeitmessungen bei Reproduktions- versuchen ganz getrennt verarbeitet werden mfissen, je nachdem man mit der einen oder anderen Instruktion der Versuchsperson ge- arbeitet hat . . ." ;

6. ... „dafs alle unter genauer Befolgung der Instruktion „so schnell als möglich" ausgefahrten Reproduktionen auch inhaltlich eine andere Be- deutung haben, als die mit genauer Erfüllung der Aufgabe. ..." (S. 124 ff.)

Einige spätere Versuchsreihen des Verf. bezweckten die Berechtigung vorstehender Thesen zu beweisen. 2 Instruktionen kamen zur Anwendung : bei der „Instruktion A" hatten die Versuchspersonen „so schnell als mög* lieh", bei der „Instruktion B" „mit genauer Erfassung des Reizwortes und Vertiefung in den Inhalt desselben zu reagieren". (S. 127.)

Bie 1. Instruktion brachte selbstverständlich kürzere Reproduktions- zeiten mit sich. Ferner kommen bei dieser Instruktion vorwiegend „nahe- liegende Berührungsassoziationen" vor, während bei der 2. Instruktion die Reproduktionen im allgemeinen ein individuelleres Gepräge haben. Indessen scheint der inhaltliche Charakter der Reproduktionen nicht nur von der Instruktion, sondern namentlich auch vom „Reproduktionstypus" der Ver- suchsperson abhängig zu sein. Die 4 bei diesen Versuchen benutzten Versuchspersonen werden vom Verf. in 2 Gruppen geteilt: für die einen ( Gruppe A) „war schnelles und etwas flüchtiges Reproduzieren die adäquate Verhaltungsweise ; die anderen (Gruppe B) gingen sofort auf die Instruktion B ein". (S. 131.)

Ob nun diese verschiedenen Verhaltungsweisen wirklich wie Verf. glaubt „durch die ganze Individualität bedingt sind", (S. 131) läfst sich meines Erachtens auf Grund vorliegender, wenig ausgiebiger Resultate nicht entscheiden. Auch dürfte die sichere Entscheidung über die Gültig- keit der obigen 6 Thesen (namentlich der 6.) erst nach einer genauen Nachprüfung der vorliegenden Resultate, bei Benutzung einer gröfseren Anzahl von Versuchspersonen und bei einer weitergehenden Variierung der Versuchsbedingungen zu erreichen sein. F. Ephrussi (Berlin).

Thomas P. Bailet. Sliap Shot of an Assodation Series. TJie Jmimal of Philo- sophy, Psychology and Scientific MetJwds 9 (16), 435—439. 1906. An der „Momentaufnahme" einer Unterredungsszene aus dem alltäg- lichen Leben illustriert der Verfasser die Assoziationsgesetze. Diese werden jedoch durch die übliche Einteilung: Assoziation durch Kontiguität, Ähn- lichkeit usw. nicht erschöpft. Es mufs vielmehr noch eine Art „Asso- ziation der Gemeinschaft" angenommen werden. Diese kommt beim Wer"

378 Liter-aturberidit

kehr von Personen mit gemeinsamen Erfahrungsbestand in Betracht» die sich in ihren Gedanken verlaufen auf den Pfaden ihres gemeinsamen Be- sitztums gegenseitig unbewufst und ungewollt weiterführen. Sind Dicht fast alle im wirklichen Leben tatsächlich vorkommenden Assoziationen ifSoziale Assoziationen" in diesem Sinne? Hbbbbbtz (Bonn).

C\ H. JuDD and D. J. Cowling. Stiidias in PerceptatI Defelopaeit. P»yckol.

Rev, Monogr. Suppl. 8 Nr. 3 (Whole Nr. 34, Yak Psychol. Studie* 1«.

S. 349-369. 1907. Eine kringelartige Figur wurde zehn Sekunden lang vorgezeigt und die Versuchsperson aufgefordert sie nachzuzeichnen. Dann wurde die Figur wieder zehn Sekunden gezeigt, und so weiter, bis der Versuch zehnmal wiederholt war. Während des Zeichnens konnte die Versuchsperson ent- weder die Bewegungen der Hand und die resultierende Figur sehen, oder sie schlofs die Augen und machte es dadurch unmöglich, oder die Hand blieb sichtbar, aber die resultierende Figur war nicht sichtbar. In diesem dritten Falle schrieb die Versuchsperson durch Kopierpapier, dessen obere Fläche bereits so viele Linien aufwies, dals der Schreibstift keine sichtbare Figur hinterliefs. Es zeigte sich eine deutliche Verbesserung des Perzeption»- prozesses während der Versuchsreihe. Die ersten von links gerechnet Bestandteile der Figur wurden zuerst aufgefafst, und ganz allmählich kameu weitere Einzelheiten zum Vorschein, die zuerst nicht bemerkt worden waren. Während so die weiteren Teile der Figur besser und besser auf- gefafst wurden, erschien oft eine temporäre Verschlechterung der Auffassung in den ursprünglich korrekt wiedergegebenen Teilen. Manche Versachs- personen haben mit geschlossenen Augen mehr Erfolg als mit offenen. Doch ist Offenhalten der Augen im allgemeinen vorzuziehen. Die Methode des Durchzeichnens durch Kopierpapier zeigte weniger gute Ergebnisse. Im allgemeinen bestand eine Tendenz, die gezeichneten Figuren zu grols zu machen. Verff. empfehlen Versuche dieser Art zur Demonstration der Entwicklung beim Auffassen von neuen Gegenständen.

Max Meter (Columbia, Missouri).

H. N. LooMis. ReactioBB to Eqnal Welghts of Uneqiial Slie. Psychol Rer.

Monogr. Suppl. 8 Nr. 3 (Whole Nr. 34, Yale Psychol. Studies 1), 8. 334—

348. 1907. Verf. hat sich die Aufgabe gestellt, die beim Heben gleicher, aber verschieden grofs erscheinender Gewichte stattfindenden Bewegungen graphisch zu bestimmen. Die Gewichte waren Würfel, von denen durch Löcher in der Tischplatte Fäden herabhingen, die auf zwei Schreibhebel einwirkten. Beim ersten Heben wurde der gröfsere Würfel etwas früher gehoben als der kleinere. Bei den weiteren Hebungen machte sich jedoch HOgleich der Einflufs der eben erlangten speziellen Erfahrung geltend, und beide Würfel wurden gleichzeitig in Bewegung versetzt. Um den Energie- aufwand zu bestimmen, vergleicht Verf. die beim Heben und Senken eines jeden Würfels auf dem Papier von dem Hebel beschriebenen Flächen. Er bestätigt so die bekannte Theorie, dafs der (unbewuTste) Energieaufwand beim Heben des gröfser aussehenden Gewichts gröfser ist als beim Heben

Litei'aturhericht. 379

des kleiner aussehenden. Beim ersten Versuch war dieser Unterschied am gröfsten ; bei den weiteren Versuchen wurde er kleiner, ohne jedoch gftnzlich zu verschwinden. Max Mbteb (Columbia, Missouri).

BoBBBT VON St£bnbce. Der SehTaum aaf Gnii&d der Erfihmiig. Psychologische Untersuchungen. Leipzig, Barth. 1907. 108 S. 3,60 Mk.

Der Verf. des vorliegenden Buches beschäftigt sich seit geraumer Zeit mit der Untersuchung von Fragen, die sich auf Distanz und Gröfse im Sehraum beziehen. In einer kleinen Beihe von Abhandlungen (hauptsäch- lich in den Sitzungsberichten der Kais. Akad. d. Wiss. in Wien, math.-nat. Klasse, Bde 114, 115, Abt. IIa) hat er nach und nach ein ansehnliches Mals von Beobachtungsmaterial und Theorie über diesen Gegenstand zur Veröffentlichung gebracht. Nun gibt er eine wohlgeordnete zusammen* fassende Darstellung, die um so wertvoller ist, als er sie um neue Beob- achtungsreihen bereichert und theoretisch weiter ausgebaut hat.

Der eine Kernpunkt der neuen Theorie liegt in der Aufstellung des Begriffes der „Referenzfläche", d. i. einer idealen Fläche, die wir uns bei der Schätzung von absoluten Gröfsen am Himmelsgewölbe, diesem Ähnlich geformt und in ganz mäfsiger Entfernung von uns verlaufend, vorstellen und auf der wir die abzuschätzende lineare Distanz durch ihren Gesichtswinkel aufgetragen denken. Näher auf diese Angelegenheit einzu- gehen erübrigt sich an dieser Stelle, da der Verf. selbst erst kürzlich Ge- legenheit genommen hat, sie in dieser Zeitschrift 46 (1) ausführlich und doch knapp zu resümieren.

Dagegen ist es nötig, den anderen Angelpunkt der Theorie eingehender zu würdigen, die Unterschätzung der (Tiefen-) Entfernungen im Seh räum. Auf Grund mannigfacher mehr oder weniger allgemein be- kannter Erfahrungen, sowie einer grofsen Zahl ad hoc angestellter Ent- lemungsschätzungen stellt Verf. das Gesetz auf, dafs die wirklichen Ent- fernungen stets unterschätzt, und zwar relativ umsomehr unterschätzt werden, je gröfser sie selbst sind. Numerisch fafst er dieses Gesetz in die

cd Formel d* « r-r > worin d die wirkliche Entfernung, d* die entsprechende

C-f-ft

Entfernung im Sehraum (die scheinbare Entfernung oder das Schätzungs- ergebnis) bedeutet, während c eine bestimmte, in der Regel ziemlich grofse Konstante ist, deren Wert jedoch je nach den der Entfernungsschätzung jeweils zur Verfügung stehenden empirischen Anhaltspunkten wechselt,

und, da ^^^ "' = ^ wird, die jeweils gröfstmögliche scheinbare Entfernung

a ssoo

darstellt. Dabei ist ein Abschätzen der Entfernung in Betracht gezogen,

das sich nicht etwa auf eine bewufste Auswahl der Erfahrungsmomente

stützt, sondern ganz ungezwungen sei es bewufst oder unbewuTst sie alle

zur Geltung kommen läfst.

cd Das Gesetz d' = -tT/? ^^^ ^^^ Verf. als Ausdruck rein psychologischer

Empirie. Auf Grund dieser Formel berechnet er die scheinbare Gestalt des Wolkenhimmels und erkennt sie als die eine Mantelfläche eines zwei- schaligen Rotationshyperboloides, bei der sich das Verhältnis von Zenith-

380 Liieraturbericht

höhe {h) zam Horizoutradius (r) zwar verschieden aber immer im Sinne von h <^ r (etwa 1 : 5, 1 : 9) stellen mag. Die Form des Wolkenhinunels ist dann unter Mitwirkung verschiedener Nebenmomente, wie der Kxtinktio& des Sternenlichtes in der Atmosphäre, der Dämmerung usw., weiter be- stimmend far die jeweilige Form des Himmels Oberhaupt, und damit aoch für die der Referenzflächen, durch deren gröfsere oder geringere Ent- fernung die Variabilität der scheinbaren Gröfse der Gestirne gegeben und

cd erklärt ist. Als weitere Folge des Gesetzes d' = ,— , stellt sich schlieDs-

lieh auch noch die bekannte Tatsache dar, dafs uns die Berge im Sehraum beträchtlich steiler erscheinen, als sie es in Wirklichkeit sind, und ömU wir HOhenwiukel, wenn wir sie in Graden abschätzen, bedeutend zu über- schätzen pflegen; die Beobachtungsergebnisse stimmen mit den aus der | Formel durch Rechnung sich ergebenden Werten gut überein.

So gelingt es dem Verf., aus dem einzigen Grundgesetze von der |

Unterschätznng der Entfernungen eine ganze Reihe wichtiger Eigenschaften des Sehraumes und merkwürdiger Erfahrungstatsachen verständlich zu \

machen. Seiner Theorie eignet daher in hohem Mafse der Vorzug der '

Einheitlichkeit und Geschlossenheit. In ihren Grundlagen wird sie indes noch manches zu ihrer Sicherung herbeizuschaffen haben. Vor allem j

scheint es mir der Begriff des „Schätzens**, der da in verschiedenerlei Art eine so grofse Rolle spielt, und deshalb mit besonderer Strenge über jede Mehrdeutigkeit hinausgehoben sein mufs. Nun kommt er aber in zweierlei verschiedener Bedeutung zur Verwendung; und zwar hängt das mit der i

zweierlei verschiedenen Art zusammen, in der Raumgröfsen, zunächst '

Strecken, im Sehraum überhaupt gleichsam enthalten sind. Der Sehraum enthält räumliche Ausdehnungen entweder anschaulich; dann ist das Schätzen ein direktes Ausmessen, und als solches nichts weiter als ein Vergleichen der abzuschätzenden, anschaulich vorgestellten Strecke mit der gleichfalls anschaulich vorgestellten Längeneinheit. Oder der Sehraum enthält die Strecken nur unanschaulich, indirekt, wie z. B. den Abstand zwischen zwei hintereinander liegenden Gebirgsketten am Horizont, der als ein Räumliches im Sehraume überhaupt nicht repräsentiert erscheint, sondern nur aus Momenten anderer Art (Überschneidung, Luftperspektive) zu erkennen ist; auch solche Strecken lassen sich abschätzen, aber das Abschätzen ist da ein wesentlich anderes als in jenem ersten Falle, es ist kein anschauliches Abmessen mehr, sondern ein Verwerten der Erfahrungen über den Zusammenhang zwischen wirklichen Entfernungen und gewissen in den Sehdingen anschaulich enthaltenen Merkmalen, die selbst keines- wegs etwa direkte räumliche Vorstellung der wirklichen Entfernung sind. Beim Abschätzen der ersten Art nun ist das Schätzungsergebnis haupt- sächlich durch die feste räumliche Aufteilung im anschaulich gegebenen Sehraum bestimmt, weil die relativ einfache Manipulation des direkten. Ausmessens nicht leicht zu prinzipiellen Fehlern Anlafs gibt. Und da die räumliche Aufteilung der Sehdinge im Sehraume durch die festen Gesetze des räumlichen Sehens jeweils unveränderlich festgelegt ist, so führt das i

Abschätzen in diesem Falle zu einem tatsächlichen Ausmessen des Seh- i

raumes und damit zur Untersuchung des gesetzmäfsigen Verhältnisses

I

Literaturbericht 381

zwischen der r&amlichen Verteilung der 'wirklichen Dinge im wirklichen Räume und der der entsprechenden Sehdinge im Sehranme. Das Ab- flchfttzen der zweiten Art dagegen erscheint zur Ableitung solcher Verhält- nisse zwischen wirklichem Raum und Sehraum ganz ungeeignet, und zwar deshalb, weil ihm strenge genommen jede Gelegenheit dazu fehlt: es steht in diesem Falle der Strecke des wirklichen Raumes etwas an sich Räum- liches im Sehraum gar nicht gegenüber, es fehlt also das zweite Relations- glied, um eine Beziehung zwischen wirklicher Raumstrecke und Sehraum- strecke zu statuieren, nämlich eben die Sehraumstrecke; eine Beziehung zwischen wirklicher Raumstrecke aber und erschlossener, auf Grund indirekter Indizien, verschiedener aufsergegenständl icher Erfahrungs- momente beurteilter Länge derselben aufzusuchen, scheint, von differenziell- psychologischen Interessen abgesehen, eine gleichgilltige Sache zu sein, weil in den Erfahrungsmomenten selbst, der Natur ihres Ursprunges nach, eine Fehlerquelle im allgemeinen nicht liegen kann und es sich also nur darum handelt, dafs die gegebenen Erfahrungsmomente richtig und voll- ständig verwertet werden, eine Tätigkeit, die zu lernen und zu Oben ist, wobei die Zuverlässigkeit der Schätzungen vom Übungsgrade abhängt und •der fortschreitende Übungsprozefs dahin tendiert, dafs schliefslich das Schätzungsergebnis mit der wahren Streckenlänge zusammenfällt. Mangelnde Übung oder auch allfälliges Nichtvorhandensein von Erfahrungsanhalts- punkten werden im allgemeinen nicht, wie es der Verf. auf seine Versuche anwendet, ein gesetzmäfsiges Unterschätzen, sondern Unsicherheit und ausgedehntere Fehlerstreuung ergeben.

Diesen doch wohl triftigen Erwägungen steht nun aber die Tatsache

cd entgegen, dafs v. Sternrck sein Unterschätzungsgesetz d' == . , wirklich

experimentell, auf Grund einer grofsen Anzahl von Einzelschätzungen anfgestellt hat, und dafs es sich aus diesem Beobachtungsmaterial mit seltener Klarheit herauslöst, die Art des Abschätzens aber doch die zweite wftr. Auf welche Weise dieser Widerspruch zu lösen ist, steht noch dahin ; sicher ist nur, dafs er vorläufig besteht, und dafs es Sache des weiteren Ausbaues der Theorie sein mufs, ihn aufzuklären. Dafs sich dabei das Unterschätzungsgesetz durchaus nicht von vornherein der Kritik entziehen dürfte, dafür finde ich ein Anzeichen in dem Umstände, dafs es zu einer mathematischen Konsequenz führt, die mir mit der Erfahrung keineswegs zu stimmen scheint: Zwei in genügend weite wirkliche Entfernung sich erstreckende parallele Gerade (z. B. Eisenbahnschienen) sollen sich für den Beschauer, wenn er seinen Standpunkt in der Mitte zwischen ihnen und mit der Medianebene parallel zu ihnen nimmt, in eben jener Entfernung zu begegnen scheinen, die das Maximum aller möglichen scheinbaren Ent- fernungen darstellt (S. 28). Eine Folge davon, dafs der Verf. die beiden oben unterschiedenen Arten des Abschätzens nicht genügend sondert, mag es auch sein, wenn seine Auseinandersetzung mit Hillbbrand den Kern der Sache nicht recht zu treffen vermag. Hillbbrand geht in seiner Unter- soehnng über die scheinbare Gröfse bei binokularem Sehen (Denkschriften der math.-nat. Klasse der Kais. Akad. d. Wiss. in Wien, 1902) über die im Sefaranm direkt und anschaulich enthaltenen räumlichen Momente

382 Literaturbericht

nicht hinaus; sein Abschätzen der jeweiligen Normaldistanz zwischen den beiden (parallelen) Geraden ist ein Abschätzen der ersten Art, und die Binokularparallaxe fungiert bei ihm nicht als indirektes Erfahrungsmoment zum Beurteilen einer nur unanschaulich gegebenen Tiefendistanz, za einem Abschätzen nach zweiter Art, sondern sie liefert ihm vermöge der mini- malen Querdisparation den unmittelbaren, anschaulichen, sinnlichen, empfindungsmäfsigen Eindruck des Tiefenabstandes. HiLLKsaAUD beschreibt also ledigLLch die räumliche Verteilung der Sehdinge im anschanlichen Sehraume, y. Stbbnbck geht im wesentlichen aber den anschaulichen Seh- raum hinaus und handelt von der nach der Tiefe viel ausgedehnteren and deshalb unanschaulichen Ausweitung, die wir urteilsmäfsig an ihm yoU- ziehen. Die beiden Forscher beziehen sich daher vorerst auf ganz ver- schiedene Sehräume, und es ist deshalb von vornherein gar nicht nödg, dafs der Gegensatz, in dem ihre Ergebnisse fUrs erste tatsächlich zu stehen scheinen, auch ein wirklicher ist. Durch Einfahrung des Begriffes „Minimal' Sehraum ", d. i. des Sehraumes, der bei „AusschluDs aller Erfahrungseiemente aufser der Binokularparallaxe zustande" kommt, dürfte eine solche Auf- fassung des Gegensatzes auch schon durch 'den Verf. angebahnt sein.

Es wird gewifs auch die psychologische Untersuchung fördern können, wenn der Verf., mathematische Begriffe und Operationen sich zanuts8 machend, den Sehraum zunächst einmal in streng geometrischem Sinne als Abbildung auf sich selbst auffaÜBt und nach dem Abbildungsgesetae sucht. Dazu ist es jedoch unerläTslich, dafs die Eigenschaften des Seh- raumes ausreichend respektiert werden ; vor allem wiederum, dafs die zwei Arten des Sehraumes, die den beiden oben auseinander gehaltenen Arien des Raumschätzens entsprechen, angemessen gesonderte Behandlung er- fahren. Der ursprüngliche, unmittelbare, anschauliche Sehraum hat gewifs teilweise andere Eigenschaften als der erfahrungsmäfsig und zum Teil unanschaulich weiter ausgedeutete. Dieser letztere (der noch immer nicht mit der vom Verf. herausgehobenen „abstrakten Raumanschauung'' identisch ist) ist dreidimensional, genau so wie der EüKLiDsche Baum der Geometrie, zum mindesten drängen sich Gesichtspunkte nicht auf, von denen aas er anders erscheinen müfste, und man wird es dem Verf. für diesen Sehraam in gewissem Sinne zugeben können, wenn er ihn ohne weiteres als einen endlichen Ausschnitt aus dem wirklichen Sehraum hinstellt. Für den ursprünglichen, unmittelbaren, anschaulichen Sehraum dagegen kann dies auf keinen Fall zugegeben werden, und zwar hauptsächlich deshalb nicht, weil dieser Sehraum, wenn überhaupt was ja von vielen Forschem noch bestritten wird so doch nur in eigentümlich modifiziertem Sinne Tiefen- dimension hat. Die Übertragung der Gesetze der EuKLinschen Geometrie auf diesen Sehraum kann also nur unter gewissen Vorsichten und Vor- behalten geschehen, ganz besonders in den Fällen, wo sie sich auf eine <lritte Dimension beziehen.

Ein solcher Fall ist es aber gerade, was eine der Hauptgrundlagen der theoretischen Konzeptionen des Verf. s ausmacht, sein „Sehwinkelgesetz": „Jeder Satz der EuKLinschen Geometrie mufs auch für den Sehranm gelten; z. B. der folgende: Zwei gleichschenklige Dreiecke sind ähnlich, wenn sie an der Spitze den gleichen Winkel haben. Für den Sehraum ergibt sich

Literaturbericht. 383

daraus der folgende Satz : Bei gleichem Sehwinkel ist die scheinbare Gröfse eines Gegenstandes seiner scheinbaren Entfernung proportional. Ganz analog folgt ans dem Satze, dafs bei gegebener Höhe eines gleichschenkligen Dreiecks die Grundlinie dem Winkel an der Spitze ungefähr proportional ist, (solange dieser Winkel nicht zu grofs ist) der folgende Satz : Bei gleicher scheinbarer Entfernung ist die scheinbare Gröfse eines Gegenstandes un- gefilhr dem Sehwinkel proportional" (S. 5 f.).

Diese Übertragung des EuKLinschen Satzes auf den Sehraum scheint mir deshalb bedenklich, weil wir im Sehraum einen Sehwinkel gar nicht gegeben haben, sondern nur das nach Länge und Breite ausgedehnte Seh- ding; der Seh Winkel erstreckt sich nach der Tiefe, und eine derartig leistungsfähige unmittelbare Tiefenanschauung besitzen wir nicht. Das Sebwinkelgesetz braucht also nicht zu gelten , weil es im Sehraum einen Sehwinkel gar nicht gibt. Und aus demselben Grunde können wir uns auch bei der Gröfsenschätzung eines Sehwinkels zusammen mit der schein- baren Entfernung wenigstens nicht unmittelbar anschaulich bedienen. Projizieren wir aber den („wirklichen") Sehwinkel in der Vorstellung mit der abgeschätzten scheinbaren Entfernung auf eine in erster und zweiter Dimension ausgedehnt gedachte Ebene, so haben wir, abgesehen von den gegen das Abschätzen zweiter Art obwaltenden Bedenken (siehe oben), den Boden des zu untersuchenden Sehraumes willkürlich verändert und ver- lassen.

Das Wesentliche aber ist, dafs das Sehwinkelgesetz, wie gesagt, für den Sehraum von vornherein durchaus nicht zu gelten braucht. Inwieweit die Grundlagen der Referenzflächentheorie dadurch modifikationsbedürftig werden, wäre nun Sache weiterer Untersuchung. Keineswegs müfste ihr damit der Boden gänzlich entzogen sein. Denn das Sehding behält ja auf jeden Fall seine Ausdehnung, und um diese Ausdehnung in konventionellem LftugenmaCse auszumessen, kann die Längenmafseinheit als Sehding in ganz verschiedenen Ausdehnungen im Sehraum, das wäre also in ver- schiedenen Tiefenentfernungen vorgestellt werden, sonach auch in der Entfernung des Leitstrahles einer etwa gewohnheitsmäfsig sich einstellenden Referenzfläche. Es scheint mir auch sicher, dafs in solcher Weise mittels Referenzflächen geschätzt werden kann; ob es unbefangenerweise und un- willkürlich auch geschieht, ist freilich eine andere Frage, denn dafs Grölsenschätzungen tatsächlich ausgeführt werden und zu solchen Ergeb- nissen führen, wie die Versuche des Verf.s, ist kein ausreichendes Indizium dafür, weil wohl auch noch andere Wege denkbar sind, auf denen sich der Prozefs des Gröfseschätzens abwickeln mag. Auch die Frage nach dem Ursprünge der Referenzflächenvorstellung ist noch offen, verlangt jedoch 2ur Begründung der Theorie dringend ihre Beantwortung; dieses Verlangen zo befriedigen genügen meines Erachtens keineswegs Bemerkungen wie etwa die, dafs wir bei grofsen Entfernungen mangels geeigneter Übung nicht mehr imstande sind, „die uns durch die Netzhautbilder gegebenen Sehwinkel in Linearmafs umzurechnen," und es vorziehen, „zum Zwecke der Vergleichung die scheinbaren Ausmafse am Himmel (Durchmesser von Sonne und Mond . . . usw.) auf derartige in vernünftiger Entfernung ver- laufende Referenzflächen abzubilden'' (S. 46), oder etwa die andere Be-

.384 Literaturbericht.

merkung, dafs die Entfernung der Referenzfläche (z. B. 12 m) die sein dürfte, ^die den meiBten Menschen gerade angenehm ist, um bei bequemem Hinaufsehen einen Gegenstand seiner Gröfse nach abzuschätzen'* (S. 85).

Es darf auch, wie ich glaube, nicht aufser acht gelassen werden, dafs manche Personen meiner Erfahrung nach der Aufgabe, den scheinbaren Sonnendurchmesser in Zentimetern abzuschätzen, ganz und gar keinen Sinn abzugewinnen vermögen, und dafs andere, die sich auf diese Aufgabe überhaupt einlassen, die abzuschätzende Gröfse auch nur innerhalb mehr oder weniger weiter Grenzen einzuschliefsen, nicht auf einen bestimmten Wert zu bemessen imstande sind; dafs jemand, wie der Verf., die SchAti- werte auf den halben Zentimeter genau ansetzt, dürfte als Ausnahme^Bil SU betrachten sein.

Wenn man dies alles in Anschlag bringt, so kann man sich des Ein- drucks kaum erwehren, dafs der wahre Sachverhalt im allgemeinen komplizierter ist, als er, für manche besondere Fälle vielleicht durdiai» adäquat, durch das Sehwinkelgesetz und die Referenzflächentheorie getrofien wird. Es sind dies höchstwahrscheinlich eben nicht die einzigen theo- retischen Mittel, die Tatsache der Gröfsenschätzung zu erklären. Von den geometrisch-optischen Täuschungen her wissen wir ja auch, dals die Seb- gröfse eines Sehdinges, z. B. einer Strecke, oft genug ganz anders ansfiült, als man es auf Grund des Gesichtswinkels zu erwarten hätte, dafs sie also durch Umstände bestimmt ist, die mit dem Gesichtswinkel nichts zu ton haben. Und das Abschätzen der Sehgröfse wiederum unterliegt als ein Vergleichungsvorgang gleichfalls verschiedenartigen psychischen Einflüssen, die, wie bekannt, das Vergleichungsergebnis in verschiedenem Sinne von der Norm abzulenken vermögen, die aber keineswegs von so mathematisdier Natur sind, wie das Sehwinkelgesetz.

So möchte ich denn zusammenfassend sagen, dafs v. Stbbnecks Arbeiten zweifellos als höchst beachtenswerte, scharfsinnige Beiträge zur Psycho- logie des Sehraumes aufzunehmen sind, dafs sie jedoch nocli keine ab- geschlossenen Ergebnisse liefern, sondern ihr Haupt wert in den neuen guten Gedanken und kritischen Anregungen liegt, durch die der Diskussion er- sprieÜBliche Bahnen eröffnet werden. Gleichberechtigte Kritik und Gegen- kritik werden die Soche schliefslich auch da vorwärts bringen. Dafs der Verf. die mathematischen und physikalischen Hilfsmittel, die ihm inr Verfügung sind, der Sache in so reichem Mafse zunutze macht, bedeutet nicht, dafs er Mathematik und Physik betreibt, wo er Psychologie betreiben sollte und zu betreiben meint, sondern gereicht der Methode nur zom Vorteil und ist als wertvolle Hilfeleistung von einem fremden Gebiete her dankbarst hinzunehmen; ja es kann dem Verf. geradezu als Verdienst angerechnet werden, dafs er die Angelegenheiten von der scheinbaren Vergröfserung der Gestirne am Horizont, von der scheinbaren Form des Himmelsgewölbes usw. wieder einmal als rein psychologische hinstellt und der Untersuchung nach echt psychologischer Methode zuführt In praktisch-experimenteller Beziehung ist das nächste Desiderinm wohl dies, dafs die Schätzungs versuche mit mehreren verschiedenartigen und unvor- eingenommenen Versuchspersonen wiederholt werden, dafs die dazu Fähigen dabei zu introspektiver Analyse des Schätzungsvorganges angeleitet werden

LiteraiurhetHcht 3^5

und auch Versuchsvariationen zur EinfQhruug gelangen, die auf objek- tivem Wege, mit Umgehung introspektiver Analyse die allfällige Beteiligung einer Referenzflftchen Vorstellung aufzudecken geeignet sind.

WiTASEK (Graz).

F. KuHLMANK. Problems in the Analjsis of the Memorj ConsdoiuiieM. The

Journal of Philos., Psychol. and Scirnt. Methods 4 (1), 5—14. 1907. Verf. gibt einen Überblick über die Hauptprobleme des Erinnerungs- bewufstseins, wie er in gleicher Kürze kaum vollständiger und klarer gewährt werden kann. Die Probleme konzentrieren sich um die drei Fragen: Welches sind die elementaren Bestandteile des Erinnerungs- bewuTstseins? Welches sind deren Funktionen? Worin besteht die Natur und die Ursache der Erinnerungstäuschungen ? Bei der Beantwortung dieser drei Fragen ist eine eingehende Berücksichtigung der sog. Organ- empfindungen unerläfslich, da diese den steten Untergrund all unseres BewuTstseins bilden, des Erinnern s nicht weniger wie des Wahrnehmens. Bisher ist jedoch die Analyse dieser Organempfindungen ungebührlich vernachlässigt worden. Herrscht doch nicht einmal Übereinstimmung in der Frage, ob es überhaupt selbständige Erinnerungsbilder dieser Organempfindungen gibt! Hebbertz (Bonn).

Kabl Max Gisssleb. Du Untsporentasteii bei der Kriimenug an KlgeiniBeB*

Vierteljahrsschrift f, wissensch. Philosophie u. Soziologie 31 (2), S. 203 223.

1907. Nach einem kurzen Referat über die grundlegenden ersten Versuche von EssmoHAUs in Sachen der Reproduktion und die einschlägigen experi- mentellen Arbeiten von Schuhann, G. E. Müllke und Pilzecksb teilt der VerL die Ergebnisse einer grOfseren eigenen Beobachtungsreihe mit. Er versteht unter „Lautspurentasten ** die sprachlichen Einfühlungsversuche in die Spuren (Spurenmassen und Spurenfolge) des Erinnerungsbildes eines gesuchten Wortes bzw. Namens mit Hilfe der unter Anleitung dieser Spuren und ihrer jeweiligen Assoziationen in den Sprachapparat entsendeten Inner- vationen sowie mittels deren sprachliche Erfolge'' (208). Er unterscheidet femer „Reproduktionsstöfse", bei welchen ohne bemerkte Wahl der Sprach- apparat innerviert und „Reproduktionsschwebungen" mit gewissermafsen unterschwelligem Betasten. Die Zwischenworte, die zum gesuchten Namen hinführen, bezeichnet der Verf. als „Stützen". Von den 260 Instanzen werden uns etwa 40 mitgeteilt, z. B. 1. Tliimme, Hinnel, Thümmel (der letzte Name war gesucht worden) ; 2. Böttcher, Buttler, Büttner; 3. Schache Schumann, Schaumann ; 4. Günther, Eüstner, Glöckner. Beim Verf., welcher zu den Schwachauditiven gehört, zeigten die gröfste Erinnerungsfestigkeit die Doppelkonsonanten und Konsonantenkonglomerate, dann die anlautenden Einzelkonsonanten (in Mebingebs und^ Meyebs Untersuchung an erster Stelle genannt) und zwar meist Mutae und Liquidae, endlich die aus Vokalen und Konsonanten bestehenden Endsilben (z. B. er, el, en). Sehr ungünstig ge- staltete sich das Verhältnis der falschen und richtigen Fälle für die an- lautenden Vokale. Für das Resultat seiner Beobachtungen erklärt der Terf.: „Bei der Erinnerung an Eigennamen findet die erneute Herstellung

ZeiUohiift für Psychologie 46. 25

386 lÄteraturbericht

unter dem Einflüsse derselben sprachlichen Motive (Lautpotenz, lautliche Verwandtschaft) statt, welche schon in der Natur des Sprechens selbst be- gründet sind und bereits bei der Entwicklung der Ursprachen bestimmend gewirkt hatten" (223). Dafs in der vom Verf. eingeschlagenen Richtung bei Heranziehung einer gröfseren Zahl von Versuchspersonen bedeutungsvolle Resultate zu erwarten sind, scheint dem Ref. aufser Zweifel zu stehen.

Kbeibig (Wien).

E. A. N0BBI8. Seif as a Developed Feelii&i; Oomplex. The Journal of FhiU^.. Psychol and Scient Methods 3 (19), 511—519. 1906. Alle philosophischen Systeme, die vom Ich ausgehen und die Welt als dessen (z. B. gedankliche) Konstruktion ansehen, müssen sich zuletzt in Widersprüche verwickeln oder aber zum Parallelismus ihre Zuflucht nehmen. Denn diese Systeme können nicht umhin, die Welt als aus einer Materie bestehend und in einem Räume befindlich anzusehen, die sie b^ ihrer Konstruktion nicht benutzten. Man mufs daher umgekehrt ver- fahren und zuerst dieses Ich selbst zu konstruieren suchen. Das Materii4 zu dieser Konstruktion sowohl wie zu der des Nichtich können aber nur die Gefühle abgeben. Es wird ein im Entwürfe grofsartiger Grundrifs för den Aufbau einer affektualistisch - monistischen Weltauffassung gegeben: Ich und Nichtich sind nichts anderes als „Bündel von Gefühlen". Beim Zusammentritt zu solchen Bündeln werden die elementaren oder „primfiren*^ Gefühle von dem „riXos" geleitet, das Lustquantum der Welt einem Maxi- mum zuzuführen.

Im Zusammenhang dieses Weltbildes stellt sich das „Ich" für die letzte Analyse als ein dynamischer Gefühlskomplex dar, der an sich durch* aus unkörperlich ist. Nur für die Zwecke des praktischen Lebens darf ich diesen Komplex als in Beziehung stehend betrachten zu jenem Teile der aus Gefühlen aufgebauten Weltgesamtheit, den ich meinen Körper nenne.

Hbrbbrtz (Bonn).

I Georg Webnick. Der WirUlcbkeitsgedanke. Vierteljahrsschrift für tcissen-

I schaftliche Philosophie und Soziologie 30 (2), S. 179—202, (3), S. 245-270,

I (4), S. 357-395; 31 (1), S. 57—86; (3), S. 275-312. 1907.

In dieser Artikelserie setzt sich der Verf. die Aufgabe, den „W-Vor- I gang"» d. h. das „Fürwirklichhalten" als Prozefs aufgefafst, klarzulegen.

Im I. Artikel sucht er den allgemein anerkannten Sachverhalt, dafis jede Vorstellung von Natur aus nicht nur einen Inhalt habe, sondern auch auf einen Gegenstand (der real oder nicht real sein kann) gehe, als nichts Ursprüngliches abzuweisen. Brentanos Satz, dafs jedes Vorstellen das Vor- stellen von Etwas sei, bezeichnet der Autor als „Erschleichung" (unseres Erachtens ein hier unzulässiger polemischer Ausdruck). Der Verf. fragt> um die Entgegenstellung von Inhalt und Gegenstand ad absurdum zb führen: Was wäre etwa das inten tionale Objekt des Kopfschmerzes? (Hier nimmt der Verf. den Schmerz als Vorstellung); hat etwa die Erinnerung an drei Schüsse, die an drei früheren Tagen fielen, drei Objekte? Auf Grund des Kommentars dieser Beispiele meint der Verf. es sei „nach- gewiesen (!), dafs die Vorstellung als solche niemals die Vorstellung eines Objektes ist" (187).

Literalurbericht 3g7

Den BeschloXs des JI. Artikels bildet nach Verwerfung aller ab8<>- Inten Kennzeichen der als wirklich bewerteten Vorstellangen -— der Satz: „Der W- Vorgang ist die Einordnung eines Inhaltes in den Wirklichkeit»- Zusammenhang" (270), wozu im III. Artikel die Erläuterung tritt: „Daß eigentlich charakteristische Moment der Wirklichkeitsreihe liegt darin, dafi» ihr die Gesamtheit des momentan sinnlich Gegebenen als Glied angehört. In der Tat liegt hier der einzige wesentliche Unterschied zwischen Wirk- lichkeit und Phantasiegebilden, den wir vorfinden" (H56). Einen Inhalt far wirklich halten helTst ihn mit der Gesamtheit des sinnlich Gegebenen durch simultane oder sukzessive Gleichartigkeitsassoziation verknüpfen" (372). Dieses relative Kriterium rnnfs auch fttr das Fürwirklichhalten von Ver gangenem, z. B. dafs König Amshhotbp wirklich gewesen sei, ausreichen. Im IV. Artikel erörtert der Verf. die »Bedingungen oder Motive oder ÜT' Bachen" des Auftretens des Wirklichkeitsvorganges.

Die Ausfahrungen des Autors haben uns nicht überzeugt. Die wirk- lichen Vorstellungsgegenstande werden von uns in der Wahrnehmung mi^ solcher Unmittelbarkeit als wirkliche erfaCst, dafs eine Verknüpfung des sinnlich Gegebenen durch simultane oder sukzessive Gleichartigkeits- asaociation höchstens ein anschlieisender ProzeTs sein kann aber kein Konstituens des Tast- oder Seherlebnisses selbst. Dies darf gerade einem Autor entgegengehalten werden, der in der Ansicht, daüs jede Vorstellung ein Objekt vorstellt, schon etwas leicht-Ursprüngliches, Erkünsteltes, Ver- wegnehmendes findet. Im Vergleiche zur Lehre, dafs ein Buch, das ich in der Hand halte, dadurch für wirklich gehalten wird, dafs ich eine weit- läufige Assoziation vollziehe, erscheint uns die ältere Auffassung von^ Zwangscharakter des Wirklichen und dem damit zusammenhängenden Ezistentialurteil wohl noch sehr im Vorteil. Es soll jedoch gerne zugegeben werden, dafs der Verf. in der polemischen Kritik der anderen Theorien Schlagfertigkeit und scharfen Blick für Hypothetisches bekundet.

Kbubio (Wien).

Max Frischsisbn-Köhlbb. Ober den Begriff und den Sati des Bewüfstielnt.

Eine erkenntnistheoretische Untersuchung. Yierteljahrsschrift für ivissen- ackaftl Philosophie und SozioL 31 (2), S. 145—201. 1907. Nach den Ausführungen des Verls besagt der „Satz des BewuÜBtseins", daÜB alles, was überhaupt im Erlebnis angetroffen werden kann, unter der Bedingung stehe, „Tatsache des Bewulstseins zu sein'' oder daüs „die ganze Welt zunächst als BewuTstseinsinhalt gegeben sei'* (1^8). Dieser Satz, welcher von Beinhold an die Spitze der Transzendentalphilosophie gestellt, aber vor und nach ihm in den veiBChiedensten Fassungen eine fundamentale Rolle gespielt hat (z. B. als Prinzip des Dbscastes, als Satz der Phänomenalität bei DiLTHSY, als Satz der Immanenz bei Ricejkbt) erhält seinen richtigen Sinn erst durch eine scharfe Bestimmung der Bedeutung, in der hier der Begriff des Bewu£9tseins zu nehmen ist. Der Autor unterscheidet zunächst

1. das psychologische BewuCstsein als allgemeine Lebenserscheinung und

2. das transzendentale oder erkenntoistheoretische Bewufstsein, nämlich das Prinzip aller wissenschaftlichen Erfahrung, dessen Wesen Einheit und Kontinuität ist. „Die synthetische Einheit des transzendentalen BewuTsi-

25*

388 Literaturbericht,

seins", sagt der Verf. in KAVTScher Diktion, „ist eine Bedingung aller Er- kenntnis, unter der jede Anschauung stehen mufs, um fflr das indlvidaelle Denken Objekt zu werden; aber ihr entspricht eine objektive Einheit in der Anschauung selbst" (156). Nun ist es weder das psychologische noch das transzendentale Bewufstsein, als dessen Inhalt die Welt der Dinge und neben ihr auch das psychologische Einzelich nach dem Satz des Bewolsi- seins zu gelten hat, sondern das nicht individuelle p r i m ä r e Be waist- sein. Unter dem „Bewufstsein können wir . . . das der begrifflichen Er- kenntnis vorangehende, in allen Erlebnissen aufzuweisende Wissen yer- stehen, dafs gleichwohl jederzeit in der Reflektion in eine begriffliche Erkenntnis ttbergeführt werden kann*' (168). Wird der primäre Bewulstaeins- begriff zugrunde gelegt, so fahrt der Bewufstseinssatz keineswegs snm Solipsismus, sondern macht eine vorwiegend realistische Auffassung des Wesens der Aufsen weit notwendig; mein Ich, mein Selbst, ist ein Stroktur- zusammenhang von aufweisbarer Artikulation, der sich widerspruchslos diesem Erfahrungsbereich einfügt.

Gegen den subjektiven Idealismus führt der Verf. das Argument^ dab die Bezeichnung der Welt als mein Bewufstseinserlebnis bereits eine petitio principii sei; „indem ich von meinen Bewufstseins vorgingen spreche, führe ich schon eine Beziehung, eine Eonstanz, einen Zusammenhang ein, den die unmittelbare Erfahrung nicht aufweist Das letzte und elementarste Wissen ist immer nur dem einfachen Existential- urteil äquivalent, ein Etwas, ein Ton, eine Farbe, ein Schmerz ist" (197). „Der Satz des Bewufstseins enthält so wenig eine Verflüchtigung der Welt der harten Tatsachen zu einem blofsen Schein, dafs er vielmehr eine durch- aus genügende Garantie einer empirischen Realität ist" (201).

Diesen mit logischer Sorgfalt entwickelten erkenntnistheoretischen Thesen stimmt der Ref. im Ergebnisse gerne zu. Was die Literatur der behandelten Frage anbelangt, darf wohl der Verf. an die hier zu berück- sichtigende Gegenstandstheorie Meinonos (namentlich an dessen Schrift über die Erfabrungsgrundlagen unseres Wissens) erinnert werden.

Krbibio (Wien).

Max Frischeiben-Köhlbr. Die Lehre von der SnbJektiTittt der SiueHiiilitita aid ihre Gegner. Vierteljahrsschrift für wissenseih. PhHos, u. Sozial, 30 (3\ S. 271—327. 1906. Die vorliegende vorwiegend historisch-referierende Skizze behandelt das Problem der Sinnesqualitäten in sehr feinsinniger Weise und verdient nicht nur gelesen sondern ernst überdacht zu werden. Es ist hier so ziemlich alles zusammengetragen, was im Laufe der Entwicklung der Philo- sophie und Physiologie an Argumenten gegen das Dogma geltend gemacht wurde, dafs die sinnlichen Eigenschaften der Dinge ausschliefe lieh psychische Reaktionen seien ohne in irgend einem Sinne objektive Realität zu besitzen. Die Gegnerschaft wider das Subjektivitätsdogma setzt bereits mit Abistotelbs ein, der gegen Demokbit, Plato und die Kyrenaiker nicht nur den Augenschein, sondern die wohldurchdachte Theorie vom positiven Realitätsgehalt in der Sinnesempfindung -ins Treffen führte. Die Sinnes* täuschungen beziehen sich nach Abibtotbles nur auf die Zuordnung der

Litei-aturberichL 3gg

empfandenen Qualität zu einem Gegenstande der Wahrnehmung, sind also im Grunde irrige Urteile, während die Empfindungen als solche stets Wahres bringen. Den Sinneseindrücken kommen zwar Relativität, aber deshalb noch nicht Irrealität zu was übrigens auch die thomistische Literatur unserer Tage nachdrücklich behauptet. Der Verf. findet sogar im Materialismus Hobbbs und in neuerer Zeit in der verwandten Lehre Czolbes die ausdrückliche Setzung von Qualitäten neben oder in das System von Quantitäten. Mit Geschick weifs der Verf. femer die Hypothese Fechnbbs von der Tagesansicht herauszuarbeiten, derzufolge die sinnlichen Eigen- schaften der Dinge nicht nur durch ein Verhältnis der Bedingtheit mit Bestimmtheiten der Körper verknüpft sind, sondern auf vergleichbare Qualitäten in der objektiven Welt hinweisen. „Die in unseren Körpern verlaufenden Bewegungen, an welche die Empfindungen gesetzlich gebunden sind, sind mit denen in der übrigen materiellen Welt nicht unvergleichlich ; warum sollte die Vergleichbarkeit nach Seite der qualitativen Bestimmtheit aufhören, wenn sie auf seiten der quantitativen so sicher ist?" Dazu kommt die von Fechnbb, Ostwald u. a. begründete bzw. fortgeführte Kritik der Gültigkeit der Nachtansicht mit ihren blinden und stummen Wellen- zügen der qualitätslosen Materie. Auf dem Standpunkte der OsTWALDSchen Energetik, die lediglich Änderungen oder Verbindungen der sinnlichen Erscheinung quantitativ (mit Hilfe eines Intensitäts- und Kapazitätsfaktors) bestimmen will, können nicht nur sondern müssen sogar die Wirklichkeits- elemente als ein qualitativ Charakterisierbares gedacht werden. Mit dieser Auffassung fällt, wie auch Lasswitz hervorhebt, das wesentlichste Motiv für die Irrealisierung der Wahrnehmungsdaten Wärme, Farbe, Ton . . . insofern Qualität nur die durch objektive IntensitätsdifCerenzen im Gefüge bedingte Form des Energieaustausches ist „Will man den Gegenstand demgemäfs als warm, farbig, tönend bezeichnen, so ist dagegen nichts einzuwenden; die Qualitäten sind nicht weniger objektiv als die Quantitäten, und ihre Relationen bilden die sinnliche Körperwelt^^ (307). Der Verf. bemüht sich femer zu zeigen, dafs auch in Avbnabiüs' Empiriokritizismus das Bestreben, den sinnlichen Qualitäten als deskriptive Merkmale der Umgebungsbestand- teile Wirklichkeit zu sichern, eine der wichtigsten treibenden Kräfte ge- wesen sei. Am allerwenigsten hat aber die Immanenzphilosophie Schüpfbs, welche den gesamten Inbegriff des Gegebenen zum Bewufstseinsinhalt eines erkennenden überindividuellen Ich macht, eine sachliche Veranlassung» die sinnlichen Eigenschaften mit einem anderen Seinsprädikat zu versehen, als die Dinge selbst. Den letzteren Gedanken betont auch Rickebt in zu- treffender Weise. Wenn der Lehre von der Subjektivität der Sinnes- qualitäten auch dann noch die gewichtige Stütze der These von den spezifischen Sinnesenergien verbleibt, so darf nicht verkannt werden, dafs diese Stütze durch Lotzes und Wündtb Einschränkungen stark ins Wanken geraten ist. Von den rätselhaften Leistungen der Nerven, denen nach Johannes Mülleb eigentlich die Produktion aller empfundenen Modalitäten und Qualitäten zufiel, ist heute nicht mehr die Rede und man findet das Wuin)TSche Prinzip der Anpassung der Sinneselemente an die Reize aus- reichend, um das MüLLBBSche Tatsachenmaterial zu erklären.

Das wichtigste Räsonnement zugunsten der objektiven Wirklichkeit

390 Literaturberichi,

der Qualitäten scheint uns jedoch die folgende Ausführung Lotzbs zu sein : Die Physiologie kann prinzipiell nichts Aber die Art der Übereinstimmung zwischen dem Vorstellungsinhalt und dem realen Objekt entscheiden. Wenn auch die Reize, die in unserem Körper die qualitativen Empfindungen aus- lösen, nichts als Schwingungen eines Mittels sind und als solche keinerlei Ähnlichkeit mit ihren Ergebnissen aufweisen, so hindert nichts anzunehmen, ^daTs die von den Dingen ausgehenden Bewegungen durch unsere Nerven hindurch wirkend zuletzt in unserer Seele diese Röte und SOfslichkeit als unsere Empfindung wiederentstehen lassen, die als Eigenschaften such an den Dingen haften. Es würde sich nicht wunderbarer so verhidten als mit den Leistungen des Telephons, der Schallwellen empfängt, sie in ganz anderer Form der Bewegung fortleitet und zuletzt in Schallwellen zurück- verwandelt dem Ohre zuführt." (Metapfa. 1884 S. 1)06 f.) Ribhls Kritiziamns verwertet andererseits den Gedanken, dafs im Mechanismus der Maesenteile nicht das vollständige Bild der Welt, sondern nur der Umrifs der Bikler gelungen sei. Für die qualitative Bestimmtheit der Sinnesdinge selbst spricht aber wie der Verf. mit allem Nachdruck betont der Aspekt des unbefangenen Realisten (der horror vor dem „naiven" Realisten gilt wohl einem künstlich konstruierten Gespenst), dessen Falschheit weder durch die physikalische noch durch die physiologische Forschung, noch endlich durch die philosophische Selbstbesinnung faktisch erwiesen ist Die These der ausschliefslichen Subjektivität bedarf daher in unserer Zeit einer besonderen Beweisführung.

Hoffentlich genügen diese wenigen Andeutungen zur Kennzeichnung der vielseitig anregenden Art und Weise, wie der Autor sein Thema anzu- fassen versteht. Zur Vervollständigung der Übersicht hätte in der Studie vielleicht noch die Kritik der Schwierigkeit Platz finden können, in welche die Mehrzahl der Realisten der Gegenwart gerät, wenn sie zwar das Sein der Aufsen dinge für evident gewifs, aber jede Beschaffenheit dieser Dinge für unerkennbar erklären. Nicht nur der Glaube an das Vorhanden- sein einer Farbe, eines Tones usw. behandeln diese Halbrealisten als Sinnes- täuschungen, sondern auch Gröfse, Form, Dichte, Schwere usw. können ihnen nur subjektive Qaalitäten sein. Die darin liegende gegensätzliche Behandlung des Seins und des Soseins der Dinge bedürfte aber einer sorg- fältigen Motivierung. Der Stein vor mir existiert objektiv, aber keine wahr- nehmbare Beschaffenheit dieses Steins existiert objektiv hier liegt unseres Erachtens eine erkenn tnis theoretische Diskrepanz, die erneute Revision der Voraussetzungen fordert. Kreibio (Wien).

RiCHASD M. Mbysr. Urs^nuig des KausUititsbegriffes. Tierteljahrsschriß ßr wissenachaftl Philosophie uftd Soziol 31 (1), S. 1—20. 1907. Der Verf. bezeichnet Zeit, Raum und Kausalität als die drei (Kontinnen darstellende) ,,Dimen6ionen" des geistigen Lebens, charakterisiert den Raum als „Gesamtheit derjenigen Gegenstände, die rein ideell und ohne Rück- sicht auf die wirkliche Kraft der wahrnehmenden Sinne in einem Augen- blick wahrgenommen werden können*' (3) und die Zeit „als Umfassung der Gesamtheit derjenigen Gegenstände, die auch von der ideell gesteigerten Wahrnehmungskraft nicht zugleich wahrgenommen werden können" (4\

Litera turbericht 39 1

Der Kausalitätsbegrifl entsteht nun „indem die psychische Erfahrung der unmittelbaren Verknüpfung zweier Vorgänge nach dem Muster des Zeit- und Raumbegriffs verallgemeinert wird" (16), oder auch „indem zeitlich geordnete V'^orgänge unter der Analogie des Baumes angeschaut werden*' (17). Die Annahme einer Ursache sei eine „unbedingte Denknot wendigkeit" (7)) trotzdem habe IIumb mit seiner skeptischen Leugnung der objektiven Notwendigkeit recht. Von J. St. Hill und der an ihn anknüpfenden eigentlich modernen Behandlung des Problems spricht der Verf. nicht.

Kreibig (Wien).

M. Kelchnkr. Untersnchnigen über das Wesen des Gefühls mittels der iu- drncksmetbode. II. Die Abhängigkeit der Atem- und Pals?eränderang ?ol& Reis und vom Geffibl. Arch. f. Fsychol. 5, 1-124. 1905. Bevor K. zur Darstellung ihrer Versuche geht, setzt sie sich einleitend in einer Darstellung und Kritik von Lehmanns Untersuchung „Die körper- lichen Äufserungen psychischer Zustände. I. Teil" mit diesem auseinander. Sie findet die Zusammenfassung der einzelnen Pulsschläge in natürliche Gruppen je nach den Richtungsänderungen der plethysmographischen Kurve mit Recht bedenklich. Dagegen ist ihr Vorschlag, die Frequenz des PulsBchlages innerhalb eines konstanten Zeitmafses zu bestimmen, ebenso bedenklich; denn dabei werden die sog. Atemschwankungen des Pulses (Mabtiüs) nicht berücksichtigt und infolgedessen die Ergebnisse anfechtbar. Die Zusammenfassung der Pulse mufs die Atemperiodcu zugrunde legen. Bezüglich der Atemkurven tadelt K., dafs Lehmann bei männlichen In- dividuen die abdominale, bei weiblichen dagegen die thorakale Atmung gemessen, weshalb seine Atemkurven unvergleichbar werden, weil die thorakale Kurve viel ausdrucksvoller ist als die abdominale, wenngleich zwischen den beiden Geschlechtern in dieser Hinsicht Unterschiede be- stehen. In der LsHMANNschen Versuchsanordnung wird als Lücke ver- merkt, dafs die Versuchspersonen von der Gelegenheit, mittels einer pneu- matischen Verbindung das Vorhandensein gewisser psychischer Momente auf der Kymographiontrommel zu signalisieren, viel zu selten benützt haben. Weiter wird der Befund Lehmanns bekämpft, dafs willkürliche Auf- merksamkeit mit Pulsbeschleunigung verknüpft sei, dagegen findet dieser L^nterstützung durch Mentz und ganz besonders durch Mabtiüs (vgl. Bei- träge zur Psychologie und Philosophie, I. Bd., Heft 4, S. 609 ff.). Mit Recht aber wird darauf hingewiesen, dafs in Lehmanns Befunden und Deutungen mehr Hypothetisches steckt als er selbst zugibt. Nach Erörterung der von L. gefundenen Gefühlssymptome wird zusammenfassend bemerkt, dafs 1. L. nicht bewiesen hat, dafs das Vorhandensein eines Gefühls Bedingung ist fürs Zustandekommen der körperlichen Reaktionen und 2. dafs er zweifel- los bewiesen hat, dafs der normale Zustand des Bewufstseins Voraussetzung ist für eine normale Gefühlsreaktion. „Der Bewufstseinszustand ist ent- scheidend für die Reaktion. Damit ist aber nicht gesagt, dafs das Be- stehen des Gefühls Voraussetzung der Reaktion sei.*' Zu 1 bemerke ich, dafs nach den Befunden von Mabtiüs, dafs Lust und Unlust keine ihnen eigene Symptomenkompleze besitzen, der geforderte Nachweis gar

392 Literaturberickt.

nicht zu erbringen ist. Damit hängt 2 aufs engste zusammen, wenn ich auch geneigt bin, die darin schlummernde Ansicht Kblchnbrs, daljs die Reaktionen rein peripherisch bedingt sind, nicht teile.

Im folgenden I. Teil (S. 37—78) ihrer Arbeit untersucht K. die Ab- hftngigkeit des Gefühls und seines Ausdrucks vom einfachen sinnlichen Reiz, nämlich von Geschmacks-, Farben- und Schallreizen. Die bitteren und süfsen Lösungen hätten wegen der verschiedenen Empfindlichkeit der Zungenstellen auf ganz bestimmte Punkte und zwar immer auf dieselben, nicht einfach auf die Zunge, gebracht werden mfissen. Wenn einige Ver- suchspersonen Farbenblätter, welche ausgesprochene Gefühle hervorriefen, auswählten zum Gebrauche bei den Versuchen, so bestand die Gefahr, dafs sjch bei ihnen infolge der Gewöhnung gar nicht mehr die Gefühle oder doch nur in geringer Stärke einstellten, die Ausdrucksformen aber infolge starker Assoziationen mit dem Reize dennoch auftraten. Als Norm die letzte Fraktion des Indifferenzzustandes zu wählen, ist mifslich, einmal weil dieser selbst ungeheuer labil ist und zum anderen, weil gerade die letzte Fraktion wahrscheinlich schon etwas von der Spannung enthält. Die Mittelwerte des Indifferenzzustandes aber zum Vergleich mit denen der Versuchszeit heranzuziehen, dürfte bedenklich sein, weil die beiden Zeiten im ganzen nicht gleich grofs sind und weil die Atemschwankungen des Pulses aufser acht blieben. Die Lust zeigt Pulsbeschleunigung bei Ge- schmacksreizen, Pulsverlangsamung, wenn Farben und Töne als Reize dienten, offenbar ein Beweis dafür, dafs eben nicht das Gefühl, sondern die durch den Reiz hervorgerufene Erregung bestimmend für den Puls war, vorausgesetzt, dafs nicht wieder die Fraktionierung verantwortlich zu machen ist. Nach der erwähnten Richtung deutet der Satz S. 42 „Die In- tensität des Gefühls geht nicht dem Grade der Pulsbeschleunigung parallel . . . ." Der Atem zeigt bei Lust Beschleunigung teils mit Ver- tiefung teils mit Verflachung, dann auch wieder Verlangsamung und Ver- flachung. Hier zeigen sich individuelle Differenzen. Aus Tabelle S. 43 liest K., die mittlere Tiefe des Atems sei während des Lostzustandee grröfser als in der Norm. Das gilt aber nur im Vergleich zur vorangehenden Indifferenz, während die nachfolgende Indifferenz durchgehend noch gröfsere Tiefe hat als die Lustphase. Jedenfalls zeigt die gröfsere Tiefe und Beschleunigung nichts anderes als die erhöhte Tätigkeit des Oi^ ganismus.

Die Unlust weist zumeist Pulsbeschleunigung auf; in der Atmung kommen starke individuelle Differenzen zur Erscheinung. Die Reizqualität bleibt hier ohne Einflufs. Tabelle II S. 47 zeigt einen von K. sonst be- strittenen Parallelismus zwischen Atem- und Pulsbeschleunigung und ana den Atemtabellen S. 54 ergibt sich die Berechtigung der Behauptung von Martius, es lasse sich kein typisches Verhalten für Lust und Llnlnst fest- stellen.

Für die Erzeugung von zu untersuchenden Spannungszuständen erwiesen sich nach Durchprobung mehrerer Mittel z. B. von Schallhammer- 6ch lägen in verschiedenen Intervallen, von Kontraktionen eines Dynamo- meters, Reaktionsversuche am zweckmäfsigsten. Bei allen Versuchs- personen zeigen Spannungszustände beschleunigten Puls (Typus der

Literaturhei-icht 393

Tätigkeit), die Atmung aber bietet ein Bild deutlich ausgeprägter indivi- dueller Differenzen. Für die Lösung kommen jeweils die entgegen- gesetzten Symptome in Betracht. K. glaubt, den Einflufs der Spannung auf in diesem Zustande einwirkende Reize dadurch finden zu können, dafs er Reize, deren Wirkung auf den Indifferenzzustand hinreichend bekannt ist, in einem Spannungszustande wirken läfst und nun die Änderung der Reaktionssymptome prüft (S. 56). Diese Meinung ist irrig, wenn es Tat- sache ist, dafs die Reaktionsformen eines Reizes weniger von diesem als von der gesamten psychischen Konstellation abhängig ist. Der Indifferenz- znstand ist jeweils verschieden, folglich auch die Wirkung desselben Reizes von Fall zu Fall. Die Wirkung des betreffenden Reizes in welchem Indifferenzzustand soll nun eigentlich zum Vergleiche mit seiner Wirksamkeit im Spannungszustande herangezogen werden? Jedenfalls wird so die Bedeutung der Spannung für einen Reiz nicht eindeutig zum Ausdrucke kommen können. Die im Spannungszustande auftretende Lust und Unlust bietet starke individuelle Differenzen in Puls und Atem und durchweg treten die Lösungssymptome an die Stelle derer von Lust und Unlust. „Wir ersehen aus obigen Ergebnissen ferner eine gewisse Un- abhängigkeit des Gefühls von den Modifikationen des Pulses und der Atmung: Lust und Unlust können bestehen, auch wenn diese Funktionen in einer Weise abgeändert sind, die dem gewöhnlichen Ausdruck der Ge- fühle ganz entgegengesetzt sind.'' Dieses Bekenntnis ist eine Bestätigung der Ansicht Mabtiüs von dem Nichtbestehen eines für die Gefühle charak- teristischen Symptomkomplexes.

Im II. Teil (S. 78—104) wird der Bewufstseinszustand und Ausdrucks- vorgang bei Anwendung komplizierterer Reize untersucht. Schmerz wird hervorgerufen durch Aufsetzung einer Klemmschraube auf einen Finger- nagel, Schreck durch Blitzlicht beim Photographieren, durch Hände- klatschen und durch Ilammerschlag auf einen Stuhl. Infolge der bei den Seh merz versuchen bestehenden grofsen individuellen Differenzen ergibt sich kein einheitliches Bild der Schmerzwirkung. Allgemein wird eine Zunahme der Atemfrequenz konstatiert, der Puls läfst sich in keine Norm zwingen. Übersieht man beispielsweise Tabelle S. 92, so kann man un- befangen soviel wie nichts daraus entnehmen; trotzdem wird Ansteigen des Pulses und Atems behauptet. Dieses ist jedoch auch schon im In- differenzzustande bemerklich und deshalb ist es unstatthaft, Schmerz allein dafür verantwoi:tlich zu machen. Der Schreck soll Puls- und Atem- beschleunigung in der ersten Fraktion auslösen. Dabei bestehen wieder individuelle Differenzen. Die Tabelle S. 94 zeigt recht deutlich die Unzn- lässigkeit der Bezeichnung Indifferenz für den zugrunde liegenden Zustand; denn der Puls ist in der letzten Fraktion desselben mit 16 V^, in der ersten Fraktion (je ICX') des Schreckzustandes 16 V2 und in der nächsten schon nur 13, um in der vierten auf 10 ^/a zu sinken. Ähnlich steht's mit der Atmung.

Von Affekten soll Angst beschleunigten Puls, vertiefte und verlangsamte Atmung aufweisen; die darauf folgende Apathie zeigt Pulsverlangsamung und Atemverflachung (Bild passiven Verhaltens), neuerliche Angst wieder die vorigen Symptome und endlich Erregung der Angst gegenüber nur wenig verlangsamten Puls (geringerer Erregungsgrad als in der Angst) und

394 Lite7-aturbericht

beschleunigton Atem, also den TypuB der Tätigkeit. In diesen VersudieQ mit unmittelbar hervorgerufenen (natürlichen) Affekten fehlt die Indiffereiu- messung. Wenn S. 101 von einer infolge von Unannehmlichkeiten sehr aufgeregten Versuchsperson berichtet wird, es seien ihr gleich nach ihrem Erscheinen die Apparate angelegt worden, so besteht doch die Möglichkeit, ja Wahrscheinlicbkeit^ dafs inzwischen der zu untersuchende Zustand sich wesentlich geändert habe. Als eine Versuchsperson bei Lösnng einer Rechenaufgabe einen falschen Weg einschlägt und die schon beim Rechnen vorhandene Verflachung und Beschleunigung der Atmung und Pak- beschleunigung auch beim Auftreten von Ärger über die eigene Un- geschicklichkeit fortbesteht, meint K. darin die Symptome des Ärgers eehen zu müssen. Mir scheinen sie für die geistige Arbeit zu gelten, während der Ärger in den Ausdrucksformen gar nicht in die Er- scheinung tritt.

Der III. Teil der Arbeit (S. 104—109) will die Abhängigkeit der Ans- drucksvorgänge von willkürlich reproduzierten Vorstellungen untersuchen. Dabei ergibt sich die qualitative und quantitative Gleichartigkeit des Gefühlsausdrucks, ob nun das Gefühl durch Vorstellungen oder durch ■Wahrnehmungen hervorgerufen wurde. Wie bedenklich es ist, der Lust Pulsverlangsamung zuschreiben zu wollen, erhellt aus der Tabelle S. 106, wo K. aus dem zweiten Beispiel eine Tendenz zur Verlangsamung liest, «bschon die beiden Fraktionen des vorangehenden Indifferenzzustandes 15 und 14 Pulsschläge aufweisen, die drei Fraktionen des Lustzustandes aber 14 ^i, 14 Vs, 14 und die fünf des folgenden Indifferenzzustandes nur 14 V2 und dann viermal gar nur 14 Pulsschläge.

Der IV. Teil (S. 109—121) beschäftigt sich mit der Würdigung des Ausdrucks Vorgangs und der Selbstbeobachtung. Die Verteidigung der Aos- drucksmethode und Bekämpfung der reinen Selbstbeobachtung gipfelt in der Betonung, dafs dieser in jener eine wertvolle Stütze erwachsen ist und dafs wir in der Ausdrucksmethode „mindesten s'^ ein diagnostischem Hilfsmittel zu sehen haben. Damit kann man wohl einverstanden s^n: denn ^nur die Vervollständigung des Gesamtbildes des psychophysischen Phänomens, das wir als Gefühl bezeichnen, wird uns zur Kenntnis seines Wesens führen". Dafs aber die Ausdrucksmethode nur im Zusammenhalte mit gewissenhafter Selbstbeobachtung auftreten darf, wird mehr und mehr anerkannt. Nach dem gegenwärtigen Stande der Wissenschaf t ist sie eben zur Wesensbestimmung psychischer Phänomene infolge der Komplexität alles psychischen Geschehens immer noch untauglich, wie neuerdings die Untersuchungen von Mabtius beweisen und die oft recht gewagten Inter- pretationen der Kurven und Tabellen durch Kelchnsr. Seinerzeit bestand die grolse Gefahr, dafs die Selbstbeobachtung völlig vernachlässigt würde (vgl. Bbahn, Experimentelle Beiträge zur Gefühlslehre. Phü, Studien 18); .darum erschien ich mit meinen Untersuchungen auf Grund der Selbst- beobachtung im Rahmen des Experiments, gegen welche Kelchxer pole- misiert (vgl. J. Obth, Gefühl und.Bewufstseinslage. Berlin, ReutheT und Reichard 1903). Man hat in Psychologen kreisen die Ausdruckamethode auf ihren wahren Wert zurückgeführt und bekämpft die Ungenauigkeit, um nicht zu sagen Fahrlässigkeit, so mancher Experimentatoren, zeigt ja schon

Literaturbericht, 395

die Normbestimmung bedeutende Schwierigkeiten, sind wir ja noch weit entfernt, einzelne Ausdrncksformen bestimmten singulären psychischen lErseheinungen eindeutig zuordnen zu können und hat uns die Ausdrnck»- methode bei bestimmten Fragen, z. B. bei der nach der Bewufstseinslage, ganz im Stich gelassen, abgesehen von der Unmöglichkeit für sie, über das Wesen einzelner seelischen Phänomene zu entscheiden. Soll Selbst- beobachtung und Ausdrucksmethode Hand in Hand gehen, so sind alle Fragen suggestiblen Gepräges an die Versuchsperson zu meiden, selbst auf die Gefahr hin, dafs das eine oder andere auftretende psychische Phänomen •unbeachtet bleibt. Dagegen kann man sich durch Verwendung mehrerer Versuchspersonen und durch Häufung der Versuche schützen. Auch ist die zeitliche Dauer des einzelnen Experiments eng zu begrenzen, damit die Selbstbeobachtung in seinem Dienste gedeihen kann. Wenn K. S. 112 schreibt: „Sind die zutage tretenden Abweichungen (vom IndifEerenzzustande) nicht schon als Symptome für einen Bewufstseinszustand bekannt, so kann ein genaueres Ausfragen über den Zusammenhang be- lehren ....'', so besteht mit Bücksiebt auf die Tatsache, dafs infolge der individuellen Differenzen dieselben Symptome für geradezu entgegen- gesetzte Zustände auftreten können, die Gefahr, dafs man sich mit den bekannten Symptomen begnügt, sie in hergebrachter Weise deutet und der Versuchsperson Erlebnisse unterschiebt, die sie gar nicht hatte. S. 115 glaubt K. behaupten zu können, dafs die im ganzen überraschende Über- einstimmung der Ausdrucksvorgänge mit dem subjektiven Erleben ein besserer Beweis für die Tüchtigkeit ihrer Versuchsperson in der Selbst- beobachtung sei als meine seinerzeitige Berufung auf die Kompetenz meiner Versuchspersonen dazu. Ich meine aber auf Grund eingehender Prüfung bemerken zu können, dafs die gerühmte Übereinstimmung viel- fach ein Produkt der etwas freien Interpretation der Versuchsleiterin ist, dafs die Selbstbeobachtung in den KsLCHKEBschen Untersuchungen über- haupt zugunsten der Kurven doch etwas zu beschränkt war und dafs das Übersehen einer starken Überraschung (vgl. S. 113) beim Erklingen eines Tones nach meiner Erfahrung nicht gerade für besondere Tüchtigkeit der betreffenden Versuchsperson in der Selbstbeobachtung spricht. Nach der gleichen Richtung weist die Angabe einer Versuchsperson (S. 114), eine wirkliche Depression erlebt zu haben, während sich ihr nur der Begriff mit dem Beize infolge von Gewöhnung assoziiert hatte und ins Bewufst- sein getreten war. Während K. in diesem Beispiele die ursprüngliche Angabe ihrer Versuchsperson bezweifelt, will sie im Beispiel S. 116 nicht daran gerüttelt wissen. „Eine Verdächtigung der Zuverlässigkeit der Ver- suchsperson ist natürlich leicht und steht jedem frei." Die Tabelle über den Zusammenhang der Gefühlsintensität mit der Gröfse der Pulsverände- rung (S. 117 f.) gibt in ihrer Deutung auch zu Bedenken Anlafs. Versuch 9 scheint mir nach der Pulsfrequenz zu beweisen, dafs die ausgesagte Heiter- keit sich gar nicht darinnen spiegelt. Warum die intensivste Lust nicht mit der stärksten Pulsbeschleunigung zusammenfällt, wenn Lust und Puls- ' beschleunigung überhaupt koordiniert sind, ist nicht einzusehen. Die S. 119 bezüglich der Lust, S. 125 bezüglich der Unlust konstatierte Be- ' obachtung, dafs die Modifikationen des Pulses früher eintreten als diejenigen

396 LiteraturbetHcht

des Gefühls'', könnten, wie es von Lagerboro (Das Gefühlsproblem, Leipzig, J. A. Barth, 1905) bereits geschehen, für die peripherische Entstehnng des Gefühls in Anspruch genommen werden. Sollten die Beobachtongen nicht auf Täuschung beruhen oder die körperlichen Äufserungen nicht zu Un- recht dem Gefühl zugeschrieben sein, so wäre damit für jene Hypothese immer noch nichts gewonnen. Es handelt sich um Intensitätssch wankungen des Gefühls, die jeweils Ton der Versuchsperson signalisiert wurden. Es ist da doch selbstverständlich, dafs die Schwankungen, die sich entwickeln, sozusagen erst in einem Zustande der Besinnung aufgefafst werden müssen und von der Versuchsperson erst signalisiert werden, wenn sie eich ihrer vergewissert hat. Dafs darüber Zeit verflieCst, ebenso wie durchs Signali- sieren, ist selbstverständlich und ich meine, so beweist die Konstatiening Kelchkebs nichts für die peripherische Entstehung des Gefühls.

Überschaut man zum Schlüsse die Untersuchungen und Deutungen K.. so mufs der Hauptwert der Arbeit in der Aufweisung der überall und immer wieder auftretenden individuellen Differenzen gesehen werden. Über das Wesen des Gefühls und die damit zusammenhängenden Fragen nach der Qualitätszahl usw. erfahren wir nichts ; deshalb erscheint mir der Titd mit dem Inhalte der Arbeit nicht zu harmonieren. Auch habe ich den Eindruck gewonnen, dafs die Versuche der Komplexität des Seelenlebens nicht gerecht werden konnten und nicht eindeutig Ausdrucksformen be- stimmten singulären psychischen Erscheinungen zuordnen können. Sym- pathisch berührt die stärkere Heranziehung der Selbstbeobachtung, wenn auch in dieser Hinsicht noch manches zu wünschen Übrig bleibt.

J. Orth (Neustadt a. Hdt.-.

i.uciNDA Pearl Boggs. The Relation of Feeling and Interest. The Jottraal of Fkilos., Psychol. and Sdent Methods H (17), 462—467. 1906. Psychologie und Pädagogik bedürfen einer schärferen Definition des Wortes „Interesse" (interest) als man bisher gegeben hat. Interesse ist nicht identisch mit Aufmerksamkeit, Gefühlslage oder Bewufstseinslage (im Sinne Marbes), auch nicht mit aufmerksamkeitsbetontem Vorstellen. Indem wir allmählich von dem rein subjektiven und unbestimmten Zustande des „Ich fühle" zu dem objektiven und gegenständlich bestimmten Zustande des „Ich weifs" übergehen, entsteht in uns das sogenannte Interesse. Es ist die Art der Aufmerksamkeit, bei der eine bestimmte Vorstellung oder ein bestimmter Vorstellungszusammenhang den Verlauf des Bewufstseins beherrscht und gleichsam kontrolliert. Herbertz (Bonn.i.

F. N. Frebman. Preliminary Experiments on Wrlting Reactions P»ychoI. Rer.

Monogr. Suppl 8 Nr. 3 (Whole Nr. 34, Yak Psychol Studies 1), S. .3*31—

333. 1907. Der Artikel besteht hauptsächlich aus einer Beschreibung eines Apparates zur Registrierung der Schnelligkeit und des Druckes von Schreib- bewegungen. Die Versuchsperson schreibt mit einer spitzen Kapillarröhre auf einem Blatt Papier. Unter diesem Papier bewegt sich ein Sehreil> maschinenfarbband und unter diesem ein fortlaufender Papierstreifen. Die auf diesem Streifen registrierten Kurven können mit dem direkt (^

LiteraturhenchL 397

schrieben en verglichen werden. Auf diese Weise wird die Geschwindigkeit der Bewegung festgestellt. Zu diesem Zweck ist natürlich auch ein Zeit- xnarkierer mit dem Apparat verbunden. Unter dem beweglichen Papier- streifen befindet sich ein Täf eichen, das in senkrechter Richtung beweglich ist und vermittels eines Hebels seine Bewegungen einer Registriertrommel mitteilt. Auf diese Weise können dann Druckänderungen gleichzeitig mit der Schnelligkeit der Bewegung registriert werden. Verf. beschreibt einige vorläufige Versuche mit dem Apparat. Auf ein gegebenes Signal wurde eine senkrechte, kreisrunde, oder Winkelbewegung entweder begonnen oder unterbrochen. Es zeigte sich, dafs die Reaktion merklich langsamer war bei der Unterbrechung als beim Beginn einer Bewegung. Verf. erklärt dies daraus, dafs in letzterem Fall eine subjektive Vorbereitung einer bestimmten Reaktionsbewegung möglich ist, in ersterem aber nicht, da die Versuchsperson nie vorher weifs, in welcher Phase der Bewegung das Unterbrechungssignal gegeben werden wird. Je zahlreicher die Bedingungen der Handlung sind, desto langsamer ist die Reaktion, zu der diese Handlung benutzt wird. Druckänderungen traten häufig innerhalb der Zeit zwischen Signal und Reaktion auf. Die erste Antwort auf das Signal zum Aufhören einer Bewegung ist eine Diffusion der Innervation, die sich in einer Ab- nahme der Geschwindigkeit und einer Zunahme des Druckes ausspricht.

Max Meybb (Columbia, Missouri).

Paul Kbokthal. Ober den Schlaf. Neurol Zentralblau Nr. 12, ö&3— 563. 1907.

Verf. wendet sich gegen die ziemlich allgemein herrschende An- schauung, dafs Schlaf eintrete, wenn die Zellen der Grofshirnrinde ermüdet sind eine Anschauung, die schon durch die Tatsache widerlegt wird, dafs Tiere, denen die Grofshirnrinde in bedeutendem Umfange entfernt wurde, keine wesentlichen Abweichungen vom normalen Schlafe zeigen. Schlaf ist der vorübergehende Zustand eines Lebewesens, in dem die meisten Reflexe herabgesetzt bis aufgehoben sind. Er kommt jedem Organismus, ob Protozoon, ob Metazoon zu, er ist eine physiologische Erscheinung, als deren Grund die Ermüdung anzusehen ist. Man kann ihn daher als Ermüdungsschlaf bezeichnen. Auch ein längere Zeit gereiztes Stückchen Froschmuskulatur gerät in einen solchen vorübergehenden Zustand aufgehobener Reaktion, der bei fortgesetzter Reizung, also bei Schlaflosigkeit, in den Tod übergeht, ebenso wie bei hochorganisierten Tieren. Der Schlaf ist also nicht an die Existenz eines Nervensystems gebunden, sondern von der Reaktionsfähigkeit der den Organismus konstituierenden Zellen abhängig.

Dem Ermüdungsschlafe wird als pathologischer Vorgang der Gift- Bchlaf gegenübergestellt, die Unterschiede werden besprochen. Auch der Vergiftungsschlaf ist vom Nervensystem unabhängig. Narkotika wirken auf Organismen ohne Nervensystem, auf Muskelstückchen ebenso wie auf Tiere mit Nervensystem.

Ebenso wie beim leblosen Körper die Reaktionen durch fallende Temperatur verlangsamt werden, werden beim Lebewesen mit sinkender Temperatur die Refiexe immer matter, es kommt zum Kälte schlaf. Eine physiologische Abart desselben ist der Winterschlaf. Schon Babkow

398 Literaiurberickt.

wies darauf hin, dafs dieser eine allgemeine Erscheinung gerade bei den- jenigen Organismen ist, die kein Nervensystem haben, nftmlich des Pflanzen. Ein weiterer Beweis für die Unabhängigkeit des Schlafes toib Nervensystem ist die Tatsache, dafs bei Lähmung durch Curare, welcfaei nicht auf das Zentralnervensystem, sondern auf periphere Apparate und Muskeln wirkt, der Stoffwechsel der gleiche ist wie im Schlaf.

Schlaf tritt entsprechend der gegebenen Definition immer ein, wenn die Beflexmöglichkeiten herabgesetzt sind: 1. wenn es an Reizen mangelt, aus Langeweile: Beizmangelschlaf, 2. wenn die Sinnesorgane nicht reagieren, Sinnesmangelschlaf, die bekannten Fälle Strüjcpells und ZiEMSSBNS, 3. wenn die Reizleitung gestört ist, bei allen umfangreichen Hirnerkrankungen und Hirnverletzungen, Leitungsunterbrechnnge- schlaf oder kürzer Gehirn- oder Hirnschlaf, der einzige Schlaf, der vom Gehirn abhängig, aber stets ein pathologischer Schlaf ist. Der Zustand der Somnambulen und Hypnotisierten, in welchem die Reflexe nicht he^ abgesetzt, sondern krankhaft verändert sind, ist nicht als Schlaf, sondern als Geisteskrankheit aufzufassen.

Verf. gibt schliefslich eine physikalisch - mechanische Erklärung von Bewufstsein und Traum. Da Psyche für den Naturforscher die Summe der Reflexe ist, stellt Bewufstsein eine sehr hohe, Traum eine sehr geringe Reflexsumme dar. Im Schlafe kann entsprechend der Definition natürlich nur eine geringe Reflexsumme, also Traum vorhanden sein, und zwar auch nur, wenn der Schlaf kein zu tiefer, sowie wenn ein leichter Reiz vor- handen ist. Die Empfindung, welche meist zur Erklärung des Schlafes herangezogen wird, will Verf. als der sinnlichen Wahrnehmung unzu gänz- lich aus einer naturwissenschaftlichen Betrachtung eliminiert wissen.

Pappenheim (Pra^).

Albebt Moll. Der HypnotUmu. Mit Elnschluls der Hauptpunkte der Psychotherapie und des Okkultismus. IV. verm. Aufl. Berlin, Fischerp Med. Buchhandlung. 1907. 642 S. 10 Mk.

Im Jahre 1889 hatte ich das Vergnügen, die erste Auflage von Molu „Hypnotismus" zu referieren. Jetzt wird mir von der geehrten Redaktioa der Zeitschrift für Fsychologie die vierte Auflage zu gleichem Zweck voi^ gelegt. Ein voluminöser Band, gröfser als seine Vorgänger, 642 Seiten, zum Schlufs ein interessantes Kapitel über Okkultismus.

Bewundernswert ist die Belesenheit des Autors. Nachprüfen kann und will ich's nicht, aber es macht den Eindruck, als ob ihm auch nicht der kleinste in der Literatur auffindbare Beitrag zu seinem grofsen Thema entgangen ist ; falls derselbe überhaupt der Erwähnung wert, so hat er iha nach der einen oder anderen Seite verwertet. Aber schwerer wiegt es. wenn ich sage, dafs Moll selber sich so sehr in sein Thema nach alka Seiten hin vertieft hat, dafs er als einer der besten Kenner des Hypnotismus gelten darf und mit dem vorliegenden Buch als ein vortrefflicher Lehrer für alle diejenigen empfohlen werden muls, welche den Hypnotismus sdb Gegenstand des Studiums machen.

Man wird in Molls Buch kaum auf eine Frage stofsen, welche nicisfc

Literaturhei-icht 399

mehr oder weniger ausführlich erörtert worden ist. Einselfragen in einem Referat anzuschneiden ist imm6r eine üble Sache. Jeder der Leser wird ffir das eine oder das andere Kapitel eine individuelle Vorliebe haben. Eins ist auch schllefslich so interessant wie das andere, wenn man den Stoff als Ganzes betrachtet. Die Kapitelüberschriften „Geschichtliches^, „Allgemeines^, „Symptomatologie**, „Posthypnotische Suggestionen", „Simu^ lation*', „Medizinisches'*, „Forensisches'', „Okkultistisches" werden sicherlich znr Vertiefung in das eine oder andere Gebiet besonders einladen.

Nichtsdestoweniger möchte ich noch an das VII. Kapitel „Theo«- retisches" einige Bemerkungen knüpfen. Von den Lesern seines Buches siebt Moll eine „Erklärung'' verlangen: „was ist H3rpnose? was ist das Wesen der Hypnose?" Moll setzt von vornherein die in dieser Be- ziehung gestellten Erwartungen herab, denn wenn „erklären" bedeutet: Unbekanntes auf Bekanntes zurückführen, so müssen wir in diesem Falle anf eine „Erklärung** von vornherein verzichten, da uns seelische Vorgänge, zu welchen die Hypnose gehört, unbekannt sind.

Dem Autor wird es schwer, aber er geht trotz seiner Erkenntnis des Richtigen auf die verschiedenen Theorien ein, welche vom „physiologischen" oder vom „psychologischen" Standpunkt aus aufgebaut werden. Obwohl sich hervorragende Namen daran knüpfen, so erscheinen sie doch nur als fadenscheinige Schleier, welche unser Nichtwissen verdecken; klare, all- gemein verständliche Begriffe werden mit Worten wiedergegeben, welche zwar den Schein von Gelehrsamkeit verbreiten, aber nicht zur Klärung bei- tragen — z. B. „Neurokym" für „Beiz der Grofshirnrinde". Mendel hat erklärt, dafs es sich bei der Hypnose um eine zu starke Reizung der Grofs- hirnrinde handelt, während Ziemssbn das Gegenteil behauptete. Blutführung und Blutleere werden in ganz kritikloser Weise als ursächliche Momente für diesen Vorgang hingestellt, von dem wir sicherlich behaupten können, dafs er sehr kompliziert ist, und dafs Millionen von Gehirn- und anderen Zellen ihre ganz individuelle Arbeit dabei liefern. Moll hat recht, wenn er fordert, dafs in Zukunft weniger behauptet und mehr bewiesen wird.

Eine allseitig befriedigende Theorie, welche physiologische und psychische Vorgänge zum Zustand der Hypnose zusammenschmiedet, existiert ebensowenig wie die Theorie des Gedankens, der sich aus den -Ganglienzellen den Weg zur Ewigkeit bahnt.

Sperling (Birkenwerder b. Berlin).

Wilhelm Specht. Psychologie und Psychiatrie. Zentralblatt f, Nfrvenheilk. n. Psychiatrie 30 (237), 379-387. 1907. Verf. erörtert kurz die Ziele der psychologischen Forschungsrichtung in der Psychiatrie. Der Einwand, dafs auf dem Gebiete des krankhaften Seelenlebens andere Gesetze gelten als im gesunden Seelenleben wird zu- rückgewiesen. Auch in der Psychiatrie gilt der Satz Virchows von der Identität der Naturgesetzgebung unter den normalen und abnormen Be- dingungen des Lebens.

Die Aufgaben der Psychiatrie sind zweierlei: 1. eine systematische, die Sonderung der Krankheitsbilder. Hierin ist alles im wesentlichen

400 Literat arberichi.

ohne Unterstatzang der wissenschaftlichen Psychologie geleistet worden. Doch scheint die klinische Beohachtungsknnst als solche der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit sich zn nähern. Für diese erste Aufgabe hat die Psychologie ebenso wie die pathologische Anatomie die Bedeutung einer Hilfswissenschaft. Eine Reihe von Aufgaben z. B. die Beeinflussung des Seelenlebens durch Ermüdung, Nahrungsenthaltung, Gifte u. a. sind durch sie gelöst worden.

Für die zweite Aufgabe der Psychiatrie, die erklärende, auf das Ver- ständlichmachen der krankhaften pathologischen Vorgänge und Zustands- bilder gerichtete ist die Psychologie von grundlegender Bedeutung. Was hierin geleistet wurde, ist sehr dürftig. Aufser der Schwierigkeit der Auf- gabe ist daran die schlechte psychologische Ausbildung, auch der akademi- schen Irrenärzte, schuld. Zur Abhilfe dieses Mangels einer der wich- tigsten Angelegenheiten der Irrenärzte möge die Unterweisung in den Grundzügen der gesamten Psychologie mit in die Unterrichtsfächer an unseren Universitätskliniken aufgenommen werden.

Pafpenhsim (Prag).

I. w. Baibd. The Oontractlon of Golor Zonet tA Hysterla ud in Iransttolai

The Ptychological Bull 3 (8), S. 249-254. 1906. Sowohl bei Hysterie und Neurasthenie, als auch bei einer posttyphoiden Psychose fand sich Gesichtsfeldeinschränkung, die im Mittel 17% gegen- über den normalen Befunden ausmachte. Die Farbenpaare Rot-Grün und Blau-Gelb zeigen ein verschiedenes Verhalten. Rot-Grün ist häufiger und gewöhnlich auch stärker befallen als Blau-Gelb. Voss (Greifewald).

M. V. O'Shea, Tendencies in Ohild and Kdnc&tloiial Ptjehology- Th^ Pvydkth

hgical Bulletin 3 (11), 357—369. 1906. In Amerika hat sich, vielleicht mehr als in irgend einem anderen Lande, die Erkenntnis Bahn gebrochen, dafs der wissenschaftlichen Psycho- logie ein wesentlicher Anteil an der Lösung des Erziehungsproblema zu- erkannt werden mufs. Zwar hat sich die anfängliche enthusiastische Überproduktion der kurvenzeichnenden und tabellenentwerfenden Kinder- psychologie wesentlich vermindert. Auch hat man sich mehr and mehr von jenem philosophisch-logischen Formalismus abgewendet, der analytis^ von gewissen psychologischen Grundsätzen aus, Normen für die Pädagogik deduzieren will. Jedoch man baut mit Eifer auf der Grundlage prak- tischer Erfahrung in Kinder- und Schulstube und auf induktivem Wege eine Kinder- und Erziehungspsychologie auf, deren noch viel zu wenig berücksichtigtes Hauptbedürfnis es heute ist, dafs besondere psycbologisäie Untersuchungen sich mit den einzelnen Lehrgegenständen beschäftigeii und besondere Psychologien des Sprachenlernens, des Rechnenlemens, des Lesen- und Schreibenlemens usw. entwickeln. Hbrbbbtz (Bonn).

401

Gefühlssuggestion und Phantasiegefühl.

Von Dr. Robert Saxinoeb.

Inhalt. Seite

§ 1. Zur Psychologie der Suggestion 401

§ 2. Was Gefülilssnggestion ist nnd was sie nicht ist 405

§ 3. Die Bedeutung des Phantasiegefühles für die Gefühlssuggestion 410 §^ 4. Eine Entgegnung 414

§ 1. Zur Psychologie der Suggestion.

Die Frage, was Gefühlssuggestion ist und was sie nicht ist, liefse sich leicht beantworten, wenn wir im Besitze einer ein- deutigen Definition des Begriffes Suggestion wären. Allein jeder, der die einschlägige Literatur kennt, weifs, dafs es nahezu eben- Boviele Definitionen von diesem Begriffe gibt, als Autoren, die sich mit den Suggestionsvorgängen befafst haben. Je nach dem Standpunkt, den der betreffende Forscher einnimmt, überwiegt in der Definition bald die physiologische, bald die psychologische Seite. Sind auch die Erscheinungen, genauer die Wirkungen der Suggestion teils physische, teils psychische, so ist doch die Suggestion selbst unzweifelhaft ein psychischer Vorgang und ge- hört deshalb in erster Linie zur Psychologie. Mögen immerhin die Anschauungen über das Wesen der Suggestion im einzelnen oft recht erheblich divergieren, in einem Punkte treffen sie doch im grofsen und ganzen zusammen : nämlich darin, dafs bei aller Suggestion etwas, was als wirklich gedacht wird, eben infolge des betreffenden intellektuellen Geschehens wirklich eintritt.

Die Frage ist nun, welcher Art das intellektuelle Geschehen ist, das der Suggestion zugrunde liegt. Zwei Ansichten stehen sich hier gegenüber. Nach der einen sind es Vorstellungen, nach der anderen Urteile. Um zu entscheiden, welcher Ansicht der Vorzug gebührt, ist es nötig, einige Beispiele zu betrachten.

Zeitschrift für Psychologie 46. 26

402 Bobert Saxinger.

Sagt man etwa einem Hypnotisierten „hier ist eine Bose^, oder einer für Wachsuggestionen empfänglichen Person, „der Arm ist mibeweglich", so behauptet der Suggerierende im ersten Beispiel, dafs eine Rose da ist, im zweiten, dafs der Arm unbew^Iich ist. Soll die Versuchsperson hierauf reagieren, so mufs sie das Gesagte verstehen; sie mufs den betreffenden Gedanken nach- bilden, mit anderen Worten, sie mufs an das Dasein der Rose bzw. an das Unbeweglichsein des Armes denken. Gegenstände, welche sprachlich durch die Wendung: „dafs etwas ist" oder „dafs etwas so ist'' ausgedrückt werden, bezeichnet Msctokg als Denkgegenstände oder Objektive. Deren Erfassen ist nie- mals Sache des Vorstellens, sondern des Urteilens oder An- nehmens.^ In beiden Beispielen haben wir es also mit Denk- gegenständen zu tun: im ersten liegt ein Daseinsobjektiv, im zweiten ein Soseinsobjektiv vor. Daraus folgt, dals in diesen Fällen nicht ein blofses Vorstellen, sondern Denkakte die Grand- lage der Suggestion bilden.

Dafi gleiche läfst sich auch durch Beispiele aus dem Bereiche der Autosuggestion (Selbstsuggestion) erhärten. Wer sich auf autosuggestivem Wege etwa von einem leichten Unwohlsein befreien will, der wird dem Gedanken, dafs er gesund ist oder wird, Raum geben müssen, und wer durch den Glauben an ein an sich harmloses Mittel, das er anwandte, von einem Unwohl- sein befreit wurde, der mufste eben überzeugt sein, dafs das Mittel heilwirkende Kraft besitzt. Wiederum sind es, wie er- sichtlich, Denkgegenstände, die durch Annahmen oder Urteile erfafst werden. Es wäre überflüssig, weitere Beispiele anzuführen. Überprüft man das reichliche Erfahrungsmaterial, so zeig^ es sich, dafs in keinem Suggestionsfalle nur ein blofses VorstelleQ vorliegt, sondern allemal ein Dasein oder Sosein angenommen oder erurteilt wird.®

Es fragt sich nun, ob die Urteilsansicht allen Tatsachen ge- recht wird. Diese erweist sich insofern zu eng, als es Fälle gibt, wo das Vorhandensein der Überzeugung nach den gegebenen Verhältnissen von vornherein ausgeschlossen ist. Ein Beispiel.

^ Vgl. MsiNONG, Über Annahmen. 7. Kap. AUe Denkgegenstftnde lassen sich auf die Typen: Dasein (Bestand) und Sosein, die kontra- diktorischen Gegenteile, JNicht-Sein und Nicht-Sosein mit inbegriffen xarOek- führen. Ebenda S. 191.

' Über den Begriff „Erurteilen" vgl. Mmsovo, Über Annahmen, 8. 161.

Qefiihlssuggutian und PhantasiegefühL 40g

Ein Arzt sagte einmal zu einem Mitgliede einer Tischgesellschaft, dafs die Behauptung, der Betreffende könne nicht sprechen, ge- nüge, um ihn vorübergehend der Sprache zu berauben. Nun zweifelte niemand mehr an den Erfolg des Versuches, als die Versuchsperson selber; gleichwohl gelang die Suggestion voll- ständig. Auf Seite der Versuchsperson lag jedenfalls nicht die Überzeugung vor, dafs sie nicht sprechen könne ; sie mufste sich also, um das Gesagte zu erfassen, einer Annahme bedienen.^ Ein anderes Beispiel. Gesetzt, es möchte sich jemand durch Selbstsuggestion eine bestimmte Begehrungsweise aneignen. In diesem Falle kann der Betreffende nicht überzeugt sein, die Be^ gehrungsweise, die er eben nicht hat, zu besitzen. Fehlt einem solchen auch der Glaube, dafs sich das angestrebte Begehren einstellen wird, dann ist, falls sich die Begehrungsweise infolge seines Denkens wirkUch einstellt, dieses Denken zwar kein Ur- teilen, wohl aber ein Annehmen. Denn sicherlich kann man das Dasein einer Begehrungsweise, die man nicht besitzt, annehmen.

Die ErfahruDg zeigt also, dafs die Annahme ebenso wie das Urteil die Eignung besitzt, als psychologische Grundlage der Suggestion zu fungieren. Ob die Suggestion im einzelnen Falle auf einem Urteil oder einer Annahme beruht, kann nur durch jeweiUge sorgfältige Analyse festgestellt werden. Allerdings gibt es auch Fälle, wo es schwierig ist, zu entscheiden, ob ein Urteil oder eine Annahme vorliegt. Wie will man z. B. bestimmen, ob ein Hypnotisierter das, was man ihm sagt, dxnrch einen Urteils- oder Annahmeakt erfafst. Wir können nur vermuten, dafs dort, wo der Phantasie ein wesentlicher Anteil zukommt, wie etwa bei der posthypnotischen Halluzination, es auch bei der Phantasie- tätigkeit, d. i. dem Annehmen, sein Bewenden hat.

Wie ausgeführt worden ist, wird bei den Suggestionsvor- gängen ein Dasein oder Sosein durch Annahme oder Urteil er- fafst. Nun ist in dieser Beziehung noch ein Punkt, der bisher nicht berücksichtigt wurde, kurz zu besprechen.

So wie wir etwas als daseiend oder soseiend annehmen oder erurteilen können, so vermögen wir auch anzunehmen oder überzeugt zu sein, dafs etwas sein oder in bestimmter Weise sein wird. Im ersten Falle wird das betreffende Objektiv als

^ Dieser Fall wurde mir von dem betreffenden Arste selbst erzählt und von einem Augenzeugen bestätigt.

26*

404 Robert Saxinger.

gegenwärtig, im zweiten als zukünftig gedacht. Es fragt sich nun, ob auch der letztere Sachverhalt die Grundlage der Sug- gestion bilden kann. Ich meine, dafs die Frage unbedenklich zu bejahen ist. Man betrachte nur das schon oben erwähnte Beispiel, dafs einer auf suggestivem Wege ein bestimmtee Be- gehren erlangen möchte. Er kann nicht überzeugt sein, dies^ zu besitzen; aber er kann die Überzeugung haben, dafs sieh dasselbe einstellen werde. Und es ist nicht abzusehen, warum sich das ersehnte Begehren unter günstigen Bedingungen nidit auch bei dieser Sachlage sollte einstellen können. Besinnt man sich femer auf die Tatsachen der posthypnotischen Suggestion, so wird man die Möglichkeit nicht leugnen können, dafs bei der Suggestion auch Denkgegenstände von der Form „daEs A sm wird" vorkommen können.^

Indes dürfte es auch Fälle geben, wo die eigentliche psydio- logische Voraussetzung der Suggestion nicht ein sozusagen im Vordergrunde stehendes Urteilen ist, durch das das Objektiv „dafs A sein wird" erfafst wird, sondern eine hinzutretende An- nahme mit dem Objektiv „dals A ist" dem Suggestionsvorgang zugrunde liegt.' Wer z. B. glaubt, dafs etwas eintreten wird, pflegt sich häufig auch das, von dessen Eintritt er überzeugt ist, in der Phantasie als bereits vorhanden vorzuführen. Er malt sich im Geiste aus, wie es wäre, wenn das Erwartete schon da ist. Denkt sich nun derjenige, der sich durch Selbstsuggestion ein bestimmtes Begehren zu eigen machen möchte, in die Lage eines, der diese Begehrungsweise besitzt, hinein, nimmt er mit anderen Worten an, dafs er im Besitze dieses Begehrens sei, so liegt hier neben der Überzeugung, dafs sich das Begehren ein* stellen werde, auch ein Annahmeakt vor, durch welchen das betreffende Objektiv als gegenwärtig gedacht wird. Und es ist sehr wahrscheinlich, dafs nicht jenes Urteil« sondern die lebhafte Phantasietäügkeit den Suggestionsvorgang auslöst, als dessen Folge sich das gewünschte Begehren dann wirklich einstellt.

Auch die posthypnotische Suggestion gestattet diese Deutung. Die Behauptung, dafs sich entweder gleich nach dem Erwachen oder nach Ablauf einer festgesetzten Zeitstreckc ein bestimnites

^ Es ist nicht ausgeschlossen, dafs auch hei der posthyp. Sngg. Ohjektiv von der Fonn „dafs A ist" vorliegt Vgl S. 406. ' Dies gilt natürlich auch von Soseins-Ohjektiven.

Oefiihlssuggestian und Fhantanegefühl 405

Phänomen zeigen wird, wird von dem Hypnotisierten auch in diesem Falle mittels Aimahme oder Urteil akzeptiert werden. Aber mit Sicherheit läfst sich darüber nichts ausmachen, ob nicht die Versuchsperson in dem Monrente, wo das angekündigte Phänomen eintreten soll, an das Dasein des betreffenden Gegenstandes denkt und so nicht das ursprüngUche, auf zu- künftiges Sein gerichtete Annehmen oder Urteilen, sondern erst der naich Ablauf der normierten Zeit hinzutretende Denkakt die Grundlage des Suggestionsvorganges bildet.

Es möchte angezeigt sein, diese allgemeinen Ausführungen nicht zu beschUefsen, ohne auch die Bedeutung des Vorstellens im Bereiche der Suggestion mit einigen Worten gewürdigt zu haben. Wenn nachgewiesen wurde, dals bei der Suggestion das, was sich realisieren soll, vorerst durch Annahme oder Urteil ge- danklich erfafst werden mufs, so ist damit der Anteil der dem Vorstellen unter Umständen zukommt, keineswegs geleugnet; Amiahme xmd Urteil sind, was ihre Materie betrifft, in der Hegel auf Vorstellungen angewiesen und es ist häufig für das Zustande- kommen der Suggestion nicht gleichgültig, in welcher Weise das, was durch jene intellektuellen Akte erfafst wird, vorgestellt wird. Soll z. B. die Halluzinationsvorstellung einer Rose durch Suggestion erzeugt werden, so genügt hierzu nicht die blofse Wortvorstellimg, sondern es mufs in dem Hypnotisierten auch eine anschauliche Erinnerungsvorstellung von einer Rose erweckt werden. ^ Auch derjenige, dem etwa die Suggestion, sein Arm verharre in gestreckter Lage, erteilt wurde, wird sich vermutlich die Ge- strecktheit des Armes anschaulich vorstellen. Und so in vielen anderen Fällen. Die Anschaulichkeit der Vorstellungen ist also oft ein wichtiger Faktor bei der Suggestion und dürfte das, was man Suggestibüität nennt, zum Teile auf der Fähigkeit, sich die Dinge in der Phantasie anschauUch zu gestalten, beruhen.

§ 2. Was Gefühlssuggestion ist und was sie nicht ist.

Man hat sich vielfach daran gewöhnt, wie schon Ehbekpelb bemerkte, ' unter dem Schlagworte Suggestion Vorkommnisse zu- sammenzufassen, die in ganz andere Kapitel gehören. Es ist nicht

* Vgl. LöwENFBLD, „Der Hypnotismus", 8. 334.

Vgl. V. Ehbbnfels, „System der Werttheorie" I, S. 126.

406 Robert Saxinger.

ZU verwundem, wenn dies auch mit dem Begriffe Gefühlssuggestion geschieht und Oeschehnisse im Gebiete der Gefühle ohne innere Berechtigung unter diesen subsumiert werden. Besinnt man sich, dafs das Wesen der Suggestion darin besteht, dab etwas, weil es als wirklich gedacht wird, sich verwirklicht, so fällt es nicht schwer zu entscheiden, wann eine Gefühlssuggestion vor- liegt und wann nicht.

In den zahlreichen Berichten über Suggestionsexperimente begegnet man nicht selten der Anschauung, dafs ein Gefahl durch Suggestion erzeugt wird, wenn man ein intellektuelles Phänomen, welches erfahrungsgemäfs mit bestimmten Gefühlen verbunden ist, durch Suggestion hervorruft und sich dabei audi die zugeordnete Gefühlsregung einstellt. In solchen Fällen wird aber offenbar nicht das Gefühl, sondern das intellektuelle Er- lebnis, welches die psychologische Voraussetzung des betreffenden Gefühles bildet, suggeriert. Das Gefühl stellt sich auch ein, wenn dieses intellektuelle Phänomen auf anderem als suggestivem Wege ins Bewufstsein gehoben wird. Das also ist keine Gefühls- suggestion im eigentlichen Sinne des Wortes. Diese liegt auch nicht vor, wenn man eine hypnotisierte Versuchsperson veranlaTst, solche Körperstellungen einzunehmen, die im Leben das Vor- handensein gewisser Gefühlszustände äufserlich zu bekunden pflegen. Gibt man z. B. einem Hypnotisierten die Stellang eines Zornigen, so erweckt diese die Erinnerung an den Zustand des Zornes und damit gehen emotionale Regungen Hand in Hand.^ Weiter. Gefühlssuggestion ist auch nicht mit dem identisch, was man Gefühlsansteckung zu nennen pflegt. So wie z. B. die ansteckende Wirkung des Gähnens nicht auf einer Saggestion beruht, so liegt auch eine solche nicht vor, wenn etwa die heitere Stimmung eines Menschen infolge des persönlichen Verkehrs mit Menschen in gedrückter Stimmung in das Gegenteil umschlägt Wer einen anderen gähnen sieht, braucht nicht an eigenes Grähnen zu denken, um hierzu veranlafst zu werden. Es ist nicht nötig, anzunehmen oder zu glauben, dafs man gähnen wird: der be- treffende Vorgang vollzieht sich in der Regel ohne diese intellek- tuellen Akte. Und so pflegt auch der, der von den Gefühlen

^ Im Falle der Erinnerung an Gefühle des Zornes werden nicht Zorn- gefOhle selbst, sondern die entsprechenden Phantasiegefflhle ausgelöst Vgl. S. 411.

Qefühlssuggestion und Phantasiegefühl. 407

der Mitmenschen angesteckt wird, nicht anzunehmen oder über- zeugt zu sein, dafs sich der Gefühlszustand jener bei ihm ein- stellt. Wiederum tritt die Ansteckung ohne derartiges Denken ein. In beiden Fällen fehlt augenscheinUch gerade das Moment, um dessenwillen der Begriff Suggestion zu Recht besteht: nämlich die Realisierung eines Gedachten infolge dieses intellektuellen (Geschehens.

Von Gefühlssuggestion kann nur dann die Rede sein, wenn ein Denken an das Dasein oder Sosein eines Gefühles vorliegt und der gedachte Gefühlszustand sich realisiert, weil er als wirklich gedacht wird. ^ Alle Fälle der Gefühlssuggestion lassen sich demnach auf folgende zwei Typen zurückführen:

a) Ein intellektuelles Phänomen (Vorstellung, Annahme oder Urteil) war bisher von dem Gefühl, welches durch Suggestion hervorgerufen wird, nicht begleitet, bzw. das mit jenem verbun- dene Gefühl wird ausgelöscht; b) ein mit einem intellektuellen Phänomen gewöhnlich auftretendes Gefühl erleidet durch Suggestion eine Veränderung.

Wie es zugeht, dafs Gefühle durch Suggestion erzeugt, ver- ändert und zum Verschwinden gebracht werden können, wissen wir nicht. Aber es unterliegt keinem Zweifel, dafs es so ist. Da nun die Entstehung und Veränderung, sowie das Vergehen der Gefühle im wesentlichen auf dispositionellen Vorgängen beruht, so bedeutet die Suggestion im Bereiche der Gefühle einen direkten Eingriff in die Gefühlsdispositionen eines Menschen. Durch Sug- gestion werden also Dispositionen zu Gefühlen neu geschaffen, verändert und vernichtet. *

Hierzu eine Bemerkung. Die Suggestionspraxis hat nämlich ergeben, dafs, wenn man einen vorhandenen Gefühlszustand be- seitigen will, das Suggerieren des entgegengesetzten Gefühles viel sicherer zum Ziele führt, als die Suggestion, dafs der betreffende Gefühlszustand nicht da sei. Möchte man z. B. eine bestehende Neigung, etwa zu übermäfsigem Rauchen oder Trinken, durch Suggestion beseitigen, so pflegt man nicht das Nichtdasein der Lust, die an jene Handlungen geknüpft ist, sondern das Dasein von Unlust zu suggerieren. Oder wer sich durch Autosuggestion

^ Selbstverständlich sind auch hier die kontradiktorischen Gegenteile dieser Objektive, Nicht^Sein und Nicht-Dasein mitinbegriffen.

* Über den Begriff der Gefühlsdisposition siehe den letzten Paragraph.

408 Bobert Saxinger.

von einer gedrückten (Unlust) Stimmung befreien wiU, wird dies rascher erreichen, wenn er sich in der Phantasie in eine heitere Qemütelage versetzt, als wie wenn er annimmt, jene trübe Stim- mung sei nicht vorhanden. In derartigen Fällen werden offenbar Gefühlsdispositionen neubegründet. Denn mit den betreffenden intellektuellen Geschehnissen, welchen bisher die durch Suggestion bekämpften Gefühle zugeordnet waren, treten nun gerade Ge- fühle von entgegengesetzter Qualität auf und das Erleben eines Lustgefühles setzt eine andere Disposition voraus als das eines Unlustgefühles. Was geschieht aber mit den Dispositionen der wegsuggerierten Gefühle? Die Erfahrung zeigt, dafs die sugge- rierten Gefühle in der Regel nicht von Dauer sind und mit dem Schwinden dieser die ursprüngUchen Gefühle wieder aufleben. Durch die auf suggestivem Wege erfolgte Neubegründung einer Gefühlsdisposition wird also die Fähigkeit zum Erleben der früheren Gefühle mit entgegengesetzten Vorzeichen in den meisten Fällen nicht gänzlich aufgehoben. Es findet vielmehr nur eine zeitliche Herabsetzung der betreffenden Gefühlsdispositionen statt. Immer- hin ist 6S aber auch möglich, dafs fortgesetzte entsprechende suggestive Behandlung schliefslich zur Vernichtung einer Ge- fühlsdisposition führt. In der Praxis sind auch solche Fälle be- obachtet worden.

Wenn unter gewissen Umständen, wie oben angedeutet wurde, durch Suggestion in unser Gefühlsleben auch dauernd eingegriffen werden kann, so könnte vielleicht die Ansicht Plats greifen, dafs die Suggestion das einfachste Mittel sei, um unseren Charakter, dessen Eigenart nicht zum wenigsten durch unseie Gefühlsdispositionen bestimmt wird, nach Belieben umzuge- stalten. Es fehlt in der Tat auch nicht an Vertretern dieser Anschauungsweise.^ Indes bei näherer Betrachtung mnfs man doch sagen, dafs die Dinge hier nicht so einfach liegen, eis man fürs erste meinen möchte.

Die Möglichkeit auf alle Gefühle suggestiv einzuwirken» ist im allgemeinen freilich nicht in Abrede zu stellen; aber eine Norm, welchen Gefühlen in dieser Beziehung eine Vorzugs- stellung zukommt, läfst sich infolge der Verschiedenheit der individuellen Veranlagungen der Menschen nicht aufstellen.

^ Vgl. Lewy, „Die natürliche Willensbildung"; Übersetzung von M. Bhahn.

Oefühlssxtggestion und Phantasiegefühl. 409

Sicher ist nur, dafs oberflächliche Gefühlswellen der Suggestion in der Regel leichter zugänglich sind als tief eingewurzelte Grefühle. Auf Gefühle der letzteren Art kann häufig überhaupt nur durch hypnotische Fremdsuggestion eingewirkt werden. Und bedenkt man, dafs nicht jeder hypnotisieren und nur ein gewisser Prozentsatz der Menschen der Hypnose unterworfen werden kann, so leuchtet ein, dafs darin eine bedeutsame Einschränkung der Beeinflussung unseres Gefühlslebens durch Suggestion liegt. Der gangbarste und allen zugängliche Weg, seiner Gefühle Herr zu werden, wäre also die Selbstsuggestion. Aber gerade diese birgt im Bereiche der Gefühle Schwierigkeiten in sich, die zu überwinden nicht jedermanns Sache ist. Vorstellungen und Gedankenkreise, die von intensiven oder anhaltenden Gefühlen begleitet sind, besitzen die Tendenz im Bewufstsein öfters auf- zutreten und daselbst zu beharren.^ Will man nun z. B. Unlust- gefühle dadurch beseitigen, dafs man sich im Gedanken in einen lustvollen Zustand versetzt (annimmt, dafs man Lust erlebe), so mufs man natürlich zuerst jene im Bewufstsein vorwiegenden Vorstellungen und Gedanken, die die Unlustgefühle mit sich führen, verdrängen und das ist nicht immer eine leichte Arbeit. Beharrlichkeit und fortgesetzte Übung in der Konzentration der Gedanken vermag hier ohne Zweifel viel zu leisten. Selbst- suggestion kann so wirklich zur Umbildung unseres Gefühls- lebens in bestimmter Richtung und mithin auch zur teilweisen Änderung gewisser Charaktereigentümlichkeiten führen. Indes dies wird nur dann möglich sein, wenn die Bedingungen günstige sind und den bekämpften Gefühlen nicht immer wieder neue Nahrung zugeführt wird. Wo etwa das Leben eines Menschen unter dem Zeichen der Unlust steht, weil äufsere, ihm aufge- zwungene Verhältnisse nach seiner Veranlagung notwendig fort- währenden Anlafs zu tieferen Unlustregungen geben, da wird auch die Selbstsuggestion nichts oder günstigsten Falles nur weniges zu leisten vermögen. Das, was heute mühsam aufgebaut wurde, wird morgen durch die Tageseindrücke wieder nieder- gerissen. In solchen Fällen kann nur Zeit und Gewöhnung aus- gleichend wirken.

^ Vgl. meine Arbeit: „Über den Einflufs der Gefühle auf die Vor- stellungsbewegnng". Zeitschr. f. Psychologie u. Physiologie d. Sinnesorgane 27, S. 26 ff.

410 Bohert Saxinger.

§ 3. Die Bedeutung des Phantasiegefübles für die GefühlsBUggestioD.

Wie erwähnt, ist das Vorstellen an den Suggestionsvor- gängen insofern beteiligt, als die Gegenstände des Annehmens und Urteilens in der Regel mit Hilfe von Vorstellungen in den Inhalt dieser intellektuellen Akte eingehen.^ Es fragt sich nun, wie es in dieser Beziehung bei der G^ftihlssuggestion steht. Haben wir überhaupt Vorstellungen und insbesondere anschauliche Vor- stellungen von Gefühlen?

Da es ohne Zweifel Erinnerung an erlebte Lust und Unlust gibt, so wird man vielleicht geneigt sein, diese Frage ohne weiteres zu bejahen. Indessen dürfte die Zuversichtlichkeit, mit der man aus der Tatsache der Erinnerung an Gefühle auf die Existenz von Vorstellungen, genauer Phantasievorstellungen von Gefühlen schliefst, doch einigermafsen durch die Besinnung ins Wanken geraten, dafs es Fälle der Erinnerung an Gefühle gibt, wo Erinnerungsvorstellungen von solchen eicht vorliegen können, weil die Voraussetzung hierzu, die Wahmehmungsvor- Stellungen fehlen. Gefühle nämlich, deren man sich, während man sie erlebt, bewufst ist, auf die sich also ein Akt der inneren Wahrnehmung richtet, brauchen nicht vorgestellt zu werden, da sie wie andere innere Erlebnisse direkt in den Urteilsinhalt ein- gehen.^ Ähnlich verhält es sich bei jenen Gefühlen, deren man sich während des Erlebens nicht bewufst war, die eben einfach erlebt wurden. Auch solche Gefühle werden zur Zeit des Er- lebens nicht vorgestellt und trotzdem vermag man sich ihrer zu erinnern. In beiden Fällen kann sich demnach die Erinnerung nicht auf Erinnerungsvorstellungen von Gefühlen stützen. Dafe die Erinnerung an ein Gefühl zum wesenthchsten selbst wieder im Erleben eines solchen Gefühles bestehe, wird im Ernste auch kaum behauptet werden können. Was also liegt im Falle der Erinnerung an ein Gefühl vor?

Die heutige Psychologie verfügt nach Meinono über die Mittel diese Frage zu lösen. Analog wie den Urteilen Annahmen

* Vgl. oben S. 405. Von einer Ausnahme wird gleich unten die Rede sein.

* Vgl. Meinong, „Über die Erfahrungsgrundlagen unseres Wissens^. Abhandlungen ssur Didaktik u. Philosophie der Naturwissenschaft, Bd. I, H. 6, S. 75 (1906).

Gefühksuggestian und Phantasiegefühl 411

(Phantasieurteile) zugeordnet sind, so den wirklichen Gefühlen Phantasiegefühle. Diese sind keine Vorstellungen von Gefühlen, aber auch nicht wirkliche Gefühle. Sie sind Tatsachen sui generis, die als solche, um ein räumliches Bild zu gebrauchen, in der Mitte zwischen Vorstellungen und Gefühlen stehen. Die Phantasiegefühle sind, wie die innere Erfahrung lehrt, zwar gefühlsartige, aber dennoch durchwegs eigenartige innere Erleb- nisse.^ Diese stellen sich ein, wenn wir uns an erlebte Gefühle erinnern.*

Ist das richtig, dann sind wir auch in der Lage zu sagen, wie es zugeht, wenn wir erwartete Gefühle antizipieren, oder uns überhaupt Gefühle, die wir nicht besitzen, vergegenwärtigen. Auch in diesen Fällen haben wir keine Vorstellungen von Gefühlen, sondern an ihre Stelle treten Phantasiegefühle, mittels derer wir uns so wie bei der Erinnerung an Gefühle ein unter Umständen recht anschauUches Bild der betreffenden Gefühle zu entwerfen vermögen. Die Ansicht, dafs wenigstens an- schauliche Vorstellungen von Gefühlen im psychischen Lieben des Menschen überhaupt nicht vorkommen, entbehrt mithin nicht der Erfahrungsgrundlage. Soviel zur oben aufgeworfenen Frage, ob es Vorstelltmgen von Gefühlen gibt*

Die Bedeutung der Phantasiegefühle für die Gefühlssuggestion ergibt sich ohne weiteres aus dem Dargelegten. So wie z. B. zur Entstehung einer posthypnotischen Halluzinationsvorstellung eine diesbezügliche Phantasievorstellung notwendig ist, so ist die Bedingung zur Erzeugung eines Gefühlszustandes auf suggestivem Wege ein Phantasiegefühl. Soll sich ein gedachter Gefühlszustand, weil er als wirklich gedacht wird, reaUsieren, so mufs er in Form eines Phantasiegefühles antizipiert werden und wo dieses sich nicht in entsprechender Weise einstellt, da wird sich auch jener Gefühlszustand nicht verwirklichen. Das, was anderweitig die Phantasievorstellungen und insbesondere an-

^ Vgl. Meinong, nti^ber Annahmen*', S. 233 ff. Die Ansicht, dafs die Phantasiegefahle Tatsachen sui generis sind, wird von E. Dürb bestritten. Die von diesem erhobenen Einwendungen werden im § 4 besprochen.

' Vgl. Mkinong, „Über die Erfahrungsgrundlagen unseres Wissens", S.76.

'. Es würde den Bahmen dieser Arbeit Oberschreiten, näher auf dieses Thema einzugehen. Die Möglichkeit der Bildung abstrakter Vor- stellungen an GefOhlen ist zuzugeben (alle Begriffe von Gefühlen sind solche Vorstellungen).

412 Bobert Saxinger.

ßchauliche bei der Suggestion leisten, das leisten die Phantasie- gefühle im Bereiche der Gefühlssuggestion.

Zwei Fragen sind nun noch kurz zu erörtern. Die erste b^ trifft die von Ehaeneei^s aufgestellte Behauptung, dafs dn heftiges Begehren nach einer bestimmten Gefühlsweise diese bei bildsamen Charakteren tatsächlich hervorzubringen vermöge ^ die zweite die Möglichkeit der Einwirkung auf Phantasiegefühle durch Suggestion.

Ist die eben angeführte Ansicht Ehbenfels zutreffend, dann könnte man versuchen, jene Fälle der Selbstsuggestion, wo jemand dadurch einen bestimmten Gefühlszustand herbeiführen will, dafs er das Vorhandensein dieses bejaht (annimmt), als ein- fache Begehrungsfälle zu deuten. Wer begehrt, begehrt etwas und dieses etwas ist allemal ein Dasein oder Sosein, das durch eine Annahme erfafst wird.* Das gilt natürlich auch von dem auf eine gewisse Gefühlsweise gerichteten Begehren. Es ist er- sichtlich, dafs die Sachlage im Falle des einfachen Begehrens nach einer bestimmten Grefühlsweise und in dem der beab- sichtigten Selbstsuggestion in betreff eines Gefühles ziemlieh gleich ist. Hier wie dort liegt ein Annehmen des nicht vor- handenen Gefühlszustandes, sowie ein auf das Eintreten di^er Gefühlsweise gerichtetes Begehren vor. Im letzteren Falle kommt nur noch das ausdrückliche Wollen des Mittels zur Erreichung des Zieles, nämlich des suggestiven Weges hinzu. Immerhin ist die Ähnlichkeit der beiden Fälle grofs genug, um der Auffassung Ehbentels' eine gewisse Stütze zu gewähren. Indes, wenn man bedenkt, dafs anderweitig das Begehren das Zustandekommen der Suggestion zwar begünstigen kann, keineswegs aber ein konstitutives Moment derselben büdet, so wird man auch der Vermutung Raum geben dürfen, dafs bei der beabsichtigten Selbstsuggestion eines Gefühles, die Entstehung des als wirklich gedachten Gefühlszustandes nicht auf Rechnung des Begehrens zu stellen ist, sondern auf einem Suggestionsvorgang beruht' Und nichts hindert uns eben mit Rücksicht auf die Ähnlichkeit

* Vgl. V. Ehrenvels, „System der Werttheorie'* I, S. 122.

* Vgl. Mbinong, „Über Annahmen*', S. 209.

' £s sei hier daran erinnert, dafs der hypnotische Schlaf durch Suggestion auch gegen den Willen des Betreffenden hervorgebracht werden kann. Vgl. Löwenfeld, „Der Hypnotismus", S. 89 und Fobel, „Der Hypno- tismus", 3. Aufl., S. 38.

OefiikUsuggestion und PhantasiegefüM. 413

d^ Sachverhaltes umgekehrt dort, wo sich infolge eines ein- fachen Begehrens nach einer Gefühlsweise diese wirklich einstellt, einen Snggestionsfall zu erblicken. Diese Auffassung erscheint um so wahrscheinlicher, als ja auch der einfach begehrte Geftihls- zustand von dem Begehrenden mittels eines Phantasiegefühls antizipiert wird. Denkt sich der Begehrende, was bei leiden- schaftlichen Charakteren zweifellos vorkommen mag, intensiv in die begehrte Gefühlsweise hinein, so wird sich auch hier das intellektuell Erfafste, weil es als daseiend gedacht wurde, reali- sieren. Nicht das Begehren nach einer Giefühlsweise, sondern der gleichzeitig ausgelöste Suggestionsvorgang führt zur Ver- wirklichung des begehrten Gefühls.

Was mm die Frage, ob die Phantasiegefühle durch Suggestion beeiuflufsbar sind, anbelangt, so ist vor allem zu betonen, dafs wir in dieser Beziehung dermalen lediglich auf Mutmafsungen angewiesen sind. Auf die Erfahrung kann man sich da nicht berufen, weil beweiskräftige und ausreichende Versuche über das Verhalten der Phantasiegefühle zur Suggestion noch nicht gemacht worden sind.^ Die Theorie der Phantasiegefühle ist noch zu jung, als dafs diese psychischen Erlebnisse bei den bis- herigen Suggestionsversuchen hätten schon berücksichtigt werden können. Aber auch die Versuche selbst stofsen insofern auf Schwierigkeiten, als es zum Gelingen derselben notwendig ist, dafs die Versuchsperson über die Eigenart der Phantasiegefühle einigermafsen orientiert ist. Wo dies nicht der Fall ist, sind Mifsverständnisse und Verwechslungen der Phantasiegefühle mit den eigentlichen Gefühlen kaum auszuschliefsen und ist ein sicheres Ergebnis der Versuche nicht zu erwarten.

Wie wir gesehen haben, bilden bei der Gefühlssuggestion die Phantasiegefühle, indem sie uns die Vorführung der ge- dachten Gefühle in der Phantasie in anschaulicher Weise er- möglichen, gleichsam die Brücke zur Entstehung der eigentlichen Gefühle. Damit nun Phantasiegefühle durch Suggestion erzeugt werden könnten, müfste es etwas geben, das uns wieder von den Phantasiegefühlen ein anschauliches Bild in der Phantasie vermittelte. Weil dies aber nicht der Fall ist, so leuchtet ein.

^ Vgl. meinen Aufsatz: „Über die Natur der Phantasiegefüble und Phaniasiebegehrungen", in den von Mbivong herausgegebenen „Unter- suchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie", S. 679—606.

414 Bobtrt Saadnger.

dafs eben ein Phantasiegefühl durch Suggestion nicht erzeugt werden kann. Das gleiche gilt auch von der Möglichkeit der Veränderung eines Phantasiegeftthls durch Suggestion. Auch da müfste uns wieder etwas gegeben sein, was uns das zu ver- ändernde Phantasiegefühl in der Form, in der es sich einstellen sollte, anschauUch zu antizipieren gestattete. Im grofsen und ganzen steht bekanntlich die Sache auch bei den Phantasievor- stellungen so. Diese bilden den Ausgangspunkt für die Sug- gestionsvorgänge; aber man kann diesen Ausgangspunkt selbst nicht wieder durch Suggestion erzeugen. Anders dagegen liegen die Dinge hinsichtlich des Auslöschens von Phantasiegefühlen durch Suggestion. Analog wie eine Phantasievorstellung durch Suggestion aus dem BewuTstsein ausgeschaltet werden kann, so ist es auch prinzipiell möglich, dafs das Annehmen oder Be- haupten des Nichtdaseins eines Phantasiegefühls, sofern dabei ein Suggestionsvorgang ausgelöst wird, dieses zum Verschwinden zu bringen vermag.

§ 4. Eine Entgegnung.

In einem den „Untersuchungen zur Gegenstandstheorie und Psychologie" ^ gewidmeten Artikel nimmt Dübb auch zu meinem Aufsatze „Über die Natur der Phantasiegefühle und Phantasie- begehrungen" • Stellung. Die von diesem vorgebrachten Ein- wendungen sollen nun, soweit sie die Phantasiegefühle betreffen, im folgenden besprochen werden.

In der erwähnten Arbeit suchte ich zu zeigen, dafs die Phantasiegefühle nicht in der gleichen Weise wie die eigent- lichen Gefühle gewissen Gesetzmäfsigkeiten unterliegen. Und in dieser Beziehung schienen mir insbesondere zwei Tatsachen, nämlich die Gefühlsabstumpfung und die Beeinflussung der Ge- fühlsdispositionen durch aktuelle Gefühle Beachtung zu ver- dienen. Was zunächst die Tatsache der Gefühlsabstumpfang anbelangt, so vermifst DiiBB eine sorgfältige Analyse dieses Be- griffes und meint, dafs meine Definition der Gefühlsabstumpfang, als eine in der Natur der Gefühldisposition begründete Dis- positionsherabsetzung kaum für eine befriedigende Erklärung

^ Herausgeg. von A. Msinonq (1904). Vgl. oben Anmerkung 1, S. 413L ' Göttingische gelehrte Anzeigen. Januar 1906. I, S. 14—69. Vgl. oben Anmerkung 1, S. 413.

QefüfUasuggestion und Phantasiegefühl. 415

angesehen werden könne. ^ Demgegenüber möchte ich vor allem bemerken, dafs denn doch der Begriff der Gefühlsabstumpfung zu den bekanntesten gehört nnd kein Zweifel darüber besteht, welche Erscheinung des Gefühlslebens damit bezeichnet wird.* Ich durfte mich also wohl einer Analyse dieses Begriffes ent« schlagen. Zudem habe ich meine Definition nicht blofs auf- gestellt, sondern ich suchte sie auch durch das Gleichnis vom Energieverbrauch und Energievermehrung deuthch zu machen.^ Es ist also ersichtlich, dafs die DüsBsche Einwendung eigentlich gegen die Heranziehung des Begriffes der Gefühlsdisposition überhaupt gerichtet ist.

Die Dispositionen sind allerdings ein für allemal unserer inneren Wahrnehmung entzogen ; indes das hindert nicht, einiges über dieselben auszusagen. So wie wir zu den physischen Tat^ Sachen, um den Kausalzusammenhang zu verstehen, Teilbe- dingungen, die wir nicht wahrnehmen, hinzudenken und aus den Veränderungen jener auf Veränderungen in der Ursache schliefsen, so müssen wir auch, um das psychische Geschehen kausal zu begreifen, Teilbedingungen annehmen und aus den Veränderungen der psychischen Tatsachen auf solche in den Teilbedingungen zurückschliefsen. Dies gilt auch insofern von den Gefühlen, als von Gefühlsdispositionen ebenfalls nur im Hin- blick auf gewisse Teilbedingungen der Gefühle die Rede ist. Den Dispositionsgedanken im Bereiche der Gefühle versuchte ich bereits an anderer Stelle möglichst genau zu formulieren.* Ich könnte mich daher begnügen, hier darauf zu verweisen. Indes möchte es für den Zusammenhang doch förderlich sein, das Wesentlichste nochmals anzuführen.

Jedes eigentUche Gefühl bezieht sich auf einen Gegenstand, der zugleich Gegenstand einer Vorstellung ist und entweder durch diese, oder falls sich an den Inhalt der Vorstellung ein Urteil anschliefst, durch letzteres erfafst wird. Vorstellungen oder Urteile sind somit die psychologische Voraussetzung der eigentlichen Gefühle. Da sich ein bestimmtes Gefühl erfahrungs- gemäfs immer nur dann einstellt, wenn seine psychologische

* Göttingische gelehrte Anzeigen, S. 63.

* HöFLERy Psychologie, S. 413.

» Über die Natur der Phantasiegefflhle usw., 8. 587.

* Vgl. „Über den Einflufe der Gefühle auf die Vorstellungsbewegung**, ZeiUchr. f. Fiyehol 27 (1 u. 2), S. 24ft.

416 Bober i Saxinger.

Voraussetzung gegeben ist, so ist diese eben eine Teilbedingong des Auftretens jenes. Nun vermag aber weder eine VorsteUung noch ein Urteil ein Gefühl auszulösen, wenn das betreffende Subjekt nicht die Eigenschaft besitzt, auf gewisse VorsteUungen oder Urteile mit Gefühlsreaktionen zu antworten. Diese Eligen- schaft (Disposition) ist also die zweite Teilbedingung für das Zustandekommen eines Gefühls. Die Vorstellung oder das Urteil, mit dessen Gegebensein ein Gefühl verknüpft ist, be- zeichnet man als Dispositionserreger, das Gefühl als Dispositions- korrelat.

Wenn wir nun bemerken, dafs dem gleichen Dispositions- erreger zu verschiedenen Zeiten verschiedene Grefühlsregungen zugeordnet sind und die letzteren unter Umständen auch aus- bleiben, so dürfen wir aus diesen Veränderungen auf Seite des Dispositionskorrelates auf solche in den Dispositionen schliefsen. Ähnliches gilt auch dann, wenn sich mit Vorstellungen oder Urteilen, an welche bisher kein Gefühl geknüpft war, Gefühle einstellen. Auch in diesen Fällen dürfen wir eine Veränderung im Bestände unserer Gefühlsdispositionen vermuten. Die Schwan- kungen, denen unser Gefühlsleben unterworfen ist, sind ein Zeichen, dafs Gefühlsdispositionen durch irgendwelche Momente begründet, gekräftigt, herabgesetzt oder aufgehoben wurden.

Ehbenfels führt in seinen werttheoretischen Untersuchungen eine Reihe von Faktoren an, welche auf Gefühlsdispositionen verändernd einwirken.* Heben wir von diesen die Suggestion, das Begehren und die Gewohnheit heraus und fügen wir noch die von aktuellen Gefühlen ausgehende Einwirkung hinzu, so ist ersichtlich, dafs die Veränderungen, die Gefühlsdispositionen beim Begehren, bei der Suggestion und beim Vorhandensein aktueller Gefühle erleiden, durch das Hereinwirken hinzutretender psychischer Geschehnisse, welche nicht zum Dispositionserreger gehören, erfolgt. Betrachtet man dagegen die Fälle der Ge- wohnheit, so zeigt sich, dafs da die Gefühlsdispositionen ledig- lich infolge der durch das wiederholte Auftreten bzw. durch das dauernde Verweilen des Dispositionserregers im Bewufstsein be- dingten Aktualisierungen und nicht durch aufserhalb des Dis- positionserregers stehende Faktoren oder anderweitige Momente eine Einbufse erleiden. Nun versteht man unter Gefühls-

* Vgl. V. Ehrenpbls, System der Werttheorie I, S. 120 ff

Gefüklssuggestian und FhantasiegtfühL 417

abstumpfaBg nichts anderes als das erfahrungsmärsige Schwächer- werden eines Gefühls, wenn das intellektuelle Erlebnis (Dis- positionserreger), welches das Gefühl hervorruft, länger dauert oder wiederholt eintritt.* Wenn ich somit die Gefühlsabstumpfung als eine in der Natur der Gefühlsdispositionen liegende Dis- positionsherabsetzung bezeichnete, so ist damit eben die Tatsache gemeint, dafs die mit dem Auftreten eines Dispositionserregers verbundene öftere oder dauernde Inanspruchnahme einer Ge- fühlsdisposition allein genügt, um diese herabzusetzen.

Aus dem Gesagten erhellt auch zugleich, dafs es eine Ge- fühlsabstumpfung nicht nur, wie Dübe glaubt, bei kontinuierlicher Wirksamkeit der Gefühlsgrundlage gibt, sondern diese auch bei wiederholtem Auftreten des Grefühlserregers vorkommt Wäre die DüRKsche Ansicht richtig, dann wären alle Urteilsgefühle von der Gefühlsabstumpfung ausgeschlossen. Denn die Kontinuität der Gefühlsgrundlage ist zwar bei sinnlichen Gefühlen möglich, nicht aber bei Urteilsgefühlen. Ein Urteil kann wiederholt und rasch nacheinander gefällt werden, aber es bleibt nicht dauernd bestehen. Die Erfahrung zeigt auch allerorts, dafs sich die Urteils- gefühle tatsächlich abstumpfen und genügt in dieser Beziehung wcAl der EUnweis auf die Tatsache der Abschwächung der Un- wert- und Wertgefühle durch Gewohnheit. Man gewöhnt sich bekanntlich an lustbringenden Besitz ebenso wie an schmerz- lichen Vt^rlust. Nun kommen allerdings Gefühle und insbeson- dere Urteilsgefühle vor, welche anscheinend der Abstumpfung nicht unterliegen. Wenn man aber bedenkt, dafs es nicht blofs Faktoren gibt, welche auf Gefühlsdispositionen kräftigend ein- wirken, die Abstumpfung also aufhalten, sondern auch solche.

* Vgl. V. Ehbbkfels, System der Werttheorie I, 8. 120. ' Gott, gelehrte Anz. 8. 64. Vgl. dazu LBHMAinf, „Die Hauptgesetze des menschUchen Gefühlslebens", 8. 192, § 252. Daselbst heilst es: ,,Die £r- fahmng lehrt, dafs ein Gefflhl nicht nur dann abgestumpft werden kann, wenn die betonte VorsteUung fortwährend im Bewufstsein waltet, sondern sach, wenn sie stets wieder auftaucht . . .*' LEHUAim führt die Abstumpfung der Gefühle auf eine Verminderung der 8t&rke der betonten Vorstellung bzw. auf eine Ablenkung der Aufmerksamkeit von dem Vorstellungsinhalte und auf das Auftauchen fremder betonter Zustände zurück (8. 189, § 248 XX, 8. 194, § 263). Die von ihm angeführten Faktoren machen sich zweifellos in vielen Fällen geltend; aber sie machen nicht das Phänomen der Ab- stumpfung aus, sie begünstigen nur die Herabsetzung der zugrundeliegenden Gefühlsdispositionen.

Zeitsebrlft fOr Psychologie 46. 27

^ I

418 Robert Saxinger.

die die Gefüblsdiepositionen schwächen, die Abstumpfung mithin beschleunigen, so kann man aus derartigen Fällen kein Argument gegen die These, dafs alle Gefühle der Abstumpfung unterliegen, ableiten.^ Wo eine Abstumpfung der Gefühle scheinbar nicht vorliegt, da wird diese durch anderweitige Momente sozusagen verschleiert und es ist Sache einer genauen Analyse, im einzelnen Falle die aus anderen Quellen herstammenden Einflüsse aus- zusondern. Soviel zur Rechtfertigung der aufgestellten Definition der Gefühlsabstumpfimg.

Was nun die Beweisführung, dafs die Phantasiegefühle nicht wie die eigentlichen Gefühle der Abstumpfung unterworfen sind, anbelangt, so mufs ich auf das in meinem Aufsatze angeführte Beispiel, dafs der Gedanke „ein durch den Tod entrissener Lebens- gefährte lebe noch" seinen Lustcharakter beibehalte, während das Trauergefühl über den Verlust die Spuren der Abstumpfung auf- weise, zurückkommen.^ Dürr will diesem Beispiele nur unter der Voraussetzung Beweiskraft zuerkennen, dafs die betreffende Annahme öfters gemacht wurde. Er meint, dafs diese Bedingung von mir keineswegs als erfüllt vorausgesetzt worden und auch nicht als selbstverständlich anzunehmen sei; vielmehr sei ein seltenes Auftreten der Annahme „der Freund lebe noch" wahr- scheinlich. ^

Die Forderung Dübrs hinsichtlich des öfteren Auftretens der betreffenden Annahme ist davon abgesehen, daf» sie mit seinem Standpunkte, nach welchem eine Gefühlsabstumpfung nnr bei kontinuierlicher Wirksamkeit der Gefühlsgrundlage vorkommen soll, nicht gut vereinbar ist zweifellos begründet. Dürr ist aber im Irrtum, wenn er glaubt, dafs ich diese Bedingung nicht als erfüllt vorausgesetzt habe. Denn zur Erfahrung, dafs sich der Lustcharakter des Gedankens „der Lebensgefährte lebe noch* forterhalte, während sich das Trauergefühl abgeschwächt zeige, kann man wohl nicht anders gelangen, als dafs man die bezüg- liche Annahme öfters macht. Ich glaubte also hier ein Mils- verständnis nicht befürchten zu sollen und von der Anführung des ümstandes des wiederholten Auftretens der Annahme üm-

^ Vgl. hierzu, was ich in dieser Beziehung im Aufsätze: „Über die Natur der Phantasiegefahle und Phantasiebegehrungen*' sagte. S. öS7 und 589.

« Vgl. Über die Natur der Phantasiegefühle, S. 588.

« Vgl. Gott, gelehrte Anz. S. 63.

OefühUsuggeation und Pkantaaiegefühl 419

gang nehmen zu können. Im übrigen habe ich bei der An- führang eines zweiten einschlägigen Beispieles ausdrücklich ge- sagt: „Das Sichhineindenken in die damalige Situation trägt immer ein unlustartiges Gepräge an sich/' Dies ist wohl nicht anders zu verstehen, als dafs ein öfteres Auftreten der betreffen- den Annahme stattgefunden hat.^

Ein weiterer Irrtum Dübbs scheint mir der zu sein, dafs er in den Phantasiegefühlen durchwegs emotionale Erscheinungen von geringer Intensität erblickt und demgemäfs auch das die Annahme „der Freund lebe noch^ begleitende Phantasiegefühl als eine schwache emotionale Regung ansieht. Da nun an schwachen Gefühlen die Abstumpfung weniger merklich ist als an lebhaften, so hätte ich, wie Dübb meint, nur nachgewiesen, dafs die Ge- fühle, welche die Annahme des Nichteintretens (genauer Nicht* eingetretenseins) eines bestimmten Ereignisses begleiten und die Gefühle, welche dem Urteile über das Eintreten (genauer ge- schehene Eintreten) des Ereignisses anhaften, im Laufe der Zeit eine immer kleinere Intensitätsdifferenz aufweisen.^ Unter dieser Voraussetzung wäre das angezogene Beispiel allerdings lediglich eine Bestätigung der Auffassung, dafs stärkere Gefühle im Laufe der Zeit einen gröfseren Intensitätsverlust erleiden als schwächere. Indes gerade die von Dübb gemachte Voraussetzung trifft nicht zu. Weder die für die Lehre von den Phantasiegefühlen grund- legenden Untersuchungen Meinongs, noch das, was anderweitig über diese gesagt worden ist, gewähren Anhaltspunkte für die Ansicht, dafs die Phantasiegefühle nur schwache psychische Ge- schehnisse sind. * Die innere Wahrnehmung zeigt vielmehr, dafs diesen unter Umständen eine ziemlich hohe Intensität zukommen kann. Dies gilt auch von Phantasiegefühlen, die Gedanken von der Art „der Lebensgefährte lebe noch" begleiten und meine ich, dafs das dieser Annahme zugeordnete Phantasiegefühl an Leb- haftigkeit nichts zu wünschen übrig läfst. Die Abstumpfung

» Vgl. Über die Natur der Phantasiegefühle, S. 58a

» Vgl. Gott, gelehrte Anz. 8. 63.

Vgl. Meinong, „Über Annahmen", S. 233 ff.; Witaskk, „Grundzüge der allgemeinen Ästhetik"; meine Aufsätze, „Über die Natur der Phantasio- gefühle u. Phantasiebegehrungen" u. ^^Beiträge zur emotionalen Phantasie", Zeitschrift f. Fsychol 40, 8. 146; und Schwabz, „Über Phantasiegefühle", Archiv f. syst Philos, 11 (4) u. 12 (1). (Die beiden letztgenannten Arbeiten sind später erschienen.)

27*

420 Robert Saxmger,

dieser emotionalen Regung raüfste also ebenso merklioh sein, wie die des Trauergefühles, das an das Urteil, der Freund ist nicht mehr unter den Leb^iden, geknüpft ist. Die Erfahrung zeigt aber, dafs jene emotionale Erscheinung im Vergleiche za dieser im Laufe der Zeit nicht merklich an Intensität Teriiert und so die Intensitätsdifferenz zwischen beiden immer gröiser wird. Diese Tatsache läfst sich nun wohl kaum anders deuten, als daTs sich die Phantasiegefühle nicht oder wenigstens nicht in der Weise wie die eigentlichen Gefühle abstumpfen. Es möchte nicht überflüssig sein, zugunsten dieser Ansicht hier insbesondere auf das Verhalten der den W^ eines Existierenden konstitaieren- den Komponenten hinzuweisen. Der Wert eines Existierenden wird durch die Daseinsfreude und durch das Nichtdaseinsleid bestimmt.^ Die Beobachtung zeigt, dafs sich die Freude über den Besitz eines Gegenstandes allmählich abstumpft, die Unlust- r^ung, die man bei dem Gedanken an das Nichtdasein des be- treffenden Gegenstandes verspürt, sich dagegen auch im Laufe der Zeit nicht oder doch sicher nicht so wie die Freude ab- schwächt. Dieses Nichtdaseinsleid ist aber, weil das Nichtdas^ des Gegenstandes durch eine Annahme erfaTst werden mufs, nidit wie die Freude über den Besitz ein Urteilsgefühl, sondern ein Phantasiegefühl.

Nun zur Frage der Beeinflussung der Gefühlsdispositionen durch Gefühle. Vor allem muCs ich hier konstatieren, dafs in dieser Beziehung ein Mifsverständnis auf Seite des Kritikers tot zuliegen scheint. Nach der Anschauung Dübbs hätte ich die Fähigkeit der gegenseitigen Beeinflussung der Gefühle bei ge- gebener Koexistenz der Gefühlsursachen behauptet. ^ Vielleidit ist dieses Mifsverständnis infolge des von mir gebrauchten Aus- druckes „Gefüblsumgebung^ entstanden. Ich si^te nämlich, dab Veränderungen der Gefühle durch das Auftreten aktueller Ge- fühle herbeigeführt werden, indem letztere die Qefühlsumgebung in Mitleidenschaft ziehen. ' Dübb nimmt diesen Begriff oSeabär im aktuellen Sinne, während ich denselben im dispositionellen Sinne verstanden wissen wollte. Ich sagte anch ausdrückUch, dafs aktuelle Gefühle andere Gefühlsreaktionen insofern beein-

^ Vgl. MBnroNO, ,,Über ürteilsgefühle, was sie sind und was sie nicbt sind", Archiv f. d. gesamte Psychol 6 (1 u. 2), S. 36«. « Vgl. Gott, gelehrte Anz. S. 62 u. 64. » Vgl. „Über die Natur der Phantasiegefühle usw.", 8. 890.

G^efühUstiggestion und Phantasiegefühl 421

flössen, als sie den diesen zugeordneten Dispositionen Energie entzi^en.^ Ein intensives Unwertgefühl z. B. setzt andere Gre- fühlsdispoeitionen herab, so dafs, wenn diese aktualisiert werden, die ihnen entspringenden Gefühlsregungen nickt so ausfaUen, als sie ausgefallen wären, wenn die von jenem Unwertgefühl ausgebende Einwirkung nicht stattgefunden hätte. ^ Von Gleich- zeitigkeit (Koexistenz) der Gefühlsursachen ist aber nirgends die Rede.

Bei der Erörterung der Frage, ob Phantasiegefühle durch eigentliche Gefühle beeinflufst werden, habe ich das Beispiel an- geführt, dafs eine Person, die sich über die Erreichung eines Zieles freut, bei der Annahme der Nichterreichung desselben etwas Unlustartiges verspürt.' DIjbb meint, dafs, die Richtigkeit dieses Beispieles vorausgesetzt, aus diesem Fall keineswegs folgt, dafs die Phantasiegefühle und das Urteilsgefühl unabhängig von« einander gleichzeitig vorhanden sind, und da letzteres unmöglich ist, nur ein rascher Übergang von Urteil^gefühl zum Annahme- gefühl (Phantasiegefühl) in Betracht komme, bei welchem die durch das Urteilsgefühl bestimmte allgemeine Gemütslage nicht geändert wird> Demgegenüber bemerke ich, dafs das in Rede stehende Beispiel zeigen soll, dals die Freude über die Erreichung eines Zieles, das an die Annahme der Nichterreichung geknüpfte Phantasiegefühl, falls diese Annahme gemacht wird, nicht be- einträchtigt. Dabei wird durchaus nicht vorausgesetzt, dafs das Urteilsgefühl und das Phcmtasiegefühl gleichzeitig vorhanden sind ; vielmehr ist hier leicht zu erkennen, dafs von den beiden emo- tionalen Erlebnissen das Urteilsgefühl das zuerst vorhandene ist, das Phcmtasiegef ühl also, falls die betreffende Annahme gemacht wird, nach jenem auftritt. Es handelt sich auch in diesem Falle überiiaupt nicht darum, ob durch den Übergang vom Urteils- gefühle zum Phantasiegefühl die durch ersteres geschaffene Ge^ fühlslage geändert wird, sondern darum, ob das Phantasiegefühl durch das vorhergegangene Urteilsgefühl eine Einbufse erleidet.

' Ebenda.

* Näheres über die Beeinflassung der GefOhlsdispositionen durch Ge^ fühle findet man in meinen Aufsätzen: „Über den Einflals der Gefühle auf die YorsteUnngsbewegung", Zeitschr. f. F$ychd, 27, S. 25 u. „Dispositions- psychologisches über Gefühlskomplexionen'', dieselbe Zeitschr. 80, S. 393 ff.

* Vgl. Über die Natur der Phantasiegefühle, S. 592. ^ 8. Gott, gelehrte Anz. S. 64 u. 65.

422 Robert Saxinger.

Und diese Frage ist, wie die Wahrnehmung zeigt, unleugbar zu verneinen. Düab glaubt femer, dafs derartige Beispiele die be- sondere Natur der Phantasiegefühle nicht beweisen, solange nidit feststeht, wie die gegenseitige Beeinflussung der Gefühle sich überhaupt vollzieht, deren Grundlagen sukzessiv in Wirksamkeit treten. ' Die von mir erwähnte Tatsache, dafs man sich im. Zu« Stande tiefer Trauer über nichts recht freuen könne, interpretiert er dahin, dafs die psychologischen Grundlagen des Freudegefühles im Zustande tiefer Trauer nicht zur Geltung kommen können, dafs wir etwa den Gedanken an erfreuliche Gegenstände nicht die nötige Aufmerksamkeit schenken. - Nun wird man aber zu- geben müssen, dafs es Lebenslagen gibt, wo wir nicht umhin können, trotz eines herrschenden Trauergefühles, solchen Gegen- ständen unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden, welche gewöhnlidi Lustgefühle hervorrufen, die aber zur Zeit der Gemütsdepression, wie wir wahrnehmen können, ganz und gax nicht lustvoll wirken. Der Mangel an Aufmerksamkeit kann da nicht die Ursache sein, dafs das Freudegefühl nicht aufkommt. Tatsachen dieser Art legen daher die Auffassung nahe, dafs eben von dem herrschende Trauergefühl eine Beeinflussung ausgegangen ist und die Dis- position zum Erleben des Freudegefühles herabgesetzt wurde. Ist das richtig, dann folgt aus Beispielen wie das oben von der Erreichung eines Zieles angeführte, dafs die an die Annahme des Eintrittes bzw. Nichteintrittes eines bestimmten Ereignisses geknüpften emotionalen Erlebnisse durch vorhergegangene eigent- liche Gefühle nicht beeinträchtigt werden. * Und diese Tatsache

^ Vgl. Gott, gelehrte Anz. S. 6ö.

* Gott, gelehrte Anz. 8. 65.

* Vgl. Schwarz, „Über Phantasiegeftthle" II. Arch. f, sysL PhiL 12. S. 96 ff. Dieser Autor ist der Ansicht, dafs die Phantasiegefühle bei ihrer Aktualisierung durch vorhandene eigentliche Gefühle beeinträchtigt und unter Umständen auch gefördert werden können. Ich bin nun nicht gani sicher, welches der angeführten Beispiele die Beeinträchtigung der Phantasiegefühle erweisen soll; ich vermute aber, dafis es das auf S. 97 angeführte Beispiel ist, nach welchem einer, der am Krankenbette eines Angehörigen Zeiten der peinlichsten Besorgnis und des Schmerzes mit- gemacht hat, wenn er sich später das £rlebte vergegenwärtigt (sich in diese Situation hineindenkt), Phantasiegefühle von nicht bemerkenswerter Lebhaftigkeit erlebt. Dem entgegen meine ich auf Grund eigener Er- fahrungen, dafs gerade ein Fall wie dieser zeigt, dafs den Annahmen auch recht lebhafte Phantasiegefühle zugeordnet sind.

Das hinsichtlich der Förderung der Phantasiegefühle vorgebrachte

Gefithhsuggestion U7id Fhantasiegefiihl. 423

gestattet auch die Deutung, dafs die Phantasiegefühle überhaupt nicht eigentliche Gefühle sind.

Den Ausführungen über die Frage der Abstumpfung der Phantasiegefühle und über die Beeinflussung derselben durch eigentUche Gefühle habe ich in dem zitierten Aufsatze über die Natur der Phantasiegefühle einige Erwägungen allgemeinen Charakters, nämlich über die Sonderstellung der Phantasie- gefühlsdispositionen vorausgeschickt. Ausgehend von der Tat- sache, dafs Annahmen und Urteile ähnliche und verwandte psychische Geschehnisse sind, stellte ich die Behauptung auf, dafs die mit einem Urteil und einer Annahme verbundenen

Beispiel handelt davon, dafs jemand, der soeben Nachricht erhftlt, dafs sich im angrenzenden Bezirke grofse Kuhestörungen und Ausschreitungen zu- getragen hätten, bei der Annahme, dafs sich ähnliche Vorfälle in unmittel- barer Nähe ereigneten, intensive Phantasiegefühle erlebt. Auch dieses Beispiel beweist nicht das, was es beweisen soll. Unruhen und Aus- schreitungen pflegen bei denjenigen, die durch sie in Mitleidenschaft gezogen werden, starke Unlustgefühle hervorzurufen. Wenn nun die An- nahme des Eintrittes solcher Vorfälle intensive Phantasiegefühle erregt, so deutet diese Tatsache nur darauf hin, dafs dort, wo im Ernstfalle intensive eigentliche Gefühle auftreten würden, die betreffenden Annahmen lebhafte Phantasiegefühle auslösen. Zur Bekräftigung dieser Behauptung führe ich auch folgendes Beispiel an: Wenn man während einer sehr angenehmen Eisenbahnfahrt die Annahme macht, der Zug entgleise, die Waggons stürzten den Damm hinab, kurz sich anschaulich alle Schrecknisse eines Eisenbahn- unglückes vergegenwärtigt, so wird man deutlich recht intensive Phantasie- Unlustgefühle verspüren. Die Intensität der Phantasie- unlustgefühle kann hier wohl nicht auf Rechnung der Lustgefühle während der Fahrt gesetzt werden. Jene sind intensiv, weil die eigentlichen Gefühle, die im Ernst- falle erlebt würden, intensive wären.

ScHWABz ist nun allerdings der Meinung, dafs die hohe Intensität der Phantasiegefühle durch das Vorhandensein einer Disposition zu zuge- ordneten eigentlichen Gefühlen nicht bedingt wird. Als Beispiel führt er an, dafs, wenn einer, der seinen Angehörigen in Liebe anhängt (also die Disposition besitzt, durch Ereignisse, die jene bedrohen, schmerzlich berührt zu werden), annimmt, das Leben eines Verwandten sei bedroht, ein Phantasiegefühl von nicht nennenswerter Stärke erlebt (S. 97 unten). Auch hier mufs ich es wieder bestreiten, dafs das Phantasiegefühl nicht lebhaft ist; ich finde vielmehr, dafs sich auch in diesem Falle ein intensives Phantasiegefühl einstellt. Es steht also wiederum Ansicht gegen Ansicht. Durch das Gesagte möchte ich keineswegs die Richtigkeit der Beobachtungen ScHWABz* in Zweifel ziehen, sondern ich glaube vermuten zu dürfen, dafs die Divergenz des Ergebnisses unserer Beobachtungen in individuellen Verschiedenheiten beim Erleben von Phantasiegefühlen zu suchen ist.

424 Robert Saxinger.

Gefüblserlebniflse, falls diese Denkakte dem gleichen Gegenstände zugewendet sind, unter der Voraussetzung, dafs auch die doi Annahmen zugeordneten Gefühlsregungen eigentliche Gefühle sind von Intensitätsverschiedenheiten abgesehen , wenigstens gleiche Qualität aufweisen müfsten. Und da es Fälle gibt« wo eine qualitative Divergenz der mit Annahme und Urteil y»- bundenen emotionalen Erlebnisse trotz der Gleichheit des durch diese Denkakte erfafsten Gegenstandes (Objektives) deutlich sn- tage tritt, so zog ich aus dieser Tatsache den Schlufs, daCs die betreffenden Gefühlsregungen nicht aus gleichartigen Dispositionen herstammen können.^

Der Einwand Dübrs, dafs die psychischen Vorgänge, mit denen bei Annahme und Urteil dasselbe Objektiv erfafst wird, so verschieden sein können, dafs sie auch eine und dieselbe Disposition zu verschiedener, ja zu entgegengesetzter Reaktion zu zwingen vermögen, übersieht das ausdrückUch hervorgehobene Moment der Ähnlichkeit und Verwandtschaft zwischen Annahme und Urteil.* Gerade dieses spricht aber dafür, dafs bei gleichem Objektiv die der Annahme und dem Urteil zugeordnetMi emotionalen Reaktionsweisen, wenn dieselben ihrer Natur nach gleichartige wären, nicht qualitativ entgegengesetzt sein könnten. Löst das Urteil „A ist" ein Lustgefühl aus, so kann die Annahme des Seins des A nicht ein Unlustgefühl hervorrufen. Hat diese Annahme gleichwohl einen Unlustton, so liegt die Vermutung nahe, dafs dieser nicht in einem eigentlichen Gefühle besteht Als Beispiel führte ich an, dafs das Hineindenken in die Ver- gnügungen der Jugendzeit auch in späteren Jahren einen lust- artigen Charakter an sich trägt, während der Gedanke (urteil), jetzt solche Handlungen vollbringen zu sollen, durchaus kein erfreulicher, ja vielleicht eher ein unerfreulicher ist.' Döbb be- streitet in diesem Falle die Gleichheit des Objektives. Das Objektiv der betreffenden Annahme sei: „als Knabe sich an kindlichen Spielen erfreuen^ und das des Urteiles „als Mann in einer kindlichen Beschäftigung aufgehen.''^ Sicherlich ist bei der begrifflichen Fixierung des Objektivs in diesem wie auch in vielen anderen Fällen insofern ein gewisser Spielraum vw-

' Vgl. „über die Natur der Phantasiegefühle'', S. 662 ff. ' Gott, geehrte Ans. S. 66.

' Vgl „Über die Natur der Phantasiegefahle", S. 685. *• VgL Gott, gelehrte Anz. S. 66.

Gefühlssuggestian ufid PhantasiegefiihL 425

banden, als man verschiedenes, was eigentlich nicht zu dem- selben gehört, miteinbeziehen kann. Befreit man indes dieses einmal dnrch die Annahme, das andere Mal durch das Urteil erfafste Objektiv von allem Beiwerk, so lautet dasselbe: „Das Stattfinden der Handlungen (Spiele)." Obgleich also diesem Beispiele der von Dübb betonte Mangel nicht anhaftet, so mag dasselbe vielleicht deshalb nicht ganz überzeugend erscheinen, weil ihm eine gewisse Kompliziertheit nicht abzusprechen ist. Zudem ist in diesem und ähnlichen Fällen das Hereinragen von Erinnerungsgefühlen (Urteilsgefühlen) nicht ausgeschlossen, die natürlich das Beobachten des Phantasiegefühles erschweren. Allein es gibt andere Beispiele, wo die Verschiedenheit der an Annahme und Urteil mit gleichem Objektiv gebundenen emotionalen Regungen klarer zutage tritt. Ich habe hier insbesondere die von Meinono erwähnte Tatsache im Auge, dafs die Wirklichkeit so häufig hinsichtlich des Gefühlswertes hinter dem Angenommenen zurückbleibt.^ Nicht selten pflegen sich nämlich mit der Annahme des Eintrittes eines bestimmten Ereignisses ziemlich intensive emotionale Erlebnisse einzustellen, welche vielleicht eben wegen ihrer Intensität leicht mit eigentlichen Gefühlen verwechselt werden, die aber so wie das Angenommene in den Bereich der Phantasie gehören, also Phantasiegefühle sind. Tritt nun das Ereignis wirklich ein, so weisen gewöhnlich die Gefühle im Ernstfälle, nicht jene Intensität auf, die man erwartet hat. Es kommt aber auch vor, dafs die erwarteten Gefühle ganz aus- bleiben oder, wenn sie sich einstellen, von entgegengesetzter Qualität sind. Man schliefst hier von den vorhandenen Phantasie- gefühlen auf die Art und Weise, wie sich die Gefühle im Ernst- fälle gestalten werden und der Schlufs müfste bei der Verwandt- schaft zwischen Annahme und Urteil auch zutreffen, wenn die Phantasiegefühle ihrer Nattu* nach eigentliche Gefühle wären; d. h. wenn die mit Annahme und Urteil auftretenden Gefühls- eriebnisse gleichartigen Dispositionen entstammten.

DüBE bespricht dann das von Witasek gemachte Zuge- ständnis, dafs Phantasiegefühle weder freuen noch schmerzen.* Unser Kritiker hält dasselbe nicht für unvermeidlich. Er geht dabei von der Voraussetzung aus, dafs das WiTASEKsche Zuge-

^ Siehe Msinono, „Über AnnahmeB'^ 8. 254.

* l^iTASEK, Grundzüge der allg. Ästhetik 8. 114.

426 Eobert Saxinger.

ständnis nichts anderes besage, als dafs die Phantasiegefühle nicht merklich lust- bzw. unlustvoll seien. ^ Die irrige Voraus- setzung DüBRs, dafs die Phantasiegefühle nur schwache emotionale Erlebnisse sind, begegnet uns also hier wieder. Unter diesem Gesichtspunkte erscheinen natürlich auch die von demselben angeführten Beispiele „die Freude des phantasievollen E[naben an erträumten Taten'' und „die Trauer manchen religiösen Gemüts bei dem Gedanken an eine Sünde, die begangen werden könnte'S insofern sie auf sehr merkliche emotionale Regungen hinweisen, als Instanzen gegen die These der Schmerz- und Freudelosigkeit der Phantasiegefühle.* Aber die Phantasiegefühle sind, wie oben bemerkt wurde, emotionale Erlebnisse, welchen unter Umständen ziemlich hohe Intensität nicht abzusprechen ist.^ Infolgedessen ist auch der emotionale Faktor dieser Zu- stände, d. i. das Lust- bzw. Unlustartige an denselben, ganz gut merklich. Die von Dübb angeführten Fälle illustrieren also nichts anderes als die Tatsache, dafs es auch recht lebhafte Phantasie- gefühle gibt.

DQbb erwähnt, dafs ich das besprochene Zugeständnis WiTASEKs für nicht hinreichend erachte, um das Phantasie- gefühlsproblem zu entscheiden, und meint, dafs dieses, falls dessen Unvermeidhchkeit erwiesen wäre, die beste Stütze der von mir vertretenen Auffassung bilde.* Dazu möchte ich nur folgendes sagen. In der Anerkennung und richtigen Würdigung der von Witasek angeführten Tatsache des Mchtfreuens und Nichtschmerzens der Phantasiegefühle liegt unzweifelhaft auch die Anerkennung des wichtigsten Momentes, nämüch der Eigen- 9.rt der Phantasiegefühle beschlossen. Indes das schUefst nicht aus, es auch auf anderem Wege zu versuchen, einiges zur Ent- scheidung der Frage, ob die Phantasiegefühle Tatsachen sui generis sind, beizubringen. Dies ist in der Weise geschehen, dafs auf das von den eigentlichen Gefühlen in wesentUchen Punkten abweichende Verhalten der Phantasiegefühle hinge- wiesen wurde. '^

» Vgl. Gott, gelehrte Anz. S. 67. « Gott, gelehrte Anz. S. 67. » S. oben S. 419. * Gott, gelehrte Anz. S. 67.

^ Einen ähnlichen Weg hat auch Schwarz in seinen Untersuchungen über die Phantasiegefühle eingeschlagen.

Gefühtssuggeation und Fhantasiegefühl. 427

Was meinen Versuch, die Gefühlstöne gewisser Allgemein- Yorstellungen und Wortvorstellungen als Phantasiegefühle dar- zustellen betrifft, so war es mir keineswegs darum zu tun, wie DüRB glaubt, „die neugeschaffene Gattung psychischer Phänomene mit einem gewissen Reichtum an Arten zu versorgen."^ Es geht dies deutlich daraus hervor, dafs ich bei den bezüglichen Darlegungen von der Frage ausging, ob die Phantasiegefühle nur in Gesellschaft der Annahmen oder auch anderer intellektueller Begebenheiten anzutreffen sind. Die einschlägige Untersuchung will also gar nichts anderes sein als ein Beitrag zu dieser Frage. ^ Da diese Frage für das Phantasiegefühlsproblem ohne- hin nur von nebensächlicher Bedeutung ist, so kann ich mich hier auf ein paar Bemerkungen beschränken.

DüBB scheint der Ansicht zu sein, dafs ich das Auseinander- fallen des Gefühlstones einer Allgemein- bzw. Wortvorstellung und des Gefühles, das sich an den durch das Wort erregten Vorstellungskomplex knüpft, schon für einen Beweis der Eigen- art des Gefühlstones halte.' Ich glaube, dafs dies aus meinen Ausführungen nirgends herauszulesen ist* Was mich zur An- sicht führte, dafs diese Gefühlstöne eigenartige psychische Er- lebnisse sind, dafs ist das Verhalten derselben, welches von dem der eigentlichen Gefühle in mehrfacher Beziehung abweicht. Und eben aus diesem Moment schlofs ich, dafs wir es bei den besagten Gefühlstönen nicht mit eigentlichen Gefühlen zu tun haben. Dafs die betreffenden Untersuchungen wiederum darauf abzielten, zu konstatieren, ob die Gefühlstöne der Allgemeinvor- stellungen und Wortvorstellungen ebenso wie die eigentlichen Gefühle der Abstumpfung unterliegen und wie diese durch aktuelle Gefühle beeinflufst werden, war durch die Natur der Sachlage geboten. Wenn andere Beobachter in dieser Richtung zu einem anderen Ergebnisse gelangen sollten, dann wird eben meine Auffassung einer Korrektur bedürfen; die Frage aber, ob die Phantasiegefühle Tatsachen sui generis sind, wird dadurch jedenfalls nicht alteriert. Ich kann auch der Anschauung Dübbs, dafs „die Unbrauchbarkeit abgedroschener Redensarten für den

» Gott, gelehrte Anz. S. 67.

* Itiese Frage hat inzwischen durch die bereite zitierte Arbeit von ScBWABz eine wesentliche Förderung erfahren.

» Gott, gelehrte Anz. S. 68.

* Vgl. „Über die Natur der Phantasiegefühle usw.*', S. 695 ff.

428 Robert Saxvngtr.

höheren StiP die Abstumpfung d^ Grefühlstöiie von Wörtern und Begriffen erkennen lasse, nicht beipflichten.^ Denn Bedei»- arten sind nicht blofs einzelne Worte, sondern Sftize, die in dor Regel einen Gedanken ausdrücken. Wenn sich nun an gewisse Redensarten, vielleicht weil sie neu oder originell sind, ein Akt des Gefallens knüpft, so liegen nicht Phantasiegefühle, sondern eigentliche Gefühle yor und diese stumpfen sieh natOriicb bei wiederholter Anwendung der betreffenden Redensart^i ab« Dieses Beispiel beweist also nicht die Abstumpfbarkeit der Ge- fühlstöne der Allgemeinvorstellungen und Wortvorstelhingen, wohl aber das, was Dürb bestreitet, nämlich die Möglichkeit der Abstumpfung der eigentlichen Gefühle bei nicht kontinuierlkh wirksamer Gefühlsgrundlage.'

Was endlich die Beurteilung der Beweiskraft der von mir vorgenwnmenen Suggestionsexperimente über das Verhalten der Gefühlstöne anbelangt, so habe ich hier nichts himsuzniügen und verweise auf das im vorhergehenden Paragraph diesbeztig- lieh Gesagte.'

1 Gott gelehrte Anz. S. 68.

» Vgl. oben S. 417.

* Vgl. „Über die Natur der Phantasiegefühle'*, S. 600 u. oben S. 413.

(Eingegangen am 13. Dezember 1907,)

429

Erwiderung gegen K. MARBE.

Von Wilhelm Wirth.

In den kritischen Sammelreferaten, über „die Fortschritte auf dem Gebiete der Psydiophysik der Licht- und Farben- empfindongen^, die idi seit 1902 in nnserem Archiv für die ge- mmte Rjfckologie veröffentliche, mulste ich mich in der Folge Bd. V, Lit. S. 77 ff. (April 1905) auch mit K. Mabbes Abhand- lung „Tatsachen und Theorien des TALBOTschen Gesetzes'^ be- schäftigen. Dabei bin ich mir bewufst, auch bei jener Gelegen- heit das allgemeine Prinzip, woraus Mabbe einige speziellere Hauptbedingungen für die Gröfse der sog. „kritischen Perioden- daner" bei der Verschmelzung intermittierender Lichtreize er- klärte und auch noch den Einflufs weiterer spezieller Be- dingungsgruppen im wesentlichen wird ableiten können, nicht nur billig hervorgehoben, sondern auch verteidigt zu haben. FreiUch mufste ich in jenem Referate auch einige Mifs- vfirständnisse seinerseits, besonders im Zusammenhange einer mehrfachen an jene Abhandlung angeschlossenen Polemik, ab solche kennzeichnen, die sich übrigens meistenteils auf den Er- regungsverlauf der Empfindung in Abhängigkeit von der zeit- lichen Verteilung der Reize (bei konzentrierter Aufmerksamkeit) bezogen. AuTserdem schien mir aber auch noch seine in jener oben genannten Abhandlung enthaltene Ablehnung der Wükbt- schen Annahme einer Beteiligung assoziativer Faktoren bei den fiog. stroboskopischen Täuschungen einer kritischen Bemerkung dringend zu bedürfen. Hierbei wies ich auf den Widerspruch hm, in den Mabbb bei dieser Polemik mit sich selbst gerät, in- dem er auch schon seinerseits zur Erklärung der Unbemerktheit

430 Wilhelm Wirih.

eines Phasenausfalles eine Seite jener assoziativ -aesimilativen Vorgänge mit einbezogen habe.

Sowohl für diesen Punkt als auch bezüglich jeder anderen in meinen Referaten behandelten Arbeiten würde ich natürlich für eine sachliche und loyale Berichtigung irgend einer Unzu- länglichkeit nur dankbar sein, da ich ein möglichst objektives Gesamtbild zu geben beabsichtige, dessen nicht wenig zeit- raubende Schwierigkeit jeder begreiflich findet. Nun bitte ich aber, meinen Darlegungen über Mabbes Arbeiten den geradezu unerhörten persönlichen Angriff gegenüberzustellen, den Masbb im letzten Hefte dieser Zeitschnft gegen meine soeben genannte Verteidigung Wündts gerichtet hat, und zwar erst nachdem in- zwischen P. Linke auf dem Psychologenkongrefs in Würzburg Ostern 1906 weiteres in Leipzig gewonnenes Beobachtungsmaterial beigebracht und in einer wiederholten Polemik gegen Mabbe verteidigt hat, aus dem wieder die Bedeutung der Assimilation für die stroboskopische Täuschung ganz klar hervorgeht, und nachdem Wünbt in einem viel allgemeineren Zusammenhange Mabbes Methode zur Analyse höherer Denkvorgänge abgelehnt hat. Unter energischem Protest gegen den Ton, den Majkse hierbei gegen alle in seiner Antikritik genannten oder an- gedeuteten Personen anzuschlagen beliebt, füge ich hier nur einige noch möglichst sachlich gehaltene Erläuterungen ror persönlichen Abwehr hinzu, schon weil das Ansehen der Zeit- schrift, in der er seine Arbeit veröffentlicht hat, mich hierzu nötigt

Marbe kann sich meine Übereinstimmung mit Wündt in dieser und in vielen anderen, mehr oder weniger prinzipiellen Fragen nicht anders erklären, als dafs ich entweder in blindem Autoritätsglauben befangen sei oder vielleicht sogar wissentlich die Unwahrheit sage. Nachdem er schon S. 352 mit dem Aus- druck „in bekannter Übereinstimmung mit Wündt" dies an- deutet, versteigt er sich S. 357, nach mehrfachem Hinweis auf die Unwissenschaftlichkeit der nicht „von Wündt unab- hängigen Experimentalpsychologen", sogar zu der Behauptung, dafs meine Meinung derjenigen Wündts „bisher niemals wider- sprochen" habe.

In um. so bedenklicheres Licht rückt aber Mabbbs Ver- dächtigung unseres Denkens oder WoUens, da er sein Urteil nur aus der tatsächlichen Übereinstimmung und aus seiner völlig irrtümlichen Übertreibung derselben abgeleitet hat. Diese

Erwiderung gegen K. Marbe, 431

letztere ißt einfach eine objektive Unrichtigkeit, jene erstere aber ist für Wündt und uns wissen- schaftlich durchaus positiv begründet. Gewifs ist die wirkliche Übereinstimmung aus voller Überzeugung eine weit- gehende, und ich bin stolz darauf. Gerade der vorliegende Fall meiner Anerkennung der assimilativen Faktoren bei den strobo- skopischen Täuschungen zeigt aber besonders deutlich, wie sie überhaupt jemals zustande kommt: Wundt gibt so konkret als möglich den Weg der experimentellen Beobachtung an, auf dem er seine Ansicht nach allgemeingültigen methodischen Gesichts- punkten selbst gewonnen hat, und den jeder, dem nur die ob- jektiven Hilfsmittel zu Gebote stehen, ihm folgen kann. Auch die assoziativen Momente in dem Bewufstseinsbestande, der speziell den stroboskopischen Reizbedingungen bei einer be- stimmten Einstellung der Aufmerksamkeit entspricht, hat Wundt nicht von einer imkontroUierbaren Selbstbeobachtung aus be- hauptet, die wegen ihrer zufälligen Zusammengesetztheit nur schwer nachzuerleben wäre. Er hat sie vielmehr unter den ein- fachsten und methodisch günstigsten Reiz- und Einstellungs- bedingungen in ihrer Wirksamkeit isoliert, so dafs sie auch von Ungeübten als besondere Faktoren besser erkannt werden können, als bei der kontinuierlichen oder der diskontinuierlich wiederholten Wahrnehmung der Objekte. Er läfst sie sich nämlich bei einer nur einmaligen kurzdauernden (sog.tachi- stoskopischen) Exposition entfalten, auf Grund einer der Versuchsperson nicht im voraus bekannten Kombination von an sich geläufigen Reizelementen, z. B. von Buchstaben. Während aber bei der vollständigen Exposition bekannter Worte die optischen, akustischen und vor allem auch artikula- torisch-motorischen Assoziationen, die von allen früheren Wahr- nehmungen dieser speziellen Buchstabenkombination stammen, auch im neuen Falle wieder nur mit den Reizbedingungen zu- sammen auf das lebhafte Bewufstsein des richtigen Wortbildes hinwirken und deshalb die zentrale Herkunft vieler beteiligter Bewufstseinsmomente nicht so leicht sicherstellen lassen, gelingt dies bei der Exposition von bekannten Wortbildern mit Buchstabendefekten. Wie unter anderem auch im Leipziger Institut besonders durch Julius Zeitleb genauer unter- sucht wurde, werden in diesem Falle bei Verteilung der Auf- merksamkeit aufs Ganze die Defekte häufig nicht nur nicht

432 Wilhelm Wirih.

bemerkt, sondern auch positiv durch den gewöhnlichen Bewulst- Seinsinhalt dieser Stelle ei^änzt, der hierbei den objektiv an- geregten Elementen an Lebhaftigkeit und Frische nicht nadi- steht. Für diesen Effekt bildet natürlich die kurze Dauer der objektiven Reizanregung eine besonders wichtige Vorauseetsmig, da die Unscharfe und Dunkelheit der erzeugten Inhalte dm reproduktiven Elementen dann zugleich einen geringeren Ver- drängungswiderstand entgegensetzt. Wenn man demnach bei dieser assoziativen Ergänzung der defekten Stellen von ihrem Dasein im Bewufstsein überhaupt nicht sprechen wollte, um mögUchst ohne positive, zentral bedingte Inhalte auszukommeo, so wäre dies eine falsche Beschreibung des Tatbestandes, die nicht einmal bei ungeläufigen Kombinationen und zufälliger Nichtbeachtung einer leeren, also objektiv nicht besonders auf- fälligen Stelle zuzutreffen braucht, da wirklich stets ein „Haufen* assoziativer Momente da ist, wie Maube sich ausdrückt. Am besten zeigt sich dies darin, daTs nach mehrfacher Darbietung verdruckter Worte, die den geläufigen Assoziationsmechanismiis stört und modifiziert, unmittelbar danach beim tachistoskopisdien Lesen auch richtige Worte falsch gesehen werden können. WuNDT bezeichnet nun diesen Verlauf als „Assimilation^, wobei wir natürlich mit der Annahme dieser Terminologie der längst allgemein anerkannten Autorität der Priorität folgen, wenn der Ausdruck so treffend wie hier gewählt ist.

Die Prozesse aber, die hier von einem simultanen Garnen objektiver Elemente ausgelöst werden, kommen natürlich durch sukzessive Darbietung eines geläufigen Zusammenhanges noch viel mehr in Schwung. Mabbe brauchte hierüber nur nachzu* lesen, was Wundt über die gröfstenteils assoziativ bedingte Steigerung der Lebhaftigkeit bei wiederholter tachistoskopischer Exposition der nämlichen Buchstabenkombination berichtet, wobei also der Zusammenhang der einfachste der gleichförmigen Wiederholung ist. Auch dies gibt doch wieder eine genau kontrollierbare Erfahrungsgrundlage an die Hand, die ich sogleich bei meinem ersten Aufenthalte in Leipziger Institute als Teil- nehmer an der Arbeit des Herrn Dr. Ttsko im Sommer 1898 auf mich wirken liefe, eine Untersuchung, die leider durch die Erkrankung dieses Herrn abgebrochen und dann von Zsitlbb mit den bekannten verbesserten Hilfsmitteln wieder aufgenonmien wurde; für mich aber doch eine mir sehr wertvolle Einführung

Erwiderung gegen K. Marbe. 433

mit dem alten, noch von Cattell herrührenden Apparate bildete, ans der ich die erste Anregung zu meinen späteren tachistoskopischen Analysen entnahm. Die Wucht der subjektiven Faktoren wird aber noch erhöht, wenn Bilder von Bewegungen vorgeführt werden, da ähnlich, wie beim Lesen von Worten die artikula- torischen Momente, auch beim Anblick objektiv wahrgenommener Bewegungen wirkliche Impulse im Akte einer sog. „Einfühlung'' erlebt werden. Diese motorischen Dispositionen haben ja ge- wRsermafsen eine besondere Explosivkraft, wenn sie durch objektiv bedingte Vorstellungen irgend welcher Art von akutem Verlauf angeregt werden, wie schon Exkeb bei zwei an ge- trennten Stellen schnell aufeinanderfolgenden Lichtblitzen be- obachtete, wo ein weiter Zwischenraum im Bewufstsein durch die lebhafte Vergegenwärtignng eines rasch überspringenden Gegenstandes assoziativ überbrückt wurde.

Nun meint zwar Maebe schon in jener von mir seinerzeit kritisierten Anmerkung gegen Wundt, dafs diese Faktoren auch bei der stroboskopischen Täuschung nicht anders beteiligt seien, als bei jeder Bewegungsvorstellung. Das gilt aber eben nur allgemein qualitativ, jedoch nicht zugleich hinsichtlich ihres Quantitäts Verhältnisses zu den objektiv bedingten Momenten. Grerade um dieses bandelt es sich aber bei der Aufsuchung der geeignetsten Bedingungen für ihren gesonderten wissenschaft- lichen Nachweis in einer exakt kontrollierbaren Analyse über- haupt. Es verleiht dem Erlebnis im ganzen auch erst das charakteristische Gepräge der Täuschung, insofern die Assi- noilationen allein die objektive Reizung in bestimmten Punkten zu ersetzen bzw. in ihrer Wirkung zu modifizieren imstande sind. Diese experimentellen Bedingungen bietet aber gerade das Stroboskop dar, als ein Apparat zur Bukzessiven tachistoskopischen Exposition. Für ihren Assimilationseffekt trifft nach Lage der Umstände alles, was oben von der einzelnen oder in gröfseren Intervallen wiederholten tachistoskopischen Expositionen gesagt wurde, sogar in höchstem Mafse zu, weil der Zusammenhang sachlich jener gleichförmigen Wiederholung sehr ähnüch und zeitlich noch viel enger ge- schlossen ist. Wären also die assimilativen Faktoren schon zur vollständigen Beschreibung der stroboskopischen Täuschungen hinsichtlich eines psychologisch besonders interessanten Momentes auch dann immer noch speziell zu erwähnen, wenn sie wirklich

Zeitschrift für Psychologie 46. 28

434 Wilfudm Wirth.

hier nicht anders vorkommen würden, als bei den Wahmehmungen jeder Bewegung eines kontinuierlich sichtbaren Objektes, so rücken sie geradezu in den Vordergrund der Analyse des ganzen Bewufstseinsphänomenes, wenn wir im Stroboskop einen Phasen- ausfall einführen, der den genannten Buchstabendefekten be- kannter Worte bei einmaliger tachistoskopischer Exposition gans analog wirken mufs. Da aber natürlich die Assimilation durch sukzessive und simultane Reizelemente noch kräftiger ausfallen wird, so kommt zur psychologischen Analyse vor dem Aus- fall ganzer Phasen erst noch der blofse Defekt innerhalb eines Phasenausfalles in Betracht, der auch aus zentralen, nicht nur peripheren Bedingungen beim Stroboskop verhältnismäfsig noch besser überbrückt werden wird. Diese positive inhaltliebe Be- deutung der zentralen Faktoren beim Stroboskop fiel mir unter zufällig objektiv und subjektiv besonders günstigen Bedingungen schon früher auf, als ich einst für das Bilderinventar eines Kinderstroboskopes selbst Bilderstreifen nach freier Kombination, also unter Inanspruchnahme individuell bestimmter Assoziationen malte. Die fertigen Bilder erschienen mir bei ruhiger Betrachtung dem vorschwebenden Phantasiemuster allerdings nicht allzu ähnlich, da ich auf die künstleriscbe Durchführung im einzelnen wenig Rücksicht nahm. Um so mehr war ich überrascht, wie schön alles in der stroboskopischen Erscheinung aussah. Es war mir schon damals klar, dafs hier neben den optisch-physiologischen auch die psychologischen Voraussetzungen des bekannten Effektes der Kulissenmalerei in besonderem Mafse erfüllt seien.

Marbe verliert aber die Fühlung mit den nächstliegenden psychologischen Problemen, die diese Anordnung stellt, weil er vor allem den Bedingungen für eine möglichste Annäherung an die glatte Verschmelzung nachgeht, unter denen also eine räum- liche oder zeitliche Reizlücke, auch bei gespanntester Aufmerk- samkeit auf die im voraus bekannte Diskontinuität, wegen der den Reiz bedingungen entsprechenden Form des Empfindungs- ablaufes nicht mehr zu erkennen ist, spezielle Umstände, auf die sich das TALBOTsche Gesetz bezieht. Aber man kann auch hier das eine tun, und das andere nicht lassen. Selbstverständ- lich bUdet ja doch auch im Falle der Diskontinuität der Empfin- dungsinhalte, die beim Stroboskop häufig noch in verschiedenem Grade, zumal bei Phasenausfällen, erhalten bleibt, die Analyse dieses objektiv bedingten Empfindungsverlaufes ein wichtiges

Erwiderung gegen K. Marhe. 435

Teilproblem, wenn die assimilativen Zusätze hiervon möglichst klar unterschieden werden sollen. In meinem Referate habe ich sogar darauf hingewiesen, dafs Mabbe der Bedeutung dieser allgemeineren Fragestellung der physiologischen Optik gar nicht einmal ganz gerecht wird, da er ein Verständnis des einen Grenzfalles dieser Erscheinungen, der vollen Verschmelzung nach dem TALBOTschen Gesetze, aus den sonstigen Beobachtungen über den Empfindungsverlauf bei einfacheren Reizbedingungen gar nicht intensiver anstrebt, ja fast für unmöglich erklärt. Ich würde mich hierin, wie schon die teilweise sehr vorsichtige Formulierung in meinem Referate erkennen läfst, gerne in einer sachlichen Diskxission eines Besseren belehren lassen. Dafür aber wagte Mabbe zu sagen, die Leipziger Schule ignoriere seine Theorie des TALBOTschen Gesetzes! Eben wegen jener gleich- zeitigen Bedeutung für die Analyse der zentraleren Faktoren des Bewufstseinsverlaufes durch tachistoskopische und analog auf andere Sinnesgebiete übertragene Methoden wird auch der Ver- lauf der Empfindungen in möglichst reiner Abhängigkeit von den Zeit- und Qualitätsverhältnissen der Reize wohl nirgends ausführlicher, sorgfältiger und vor allem vorurteilsfreier studiert als unter Wündt in Leipzig.

Die zentralen Faktoren sind aber unter den stroboskopischen Bedingungen doch zu aufdringlich, als dafs sie Mabbe ganz ent- gangen sein könnten. Auch er gesteht zu wie ich eben in der Betonung jenes Widerspruches mit seiner Polemik gegen WuNBT dem Leser nicht vorenthielt , dafs bis zu einem be- stimmten Umfange der Phasenausfall bei Unaufmerksamkeit unbemerkt bleiben könne. Aber er analysiert eben diese „zentralen Momente" nicht weiter. Übrigens hätte ja auch Mabbe diese Unbemerktheit, da sie auch bei der gewöhnlichen Bewegungs- wahrnehmung aus zufälligen Gründen fortwährend vorkommt, bei den stroboskopischen Täuschungen von dem oben genannten Prinzip aus gar nicht einmal besonders erwähnen dürfen, wie er es Wundt verbieten wollte. Aber die Hauptsache ist eben doch dies, dafs diese blofse Unbemerktheit des Ausfalles nach dem, was oben bezüglich der analogen Effekte beim einfachen tachistoskopischen Experimente gesagt wurde, für die Be- schreibung des Bewufstseins hierbei nicht genügt.

Mabbes Widerstand gegen die Annahme positiver Assimilations- momente erscheint mir aber bei alledem gar nicht einmal so

28*

436 Wilhelm Wirth.

unüberwindlich, da er selbst seine Ansichten gerade in diesem Punkte, in Richtung des Zugeständnisses zentraler Faktoren überhaupt, bereits einmal gründ- lich geändert hat. Er verrät dies ja nur selbst im 14. Band S. 399 von Wündtb Philosophischen Studien sehr freimütig als schon überwundenen Standpunkt, und eben deshalb hatte ich in meinem Referate gar keine Veranlassung, auf seine frühere, mit der unserigen noch weniger ,, übereinstimmende" Ansicht hinzuweisen. Eben deshalb muTs aber sdne Hereinziehung persön- licher Momente in die Debatte um so unbegreiflicher erscheinen. Nun habe ich allerdings alle Veranlassung, hierauf noch kurz einzugehen. Während andere Psychologen bei der Vorüber- legung, die sie genau wie ein Physiker oder Physiologe über die bei einer Erscheinung möglicherweise beteiligten Faktoren an- stellen, aus ihren allgemeineren Erfahrimgen heraus stets auch assoziativ bedingte Inhalte für gleich nahe liegend erachten, wollte dagegen Mabbb sogleich von Anfang an immer mit Voraussetzung auskommen, dafs der Phasenausfall nur w^en zu geringer Sehschärfe unbemerkt bleibe. Er habe sich allerdings bald von der völligen Unrichtigkeit dieser, wie er glaubt, gar nicht so fernliegenden (!) Annähme überzeugt. So brauche ich ihm also nur einen Fortschritt in dieser Richtung zu wünschen. Auf solchen Beobachtungen und Überlegungen beruht also in diesem Falle die Übereinstimmung meiner An- schauungen mit denjenigen Wundts. Marbe aber möchte ich fragen, ob denn noch ein anderer Experimentalpsychologe auiser ihm selbst hierin mit Wundt nicht übereinstimmt. Dabei ist zu beachten, dafs die Diskussion darüber, in welchem Stadium des Ablaufes des ganzen Erreguugsvorganges die assimilierten Momente ihre höchste Aktualität im Erlebnis der Täuschung be- sitzen (vgl. z. B. Schümann, Bericht über den 2. Kongrefs für Psychologie S. 167 ff.), hier überhaupt nicht in Frage kam. Ich hatte an Marbe Ki-itik geübt, weil er die positiven Assimilationen als entscheidendes Moment bei der stroboskopischen Täuschung überhaupt vollständig leugnet.

Wie hier, so beruht aber natürlich auch in jedem anderen Falle meine Übereinstimmung mit Wundt auf wissenschafüichen Gründen, die ich, soweit ich selbst neues Material dafür beige- bracht habe, stets so ausführlich darlegte, dafis eine Nachprüfung möglich ist^ während ich sie im übrigen durch den Hinweis auf

Erioidet^ng gegen K, Marbe. 437

den jeweiligen Gewährsmann indirekt mit dem nötigen Er- fahrungsmaterial belegte. Vermifst Mabbe irgendwo diesen Nach- weis, so erwarte ich Yon ihm, dafs er mir diese Stelle genau so nennt, wie diese eine, an der ich ihm soeben seinen Irrtum so konkret als möglich demonstrieren konnte. Ich will ihm dann den gleichen Nachweis erbringen.

Aber Mabbe gibt sich ja den Anschein, als ob er mich viel allgemeiner getroffen habe, so dafs ihm bei der Richtigkeit seiner persönlichen Behauptung in der Tat jener empirische Umweg über die Prüfung des sachlichen Inhalts und die Begründung in meinen Schriften erspart bliebe. So verkehrt es natürlich wäre, die wissenschaftliche Bedeutung eines Assistenten nach der Zahl seiner abweichenden Meinungen bestimmen zu wollen, die eben so gut unwissenschaftlich bedingt sein Jcönnen, so verhindern doch allerdings die individuellen Verschiedenheiten der wissen- schaftlichen Erfahrung bekanntlich schon nach den allgemeinen Wahrscheinlichkeitsprinzipien , dafs bei wirklich selbständiger Tätigkeit, wie sie von meiner Stellung gefordert wird, eine voll- ständige Übereinstimmung in allen Punkten vorhanden sei. Und richtig, genau dieses Fehlen jeglicher Abweichungen hat Marbe von mir behauptet. Die einzigen möglichen Erfahrungsgrund- lagen für diese Behauptung könnten natürlich nur meine Arbeiten sein, die sich Marbe genau darauf hin betrachtet haben müfste, um mich so verurteilen zu können. Schon eine einzige wirkliche Abweichung müfste ihn Lügen strafen und wieder energisch auf die sachliche Prüfung im einzelnen als einzige Instanz seines Urteiles über mich zurückverweisen. Bei der Unterdrückung mehrerer gegenteiligen Fälle aber ist jede einzelne eine objektive Unwahrheit für sich, die sich mit vollem Gewichte zu den anderen von gleicher Art und Schwere hinzufügt. Ich verweise nun für diese Kontrolle einfach auf meine Arbeiten in dieser Zeitschrift, in Wundts Philosophischen Studien und deren neuer Folge, den Psychologischen Studien und im Archiv für die gesamte Psychologie, und habe nur einen Fall mit dem für Marbe aller- dings besonders erschwerenden Umstand hervor, dafs die be- treffenden Stellen in dem Schlüsse des nämlichen Referates, das er angreift, nicht nur zitiert sind, sondern dafs auch die weitere Entwicklung dieser Frage innerhalb des Leipziger Instituts er^ wähnt ist. Zu Marbes speziellem Mifsgeschick kann diese Arbeit von mir besonders den Lesern dieser Zeitschrift noch in Erinnerung,

438 Wühdm Wirth.

sein (Bd. 18, 1898, S. 57). Es handelt sich um mein Eintreten für die Fortdauer einer von Assimilationen unabhängigen Kon- trastwirkung unter Bedingungen, bei denen Wündt ihre Auf- hebung beobachtet hatte. Dabei ist an der Stelle meines späteren Referates noch dazu erwähnt, wie Wundt in der neuen Auflage der physiologischen Psychologie selbst auf diese Abweichung Rücksicht genommen hat. Wie Mabbe dazu kam, diese und die anderen Gregeninstanzen gegen seinen Satz über mich einfach zu ignorieren, und mich zu diesem in der Wissenschaft wohl seltenen Nachweis zu nötigen, dies zu erörtern, ist nicht meine Aufgabe. Ich kann ihm nur die Tatsache eindringüch ins Gewissen rufen, dafs er durch Ausstreuung objektiver Unwahrheiten mit meiner wissenschaftlichen Ehre leichtfertig umgegangen ist.

(Eingegangen am 22. Februar 1908.)

439

Literaturbericht,

Arthur Schkeider. Die Psychologie Alberts dei Groffei. Nach den Qaellen dargestellt. I.— II. Teil. Münster, Aschendorff, 1903, 1906. (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, hrsg. von Baeumkbb u. V. Hbrtling, IV, H. 5 u. 6.) XIV, VI u. 559 8. S». 18,50 Mk. Ich kann nicht leugnen, dafs der Wunsch des Herausgebers dieser Zeitschrift^ ich möge das Buch A. Schneiders Ober die Psychologie Alberts VON BoLLSTADT an dieser Stelle anzeigen, mich in eine gewisse Verlegenheit bringt. Die Bedeutung von ScH]!nsiDBRS Werk und sie ist eine nicht ge- ringe — liegt durchaus auf kulturgeschichtlichem Felde. Die Zeitschrift für Fsychologie dagegen wird naturgemäTs den Nachdruck auf solche Elemente in der Gredankenwelt vergangener Perioden legen müssen, die zu den psychologischen Forschungsaufgaben der Gegenwart noch in einer lebendigen Beziehung stehen; und solcher Flemente, das sei von vornherein bemerkt, sind in der Psychologie Alberts nur wenige vorhanden. So kann ich denn hier, wo für die rein kulturhistorische Würdigung nicht der gegebene Platz ist, während andererseits für solche Fragen, die an dieser Stelle von Interesse wären, nur geringes Material geboten ist, keine wirklich be- friedigende, allseitige Würdigung des anzuzeigenden Buches liefern, sondern muljs mich auf die Hervorhebung einzelner Züge beschränken.

Bekanntlich liegt die geschichtliche Bedeutung Alberts auf dem Ge- biete der Philosophie vorwiegend darin, dafs er die gewaltige Fülle neuen Wissensstoffes und neuer Spekulationsweisen, die in den damals geradezu massenhaft angefertigten Übersetzungen orientalischer Philosophen und Naturforscher ihrerseits waren sie Schüler der Griechen dargeboten wurde, in die Gedankenwelt der herrschenden abendländischen Schule und insbesondere auch der theologisch orientierten Denker einführte und dafs er versuchte, dieses aristotelische und pseudo-aristotelische (d. h. neu- platonische) Material nicht nur in einzelnen versprengten Stücken in die bis dahin bei den philosophierenden Theologen heimische augustinische Anschauungsweise einzupfropfen, sondern es durch Umbildungen und Aus- scheidungen in umfänglichem Mafse zu einer Synthese mit dieser altüber- lieferten Gedankenwelt geschickt zu machen. Wie für die Philosophie im allgemeinen, so gilt dieses insbesondere auch für die Psychologie. Mit unermüdlichem Fleifse, mit grofser Unbefangenheit dem Neuartigen, Modernen gegenüber und mit rührender Hingabe an die seiner Begabung zusagende wissenschaftliche Aufgabe hat Albert sich in eine unermefsliche

440 Literaturbericht

Literatur eingearbeitet und immer wieder aufs neue gestrebt, diese auch innerlich zu bewältigen; aber originale Gedanken oder gar Bemühangen, durch eigene Untersuchung des Tatbestandes die empirische Wissenschaft zu fördern, wie wir solche beim Hinblick auf die mancherlei selbständigen Beobachtungen Albebts in der Pflanzen- und Tierwelt auch für das Seelen- leben vielleicht erwarten möchten, finden wir auf dem Felde der Psycho- logie bei ihm nicht. Selbst die Albert eigentümliche Leistung, die Synthese des Alten und Neuen, ist recht oft noch unvollkommen genug ausgefallen. Je nach der besonderen Veranlassung spricht er bald überwiegend wie ein der augustinischen Tradition folgender Theolog, bald wieder mehr wie ein philosophischer Schüler des Aristoteles, dann wieder fast wie ein neu- platonisierender Araber. £s fehlt Albert nicht das Bewufstsein dieser Vielgestaltigkeit, zumal der Aristoteliker oder Neuplatoniker in ihm nicht selten mit dem Theologen in Konflikt kommt. Bei besonders auffallenden Ausführungen auch in psychologischen Dingen beteuert er dann wohl, dafs er hier nicht in seinem eigenen Namen spreche, sondern daCs er in seinen nichttheologischen Schriften nur die Meinungen der „Peripatetiker' wiedergebe. Wie wenig es mit diesem „nur" aber sein voller Ernst ist, wie sich vielmehr in solchen Äufserungen nur die Verzweiflung über die vergebliche Mühe ausspricht, mit der versuchten Synthese wirklich zu Ende zu kommen, verbunden mit dem Wunsche, für alles Anfechtbare sich Generalpardon zu verschaffen: das hat, gegenüber vergeblichen Rettnngs- versuchen neuerer Autoren, der Verfasser des vorliegenden Buches recht gut gezeigt.

Für den Historiker ist diese Arbeitsweise Albebts von grofser Be- deutung. Sie ermöglicht einen unmittelbaren Einblick in das Werden der Hochscholastik, da sie diese in statu nascendi vorführt und die in einem Ausgleichsprozefs allmählich verschmelzenden Kräfte -noch nebeneinander gehend und miteinander ringend zeigt. Aristotelismus, Neuplatonismus, Augustinismus, selbständig entwickelte Philosophie und herrschende Theo- logie sind noch in ihrer ursprünglichen Gestalt zu erkennen, wenn auch immerhin der Ausgleichsprozefs bereits eingesetzt hat. Darum hat die Psychologie Albebts für den Historiker, der nicht blofs System an System reihen, sondern Zeitbewegungen verstehen will, als solches Zeitdokument grofse Wichtigkeit, mag auch ihr Wert an sich ein geringer sein; denn an sich betrachtet, stellt diese Psychologie nur eine oft unbeholfen gehäufte Masse, kein organisches Ganzes dar.

In der Erkenntnis dieses Sachverhaltes und geleitet von der Einsicht, dafs die historische Methode für die Herausarbeitung des geschichtlichen Tatbestandes eine von Werturteilen geleitete Auswahl des Rohstoffes vei^ langt, hat der Verfasser eine Anordnung getroffen, die nur von dem getadelt werden kann, der die angegebene besondere Stellung Albebts in der ge- schichtlichen Entwicklung nicht in Betracht zieht. Er hat das umfängliche und höchst verschiedenartige Material nicht in der Weise disponiert, dafs er es von vornherein nach sachlichen Gesichtspunkten, etwa: Wesen der Seele, vegetative, sensitive, intellektive Kräfte, einteilte und dabei innerhalb dieser Rubriken das Disparateste zusammendrängte, wobei dann der Schein einer Einheitlichkeit erzielt wäre, die in Wahrheit gar nicht vorhanden ist

Literaturbericht 441

yielmehr macht er, im Hinblick auf das, was bei Albert für den Historiker in erster Linie von Wert ist: die Quellenanalyse, zum leitenden Gesichts- punkt und behandelt zuerst die peripatetischen Elemente in der Psycho- logie Alberts, dann die neuplatonischen und weiterhin die theologisch- augnstinischen Elemente, worauf zum Schlufs der Versuch einer Synthese besprochen wird, den Albebt in gröfserem Umfange in der Summa de homine gemacht hat. Der Verfasser kann sich hierbei zu seiner Recht- fertigung mit gutem Grunde auf Äufserungen von Albebt selbst berufen (8. 88, 442). Bemerkt dieser doch selbst einmal (Summa de homine qu. 69, tom. 36, p. 565 ed. Boronet) mit gröfster Naivität, dafs er nunmehr über eine Reihe von Seelenkräften sprechen wolle, die von den Philosophen nur selten aufgestellt seien, wohl aber von den ^sancti" die Kirchenväter und die diesen folgenden theologischen Lehrer sind gemeint behandeU würden; worauf dann an die Psychologie des Aristoteles die Peters des Lombarden angefügt und über Sensualität, oberen und unteren Teil der Vernunft, liberum arbitrium, Synderesis und conscientia, Bild Gottes in der Seele gehandelt wird.

Freilich bleibt die Abtrennung im einzelnen manchmal unsicher. Namentlich da, wo unter den „peripatetischen Elementen" neben dem, was schon dem Aristoteles selbst angehört, mancherlei anzuführen war, was erst seine zugleich vom Neuplatonismus beeinflufsten arabischen Erklärer auslegend und unterlegend hinzugefügt haben, können sich Zweifel erheben. Im ganzen aber dürfte der Verfasser das Richtige getroffen haben. Übrigens hat er durch reichliche Verweise und gute Register zugleich dafür gesorgt» dafs auch derjenige, welcher die verschiedenartigen Auffassungen Albeets über eine bestimmte sachliche Frage vereint zu sehen wünscht, ohne grofse Schwierigkeit seinen Wunsch erfüllen kann.

Den weitläufigen Stoff für diesen Rahmen hat der Verfasser mit grofsem Fleifse gesammelt Es galt in der Tat ein gewaltiges Material für diesen Zweck durchzuackern füllen die Werke Albsrts in der neuen Ausgabe von BoROMET doch achtunddreifsig starke Quartbände , für welches wenig- stens auf dem Gebiete der Psychologie brauchbare Vorarbeiten so gut wie gar nicht vorhanden waren.- So ist denn Schheiders Streben nach mög- lichster Vollständigkeit und urkundlicher Genauigkeit erklärlich, das ihn veranlafst, häufig längere Partien mehr oder minder wörtlich zu übersetzen oder zu paraphrasieren. An sich hätte man an Stelle dieser vielen weit- läufigen Referate gern eine knappe Zusammenfassung gesehen, die das Charakteristische scharf hervortreten liefs. Die Lesbarkeit des Buches hafte dadurch wesentlich gewonnen.

Die Wiedergabe von Albbrts Gedanken ist im allgemeinen eine richtige. Genaue Zitate erleichtern Überall die Nachprüfung.* Bei der entsetzlichen

* Bei einer Reihe von Anführungen aus dem III. Buche von De anima muTs es statt tract. 1 heifsen tract. 2. Die falschen Seitenüberschriften bei Jamht (und ebenso bei Bobonet) haben den Verfasser hier irregeführt Bei den Zitaten aus der Summa de homine ist die nach Jamht gegebene Zählung der Quästionen mehrfach unrichtig.

442 Literaturbericht.

Verwahrlosung der gedruckten Texte (auch die Schneideb nicht zugängliche BoBONBTSche Ausgabe bringt hier keine Besserung, vielmehr bat sie öfter durch neue Druckfehler den JAHHYschen Text noch weiter verschlechtert) war dies keine leichte Aufgabe. So wird man denn einzelne Versehen gern entschuldigen. Von den mancherlei Beispielen, die ich mir angemerkt habe, sei eines erwähnt, weil es zu einer historisch unrichtigen Benrteilnng geführt hat. S. 475 wird aus einer Stelle in Albrrts theologischer Snmme (II tr. 14, q. 91, m. 4, a. 1, pag. 191a Bobonbt) herausgelesen, dafs entgegen zu sonstigen Ausführungen Albbbts das liberum arbitrium hier im intellek- tualistischen Sinne verstanden werden müsse eine Konsequenz, der sich Albebt in seiner Unklarheit freilich nicht bewufst gewesen sei , weil hier „nach ihm dasselbe, was als Verstand auf Grund eines Urteila- spruches sich für etwas entscheidet, diesem als Wille beistimme und ein- verstanden sei''. Allein Albebt sagt dort nicht, dafs ratio und voluntas idem seien, sondern dafs ihre Übereinstimmung in hoc idem (auf das- selbe] gehe. Nicht Vernunft und Wille werden gleichgesetzt, sondern beide sollen auf denselben Gegenstand gehen.'

Wenn wir die Psychologie Albebts selbst, wie sie in Sghkbtoebs Dar- stellung uns entgegentritt, noch mit einigen Zügen charakterisieren wollen, so läfst dieselbe, wie schon bemerkt wurde, von dem Interesse für Beob- achtung und Empirie, das Albebt auf dem Gebiete der Natur gelegentlich zeigt, nichts erkennen. Die Bestimmung des Wesens der Seele an sich und in ihrem Verhältnis zum Körper und die Abgrenzung und Gliederang der Seelenvermögen liegen ihm vor allem am Herzen. Es entspricht das ganz dem Zuge seiner Zeit, in der, wie Siebeck sehr gut gezeigt hat, die feinere Analyse der psychischen Tätigkeiten und ihres Zusammenwirkens, wie sie z. B. Johannes von Salisbuby zu geben versucht hatte, hinter den besonders durch die Araber geförderten Versuchen, die Vermögenstheorie durch Systematisierung aller bei den früheren sich findenden Betrachtungs- und Ausdrucksweisen auszugestalten, fast ganz zurücktritt. Freilich konnte die arabische Wissenschaft auch für die bessere Einsicht in die komplizierten psychischen Vorgänge fruchtbare Anregungen geben. Nicht zwar ein den Abibtotbles interpretierender „Philosoph'', wohl aber ein durch Mathematik und exakte Beobachtung geschulter Naturforscher, der Optiker ALHAcnr,

^ Wenigstens in einer Note möchte ich anmerken, dafs ich hinsichtlich einer Frage, welche die ganze Würdigung der für Albebts NeuplatonismoB mafsgebenden Schrift De intelkctu et intelligibili angeht, nämlich der Frage, ob die prima in teil igen tia dort Gott oder die erste Emanation bezeichne» die Änderung nicht billige, welche Schneideb gegenüber seinem ursprüng- lichen Standpunkte (S. 75 f.) im zweiten Teil seiner Schrift (S. 303 ff.) vor- genommen hat. An der mit anderen bestimmmten Äufserungen Albebts im Widerspruch befindlichen Stelle jener Schrift nämlich, auf welche Schneideb diesen Wechsel seiner Auffassung stützt, ist anscheinend der Text verderbt. In meinem „Witelo", S. 403, Anm. 5 habe ich dies be- gründet und vermutet, dafs in den Worten: „cum ipsa sit causa prima* etwas ausgefallen sei, etwa: cum ipsa sit immediate a causa prima.

Literaturbericht 443

dessen ins Lateinische übertragene ,, Perspektive '^ in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts auf naturwissenschaftlich interessierte Kreise einen starken Eindruck machte, hatte mehrfach, namentlich durch den Nachweis, dafs schon in der Wahrnehmung, insbesondere bei der Tiefen Wahrnehmung, assoziative Elemente wirksam sind, der psychologischen Analyse neue Wege gewiesen. Witblo, ein Schlesier, aus der Gegend von Liegnitz, und der Engländer Roobb Bacok sind ihm darin gefolgt. Letzterer entwarf sogar eine lebhaft an Helmholtz erinnernde Theorie der unbewufsten Schlüsse, d. h. gewohnheltsmäfsiger Assoziationen, welche eine sofoitige deutende Auffassung des Wahrnehmungsinhaltes ermöglichen sollen. Bei Albbbt findet sich nichts derartiges. Sein Vorbild, soweit die Araber in Betracht kommen, ist nicht Alhacbn, sondern sind die Aristoteleserklärer Alfababi und AviCBNNA, sowie der Abrifs der Lehre Avicbnnas, den Aloazel seiner Be- kämpfung der Philosophen vorausschickte.^ Wenn er auf die Vorgänge der Assoziation zu sprechen kommt (S. 170 ff.), so geht er in nichts über das hinaus, was Abistotbles schon geboten hatte. Auch eigene Beispiele und selbständige Erfahrungsbelege gibt er hier so wenig wie anderswo. Die Darstellung ist vorwiegend abstrakt und rein spekulativ. Zugleich trägt sie noch ganz den logisch -harmonistischen, das Überlieferte dialektisch ausgleichenden Charakter, der durch die Entstehung der Scholastik bedingt war und den man erst allmählich und keineswegs allgemein zu überwinden lernte. Den Ausgangspunkt bildet eine bunte Fülle von Definitionen der Seele und ihrer Vermögen, wie diese von Philosophen oder Theologen über- liefert waren. Hier, nicht bei dem empirischen Tatbestände, setzt Albebt ein : rechtfertigend, einschränkend, selten verwerfend, öfter umbiegend, das Disparateste harmonisierend. Bei der von Schnbideb gewählten Disposition nach den Quellen Albebts tritt dieses für Albbbt bezeichnende Verfahren mit grofser Deutlichkeit dem Leser entgegen.

Die psychologischen Lehren Albebts im einzelnen auch nur zu skizzieren, würde zu weit führen. Nur einiges Bemerkenswerte sei gestreift.

Was das Verhältnis von Leib und Seele anlangt, so verläfst Albbbt hier mit Entschiedenheit den platonisierenden Standpunkt der älteren Scholastiker, unter denen noch Hugo von St. Viktob die Seele allein als den wahren Menschen betrachtet hatte, und macht sich die aristotelische Definition der Seele als der Entelechie des Leibes zu eigen (S. 10 ff., 19 ff.). Wenn er dagegen die Seele an sich bestimmen will, so läfst er den Neu- platonismus des Isaak Israeli auf sich einwirken (S. 17, 221, 311, B25f., 866), oder er stellt eine Masse von Definitionen zusammen, die von christ- lichen, vornehmlich theologischen Schriftstellern gegeben werden auch Sbnbca, dem man einen Briefwechsel mit dem Apostel Paulus unterschob, figuriert unter diesen „sancti" (S. 365 ff.), ohne dafs es ihm freilich gelänge, diese wirklich auf einen einheitlichen Grundgedanken zurückzuführen.

* Wenn Schneider S. 208 Avicbnna (gestorben 1037) unbedenklich den Lehrer des Philosophengegners Algazel (geboren 1059) nennt, so ist das eine recht mifsverständ liehe Angabe, auch wenn sie blofs auf das Studium der Schriften Avicennas durch Gazali gestützt werden soll.

444 Liter aturbericht.

Was Albbrt über die vegetativen Vermögen und über äuDsere und innere Sinne bemerkt, hat Schnbider mit unendlicher Mühe gesammelt und auf seine Quellen zurückgeführt (S. 51 ff., 87 ff., 154 ff.}. Überall zeigt sich Albbbt hier als Kompilator. Neue Tatsachen oder Erklärungen habe ich bei ihm nicht gefunden. Wenn er die Behauptung Avicemnas (VI. lib. nat. U, 4), unter allen Sinnesempfindungen seien es die Gerüche, welche am wenigsten dem Gedächtnis sich einprägten (wie man sieht, ist die Unter- scheidung von Graden der Keproduzierbarkeit von Sinneseindrücken schon alt), durch den Umstand beweisen will« dafs der Mensch von Gerüchen am seltensten träumt (S. 120), so weifs ich dafür allerdings keine Quelle anzugeben; aber eine solche Einzelheit würde bestenfalls wenig beweisen. Nichtsdestoweniger ist Ajlbbrts Kompilation und Schnbidbrs sorgfältige vergleichende Bearbeitung derselben für den Historiker ein sehr erwünschtes Hilfsmittel. Wir finden dort in der Tat fast alles zusammengestellt, was morgen- und abendländische Gelehrte damals über jene Gegenstände *u sagen wufsten. Als besonders dankenswert hebe ich die Ausführungen über Anatomie und Physiologie des Gehirns (S. 173 ff.) und über die mittel- alterlichen Versuche einer Lokalisierung der Gehirnfunktionen (eine über- sichtliche Tabelle S. 182) hervor. Treffliche Ergänzungen dazu bringt in einem anderen Hefte der „Beiträge" (V, 3) M. Horten (Das Buch der Ring- steine Farabis. Münster 1906. S. 218— 238. Vgl. S. 69, Es würde unbillig sein, über den voreiligen und phantastischen astralmythologischen Ab- leitungen HoRTBNS, die ich persönlich als haltlos betrachte, die vielfache höchst, wertvolle Förderung zu übersehen, welche sein Buch sowohl für die Geschichte der älteren und der so wenig bekannten späteren arabischen Philosophie, wie zum Teil auch der Scholastik gebracht hat. Dasselbe bietet insbesondere auch zu der ScHNEiDERschen Arbeit über Albbbt an zahl- reichen Stellen wertvolle Parallelen und Ergänzungen.) Auch auf die Ausführungen über den Begriff des „intentionalen Seins'' in der Scholastik Fbanz Brentano hat denselben wieder in die Psychologie einzuführen versucht, und Hcsserl iöt ihm darin gefolgt sei hingewiesen (S. 89 f.; vgl. 331 f.).

•' Einen breiten Raum nimmt in allen Abschnitten des Buches natur- gemäfs die Lehre Albkrts vom Intellekt ein. Wieder ist hier hervorzuheben, dafs von einer auf Selbstbeobachtung beruhenden Zergliederung des psychischen Tatbestandes so wenig die Rede sein kann, wie von einem Versuche, die Entwicklung komplizierter Gebilde genetisch zu verfolgen. Anregungen letzterer Art, die in dem At^bert vorliegenden Material gegeben waren, werden nicht weiter verfolgt. So hatte Aristoteles, auTserhalb des Rahmens seiner sonstigen Lehren von der Vernunft, im Schlufskapitel der zweiten Analytik den Gang bei der Bildung von Allgemeinbegriffen als einen Weg von der Sinneswahrnehmung durch die Erinnerung und die assoziative Verknüpfung (die „Erfahrung") hindurch zu charakterisieren versucht. Albert wiederholt diesen Gedanken, der wenigstens einen An- satz macht, aus der blofsen Vermögenspsychologie herauszukommen, weifs aber ebensowenig etwas damit anzufangen, wie die überwältigende Mehrzahl seiner morgen- und abendländischen Zeitgenossen. Stellt er doch in der aristotelischen Reihe : sensus, memoria, experientia, universale, die er auch

Literaturhet^cht. 445

De an. III 2, 13 zugrunde legt, anderswo (ebenda c. 19) ganz gegen den Sinn der Theorie die beiden Glieder memoria und experientia um und beweist dadurch, dafs ihm die Einsicht in die Bedeutung der Assoziation, an die Aristoteles bei der ^experientia*' denkt, fremd ist (Schneider berührt 8. 235 die ganze Sache nur flOchtig).

Mit grofser Ausführlichkeit sucht sich Albert dagegen mit der Lehre des Aristoteles vom Intellekt und mit den griechischen und arabischen Auslegungen dieser Lehre auseinanderzusetzen. Denn wenn er da, wo er der theologischen Tradition folgt, auch mancherlei Elemente der augusti- nischen Erkenntnislehre weiterführt, so ist das Charakteristische dieser bei den älteren Scholastikern herrschenden Auffassung, der Versuch näm- lich, das menschliche Erkennen als ein Begreifen im Lichte der göttlichen Wahrheit (der „rationes aeternae") zu deuten, von ihm doch aufgegeben. Das Fachwerk der augustinischen Vermögenseinteilungen hat er- dort, wo er als Theologe spricht, beibehalten; aber jener Grundgedanke, den die Franziskanerschule als Unterscheidungslehre hochhält, spielt selbst da keine - Rolle mehr bei ihm (Schneider hätte diesen Gegensatz zur Franziskaner- Bchule schärfer hervortreten lassen können). Auch auf Vermittlungen, wie wir sie z. B. bei Roger Bacon finden, läfst Albert sich nicht ein. Er be- deutet die entschiedene Wendung zum Aristotelismus. Der beste Erklärer des Aristoteles aber ist ihm Avicenna. Wie weit er diesem folgt, freilich unter fortwährendem Widerstreben des protestierenden Theologen in ihm, kann man aus dem ersehen, was ScHNsmER bei der Besprechung der neu- platonischen Elemente in der Psychologie Alberts beibringt (S. 315 £f.). Vor allem hält Albert an der Grundanschauung dieser Aristoteliker fest, dafs die Denkgegenstände, d. h. die allgemeinen Begriffe und die in diesen gegebenen Wissenssätze, nicht durch die Vielheit individueller erkennender Subjekte in ihrer universellen Denkgemeinschaft beein- trächtigt werden dürfen. Andererseits aber tritt er, der herkömmlichen philosophischen und theologischen Scholastik getreu, in einem Punkte der Lehre Avicennas und allen verwandten Theorien entschieden entgegen. Der Intellekt, und zwar der intellectus agens so gut wie der intellectus possibilis und der intellectus speculativus, ist nicht, wie die Araber in verschiedenen Wendungen lehren, eine von den Individuen getrennte Sub- stanz, sondern er ist eine Kraft der menschlichen Einzelseele. Hat auch der Intellekt aus sich keine Beziehung zu der Materie, in der jene Aristo- teliker das Individuationsprinzip erblickten, so geht er doch aus einer Seelensubstanz hervor, die in anderer Hinsicht dem Körper zugeordnet ist und dadurch ihre Individuation erfährt. Auch Aristoteles, sucht Albert mit guten Gründen zu zeigen, habe darüber nicht anders gedacht. Indem nun Albert jene arabistisch-aristotelische Lehre von der strengen Uni- versalität und der universalen Gemeinschaft der Denkinhalte in vollster Schärfe festzuhalten sucht (es ist dasselbe Allgemeine, welches von allen erkennenden Subjekten erfafst wird), damit aber im Gegensatz zur arabischen Philosophie die Individualität des Intellektes im Menschen vereinigen will (vgl. insbesondere die Polemik gegen Averroes S. 203 ff.), gelangt er in weitläufigen Digressionen und stets neuen, nicht immer völlig fibereinstimmenden Ansätzen zu seiner Theorie des Intellektes und der

446 Litej'aturbericht

intellektuellen Erkenntnis, die näher zu entwickeln ich einem anderen Orte überlassen mufs. Dieselbe stellt ein Kompromüjs dar, welches in dieser Form Albkrt eigentümlich ist, und neigt stärker nach der arabisü- sehen Seite, als die Theorie des Thomas von Aqüino, bei welcher jene historischen Voraussetzungen mehr verwischt sind.

Das Charakteristische dieser Theorie Alberts scharf herauszuarbeiten, ist ScHNEiDBR uicht voUkommeu gelungen. Sachlich gibt er wohl das Material dazu (einen Kernpunkt berührt er z. B. S. 229, wo aber verschiedene Cn- ezaktheiten die Ausführung fast unverständlich machen) ; allein es ist nicht in die rechte Form gebracht. In langen Referaten, vielfach in vollständigen Übersetzungen, werden die polemischen Ausführungen Albsbts aneinander- gereiht, ohne dafs es dem Verfasser glückte, dem von dieser Weitschweifig- keit ermüdeten Leser in die Theorie Albebts selbst eine klare Einsicht zu verschaffen. So bietet er dem Historiker reiches Material zur Geschichte eines bedeutsamen Problemes, wie es in dieser Fülle noch nirgendwo ge- sammelt ist; aber Albbbt selbst kommt in dieser Frage nicht zu seinem Rechte. Dessen Theorie lälJst sich nur erfassen, wenn sie aus ihren Vor- aussetzungen abgeleitet und dadurch in ihrer inneren Struktur offen gelegt wird. Schneider gibt dazu nur eine Vorarbeit, jedenfalls aber eine sehr brauchbare.

Auch Alberts Willenslehre, die freilich hinter der Lehre vom Intellekt stark zurücktritt, ist für den Historiker von nicht geringem Interesse, und zwar wieder in erster Linie deshalb, weil die verschiedenen Elemente, die im 13. Jahrhundert eine Synthese eingehen, hier noch deutlich gesondert nebeneinander liegen und aus Albebts Angaben hinsichtlich ihres Ursprunges vollkommen sicher bestimmt werden können. Schneider legt dies Material in voller Ausführlichkeit vor {S. 261 ff., 45öff.), und seine Darstellung ist um so verdienstlicher, weil er vielfach auch auf die Vorgeschichte ein- gegangen ist (z. B. S. 273 ff., 478 ff.).

Sämtliche Elemente der aristotelischen Willenslehre sind auch von Albert herübergenommen: der Wille (im engeren Sinne) als das vernünftige Begehrungsvermögen, das Wollen (im engeren Sinne) als ein durch den von der Vernunft vorgelegten Zweck bestimmtes Begehren, die Begriffs- bestimmung des Gewollten '* ^ durch den Gegensatz zu dem Erzwungenen oder dem durch Unkenntnis Herbeigeführten, der aristotelische Satz (Eth. Nie. III, 7), dafs das Setzen oder Nichtsetzen eines Aktes von uns abhängig sei {t</' f)ftii'\ und die Zurückführung dieser Selbständigkeit auf die ver- nünftige Natur des Menschen, der Begriff der „electio" oder „eligentia''

' Es ist das aristotelische ixovaior. Dasselbe darf nicht mit „freiwillig" wiedergegeben werden, wenn dieses Wort im Sinne des liberum arbitriom genommen werden soll, wie I^enino, Die Zurechnungslehre des Aristoteles (Jena 1903) S. 281 ff. mit Recht ausführt. „Voluntarium" (nicht etwa „liberum") hat die alte lateinische Übersetzung, und so drückt sich dem- gemäfs nicht nur Thomas von Aqüino (auf den Crbusbn, Fhüos. Jahrbuck^ Fulda 1907, S. 400, 3 hinweist) in seinem Ethikkommentar konstant ans, sondern ebenso Albert Eth. III, tr. 1, c. 16, tom. 7, p. 218 f. Bobombt.

Literaturbericht. 447

(TtpoaiQBots) als der durch die praktische Vernunft sich vollziehenden Wahl des rechten Mittels zum Zweck (ein Begriff, den Albbbt freilich De an. III, 4, 10 in der Psychologie nicht behandeln will, sondern auf die Ethik verschiebt: bezeichnend für das Nebeneinander der Dinge bei ihm). Zu diesen Elementen tritt mancherlei aus anderen Quellen hinzu, aus Nemesius z. B. die Unterscheidung des auf Erreichbares gerichteten WoUens und der blofsen Velleität (S. 266 f.), vor allem aber der Begriff des liberum arbitrium.

In eindringlicher Untersuchung hat vor kurzem (1803) Loeninq die von Hemann (1887) keineswegs abschliefsend behandelte Frage, wie Abistoteles zu dem Problem der Willensfreiheit sich verhalte, zu erneuter Diskussion gebracht. Wie man sich nun auch zu Loenings Resultaten stellen möge, das wird nicht zu leugnen sein: die Problemstellung, wie sie in dem modernen Gegensatz von Determinismus und Indeterminismus zur Ver- handlung kommt, liegt bei Aristoteles überhaupt noch nicht vor. Albert hat ganz richtig empfunden, wie fern das auch ihn schon beschäftigende Problem dem Aristoteles noch ist. Darum rechnet er das liberum arbitrium zu den Kräften, die nicht von den Philosophen, wohl aber von den Theologen gelehrt wQrden \ und entwickelt den Begriff desselben gemäfs der theo- logischen Tradition.

Wie aber soll diese Kraft in den psychologischen Organismus ein- gefügt werden ? Höchst charakteristisch ist das Verfahren, welches Albert hier einschlägt. Das liberum arbitrium, zeigt er, ist weder mit der Ver- nunft, noch mit dem Willen identisch. Es darf auch nicht dem praktischen Vernunft urteil (der electio oder prohaeresis) gleichgestellt werden*, von dem sein Spruch sich unterscheidet, wie der KompromiTs, den der Schieds- richter trifft, von dem Rechtsurteil des ordentlichen Richters.^ Das liberum arbitrium ist es, welches diesen Kompromifs zwischen dem Vernunfturteil

* De anima III, 4, 10, tom. 5, p. 410a bis 411b (bei Schneider S. 283 nicht erwähnt) spricht er zwar auch in der Erklärung einer aristotelischen Schrift vom „liberum arbitrium", aber in einer Digression über „Platoniker und Theologen".

Schneider S. 290 ff. Durch eine ungenaue Übersetzung ist die Ausführung S. 291 unverständlich. Dafs die Prohaeresis unter den Begriff der Tugend falle, wie Schneider den Albert dort annehmen läfst, wäre Nonsens. „Prohaeresis enim cadit in diffinitione virtutis" heilst: die Pro- haeresis gehört zu den Begriffs merk malen der Tugend, welch letztere Aristoteles ja als t^ie TtQoaiQeitxri definiert.

' Das „iudicare" der ratio wird vom „arbitrari" des liberum arbitrium unterschieden. Gelegentlich spricht Albert allerdings auch von dem „arbitrium" der Vernunft (Summa theol. II, qu. 91, m. 4, a. 1, tom. 31, p. 131 Boronbt). Aber in der Summa de homine p. 575 a, 578 b Bobgnet wird der Vernunft das „decernere" zugeschrieben, nicht das „arbitrari'', wie dies Schneider S. 471 behauptet, der hier, wie auch sonst verschiedentlich, Albert mit Unrecht einen Widerspruch aufbürdet, der in Wahrheit nicht vorhanden ist.

448 Literaturberickt

nnd dem oft auf das Verkehrte gehenden Begehren ^ bald Eugunsten die bald zugunsten jenes BchlielJBt. Damit ist nun das liberum arfoitriiun merkwürdigerweise zu einem eigenen neuen Vermögen (wenn auch nicht au einem Vermögen ^^schlechthin" : 8.457 ff.) neben dem Willen geworden, ftr das eine klare Grenzbestimmung zu gewinnen Albebt natürlich nicht ge^ lingt Die späteren Scholastiker, insbesondere Thomas ton Aquiko, haben darum die Auffassung des liberum arbitrium als eines gesonderten Ver- mögens neben Vernunft und Wille aufgegeben.

Trotz jener Sonderung kann Albert nicht umhin, vom liberum arbitriiun aus den Freiheitsbegriff auch in die Lehre vom Willen selbst einzuführen« Auch der Wille ist frei, ja er ist das ursprüngliche Freie. Diese Freiheit besteht in ihrem entscheidenden Momente darin, dafs der WiUe nicht nur gegenüber dem Antriebe des sinnlich Angenehmen, sondern auch gegenüber der Entscheidung der Vernunft es immer noch in seiner Gewalt hat, au wollen oder nicht zu wollen.' Ist dies allgemein scholastische Lehre*, so drückt sich Albebt gelegentlich auch noch stärker aus. Im Gegensatz nur „praktischen Vernunft*', die wie ein weiser Monarch waltet, der nur dem Staats wohl gemäfs entscheidet, schaltet der Wille wie ein Tyrann: „Sic volo, sie iubeo; sit pro ratione voluntas" (De an. III, 4, 6, p. 402; ScHvimHDt S. 252, 270). Damit ist ein absoluter Indeterminismus ausgesprochen, der sich freilich mit dem relativen Indeterminismus nicht recht verträgt, welcher der Kompromifstheorie des liberum arbitrium zugrunde liegt. Sagt doch Albebt anderswo (Eth. VI, 1, 2, tom. 1, p. 395a): appetitus determi- natus ad hoc (sc. ad finem) per rationem voluntas est wo man freilich den Ausdruck „determinatus" nicht im modernen Sinne nehmen darf, da er nicht psychologisch kausal, sondern logisch spezifizierend gemeint ist.

Auf vieles andere mufs ich mir versagen einzugehen. So auf die Ab- handlung über synteresis und conscientia (S. 488 ff.), die für die Greechichte der mittelalterlichen Ethik wichtig ist, auf die augnstinischen Temare: memoria, intelligentia, voluntas und mens, notitia, amor (S. ö05ff.), bei denen die aristotelische Unterscheidung der Seelen vermögen vom Seelenweeen und die augustinische Gleichsetzung der Dreiheit des Seelenlebens in der Einheit des Seelenwesens Albebt, der beides vereinigen will, seltsam ias

^ An der vom Verfasser S. 470 behandelten Stelle, in der er reichliche Widersprüche findet, steht, was Schnbideb übersehen, die voluntas im Sinne von concupiscentiae voluntas; vgl. Summa de hom. qu. 70, a. 2, tom. 36, p. 577 a, 578 b Bobgnet. Damit hebt sich auch dieser angebliche Widerspruch.

' S. 477 kommt ScHNsmEE auf die Unterscheidung der libertas a coactione und der libertas a necessitate, die der Sache nach in der Tat bei Albebt sich findet. Aber eine feste Terminologie ist weder bei Albebt, noch bei Thomas ausgebildet. Die Stellen, welche Schkxidxs ans letzterem anführt, lassen keineswegs den späteren Sprachgebranch adKMi als fixiert erkennen.

' Ich verweise auf meine Darstellung der thomiatischen und der skotistischen Willenstheorie in : Kultur der Gegenwart 1 (ÖX S. 346, 366.

Literatwherieht 449

Gedränge bringen, und anderes. Das Gesagte wird hinreichen» nm den Wert des ScHinnnBBSchen Werkes für die Philosopfaiegeschichte darzulegen.

Ol. Basumkbb (Strafsbnrg i. E.).

M. Rothicann. Ober die Ausftllienclieiiugei nacb Ualoneii des Zeitral- nerfettiysteiu. Neurologisches Zentralblatt 26 (13), S. 694-608. 1907. In diesem inhaltsreichen und flüssig geschriebenen Aufsatze behandelt R. die Frage der temporären Ausfallserscheinungen und die Erklftrungs- mOglichkeiten ihres Zustandekommens. Gegenüber der MoNAKOWschen Lehre von der „Diaschisis'' (der vorübergehenden Spaltung einer nervösen Leistung) hebt Verf. die mannigfachen Widersprüche experimenteller und klinischer Erfahrungen mit dieser Theorie hervor; vor allem bezieht er sich hier auf die Klinik der Hemiplegie und auf die Beobachtungen an Hunden und Affen, denen die Extremitatenregion oder die Pyramidenbahn zerstört worden war. Grofsenteils sind es Ergebnisse eigener Unter- suchungen, auf die R. seine von der Diaschisislehre abweichenden An- schauungen von der „Neubahn ung phylogenetisch alter Zentren und Leitungs- bahnen'' gründet. Nach Ausschaltung der kortikalen, phylogenetisch jungen motorischen Zentren gewinnen die in ihrer physiologischen Bedeutung zurückgedrängten, subkortikalen, phylogenetisch alten oder mittelalten Zentren wieder an funktioneller Selbständigkeit und übernehmen die Funk- tion der ausgefallenen höheren, jüngeren Mechanismen. Je mehr diese alten Zentren im Laufe der Phylogenese an Selbständigkeit verloren haben, desto unfähiger werden sie, den Ausfall der kortikospinalen Bahn zu decken, desto später vermögen sie die Schädigungen zu kompensieren. Daher die grofsen Unterschiede in den Ausfallserscheinungen bei Hund, Affe und Mensch nach Fortfall der kortikalen 2ientren.

Diese sehr plausible Erklärung der Beziehungen zwischen phylo- genetisch alten, subkortikalen zu phylogenetisch jungen, kortikalen Zentren versucht R. nun auf das Verhalten der GroÜBhimfelder zueinander zu übertragen ; und er bezieht sich dabei besonders auf den Versuch Flsohsios einer myelogenetischen Abgrenzung verschiedener Rindenterritorien. Die menschliche Pathologie lehrt, daCs es kortikale Zentren gibt, die anderen kortikalen Zentren übergeordnet sind, sie zusammenfassen. Das ergibt sich vor allem aus dem Studium der Aphasie. Die aphasischen Störungen und auch die Störungen des Handelns bei erhaltener Beweglichkeit der betreffenden Glieder (Apraxie) setzen der Erklärungsmöglichkeit durch die Diaschisistheorie ganz besondere Schwierigkeiten entgegen: der Anfall eines die Funktion dirigierenden Erregungsbogens hebt hier die Funktion in den ihm untergeordneten Zentren nicht auf; es ist nur im Falle der motorischen Aphasie das für den sprachlichen Ausdruck notwendige Zu- sammenarbeiten mehrerer motorischer Zentren, im Falte der Apraxie der höhere assoziative Mechanismus für das zweckmäfsige Handeln aufgehoben. Vielleicht geben uns weitere, unter den von Rothmann hier auf- gestellten Gesichtspunkten vorgenommene Untersuchungen über die Resti- tution von Ausfallserscheinungen neue Aulschlüsse, ob gesetzmäfsig« Zeitschrift für Psychologie 46. 29

450 Literaturberiekt,

Abhängigkeitsverhältnisse acwischen verschiedenen Rindengebieten bestehen und ob dabei phylogenetische Faktoren wirksam sind.

Spixlxstkr (Freibarg i. Br.)-

M. RosBNFSLD. Ober einige Aasfalluympteme bei TerletiaageR der Itek« firefthlrnhemisphire. Zentralhlatt f. NervenheUk. u. PaydUairie 80 (240), 8. 489—498. 1907. Die Frage nach der Art der unmittelbaren Aasfallserscheinongen, die Läsionen in bestimmten Grofshirnpartien zur Folge haben, ist oft aus dem Grunde nicht zu entscheiden, weil mit dem Einflufs indirekter und all- gemeiner Himschädigungen bei dem Zustandekommen der Defektsymptome gerechnet werden muDs. Eine besondere Wichtigkeit kommt deshalb solchen Fällen zu, wo eine zirkumskripte penetrierende Schädel Verletzung statt- gefunden hat, ohne dafs das Gehirn sonst gröblich durch Erschütterung a. ä. geschädigt wurde. R. teilt drei solcher Fälle mit, von denen besonders die beiden ersten Beachtung verdienen. Beidemal handelt es sich um eine Läsion des linken Schläfelappens ohne Beteiligung des Gebietes der inneren Kapsel. In beiden Fällen blieben nach Rückbildung der eigentlichen aphasischen Symptome noch Ausfallssymptome zurück, wie Störung der ver- balen Merkfähigkeit, Unfähigkeit richtig Gelesenes inhaltlich zu behalten, Yerlangsamungder spontanen Wortfindung, fehlerhafte Reihenproduktion ecc^ die optische Merkfähigkeit und die Reproduktion optischer Erinnerangs- bilder war ungestört. Diese Störungen der verbalen Merkfähigkeit und der Reihenproduktion scheinen zu den charakteristischen Ausfallssymptomen bei Erkrankungen der linken Hemisphäre zu gehören.

Spiblmbtbb (Freiburg L Br.)

A. Stbioeb. Stndiei tber die erblichen TerbUtBisge der Honibt«tkrimBiig.

ZeitsrhHft f, ilttfl'wÄettt. 16 (3), 229-242 u. (4), 333-359. 1906. S. kommt auf Grund umfangreicher Untersuchungen und statistischer Erhebungen an den Berner und Züricher Stadtschulen zu dem Ergebnis^ dafs die Vererbung beim regulären Astigmatismus eine hervorragende Rolle spielt in dem Sinne, dafs nicht nur der hochgradige Astigmatismus eine ererbte Familieneigentümlichkeit ist, sondern dafs die Hereditftt über- haupt die Krümmungs Verhältnisse der Hornhaut beherrscht, während der perverse Astigmatismus keinen angeborenen Zustand darstellt, vielmehr zn Lebzeiten des Individuums nach und nach entsteht. Übrigens sind diese Verhältnisse schon seit längerer Zeit bekannt, es fehlte bisher nur an ihrem zahlenmäfsigen Nachweis, den S. mit seiner mühevollen Arbeit in dankenswerter Weise erbracht hat. R. Oollik (Berlin).

W. A. Nagbl. Zwei Apparate für die aagenkntltcbe FnDktioBiprifiiiig. Adapto-

meter und kleines Spektralphotometer (Anomaloskop). Zcit9dirift fwr

Äugertheilkunde. 17 (3), S. 2'H— 22i. 1907.

Das Adaptometer stellt einen Apparat dar, der eine feine Abstufung

und Messung der Lichtreize ermöglicht und gleichzeitig gestattet, den

Lichtsinn der einzelnen Netzhautteile getrennt zu prüfen bzw. bei ver-

Literaturberu^t 461

gleichenden Untersnchnngen zahlreicher Personen immer die gleiche Netz- hantstelle und die gleich grofsen Netzhautflächen zn reizen, alles wichtige Vorzüge des Apparates, die für die klinische mannigfache Verwendbarkeit des Instruments von besonderer Bedeutung sind. Der Apparat selbst be- steht aus einem 80 cm langen lichtdichten Kasten, der vorn eine Milch- glasscheibe trägt, welche von dem zu Untersuchenden zu fixieren ist und die von hinten her durch elektrische Glühlampen beleuchtet wird ; durch mehrere dazwischengeschobene Vorrichtungen kann die Intensität der Be- leuchtung in weitem Umfange variiert werden. Eine grobe Abstufung er- folgt durch Einschieben bzw. Herausziehen von 3 Verdunkelungsscheiben, deren jede einen Verdunkelungswert = Vto liät. Alle 3 hintereinander verdunkeln auf (V«o)' = Vsooo- Eine feinere Keguli erung gestattet ein AüBBSTSches Diaphragma, dessen öffnungsweite sich von 1 qmm auf lOOO) qmm erhöhen läfst und abgelesen werden kann. Die Helligkeit ist also insgesamt im Betrage von 1 : 80,00^)000 veränderlich.

Das Anomaloskop ist ein sinnreich konstruierter handlicher kleiner Spektralapparat, der Farbengleichungen zwischen einem homogenen Spektrallicht und einer binären Spektralfarbenmischung liefert. Bei dem einfachen Modell I ist das homogene Licht, mit dem die eine Hälfte des kreisrunden Beobachtungsfeldes erfüllt ist, unveränderlich das der Natrium- linie, während das andere Halbfeld entweder mit einem Rot oder Grün oder einer beliebigen Mischung dieser beiden Lichter beschickt werden kann. Das Modell II ist etwas komplizierter gebaut und gestattet jedes beliebige Spektrallicht einzustellen, so dafs sich dieser Apparat in mannig- faltigerer Weise auch für rein wissenschaftliche Zwecke verwenden läfst. Das Anomaloskop erlaubt die schnelle und sichere Diagnose der ver- schiedenen Arten der Farbenuntüchtigkeit, insbesondere .auch der anomalen Trichromasie, was bisher nur mit Hilfe des komplizierten HsLüHOLTzschen Farbenmischapparats möglich war, es stellt mithin ein für den Sinnes- physiologen wie für den Ophthalmologen gleich wichtiges und praktisch wertvolles Instrument da, das sich aufs beste bewährt hat und ganz be- sonders in den nicht seltenen Fällen, in denen es mit Hilfe der bekannten übrigen Untersuchungsmethoden nicht gelingt, ein sicheres Urteil über die Art der vorliegenden Farbensinnstörung zu gewinnen.

R. OoLUN (Berün).

R. DiTTLBB. Oliar die SapfeBkontraktlon an der IselierteA Frosclmetiliavt

Ff lügers Archiv in, 1-M. 1907. Nachdem frühere Untersuchungen gelehrt hatten, dafs sich die Zapfen Verkürzung auch am ausgeschnittenen Auge erzielen läfst, weist DiTTLBR nach, dalis dasselbe auch an der völlig isolierten Netzhaut der Fall ist. Am durchschnittenen Dunkelauge wurde die Netzhaut vom Pigment- epithel vorsichtig getrennt. Diffuses Tageslicht gibt nach 20 Minuten, Sonnenlicht nach 10, Nemstlicht noch etwas langsamer wie Tageslicht, eine maximale Zapfenkontraktion. Ein interessantes Ergebnis brachten Versuche mit partieller Belichtung. Es wurde dabei die Zapfenkontraktion auch in den nicht belichteten Teilen hervorgerufen, unter Umständen in einem von der Belichtungsstelle aus allmählich abnehmenden Grade. Eine

29»

452 Literatwrbtricht

Beizaoflbreitung aof neryitaem Wege ist hierbei uBwahrscheuüich. Yiel- mehr handelt es sich um die Bildung von ^tPissimilatioasprodaktan^, die eich nieht am Entstehungeorte anh&ufen, sondern in die Umgehnng hineu- diffundieren und in dieser die Zapfenkontraktion auslOeen. £s echeint sieh um Säurebildung sn handeln. Dem Protoplasma selbst wftre hieniAA alao Lichtempflndlichkeit ahsusprechen, es würde sich vi^mehr om «ne chemische Reizung handeln. W. TaBiiDXLBXBTJBa (Frelbnrg i. B.).

A. MXI8UNG. Ofer t yftat og deM fyslik-cbeiilake gnudUg. Dansk Hospitals-

tidende 1906. Bei MsiSLUiGs Theorie der Gesichtsempfindungen wird die Zweiteilung des lichtempfindenden Organes in den farbentüchtigen Hellapparat (Zapi«n) und den farbenblinden Dnnkelapparat (Stttbchen) im Sinne der DuplialtAts- theorie vorausgesetzt. Für den Stäbchenapparat mit dem nachweisbar dmreh Licht zersetzlichen Sehpurpur will Verf. die bisher abliebe Auffassang eines photochemischen Vorganges gelten lassen. Den trichromatischen Zapfen- apparat aber betrachtet er ähnlich wie Hshkoo, der abgestimmte Besonatoren für elektrische Wellen annimmt, als sog. Kumaskope, wie man sie in Form des Kohärers und anderer Apparate technisch verwendet. Besonders deutliche Hinweise auf die Abstimmung der Zapfen als elektrische Reso- natoren sieht Verf. in der Kontraktionsfähigkeit des ZapfenmyoidSy wodorefa die Länge der Zapfen veränderlich wird, ferner auch in der Foom- Verschiedenheit der Zapfen im Netzhautcentrum und der Peripherie, sowie zwischen den Zapfenformen verschiedener Tierarten. Die photoelektrischen Schwankungen des sog. Ruhestromes der Netzhaut bezieht Verf. auf Trans- formation des Reizes. Auch die subjektiven Farbenerscheinungen bei Galvanisierung des Auges findet er damit im Einklang.

Bezüglich der Einzelheiten verweise ich auf eine deutsche, den gleichen Gegenstand behandelnde Arbeit des Verf. in der Zeitschrift für Smu^s- phynologie 4*2, S. 229 ff. W. A. Naoel (Berlin).

E. Rashuiann. Die neue Theorie der Lieht- and FarbeaempiAdug amf aaa- tOmiscli-physikaiUcher fimadlage. Zdtschr. f. AugenheUk. 16 (b\ 448—463.

1906. Unter Zugrundelegung seiner Theorie der Licht- und Farbenempfin- dung, die von der physikalisch bewiesenen Reflexion der Lichtstrahlen an den AuTsengliedern der Netzhautzapfen und -st&bchen ausgeht und welche annimmt, dafs die Innenfläche sowie die ZENKSRschen Pl&ttchen dieser Aufsenglleder lichtreflektierende Vorrichtungen bilden, welche sogenannte stehende Lichtwellen in den Innengliedern der Zapfen und Stäbchen er^ zeugen und dadurch die Entstehung des optischen Bildes bedingen, be- spricht der bekannte Forscher eine Reihe von Farben- und SehstArungen und versucht sie uns in anschaulicher, ungezwungener Weise an der Band seiner Theorie zu erklaren. So wird das physiologische Übergewicht der Macula als Stelle des deutlichsten Sehens gegenüber den seitlichen Parüea der Netzhaut auf die anatomische Stellung der Zapfenglieder in der Fovea centralis zurückgeführt; denn diese Stellungsrichtung der ZapfengUadar fiftllt mit der optischen Achse des Auges zusammen und mithin. kana mar

Literaturbericht, 453

sMkreeht einfallendes Licht in die in ^nem Pigmentbecher steckenden und hierdurch beim Behakt ybn den Nachbarzellen YölUg isolierten AuCmn* ond Innenglieder eindringen and zur Reflexion gelangen, wodurch die optische Vorbedingung zum Zustandekommen reiner stehender Wellen und damit auch genauer und scharfer optischer Bilder geschaffen ist. Aus der anatomisch bedingten schiefen Stellung der Zapfen in den peripher ge- legenen Netzhautteilen im Verhältnis zur optischen Achse des Auges leitet R. weiter nicht nur die Abnahme der Sehsch&rfe in der Peripherie der Netzhaut, sondern auch die Alteration der Farbenempfindung in diesen Teilen her, welch letztere seiner Ansicht nach hier durch die Beimischung seitlichen Lichtes bedingt ist, wodurch eine Änderung der Phase der stehenden Wellen und dadurch eine Unreinheit der Farben zustande kommt. Dementsprechend kann die Farbenblindheit der Netzhautperipherie als eine Erscheinung aufgefafst werden, welche sich rein physikalisch aus der physiologischen Btellungsänderung der peripheren Zapfen erklären lafst und ebenso können umgekehrt pathologische Stellungsänderungen der Zapfen an jeder Partie des Augenhintergrundes, auch in der Macula lutea» Verschiebungen dieser Gebilde im Gefolge von Exsudaten oder Blutungen etc. der Chorioidea, Störungen der Sehschärfe wie des Farbensehens bedingen. Die Arbeit bringt noch eine Reihe weiterer interessanter Vergleichs- momente und Erklärungsversuche, auf welche im Rahmen dieses Referats hier nicht näher eingegangen werden kann; es mufs deshalb auf dai^ Original verwiesen werden, dessen Lektüre auch den nicht ophthalmo- logisch geschulten Sinnesphysiologen sicher fesseln wird.

R. GoLLiN (Berlin).

H. Laübeb. ABttoaili€be Ufttersnchamgen ftbvr Heterochromie bat tavboD, ui- voHkosmon albinotischoii Kation. Zeitschr. f. AugaüteiJlk, m (4), 326^329. 1906. Die schon früher bekannte Tatsache, dafs völlig oder teilweise albinoüsche Tiere häufig taub sind, hat in letzter Zeit durch die Ent- deckung an Bedeutung gewonnen, dafs auch im Gehörorgan die Anwesen- heit pigmentierter Zellen eine der charakteristischen Eigenschaften dieses Organs ist. Zu dieser sinnesphysiologisch hoch interessanten Frage liefert L. einen wertvollen kasuistischen Beitrag, indem er Gelegenheit gehabt hat, die Augen zweier tauber weifser Katzen, die je ein braungelbes und ein blaues Auge hatten, anatomisch genau zu untersuchen. Während der anatomische Befund am braunen Auge vollständig mit dem anderer Augea, die normalen Tieren entstammten, übereinstimmte, fehlte an den blauen Augen das Pigment in den Zellen mesodermaler Abkunft vollständig und zwar sowohl das dunkelbraune der Ghorioidealzellen und Sklerazellen al« au€h das Hellbraune der Iriszellen. Was nun besonders interessant ist^ fehlte auch am Gehörorgan dieser Katzen das Pigment in den Zellen des perilymphatischen Bindegewebes, das normalerweise Pigmentzellen enthält, die den chorioidealen Pigmentzellen vollkommen entsprechen. Aus diese» Tatsachen läfst sich der wichtige Schlufs ziehen, dafs die Pigmentbildung in den höheren Sinnesorganen in einer gewissen Beziehung zu ihrer Fun)^»^

454 Literaiwrhericht

tion steht und dafs das Fehlen des Pigments als ein Zeichen der Minder- wertigkeit der Organe aufzufassen ist^ wie denn ja auch die physiologiache Minderwertigkeit albinotischer Augen beim Menschen eine schon Iftngst bekannte Tatsache ist. R. Golliit (Berlin).

W. F. Ewald. Die Foftiahma 461 lüLvtlgeii Labyriithi ud Ore Felf ea nofsaal (iiriUU fVlglris). Pflügers Archiv 116, 186-192. 1907. Die nach Exstirpation des Labyrinths erhaltenen Symptome bestehen in Drehungen um die Längsachse» die besonders bei Aufregung eintraten, Man^gebewegungen, nur auf Beizung eintretend, Pendelbewegnngen des Kopfes, die manchmal auch beim Schwimmen vorhanden waren; bei ein- seitigen operierten Tieren kommt eine Neigung zur Operationsseite hinxn, die besonders beim Schwimmen hervortrat. Alle operierten Tiere konnten in der Buhe die Bauchlage einnehmen, auch dann wenn noch die £x- stirpation der Augen hinzugefügt war. Die toten Tiere befinden sich hin- gegen in Seitenlage. Die Unterschiede zwischen einseitig- und doppelt- operierten Tieren sind mehr gradueller wie prinzipieller Natur. Nach weiteren Versuchen ist wahrscheinlich, dafs mit der Labyrinthentfemong ein Verlust an Muskelkraft verbunden ist.

W. Tbbndblbnbubo (Freiburg i. B.).

0. Adam. Über nomiile vid anoiiale IetihtvtlokaUutio& bei ScUaUmieB.

Zeitschr. f. Augenheilk. 16 (2), 110-127. 1906. A. hat bei 100 Patienten mit Strabismus concomitans die relative Netzhautlokalisation, d. h. die Lokalisation der Netzhautbilder jedes Einael- auges in subjektivem Sehfelde der Breite und Höhe nach, mit Hilfe der Nachbildmethode nach Tschbrmak näher untersucht und hierbei in Über- einstimmung mit anderen Untersuchern gefunden, dafs der gröÜBere Teil der Schielenden nicht normal, sondern nach einem anomalen Typus lokali- siert Hierbei korrespondiert die Fovea des fixierenden Auges mit einer exzentrisch gelegenen Stelle des Schielauges, meist mit der Stelle, die dem fixierten Objekt zugekehrt ist, so dafs alsdann binokulares Einfach* sehen möglich ist und demgemäfs das Fehlen von Doppelbildern bei Strabismus concomitans nicht immer allein auf die Unterdrückung des Bildes des Schielauges bezogen zu werden braucht. Tiefen Wahrnehmung auf Grund anomaler Netzhautlokalisation fand nicht statt Die BefOrch- tung, es könnten nach der operativen Gradstellung des anomal lokali- sierenden Schielauges auf Grund dieser Anomalie dauernde Doppelbilder entstehen, hat sich in den meisten Fällen als unbegrandet erwiesen, da sich bald nach der Operation unter dem Einflufs der normalen Stellung des Auges auch die normale Lokalisationsweise wieder einstellte. Nor in 2 Fällen blieb die anomale Lokalisation bestehen und führte zum Auftreten irafserordentlich störender Doppelbilder, die lange Zeit andauerten.

A* hält die Methode der Bestimmung der Art der Netzhautlokalisation bei Schielenden deswegen für praktisch wertvoll, weil es hiermit möglich ist, diejenigen Fälle, die nach der Operation Doppelbilder bekommen können, nämlich die anomal lokalisierenden, schon vorher als solche zu

Literaturherieht 455

erkennen resp. bei normal Lokalisierenden die Möglichkeit des Auftretens Ton Doppelbildern nach der Operation auBzuschliefsen.

R. GoLLiN (Berlin).

A. BA8LBB. Über du Sehern you BewegniifeiL l. Mitt Die Wabniebmviigeii kleinster Bewegungen. Pflügers Archiv 115, 582—601. 1906. Mit einem Apparat, welcher die Bewegungsgröfse eines schmalen weiÜBen Streifs zu messen gestattete (s. Orig.), wurde zunächst für zentrale Fixation festgestellt, dafs eine Verschiebung von 20 Winkelsekunden, ent- sprechend einer Wanderung des Netzhautbildes um 1,5 Mikren, noch wahr- genommen wurde. Die nach dem Unterscheid ungsy ermögen für Bewegungen gemessene Sehschärfe ist also beträchtlich gröfser, wie die bei Messung nach der Unterscheidung ruhender Punkte. Die Erklärung dieser Tatsache ergibt sich nach dem gleichen Prinzip, nach welchem Hsbing die bessere Unterscheidungsfähigkeit für zwei Linien der für zwei Punkte gegenüber erklärt: zwei Linien müssen schon bei geringerem Abstand verschiedene Sehelemente treffen, wie zwei Punkte. Bei kleinen Bewegungen tritt femer eine erhebliche Gröfsenüberschätzung der Bewegung (etwa um das 10 fache) ein. Über die Empfindlichkeit verschiedener Netzhautabschnitte für kleinste Bewegungen wurde ermittelt, dafs diese in der Makula am grölsten ist und von da allseitig abnimmt; nach rechts und links sinkt die Empfind- lichkeit weniger schnell ab, wie nach oben und unten. Kleine Bewegungen werden um so besser gesehen, je schneller sie erfolgen und je gröfser die Helligkeit des bewegten Objektes ist.

W. Tbendelenbübg (Freiburg i. B.).

F. H. Bbadlst. On noating Ideaa and the Inaginary. Minä, N. S., 15 (60), 445—472. 1906.

Die Einzelwissenschaften sowohl wie die praktische Weltanschauung haben sich daran gewöhnt, die Gregenstände des Denkens hinsichtlich ihrer Beziehung auf das Wirkliche einzuteilen in solche Gegenstände, die auch unabhängig von ihrem Vorgestelltwerden als existierend gedacht werden und solche, von denen vorausgesetzt wird, dafs ihre Existenz nur in ihrem y orgesteil twer den besteht Erstere Gegenstände pflegt man als reale, letztere als ideale zu bezeichnen. Die Erkenntnistheorie jedoch erhebt gegen diese Unterscheidung gewichtige Bedenken. Das geläufigste dieser Bedenken ist das des sog. absoluten Phänomenalismus, der darauf hinweist, dafs den Gegenständen des Denkens, als vorgestellten Gegenständen, eine Wirklichkeit unabhängig von ihrem Vorgestelltwerden gar nicht zukommen kann.

F. H. Bbadlby nun neunt uns noch ein weiteres Bedenken. Er greift die Unterscheidung zwischen realen und idealen Gegenständen des Denkens letztere nennt er „imaginäre" von dem Gesichtspunkte aus an, dais jede mögliche Abgrenzung zwischen dem Realen und dem Imaginären stets nur eine fliefsende sein könne. Das Beale und das Imaginäre sind keine fest gegeneinander abgegrenzten Arten, sondern nur repräsentative Typen, in die sich die Dinge des Universums einteilen lassen. Man kann

456 Literaturberidit

dies auch lo aosdrüeken, dafs man sa^, die Einieiiang in Reales und Imaginäres sei keine absolute, sondern nur eine relative. Gegenstände des Denkens, denen jede Beziehung auf irgend ein Wirkliches fehlt also absolut imaginäre Gegenstände gibt es nämlich nach Biudubt aberhanpt nicht. Es gibt keine im strengen Sinne „Floating Ideas*'. Wenn man von solchen „frei schwebenden'', nur vorgestellter weise, also ohne jede Besiethnng auf ein Wirkliches existierenden Ideen spricht, so kann man damit stets nur meinen, dafs diese Ideen ohne Beziehung auf einen bestimmten Wiik- lichkeitsausschnitt sind. Jene Ideen können ohne Beziehung zu dem Wirklichkeitsausschnitt sein, auf dessen Boden ich mich bei meiner je- weiligen Betrachtung gerade stelle. Und zwar handelt es sich dabei £Qr die meisten Betrachtungen des wissenschaftlichen wie des praktischen Lebens um jenen Wirklichkeitsausschnitt^ der gegeben ist durch meinen, in den Gefühlen meines Wachbewurstseins realisierten KOrper und durch alles das, was mit diesem Körper in kontinuierlichem Konnex steht Dieser WirklichkeitsauBschnitt ist aber keineswegs der einzig existierende oder der allein meinem Denken zugängliche. Die Welt stellt sich vielmehr dem fortschreitenden Denken als eine unendliche Menge verschiedener und getrennter Wirklichkeiten dar. Und wenn irgend eine Idee mit Besag auf eine (oder auch mehrere) dieser Wirklichkeiten „frei schwebf^ so hat sie doch sicher zu irgend einer anderen dieser zahllosen Wirklichkeiten eine feste adjektive Beziehung.

„Adjektive'' Beziehung deshalb, weil das Verhältnis einer Idee m der ihr adäquaten Wirklichkeit nicht immer und nicht notwendig ein einfach prädikatives ist. Noch auf andere Weisen kann einer Idee ihre Beziehung auf das Wirkliche gesichert werden. Der Imperativ, die Frage und vor allen Dingen das hypothetische Urteil bilden Beispiele hierfür.

Wie man die Dinge der Welt geschieden hat in reale und imaginäre» so die Dinge des Lebens in Ernst und Spiel. Aber auch diese Scheidung kann keinen Anspruch auf streng abgrenzende Gültigkeit machen. Insbesondere und damit tritt das Spielproblem zum Problem des Imaginären in Beziehung ist eine Abhängigkeit vom Imaginären, von illusionierender Täuschung (make-believe) weder das notwendige noch das hinreichende Kriterium des Spiels. In einer solchen Abhängigkeit kann also auch nicht die Ghrenzbestimmung gesucht werden, die das Spiel scharf vom Ernste scheidet. Spiel und Ernst stellen eben überhaupt keine streng voneinander geschiedenen Arten, sondern nur repräsentative Typen dar, in die sich die Verrichtungen des menschlichen Lebens scheiden lassen. Es würde zu Absurditäten führen, wollte man bei allen wesentlich ernsten derartigen Verrichtungen die Möglichkeit eines Zuges ins Spielende leugnen. Viele ernsten Dinge lassen sich unter Umständen audi „spielend'' verrichten das Wort spielend hier im weitesten und viel- deutigsten Sinne verstanden 1 Andererseits tritt das Spiel durch seinen 2weck, seine Methode, seine Regel zum Ernste in bestimmte Beziehung. Es gibt eben mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, mehr Dinge in der Welt sowohl wie im Leben, als sich die Schulweisheit engherziger Arten- einteilung träumen läfsti

Litef*(Uurbericht * 457

Ans Braslsts Schrift spricht jener versöhnliche Oeist, der sich über solche Schulweisheit erhebt und den man im langen, verständnisvoUen Verkehr mit den Dingen der Welt und des Lebens zu erwerben pflegt.

HsBBBRTZ (Bonn).

JcwAs Ck>HN n. Wbbnkb Gxnt. Aussage iia4 infmerksamkeit Zätsekrift für angew. Psychol. 1 (1—3), S. 129-152 u. 233—265. 1907. „Im gewöhnlichen Leben sehen und erleben wir das meiste, ohne daüs wir die Aufmerksamkeit (besonders) darauf richten, ja vielfach so, dafs unsere Aufmerksamkeit zugleich von fremden Literessen in Anspruch ge- nommen ist. Es liegt daher nahe zu fragen, wie eine Ablenkung auf die Aussige einwirkt.*' Der vorliegende Versuch ist der erste seiner Art Hier sollen nur Methode und Ergebnisse der „Hauptversuche'' kurz skizziert werden. Beobachtungsobjekte waren zwei Bilder (Aschenbrödel ^ach einer Idee Wai^teb Cbakbs und der gestiefelte Kater nach Schwind); beide waren so hergestellt worden, dafs sie möglichst gleiche Schwierig- keiten boten. Versuchspersonen waren Studenten, die allein in einem Zimmer arbeiteten. 1. Versuchshälfte: a) Das Bild ward eine Minute be- trachtet, dann folgte unmittelbar die Niederschrift des Berichts, b) Das zweite Bild ward in gleicher Weise gezeigt, aber mit Ablenkung durch gleichzeitige Niederschrift der Zahlenreihe. Dann folgte der Beriebt. 2. Ver- suchshälfte nach 8 Tagen zu möglichst gleicher Tageszeit. FQr jedes Bild ward ein zweiter Bericht geschrieben, dann wurden die Versuchspersonen einem Verhör unterworfen. Den Aassageversuchen gingen als Kontroll* und Vergleichsversuche parallel „Schreibleseversuche". Als Grundlage dienten leichte, kurze Sätze in Schönschrift, die von den Versuchspersonen gelesen werden, und zwar: 1. ohne, 2. mit Ablenkung, a) durch fortlaufende Niederschrift der Ziffer 2, b) der Ziffemreihe, c) des Alphabets, d) durch fortlaufende Addition, deren erster und fortlaufender Summand gegeben war (4 -{- 3 -f 3 + 3 . . .). Die Lesezeit in Sekunden ergab ein MaTs far die Ab- lenkbarkeit. Auch Schriftmenge und Fehler wurden gewertet. Die Ergeb- nisse der Berichte und Verhöre wurden nach folgenden Kategorien ge- wertet: 1. Personen, 2. Tiere, 3. selbständige, 4. unselbständige Sachen, 6. gesehene, 6. gedeutete Merkmale, 7. Farben, 8. Valeurs, 9. Zahlenangaben, 10. Tätigkeiten und Zustände, 11. gedeutete Tätigkeiten und Zustände der Personen, 12. absolute, 13. relative Raumangaben, 14. negative Angaben. Die Antworten auf Suggestivfragen wurden besonders gewertet. Die Besultate wurden a) einerseits als allgemein das Verhältnis von Aussage und Aufmerksamkeit angehend gewertet, b) teils als Mittel gedacht, um festzustellen, ob und inwieweit individuelle Typen bestehen, a) 1. im all« gemeinen zeigen Personen mit gröfster Aussagemenge infolge Ablenkung die bedeutendste Abnahme, doch ist das Parallelverhältnis nicht vollständig. 2. Die Wirkung der Ablenkung zeigt sich im aUgemeinen am deutlichsten bei den Kategorien mit grö&ter Fehlerhaftigkeit. 3. Die Suggestibilität wird (unter den Bedingungen der vorliegenden Versuchsanordnung) wenig oder gar nicht berührt 4. Hauptergebnis: die Ablenkung der Aufmerksam* keit durch Nebenbeschäftigung setzt den Umfang der Aussage herab. Während sie Fehlerhaftigkeit und Suggestibilität nicht merklich verändert.

458 ' Literaturbericht

b) Weitere Tabellen offenbaren persönliche Bangordnnngen nach der omab- gelenkten und der abgelenkten Aussagemenge, nach der Fehlerhaftigkeit und nach den Differenzen der Fehlerhaftigkeit mit und ohne Ablenknng beim SchreibleBeversuch. Dazu yeranlafBte Gbnt die Beantwortung folgen- der Fragen durch die Versuchsleiter : Morgen- oder Abendarbeiter? Gut oder schlecht im Kopfrechnen? Gutes oder schlechtes Gedächtnis ffir Zahlen, Namen? Leicht auswendig lernen, lange behalten? Lftnger als 2 Stunden an einer interessanten Materie zu arbeiten imstande? Darch Störungen in der Umgebung leicht ablenkbar? Auf Grund jener Tabellen und dieser Antworten, welch letztere aber nicht als Tatsachen gewertet werden, sondern nur einen Vergleich ermöglichen sollen zwischen der Selbstbeurteilung und den Versuchsergebnissen, geben die Verf. Eiiucel- charakteriBtiken der Versuchspersonen. Im Schlulsabschnitt erörtert CoHK die Bedeutung der Versuchsergebnisse. £r berechnet für die Tjrpen- lehre die Korrelationen der Aussagemengen ohne Ablenkung zu dem pro- zentualen Verhältnis der abgelenkten Aussagemenge im Vergleich zur unabgelenkten ; die Korrelation der prozentualen Zeitverlängerung des Schreibleseversuchs zu der prozentualen abgelenkten Aussagemenge; end- lich die Korrelationen der Fehlerhaftigkeitsdifferenzen zwischen den Ver- suchen mit und ohne Ablenkung zu den prozentualen Zeitverlängerungen des Schreibleseversuchs und zu den prozentualen abgelenkten Mengen.

Mabx Lobsibn (Kiel).

A. Gottschalk. Zur Zengenpiychologie. BHtr, z. FtychoL d. Ausa. 2 <4), 545 —565. 1906.

Ein Jurist nimmt hier Stellung zu den von Psychologen aus den Resultaten der Aussageforschung gezogenen praktischen Forderungen. In» besondere wendet er sich gegen die „Leitsätze" Stbhns (bespr. in di&ar Zeitschrift 41, S. 67), teilweise auch gegen die „Reform vorschlage" des Referenten (bespr. in dieser Zeitschrift 42, S. 72).

G. hält die These Stkrns, dafs durch das Aussagestudium das Ver- trauen zu Zeugenbeweisen erschattert worden sei, für rechtspolitisch vei^ fehlt: sie habe zur Folge, dafs das Vertrauen zur Rechtspflege überhaupt erschüttert, und dafs derjenige, der als Zeuge auszusagen hat^ verängstigt werde.

Eine psychologische Vorbildung der Juristen hält auch Verf. für höchst wünschenswert, weil dadurch die jedenfalls erforderliche Welt- und Menschenkenntnis des Richters vertieft werde.

Dagegen wendet er sich gegen die Forderung psychologischer Sach- verständiger, insbesondere gegen die Veranstaltunt; psychologischer Experi- mente im Prozefs. (Das Reichsgericht hat sich inzwischen für die Zulfisaig- keit solcher Experimente ausgesprochen. D. Ref.)

Von praktischer Wichtigkeit ist es überhaupt nicht, ob die Aussagen fehlerhaft sind, sondern ob „auf Grund objektiv unrichtiger Zeug»i- aussagen tatsächlich zahlreiche objektiv unrichtige Urteile ergehen. Diese Frage glaubt G. verneinen zu dürfen.

Überhaupt hält Verf. die Mehrzahl der bisherigen Aussageunter- suchungen für praktisch von keiner Bedeutung, weil in den Experimenten

Literaturhericht 459

die Aassageobjekte meist Bilder, die Aussagenden meist Kinder waren, ^fthrend es sich in praxi meist um Vorgänge und Erwachsene handelt. (Die Geringschätzung der Bildexperimente und der Kinderaussagen auch besflglich der allgemeinen Aussageprobleme scheint dem Ref. nicht ge- rechtfertigt.)

Ferner versucht G. von seinem Standpunkte als Praktiker aus die Handhabung des Verhörs durch Fragen zu rechtfertigen, wobei er mit Recht auch auf den Wert unbestimmter Antworten hinweist; auch die Gefahr der Suggestivfragen werde in ihrer praktischen Bedeutung von den Psychologen überschätzt.

Gegen weitere Thesen Sterns und des Ref. wird das „Prinzip der freien Beweiswflrdigung*' geltend gemacht.

Verf. schliefst mit der Aufzählung einiger Bedingungen, die Aussage- experimente erfüllen müssen, um auch von Juristen als beweiskräftig angesehen werden zu können. Lipmann (Berlin).

H. FosTOH. Tbe COBStit«ttOR Of Tbovght Mind, N. S., 15 (60), 486-503. 1906.

Seit den Tagen John Lockes hat das erfahrungsphilosophische, anglo- sächsische Denken nicht aufgehört, sich mit dem Problem eines Zeichen- zusammenhanges der Dinge zu beschäftigen. So z. B. legte Bbbkslby in seiner Theory of Vision den Grund zu jener Kausalauffassung, welche den Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung als einen solchen zwischen Bezeichnetem und Zeichen betrachtet. Humes radikale Kritik des Kausal- begriffes ist von gleichem Geiste getragen und für Thomas Rbid ist der Zeichencharakter unserer Sensationen sogar eine „Common Sense** Wahrheit!

Auch Dr. FosTOK will unsere Begriffe von den Dingen von der Starr- heit isolierender Abstraktion und selbstgenügsamer Greneralisation befreien. Er will diese Begriffe durchgängig zueinander in Beziehung setzen, da- durch, daCs er annimmt, die Dinge selbst offenbarten sich uns nie iBoliert, sondern stets so, dafs das eine Ding auf die verschiedenste "Weise und im verschiedensten Sinne für uns das Zeichen des anderen Dinges oder mehrerer anderen Dinge sei. *

Disee Tatsache bemerken wir zunächst im praktischen Leben. In dem Mafse, wie wir die Dinge zu irgendwelchen Zwecken benutzen, hat auch unser Geist Veranlassung, Notiz von ihnen zu nehmen. Dabei bildet für ihn das benutzte Ding ein Zeichen, das auf den verwirklichten Zweck als Bezeichnetes hinweist. Der Geist von geringer praktischer Er- fahrung ist somit zu relativ armen, weil abstrakt -isolierten Begriffen von den Dingen verurteilt, wo der erfahrene Geist reiche, weil konkret- beziehungsvolle Begriffe hat. Pflegen wir z. B. irgend ein Ding zu irgend- welchen praktischen Zwecken in flOssigen Zustand zu versetzen, so ge- schieht dies auf Grund der Tatsache, dafs uns in früherer Erfahrung der ursprüngliche (feste) Zustand des Dinges zum Zeichen der Verwirklichungs- möglichkeit eines flüssigen Zustandes desselben Dinges geworden ist. Wir legen alsdann den abstrakten Gedanken von der „Schmelzbarkeif des Dinges in unserem Geiste nieder. Dieser Gedanke aber ist um so reicher and beziehungsvoUer, je bestimmter in uns einmal die Vorstellung des

460 Literaturherickt.

bereits flfieBig gemachten Dinges und sweitens das Bewnlstsein ran &Bm verknöpfenden ZnstAnden ansgeprftgt ist, die zwischen dem feetMi md flüssigen Znstand des wirklichen Dinges liegen können.

Dabei ist es jedoch nicht genug wenn anders ein wirkliches l>eiiikea aber die Dinge zustande kommen soll daüs wir unsere £rädimngeii tob den Dingen lediglich verallgemeinem. Es genügt also nicht, wenn wir sagen: „Ein Phänomen B ist in meiner bisherigen Erfahrung ansnalunBloB auf ein bestimmtes Phänomen A gefolgt, A ist also das regelmH finge Zeichen von B gewesen; es wird also gans allgemein ein Zusammenhang zwischen A und B bestehen". Ein wirkliches Denken aber die Dinge muTs vielmehr weiter gehen, als solche gleichsam automatische Verall- gemeinerungen. Es mufs auch die negativen Instanzen beracksichtigeB ; es mufs sich darüber klar werden, dafs bestimmte ZusammenbAnge zwischen den Dingen unter bestimmten Beding^ingen eintreten, unter bestimmten anderen Bedingungen aber nicht eintreten. Der HuKBSche, durch die wiederholte Erfahrung regelmalsiger Verknüpfungen ensengte Belief genügt also zwar für eine einfache instinktive Erwartung, nicht aber für den beziehungsvollen Prozefs des Denkens, welcher durch Ver- gleichen und Unterscheiden auch die Bedingungen solcher regelm&fsiger Verknüpfungen festzulegen trachtet. In dem Mafse, wie das Denken in seiner Erfassung des Wirklichen fortschreitet, gewinnt es nicht nur wie HüME wollte ein allgemeines Überzeugtsein, dafs die Ereignisse be- ständig in den bereits beobachteten Folgen sich auch weiter abspielen werden sondern auch eine Einsicht in die Bedingungen solcher Folgebeziehungen und damit die GewiTsheit, dafs alle momentanen und scheinbaren Inkonsistenzen des Naturgeschehens sich bei genügend tiefem Eindringen in das Weltgeschehen als Konsistenzen herausstellen werden. Dieses Herausheben der Bedingungen der Erscheinungen, welche sich uns aus deren Zeichenzusammenhang offenbaren, macht recht eigentlich die Konstitution unseres Denkens ausl Ist dieses Denken ein sprachlich formuliertes, so bedient es sich der Lautworte, die nach eben derselben „Methode der Beziehungen*' aufgefalst werden müssen, wie die Dinge selbst. Ein Wort symbolisiert, für sich, isoliert genommen, nur einen In- begriff mehr oder weniger unterbewufster Bedeutungsmöglichkeiten. Erst im prädikativen Zusammenhang „bezeichnet'' es etwas Bestimmtes, da- durch, dafs eine bestimmte Beziehung zu anderen Worten einnimmt.

FosTON entwickelt des weiteren die Direktiven, welche seine Theorie des Zeichenzusammenhanges und des Denkens (als Erkennens der Be- dingungen), für die Lösung der Probleme der Logik, Mathematik und Metaphysik vorschreibt. Hebbbrtz (Bonn).

Hahs Bsroer. Die kSrperliGhen ivfsenmgei piyeldaeher Xutimie. b$mh meatalle Beiträge iw Lebre tüii 4er BlvttlrknUtltA li der SebUelMfek

des leAlchen. Teil I u. II. Mit 2 Atlanten von 18 u. 11 Tafeln. Jena» Fischer, 1904 u. 1907. 184 u. 216 8. Die vorliegenden Untersuchungen Bbbgbrs über die Blutzirkulation in der Sehadelhöhle des Menschen sind in 2 Bänden aus den Jahren 1904 and

LUeratwrbericht 461

1907 niederg^egt^ deren jedem ein Atlasband mit sehr schönen Kurven- reproduktionen beigegeben ist.

Bkbobb hatte schon 190t eine grOfsere Abhandlung Aber den Einflufe ^on Medikamenten auf die Zirkulation in der Schftdelhöhle veröffentlicht. In dem neueren Werke sollen besonders die Zirkulationsverhältnisse im Sehftdel unter dem Einflüsse von Gefühlsvorgftngen, Gemütsbewegungen untersucht werden.

In einer historischen Übersicht werden mit Recht Mossos und be- sonders Lehmanns Verdienste um dies^i Forschungssweig hervorgehoben und die höchst einseitige Kritik der Anwendung der plethysmographischen Untersuchungsmethode durch Bobkbt M&llbr zurückgewiesen. Bebobb entscheidet sich dann für die Methode der Anwendung ftuTserer Beize bei aeinen Untersuchungen und verzichtet, wie nur zu billigen ist, auf die will- kürliche Beproduktion gewisser Empfindungen von selten seiner Versuchs- personen, da diese psychologisch vollständig ungeschulte Leute waren. Es Bei hier erwähnt, dals Beferent bei seinen ähnlichen Arbeiten sehr sicher beliebige Gefühle und Affekte durch hypnotische Suggestion bei seinen Vwsuchspersonen herbeiführen konnte.

Bebgbr bediente sich natürlich immer des Armplethysmographen und nicht des Sphygmographen zur Beobachtung der Veränderungen an Herz und BlutgeMisen. Schon Lbhmann hatte bewiesen, dafs die Kurve des ersteren eine weit ausdrucksvollere ist. Die Veränderungen der Atmung vurden gleichzeitig mit einem Pneumographen und die des Hirnvolumens bei den mit Schädeldefekt versehenen Personen nach der Methode Mossos registriert.

Zunächst gibt dann Bbrgbb eine recht ausführliche psychologische Übersicht der Meinungen der verschiedenen Autoren über Gefühle. Affekte, Stimmungen usw. In seiner Ansicht über das Wesen der Gefühle und auch Affekte stimmt Bebgeb im allgemeinen Wundt zu, nicht aber in dessen dreidimensionaler Einteilung der Gefühle.

Bekanntlich stellt Wundt aufser den Lust- und Unlustgefühlen die erregenden Gefühle den beruhigenden und die spannenden den lösenden gegenüber, und ebenso wie schon Lehmann und viele andere kannte Bbbobb sich von der Bichtigkeit dieser Anschauung nicht überzeugen, konnte aueh mit seinen Versuchspersonen keine entsprechenden Versuche anstellen, da diese immer nur die betreffenden Gefühlsreize als Lust- oder Unlustbetonte enpfanden. Beferent kann aus seinen Versuchen nur bestätigen,, dafs allein die klare Gegenüberstellung von Lust- und Unlustgefühlen unzweideutige Versuche zuläÜBt und ihre Anwendung brauchbare Ergebnisse hat.

Dann spricht sich Beboeb entschieden gegen die senaualistische Ge- fühlstheorie von Jamss-Lanoe aus, obwohl, wie er meint. Anbänger diaeer .Theorie seine eignen Befunde für sich verwerten könnten. Beboeb ist mehr für die zentral-physiologischoi Gef ühlstheorien Metnbbts und Wükdts, die die Entstehung der Gefühle in die Hirnrinde v^legen und besonders für die sehr bestechende VoorsteUung Lehmanns, nach der die Art des Gte- fOhls davon abhängt, ob der Stoffwechsel fortwährend den Verbrauch des arbeitenden Neurons ersetzen kann dann entsteht Lustgefühl, bia zum

462 LiteraturberichL

Maximum bei Gleichgewicht des Stoffyerbrauchs and des Ersatxes, oder ob der Verbrauch den Stoffersatz übersteigt dann entsteht UnlustgefOliL

Die Versuchsperson war zunächst ein 23jfthr. intelligenter Arbeiter, dem 6 Jahre vorher ein grofses, halbkreisförmiges Knochenstflck aas dem rechten os parietale entfernt worden war, behufs Extraktion einer KngeL Die Kugel war nicht gefunden worden und seit 2 Monaten waren epilep- tische Krämpfe aufgetreten. Der Knochendefekt hatten einen Durchmeeser von 8 cm.

BsBOBR verwandte zu seinen Versuchen zur Begistrierung der Atmung Lbhmavus Pneumographen und zu der des Armvolumens Lehmanns Plethysmo- graphen, welch letzterer aufserordentliche Vorzüge vor dem von Mosso angegebenen besitzt, da der Arm gar nicht in direkte Berührung mit dem Wasser kommt, daher nicht umschnürt zu werden braucht und aulserdem in seiner Lage durch ein Ellbogenkissen sicher festgehalten wird. Die Guttaperchakappe, mit der das Hirnvolumen gemessen wurde, wurde ei^ wärmt auf die Haut gesetzt und mit Bindentouren befestigt. Kymographion und Tambours waren wie üblich, ebenso die Versuchsanordnung. Die Be- arbeitung des Materials war wie bei Lbhmann, nur wurde von nachträglichen Korrekturen völlig abgesehen.

Zunächst untersuchte Bxroxr den Normalzustand und bespricht ein- gehend die verschiedenen Einwirkungen, die sich auf den einzelnen Kurven ausprägen, und ihre Bedeutung. Er zeigt, dals die Pulswellen 1. wie 2. und 3. Ordnung sich ebenso in der Kurve des Himvolumens nachweisen lassen, wie sie in der des Armvölumens bekannt sind. Nur entsprechen sich die Wellen 2. und 3. Ordnung an Arm und Hirnvolumen durchaos nicht immer und es besteht auch kein reziprokes Verhältnis.

Bbboeb führt aus, dafs dieses Nichtübereinstimmen der Wellen 3. Ord- nung, die höchstwahrscheinlich von wechselnden Innervationsauständen der Gefäfse herrühren, gegen die Ansicht Lehmanns spricht, dafs sie durch die Denktätigkeit veranlafst seien, da sie doch dann an Arm und Hirn gleichsinnig oder umgekehrt auftreten müfsten.

Diese letztere Feststellung ist nach Ansicht des Referenten gans be- sonders wichtig, aufserdem dürfte aber diese Wellenungleichheit sehr für die auch anderweitig vom Referenten beobachtete Selbständigkeit der vasomotorischen Innervation des Gehirns sprechen.

Bbbgbb nimmt das Vorhandensein von Vasomotoren für das Gehirn an, das auch vom Referenten physiologisch sicher nachgewiesen werden konnte.

Hierauf untersuchte Bebobr die Zustände der erhöhten AufmerksamkelL

Die willkürliche Aufmerksamkeit wurde durch psychische Arbeit (Rechnen, Punktzählen) und Sinnesreize hervorgerufen.

Die beigegebenen Kurven, bei der die Versuchsperson Punkte tfhlts^ zeigen dem Effekt viel deutlicher, als die, in denen sie rechnete. Bbbgbb schlofs aus seinen Kurven, dafs bei geistiger Arbeit das Himvolumen zu- nimmt, die Pnlsationshöhe sich steigert und die Volumzunahme überdauert Aufserdem, dafs bei länger dauernder, komplizierter Arbeit anfänglich Hirnvolumen und Pnlsationshöhe zunimmt, dann aber das Volumen mefai^

Literaturhericht 463

fach schwankt und nur die Pulsationshöhe gröffler hleibt, auch noch nach Beendigung der Arbeit.

Es sei hier hinzu gefflgt, dafs Referent aufserdem unter gewissen Um- Bt&nden bei geistiger Arbeit reine Volumverminderung des Hirns mit starker Abnahme der Pulsationshöhe feststellen konnte, nämlich dann, wenn die Versuchsi>er8on stark ermOdet war.

BsBGKR glaubte, daCs der verhältnismafsig geringe Effekt, den er bei obigen Untersuchungen der Aufmerksamkeit fand, ein gröfiserer werden würde, wenn er anstatt durch psychische Arbeit durch Sinnesreize die Aufmerksamkeit erregen wflrde, da besonders von der gegenüberliegenden Körperseite aus die Beize solche Hirnrindenteile direkt beeinflussen würden, die dem Schädeldefekt nahe liegen.

In der Tat fand er auch, dafs bei solchen Beizen (Berührungen, Töne) die Vermehrung des Hirnvolumens und der Pulsationshöhe stärker auftrat, als bei psychischer Arbeit.

Bei Schreck fand Lehmann weiter hochgradige, sofortige Gefäfs- kontraktion und eigentümlicherweise Volumenvermehrung, der nach wenigen Sekunden vollständige Gefäfserschlaffung und Volum Verminderung folgte. Versuche über „Spannung" fielen negativ aus. Die Untersuchung der Unlustgefflhle hatten das höchst interessante Ergebnis, dafs bei sich stark verminderndem Armvolumen das Hirnvolumen etwas zunimmt, seine Pulsationshöhe aber abnimmt, wobei letztere von einer Kontraktion der HirngefäTse herrührt, die in ihrer Intensität der der Unlustempfindnng entspricht. Hervorgehoben sei, dafs der Verminderung der Pulsationshöhe oft ein Znstand vorhergeht, in dem offenbar Erschlaffung und Kontraktion der Hirngefäfse miteinander kämpft. Daneben wurde festgestellt, dafs der Erfolg eines Reizes sehr von der darauf gerichteten Aufmerksamkeit der Versuchsperson abhängt, was auch schon Lehmann für die Volumkurve des Arms festgestellt hat. Der von Lehmann als „Spannung'' bezeichnete Zustand ist an den Hirngefäfsen nicht nachweisbar.

Bei lustbetonten Empfindungen nahm das Gehirnvolumen etwas ab und die Pulsationshöhe zu.

Bbrobb fand also, dafs das Volum verhalten von Gehirn und Arm bei Lust, Unlust und erhöhter Aufmerksamkeit im allgemeinen ein umgekehrtes ist, obwohl er im einzelnen kein reziprokes Verhalten beider Kurven fest- stellen konnte, wie schon oben erwähnt, und es sei hinzugefügt, daüs Referent fand, dafs das Volum verhalten der Bauchorgane bei diesen Zu- ständen ein umgekehrtes zu dem des Armes ist, also dem des Hirns im allgemeinen gleicht. Endlich wurde auch der Schlaf von Beboeh unter- sucht und darin kein Unterschied mit dem normalen Zustand gefunden.

Damit schliefst der experimentelle Teil und Bebgeb bespricht noch die physiologischen Ursachen der Veränderungen der Volumkurve des Ge- hirns, die er fand.

Er kommt zu dem Schlufs, dafs bei den Zuständen der erhöhten Auf- merksamkeit eine aktive Erweiterung der Hirngefäfse die Ursache der Volumveränderung ist, dafs Gefäfskontraktion die Unlustzustände begleitet, während hier die beschleunigte Herztätigkeit angeblich die Volnmzunahme

464 lAteraturbei-ickL

bewirkt, und daTs endlich Lastxiuitände von ErschlafEnngr der HirDrindea- gef&Tse begleitet sind, bei gleichzeitiger Abnahme des HirnTolnniB.

Bchon Lbhmamm hatte gesagt, daüs ein psychologischer ProselB mit Lustgefahl dann verbunden ist, wenn der dabei stattfindende Energie* Umsatz durch den Stoffwechsel gedeckt wird, mit Unlustgeffihl dann, wenn er nicht mehr gedeckt werden kann. Dem entgegen steht mm der Baf qikI Bbbgerb, der bei Unlust trotz geringer Volumzunahme des Hirns Kontraktion der Uirngef&fse feststellte, während man bei der offenbar geeteigertan Tätigkeit Gefftfserweiterung erwarten mOiste. Bbbobb löst aber diese Schwierigkeit auf sehr schöne Weise. Er hillt diese GefiLfskontraktioo ffir eine Selbststeuerung des Stoffwechsels der Hirnrinde, die die RindeoaeUea vor Zersetzung schntzt, wenn der Stoff verbrauch derselben bei dee^ psychischen Prozesse nicht mehr genügend ersetzt werden kann. Die Labilität, die Zersetzungsmöglichkeit der zentralen Biogene ist nämlich von der Menge der Sauerstoffzufuhr abhängig, und diese nimmt bei Ge&G»- kontraktion ab, da bei der dann gesteigerten Strömungsgeschwindigkeit des Blutes weniger Sauerstoff abgegeben wird. Dieser Vorgang wflrde also eine Einrichtung zur Erhaltung der Integrität der Hirnrinde sein. Durch diese Theorie würde übrigens auch sehr gut der Befund des Referenten sich erklären, dafs die Volumzunahme des Hirns bei geistiger Arbeit während starker, bestehender Ermüdung in Volumabnahme mit starker Pols- Verkleinerung übergeht.

Im zweiten Bande des Werkes aus dem Jahre 1907 behandelt BaBosa im allgemeinen dieselben Fragen, nur mit einer anderen Untersuchangs- methode und anstatt wie im ersten Bande an einer, an vier Untersachangs- personen. Im allgemeinen werden in diesem Bande die Ergebnisse des ersten bestätigt, im einzelnen wird natürlich auch viel Neues gegeben. Im ganzen dürfte der erste Band der wichtigere sein. Von grolsem Wert ist allerdings, dafs Bbbokb für den zweiten Teil seines Werkes Personen zur Verfügung hatte, die Schädeldefekte an sehr verschiedenen Teilen des Kopfes hatten.

Beboeb bediente sich bei seinen hier verarbeiteten Versuchen anch der von Lehmann angegebenen Methode der Messung der Pulsverspätung. Die Verspätung des Eintreffens der Pulswelle in den mehr peripher gelegenen Teilen wird geringer bei steigendem Blutdruck und aufserdem auch bei Spannungszunahme der Gefäfswand. Man kann also von Veränderung der gemessenen Pulsverspätung auf Vorgänge in den betreffenden Gef&Isen schliefsen. Lehmann bestimmte nun die jeweilige Pulsverspätung in der Carotis und konnte so mit dieser Methode die Befunde Bbbqebs, die im ersten Bande niedergelegt sind, bestätigen. Lehmann fand z. B bei Unlust Abnahme der Pnlsverspätung in Carotis, die von Blutdrucksteigerung, oder von Spannungszunahme der Gefäfswand herrühren könnte. Bbeoeb hatte gleichzeitige Kontraktion der Gefäfse der Hirnrinde gefunden, glaubt aber nicht, daTs bei Unlust sich diese Gefäfskontraktion auf den Stamm der Carotis ausdehnt und so die Verminderung der Pulsverspätung erzeugt, sondern dafs schon die Blutdrucksteigerung infolge der lokal kontrahierten Rindengeföfse dazu genügt. Bebgeb wandte nun anfser den von Lehmann benutzten Methoden die Messung der Pulsverspätung am Gehirn an.

Literaturbericht. 465

Zu den weiteren Untersuchungen standen 4 Personen mit Schädel- defekten zur Verfügung, die psychisch intakt waren.

Ein Defekt war wieder am os parietale (rechts), einer über dem oberen Ende der hinteren rechten Zentralwindung, einer auf der linken Hälfte der Stirn und einer hinter dem linken Ohr über dem Kleinhirn. Die Instrumente waren wie iin ersten Teile der Untersuchungen, nur kam häufig noch ein Eardiograph hinzu, seltener ein Fansphygmograph für die Radialis. Bei einer Versuchsreihe wurde auch der Carotispuls jeder Seite gleich- zeitig mit der Gehirnkurve und der Herzstofskurve geschrieben.

Die Bearbeitung des Materials geschah in der üblichen, auch von TiUHMANN geübten Weise. Besonders komplizierte Mafseinrichtungen und Berechnungen erforderten natürlich die Kurven, bei denen es auf genaue Ausmessung der Fulsverspätung ankam. Auch die Puls Verspätungen wurden sehr übersichtlich auf Kurven dargestellt. Bbbger hebt hervor, daCs er nattkriich immer gleichzeitig an zwei verschiedenen Arteriengebieten die Fulsverspätung messen mufste, dafs aber zur Erreichung sicherer Resultate diese Messung nie ausreicht, sondern immer die früheren Resultate der plethysmographischen Untersuchung des Grehirns daneben berücksichtigt werden müssen. Zunächst wurden die Versuche über Fulsverspätung an derselben Person vorgenommen, an der die Versuche des ersten Teils vorgenommen wurden.

Es fand sich nun zunächst bei psychischer Arbeit der Versuchsperson, dafs die Schwankungen der Puls Verspätung in den HimgefäTsen, die übrigens auch von der Atmung abhängig sind, zu den früheren Ergeb- nissen stimmen, dafs der Volum Vermehrung des Gehirns und der Puls- vergröfserung dabei in der Tat eine Erhöhung der Fulsverspätung am Gehirn entspricht, also eine Erschlaffung der Rindengefäüse. Allerdings fielen die Maximalpunkte nicht immer ganz genau zusammen, aber das ist verständlich. Am Armpuls fanden sich gleichzeitig keine entsprechenden Änderungen, es handelte sich also um eine im Gehirn lokalisierte Ver- änderung. Ebenso bestätigten die Messungen bei Sinnesreiz, Schreck, Lust- und Unlustgefühlen die früheren Feststellungen. Eine Versuchsreihe über eventuelle Unterschiede bei Untersuchung der Schwankungen der Puls- verspätung in linker oder rechter Carotis fiel negativ aus. Eine etwas geringere Puls Verspätung in der rechten Carotis ist durch anatomische Gründe zu erklären.

Nachdem so die Richtigkeit der Deutung der plethysmographischen Methode bewiesen war, wurden nun auch wieder Volumkurven an den mit Schädeldefekten über anderen Hirnteilen versehenen Leuten vorgenommen. Im allgemeinen wurden dadurch nur die im ersten Bande niedergelegten Erfahrungen bestätigt und so gefunden, dafs sie keine individuelle Eigen- tümlichkeiten darstellen. Neu kommt hinzu, dafs Bebgeb einige Male auch bei starkem Unlustgefühl vergröfserte Pulse und Gefäfserschlaffung am Gehirn feststellt, wie schon vor ihm Mosso. Nach Wündt könnte man dabei an ein besonderes „Erregungsgefühl'^ denken, dafs das Unlustgefühl zunächst überdeckt, oder annehmen, dafs durch die bei dem Ärger sich überstürzenden Gedankenverbindungen Gefäfserschlaffung im Gehirn bewirkt wird. Zeltschrift fär Psychologie 46. 30

466 Littraturberichf.

Um nQn hiemach zu entseheiden^ohnicht vielleicht doch die Wüici>TBche dreidimensionale Gefühlseinteilung richtig ist, wurden deshalb von B^»iB Vttisache über den dritten Gegensatz der Grefühle nach Wükdt angesteUt^ über den zwischen Spannung und Lösung. Bbbobb fteid an den iUra- gefäfeen bei Spannung und Löeung der gleichen Reaktion, nftmlieh Er- weiterung und kommt dadurch zu dem Schlüsse, dafs nur die EinMluiig in Lust- und Unlustgefühle richtig ist. Die Ursache der Gefftfserschlalfa&g bei Ärger ist nach B. also die dabei gesteigerte int^ektuelle T&tigkttt Immerhin dürften die anderen Ergebnisse bei Unlust im erstes Bande danach wohl noch einmaliger Revision bedürfen.

Es folgen dann Versuche über die Schwankungen der Aufmerksamkeit mit Anwendung der Methode Zonbffs, nach der die Versuchspencm das Ende eines feinen Drahtes auf einem dünnen Kupferstreifen aufmerksam entlang zu ziehen hat, wobei der Draht in der Hand und der Kupfersti^ifen die Pole eines ^ektrischen Stromes bilden, der den Zeitmarkierer aa Apparat in Tätigkeit setzt. Sobald nun der Draht durch Unaufmerksamkeit vom Streifen abweicht, wird der Strom unterbrochen und dies am Apparat markiert. Berobb fand so den höchst wichtigen Satz: ^Die physiscbsD Wellen der Hirnkurve sind hierbei die physischen BegleiterscheiniuKgsii der Aufmerksamkeitsschwankungen oder der Apperzeptions wellen." Endlieh konnte Bebger an einer seiner Versuchspersonen feststellen, daüs bei den betreffenden Einwirkungen alle jene Veränderungen der Hirnrindengefftise, die an den verschiedenen Teilen des Gro&hirns beobachtet worden waren, am Kleinhirn fehlen.

Das wichtigste Ergebnis dieses Bandes ist ohne Zweifel die Identifi- zierung der Aufmerksamkeitsschwankungen mit den Schwankungen der Weite der Rindengefftfse und der damit zusammenhängenden Sauerstoff- zufuhr zur Hirnrinde. Dafs von dieser Zufuhr die Zersetzungsfähigkeit der kortikalen Biogene abhängt, wurde schon im ersten Bande erörtert, und so erklärt sich dieser Zusammenhang sehr schön. Bei den weniger kon- zentrierten Aufmerksamkeitszuständen ist nach Bergbb die auch sonst oft beobachtete Neigung der Gefäfsmuskulatur zu rhythmischen Schwankungen die Ursache dieser Veränderungen, bei stark konzentrierter Aufmerksamkeit tritt jener Selbstschutz ein, der durch Verminderung der weiteren Sauerstoff- zufuhr die Schädigung der zu sehr in Anspruch genommenen Himteile verhütet, wie dies schon am Ende des ersten Bandes auseinandergesetzt war.

Im ganzen muTs das Werk Bbbqkbs als ein sehr schöner und wertvoller neuer Besitz der Wissenschaft bezeichnet werden, und es reiht sich würdig an das Werk Lehmanits an, neben dem es für alle Zeit grundlegend in diesem Gebiet der Wissenschaft sein wird. E. Wbbbr (Berlin).

Felix Rosen. Oarstelleide Kunst im KMesaltar 4«r YAIktr. Zeitschriß ßr angewandte Psychologie 1 (1), 93—118. 1907. Der Verfasser sucht gewisse Eigentümlichkeiten Giottos und anderer zeitgenössischen Künstler, die man bisher unter biographischen odeer ästhe- tischen Gesichtspunkten erklärte, psychologisch abzuleiten, indem er sie als innerlich begründete, universell verbreitete Eigentümlichkeiten früher Entwicklungsstufen der darstellenden Kunst hinstellt. Zur Begründung

Literaturbericht 4g7

beruft er sich vorzüglich auf die parallelen ErscheiBungen in der ELinder- weit. Auch auf die Kunst der Naturvölker und diejenige des Orients hätte er hinweisen können; sind diese doch bereits unter jenem Gesichts- punkte behandelt worden. Die erörterten Eigentümlichkeiten sind vorzüg- lich der Mangel an Perspektive, das Fehlen einer natürlichen Körperhaltung,. die Neigung zu schematischen Gruppierungen; die Kennzeichnung solcher Gebilde, die sich durch direkte Mittel nicht hinreichend deutlich darstellen lassen, durch akzidentelle Figuren, die an sich nicht in den Sinn des Ganzen hineingehören; endlich die Verwandlung der Zeit in den Baum, indem ein Nacheinander von Begebenheiten durch wiederholte Darstellung derselben Figur in verschiedenen Situationen mitgeteilt wird. Alles Eigen- tümlichkeiten, die sieh, wie man sieht, dem Begriff der beschreibenden Kunst unterordnen lassen. A. Vibbkandt.

Dumas. Lea conditioiis biologiquea du remerds. Rev. phil. 62 (10), 357-^358. 190S. D. berichtet über interessante Experimente mit Melancholikerinnen, die von Gewissensbissen geplagt waren. Es gelang ihm durch zweckmäfsige Nervenreize, besonders in Form von Koffelndosen, nicht nur ein Nach- lassen der Gewissensbisse, sondern z. T. sogar eine vollständige Umkehrung des moralischen Urteils zu bewirken. Wo die Melancholie mit Aufgeregt- heit und Angst verbunden war, wurde Brombehandlung angewandt. Hier zeigte sich aber auch eine Grenze der experimentellen Macht. Sehr gerne hfttte D. natürlich nach Beseitigung der Aufgeregtheit und Angst die De- pression in freudige Erregung verwandeln mögen. Die KoSeYndosen im Anschlufs an Brombehandlung bewirkten aber nur einen Bückfall in den alten Zustand. D. hat jedenfalls gezeigt, dafs die Gewissensbisse von körperlichen Bedingungen abhängen, die sich äufserlich besonders in den Atmungs- und Blutumlaufsverbältnissen verraten. Es ist aber wohl etwas voreilig, auf Grund solcher pathologischen Fälle die Beue überhaupt gering zu schätzen. Die Beue braucht keineswegs vorwiegend aus einer Schwächung der Instinkte zu entspringen, die uns zu Fehltritten veranlassen, wie D. meint. Sie kann ebenso gut auch auf einem Zuwachs an höheren Willens- Interessen beruhen. A. Kowalbwski (Königsberg i. Pr.).

P. Näckb. Zur Psyehologio der plStslichei Bekeluriuigeii. Zdt^ckr, f. Eeligims' Psychologie 1 (6), 234-253. 1907. Verf. unterscheidet 2 Gruppen von Bekehrungen: die dogmatisch- religiöse und die ethische. Erstere ist nach ihm viel häufiger und bedingt die letztere nicht. Zur ersteren Gruppe gehören die Scheinbekehrungen, welche aus Eigennutz, Politik, Strebertum, Greldrücksichten, bisweilen auch aus Liebe geschehen. Wissenschaftlich wichtiger sind die Bekehrungen von Ungläubigen, von Atheisten zu einem religiösen Dogma. Jede Art von Bekehrung setzt einen geeigneten Boden, nämlich angeborene Disposition, Milieu als suggestiven Faktor, Lebenssehieksale, Nachdenken und ein Aus- lAaungsereignis voraus. Es wird eine Gruppe von Vorstellungen mehr und mehr herausgearbeitet, sie verbindet sich mit Affekten und führt zur Be- kehrung, die wohl auch einmal gegen den Willen der Menschen erfolgt. Für plötzliche Bekehrungen stellen die Frauen das Hauptkontingent.

30*

468 Literaturbericht,

Denn die Frau ist ihrer Natnr nach religiösen Einflüssen zugänglicher, sie unterliegt leichter einer mächtigen Affektwelle und bedarf einer religiOeeD Stütze. In den Pubertäts jähren leitet das Sehnen zur Bekehrung über, im Greisenalter die Furcht vor dem Tode. Auch Krankheiten, weil dem Nach- denken forderlich, sind der Bekehrung günstig, nicht weniger mangelnde Intelligenz, weil sie dem neu Herandringenden zu wenig Widerstand ent- gegensetzt.

N. gibt 2 Erklärungen für Bekehrung, eine psychologische und eine physiologische: Starke affektbetonte Vorstellungen bringen alle Assozia- tionen in die gleiche Bichtung. Ein tiefer Affekt verändert den Stoff- wechsel und somit auch die Blutzirkulation im Gehirn, er verhilft anderen Vorstellungen und Gefühlen zur Herrschaft. Bei der Rückkehr eines Ab- trünnigen zum Glauben werden auf diese Weise die früher gangbaren Assoziationsbahnen wieder besser ernährt, so dafs das Spiel der auf das Religiöse sich beziehenden Assoziationen wieder in der früheren Weise er- folgt. Bei der Bekehrung zu einem neuen Glauben sind es neue Asso- ziationsbahnen, welche sich meist unbemerkt neben den alten geknüpft haben und nun durch das affektbetonte Ereignis in den Vordergrund ge- hoben werden (Bekehrung des Apostels Paulus). Schwieriger zu erklären sind die ethischen Bekehrungen, d. h. diejenigen Fälle, wo ein Sünder plötzlich sich zu einem neuen Leben bekehrte, ohne dafs spezieU dog- matische Dinge mit hineinspielen. Hierher gehören z. B. die durch die Heilsarmee bewirkten Bekehrungen, weil es sich hier um verworfene Ge- schöpfe handelt. Die Bekehrten sind meist Leute von schwachem Willen, bei denen der Untergrund ein guter geblieben ist.

Unter den Bekehrten aller Art finden sich viele pathologische In- dividuen: Hysteriker, Epileptiker, schwer Neurasthenische. Bei ihnen wird durch Sinnestäuschungen, abnorme Empfindungen, Gedächtnis- fälschungen und -Störungen, Willens- und Affektstörungen der Boden gut vorbereitet. Gibsslsb (Erfurt).

Hanb Hislscheb. Das psychologische T^rb&ltnis zwischen der tUgOBeiaea Bildongsstüfe eines Volkes und den in ihm sich gestaltendem Welt- anschannngen. Archiv f. d. ges. Psychol. 9 (1), 1—25. 1907. Auf dem engen Raum von 25 Seiten läfst sich dieses Thema natfirlich nur in programmatischer Form behandeln. In der Tat beschränkt sich der Verfasser in der Hauptsache darauf, auf einige Hauptgesichtspunkte hin> zuweisen, welche für die Behandlung seines Problems in Betracht kommen. Vorzüglich betont er vier Punkte. Erstens den Zusammenhang zwischen den einzelnen Äufserungen eines Denkers und seinen Geeamtanschauungen und die daraus folgende Notwendigkeit, das Einzelne aus dem Ganzen, aus einem provisorischen Gesamtbilde der Persönlichkeit zu erklären. Zweitens den Zusammenhang der Leistungen des einzelnen Philosophen mit der gesamten Denkweise und Weltauffassung seiner Zeit. Drittens die Gleich- artigkeit, welche diese Denkweise und Weltauffassung auf übereinstimmen- den Stufen der Entwicklung aus psychologischen Gründen besitzt; vorzüg- lich denkt H. dabei an Parallelen zwischen dem ägyptischen und dem

Literaturberkht 469

griechischen Denken. Endlich die Anschaulichkeit, welche das Weltbild auf primitiven Stufen durchweg besitzt eine Eigenschaft, welche wiederum an den Ägyptern erläutert wird. A. Vibrkandt.

W. WüKDT. Die AiÜBge der Gesellschaft. Eine völkerpsychologische Studie. Fsychol Studien 3 (1), 1-48. 1907. Die Arbeit ist im Zusammenhang der völkerpsychologischen Unter- suchungen des Verfassers entstanden, besitzt aber einen fast ausschliefslich ethnologischen Charakter. Sie bezieht sich vorzflglich auf die Fragen des Ursprunges der Ezogamie, des Mutterrechtes und des Totemismus. Die Exogamie soll aus dem Brauch der gewaltsamen Erwerbung von Frauen entstanden sein, die demselben Stamme, aber anderen Unterabteilungen angehörten. Das Mutterrecht braucht dem Vaterrecht nicht überall voran- gegangen zu sein, denn sowohl auf die eine, als auf die andere Institution drängen von Anfang an gewisse Kräfte hin. Der Totemismus endlich soll aus dem Seelenglauben hervorgegangen sein und weiterhin zum Ahnen- kultus hinüberfahren. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse findet der Leser am Schlufs des Ganzen. A. Vixbkamdt.

G. Abchaffbnbubo. Das Yerbrechen und seine Bekämpfung. Einleitung in die Kriminalpsychologie für Mediziner usw. Zweite verbesserte Auflage. Heidelberg, Winter. 1906. 277 S. ^

AscHAFFBNBüBOs uuu in zwoitor Auflage erschienenes Werk ,,Da8 Ver- brechen und seine Bekämpfung" wird vom Verf. bezeichnet als „Einleitung in die Kriminalpsychologie für Mediziner, Juristen und Soziologen" als „Beitrag zur Beform der Strafgesetzgebung".

Der Hauptvorzug des Buches ist die klare, übersichtliche, durchsichtige Darstellung, als ein Mangel ist aber zu bezeichnen, daTs das Buch wenige eigene Ideen und Anschauungen bringt. Was es an Vorschlägen enthält, ist vielfach anderwärts, insbesondere aus Fbrbis Werk „Das Verbrechen als soziale Erscheinung" entlehnt. Die Würdigung der einzelnen Be- stimmungen der Strafgesetze ist vielfach eine einseitige die wichtige Bolle, die das Gesetz als Mittel der Einschränkung der staatlichen Macht gegenüber dem einzelnen spielt, wird nicht genügend berücksichtigt. Die Frage, ob manche als Mittel der Bekämpfung des Verbrechens vorgeschlagene MaTsregeln nicht schädliche soziale Nebenwirkungen erzeugen dürften, wird zu wenig gewürdigt ; der Gredanke, ob es nicht empfehlenswert sei, dafs der Staat manche dem sozialen Wohle abträgliche Handlung dulde im Interesse gröfserer Bewegungsfreiheit der Individuen, durch die wieder sozial Nütz- liches gefördert werden kann, wird nicht beachtet mit einem Worte dem vorsichtigen Gegeneinanderstellen und Abwägen der sozialen Zwecke ist in diesem der Beform des Strafgesetzes gewidmeten Werke zu geringe Be- achtung geschenkt.

Das Buch zerfällt in drei Teile. Der erste Teil handelt von den „sozialen Ursachen des Verbrechens". Der Einfiufs der „Jahres- zeit", von „Basse und Beligion", „Stand, Land und Beruf", „Volkssitten, Alkohol", „Prostitution", „Spiel und Aberglaube", „Wirtschaftliche und

470 Literaturhericht

soziftle Lage" auf dae Verbrechertum wird hier erOrtert. Die slatistlechen Daten, die Berechnungsmethoden, können im einzelnen nicht nach^eeprOft werden; die Schlüsse, zu denen der Verf. kommt^ sind zweifellos vielfach anfechtbar. Wie vorsichtig man bei Verwertung derartiger auf nicht ge- nügend breite Basis gestützter statistischer Untersuchungen vorgehen muTs, zeigen ja selbst gelegentliche Bemerkungen des Verf.s (S. 26, 30, 91). Hierzu kommt, dafs mit Begriffen wie Basse und Religion, Stadt und Land die Faktoren, zu denen man die Kriminalitftt in Beziehung setzen will, zu vage bezeichnet sind. Tatsächlich wird z. B. der auch von Aschatfenbübg er- wähnte Umstand, dafs das Kriminalitätsprozent der Juden beim Delikt des Betruges ein ungünstiges ist, bald auf wirtschaftliche Momente, bald auf Rasseneigentümlichkeiten zurückgeführt. Die Statistik sagt uns eben blois, wie viele Juden und wie viele Christen in gewissen Zeitperioden wegen verschiedener Delikte verurteilt worden sind, ohne berücksichtigen zu können, wie viele Individuen der beiden Gruppen sich in der für dieVer^ Übung der einzelnen Verbrechenskategorien allein günstigen Lage befunden haben. Auch erfafst die Statistik die Merkmale, auf die es dem Soziologen bei Verwendung der Begriffe „Juden", „Christen" ankommt, rein äufserlich, in einer Weise, welche diese Zahlen als Stütze für Schlüsse über die „sozialen Ursachen des Verbrechens" ganz ungeeignet macht.

Die Ergebnisse dieses Abschnittes sind daher auch relativ gering und führen über gewisse allgemeine Sätze nicht hinaus, die bisher ans der Einzelerfahrung, unabhängig von den Zahlen der Statistik gewonnen worden sind Sätze, die man in die Zahlen der Statistik meist hinein- zuinterpretieren, nicht aus denselben zu gewinnen pflegt. Wir erfahren, dafs die Zunahme der Brunst die Sittlichkeitsdelikte; der Alkoholkonsum die Gewalttätigkeitsdelikte, der Handel die Betrügerei begünstigt, dafs in der Stadt mehr delinquiert wird wie auf flachem Lande. Auch das Kapitel über Prostitution bringt uns nur Erfahrungen, die wir aus einzelnen Straf- Prozessen gewonnen haben und das Kapitel „Spiel und Aberglaube** ent- hält mehr dunkel empfundene als auf Induktion gestützte Behauptungen.

Im zweiten Teile, welcher von den „individuellen Ursachen des Verbrechens" handelt, werden unter dem erwähnten Gesichtspunkte: Abstammung und Erziehung, Bildung, Altersstufen, Geschlecht, Familien- stand, die körperlichen und geistigen Eigenschaften des Verbrechers, die Geistesstörungen bei Verbrechern besprochen.

In diesem Teile ist von Interesse, dafs Aschapfenbübo die Lehre Lou- BB080S vom geborenen Verbrecher für verfehlt hält und der Anschauung Baebs zustimmt, „wonach die beim Verbrecher vorkommenden Abnormitäten zwar nichts Spezifisches an sich haben, aber doch Zeugnisse sind von dem niedrigen Wert ihrer Organisation'^

In intellektueller Beziehung hält Abchaffbhbürq den Verbrecher weit hinter dem Durchschnitt zurückstehend und findet darin auch die Erklärung, warum die ethischen Empfindungen bei vielen Verbrechern sich so auf- fällig von denen des Durchschnittsmenschen unterscheiden. „Im ganaen läTst die Psychologie des Verbrechers keine besonderen Züge erkennen, die für ihn charakteristisch wären."

lAteraturbericht. 471

Die GeistesstOrnngen der Verbrecher sind im allgemeinen mit denen der Freiheit weBensgleich ; 4as Gefängnis beschleunigt nur selten den Ver- fall in Geisteskrankheit. Der Psychiatet sollte vom Richter häufiger, be- sonders bei Delikten wider die Sittlichkeit herangezogen werden.

Das Verbrechen erklärt Asghaffembdro im Anschlufs an Febri als sociales Phänomen. Was mit dieser oft wiederholten, aber doch inhalts- leeren Phrase gesagt sein soll, wird nicht ganz klar. Mit den Worten „das Verbrechen ist eine soziale Erscheinung'' kann gemeint sein, dafs das Verbrechen durch ein gesetzmäfsig äufserlich geregeltes Zusammen- leben der Menschen logisch bedingt ist es kann aber auch ausgedrückt werden wollen, dafs das Verbrechen eine durch die Gesetzmäfsigkeit des gesellschaftlichen Daseins der Menschen kausal bedingte Erscheinung ist.

Verstehe ich Aschaffenbürg recht, so will er sagen, dafs das Verbrechen als eine Erscheinung des gesellschaftlichen Daseins der Menschen durch exogene und endogene Momente kausal bedingt ist und er will, im Gregensatze zu Lohbboso, den exogenen Momenten der einen Kom- ponente — für die Resultierende das Übergewicht über die endogenen Momente, der anderen Komponente, zuerkennen. Allerdings stimmt dies insoweit nicht, als er zur Grundlage der schon oben erwähnten Ein- teilung der Verbrecher in Gruppen das verschiedene Mafs nimmt, das bald den individuellen, bald den sozialen Faktoren an der Entstehung der Verbrechen zukommt. So hält Aschaffenbürg die aus chronischer Affekt- erregbarkeit und die aus Vorbedacht entspringenden Verbrechen durch die endogenen Momente bestimmt, während das Gelegenheitsverbrechen mehr durch äufsere Umstände veranlafst wird. Neben diesen Gruppen werden daijin noch die des Rückfalls-, Gewohnheits- und Berufsverbrechers genannt.

In logischer Beziehung ist diese Einteilung allerdings anfechtbar. „Gelegenheit" und „Affekt'' können nicht als differentiae specificae zweier besonderer Arten des genus Verbrechen verwendet werden, denn viele Geiegenheitsverb rechen werden im Affekte begangen. Andererseits können die Klassen der Rückfall- und Gewohnheitsverbrecher abgesehen davon, dafs eine Scheidung zwischen ihnen in Abstraktion von gesetzlichen, den Unterschied kennzeichnenden Bestimmungen nicht durchführbar ist jenen der Gelegenheits- und Affektverbrecher nicht nebengeordnet werden. Es gibt eben rückfällige Affekt- und rückfällige Gelegenheitsverbrecher.

Der dritte Teil, welcher den „Kampf gegen das Verbrechen" darstellt, lehnt sich sehr eng an das wiederholt zitierte Werk von Fbbbi, dann an Vorschläge an, die teils v. Liszt, teils die internationale krimina- listische Vereinigung auf diesem Gebiete gemacht haben.

Aus der Rückfallstatistik wird zunächst voreilig der Schlufs gezogen, dafs unsere heutigen Strafen unwirksam sind und es werden mehrere soziale Fürsorgemafsregeln als Mittel zur Bekämpfung des Verbrechens in Vorschlag gebracht, z. B. Beseitigung der Trinksitten, Fürsorge für Kranke und Invalide, Verbot der Ehe für Epileptiker, Trinker, schwere Verbrecher, Geisteskranke; Schutzfürsorge für Kinder und entlassene Sträflinge, bessere Ausbildung der Polizei zwecks gröfserer Garantie der Eruierung von Ver- brechen usw.

472 Literaturbericht

Man darf gegenüber diesen und ähnlichen zweifellos gut gemeinten Vorschlagen, die sich leicht vermehren lassen, nicht übersehen, dalis mit ihnen kaum Nennenswertes gewonnen ist Die Schwierigkeiten beginnen eben erst, wo es sich um konkrete Mafsregeln an Stelle allgemeiner Vor- schläge, um die Durchführung im einzelnen, um die Beseitigung schädlicher Neben- und Reflexwirkungen handelt. Der Soziologe, der zur Bekämpfung des Verbrechens Vorschläge macht wie die, welche von Fbbri, Aschatpsh- BUB6 u. a. erstattet worden sind, unterscheidet sich nicht von einem Arzte, der am Krankenbette über den dürftigen Bat nicht hinauskommt: man müsse für die Hebung des Kräfteznstandes des Patienten sorgen und schädigende Einflüsse abhalten.

Die Hauptschwierigkeit beginnt eben auch hier bei Beantwortung des „Wie?**.

Die Entetehung der Strafe wird von Aschaffbnbübq in engem An- Schlüsse an die LiszTsche Abhandlung über den „Zweckgedanken im Straf- recht" (Zeitschrift für StrafrcchtstDissenseh, 3, S. If.) aus der Bache erklärt

Zur Frage der Willensfreiheit wird nur beiläufig durch Hinweise auf die allgemeine Geltung des Kausalitätsgesetzes und auf einzelne Stellen in SoHOPBNHAüBRS Werken Bezug genommen. Die schwierige Frage, wie sich die Strafe vom Standpunkte des Determinismus rechtfertigen lasse, findet ihre Erledigung in der Bemerkung, dafs an die Stelle der „moralischen Verantwortlichkeit*' die „soziale Verantwortlichkeit" tritt

Bei Stellungnahme zu den einzelnen Strafmitteln wird betont, da£s die Beibehaltung der Todesstrafe ebensowenig wie ihre Abschaffung auf die Kriminalität von bedeutendem EinfluTs sein kann. Die Prügelstrafe wird mit Recht abgelehnt die Deportation wenigstens so lange, als wir in unserem Vaterlande noch Moor- und Heidegegenden haben, in denen genug zu tun ist

Qegen die Polizeiaufsicht werden die Bedenken vorgebracht, welche in der Strafrechtsliteratur schon oft geltend gemacht worden sind. In der Überweisung an die Landespolizeibehörde wird dagegen ein vortreffliches Mittel „sozialer Repression*' erblickt, welches aber nicht nur wider Bettler, Landstreicher, Trunkenbolde, Dirnen, Zuhälter, sondern auch bei viel ge- fährlicheren Menschen in Anwendung kommen sollte. Auch wird verlangt, dafs die Überweisung über die derselben im Gesetze zu enge gezogenen Grenzen ausgedehnt werde.

Gegen die Geldstrafen werden die geläufigen Einwendungen gemacht und gegen den „Hausarrest" wird eingewandt, dafs dessen Anwendung die Gesundheit eines Dienstmädchens schädigen würde, während der Rentner nicht darunter leiden würde.

Mit Fbbri wird die Ausdehnung der Schadenersatzpflicht und im An- Schlüsse an Kbaepelik die Abschaffung des Strafmafses bei Verurteilungen empfohlen.

AscHAFFENBUBOs Buch wird den Zweck, über die Vorschläge, die hie- lang auf dem Gebiete der Strafrechtsreform aufgetaucht sind, in verständ- licher Weise zu informieren, vortrefflich erfüllen als selbständiger Beitrag zur Reform der Strafgesetzgebung kann es nicht bezeichnet werden, dazu

lAteraturbericht, 473

müTsten die einzelnen Vorschläge exakter gestaltet, vertieft und umsichtiger geprüft werden. Was ans hier not tut, sind mehr grü/idliche Einzel- untersuchungen, als allgemein gehaltene Ausführungen.

FiNGEB (Halle a. S.).

£. KRABPELm. Das YerbreeheA als soiiale Knnkheit. Monatsschr. f. Krimindl' Psychologie ti. Strafrechtsreform 3 (5), 8. 257—279. 1906.

Der Überschrift dieses Aufsatzes fügt der Verf. eine Anmerkung bei, dafs diese Wiedergabe eines Vortrages „den Lesern gerade dieser Zeitschrift natürlich nichts ISeues bieten kann'^ und dafs seine Veröffentlichung nur auf den besonderen Wunsch des iHerausgeb^rs erfolgt. Man wird es gewifs auf das Dankbarste begrüfsen, dalJs K. diesem Wunsche gefolgt ist. Im Beferate wiederzugeben, was in diesem Aufsatze in glänzender Rede und mit überzeugender Klarheit niederg^egt ist, können wir nicht erst rer- Buchen. Wir begnügen uns, hier einige Sätze aus dem Schlüsse zu zitieren, deren Inhalt seine eingehende Begründung in der voraufgehenden Dar- stellung findet. „Dem ehrwürdigen Alter dieser (geschichtli<dien) Über- lieferung verdankt sie (die Strafrechtspflege) zum grofsen Teile ihre Macht über die Gemüter des Volkes, der Richter, der Strafrechtslehrer. So kommt es, daÜB ihre schreienden Mängel noch immer übersehen und ertragen werden, die ungeheuere Menge widersinniger kurzer Freiheitsstrafen, der ganz ungenügende Schutz der Gesellschaft gegen Unverbesserliche, die noch dazu die Jugend durch ihr schlechtes Beispiel vergiften» das zweck- lose Einspenren der Zufalls Verbrecher, die ün Vollkommenheit der erziehe- rischen Wirkungen, die gänzliche Vernachlässigung der Schadloshaltung. Alle diese Mängel haben ihre Wurzel in der unsere Strafrechtspflege beherrschenden Vergeltungstheorie. . . . Ihr Versagen gegenüber dem Schutzbedürfnisse des Gesellschaftslebens ist so handgreiflich, dafs sie sich niemals mehr die Alleinherrschaft wird zurückerobern können. Ent- scheidend aber fällt es ins Gewicht, dafs die Vergeltungsidee unvereinbar ist, nicht nur mit unseren sittlichen Anschauungen, sondern auch mit den sicheren Errungenschaften naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Heraus- entwickelt aus dem naiven Rachetriebe, stellt sie ein fremdartiges Über- lebsel dar in einer Zeit, die uns immer eindringlicher lehrt, dafs alles begreifen, auch alles verzeihen heifst. Mögen immerhin noch lange Jahre darüber hingehen, bis unsere Gesetzgebung zielbewulst unter den einheitlichen Gesichtspunkt des Schutzes der Rechtsordnung gesteUt wird zurückschrauben läfst sich eine Bewegung nimmermehr, die das Gebäude des Strafrechts auf dem sichersten Boden aufbaut, der sich dafür finden läfst, auf der naturwissenschaftlichen Erkenntnis der gesunden und kranken menschlichen Seele.'' Spiblioiysb (Freibarg i. Br.).

474

Namenregister.

Fettgedraokte Seitennlileii besiehea lich auf den YerfuBer einer OrigiualaUuuidliiiic Seiten-

sahlen mit f auf den Yeifaeeer eines referierten Baches oder einer referierten Althandloi;.

Seitenzahlen mit * anf den Verfasser eines Referates.

Aall,A.160.t* 146.* 147* 152 * 164 * 156 * 157 * 160* 199* 204 * 206.* 207 * 209* 211 * 213* 214» 240.* 306* 320*

Aars, Kr. B.-R. löS.f

Adam, C. 464.t

AUonneB, B. de 237.t

Alrutz, S. 144.t 147.t 156.t 157.t

Alvord, E. 206.t

Ament, W. 62.t

Ameseder 60.*

AngeU, Fr. 213.t

Arnold, F. 207.t 208.t 312.t 374.t

Aschaffenburg, G. 469.t

Auerbach, S. 293.t

B.

Baade, W. 289.* 299.* 310.* Baerwald, R. 174. 318.* Baeumker, Cl. 449.* Bailey,Tli.P. Sll.f 377.t Baird, J. W. 400.t Basler, A. 4ö5.t Becher, E. 81. Bechterew, W. v. 219.t

363.t Berger, H. 460.t

Bergström, J. 209.t Beyer, H. 203.* 204.* 293.* Binet, A. 63.t 76.t 79.t Bingheim, W. V. D. 303.t Blondel, Ch. 316.t Bock, W. 204.t Boggs, L. P. 203.t 396.t Bonnier, Q. 240.t Bourdon, B. 162.t Bradley, F. H. 4ö6.t Bresler, J. 231.t Bühler 376.*

c.

Oameron, E. H. 372.t Carr, H. 214.t 310.t Charpentier, CL 237.t Oohn, J. 467.t 51.* CoUin 365.* 366.* 450.* 461.* 453.* 454.* 455.* Cowling, D. J. 37at Gurschmann, H. 313.t

D.

Dittler, R. 451.t Dodge, R. 288.t Döring, A. 320.* Döring, M. 70.t Dräseke, J. 199.t Dreyfus, G. 236.t 317.t Dürr 57.* 288.* Dürr-Borst, M. 74.t

Dugas, L. 229.t Dumas 467.t

E.

Eisler 201.* 292.* 295.* Ephrussi 377.* Ewald, J. R. 146,t Ewald, O. 62.t Ewald, W. F. 4ö4.t Ewer, B. C. 231.t

F.

Finger 473.* Fitting, H. 297.* 303.* Foston, H. 459.t Franz, V. 364.* Freeman, F. N. 396.t Freud, S. 230.t Friedrich, G. 66.t Frischeisen - Köhler, M. 334. 387.t 388.t

G.

Gaupp, R. 168.t Gent> W. 457.t Gerhardi, A. K. 3l7.t Giessler, E. M. 385.t 144.*

155.* 230.* Gordon, K. 302.t Gottschalk, A. 458.t Gregor, A. 234.t Grotenfelt, A. löO.f Gudden, C. 316.t Gutberiet, C. Ö6.t

Namenreffiater

475

HaberUndt, 6. 29Ö.t Haenel, H. 202* 233*

234 * 235 * 236* Hammer, B. lÖG.f Hampe, J. 232.t Hansemann, D. v. 289.t Hartmann, Fr. 235.t Harrwitz, F. 146.t Hellpach, W. 314.t Henmon, V. A. Ch. 297.t

301.t Herberts, R. 123. 275.

56.* 300.* 374.* 378.*

385.* 386.* 396.* 400.*

467.* 460 Heymans, 6. 321. Hielscher, H. 468.t Hoefer, P. 147.t Höffding, H. löö.f Hoeven Leonhard, J. v. d.

206.* Hombostel 371.*

I.

llberg, H. 314.t Isserlin, M. 213.t

J.

Jackson, G. L. 374.t Jäderholm, G. A. 146.t Judd, 0. H. SOl.t 378.t

E.

Kalischer, O. 292.t Karplus, J. P. 365.t Kelchner, M. 391.t Klien, H. 316.t KöUner, H. 366.t Kraepelin, F. 473.t Kramer, F. 306.t Krarup, H. SOO.f Kreibig 364.* 386.* 387.*

388.* 390.* 391.* Kronthal, P. 397.t Krüger, F. 367.t Knhlmann, F. 211.t 385.t Kutner, R. 234.t

Lagerborg, R. löß.f 219.t Lanber, H. 4ö3.t Lay, W. A. 70.t Lewandowsky 365.* Lindner, G. 67.t Lipmann, O. 75.t 153.*

208.* 213.* 217.* 219.*

232.* 288.* 306.* 307.*

311.* 469.* Lipps, Th. 42. j- Lobsien, M. 69+ 71.t 73.t

458.* Lomer, G. 233.t Loomis, H. N. 378.t Luquet, G.-H. 142.t lö4.t

M.

McDougall, W. 307.t

Malgre 307.t

Major, D. R. 64.t

Manac^ine, M. v. 76.f

Marbe, K. 345.

Marie 237.t

Martins, G. 22ö.t

Mast, 8. O. 302.t

Meisling, A. 452.t

Meumann, E. 71.t 372.t 376.t

Meyer, M. 304.t 59.* 61.* 147.* 212.* 216.* 301.* 302.* 304.* 311.* 312.* 313.* 372.* 378.* 379.* 397.*

Meyer, R. M. 390.t

Meyer, 8. 306.t

Minnemann, C. 228.t

Mitchell, Fr. 238.t

Möbius, P. J. 315.t

Moll, A. 398.t

Moskiewicz 218.*

Mailer-Freienfels, R. 241.

N.

Naecke 467.t Nagel, W. A. 4ö0.t 146.* 300.* 301.* 311.* 462.*

Nagy, L. 69.t Nausester, W. 67.t Nicolin, E. 320.t Norris, E. A. 386.t

Oeeterreich, K. 215.t Offner 42.* Oppenheim, H. 157.f Orth 226.* 228.* 229.* 396.* O'Shea, M. V. 40O.t

P.

Panconcelli Calzia, G.

311.t Pappenheim, M. 161.374.*

398.* 400.* Pelman 169.* Pi^ron 307.t PiUsbnry, W. B. 288.t Piper, H. 75.t Pitkin, W. B. 313.t Poppelreuter, W. 75.f

Quandt, J. 374.t Quix, F. H. 202.t

Raehlmann, E. 462.1 Raehlmann, R. 365.t Reichardt, M. 67.t* Ricci, C. 69.t Rosen, F. 466.t Rosenfeld, M. 460.t Rossem, A. v. 206.t Rothmann, M. 449.t

S.

Sabatier, C. 364.t Sabine, G. H. 162.t Sadger 233.t Sanctis, 8. de 168.t Sänge 52.* Saxinger, R. 401. Schaefer, K. L. 146.*

476

NofniMnregi&ter.

Scheibe 219* 230* 2^1 * Schneider, A. 439+ Schröder, E. 2l8.t Schreuder, A. J. 62.t Schubert, C. 68.t Schultze, B. 168 * Schultee, F. E. O. 6a.t Schulze, R. 72.t Schuster, P. 2ai.t Sciiuyten, M. 0. 78.t Searle, H. 206.t Seligmann, S. 366.f Severance, E. 212.t Sidifl, B. 60.t Simon, th. 63.t 79.t Sommer, R. löS.f Spearman, C. 199.t Specht, W. 399.t Sperling 399 * Spielmeyer 4öO * 473 * Steiger, A. 4o0.t Stein, L. 230.t Stern, W. 77.t* 306.t 60 *

61* 79* 152* 158*

240* Sterneck, R. v. 1. 379.t

Stigler, R. 366.t Störring, G. 319.t Stumpf, C. 36.f Swift, E. J. 306.t

Tanner, A. E. 21&t Ta«8y ai2.t

Thompson, H. B. 302.t Tögel, H. 66.t Török, L. 2S. Trendelenburg, W. 366.*

366 * 452 * 454 * 466.* Träveß, L. 60.t Tschndi, R. 73.t

u.

Umpfenbach 232* 233 * 236* 237 * 238* 313» 314* 315* 316* 317*

Urban, F. M. 206+

Vaney, V. 63+ 78+ Viemann, W. 75+

Vierkandt, A. 467 * 469 * VioUet 237+ Vogt, H. 232+ Volkelt, J. 59+ Voss 306* 307* 312* 314 * 315.* 316* 400,»

w.

Wagner, L. 76+ Washburn, M. F. 212.t Watt, H. J. 309+ Weber, E. 313+ 466.* Weber, L. W. 238.t Wernick, G. 38ß.t Weygandt, W. 232+ Wiersma, £. S2L Winch, W. H. 305.t Wirth, W. 4». Witasek 385* Wlotzka, E, 365+ Wundt, W. 469+ Wyczolkowska, A. Äf 146+

z.

Ziehen, Th. 288.+

Druck yoik Liniert & Go. (G>. Pfttz'sohe Buohdr.), Naumburg a. S.

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