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Zum

Begriff der Entrcidiliing

Von

fl. L. flngersbadi

Abdruck aus der „Naturroissensdiaftltdien Wocfienscfirift^ herausgegeben uon Prof. Dr. H. Potonie und Prof. Dr. F. Ko erber

1912. N. F. XI. Band

Jena

Verlag von Gustav Fischer

1913

Verlag von Gustav Fischer in Jena.

Biomechanik und Biogenesis. I^%J£iSfc&5ffi

Das biomechanische (neo-vitalistische) Denken in der Medizin und Biologie. 1912. Preis: 2 Mark.

Inhalt: Einleitung. 1. Teil: Das biomechanische Denken in der Biologie. Die Biomechanik des Zellenlebens. Die Fernwirkung der Zellen. Die Fernwirkung mittels des Saftstromes. Die Fernwirkung mit Hilfe des Nerven- systems. — Die Nervenfernwirkung in der Biomechanik des Wachstums. Die Trophonenrosen. Die krankhafte Fernwirkung innerhalb des Zentralnervensystems. Die Neuronenfrage. Einige allgemeine biomechanische Gesetze: Das Grund- gesetz der Lebensäußerungen. Das biomechanische Minimalgesetz. Das biomecha- nische Luxusgesetz. Biomechanik des Wachstums. Die Biomechanik des Blut- stroms. — Zur Biomechanik des Nerven-Muskelapparats. Die Biomechanik der Fortpflanzung. 2. Teil: Die Naturgeschichte des Seelenlebens. Das Seelenleben. Vom Bau des Gehirns und seiner Oberfläche. Der geometrische Bau des Schädels und der Knochen. Das richtige Sehen des verkehrten Netz- hantbildes. — 3. Teil: Biogenesis.

Als im Jahre 1902 die Schrift von Professor Benedikt über das biomechanische Denken erschien, erregte sie Aufsehen. Man wurde überrascht durch außerordentlich geistvolle und scharfsinnige Erörterungen, die in die Fragen vom Leben und von den Lebenserscheinungen in ganz eigenartiger Weise eindrangen. Die neue Auflage ist erweitert und wird in ihren bedeutungsvollen neuen Teilen (über das Seelenleben und über Biogenesis) noch mehr Aufsehen erregen. Für Philosophen und Psychologen, für Biologen und Geologen, für Theologen und Lehrer wird die Schrift eine Fülle von erkenntniskritischer Anregung bieten.

Die Analyse der Empfindungen ^J'Ll^^^^t

Dr. E. Mach, emer. Professor an der Universität Wien. Sechste, vermehrte Auflage. Mit 38 Abbildungen. 1911. Preis: 5 Mark, geb. 6 Mark.

Inhalt: 1. Antimetaphysische Vorbemerkungen. 2. Ueber vorgefaßte Meinungen. 3. Mein Verhältnis zu R. Avenarius und anderen Forschern. 4. Die Hauptgesichtspunkte für die Untersuchung der Sinne. 5. Physik und Biologie. Kausalität und Teleologie, 6. Die Raumempfindungen des Auges. 7. Weitere Untersuchungen der Raumempfindungen. 8. Der Wille. 9. Eine biologisch-teleologische Betrachtung über den Raum. 10. Beziehungen der Gesichtsempfindungen zu einander und zu anderen psychischen Elementen. 11. Empfindung, Gedächtnis und Assoziation. 12. Die Zeitempfindung. 13. Die Tonempfindungen. 14. Einfluß der vorausgehenden Untersuchungen auf die Auffassung der Physik. 15. Die Aufnahme der hier dargelegten An- sichten. — Zusätze. Sachregister. Namenregister.

Die äußeren Formen des menschlichen Körpers in ihrem allgemeinen Zustandekommen. E,GaSppr,0Fre?burg

i. Br. (Sammlung anatomischer und physiologischer Vorträge und Aufsätze, herausgegeben von Prof. Dr. E. G a u p p , Freiburg i. Br. und Prof. Dr. W. N a g e 1 , Rostock. 13. Heft.) Mit 22 Abbildungen im Text. 1911. Preis : 1 Mark 50 Pf .

Der Begriff des Instinktes einst und jetzt. Eine Studie

über die Grundlagen der Tierpsychologie. Von Dr. Heinrich Ernst Ziegler, Prof. der Zoologie an der Technischen Hochschule in Stuttgart, der Tierärzt- lichen Hochschule in Stuttgart und der Landwirtschaftlichen Hochschule in Hohenheim (früher Prof. an den Universitäten Freiburg i. Br. und Jena). Zweite verbesserte und vermehrte Auflage. Mit einem Anhang: Die Ge- hirne der Bienen und Ameisen. Mit 16 Abbildungen im Text und 2 Tafeln. 1910. Preis: 3 Mark.

Zum

Begriff der Entiaiftlung

Von

fl. L. flngersbadi

Abdruck aus der

„NaturiDissensdiaftlidien Wodiensdirift", herausgegeben von Prof. Dr. H. P ot on 16

und Prof. Dr. F. Ko erb er. 1912. H. F. XI. Band

Jena

Verlag von Gustau Fischer

1912

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I. Kennzeichen der Entwicklung körperlicher Systeme.

Das ungünstige Verhältnis zwischen der raschen Vermehrung der Organismen und der relativ großen Gleichförmigkeit der Lebensbedingungen führt zu einem lebhaften Kampfe oder doch zu einem lebhaften Wettbewerb um die der Erhaltung dienenden Mittel. Der Kampf wütet selbst zwischen Einzelwesen, die unter ähnlichen Verhältnissen leben; ja er ist häufig genug zwischen Angehörigen der nämlichen Art von besonderer Stärke und Schärfe. Nun weichen aber alle Organismen der- selben Art mehr oder weniger voneinander ab, und die Kinder eines und desselben Elternpaares gleichen weder diesem in allen Stücken noch einander selbst. Den abweichenden Eigen- schaften kommt unter gleichartigen Umständen ein verschiedener Anpassungswert zu. Die Be- sitzer von „vorteilhafteren" Eigenschaften haben Aussicht, aus der Konkurrenz siegreich hervor- zugehen, während die „schlecht" ausgerüsteten in der Regel dem Untergange geweiht sind.

Der Kampf ums Dasein hat somit

eine Auslese des Passendsten zur Folge, die Vererbung erhält das Passende und die Variabilität bietet immer wieder von neuem Passenderes zur Auslese dar.

Darwin glaubte im Kampfe ums Dasein das eigentliche Entwicklungsprinzip gefunden zu haben. Sofern die Entwicklung der Lebewesen in einer Veränderung besteht, die auf die Aus- bildung neuer Formen von relativer Konstanz gerichtet ist, soll sie ihre Ursache weniger in der Variabilität als vielmehr im Kampfe ums Dasein haben. Die Variabilität enthält demnach keine charakteristischen Entwicklungs- merkmale, sie besitzt keinen ausgesprochenen Richtungssinn oder besser: Darwin rechnet nicht mit dem Vorhandensein eines Richtungssinnes innerhalb der vari- ierenden Merkmale.

Nun kann aber nicht in Abrede gestellt werden, daß veränderte Umgebung und im Zusammen- hang damit verändertes Klima, veränderte Nahrung auch unabhängig vom Vorhandensein eines Kampfes ums Dasein die Organismen nicht unbeträchtlich umgestalten. Sollten solche Faktoren nichts anderes als fluktuierende oder labile Variationen bedingen? oder sollten sie nicht auch zu ge- richteten Abänderungen Anlaß geben? Sollte nicht vielleicht eine fortschreitende Varia- bilität bestehen, die verhältnismäßig unab- hängig von äußeren Umständen aus der Struktur des Organismus allein hervorgeht? Sollte der Kampf ums Dasein nicht in allererster Linie die

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Aufgabe haben, schlecht ausgerüstete Arten aus- zumerzen und wohlangepaßte zu fixieren, und eher indirekt als direkt zur Entwicklung beitragen?

Das waren die Fragen, die sich notwendig an Darwins bedeutsame Lehre anschlössen und die zu den lebhaftesten wissenschaftlichen Aus- einandersetzungen führten.

Darwin selbst entzog sich diesen Problemen keineswegs. Ja, als er gewisse Schriften von Nägeli und Broca gelesen hatte, bekannte er mit großem Freimut, daß er in den ersten Aus- gaben der „Entstehung der Arten" der Tätigkeit der natürlichen Zuchtwahl oder des Überlebens des Tüchtigsten vielleicht zuviel Einfluß beige- messen habe. Und in einem Briefe an Moritz Wagner äußerte er sich im Jahre 1880 so: „Meiner Ansicht nach war es mein größter Fehler, daß ich der direkten Einwirkung von Umgebung, Nahrung, Klima usw. unabhängig von der natür- lichen Zuchtwahl eine zu geringe Bedeutung zu- geschrieben habe." *) Ja er stellt in seinem Werke „über das Variieren der domestizierten Tiere" geradezu Gesetze der Variation auf, vereinigt sie in Hauptsätzen und betont z. B. die direkte und definitive Wirkung der veränderten Lebens- bedingungen, die sich dadurch äußert, daß alle oder fast alle Einzelwesen einer Art unter den- selben Umständen in derselben Weise variieren, ferner die Wirkung lange fortgesetzten Gebrauchs

l) Siehe Kassowitz, Biologie, 2. Bd., S. 258 u. 259. Wien 1899.

oder Nichtgebrauchs der Teile, weiter den Zu- sammenhang zwischen analogen Teilen usw. Darwin trug kein Bedenken, die durch direkte Anpassung erworbenen Eigenschaften als ver- erb lieh anzusehen.

Was eine fruchtbare Erörterung des Entwick- lungsproblems erschwerte, das war der Umstand, daß über das kennzeichnende Merkmal der Entwicklung verschiedene Auffassungen bestanden, ferner aber auch die Vieldeutigkeit dessen, was der Begriff des „Kampfes ums Dasein" umfaßt.

Darwin selbst schickte in seiner „Entstehung der Arten" voraus, daß er die Bezeichnung „Kampf ums Dasein" in „einem weiten und metaphorischen Sinne gebrauche, der die Abhängigkeit der Wesen voneinander, und (was noch wichtiger ist) nicht nur das Leben des Individuums, sondern auch die Erhaltung der Nachkommen in sich schließt". Ein- zelne Forscher faßten jenen Begriff so weit, daß er sogar die Konkurrenzen zwischen den Teilen des tierischen oder pflanzlichen Körpers umspannte. So bezeichnete der Ausdruck „Kampf ums Dasein" nicht nur die Gesamtheit der Anpassungsvorgänge zwischen Individuum und Umgebung und zwar diese im weitesten Sinne verstanden, als mit be- lebten und unbelebten Objekten erfüllte Umwelt , sondern auch die Gesamtheit der im Innern des Einzelwesens selbst sich abspielenden Anpassungs- vorgänge, die zu den Anpassungsvorgängen der ersten Art oft in ganz loser Beziehung stehen, ja vielfach als relativ unabhängig von ihnen an-

gesehen werden dürfen. Ein von Haus aus ziem- lich scharf umgrenzter Begriff wurde so über alle Maßen erweitert, daß er schließlich nicht viel mehr bedeutete als „Wirken und Gegen- wirken" und ebensogut von zwei sich befeh- denden Tieren wie von zwei beliebigen Massen- punkten gebraucht werden konnte.

Und doch lag jener Verallgemeinerung ein sehr berechtigtes Gefühl zugrunde. Man fühlte, daß sowohl die eigentlichen Kämpfe der Tiere als auch die innerkörperlichen Anpassungsprozesse gemeinschaftliche Merkmale besitzen, ja daß zwischen den Anpassungsvorgängen innerhalb der Welt der Organismen und zwischen den „An- passungsvorgängen" innerhalb eines physiko-che- mischen Systems der unbelebten Natur weitgehende Ähnlichkeiten bestehen dürften.

Wodurch sind nun Entwicklungs- prozesse gekennzeichnet?

Zunächst ist jede Entwicklung ein Geschehen mit ausgeprägtem Richtungssinne.

Handelt es sich um ein nach außen hin ab- geschlossenes System, so wird man unter dessen Entwicklung die Reihe derjenigen Vor- gänge begreifen dürfen, die aus einem gegebenen Anfangszustande des Systems1) gesetzmäßig hervor- gehen. In solchem Sinne wird in der Regel die Entwicklung des Sonnensystems aus einem chao- tischen Urzustände gedacht.

Handelt es sich jedoch um ein System, das

*) der freilich nicht als absolut aufzufassen ist

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zu anderen Gebilden in inniger Verbindung steht und erst mit diesen zusammen eine Kon- stellation höherer Ordnung bildet, so wird man als Entwicklung jenes Systemes die Reihe der- jenigen Vorgänge zu begreifen haben, die dasselbe auf Grund der inneren und äußeren Bedingungen durchmacht. Zu solchen „bedingten" Systemen gehören in Wirklichkeit wohl alle in der Natur anzutreffenden Konfigurationen.

Nun zeigt aber das Geschehen innerhalb der abhängigen Gebilde wieder beträchtliche Ver- schiedenheiten.

In einer ersten Gruppe von Systemen herrscht trotz der von der Umgebung ausgehenden Störungen die Tendenz, daß die Konfigurationen immer ein- förmiger werden und mehr und mehr erstarren.

In einer zweiten Gruppe dagegen erfahren die Systeme geradezu eine ausgesprochene Ver- wicklung des inneren Gefüges und der Verrich- tungen; ihre Arbeitsfähigkeit wird durch Auf- speicherung größerer Energiemengen und durch eigenartige Differenzierung derselben wenigstens bis zu einem gewissen Zeitpunkte erhöht. Weitere Verwicklungen ergeben sich dadurch, daß sich von organisierten Systemen Keime abspalten, die nicht nur die mannigfaltigsten Eigentümlichkeiten der Vorfahren bewahren, sondern sich auch selbst wieder neue und dauernde erwerben.

Welche Merkmale können nun als ausrei- chend angesehen werden, um die Entwicklung der organisierten Systeme, die Entwick- lung im engeren Sinne zu definieren?

Hier gehen die Ansichten auseinander.

Viele sind geneigt, das Kennzeichen einer „positiven" Entwicklung in einer Komplika- tion des Gefüges und der Verrichtungen zu sehen, in einer organologischen und funktionellen Differenzierung, in einer Erhöhung und Erweiterung der Arbeitsfähigkeit.

Andere dagegen betrachten als Merkmal einer „positiven" Entwicklung die wachsende Befähigung eines Organismus, sich innerhalb einer vielge- staltigen, zahllose Reize aussendenden Umgebung zu behaupten.

Wie schon hervorgehoben worden ist, zeigt jede Entwicklung eine ausgesprochene Geschehensrich- tung. Und schon L a p 1 a c e wußte, daß eine Anord- nung von sich gegenseitig anziehenden Massen- punkten die Tendenz zu geordneten Bewegungen ent- hält. Nach seinem berühmten Satz von der un- veränderlichen Ebene müssen „die Bewe- gungen der irgendein endliches System zusammen- setzenden Körper, wie auch immer die ursprüng- liche Abweichung der Richtung sei (mit Aus- nahme sehr weniger besonderer Fälle), infolge irgendwelchen Widerstandes gegen diese Bewe- gungen parallel oder übereinstimmend zu werden streben" mit einer unveränderlichen, durch den Schwerpunkt des ganzen Systems hindurchgehenden Ebene. Stallo1) nennt dieses Prinzip eines der bedeutendsten im ganzen Bereiche der mathema-

l) J. B. Stallo, Die Begriffe und Theorien der modernen Physik. Leipzig 1901.

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tischen Physik, zumal es eine allgemeine Form annimmt, dergemäß „alle Bewegungen von Ele- menten endlicher materieller Systeme, die von der gegenseitigen Wirkung solcher Elemente ab- hängen, infolge irgendwelcher ständiger Beein- flussungen oder Beschränkungen dieser Bewegungen von außen, von Unregelmäßigkeit und Unordnung zur Regelmäßigkeit und Ordnung streben."

Einer der ersten, die mit kritischem Geiste den Begriff der Entwicklung festzustellen ver- suchten, war Herbert Spencer.1)

„Entwicklung oder Evolution" ist ihm „Anhäufung von Stoff unter gleichzeitiger Zer- streuung von Bewegung aus relativ unbestimmter, unzusammenhängender Gleichartigkeit zu relativ bestimmter, zusammenhängender Ungleichartig- keit." „Auflösung ist die entgegengesetzte Veränderung, der früher oder später jedes ent- wickelte Aggregat verfällt."

Die Entwicklung ist einfach, wenn die Integration, d. h. die Bildung eines zusammen- hängenden Aggregates, die Ansammlung von Ma- terie, unabhängig von äußeren Umständen ist; sie ist zusammengesetzt, wenn die Integration von sekundären Veränderungen begleitet ist, die daraus hervorgehen, daß die verschiedenen Teile des Aggregates verschiedenen äußeren Ein- wirkungen ausgesetzt sind. Diese sekundären Veränderungen zeigen sich in Umwandlung eines

*) Dr. Berthold Weiß, Entwicklung, Versuch einer ein- heitlichen Weltanschauung. Stuttgart 1908.

K. Schwarze, Herbert Spencer. Leipzig 1909.

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Gleichartigen in ein Ungleichartiges. „Der Prozeß der Integration, der sowohl lokal als allgemein wirkt, kombiniert sich mit dem Prozeß der Differenzierung und macht dadurch diese Veränderung zu einem Übergang nicht einfach von Gleichartigkeit zu Ungleichartigkeit, sondern von unbestimmter Gleichartigkeit zu bestimmter Ungleichartigkeit."

Das endgültige Ergebnis der Umwandlungen, die ein sich entwickelndes Aggregat durchläuft, ist die Entstehung eines Gleichgewichts. „Die Veränderungen dauern fort, bis ein Gleichgewicht hergestellt ist zwischen den Kräften, denen alle Teile dieses Aggregates ausgesetzt sind, und den Kräften, die diese Teile ihnen entgegensetzen. Die Gleichgewichtsherstellung kann auf dem Wege zum endgültigen Gleichgewicht hindurch- müssen durch ein Übergangsstadium ausgeglichener Bewegungen (wie im Planetensystem) oder aus- geglichener Funktionen (wie im lebendigen Körper), aber der Zustand der Ruhe in unorganischen Körpern oder des Todes in organischen ist die notwendige Grenze der Veränderungen, aus denen Entwicklung besteht."

Unabhängig von Spencer haben Zöllner und Fechner versucht, Entwicklungsmerkmale aufzufinden: Zöllner in seinem Gesetz der zunehmenden Ordnung, wonach die den Elementen der Materie innewohnenden Kräfte so beschaffen sind, „daß die unter ihrem Einfluß stattfindenden Bewegungen dahin streben, in einem begrenzten Räume die Anzahl der stattfindenden

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Zusammenstöße auf ein Minimum zu reduzieren"; Fechner namentlich in seinem Prinzip der Ten- denz zur Stabilität.1)

Nach Fechner besitzen die Teilchen eines materiellen Systems oder die Schwerpunkte gan- zer Massen, die man zu einem größeren System vereinigt denken kann, die Tendenz, in regel- mäßiger Periode, d. h. in aufeinanderfolgenden gleichen Zeitabschnitten gleiche Lagen und Be- wegungsverhältnisse anzunehmen. Kehren genau dieselben Verhältnisse wieder, so handelt es sich um eine v o 1 1 e Stabilität ; sind die durch die Länge einer Periode getrennten Zustände nicht völlig, sondern nahezu gleich, so handelt es sich um eine approximative Stabilität. Eine solche kommt z. B. dem Planetensystem zu, inner- halb dessen wegen der Inkommensurabilitätsver- hältnisse der Umlaufszeiten der Planeten niemals genau dieselben Störungsverhältnisse und mithin Bewegungsverhältnisse in der Bahn jedes Planeten wiederkehren, wohl aber angenähert dieselben Störungen je zweier, dreier und selbst aller Pla- neten zueinander und angenähert dieselben Störungen jeder einzelnen Bahn in kleineren und größeren Perioden, ohne daß irgendein Rückschritt in diesen Zuständen einträte. Als Grenzfall der vollen Stabilität ist die absolute Stabilität anzusehen, bei der die Teile eines Systems gegenseitig in Ruhe sind. Eine Aufhebung der

l) G. Th. Fechner, Einige Ideen zur Schöpfungs- und Entwicklungsgeschichte der Organismen. Leipzig 1873.

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Stabilität kann aus den Bedingungen des Systems allein niemals stattfinden, sondern lediglich auf Grund äußerer Einwirkungen.

Das Prinzip der Tendenz zur Stabilität hat nicht nur für ein Sonnensystem, sondern auch für einen einzelnen Himmelskörper, wie die Erde, ferner für relativ abgeschlossene irdische Aggre- gate und schließlich auch für die Organismen, die ganz auf Periodizität ihrer Funktionen ange- legt sind, Gültigkeit. Freilich, insofern „jedes beschränkte System in der Welt als Teil eines größeren Systems, schließlich der ganzen Welt gefaßt werden kann, werden auch die inneren Stabilitätsverhältnisse eines jeden außer durch die Wirkung der eigenen Teile durch die Außen- bedingungen im Sinne der Tendenz des Ganzen zur Stabilität mitbestimmt, und wo die Wirkung der Außenbedingungen nicht verschwindend ist, kann also das Prinzip der Tendenz zur Stabilität nur mit Rücksicht auf diese Mitbestimmung gel- tend gemacht werden."

Dieser letzte Satz ist deshalb wichtig, weil er davor warnt, einen organischen Körper als ein relativ geschlossenes Gebilde zu betrachten, d. h. als ein Aggregat, dessen Bestandteile untereinan- der ganz erheblich enger zusammenhängen als mit den Bestandteilen der Umgebung. Ein Or- ganismus nimmt ununterbrochen Teile der Um- gebung in sich auf und scheidet ebenso ununter- brochen wieder Teile aus. Wie die brennende Flamme ist er in steter Umwandlung begriffen, ohne jedoch die Form wesentlich zu ändern. Der

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lebende Körper ist weder ein statisches System, noch gehört er einem solchen an, wohl aber steht er zu der Umwelt in einem stabilen dynamischen Verhältnisse. Das schließt natürlich keineswegs aus, daß auch organische Gebilde, namentlich gewisse tierische und pflanzliche Gewebssysteme und manche Fortpflanzungskörper niederer Tiere und niederer und höherer Pflanzen eine auffallende Unabhängigkeit von der Umgebung zeigen.

F e c h n e r hielt es für nötig , um den Ent- wicklungstatsachen nach jeder Seite hin gerecht zu werden, seinem Stabilitätsprinzip noch zwei andere zuzugesellen, ein Prinzip der be- zugsweisen Differenzierung und ein Prinzip der abnehmenden Veränder- lichkeit. Wir wollen nur noch dem ersteren einige Aufmerksamkeit schenken. Es handelt sich hier nicht etwa um den Fall, daß eine Masse sich einfach in mehrere Massen teilt, die nur in Größe und äußerer Form, aber nicht der inneren Konstitution oder dem Bau nach sich von der Ursprungsmasse und voneinander unterscheiden, sondern um den, „daß eine Masse von einer ge- gebenen inneren Konstitution sich sei es direkt in Massen von ungleicher Konstitution spaltet, welche ein Ergänzungsverhältnis zueinander be- halten", (z. B. das molekularorganische und das unorganische Reich) „oder die von ihr erzeugten Keime vor ihrer Abspaltung so spaltet, daß daraus Organismen im Ergänzungsverhältnis hervorgehen", was Fechner kurz als Massendifferenzie- rung und Keim differenzier ung unterschei-

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det. Die allmählich im irdischen System einge- tretenen bezugsweisen Differenzierungen müssen ebenso in der Anlage der Urmaterie, auf die weder der Begriff unserer heutigen organischen noch unorganischen Zustände vollkommen an- wendbar ist, gelegen sein, „als noch heute die Teilung einer Zelle in deren Anlage gelegen ist", nur bedarf diese noch „äußerer Bedingungen der Ernährung", deren das Ursystem nicht bedurfte. Die Differenzierungen müssen ebenfalls im Sinne eines Fortschrittes zur Stabilität gelegen sein und haben „aus allgemeinstem Gesichtspunkte ihre Erklärung darin zu suchen".

Adolf Stöhr1) bewundert in den Gedanken Fechners über den kosmorganischen Zustand der Materie mit Recht die Kühnheit der Konzep- tion und die Klarheit der Problemstellung. „Die Urzeugung des gegenwärtig Lebendigen aus dem kosmorganisch Lebenden ist nur bei dem Über- gange aus dem kosmorganischen in den gegen- wärtigen Weltzustand möglich. Vor dieser Über- gangszeit war sie unmöglich, nach ihr ist sie wieder unmöglich." Er hebt hervor, daß die Fechn ersehe Annahme mit innerer Logik zur Hypothese der Molekül-Urzeugung treibe. Durch die Urzeugung des Moleküles führe dann der Weg zur Urzeugung der kosmorganischen Materie oder des primitivsten Plasmas. Doch, es

*)A. Stöhr, Der Begriff des Lebens. Heidelberg 1910. 3. Abschnitt, Begriffe der Urzeugung, d) mechanisti- scher Urzeugungsbegriff.

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würde uns zu weit abseits führen, auf St Öhrs eigene Ansichten einzugehen. Wir verweisen auf sein interessantes Werk über den „Begriff des Leben s."

Der erste, der auf die Fruchtbarkeit des Fee hn ersehen Prinzips der Stabilität wieder hingewiesen hat , war J. Petzoldt.1) Aber dieser will nicht die Periodizität der Vor- gänge betont wissen, sondern die in dem Zu- stande eines Systems selbst begründete Erhal- tung des letzteren, bzw. seines Bewegungszustan- des. „Das, worauf es ankommt, ist ein Dauer- zustand, eine Stabilität, die in sich selbst über- haupt keine oder doch wenigstens eine gewisse Zeit lang keine Bedingungen für ihren eigenen Rückgang findet. Damit sind zugleich ganz un- gezwungen die beiden denkbaren Hauptfälle unterschieden, an denen uns zunächst gelegen sein muß: dereines absolut stationären und der eines relativ stationären Zustandes. Wir finden also den Einteilungsgrund ganz allgemein in der Art der Dauer der Systeme, wie sie durch die inneren Einrichtungen und äußeren Beziehun- gen derselben gewährleistet ist. Systeme absoluter Dauer sind nie durch Erfahrung gegeben : sie sind Abstraktionen, nur zu dem Zwecke, die Beschrei- bung der Systeme relativer Stabilität zu erleich-

l) J. Petzoldt, „Maxima, Minima und Ökono- mie". Altenburg, S.-A., 1891. Petzoldt hatte übrigens unabhängig von der Fechner sehen Schrift die Bedeutung der Tendenz zur Stabilität erkannt.

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tern. Unterabteilungen dieser Hauptklasse würden Fechners absolute und volle Stabilität und der von uns als erster unterschiedene Fall der approxi- mativen Stabilität bilden: hier ist allein die Er- haltung des Systems eindeutig bestimmt."

Die Entwicklungslehren Fechners sowohl wie Spencers, die manche gemeinsame Züge besitzen, können schwerlich als metaphysisch be- urteilt werden, wenn auch F e c h n e r das Prinzip der Tendenz zur Stabilität zum Ausgangspunkt kühner Spekulationen gewählt hat. Sie wurzeln durchaus in der Erfahrung und stehen in vollem Einklang mit den allgemein physikalischen Theo- rien, so mit dem Satze des Geschehens und dem Satze der Energieentwertung.1)

Der Satz des Geschehens lehrt, daß nur dann etwas geschieht, wenn unkompensierte Inten- sitätsunterschiede vorhanden sind, indem nämlich

2) Der Satz des Geschehens wird in der Thermodynamik als eigentlicher Hauptsatz nicht formuliert. Als Haupt- sätze gelten vielmehr

1) der Satz von der Energiekonstanz und

2) der Satz von der Energieentwertung oder der Energiezerstreuung.

Der Satz des Geschehens ist, wie E. v. Hart- mann in seiner ,, Weltanschauung der modernen Physik" bemerkt, ein Satz, der einerseits vom ersten Hauptsatz zum zweiten leitet, andererseits zu den Minimum- prinzipien der Mechanik hinüberführt. Die Physik beschränkt sich auf zwei Hauptsätze, weil sie nur die Unmöglichkeit zweier denkbarer Arten des Perpetuum mobile, nämlich des Bewegung erhaltenden und des Energie hervorbringenden, nachzuweisen sucht.

Angersbach, Entwicklung. 2

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Extensitätsfaktoren gleicher Energieformen sich addieren, Intensitätsfaktoren gleicher Energieform sich ausgleichen.1) Daß Wasser den Berg hinab- fließt, daß die Wärme vom wärmeren Körper auf den kälteren übergeht, daß eine elektrische La- dung von Stellen höheren Potentials zu solchen niedrigeren Potentials sich ausbreitet, daß ein sich selbst überlassenes Gas nach allen Richtungen hin entweicht, daß ein Tropfen konzentrierten Farbstoffes in einer größeren Wassermasse sich fast völlig verliert, erscheint geradezu als selbst- verständlich. Nun gibt es auch Vorgänge, die in umgekehrtem Sinne ablaufen, aber nur unter ganz besonderen, relativ selten verwirklichten Umstän- den. Die bestehenden Verhältnisse sind in der Regel den positiven oder natürlichen Vorgängen oder den sogenannten Ablaufserscheinungen außer- ordentlich viel günstiger als den negativen oder ,, unnatürlichen" Vorgängen, den „Aufzugserschei-

a) So bedeutet in dem bekannten Ausdrucke mv2 der

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kinetischen Energie v2 den Intensitätsfaktor, m den

Extensitätsfaktor. Die Extensitätsfaktoren sind innerhalb gewisser Grenzen konstante Größen, sie haften gewissermaßen an dem zugehörigen Gebilde; die Intensi- tätsfaktoren sind in ausgesprochener Weise veränder- liche Werte. Die In tensitätsfaktoren werden ziemlich unmittelbar aus der Sinneserfahrung gewonnen, die Exten- sitätsfaktoren, die als Beziehungs- oder Funktionswerte der Intensitätsfaktoren zu betrachten sind, werden erst durch ver- wickeitere Denkprozesse gewonnen. Siehe E. v. Hartmann, „Weltanschauung der modernen Physik". Bad Sachsa, 1909.

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nungen". x) Der zweite Satz der Energetik, der Satz der Energieentwertung, lehrt, daß ein negatives Geschehen sich nur dann vollziehen kann, wenn gleichzeitig damit bestimmte positive Prozesse verknüpft sind. Während jede Ablaufs- erscheinung eines Teilsystemes sich gewisser- maßen „freiwillig" vollzieht, kann ein Aufzugs- vorgang nur durch ein vorübergehendes oder dauerndes Eingreifen eines zweiten oder einer Mehrzahl fremder Teilsysteme „erzwungen" wer- den. In dem übergeordneten, jene Teilsysteme umfassenden Gebilde überwiegt jedoch stets, falls es genügend isoliert ist, der Ablauf den Auf- zug oder, wie Auerbach sagt : es siegen in ihm die entropischen Vorgänge über die e k t r o - pischen. 2) Gibbs und Boltzmann haben vom Standpunkte der Molekularphysik aus in ihrer „statistischen Mechanik" Mittel angegeben, wie man auf Grund der Wahrscheinlichkeitsrech- nung nichtumkehrbare physikalische Vorgänge bis ins Einzelne zu verfolgen mag, und Boltz- mann hat dem Entropiesatze eine Form gegeben, dergemäß die Entropie als Funktion einer ge- wissen Permutationszahl erscheint. Daß dieser mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung ge- wonnene EntropiebegrifT, wenngleich gewissen Einwänden aussetzbar, sehr fruchtbar ist, beweisen

1) Chwolson, Hegel, Haeckel, Kossuth und das zwölfte Gebot. Braunschweig 1906.

2) F. Auerbach, Ektropismus oder die physikalische Theorie des Lebens. Leipzig 1910.

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die aus ihm gezogenen, mit den Tatsachen der Physik und Chemie trefflich übereinstimmenden Folgerungen. x) In drastischer Weise schreibt Boltzmann der Natur eine Vorliebe für wahr- scheinlichere Zustände zu. Der wahrscheinlichste Zustand ist immer auch ein stabiler Zustand ; und nach dem Satze der Energiezerstreuung muß ein geschlossenes System, in dem alle Energie durch Konvektion (Mitführung), Leitung und Strahlung sich zerstreut und die Form von ther- mischer Energie annimmt, sich dem allerwahr- scheinlichsten Zustande, dem der absoluten Sta- bilität, annähern.

Nun ist freilich höchst beachtenswert, daß in der Natur trotz ihrer Tendenz, in wahrschein- lichere Zustände überzugehen, nichts weniger als allgemeine Gleichförmigkeit besteht. Immerfort bilden sich Systeme von auffallender Aktivität aus und um. Offenbar ist die Welt unendlich reich an unwahrscheinlichen Konfigurationen und vermag auf unabsehbare Zeiten vorhandene Systeme mit neuer Energie zu laden und neue Systeme mit zunehmender Wirkungsfahigkeit zu schaffen.

Die Existenz der Organismen und deren Um- bildung stehen nach dem Vorausgehenden in vollem Einklänge mit den allgemeinen Theorien der Physik. Damit soll freilich keineswegs be-

*) Dr. A. Klaus, Die Entropie als Wahrscheinlichkeits- begriff. Naturw. Wochenschr. N. F. IV. Bd. S. 97 99.

Dr. M. Planck, Acht Vorlesungen über theoret. Physik. Leipzig 1910.

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hauptet werden, daß die physikalisch-chemischen Wissenschaften die objektiven Lebenserscheinungen zurzeit restlos zu analysieren vermöchten.

Das F e c h n e r sehe Prinzip der Tendenz zur Stabilität betont nicht nur die Möglich- keit, Systeme und Teilsysteme abzu- grenzen, sondern auch Vorgänge und Teil- vorgänge, und zwar innerhalb einer und der- selben Geschehenskette eines und desselben Ge- bildes. Es betont, daß das Geschehen einen rhythmischen oder vielleicht bezeichnender einen treppen förmigen Verlauf hat, daß Zustände lebhafter Umänderung von Zuständen größerer Stabilität in deutlich unter- scheidbarer Weise abgelöst werden.

Matzat1) hat das verkannt, wenn er in seiner „Philosophie der Anpassung" meint, das Auslaufen einer Entwicklung in einen Zustand, der bei Abwesenheit neuer Störungen die Gewähr unbeschränkter Dauer hat, bedeute nichts anderes, als daß alles sich solange ändere, bis es sich nicht mehr ändert.2) Dieser letzte Satz ist viel zu all- gemein; er sagt gar nichts darüber aus, daß tat- sächlich wohl alles Geschehen als eine Summe von Abläufen auffaßbar ist, die mit einer Gleich- gewichtsaufhebung beginnen, um mit einer Gleichgewichtsgewinnung wieder z u enden; er hebt nicht hervor, daß sich das Natur-

*) K. Matzat, Philosophie der Anpassung mit besonderer Berücksichtigung des Rechtes und des Staates. Jena 1903.

2) Ebenda S. 60.

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geschehen in abgrenzbaren, individuali- sierten Prozessen vollzieht. Fechner legt Ge- wicht darauf, daß der so charakterisierte Richtungs- sinn durch die Systembedingungen eindeutig bestimmt ist. Matzats Satz würde auf jedes beliebige Geschehen anwendbar sein, einerlei ob dieses durch die Systembedingungen oder durch supranaturale Faktoren (von denen der Philosoph der Anpassung freilich nichts wissen will) bedingt ist. Während Fechner mehr die Form des Ge- schehens betont, hebt Matzat mehr die dem Geschehen zugrunde liegenden physikalischen Sätze hervor. Er geht dabei von Hertzs Grundgesetz der Mechanik aus: „Jedes freie System beharrt in seinem Zustande der Ruhe oder der gleichförmigen Bewegung in einer geradesten Bahn." Die geradeste Bahn ist hier diejenige, „deren sämtliche Elemente geradeste Elemente" sind, und ein „geradestes Bahnelement" ist ein „mögliches Bahnelement, welches gerader ist als alle anderen möglichen Bahnelemente, welche mit ihm die Lage und die Richtung gemein haben.

Matzat gewinnt auf Grund jenes Prinzips eine vielfach höchst brauchbare Definition der An- passung. Anpassung ist ihm „eine Veränderung, durch welche etwas auf kürzerem Wege, in kürzerer Zeit, mit kleinerem Aufwand der Energie und mit kleinerem Zwang geschieht als ohne die Ver- änderung." x) Die Entwicklung selbst ist ihm ein fortschreitender Anpassungsprozeß.

l) Ebenda S. 75.

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Auerbach1) sieht das Wesen der organischen Entwicklung in einer „Verwicklung", in Steigerung der Komplikation, Konzen- tration und Aufspeicherung von Energie in kleinsten materiellen Komplexen", in einer Verfeinerung und Vermannigfaltigung jener Konfigurationen, denen es vorgezeichnet ist, in das Weltgeschehen bestimmend einzugreifen. „Entwicklung ist selbsttätige Wertsteige- rung energetischer Systeme auf Kosten anderer" (die selbst wieder organische sein können, indirekt und in letzter Instanz aber immer anorganisch sind). „Entwicklung ist orga- nisierte Fähigkeit, ektropisch zu wirken." Keineswegs soll jedoch die ektropische Begabung der lebenden Substanz der entropischen Natur der toten Materie schroff gegenüber stehen. Gibt es doch Klassen von Gebilden, die, wie Kristalle, Schleime und Emulsionen, einzelne Äußerungs- formen des organisierten Aufzugsprozesses in bei- nahe täuschender Weise vorführen.

Der Ektropismus zeigt einen gesetzmäßigen Verlauf sowohl in der ontogenetischen wie in der phylogenetischen Reihe. Die niedersten Lebe- wesen leisten, um mit der phylogenetischen Reihe zu beginnen, im allgemeinen wenig Ektropisches ; und das „was sie leisten, beschränkt sich in den allermeisten Fällen fast vollständig auf ihr eigenes

l) F. Auerbach, Ektropismus oder die physikalische Theorie des Lebens. Leipzig 1910. Das Wort „Ektropie" scheint zuerst G. Hirth gebraucht zu haben. (Siehe Seite 91, Anmerkung zu Seite 21.)

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Individuum; was sie leisten, geht mit ihnen dahin." Einen Schritt vorwärts bedeutet es, wenn die ektropische Leistung sich „auf die ganze Art er- streckt; denn hier kommt es der Entwicklung und Vervollkommnung eben dieser Art zugute." Im mittleren Tierreich „nimmt die ektropische Leistung nach außen oft bereits gewaltige Dimen- sionen an ... . Und nun steigert sich die ektro- pische Begabung immer mehr und erreicht schließ- lich Grade, die zu neuen Formen der Eingriffe in das Weltgeschehen führen."

Die ektropische Wirkungsfähigkeit des Indi- viduums setzt dagegen zu Anbeginn in der Regel mit einem endlichen Wert ein „nament- lich überall da, wo, wie im höheren Tierreich, der Geburt eine Vorbereitungszeit vorangeht" , „nimmt zu bis zu einem Maximum, sinkt alsdann bis zu einem gewissen endlichen Werte ab, der mit dem Tode diskontinuierlich auf Null sinkt."

Die überaus ansprechenden Ansichten Auer- bachs decken sich nicht völlig mit den Fech- n e r sehen. F e c h n e r und P e t z o 1 d t bestimmen den höheren oder geringeren Entwicklungswert eines organisierten Systems in erster Linie durch die Stärke des zwischen ihm und der Umwelt bestehenden Gleichgewichtes, nicht durch den Reichtum an Differenzierungen innerhalb der Konfiguration des Systemes, noch durch die Menge der aufgespeicherten Aufzugsarbeit und der damit zusammenhängenden Wirkungsfähigkeit. Damit wird keineswegs die ektropische Befähigung eines Organismus als nebensächlich hingestellt,

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aber sie ist erst ein Ergebnis des Zusammen- wirkens der besonderen Umstände, unter denen die Anpassung zwischen Organismus und Umwelt sich vollzogen hat.

Fechner und Petzoldt und wohl auch Matzat beurteilen den momentanen Entwicklungs- wert eines Einzelwesens oder einer Art nach der Wahrscheinlichkeit, innerhalb der gegebenen Um- stände sich zu behaupten. Nötigen diese ein Wesen, seinen Anpassungsbereich beträchtlich aus- zudehnen, so dürfte damit im allgemeinen eine Zunahme der ektropischen Wirkungsfähigkeit verbunden sein; alsdann wäre auch ein Wachs- tum der ektropischen Wirkungsfähig- keit ein Zeichen erhöhter Anpassung. Schränken jedoch die Umstände den Anpassungs- bereich ein, so dürfte vielleicht gar eine Herab- setzung der ektropischen Begabung der Erhaltung des Organismus dienlicher sein. Vom Ektropis- mus wäre zu verlangen, daß er soviel wie möglich dazu beitrüge, das dynamische Gleichgewicht zwischen Organismus und Umwelt zu erhalten oder zu verstärken. Wenn die Cirripedien die freie Ortsbewegung aufgeben und gleichzeitig eine Vereinfachung ihrer Organe und deren Funktionen erleben, so wird wohl auch die ektropische Wir- kungsfähigkeit abnehmen. Trotzdem mögen jetzt jene Tiere den Umständen besser angepaßt sein als zuvor; könnten sie über ihre neue Lage sich äußern, so würden sie diese als vorteilhafter, d. h. als erhaltungsgemäßer beurteilen denn die voraus- gegangene. Sollte es nicht denkbar sein, daß die

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riesigen Saurier dem Untergange geweiht waren, weil ihr Ektropismus den veränderten Umgebungs- bedingungen nicht mehr entsprach, weil ihr Ektro- pismus die Anpassung mit der Umwelt nicht mehr verstärkte, sondern wie der Ektropismus einer schlechteingestellten Maschine nur nutzlose Arbeit zur Folge hatte? Kann nicht ein Organismus auch dadurch in ein engeres Anpassungsverhältnis zur Außenwelt treten, daß er, statt seine Wirkungs- fähigkeit zu erhöhen, Schutzformen ent- wickelt oder schützende Einrichtungen innerhalb der Umgebung sich aneignet, an denen die von außen kommenden Störungen ge- wissermaßen abprallen?

Befindet sich ein System in günstigstem Gleich- gewichte zur Umgebung, so vermag sowohl eine Zunahme wie eine Abnahme der ektropischen Wirkungsfähigkeit dieses Gleichgewicht aufzu- heben, indem im ersten Falle das Plus an Aufzugsarbeit zu einer dem System nachteiligen Abänderung der Umgebung führt, oder indem im zweiten Falle das Gebilde nicht mehr fähig ist, die Angriffe der Umgebung mit Erfolg abzuwehren. Andererseits ver- mag eine Abänderung derUmgebungsverhält- nisse dahin zu führen, daß eine den Umständen zuvor durchaus angepaßte Wirkungsfähigkeit sich jetzt geradezu als der Erhaltung nachteilig erweist und besser durch eine verminderte ersetzt wird. Von wesentlicher Bedeutung ist auch die Art und Weise, wie die Wirkungsfähigkeit sich auf die einzelnen Organe eines Individuums verteilt. Es läßt sich sehr wohl denken, daß die

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Wirkungsfiähigkeit bei zwei Einzelwesen gleich groß ist, daß aber das eine Individuum insofern günstiger im Kampfe ums Dasein dasteht, als sich die Leistungsfähigkeit gleichmäßig auf alle nach außen in Tätigkeit tretenden Organe verteilt, während bei dem anderen dieselbe nur an einzelne wenige Organe in erhöhtem Maße geknüpft ist. Kann es nicht auch vorkommen, daß eine Wirkungsfähigkeit latent wird, also zur An- passung an die Umgebung nichts mehr beiträgt? Es scheint also auch hier der Gleichgewichts- begriff dem Arbeitsbegriffe übergeordnet zu sein.

Nur solange dürfte zunehmende ektropische Wirkungsfähigkeit ein Zeichen fortschreitender Entwicklung sein, als sie auch wirklich dazu bei- trägt, die innere und äußere Anpassung der Organismen zu verstärken. Da nun der wachsende Ektropismus innerhalb des menschheitlichen Ver- bandes tatsächlich einer zunehmenden Anpassung dient, so wird man ihn zur Zeit recht wohl als ein Zeichen positiver Entwicklung betrachten dürfen. Die Menschen werden durch die bestehen- den Umstände genötigt, ihre Anpassung zu er- weitern und zu vertiefen; sie setzen sich damit immer zahlreicheren und ungewohnteren Angriffen aus. Solchen Angriffen können sie sich entweder durch Ausbildung oder durch Aneignung beson- derer Schutzformen entziehen oder sie können sie durch vergrößerte ektropische Wirkungsfähigkeit unschädlich machen. Eine Zunahme des Ektro- pismus mag also recht wohl auf lange Zeit durch-

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aus in der Entwicklungsrichtung der Menschheit gelegen sein.

Man wird mir vielleicht entgegenhalten, daß die Wirkungsfähigkeit eines Gebildes selbst nur ein Produkt der Umstände ist, daß also ein normaler Organismus gerade den Ektropismus besitzt, der ihm zu seiner Erhaltung nötig ist. Dazu wird man jedoch bemerken dürfen, daß die Umbildung der Organismen durchaus nicht glei- chen Schritt mit derjenigen der Umwelt zu halten braucht, daß der Organismus einen durch Ver- erbung befestigten, nicht unbedeutenden Wider- stand der von außen drohenden Ummodelung entgegensetzt, daß die momentane Struktur des Gebildes eigene Entwicklungstendenzen enthält, die den äußeren Entwicklungstendenzen oft mehr oder weniger widersprechen und eine Anpassung an die Umgebung verzögern.

Der Begriff der wachsenden Anpassung oder der zunehmenden funktionellen Stabilität zwischen Organismus und Umgebung dürfte also wohl dem Begriffe des zunehmenden Ektropismus übergeord- net sein und das Merkmal der positiven Entwick- lung schärfer ausdrücken. Wir werden demnach als Charakteristikum einer „positiven" Ent- wicklung die wachsende Befähigung eines Organismus ansehen, sich inner- halb einer vielgestaltigen, zahllose Angriffe aussendenden Umgebung zu behaupten. Ein solches dynamisches Gleichge- wicht zwischen einem organischen System und seiner Umgebung setzt natürlich voraus, daß auch das

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Gefüge jenes Systemes selbst in einem günstigen Gleichgewichtszustande ist.

Unsere Ansichten über das Wesen der Ent- wicklung wollen wir kurz zusammenfassen und noch durch einzelne Zusätze ergänzen.

Eine fundamentale, d. h. zurzeit nicht weiter ableitbare Eigenschaft der Natur besteht darin, daß zahllose Konstellationen sich in ihr abgrenzen lassen, die eine rascher oder langsamer vorüber- gehende Unabhängigkeit von der Umgebung be- sitzen. Die Natur kann gewissermaßen als eine unbegrenzbare Summe von Systemen be- trachtet werden, die sich wieder zu Aggregaten höherer und immer höherer Ordnung gruppieren, zugleich aber auch als eine Summe von Systemen, die ihrerseits aus Gebilden niederer und niederer Ordnung bestehen. Ob die Reihe der Ordnungs- zahlen nach der einen oder anderen Richtung hin begrenzt oder unbegrenzt ist, entzieht sich der Beurteilung. Aber auch das an einem einzelnen Systeme oder einer Systemkette namentlich der organischen Welt sich abspielende Ge- schehen kann als eine Aufeinanderfolge meist wohlabgegrenzter Prozesse, die sich wieder zu Prozessen höherer und höherer Ordnung zusammensetzen, sich außerdem aber auch selbst wieder in mannigfaltige Teilprozesse zerlegen lassen, aufgefaßt werden.

Wird irgendein Aggregat von außen bedroht, so betrifft die Störung nicht nur die Beziehungen zwischen den Teilsystemen, sondern auch die Be- ziehungen zwischen den ein einzelnes Teilsystem

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aufbauenden niederen Gebilden und schließlich zwischen den letzten Bestandteilen selbst, falls man von solchen überhaupt reden darf. Dabei ist freilich nicht ausgeschlossen, daß durch Kom- pensationen einzelne Teilgebilde von der Störung unberührt erscheinen.

Vom Standpunkte eines beliebig herausgegriffe- nen, von der Störung betroffenen Teilsystemes können wir. folgendes behaupten:

Das in ihm sich abspielende Geschehen führt nicht nur zu stabilen Verhältnissen innerhalb des Teilsystemes, sondern auch zu stabilen Verhält- nissen zwischen ihm und der Umgebung, voraus- gesetzt, daß das übergeordnete Aggregat keinen neuen Störungen mehr ausgesetzt wird. Das Teil- system macht mit anderen Worten eine Ent- wicklung durch, die erstens abhängt von den in einem bestimmten Momente gegebenen rein physiko- chemischen Beschaffenheiten der das Teilsystem zusammensetzenden Elemente, zweitens von den gleichzeitig vorhandenen äußeren Um- ständen. Oder: es paßt sich in der Entwicklung den übrigen Teilsystemen an, während innerhalb seiner selbst sich die Bestandteile einander anpassen, es erfährt eine äußere und eine innere An- passung.

Die Teilgebilde eines starkgegliederten Aggre- gates werden in sehr verschiedener Weise von Störungen betroffen, die einen sehr wenig, andere sehr erheblich; unter Umständen wird eines von ihnen zerstört, d. h. es treten seine Bestandteile zu anderen Teilsystemen oder auch zu anderen

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höheren Gebilden in engere Beziehungen, als sie vorher zwischen den Bestandteilen selbst vorhanden waren. Die Anordnung und Beschaffenheit der Teilsysteme kann es mit sich bringen, daß in dem einen oder dem anderen beträchtliche Energie- mengen aufgespeichert und durch den geringsten äußeren Anstoß entfesselt werden; statt Entwick- lungen treten dann Entladungen auf, die häufig genug den Charakter von Zerstörungen haben.

Kein System vermag einen abgeschlossenen Entwicklungsprozeß spontan, d. h. lediglich aus rein inneren Ursachen wieder von neuem ins Leben zu rufen; dazu bedarf es stets eines, wenn auch noch so geringen, äußeren Anstoßes. Ist aber ein solcher Anstoß gegeben, so hängt die weitere Ausbildung und Umbildung des Aggre- gates sowohl von der Form und der Intensität dieses Anstoßes als auch von dem Gefüge des Aggregates selbst ab. Wenn ein stationär gewor- denes System durch einen minimalen Impuls wieder in den Zustand lebhafter Entwicklung gelangt, so scheint diese selbst, sofern der auslösende Impuls sich der Beobachtung entzieht, den Charakter der Spontaneität oder Aktivität zu besitzen. Gerade die Aktivität der Organismen ist in dieser Weise zu deuten.

Zur Beschreibung organischer Entwicklungs- vorgänge empfiehlt es sich, mit R. Avenarius die in einem gegebenen System enthaltenen Be- dingungen als die systematischen Vorbe- dingungen zu bezeichnen, als Komplementär- bedingung einer Änderung jedoch diejenige

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Mitbedingung, die zu den innerhalb des Systemes enthaltenen Bedingungen hinzutreten muß, um eine mögliche Änderung zu verwirklichen.

Es können Komplementärbedingungen un- verändert bleiben, während das Gebilde selbst sich allmählich abändert. Dann wird natürlich dessen Verhältnis zu den Mitbedingungen geändert; das System reagiert anders als zuvor auf die Komplementärbedingungen. Ja es kann die Um- wandlung des Systemes dahin führen, daß ein Umgebungsbestandteil ganz und gar aufhört, Komplementärbedingung zu sein. Andererseits kann aber auch ein Umgebungsbestandteil infolge der Änderung des Gebildes erst anfangen, Mitbedingung zu werden.

Viele Mitbedingungen kehren regelmäßig und häufig wieder. Trotzdem gehen die dem System gesetzten Änderungen vorüber, ohne dasselbe in erkennbarer Weise umzugestalten. Wir schreiben ihm dann funktionelle Änderungen oder Funktionen zu. Falls die von außen gesetzten Störungen jedoch nur teilweise vorüber- gehen und das System mehr oder weniger stark und mehr oder weniger dauernd umgestalten, reden wir von formellen Änderungen. Es können nebeneinander in einem und demselben System Funktionen bestehen, die jede für sich den Unter- gang des Gebildes herbeiführen würde, aber dadurch, daß sich ihre Wirkungen gegenseitig ausgleichen, gerade zur Erhaltung beitragen und unter Um- ständen einer vielseitigen formellen und funktio- nellen Weiterbildung günstig sind.

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II. Nervöse und geistige Entwicklung.

Sicherlich sind die Tiere Systeme von höchst verwickeltem Bau. Aufgabe des Anatomen und Physiologen ist es, die Teilsysteme derselben ab- zugrenzen und deren Funktionen zu ermitteln. Uns selbst interessiert in besonderem Maße das Nervensystem, mit dessen Verrichtungen das Geistes- leben irgendwie zusammenhängt.

So sehr das Nervensystem den Einflüssen der Umwelt ausgesetzt ist, ist es doch gegen gröbere Angriffe durch die einen außerordentlichen Wider- stand leistenden Bindesubstanzen und durch andere vorteilhafte mechanische Einrichtungen wunderbar geschützt.

Die Umgebung wirkt in doppeltem Sinne auf dasselbe ein: entweder als Inbegriff alles dessen, was als allgemeiner oder spezifischer Reiz einen Nerven erregen kann, oder als Inbegriff alles dessen, was, dem Organismus von außen zugeführt, seinen Stoffwechsel bedingt und bildet. Führt das eine zu abtragenden oder dissimila- torischen Vorgängen, so das andere zu auf- bauenden oder assimilatorischen. Reizen, denen keine Ernährungsprozesse folgen, aber auch Ernährungsvorgänge, denen keine Reize folgen, bedrohen den Organismus, sie bereiten ihm bei genügender Summierung den sicheren Untergang. Wenn nun trotzdem der Organismus sich erhält, so geschieht das aus dem Grunde, weil auf- bauende und abtragende Vorgänge in ausgleichenden

Angersbach, Entwicklung. 3

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Wechselbeziehungen stehen, weil entgegengesetzte Verrichtungen des Organismus sich in einem Er- gänzungsverhältnisse, einem dynamischen Gleichgewichte, befinden.

Das Nervensystem darf als ein Aggregat mannigfaltiger, mehr oder weniger eng verbun- dener Teilgebilde, die auch selbst wieder reich gegliedert sind, angesehen werden. Damit soll jedoch über die räumliche Anordnung, ob die Teilsysteme sich mehr oder weniger scharf ab- grenzen, ob sie sich gegenseitig durchdringen, ob sie gemeinschaftliche Bestandteile enthalten, ob sie sich in ihren Funktionen teilweise oder völlig vertreten können, nichts Bestimmtes behauptet werden, zumal die Nervenphysiologie hierüber noch nicht das letzte Wort gesprochen hat. Nur das wird verlangt, daß eine Vielheit von zen- tralen Formelementen sich funktionell verbunden hat.

Die Zahl der zentralnervösen Teilsysteme eines voll entwickelten Menschen dürfte ganz außer- ordentlich groß sein. Wir können annehmen, daß fast bei jedem Erlebnisse, namentlich wenn es sich wiederholt, ein Teilsystem, wenn auch nieder- ster Ordnung, ausgebildet wird, und daß Erleb- nisse mit gemeinsamen Bestandteilen auf Ver- knüpfungen von Teilsystemen, d. h. auf Teilsysteme höherer Ordnung, schließen lassen. Die Tat- sachen des Wiedererkennens , des Sicherinnerns, vor allem aber die assoziativen Erscheinungen sprechen dafür mit großer Bestimmtheit. Die Zahl der nervösen Elemente und deren Verbin-

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dungsfasern übersteigt ja auch alle Vorstellungen, *) und daß an gewisse Großhirnrindenfelder spezifi- sche Funktionen geknüpft sind, ist unbestritten.

Im allgemeinen dürfte jeder spezifischen Reizgruppe ein besonderes nervöses Teilgebilde zugeordnet sein. Die Sinnes- organe sind die Pforten, durch welche die von der Außenwelt ausgesandten Reize in das Innere des Nervensystems eindringen. Die durch einen Reiz hervorgerufene Störung strahlt zum Teil wieder unmittelbar zu den die Sinnesorgane regu- lierenden Muskelgruppen zurück, zum Teil wird sie innerhalb der Rindensubstanz des Hirnes auf Bahnen abgeleitet, die zu den Gliedmaßen, den Sprechwerkzeugen, den Atmungsorganen, den Drüsen, Blutgefäßen, Verdauungswerkzeugen usw. hinführen, um hier mancherlei Reaktionen auszu- lösen, die die für den Körper oder für einen seiner Teile bestehende Gefahr möglichst rasch wieder beseitigen; zu einem Teil mag auch die durch den Reiz hervorgerufene Störung ganz innerhalb des Nervensystems verlaufen und hier verklingen.

Daß Empfinden, Fühlen, Wollen, Vorstellen, Denken mit den Verrichtungen des Nervensystems in innigster Weise zusammenhängen, wird kaum noch bestritten. Wohl aber herrschen Meinungs- verschiedenheiten darüber, von welchen beson- deren nervösen Prozessen die verschiedenen

l) Nach Berechnungen von Donaldsen soll die Zahl der Nervenzellen 9200000000 betragen; dazu kommt eine entsprechende Faserzahl. S. Becher, „Gehirn und Seele", Heidelberg 191 1, S. 31 und 33.

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psychischen Gebilde und Akte abhängen. Ohne Zweifel wird eine Sinnesempfindung in der Regel dann erlebt, wenn ein von einem periphe- risch gelegenen Sinnesorgane ausgehender Reiz- strom *) in die demselben zugeordnete Rinden- region des Großhirns eindringt; die Qualität der Sinnesempfindung dürfte wesentlich abhängen von der spezifischen Bahn des Reizstromes, die Intensität von der Stärke der Nervenerregung. Das Erlebnis dürfte sich um so mehr im Bewußt- sein abheben, je größer die Zahl der Reflexe ist, die sich zwischen der primären, zu dem zentralen Gebiete vordringenden Erregung und der finalen, zu einer bestimmten Reaktion des Körpers füh- renden Erregung einschalten. Sogenannte Ge- meingefühle dürften sich dann einstellen, wenn Reflexe auf vegetative und sympathische Nerven- gebiete ausstrahlen; lust- und u n 1 u s t betonte Gemütszustände mögen in der Regel mit der Förderung und Hemmung wohlgeübter und lebens- wichtiger Verrichtungen zusammenhängen.

Was die Entwicklung des Nervensystems betrifft, so ist nach den früheren Erörterungen klar, daß sie sowohl unter der Herrschaft der Reize als auch unter derjenigen der Struktur des Nervensystems und des umschließenden übrigen Leibes steht. Indem wir diesen letzteren der

*) der keineswegs als lediglich elektrischer Art aufgefaßt zu werden braucht, sondern vielleicht auch darin besteht, daß im Innern der erregten Nervenfaser ein rapid verlaufender Protoplasmazerfall stattfindet, dem alsbald wieder ein ergänzen- der und erweiternder Aufbau folgt (vgl. Kassowitz, Biologie !).

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Hauptmasse nach der Umgebung des Nerven- systems zuzählen, können wir sagen: die Ent- wicklung des Nervensystems ist be- stimmt erstens durch seine eigene Struktur, zweitens durch die Verände- rungen seiner Umgebung, sowohl der unmittelbaren wie der weiteren. Da zahlreiche Tätigkeiten des Nervensystems den Charakter der Spontaneität tragen und selbst unter stark veränderten äußeren Umständen äußerst gleichförmig bleiben, so dürfen wir sogar anneh- men, daß das innere Gefüge die Entwicklung des Nervensystems in hervorragendem Grade mitbestimmt.

Denken wir uns das Geistesleben mit nerven- physiologischen Vorgängen verknüpft, so müssen wir dasselbe ebenfalls durch zwei Komponenten bestimmt denken: erstens durch die als ein Ent- wicklungsprodukt aufzufassende augenblickliche Organisation des Nervensystems, zweitens durch die Natur der das Nervensystem erregenden Reize, die ihre nächste Quelle teils außerhalb, teils inner- halb des Leibes haben.

Nun erhebt sich freilich die gewichtige Frage, ob denn auch jeder nervöse Prozeß von einem geistigen begleitet ist, ob es also überhaupt eine der körperlichen Entwicklung völlig äqui- valente geistige Entwicklung gibt.

Sicherlich ist die überwiegende Mehrzahl der im menschlichen oder tierischen Körper sich ab- spielenden Vorgänge an das Bestehen eines Nerven- systemes des Gehirns, des Rückenmarks und

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des Sympathikus geknüpft. Wir wissen ferner, daß alle Bewußtseinstatsachen ein relativ unver- sehrtes Gehirn voraussetzen, daß sie modifiziert werden und teilweise oder gänzlich ausfallen, so- bald bestimmte Veränderungen der Rindensubstanz eintreten. Alles spricht dafür, daß ein des Groß- hirns beraubtes Wirbeltier frei von allen Emp- findungen und Gefühlen ist; und doch vermag ein solches, wie zahlreiche Versuche einwandfrei nach- gewiesen haben, noch mannigfaltige, erhaltungs- gemäße Tätigkeiten auszuüben, die einem unbe- fangenen Beobachter als durch und durch „zweck- mäßig" vorkommen. Ja wir Menschen üben nicht nur im tiefsten Schlafe und in der tiefsten Be- täubung vorteilhafte Reaktionen aus, sondern können auch in den bewußten Handlungen rein automatisch verlaufende erhaltungsgemäße Be- wegungskomplexe eingeschaltet sehen.

Bekanntlich wird jede „Handlung" eingeleitet durch gefühlsbetonte Vorstellungen eines Zieles und der auf das Ziel gerichteten Tätigkeiten, ferner durch eigenartige Gefühle der anhebenden Aktion. Hieran schließen sich Einzelbewegungen und Bewegungsgruppen, die entweder das Ziel erreichen oder verfehlen lassen. Sicherlich ist der Vorabschnitt der Handlung stets im höchsten Grade von seelischen Vorgängen begleitet. Auch dem eigentlichen V o 1 1 z u g e der Handlung fehlt es nicht an mannigfaltigen Empfindungen und Gefühlen ; aber gerade in diesen Hauptabschnitt fallen mehr oder weniger reflektorisch sich ab- wickelnde Prozesse, die erst sekundär die graue

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Rindensubstanz des Großhirns in Mitleidenschaft ziehen und also auch erst sekundär zu Emp- findungen und Gefühlen Anlaß geben. Eine Hand- lung erscheint uns sogar dann um so „zweck- dienlicher", um so „vollkommener", je mehr ihr Hauptabschnitt von Willensregungen und Über- legungen sich unabhängig zeigt, je mehr er auto- matisch abläuft. Eine Tätigkeit, die in allen einzelnen Phasen erst einer Regelung durch das Denken bedürfte, würde sich oftmals so lang- sam abspielen, daß sie dem Handelnden eher nachteilig als vorteilhaft wäre. Nicht umsonst sind große Gelehrte häufig deshalb so unpraktisch, weil sie vor lauter Überlegungen nur langsam zum Handeln kommen und die begonnene Handlung durch wechselnde Bedenken immer wieder stören. Wenn einem Aktionskomplex Denktätigkeiten vorausgehen und wenn in einen solchen Denk- tätigkeiten eingehen, so dürfte das darauf hin- weisen, daß innerhalb der Großhirnrinde wichtige nervöse Einstellungen und Umschaltungen stattfinden, während die streng motorischen Vorgänge vorwiegend mit Rückenmarks- erregungen zusammenhängen.

Sicherlich weist der Grad der Bewußtheit auf biologisch bedeutungsvolle Vorgänge im Innern des Körpers hin, aber trotzdem ist er kein zuver- lässiger Wertmesser für die physiologische Bedeutung jener Vorgänge. Die wichtigsten vege- tativen Vorgänge kommen überhaupt nicht oder nur in seltenen Ausnahmefallen zu Bewußtsein, viele reflektorische Reaktionen heben sich nur

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sekundär ab, die fürchterlichsten Zahnschmerzen entsprechen oft nur geringfügigen, für die Er- haltung des Individuums verhältnismäßig be- deutungslosen Störungen.

Dazu kommt noch, daß das Geistesleben die- jenigen Zusammenhänge vermissen läßt, die das physische Geschehen auszeichnen. Von einer psychischen Kausalität kann man nicht gut sprechen; selbst das logische Denken entbehrt ihrer. Ein momentan gegebener psychischer Zu- stand vermag niemals die nachfolgenden psychi- schen Zustände eindeutig zu bestimmen.1) Während im organischen Geschehen selbst die sprunghaften Abänderungen, die Muta- tionen, den Charakter physiko-chemischer, durch objektive Umstände bestimmter Vorgänge be- wahren, lassen die eruptiven geistigen Muta- tionen des genialen Menschen, die plötzlich auf- tauchenden Gedankenblitze des Forschers, die visionären Phantasmen mancher Dichter und Maler eine rein psychologische Ableitung nicht zu. Erst dadurch verlieren sie den Charakter des „Rätselhaften und Wunderbaren", wenn es einiger- maßen gelingt, sie mit rein nervenphysiologischen Entwicklungssprüngen inZusammenhang zu bringen.

Nur insofern ist das körperliche Geschehen von einem geistigen begleitet, als es in eigenartiger Weise den nervösen Mechanismus, insbesondere den zentralen, erfaßt. Dessen Entwicklung

*) Siehe J. Petzoldt, „Die Notwendigkeit und Allge- meinheit des psychophysischen Parallelismus". Archiv für systemat. Philosophie VIII 3.

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wird aber dann auch vom Seelenleben oft genug ungemein scharf wiedergespiegelt. Wir werden sehen, daß zahlreiche geistige Akte Merkmale ent- halten, die körperlichen Entwicklungsmerkmalen in auffallender Weise entsprechen.

Wir wollen nicht unerwähnt lassen, daß ein Umstand es ungemein schwer macht, eine etwa bestehende geistige Entwicklung zu analysieren. Nämlich der, daß ich in Wirklichkeit nur von meiner eigenen geistigen Entwicklung unmittel- bare Kenntnis habe. Diejenige meiner Mit- menschen vermag ich nur aus deren Aussagen und Handlungen zu erschließen. Die Schwierig- keiten steigern sich, wenn ich auf dem Wege der Erinnerung die Anfänge meiner individuellen Entwicklung, die leider fast durchweg der Ver- gessenheit anheimgefallen sind, zu bestimmen suche. Fast aussichtslos muß das Bemühen er- scheinen, sich die geistigen Geschehensfolgen auf- einanderfolgender Generationen auszumalen. Trotz alledem kann es nichts schaden, solche Konstruk- tionen zu versuchen. Die Tatsachen des eigenen Erlebens, diejenigen der experimentellen Psycho- logie, die Ergebnisse der vergleichenden Völker- kunde, die Geschichte der wissenschaftlichen Forschung, namentlich der naturwissenschaftlichen, enthalten genug Momente, um eine derartige Auf- gabe nicht als durchaus vergeblich erscheinen zu lassen.

Der Gedanke einer geistigen Entwicklung ist uralt.

Darwin hat wiederholt die Ansicht geäußert,

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daß Gemütsbewegungen, Phantasie und Intellekt sich allmählich ausgebildet haben, und daß deren Keime bereits im Tierreiche zu suchen seien. Er hat sich das außerordentliche Verdienst erworben, die mit Gemütsbewegungen im innigsten Zu- sammenhange stehenden Ausdrucksweisen des Menschen auf biologisch wertvolle Verhaltungs- formen tierischer Vorfahren zurückzuführen.

F e c h n e r hebt hervor, daß auch das geistige Gebiet dem Prinzip der Tendenz zur Stabilität unterworfen sei: „Denn man findet, daß, nach Maßgabe als ein Mensch sich dem veränderlichen Einflüsse äußerer Umstände mehr entzieht, sein ganzes Vorstellungs-, Empfindungs-, Gemütsleben sich in immer regelmäßigere Kreisläufe ordnet oder kurz gesagt immer stabiler wird; ein Tag wird für ihn bald wie der andere; was man mit der wachsenden Stabilität der materiellen Prozesse, welche dem geistigen Leben unterliegen, in Be- ziehung denken kann". Aber weder Darwin noch F e c h n e r wagen es, den Gang der geistigen Entwicklung im einzelnen zu verfolgen und die etwa bestehenden Regelmäßigkeiten aufzudecken.

Um so eingehender beschäftigt sich Spencer mit jenem Probleme. Da ihm Leben und Geist einander völlig entsprechende Erscheinungen sind und sich vollständig parallel entwickeln, so überträgt er ohne Bedenken die Gesetze der all- gemeinen körperlichen Entwicklung auf die geistige Entwicklung. Seine synthetische Psychologie ver- dient das höchste Interesse. Aber da Spencer die Korrespondenz zwischen Geistigem und

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Körperlichen viel zu eng faßt, da er ferner das Psychische geradezu als etwas Quantitatives, der Messung Zugängliches behandelt, und da endlich seine Philosophie erst spät in weiteren Kreisen bekannt geworden ist und verhältnismäßig geringen Einfluß ausgeübt hat, wollen wir auf seine Lehren nicht weiter eingehen. *)

Besonders tiefe Einblicke in das geistige Ge- schehen haben Ernst Mach und Richard Ave- narius getan. Machs Abhandlungen über die ökonomische Natur der physikalischen Forschung, über Umbildung und An- passung im naturwissenschaftlichen Denken, über den Einfluß zufälliger Um- stände auf die Entwicklung von Er- findungen und Entdeckungen, seine Me- chanik in ihrer Entwicklung, seine Prinzipien der Wärmelehre, seine Analyse der Empfindungen und seine Schrift über Er- kenntnis und Irrtum sind Fundgruben der trefflichsten Gedanken über Geistesentwicklung.

Unabhängig von Mach hat R. Avenarius2) in seinen Prolegomena zu einer Kritik der reinen Erfahrung den Geist als Ent- wicklungsprodukt aufgefaßt und die Philosophie als Denken der Welt gemäß dem Prin- zip des kleinsten Kraft maßes, das ihm

*) Dr. Berthold Weiß, Entwicklung, Versuch einer ein- heitlichen Weltanschauung. Stuttgart 1908.

2) R. Avenarius, Philosophie als Denken der Welt ge- mäß dem Prinzip des kleinsten Kraftmaßes. 1874.

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gleichzeitig als das Prinzip der Zweckmäßigkeit erschien, definiert.

Mach fühlte zeitig, daß der StabilitätsbegrifT umfassender sei als der Ökonomiebegriff, den er von dem Nationalökonomen E. Herrmann über- nommen hatte. *) So kommt denn in seinem Aufsatze „über die ökonomische Natur der physikalischen Forschung" die t Tendenz der Forschung zum Bleibenden, Beständigen zum Ausdruck. Dasselbe gilt von seiner „Me- chanik", in der das Prinzip der Kontinuität betont wird, ferner von den „Beiträgen zur Analyse der Empfindunge n". Namentlich hier wird die Ökonomie des Vorstellens und der Bezeichnung in Beziehung gebracht zu der größeren Geläufigkeit, zu dem Übergewicht des Beständigen gegenüber dem Veränder- lichen. In „Erkenntnis und Irrtu m" findet sich folgender Satz: „Wissenschaft ist nicht mög- lich ohne eine gewisse, wenn auch nicht voll- kommene Stabilität der Tatsachen und eine dieser entsprechende, durch Anpassung sich ergebende Stabilität der Gedanken. Die letztere Stabilität läßt auf die erstere schließen, setzt die erstere voraus, ist von der ersteren ein Teil. Vielleicht gibt es keine vollkommene Stabilität. Jeden- falls reicht aber die Stabilität so weit, daß sie genügt, ein förderliches Ideal einer Wissenschaft

l) E. Mach, Die Geschichte und die Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit; 2. Abdruck, Leipzig 1909. Seite 55 u. 56, Anm. 5.

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zu begründen". Der Gedanke der Kontinuität nötigt zur Aufstellung des Stabilitätsprinzipes, noch mehr aber der Gedanke derzureichenden Differenzierung, der durch den Okonomie- begriff kaum verständlich gemacht werden kann.1)

R. Avenarius läßt in seinem Hauptwerke, in seiner Kritik der reinen Erfahrung,2) den Begriff des kleinsten Kraftmaßes durchaus fallen und verleiht nur noch dem Gedanken der Erhaltung Ausdruck. Vor allen Dingen be- obachtete er an allen einigermaßen abgeschlossenen geistigen Akten Eigentümlichkeiten, die lebhaft an körperliche Entwicklungsvorgänge mit ihrem Aus- laufen in stabile Zustände erinnern. Er fand, daß alles geistige Geschehen stets in mehr oder weniger leicht voneinander zu trennenden Reihen abläuft, die mit den Assoziationsreihen im allgemeinen nichts zu tun haben. Der erste Teil einer solchen Reihe, der Anfangsabschnitt, enthält Werte, die einem bisherigen Wahren und Wirklichen, Sicheren, Bekannten, Gewohnten u. dgl. gegenüber als ein davon Abweichendes, ihm Widersprechen- des bezeichnet werden. Im Mittelabschnitt stellen sich die Werte eines Suchens, Erstrebens, Begehrens, Wollens ein. Das Unlustvolle, das Un sichere, Unwahre, Unbekannte ist das Ungewollte, und dieses Ungewollte bleibt jedem ferneren als

*) J. Petzoldt, Maxiraa, Minima und Ökonomie. Alten- burg 1891.

2) In 2. Auflage 1907 u. 1909 bei O. R. Reisland, Leipzig, erschienen.

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Bekanntem auftretenden Gliede gegenüber, das die Reihe abzuschließen sucht, einstweilen noch ein Anderes, ein Zweifelhaftes, ein Fragliches, ein Unbekanntes, ein Dunkles und (inbegriffen es. Endlich wird mit einem Gliede, das dem Anfange der Reihe gegenüber häufig als dasselbe charak- terisiert ist, der Endabschnitt erreicht. Das Schlußglied ist nun wieder als das Seiende, Wahre, Regelmäßige oder Gesetzmäßige, Sichere, Gewisse, Bekannte oder Begriffene oder Erklärte usw. ge- setzt, und damit sind die Charaktere der Klarheit und Gewißheit, der Beseligung und Beruhigung verbunden.

Der psychischen Reihe läßt R. Avenarius eine nervenphysiologische entsprechen. Während er diese als die unabhängige Vitalreihe be- zeichnet, nennt er jene die abhängige. Die Ausdrücke „unabhängig" und „abhängig" sind ganz im Sinne der mathematischen Funktionslehre zu verstehen. Ebenso wie alle abhängigen, haben auch alle unabhängigen Vitalreihen gemeinsame Merkmale. Eingeleitet wird eine jede dadurch, daß ein in günstigster Lage der Erhaltung be- findliches nervöses Teilsystem irgendwie bedroht wird, daß es eine Vital diff er enz erleidet. Die Vitaldifferenz selbst ist nichts anderes als der Größenunterschied der Erregungen, in die ein Teilsystem durch Einwirkung von Reiz und Er- nährung versetzt ist, sie ist die Abweichung vom Gleichgewicht zwischen Dissimilation und Assi- milation oder, wie unser Philosoph sich ausdrückt, die Differenz zwischen Arbeitsschwankung

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und Ernährungsschwankung, wobei unter Schwankung die Entfernung von der System- ruhe, d. i. von dem scheinbaren Zustande der Änderungslosigkeit, zu verstehen ist.

Je nachdem eine Vitalreihe völlig im Sinne vorangegangener Übung oder abweichend davon verläuft, wird sie als Vitalreihe erster Ordnung oder als Vitalreihe zweiter, dritter usw. bzw.als Vitalreihe höherer Ordnung bezeichnet.

NervenphysiologischeUntersuchungen beweisen, daß nichtjede unabhängige Vitalreihe von einer psychischen Reihe begleitet sein dürfte. Unab- hängige Reihen erster Ordnung haben meist gar keine oder nur höchst primitive psychische Begleiterscheinungen.

Ehe wir uns mit der Lehre von R. Avena- rius eingehender beschäftigen, wollen wir er- wähnen, daß auch H. Potonie, der verdienst- volle Herausgeber der Naturwissenschaft- lichen Wochenschrift, im Jahre 1891 das Problem der geistigen Entwicklung behandelt und Gedanken ausgesprochen hat, die lebhaft an solche von Mach und Avenarius erinnern. Wir geben im folgenden den Inhalt seines leider nicht ge- nügend bekannt gewordenen Aufsatzes „über die Entstehung der Denk formen" im Auszuge wieder, um daran einige Erörterungen von allgemeinerem Interesse zu knüpfen.

An einen Artikel aus der Feder vonTh. Achelis, „Ethnologie und Philosophie", hatte Potonie angeknüpft, um nach der Entstehung der Denk- formen zu fragen und die aus der Beantwortung

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dieser Frage hervorgehenden Folgerungen zu ziehen. Nicht ohne sich des Beifalls philosophisch geschulter Gelehrten versichert zu haben, ver- öffentlichte er jenen höchst beachtenswerten Auf- satz im 6. Bande der Natur w. Wochenschrift (S. 145— 151, Jahrgang 1891).

Nach ihm gelten die Prinzipien des Darwinis- mus „nicht nur für die körperliche, sondern auch für die geistige Entwicklung der Organismen. Ist ein noch so einfach gestaltetes Lebewesen mit der Möglichkeit der Selbst- und Arterhaltung ein- mal gegeben, so verstehen wir aus diesem die Entstehung des ganzen Reiches der organischen Natur, vermöge der genannten Fähigkeiten und der übrigen, jenem ersten Lebewesen innewohnen- den Eigenschaften, vor allem der Variabilität und der Vererbungsfähigkeit". In ähnlicher Weise „bedarf es nur des Vorhandenseins einfachster Denkregungen, um die Entstehung sämtlicher jetzt tatsächlich vorhandener Formen des Denkens be- greiflich zu finden". Über die Entstehung der ersten Denkregungen läßt sich ebensowenig etwas Sicheres ausmachen wie über die „Erschaffung" der primitivsten Organismen. Daß aber die geistigen Fähigkeiten sich allmählich entwickelt haben, ist zweifellos ; das W i e und Warum dieser Entwicklung ist beantwortbar. Zwar ist die Ent- wicklung keineswegs begreiflicher als die Er- schaffung, aber jedenfalls entspricht sie eruier- baren Tatsachen, letztere dagegen nicht. Potonie will nun dem Leser folgenden Satz geläufig machen :

„Die sämtlichen Denkformen sind ebenso ent-

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standen im Kampfe ums Dasein wie die Formen der organischen Wesen."

Die Sinne versehen die Organismen mit An- schauungen, selbst mit „aprioristischen". Die Seele ist, wie schon Locke behauptet hat, durch die der Erfahrung zugänglichen Dinge gebildet worden.

„Was man aprioristische Anschauungen nennt, sind ererbte, schon von den denkenden Urorga- nismen notwendig gebrauchte, uns daher jetzt zwar ohne weiteres in der Anlage gegebene, aber dennoch ursprünglich aus der Erfahrung gewonnene. Ohne Erkenntnis von Raum und Zeit z. B. ist eben keine Handlung möglich, daher die Vor- stellung von ihnen wohl die älteste, also be- sonders aprioristisch erscheinende ist".

Auch die Beziehungen, die die logischen Formen ausdrücken, sind durch die Erfahrung gewonnen, sind erst im Verlaufe der Generationen erkannt worden. Dasselbe gilt von den abstrakten Be- griffen.

Die einzelnen Anschauungen, einzelnen Vor- stellungen, sind die Elemente des Denkens. An ihnen bildet und entwickelt sich dasselbe.

Die Selektion erklärt nicht nur die körper- lichen Eigentümlichkeiten der Lebewesen, sondern auch die Eigentümlichkeiten des Geistes, der ebenso wie der organische Körper der Variation und der Vererbung unterworfen ist. Der Kampf ums Dasein liest diejenigen Denkregungen aus und bestimmt diejenigen zur Vererbung, die nicht zu lebengefährdenden Verhaltungsweisen führen.

Angersbach, Entwicklung. 4

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Erfahrungen, die sich durch ganze Generationen hindurch bewährt haben, werden weiter vererbt und schließlich unbewußt, triebartig, angewandt. Die Variabilität bringt es mit sich, daß es neben vorteilhaften Organeigentümlichkeiten auch indifferente gibt; sollten aus diesen schädliche hervorgehen und gar den Untergang des Besitzers nach sich ziehen, so würden sie von der Ver- erbung ausgeschlossen werden und verschwinden. Ferner haben viele Organe trotz gleicher Funk- tion bei verschiedenen Lebewesen verschiedenen Bau. Ganz entsprechend verhält es sich im Geistesleben. Nachteilige Geistesäußerungen schei- den aus der Entwicklung aus; solche, die für die Erhaltung des Besitzers gleichgültig sind, können verharren und sich vererben ; ferner können geistige Äußerungen, die gleiche lebenfördernde Ziele haben, doch voneinander abweichen.

Nicht immer vertragen Geistesäußerungen ein Oszillieren, namentlich auf Gebieten, wo Zahl und Maß herrschen. In vielen Fällen würde eine falsche räumliche Beurteilung der Außenverhältnisse un- heilvoll werden. Wo aber falsche Beurteilung lebengefährdend wirkt, müssen bei allen Wesen auch übereinstimmende Verstandesäußerungen be- stehen.

Die mathematischen Gesetze, deren Gültigkeit an der Natur jederzeit prüfbar ist, sind ebenso wie die Denkformen erst durch Reibung mit der Natur erworben. Während die philosophischen Anschauungen des Materialisten und Idealisten für das alltägliche Leben gleichgültig sind und daher

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auseinander gehen dürfen, stimmt deren Verhalten in Alltagsangelegenheiten wieder überein.

Die logischen Formen sind aus der Erfahrung gewonnene Axiome, Beziehungen, die ohne weiteres einleuchten und unbeweisbar sind. Sie sowohl wie die mathematischen Begriffe erscheinen des- halb so zwingend, weil eine Nichtberücksichtigung das Leben unmöglich machen würde.

Die Rücksicht auf die Erhaltung des Lebens ist stets ausschlaggebend für den Bestand körper- licher oder geistiger Eigentümlichkeiten, abgesehen von den indifferenten Erscheinungen, die eine Ver- schiedenheit körperlicher und geistiger Eigentüm- lichkeiten gestatten.

„Denkanschauungen", die sich im Leben voll bewähren, enthalten keine Bedingungen einer Ab- änderung; sie verharren und erwerben mehr und mehr den Charakter des Aprioristischen ; wir folgen ihnen, ohne nach dem Warum zu fragen.

Folgt die Denktätigkeit ziemlich leicht neuen Gewohnheiten , so ist die Denkrichtung im höchsten Grade konstant. Ein gewohnheitsmäßiges Denken ist aber auch weit wichtiger für die Er- haltung des Menschen als ein rein logisches. Die Gewohnheit ist eine psychologische Form des Trägheitsgesetzes.

Die naturwissenschaftliche Forschung verfolgt das gleiche Ziel mit denselben Mitteln und wird, sofern sie in der Erfahrung, namentlich in der experimentellen Erfahrung, wurzelt, zu verhältnis- mäßig übereinstimmenden Ergebnissen gelangen. Indes erfahren wir von den Dingen und Kräften

4*

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nur soviel, als in unser Leben irgendwie eingreift. Vielleicht erschöpfen unsere Denkformen gar nicht die möglichen Beziehungen in der Welt, und es bleibt uns nur die Hoffnung, unsere Sinne möchten genügen, „derartige Erfahrungen zu sammeln, daß unsere jetzigen Denkformen ergänzt werden".

Zwei Gruppen von Wahrheiten lassen sich unterscheiden:

1. Lebenswahrheiten, die für die Erhaltung des Lebens unbedingt erforderlich sind;

2. Wissenschaftliche Wahrheiten, deren Kennt- nis für das Leben gleichgültig ist.

Gerade in den Sinnestäuschungen kommt es zum deutlichen Ausdruck, wie die Natur alles nur mit Rücksicht auf die Lebenserhaltung schafft.

Die Sinneseindrücke modeln das Zentralnerven- system so, daß dieses auf die Außenwelt, und zwar den Verhältnissen derselben entsprechend, zurückwirkt. Der Handelnde ist berechtigt, die Außenwelt als so existierend zu beurteilen, wie sie uns erscheint, und dementsprechend zu handeln. Kommen nun generelle Sinnestäuschungen vor, so können diese iür das Leben nur gleichgültig sein; dagegen werden individuelle Sinnes- täuschungen, wie sie z. B. bei Geisteskranken vorkommen, meist lebenstörend sein. Unser Leben ist nichts anderes als ein der Natur angepaßtes, oder der Wahrheit angepaßtes Verhalten des Organismus. Aber wir erfassen die Welt nur in denjenigen Punkten richtig mit unseren Sinnen, die falsch zu deuten lebengefährdend wäre. Sinnes- täuschungen bleiben den Organismen auf den Ge-

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bieten, die der Kampf ums Dasein unberührt läßt, d. h. wo die Täuschungen das Leben nicht ge- fährden. Die Natur selbst regelt das Denken, sie zwingt uns logisch zu bleiben, wenigstens dort, wo es sich um das wahre Wohl und Wehe des Organismus handelt.

Der Unterschied zwischen Individuum und ge- sellschaftlichem Verband bringt es mit sich, daß die vorteilhaften Denkrichtungen dort und hier auseinandergehen. Was dem freien, der ganzen Welt gegenüberstehenden Individuum Recht ist, ist dem Verbände oft nicht Recht. Im Verband ist das Recht, was die Machthabenden innerhalb dieser Einheit wünschen. Die nicht mächtigen Individuen stehen den Machthabenden innerhalb des Verbandes genau so gegenüber wie der freien Natur : entweder folgen sie den Gesetzen, dort denen des Machthabers, hier denen der Natur, oder aber sie gehen zugrunde.

„Auf ethischem Gebiete sind die Machthaben- den innerhalb einer Einheit in der Mehrzahl. Der Einzelne muß den ethischen Forderungen, die sich durch das Zusammenleben entwickelt haben, folgen, oder er findet keinen gesellschaftlichen Platz. Diejenigen ethischen Gesetze, ohne welche ein Zusammenleben undenkbar ist, erscheinen uns begreiflicherweise als kategorisch."

Es sind höchst wertvolle Gedanken, die in diesem Aufsatze ausgesprochen sind. Potonie stellt das Geistesleben ganz und gar in Beziehung zu der Erhaltung des individuellen und generellen Lebens. In scharfer Weise hebt er die Anteile hervor, die

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der Kampf ums Dasein, die Variabilität und die Vererbung an der Geistesentwicklung haben. Sorgfältig stellt er fest, innerhalb welcher Grenzen die von der Norm abweichenden Geistesdifferenzen für das Leben bedeutungslos bleiben. Dem Be- griff der Stabilität verleiht er in der Konstanz der Denkrichtung, in der Macht der Gewohnheit, vollen Ausdruck. Er betont, daß im gesellschaft- lichen Verbände die Machthabenden das Verhalten der Einzelnen wesentlich bestimmen, und daß die ethischen Forderungen die notwendigen Ergeb- nisse eines engeren Zusammenlebens sind. Po- tonie verfährt mit größter Vorsicht, indem er auf phantasievolle Spekulationen verzichtet und scharf diejenigen allgemein anerkannten Grundtatsachen hervorhebt, auf die er seine Ansichten aufzubauen gedenkt.

Potonie hatte seine Gedanken nur provi- sorisch skizziert und eine ins einzelne gehende Ausführung sich auf spätere Zeit vorbehalten. Kein Wunder, daß aus diesem Grunde seine Arbeit mit verschiedenen Unebenheiten und Un- bestimmtheiten behaftet ist und den Tatsachen nicht restlos gerecht zu werden scheint.

Vor allen Dingen beanstanden wir, *) daß das psychische Geschehen nur ganz nebenbei mit dem nervenphysiologischen in Verbindung gebracht und das Verhältnis des einen zum anderen nicht

*) und zur Zeit auch der Verfasser jenes Aufsatzes selbst, der ein treuer Anhänger der empiriokritizistischen Richtung geworden ist und dieser Tatsache wiederholt Ausdruck ge- geben hat!

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ausdrücklich hervorgehoben ist. Fast gänzlich übersehen ist infolgedessen die Tatsache, daß das Nervensystem in mannigfaltige Teilgebilde mit spezifischen, innerhalb gewisser Grenzen sich sehr regelmäßig vollziehenden Funktionen zerfällt, und daß der Wettbewerb gerade zwischen diesen Teil- gebilden von höchster Bedeutung ist für die Ent- wicklung des Denkens. Weiterhin hängt damit zusammen, daß einzelne bedeutsame Begriffe nicht genügend geklärt erscheinen und zu Mißverständ- nissen Anlaß geben; namentlich gilt das von den Begriffen der „Psyche" und der „Erfahrung". End- lich wäre es zweckmäßig gewesen, auch den An- teil, den die direkte Anpassung an der indivi- duellen Geistesentwicklung hat, gegenüber dem Anteil der im Kampfe ums Dasein sich vollziehen- den indirekten Anpassung hervorzuheben.

Wir wollen mit der zuletzt erwähnten Aus- setzung unsere Erörterungen beginnen.

Das Prinzip des Kampfes ums Dasein ist ein höchst bedeutsamer Ausdruck dafür, daß die bei Kreuzung der Anpassungsbereiche meh- rerer Organismen sich einstellenden Konkurrenzen die nur wenig angepaßten Individuen aus dem Wettbewerbe ausschalten.

Auch in den Äußerungen des Geisteslebens spielen sich Vorgänge ab, die ganz und gar nach Analogie des Kampfes stattfinden. Das tägliche Leben zeigt uns, wie Menschen mit mangelhafter Anschauungs- und Denkfähigkeit mehr und mehr im Wettbewerbe beiseite gedrängt und schließlich vernichtet werden, während geistig hochstehende

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Menschen mit ausgeprägtem Wollen zu höchster Macht gelangen. Die innerhalb der Gelehrten- republik herrschenden „Geisteskämpfe" ziehen sich durch Jahrhunderte hindurch, führen aber bald schneller bald langsamer zur Ausmerzung unfruchtbarer Begriffe und zur Klärung mangel- haft fundierter Begriffe und Begriffssysteme, sie lassen bei beständiger Begriffsvermehrung und Begriffserweiterung die einzelnen Zweige der Wissenschaft sich mehr und mehr ausbilden und befestigen.

Nicht minder wichtig ist aber auch die bei Umgebungsänderungen sich vollziehende direkte Anpassung, die mit einer gewissen Plastizität, ja mit einer nicht geringen Spontaneität1) der Organismen rechnet.

Die direkte Anpassung zeigt sich deutlich in der Art und Weise, wie die zu den einzelnen Sinneswerkzeugen und zu den motorischen Or- ganen gehörenden nervösen Teilgebilde sich der die mannigfaltigsten Reize aussendenden Umwelt anpassen.

Auf Grund der Struktur des Organismus und auf Grund der besonderen Eigenschaft des Ernährungsprozesses, unter den Bedingungen positiver Entwicklung nicht nur den Dissimilations- prozeß auszugleichen, sondern sogar noch einen Energieüberschuß zu hinterlassen, wer- den die sensorischen und motorischen Elementar-

l) natürlich in dem früher Seite 31 genau definierten Sinne, nicht etwa im Sinne der Neovitalisten!

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gebilde in einen Zustand lebhafter Spannung ver- setzt, der gewissermaßen und zwar namentlich bei Eintritt in den Wachezustand auf Entladung „wartet". Die gleichmäßige Ernährungs- vermehrung, mit der ein nervöses Haupt- partialsystem in die Bedingungen des Wachens eintritt, verlangt geradezu als Gegengewicht eine entsprechende Arbeitsvermehrung oder, wie R. Avenarius es nennt, ein partial- systematisches Komoment. Der im Zu- stande lebhaftester Entwicklung begriffene Mensch fühlt den unwiderstehlichen Drang, sei es im Spiele, sei es in regelrechter Arbeit mit der Um- welt in innigen Verkehr zu treten; und diese bildet ihrerseits durch mehr oder weniger wieder- kehrende Reize, mitunter aber auch schon durch völlig vereinzelte, aber ausreichend kräftige Ein- drücke, das menschliche Nervensystem um. So zieht denn die Umwelt den jugendlichen, ihr mehr oder weniger entgegenkommenden Menschen vor- wiegend friedlich und doch mit unwiderstehlicher Gewalt in ihren Bann. Indem gleichzeitig die durch die ererbte Struktur gegebenen innerkörper- lichen Entwicklungstendenzen mit den von der Umgebung ausgehenden Einwirkungen sich ver- einigen, macht sich der Organismus auch wieder- um die Umwelt bis zu einem gewissen Grade tributpflichtig, so daß das Verhältnis zwischen beiden kein einseitiges bleibt. Stellt der Kampf ums Dasein gewissermaßen ein Prinzip von zen- trifugalem Charakter dar, so die direkte Anpas- sung ein solches von mehr zentripetaler Art.

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Die Aneignung eines oft ganz gewaltigen Ge- dächtnisschatzes und im Zusammenhang damit die Erwerbung von mannigfaltigen konkreten Be- griffen vollzieht sich in hohem Maße durch di- rekte Anpassung des Gehirnes an die Umgebung. Die direkte Anpassung ist in nicht geringem Grade an der Ausbildung „psychischer Bestände" beteiligt. Da dieser Begriff noch mehrfach wieder- kehren wird, so wollen wir seine Bedeutung in Kürze hervorheben.

Schon das bloße stillschweigende Wieder- erkennen setzt eigenartige psychische und phy- siologische Zusammenhänge oder, wie J. Petzoldt es nennt, psychische und physiologische Bestände voraus. Noch mehr das logische Denken, ferner das ästhetische und ethische Fühlen. So ist für einen einzelnen Menschen der individuelle logi- sche Bestand die je nach Zeit, Ort und indi- viduellen Umständen verschieden zusammengesetzte Gesamtheit der als „wahr" charakterisierten Ge- dankenkomplexe, Einsichten oder Kenntnisse. Ihm entspricht jedenfalls als physiologische Unter- lage ein umfassendes zentralnervöses Teilsystem, dessen Teile je nach den individuellen und histo- rischen Umständen in mehr oder weniger enger und vielseitiger Verbindung miteinander stehen.1)

Potonie hat mit vollem Rechte auch die Variabilität als Entwicklungsprinzip betont. Für Darwin war die Variabilität ursprünglich

l) J. Petzoldt, „Einführung in die Philosophie der reinen Erfahrung", Bd. I. Leipzig, 1910.

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etwas Zufälliges, ohne ausgesprochenen Rich- tungssinn. Für uns müssen organische Systeme von hoher dynamischer Stabilität bei ausge- sprochener Plastizität nicht nur infolge der indi- viduellen, niemals übereinstimmenden Umgebungs- verhältnisse mannigfaltige regellose Abweichun- gen zeigen, sondern gleichzeitig auch auf Grund der ihnen eigentümlichen Struktur mancherlei spezifische innere Entwick- lungstendenzen offenbaren. Die Ver- erbung sorgt dafür, daß erhebliche, den Gesamtorganismus oder doch wichtige Ab- schnitte derselben betreffende Strukturverände- rungen nicht spurlos vorübergehen und daß ge- wisse innere Entwicklungstendenzen über viele Generationen hinaus wirk- sam bleiben, ohne ihren Richtu ngssinn zu verlieren.

Wir haben behauptet , P o t o n i e habe uns über den Sinn der Begriffe „Psyche" und „Erfah- rung" im Unklaren gelassen und dadurch Anlaß zu Mißverständnissen gegeben.

Potonie sagt, die Sinne versehen den Or- ganismus mit Anschauungen, selbst mit aprio- ristischen. Schon Locke lasse die Seele durch die der Erfahrung zugänglichen Dinge gebildet werden.

Genauer freilich drückt sich Locke in seinem berühmten Werke über den menschlichen Verstand folgendermaßen aus : Die Idee ist das Objekt des Denkens. Alle Ideen entspringen aus Sinnes- wahrnehmung oder Selbstbeobachtung (sensation or reflection). Die Gegenstände der Sinneswahr-

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nehmung sind die eine Quelle der Ideen. Die Tätigkeiten des Geistes sind die andere Quelle derselben. *)

Daß die Sinne den Organismus mit Anschau- ungen versehen, ist ohne weiteres klar. Wohl aber werden Zweifel darüber bestehen, was man unter aprioristischen Anschauungen zu begreifen habe. Die sinnliche Anschauung hat es mit Objekten der Umgebung und mit dem eigenen Leib, sofern derselbe ein physischer Gegenstand ist, zu tun; sie kann unmöglich aprioristischer Natur sein. Die geistige oder innere An- schauung hat es mit Erinnerungsbildern oder irgendwelchen Phantasmen, also mit Gebilden zu tun, die sicherlich mit der Sinneserfahrung innigst zusammenhängen, also kann auch sie nicht aprio- ristisch genannt werden. Wenn nun eine An- schauung a priori möglich sein soll, so kann sie höchstens eine gewisse Seite der Anschauung betreffen, d. h. aber nichts anderes als die Form, unter der ein Gegenstand angeschaut wird. Aprioristische Anschauungen wären demnach das- selbe wie Anschauungsformen.

Als Anschauungsformen haben wir etwa die- jenigen Arten der Formung zu bezeichnen, durch die wir die Objekte als räumlich und zeitlich ge- ordnet, als ähnlich und unähnlich usw. auffassen. So können z. B. Zeitfolge und Rhythmus einer Melodie, Ähnlichkeit und Unähnlichkeit zweier

*) John Locke, Über den menschlichen Verstand, übersetzt von Th. Schultz e. Leipzig, Reclam. Band I, zweites Buch, erstes Kapitel.

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geometrischen Figuren als Anschauungsformen gelten. *)

Die älteren Empiristen sind fast durchweg der Ansicht gewesen, daß alle Formen, alle Rela- tionen nichts anderes seien als Vorstellungs- inhalte.

Dem steht aber entgegen, daß viele Formen, z. B. die Form der Ähnlichkeit, durch sämtliche Sinnes- und Phantasiegebiete gleichmäßig hin- durchgehen, daß man für die Ähnlichkeit einer in verschiedenen Tonarten komponierten Melodie vergeblich nach auf weis baren, der Sinnes- erfahrung zugänglichen „Gestalt qu alitäten" sucht. Chr. von Ehrenfels, der diesen Begriff geschaffen hat, versteht darunter „positive Vor- stellungsinhalte", welche an das Vorhandensein von Vorstellungskomplexen im Bewußtsein ge- bunden sind, die ihrerseits aus voneinander trenn- baren Elementen bestehen ; 2) nach Cornelius sind Gestaltqualitäten die „Merkmale der Kom- plexe, durch welche die Komplexe sich von der Summe der Merkmale ihrer Bestandteile unter- scheiden". 3)

Schon Plato hatte den Beweis erbracht, daß

J)H. Gomperz, Weltanschauungslehre, Eugen Diederichs, Jena und Leipzig. Bd. I, S. 223.

2) Vierteljahrsschrift für wissenschaftl. Philosophie, 1890.

3) Lipps führt die Gestaltqualitäten auf „Ich- und Apperzeptionserlebnisse, Gefühle und Relationen" zurück.

Petzoldt weist in seiner ,, Einführung in die Philosophie der reinen Erfahrung" nach, daß die Gestaltqualitäten „be- griffliche Charaktere" sind. Bd. I, S. 280.

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die Formerlebnisse nicht durch die Sinne ver- mittelt sein können : *) „Sein und Nichtsein, Ähn- lichkeit und Unähnlichkeit, Identität und Nicht- identität, Einheit und die anderen Zahlen . . . auch Gerad und Ungerad und anderes derart, durch welche körperlichen Organe nimmt unsere Seele dies wahr?" „Es scheint alle dem kein besonderes Sinnesorgan zu entsprechen . . ., son- dern selbst durch sich selbst scheint die Seele das allen Gemeinsame zu erkennen".

Die auf Aristoteles zurückzuführende Lehre von der Cönästhesie der Formen, wonach wir durch jeden Sinn einerseits spezifische Inhalte dieses Sinnes, daneben jedoch auch gemeinsame Inhalte aller Sinne, eben die Formen, wahr- nehmen, stößt wieder auf unüberwindliche Schwierig- keiten. Wie will man, meint Heinrich Gomperz in seiner „Weltanschauungslehre", bei irgendeinem Vorgange etwa ein Nacheinander oder eine Verschiedenheit sehen oder hören? Außer- dem sind Formen nicht nur mit den Inhalten von Wahrnehmungen und Phantasmen verknüpft, sondern auch mit Gefühlen; ganz all- gemein ausgedrückt: mit jedem beliebigen Be- wußtseinsinhalte. Ebensogut könnte man behaupten, das Gesicht nehme neben den Farben eines Ge- mäldes auch dessen „Schönheit" wahr. Endlich ist bei einem Formerlebnisse von rein physio- logischem Standpunkte aus nicht einzusehen, welche periphere Innervation mit einem Ähn-

J) H. Gomperz Weltanschauungslehre, Bd. I, S. 226.

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lichkeits- oder Gleichzeitigkeitserlebnisse verbunden sein sollte. *)

Der Kritizismus erkannte durchaus richtig, daß es sich im Formerlebnisse um einen sub- jektiven Vorgang handele. Aber indem der- selbe die subjektiven, zu den Vorstellungsinhalten hinzutretenden Bedingungen auf eine spontane Verknüpfungstätigkeit zurückführte, für diese spon- tane Tätigkeit jedoch keine ausreichenden psycho- logischen Daten aufzuzeigen vermochte und sie lediglich als ein „formales und synthetisches Prin- zipium aller Erfahrungen", als eine „Gesetzgebung für die Natur" postulierte, konnte er positi- vistisch denkende Philosophen nicht befriedigen.

Nicht zu bezweifeln ist, daß alle sog. „Ver- standesbegrifife" eine subjektive Zutat des In- dividuums sind, eine „Weise, wie dasselbe auf gewisse Anlässe reagiert". Worin nun kann eine solche Reaktionsweise beruhen? Auf diese Frage gibt es wohl nur eine einzige Antwort : In der Struktur und der damit zusammen- hängenden Wirkungsweise des Nerven- systems. Was aber von Form- und Relations- begrifTen gilt, das gilt schließlich von allen g e - fühlsmäßigen Erlebnissen. Ja es handelt sich bei ihnen, wie H. Gomperz in seiner „Welt- anschauungslehre" auseinandersetzt, stets um eine wenigstens im physiologischen Sinne apriorische oder angeborene Erwiderungsweise.

1)H. Gomperz, Weltanschauungslehre, Bd. I, S. 226 bis 231.

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Als Beispiel diene das „Zornerlebnis" 1 Selbstver- ständlich kann der Mensch erst nach seiner Ge- burt zornig werden, er lernt ihn erst dann kennen, wenn er das Zorngefühl an seiner Person erlebt hat. Wenn er auch auf einen äußerlichen Anlaß hin zornig geworden ist, so hat er doch den Zorn nicht durch irgendein Sinneswerkzeug von außen in sich aufgenommen. Vielmehr bedeutet die Eigenschaft, auf bestimmte äußere Anlässe in Zorn zu geraten, eine konstitutionelle, angeborene Erwiderungsweise. Während also das in Zorn geraten von äußeren Umständen abhängt, ist die Art und Weise der Zornäußerung ein Ergebnis des gesamten nervösen Gefüges. Die Zornerfahrung ist, wie H. Gomperz sich aus- drückt, keine rezeptive, sondern eine reak- tive Erfahrung. 2)

Eine Philosophie, die lediglich Sinnes- erfahrung kennt, gerät in mißliche Lagen. Ein Empirismus, der die Gefühle, Stimmungen und ähnliches in ihrer Eigenart nicht erkennt, ist un- haltbar; er ist den Angriffen der idealistischen Richtungen nicht gewachsen. Die Erfahrung ist teils rezeptiver, teils reaktiver Art, und die letztere bietet uns all das, was R. Avenarius als „Cha-

x) Ebenda, S. 255 bis 263.

2) Um eine rezeptive Erfahrung handelt es sich nach H. Gomperz dann, wenn mit einem Vorstellungsinhalte ein Gefühl des Leidens (der Passivität) verknüpft ist, um eine reaktive Erfahrung, wenn in ihr ein Gefühl der Ich- äußerung (Spontaneität) enthalten ist. Bd. I. S. 242 und 243.

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raktere" bezeichnet. Wenn Mach auch den „Empfindungen" eine einzige Stellung zuzuweisen scheint, so vergißt er doch nicht, ausdrücklich die Bedeutung der Gefühle, Affekte und Stimmungen hervorzuheben, die er sehr geschickt als „Re- aktionsstimmungen von bestimmter Richtung" bezeichnet und als wesentlichen Bestandteil des Wollen s und des wissenschaftlich be- grifflichen Denkens betrachtet.

R. Avenarius teilt die psychischen Gebilde ein in „Elemente", die im großen und ganzen den „Empfindungen" der modernen Psychologie entsprechen, und in „Charaktere", die eine außerordentliche Verallgemeinerung dessen be- deuten, was man in der Regel „Gefühle" und „Gefühlstöne" nennt. Die Charaktere begreifen nicht nur die eigentlichen Gefühle, sondern ganz allgemein alles, was gewisse Inhalte charakterisiert, was ihnen eine gewisse Färbung verleiht. Es gehören zu ihnen auch alle sog. Erfahrungs- formen, z.B. diejenigen Begriffe, die als Kate- gorien in den Systemen der alten und neueren Philosophie eine bedeutsame Rolle spielen. x) Übrigens fällt es bei hinreichender Aufmerksam- keit und sorgfältiger Selbstbeobachtung dem einen oder anderen nicht schwer, schwache Gefühls- färbungen zu entdecken, die selbst höchst abstrakten Ausdrücken wie solchen des Schönen und Häß- lichen, des Guten und Schlechten, der Dasselbig- keit und Andersheit, des Seienden und Nicht-

l) R. Avenarius, Kritik der reinen Erfahrung. Bd. II S. 36 1 f. Angersbach, Entwicklung. 5

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seienden, des Wirklichen und Unwirklichen, des Sicheren und Unsicheren, des Bekannten und Un- bekannten, des Wahren und Unwahren anhaften.

Um Mißverständnisse zu verhüten, wollen wir ausdrücklich bemerken, daß die Unterscheidung von Elementen und Charakteren nur auf Grund einer Abstraktion möglich ist. Elemente und Charaktere existieren nicht isoliert, sie sind vielmehr die beiden Seiten eines und des- selben Erlebnisses. Ohne einen charakteri- sierten Inhalt gibt es weder Charakter noch Ele- ment. Nur gedanklich kann zwischen beiden unterschieden werden, nicht etwa anschaulich oder vorstellungsmäßig. *) Daß es nicht immer leicht ist, das Gefühlsmäßige vom Empfindungsmäßigen zu trennen, braucht nicht betont zu werden.

Setzen schon die Elemente eine bestimmte innernervöse Struktur voraus, so sind die Cha- raktere ganz und gar von dieser abhängig. Durch welche besonderen Eigenschaften des nervösen Grundprozesses die einen oder die anderen bedingt sind, wollen wir hier nicht erörtern. Es ist das bereits früher in der Naturwissenschaftlichen Wochenschrift geschehen. 2) Namentlich haben wir auch der Erweiterungen und bedeutsamen Verbesse- rungen gedacht, die J. P e t z o 1 d t in seiner „Einfüh- rung in die Philosophie der reinen Erfahrung" der

:) J. Petzoldt, Einführung in die Philos. der reinen Er- fahrung. Bd. I. S. 337.

2) Naturw. Wochenschr. N. F. IV. Band, S. 33 bis 43. „Das Verhältnis zwischen Psychischem und Physischem nach R. Avenarius und Petzoldt."

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Theorie von R. Avenarius hat zuteil werden lassen.

Potonies Satz, daß die Sinne den Orga- nismus mit aprioristischen Anschauungen, d. h. mit Anschauungsformen versehen, kann nach alledem, was wir vorgebracht haben, nicht ohne weiteres aufrecht erhalten werden, man müßte denn außer den eigentlichen Sinneswerkzeugen, die die Verbindung zwischen uns und der Außen- welt herstellen, und außer den uneigentlichen Sinneswerkzeugen, die uns Gemein- und Organ- empfindungen, z. B. Hunger, Durst, Wärme, Kälte, Schmerz, inneren Druck, Muskelspannungen vermitteln, noch ein ganz besonderes „inneres" Sinnesorgan annehmen, das uns von all unseren Gefühlen und Gefühlstönen, unseren sinnlichen, intellektuellen, ästhetischen, ethischen, sozialen und religiösen Gefühlen, unseren Form- und Relations- erlebnissen, Rechenschaft zu geben vermöchte. Einen inneren Sinn nimmt tatsächlich nicht nur Locke, sondern auch noch Kant an. Der modernen Psychologie und Physiologie ist er frei- lich völlig unbekannt.

Locke ist nun vorsichtig genug gewesen, zwei Quellen der Erfahrung anzugeben und zwar als zweite die Selbstbeobachtung. Während Potonies Erfahrungsbegriff anscheinend nur die Sinneserfahrung umfaßt, enthält der Locke sehe auch noch die in der „Selbstbeobachtung" sich gewissermaßen unmittelbar kundgebenden Erlebnisse von vorwiegend reaktiver Art.

Meine „Psyche" wird somit nicht allein

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gemodelt von den Objekten, die mich umgeben und zu denen auch in gewissem Sinne noch mein eigener Leib gerechnet werden kann, soweit ich ihn einigermaßen scharf von den zentralen Teilen des nervösen Systems abgrenze und die ferner durch Vermittlung der Sinneswerkzeuge und der sich anschließenden Nervenbahnen Spuren in mir zurücklassen, sondern auch durch besondere Eigenschaften des inneren Gefüges und durch damit zusammenhängende spezifische Reak- tionsweisen des Nervensystems selbst. Diejenigen Erlebnisse, die mir unmittelbar durch die Sinnes Werkzeuge zufließen, bezeichne ich vor- teilhaft als rezeptive, diejenigen, die sich in gefühlsartiger Weise kundgeben, als reaktive Erfahrung. *)

Nun hat freilich P o t o n i e wohl gar nicht beim Gebrauch des Wortes „Psyche" an die indivi- duelle Psyche gedacht, sondern an eine ganze Summe miteinander durch eine gewaltige Gene- rationsreihe hindurch verketteter Individualseelen. Zwar ist es höchst bedenklich, den Begriff der Psyche in solcher Weise zu erweitern und gar das Psychische als vererbbar anzusehen. Auch wissen wir gar nicht, ob das erste Aufleben der Psyche nicht schon einen gewissen Grad der physischen Entwicklung der organisierten Körper voraussetzt, ob also dem psychophysischen Geschehen nicht innerhalb der Organismenreihe ein r e i n p h y- s i s c h e s vorhergegangen ist. Aber sicherlich hat

l) H. Goraperz, Weltanschauungslehre, Bd. I, S 98 und anderwärts.

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Potonie folgendes im Sinne gehabt: Auf Grund irgendwelcher uns unbekannter objektiver Be- dingungen entstanden dynamische Systeme, die unter dem Einflüsse einer sich verändernden Um- gebung zu tierischen oder pflanzlichen Organismen mit stark differenziertem Gefüge und spezifischen Funktionen wurden. Für die Weiterentwicklung waren nicht nur die jeweiligen äußeren Umstände, sondern auch das innere Gefüge selbst maßgebend. Als dann an irgendeinem Punkte der Entwicklung das psychische Geschehen erwachte, stand es in Abhängigkeit von lediglich physischen Objekten (von Dingen der Umgebung und Dingen, die dem Innern des lebenden Wesens angehören), nicht aber in Abhängigkeit von übernatürlichen, tran- szendenten, prinzipiell nicht aufweisbaren Fak- toren. Po to nies Begriff der Erfahrung umfaßt hier alle innerhalb einer Generationskette ge- machten objektiven Erwerbungen des zentralnervösen Systems, von denen jetzt ein individuelles Seelenleben abhängig zu denken ist. Neben diesem eigentümlichen, sehr allge- meinen Begriff der Erfahrung kennt er natürlich auch den engeren, rein psychologischen Begriff, der das Vorfinden von irgendwelchen charakterisierten Inhalten bedeutet. Frei- lich hat er nicht das Bedürfnis gehabt, beide Be- griffe zu scheiden.

Wenn Potonie behauptet, daß die von einer Vorfahrenreihe erworbenen lebenerhaltenden Er- fahrungen auf die Nachkommen vererbt werden, um von diesen unbewußt angewandt zu

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werden, so handelt es sich offenbar nur um physiologische, durch objektive Umstände be- dingte Erwerbungen, die von den Vorfahren auf die Nachkommen übergehen. Von einer Ver- erbung individueller Erfahrungen rein psychologischer Art kann jaüberhaupt keine Rede sein.

Wenn er ferner sagt, daß die Beziehungen, die die logischen Formen ausdrücken, durch die Er- fahrungen gewonnen, aber erst im Laufe der Generationen erkannt worden seien, so sind jene Erfahrungen wieder in jenem allgemeinen, physiologischen Sinne, die Erkenntnis dagegen, das ist aber auch eine Erfahrungs- weise, — in engerem, psychologischem Sinne gemeint. Vielleicht hat Potonie hier sogar den Unterschied zwischen reaktiver und rezeptiver Erfahrung gefühlt.

Sicherlich wurden schon in einer Zeit, wo es an Denkregungen noch völlig fehlte, durch direkte und indirekte Anpassung feste Bestände von er- haltungsgemäßen nervösen Einstellungs- und Um- Schaltungsmöglichkeiten ausgebildet. Als nun das Denken im Sinne eines psychischen Aktes erwachte, waren ihm auch die wichtigsten Formen gegeben, die physiologisch bereits in einer, wie wir es einmal nennen wollen, „vorbewußten" Zeit entwickelt waren. Und als schließlich sich das Denken zum Philosophieren erhob und sich selbst zum Gegenstande der Forschung machte, mußte es in den gewissermaßen übermächtig alles An- schauen und Denken beherrschenden Formen

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„Aprioritäten" entdecken. Anschauungs- und Denkformen mögen nun Prinzipien sein, ohne die jede Wissenschaft undenkbar ist; sie gehen aber keineswegs einem Erfahren zeitlich voran; sie sind Charaktere, die stets an Elemente gebunden sind, aber im Gegensatze zu diesen reaktiv er- fahren werden.

Alle Orientierung ist räumlich-zeitlicher Art. Wir sind daher zur Annahme berechtigt, daß bei genügend entwickeltem Nervensystem Erlebnisse räumlich-zeitlicher Eigenschaften im Bereiche des eigenen Leibes und der näheren und weiteren Umgebung das Material geliefert haben, an dem sich das Denken besonders kräftig entwickeln konnte. Daß selbst sehr niedrig organisierte Tiere sich trefflich zu orientieren wissen und sich ihrer Orientierungen wohl auch in hohem Grade be- wußt sind, ist kaum zu bezweifeln. Wenn daher Potonie die „Vorstellungen" von Raum und Zeit als „die ältesten, also apriorisch erscheinenden" be- zeichnet, so liegt darin viel Richtiges. Nur wird man Raum und Zeit nicht gut als Vorstellungen, d. h. als Empfindungsresiduen oder auch als Empfindungen selbst, bezeichnen dürfen, sondern als aus Vorstellungen bzw. aus Empfindungen ge- wonnene abstrakte Begriffe. Das menschliche Handeln setzt, wie sich aus unseren früheren Er- örterungen ergibt, eine Erkenntnis von Raum und Zeit durchaus nicht immer voraus; noch viel weniger aber die erhaltungsgemäße tierische Tätigkeit. Potonie geht daher jedenfalls zu weit, wenn er Verrichtungen der Tiere von einer

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Kenntnis der Zahl und des Maßes oder gar einer Kenntnis geometrischer Begriffe, wie des- jenigen der geradenLinie, abhängenläßt. Es ist zu vermuten, daß Potonie auch hier dem Worte „Kenntnis" ähnlich wie oben dem Worte „Erfahrung" einen vorwiegend physiologischen Sinn unterlegt und außerdem die Ausdrücke „Raum und Zeit" mehr als Inbegriff einer Ge- samtheit räumlich-zeitlich gekennzeichneter Emp- findungsbestimmtheiten denn als Inbegriff geome- trisch - mechanischer Abstraktionen verwendet.

Ein Hund, der auf geradem Wege der inner- halb seines Gesichtskreises oder seines Riechbe- reiches liegenden Nahrung zueilt, hat schwerlich die Einsicht, daß die gerade Linie die kürzeste Verbindungslinie oder daß sie durch zwei ihrer Punkte eindeutig bestimmt sei, auch wenn während seiner Tätigkeit sich mancherlei räumlich-zeitliche Eigenschaften im Bewußtsein abheben sollten. Selbst ein intelligentes Kind wird sich zu einer derartigen Einsicht ohne vorausgegangene Be- lehrung kaum emporschwingen. Jener Hund wird sich, wenn man von den Begleitempfindungen und Begleitgefühlen absieht, kaum viel anders verhalten wie ein der Gehirnhemisphären beraubter, aber mit den Sehlappen noch versehener Frosch, der geradlinig auf ein Licht zueilt und über ein zwischen ihm und dem Lichte eingeschaltetes Hindernis entweder hinweghüpft oder ihm nach der Seite ausweicht, anscheinend genau so, als ob er sich seiner durchaus „zweckmäßigen" Tätigkeit bewußt wäre.

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Sicherlich hat sich das Nervensystem schon zu einer Zeit, wo seine Funktionen von Denkregungen noch nicht begleitet waren, einer großen Menge mehr oder weniger regelmäßig wiederkehrender äußerer Einwirkungen angepaßt. Dabei wurden Reaktionen, die ohne Erfolg blieben oder den Organismus gar schädigten, ausgemerzt.

Wir wollen freilich keineswegs leugnen, daß auch ein Hund hinreichend oft in Lagen kommt, in denen sich ein Überlegen als psycho- physischer Akt einstellt. Wir zweifeln nicht, daß er, an den Rand eines tiefen und einiger- maßen breiten Grabens angelangt, durch optische Reize zu bestimmten Vorstellungen früherer, in ähnlicher Lage erfolgreich angewandter Verhal- tungsweisen angeregt wird und ihnen entsprechend handelt. Werden dabei auch höhere nervöse Zentren in Funktion treten, so doch schwerlich solche, wie sie dem mit klaren Begriffen von geometrischen und arithmetischen Beziehungen ausgestatteten Menschen eigen sind.

Fast scheint es, als schrieben wir dem Denken eine nicht sehr große Rolle zu.

Keineswegs 1 Wir sehen in dem physiologischen Denkprozesse einen sehr bedeutsamen Vorgang, der dann eintritt, wenn das Nervensystem genötigt wird, sich weniger gewohnten oder gar ganz neuen Verhältnissen anzupassen, wenn sich der nervöse Apparat erst nach mannig- faltigen Umschaltungen erhaltungs- gemäß einstellt; namentlich aber sehen wir im Denkprozesse denjenigen Vorgang, der

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zwischen den nervösen Teilgebilden selbst festere Anpassungen herbeiführt. Der triebartige Charakter der meisten tierischen Verrichtungen läßt darauf schließen, daß der zu ihrer Auslösung führende Mechanismus verhältnis- mäßig einfach ist. Anders steht es beim ent- wickelten Menschen, der viele Ziele erst auf großen Umwegen erreicht, der nicht durch die bloße Wahrnehmung oder Vorstellung eines begehrens- werten Gegenstandes schon zum Handeln gedrängt wird, sondern erst Erfolg versprechende Mittel und Wege sich vorstellt, einzelnen dieser Vor- stellungen besondere Aufmerksamkeit schenkt und sie geeignet verknüpft. Welch wunderbare An- passungen mögen sich im Gehirn eines Gelehrten abspielen, dem es gelingt, ein widerspruchfreies wissenschaftliches System aufzubauen 1

Wir bezweifeln auch nicht, daß das Denken seine Wurzeln schon im Reiche der eigentlichen Tiere hat, daß namentlich das begriffliche Charakterisieren auf verhältnismäßig tiefer Stufe der Organisation beginnt.

So speichern z. B. die wiederholten Wahr- nehmungen des Feindes und seiner AngrifTsweisen, die beim Zusammentreffen mit ihm angewandten Verteidigungsmaßregeln und Fliehbewegungen wohl in den meisten Tieren mannigfaltige „En- gramme" und Fähigkeiten auf. Das geringste Geräusch, das Gewahrwerden einer unscheinbaren Fußspur lösen später mit Leichtigkeit jene Be- reitschaften und Fertigkeiten aus und veranlassen das Lebewesen, sich vorteilhaft auf die „erwartete"

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Begegnung mit dem Feinde einzustellen. Wir können sagen, das Tier habe einen Begriff von seinem Gegner, von den drohenden Gefahren und von den erfolgreichen Verteidigungsweisen.

Pie Begriffe sind rein physiologisch auf- gefaßt — höchst wertvolle Schutz formen, Dispositionen, die in kürzester Zeit er- haltungsgemäße Einstellungen des ner- vösen Systems zur Folge haben.3)

Beim sprachbegabten Menschen werden Be- griffe vorwiegend durch Wörter vertreten, die auf assoziativem Wege bestimmte Reaktionen vor- bereiten oder auch geradezu auslösen. Wörter, die vielgeübte Begriffe vertreten, wecken eigen- artige gefühlsmäßige Zustände, noch ehe sie zu bestimmten Vorstellungen oder Handlungsweisen Anlaß geben. Begriffe sind psychologisch auf- gefaßt — nicht selbständige psychische Gebilde, sondern „Charaktere", die sowohl mit Vor- stellungen wie mit Wahrnehmungen meist freilich mit W o r t Vorstellungen und Wort- wahrnehmungen verknüpft sein können. Und zwar sind Vorstellungen und Wahrnehmungen dann begrifflich charakterisiert, wenn sich mit ihnen unmittelbar eine gefühlsmäßig erlebbare Bereitschaft einstellt, entweder bestimmte Einzeltätigkeiten und Tätigkeitsreihen oder be- stimmte Einzelvorstellungen und Vorstellungsreihen

*) Eine wertvolle Abhandlung über den ,, Begriff11 findet sich in Machs „Prinzipien der Wärmelehre" ; 2. Aufl., S. 415 bis 422.

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auszulösen. Von Wichtigkeit ist es, daß es zu einer tatsächlichen Auslösung nicht zu kommen braucht, sondern lediglich zu einer Bereitschaft, oder, wie James es ausdrückt, zu einem Rich- tungsbewußtsein. Stellt sich mit der Per- zeption eines geschriebenen oder gesprochenen Wortes eine solche Bereitschaft ein, so haben wir es mit einem begrifflich charakterisierten Worte zu tun. Aber auch jede beliebige Sinneswahrnehmung und jede beliebige Vor- stellung kann, wie schon hervorgehoben wurde, begrifflich charakterisiert sein.

Schon ein einmaliges, wenn auch zusammen- gesetztes Erlebnis genügt, um mir den Begriff eines ganz „bestimmten Apfelbaumes A" zu er- werben. Obwohl ich fortwährend die Erfahrung mache, daß meine Umgebung mit ihren Objekten „sich ändert", obwohl ich gewahr werde, daß ich auch selbst „mich ändere", so spreche ich doch noch immer von jenem „bestimmten Apfelbaume A" und behaupte, daß ich ihn als „denselben" trotz einzelner Veränderungen an „demselben" Orte noch lange Zeit hindurch immer wieder an- zutreffen vermag. Offenbar bleibt auch bei jedem neuen Gewahrwerden des Objektes eine bestimmte Komponente der zentralnervösen Reaktion unver- ändert, eine Komponente, von der psychisch die Charakteristik der „Dasselbigkeit" abhängt.

Ja selbst bei sehr verschiedenartigen, schon erheblich voneinander abweichenden Reizkomplexen können die zentralnervösen Reaktionen noch immer die eine oder die andere konstant gebliebene

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Komponente enthalten. So ist es denn durchaus verständlich, daß wir uns nicht nur den Einzel- begriff eines bestimmten Apfelbaumes, sondern auch den Allgemeinbegriff „Apfelbaum" er- werben. Selbst gegensätzliche Vorstellungen können in einem höheren Begriffe vereinigt werden, falls ihre physiologische Grundlagen noch wenigstens einen relevanten gemeinsamen Be- standteil haben.

Der entwickelte Mensch ist im Besitze einer sehr beträchtlichen Anzahl durchaus konstanter Begriffe. Wir dürfen daher annehmen, daß jedem Begriffe ein wohlabgegrenztes oder durch bestimmte Hemmungen wohlabgrenz- bares nervöses Teilgebilde mit spezifischen, regel- mäßig wiederkehrenden Funktionen zugeordnet ist. Ohne solche wohlabgrenzbare Gebilde mit gleich- bleibenden Verrichtungen hätten die im Satze der Identität und im Satze des Wider- spruchs oder im Satze des ausgeschlosse- nen Dritten gestellten logischen Forderungen keinen Sinn.

Wenn ich einen Begriff immer wieder als den- selben Begriff A festzuhalten vermag, so weist das unbedingt auf einen bestimmten physiolo- gischen Bestand mit gleichmäßig wie- derkehrenden Funktionen hin; wenn ich den Begriff A als verschieden vom Begriffe B auf- fasse, so läßt das vermuten, daß die dem Be- griffe A zugeordnete nervöse Einstel- lung in keinerlei Weise von derdemBe-

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griffe A zugeordneten vertreten werden kann.

Andererseits spricht aber die Tatsache des Schließens, das logische Zusammenhänge her- zustellen sucht und ohne eine Begrififsneben- und -Überordnung undenkbar ist, auch wieder dafür, daß relativ elementare nervenphysiologische Be- stände zu Beständen höherer und immer höherer Ordnung verwachsen sind. Jeder Syllogismus ver- langt das; liefern doch Prämissen ohne gemein- schaftlichen Begriff keinen Schlußsatz.

Logisches Denken ist nur so weit möglich, als ihm klare, wohlabgegrenzte Begriffe zur Verfügung stehen. Überall, wo es noch nicht dazu gekommen ist, namentlich zur Zeit beginnender Entwicklung in der Kindheit , oder wo ein rasch ver- fallendes Gehirn die Regelmäßigkeit seiner Ver- richtungen verliert im Irrsinn ist logisches Denken mangelhaft oder ganz ausgeschlossen.

Gesteigertes Beobachtungsvermögen und Aus- bildung der wissenschaftlichen Analyse und Syn- these vermögen mannigfaltige Begriffe zu schaffen, die den praktischen und theoretischen Interessen innerhalb gewisser Grenzen dauernd entsprechen. Die Begriffe *) sind somit Schutzformen von hohem biologischem Werte; wirksam werden sie freilich erst im Denken und Handeln. Entspricht dem Begriffe nur eine bestimmte nervöse Ein- stellung, so entspricht dem Denken ein innerer Erregungsvorgang, der zur Inner-

l) in physiologischem Sinne.

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vation der den Sinnesorganen zugeordneten Hirn- teile, aber auch zur Innervation von allen mög- lichen Muskeln der Sprechwerkzeuge und der Gliedmaßen und in vielen Fällen zu einem wirk- lichen Handeln führt. Mit Abschluß eines Denk- prozesses ist auch immer eine innere oder äußere Anpassung zustande gekommen. Ein Mensch, der aus gewissen Merkmalen den Schluß gezogen hat, daß ihm eine bestimmte Gefahr droht, kann sich auf sie vorbereiten und ihr wirkungsvoll begegnen. Ein Newton, der er- kannt hat, daß die Mondbewegung und der Fall oder Wurf eines Steines unter einen und denselben Begriff subsumiert werden können, ist von einem schwer auf ihm lastenden Problem befreit.

Viele Begriffe enthalten Bestandteile, die erst allmählich sich als mangelhaft angepaßt, als störend herausstellen, die womöglich den Erwerb wertvoller Erfahrung aufhalten. Hierher gehören namentlich solche Begriffe, die lediglich auf Grund entfernter Ähnlichkeiten gebildet wurden, Begriffe, denen höchst unvollständige Er- fahrungen entsprechen, Begriffe schließlich, die aus rein subjektiven Erlebnissen, aus Phan- tasmen, hervorgingen. Die physiologischen Unterlagen auch dieser Begriffe sind ursprünglich oft recht wertvolle Schutzformen gewesen, die einem nervösen Teilsysteme beträchtliche Vital- differenzen aufzuheben vermochten. Mit der Weiter- entwicklung des Nervensystems gerieten die ihnen angehörenden physiologischen Vorgänge teils mit neuen Erfahrungen, teils mit den Reaktionen

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anderer vielgeübter Teilgebilde in Zwiespalt; sie wurden daher als unverträglich zunächst ge- schwächt und schließlich entweder ausgeschaltet oder wesentlich umgestaltet.

Wenn die Vorstellungen oder Handlungen, die durch ein begrifflich charakterisiertes Wort aus- gelöst werden, bei jedem Einzelmenschen variierten oder aber, wenn sie von Person zu Person ab- weichend ausfielen, so wäre in einer menschlichen Gemeinschaft- jede Verständigung erschwert oder unmöglich und ein dem Einzelnen sowohl wie der Gemeinschaft dienendes Handeln ausgeschlossen. Diejenige soziale Verbindung wird also im Vor- teile sein, die die Forderung erhebt und erfüllt, den Inhalt eines jeden Begriffes möglichst scharf von dem der übrigen abzugrenzen, diesen Inhalt möglichst unverändert zu lassen und von unverträglichen Merkmalen frei zu halten. Wir erkennen daraus, daß die Begriffs- fe stiegungen und die in den Sätzen der Iden- tität und des Widerspruches enthaltenen Forderungen nicht nur von individuellem, sondern von generellem Werte sind, daß sie geradezu mehr aus den Bedürfnissen der Gesellschaft wie aus denen der Einzelwesen entsprungen sind.

Unter dem Zusammenwirken äußerer und innerer Bedingungen hat sich eine nervöse Struk- tur gebildet, die auch den an Sinnes erregungen sich unmittelbar oder mittelbar anschließenden Anpassungsprozessen ein spezifisches Gepräge ver- leiht. Die Formen, in denen das Denken als eine auffallend souveräne Tätigkeit die Vorstellungen

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verknüpft und ordnet, bilden den psychologischen Ausdruck für jene physiologischen Formen.

Nun darf man nicht in den Fehler verfallen, dem Denken eine absolute Macht zuzugestehen, als ob es gewissermaßen selbstherrlich erst die Formen geschaffen habe, in die sich die Wahr- nehmungen und Vorstellungen fügen müssen. Viel- mehr sind die physiologischen Grundlagen jener Formen selbst nur Formen von Teilvorgängen innerhalb eines eindeutig verknüpften allgemeinen Geschehens, freilich Formen, die auf Grund einer gewaltigen inneren und äußeren Entwicklung eine einzige Stabilität angenommen haben.

Weniger deutlich als die Denkformen zeigen die Grundsätze und Grund forderungen eines wissenschaftlichen Gebäudes, Festlegungen, die es mit den unveränderlichen statischen und dyna- mischen Beziehungen der Natur zu tun haben, apriorischen Charakter. Es ist wohl ziemlich sicher, daß z. B. unsere Grundauffassungen vom Räume in mannigfaltigen Erfahrungen wurzeln, daß sie namentlich Tast-, Muskel- und Gesichts- empfindungen zur Voraussetzung haben. Die be- sondere Form unserer geometrischen Grundsätze geht jedoch aus einer reaktiven Tätigkeit hervor, aus Assoziations- und Abstraktions- prozessen.

Nur solche Sätze können als Axiome eines wissenschaftlichen Systems gebraucht werden, die unabhängig voneinander je eine elementare Gruppe von Beziehungen zwischen eindeutigen elemen- taren Begriffen ausdrücken, und zwar Sätze, die

Angersbach, Entwicklung. 6

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durch einen rein formalen Schematismus das wissenschaftliche Gebäude zu errichten vermögen, ohne irgendeine Lücke oder eine schwache Stelle zu hinterlassen.

Es ist den scharfsinnigen Bemühungen großer Geometer, ich nenne nur M. Pasch und D. Hu- bert, gelungen, ein System von Sätzen aufzu- stellen, die wirklich als Axiome, als elementare, voneinander unabhängige Grundlagen eines logischen Gebäudes unserer gewöhnlichen Geometrie dienen können. Das System umfaßt fünf Axiomgruppen.1) Die erste Gruppe enthält die Grundforderungen der Verknüpfung, die zweite diejenigen der Anordnung, die dritte die Axiome der Kon- gruenz, die vierte den euklidischen Paral- lel ensatz und die fünfte die Axiome der Stetigkeit. Der rein logische, durchaus for- male Charakter des aus jenen Axiomen hervor- gehenden Gebäudes spricht sich ganz besonders darin aus, daß dessen Lehrsätze von jeder line- aren dreidimensionalen Mannigfaltig- keit gelten, d. h. von jedem System von Dingen, die sich zueinander verhalten wie Punkte, Geraden und Ebenen, also ohne Rücksicht darauf, ob man z. B. unter einer „Geraden" das- jenige versteht, was wir ursprünglich darunter kennen gelernt haben, oder dasjenige, was im parabolischen Kugelgebüsche als „Ge- rade" bezeichnet wird. 2)

*) D. Hubert, Grundlagen der Geometrie, Leipzig 1909.

2) H. Weber und J. Wellstein, Enzyklopädie der Elementar-Mathematik ; II. Band, J. Wells tein, „Grundlagen der Geometrie", Leipzig 1905.

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Von außerordentlichem Interesse ist nun die Erscheinung, daß ein Satz, den Potonie als Axiom angesprochen hat, sich unter jenem System von Grundforderungen gar nicht findet. Ich meine den Satz, der behauptet, daß die ge- rade Linie die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist. Kaum ein Satz scheint uns so ohne weiteres einleuchtend und klar zu sein als dieser. Eines Beweises scheint er auch nicht zu bedürfen. Wenigstens ist in den Schulbüchern nichts davon zu entdecken, ja manche nennen ihn geradezu Axiom oder be- nutzen ihn gar zur Definition der Geraden.

Gewiß erscheint er uns psychologisch durchaus als Axiom, und doch ist er es nicht in bezug auf das Hilbertsche System. Er läßt sich nämlich wirklich aus dem oben angeführten Axiomsystem ableiten; die erste, zweite und fünfte Gruppe liefern das Material dazu.

Er drückt sicher eine fundamentale Eigenschaft der geraden Strecke aus, aber er enthält nicht eine logische Definition, sondern eine psychologi- sche, eine veranschaulichende Beschreibung.1) Vergleicht man mit ihm die echten Axiome unserer Geometrie, so wird man sich wundern, auf welchen Umwegen einzelne gewonnen sind und wie befremdend ihr Inhalt wenigstens dem naiven Beurteiler erscheint.

l) Enriques, Probleme der Wissenschaft, Leipzig 1910. S. 166 bis 170. Damit braucht noch nicht behauptet zu sein, daß er nicht in ein anderes logisches System als Grundbestand- teil einzutreten vermöchte.

6*

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Die Raumerfahrungen liefern uns zwar eine Reihe sehr einfacher, durchaus einleuchtender Be- griffe und Begriffsrelationen. Aber trotzdem können diese letzteren, so elementar sie zunächst erscheinen, doch noch gemeinsame Bestand- teile enthalten, deren Ausschaltung erst zu wirklich fundamentalen Sätzen führt. Die Prozesse, die sich bei einer solchen überaus ver- wickelten Analyse im zentralen Gebiete des Nerven- systems abspielen, sind jedenfalls höchst wunder- bare Differenzierungserscheinungen, die zur Aus- bildung elementarer Funktionen von spezifischem Gepräge führen, und zwar solcher Funktionen, die sich ohne gegenseitigeHemmung durch bloße Superposition wieder zu Funktionen höherer Ordnung vereinigen können. Jenen elementaren physiologischen Funktionen ent- sprechen auf psychischem Gebiete oft weniger einfache Anschauungen als einfache Denk- regungen.

Zeichnet sich der Satz von der Geraden als der kürzesten Verbindungslinie durch auffallende Evidenz aus, so daß an seinem axiomatischen Charakter kaum gezweifelt wurde, so galt der euklidische Parallelensatz, der durch einen Punkt zu einer Geraden nur eine einzige Parallele bestimmt sein läßt, lange als ein Satz, dessen fundamentale Bedeutung fraglich war. Er bereitet auch der Anschauung dadurch Unbequem- lichkeit, daß er uns zumutet, uns zwei, und nur zwei, in einer Ebene liegende gerade Linien vor- zustellen, die, soweit man sie auch verlängern

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mag, sich niemals schneiden. Auch der äquiva- lente Satz, daß die Summe der Winkel im ebenen Dreieck zwei Rechte beträgt, steht anderen Sätzen an Anschaulichkeit nach. Obwohl Euklid den Parallelensatz als Axiom, bzw. als Postulat (aitrjfia) ausgesprochen hatte, zweifelten die Mathematiker bis in die Neuzeit hinein an seinem fundamentalen Charakter; freilich scheiterten alle Bemühungen, ihn aus anderen, evidenteren Sätzen abzuleiten. Die Forschung hat aber allmählich ergeben, daß wir in ihm tatsächlich einen Grund- satz haben, eine notwendige Grundlage derjenigen Geometrie, die es mit unseren geläufigsten Raum- erfahrungen zu tun hat, ja daß ihm die eigenartige Bedeutung zukommt, den metrischen, aus den eigentlichen T a s t empfindungen hervorgehenden Raum mit dem projektivischen, aus den Gesichtsempfindungen stammenden Raum zu einem allgemeineren, zum euklidischen Raum zu verschmelzen.

Der unbefangene Geometer wird kein Beden- ken tragen, dem Parallelensatz absolute Gültig- keit zuzuschreiben. Der erste, der es wagte, ein- mal die Ungültigkeit desselben versuchsweise an- zunehmen, war der Pater Gerolamo Saccheri (1667 1733). Aber er gelangte zum Ergebnisse: „auch unter der Voraussetzung der An- nahme, daß der Satz falsch ist, den man beweisen will, gelangt man gleichwohl zu dem Schluß, daß er wahr ist". Gauß, Lobatschewsky und Bolyai nahmen im An- fange des 19. Jahrhunderts die Untersuchungen

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Saccheris wieder auf und gelangten zu einem abstrakten geometrischen System, das Gauß als „nichteuklidische Geometrie" bezeichnete. Rie- mann fügte dieser noch ein zweites System zu. Die beiden nichteuklidischen Geometrien setzen nicht den, dem euklidischen Parallelensatz äqui- valenten Satz, daß die Summe der Dreieckswinkel = 2 R ist, voraus, sondern die eine verlangt eine Summe >2R, die andere eine Summe < 2 R. !)

Das Merkwürdigste ist nun, daß tatsächlich jede dieser beiden Denkbarkeiten mit den übrigen Fundamentalsätzen der Geometrie einen ge- schlossenen logischen Bau liefert, ja sogar, daß nicht einmal Folgerungen erwachsen, die mit den Erfahrungstatsachen notwendigerweise kollidieren müßten. Man hat nur anzunehmen, daß etwa bestehende Abweichungen der Winkelsumme von 2 R so klein sind, daß sie sich der experimentellen Beobachtung dauernd entziehen.

Hat das Denken nun auch eine gewisse Frei- heit, zwischen drei, ja zwischen noch mehr Geo- metrien zu wählen, so wird es doch immer wie- der zu der euklidischen Geometrie zurück- kehren. Unsere gesamte Organisation ist auf diese eingestellt. Das geht schon daraus hervor, daß man erst so spät an der Gültigkeit des Parallelensatzes gezweifelt hat, wenn man auch den axiomatischen Charakter desselben für weniger sicher hielt. Ferner erfordert der Ausbau einer

*) R. Bonola und H. Liebmann, Die nichteuklidische Geometrie. Leipzig und Berlin 1908.

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nichteuklidischen Geometrie einen außerordentlich viel größeren Aufwand an Denktätigkeiten, ohne der Erforschung der Wirklichkeit einen größeren Dienst zu leisten. Die euklidische Geometrie ist durchaus allen Raumerfahrungen wunderbar an- gepaßt und das Parallelenaxiom ist, wie schon hervorgehoben wurde, die einfachste Ver- knüpfung zwischen der einfachsten metrischen und der einfachsten projektiven Geometrie. Bei allen unseren Messungen, die die Natur des Raumes feststellen wollen, setzen wir übrigens stillschweigend die Starrheit unserer bewegten Maßstäbe und die optische und mechanische Einzig- artigkeit der geraden Linie voraus. Diese Voraus- setzungen schließen aber bereits das euklidische Parallelenaxiom in sich ein. Würden wir also in unseren auf die Erforschung des Raumes gerich- teten Messungen irgendwelche Abweichungen ent- decken, so würden wir sie instinktiv entweder der Unsicherheit unseres sinnlichen Wahrnehmens oder der Ungenauigkeit der Maßstäbe oder dem Einflüsse versteckter physikochemischer Umstände zuschreiben; wir würden mit anderen Worten niemals die Ungültigkeit unserer euklidischen Raumanschauung zur Er- klärung heranzuziehen nötig haben.1)

*) Dingler, Die Grundlagen der angewandten Geo- metrie. Leipzig 191 1.

Aloys Müller, Das Problem des absoluten Raumes und seine Beziehung zum allgemeinen Raumprobleme. Braun- schweig 191 1.

F. Enriques, Probleme der Wissenschaft. Leipzig und Berlin 1910.

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Schließlich haftet den nichteuklidischen Geome- trien immer noch eine dem Denken unbequeme Vieldeutigkeit an. Natorp sieht aus die- sem Grunde im euklidischen Raum eine Denk- notwendigkeit für die eindeutige gesetzmäßige Bestimmbarkeit von Existenz in der Erfahrung.1) Die Untersuchung abstrakter Geometrien und ihrer Beziehung zur Wirklichkeit hat ein inter- essantes Ergebnis gehabt, daß nämlich die Postu- late hinsichtlich ihrer Aufgabe, die Wirklichkeit zu beschreiben, eine gewisse Willkürlichkeit zeigen. Poincare meint daher, jedes Postulat beruhe auf Verabredung. Enriques wendet sich gegen die nominalistische Auffassung des französischen For- schers und deckt gerade an den von Poincare selbst gewählten Beispielen die Unrichtigkeit auf. Enriques betont, daß es neben Postulaten mit konventionellen Elementen immer auch solche gibt, denen experimentell unterscheidbare physi- kalische Möglichkeiten entsprechen. Die rohen Daten der Muskel-, Tast-, Gesichts- usw. Empfin- dungen gestatten freilich zunächst nicht, eine ge- wisse, der Auswahl der Postulate anhaftende Will- kür zu beseitigen und diesen den Charakter der Exaktheit zuzusprechen. Soll es dazu kommen, so bedarf es eines psychischen Entwicklungs- vorganges, einer Verarbeitung und Vereinfachung der Sinnesdaten, eines Assoziations- und Ab- straktions prozesses. 2)

1) P. Natorp, Die logischen Grundlagen der exakten Wissenschaften. Leipzig 1910.

2) F. Enriques, Probleme der Wissenschaft.

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Eine gewisse Ähnlichkeit mit dem euklidischen Parallelensatz haben manche Grundsätze der Me- chanik. Das Galilei sehe Beharrungsgesetz zeich- net sich zwar durch anschauliche Evidenz aus, setzt aber der unmittelbaren Bestätigung die allergrößten Schwierigkeiten entgegen. Dafür kann die in ihm ausgesprochene Forderung dadurch stets aufrecht erhalten werden, daß man jede etwa konstatierte Abweichung von ihm entweder un- mittelbar auf die gegebenen Umstände oder, wenn dies nicht angeht, auf unbekannte, der Er- forschung noch harrende Umstände zurückzuführen vermag. Trotzdem hält es Duhem1) nicht für ausgeschlossen, daß ein derartiger Grundsatz inner- halb des physikalischen Systems sich unbrauchbar zeige, den Tatsachen also auf die Dauer nicht ge- nügend angepaßt sei. Es ist ja allbekannt, daß die moderne Strahlungstheorie das Prinzip der Gleichheit von Aktion und Reaktion in Frage stellt.

Es ist schwierig, die Anteile festzustellen, die Wahrnehmungs- und Denkprozesse an dem Aus- bau der mathematischen und physikalischen Wissenschaft haben. Aber beide Wissenschaften zeigen auffallend das Charakteristische der Ent- wicklung, festgesetzte Stabilisierung bei wachsen- der Differenzierung. Da die Erhaltung des Orga- nismus ganz besonders an das Vermögen der räumlich-zeitlichen Orientierung geknüpft ist, so erklärt es sich, daß der menschliche Geist auf

l) Duhem, Ziel und Struktur der physikalischen Theo- rien. Leipzig 1908.

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mathematisches Denken durchaus vorbereitet ist. Tatsächlich eignet sich fast jeder die mathe- matischen Grundlagen, überaus einfache Erfah- rungen über Zählen, Messen und räumliche Ver- hältnisse unschwer an; aber der eigentliche Aus- bau der Mathematik, ein ausgedehnter, sich ins Unbegrenzte differenzierender innerer Anpassungs- prozeß verlangt einen ungemein plastischen Hirn- mantel. *) Die physikalischen Wissenschaften setzen außerdem ein hervorragendes Beobachtungs- vermögen voraus, die Fähigkeit, auch in sehr ver- wickelten Vorgängen Elementarprozesse zu ent- decken und auf diesen widerspruchsfreie Theorien aufzubauen. In den chemisch - physikalischen Wissenschaften gehen äußere und innere An- passungsprozesse ununterbrochen nebeneinander her. Da die Umgebung einen unbegrenzten Reich- tum an Beziehungen hat, da ferner die Plastizität des menschlichen Hirns überaus groß ist, so schreitet die innernervöse Differenzierung bei gleichzeitiger Harmonisierung immer weiter fort. Falls kosmische oder irdische Störungen nicht das menschheitliche Leben mit Erstarrung bedrohen, dringt das Denken unaufhörlich in die Weite und in die Tiefe, und das Erkennen erscheint um mit Plato zu reden geradezu als ein unend- licher Prozeß. Aber und das ist bemerkens- wert — es gibt auf jeder Staffel der Entwicklung

l) Vielleicht ist es nicht bloßer Zufall, daß gerade Ver- treter der exakten Wissenschaften durchschnittlich das höchste Hirngewicht haben, oder daß Mathematiker wie Gauß und Dirichlet äußerst windungsreiche Gehirne besaßen.

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sowohl Standpunkte, von denen aus mannigfaltige Erkenntnisse und Erkenntnisgruppen als ge- sicherte Bestände auffaßbar sind, als auch solche, von denen aus jene gesicherten Bestände doch nur als angenäherte erscheinen.

Potonie unterscheidet zwischen Denkge- wohnheiten und Denkrichtung.

Denkgewohnheiten sind diejenigen sich wiederholenden Akte des Denkens, in denen sich dieses den relativ konstanten Bestandteilen der Umgebung und den in ihr gleichmäßig wieder- kehrenden Vorgängen ziemlich leicht angepaßt hat. Die Denkrichtung dürfte derjenige Zug im Denken sein, der auf ererbter Anlage beruht und als ein über Generationen sich erstreckendes Entwicklungsprodukt angesehen werden kann. Milieu und Anlage bestimmen natürlich nicht nur das Denken, sondern auch das Handeln.

Die Macht der Umwelt ist so gewaltig, daß sich die in der Anlage gegebenen Tendenzen oft gar nicht oder nur undeutlich offenbaren. Sofern das Milieu gleichförmig ist, nötigt es einer Mehr- zahl von Menschen gleichförmige Sitten und Ge- bräuche, gleichförmige Wünsche und Hoffnungen auf. Selbst Menschen mit ausgesprochenen Ent- wicklungsmerkmalen, aber auch solche mit Ent- artungsmerkmalen, stehen im Banne des Milieus.

Die in der Anlage gegebenen Tendenzen bestimmen wesentlich das, was man Tempera- ment und Charakter nennt. Auch einseitige Talente auf theoretischem und praktischem Ge- biete sind vielfach ein Erbteil der Vorfahren. Ein

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schönes Beispiel bietet die Mathematikerfamilie der Bernoulli.

Temperament und Charakter zeigen sich *) namentlich dann in aller Reinheit, wenn gewisse äußere und innere Hemmungen wegfallen, so z. B. im Zustande des Rausches , innerhalb der Be- dingungen des Träumens und Phantasierens, in Affekten usw. Mag man der Freu d sehen Theorie,2) daß alle Träume Wunschträume seien, keineswegs beipflichten, so wird man doch kaum bezweifeln, daß gerade in den Träumen verhaltene, für ge- wöhnlich unterdrückte Triebe wieder aufleben. Und mag man ferner nicht den Mut haben, mit K 1 a a t s c h anzunehmen, daß das mitteleuropäische Gesellschaftsleben seinen wesentlichen Ausgang genommen habe von den Verhaltungsweisen der A u r i g n a c - Menschen, daß aber manche inner- halb unseres Gesellschaftslebens auftauchenden unsozialen Triebe wiedererwachte Erbschaften des abweichend organisierten Neandertal- Menschen bedeuten, so wird man doch recht wohl in man- chen verbrecherischen Neigungen und Handlungen alte, vergangenen Verhältnissen angepaßte Ver- haltungsweisen sehen dürfen.

Praktische Verhaltungsweisen sind solche,

l) Zunächst freilich nur dem Besitzer, auf Grund irgend- welcher Äußerungen dann auch den übrigen Gesellschafts- genossen.

■) Umschau, Band XIII. S. 980.

s) Umschau, Band XV. S. 863 und folgende, S. 892 und folgende. Klaatsch, Die niederen Menschenrassen in ihrer Bedeutung für die Kriminalistik.

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die in ihren Anfangen zwar oftmals zentrale Ge- biete des Nervensystems beanspruchen, alsdann aber in kräftige, nach außen gerichtete Reak- tionen übergehen. Theoretische sind solche, deren physiologische Funktionen fast ganz auf das zentrale Nervensystem selbst beschränkt sind und nur zu unerheblichen motorischen Entladungen führen. Ein ausgesprochenes theo- retisches Verhalten läßt auf stärkere innere Ent- wicklungsvorgänge schließen. Die im alltäglichen Leben stark geübten praktischen Verhaltungsweisen sind in hohem Maße fixiert, sie drücken die An- passung des Individuums an das Milieu besonders deutlich aus. Auch diejenigen Denkgewohn- heiten, die es mit Vorstellungen von Dingen und Vorgängen des gewöhnlichen Lebens zu tun haben, sind auffallend befestigt und brechen selbst bei demjenigen immer wieder durch, der mit kritischem Geiste in den sog. Begriffen des gesunden Menschenverstandes wider- spruchsvolle Bestandteile entdeckt hat.

Erst verhältnismäßig spät setzen die streng theoretischen Verhaltungsweisen ein, die es weniger mit WahrnehmungsbegrifTen als mit Re- lationsbegriffen zu tun haben. Praktische und theoretische Verhaltungsweisen können in ein und derselben Person relativ selbständig neben- einander bestehen, ohne sich gegenseitig sehr zu durchdringen. Vielfach drängt ein starkes theo- retisches Verhalten das praktische in den Hinter- grund; es gewinnt dann leicht eine Selbständig- keit, unter der die rechtzeitige Reaktion auf die Einwirkungen der Umwelt leidet.

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Lehren, die von den geläufigen Anschauungen eines Gesellschaftskreises stark abweichen, brauchen mit diesen nicht in Konflikt zu kommen. Erst wenn sie den Gemeinschaftsgenossen durch Wort und Tat aufgezwungen werden und tiefeingewurzelte Anschauungen gewaltsam bedrohen, wecken sie nicht nur Widerspruch, sondern auch feindliche Gegenwirkung. Der Politiker, der seine Ansichten über Gesellschaft und Staat, der Philosoph, der seine Gedanken über Gott und Welt, über Denken und Sein, der Religionsstifter, der seine Erlösungs- gedanken anders vorbereiteten Mitmenschen auf- zunötigen sucht, muß seine Bemühungen oft bitter büßen.

Potonie unterscheidet zwischen gewohn- heitsmäßigem und rein logischem Denken.

Damit soll keineswegs behauptet werden, daß gewohnheitsmäßiges Denken in der Regel un- logisch sein müsse. Auch das gewohnheitsmäßige Denken vollzieht sich, wenn es wirklich den An- spruch auf Denken erhebt, in den Formen der Logik, freilich in den allereinfachsten, am meisten geübten. Die Schlußweisen heben sich als solche kaum im Bewußtsein des Schließenden ab. Wir haben ja oben hervorgehoben, daß die Organi- sation unseres Hirnes ein logisches Verhalten geradezu erzwingt. Meist sind die Prämissen, auf denen sich das gewohnheitsmäßige Denken aufbaut, mehr gefühlt als vorgestellt; außer- dem enthalten sie oft genug wenig geklärte, widerspruchsvolle Bestandteile, die aber durchaus nicht immer den Schlußsatz beeinflussen, sondern meist indifferent bleiben.

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Ein rein logisches Denken als ein Denken, das von allen Vorstellungen losgelöst ist, kann nicht gedacht werden. Ficht es reines, absolut apriorisches Denken, das auf keine Wahrnehmung gegründet ist und in allen Individuen gleich ist, ist nur eine kühne Abstraktion ohne Wert.

Ein Denken, das es mit unfertigen, der Erfahrung gar nicht oder unvollkommen ent- sprechenden Begriffen zu tun hat, ist auf die Dauer unhaltbar; es führt entweder zu lebenge- fährdenden äußeren Verhaltungsweisen oder zu inneren Dissonanzen.

Das Denken ist zunächst ganz den Bedürf- nissen des täglichen Lebens angepaßt, es arbeitet mit den Begriffen des gesunden Men- schenverstandes unter normalen Verhält- nissen durchaus mit Erfolg. Selbst der kritische Gelehrte, der von seinem Standpunkte aus Widersprüche in ihnen entdeckt hat, bedient sich ihrer im alltäglichen Leben reichlich und ohne Gefahr. Erst wenn es sich um eine mäch- tig in die Tiefe und Weite gehende Analyse des Seins und Geschehens handelt, versagen die Begriffe des gesunden Menschenverstandes. *) An ihre Stelle treten die aus oft gewaltiger Geistesarbeit hervorgegangenen, der Veranschaulichung meist schwer zugänglichen wissenschaftlichen Begriffe

x) Als solche führt W. James in seiner berühmten Schrift „Der Pragmatismus" an : Ding, Identität und Ver- schiedenheit, Gattungen, Geister, Körper, Eine Zeit, Ein Raum, Subjekt und Attribut, Kausaler Einfluß, Phantasie- Gebilde, Wirklichkeit.

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und Begriffszusammenhänge. Verknüpfen sich Begriffe der einen mit solchen der anderen Gat- tung, so führt das in der Regel zu unhaltbaren Schlüssen. Da die Begriffe des gesunden Men- schenverstandes ungemein tiefe Wurzeln haben, so hat auch der sorgfältigste Forscher große Mühe, sie vom wissenschaftlichen Denken fernzu- halten.

Der naiv denkende normale Mensch vermag objektive und subjektive Tatsachen nicht zu tren- nen. Infolgedessen vertraut er seinen im Traum oder im Wachen auftretenden Phantasmen nur allzusehr und läßt sich von ihnen oft genug zu un- heilvollen Handlungen veranlassen. Der Aber- glaube, der so unsägliches Unglück über die Menschheit gebracht hat, zumal wenn er syste- matisch gepflegt wurde, wurzelt stark im Ver- trauen auf Phantasmen. Je mehr sich der Mensch dem Studium der Natur zuwendet, um so mehr erkennt er die Macht des Objektiven, d. h. die Macht alles dessen, was von unserer Willkür un- abhängig ist und in höchst gleichartiger Weise der überwiegenden Mehrzahl der Menschen sich aufdrängt; um so mehr auch befreit er sich vom Banne rein subjektiver Erlebnisse. Je mehr ferner eine menschliche Gemeinschaft sich dem Objektiven anzupassen gelernt hat, um so über- einstimmender wird ihr Denken und Handeln, um so größere Macht kann sie entfalten.

Immerhin ist es auch dem geistig hochstehen- den Menschen schwierig, Subjektives und Objek- tives auseinanderzuhalten. Davon zeugen die

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sogenannten Sinnestäuschungen, über deren Be- ziehung zur Lebenserhaltung Potonie treffliche Bemerkungen macht.

Es braucht hierbei kaum hervorgehoben zu werden, daß man streng genommen von einer Täuschung durch die Sinne nicht reden darf. Schon Epikur hat das ausdrücklich be- tont. Wenn ich einen mir vertrauten Körper, den ich tausendmal als „weiß" kennen gelernt habe, nach Einnehmen von Santonin in „gelber" Färbung wahrnehme, so kann mir niemand bei aller Beredsamkeit die Tatsächlichkeit meines Erlebnisses absprechen. Erst wenn ich annehme, daß auch meine Mitmenschen zur selben Zeit eine gleiche Erfahrung haben und aussagen, irre ich mich. Die Täuschung entsteht also, sobald ich meinem Urteil über die Färbung jenes Kör- pers allgemeine Gültigkeit zuschreibe. Nun liegt freilich in der Mehrzahl der Fälle, in denen durch unmittelbare oder mittelbare Beeinflussung des Nervensystems, namentlich durch krankhafte Stö- rungen, abweichende Erlebnisse bedingt werden, die Gefahr außerordentlich nahe, ein persönliches Urteil auch zum allgemeingültigen Urteil zu machen. Es geschieht das um so eher, je weniger man sich irgendeiner Beeinflussung bewußt ist. Der Irre, der sich für einen Heros hält, mutet auch der Umgebung die Anerkennung seines Ur- teiles zu. Es schadet daher nichts, wenn man alle sogenannten „individuellen Sinnestäuschungen" wegen der meist damit verbundenen Urteils- irrungen ein für allemal „Sinnestäuschungen" nennt.

Angersbach, Entwicklung. 7

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Weniger zweckmäßig ist es vielleicht, die so- genannten „generellen Sinnestäuschungen" als Täuschungen zu betrachten. Von einem und dem- selben Orte aus sehen alle Beobachter den zuvor optisch und haptisch „geraden" Stab nach dem Eintauchen in Wasser unter einem ganz bestimm- ten Winkel geknickt. Mein Urteil über den Stab kann mit Leichtigkeit objektiviert werden; ich brauche nur zu sagen, er sei optisch geknickt, haptisch gerade. Es ließe sich recht wohl ein rein optischer Phänomenalismus als wissen- schaftliches, vom Prinzip der Eindeutigkeit be- herrschtes System denken. In ihm würde die projektive Geometrie eine besondere Rolle spielen. Wer freilich optische Geradheit mit haptischer verwechselt, begeht einen schweren Fehler. Wenn ich für gewöhnlich den in Wasser geknickt er- scheinenden Stab als „in Wirklichkeit gerade" be- urteile, so liegt das darin, daß ich den Begriff der „Geradlinigkeit" meinen Tasterfahrungen entnommen habe. Die Orientierungen mittels des Tast- und Muskelsinnes scheinen die ursprüng- lichsten und zuverlässigsten zu sein, so daß selbst die optischen sich ihnen unterordnen müssen. Der Tast- und Bewegungsraum liefern den m e - trischen Raum; verbinden sie sich mit dem Sehraum, so liefern sie als einen Spezialfall den euklidischen Raum.

Sehr treffend bemerkt P o t o n i e , daß wir die Welt nur in denjenigen Punkten richtig erfassen, die falsch zu deuten lebengefährdend wäre. Er zeigt sich als Vorläufer des modernen Pragma-

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tismus, wenn er Wahrheiten im Kampfe des Menschen mit der Natur und im Streite der Mei- nungen und in den von sinnlichen Wahrnehmun- gen oder Vorstellungen ausgelösten inneren Rei- bungen entstehen läßt. Wahrheitscharakter er- halten damit Erkenntnisse, die sich bewährt haben, die uns zu bestimmten Erwartungen berechtigen und uns fördern. So sagt schon Goethe in einem Briefe an Zelter: „Ich habe bemerkt, daß ich den Gedanken für wahr halte, der für mich fruchtbar ist, sich an mein übriges Denken anschließt und zugleich mich fördert; nun ist es nicht allein möglich, sondern natürlich, daß sich ein solcher Gedanke dem Sinn des anderen nicht anschließe, ihn nicht fördere, wohl gar hindere, und so wird er ihn für falsch halten; ist man hiervon recht gründlich überzeugt, so wird man nie kontrovertieren." Schöner als Goethe hätte sich auch der modernste Pragmatist nicht aus- drücken können.

P o t o n i e unterscheidet Lebens wahrheiten und wissenschaftliche Wahrheiten, von denen jene für die Erhaltung des Lebens unbe- dingt erforderlich seien, während diese für das Leben gleichgültig bleiben.

Lebenswahrheiten sind demnach die Summe derjenigen Gedanken eines gesellschaftlichen Ver- bandes, die sich unmittelbar auf dessen Er- haltung und Förderung beziehen. Da sich der gesellschaftliche Verband wieder aus mancherlei engeren Gemeinschaften und schließ- lich aus den Einzelwesen aufbaut, so wird es

IüO

Lebenswahrheiten verschiedener Ordnung geben: solche, die sich auf die Person, solche, die sich auf die Familie, auf den Stand usw. und schließlich solche, die sich auf die gesamte Menschheit beziehen.

Wissenschaftliche Wahrheiten dürfen aber doch nicht zu schroff den Lebenswahrheiten entgegen- gestellt werden. Sie sind für den Gelehrten von hoher Bedeutung und vermögen auch dessen „vegetatives" Leben mächtig zu beeinflussen. Widersprüche zwischen Gliedern eines logischen Bestandes können unmittelbar zentralnervöse Ge- biete bedrohen und mittelbar auch den Gesamt- organismus schädigen. Wissenschaftliche Wahr- heiten vermögen in Lebenswahrheiten überzugehen. Gerade naturwissenschaftlichen Wahrheiten ist es vorbehalten, mehr und mehr nicht nur das Leben des Gelehrten, sondern auch das der großenGesellschaft vorteilhaft zu befruchten.

Potonie hat die Denkweisen der Deduk- tion, der Ableitung eines Urteils aus einem all- gemeinen Wissen, und der Induktion, der Ge- winnung eines allgemeinen Wissens aus besonderen Urteilen, nicht ausdrücklich unterschieden und be- handelt. Da man nun gerade in der Induktion die eigentliche Erkenntnisquelle zu er- blicken pflegt, so wollen wir kurz auf sie eingehen.

Mach unterscheidet vollständige Induktion, die Individualurteile in Klassenurteile zusammen- zieht, und unvollständige Induktion, die eine Erweiterung der Erkenntnis mehr oder weni- ger willkürlich vorwegnimmt und zwar auf die

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Gefahr hin, durch die Tatsachen widerlegt zu werden. *)

Die Induktion trägt danach ebensowenig wie der Syllogismus zur Erweiterung der Erkennt- nis bei, sondern sichert „nur die Herstellung der Widerspruchslosigkeit zwischen unseren Erkennt- nissen", legt „deren Zusammenhang klar", lenkt „unsere Aufmerksamkeit auf verschiedene Seiten einer Einsicht" und lehrt uns „dieselbe Ein- sicht in verschiedenen Formen wiedererkennen".

Die Erkenntnisquelle muß anderswo liegen. Nur die Entdeckung neuer Merkmale und neuer Zusammenhänge bringt die Wissen- schaft vorwärts. Neue Erkenntnisse stammen immer aus der Beobachtung, sei es der äuße- ren, sei es der inneren. „Die Aufmerksamkeits- stimmung hebt bald diesen, bald jenen Zusammen- hang von Elementen hervor, welcher Befund begrifflich fixiert, wenn er sich anderen Befunden gegenüber bewährt und als haltbar erweist, eine Erkenntnis, im gegenteiligen Fall einen Irrtum vorstellt. Die Grundlage aller Erkenntnis ist also die Intuition, welche sich sowohl auf sinnlich Empfundenes, wie auf bloß anschaulich Vorge- stelltes, als auch auf potentiell Anschauliches, Be- griffliches, beziehen kann." Die logische Er- kenntnis, die sich lediglich mit dem Befund von Obereinstimmung und Widerspruch befaßt und aus der Wahrnehmung und Vorstellung geschöpfte

!) Mach, Erkenntnis und Irrtum: Deduktion und Induk- tion in psychologischer Beleuchtung.

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Befunde voraussetzt, ist nur ein besonderer Fall des intuitiven Erfassens.

Zuerst hat Lieb ig die Bedeutung der Intui- tion erkannt und die nahe Verwandtschaft zwi- schen den Leistungen des Künstlers und Forschers betont. Scharfe Sinne, denen auch Reize von geringster Stärke nicht entgehen, ein umfassendes Gedächtnis, eine reiche Phantasie, die Vorstellungen jeder Art und in den mannigfaltigsten Verknüpfun- gen frei aufsteigen läßt, Fähigkeit, die Aufmerk- samkeit an ein und denselben Gegenstand oder an ein und dieselbe Gruppe von Gegenständen zu fesseln, dazu ein großes Abstraktionsvermögen, das sind die Eigenschaften, die dem Künstler wie dem Forscher ihre Eigenart verleihen. Kann auch der Forscher niemals ohne stärkste logische Befähigung sein, so empfangt er doch die wertvollsten Schätze von den oftmals aus geheimnisvoller Tiefe aufschießenden Gedanken- blitzen, die vielleicht mit Mutationen, mit Ent- wicklungssprüngen des Hirnmantels in Zusammen- hang stehen. Sicherlich weisen die vorher er- wähnten Fertigkeiten auf eine lebhafte Hirnent- wicklung hin, und der mit einem stark sich ent- wickelnden Hirn versehene Mensch ist das, was man als Genie bezeichnet. Eine mittlere Stel- lungnimmt das sogenannte Talent ein, das sich die Leistungen des Genies rasch aneignet, um sie deduktiv zu verwerten und in zweckmäßiger Form den Mitmenschen darzubieten ; es ist jeden- falls mit einem höchst plastischen Hirn ausge- rüstet.

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Wir schließen hiermit die an Potonies Arbeit angeknüpften Erörterungen, versäumen es aber nicht auf zwei, die Abhandlung über die Entstehung der Denkformen ergänzende, überaus gefällige, gemeinverständliche Aufsätze hinzuweisen, auf seine köstlichen Plaudereien über die Macht der Gewohnheit1) und zur Naturgeschichte der Logik.2)

#

Unsere an Potonies Arbeit angeschlossenen Erörterungen lassen eine systematische Be- handlung des Problems dergeistigen Ent- wicklung vermissen, sie sind zu aphoristisch. Es bleibt uns daher noch übrig, in übersicht- licher Weise jenes Problem zu behandeln.

Diese Aufgabe wird uns dadurch leicht ge- macht, daß R. Avenarius in seiner „Kritik der reinen Erfahrung" in ausgezeichneter Weise das geistige Geschehen, namentlich die geistige Entwicklung , analysiert hat. 3) Leider scheuen es Philosophen und Naturforscher, sich die Terminologie jenes genialen Gelehrten anzu- eignen. Aber eine wirkliche Beschäftigung mit den Gedanken der „Kritik der reinen Erfahrung"

l) Naturw. Wochenschr. N. F. III. Bd. S. 7—9.

*) Naturw. Wochenschr. N. F. X. Bd. S. 310—314.

s) Siehe Avenarius, „Kritik der reinen Erfahrung"; Petzoldt, ,, Einführung in die Philosophie der reinen Er- fahrung" und das im nachfolgenden ebenfalls benutzte, gut einführende Buch von Fr. Carstanjen, „Richard Avenarius1 biomechanische Grundlegung der neuen allgemeinen Erkenntnis- theorie".

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wird die Einsicht wecken, daß eine eindeutige Fachsprache der Klärung dient und von vorn- herein verhängnisvolle Mißverständnisse ausschließt. Außerdem hat R. Avenarius eine Reihe von neuen Beziehungen aufgedeckt, die bedeutungsvoll genug waren, um sprachlich auch in neuen Ausdrücken festgehalten zu werden.

Den Untersuchungen Avenarius' liegt, wie bereits hervorgehoben wurde, die Lehre vom psy- chophysischen Parallelismus zugrunde, nicht in dem Sinne, als ob einer jeden zentralnervösen Erregung auch unbedingt eine psychische Tatsache ent- spreche, noch auch in dem Sinne, als würde das Psychische durch das Physische verursacht oder als stünden beide gar in Wechselwirkung zueinander, noch auch in dem Sinne, als wären Seelisches und Körperliches die beiden Seiten irgendeines höheren Prinzipes, sondern einzig und allein in dem Sinne, daß jedes subjektive Erlebnis von einem in den zentralen Gebieten des Nervensystems sich abspielenden objektiven Geschehen begleitet ist. Wenn R. Avenarius dieses letztere Geschehen als das „unabhängige" bezeichnet, jenes als das „abhängige", so tut er das nur nach Analogie des mit analytischer Geo- metrie oder mit Funktionentheorie beschäftigten Mathematikers.

Wir haben oben schon die Leser mit den Begriffen „Element und Charakter", „Vitaldifferenz", „Vitaldifferenz erster und höherer Ordnung", „Arbeitsschwankung und Ernährungsschwankung", „systematische Vorbedingung und Komplementär-

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bedingung" vertraut zu machen gesucht. Wir wenden uns jetzt folgender Frage zu: Wie wird eine Vitaldifferenz aufgehoben ? Wie verläuft eine durch eine Vitaldifferenz eingeleitete unabhängige Vitalreihe höherer Ordnung?

Ganz allgemein kann darauf geantwortet wer- den : Eine Vitaldifferenz wird dadurch aufgehoben, daß sich innerhalb des betroffenen zentralnervösen Teilsystems wieder das Gleichgewicht zwischen Arbeitsschwankung und Ernährungsschwankung herstellt, ein Vorgang, der freilich oft genug auf großen Umwegen sich vollzieht.

Solange ein Individuum in fortschreitender Entwicklung begriffen ist, dürfen wir annehmen, daß ihm innerhalb der Bedingungen des Schlafes regelmäßig eine Ernährungsvermehrung, mit dem Eintritt in den Wachezustand eine Arbeitsvermeh- rung zuteil wird, die der Größe und Form nach durch die Umgebungsänderungen bestimmt ist. Jene gleichmäßige Ernährungsvermehrung, mit der ein nervöses Hauptpartialsystem in die Be- dingungen des Wachseins eintritt, wird von Ave- narius als partialsystematisches Moment, die zugehörige Arbeitsvermehrung als partial- systematisches Komoment bezeichnet. Für die uns interessierenden Fälle ist das Komoment stets eine solche Arbeitsvermehrung, wie sie jenes Teilsystem sich im Laufe der Entwicklung erworben hat und nun zu seiner Erhaltung bedarf. Mit anderen Worten: das Komoment wird als eine eingeübte Arbeitsvermeh- rung gedacht.

io6

Eine vollkommen eingeübte Schwankung (d. h. eine eingeübte Änderung der Systemruhe mit alsbald sich anschließender Rückkehr zur Systemruhe) ist eine Schwankung erster Ordnung. Vital- differenzen, die dem Nervensystem durch die ungeänderten partialsystematischen Momente ge- setzt werden, sind Vitaldifferenzen erster Ord- nung. Solche Schwankungen jedoch, die das partialsystematische Moment bei Konstanz des Komomentes oder die das Komoment bei Kon- stanz des partialsystematischen Momentes variieren, führen zu Vitaldifferenzen zweiter und höhe- rer Ordnung.

Eine Arbeitsänderung kann nun im Laufe der Entwicklung zu einem Komomente erhoben wer- den, ein durch die Arbeitsänderung betroffenes Teilsystem kann sich auf die Arbeitsvermehrung einüben, derart, daß diese genau der innerhalb der Bedingungen des Schlafes gesetzten gleich- mäßigen Ernährungsvermehrung entspricht. Die Erhebung einer Arbeitsänderung zum Wert einer gleichmäßigen, eingeübten Arbeitsvermehrung wird als positive Komomentierung, die Herab- setzung dieses Wertes als negative Komo- mentierung bezeichnet.

Wer sich irgendeinem wissenschaftlichen Stu- dium oder irgendeinem technischen Berufe zu widmen angefangen hat, dem werden durch neue Begriffe oder durch neue Tätigkeiten zahlreiche Änderungen gesetzt, die aber im Laufe der Zeit positiv komomentiert werden. Umgekehrt wer- den demjenigen, der die höhere Schule verlassen

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hat, um sich einer praktischen Tätigkeit zuzu- wenden, zahlreiche Komomente durch Übungs- mangel mehr und mehr herabgesetzt.

Die unabhängige Vitalreihe erster Ordnung hat man sich nun folgendermaßen ab- laufend zu denken:

Die einleitende Änderung ist durch die gleichmäßige Ernährungsvermehrung, durch das partialsystematische Moment, gegeben; daran schließt sich als Mittelabschnitt eine einge- übte, durch irgendeinen Umgebungsbestandteil gesetzte Arbeits Vermehrung an, die ohne wei- teres die Aufhebung der Schwankung bewirkt.

Die unabhängige Vitalreihe zweiter Ordnung dagegen sowie überhaupt jede Vital- reihe höherer Ordnung schaltet sich stets in eine solche erster Ordnung ein. Bildet die eingeübte Arbeitsvermehrung für die Vital- reihe erster Ordnung die Mitteländerung, so be- deutet sie für die Vitalreihe höherer Ordnung nur einen Vorabschnitt; erst mit einer Abände- rung der eingeübten Arbeitsvermeh- rung, des Komomentes, beginnt die Vitalreihe höherer Ordnung selbst; als- dann folgen im Mittelabschnitte erst später eingehend zu erwähnende vermittelnde Änderun- gen, die zu einem neuen Komomente führen. Mit der Schaffung dieses Komomentes schließt die Vitalreihe höherer Ordnung ab, und nun erst vermag auch die sie gewissermaßen einschlie- ßende Vitalreihe erster Ordnung abzu- laufen.

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Die physiologischen Endbeschaffenheiten der Abschnitte einer Vitalreihe höherer Ord- nung, also diejenigen des Anfangsabschnittes, des vermittelnden Teiles und des Abschlusses, sind maßgebend für die „begriffliche" Charakteristik einer Wahrnehmung oder einer Vorstellung.

Im Falle einer Wahrnehmung hängen die Endbeschaffenheiten ab: erstens von dem Reize aussendenden Umgebungsbestandteile, zweitens von dem Zustande eines zentralen Gebietes des Nervensystems oder eines zentralen Teilgebildes unmittelbar vor der Reizwirkung. Dieser Zustand kann als die Vorbereitung, jener Umgebungsbestandteil, sofern er an der Bestimmung der Endbeschaffenheit beteiligt ist, als die Komplementär bedingung für sie bezeichnet werden.

Im Falle einer Vorstellung ist die End- beschaffenheit eines Teilsystems bedingt durch eine sekundär erfolgende Änderung und dann wieder durch die im Augenblicke des Auslösungs- beginnes vorhandene Verfassung des nervösen Ge- bildes.

Die geübte Systemänderung ist die besser vorbereitete und verlangt vor weniger geübten denkbaren Änderungen den Zeitvorsprung.

Nicht jede Änderung hebt eine bestehende Vitaldifferenz auf. In diesem Falle schließen sich weitere Änderungen an, jede folgende von ge- ringerem Übungswerte. Die Endbeschaffenheit ist unter sonst gleichen Umständen der Anfangs- beschaffenheit um so mehr angenähert, je geübter

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sie ist, je weniger das nervöse System ermüdet ist, vor je kürzerer Zeit sie gesetzt war, je mehr sie auf einer Entwicklungslinie des Nervensystems liegt. „Die Kontinuität der individuellen und menschlichen psychologischen Entwicklung" ist dadurch gewährleistet, daß jedes nervöse System sich immer nur „im Sinne und im Umfang seiner Vorbereitung" zu behaupten vermag.

P e t z o 1 d t drückt diese Tatsache so aus : „Bei der Konkurrenz der Endbeschafifenheiten um ihre Verwirklichung siegt die meistvorbereitete." In Fällen, wo durch die Endbeschaffenheiten begriff- liche Charakteristiken bestimmt sind, heißt das auch natürlich in bildlichem Sinne : „Im Kampf der Begriffe um ihre Anwendung über- windet der jeweilig stärkste."

Eine überaus wichtige Eigentümlichkeit des Nervensystems besteht darin , daß dasselbe von der Aufhebung der unerheblicheren Vitaldifferenz zu der der erheblicheren übergeht. Avenarius bezeichnet dieses Verhalten des zentralnervösen Systems, sofern dieses sich unter Bedrohung seines Bestandes zu behaupten vermag, als die Selbst- einstellung desselben. Das System stellt sich auf die jeweilig erheblichere Vitaldifferenz-Auf- hebung ein. Mit anderen Worten: Es erlangt in der Konkurrenz abhängiger Vitalreihen jeweilig die erheblichste, die Dominante, den Vortritt. „Sie beherrscht unter Umständen eine Zeitlang alle Eindrücke und verleiht ihnen eine eigene Färbung."

Petzoldt hat den interessanten Nachweis

HO

geliefert, daß mit dem Dominieren von jeweilig nur einer unabhängigen Vitalreihe eine wichtige psychologische Tatsache zusammenhängt, die Her bar t als die Enge des Bewußtseins bezeichnet hat, und daß ferner die Bedingungen für die Enge des Bewußtseins auch zugleich Be- dingungen für die Einheit des Bewußtseins sind. Diese kann nur soweit bestehen, als je- weilig nur eine einzige unabhängige Vitalreihe höherer Ordnung im Ablauf ist, der in jedem Zeitteil das ganze zentralnervöse System zur Verfügung steht. Enge und Einheit des Bewußt- seins sind der psychische Ausdruck für die bis an die Grenzen des Möglichen gesteigerte Fähig- keit des normalen zentralnervösen Systems, unter Umständen in jedem Falle einer Bedrohung alle seine Kräfte in den Dienst seiner Behauptung stellen zu können.1)

Wir haben nun noch etwas eingehender über die Vermittlung der Aufhebung einer Vital- difTerenz höherer Ordnung zu sprechen.

Eine VitaldifTerenz kann zunächst unabhängig vom Zentralnervensystem aufgehoben werden. So z. B., wenn der die VitaldifTerenz bewirkenden Umgebungsänderung eine neue Umgebungsände- rung entgegentritt, die das Nervensystem wieder in seinen ursprünglichen Zustand zurückversetzt.

Weit interessanter ist jedoch die Tatsache, daß das Nervensystem selbst über die Mittel zur Vitaldifferenz- Aufhebung verfügt. Dadurch

x) Petzoldt, Einf. i. d. Phil. d. reinen Erf. I, 304.

III

erst tritt die biologische Bedeutung der dem Denken zugrundeliegenden phy- siologischen Vorgänge klar zutage.

Das Nervensystem kann seine Vitaldifferenzen aufheben :

I. Durch ektosystematische Änderungen, d. h. durch Änderungen, die zwar in den An- fangsgliedern vom Zentralnervensystem abhängig sind, aber im weiteren Verlaufe sich außerhalb vollziehen. So z. B., wenn sich an ein Erwägen und Überlegen Bewegungen der Gliedmaßen an- schließen, die zum Auffinden eines vermißten Gegenstandes führen.

II. Durch endosy stem a tische Änderungen d. h. durch Änderungen, die ganz innerhalb des zentralen Nervensystems verlaufen. x) So z. B., wenn der Philosoph ein ihn verfolgendes Problem immer wieder durch intensives Denken zu lösen versucht.

A. Innerhalb der ektosystematischen Änderungen unterscheidet Avenarius wieder drei Fälle:

A i. Fixierung des Abhängigkeitsverhält- nisses zwischen dem Zentralsystem und der der Umgebung angehörenden Änderungsbedingung. Es kann das dadurch geschehen, daß die Richtung auf die Änderungsbedingung R2 oder auch diese Änderungsbedingung Rt selbst festgehalten wird,

l) Unerhebliche Innervationen der mannigfaltigsten Muskelgruppen , namentlich der Muskulatur der Gefäße , der Atmungswerkzeuge usw. werden freilich stets vorhanden sein.

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oder daß von Rt andere Änderungsbedingungen, die R-l entfernen, ändern oder vernichten könnten, ferngehalten werden.

A 2. Permutation des Abhängigkeitsver- hältnisses zwischen dem Zentralsystem und der Änderungsbedingung. In diesem Falle vertauschen die Änderungen des Nervensystems ein R1 gegen ein R2 oder verändern die Stellung des Organis- mus zu Rj.

A 3. Transformation des Abhängigkeits- verhältnisses. Ektosystematische Änderungen ver- nichten Rj oder gestalten Rj um oder ändern den Abstand zwischen dem Organismus und Rlf oder aber es akkommodieren sich peripherische Sinnes- organe an Rx.

Die ektosystematischen Änderungen sind also diejenigen, die in dem praktischen Verhalten des Menschen zum Ausdruck kommen.

Weit mehr interessieren uns

B. die besonderen Fälle innerhalb der endo- systematischen Vermittlungen, die im theo- retischen Verhalten des Menschen die eigent- liche Rolle spielen.

B 1. Änderungen infolge transitorischer Funktionsausbreitung funktionelle endosystematische Änderungen und zwar:

a) Herbeiführung eines vorübergehenden anderen Ernährungsverhältnisses;

b) Weiterleitung der zugeführten Änderung von den primär ergriffenen Teilsystemen auf andere.

B 2. Änderungen infolge vermehrter oder

H3

verminderter Übung formelle endo- systematische Änderungen und zwar:

a) Änderung des Entwicklungswertes der in positiv zunehmender Schwankung d. h. in wachsender Entfernung aus der Systemruhe auf Grund vermehrter Übung oder vermehrter Er- nährung — begriffenen Teilsysteme;

b) Änderung der Entwicklungsrich- tungen des Zentralnervensystems überhaupt.

Je kleiner die Permutationen und Transfor- mationen sind, um so schneller erfolgen sie. Die funktionellen Änderungen sind im allgemeinen schneller als die auf geänderter Übung beruhenden formellen Änderungen.

Über die Zusammensetzung der auf eine Vital- differenz folgenden Änderungsreihe entscheidet, wie schon oben hervorgehoben wurde, die größere Geschwindigkeit, mit der eine der angeführten Änderungen einzutreten vermag. Die Reihe setzt sich so lange fort, bis eine Änderung auftritt, die die formalen Bedingungen der Vitaldifferenz- Auf- hebung erfüllt.

Wir haben nunmehr festzustellen, inwiefern die angeführten Änderungen wirklich die Vital- differenz-Aufhebung vermitteln, indem sie zugleich die formalen Bedingungen zur Aufhebung er- füllen. Zu dem Zwecke haben wir wieder die einzelnen Fälle der ektosystematischen und diejenigen der endosystematischen Ände- rungen, also die Fälle unter A und B, ins Auge zu fassen. Trotz der bedeutsamen Rolle, welche jene im täglichen Leben spielen, wollen wir doch

Angersbach, Entwicklung. 8

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nur den für die höheren Geistesfunktionen be- deutsamen Änderungen unter B unsere besondere Aufmerksamkeit widmen.

B i a. Bei unerheblichen Arbeitsschwan- kungen können entsprechende funktionelle Ernährungsänderungen zu einer Änderung des Zentralnervensystems führen, die die Schwan- kungen aufzuheben vermag.

B ibc. Werden durch die Umgebung un- erhebliche Vitaldifferenzen vermindert oder ge- setzt, während bereits erheblichere VitaldirTerenzen bestehen, denen die Umgebungsänderungen nur unvollkommen entsprechen, dann kann das Teil- system zur Lösung der erheblicheren Vitaldifferenz überspringen; es läßt die unerheblichere unbeachtet und tauscht diese gegen die erheblichere ein. Es breiten sich dabei die Änderungen, welche einem Teilsysteme durch eine geringfügige Vitaldifferenz gesetzt waren, auf andere Teilsysteme aus, wodurch dann eine der erheblicheren Vitaldifferenzen zur Aufhebung dar- geboten wird.

Avenarius bezeichnet dieses Verhalten als Komomenten-Eintauschung. Wir erinnern daran, daß Avenarius unter dem partialsyste- matischen Komoment eine physiologische Änderung eines zentralen Teilsystems versteht, die imstande ist, eine ihm periodisch regelmäßig gesetzte Vitaldifferenz, und zwar eine Ernährungs- schwankung ebenso regelmäßig und in täglicher Wiederkehr hinreichend gleichmäßig aufzuheben. Das Verhalten der Komomenten-Eintau-

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schung haben wir bereits oben im Falle der Selbsteinstellung1) angedeutet. Ein Beispiel möge die Komomenten-Eintauschung beleuchten:

Das regelmäßige Erscheinen eines Herrn und dessen Hundes hat einem Knaben zwei Teilsysteme entwickelt, ein erstes, das der Wahrnehmung des Herrn, und ein bedeutungsvolleres zweites, das den Erlebnissen mit dem Hunde zugeordnet ist. Die den beiden Teilsystemen innerhalb der Be- dingungen des Schlafes gesetzten Ernährungs- schwankungen werden durch die mit dem Er- scheinen des Herrn und seines Hundes zusammen- hängenden Arbeitsschwankungen beseitigt, sie werden komomentiert. Erscheint nun gelegentlich einmal der Herr ohne seinen Hund, so sind zwar die Bedingungen vorhanden, um die unerheb- liche Ernährungsschwankung, nicht aber um die erheblichere zu komomentieren ; es breitet sich also die mit dem Erscheinen des Herrn zu- sammenhängende Arbeitsschwankung alsbald auf das zweite, den Erlebnissen mit dem Hunde zu- geordneten Teilsysteme aus und bietet jetzt eine weit erheblichere VitaldirTerenz zur Aufhebung dar.

B i b ß. Enthält eine für ein Teilsystem cx ge- setzte Arbeitsvermehrung einen Bestandteil, der für ein anderes Teilsystem c2 den Wert einer schon eingeübten Änderungsform hat, so kann jenes erste Teilsystem von seiner VitaldirTerenz

*) die sowohl endosystematischer wie ektosystematischer Art sein kann.

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durch die Ausbreitung der Änderung auf das zweite Teilsystem c2 befreit werden. Setzt nun die von c2 übernommene Änderung diesem keine neue Vitaldifferenz, variiert sie also nicht die von c2 eingeübte Schwankung, so ist die ursprünglich für gesetzte Vitaldifferenz für das Gesamtsystem überhaupt aufgehoben.

Das Komoment von c2 vertritt also durch Übernahme der Änderung das variiert ge- wesene — Komoment von cx. Avenarius be- zeichnet dieses Verhalten als Komomenten- Vertretung.

Eine solche Komomenten- Vertretung liegt z. B. vor, wenn Hegel die Sterne einen „Licht- Aus- schlag" nennt, „so wenig bewunderungswürdig als einer am Menschen" ; oder wenn Angehörige eines unkultivierten Stammes die Bewegung des rollen- den Steines durch einen diesem einwohnenden Geist oder eine ihm einwohnende Seele zu be- greifen suchen. Eine Komomonten-Vertretung ist es aber nicht minder, wenn Newton den Ge- danken faßt, daß die Mondbewegung ihrer un- bekannten Natur nach dieselbe sei wie die be- kannte Bewegung des fallenden Steines.

Sind nun auch die Abänderungen, die die vertretenden Komomente hierbei erfahren, nur unbedeutend, so dürfen sie doch keineswegs ganz vernachlässigt werden. Petzoldt zieht daher die Bezeichnung „Komomenten-An- passung" dem Ausdrucke Komomenten- Vertretung vor. Freilich ist zu beachten, daß dies nicht die einzige Anpassungsweise ist. Psy-

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chisch entspricht der Komomenten- Anpassung die Ausdehnung eines Begriffes auf ähnliche Ver- hältnisse, eine sogenannte „Begriffsanpassun g". Es wird dabei das Komoment „zur Aufhebung ähnlicher Vitaldifferenzen unter entsprechender Umbildung verwendet, es wird ihnen den Vitaldifferenzen höherer Ordnung angepaßt."

Von nicht geringerer Bedeutung sind die Fälle B 2.

B 2 a. Beruht eine Vitaldifferenz auf der Wiederkehr einer von der bisherigen Übungs- richtung abweichenden Änderungsbedingung, so kann sie durch endosystematische Änderungen, sofern diese auf Übung beruhen, aufgehoben werden. Ist nun die Wiederkehr verhältnismäßig gleichmäßig, so kann eine Arbeitsvermehrung ein- geübt werden, ein neues Komoment entwickelt werden.

Avenarius nennt diesen Vorgang Komo- menten-Erwerb. Derselbe bedeutet eine An- passung des nervösen Systems an eine veränderte Umgebung oder auch an neue Verhältnisse inner- halb des Systems selbst, wie sie durch dessen Entwicklung bedingt werden. Psychologisch handelt es sich um die Begriffs b i 1 d u n g. Das Denken „paßt sich" durch Umbildung von Be- griffen entweder der Umgebung oder auch psy- chischen Akten selbst an. Ein Unbekanntes wird dabei allmählich zu einem Bekannten, ein Un- gewisses zu einem Gewissen, ein Ungewohntes zu einem Gewohnten.

Petzoldt hebt noch eine Unterart desKomo-

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menten-Erwerbs hervor. Häufig „wird ein neues Komoment entwickelt, dessen Komponenten zum größeren Teil auch die des ursprünglichen, zum Teil aber neu erworbene sind. Die Systemänderung des ursprünglichen Komoments braucht nämlich infolge der Neubildung nicht zu- rückgebildet zu werden, sondern kann dem System erhalten bleiben". Es handelt sich hierbei um eine neue Art der Begriffsanpassung, um eine Differenzierung eines Anfangs- be griff es, die zur Bildung eines Gattungs- und Artbegriffes führt. Diese Differenzierung beruht zum Teil auf den Merkmalen und Kenn- zeichen des ursprünglichen Begriffes, zum Teil auf neu gefundenen Merkmalen. Die Entstehung einer Über- und Unterordnung der Begriffe läßt erkennen, daß die Begriffe „nicht nur durch den Inhalt, sondern auch durch den Ursprung mit- einander verwandt sind", daß es also „eine natür- liche Abstammung der Begriffe voneinander" gibt.

B 2b). Auch wenn die Arbeitsänderung relativ ungleichmäßig wiederkehrt, kann eine mit ihr gesetzte Vitaldifferenz durch endosyste- matische Änderungen aufgehoben werden, sofern sie auf Übung beruhen. Die auftretenden Arbeits- abweichungen können dann von erheblichen Vitaldifferenzen zu unerheblichen herabgesetzt werden. Das Eintreten dieser negativen Komo- mentierung beruht hier auf ungenügender Übung; gleichzeitig übernehmen andere, jederzeit mitsetzbare Änderungsformen die Funktionen der

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negativ komomentierten und werden durch Mehr- übung im Sinne einer zunehmenden, einer posi- tiven Komomentierung weiterentwickelt.

In diesem Falle haben wir es mit einem K o - momenten-Wechsel zu tun. Derselbe be- deutet eine Änderung der Entwicklungs- richtung des zentralnervösen Systems. Durch Übungsverminderung werden ehemalige Haupt- teilsysteme zu Nebenteilsystemen zurückgebildet, während andererseits frühere Neben teilsysteme durch wachsende Übung zu Hauptteilsystemen umgebildet werden. Psychologisch heißt das: es werden Denkgewohnheiten umgeformt, es findet ein Interessenwechsel statt; frühere „Hauptsachen" werden zu „Nebensachen" und umgekehrt.

Zwei Änderungsformen des Nervensystems sind besonders geeignet, jene Funktion zu über- nehmen :

a) Änderungen, die von der Umgebung relativ unabhängig sind, die einen vorwiegend zentralen Ursprung haben, sog. Independenten.

ß) Änderungen, die zwar durch die Umgebung bedingt sind und von der Umgebung abhängig bleiben, aber nur von den sich am meisten wiederholenden Elementen der Umgebungs- bestandteile ausgebildet werden, sog. Depen- d e n t e n.

Independenten und Dependenten sind Schutz- formen von höchstem Werte. Sie vermögen mannigfaltige und sehr erhebliche Vitaldifferenzen aufzuheben. So beseitigt der Begriff der „Gott- heit", der dem Gläubigen durch keine Umgebungs-

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änderung erschüttert werden kann, mit Leichtig- keit die schwierigsten „Welträtsel". Ebenso ver- mögen allgemeine Begriffe und begriffliche Zu- sammenhänge, die aus den Erfahrungen über die gleichmäßig wiederkehrenden Bestandteile der Umgebungskombinationen stammen, sowie allge- meine Verhaltungsmaßregeln gar manche theo- retische und praktische Schwierigkeit erfolgreich zu heben. Besonders charakteristisch für die Ausbildung solcher Schutzformen ist die Sehn- sucht nach Ruhe und Unveränderlichkeit.

„Wie es sich ja nur um verschiedene Arten von Schutzformen handelt, so sind es also im Grunde eben nur verschiedene Formen des gleichen „Bedürfnisses" nach dem „der Verände- rung Entzogenen", was beispielsweise bei den Buddhisten als „Sehnsucht" nach dem Nirwana, bei Piaton als auf die an sich selbst ewig das- selbe seiende absolute Wesenheit (die Idee) ge- richteter „Eros", bei der griechischen Philosophie der Verfallzeit als „Sehnsucht" nach höherer Offen- barung, bei den älteren Christen als „Sehnsucht" nach Erlösung vom Zustande der Vergänglichkeit, bei Spinoza als „amor erga rem aeternam et infinitam", bei den modernen „echten und wahren" Pessimisten als „Sehnsucht" nach der Unendlich- keit, bei dem Naturforscher als das „Suchen" nach Gattungsbegriffen und Naturgesetzen er- scheint."

Hiermit haben wir eine Anzahl von Weisen kennen gelernt, in denen eine Vitaldifferenz-Auf- hebung vermittelt werden kann. Es erübrigt

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nun, noch kurz auf die Finaländerung ein- zugehen.

Entweder führt dieselbe das variierte Komo- ment wieder zurück in das unvariierte Komoment

Fall der Restitution oder die Final- änderung bildet einen neuen Aufhebungswert

Fall der Substitution . Beide Fälle können ektosystematisch oder endosystematisch bedingt sein.

Wir haben bereits oben einen allgemeinen Satz ausgesprochen über die Zusammensetzung der auf eine Vitaldifferenz folgenden Änderungsruhe. Dieser Satz kann jetzt bestimmter so ausgedrückt werden :

Soll bei gegebener Vitaldifferenz höherer Ordnung das Zentralnervensystem sich vollständig behauptend gedacht werden, so muß es, wenn keine Art ektosystematischer Medialänderungen eine Finaländerung zu bedingen vermochte, zu irgendeiner Art endosystematischer ; wenn keine Art funktioneller, zu irgendeiner Art formeller Medial- änderungen übergehend gedacht werden. Und ebenso muß die Finaländerung, wenn sie nicht als von restitutiver Art angenommen werden kann, als von substitutiver Art angenommen werden.

Eine Vitalreihe erster Ordnung ist eine höchst primitive Reaktionsweise, sie besitzt keine Spur von dem, was eine Entwicklung kennzeichnet. Ganz anders steht es mit den Vitalreihen höherer Ordnung, mit denen stets eine mehr oder weniger beträchtliche Umbildung des nervösen Systems

122

verknüpft ist. Ein in relativ stabiler Lage be- findliches zentrales Teilsystem erleidet irgendeine Störung, die Störung wird oft auf Umwegen und manchmal erst nach längerer Zeit gehoben; gleich- zeitig aber ist jenes Teilsystem und wohl auch ein mit ihm verbundenes Teilgebilde mehr oder weniger umgewandelt, und zwar im Sinne ver- mehrter Anpassung an äußere oder innere Um- stände. Der Entwicklungscharakter tritt bei der verhältnismäßig schnell sich vollziehenden Komo- menten-Vertretung nicht so deutlich hervor wie bei den ziemlich langsam verlaufenden Fällen des Komomenten-Erwerbs und des K o m o - menten-Wechsels.

In der Komomenten- Vertretung wird ein Un- bekanntes zwar auf ein Bekanntes zurückgeführt, aber dieses bleibt jenem gegenüber noch als „das- selbe" charakterisiert. Ist die Komomenten-Ver- tretung wiederholt erfolglos geblieben, dann sucht sich das nervöse System durch Komomenten-Er- werb zu behaupten. Ein ursprünglich „befrem- dender", „beunruhigender", „unbegreiflicher" Inhalt verliert durch „Neugewöhnung" allmählich seine negative Charakteristik und wird so zum „be- griffenen", „bekannten", „vertrauten" Inhalte. Kehrt das „Befremdende", „Beunruhigende" nur unregelmäßig wieder, so befreit sich das nervöse System von ihm durch Komomenten- Wechsel.

Avenarius schließt aus der Umbildung, die die Vitalreihen im Laufe des individuellen und des menschheitlichen Lebens, soweit dieses über-

123

blickbar ist, erfahren, und zwar namentlich aus der Umbildung des Mittel- und Endabschnittes, daß die menschliche Entwicklung wesentlich durch innere Faktoren bedingt ist und bei Konstanz der äußeren Faktoren ihr Ziel in sich selbst trägt.

Aus dem mittleren Abschnitte fallen nämlich solche Glieder aus, die zur Herbeiführung des die Vitaldifferenz aufhebenden Endgliedes nichts bei- tragen; dadurch wird die Reihe vereinfacht und erfolgsgemäßer. Sie setzt sich mehr und mehr nur aus solchen Gliedern zusammen, „die zur Herbeiführung eines schnellen, einfachen und un- ausbleiblichen Abschlusses unentbehrlich sind". Ferner nimmt der Endabschnitt mehr und mehr einen unveränderlichen Wert an. Mit anderen Worten: Die Begriffe und Gesetze werden im Laufe der wissenschaftlichen Entwicklung immer schärfer gefaßt; das Neue und Unbekannte wird immer schneller auf Bekanntes zurückgeführt ; die Differenzierung der Begriffe führt zu größerer Haltbarkeit, Festigkeit und Konstanz derselben.

Die allgemeinere Form, in der eine An- näherung an unveränderliche Erkenntnisse sich vollzieht, besteht zunächst im Anwachsen von Merkmalen durch Verfeinerung der Wahrnehmung und der Unterscheidung, dann in fortschreitender Ausbildung, Umbildung und Differenzierung der Anfangsbegriffe ; die spezielleren Formen sind die „Herausarbeitung des Wesentlichen, des Gesetzmäßigen, des reinen Falles; die Herab- setzung der Abweichungen zu etwas Unwesent- lichem und Gleichgültigem; die Bestimmung

124

des Gattungsbegriffes . . . zum eigentlichen Er- kenntnisgegenstand ; „die Differenzierung der Gattungsbegriffe . . . durch Einführung besonderer Bezeichnungen".

Auf psychischem wie auf physiologischem Gebiete bilden sich, wie Avenarius es nennt, „vollkommene Konstanten" aus.

Eine Endbeschaffenheit, die von einer be- stimmten Aussage begleitet ist, hängt, wie wir schon mehrfach betont haben, von den der Um- gebung des Nervensystems angehörenden Kom- plementärbedingungen und von den durch die Struktur des Nervensystems gegebenen systema- tischen Vorbedingungen selbst ab. Ein bestimmter Umgebungsbestandteil, der keine entsprechende systematische Vorbedingungen antrifft, bleibt un- bemerkt. Ist jedoch das nervöse System ent- wicklungsfähig, so vermag die wiederholte Ein- wirkung jenes ursprünglich unbemerkten Um- gebungsbestandteiles schließlich doch eine End- beschaffenheit auszubilden, die von einem seelischen Vorgange begleitet ist.

Die Entwicklung des nervösen Systems ist nun offenbar durch das Meistsichwiederholende der Komplementärbedingungen und das Meist- sichwiederholende der systematischen Vorbedingun- gen bestimmt. Die menschheitliche nervöse Ent- wicklung erreicht dann ein natürliches Ziel, wenn das Meistsichwiederholende der beiden Bedingungs- klassen zum Denkbarmeistsichwiederholenden ge- worden ist, und zwar, wenn die Bedingungsge- samtheit der Endbeschaffenheiten ausschließ-

125

lieh das Denkbarmeistsichwiederholende ohne jede nur gelegentlich auftretende Zumischung ge- worden ist.

Im Gegensatz zu Avenarius, der der Meinung ist, daß im Laufe der menschlichen Entwicklung das ganze Endglied einer Vitalreihe und eine ganze unabhängige Endbeschaffenheit eines Reihenabschnittes konstant zu werden vermöge, weist Petzoldt nach, daß es sich bei der An- näherung an „vollkommene Konstanten" nur um die einer festen Form sich nähernde Charakte- teristik ganzer Gruppen von Inhalten handeln könne, und zwar um ein allmähliches Konstant- werden der begrifflichen Charakteristik.

Keineswegs kann es sich um ein Konstant- werden psychischer Akte selbst handeln. Es werden sich ja immer mehr „neue Teile und Seiten der Umgebungsbestandteile zu Komple- mentärbedingungen erheben, mit der unendlichen Fülle ihrer Kombinationen eine immer reichere und feinere Gliederung der gesamten Endbeschaffen- heitsformen und statt der Einförmigkeit einen immer bunten Wechsel hervorbringen, und reichste Mannigfaltigkeit und Abwechslung werden sieh auch dann noch erhalten, wenn alles, was konstant werden kann, auch konstant geworden ist." Diese Konstanz kann sich aber nur auf solche Kompo- nenten erstrecken, von denen der Charakter des betreffenden Inhalts oder seiner Teile ab- hängig ist. Nur die psychischen Bestände und deren physiologische Unterlagen werden zu Dauer- formen; die Begriffe werden konstant.

126

Ob die irdischen und kosmischen Verhältnisse die Verwirklichung eines solchen Zieles ge- statten, können wir nicht entscheiden. Jeden- falls besteht auf vielen Gebieten der Wissenschaft eine derartige Entwicklungstendenz. Daß es sich, wenn wir von einem Ziele reden, ja über- haupt nur um etwas Relatives, nicht etwa um ein Absolutes handelt, braucht kaum hervor- gehoben zu werden. Die Erreichung eines Zieles bedeutet noch lange nicht die Erreichung eines letzten Zieles, sondern nur die eines vor- läufig zu erwartenden Zieles. Von einem höheren Standpunkte aus kann jedes sogenannte Ziel immer nur als ein „angenähertes" gelten.

Die Bedeutung der Leistungen von R. Ave- narius beruht darin, daß sie uns auf Grund weniger kaum zu beanstandender Hypothesen und auf Grund gesicherter Ergebnisse der Nerven- physiologie, der Psychophysik und der Selbst- beobachtung ein auffallend klares Bild des dem Geistesleben zugrundeliegenden zentralnervösen Ge- schehens geben und gewissermaßen die Biomechanik des physiologischen Erkenntnisprozesses aufdecken. Die Wissenschaft wird auf die Dauer nicht acht- los an dem von jenem Philosophen begründeten und von Petzoldt ausgebesserten Bau vorüber- gehen dürfen.

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Einführung in die Deszendenztheorie. /0ürträgldgrehaitef

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181 Zum Begriff der Entwicklung

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